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Plasmamedizin · Exoplaneten-Atmosphären · Homo sapiens · Totenkult in Rom · Bevölkerungsexplosion in Afrika · Batterie der Zukunft · Träumen SPEK TRUM DER

SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T 6/16

6/16

ANTHROP OLO GIE


Der Siegeszug des Homo sapiens
TECHNIK
Batterie der Zukunft

Warum
Herausforderungen
MEDIZIN

wir träumen
So simuliert das Gehirn künftige
Heilen mit kaltem Plasma

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JUNI 2016

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schränkung: Das Ende des lokalen derte Radionuklide gegen Krebs • dörfern der Steinzeit • Megatempel:
Realismus • Teilchenphysik: String- Parabiose: Verjüngendes Blut • Angkor Wat und die Hauptstadt des
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EDITORIAL

Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

AUTOREN IN DIESEM HEFT

Cherchez les femmes!

M it Ausgabe 9/2016 werden wir »Spektrum der Wissenschaft« ein neues Layout verpas­
sen und dabei vielleicht auch kleinere neue redaktionelle Akzente setzen. Um die Vor­
lieben unserer Leserinnen und Leser genauer zu erfassen, haben wir vorab einen Teil der
Die Schlaf- und Traumforscherin
Isabelle Arnulf untersucht mit
modernsten neurowissenschaft-
Abonnenten zur diesjährigen Aprilausgabe detailliert befragt. Wir wollten dabei unter ande­ lichen Methoden die Ursachen
rem erfahren, welche Artikel ihnen besonders gut gefallen haben und für welche Themenge­ schwerer Schlafstörungen sowie
biete sie sich ganz allgemein interessieren. mögliche Funktionen des
Die für uns erfreuliche zentrale Nachricht war, dass unsere Leser überwiegend sehr zufrie­ Träumens (S. 20).
den mit »Spektrum« sind! Gleichzeitig lieferten die insgesamt über 400 ausgefüllten Ant­
wortbögen aber auch einige Anregungen zu Verbesserungen und Veränderungen. Jetzt sind
wir daran zu überlegen, inwieweit sich diese ab der Septemberausgabe im Heft niederschla­
gen werden. Lassen Sie sich überraschen!

A uch wir waren überrascht, und zwar von einem speziellen Ergebnis der Befragung: Dem­
nach sind gerade einmal knapp zehn Prozent unserer Abonnenten Frauen – noch weni­
ger, als wir gedacht hatten. Das hat sofort lebhafte Diskussionen in der Redaktion ausgelöst: Der Chirurg Hans-Robert Metel-
Was sind die Ursachen dafür, und können wir daran vielleicht etwas ändern? Die Frage ist mann (links) war von 2002 bis
hochkomplex und birgt reichlich Sprengstoff – denn sollte man wirklich davon ausgehen 2006 Kultusminister von Meck-
müssen, dass sich Frauen im Durchschnitt nicht für eine anspruchsvolle Darstellung natur­ lenburg-Vorpommern. Zusam-
wissenschaftlicher Forschung interessieren? Wohl kaum! Schon der Anteil der Studentinnen men mit Thomas von Woedtke
entsprechender Fächer spricht hier eine deutlich andere Sprache. vom Leibniz-Institut für Plasma-
Woran liegt es also, dass wir vergleichsweise wenige Leserinnen finden? Hat es mit dem forschung und Technologie stellt
Themenmix zu tun oder eher mit der Gestaltung unserer Titelseite? Hier könnte man einen er ab S. 30 die junge Disziplin der
möglichen Grund in einer gewissen Dominanz »harter« physikalischer Themen verorten – Plasmamedizin vor.
die aber andererseits bei Umfragen wie auch der eingangs genannten regelmäßig den Spit­
zenplatz der Interessensgebiete einnehmen. Könnten wir Frauen pauschal durch ein verän­
dertes Erscheinungsbild stärker ansprechen, oder bedient eine solche Diskussion doch nur
wieder alte, längst überwunden geglaubte Stereotype? Es kristallisiert sich ein kaum aufzu­
lösender Widerspruch zweier Betrachtungsweisen heraus: Kann man einerseits überhaupt
von typisch weiblichen und männlichen Präferenzen sprechen? Aber wie lässt sich anderer­
seits unser eindeutiges Befragungsresultat erklären?
Ich persönlich sehe jedenfalls keinen Grund, warum ein Heft wie das vorliegende fast nur Florian Rodler erkundet am
Männer interessieren sollte. Mit der wichtigen Funktion unserer Träume (S. 20), den Gründen Max-Planck-Institut für Astrono-
für den Siegeszug des Homo sapiens (S. 48), den faszinierenden Bestattungsriten im alten mie in Heidelberg die Möglich-
Rom (S. 56) und der bedrohlichen Bevölkerungsentwicklung in Afrika (S. 66) bietet es ein brei­ keiten zur Beobachtung von Exo-
tes Themenspektrum, in dem sicher jeder – und jede – etwas für sich finden kann. planetenatmosphären (S. 36).
Zu diesem Zweck ist er ständig
Viel Vergnügen beim Entdecken wünscht Ihr weltweit unterwegs – von
Teleskop zu Teleskop.

WWW.SPEKTRUM.DE 3
INHALT

3 Editorial 10 Forschung aktuell

6 Spektrogramm Bartagamen Riechen per Molekül­


Riesenhai widerstand Klimakapriolen • Eine Echse mit verblüffen- schwingung
Quantenspinflüssigkeit in 2-D-Material • der Geschlechtsregelung Reagieren Geruchsrezep-
Bewohnbarer Ballon im All •Nerven- toren auf Molekülvibra­
Bypass überwindet Lähmung • Der Vorteil Forschung in Zahlen tionen?
von Paarbeziehungen • Stopptaste im So viel investieren Me-
Gehirn gastädte in Klimaschutz SPRINGERS EINWÜRFE
Die Erbmasse wird Rohstoff
9 Bild des Monats Aufstieg vom Erdkernrand Stehen wir an der Schwel-
Vom Kiemenbogen zum menschlichen Erste scharfe Abbildung le zum postgenomischen
Finger von Säulen im Erdmantel Zeitalter?

30 ............................................................................................................... BIOLOGIE & MEDIZIN

r 30 Heilen mit dem vierten Aggregatzustand


Physikalisches Plasma desinfiziert Wunden, beschleunigt
deren Heilung und kann vielleicht Tumoren bekämpfen.
Thomas von Woedtke und Hans-Robert Metelmann

........................................................................................................ PHYSIK & ASTRONOMIE

SERIE: »GROSSFAHNDUNG NACH EXOPLANETEN« TEIL 3


36 Spurensuche im All
INP GREIFSWALD
Leben auf fernen Planeten sollte Fingerabdrücke im Spek-
trum der Atmosphären hinterlassen.
36 Florian Rodler

SCHLICHTING!
44 Himmlische Sphären
Wölbt ein Luftstrom einen Flüssigkeitsfilm genügend stark
ein, schnüren sich kugelförmige Teile ab – Seifenblasen!
H. Joachim Schlichting

.................................................................................................................... MENSCH & KULTUR

r 48 Der Siegeszug des Homo sapiens


ESO / LUÍS CALÇADA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/IMAGES/ESO0915A/) /
Seine hohe Kooperationsfähigkeit und seine Projektil­
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
waffen machten den modernen Menschen so überlegen.
56 Curtis W. Marean

SPEZIAL: TOTENKULT IM ALTEN ROM


56 »Möge dir die Erde leicht sein«
Ihre Bestattungsriten verraten: Noch mehr als das Sterben
fürchteten die Römer, vergessen zu werden.
Annika Domainko

63 Hauptstadt der Seuchen


Immer wieder forderten Epidemien tausende Tote, wie
Massengräber den Archäologen verraten.
Dominique Castex und Sacha Kacki

AKG IMAGES / GLASSHOUSE IMAGES

4 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


r TITELTHEMA

NEUROWISSENSCHAFT

20 Warum träumen wir?


Isabelle Arnulf

Gut ein Viertel unseres Lebens verbringen wir im


Traum. Haben die flüchtigen Bilder und Szenen
eine Funktion? Oder sind es nur Leerlaufprodukte
des schlafenden Gehirns? Neue Forschungs­
ergebnisse weisen auf wichtige Aufgaben des
nächtlichen Kopfkinos hin.

66 ............................................................................................................................ ERDE & UMWELT

66 Afrikas bedrohliche Bevölkerungsexplosion


Bis 2100 könnten sich mehr als sechs Milliarden Menschen
in Afrika drängen. Dagegen helfen allein die Emanzipation
der Frauen und freier Zugang zu Verhütungsmitteln.
Robert Engelman

........................................................................................................ TECHNIK & COMPUTER

r 74 Die Batterie der Zukunft


JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE
Der Ausbau von Wind- und Solarkraft birgt ein Problem:
74 Der unregelmäßig erzeugte Strom muss zwischengespei-
chert werden. Flussbatterien könnten die Lösung bieten.
Neil Savage

MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
78 Alice und Bob im Geheimraum
Kann man mit Zahlen rechnen, die man nur in ver­
schlüsselter Form zu sehen bekommt? Ja – aber noch ist
es äußerst mühsam.
Brian Hayes
PACIFIC NORTHWEST NATIONAL LABORATORY (PNNL)

19 Impressum 95 Leserbriefe

84 Wissenschaft im Rückblick 96 Futur III


Vom Urmenschfossil zum Großrechner S. R. Algernon: Der Geisterfänger

86 Rezensionen 98 Vorschau
Margot und Roland Spohn: Bäume und ihre
Bewohner • Val McDermid: Anatomie des
Verbrechens • Norbert Hermann Hinterberger:
Die Fälschung des Realismus u. a. Titelmotiv: Getty Images / George Peters
Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit r gekennzeichnet.

WWW.SPEK TRUM .DE 5


SPEKTROGRAMM

PALÄONTOLOGIE

Riesenhai widerstand Klimakapriolen

C archarocles megalodon, der wohl


größte Hai, der je gelebt hat,
verschwand vor 2,6 Millionen Jahren.
Indischen Ozean. Später breiteten sie
sich bis vor die Küsten Asiens, Austra­
liens und Südamerikas aus.
men zu haben. Vielmehr war offen­-
bar Nahrungsmangel der ausschlag­
gebende Faktor. Das allmähliche
Vermutlich wurde ihm keine Klima- Vor etwa 5 Millionen Jahren begann Verschwinden des Megalodons geht
änderung, sondern Nahrungsmangel laut Fossilbefund der kontinuierliche zeitlich einher mit einem Rückgang
zum Verhängnis, wie Forscher um Niedergang des Megalodon. Bislang seiner Beutetiere (hauptsächlich
Catalina Pimiento von der Universität hatten Forscher dies mit klimatischen Wale) sowie dem Aufkommen neuer
Zürich herausgefunden haben. Veränderungen in Zusammenhang Konkurrenten. Insbesondere der
Die Wissenschaftler analysierten gebracht. Die neuen Ergebnisse stellen Weiße Hai und Schwertwale dräng-
rund 200 Funde von Megalodon-Fossi- das in Frage: Die Bestände des Riesen- ten in seine ökologische Nische.
lien, die in Museumssammlungen und hais scheinen weder in kälteren Perio- J. Biogeogr. 10.1111/jbi.12754, 2016
Datenbanken weltweit dokumentiert den ab- noch in wärmeren zugenom-
sind und einen Zeitabschnitt von etwa

MISSLELAUNCHEREXPERT, MATT MARTYNIUK (COMMONS.WIKIMEDIA.


20 Millionen Jahren überdecken. Über 20 METER

die Fundorte und Datierungen rekon­

(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
ORG/WIKI/FILE:MEGALODON_SCALE1.PNG) / CC BY-SA 4.0
struierte das Team, wie weit verbreitet
die Räuber zu verschiedenen Zeitpunk- Der Megalodon (rot:
ten waren und welche Populations­ konservative, grau:
größen sie jeweils erreichten. Dem- maximale Längenschät-
nach jagten die Riesenhaie im frühen zung) stellte sowohl
Miozän, bis vor etwa 16 Millionen den Weißen Hai (grün) C. MEGALODON (MAXIMAL)

Jahren, vorwiegend in warmen Gewäs- als auch den Walhai C. MEGALODON (KONSERVATIV)
RHINCODON TYPUS

(violett) in den Schatten.


C. CARCHARIAS
sern vor Nordamerika, Europa und im

PHYSIK

Quantenspinflüssigkeit in 2-D-Material

P hysiker um Arnab Banerjee vom


Oak Ridge National Laboratory
(Tennessee, USA) haben einen Hinweis
Laut theoretischen Annahmen
können in Quantenspinflüssigkeiten
so genannte Majorana-Fermionen in
auf eine so genannte Quantenspin- Form von »Quasiteilchen« (Anregun-
flüssigkeit gefunden – ein ungeordne- gen eines Vielteilchensystems) ent­
tes System aus Quantenspins, die stehen, indem Elektronen zerfallen.
miteinander in Wechselwirkung ste- Majorana-Fermionen sind hypothe­
hen. Die Forscher arbeiteten mit tische Teilchen mit halbzahligem Spin,
alpha-Ruthenium(III)-chlorid, das eine die gleichzeitig ihre eigenen Antiteil-
Mehr Aktualität! kristalline Schichtstruktur ähnlich chen sind.
dem Graphen aufweist. Darin sollte Streuexperimente mit Neutronen
unter bestimmten Bedingungen eine deuten darauf hin, dass dies in alpha-
Auf Spektrum.de Quantenspinflüssigkeit entstehen. Sie Ruthenium(III)-chlorid tatsächlich
zeichnet sich unter anderem dadurch geschieht, und bestätigen insofern die
berichten unsere  aus, dass die Elektronen mitsamt ihrer theoretischen Erwartungen. Sollten
Redakteure täglich aus Spins selbst am absoluten Nullpunkt sich die Ergebnisse auch von anderen
der Wissenschaft: ein verschränktes Ensemble bilden, das Wissenschaftlerteams reproduzieren
Quantenfluktuationen zeigt – während lassen, wären sie der erste direkte
fundiert, aktuell,  sich in einem »normalen« ferromag- Nachweis einer Quantenspinflüssig-
exklusiv. netischen Material die Elektronenspins keit in einem zweidimensional struk-
bei tiefen Temperaturen alle gleich turierten Material.
ausrichten. Nat. Mater., 10.1038/nmat4604, 2016

6 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


RAUMFAHRT

Bewohnbarer Ballon im All

D ie Internationale Raumstation ISS ist erstmals um


ein aufblasbares Modul erweitert worden. Am 16. April
koppelten NASA-Mitar­beiter die Baueinheit mit einem
ferngesteuerten Roboterarm an die Station an. Dort soll sie
in den kommenden beiden Jahren getestet werden.
Das 1,4 Tonnen schwere Modul mit der Bezeichnung
Beam (Bigelow Expandable Activity Module) wird mit
Luft auf die Größe eines kleinen Schlafzimmers aufgebla-
sen. Es besteht zum großen Teil aus Aramiden, besser
bekannt unter dem Handelsnamen Kevlar. Diese Substan-
zen bewähren sich als hochfeste, schlagzähe, bruch-
resistente, hitze- und feuerbeständige Faserverbundstoffe.

BIGELOW AEROSPACE
Üblicherweise stellt man aus ihnen Schuss- und Splitter-
schutzwesten, Helme und Panzerungen sowie Leichtflug-
zeuge her. Im »Beam«-Modul sorgen die Aramide für
einen Schutz vor einschlagenden Mikrometeoroiden und Zwei Jahre lang soll das aufblasbare Modul Beam an der Interna-
für eine Toleranz gegenüber den extremen Temperatur- tionalen Raumstation verbleiben (künstlerische Grafik).
schwankungen im All.
An aufblasbaren Erweiterungen für Raumschiffe und
Bodenstationen haben Weltraumorganisationen großes auf künftige bemannte Marsmissionen. Bei diesen müssen
Interesse. Da sie erst im Weltraum auf ihre endgültige die Astronauten mehrere Jahre im Raumschiff verbringen,
Größe expandieren, nehmen sie weniger Nutzlastvolumen weshalb sie dort möglichst viel Platz zur Verfügung haben
auf den Raketen in Anspruch, was die Startkosten beträcht- sollten.
lich senken hilft. Besonders interessant ist das im Hinblick NASA, 16. 4. 2016

PROTHESENTECHNIK

Nerven-Bypass überwindet Lähmung

F orscher um Chad E. Bouton von der


Ohio State University (USA) haben
einen Patienten, dessen Gliedmaßen
Das Team implantierte Mikroelekt-
roden in den motorischen Kortex des
Amerikaners Ian Burkhart, dessen
wegungen zuständig sind. Über meh-
rere Monate hinweg hatte der Pro-
band verschiedene Bewegungsabläufe
fast vollständig gelähmt waren, mit Gliedmaßen seit einem Unfall fast am Computer beobachtet und diese
einem »Nerven-Bypass« am rechten vollständig gelähmt sind. Die Elektro- gedanklich nachvollzogen. Ein Algo-
Unterarm ausgestattet. Der Mann kann den zeichnen die Hirnsignale auf, rithmus zeichnete unterdessen
seine rechte Hand nun wieder weitge- wenn der Mann sich bestimmte Hand- seine Hirnsignale auf und lernte, sie
hend normal bewegen. bewegungen vorstellt. Ein externer einzelnen Bewegungen zuzuordnen.
Computer übersetzt die Signale in Mit Hilfe des Nerven-Bypasses
elektrische Impulse und sendet diese beherrscht Burkhart mehrere Handbe-
an eine Manschette um Burkharts wegungen und kann jeden einzelnen
Unterarm, welche mit 130 Elektroden Finger regen. Alltagstauglich ist die
WEXNER MEDICAL CENTER

die Muskeln der Hände und Finger Technik aber noch nicht. Die Forscher
OHIO STATE UNIVERSITY

stimuliert. arbeiten unter anderem daran, eine


Zuvor hatten die Wissenschaftler drahtlose Methode zu entwickeln, die
per Kernspintomografie jene Areale in eine mobile Nutzung des Bypasses
Eine Elektrodenmanschette erlaubt es Ian der Hirnrinde des Patienten identifi- erlaubt.
Burkhart, seine Hand zu bewegen. ziert, die für die Hand-und Fingerbe- Nature 10.1038/nature17435, 2016

WWW.SPEK TRUM .DE 7


SPEKTROGRAMM

ANTHROPOLOGIE

Der Vorteil von Paarbeziehungen

I n heutigen Massengesellschaften ist Monogamie die


Regel – möglicherweise, weil sie Geschlechtskrankheiten
eindämmen hilft. Das berichten Chris Bauch von der Uni-
Demnach bleibt der Anteil Polygyner in kleinen Kollek-
tiven über die Zeit praktisch gleich. In großen hingegen fällt
er nach mehreren Jahrhunderten auf ein Wert von nahezu
versity of Waterloo (Kanada) und sein Kollege Richard null, denn dort leidet ihr Fortpflanzungserfolg unter der
McElreath. Mit Hilfe von Computermodellen fanden sie Dauerpräsenz von Geschlechtskrankheiten, weshalb Mono-
heraus: Wenn Menschen in Gruppen von wenigen dutzend game zunehmend dominieren. Dies stimmt mit ethnologi-
Individuen zusammenleben, ebben spontane Ausbrüche schen Beobachtungen überein, denen zufolge Vielweiberei
von Geschlechtskrankheiten wieder ab, auch wenn die in kleinen Gruppen recht häufig vorkommt, in großen
Männer mehr als eine Frau haben. Ab einer Gruppengröße Gesellschaften hingegen selten. Religiöse Einflüsse erfasste
von einigen Hundert jedoch führt eine solche »Polygynie« das Modell allerdings nicht.
(Vielweiberei) dazu, dass Geschlechtskrankheiten zum Bisher hatten Anthropologen angenommen, Monoga-
Dauerproblem werden. mie sei verbreitet, weil sie eine intensivere Kinderbetreu-
Bauch und McElreath untersuchten in ihrem Modell die ung seitens der Väter erlaube, was dem Nachwuchs zugute-
Wechselwirkungen zwischen Gruppengröße, Häufigkeit von komme. Eine andere Erklärung lautete, Männer schirmten
Geschlechtskrankheiten und sozialen Normen. Dabei ließen wegen der Konkurrenz untereinander ihre Partnerin gegen
sie empirische Daten von etwa 200 Kulturen einfließen – Jä- Nebenbuhler ab. In beiden Fällen bezahlt die Gruppe aller-
ger und Sammler ebenso wie Sesshafte. In Simulationen dings mit einer niedrigeren Geburtenrate. Deshalb ließ sich
verfolgten sie, wie sich über mehrere Jahrtausende hinweg bislang schwer erklären, warum Monogamie offenbar ein
der Anteil von polygynen beziehungsweise monogamen evolutionäres Erfolgsmodell ist.
Männern in bestimmten Gruppen verändert. Nat. Comm. 7, 11219, 2016

GEDÄCHTNIS

Stopptaste im Gehirn

G erade noch war der Gedanke da,


dann kam die Ablenkung, jetzt ist
er weg. An diesem »Verlieren des Fa-
um den Nucleus subthalamicus im
Zwischenhirn.
Neurowissenschaftler um Jan Wessel
ter einen ablenkenden Reiz in Form
überraschenden Vogelgezwitschers
vorgespielt.
dens« ist offenbar dasselbe Hirn­areal von der University of Iowa (USA) Wie die Messungen belegten, lässt
beteiligt, das in überraschenden zeichneten während eines Gedächtnis- die Ablenkung den Nucleus subtha­
Momenten unsere Körperbewegungen tests die Hirnströme von 20 gesun- lamicus aktiv werden. Je stärker der
stoppt, wenn wir beispielsweise den den Probanden und sieben Parkinson- Effekt ausfällt, desto weniger können
Fahrstuhl verlassen und uns abrupt patienten auf. Bei den Ersten taten sie sich die entsprechenden Teilnehmer
jemand entgegentritt. Es handelt sich das per Elektroenzephalografie (EEG) hinterher an die Buchstabenfolgen
– bei den Zweiten hingegen über erinnern. Zudem ähneln die Hirnsigna-
Elektroden, die zu therapeutischen le, die als Reaktion auf den Ablen-
Zwecken ins Gehirn eingesetzt worden kungsreiz auftreten, jenen bei einem
waren, was eine Zuordnung der gemes- plötzlichen Bewegungsstopp. Demzu-
senen Signale zu Hirnarealen erlaubte. folge liegen dem »Verlieren des Fa-
Alle Teilnehmer mussten Buchstaben- dens« die gleichen Hirnvorgänge zu
folgen aus dem Gedächtnis heraus Grunde wie dem motorischen Innehal-
vergleichen. Dabei bekamen sie mitun- ten in überraschenden Situationen.
Bereits zuvor hatten die Wissen-
schaftler zeigen können, dass der
Die Symptome der Parkinsonkrankheit Nucleus subthalamicus reflexartige Be-
lassen sich unter anderem per elektrischer wegungsstopps vermittelt. Symptome
Hirnstimulation behandeln. Dabei führen der Parkinsonkrankheit lassen sich
Ärzte Elektroden (weiß) in den Nucleus lindern, indem man diese Hirnregion
subthalamicus (orange) ein. Dieser fun- mit Elektroden stimuliert.
giert als Stopptaste des Gehirns. Nat. Comm. 7, 11195, 2016
ANDREASHORN (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DEEP_BRAIN_STIMULATION_ELECTRODE_PLACEMENT_
RECONSTRUCTION.PNG) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

8 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


BILD DES MONATS

VOM KIEMEN-
BOGEN ZUM
MENSCHLICHEN
FINGER
Forscher um den Zoologen Andrew Gillis von
der Cambridge University schalteten bei
Rochenembryos (hier ein eingefärbtes Bild
eines bereits weit entwickelten Exemplars)
ein Gen namens sonic hedgehoc aus, das
beim Menschen das Wachstum der Finger
steuert. Ergebnis: Es spielt eine ähnliche
Rolle bei den Kiemenbögen der Knorpelfi-
sche. Das deutet darauf hin, dass sich seitli-
che Flossenpaare – die Vorläufer unserer
Gliedmaßen – aus den Kiemenbögen urtüm-
licher Knorpelfische entwickelt haben
könnten. Für die bereits im 19. Jahrhundert
formulierte These fehlen bislang fossile
Beweise.

Development 143: S. 1313 – 1317, 2016

WWW.SPEK TRUM .DE


J. ANDREW GILLIS / MARINE BIOLOGICAL LABORATORY (MBL), WOODS HOLE 9
FORSCHUNG AKTUELL

EVOLUTION

Männchen oder Weibchen?


Bei einer australischen Echse richtet sich das Geschlecht nicht immer nach den Chromosomen: Dann
gibt die Bruttemperatur den Ausschlag. Damit fordert diese Bartagame Evolutionsforscher heraus.

VON JAMES J. BULL

D ie Regeln, nach denen sich ent-


scheidet, ob ein Nachkomme
Männchen und Weibchen wird, variie-
Während die Fische noch recht flexible,
eher umweltbedingte Mechanismen
anwandten, verlegten sich die Säuge­
dass auch fast ein Fünftel der Tiere mit
zwei Z-Chromosomen Weibchen sind.
Genetisch wären diese eigentlich
ren zwischen Wirbeltieren offenbar tiere und die Vögel auf ziemlich starre Männchen. Als die Forscher daraufhin
noch stärker als bislang angenommen. genetische Regelungen. Und die Rep­ Eier im Labor ausbrüteten, stellten sie
Die Streifenköpfige Bartagame – Pogo- tilien passten angeblich irgendwo da­ fest: Unterhalb einer Bruttemperatur
na vitticeps – nutzt dafür gleichzeitig zwischen. von etwa 28 Grad werden ZZ-Tiere
zwei völlig verschiedene Mechanismen, Aber in den folgenden Jahrzehnten Männchen; darüber entstehen aus ih-
die eigentlich nicht zusammenzupas- stellte sich heraus, dass es viele Reptili- nen auch Weibchen – und zwar zuneh-
sen scheinen. Das entdeckte eine For- en gibt, die streng auf Geschlechtschro- mend mehr mit steigender Wärme.
schergruppe um Clare E. Holleley von mosomen setzen – während sich ande- Wie aber sind die beiden Systeme
der University of Canberra (Nature 523, re Arten vollständig nach der Bruttem- miteinander vereinbar? Schließlich wä-
S. 79 – 82, 2015). In ihren langjährigen peratur richten, anscheinend ohne sich ren zwei schwer wiegende negative Fol-
Feld- und Laborstudien zeigte sich, dass dabei im Mindesten um genetische gen für die Population denkbar. Erstens:
dieses Eier legende Reptil aus dem In- Vorgaben zu kümmern. Wie wir damals Würden sich auch ZW-Embryonen teils
nern Australiens zwar zwei verschiede- staunend erkannten, erfüllen beide temperaturabhängig entwickeln und
ne Geschlechtschromosomen besitzt, Ausprägungen grundlegende evolutio- entstünden dadurch ZW-Männchen,
sich daran während der Reifung im Ei näre Anforderungen: Sie erlauben eine dann gäbe es unter den Nachkommen
aber nur bedingt orientiert. Denn effiziente Anpassung an die Gegeben- von ZW-Männchen und ZW-Weibchen
manchmal gibt trotzdem, wie bei einer heiten. Es handelt sich also keineswegs unfruchtbare oder nicht lebensfähige
Reihe anderer Reptilien, die Außentem- um verschiedene Stufen einer fort- WW-Tiere, falls das W-Chromosom viele
peratur den Ausschlag dafür, welches schreitenden Entwicklung, sondern seiner Gene verloren hätte, wie es bei
Geschlecht das Tier im Ei entwickelt – einfach um alternative Zustände. Aus unserem Y-Chromosom der Fall ist. Das
allerdings nur bei den Weibchen. beiden Systemen könnte im Verlauf der geschieht aber nicht; ZW-Echsen sind
Bis vor 50 Jahren galt als Lehrmei- Evolution theoretisch die jeweils ande- immer Weibchen.
nung, dass im Lauf der Evolution der re Form hervorgehen. Sie könnte sogar Zweitens: Wie begegnen die Agamen
Wirbeltiere der genetische Einfluss auf mehrmals dazwischen wechseln. Bis- einem hohen Weibchenüberschuss in
die Geschlechtsausprägung wuchs. Zu- lang kannten wir bei Reptilien aller- der Population? Der Anteil des W-Chro-
erst war diese demnach stark von äuße- dings nur Arten, die ausschließlich ei- mosoms unter den Tieren würde bei
ren Faktoren wie der relativen Körper- nem der beiden Mechanismus folgen. vielen ZZ-Weibchen automatisch im-
größe oder der Umgebungstemperatur Es gab kein Beispiel für einen Wechsel mer niedriger, weil nur die ZW-Weib-
abhängig. Solche Phänomene finden oder einen Übergangszustand. chen es weitervererbten. Also gäbe es
sich etwa bei Fischen. Erst mit der Zeit im Gegenzug immer weniger ZW-Weib-
hätten sich zwei verschiedene für das Zustand auf der Kippe chen. Dann würden sich die Verhält­
Geschlecht maßgebliche Chromoso- Die australische Bartagame aber ver- nisse allmählich hin zu einer rein wär-
men herausgebildet, von denen eines eint beide Systeme und könnte einen mebedingten Geschlechtsbestimmung
zudem schrumpfte und dabei vorwie- Zustand auf der Kippe zwischen den verlagern. Offenbar herrschen für Po-
gend geschlechtsbestimmende Merk- beiden Mechanismen repräsentieren. gona vitticeps aber bislang Tempera­
male behielt. Bei Vögeln besitzen die Pogona vitticeps besitzt äußerlich gut turen, bei der beide Formen der Ge-
Weibchen zwei ungleiche Chromoso- unterscheidbare Geschlechtschromo- schlechtsbestimmung nebeneinander
men, bei den Säugetieren die Männ- somen. Und zwar haben die meisten zum Zuge kommen, so dass stets nur
chen. Nach jener alten Auffassung wur- Weibchen verschiedene – Z und W ge- ein Teil der Weibchen zwei Z-Chro­
den die beiden Geschlechtschromoso- nannt –, während alle Männchen zwei mosomen aufweist. Vorausgesetzt, die
men im Zuge der »Höherentwicklung« Z-Chromosomen aufweisen, ein ähnli- Umweltbedingungen bleiben dafür
bei den jüngeren Wirbeltierklassen ches Muster wie bei Vögeln. Jedoch weiter günstig, könnte sich das derzei­
­immer bestimmender und wichtiger: brachten die Feldforschungen zu Tage, tige Gleichgewicht beliebig lange erhal-

10  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MIT FRDL. GEN. VON ARTHUR GEORGES, UNIVERSITY OF CANBERRA
Die gut einen halben Meter lange Streifenköpfige Bartagame (Pogona viitticeps) lebt in Die Zustände könnten sogar umschla-
eher trockenen Gegenden im östlichen Zentralaustralien. Drohende Tiere spreizen ihren gen. Denn wenn in warmen Jahren
»Bart« ab, der dann schwarz wird. ­besonders viele ZZ-Weibchen heran-
wachsen, würden danach und in den
Folgegenerationen umso weniger ZW-
ten. Wie die Forscher jedoch zeigten, wieso eine temperaturabhängige Ge- Weibchen schlüpfen. Holleley und ihre
steht die Balance zwischen den beiden schlechtsbestimmung unter manchen Kollegen fürchten in dem Zusammen-
Mechanismen auf einem sehr schma- Bedingungen anscheinend die günsti- hang die möglichen Folgen einer Kli-
len Grat, denn oberhalb von 32 Grad gere Option darstellt. maerwärmung. Im Extremfall würde
Celsius entwickeln sich bereits sehr vie- Zukünftig sind ähnliche Untersu- die Art aussterben, wenn keine Männ-
le ZZ-Tiere zu Weibchen. chungen an weiteren Reptilien zu er- chen mehr aufträten. Doch berichten
Zu dieser Beobachtung passen wei- warten. Insbesondere werden viele Wis- sie von einem ZZ-Weibchen, aus deren
tere Daten derselben Forscher. Kinder senschaftler herausfinden wollen, wie Eiern selbst bei hohen Nesttemperatu-
von ZZ-Müttern, die alle zwangsläufig derart verschiedene Formen der Ge- ren ausschließlich Männchen schlüpf-
zwei Z-Chromosomen besitzen, werden schlechtsbestimmung einander in der ten. Die Forscher werten dies als Anzei-
bereits bei einer etwas niedrigeren Evolution ablösen können. Vergleiche chen dafür, dass auch die Empfänglich-
Nesttemperatur vermehrt zu Weibchen des Fortpflanzungserfolgs von ZZ- und keit der Brut für Wärme Evolutions-
als ZZ-Kinder von ZW-Müttern. Das ZW-Weibchen, die bei der gleichen Tem- einflüssen unterliegt.
könnte bedeuten: Die Empfänglichkeit peratur erbrütet wurden, dürften erhel-
für die Bruttemperatur variiert zwi- len, welche Vorteile die beiden Systeme James J. Bull hat an der University of Texas in
schen den Individuen. Wer genetisch jeweils bieten. Sie könnten sogar ver­ Austin die Johann-Friedrich-Miescher-Regents-
eher dafür prädisponiert ist, ein ZZ- stehen helfen, welche Nachteile die De- Professur für Molekularbiologie inne. Schon
Weibchen zu werden, dessen ZZ-Kinder generation eines Geschlechtschromo- 1983 verfasste er ein Werk über die Evolution
sind es ebenfalls. Und überraschen­ soms möglicherweise verursacht. von Geschlechtsbestimmungsmechanismen.
derweise haben ZZ-Weibchen deutlich Eine weitere Frage lautet: Wie reagie-
mehr Nachkommen als ZW-Weibchen. ren die Tiere auf Klimaveränderungen? © Nature Publishing Group
Bislang können die Forscher dies nicht Eigentlich müsste sich dann ein etab- www.nature.com
erklären. Sie müssen nun herausfinden, liertes Gleichgewicht rasch verändern. Nature 523, S. 43 – 44, 2. Juli 2015

WWW.SPEK TRUM .DE 11


Forschung in Zahlen:
Klimaschutz in Megastädten
Wie bereiten sich die weltweit größten Städte auf die Folgen des Klima­
wandels vor, und wofür investieren sie dabei am meisten? Forscher
um Lucien Georgeson vom University College London fassten 2
zusammen, wie viel Geld zehn Megastädte in einzelne Wirt- 13
schaftszweige zur Anpassung an den Klimawandel und zum
Schutz vor Klimakatastrophen 2014 und 2015 ausgaben
11
(Nat. Clim. Change 10.1038/nclimate2944, 2016). Weltweit
wurden dafür 283 Milliarden Euro aufgebracht; das ent- PEKING
spricht 0,38 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. 48 1083,77
Mio. €
Die Forscher kritisieren, dass in Entwicklungsländern
die Städte deutlich weniger Geld in Anpassungen 11
stecken als in Industrieländern.
2
Von Miriam Plappert 4
2 1
<1 7
15
2

32 32
NEW YORK
12 PARIS
2062,48 1145,86
Mio. € Mio. €

2 1
1 16 16 9
1,5 6 2,5
9
32
2 3
CLIMATE CHANGE DIFFER BETWEEN GLOBAL MEGACITIES. IN: NATURE

8
PLAPPERT, NACH: GORGESON, L. ET AL.: ADAPTATION RESPONSES TO
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ANKE HEINZELMANN UND MIRIAM

CLIMATE CHANGE, 10.1038/NCLIMATE2944, 2016; PEKING: FOTOLIA /


MUCHMANIA; NEW YORK, PARIS, LONDON: FOTOLIA / BAHRAM7

14
LONDON
1258,98
Mio. €

Ausgaben für den 1


Katastrophenschutz: 14
0,25 – 27,1 Mio. € 8
2 3
UMRECHNUNGSKURS PFUND IN EURO: 1£ = 1,27 € 8
12  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016
3
4
13
13 €
SÃO PAULO Peking gab zirka

MEXIKO-STADT
780,68 14
0,33 % des Brutto-
Mio. € instadtprodukts
783,60 34
Mio. €
13 aus, Addis Abeba
35 0,14 %.

12
12 ADDIS ABEBA
1,5
7 4 19,14 5 11
1 5 2,5 9 Mio. € 31 12
6
2 9 1 20
64 7 3
4
13
4 13
34 14 4
Pro Kopf 34 14 13
investierte
33 13
New York rund
13
245,6 €, 1
12 7 2 8 4 14
Addis Abeba 1
1 6 3 9 4
etwa 6 €. 7 4
2 9 JAKARTA
LAGOS
186,87 66,14
MUMBAI Mio. €
Mio. €
417,56
Mio. €

Stadtplanung Wasser
18
Zum Beispiel: Bauwesen und Land- und Zum Beispiel: nachhaltige
Modernisierung einschließlich Forstwirtschaft Abflusssysteme; Wasser-
Herstellung von Umrüstungs- infrastruktur und Bewässe-
materialien; Energieeffizienz für Zum Beispiel: Anpassungen der rung; Leckkontrolle in
angenehme Temperaturen; Ackerbaugeräte; Nutzpflanzen- Wasserverteilungssystemen; Transport
Kühlung von Gebäuden, etwa und Bodenmanagement; Anbau- nachhaltiger Umgang Zum Beispiel:
12 durch grüne (bewachsene) möglichkeiten neuer Sorten mit natürlichen Wasser- Flughäfen, Brücken,
oder reflektierende durch den Klimawandel; quellen
Schädlingsbekämpfung; Bahn, Straßen und
Dächer Wasserwege;
verbesserte neue
Arten Infrastruktur

Kata- Natur
16 strophenschutz und Umwelt
Zum Beispiel: Verteidigung und Zum Beispiel: Wetter- Professionelle
Schutz der Wasserwege; Schutz stationen; Landschafts- Dienstleistungen
kritischer Gebäude und Installatio- gestaltung; Erhalt von Grün- Zum Beispiel: Klimawandel-
nen; Frühwarnsystem und Notfallplan; 10 Ausgaben flächen; Bäume anpflanzen; beratung für ein weites
Bereitstellen von Hochwasserbarrieren in % Umweltuntersuchung Industriespektrum;
CLIMATE CHANGE, 10.1038/NCLIMATE2944, 2016; MEXICO CITY: FOTOLIA /
CLIMATE CHANGE DIFFER BETWEEN GLOBAL MEGACITIES. IN: NATURE

und Ausrüstung gegen eindringen- und -vermessung;


PLAPPERT, NACH: GORGESON, L. ET AL.: ADAPTATION RESPONSES TO
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ANKE HEINZELMANN UND MIRIAM

Katastrophenvorsorge;
BHARY; SÃO PAULO: FOTOLIA / LISAKOLBASA; MUMBAI: FOTOLIA /

des Wasser; Umsiedlung von Naturschutz Risikomanage-


gefährdeten Gemeinden;
ARTYOM YEFIMOV; JAKARTA: FOTOLIA / WORAVITWORAPANI;

ment
Herstellung und Lieferung
von Sandsäcken Infor-
Energie mation und
LAGOS, ADDIS ABEBA: FOTOLIA / JEFF BIRD

Zum Beispiel: Hochwasser-


Kommunikation
schutz für Kraftwerke und Zum Beispiel: Kontroll-
Gesundheit systeme; Daten-
Wasserwerke; störungsfreie
Übertragung: Stromnetz und Zum Beispiel: For- management;
Untergrundkabelinstallation; schung und Planung für Netzwerke
Energieerzeugung mit mini- Krankheitsmonitoring;
malem Kühlwasserver- Spezialisten für
brauch; neue Vertei- Grün- und Wasser-
lungssysteme anlagen
WWW.SPEK TRUM .DE 13
FORSCHUNG AKTUELL

GEOPHYSIK

Aufstieg vom Rand des Erdkerns


Eine neue Methode zur Abbildung des Erdinnern zeigt erstmals, wie säulenartige
Strömungen von heißem Gestein den gesamten Erdmantel durchziehen.

VON ERIC HAND

S chon seit Jahrzehnten wogt der Streit


um den Ursprung der Hotspots. An
diesen vulkanischen Regionen, von de-
ßerdem haben Seismologen, die an-
hand von Erdbebenwellen tomografi-
sche Aufnahmen des Erdinneren er­
die den seismografischen Aufzeichnun-
gen bislang verborgene Details entlockt,
fanden Forscher klare Hinweise auf 28
nen mehrere Dutzend über den Globus stellen, in den oberen Mantelregionen Plumes – die meisten unter vulkani-
verteilt sind, ist die Erdkruste aufge- Hinweise auf die heißen Gesteinssäu- schen Hotspots –, die sich ohne Unter-
wölbt, als würde glühendes Material un- len gefunden. Doch solange nicht nach- brechung senkrecht bis zum Erdkern
erbittlich von unten dagegen drücken. gewiesen war, wie tief sie hinabreichen, erstrecken (Bild rechts unten). »Wenn
Als Ursache vermuten viele Geowissen- bezweifelten einige Geophysiker, dass sich unsere Ergebnisse als stichhaltig
schaftler so genannte Plumes: Ströme sie wirklich an der Grenze zum Erdkern erweisen, setzen sie den Schlussstrich
heißen Gesteins, das aus Tiefen von entstehen, und hielten einen Ursprung unter die Debatte«, erklärt Barbara Ro-
3000 Kilometern säulenartig aufsteigt. weiter oben für genauso denkbar, ja so- manowicz, Geophysikerin an der Uni-
Für diese Vorstellung sprechen phy- gar wahrscheinlicher. versity of California in Berkeley, welche
sikalische Modelle, wonach sich solche die Untersuchung zusammen mit ih-
Plumes wie Blasen in einem Topf mit Klärung einer alten Streitfrage rem Kollegen Scott French veröffent-
kochendem Wasser spontan im Erd- Eine neue Untersuchung dürfte die alte licht hat (Nature 525, S. 95, 2015 ).
mantel bilden sollten, wenn er vom Streitfrage nun endgültig entschieden Doch die Studie birgt auch Überra-
Erdkern darunter aufgeheizt wird. Au- haben. Mit einer raffinierten Methode, schungen. So sind die Plumes demnach

Röhrensystem in der Tiefe


So genannte Mantelplumes sind nach einer neuen Untersuchung unerwartet dick und entspringen direkt dem Erdkern. Folgendes wissen
Geologen nun über diese Säulen aus aufsteigendem heißem Gestein im Erdmantel:

1. Abkühlung des Erdkerns 4. Abknickende Säulen


Weil die Plumes so breit sind und gerad- Einige Plumes wie der unter Hawaii knicken in
linig vom Erdkern ausgehen, könnten einer Tiefe von etwa 1000 Kilometern ab. Der
sie mehr Wärme von dort abführen als Grund ist möglicherweise, dass ein Mineral in Kruste

Konvektionsströmungen, die bisher als dem zugehörigen Gestein bei sinkendem innerer 6370 km
wichtigste Wärmetransporter galten. Umgebungsdruck eine andere Struktur an- Kern
nimmt.
2. Quelle der Plumes
Viele Plumes entspringen in »ultra low
velocity zones«, Bereichen mit sehr ge- vulkanischer Hotspot
ringer seismischer Geschwindigkeit, in
0 – 660 km Konvektionszelle oberer M
denen sich womöglich teilweise ge- ante
l
schmolzenes Gestein mit hohem Eisen- 1000
km Subduktionszone
gehalt befindet. 660 – 2890
2

3. Tief gesunkene Krustenstücke


Teile ozeanischer Erdkruste, die an Sub- 1
duktionszonen abgetaucht ist, könnten
2890 –5150
unterer äußerer
bis hinab an den Rand des Erdmantels Kern
Mantel 3
gelangen, wo sie eventuell Material für
die Mantelplumes liefern.
ALBERTO CUADRA / SCIENCE; HAND, E.: MANTLE PLUMES SEEN RISING FROM EARTH‘S CORE. IN: SCIENCE 349, S. 1032-1033, 2015; ABDRUCK GENEHMIGT VON AAAS-SCIENCE / CCC

14  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


600 bis 800 Kilometer breit – mehr als nach könnte das eine Zustandsände- Die neue Studie liefere jedoch ein
das Dreifache des Werts, der sich aus rung des Materials widerspiegeln, die schärferes Bild. Das gelte vor allem für
einfachen Modellen ergibt. Das bedeu- es bei abnehmendem Druck und sin- die obersten und untersten Bereiche
tet, dass sie mehr Wärme vom Erdkern kender Temperatur weniger steif wer- des Erdmantels.
abführen können als bisher gedacht. den lässt. Nolet glaubt, dass die größere Dicke
Außerdem verlaufen auch ihre tiefsten der Plumes neue Einsichten in die Wär-
Abschnitte schnurgerade, unbeeinflusst Schärfere »Aufnahme« meabgabe aus dem Erdinneren vermit-
vom mutmaßlichen Zirkulieren des des Erdmantels telt, die auf etwa 44 Terawatt geschätzt
zähplastischen Gesteins im unteren Was die überraschende Dicke der Plu- wird. Die Hälfte davon stammt nach
Mantel. »Es sieht ganz danach aus, als mes betrifft, so passt sie laut van Keken Lehrbuchmeinung aus dem Zerfall ra-
müssten wir unsere Vorstellungen von zu den sich mehrenden Hinweisen, wo- dioaktiver Elemente, während es sich
den Vorgängen an der Grenze zum Erd- nach die aufsteigenden heißen Ge- bei der anderen Hälfte um noch im
kern überdenken«, meint Romanowicz. steinssäulen eine andere Zusammen- Kern gespeicherte Restwärme aus der
Andere Forscher äußern sich aner- setzung haben als der umgebende Entstehungszeit unseres Planeten han-
kennend. »Die tomografische Analyse Mantel. »Wenn sich in einem Plume an delt. Bisher dachten die Geophysiker,
ist eine Glanzleistung«, lobt der Geo­ der Kern-Mantel-Grenze dichteres ba- dass diese Wärme hauptsächlich durch
dynamiker Peter van Keken von der saltisches Material ansammelt«, so der Konvektion abgeführt wird, also durch
University of Michigan in Ann Arbor. Wissenschaftler, »dann verringert das die walzenartige Zirkulation von Ge-
»Was zuvor noch recht verschwommen den Auftrieb und führt zu einer Ver- stein. »Das müssen wir nun wohl revi-
aussah, zeigt sich nun viel konturier- breiterung.« dieren und den Plumes eine viel wichti-
ter.« Allerdings wundert sich der For- Nach Aussage von Guust Nolet, ei- gere Rolle zuschreiben«, erklärt Nolet.
scher, dass die Plumes oberhalb einer nem emeritierten Geophysiker von »Vielleicht gibt es im unteren Mantel
Tiefe von rund 1000 Kilometern teils der Université Nice Sophia Antipolis überhaupt keine Konvektion.«
nicht mehr gerade verlaufen, sondern (Frankreich), haben auch frühere Un- Die neuen Ergebnisse beruhen auf
abbiegen und seitlich versetzt ihren tersuchungen schon die Existenz von einer weiterentwickelten Form der seis-
Aufstieg fortführen. Seiner Ansicht Plumes in großen Tiefen nahegelegt. mischen Tomografie. Bei starken Erdbe-

Weltweite Verteilung von Plumes und Hotspots Forscher haben 28 Plumes im Erdmantel identifiziert, die
sich fast alle unterhalb solcher Vulkanregionen befinden,
die als Hotspots (heiße Flecken) bekannt sind.

SCIENCE, NACH: FRENCH, S.W. ET AL.: BROAD PLUMES ROOTED AT THE BASE OF THE EARTH’S MANTLE BENEATH MAJOR HOTSPOTS. IN: NATURE 525, S. 95-99, 2015,
FIG. 4; HAND, E.: MANTLE PLUMES SEEN RISING FROM EARTH‘S CORE. IN: SCIENCE 349, S. 1032-1033, 2015; ABDRUCK GENEHMIGT VON AAAS-SCIENCE / CCC
Atlantischer
Ozean

Pazifischer
Ozean
Indischer
Ozean

südlicher
Ozean

bedeutender Plume mäßiger Plume möglicher Plume Hotspot

WWW.SPEK TRUM .DE 15


FORSCHUNG AKTUELL

ben laufen vom Bebenherd aus seis­ Computing Center (NERSC) in Berkeley Computermodelle wünschen. Wenn
mische Wellen durch das Erdinnere, wo (Kalifornien). Details mit Abmessungen von 100 Kilo-
sie an Grenzflächen reflektiert werden Doch nicht alle sind vom Ergebnis metern sichtbar wären, ließe sich zum
und sich verlangsamen, wenn sie auf dieses Kraftakts überzeugt. So erachtet Beispiel klären, was mit der ozeani-
ungewöhnlich heiße Zonen geringer die Geophysikerin Gillian Foulger von schen Kruste geschieht, die an so ge-
Dichte treffen, wie Plumes sie darstel- der University of Durham (England) nannten Subduktionszonen ins Erdin-
len. Durch Vermessung vieler Erdbeben ihre schon lange gehegten Zweifel an nere abtaucht. Bisher ist offen, ob sie ir-
erhält man so ein Bild des Erdinneren. der Hypothese tief reichender Mantel- gendwo mitten im Erdmantel stecken
plumes keineswegs für ausgeräumt. bleibt oder bis hinunter an den Rand
Ein rechnerischer Kraftakt Zum einen hält sie die Methode der Ge- des Erdkerns vordringt. Aber eine der-
Als Messgrößen dienen üblicherweise samtwellenformtomoprafie noch für art hohe Auflösung lässt sich nur er­
die Ankunftszeiten der Wellen. Das ist unausgereift. Zum anderen bemängelt reichen, wenn die Modelle auch die
jeweils der Moment, an dem das Seis- sie, dass sich die meisten der von Ro- feinsten Ausschläge – also die hochfre-
mometer auszuschlagen beginnt. Das manowicz und French entdeckten Plu- quenten Anteile – in den Seismogram-
neue Verfahren wertet dagegen den ge- mes unter Hotspots in der Tiefsee be- men berücksichtigen. Das erfordert
samten Wellenzug aus, wie er im Seis- finden, wo nur sehr wenige seismische noch mehr Rechenleistung. »Da brau-
mogramm erscheint. Diese Gesamtwel- Daten verfügbar sind. »Bei kümmerli- chen Sie eine Rakete von Computer,
lenformtomografie (full waveform to- cher Datenlage sieht man eine Menge sonst kommt Ihr Doktorand nie zu sei-
mography) erfordert allerdings einen Rauschen«, erklärt sie. nem Titel«, beklagt van Keken.
enormen Rechenaufwand. Für die Ana- Van Keken hingegen sieht in der
lyse von 273 starken Erdbeben benötig- ­Studie einen starken Beleg für die Exis- Eric Hand ist Redakteur für Geowissenschaften
ten Romanowicz und French das Äqui- tenz tief reichender Mantelplumes. bei »Science«.
valent von drei Millionen Stunden auf »Die Skeptiker sind deutlich in der Min-
einem Supercomputer namens Hopper derheit«, meint er. Auch er würde sich © Science
am National Energy Research Scientific allerdings eine höhere Auflösung der Science 349, S. 1032 –1033, 4. 9. 2015

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16  SPEK TRUM DERscannen!
Smartphone WISSENSCHAF T · JUNI 2016
SINNESPHYSIOLOGIE

Riechen per Molekülschwingung


Das Ohr registriert die Schwingungen des Luftdrucks, das Auge die des elektromag­
netischen Felds – und die Nase möglicherweise die Schwingungen der Duftmoleküle!

VON MIRIAM PLAPPERT

W ir riechen etwas, wenn sich ein


Molekül eines Geruchsstoffs an
ein Rezeptorprotein in der Membran
kül räumlich genau zusammenpassen.
Zusätzlich spielen Ladungsschwerpunk-
te innerhalb der Atomgruppen und die
haupt nicht ähneln, dennoch gleich rie-
chen. Bislang ist es auch nicht gelungen,
den Geruch eines Moleküls auf Grund
einer Riechsinneszelle bindet. Von die- Wasserlöslichkeit der Moleküle eine seiner chemischen Eigenschaften zu-
sen Geruchsrezeptorproteinen besit- Rolle. Diese Theorie stößt jedoch an ih- verlässig vorherzusagen – ein noch un-
zen wir rund 350 verschiedene Sorten – re Grenzen. Beispielsweise erklärt sie erfüllter Traum von Parfümherstellern.
genug, um mehr als eine Billion Gerü- nicht, weshalb manche Verbindungen, Hier könnte eine alternative Theorie
che unterscheiden zu können (Science deren Strukturmerkmale sich über- weiterhelfen, nach der Geruchsrezep­
343, S. 1370 – 1372, 2014). Wieso jeder
dieser Rezeptoren jedoch nur die für
ihn spezifischen Moleküle andocken Die gewöhnliche und die deuterierte Version von drei Geruchsstoffen unterscheiden
lässt und keine anderen, ist noch im- sich in ihren Vibrationsspektren (Diagramme links). Zu jedem Stoff ist das Skelett seiner
mer eine unbeantwortete Frage. Strukturformel sowie im Einzelfall die vibrierende Bindung angegeben. Für dieselben
Die wohl gängigste Erklärung ist Geruchsstoffe unterscheiden sich die geruchsinduzierten Erregungsmuster im Riechhirn
das Schlüssel-Schloss-Prinzip. Dem- der Honigbiene (rechts). h bezeichnet die gewöhnliche Version, d die deuterierte; die
nach müssen Rezeptor und Duftmole- Zahl gibt die Anzahl der durch Deuterium ersetzten Wasserstoffatome an.

Duftmessung: Spektroskopisch und im Bienengehirn


Aktivität im
Vibrationsspektren Riechhirn der Honigbiene

. 10–3 1-Oktanol OCT-h OCT-d 17


1 C–H

ISOTOPOMERS IN THE HONEYBEE BRAIN. IN: NATURE SCIENTIFIC REPORTS 6, 21893, 10.1038/SREP21893, 2016, FIG. 3A, C, E, G (LINKS) UND FIG. 2B (RECHTS)
C–D

NEUROPHYSICS GROUP, UNIVERSITY OF TRENTO, MIT FRDL. GEN. VON ALBRECHT HAASE; PAOLI, M., HAASE, A. ET AL.: DIFFERENTIAL ODOUR CODING OF
0,5
OH
0
2200 2400 2600 2800 3000 3200
C–H
. 10–3 (Aldehydgruppe) Benzaldehyd BZA-h BZA-d 5
Absorption

O (Bittermandelöl)
8
C–H
C–D (aromatisch)
4

0
2200 2400 2600 2800 3000 3200
0,2
C–H Essigsäure- ISO-h ISO-d 3
0,1 isopentylester

0
2200 2400 2600 2800 3000 3200
Wellenzahl [cm – 1 ]
hohe Aktivität
geringe Aktivität
normal keine Aktivität
deuteriert Hemmung

WWW.SPEK TRUM .DE 17


SPRINGERS EINWÜRFE

Die Erbmasse wird Rohstoff toren Duftmoleküle an den Schwin-


gungen ihrer Atome erkennen. Seit die-
Stehen wir an der Schwelle zum »postgenomischen Zeitalter«? se Überlegung in den 1930er Jahren an-
gestellt wurde, beschäftigte sie, trotz

L iegen weiße Champignons längere Zeit im Supermarktregal, werden sie unan-


sehnlich: Sie bekommen braune Flecken und überziehen sich mit unappetit­
lichem Schleim. Schuld daran ist das Enzym Polyphenoloxidase. Lässt sich seine Ent-
einiger Ungereimtheiten, immer wie-
der die Forscher.

stehung verhindern? Nichts leichter als das. Angedickte Moleküle


Mit einer kürzlich entwickelten Technik namens CRISPR-Cas9 gelang es dem Wie könnte ein Rezeptor überhaupt in
Pflanzenforscher Yinong Yang an der Pennsylvania State University, gezielt ein für der Lage sein, die Vibrationen eines
das unerwünschte Enzym kodierendes Gen auszuschalten. Seine Universität hat Duftmoleküls zu messen? Luca Turin,
das gentechnische Verfahren zur Konservierung weißer Pilze bereits zum Patent an- damals im Fachbereich Anatomie und
gemeldet (Nature 532, S. 293, 2016). Entwicklungsbiologie des University
Wie das Beispiel zeigt, lässt sich das Erbmaterial mit der CRISPR-Technik in zuvor College London tätig, hat dazu bereits
ungeahnter Weise nach Wunsch manipulieren (siehe Spektrum der Wissenschaft 1996 einen denkbaren Mechanismus
9/2015, S. 22). Forscher können nun ganz nach Belieben bestimmte DNA-Stücke prä- ausgearbeitet. Vereinfacht dargestellt
zise herausschneiden und durch andere ersetzen. Frühere gentechnische Verfahren läuft er folgendermaßen ab: Der Re­
brachten das nur eingeschränkt und viel umständlicher zu Wege. zeptor verfügt über eine taschenartige
Die nobelpreisverdächtige Entdeckung macht das Erbmaterial vollends zum Bindungsstelle, in die das Geruchs­
technischen Rohstoff. Der Gentechniker nimmt da und dort etwas DNA heraus, molekül hineinpasst. Wenn der richtige
kombiniert Genabschnitte neu und beobachtet, welche Folgen das hat. Im Prinzip Duftstoff dort andockt, kann ein vom
wird es sogar möglich, völlig neuartige Wesen zu kreieren. Die synthetische Biologie Re­zeptor aufgenommenes Elektron
verfügt mit CRISPR-Cas9 über ein neues, mächtiges Werkzeug, das sie ihrem Ziel nä- die Eigenschwingung dieses Moleküls
herbringt, künstliche Lebewesen zu erschaffen. anregen. Dabei gibt es überschüssige
Schon erheben besorgte Ethikkommissionen moralische Einwände gegen die Energie ab; nur weil es sich daraufhin in
neue Zaubertechnik, doch angesichts der völlig unabsehbaren Folgen drohen die einem ­Zustand niedrigerer Energie be-
gängigen Kriterien für Chancen und Risiken zu verschwimmen. Da die Methode in findet, kann es eine Erregungskaskade
ihrer einfachsten Form – in der sie nur dazu dient, gezielt Gene auszuschalten – auslösen, an deren Ende der Nervenim-
ohne den Einbau fremden Erbmaterials auskommt, hat Yinong Yangs Champignon- puls steht. Steckt das falsche Molekül
Bräunungsschutz in den USA vom Department of Agriculture sofort grünes Licht oder gar keines in der Tasche, bleibt
bekommen: Die Behörde stellte die genmanipulierten Pilze einem natürlichen Pro- dem Elektron dieser Weg versperrt.
dukt gleich und sah keinerlei Regulierungsbedarf. Paradoxerweise wird damit ein Um seine Schwingungstheorie zu
methodisch besonders radikaler Eingriff in die Keimbahn genauso behandelt wie überprüfen, ersetzte Turin bei Geruchs-
eine natürliche Mutation oder ein herkömmliches Züchtungsergebnis. molekülen Wasserstoff durch Deuteri-
Vor der Entwicklung der CRISPR-Technik sah der Wissenschaftshistoriker Hans- um (schweren Wasserstoff). Während
Jörg Rheinberger ein »postgenomisches Zeitalter« heraufziehen, in dem der ver- der gewöhnliche Wasserstoffkern nur
meintlich naturgegebene Zusammenhang zwischen Erbgut und Organismus Ge- aus einem Proton besteht, enthält der
genstand genetischer und epigenetischer Manipulation wird. Ein tendenziell völlig Deuteriumkern zusätzlich ein Neutron.
disponibles Genom eröffnet tatsächlich fantastische Möglichkeiten für Biologie, Die durch den Austausch entstandenen
Landwirtschaft und Medizin. »deuterierten Geruchsstoffe« sind che-
Andererseits zeigen Gentherapien bisher bestenfalls zwiespältige Resultate. misch identisch mit dem Original. Ihre
Genveränderte Organismen entwickeln oft Tumoren, gentherapierte Versuchsper- Moleküle haben noch immer die glei-
sonen erkranken plötzlich und sterben. Man greift immerhin in ein hochkomplexes che Größe, Form und Oberflächenla-
System ein, das sich im Lauf der Evolution über geologische Zeiträume hinweg opti- dung, sind allerdings etwas schwerer
miert hat. Die Entfernung eines unerwünschten Genabschnitts stört vielleicht an- und haben dadurch eine deutlich an­
dere, überlebenswichtige Komponenten der Erbmasse. dere molekulare Vibrationsfrequenz.
Warum verfärbt sich eigentlich der weiße Champignon Nach Turins Theorie müssten die deu-
mit der Zeit? Die dafür verantwortliche Polyphenoloxidase terierten Varianten also anders riechen.
erzeugt Substanzen, die für schädliche Mikroorganismen Erkennen die Rezeptoren die Geruchs-
giftig sind. Das heißt, der optisch unschöne Vorgang ist eine stoffe hingegen nach dem Schlüssel-
Verteidigungsmaßnahme des Pilzes. Wer sie ausschaltet, Schloss-Prinzip nur an ihrer chemi-
bekommt zwar appetitlich wirkende Champignons – doch schen Struktur, sollten sie die beiden
ob die Ware frisch ist oder vergammelt, lässt sich nicht mehr Versionen nicht unterscheiden können.
Michael Springer
erkennen. Mit Verhaltensstudien an Men-
schen, Taufliegen und Bienen fanden

18  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Luca Turin und seine Mitstreiter Be­ ruli auf die unveränderte Substanz mit Ist also die Vibrationsfrequenz eines
stätigungen für ihre Theorie. Andere stark ansteigender Kalziumkonzentra- Geruchsmoleküls die entscheidende Ei-
Wissenschaftler kamen zu gegenteili- tion, nicht aber auf die Version mit genschaft, auf die ein Rezeptor an-
gen Ergebnissen. Eine heftige Debatte Deuterium. Also können die Geruchs- spricht? Es sieht zwar so aus, aber Paoli
dauert bis heute an und bleibt unaufge- rezeptoren letztere vom Original unter- und seine Kollegen wollen einen so weit
löst, da Verhaltensversuche oft schwer scheiden, schlussfolgern die Forscher. gehenden Schluss nicht ziehen. Es
zu deuten sind. könnten neben der Vibration auch an-
Jetzt haben Forscher um Marco Paoli Duftschwingungen dere biophysikalische Eigenschaften
von der Universität Trient (Italien) den Zusätzlich ermittelten Paoli und seine beteiligt sein. Und selbst dann wäre das
Sachverhalt erstmals neurophysiolo- Kollegen das Vibrationsspektrum der Schlüssel-Schloss-Prinzip nicht über-
gisch untersucht. Die Wissenschaftler Geruchsstoffe. Ergebnis: Genau die drei holt. Denkbar sei vielmehr, dass zu-
untersuchten, was im Gehirn von Ho- deuterierten Moleküle, auf die schon nächst die räumliche Form des Mole-
nigbienen passiert, wenn man diesen das Riechhirn der Insekten mit unter- küls entscheidet, ob es zu einer Bin-
entweder die gewöhnlichen oder die schiedlichen Erregungsmustern re- dung kommt, und erst dann die
deuterierten Duftmoleküle vorsetzt agiert hatte, schwangen auch anders biophysikalischen Eigenschaften ihre
(Scientific Reports 6, 21893 10.1038/srep als ihr Original (siehe »Duftmessung: Wirkung entfalten.
21893, 2016 ). Spektroskopisch und im Bienenge- Das ließe sich möglicherweise klä-
Das Riechhirn der Insekten besteht hirn«, S. 17; die Grafik zeigt zwei der ren, wenn die räumliche Struktur der
aus 160 kugeligen Strukturen, den ol- drei Stoffe). Auf den vierten Stoff Essig- Rezeptorproteine besser bekannt wäre.
faktorischen Glomeruli, die eine erste säureisopentylester, der als künstliches Allerdings haben Strukturbiologen
Verarbeitung der Geruchsinformation Bananenaroma verwendet wird, ant- Schwierigkeiten damit, die Geruchsre-
vornehmen. Wird ein Glomerulus er- wortete nicht nur das Riechhirn, mit zeptormoleküle so aus der Zellmemb-
regt, steigt die Kalziumkonzentration Ausnahme eines einzelnen Glomeru- ran zu isolieren, dass ihre Form erhal-
in seinem Inneren an. Paoli und seine lus, bei beiden Varianten gleich, auch ten bleibt. Gelänge dies, wäre es mög-
Kollegen stellten fest, dass sich bei drei die Vibrationsmuster unterschieden lich zu überprüfen, ob der von Luca
der vier getesteten Duftstoffe die Erre- sich nicht messbar. Bei dieser Verbin- Turin vorgeschlagene Mechanismus
gungsmuster im Riechhirn zwischen dung waren nur drei Wasserstoffatome zutreffen könnte.
der normalen und der deuterierten Va- durch Deuterium ersetzt worden, was
riante messbar unterschieden. So re- die Eigenfrequenz des Moleküls offen- Miriam Plappert ist Biologin und Wissenschafts-
agierten zum Beispiel einzelne Glome- bar zu geringfügig veränderte. journalistin in Tübingen.

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TITELTHEMA: NEUROWISSENSCHAFT

Warum träumen wir?


Gut ein Viertel unseres Lebens verbringen wir im Traum. Haben ​
die flüchtigen Bilder und Szenen eine Funktion, oder sind es
nur Leerlauf­produkte des Gehirns? Neue Forschungsergebnisse
weisen auf wichtige Aufgaben des nächtlichen Kopfkinos hin.
Von Isabelle Arnulf

V
iele Träume wirken wie ein buntes Sammelsuri- Schlaf heißt. Die Abschnitte mit langsamen Wellen werden
um von zusammenhanglosen Szenen – eine sinn- demgegenüber NichtREM-, NREM- oder orthodoxer Schlaf
lose Abfolge von Erlebnissen, Eindrücken und Ge- genannt. Zunächst hieß es, Träume würden nur während des
fühlen. Seit über 100 Jahren möchten Psycholo- paradoxen Schlafs auftreten. Das ist längst widerlegt.
gen und Neurowissenschaftler die Gedankenwelt im Schlaf Bei der ältesten und einfachsten Methode der Traumfor-
ergründen. Doch nach wie vor ist das schwierig, und zwar schung wacht die Person von selbst auf und erzählt gleich ih-
nicht nur wegen der oft mangelnden Logik von Träumen, ren Traum, bevor er verblasst. Oder sie führt Tagebuch, bezie-
sondern vor allem auch deswegen, weil es meistens nicht hungsweise malt die erinnerten Szenen, alles sofort nach
möglich ist, mit dem Schlafenden zu kommunizieren. dem Aufwachen. Heutzutage benutzen Menschen dazu auch
Um doch Blicke hinter diesen Vorhang zu erhaschen, kom- gern Smartphones. Solche Berichte werden in umfangrei-
binieren Forscher verschiedenste Messungen. Während ei- chen Traumdatenbanken gesammelt und sortiert, wie in der
ner solchen Polysomnografie werden zugleich mit einem von William Domhoff von der University of California in
EEG – den am Schädel abgegriffenen Hirnströmen – eine Santa Cruz mit über 20 000 Einträgen in verschiedenen Spra-
Reihe anderer Verhaltens- und physiologischer Parameter chen. Ein Ordner enthält zum Beispiel die Träume von 120
aufgezeichnet, darunter Augenbewegungen, Muskeltonus, Grundschulkindern einer Schule in San Francisco an einem
Herzrhythmus und Atemvolumen sowie Bewegungen der bestimmten Tag. Ein anderer umfasst über 4000 Träume ei-
Finger und Gliedmaßen. Bereits vor über 50 Jahren stellte ner Frau namens Barbara aus 30 Jahren.
sich hierdurch heraus, dass die einzelnen Schlafzyklen grob
aus zwei verschiedenen Phasen bestehen: aus Abschnitten Indianer sind nicht besonders aggressiv
mit eher langsamen, großen Hirnwellen, die sich ihrerseits in Analysen solcher Datenbanken ergaben einige aufschluss­
mehrere Leicht- und Tiefschlafstadien gliedern; und Episo- reiche Muster (siehe »Statistik von Trauminhalten«, S. 24).
den des so genannten paradoxen Schlafs mit schnellen, nied- Demnach enthalten Träume etwa doppelt so viel negative
rigen Wellen, der wegen der dabei auftretenden raschen Au- wie positive Gefühle, also mehr Angst, Wut oder Scham als
genbewegungen (englisch: rapid eye movements) auch REM- Freude, Glück und Lust. Sexuelle Empfindungen sind wider
Erwarten selten. Anhand der Datenbanken lassen sich auch
Träume von Kindern und Erwachsenen, von Blinden und Se-
AUF EINEN BLICK
henden oder von gelähmten und bewegungsfähigen Perso-
nen vergleichen. So wies Domhoff 2008 nach, dass Indianer
SCHULUNG IM SCHLAF
vom Stamm der Navajo im Traum entgegen der Erwartung

1 Traumforscher erkunden Schlaferlebnisse mit modernsten


Techniken und vielerlei Tricks. Zum Beispiel beobachten
sie Hirnaktivitäten bezüglich Intelligenzaufgaben oder kommu­
keine ausgeprägtere Aggressivität erleben als Schweizer, dass
sie dabei jedoch stärker den Körper einsetzen und die Schwei-
nizieren mit Klarträumern über deren Zeitempfinden.
zer mehr Worte. Eher zu unserer Vorstellung passt ein Be-
fund der dänischen Neurobiologin Amani Meaidi von 2014,

2 Entgegen früheren Beobachtungen träumen Menschen


in allen Phasen des Schlafs. Typischerweise begegnet man
im Tiefschlaf Situationen, vor denen man fliehen möchte,
wonach die Träume Blinder mehr Hör- und taktile Eindrücke
enthalten als die Sehender.
während man sich im paradoxen Schlaf gegen Angriffe wehrt. Leider hat die Methode, Träume nach dem Aufwachen
aufzuzeichnen, ihre Grenzen. Das Erinnerungsvermögen
3 Träume trainieren so den Umgang mit Gefahren, negativen
Emotionen – und soziale Begegnungen. Sie bereiten uns
auf zukünftige Herausforderungen vor.
und auch die Genauigkeit sind naturgemäß eingeschränkt
und überdies individuell sehr verschieden. Männer erinnern
sich im Schnitt weniger als Frauen, und kreative Personen

20  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


BIOLOGIE & MEDIZIN

Nicht nur bei Schlafstörungen, auch zu Forschungszwecken werden so genannte Polysomnografien


durchgeführt. Der Patient oder Proband wird an eine Anzahl Messgeräte angeschlossen, die ein
EEG der Hirnströme aufzeichnen oder wie hier sogar Magnetresonanzaufnahmen der Hirnaktivität
des Schlafenden erstellen. Zusätzlich erfassen Forscher Gesichtsmimik und Augenbewegungen
sowie je nach Bedarf verschiedenste weitere Körperfunktionen und Bewegungen.

MIT FRDL. GEN. VON MARCELLO MASSIMINI, UNIVERSITÄT MAILAND

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mehr als andere. Allerdings lässt sich dies durch Training nen eigenen Part äußert: »Mit deinen Problemen hab ich ein
verbessern. Dennoch ist die Traumausbeute lange nicht so Problem, das ist dein Problem, das musst du selbst packen ...
gut, als wenn man jemanden aus dem Schlaf reißt und direkt (Pause) ... Wenn es dir nicht passt, dann geh! ... (Pause) ... Du
befragt. hast mich fast angegriffen ... (Pause) ... Das darfst du nie wie-
Zum Glück für die Traumforschung bleiben Schlafende der machen, bei mir bin ich der Chef.«
nicht völlig bewegungs- und ausdruckslos. Mindestens
70 Prozent reden manchmal, wenn auch höchstens einer Wenn die Augen im Traum so tun,
von hundert jede Nacht. Damit ist der Mensch übrigens als hätten sie wirklich etwas zu betrachten
nicht allein­. Hunde geben kurze Laute von sich, die an Bellen Typisch sind teilweise auch bestimmte kleine Bewegungen:
oder Jagen erinnern, Pferde wiehern leise, manche Sittiche Unter den geschlossenen Lidern gehen die Augäpfel hin und
zwitschern ganz zart. Bereits der französische Naturforscher her; die Trommelfelle zucken wie beim Hören; der Penis er-
Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707 – 1788) wusste, dass fährt eine leichte Erektion; die Finger regen sich; diverse Ge-
Nachtigallen im Traum gedämpft singen. 2011 zeigten Doro- sichtsmimik tritt auf. Nicht alles davon passt zum Traum-
thee Kremers und ihre Kollegen von der Université de Ren- inhalt. So ist die Erektion einfach ein Automatismus oh-
nes, dass schlafende Delfine, die im Zoo lebten, Walgesang ne Bezug zum Traumgeschehen. Man weiß beispielsweise,
wiedergaben, den sie in ihrer Umgebung gehört hatten. dass Zuckungen von schlafenden Neugeborenen vom Hirn-
Was Menschen im Schlaf sagen, pflegt recht gut zu dem stamm ausgehen. Das Minenspiel insbesondere kann je-
zu passen, was sie nach dem Aufwachen erzählen, und ent- doch den erlebten Gefühlen entsprechen. Ein Lächeln mag
spricht offenbar ihren eigenen Äußerungen im Traum. Die also tatsächlich ein Glücksgefühl im Traum spiegeln, ein
folgende Aufzeichnung von einem Mann in unserem Schlaf- Runzeln der Brauen Verärgerung. Diese Zusammenhänge
labor zeigt, wie er in einer geträumten Unterhaltung nur sei- sind bisher allerdings wenig erforscht. Immerhin haben
Thomas Andrillon vom französischen Forschungszentrum
CNRS in Paris und seine Kollegen 2015 nachweisen können,
dass bei Augenbewegungen im Schlaf das Gehirn genauso
Die Mär
aktiv ist, als würde eine reelle Szene betrachtet.
vom speziellen Traumschlaf Bestehen keine krankhaften Störungen, beschränkt sich
das sicht- und hörbare Verhalten im Schlaf auf Mimik, Spre-
Ein weit verbreiteter Irrtum besagt, wir träumten nur wäh­ chen und leichte Bewegungen. Anders ist das beim Schlaf-
rend des paradoxen oder REM-Schlafs. Dieser zeichnet sich wandeln, das besonders im Kindesalter auftritt, aber auch
aus durch typische rasche Augenbewegungen, die den Ein­ noch bei Erwachsenen vorkommen kann. Typischerweise
druck erwecken, als würde man einen inneren Film ansehen. richtet sich die Person mit offenen Augen auf oder verlässt
Zwar berichten Menschen, die in dieser Phase geweckt wer­ sogar das Bett, redet konfus, oft ängstlich, und tut scheinbar
den, in 80 Prozent der Fälle, sie hätten gerade geträumt. irgendetwas Bestimmtes. Sie macht zum Beispiel Bewegun-
Aber auch beim langsamwelligen NichtREM-Schlaf sind es gen, als würde sie ein Auto reparieren. Eine heftige Form ist
immerhin 50 Prozent. Der amerikanische Psychologe David der Pavor nocturnus, auch Nachtschreck oder Nachtangst ge-
Foulkes zeigte schon Anfang der 1960er Jahre, dass auch im nannt: Betreffende schrecken hoch, häufig schreiend, und
NichtREM-Schlaf lange Träume mit komplexen Szenarien versuchen, aus dem Bett zu entkommen. Wachen sie auf,
auftreten. Das gilt sogar für ein kurzes Nickerchen, bei dem sind sie meist minutenlang nicht ansprechbar. Schlafwan-
normalerweise kein REM-Stadium vorkommt. Auch wenn deln betrifft den NichtREM-Schlaf. Ihm können Stress, aber
man den REM-Schlaf medikamentös während der ganzen auch genetische Besonderheiten zu Grunde liegen.
Nacht unterdrückt, haben die Menschen Träume, wie wir Eine andere krankhafte Erscheinung ist die REM-Schlaf-
2012 nachwiesen. Verhaltensstörung, die auch RBD-Schlafstörung heißt (nach
Anscheinend steht die geistige Aktivität im Schlaf nie­ englisch REM sleep behavior disorder). Sie tritt meist erst bei
mals still. Doch offenbar bleibt sie verschieden gut im Ge­ über 50jährigen auf. Die Patienten schlagen um sich und ver-
dächtnis. Einer Arbeit von Luigi De Gennaro von der Sapi­ prügeln oder verletzen unsichtbare Gegner. In etwa 20 Pro-
enza – Università di Roma von 2011 zufolge erinnert man zent der Fälle zeigen sie nichtaggressives fiktives Verhalten:
sich besser, wenn bestimmte Hirnwellen kurz vor dem Auf­ Sie rauchen scheinbar Zigaretten, kaufen oder verkaufen
wachen sehr intensiv sind. Die gleichen Wellen begünsti­ Dinge, essen, trinken Kaffee und dergleichen.
gen das Lernen im Wachzustand. Normalerweise ist während des REM-Schlafs eine Neuro-
Die Trauminhalte während der verschiedenen Schlafzu­ nengruppe aktiv, die sämtliche Muskelbewegungen hemmt
stände unterscheiden sich allerdings qualitativ, sicherlich mit Ausnahme von Gesicht und Augen. Dadurch sollten Be-
wegen der anderen Hirnaktivität. So treten im paradoxen wegungen noch weniger möglich sein als während des lang-
Schlaf stärkere Gefühle auf. Die Amygdala, ein Emotionszen­ samwelligen Schlafs. Diese Zellen liegen im Locus subcaeru-
trum, ist in diesem Zustand oft auffallend aktiv. leus des Hirnstamms (siehe: »Das Gehirn im Traum«). Eine
RBD-Schlafstörung zeigt an, dass jene Neurone nicht mehr

22  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


ISABELLE ARNULF
Traumtagebücher, die das im Schlaf Erlebte eindrücklich wiedergeben, können kleine Kunstwerke sein.

ISABELLE ARNULF

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korrekt funktionieren. Häufig bedeutet das die erste Phase
einer neurodegenerativen Erkrankung wie Parkinson. Daran Statistik von Trauminhalten
sind solche Leiden früh erkennbar und können entspre-
chend behandelt werden. Eine Therapie sollte schon deswe- Auswertungen von Datenbanken mit zigtausenden Träumen
gen erfolgen, weil die Patienten sich selbst oder den Partner zeigen:
verletzen können (siehe auch: »Schlafwandler als Mörder«, ➤ Träume enthalten doppelt so viele negative wie positive
SdW Spezial Biologie, Medizin, Hirnforschung 3/15, S. 34 – 39). Emotionen.
Es ist noch keine 20 Jahre her, seit man die Ursachen für ➤ Sex kommt selten vor: bei Männern in 2 Prozent, bei Frau­
diese schwere Störung erkannt hat. Wir wissen jetzt, dass hier en in einem halben Prozent ihrer Träume.
die Schlafmedizin gefragt ist und nicht die Psychiatrie. Lei- ➤ Die meisten Inhalte sind alltäglich, spielen im gewohn­
der suchen viele Betroffene immer noch zunächst psycholo- ten Umfeld, und der Träumende hat es mit zwei bis vier
gische Hilfe. Aber sie leiden keineswegs an verborgenen, un- Personen zu tun.
terdrückten Aggressionen, wie manche meinen. ➤ So genannte typische Träume – Zähne fallen aus, man ist
Der Traumforschung haben besonders diese Patienten wie nackt, man fliegt – kennt fast jeder Mensch. Trotzdem
auch Schlafwandler viele wertvolle Einsichten gebracht. So machen sie weniger als ein Prozent aller Träume aus.
zeigte sich, dass sie, wenn man sie während einer solchen Wohl weil sie so markant sind, erinnert man sich jedoch
»Verhaltensattacke« weckt, tatsächlich gerade einen dazu an sie und spricht davon.
passenden Traum hatten. Gleiches gilt für gesunde Men- ➤ Komplexe Alltagshandlungen wie Schreiben, Lesen oder
schen und ihre schwachen Verhaltensäußerungen. Von daher Rechnen führen wir im Traum sehr viel seltener aus als in
sind wir inzwischen davon überzeugt, dass jeder träumt, Wirklichkeit.
selbst jene wenigen mit einem Anteil von unter einem Pro-
zent, die sich nie an einen Traum erinnern können. Im Schlaf-
labor zeichnen wir für sie genauso Bewegungs- und Stimm­
äußerungen auf wie bei allen anderen. ten. So wiesen Martin Dresler vom Max-Planck-Institut für
In gewissem Maß sind Träume also durchaus von außen Psychiatrie in München und seine Kollegen 2011 nach, dass
beobachtbar wie ein etwas eigenartiges Theaterstück. Einen bei einer bestimmten im Traum durchgeführten Handbewe-
noch direkteren Zugang verschafft aber eine neuere Metho- gung dieselbe Region im sensomotorischen Kortex aktiviert
de, die es ermöglicht, mit einem oder einer Träumenden so- ist, als wenn man sich die Handlung im Wachzustand vor-
gar zu kommunizieren und zu interagieren. stellt oder sie ausführt. Sogar Zeitdauern ließen sich messen
(siehe: »Traumzeit ist Echtzeit«). Allerdings befindet sich die
Wie Klarträumer aus ihrer Traumwelt Klartraumforschung noch ganz am Anfang.
Telegramme schicken Noch weiter gingen 2012 Tomoyasu Horikawa von der
Normalerweise sind wir uns nicht dessen bewusst, dass wir Universität von Kyoto und seine Kollegen, indem sie für die
gerade träumen. Falls dies doch einmal der Fall ist, werden Hirnaktivität sozusagen Traumschlüssel schufen, um im Ge-
wir davon gewöhnlich wach. Fast jeder dürfte das schon er- hirn zu lesen. Sie zeigten wachen Versuchspersonen Fotos
lebt haben. Doch manche Menschen wissen, dass sie träu- und erfassten dabei die Hirntätigkeit mittels funktioneller
men, und schlafen dabei weiter. Viele von ihnen können den Magnetresonanztomografie. Dann erstellten sie Hirnbilder
Trauminhalt lenken, teils sogar gezielt herbeirufen, zum Bei- dieser Personen im Schlaf, die anschließend ihre Träume er-
spiel eine Person auftauchen lassen, um sich mit ihr zu be- zählten. So konnten die Forscher Areale identifizieren, die bei
fassen, oder vor einem Feind wegfliegen. Wir bezeichnen das bestimmten Bildkategorien aktiv waren, zum Beispiel solche
als einen luziden oder Klartraum. für Bilder von Autos. Mit diesem Rüstzeug gelang es erst-
Ein Klarträumer befindet sich gewissermaßen in einem mals, anhand von Hirnaufnahmen grob festzustellen, wovon
hybriden Zustand zweier Bewusstseinsebenen. Zum einen jemand gerade träumte. Hatte der Proband im Traum Essen
lebt er in seinem Traum, agiert und fühlt, als wäre er dabei, gesehen, ließ sich das in 55 Prozent der Fälle bestimmen, bei
zum anderen aber ist er sich gleichzeitig dessen bewusst, Bildern von Personen sogar zu über 77 Prozent.
dass dies alles nicht wirklich geschieht. Letzteres machen Doch welchen Sinn hat Träumen überhaupt, mit dem wir
sich die Schlafforscher zu Nutze. Weil die Schlaflähmung nie- ein Viertel unseres Lebens zubringen? Allan Hobson von der
mals die Augen betrifft, vermag der Träumende dem Experi- Harvard University machte mit seiner Ansicht Furore – die er
mentator mit Augenbewegungen zu signalisieren, dass er ge- später allerdings abmilderte –, dass Träume keinerlei inhalt-
rade einen luziden Traum hat. Meist bewegt er sie dazu zwei- liche, sinnvolle Bedeutung haben, vielmehr lediglich nächtli-
oder dreimal hintereinander nach links und rechts – was er che Hirnaktivitäten darstellen. Seines Erachtens generieren
übrigens gleichzeitig auch im Traumgeschehen tut. der Hippocampus sowie die sensorischen und Gefühlsregio-
Dank solcher »Telegramme aus der Traumwelt« vermö- nen aus unserem Gedächtnis spontan Bilder und Gefühle.
gen Forscher Hirnaktivitäten zu erfassen, die bei spezifi- Angestoßen würde das möglicherweise vom Locus subcaeru-
schen, vorher vereinbarten geträumten Handlungen auftre- leus im oberen Hirnstamm, der nicht nur den Muskeltonus

24  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


während des REM-Schlafs hemmt, sondern auch das Zucken Manchmal geraten zudem Wahrnehmungen von außen,
der Extremitäten im Schlaf und die Augenbewegungen ver- wie ein Geräusch im Zimmer, in einen Traum und werden
ursacht. darin interpretiert. Der amerikanische Schlafforscher Wil-
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass ein »Aktivator« liam Dement wies 1958 nach, dass Schlafende mitunter von
im Hirnstamm die ersten Elemente beim Träumen auslöst. Regen träumen, wenn man ihnen Wasser aufs Gesicht träu-
Bei einem seltenen neurologischen Syndrom kann der Pa­ felt. Zu anderen Zeiten kapselt sich das schlafende Hirn aller-
tient sich nicht selbst aktivieren und hat im Wachzustand dings praktisch komplett gegen die Außenwelt ab. Offenbar
nicht einmal spontane Gedanken. Doch wie wir feststellten, begünstigt das die so genannten vestibulären Träume wie
haben diese Menschen noch Träume, wenn auch nur ganz Fliegen, Schwimmen oder das sich außerhalb seines Körpers
kurze und wenig ausgefeilte. Diese könnte der angenomme- Befinden. Das Gehirn könnte solche Szenarien erfinden, weil
ne Aktivator verursachen, aber weil die anderen Hirngebiete es keinerlei an Schwerkraftempfindungen gekoppelte senso-
nicht mehr mitspielen, bleibt es dabei. rische Informationen erhält – und die merkwürdige Situati-
on nun so deutet. Wenn man hingegen in einem REM-Traum
Nur »Ankleiden« von Erregungsmustern? nicht weglaufen kann, weil die Füße am Boden kleben, inter-
Normale Träume kämen laut Hobson schlicht dadurch zu pretiert das Gehirn möglicherweise die tatsächliche Schlaf-
Stande, dass das Gehirn versucht, das Sammelsurium an zu- lähmung der Gliedmaßen.
sammenhanglosen Erregungen zu interpretieren, die der Wie die meisten Traumforscher glaube ich selbst nicht,
Hirnstamm generiert. Oder in den Worten des amerikani- dass Träume gar keinen Sinn enthalten. Manches an der
schen Neurologen Howard Roffwarg von der University of Funktionsweise des schlafenden Gehirns könnte auf eine
Mississippi in Oxford: »Ein Traum wird im Hirnstamm gebo- evolutive Selektion zurückgehen und zur Lebensbewälti-
ren und dann vom restlichen Gehirn angekleidet.« gung beitragen.

Das Gehirn im Traum


Manche Hirnregionen sind im REM-Schlaf ungewöhnlich inak- lich für die starke emotionale Tönung vieler Träume dieser Pha­
tiv (gelb). Besonders der für Logik, Vernunft und Urteil zuständi­ se. Der Locus subcaeruleus im Hirnstamm vermittelt während­
ge präfrontale Kortex schweigt, was die oftmals skurrilen Hirn­ dessen die Lähmung der Extremitäten. Nur bei bestimmten
gespinste erklären mag. Andere Gebiete sind umso aktiver Krankheiten fällt sie aus.
(orange), etwa visuelle und motorische Areale. Auch die Amyg­ Trauminhalte beim langsamwelligen Schlaf ließen sich bis­
dala tritt im REM-Schlaf oft voll aufs Gas. Sie sorgt wahrschein­ her nicht mit spezifischen Hirnaktivierungen korrelieren.

motorisches Gebiet hinterer cingulärer Kortex


vorderer cingulärer Kortex
und Precuneus

Scheitellappen
präfrontaler
Kortex

Amygdala

Locus subcaeruleus

visuelle
Gebiete

visuelle Gebiete Hirnstamm


YOUSUN KOH, NACH: SCHWARTZ, S., MAQUET, P.: SLEEP IMAGING AND THE NEURO-PSYCHOLOGICAL ASSESSMENT OF DREAMS. IN: TRENDS IN COGNITIVE SCIENCES 6, S. 23-30, 2002

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Bei einigen Krankheiten toben die Patienten
im Schlaf. Weckt man sie währenddessen,
passt das gerade Geträumte zu ihrem Verhal-
ten: Oft wähnten sie sich in größter Gefahr.
Der hier abgebildete Mann kämpft im Traum
gegen jemanden, der ihn ersticken will.
Nach einer Theorie schulen uns Träume, mit

ISABELLE ARNULF

ISABELLE ARNULF
Bedrohungen im realen Leben besser fer-
tigzuwerden.

Als Erster gab Ende des 19. Jahrhunderts Sigmund Freud Eine ganz andere Theorie unterbreitete 2000 der finni-
(1856 – 1939) Träumen eine wissenschaftlich fassbare Bedeu- sche Neurowissenschaftler, Psychologe und Philosoph Antti
tung. Der Begründer der Psychoanalyse postulierte, sie seien Revonsuo, der an der Universität Skövde (Schweden) und an
ein Ventil für das Unbewusste, besonders für im Wachzu- der Universität Turku (Finnland) arbeitet. Seines Erachtens
stand unterdrückte Begierden. Die Trauminhalte würden sind Träume dazu da, bedrohliche Situationen zu simulie-
diesen Wünschen und Trieben allerdings nicht direkt ent- ren und uns dadurch zu helfen, im Alltag besser damit fertig
sprechen. Eine Zensurinstanz würde Letztere vielmehr sogar zu werden. Er erkannte, dass in Träumen Angriffe, Verfol-
im Schlaf zurückdrängen; sie träten daher nur maskiert in gungen und gefährliche Tiere außergewöhnlich häufig vor-
Erschei­nung. Deswegen seien Träume oft so fremdartig und kommen. Demnach enthalten zwischen 60 und 77 Prozent
seltsam. Diese Hypothese wurde in der weiteren Entwick- der Träume junger Erwachsener bedrohliche Elemente. Das
lung der Psychoanalyse insofern erweitert, als dass sich am könnte ein recht altes evolutives Erbe sein, denn auch Kat-
Tag nicht ausgelebte bewusste wie unbewusste Wünsche in zen und Hunde scheinen oft von Jagden und Raufereien zu
Träumen melden würden. träumen, soweit man aus ihren Zuckungen und Lauten im
Die freudschen Theorien ließen sich wissenschaftlich nie Schlaf schließen kann. Nach Revonsuo üben wir im Schlaf
beweisen. Im Gegenteil stellten mehrere Analysen von quasi Strategien der Flucht, Verteidigung oder Anpassung
Traumbanken die Ventilrolle von Träumen in Frage. So bat an heikle Situationen ein. Einer Imagination im Wachzu-
1970 der türkische Neurologe Ismet Karacan, der unter ande- stand wäre der Traum hierin überlegen, denn in ihm kommt
rem am Baylor College of Medicine in Houston (Texas) tätig einem das Geschehen ja real vor: Wir bewegen uns schein-
war, junge Männer, zwei Wochen lang auf sexuelle Intimitä- bar ganz normal in einem dreidimensionalen Raum; der
ten zu verzichten und auch nicht zu masturbieren. Er wollte Empfindung nach funktionieren Sinnesorgane und Mus-
wissen, ob sie dann mehr erotische Träume haben würden – keln regulär, und wir durchleben die zum Geschehen pas-
was nicht der Fall war! senden Gefühle. Revonsuo hat seine Theorie später auch auf
soziale Bedrohungen ausgeweitet. Denn der Ausschluss aus
der Gruppe, was im Traum oft vorkommt, bedeutete früher
den sicheren Tod.
Eine Erhebung des Psychologen Tore Nielsen von der Uni-
versité de Montréal aus dem Jahr 2007 an 200 jungen Müt-
tern stützt diese Deutung. 86 Prozent ihrer Träume kurz
nach der Entbindung kreisten um das Kind, und in 73 Pro-
zent war die­­­ses in Gefahr: Es erstickte etwa versehentlich im
Bett der Mutter oder fiel aus der Wiege. Oft erwachten die
Frauen dann abrupt.
Manche Szenen, die wir jede Nacht in unserem Labor für
Schlafstörungen filmen, passen gut in dieses Bild. Beim
Nachtschreck, dem Pavor nocturnus aus dem Tiefschlaf he-
raus, handelt es sich fast immer um eine unmittelbar tödli-
che Gefahr, welcher der Träumende zu entkommen ver-
sucht – wie Ertrinken, eine Schlange oder eine einstürzende

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ISABELLE ARNULF

ISABELLE ARNULF

ISABELLE ARNULF
Zimmerdecke. Mit Albträumen verbundene Verhaltensauf- Besonders Träume im REM-Schlaf können voller negati-
fälligkeiten im paradoxen oder REM-Schlaf äußern sich ver Gefühle stecken. In dieser Phase ist die Amygdala – ein
hingegen überwiegend als höchst aggressive Gegenwehr, wichtiges, auch Mandelkern genanntes Emotionszentrum –
wobei die Betreffenden heftig um sich schlagen, boxen und hochaktiv. Nielsen und sein Kollege Ross Levin postulieren,
treten. dass sich das Gehirn in diesem besonderen Zustand leichter
Wir wollten wissen, ob Träume tatsächlich vor allem tödli- als sonst an aufwühlende Vorgänge und Gefühle gewöhnt,
che Gefahren oder vielleicht generell Herausforderungen indem es sie sozusagen im Leerlauf durchlebt. Überdies
thematisieren. 2013 testeten wir Pariser Medizinstudenten, kommuniziert jetzt der Hippocampus, eine zentrale Struk-
die am nächsten Tag eine wichtige Zwischenprüfung abzu­ tur für die Gedächtnisbildung, mit der Amygdala. Dabei
legen hatten. Wirklich träumten 60 Prozent der Probanden verbinden sich Schreckenserlebnisse und schwer verdauli-
von dem Examen, und 78 Prozent von diesen widerfuhr im che Ereignisse des Tages mit neutraleren, ebenfalls abge-
Traum etwas Schlimmes: Sie verschliefen, kamen zu spät, speicherten Vorkommnissen, die mit Ersteren eigentlich
hatten den Ausweis vergessen, ihnen fiel die richtige Antwort nichts zu tun haben. Auf diese Weise dürfte mancher bizar-
nicht ein und Ähnliches. Einer musste sogar auf Brotschei- re Traum zu Stande kommen, und negative Eindrücke
ben schreiben. könnten an Gewicht verlieren. Womöglich ist Gefühlstrai-
ning generell eine Funktion des Schlafs – nach dem Motto:
Katastrophenträume helfen gut Der kürzeste Weg von Verzweiflung zu Hoffnung ist, über
durchs Examen die Sache zu schlafen.
Unsere Träume füllen jede Nacht mehrere Stunden aus. Einen solchen Zusammenhang fand Matthew Walker von
Auch unbewusst wahrgenommenes Tagesgeschehen kann der University of California in Berkeley 2011, als er die Aktivi-
eingebaut sein. Die neuen Assoziationen und Schlussfolge- tät der Amygdala von Versuchspersonen aufzeichnete, de-
rungen, die das Gehirn dabei generiert, schaffen allnächtlich nen er Bilder mit Kriegs- oder Mordszenen vorführte. Erwar-
Hunderte oft fantastischer Szenen. Da verwundert es nicht, tungsgemäß reagierte die Hirnstruktur darauf zunächst sehr
dass Menschen bei einem antizipierenden Traum mitunter stark – doch nach einer gut durchschlafenen Nacht praktisch
das Gefühl haben, er würde die Zukunft anzeigen. nicht mehr auf dieselben Bilder. Dennoch hatten sich diese
Bei den Studenten traf hingegen das Gegenteil ein: In der ins Gedächtnis gebrannt. Sie waren jetzt nur weniger emoti-
Prüfung schnitten diejenigen mit Katastrophenträumen im onal besetzt, dafür aber wirkmächtiger: In der Studie betei-
Mittel entschieden besser ab als die anderen. Anscheinend ligte sich die Amygdala umso weniger, je aktiver zuvor im
ist es für späteres Handeln hilfreich, wenn das Gehirn zuvor REM-Schlaf das vordere Stirnhirn gewesen war – der Sitz des
im Schlaf dramatische Szenen heraufbeschwört. Womöglich Denkens, der Urteilsfindung und des Selbst. Es schien, als
lernen wir daran, mit der entsprechenden Situation ange- habe ein Dialog zwischen Gefühl und Vernunft stattgefun-
messen umzugehen, vergewissern uns also etwa nochmals, den und die Bewertung jener Eindrücke sowie den Umgang
ob wir den Ausweis auch wirklich dabei haben. Vielleicht der betreffenden Person damit dauerhaft in eine für sie
schulen uns solche Träume sogar darin, negative Emotionen günstigere Richtung gebogen.
leichter wegzustecken. Wohl jeder Schauspieler hat vor einer Nach einer weiteren Theorie festigen Träume das Erin-
Premiere schon von einem großen Reinfall geträumt. Weil er nern an tagsüber Erlebtes, indem sie dieses nochmals verän-
das Gefühl nun bereits kennt, hat er am nächsten Tag mögli- dert durchspielen. Zahlreiche Studien belegen seit Länge-
cherweise etwas weniger Lampenfieber. rem, dass Schlafen wirklich hilft, sich ein neues Klavierstück,

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einen Vortrag oder einen Weg einzuprägen. Es ist egal, ob holungen von Geschehnissen traten allerdings selten auf.
eine Nacht dazwischen liegt oder die Übenden nur einein- Eher wurden Teile davon in andere Szenarien eingebaut.
halb Stunden Siesta halten – die Leistung verbessert sich ge- Vermutlich integrieren sich Erlebnisse gewöhnlich nicht als
genüber Kontrollgruppen um etwa 20 Prozent. Ein Musik- genaue Kopie, sondern meist in Fragmenten, sozusagen
stück etwa spielen Klavierschüler schneller und machen Einzelbausteinen.
trotzdem weniger Fehler als vorher. Nachweislich haben Am intensivsten verfestigen sich Erinnerungen im lang-
dann im Schlaf dieselben Hirnregionen und sogar Neurone samwelligen NichtREM-Schlaf. Wenn beispielsweise Ratten
gearbeitet, die beim Üben beansprucht wurden. Tatsächlich den Weg durch ein Labyrinth lernen, melden sich anschlie-
hängt von der Intensität dieser Reaktivierung anschließend ßend im orthodoxen Schlaf dieselben vorher beanspruch-
der Grad des Könnens ab. ten Ortsneurone. Ob die Ratten währenddessen auch vom
Labyrinth träumen, wissen wir bisher nicht. Bei Menschen
Am besten fürs Lernen: könnte es so sein. Dafür spricht etwa, dass eine unserer Pa-
der NichtREM-Schlaf tientinnen, die schlafwandelte, nachts sämtliche Gegen-
Eine andere Frage ist, ob die Lernaufgabe selbst im Traum stände von ihrem Nachttisch in ihr Kopfkissen stopfte,
auftaucht. Man sollte annehmen, dass dies oft der Fall ist – nachdem sie den ganzen Tag Weihnachtsgeschenke einge-
zumindest verzeichneten verschiedene Untersuchungen packt hatte.
viele Ähnlichkeiten von im Traum begegneten Orten, Men- Robert Stickgold von der Harvard University wies 2010
schen oder Dingen mit vorangegangenen Erlebnissen. Eine nach, dass man etwas viel besser lernt, wenn man nachher
solche Studie führten Magdalena J. Fosse von der Harvard davon träumt. Stickgold ließ Studenten ein Labyrinth-Com-
University und ihre Kollegen 2003 durch. Sie ließen die Teil- puterspiel üben und dann eine Dreiviertelstunde schlafen.
nehmer zwei Wochen lang notieren, was sie am Tag ge- Wer das Spiel in seine Träume einbezogen hatte, wie bruch-
macht und wovon sie geträumt hatten. Bei mehr als der stückhaft auch immer, war anschließend dreimal so gut dar-
Hälfte der Trauminhalte, Gefühle und Personen gab es ei- in wie die anderen Teilnehmer, selbst wenn er nur von der
ne Verbindung zu kürzlichen Erlebnissen. Direkte Wieder­ Musik geträumt hatte. Auch unsere Forschung zu Schlafstö-

Traumzeit ist Echtzeit


Der amerikanische Schlafforscher William Dement setzte 1958 das Verhalten im Traum ein klein wenig länger als im Wachen.
Schlafende zehn Minuten, bevor er sie weckte, einer Klingel Der Unterschied war bei den körperlichen Bewegungen etwas
oder kurzen Lampenblitzen aus. Diese Reize kamen in jedem ausgeprägter als beim Zählen. So brauchte das wache Zählen
vierten Traum vor. So erzählte jemand, Freunde hätten an der bis 20 im Mittel 17 Sekunden, das im Schlaf 22,4. 30 Schritte Ge­
Tür geläutet. Man habe den Freunden einen Tee gekocht, sich hen dauerte wach 18,5 Sekunden; im Klartraum waren es durch­
dann ruhig unterhalten und den Tee getrunken, »und dann ha­ schnittlich 28,6. Die Zeitrelationen blieben dabei gewahrt: 30
ben Sie mich geweckt«. Dieses Geschehen hätte auch in Wirk­ Schritte kosteten dreimal soviel Zeit wie 10 Schritte.
lichkeit etwa zehn Minuten gedauert.
Menschen mit Traumstörungen, die ihre Träume körperlich Bewegung von Auge 1
ausleben, führen im Schlaf nicht nur weitgehend die gleichen
Bewegungen oder Gesten aus wie in solchen Situationen im
Wachen – diese brauchen auch ähnlich lange. Ein Raucher etwa
Bewegung von Auge 2
führt eine fiktive Zigarette langsam zum Mund, nimmt in aller
POUR LA SCIENCE, NACH: ERLACHER, D. ET AL.: TIME FOR ACTIONS IN LUCID DREAMS: EFFECTS OF
TASK MODALITY, LENGTH, AND COMPLEXITY. IN: FRONTIERS IN PSYCHOLOGY 4, S. 1-12, 2014, FIG. 2

Ruhe einen tiefen Zug, atmet langsam wieder aus, klopft die
Asche ab und zerdrückt die Zigarette schließlich in einem un­
verabredetes bis 10 bis 20 bis 30
sichtbaren Aschenbecher. Ein ehemaliger Schreiner baute im Augensignal zählen zählen zählen
Traum eine Treppe und hämmerte im REM-Schlaf eine Stunde
lang erkennbar mit seinem fiktiven Hammer.
10
Der Klartraumforscher Daniel Erlacher vom Institut für Sekunden
Sportwissenschaften der Universität Bern maß 2014, wie
schnell Versuchspersonen im Wachen und im Schlaf bis 10, 20 Bis 10 zu zählen dauert im Traum durchschnittlich 11,1 Sekun-
und 30 zählen (siehe Bild). Oder sie sollten entsprechend viele den, wach 8,9. Hier deuten Klarträumer – die wissen, dass
Schritte gehen oder Kniebeugen machen. Anfang und Ende der sie gerade träumen – mit absichtlichen, vorher verabredeten
Aktion im Schlaf signalisierten die Klarträumer dem Experi­ Augenbewegungen an, wann sie zu zählen anfangen und
mentator mit bestimmten Augenbewegungen. Meist dauerte wieder aufhören.

28  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MEHR WISSEN BEI wir so üben, uns in andere hineinzufühlen und sie besser zu
verstehen.
Unser Online- Besonders erstaunlich sind in der Hinsicht Träume von
Dossier  seit Geburt gelähmten Menschen, die nie ihre Gliedmaßen
zum Thema  zu rühren vermochten. Alle, mit denen wir gearbeitet haben,
»Schlaf«  konnten im Traum mühelos gehen und rennen, sogar tan-
FOTOLIA / ELIZABETH ENGLE

finden Sie unter zen, gärtnern, Fahrrad fahren oder Fußball spielen. Hatte ihr
 Gehirn dies durch Beobachtung gelernt? Auch dieses Beispiel
www.spektrum.de/ scheint zu zeigen, dass Träumen der wachen Vorstellungs-
t/schlaf kraft in mancher Hinsicht überlegen ist. Es kann Vorgänge
wirklichkeitsnäher simulieren, weil man sie in dem Augen-
blick für wahr hält und mit sämtlichen Sinnen darin ein­-
rungen unterstützt diese Theorie. So hatten wir Schlafwand- taucht.
lern eine Abfolge spezieller Handbewegungen beigebracht. Über die Herkunft von Träumen lässt sich dank der vorlie-
Eine Patientin wiederholte diese nachts teilweise, träumte genden Studien also durchaus einiges sagen. Auf der einen
also wohl davon. Am nächsten Tag beherrschte sie die kom- Seite scheint sich diesbezüglich im Lauf der Evolution eine
plizierte Bewegungsfolge besser. Reihe von nützlichen Funktionen herausgebildet zu haben.
Unter anderem simuliert das Gehirn so bedrohliche Situatio-
Die Steigerung der Kreativität nen und nimmt negative Empfindungen vorweg, legt sie ab
ist kein Wunschdenken und verwaltet sie, festigt das Gedächtnis, findet neue Ideen
Dass das schlafende Gehirn zuvor Erlebtes und Gedachtes und erleichtert den sozialen Umgang. Auf der anderen Seite
nicht genau wiederholt, sondern zerlegt und vermischt, scheinen viele Traumelemente keine eigentliche Aufgabe zu
dürfte die Kreativität fördern. Der deutsche Chemiker Au- haben. Zum Teil sind sie vielleicht nur Ausdruck der menta-
gust Kekulé (1829 – 1896) soll die Struktur des Benzolrings im len Einschränkungen und der eingedämmten Wahrneh-
Traum gefunden haben, der Russe Dimitri Mendelejew mung des schlafenden Gehirns.
(1834  – 1907) den Aufbau des Periodensystems. Solche Prob- Für eine solche vielfältige Herkunft der Traumbestand-
lemlösungen im Schlaf sind nicht mehr nur Anekdoten. Bei- teile sprechen nicht zuletzt die so genannten typischen
spielsweise konfrontierte der Neuropsychologe Ullrich Wag- Träume, die viele kennen. Zu fliegen dürfte auf das fehlende
ner, der heute an der Universität Münster arbeitet, Studen- Schweregefühl zurückgehen. Vor allen Leuten nackt dazuste-
ten 2004 mit einer Intelligenztestaufgabe, bei der zwar auch hen mag damit zusammenhängen, dass man im Bett wenig
Übung den Erfolg steigerte, die aber außerdem eine versteck- oder gar nicht bekleidet ist. Wem alle Zähne aus dem Mund
te Regel enthielt. Teilnehmer, die nach den ersten Durchgän- fallen, bei dem könnten verzerrte Erinnerungen an frühere
gen schlafen durften, erkannten danach doppelt so oft den Zahnbehandlungen aufgetaucht sein. Jedenfalls machen die
Trick wie die anderen. Beobachtungen verständlich, wieso Träume derart mannig-
Nicht zuletzt dürften Träume auch soziale Funktionen ha- faltig sind. Ÿ
ben. Wer wurde im Schlaf nicht schon zum Helden eines am
Abend gesehenen Films? Welche Frau war noch nie ein
DI E AUTORI N
Mann? Mit Homosexualität hat das übrigens nichts zu tun.
Vielmehr scheint dabei zum Tragen zu kommen, dass wir Isabelle Arnulf ist Professorin für Neurologie an
uns in andere hineinversetzen und Empathie empfinden der Université Pierre et Marie Curie (UPMC) in
Paris. Sie leitet die Schlafpathologie des Kranken-
können – eine fundamentale Voraussetzung für einen wich- hauses La Pitié-Salpêtrière und forscht am
tigen Aspekt unserer Sozialität, der auf den so genannten Institut für Gehirn und Rückenmark (Inserm
Spiegelneuronen beruht. Diese Hirnzellen werden gleicher- U1127; CNRS UMR 7225).
weise aktiv, wenn man selbst etwas tut und wenn man je-
mandem bei der gleichen Tätigkeit zusieht. Man könnte mei-
QUELLEN
nen, unser Gehirn spielt sich den Vorgang mental vor.
Wenn wir in einem Traum jemand anders sind, dürfte die Andrillon, T. et al.: Single-Neuron Activity and Eye Movement
During Human REM Sleep and Awake Vision. In: Nature Communi­
Identifizierung mit demjenigen noch stärker sein als im
cations 6, S. 1 – 10, 2015
Wachzustand. Hierzu erzählte mir ein Patient ein merkwür- Arnulf, I.: Une fenetre sur les reves. Editions Odile Jacob, 2014
diges Erlebnis, das er hatte, als er im Krankenhaus lag und Arnulf, I. et al.: Will Students Pass a Competitive Exam that They
seiner schwangeren Frau nicht beistehen konnte: Er träumte, Failed in Their Dreams? In: Consciousness and Cognition 29,
S. 36 – 47, 2014
ihm fehlten Arme und Beine, so dass er völlig handlungsun- Horikawa, T. et al.: Neural Decoding of Visual Imagery During
fähig war; doch plötzlich gebar er ein Kind – und nun lief Sleep. In: Science 340, S. 639 – 642, 2013
alles­ viel besser. Wir vermuten, dass im Traum zuvor bean-
spruchte Spiegelneurone wieder aktiviert werden und dass Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408638

WWW.SPEK TRUM .DE 29


MEDIZIN

Heilen mit dem


vierten Aggregatzustand
Physikalisches Plasma bewährt sich bereits im klinischen Alltag: Es desinfiziert
Wunden und lindert Entzündungen. Mediziner haben weitere Einsatzfelder im Blick,
etwa Krebstherapien.
Von Thomas von Woedtke und Hans-Robert Metelmann

S
eit etwa 15 Jahren ist eine neue Disziplin im Entstehen mit biologisch verträglichen Temperaturen unterhalb von 40
begriffen: die Plasmamedizin. Der Begriff hat nichts Grad Celsius. Sie eröffnen völlig neue Anwendungsfelder in
mit Blutplasma zu tun, wie viele annehmen. Statt­ der Medizin.
dessen bezieht er sich auf physikalisches Plasma – ein Zu den bereits etablierten und klinisch derzeit wichtigs­
Gemisch aus meist ionisierten, also geladenen Atomen, Mole­ ten Behandlungsverfahren gehört es, physikalische Plasmen
külen sowie aus Elektronen, das sich üblicherweise wie ein gegen Krankheitserreger auf entzündeter Haut oder in ober­
Gas verhält. Physiker bezeichnen es oft als »vierten Aggregat­ flächlichen Geschwüren einzusetzen. Für diese Indikation
zustand«. Dieser lässt sich beispielsweise erzeugen, indem sind im Jahr 2013 die ersten Plasmaquellen in Deutschland
man Gasen über starke elektrische Felder Energie zuführt. als Medizingeräte zugelassen worden. Ein »Plasmajet« bei­
Dabei verlieren viele Gasteilchen Elektronen ihrer äußeren spielsweise ist ein chirurgisches Gerät, das der Arzt mit
Atomhülle – sie werden teilweise oder vollständig ionisiert. der Hand führt und mit dem er einen kalten, bläulich schim­
Das entstehende Medium ist elektrisch leitfähig. mernden Plasmastrahl von etwa 14 Millimeter Länge auf
Da Plasmen energetisch angeregt sind, enthalten sie viele eine keimbelastete Wundoberfläche richtet (siehe Bild rechts).
reaktionsfreudige Teilchen sowohl elektrisch geladener als Das führt dazu, dass dort vorhandene Bakterien, Pilze, Viren
auch neutraler Art und senden elektromagnetische Strah­ und auch Parasiten abgetötet werden. Da diese antimikro­
lung aus, vor allem UV- und sichtbares Licht. Dies macht bielle Wirkung auf physikalisch-chemischen Mechanismen
Plasmen zu geeigneten Mitteln, um Licht zu erzeugen, Ober­ (unter anderem Radikaleinwirkung) beruht, können sich ihr
flächen zu verändern oder Energien umzuwandeln, zum Bei­ auch Erreger mit Mehrfachresistenzen gegenüber Antibioti­
spiel in experimentellen Kernfusionsanlagen. Meist weisen ka nicht entziehen.
sie sehr hohe Temperaturen auf. Schon nach etwa drei Sekunden kann ein Plasmastrahl
Etwa seit Mitte der 1990er Jahre gelingt es auch, so ge­ eine Wunde beinahe vollständig keimfrei machen, sofern
nannte kalte Atmosphärendruckplasmen (cold atmospheric nicht Blut, Sekret oder Schmutz sie abdecken. Auf manchen
plasmas, CAP) zu erzeugen. Das sind Teilchengemische mit Verletzungen bilden sich allerdings Biofilme – gelähnliche
Drücken, die jenem an der Erdoberfläche entsprechen, und Schichten, in denen die Mikroben miteinander vernetzt und
erheblich widerstandsfähiger sind. Hier ist die klinische Wir­
AUF EINEN BLICK kung der Plasmajets zurzeit noch unbefriedigend. Immerhin
führt die Behandlung mit physikalischem Plasma laut ersten
Versuchen nicht dazu, dass Wundkeime resistenter gegen­
DESINFEKTION MIT IONISIERTEN TEILCHEN
über Antibiotika, Virustatika, Antimykotika und ähnlichen

1 Mit kalten physikalischen Plasmen kann man lebendes Gewebe


behandeln. Ärzte desinfizieren damit Wunden, Geschwüre und
Tumoren an der Hautoberfläche.
Arzneistoffen werden. Auch auf eine Resistenzbildung ge­
genüber dem Teilchengemisch selbst gibt es bisher keine
Hinweise. Die antimikrobiellen Eigenschaften von Plasmen

2 Klinische Beobachtungen zeigen, dass die Plasmatherapie auch


Wunden schneller heilen lässt. Vermutlich geschieht das über
eine Beeinflussung der zellulären Redoxbalance.
lassen sich zudem in der Zahnmedizin nutzen, um kieferor­
thopädische Geräte, zahnärztliche Prothesen und Implanta­
te zu desinfizieren.
3 Mediziner entwickeln weitere Anwendungen der Methode,
etwa zur unterstützenden Behandlung gegen Krebs. Allerdings
lässt sich die Plasmawirkung derzeit noch schlecht dosieren.
Ganz besonderen Wert hat die neue Methode für Krebs­
patienten, die unter infizierten Geschwüren an der Haut-
ober­fläche leiden. Für diese Menschen bedeutet geringerer

30  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


BIOLOGIE & MEDIZIN

Mit Hilfe eines solchen Geräts richten Mediziner kalte


Plasmastrahlen auf Haut- und Wundoberflächen.

D
AL
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EIFS
P GR
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In wenigen Sekunden kann ein
Plasmastrahl eine keimbelastete
Wundoberfläche desinfizieren.
Besonders erfreulich: Auf eine
Resistenzbildung seitens der Mi-
kroben dagegen gibt es bislang
keine Hinweise.
UNIVERSITÄTSMEDIZIN GREIFSWALD

Mikro­benbefall auch weniger Schmerzen, verminderter


Glossar Schmerzmittelbedarf, schwächere Geruchsentwicklung und
damit weniger soziale Isolation. Das gilt insbesondere bei
Physikalisches Plasma: Ein Gemisch aus Atomen und/oder weit fortgeschrittenen und nicht mehr heilbaren Krebser­
Molekülen, die teils im ionisierten Zustand vorliegen, sowie krankungen.
Elektronen. Plasmen können vollständig oder zum Teil aus Zwar fehlen noch klinische Studien dazu, doch der klini­
Ionen bestehen; in jedem Fall enthalten sie freie Ladungs- sche Alltag zeigt immer wieder: Behandelt man keimbefal­
träger. lene Wundoberflächen mit physikalischem Plasma, zerstört
dies nicht nur die Krankheitserreger, sondern regt gleichzei­
CAP: »Cold atmospheric plasmas«, physikalische Plasmen tig und unabhängig davon die Wundheilung an. Selbst in tie­
mit Temperaturen unterhalb von 40 Grad Celsius und Drü- fe Defekte wächst wieder Gewebe ein, und frisch entstehen­
cken, die denen an der Erdoberfläche entsprechen de Hautdecken verschließen auch solche Verletzungen, bei
denen der Heilungsprozess schon seit langer Zeit stockt. Das
Ionisation: Entfernung von Elektronen aus Atomen oder eröffnet neue Möglichkeiten, um Geschwüre bei Diabetikern
Molekülen. Dabei bleiben positiv geladene Reste der Atome oder schlecht heilende Wunden wie offene Beine zu behan­
oder Moleküle zurück, die so genannten Ionen. deln. Plasmajets erlauben es zudem, Infektionen bei offen
liegenden Hautabtragungen vorzubeugen, etwa nach Laser­
Reaktive Sauerstoffspezies (ROS), reaktive Stickstoffspezies therapien. Weitere Einsatzfelder sind die Herzchirurgie oder
(RNS): Sauerstoff beziehungsweise Stickstoff enthaltende, die Desinfektion von Hautarealen, durch die hindurch tech­
reaktionsfreudige Substanzen, die im normalen Zellstoff- nische Geräte geführt werden müssen.
wechsel vorkommen und an zahlreichen physiologischen Physikalisches Plasma verändert Säugetierzellen auf vie­
Prozessen beteiligt sind – etwa an Stoffwechsellagen wie lerlei Weise, wie inzwischen mehrere Untersuchungen ge­
oxidativem Stress. zeigt haben. Es beeinflusst ihre Bewegungen und stimuliert
ihre Vermehrung und das Wachstum. Zudem fördert es die
Redoxstatus: Die Balance zwischen Oxidationsmitteln und Herstellung von Proteinen, die Wechselwirkungen zwischen
Antioxidanzien. Zu Oxidationsmitteln zählen freie Radikale den Zellen sowie zwischen ihnen und der extrazellulären
und andere reaktionsfreudige Spezies. Bei Antioxidanzien Matrix vermitteln (der faserhaltigen Substanz zwischen den
kann es sich um Enzyme handeln, beispielsweise Super- Zellen). Im Gewebeverband führt das unter anderem dazu,
oxid-Dismutase, oder um andere Verbindungen wie Glutha- dass vermehrt neue Blutgefäße entstehen.
thion oder Vita­min C. Wird der Redoxstatus einer Zelle mas- Diese Wirkungen lassen sich mit sehr verschiedenen CAP-
siv beeinflusst, etwa durch Einbringen von reaktionsfreu­ Quellen erzielen, hängen also offenbar kaum von der Art des
digen Sauerstoff­spezies, kann die Zelle unter oxidativen verwendeten Gases ab. Damit stellt sich die wichtige Frage,
Stress geraten. ob den vielfältigen biologischen Effekten physikalischen
Plasmas, die klinisch zu beobachten sind, einheitliche Me­
chanismen zu Grunde liegen. Bisher kennen wir zwei zentra­

32  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


le Wirkprinzipien kalter Atmosphärendruckplasmen. Einer­ kung von ROS unter anderem mehr vom Fibroblasten-
seits entfalten sie ihre biologischen Effekte über Verände­ Wachstumsfaktor FGF2 ausschütteten. Bei Wundheilungs­
rungen in der wässrigen Umgebung der Zelle, andererseits in prozessen spielt weiterhin die zwischenzelluläre Kommu­
den Zellen selbst. Beides basiert überwiegend auf der Wir­ nikation über Zell-Zell-Kontakte eine Rolle. Sie beeinflusst
kung so genannter reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) und re­ die Wanderung und Vermehrung von Zellen sowie Entzün­
aktiver Stickstoffspezies (RNS). dungsreaktionen. Physikalisches Plasma greift auch hier ein,
Zu diesen reaktionsfreudigen Substanzen gehören Wasser­ indem es die Produktion von Molekülen fördert oder hemmt,
stoffperoxid (H2 O2 ), das Superoxid- (O2 •–) und das Hydroxyl­ die an diesen Vorgängen mitwirken.
radikal (•OH) sowie Singulett-Sauerstoff (1O2 ) einerseits, Stick­ Körperzellen verfügen über zahlreiche Regelmechanis­
stoffmonoxid (•NO), Stickstoffdioxid (•NO2 ) und Peroxynitrit men, um ihren Redoxstatus aufrechtzuerhalten. Deshalb
(ONOO –) andererseits. Sie entstehen infolge der Anregung kann man davon ausgehen, dass ein mengenmäßig, örtlich
von Sauerstoff und Stickstoff aus der Atmosphäre. Das pas­ und zeitlich begrenztes Einbringen von reaktiven Sauerstoff-
siert etwa, wenn Luft als Arbeitsgas dient, um das Plasma her­ und Stickstoffspezies ins Gewebe mit geringen Nebenwir­
zustellen, oder wenn man hierfür ein Edelgas wie Argon oder kungen einhergeht. Die Plasmabehandlung ruft verschiede­
Helium verwendet und das primär gebildete Plasma mit Luft ne zelluläre Reaktionen hervor, bei denen es sich oft um
und Flüssigkeiten in Kontakt kommt. Über eine erhöhte Kon­ Schutz- und Reparaturmaßnahmen handelt – etwa die Her­
zentration solcher reaktiven Spezies beeinflussen kalte Atmo­ stellung von antioxidativ wirkenden Enzymen. Eine zentrale
sphärendruckplasmen den Redoxstatus von Zellen (siehe Rolle dabei spielt der Transkriptionsfaktor Nrf2, der das Ab­
Glossar, S. 32). Wichtig ist die Tatsache, dass dieselben reakti­ lesen entsprechender Gene über das »Antioxidans-Respon­
onsfreudigen Substanzen auch im normalen Zellmetabolis­
mus vorkommen und dort wichtige Funktionen beim Steu­
ern und Vermitteln physiologischer und pathologischer Pro­
zesse ausüben. Im Rahmen der Redoxbiologie haben Forscher
solche Zusammenhänge bereits eingehend untersucht.

Ionenmix fördert Wundheilung


Auf diese Erkenntnisse kann zurückgreifen, wer die biologi­
schen Effekte kalter Atmosphärendruckplasmen untersu­
chen möchte. So spielen die reaktiven Spezies, die als wirksa­
me Komponenten kalter Plasmen identifiziert worden sind,
auch eine wesentliche Rolle bei physiologischen Wundhei­
lungsprozessen. Aus älteren Untersuchungen ist bekannt,
dass Zellen in verletzten Geweben unter anderem von Me­
chanismen koordiniert werden, die ihren Redoxstatus beein­
flussen. Mit Plasmajets lassen sich reaktive Sauerstoff- und
Stickstoffspezies gezielt in Wunden einbringen, was die Ge­
nesung unmittelbar fördert.
Ein Team um Anke Schmidt vom Leibniz-Institut für Plas­
maforschung und Technologie (INP) hat 2015 gezeigt: Wirkt
ein physikalisches Plasma auf kultivierte Zellen ein, stellen
diese mehr Enzyme und Proteine her, die für die Wundhei­
lung ­relevant sind – darunter Oxidoreduktasen und Matrix-
Metalloproteasen, verschiedene Zytokine und Wachstums­
faktoren. Nach Plasmabehandlungen vermehrten sich in
­Experimenten die Zellen stärker, weil sie infolge der Einwir­

Wunde Oberfläche eines offenen Krebsgeschwürs, wobei auf der


rechten Seite ein dichter Bakterienrasen zu erkennen ist, während
der mittlere Bildabschnitt das Ergebnis einer mehrmaligen Plas-
UNIVERSITÄTSMEDIZIN GREIFSWALD

mabehandlung zeigt. Die Mikrobenschicht hat sich hier aufgelöst,


und das darunterliegende Tumorgewebe wird sichtbar. Im linken
Areal ist der Tumor unbehandelt; an dem kleinen erhabenen
Gewebeknoten in der unteren Bildhälfte kann man erkennen, wie
die Wucherung dort weiterwächst.

WWW.SPEK TRUM .DE 33


mit der Frage, ob und wie physikalisches Plasma gegen
Krebszellen wirkt. Bei Patienten mit bösartigen Tumoren im
Mund- und Kieferbereich hat sich gezeigt, dass die CAP-­
Behandlung nicht nur die Besiedlung der Geschwüre durch
Bakterien unterbindet, sondern das entartete Gewebe auch
ein Stück weit normalisiert, indem es beispielsweise dessen
Durchblutung fördert. In dem Bild auf S. 33 erscheint die
plasmabehandelte Tumoroberfläche flacher und frisch
durchblutet, während sich das unbehandelte Tumorgewebe
weißlich und uneben präsentiert. Kann physikalisches Plas­
ma womöglich das Wachstum von Tumorzellen hemmen?
Der Frage sollte in klinischen Studien systematisch nachge­
gangen werden, wie Christian Seebauer von der Universität
UNIVERSITÄTSMEDIZIN GREIFSWALD

Greifswald und sein Team 2015 aufgezeigt haben. Vielleicht


setzen die reaktiven Sauerstoff- und Stickstoffspezies, die der
Plasmajet in die flüssige Zellumgebung einbringt, Krebszel­
len außer Gefecht, indem sie die Kapazitäten von deren Re­
doxregelmechanismen erschöpfen. Infolgedessen könnten
Schlecht heilende, offene Wunde, deren mittleren Teil die Ärzte sich Zellschäden anhäufen, die schließlich den program­
mehrfach mit einem Plasmastrahl behandelt haben, während mierten Zelltod (Apoptose) auslösen.
die Bereiche rechts und links davon unbehandelt blieben. Es ist Physikalisches Plasma zerstört Tumorgewebe nicht – dies
deutlich zu erkennen, wie sich die Wunde im mittleren Areal könnte auch zu gefährlichen Defekten führen, insbesondere
bereits geschlossen hat, während sie beiderseits davon noch klafft. wenn es in der Nähe großer Blutgefäße geschähe. Vielmehr
scheint es einen langsamen Niedergang des entarteten Ge­
webes einzuleiten, wobei die benachbarten gesunden Zellen,
se-Element« (ARE) auf der DNA fördert. Kristian Wende und wiederum angeregt durch Plasma, als Narbengewebe in die
Anke Schmidt vom INP und ihre Kollegen haben 2014 und entstehende Lücke einwachsen. Hier zeichnen sich faszinie­
2015 experimentell belegt, dass die Plasmabehandlung bei rende Anwendungen ab, für die allerdings derzeit noch kei­
Keratinozyten (Horn bildenden Zellen der Oberhaut) den nerlei klinische Studien vorliegen.
Nrf2-Signalweg aktiviert – mit dem Ergebnis, dass die Zellen Immerhin haben Lars Ivo Partecke von der Universität
resistenter gegenüber oxidativem Stress und seinen Folgen Greifswald und sein Team 2012 an einem soliden In-vivo-Tu­
sind. Dies haben weitere Untersuchungen bestätigt. mormodell demonstriert, dass eine Behandlung mit kaltem
Zusammen mit Ergebnissen, die an Gewebebiopsien und Atmosphärendruckplasma die oberen Zellschichten des Tu­
in klinischen Langzeituntersuchungen gewonnen wurden, mors mittels Einleitung der Apoptose inaktiviert. Ergänzend
bedeutet das: Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist die dazu ergaben Versuche an Mäusen in den Jahren 2011 und
medizinische Anwendung kalter Atmosphärendruckplas­ 2012: Plasmabehandlungen durch die Haut hindurch kön­
men als sicher einzuschätzen. Aktuell befassen sich Forscher nen das Wachstum von soliden Tumoren unter der Haut ver­
UNIVERSITÄTSMEDIZIN GREIFSWALD

Gewebebiopsien zweier unmittelbar benachbarter Hautareale. Kontrolle. Erstere erscheint gestrafft und in der Oberhaut
Die linke davon wurde über längere Zeit hinweg physikali- weniger verdickt, während die zweite faltig und mit vielen
schem Plasma ausgesetzt, die rechte diente als unbehandelte Zelltrümmern belegt ist.

34  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


langsamen und die Überlebenszeit der behandelten Nager Kontrolle über die Einwirkzeit. Da die Art der verwendeten
verlängern, verglichen mit unbehandelten Tieren. Diese Be­ Plasmaquelle aber großen Einfluss auf die Effektstärke hat,
funde legen die Möglichkeit nahe, chirurgische Eingriffe an ist die Einwirkzeit nicht sehr aussagekräftig, wenn es darum
Krebs­patienten mit Plasmabehandlungen zu unterstützen – geht, verschiedene Forschungsergebnisse zu vergleichen.
besonders wenn sich der Tumor nicht vollständig entfernen Eine geräteunabhängige Angabe von Behandlungsintensitä­
lässt. Ob und wie man damit Geschwulste verkleinern oder ten im Sinn von Dosen ist bislang leider nicht möglich.
sogar beseitigen kann, bedarf weiterer Grund­lagenforschung. Die großen Fortschritte in der Plasmamedizin lassen sie
Unklar ist vor allem noch, wie eine Tiefenwirkung des Plas­ zunehmend in den Medien sichtbar werden und wecken bei
mas zu erzielen wäre. Patienten wie Ärzten die Hoffnung, damit klinische Proble­
me in den Griff zu bekommen, die bisher nicht oder nur un­
Besseres Hautbild befriedigend gelöst sind. Schon jetzt ist abzusehen, dass das
Zu den möglichen Anwendungsgebieten zählt auch die äs­ Gebiet wirtschaftlich sehr interessant werden dürfte. Daher
thetische Medizin, denn mit physikalischem Plasma lässt haben Forscher und Geräteentwickler eine große Verantwor­
sich das Erscheinungsbild von erschlafftem und faltigem tung, einerseits auf solider wissenschaftlicher Basis die klini­
Hautgewebe sichtbar verbessern. Die Bilder links unten zei­ schen Anwendungen möglichst zügig voranzubringen, ande­
gen Gewebebiopsien von zwei unmittelbar benachbarten rerseits aber nicht voreilige, unerfüllbare Erwartungen an
Hautarealen. Eine davon wurde über längere Zeit hinweg die Methode zu schüren und damit die Plasmamedizin in
physikalischem Plasma ausgesetzt, die andere diente als Misskredit zu bringen. Ÿ
Kontrolle. Die erste erscheint gestrafft und mit einer dünne­
ren Oberhaut, während die zweite faltig und mit vielen Zell­
DI E AUTOREN
trümmern belegt ist. Das spiegelt den Gesamteindruck wi­
der, wonach entsprechend behandelte Biopsien insgesamt Thomas von Woedtke (links) ist
fester, rosiger und frischer wirken. Klinische Studien fehlen Professor für Plasmamedizin
an der Universität Greifswald
allerdings auch hierzu noch. und Forschungsschwerpunkt-
Weiter entwickelt, aber immer noch im vorklinischen Sta­ leiter am dortigen Leibniz-
dium ist die Anwendung von Plasma gegen Zahnkaries. Die­ Institut für Plasmaforschung
und Technologie. Hans-Robert
se Erkrankung wird ebenfalls von Keimen verursacht, die Metelmann arbeitet als Pro-
sich mit physikalischem Plasma deaktivieren beziehungs­ fessor und Direktor an der Klinik und Poliklinik für Mund-Kiefer-
weise abtöten lassen. Es bleibt zu klären, ob die Methode auf Gesichtschirurgie und Plastische Opera­tionen der Universität
Greifswald.
mineralreichem Zahnschmelz ebenso gut wirkt wie auf
Hautoberflächen und ob sie hilft, Zahnkaries vorzubeugen QUELLEN
oder vielleicht sogar kariöse Höhlen zu sanieren. Zudem
könnten sich CAP in der Augen- und HNO-Heilkunde bewäh­ Metelmann, H.-R. et al.: Head and Neck Cancer Treatment and
Physical Plasma. In: Clinical Plasma Medicine 3, S. 17 – 23, 2015
ren, ebenfalls zur Infektionsbehandlung.
Partecke, L. I. et al.: Tissue Tolerable Plasma (TTP) Induces
Ein ganz anderes Gebiet ist die Behandlung von Flüssig­ Apoptosis in Pancreatic Cancer Cells in Vitro and in Vivo. In: BMC
keiten mit physikalischem Plasma. Sie kann dazu führen, Cancer 12, S. 473, 2012
Schmidt, A. et al.: Non-Thermal Plasma Activates Human
dass die Flüssigkeit vorübergehend selbst biologisch wirk­
Keratinocytes by Stimulation of Antioxidant and Phase II Pathways.
sam wird. Das haben wir zunächst an plasmabehandelten In: The Journal of Biological Chemistry 290, S. 6731 – 6750, 2015
Kochsalzlösungen demonstriert, die antimikrobielle Aktivi­ Tanaka, H. et al.: Plasma with High Electron Density and
tät zeigen. Japanische Forscher um Hirosama Tanaka von der Plasma-Activated Medium for Cancer Treatment. In: Clinical
Plasma Medicine 3, S. 72 – 76, 2015
Nagoya University haben Zellkulturmedium auf diese Weise von Woedtke, T. et al.: Plasmas for Medicine. In: Physics Reports
so verändert, dass es Krebszellen in die Apoptose treibt, was 530, S. 291 – 320, 2013
bei der Bekämpfung metastasierter Tumoren beispielsweise
in der Bauchhöhle von Nutzen sein könnte. Die als Plasma­ LITERATURTIPPS
pharmazie bezeichnete Disziplin umfasst das Herstellen,
Metelmann, H.-R. et al.: Indikationen und Behandlungstechniken.
Optimieren oder Stabilisieren wirkstoffhaltiger Flüssigkei­ In: Metelmann, H.-R., Hammes, S. (Hg.): Lasermedizin in der Äs-
ten mit Hilfe von CAP und befindet sich derzeit noch im Sta­ thetischen Chirurgie. Springer Medizin, Berlin und Heidelberg 2015
Übersicht über Laserbehandlungen in der ästhetischen Chirurgie
dium der Grundlagenforschung.
Insgesamt steht die Plasmamedizin am Anfang eines sehr Nationales Zentrum für Plasmamedizin: Positionspapier zum
erfolgversprechenden Wegs in die klinische Anwendung. We­ Risikopotenzial und zu Anwendungsperspektiven von
gen den komplexen Wechselwirkungen verschiedener Plas­ kaltem Atmosphärendruckplasma in der Medizin, 2014. Abrufbar
unter www.plasma-medizin.de
makomponenten mit Zellen, Geweben und Flüssigkeiten er­ Kontinuierlich überarbeitete Zusammenfassung des aktuellen
gibt sich jedoch eine besondere Herausforderung: das Quan­ Wissensstands auf dem Gebiet der Plasmamedizin
tifizieren der Wirkung im Sinn einer Dosis, wie sie etwa in der
Foto- und Strahlentherapie üblich ist. Zurzeit erfolgt diese Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408639

WWW.SPEK TRUM .DE 35


EXOPLANETEN

Spurensuche im All
Leben auf fremden Planeten sollte Fingerabdrücke in deren Atmosphären hinter­
lassen. Mit immer besseren Beobachtungstechniken und Computer-
modellen ebnen Forscher jetzt den Weg, diese Signale zu finden und zu verstehen.
Von Florian Rodler

K
önnen wir Hinweise auf Leben auf fernen Welten

ESO / LUÍS CALÇADA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/IMAGES/ESO0915A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)


finden? Was heute noch nach Sciencefiction klingt,
wird in den nächsten Jahren tatsächlich möglich
sein. Wir kennen bereits mehr als 2100 Exoplane-
ten – von erdgroßen Gesteinsplaneten bis Gasplaneten dop-
pelt so groß wie Jupiter. Einige der mehr als 1000 Exemplare,
die der Kepler-Satellit der NASA bis 2013 entdeckte, befinden
sich in der habitablen Zone um ihre Sonne. In dieser Region
ist die Strahlung des Sterns gerade so stark, dass die Tempe-
ratur auf der Oberfläche eines Planeten die Existenz von flüs-
sigem Wasser erlauben könnte – eine Grundvoraussetzung
für Leben, wie wir es kennen.
Doch solange wir die Zusammensetzung der Planetenat-
mosphäre nicht kennen, können wir keinerlei Aussagen über
die tatsächlichen Bedingungen auf diesem Himmelskörper
treffen. Denn nicht nur die Strahlungsleistung des Sterns in
einem bestimmten Abstand bestimmt das Klima dort, son-
dern auch vorhandene Treibhausgase in der Gashülle.
Da die meisten der bekannten Exoplaneten von der Erde
aus gesehen zu nahe bei ihrem Stern stehen und von diesem
überstrahlt werden, lassen sie sich nicht getrennt von ihm
beobachten. Stattdessen empfangen wir das Licht der beiden
Objekte gemeinsam. Wollen wir die Atmosphäre eines Exo-
planeten untersuchen, benötigen wir ausgefeilte Techniken,
um das schwache Planetensignal vom extrem hellen Ster-
nenlicht trennen zu können.
Die derzeit erfolgreichste Methode, um Atmosphären von
Exoplaneten zu untersuchen, ist die Transmissionsspektro­

DIE SERIE IM ÜBERBLICK

GROSSFAHNDUNG NACH EXOPLANETEN

Teil 1 ˘ Auf der Jagd nach der zweiten Erde  April 2016
Kevin Heng und Joshua Winn
Teil 2 ˘ H
 eiße Jupiter im Visier Mai 2016
Lee Billings
Teil 3 ˘ Spurensuche im All  Juni 2016
Florian Rodler

36  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


PHYSIK & ASTRONOMIE

skopie. Sie lässt sich bei solchen Systemen anwenden, die sen. Diese Atmosphären sind nach unserem Verständnis exo-
räumlich so orientiert sind, dass ein Planet von der Erde aus tisch, denn unser Sonnensystem verfügt nicht über derartig
gesehen regelmäßig vor seinem Stern vorüberzieht. Besitzt aufgeblähte Gasplaneten mit Temperaturen jenseits von
der Exoplanet eine Atmosphäre, so scheint das Sternenlicht 1000 Grad Celsius. Immerhin bestehen diese sonderbaren
während eines Transits durch sie hindurch, und die Atome Exoplanetenatmosphären wie ihre hiesigen Gegenstücke
und Moleküle darin absorbieren einen Teil des Sternenlichts zum Großteil aus Wasserstoff und Helium. Darüber hinaus
bei bestimmten Wellenlängen. ließen sich in ihnen Gase wie Wasserdampf, Kohlenstoffmon-
Im Jahr 2001 gelang es Astronomen erstmals, die Atmo- oxid, Kohlenstoffdioxid, Kalium und Methan nachweisen.
sphäre eines Exoplaneten zu beobachten. Inzwischen haben Neben seiner Zusammensetzung lässt sich mittels Spek­
sie die Gashüllen von gut 50 Exoplaneten analysiert, größten- troskopie auch die Geschwindigkeit eines Objekts relativ zu
teils solche von heißen Jupitern – aufgeheizten Gasriesen uns zu messen, und zwar anhand des Dopplereffekts. Befin-
also, die ihre Sonne in extrem geringen Abständen umkrei- den sich Gasriesen besonders nah an ihrem Stern und heizen

ESO / LUÍS CALÇADA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/IMAGES/ESO0915A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Diese künstlerische Darstellung zeigt das Exoplanetensystem


um den Zwergstern Gliese 581. Darin entdeckten Astronomen
2007 die erste Supererde in der habitablen Zone.

WWW.SPEK TRUM .DE 37


sich dadurch stark auf, können sich heftige Winde entwi- AUF EINEN BLICK
ckeln, die von der extrem warmen Tagseite zur kühleren
Nachtseite wehen. Befindet sich der Planet nun vor dem DIE ATMOSPHÄRE DURCHSCHAUEN
Stern in der Transitposition, so blasen die Stürme von der
dem Beobachter abgewandten Tagseite des Planeten zur ihm
zugewandten Nachtseite. Dadurch verschieben die bewegten
1 Mittlerweile kennen Astronomen mehr als 2100 Exoplaneten.
Welche Bedingungen dort herrschen und ob dort vielleicht
Leben, wie wir es kennen, existiert, lässt sich nur herausfinden,
Luftmassen das Transmissionsspektrum leicht ins Blaue. Ge- indem man ihre Atmosphären untersucht.
nau diesen Effekt konnten Forscher bei den beiden heißen
Gasriesen HD 209458 b und HD 189733 b beobachten. Wie 2 Bei einem Transit passiert ein Teil des Sternenlichts die plane-
tare Atmosphäre. Je nach Zusammensetzung filtert sie dabei
Licht bestimmter Wellenlängen heraus. Die Moleküle aus der
sich zeigte, können solche Stürme Geschwindigkeiten von
Atmosphäre hinterlassen so im Transmissionsspektrum charakte-
mehreren tausend Kilometern pro Stunde erreichen. ristische Spuren.
Die Untersuchung der Atmosphären kleiner Exoplaneten
von weniger als vier Erddurchmessern steckt allerdings noch
in den Kinderschuhen. 2009 wurde die Supererde GJ1214 b
3 Mit heutigen Techniken lassen sich noch nicht die Atmosphä-
ren erdähnlicher Exoplaneten analysieren. Wie Modelle zeigen,
wird dies aber mit einer neuen Teleskopgeneration möglich sein.
entdeckt: Dieser Transitplanet mit 2,6-fachem Erddurchmes-
ser umkreist seinen kühlen Zwergstern der Spektralklasse M
alle 1,6 Tage. Auf Grund der kleinen Größe des Zentralge- sionsspektrum wies keinerlei Absorption von Atomen und
stirns von nur 20 Prozent des Sonnendurchmessers erschien Molekülen auf – eigentlich ein Indiz für einen Gesteinsplane-
dieses System ideal, um die planetare Gashülle dieser Super- ten ohne jegliche Atmosphäre. Die aus anderen Beobachtun-
erde zu analysieren. Denn was bei der Transmissionsspektro- gen bestimmte Dichte von GJ1214 b deutete jedoch auf einen
skopie letztlich zählt, ist das Flächenverhältnis der transpa- Gasplaneten hin. Ein weiteres plausibleres Erklärungsmodell
renten Planetenatmosphäre und der scheinbaren Stern- wäre eine durchgängige Wolkenschicht, welche das Sternen-
scheibe. Umkreist ein Planet gegebenen Ausmaßes einen licht nicht passieren und die Atmosphäre somit undurch-
großen Stern, so erhalten wir zwar mehr Licht vom Stern sichtig erscheinen lässt.
selbst, es passiert aber ein geringerer Anteil davon die Plane- Im Februar 2016 ließ eine Publikation einer englischen As-
tenhülle als bei einem kleineren Stern. Ist der Stern klein, so tronomengruppe über die Supererde 55 Cancri e (auch »Jans-
ist es also einfacher, die Zusammensetzung der Planeten­ sen« genannt) aufhorchen. Der Gesteinsplanet von doppel-
atmosphäre zu messen. ter Größe und achtfacher Masse der Erde umkreist seinen
Kurz nach der Entdeckung von GJ1214 b versuchte ein US- hellen Mutterstern in einem Mehrfachplanetensystem auf
amerikanisches Astronomenteam die Zusammensetzung einer engen Bahn alle 17,5 Stunden. Die Forscher interpre-
von dessen Atmosphäre mit dem Hubble-Weltraum­teleskop tierten leichte Strukturen im Transmissionsspektrum als
zu analysieren. Das Ergebnis war ernüchternd: Das Transmis- Anzeichen von Wasserstoff und Helium in seiner Atmosphä-
re. Sollte sich dies bestätigen, wäre 55 Cnc e der bislang kleins-
te Exoplanet mit einer nachgewiesenen Atmosphäre. Aller-
Sauerstoff in der Modellatmosphäre dings stellt sich bei einem so kleinen Himmelskörper die
FLORIAN RODLER

­Frage, wie er seine Gashülle, noch dazu aus den leichtesten


1,00
Elementen, derart nahe am Stern festhalten kann, wo er in-
tensiver Strahlung und starkem Sternenwind ausgesetzt ist.
0,95 Hatte dieser Planet vielleicht früher eine dichtere Atmosphä-
re, und beobachten wir nur noch die Überreste davon?
Sauerstoffgehalt
Transmission

0,90 All das sind bereits viele interessante Details, die wir heu-
0,1%
1%
te über fremde Welten erfahren können, die aber auch neue
5% Fragen aufwerfen. Doch wonach müssen wir suchen, wenn
0,85
10 % wir auf Spuren von Leben stoßen wollen? Stellen wir uns
21 % Erde
dazu vor, ein außerirdisches Astronomenteam entdeckt ei-
0,80 40 %
nen kleinen, erdgroßen Gesteinsplaneten, der etwa alle 365
Tage 13 Stunden lang vor seiner gelben Sonne vorüberzieht
und dabei einen geringen Teil von ihr – nur etwa 0,01 Pro-
758 760 762 764 766 768 770 772
zent – verdeckt. Berechnungen unter Berücksichtigung der
Wellenlänge (in Nanometern)
Temperatur des Sterns und des Abstands Planet-Stern wür-
Je nach Startbedingungen und danach aktiven Prozessen in den für diesen Planet eine Durchschnittstemperatur von –18
einer Atmosphäre ändert sich die Konzentration der verschiede­ Grad Celsius ergeben. Für die Existenz von flüssigem Wasser
nen Bestandteile. Je mehr molekularer Sauerstoff etwa vor­ wäre das zu kalt, allerdings könnten auch Treibhausgase in
handen ist, umso stärker wird das Sternenlicht bei einem Transit der Planetenatmosphäre vorkommen und für wärmere Tem-
bei den charakteristischen Wellenlängen blockiert. peraturen sorgen.

38  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Um die Planetenatmosphäre genauer unter die Lupe zu

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: FLORIAN RODLER UND ESO


Planeten-
nehmen, startet das Astronomenteam eine groß angelegte Be-

radius
obachtungskampagne mit riesigen Teleskopen. Was würden
sie sehen? Vielleicht eine Atmosphäre wie jene der Erde, die Wellenlänge (λ)
sich hauptsächlich aus Stickstoff und Sauerstoff zusammen-
setzt. Letzterer würde Fingerabdrücke im sichtbaren Bereich
des Spektrums hinterlassen, vornehmlich bei drei Rottönen.
Im infraroten Spektrum offenbart unsere Atmosphäre die
Atmosphäre
Treibhausgase Kohlenstoffmonoxid, Methan, Ozon, Lachgas
und Wasserdampf. Sie bewirken dort, dass die von der Sonne Planet Planet
kommende, kurzwelligere Strahlung die Atmosphäre zwar während Transit
weit gehend passieren, die langwelligere Wärmestrahlung von

Planeten-
der aufgeheizten Erdoberfläche aber nicht ins Weltall entwei-

radius
chen kann. Dadurch wärmt sich die Atmosphäre auf, und die
Durchschnittstemperatur an der Erdoberfläche steigt um 33 Wellenlänge (λ)

Grad Celsius auf angenehme + 15 Grad Celsius.


Bei der Frage nach flüssigem Wasser spielt aber auch der Besitzt ein Exoplanet eine Atmosphäre, dann absorbieren die
Atmosphärendruck auf der Planetenoberfläche eine Rolle. Atome und Moleküle in ihr das Licht bei ganz bestimmten Wel­
Auf der Erde lässt er Wasser auf Meereshöhe bei 100 Grad Cel- lenlängen. In diesem Spektralbereich erscheint der Planet größer,
sius kochen. Bei niedrigeren Drücken sinkt die Siedetempe- da die Gashülle dort lichtundurchlässig ist. Anhand des Trans­
ratur. Mars etwa besitzt eine so dünne Atmosphäre, dass missionsspektrums können die Wissenschaftler außerdem die
Wasser nur im Temperaturbereich von 0 bis 10 Grad Celsius Zusammensetzung der Atmosphäre untersuchen.
flüssig wäre und oberhalb davon sofort verdampfen würde.
Und bei einem Atmosphärendruck von weniger als 0,6 Pro-
zent des irdischen kann Wasser in flüssiger Form überhaupt stoff und Wasserstoff aufspalten. Der leichte Wasserstoff
nicht mehr existieren, sondern nur als Eis oder Wasser- würde dann langsam ins Weltall entweichen, und die Atmo-
dampf. sphäre würde sich mit dem schwereren Sauerstoff anrei-
chern. Simulationen von Planetenatmosphären sind also es-
Verräterisches Ungleichgewicht senziell dafür, jene Kombinationen an Gasen zu lokalisieren,
Die außerirdischen Beobachter würden außerdem feststel- welche sich mit der geringsten Wahrscheinlichkeit abiotisch
len, dass sich die Erdatmosphäre nicht im chemischen produzieren lassen und nebeneinander in einer Atmosphäre
Gleichgewicht befindet – ein starkes Indiz für Leben. Obwohl vorhanden zu sein können: Methan und Sauerstoff scheint
Sauerstoff und Methan Gase sind, die chemisch miteinander eine solche zu sein.
reagieren und dabei Wasser und Kohlenstoffdioxid bilden, Derartige Modellrechnungen sind wegen der vielen freien
existieren sie gleichzeitig in unserer Atmosphäre. Würde Parameter jedoch sehr zeitaufwändig. Dabei variieren die
Sauerstoff nicht permanent nachproduziert werden, so wür- Forscher verschiedene Zusammensetzungen der Planetenat-
de sein Gehalt in der Erdatmosphäre stetig absinken. Das ist mosphären und erstellen so ein breites Raster an möglichen
aber nicht der Fall. Es muss also einen Mechanismus geben, Bedingungen wie sie auf extrasolaren Welten exis­tieren
der diese Gase laufend nachliefert. Auf der Erde sorgt dafür könnten. Als Startbedingungen gibt man Parameter wie die
in erster Linie das Leben: Die Fotosynthese der Pflanzen er- Größe und die Masse von bekannten Planeten vor. Diese be-
zeugt Sauerstoff und hat unsere heutige Atmosphäre ge- stimmen die Schwerkraft auf der Planetenoberfläche und
schaffen, und Stoffwechselprozesse in Mikroorganismen haben somit einen wesentlichen Einfluss auf die vertikale
produzieren Methan. Letzteres wird allerdings auch in gerin- Ausdehnung der Atmosphäre. Eine ebenso wichtige An-
gerem Maß durch vulkanische Aktivitäten ausgestoßen. fangsbedingung dafür ist die Masse der Atmosphäre und da-
Wollen wir Hinweise auf Leben in anderen Welten finden, durch ebenfalls der Druck, der auf der Planetenoberfläche
werden wir insbesondere nach solchen Kombinationen an lastet. Ist ein Planet in Relation zu seiner Größe massereich –
Gasen suchen, die gleichzeitig eigentlich nicht existieren seine Dichte also hoch, so wird seine Atmosphäre tendenziell
dürften. Allerdings gibt es auch abiotische Mechanismen, die kompakter sein und eine geringe vertikale Ausdehnung auf-
eine durch Leben veränderte Atmosphäre vorgaukeln könn- weisen. Dies ist bei Gesteinsplaneten wie der Erde der Fall,
ten. Neben geologischer Aktivität spielt dabei die energierei- deren Atmosphäre gerade einmal 100 Kilometer in die Höhe
che ultraviolette Strahlung der Sterne eine Rolle: Sie kann reicht. Das entspricht nur 1,6 Prozent des Erdradius. Deshalb
Atome aus Molekülverbindungen herausschlagen und da- ist es so schwierig, die Gashüllen von Gesteinsplaneten zu
durch die chemische Zusammensetzung der planetaren At- beobachten.
mosphären in ihrer Nähe verändern. Die UV-Strahlung kann In ihren Simulationen spielen die Forscher verschiedene
etwa eine von Wasserdampf dominierte Gashülle in Sauer- chemische Zusammensetzungen sowie Massen von Atmo-

WWW.SPEK TRUM .DE 39


sphären durch. Dabei lässt sich auch die stetige Nacherzeu- mosphärenschichten. Verschiedene Studien widmen sich
gung von Gasen durch externe Mechanismen wie Leben und derzeit unter anderem der Frage, wie genau sich die Konzen-
Vulkanismus berücksichtigen. Und zu guter Letzt fließt noch tration der verschiedenen Gase in einer Exoplanetenatmo-
der Sterntyp, Abstand vom Stern und die Rota­tion des Plane- sphäre mit künftigen Teleskopen wird messen lassen. Denn
ten ein. Denn zum einen bestimmen Energieverteilung und je mehr von einem Gas vorhanden ist, desto mehr Sternen-
Intensität der Einstrahlung auf den Planeten dessen Tempe- licht wird sie während eines Transits bei den für das Gas cha-
ratur. Zum anderen kann etwa ein entsprechender Anteil an rakteristischen Wellenlängen schlucken. Das hypothetische
UV-Strahlung die Bildung von Ozon vorantreiben. außerirdische Astronomenteam könnte etwa anhand der
Als Resultat erhält man den Aufbau der Atmosphäre in Messung der Sauerstofflinientiefen erkennen, dass unsere
Form von Temperatur, Druck und der atomaren und mole- Atmosphäre recht sauerstoffreich ist.
kularen Zusammensetzung in Abhängigkeit der Höhe über
der Planetenoberfläche. Die Zusammensetzung der unter- Supererde unter günstigen Bedingungen
schiedlichen Atmosphärenschichten kann stark variieren: In Bezüglich lebensfreundlicher Welten war die Entdeckung des
der Erdatmosphäre etwa kommt Ozon in Bodennähe kaum Planetensystems bei dem M-Zwergstern Gliese 581 im Jahr
vor, während es sich in einer Höhe von 30 Kilometern kon- 2007 eine Sensation, handelt es sich doch um die erste be-
zentriert. Wasserdampf hingegen tritt hauptsächlich in Luft- kannte Supererde in einer habitablen Zone. In den darauf fol-
schichten unterhalb von 15 Kilometern auf. genden Jahren sorgte vor allem das Kepler-Weltraumte­
Allerdings erlaubt uns die Transmissionsspektroskopie leskop für bahnbrechende Entdeckungen von potenziell le-
nicht, die einzelnen Luftschichten getrennt voneinander zu bensfreundlichen Exoplaneten – heute kennen wir 33 solcher
beobachten, sondern man misst dabei die Summe aller At- Exemplare.

Die »Erde« aus der Ferne

FLORIAN RODLER
1 O3 Das (simulierte) Trans­
missionsspektrum der
0,8 CH4 Erdatmosphäre zeigt im
H2O
Transmission

H2O H2O nahen Infraroten für die


O2 CH4 Treibhausgase Wasser
0,6 CO2 O3
(H2 O), Kohlen­dioxid (CO2 ),
CO2 CO2
Methan (CH4 ) sowie Ozon
H2O
0,4 (O3) charakteristische
Einbrüche.
CO2
0,2
1 2 3 4 5
Wellenlänge in Mikrometern
FLORIAN RODLER

1,0 H2O
H2O H2O
O3

0,9
CO2

Mit 150 Stunden Beobach­


Transmission

0,8
tungszeit des James Webb
Space Telescope ließe sich
0,7 ein Transmissionsspek­
trum einer Supererde um
einen benachbarten
0,6 simulierte Beobachtung
mit dem JWST M-Zwergstern aufnehmen.
Atmosphärenmodell Wir würden in erster Linie
0,5 aufsummierte Daten Wasser, Kohlenstoffdioxid
und Ozon finden.
1 2 3
Wellenlänge in Mikrometern

40  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Die meisten Planeten, die mit dem Kepler-Satelliten ent- MEHR WISSEN BEI
deckt wurden, umkreisen allerdings weit entfernte Sterne,
die einfach zu dunkel für genauere Beobachtungen der Pla- Unser 
netenatmosphären sind. Doch bereits 2017 wird die NASA Online-Dossier 
mit der TESS-Mission die Nachfolge von Kepler ins Weltall zum Thema 
schicken. Dieser Satellit wird den gesamten Himmel syste- »Exoplaneten« 
matisch nach potenziell lebensfreundlichen Transitplaneten finden Sie unter
um hellere M-Zwergsterne durchforsten.
2024 soll schließlich die europäische PLATO-Mission star- www.spektrum.de/
ten, welche auch erdähnliche Transitplaneten um sonnen- t/exoplaneten
ESA, NASA UND ESO / LUÍS CALÇADA
ähnliche Sterne entdecken wird. Und vielleicht birgt einer
dieser Planeten Leben auf seiner Oberfläche, das Gase er-
zeugt und seine Atmosphäre aus dem chemischen Gleichge- bulenzen der Erdatmosphäre weit gehend kompensieren
wicht gebracht hat. können und gestochen scharfe Bilder liefern. Aktuellen
Doch was machen wir mit all diesen Planeten, wenn wir Schätzungen zufolge sollte sich mit dem E-ELT ein Planet mit
nicht die geeigneten Teleskope haben, um deren Atmosphä- dem anderthalbfachen Durchmesser der Erde sogar auf ei-
ren zu charakterisieren? Die gute Nachricht ist: Solche In­ ner venusähnlichen Bahn um unseren 4,3 Lichtjahre ent-
strumente werden gerade gebaut, und sie dürften in den fernten Nachbarstern Alpha Centauri A abbilden lassen. Und
nächsten Jahren die bisherigen Beobachtungstechniken in mit einer Beobachtungszeit von rund 30 Stunden könnte
der Astronomie revolutionieren. man Gase wie Kohlenstoffdioxid und Ozon in der Tagseite
Das James Webb Space Telescope etwa, dessen Start für seiner Atmosphäre nachweisen.
Herbst 2018 vorgesehen ist, wird voraussichtlich einige der Für diese Methode dürfen die Planeten allerdings nicht
mit TESS entdeckten Gesteinsplaneten genauer untersuchen allzu nah bei ihrem Stern stehen und die Objekte nicht wei-
können. Doch selbst für diesen Weltraumgiganten wird der ter als zwölf Lichtjahre von uns entfernt sein. Denn sonst
Beobachtungsaufwand für derartige Transmissionsspektren reicht die Auflösung auch beim E-ELT noch nicht zum direk-
enorm sein. Machbarkeitsstudien gehen für einen Planeten ten Abbilden aus. Man wird also nach potenziell lebens-
mit einem anderthalbfachen Durchmesser der Erde und ei- freundlichen Gesteinsplaneten bei sonnenähnlichen Sterne
ner erdähnlichen Atmosphäre von über 150 Stunden reiner suchen, die wie die Erde ihre Sterne auf relativ weiten Bah-
Beobachtungszeit aus, um dort Treibhausgase wie Kohlen- nen umkreisen. Vielleicht entdecken wir schon bei unseren
stoffdioxid und Wasserdampf in den hiesigen Konzentratio- Nachbarsonnen ein Pendant zu unserer Erde?
nen nachweisen zu können. So werden uns diese Teleskope der nächsten Generation
erstmals in die Lage versetzen, auf fernen Welten nach Hin-
Eine neue Teleskopgeneration am Boden weisen auf Leben zu suchen. Doch bereits jetzt laufen schon
Auch am Boden entstehen derzeit neuartige Großobservato- die Planungen für die Nachfolgeteleskope des JWST und den
rien: zwei davon in der Wüste Atacama in Chile, ein weiteres irdischen Riesenteleskopen, um in 20 Jahren eine noch größe-
ist für Hawaii geplant. Das größte Teleskop wird das E-ELT re Anzahl an erdähnlichen Planeten direkt abbilden zu kön-
(European Extremely Large Telescope) der ESO in Chile mit nen und sogar nach Anzeichen für eine Vegetation auf ihnen
einem Spiegeldurchmesser von rund 40 Metern sein, bei ei- zu suchen. Kurzum – es ist nur eine Frage der Zeit, dass wir be-
nem Budget von knapp einer Milliarde Euro. In etwa einer lebte Welten jenseits des Sonnensystems finden werden. Ÿ
Dekade wird es das atmosphärische Transmissionsspektrum
eines erdähnlichen Gesteinsplaneten in der habitablen Zone
DER AUTOR
eines relativ sonnennahen M-Zwergsterns messen und mit
nur 30 Stunden Beobachtungszeit Sauerstoff darin nachwei- Florian Rodler promovierte 2008 an der Univer-
sen können. sität Wien. Er forscht derzeit am Max-Planck-
Institut für Astronomie in Heidelberg sowie am
Der Nachteil der Transmissionsspektroskopie ist aller- Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics
dings, dass sie auf die spezielle Orientierung eines Systems bei Boston, USA, und widmet sich der Beobach-
relativ zum Beobachter angewiesen ist. Statistisch betrachtet tung von Exoplanetenatmosphären.
zieht weniger als ein Prozent aller extrasolaren Planeten von
uns aus gesehen vor seinem Mutterstern vorüber. Wie lassen LITERATURTIPP
sich also andere ferne Welten studieren, deren Atmosphären
nicht während eines Transits durchleuchtet werden? Kaltenegger, L.: Faszinierende neue Welten. In: Spektrum der
Wissenschaft, 7/2013, S. 58 – 66
Mit dem E-ELT wird es außerdem möglich sein, nach erd- Hier erfahren Sie mehr über die spannende Suche nach einer zweiten
ähnlichen Planeten um sonnenähnliche Sterne in unserer Erde.
nächsten Nachbarschaft zu suchen und diese direkt abzubil-
den. Dank der so genannten adaptiven Optik wird es die Tur- Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408640

WWW.SPEK TRUM .DE 41


EXOPLANETEN D I E W E LT E N , D I E
WIR HEUTE KENNEN
DIE NÄCHSTEN 20 JAHRE Viele der bisher entdeckten Exoplaneten unterscheiden
sich maßgeblich von jenen in unserem Sonnensys-
tem. Sie reichen von aufgeblasenen heißen Gasriesen,
die sehr eng um ihren Stern kreisen, bis zu eisigen
Forscher haben mittlerweile mehr als 2100 Welten Welten auf weiten Orbits. Eine Hand voll von ihnen ERDÄHNLICHE PLANET
außerhalb des Sonnensystems gefunden. befindet sich in der lebensfreundlichen Zone ihres UND SUPERERDEN
Zentralgestirns; dort herrschen solche Bedingungen,
Nun hoffen sie darauf, diese auch zu verstehen. unter denen Leben, wie wir es kennen, möglich ist.

Erde
VON ALEXAN DRA WITZE
D E S I G N : J A S I E K K R Z Y S Z T O F I A K / N AT U R E

Vor 20 Jahren verkündeten Astronomen die


Entdeckung von 51 Pegasi b, dem ersten
bestätigten Exoplaneten bei einem son-
nenähnlichen Stern. Der heiße Gasriese
umrundet seinen Mutterstern kaum au-
ßerhalb seiner Glut und hat den Astro-
nomen die Augen für die Vielfalt an
fremden Welten geöffnet, die in
unserer Galaxis existieren.
Derzeit zählen wir 2111 bekannte
0,03 0,04 0,05 0,06 0,07 0,08 0,09 0.1
extrasolare Planeten, zudem gibt es
4700 weitere Kandidaten, die noch
nicht bestätigt sind. Am 29. Novem-
ber 2015 trafen sich Astronomen auf
D I E N ÄC H STE G R E N Z E

JASIEK KRZYSZTOFIAK / NATURE; WITZE, A.: EXOPLANETS, THE NEXT 20 YEARS. IN: NATURE 527,
S. 288-289, 2015; KEPLER, TESS, JWST NACH: NASA; DIAGRAMM EXOPLANETEN, NACH: EXOPLANET.EU
Hawaii, um über diese extremen Nun wollen die Astronomen herausfinden, was sie mit all diesen
Entdeckungen anfangen. Das Forschungsziel für die nächsten zwei
Sonnensysteme zu diskutieren Dekaden ist es, Daten über die Eigenschaften dieser Planeten zu
und die Forschung für die nächs- sammeln, angefangen bei den Wolken in der Atmosphäre bis hin
ten 20 Jahre auf diesem Gebiet zu den Bedingungen auf ihrer Oberfläche.
zu planen. Was kommt als Nächstes?
Weltraumteleskop
Kepler GEMINI PLANET IMAGER
Bisherige Suche: Mit diesem Projekt lässt sich die von
heißen Gasplaneten abgestrahlte
Die meisten extrasolaren Planeten hat bisher das Weltraumteleskop Kepler der Energie direkt ermitteln und daraus
NASA entdeckt. Vier Jahre lang suchte es einen kleinen Himmelsausschnitt nach Temperatur, Masse und atmo-
Sternen ab, die vorübergehend leuchtschwächer werden, während ein Planet an sphärische Zusammensetzung
ihnen vorüberzieht. Die Hauptmission von Kepler endete 2013, seitdem jagt das des Exoplaneten ableiten.
Teleskop aber weiter mit der Kampagne K2 nach fernen Welten.
NEXT-GENERATION
TRANSIT SURVEY
In dieser Kampagne wird aktuell
die südliche Hemisphäre nach Exo-
planeten abgesucht.
Pfad des Planeten
TRANSITING EXOPLANET SURVEY
SATELLITE (TESS)
Helligkeit des Sterns Das Teleskop soll 2017 ins All ge-
Transiting Exoplanet
Einbruch der schickt werden und nach Ge-
Survey Satellite (TESS)
gemessenen Helligkeit steinsplaneten bei nahen hellen
Sternen suchen. Mit bodenge-
bundenen Observatorien wollen
Das Gesichtsfeld des Keplerobservatoriums deckt nur etwa 1/4000 des Nachthimmels ab. Astronomen diese dann ge-
nauer beobachten.

Sagittarius- JAMES WEBB


Milchstraße Arm SPACE TELESCOPE (JWST)
Ab voraussichtlich 2018 im Orbit
wird das JWST in der Lage sein,
die Zusammensetzung von exo-
Perseus- planetaren Atmosphären im
Arm Infraroten zu analysieren.
Suchgebiet
von Kepler PLATO James Webb
Ab 2024 soll dieses Weltraumtele- Space Telescope (JWST)
Orion-Spur skop erdähnliche Welten in der
Sonnen-
system lebensfreundlichen Zone bei bis zu
einer Million Sterne aufspüren.

42  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


100000

Orbitperiode (in Tagen, logarithmisch)


10000

TEN Kepler-452 b
der erdähnlichste
N »HEISSE NEPTUNE« »HEISSE JUPITER«
bekannte Exoplanet
1000

100
51 Pegasi b
der erste Exoplanet, der
bei einem sonnenähnlichen
Stern entdeckt wurde
10

HD 149026 b 1
GJ 436 b ein klassischer Exoplanet mit beson-
ein »heißer Neptun«, ders engem Orbit um seinen Stern
der entdeckt wurde und Oberflächentemperaturen von
bevor Kepler startete mehr als 2000 Grad
0,1
0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1 2
Planetenradius (in Jupiterradien, logarithmisch)

Wie viele sind es? Sind sie bewohnbar?


Unzählige Exoplaneten bleiben noch unentdeckt, aber Die interessantesten Exoplaneten sind diejenigen, die sich in der habitablen Zone
JASIEK KRZYSZTOFIAK / NATURE; WITZE, A.: EXOPLANETS, THE NEXT 20 YEARS. IN: NATURE 527, S. 288-289, 2015; SPEKTREN NACH: DEMING, D. ET AL., ASTROPHYS. J. 774, S. 95–112, 2013, FIG. 14;
DIAGRAMM HABITABILITÄT NACH: BARNES, R. ET AL.: COMPARATIVE HABITABILITY OF TRANSITING EXOPLANETS, ASTROPHYS. J., EINGEREICHT SEPT 2015, HTTP://ARXIV.ORG/ABS/1509.08922, FIG. 5

Astronomen gelingt es immer besser, den Anteil an erd- ihres Sterns befinden. Dort kann auf ihrer Oberfläche flüssiges Wasser existieren.
ähnlichen Welten abzuschätzen, auf denen auch flüssiges Position und Ausdehnung dieser Region variieren mit der Helligkeit des Zentralge-
Wasser existieren könnte. Die meisten Sterne in der stirns. Je leuchtschwächer dieses ist, umso näher an ihm ist die habitable Zone.
Milchstraße sind so genannte M-Zwerge, die kleiner und
kühler sind als die Sonne. Nach aktuellen Schätzungen
besitzt jeder zweite dieser Zwergsterne einen erdähn-
lichen Planeten. Ein gewisser Anteil davon wiederum
Erde
könnte lebensfreundlich sein. Kepler-452 b

Wie sehen sie aus?


Neuerdings lassen sich auch exoplanetare Atmosphären Sonne Kepler-22
anhand von Transitspektren studieren, die entstehen, Kepler-452
wenn ein Planet vor seinem Stern vorüberzieht.
Kepler-22 b
Sternenlicht Mars

lebensfreundliche Zone

Gibt es dort Leben?


Vielleicht. Die Frage ist, welche der tausenden Planetenkandidaten wir genauer verfolgen
wollen. Forscher haben kürzlich einen so genannten Habitabilitätsindex festgelegt, der
diejenigen Planeten herauspickt, auf denen die Existenz von flüssigem Wasser besonders
wahrscheinlich ist. In Kombination mit anderen Parametern wie der Strahlungsleistung
Planet Atmosphäre dünne durchscheinende des Sterns auf dem Planeten lässt sich herausfinden, bei welchen Objekten es sinnvoll ist,
mit Wolken Atmosphäre Atmosphäre als Erstes nach Leben zu suchen.
1,0
Chemische Analysen des während eines Transits ab-
© Nature Publishing Group; www.nature.com

zu wenig Energie
sorbierten Sternenlichts geben Aufschluss über zu viel Energie
die Bestandteile in den Gashüllen ferner Exoplaneten. Erde
0,8 wahrscheinlich
Nature 527, S. 288 – 289, November 2015

Modellspektren mit mehr Wasserdampf passender Energie-


Habitabilitätsindex

Modellspektren mit weniger Wasserdampf betrag


0,6
Wasser
Transittiefe (invertiert)

vorhanden Mars
0,4

Venus
0,2

0,0
0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 0 1 2 3 4 5
Wellenlänge in Mikrometern Sternenlicht auf der Planetenoberfläche (skaliert auf die Erde)
WWW.SPEK TRUM .DE 43
SCHLICHTING!

Himmlische Sphären »Und sie reicht ihm willig Krug und Ähre,
und er bläst den Schaum,
und sieh da, die wunderschöne Sphäre
Drückt ein Luftstrom gegen einen aufgespannten Flüssigkeitsfilm und
wölbt sich in den Raum,
wölbt ihn genügend stark ein, schnüren sich kugelförmige Teile ab –
wölbt sich auf, als obs ein Weltball wäre,
Seifenblasen!
nicht nur Schaum und Traum.«

VON H. JOACHIM SCHLICHTING Christian Morgenstern (1871 – 1914)

S eifenblasen faszinieren und sind


schon bei Kindern beliebt. Denn es
ist nicht schwer, die Gebilde herzu­
dann beim Anheben als eine dünne
Lage quer durch das Ringinnere. Dabei
muss das Wasser zwei Grenzflächen zur
Verformung durch äußere Einwirkun­
gen, um ihre Oberflächenenergie klein
zu halten. Diese Widerstandskraft kann
stellen – einfache Exemplare glücken Luft ausbilden. Hierfür ist Energie nö­ man sogar spüren: Mit Lamelle fällt es
jedem bereits mit alltäglichen Hilfs­ tig, die beim Hochziehen mechanisch schwerer, gegen den Ring zu pusten.
mitteln. Offenbar scheint die Prozedur zugeführt wird. Beim Blasen staut sich vor dem um­
sogar so unkompliziert, dass Wissen­ Die Seifenlamelle steht ständig un­ strömten Ring ein so genannter dyna­
schaftler die Details der Entstehung oft ter einer Spannung mit der Tendenz, mischer Druck auf. Die gespannte Ober­
als selbstverständlich ansehen und dem die Oberfläche so zu verkleinern, dass fläche sorgt für einen Gegendruck, den
Vorgang in der Fachliteratur bislang er­ sie möglichst viel Energie an die Umge­ »Krümmungsdruck« (auch als Laplace­
staunlich wenig Aufmerksamkeit ge­ bung abgibt. Reines Wasser hat im Ver­ druck bezeichnet). Er ist umgekehrt pro­
schenkt haben. gleich zu anderen Flüssigkeiten eine portional zum Radius der entstehenden
Die irisierenden Kugeln gelingen der­ sehr große Oberflächenspannung. Da­ Wölbung. Es ist also einfacher, eine gro­
art mühelos, weil die Natur uns die Ar­ her sind Lamellen daraus äußerst insta­ ße als eine kleine Delle in die Lamelle zu
beit weitgehend abnimmt. Der Mensch bil und zerreißen sofort wieder, sofern pusten. Einen ähnlichen Effekt gibt es
muss nur noch den Anstoß geben. sie sich denn überhaupt vollständig beim Aufblasen eines Luftballons, wo
Seifenblasen beginnen mit einem ausbilden. Man kann sie aber langlebi­ man sich am Anfang besonders anstren­
dünnen Laugenfilm, einer so genann­ ger machen, indem man spezielle Stof­ gen muss. Sobald der Radius dann zu­
ten Seifenlamelle. Sie entsteht, wenn fe zufügt, vor allem Seife. Sie enthält nimmt, geht alles sehr viel leichter.
man zum Beispiel einen benetzbaren Tenside, deren einzelne Moleküle einen
Ring aus einer wässrigen Lösung he­ Wasser liebenden hydrophilen Kopf Materialnachschub
rauszieht. Dabei wirken verschiedene und einen Wasser abstoßenden hydro­ für eine stabile Haut
Kräfte. Die Flüssigkeit bleibt zunächst phoben Schwanz besitzen. Um beiden Beim Ballon wird die Gummihaut im­
durch Adhäsion hängen und zieht sich widersprüchlichen Vorlieben gerecht mer dünner, weil dieselbe Material­
zu werden, halten sich die Tensidmole­ menge eine wachsende Fläche begren­
küle bevorzugt an der Oberfläche auf, zen muss. Das wäre auch bei der Seifen­
Luft
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: ROLAND.CHEM AT GERMAN WIKIPEDIA

wobei sie wie gründelnde Enten den lamelle der Fall und würde das Gebilde
(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:LAMELLE.PNG) / CC BY-SA 3.0

hinteren Teil in die Luft und das Köpf­ rasch platzen lassen, stünde sie nicht
(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

chen unter Wasser halten (siehe Illust­ mit einem Vorrat an Seifenlauge in
ration links). Kontakt. Die kommerziell erhältlichen
Dieses Verhalten setzt die Oberflä­ Ringe beispielsweise haben eine Riffe­
wässrige Phase chenspannung herab. Sie ist in reinem lung, die zusammen mit der guten Be­
Wasser so hoch, weil die Anziehungs­ netzbarkeit des Plastiks viel Lösung
kraft zwischen den einzelnen Molekü­ festhält. Dieses Reservoir wird ange­
len besonders stark ist und somit ver­ zapft, sobald die Lamelle gestreckt wird.
hältnismäßig viel Energie nötig ist, um Denn dann sinkt die Konzentration der
die Oberfläche zu vergrößern. Die Köp­ Tenside an der Grenze zur Luft, wo­
Luft
fe der Tensidmoleküle binden sich hin­ durch sich die Oberflächenspannung
Die Tensidmoleküle in Seife besitzen einen gegen schwächer an die Wassermolekü­ und damit die Energie erhöhen. Um die
hydrophilen Kopf und einen hydrophoben le in der Umgebung, was die Kräfte ins­ Energie des Systems zu senken, strömt
Schwanz. Sie setzen in einem dünnen Sei- gesamt senkt. Flüssigkeit aus benachbarten dickeren
fenfilm die Oberflächenspannung so weit Die Seifenlamelle, die aus so einer Gebieten nach, die ihrerseits mit dem
herab, dass sich Blasen bilden können. ­Lösung hervorgeht, widersetzt sich der Reservoir in Kontakt stehen. Dieser Sog

44  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Beim Pusten von Seifenblasen formt sich meist zuerst ein
längerer Schlauch, der erst später in einzelne Kugeln zerfällt.

ISTOCK / JAMES BREY

steigert die Tensidkonzentration, und

H. JOACHIM SCHLICHTING
die Oberflächenspannung nimmt ab.
Auf diese Weise verschwinden dünne
Stellen wieder sehr schnell.
Eine dicke Haut ist entscheidend für
die Lebensdauer der Blase. Infolge der
Schwerkraft fließt die Flüssigkeit zur
Unterseite; außerdem verdunstet das
Wasser, bis zumeist an der Oberseite
eine kritische Wandstärke unterschrit­
ten wird – und das Kunstwerk platzt.
Viele Enthusiasten experimentieren
bei ihren Seifenmischungen daher mit
zusätzlichen Stoffen wie Stärke, Glyze­
rin und Glukose, um die Wasserschicht
zwischen den Tensidmolekülen mög­
lichst dick und haltbar zu machen.
Die Lamelle dellt sich beim Pusten
umso stärker ein, je größer die Ge­
schwindigkeit der Luft und damit der
aufgebaute dynamische Druck sind.
­Solange die Geschwindigkeit unterhalb
eines bestimmten kritischen Werts
bleibt, bildet sich die Ausbeulung stets In Riesenblasen sind die Kräfte zu gering, um gegen die wechselnden Luftströmungen
wieder zurück, wenn der Strom wieder eine stabile Kugelform zu erzeugen – gerade das macht die Gebilde besonders reizvoll.
abnimmt. Erst beim Überschreiten die­
ser Grenze gibt es für die Seifenblase
kein Zurück mehr. schlauchs voran. Er wird ab einer be­ distanten Abtrennungen sind diese
Weitere Luftzufuhr mit mindestens stimmten Länge instabil, das heißt, er gleich groß, aber in der Regel entstehen
der kritischen Geschwindigkeit treibt schnürt sich ausgelöst durch zufällige sehr verschiedene Körper. Sie alle stre­
die Kugelkalotte als vordere Abrun­ Störungen ein und zerfällt in einzelne ben augenblicklich die Kugelgestalt an,
dung eines wachsenden Seifenblasen­ Blasen (siehe Foto ganz oben). Bei äqui­ um die Oberflächenenergie zu mini­

WWW.SPEK TRUM .DE 45


SCHLICHTING!

lenoberfläche zu kompensieren. Dieser


ISTOCK / ALESSANDRO DI NOIA

Unterschied bleibt anschließend im In­


neren konserviert.
Manche Künstler nutzen das für ei­
nen eindrucksvollen Trick: Sie erzeugen
und füllen die Blase mit Rauch, legen
den frisch getränkten Ring darauf, so
dass beide Lamellen verschmelzen, und
durchstechen ihn. Es entsteht ein Loch,
das außen vom Ring begrenzt wird. Da­
durch platzt die Blase nicht, sondern
der Entstehungsprozess kehrt sich ge­
wissermaßen um. Der Überdruck geht
allmählich verloren, und die infolge des
Krümmungsdrucks schrumpfende Bla­
se pustet den Rauch aus dem Loch he­
raus (siehe Bild links).
In Superzeitlupenaufnahmen kann
man erkennen, dass sich bei der Blasen­
bildung meist ein längerer Schlauch
Manche Künstler durchstechen die Lamelle des Rings, an der eine mit Rauch gefüllte formt, der sich erst dann in einzelne
Blase hängt, so dass deren Inhalt langsam wieder herausströmt. Sphären auflöst. Dieser Prozess ist bei
Riesenseifenblasen besonders ausge­
prägt. Auf Grund der sehr großen Ra­
mieren. Ein ähnlicher Mechanismus lotte begrenzte Schlauchende in eine dien ist hier der Krümmungsdruck äu­
lässt einen aus einem Wasserhahn rin­ kugelförmige Blase mit wachsendem ßerst gering und reicht selbst gegen
nenden, sehr dünnen Wasserstrahl zu Radius über, abermals um die Oberflä­ nur kleine äußere Luftströmungen
einzelnen Tropfen werden. che zu minimieren. Es ist wieder eine nicht mehr aus, um eine stabile Kugel­
Der kleinste Radius des beim Pusten Frage des Kräftegleichgewichts: Wenn form auszubilden. Die Körper werden
entstehenden Kugelsegments wird im­ man durch sanftes Pusten einen ab­ zu wabernden Ungetümen, die beein­
mer durch den Luftstrom vorgegeben, nehmenden Druck vorgibt, können die druckend dehnbar sind und ihre Form
hier also vom Radius der Öffnung entstehenden Kugeln größer werden, schnell verändern können. Das deutet
des zugespitzten Munds. Anschaulich weil dann schon ein geringerer Krüm­ darauf hin, dass die Flüssigkeit zwi­
muss die Wölbung in einer elastischen mungsdruck ausreicht, um die Blase schen den Lamellenoberflächen sehr
Haut so groß sein wie das Werkzeug, zusammenzuhalten. schnell strömen kann und Material in
das dagegen drückt. Für besonders ge­ die dünner werdenden Flüssigkeits­
waltige Seifenblasen braucht man brei­ Behutsame Abnabelung schichten befördert, bevor die Blase
te Vorrichtungen, deren ganze Fläche Eine so geschickt begonnene Seifenbla­ platzt. Es wirkt, als hätte die Natur
von der strömenden Luft durchsetzt se wächst immer weiter, solange man höchstselbst Freude daran, die filigra­
wird. Das kann man etwa bei Straßen­ pustet. Ihr Volumen begrenzen ledig­ nen Gestalten allen widrigen Einflüs­
künstlern sehen, die durchtränkte Fa­ lich der Laugennachschub in den Rillen sen zum Trotz möglichst lange zu er­
denschlingen durch die Luft ziehen des Rings und die Luft, die unsere Lun­ halten. Ÿ
(siehe S. 45, Foto unten). ge auf einmal ausatmen kann.
Es gibt allerdings einen Trick, Exem­ Schließlich schnürt sich das Gebilde
DER AUTOR
plare mit einem größeren Radius zu er­ von selbst oder durch einen kleinen
zeugen, ohne auf unhandliche Instru­ Ruck am Blasring ab. Dabei entsteht zu­ H. Joachim Schlichting
mente zurückzugreifen. Dazu muss nächst eine Art Nabelschnur, deren war Direktor des In-
man den dynamischen Druck auf die Wände sehr schnell unter dem Einfluss stituts für Didaktik der
Physik an der Uni-
Lamelle feinfühlig auf die Deformation der Minimierung der Oberfläche kolla­ versität Münster. 2013
abstimmen. Entscheidend ist dabei – so bieren und verschmelzen. wurde er mit dem
paradox es klingt –, nach der anfängli­ Beim Erzeugen der Blase muss der Archimedes-Preis für
Physik ausgezeichnet.
chen Schlauchbildung die Strömungs­ dynamische Druck des Luftstroms im­
geschwindigkeit durch den Ring vor­ mer zumindest ein wenig größer sein
sichtig etwas zurückzunehmen. Auf als der äußere Luftdruck, um zusätz­ Dieser Artikel und Links im Internet:
diese Weise geht das durch die Kugelka­ lich den Krümmungsdruck der Lamel­ www.spektrum.de/artikel/1408647

46  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


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MENSCHENEVOLUTION

Der Siegeszug
des Homo sapiens
Zwei Eigenschaften ermöglichten es dem modernen Menschen,
die ganze E
­ rde zu besiedeln und jede Konkurrenz auszu-
stechen: seine ausgeprägte Begabung zur Kooperation und
seine technologischen Fähigkeiten.
Von Curtis W. Marean

K
eine 70 000 Jahre ist es nach derzeitiger Kenntnis logie gegeben: Dadurch konnten sie effektiver jagen als ihre
her, seit Homo sapiens von Afrika aus seinen Sie­ Zeitgenossen und wurden auch mit feindlichen Gruppen
geszug über die Welt begann. Vor ihm hatten sich leichter fertig. Wieder andere Forscher sehen die Hauptursa­
in Europa und Asien andere Menschenarten etab­ che in einem Klimawandel, der damals die Populationen der
liert. Jedoch erst unsere Spezies drang schließlich auf alle be­ Neandertaler und sonstigen archaischen Menschen außer­
wohnbaren Kontinente und diverse Inselketten vor. Diese halb Afrikas geschwächt habe.
Ausbreitung hatte außergewöhnliche Folgen: Wo immer der Doch keiner dieser Aspekte allein vermag den Erfolg des
moderne Mensch auftrat, gab es massive ökologische Ver­ Homo sapiens wirklich zu erklären. Unter anderem könnte
werfungen. Archaische Menschen, auf die er traf, starben das daran liegen, dass die jeweils herangezogenen Erkennt­
aus. Ebenso verschwanden zahlreiche Großtierarten. In der nisse großteils begrenzte geografische Regionen betreffen –
Erdgeschichte war dies die folgenschwerste Expansion einer oft lediglich Westeuropa. Obwohl sich der moderne Mensch
einzelnen Art. in mehreren Phasen verbreitete, war dies dennoch ein über­
Paläoanthropologen suchen schon lange nach einer Er­ greifender, einheitlicher Vorgang. Dem sollte eine plausible
klärung für die Überlegenheit und zügige Verbreitung des Theorie Rechnung tragen.
Homo sapiens. Manche vermuten, das große, besonders Daher schlage ich ein anderes Szenario vor. Dieses stützt
komplexe Gehirn hätte dazu geführt, dass sich unsere Vor­ sich zum einen auf archäologische Befunde von der Südküs­
fahren gern neuen Herausforderungen stellten. Andere Ex­ te Afrikas, wo ich seit 1999 am Pinnacle Point Ausgrabungen
perten glauben, den Ausschlag habe ihre überlegene Techno­ durchführe (siehe SdW 12/2010, S. 58). Zum anderen gingen
neuere Vorstellungen der Evolutionsbiologie, insbesondere
AUF EINEN BLICK der Soziobiologie und der Verhaltensökologie, sowie der So­
zialwissenschaften ein. Meiner Ansicht nach machten sich
ÜBERLEGEN DURCH KOOPERATION UND WAFFEN Vertreter unserer Spezies in neue Weltgegenden auf, als bei
ihnen ein spezielles, genetisch basiertes soziales Verhalten

1 Der Homo sapiens hat als einzige Menschenart die gesamte


Welt erobert. Die Voraussetzungen dafür erwarb er vermutlich
während einer schwierigen Klimaphase in Afrika.
entstanden war: die Bereitschaft, auch mit Individuen zu ko­
operieren, die nicht mit einem verwandt sind. Im Verein mit
bereits hoch entwickelten geistigen Fähigkeiten ermöglichte
2 Damals lernte er, in Küstenhabitaten von Meeresfrüchten
zu leben. Diese Ressource auszubeuten, förderte hohe
Sozial­kompetenz sowie aggressive Territorialität. Unter diesen
das dem Homo sapiens, sich leicht an neue Umwelten anzu­
passen. Dazu verhalfen ihm nicht zuletzt bahnbrechende In­
Bedingungen entstand zugleich eine neuartige Technologie novationen wie vor allem fortschrittliche Projektilwaffen in
für effektivere Waffen.
Form von Speerschleudern oder womöglich sogar schon

3 Beides zusammen machte den modernen Menschen so über-


legen, dass er in für ihn völlig neue Umwelten vordringen
konnte, wo er nach Meinung des Autors archaische Menschen
Pfeil und Bogen. Seinerzeit waren das revolutionäre Techno­
logien.
ausrottete und ganze Großtierbestände vernichtete. Wie sehr die Besiedlung der Erde durch den H. sapiens da­
mals aus dem Rahmen fiel, wird erst so richtig deutlich, wenn

48  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MENSCH & KULTUR

Mit den damals fortschrittlichs­


ten Waffen – und nicht zuletzt
dank seines besonderen Gemein­
schaftssinns – er­oberte der
moderne Mensch fast alle Welt­
regionen und übertrumpfte
archaische Menschenarten.

JON FOSTER

WWW.SPEK TRUM .DE 49


man sich sein Verhalten in den Zeiten davor vergegen­wärtigt. dafür zahlen, dass die neuen Herrscher das Land gemäß ih­
Denn anatomisch moderne Menschen, die uns äußerlich gli­ ren Bedürfnissen umgestalteten. Einzig die Eroberung der
chen, hatten sich in Afrika bereits vor nicht ganz 200 000 Jah­ Antarktis findet erst heute statt.
ren herausgebildet – und waren zunächst dort geblieben. Eine Theorie, die diesem Geschehen Rechnung trägt, soll­
Zwar drang eine Gruppe rund 100 000 Jahre später für kurze te erklären, wieso der Aufbruch aus Afrika gerade damals ein­
Zeit in den Nahen Osten vor, weiter aber auch nicht. Erst wie­ setzte und nicht bereits viel früher. Sie muss auch begrün­
der vor knapp 70 000 Jahren machte eine kleine Gründer­ den, weshalb sich der moderne Mensch so rasch praktisch
population einen neuen Vor­ überall hin verbreitete. Wo­
stoß – und besiedelte in rela­ durch konnte er sich an ver­
tiv kurzer Zeit weite Teile Die Kehrseite der herausragenden schiedenste Umwelten an­
Eurasiens (siehe »Spuren der Kooperationsfähigkeit: Uner­ passen und in Regionen
Vernichtung«, S. 52/53). Die­ vordringen, die noch kein
bittlichkeit gegen Konkurrenten
se Menschen müssen Nean­ menschliches Wesen betre­
dertalern und auch Deniso­ ten hatte? Was zeichnete ihn
vanern begegnet sein – jener erst kürzlich entdeckten, mit aus, dass ihm sogar Meere nicht Einhalt geboten? Und war­
den ­Neandertalern nah verwandten Menschenart, von der um verschwanden bald alle anderen Menschenformen?
im Altai­gebirge Fossilien gefunden wurden (siehe SdW Wesentlich für seine überragende Dominanz war meines
12/2014, S. 68). Beide archaischen Arten starben bald darauf Erachtens die schon eingangs erwähnte herausragende Ko­
aus, hinterließen in unserem Genom allerdings Spuren. operationsfähigkeit mitsamt ihrer Kehrseite, gegen Konkur­
Als erste menschliche Spezies überhaupt kam der Homo renten unerbittlich vorzugehen. Solch ein unbedingtes Vor­
sapiens vor mindestens 45 000 Jahren über Südostasien bis anstreben besaßen die archaischen Menschenarten nach
nach Australien, das er rasch eroberte. Das Meer können die­ meiner Einschätzung nicht. Ich halte diese Eigenschaft für
se Menschen nur mit seetüchtigen Booten überquert haben, ein letztlich entscheidendes Attribut, das den Homo sapiens
vermutlich getrieben von dem auch uns eigenen Drang, auszeichnet und seine Vorrangstellung begründete.
neue Welten zu erkunden. Tasmanien erreichten jene Pionie­
re vor etwa 40 000 Jahren über eine Landbrücke. Viele der gro­ Unvorstellbar:
ßen australischen Beuteltiere verschwanden damals binnen Schimpansen als disziplinierte Flugpassagiere
kurzer Zeit. Wir heutigen Menschen leisten hinsichtlich Kooperation
Eine andere Population fand vom Südwesten aus den Außergewöhnliches. Gemeinsam mit nicht näher verwand­
Weg nach Nordosten bis nach Sibirien. Die Eroberung Ame­ ten Personen, ja selbst mit völlig Fremden gelingen uns hoch-
rikas verwehrten zunächst Eisbarrieren. Noch ist strittig, komplexe koordinierte Handlungen. Die Anthropologin Sa­
wie früh den ersten Gruppen die Passage in die Neue Welt rah Blaffer Hrdy von der University of California in Davis
­gelang, doch sicherlich hatten sie Nordamerika vor rund entwarf dazu folgendes Bild: 100 Schimpansen warten ruhig
14 000 Jahren erreicht. Nur wenige Jahrtausende später war in einer Schlange, bevor sie geordnet in ein Flugzeug einstei­
auch Südamerika bis zur Südspitze besiedelt – um den Preis gen, sitzen dann stundenlang still und gehen schließlich
des massenhaften Aussterbens von eiszeitlichen Großtieren ebenso diszipliniert wieder hinaus. Für die Menschenaffen
wie dem Amerikanischen Mastodon und den Riesenfaultie­ wäre das völlig undenkbar, denn sie würden sich die ganze
ren, denn menschliche Jäger war die amerikanische Tierwelt Zeit bekämpfen.
nicht gewohnt. Dass wir im Stande sind, fremden Menschen in Not selbst
Madagaskar und viele pazifische Inseln blieben noch unter eigener Gefährdung tatkräftig beizustehen, nenne ich
10 000 Jahre länger von einer Invasion verschont – bis Seefah­ Hyperprosozialität. Leider bedeutet das auch: Wir verbün­
rer sie schließlich doch entdeckten und sich dort ansiedel­ den uns zum erbarmungslosen Krieg gegen andere Gruppen.
ten. Und wieder musste die Tier- und Pflanzenwelt den Preis Wie viele meiner Kollegen vermute ich, dass uns eine starke
Neigung zum koordinierten gemeinsamen Handeln angebo­
MEHR WISSEN BEI ren ist. Dabei ist das beim Menschen etwas grundsätzlich an­
deres, als wenn Tiere leichte Ansätze zu kooperativem Ver­
Unser  halten erkennen lassen.
Online-Dossier Aber wie konnten sich solche Verhaltensmuster in unse­
zum Thema  rer Evolution überhaupt herausbilden? Wertvolle Hinweise
»Evolution«  auf den möglichen Ablauf liefern mathematische Modelle
finden Sie unter zur sozialen Evolution, die ebenfalls von einer genetischen

FOTOLIA / HL PHOTO

Veranlagung ausgehen. Der Ökonom Samuel Bowles vom


www.spektrum.de/ Santa Fe Institute in New Mexico zeigte, dass sich Gene für
t/evolution hyperprosoziales Verhalten im Zusammenhang mit Grup­
penkonflikten besonders gut ausbreiten. Und zwar hängt bei

50  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Zu den wichtigsten Vorreitern von soziobiologischen und
Wann lohnt Gebietsverteidigung? verhaltensökologischen Evolutionsmodellen zählt Jerram L.
Brown, jetzt an der University of Albany (State University of
Eine klassische soziobiologische Theorie besagt: Die natür­ New York). In den 1960er Jahren hatte er für die unterschied­
liche Selektion begünstigt die Verteidigung von Nahrungs- liche territoriale Aggressivität von Vögeln die klassische The­
ressourcen und somit Territorialität, wenn der exklusive Zu- orie einer ökonomisch bedingten Verteidigungswürdigkeit
gang mehr einbringt, als der Einsatz dafür kostet. Das trifft (economic defendability) von Ressourcen aufgestellt. Brown
für kleine Menschengruppen bei konzentrierten, vorhersag- ging davon aus, dass sich Individuen naturgemäß für Ziele
bar verfügbaren Ressourcen zu. Bestimmte Küstenabschnit- einsetzen, die ihnen helfen, Überleben und Fortpflanzung
te Afrikas, an denen Muschelbänke wachsen, erfüllen diese zu maximieren. Im Zuge der natürlichen Selektion lohnt
Voraussetzungen. Unter Gruppen des frühen modernen sich demnach Kämpfen, sofern es solchen Zielen dient. Weil
Menschen entstand dort wahrscheinlich das für uns typi- ­Nahrung zu den wichtigsten Überlebensfaktoren gehört,
sche Territorialverhalten. sollte die Veranlagung zum Kampf um Futter, falls das unter
gegebenen Umständen sinnvoll ist, folglich einer positiven
hoch

JEN CHRISTIANSEN, NACH: DYSON-HUDSON, R., SMITH, E.A.: HUMAN TERRITORIALITY: AN ECOLOGICAL
REASSESSMENT. IN: AMERICAN ANTHROPOLOGIST 80, S. 21-41, 1978 UND CURTIS W. MAREAN
geringe Territorialität hohe Territorialität Selektion unterliegen – also bei Vögeln etwa die Neigung, ein
Revier zu etablieren. Manchmal würden sich Auseinander­
Resourcen setzungen um Futter jedoch nicht auszahlen, nämlich dann,
Umweltbedin- an der Küste
gungen im wenn es entweder unsinnig oder zu kostspielig wäre, Nah­
Landesinnern
Afrikas rungsquellen für sich allein zu beanspruchen.
Ressourcendichte

Eine Nahrungsressource, die Aggressivität förderte


Diese Theorie übertrugen Rada Dyson-Hudson und Eric Al­
den Smith, beide damals an der Cornell University in Ithaca
(New York), 1978 in einer ebenfalls klassischen Arbeit auf
kleine menschliche Gemeinschaften. Heraus kam dabei: Res­
sourcen zu verteidigen ist dann sinnvoll, wenn diese erstens
dicht konzentriert sind und zweitens zuverlässig vorhersag­
bar zur Verfügung stehen. Meines Erachtens muss so ein Gut
gering

keine Territorialität keine Territorialität außerdem lebensnotwendig sein, weil sich andernfalls wohl
unzuverlässig zuverlässig kaum jemand entschieden dafür einsetzen würde. Der Zu­
Ressourcenverfügbarkeit sammenhang gilt noch heute. Ethnien und Staaten kämpfen
um konzentrierte, gut kalkulierbare, wertvolle Ressourcen
wie Erdöl, Wasser und fruchtbares Ackerland.
dieser Betrachtungsweise die Effektivität der Kooperation Folgt man diesen Überlegungen, so traf der Homo sapiens
vom Anteil der Gruppenmitglieder ab, die angeborenerma­ zunächst längst nicht überall in Afrika Umweltbedingungen
ßen prosozial eingestellt sind: Weil bei Konflikten mit frem­ an, die ernstliche Konflikte zwischen Gruppen geschürt und
den Gruppen kooperatives Verhalten in der Gemeinschaft damit eine ausgeprägte interne Kooperation gefördert hät­
Vorteile bringt, wird ihre Population in der nächsten Genera­ ten. Vielmehr fand er seine Nahrung in den meisten Gegen­
tion verhältnismäßig mehr Individuen mit Genen für das den eher locker verstreut vor, zudem war sie oft knapp und
entsprechende Verhalten aufweisen. Wie Peter Richerson vielfach nur sporadisch, unregelmäßig und wenig vorher­
von der University of California in Davis und Robert Boyd sehbar vorhanden. Auch heute verwenden die meisten da­
von der Arizona State University zeigten, setzt sich Prosozia­ raufhin untersuchten afrikanischen Jäger-und-Sammler-­
lität am besten in kleinen Populationen durch, nämlich Gemeinschaften wenig Zeit und Energie auf eine Grenzver­
dann, wenn sie ihren Anfang in einer Teilpopulation mit tei­digung ihres Gebiets. Das gilt jedoch nicht für einige
starken Gruppenkonflikten nimmt. Tatsächlich stammen Küstenabschnitte, wo Muschelbänke stets reichlich hochwer­
alle heutigen Menschen von einer vergleichsweise kleinen tige Nahrung bieten. Nach ethnografischen und archäologi­
afrikanischen Homo-sapiens-Population ab. schen Erhebungen führten auch in anderen Weltgegenden
Moderne Jäger und Sammler bilden gewöhnlich Verbän­- solche Jäger und Sammler, die von derartigen Ressourcen
de von ungefähr zwei Dutzend Individuen. Heiratspartner lebten, im Vergleich zu anderen Gruppen mehr Kriege, etwa
wählt man bei anderen Gruppen, die aber zum selben an der nordamerikanischen Pazifikküste.
»Stamm« zählen. Den Stammeszusammenhalt fördern die Über Millionen Jahre hatten sich unsere Vorfahren vor­
gemeinsame Sprache, gleiche Traditionen sowie Geschenke. wiegend von Landpflanzen und -tieren sowie gelegentlich
Verschiedene Stämme bekriegen sich mitunter trotz der da­ von Süßwasserorganismen ernährt. Ihre Kost war nämlich
mit verbundenen oft erheblichen Gefahren für Leib und Le­ eher wenig konzentriert und vieles längst nicht immer zu­
ben. Wieso lassen sich Menschen auf solche Gemetzel ein? verlässig verfügbar. Diese Urahnen bildeten denn auch weit

WWW.SPEK TRUM .DE 51


verstreute Gruppen, die zur Nahrungssuche ständig umher­ Archäologischen und genetischen Befunden zufolge
zogen. Doch als sich ein immer komplexerer Verstand entwi­ scheint die Population des Homo sapiens allerdings schon
ckelte, muss eine Population irgendwann herausgefunden bald nach seinem Auftreten eingebrochen zu sein. Dies ging
haben, wie man an der Küste Meeresfrüchte erntet und ver­ wohl auf die weltweite Klimaabkühlung zurück, die vor
zehrt. Ganz im Süden Afrikas setzte diese Ernährungsweise 195 000 Jahren einsetze und bis vor 125 000 Jahren anhielt.
nach unseren Befunden vor etwa 160 000 Jahren ein. Wohl Im Inneren Afrikas wurde die Ernährungslage während der
erstmals in der Menschheitsgeschichte machten sich Vertre­ kalten Abschnitte für die Menschen schwierig, aber manche
ter unserer Spezies nun jene stets reichlich vorhandene, Küstengebiete boten Refugien – auf den Muschelbänken
hochwertige Nahrungsquelle zu eigen – und setzten damit fand sich genug zu essen. Nach einer neueren Studie, die Jan
einen großen sozialen Umschwung in Gang. De Vynck von der Nelson Mandela Metropolitan University

vor zirka
35 000 Jahren
Spuren der Vernichtung Besiedelung
arktischer
Regionen
vor zirka
Nachdem die Gattung Homo in Afrika ihren An- 45 000 Jahren
fang genommen hatte (lila), begann sie sich vor Ankunft
in Westeuropa
zwei Millionen Jahren auch nach Eurasien zu ver- Danach sterben
breiten und dort in viele Regionen vorzudringen. Neandertaler aus.
Schließlich entstanden der Homo erectus, der Ne-
andertaler und der Denisovaner (Grüntöne).
In Afrika trat vor zirka 200 000 Jahren der anato-
misch moderne Homo sapiens auf. Einige Vertreter vor zirka
55 000 Jahren
fanden an der Südküste Afrikas mit deren reichen
Ankunft
Muschelbänken passable Lebensbedingungen vor, in Südostasien
als das Innere des Kontinents vor zirka 160 000 Jah- Danach sterben
Denisovaner aus.
ren für Menschen unwirtlich wurde. Nach Ansicht vor ð 70 000 –
des Autors bildete sich in der neuen Umwelt eine 55 000 Jahren
Anatomisch mo-
Veranlagung heraus, sogar mit nicht verwandten derne Menschen
Individuen zu kooperieren, denn so ließ sich die verlassen Afrika.
neue Nahrungsressource am besten kontrollieren.
Die enge Zusammenarbeit machte diese Men-
schen besonders erfinderisch. Ein technologischer
Meilenstein war erreicht, als sie Projektilwaffen
vor zirka
herzustellen verstanden: vielleicht Speerschleu- 71 000 Jahren
dern oder sogar schon Pfeil und Bogen. erste Projektil-
Dieser Homo sapiens war gerüstet, die ganze waffen
Kooperation
Welt zu erobern (rote Pfeile). Er konnte sogar in Ge- in und zwi­
genden vordringen, die andere Menschen noch nie schen (!) Grup-
pen eines vor zirka
betreten hatten. Besonders dort wälzte sein Er- Selektion Stamms 45 000 Jahren
auf hyper-
TERRA CARTA

scheinen Ökosysteme um: durch Ausrottung Ankunft


prosoziales in Australien
vieler Arten der Megafauna, also der gro- Verhalten
stärkere danach Aussterben
ßen Tiere. Territorialität, der Megafauna
stärkere Kon-
vor zirka flikte
160 000 – 120 000
Jahren
H. sapiens lernt, die
reichen Nahrungs­
vor zirka ressourcen an Küs-
200 000 – 160 000 ten zu nutzen.
Jahren in Afrika
Ursprung des
Homo sapiens und
seiner komplexen
kognitiven Fä­
higkeiten

52  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


in Port Elizabeth (Südafrika) leitete, kann ein Mensch dort in reitschaft, bei Auseinandersetzungen auch mit nicht ver­
nur einer Stunde Nahrung mit einem Energiegehalt von bis wandten Gruppenmitgliedern zu kooperieren. Vermutlich
zu 4500 Kilokalorien gewinnen. setzte sich das bald in der gesamten Population durch. Damit
Diese Ressourcen erfüllten somit alle Voraussetzungen wäre eine der beiden von mir postulierten Voraussetzungen
für die Etablierung von Territorialität. Ich vermute, dass die gegeben gewesen, die den Homo sapiens dafür prädestinier­
Menschengruppen damals heftig und wiederholt um den ten, die Welt zu erobern.
exklusiven Zugang zu besonders günstigen Muschelbänken Ich bin jedoch überzeugt, dass erst eine neue Technologie
stritten. Der fortwährende gemeinsame Kampf gegen frem­ ihn unaufhaltbar und unbezwingbar machte. Speziell meine
de Gruppen müsste nach innen eine Selektion auf prosozia­ ich damit Projektilwaffen wie die ersten Speerschleudern.
les Verhalten vorangetrieben haben – zunächst also die Be­ Gravierende Neuerungen vollzogen sich schrittweise über
lange Zeiträume. Wie bei so vielen anderen Technologien ka­
men sicherlich auch in diesem Fall Erfahrung und Begreifen
zusammen und führten zu immer komplexeren und wirk­
vor zirka
14 000 Jahren sameren Konstruktionen.
Ankunft in Wahrscheinlich verwendeten die Menschen zuerst ein­
Nordamerika
fach spitze Stöcke als Lanzen, die sie mit der Zeit verbesser­
danach Aussterben
der Megafauna ten. Darauf aufbauend entwickelten sie immer perfektere
leichte Wurfspeere – zunächst noch mit hölzerner, aber ir­
gendwann mit aufgesetzter Steinspitze, was deren Durch­
schlagskraft beträchtlich erhöhte. Dann erfanden Menschen
die Speerschleuder, wobei der Speer mit Hilfe einer Füh­
rungsschiene geworfen wurde und doppelt so weit flog wie
zuvor. Und schließlich ersannen sie Pfeil und Bogen.

vor zirka Speere mit Steinspitze sind


13 500 Jahren
Ankunft
keine Erfindung des modernen Menschen
in Südamerika Ein mit einem angespitzten Holzspieß verwundetes Tier ver­
danach Aussterben blutet eher langsam. Eine messerscharfe Steinspitze auf dem
der Megafauna
Speer reißt eine schwerere Wunde. Dessen Anfertigung erfor­
dert aber bereits eine Menge Knowhow. Die Steinspitze muss
ja nicht nur so geformt sein, dass sie leicht tief in das Tier ein­
dringt. Sie muss sich auch fest am Schaft anbringen lassen,
und dazu brauchte man Klebstoff oder Fasern zum Umwi­
ckeln, am besten beides.
Nach Befunden von Jayne Wilkins von der University of
Cape Town und ihren Kollegen sind solche zusammengesetz­
ten Speere wesentlich älter als gedacht. Die Forscher zeigten,
dass kleine, scharfe, 500 000 Jahre alte Steinspitzen von der
südafrikanischen Fundstelle Kathu Pan 1 wohl zu Speeren
gehörten. Das Alter dieser Spitzen könnte besagen, dass sich
bereits gemeinsame Vorfahren von Homo sapiens und Ne­
andertaler darauf verstanden, Wurfspeere mit Steinspitze
Ursprung der Gattung Homo
anzufertigen. Beide Arten hinterließen vor 200 000 Jahren
frühe archaische Menschen
Hinweise auf solche Geräte. Und die hölzernen Speere von
wie H. erectus
Schöningen am Harz, die vermutlich vor 300 000 Jahren ent­
späte archaische Menschen, da-
runter Neandertaler und Denisovaner standen, bedeuten, dass Menschen früh wussten, wie man
periphere archaische Menschen leichte Jagdwaffen mit hervorragenden ballistischen Eigen­
Homo sapiens schaften fertigt. Möglicherweise waren die Neandertaler in
dieser Hinsicht ähnlich gut gerüstet wie die frühen moder­
Expansion des Homo sapiens nen Menschen.
Andere Menschen waren vorher da; Doch für eine echte Fernwaffentechnologie sprechen
diese sterben aus. nach Meinung der Experten erst so genannte Mikrolithe: we­
TERRA CARTA

Vorher waren keine anderen Menschen da; nige Zentimeter lange Steinspitzen und -klingen – zu klein,
Großtiere sterben aus. um sie für sich allein zu handhaben, aber vermutlich für zu­
sammengesetzte, hocheffiziente Geschosse und Gerätschaf­

WWW.SPEK TRUM .DE 53


ten bestens geeignet. Die frühesten bislang bekannten Bei­

SIMEN OESTMO, ARIZONA STATE UNIVERSITY


spiele einer Mikrolithentechnologie stammen von Pinnacle
Point. Unter einem als PP5-6 verzeichneten Felsdach ent­
deckte mein Team Mikrolithe zusammen mit anderen Spu­
ren einer langen Anwesenheit von Menschen. Die Zeitspan­
ne der Besiedlung datierte die Geochronologin Zenobia Ja­
cobs von der University of Wollongong (Australien) mittels
optisch stimulierter Lumineszenz auf 90 000 bis 50 000 Jahre
vor heute. Die ältesten Mikrolithe von dort sind etwa 71 000
Jahre alt.

Leichte Waffen für neue Jagdmethoden


Zu ihrer Erfindung könnte wiederum ein Klimawandel ge­
führt haben. Zuvor hatten die Bewohner jenes Orts große
Klingen und Spitzen aus Quarzit hergestellt – und das zu Zei­
ten, als die Küstenlinie dicht bei Pinnacle Point verlief, wie
unser Mitarbeiter Erich C. Fisher ermittelte. Untersuchungen
von Mira Bar-Matthews vom israelischen Geologischen
Dienst und Kerstin Braun, jetzt an der Arizona State Univer­
sity, lassen annehmen, dass das Klima und die Vegetation da­ 71 000 Jahre alte Mikrolithe – kleine Steinklingen von Pinnacle
mals ähnlich waren wie heute: Es gab regenreiche Winter Point an der Küste Südafrikas (linkes Bild) – zeigen, dass Men­
und Strauchbewuchs. schen schon damals Projektilwaffen herstellten. Sie dürften die
Doch vor etwa 74 000 Jahren bahnte sich im Weltklima
eine Vereisungsphase an. Weil der Meeresspiegel infolge­
dessen stark sank, entstanden jetzt im Süden Afrikas aus­ leichten Waffen Jagd auf die vorbeiziehenden Tierherden
gedehnte Küstenebenen. Die Sommer wurden regenreicher, machten.
und nahrhafte Grasflächen sowie lockere Akazienwälder Zur Herstellung der Mikrolithe entwickelten sie ein gera­
machten sich breit. Vieles spricht dafür, dass sich hier da­ dezu geniales Verfahren. Als neues Rohmaterial verwende­
mals ein riesiges Ökosystem wandernder Tiere etablierte, die ten sie Kieselkonglomerate (Silcrete). Sie hatten herausge­
dem Futterangebot folgten. Und zwar dürften sie im Som­ funden, dass dieser brüchige Rohstoff eine glasartige Konsis­
mer nach Osten gezogen sein, im Winter nach Westen. Es tenz gewinnt und sich viel präziser bearbeiten lässt, wenn
könnte gut sein, dass Menschen mit ihren neuen, besonders man ihn vorher im Feuer erhitzt. Das dazu benötigte Brenn­
holz lieferten die Baumbestände. So etablierte sich für die
neue fortschrittliche Technologie in dieser günstigen Um­
Kollateralschäden in der Tierwelt welt bald eine dauerhafte Industrie.
Für welche Sorte Distanzwaffen jene Menschen die Mikro­
lithe verwendeten, wissen wir noch nicht. Meine Kollegin
MEGAFAUNA EXTINCTIONS LINKED TO HUMANS, NOT CLIMATE CHANGE.

Marlize Lombard von der University of Johannesburg glaubt,


IN: PROCEEDINGS OF THE ROYAL SOCIETY B 281, 20133254, 2014, FIG. 1A
TERRA CARTA, NACH: SANDOM, C. ET AL.: GLOBAL LATE QUATERNARY

dass die feinen Steinspitzen auf Pfeile aufgesetzt wurden


und somit den ersten Gebrauch von Pfeil und Bogen anzei­
gen. An ähnlichen, etwas jüngeren Stücken von anderen
Fundstellen der Region fand die Paläoarchäologin Spuren,
wie sie bei benutzten Pfeilspitzen dieser Art aufzutreten pfle­
gen. Allerdings hat sie Mikrolithe nicht auf Gebrauchsspuren
an Speerspitzen beim Einsatz von Speerschleudern geprüft.
Meines Erachtens dürften Menschen überall zuerst diese
ausgestorbene
Großsäuger in Prozent 0 78 keine Daten
einfachere Waffe verwendet haben.
Überdies vermute ich, dass bereits der frühe Homo sapi-
Die Ausbreitung des Homo sapiens brachte einschneidende ens die Wirkung von Gift entdeckt hatte und Waffen damit
ökolo­gische Veränderungen mit sich. In Europa und Asien gingen benetzte. Solche Methoden, die das Opfer schnell wehrlos
die einheimischen archaischen Menschen unter. In bisher men­ machten, benutzten afrikanische Jäger und Sammler noch in
schenleeren Gebieten rottete der moderne Mensch rasch viele historischer Zeit. Die letzten Sekunden des Tötens mit Speer
Großtierarten aus. In Eurasien behaupteten sich große Tiere oder Lanze ohne Gift sind unberechenbar und für den Jäger
besser. Vermutlich deshalb, weil sie schon lange vom Menschen lebensgefährlich, wenn sich das Tier plötzlich noch einmal
gejagt wurden und sich daran angepasst hatten. aufbäumt und angreift. Vielleicht war die Lebenserwartung

54  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


mit angepassten Technologien zu reagieren – und wurde
BENJAMIN SCHOVILLE, ARIZONA STATE UNIVERSITY

bald zum obersten Raubtier, zunächst auf dem Land, später


auch auf dem Meer.
Dank der neuen Voraussetzungen konnten jene Men­
schen in jedem Lebensraum bestehen. Das dürfte ihnen auch
den Weg in die übrige Welt eröffnet haben. Die archaischen
Menschengruppen, welche nicht über jene Errungenschaf­
ten verfügten, hatten ihnen gegenüber keine Chance. Noch
ist nicht geklärt, weshalb die Neandertaler ausstarben. Am
plausibelsten finde ich die für uns beschämendste Erklä­
rung: Die modernen Menschen nahmen die Neandertaler als
Konkurrenz und Bedrohung wahr – und rotteten sie aus. So
hatte die Evolution sie gemacht.
Manchmal stelle ich mir vor, wie sich die Begegnungen
abgespielt haben könnten. Beliebte Gesprächsthemen der
Neandertaler am Feuer waren seit jeher die gefährlichen
Kämpfe gegen Höhlenbären und Mammuts gewesen. Doch
eines Tages wurden die Inhalte wirklich beängstigend. Man
erzählte sich von unbekannten, ziemlich schnellen und
Klingen an Holzschäften zu Pfeilen oder kleinen Speeren für schlauen Typen. Diese merkwürdigen Leute schleuderten
Speerschleudern befestigt haben, ähnlich wie Forscher dies hier Speere unmöglich weit – und trafen auch noch schrecklich
rekonstruierten (rechtes Bild). genau. Sogar des Nachts konnte plötzlich eine Schar von ih­
nen auftauchen, die Männer und Kinder niedermetzelte und
Frauen raubte.
der Neandertaler auch deswegen so niedrig – nicht viele wur­ Meiner Ansicht nach könnten sich heutiger Völkermord
den älter als 30 Jahre –, und vermutlich stammten ihre zahl­ und Fremdenhass teilweise auf gleiche Weise erklären wie
reichen Knochenbrüche zumeist von der Großwildjagd. Auf damals. Wenn Ressourcen und Land knapp werden, neigen
Entfernung einsetzbare und zudem vergiftete Waffen, die wir dazu, alle, die anders aussehen oder sprechen, als »ande­
Tiere bald außer Gefecht setzten, machten so ein Unterfan­ re« zu bezeichnen. Deren Anderssein allein rechtfertigt dann,
gen wesentlich sicherer und waren deshalb ein technologi­ sie zu vertreiben oder zu vernichten. Es gibt viele wissen­
scher Durchbruch. schaftliche Arbeiten zu dem Thema. Sie decken auf, wie un­
Projektilwaffen im Verein mit hyperprosozialem Verhal­ sere Eigenschaften zu solcher Unterscheidung und entspre­
ten verliehen dem Homo sapiens eine nie da gewesene Über­ chendem Handeln geweckt werden.
legenheit. Im Team, das wie ein einzelner Mensch vorging, Trotzdem sind wir nicht Sklaven unserer Biologie; Kultur
war er praktisch unbezwingbar. Keine Beute, kein Feind kann selbst die stärksten Instinkte übertrumpfen. Daher hof­
konnte mehr vor ihm sicher sein. Ein gutes Beispiel für die fe ich, dass eine vertiefte Einsicht in unsere dunkle Seite die­
Macht guter ­Kooperation gibt eine Waljagd mit einem klei­ se in Schach halten kann. Ÿ
nen Boot: Sechs Männer, die vielleicht jeder eine andere
Sprache sprechen, können das Boot so auf den Kamm einer
DER AUTOR
hohen Welle rudern, dass sich der Harpunier auf Zuruf des
Steuermanns genau im passenden Moment am Bug aufrich­ Curtis W. Marean hat an der Arizona State Uni-
ten und den Koloss beim Auftauchen treffen kann. Gleicher­ versity in Tempe eine Professur an der School
of Human Evolution and Social Change und ist
maßen vermag ein aus 20 vernetzten Gruppen bestehender stellvertretender Direktor des Institute of Hu-
500-köpfiger Stamm eine kleine Armee aufzustellen, die den man Origins. Zudem ist er Honorarprofessor an
Übergriff eines Nachbarstamms auf ihr Gebiet rächt. der Nelson Mandela Metropolitan University
mit Hauptsitz in Port Elizabeth (Südafrika).
Die Verbindung der beiden Eigenschaften, hochgradig zu
kooperieren und effektiv mit Projektilwaffen zu töten, könn­
te erklären, wieso die Populationen des modernen Menschen QUELLEN
nicht nochmals einbrachen, als sich das Klima Afrikas in der Brown, K. S. et al.: An Early and Enduring Advanced Technology
Zeit zwischen 74 000 und 60 000 Jahren vor heute wiederum Originating 71 000 Years Ago in South Africa. In: Nature 491,
so stark abkühlte, dass weite Gebiete des Kontinents für sie S. 590 – 593, 2012
Marean, C. W.: The Origins and Significance of Coastal Resource
erneut unbewohnbar wurden. Im Gegenteil: Damals breitete Use in Africa and Western Eurasia. In: Journal of Human Evolution
sich der Homo sapiens in Südafrika sogar weiter aus und un­ 77, S. 17 – 40, 2014
terhielt eine blühende fortschrittliche Werkzeugindustrie.
Denn auf Umweltkrisen verstand er jetzt sozial flexibel und Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408642

WWW.SPEK TRUM .DE 55


TOTENKULT I

»Möge dir
die Erde leicht sein«
Tod und Erinnerung hingen für die Römer eng zusammen. Denn noch mehr
als das Sterben selbst fürchteten sie, von der Nachwelt vergessen zu werden.
Das verraten ihre Bestattungsbräuche.
Von Annika Domainko

»W
undern wir uns wirklich darüber, dass der geben den Spielraum vor, innerhalb dessen dann auch indi-
Mensch stirbt, wenn der Tod schon Steinen viduelle Varianten möglich sind.
und Namen nachstellt?«, grübelte der Dichter Wie diese Rahmungen in der römischen Antike aussahen
Ausonius im 4. Jahrhundert n. Chr. Ein verwit- und wie die Römer sich den Themen Tod und Vergänglich-
terter Grabstein hatte ihn nachdenklich gemacht. Dessen In- keit näherten, erfahren wir aus der Literatur und Philoso-
schrift sollte den Verstorbenen den Menschen im Gedächtnis phie, aus Mythologie und Religion, aber auch durch Kunst,
halten, doch war sie kaum mehr zu entziffern, bloß noch eine Architektur und Grabkult. Ein monumentales Denkmal
Ansammlung von Strichen und Kerben ohne erkennbaren etwa, das einen Platz im öffentlichen Raum besetzte, verkör-
Zusammenhang. Ein »L« glaubte Ausonius zu lesen, vermut- perte den Anspruch, ein historisches Ereignis auch dann
lich für den Vornamen Lucius. Dann war da noch ein »M«, noch im kollektiven Bewusstsein lebendig zu halten, wenn es
doch ob das für Marcus, Marcius oder Metellus stand, ver- für den Alltag nicht mehr relevant war. Römische Dichter sa-
mochte Ausonius nicht zu sagen. hen ihr Schaffen als einen Schlüssel zu ewigem Ruhm. Und
Erinnern und Vergessen, Tod und Vergänglichkeit haben mythische Erzählungen von einem jenseitigen Leben konn-
die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Jede Gesellschaft ten ebenso Trost und Zuversicht spenden wie philosophi-
fand und findet ihre eigenen Wege, damit umzugehen, sei es sche Lehren, die gerade im Sterben die endgültige Befreiung
durch Rituale, Mythen oder wissenschaftliche Erklärungen. von jedem Schmerz sahen.
Dabei bewegt sie sich immer innerhalb »sozialer Rahmun- Der Umgang mit dem Tod war hochgradig ritualisiert.
gen«, wie Matthias Meitzler betont, der an der Universität Nicht nur Ort und Zeitpunkt der Bestattung folgten einem
Duisburg-Essen zur Soziologie des Sterbens forscht. Mit an- gesellschaftlichen Kode, sondern auch die Form der Beiset-
deren Worten: Der Tod ist keine reine Privatangelegenheit. zung, der Grabbeigaben und der Riten, die am Grab zu voll-
Wie Menschen mit dem Sterben umgehen, verrät viel darü- ziehen waren und mit denen man sich später an das Fami­
ber, wie ihre jeweilige Gesellschaft funktioniert. Deren Kodes lienmitglied erinnerte. Umgekehrt festigten solche Rituale
die sozialen Strukturen, die sie hervorgebracht hatten, wie
AUF EINEN BLICK der Althistoriker Ian Morris von der Stanford University in
seinen Publikationen darlegte, die zu den Standardwerken
RITUALISIERTER ABSCHIED der klassischen Altertumswissenschaften zählen.
Schon die Zwölftafelgesetze, eine Mitte des 5. Jahrhun-

1 Der Nachwelt im Gedächtnis zu bleiben, war den Römern ein


zentrales Anliegen. Wer es sich leisten konnte, investierte da­-
her in Grabbauten und Inschriften.
derts v. Chr. kompilierte und auf zwölf Bronzetafeln auf dem
Forum ausgestellte Gesetzessammlung, enthielten entspre-
chende Vorschriften. Die wohl wichtigste Regel verbot das

2 Diesem Zweck dienten auch Elemente der Bestattungs-


bräuche wie die Anrufung des Namens oder eine Schilderung
der Verdienste des Verstorbenen.
Beisetzen oder Verbrennen von Leichen innerhalb der Stadt.
Über die Gründe schweigen sich die Quellen aus, doch Hy­
giene und Brandschutz gelten Forschern als wahrscheinliche

3 Der als »funus« bezeichnete Zeitraum zwischen Tod und


Abschluss der Beisetzung war genau geregelt und stark
ritualisiert, um den Übergang des Toten in das Jenseits zu unter-
Erklärungen. Pragmatismus und mythisch-rituelle Vorstel-
lungen griffen dabei aber wohl eng ineinander: Die Toten
stützen – auch zum Schutz der Hinterbliebenen vor Geistern. sollten jenseits des so genannten Pomeriums ihre letzte Ru-
hestätte finden, also hinter der sakralen Stadtgrenze, die Ro-

56  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MENSCH & KULTUR

AKG IMAGES / NIMATALLAH

Erinnerung und Repräsentation – das Familiengrab der Haterier mit seinem Reliefschmuck diente beidem zu-
gleich. Forschern liefert es zudem Aufschlüsse über den römischen Grabkult. So wurde die Verstorbene (im oberen
Bildteil zu sehen) im Prachtgewand aufgebahrt, um von der Familie betrauert zu werden. Links errichten Arbeiter
den tempelartigen Grabbau, dessen Säulenhalle Ahnenporträts zieren. Das Motiv samt Baukran hatte seinen
guten Grund: Die Haterier waren freigelassene Sklaven, die als Bauunternehmer ein Vermögen verdient hatten.

WWW.SPEK TRUM .DE 57


mulus selbst einst bei der Gründung Roms mit dem Pflug in gräbern oder in den Wandnischen so genannter Kolumba­
den Boden getrieben haben soll. Dementsprechend säumten rien auf; das waren von größeren Gemeinschaften genutzte
die großen Grabanlagen über- wie unterirdisch Ausfallstra- Grabkammern für bis zu mehrere hundert Aschegefäße (sie-
ßen wie die Via Appia. he Bild unten rechts). Nur selten wurde in Rom eine Leiche
In der Frühzeit waren Körperbestattungen und Einäsche- direkt über der Grabgrube eingeäschert.
rungen (cremationes) gleichermaßen verbreitet. Bei Erste-
rer setzte man den Leichnam in der Erde bei oder in einem Das Gemeinschaftsgrab –
Sarkophag in einem Familiengrab. Aus Schriften des römi- eine kostengünstige Lösung
schen Autors und Staatsmanns Cicero wissen wir, dass seine Sterben ist teuer – das galt schon in der Antike. Bürger, Frei-
Landsleute diese Form der Beisetzung lange als die alter- gelassene und auch Sklaven, denen die notwendigen Mittel
tümlichere, manchmal auch primitivere Praxis ansahen. Im fehlten, konnten einem »collegium funeraticium« beitreten
Lauf der Zeit setzte sich die Kremation nach und nach durch, und regelmäßig kleinere Beträge einzahlen, um die Beerdi-
bis sie in der späten Republik und in der frühen Kaiserzeit gung und einen Platz in einem Gemeinschaftsgrab zu fi­
(etwa 2. Jahrhundert v. bis 1. Jahrhundert n. Chr.) als »Roma- nanzieren. Die römischen Begräbnisvereine sind eines der
nus mos«, als römische Sitte galt, wie der Historiker Tacitus frühesten Beispiele für ein kollektiv organisiertes Versiche-
berichtet. rungswesen, in dem sich Mitglieder einer Solidargemein­
Bei der Brandbestattung wurde der Leichnam auf einem schaft wechselseitig absicherten. Skelettfunde belegen aller-
Scheiterhaufen verbrannt und die Asche in einer Urne beige- dings, dass trotz alledem viele Menschen ohne Zeremoniell
setzt. Diese wiederum bewahrte man ebenfalls in Familien- in Massengräbern verscharrt wurden. Am Fuß des Esquilins,
AKG IMAGES / GLASSHOUSE IMAGES

58  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


eines der sieben Hügel Roms, fanden Archäologen ein Sam- eindimensionalen Erklärungen bestätigen. Vielmehr er-
melgrab mit den unverbrannten Überresten mehrerer tau- scheint der Wandel nun als komplexes Phänomen, das sich
send Personen. Dort hatten offenbar die Mittellosen der vor allem sozialhistorisch erklären lasse. Denn während man
Stadt ihre triste letzte Ruhe gefunden – zwischen Schutt, zuvor schlichte Urnen in aufwändig gestalteten Grabbauten
Tierkadavern und anderem Abfall. untergebracht hatte, kamen nun prächtig geschmückte Sar-
Dieser Fund zeigt aber auch, dass Körperbestattungen nie kophage in Mode, die in einfachen Grabbauten beigesetzt
völlig verschwanden. Im 2. Jahrhundert, etwa zur Zeit von wurden statt in Nekropolen mit prunkvollen Fassaden. Es
Kaiser Hadrian (117 – 138 n. Chr.), wurden sie dann sogar wie- fand eine Verlagerung von »außen« nach »innen« statt, wie
der Usus und verdrängten nun ihrerseits die Kremation. der Archäologe Tonio Hölscher und andere argumentieren.
Manche Forscher sahen die Ursache in einem expandieren- Beim Begräbnis habe immer weniger die öffentliche Reprä-
den Glauben an ein Leben nach dem Tod (siehe »Trost spen- sentation im Vordergrund gestanden als vielmehr die nach
dende Vielfalt«, S. 61). Dieser habe bewirkt, dass man den innen gewandte Trauerfeier im Familienkreis.
Körper des Verstorbenen für das Jenseits intakt ließ. Andere
führen die Entwicklung auf Migrationsbewegungen zurück: Ein Ritus für den Übergang
Einwanderer aus dem östlichen Mittelmeerraum hätten ihre Der Ablauf römischer Begräbnisse lässt sich anhand von
Kulte mit in die Hauptstadt gebracht und damit die sepulkra- schriftlichen Überlieferungen und von wenigen bildlichen
len Traditionen in Rom nachhaltig verändert. Beide Hypo- Darstellungen rekonstruieren, etwa dem Marmorrelief vom
thesen gelten inzwischen jedoch weitgehend als widerlegt, Grab der Familie der Haterier (siehe Bild S. 57). Zwar waren
da weder archäologische noch schriftliche Quellen solche die Römer keine homogene Gruppe, und je weiter das Impe-

Viele Römer bestatte-


ten ihre Verstorbenen in
gemeinschaftlich ge-
nutzten Grab­kammern
wie den Kolumbarien
in der Vigna Codini.
Wand­nischen boten
Platz für bis zu mehrere
hundert Urnen und
Porträts.

Gräber zogen sich im


römischen Reich ent-
lang der großen Ausfall-
straßen der Städte, da
bereits die Zwölftafelge-
setze (um 450 v. Chr.)
eine Beisetzung inner-
halb der Stadtmauern
AKG IMAGES / NIMATALLAH

verboten. Mit der Zeit


entstanden so prunk­
volle Gräberstraßen wie
hier in Pompeji.

WWW.SPEK TRUM .DE 59


rium expandierte, desto größer wurde auch die Bandbreite auch Geburt, Initiation, Hochzeit und Krieg zählte. Auch
an lokalen Gebräuchen und kulturellen Eigenheiten. Den- wenn sein Schema kritisiert und weiterentwickelt wurde, eig-
noch identifizieren Forscher einige allgemeine Muster für net sich das Grundgerüst zur strukturellen Beschreibung der
die Handlungen beim »funus« – dem Zeitraum zwischen Tod römischen Bestattungskultur.
und Beisetzung. In Anlehnung an den französischen Ethno-
logen Arnold van Gennep (1873 – 1957) sprechen sie von ei- Weihrauch zum Schutz der Lebenden
nem mehrstufigen »rite de passage«: einem Übergangsritus, Insbesondere sah man den Leichnam und alle, die mit ihm
der kritische Phasenübergänge wie etwa auch jenen zwi- Kontakt hatten, als unrein an. Daher mussten entsprechende
schen Kindheit und Erwachsenenalter bahnen soll. Die Ge- Maßnahmen ergriffen werden, um diese »Befleckung« (grie-
samtheit der Bräuche und Zeremonien rund um das funus chisch: miasma) zu überwinden: Die Angehörigen verbrann-
sollten den Übertritt vom Leben zum Tod begleiten und ihn ten beispielsweise Weihrauch und andere wohlriechende
darüber hinaus in eine sinnstiftende Form bringen. Van Gen- Substanzen. Sie wuschen und salbten den Verstorbenen,
nep hatte mit seinem 1909 publizierten Modell ursprünglich bahrten ihn dann für bis zu sieben Tage im Haus auf, um ihn
beschreiben wollen, wie vormoderne Gesellschaften mit kri- zu betrauern, oft unterstützt von bezahlten Klagefrauen. Im
tischen Übergängen im individuellen und öffentlichen Le- nächsten Schritt wurde der Leichnam in einer Prozession
ben umgingen, zu denen er neben dem Tod beispielsweise zum Begräbnisplatz überführt.
Bei wohlhabenden Familien übernahmen Dienstleister ei-
nen Großteil der anfallenden Aufgaben. Dazu zählten neben
den erwähnten Klagefrauen unter anderem auch Musiker,
zudem die »libitinarii«, welche die allgemeine Organisation
besorgten, die »pollinctores«, die den Leichnam für die Auf-
bahrung vorbereiteten, sowie die »ustores«, die in der Repub-
lik und frühen Kaiserzeit für die Kremation zuständig waren.
Besonders spektakulär ging es bei der Beisetzung eines ho-
hen Beamten zu. Für die Nobilität war die »pompa fune­bris«,
also der Leichenzug, ein öffentliches Schauspiel, das neben
der eigentlichen Beisetzung auch der Repräsentation der be-
troffenen Familie diente. Als der Historiker Polybios im
2. Jahrhundert v. Chr. als Kriegsgefangener nach Rom kam,
faszinierten ihn diese Prozessionen derart, dass er ihnen spä-
ter einen langen Absatz in seinen »Historien« widmete.
Immer wenn ein herausragender Mann sterbe, führte er
aus, verwandele sich der öffentliche Raum rund um das Fo-
rum in ein großes Spektakel. Der Verstorbene würde, beglei-
tet von wogenden Menschenmassen, in aufrechter oder lie-
gender Position zur Rednertribüne getragen und dort für alle
sichtbar aufgebahrt. Ein enger Verwandter schildere allen
Anwesenden die Lebensleistungen des Verschiedenen so leb-
haft, dass selbst jene weinten, die ihn nicht persönlich kann-
ten. Anschließend beschwöre der Redner die Taten aller ver-
dienten Vorfahren der Familie. Dann folge die eigentliche
»pompa«: Die Angehörigen schlüpften in die Rollen ihrer
Vorfahren, indem sie Ahnenmasken aus Wachs (imagines)
vor sich hertrugen, und ließen so die gesamte Genealogie
der Familie in einer öffentlichen Performance aufscheinen
(siehe Bild links). Auf diese Weise begleiteten sie den Toten
auf seiner letzten Reise und nahmen ihn in ihre Reihe auf.
AKG IMAGES / MONDADORI PORTFOLIO / ELECTA

Wächserne Ahnenmasken, »imagines«, spielten eine


wichtige Rolle in der römischen Erinnerungskultur. Keine
dieser Masken hat sich bis heute erhalten, aber die
Statue des Togatus Barberini vermittelt uns einen Eindruck.
Der Patrizier trägt die römische Toga und hält die Por-
träts verstorbener Familienmitglieder in den Händen.

60  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Die Masken wurden so zu mehr als zu Bildern, die man zu Generation bereits in jungen Jahren in die gemeinsame Iden-
Hause im Familienschrein aufstellte – sie ließen Teile der rö- tität hineinwachsen, sich mit der Familie und dem Dienst am
mischen Geschichte aktiv im öffentlichen Raum lebendig römischen Gemeinwesen identifizieren und dazu motiviert
werden. werden, den gleichen Weg einzuschlagen.
In Polybios’ Augen verkörperte der auf den ersten Blick be- Der feierlichen Beisetzung wohnten – selbst in den geho-
fremdliche Brauch all das, was Rom nach außen und nach in- beneren Kreisen – in der Regel nur die Familie und die engs-
nen stark machte. In ähnlicher Weise deuten moderne Histo- ten Freunde bei, die am Grab gemeinsam ein »silicernium«
riker diese Leichenzüge als eine sicht- und greifbare Insze- genanntes Mahl einnahmen. Nach einer Klagezeit von neun
nierung des kollektiven Gedächtnisses. Mit jedem Todesfall Tagen versammelten sich die Angehörigen dort erneut, um
lebten die Leistungen ganzer Generationen wieder auf. Der ein weiteres rituelles Mahl zu teilen und den Totengeistern
Vergänglichkeit des Lebens begegneten die Römer mit der ein Trankopfer darzubringen.
Zurschaustellung beispielhafter Taten, welche die Zeiten Familie, Haus und Besucher wurden sodann einer rituel-
überdauerten. Gleichzeitig erhielten die Verdienste des Ein- len Reinigung unterzogen, welche die Sphäre der Toten klar
zelnen so eine zusätzliche Bedeutung vor dem Hintergrund von jener der Lebenden abtrennen sollte. Dazu zählten Wa-
der Meriten seiner Familie. Durch das in Szene gesetzte Erin- schungen, das Ausfegen des Hauses und das Verbrennen von
nern an eine ganze Reihe großer Vorbilder sollte die nächste Weihrauch sowie magische Riten wie die »suffitio«. Die Quel-

Trost spendende Vielfalt


Im römischen Reich kursierten unterschiedliche, zum Teil sogar einander widersprechende Jenseitsvorstellungen.

Was erwartet den Menschen nach dem Tod? Die Vorstellungen in der Philosophie, besonders eindrücklich im so genannten
der Römer dazu waren sehr heterogen und folgten keinem all- »Traum des Scipio«, einer Erzählung des römischen Autors und
gemein gültigen Dogma, wie wir es aus der christlichen Theolo- Staatsmanns Cicero. Die Seele eines verdienten Mannes, so
gie kennen. Erzählungen über den Unterweltherrscher »Dis Pa- schildert dieser, kehrte nach dem Tod zu ihrer ursprünglichen
ter«, auch als Pluto bekannt, und philosophische Skepsis exis- Heimat im Kosmos zurück. Von der Milchstraße aus könne der
tierten nebeneinander, und die Heilsversprechen aus dem Verstorbene dann das gesamte Universum überblicken, das Ge-
Orient stammender Mysterienkulte standen neben dem folklo- schick der Menschen verstehen und die einzigartige Harmonie
ristischen Glauben an Totengeister, die es an bestimmten Tagen der rotierenden Sphären des Kosmos hören – eine Vorstellung,
im Jahr durch Opfer zu besänftigen galt. die auf den griechischen Philosophen und Mathematiker Py-
Die Idee des Fortlebens in einer Unterwelt findet sich vor al- thagoras zurückging.
lem in der römischen Dichtung. Zu den berühmtesten Schil­
derungen des Totenreichs zählt die des Dichters Vergil (70 – 19 v. Den wohl größten Kontrast zu solchen Vorstellungen bilde­-
Chr.), die eng an die griechische Mythologie angelehnt ist: Er ließ ten die Lehren des griechischen Philosophen Epikur (342 – 271 v.
Äneas, den mythischen Stammvater der Römer, gemeinsam mit Chr.): Mit dem Körper würde auch die Seele geboren, und mit
der Priesterin Sibylle durch eine Höhle am Avernersee, in der ihm müsse sie daher auch wieder vergehen. So deprimierend
Nähe des heutigen Neapel in den Orkus hinabsteigen. Mit Hilfe diese Vorstellung erscheinen mag, brachte sie Epikurs Anhän-
des Fährmanns Charon überquerten sie den Unterweltfluss gern doch Erlösung: Wenn der Tod das Ende bedeute, müsse
Styx, der das Reich der Toten von dem der Lebenden trennte, tra- man ihn auch nicht fürchten und könne folglich ein freies Le-
fen auf Zerberus, den dreiköpfigen Höllenhund, und wanderten ben führen.
durch ein Meer von Schattenwesen. Sie begegneten den Seelen Auch Epikurs Philosophie und ihre römischen Ableger haben
der Frevler, die im Tartarus Qualen litten, und jenen der Glückse- Spuren in den Grabinschriften der Römer hinterlassen: »Wir
ligen, die im Elysium alles irdische Leid vergessen durften. sind nichts und wir waren nichts. Du, der du das liest, schau’s dir
Eine ganz andere, damals verbreitete Idee griff der Komö­ an, wie schnell wir vom Nichts ins Nichts zurückkehren«, ist in
diendichter Plautus (etwa 250 – 184 v. Chr.) auf: Ein Gespenst einem Epigramm zu lesen. Bezeichnenderweise spricht die In-
suchte die Lebenden heim, da es sich in seinem Andenken ver- schrift den Passanten, der am Grab vorübergeht, direkt an und
nachlässigt fühlte; die Römer nannten solche Geister »larvae« lenkt seine Aufmerksamkeit so auf den Verstorbenen. Wenn
oder »lemures«. Die Manen hingegen – die Ahnen, die man als auch die Seele mit dem Tod verschwindet, so kann der Tote den-
Totengötter verehrte und denen die Römer Grabstätten weih- noch auch hier im Andenken der Menschen lebendig bleiben.
ten – galten als wohlgesinnte Helfer, deren Beistand man sich Das Hoffen darauf, im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt
durch regelmäßige Opfer sicherte. weiterzuleben, dürfte demnach ein nahezu allgemein gültiges
Die Vorstellung einer Fortexistenz nach dem Tod war nicht Muster der römischen Kultur gewesen sein – unabhängig von
auf Dichtung und Volksglauben beschränkt. Sie fand sich auch Mythos und Logos, von Glaube und Philosophie.

WWW.SPEK TRUM .DE 61


len zu dieser sind spärlich, aber es scheint, dass Wasser und Formeln, die sich häufig am Ende der Inschriften fanden, da-
Feuer eine zentrale Rolle spielten: Die Trauernden schritten runter die Abkürzung »S.T.T.L.«, die für die Formel »sit tibi
oder sprangen über ein rauchendes Feuer und benetzten ei- terra levis« stand: Möge dir die Erde leicht sein. Dahinter ver-
nander mit in Wasser getränkten Lorbeerkränzen. barg sich die Vorstellung, dass der Tote, mochte er auch in ei-
Was nun der Nachwelt blieb, um der Toten zu gedenken, nem steinernen Grabbau liegen, in der Erde seine letzte Ruhe
waren ihre Grabstätten, die oft an einer der großen Ausfall- fand; sie wurde als personifizierte »Terra Mater« in der Grab-
straßen lagen. Nur die wichtigsten Clans besaßen dort Flä- kunst häufig dargestellt.
chen unmittelbar am Wegrand. Aus Platznot wurden die Grab und Inschrift waren wichtige Mittel zur sozialen
Grabanlagen daher in mehreren Reihen oder gleich unterir- Präsentation. Sie bezeugten Ansehen und Macht der jeweili-
disch angelegt. gen Familie wie auch des Verstorbenen. Vor allem aber sorg-
Roms Steinmetze und Architekten haben eine Vielzahl ten sie dafür, dass dieser in der Welt der Lebenden präsent
an verschiedenen Grabformen hervorgebracht. Zu den ein- blieb. Bereits unmittelbar nach dem Tod und dann wieder
fachsten zählte der Tumu- beim gemeinsamen Mahl
lus: Über einer aufgemauer- am Grab riefen die Angehö-
ten Grabkammer mit meist Das Zerstören von allem, was an rigen den Toten beim Na-
kreisförmigem Grundriss einen Toten erinnern sollte, gehör- men. Die Römer bezeichne-
schüttete man einen Erdhü- ten diesen Brauch als »con-
te zu den schrecklichsten Strafen
gel auf, der bepflanzt werden clamatio«. Viele Inschriften
konnte. Wie monumental ei- waren so formuliert, dass der
ne solche Anlage gleichwohl wirken konnte, demonstrierte Verstorbene den Passanten »ansprach«, ihn bat stehenzu-
das Mausoleum des Kaisers Augustus auf dem Marsfeld. Be- bleiben, kurz innezuhalten und laut zu lesen, was auf dem
sonders beliebt waren auch Gebäude in Form von Tempeln Grabstein geschrieben stand. Auf diese Weise wiederholte
oder Altären. Im 1. Jahrhundert v. Chr. ließ sich ein gewisser der Vorübergehende die »conclamatio« und bewahrte den
Cestius gar eine Pyramide als letzte Ruhestätte errichten, Toten so vor dem Vergessenwerden.
während der offenbar betuchte Bäcker Eurysaces sich in ei- Das Grab fungierte als eine Art Dialog zwischen dem Be-
nem gigantischen, steinernen Klotz bestatten ließ, der mit statteten und jenen, die seiner gedachten. Die »damnatio
stilisierten Teigknettrögen verziert war und dessen Bild- memoriae«, das erzwungene Vergessen durch die gezielte
schmuck Szenen aus dem Alltag des Bäckerhandwerks zeig­- Zerstörung von Inschriften, Porträts und Grabmälern, zählte
te. Dem Einfallsreichtum waren also keine Grenzen gesetzt. tatsächlich zu den am meisten gefürchteten Strafen. Kein
In römischen Rechtstexten lesen wir entsprechend, dass Wunder also, dass Ausonius angesichts des unleserlichen Na-
ein Grabmal über die einfache Erinnerung hinaus auch den mens auf einem Grabstein in Meditationen über die Ver-
Zweck hatte, das Wesen und die gesellschaftliche Stellung des gänglichkeit menschlicher Leistungen verfiel. Das Monu-
Toten (substantia et dignitas) widerzuspiegeln und für die ment, dem er sich gegenüber sah, hatte die ihm ureigene
Nachwelt zu bewahren. Die Form des Monuments, das Mate- Aufgabe nicht erfüllt – der Stein war verstummt. Ÿ
rial, die Bepflanzung und die Umgebung sollten dem Vorü-
bergehenden vermitteln, wer da ruhte. Was die Soziologen
DI E AUTORI N
Matthias Meitzler und Thorsten Benkel von der Universität
Passau unserer gegenwärtigen Friedhofskultur attestieren – Annika Domainko hat in Cambridge und
eine zunehmende Individualisierung des Grabschmucks Heidelberg Latinistik und Klassische
Archäologie studiert. Sie ist Doktorandin im
und des Umgangs mit dem Sterben – galt in modifizierter ERC-Projekt »Ancient Narrative« an der
Form also auch für das antike Rom. Universität Heidelberg und arbeitet außerdem
Manchmal zierten Porträts der Verstorbenen die Grab- als Wissenschafts- und Kulturjournalistin.

bauten, immer aber Inschriften. Ungefähr ab dem späten


1. Jahrhundert v. Chr. eröffnete man Letztere regelmäßig mit
QUELLEN
der Formel »dis manibus« – zu Deutsch: »den Totengöttern«,
denen man das Grabmal stiftete. Carroll, M., Rempel, J. (Hg.): Living through the Dead. Burial and
Der Inhalt einer Grabinschrift reichte von grundlegenden Commemoration in the Classical World. Oxbow Books, Oxford 2011
Morris, I.: Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity.
Informationen bis hin zu elaborierten Versen, die nicht sel-
Cambridge University Press, Cambridge 1992
ten die großen Dichter der lateinischen Literatur zitierten. Schrumpf, S.: Bestattung und Bestattungswesen im Römischen
Meist verzeichneten die Texte Namen und Familienzugehö- Reich. Ablauf, soziale Dimension und ökonomische Bedeutung der
rigkeit des Verstorbenen sowie den Namen des Grabmalstif- Totenfürsorge im lateinischen Westen. Vandenhoeck & Rupprecht,
Göttingen 2006
ters. Umfassender gestaltete Inschriften unterrichteten über Toynbee, J. M. C.: Death and Burial in the Roman World, Cornell
das Leben des Toten – bei Männern über deren öffentliche University Press, Ithaca, New York 1971
Ämter, bei Frauen über ihre Verdienste um die Familie. Ähn-
lich dem christlichen »Ruhe in Frieden« gab es auch in Rom Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408650

62  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MENSCH & KULTUR

TOTENKULT II

Hauptstadt der Seuchen


Das chronisch überbevölkerte antike Rom hatte immer wieder mit verheerenden
Epidemien zu kämpfen, die tausende Menschenleben forderten. Mit
ungewöhnlichen Lösungen versuchte man, der Leichenberge Herr zu werden.
Von Dominique Castex und Sacha Kacki

D
er Aufstieg vom Stadtstaat zur Hauptstadt eines
Weltreichs ließ Rom aus den Fugen geraten. Von
der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. bis zur Hoch­
phase des Kaiserreichs im 2. Jahrhundert n. Chr.
wuchs die Bevölkerung von 250 000 auf 750 000 oder gar eine
Million Einwohner an. Diese Entwicklung hatte aber ihren
Preis: Überbevölkerung und Platznot zwang die Ärmeren
dazu, auf engstem Raum zusammenzuleben. Diese Bedin­
gungen begünstigten die Verbreitung von Krankheiten und
dürften zumindest teilweise erklären, wieso die Stadt so häu­
fig von Epidemien heimgesucht wurde.
Dass dem so war, überlieferten etliche Chronisten. So soll
eine Epidemie im Jahr 189 laut dem griechischen Autor Cassi­
us Dio täglich mehr als 8000 Menschen das Leben gekostet ha­
ben. Zwar ist diese Angabe heute umstritten, doch sie zeigt die
Größenordnung der Sterblichkeit während solcher Phasen.
Experten schätzen, dass sie bei dieser als Antoninische Pest –
benannt nach dem Herrscherhaus der Antoniner – bekann­ten
Seuche zwischen 7 und 33 Prozent der Stadtbe­völkerung lag.
Wie viel Leid und Trauer ein solches Massensterben verur­
sacht haben mag, wie die Bürger Roms damit umgingen, was
die Obrigkeit dagegen unternahm – über all das wissen wir
nur wenig. Ebenso unsicher ist, wie man versuchte, der Lei­
chen Herr zu werden. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse
stammen zumeist aus republikanischer Zeit. Ihnen zufolge
warf man viele Tote in den Tiber, andere entsorgte man in
dem Graben, der die so genannte Servianische Stadtmauer
umgab. Ausgrabungen auf dem Esquilin, einem der sieben
Hügel Roms, förderten Ende des 19. Jahrhunderts einen Teil
der Verteidigungsanlage zu Tage. Die Mauer säumte tatsäch­
lich ein gewaltiger Graben von gut 30 Meter Breite und etwa
9 Meter Tiefe, der auf einer Länge von mehr als 30 Metern
freigelegt wurde. Er war bis zum Rand mit menschlichen Ske­
letten gefüllt. Die Archäologen schätzten, dass etwa 24 000
Leichen dort »beigesetzt« worden waren. Ob es sich dabei
hauptsächlich um Seuchenopfer handelte und zu welcher
Die Katakombe von Sankt Patrus und Marcellinus beherbergt Zeit die Menschen starben, ist leider nicht bekannt.
Berge von Skeletten. Die Ergebnisse der archäologischen Diese Nutzung des Grabens wurde reguliert – möglicher­
Untersuchung zeigen, dass es sich bei ihnen wahrscheinlich weise aus hygienischen Gründen oder weil der Platz darin
um die Opfer einer Seuche handelt. knapp wurde – und unter Augustus im 1. Jahrhundert v. Chr.
ganz verboten. Leider gibt es aus der nun folgenden Kaiser­
DENIS GLIKSMAN, INRAP; MIT FRDL. GEN. VON DOMINIQUE CASTEX

WWW.SPEK TRUM .DE 63


zeit kaum verwertbare Berichte über den Umgang mit mas­ Wenn man die Körper der Toten in einer
senhaft anfallenden Toten. Wohin ließ beispielsweise Kaiser der Kammern digital rekonstruiert,
Commodus (161 – 192) die von Cassius Dio erwähnten Opfer zeigt sich, dass sie nicht alle auf einmal
der Antoninischen Pest bringen? Die antike Überlieferung dort abgelegt worden sein können: Das
schweigt sich hierzu aus, und lange konnten auch Archäolo­ Gesamtvolumen wäre zu groß (rechts).
gen keine befriedigende Antwort auf diese Frage geben. Neue

GÉRALDINE SACHAU-CARCEL, UNIVERSITÉ BORDEAUX; MIT FRDL. GEN. VON DOMINIQUE CASTEX
Anhaltspunkte liefern Grabungskampagnen in einer Kata­
kombe etwa drei Kilometer südöstlich des antiken Stadt­
kerns. Der Legende nach wurden im 3. Jahrhundert dort die
Märtyrer Marcellinus und Petrus beigesetzt, weshalb die Ge­
wölbe später christliches Gemeinschaftsgrab wurden.
Die auch »Friedhof zu den zwei Lorbeeren« genannte un­
terirdische Anlage – eine von 60 in Rom und Umgebung – be­
steht aus einem ganzen Netz von Grablegen, verteilt auf gut
viereinhalb Kilometer Galerien und drei Stockwerke. Zwi­
schen dem Ende des 3. und dem Beginn des 5. Jahrhunderts
wurden dort 20 000 bis 25 000 Menschen bestattet.

Gemeinschaftlich zur letzten Ruhe


Nachdem ein Teil des mittleren Sektors eingebrochen war,
konnten Archäologen 2004 einen bis dahin unzugänglichen dort Beigesetzten hätten gemäß der christlichen Bildspra­
Bereich untersuchen, der sich deutlich von den anderen un­ che der Zeit also Opfer von Christenverfolgungen gewesen
terschied. Während Gänge sonst in rechten Winkeln zuein­ sein können­. Da jedoch keines der Skelette Spuren von Ge­
ander aus dem Gestein geschlagen worden waren, mit Einzel­ walt aufwies, kommt diese Erklärung nicht in Frage. Datie­
gräbern (»loculi«) in ihren Wänden, gibt es dort etliche mit­ rungen anhand diverser Kleinfunde und Münzen sowie mit
einander verbundene Räume unterschiedlicher Größe. Vor Radiokohlenstoffanalysen von Knochen- und Geweberesten
allem entdeckten italienische Archäologen in einigen davon bestätigten, dass die Kammern bereits Ende des 1. bis An­
die Gebeine zahlreicher Individuen – es waren Kollektivgrä­ fang des 3. Jahrhunderts als Grablege dienten, also noch vor
ber. Sie konnten außerdem nachweisen, dass man dort voll­ dem Martyrium der Genannten.
ständige Körper bestattet hatte. Von 2005 bis 2010 folgten Die Bestattung einer großen Zahl von Toten am gleichen
weitere Kampagnen im Rahmen eines gemeinsamen Projekts Ort lässt vermuten, sie seien einer Seuche zum Opfer gefal­
verschiedener Institutionen wie dem Centre national de la re­ len – sofern man sie tatsächlich etwa zur gleichen Zeit bestat­
cherche scientifique (CNRS), der Maison des Sciences et de tet hat. Doch laut einer 3-D-Rekonstruktion des Gesamtvolu­
l’Homme d’Aquitaine, der Päpstlichen Kommission für Sakra­ mens der Körper vor der Verwesung hätte das verfügbare Vo­
le Archäologie, dem Institut national de recherches archéolo­ lumen der Grabkammern für eine gleichzeitige Deponierung
giques préventives (INRAP) und der École Francaise de Rome. aller Toten auf keinen Fall gereicht (siehe Bild oben).
Die Forscher untersuchten zwei kleinere Räume gänzlich, Trotz des eher mäßigen Erhaltungszustands der Gebeine
zwei größere teilweise. Sie legten die Skelette von insgesamt ließ sich andererseits zeigen, dass die Skelette von direkt ne­
etwa 500 Individuen frei, die in mehreren Lagen aufein­ ben- und übereinander gestapelten Personen jeweils im ana­
ander gestapelt waren. Ein Fresko aus dem Hochmittelalter tomischen Verbund lagen, das heißt: Die Anordnung der
im Gang zu einer der Kammern zeigt militärisch gekleidete Knochen war erhalten geblieben. Wären diese Toten aber zu
Personen neben den Märtyrern Petrus und Marcellinus. Die sehr unterschiedlichen Zeitpunkten in den Kammern abge­
legt worden, hätten die jüngeren die bereits stark verwesten
AUF EINEN BLICK älteren Leichen beeinträchtigt.
Löst man den Blick von Einzelskeletten und betrachtet sie
STAPELWEISE LEICHEN als Bestandteil archäologischer Schichten, fällt auf, dass die
meisten Individuen in ihrer jeweiligen Schicht systematisch
1 Mehrere Epidemien suchten Rom im Lauf der Antike heim.
Eine von ihnen, die so genannte Antoninische Pest, soll tau­-
senden Menschen pro Tag das Leben gekostet haben.
angeordnet worden waren: auf dem Rücken liegend, Seite an
Seite; kleine Kinder in den Lücken zwischen Erwachsene –
ein Platz sparendes Schema. Einige Schichten waren zudem
2 Eine solche Zahl von Toten ließ sich nicht mehr in Einzelgräbern
bestatten. Die Katakombe von Sankt Petrus und Marcellinus
zeigt, dass die Leichen stattdessen in Gemeinschaftsanlagen ge-
nach unten durchgebogen, wobei die Schädel und die Kno­
chen der unteren Gliedmaßen über denen des Rumpfs lagen.
stapelt wurden. Trotz Massengrab gab es Bestattungsriten: Man
bestrich die Leichen mit Gips, streute Bernstein und Harze darüber Wahrscheinlich sackten die offenbar gemeinsam verwesen­
und gab Vornehmen wertvolle Gegenstände mit. den Körper in die Form der darunter liegenden Schicht be­
reits zersetzter Kadaver.

64  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Hier wurden mehrere Leichname gleichzeitig abgelegt, wie zu schützen versuchte, indem man die Luft im Gegenzug mit
der Erhalt des anatomischen Verbundes der Knochen zeigt. Wohlgerüchen sättigte.
Diese für Rom ungewöhnliche Bestattungspraxis könnte
die Sitte einer aus einem anderen Kulturkreis zugezogenen
Bevölkerungsgruppe gewesen oder von dieser inspiriert wor­
den sein. Das würde den Gips verständlich machen: In vielen
antiken Gräbern in Tunesien und Algerien hat man ein hel­
les, gipsähnliches Material auf den Körpern von Bestatteten
gefunden. Diese Praxis könnte sich während der Kaiserzeit
durch Migration im römischen Reich verbreitet haben. Dem­

DENIS GLIKSMAN, INRAP; MIT FRDL. GEN. VON DOMINIQUE CASTEX


entsprechend findet man ähnliche Beispiele auch in mehre­
ren europäischen Ländern. Biochemische Untersuchungen
an 130 Skeletten der Katakombe zeigten 2015, dass sich die
Ernährung dieser Personen zwar nicht von der anderer Rom­
bewohner unterschied – Getreide, Fleisch und Fisch –, ein
Viertel von ihnen aber tatsächlich Migranten gewesen wa­
ren, davon einige aus Afrika, Arabien und Kleinasien.
Dass die Gruft von Marcellinus und Petrus kein Einzelfall
war, bewies der italienische Archäologe Giuseppe Wilpert:
In der Katakombe von Sankt Calixt legte er eine ähnlich or­
Auch wenn nicht alle 500 Menschen Opfer ein und dessel­ ganisierte Abfolge aus mehreren Schichten aufgehäufter
ben Ereignisses geworden waren, gab es also zweifellos Mas­ menschlicher Skelette frei, die in die gleiche Zeitspanne da­
senbestattungen, und die Kammern dienten als Notfallgrable­ tiert wurde. Beide Massengräber unterstreichen die Überlie­
ge für Krisenzeiten. 2013 lieferte eine chemische Analyse des ferung des Cassius Dio, der von 8000 Toten pro Tag in Folge
Tuffsteins zusätzliche Anhaltspunkte: Weil bei der Verwesung der Antoninischen Pest schrieb.
organische Flüssigkeiten entstehen, die das Gestein in der Gut 50 Jahre später ergriffen Soldatenkaiser die Macht,
Umgebung des Kadavers verändern, ließen sich drei Massen­ wurden aber der inneren und äußeren Konflikte nicht Herr.
begräbnisse nachweisen und weitere nicht ausschließen. Hatte das Massensterben so tiefe Wunden in Rom hinterlas­
sen, dass es das Reich destabilisierte? Diese These gilt inzwi­
Waren manche der Toten Migranten? schen zwar als überholt, doch sollte tatsächlich ein Drittel
Epidemien sind derzeit die wahrscheinlichste Erklärung des der Stadtbevölkerung der Seuche zum Opfer gefallen sein,
Befunds. Die Antoninische Pest, die manche Medizinhistori­ wie manche Experten schätzen, mag sie wesentlich zu den
ker den Pocken zuschreiben, würde zur Datierung passen. Al­ Transformationsprozessen beigetragen haben, die das Impe­
lerdings konnte bislang keine DNA eines entsprechenden Pa­ rium schließlich Ende des 3. Jahrhunderts in ein neues Zeital­
thogens identifziert werden. Zudem spricht die erwähnte ter führten: die Spätantike. Ÿ
3-D-Rekonstruktion dafür, dass die Bestatteten mehreren
aufeinanderfolgenden Seuchen zum Opfer fielen oder dem
DI E AUTOREN
Zusammentreffen von Seuchen und anderen katastrophalen
Ereignissen. Dominique Castex ist For-
Offenbar genossen zumindest einige der Toten eine hohe schungsdirektorin am CNRS,
Sacha Kacki ist Doktorand im
gesellschaftliche Stellung, denn zu den Kleinfunden gehörte »Laboratorium für Kultur, Um-
zum Beispiel ein Paar goldener Ohrringe und ein Ring aus welt und Anthropologie von
Gagat. Viele Leichname waren in Leinen eingewickelt wor­ der Vorgeschichte bis Heute«
der Université de Bordeaux.
den, und manche dieser Stoffe waren von feiner Machart,
wiesen bisweilen sogar eingewebte Goldfäden auf.
QUELLEN
Zuvor hatte man etliche Tote chemischen Analysen nach
von Kopf bis Fuß mit Gips bedeckt. In dessen Resten sowie Kacki, S. et al.: Réévaluation des arguments de simultanéité des
dépots de cadavres: l’exemple des sépultures plurielles de la
auf den Skeletten entdeckten die Forscher auch feine rötliche
catacombe des saints Pierre et Marcellin (Rome). In: Bulletin et
Partikel, die sich als Bernstein von der Ostseeküste heraus­ Mémoires de la Société d’Anthropologie de Paris 26, S. 88 – 97,
stellten, sowie Rückstände von Sandarach und Weihrauch. 2014
Ersterer galt als Schutz gegen Krankheiten, unterstreicht also Sachau-Carcel, G.: From Field Recording of Plural Burials to 3D
Modelling. Evidence from the Catacomb of Sts. Peter and
die Seuchenthese. Auch die beiden Harze passen dazu: Die Marcellinus, Italy. In: Anthropology, International Journal of Human
hippokratische Tradition der antiken Medizin vertrat näm­ Diversity and Evolution, 52, S. 285 – 297, 2014
lich die Ansicht, dass übel riechende Luft gefährlich sei, da
sie so genannte Miasmen transportiere, gegen die man sich Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408651

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JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE

66  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


ERDE & UMWELT

DEMOGRAFIE

Afrikas
bedrohliche
Bevölkerungs­
explosion
Neue Prognosen alarmieren:
Bis 2100 könnten sich mehr als
sechs Milliarden Menschen
in Afrika drängen – mehr als der
Kontinent verträgt. Dagegen
hilft allein die Emanzipation der
Frauen und ihr ungehinderter
Zugang zu Verhütungsmitteln.
Von Robert Engelman

JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE

In einem Krankenhaus in Rabai (Kenia)


lauschen Frauen einem Vortrag über
die »Pille danach« und andere Möglich­
keiten der Familienplanung.

WWW.SPEK TRUM .DE 67


D
ie Erde ist ein begrenztes System: Je mehr Men- liarden. Der unvorhergesehene Zuwachs stammt fast aus-
schen auf unserem Planeten leben, desto heftiger schließlich aus Afrika.
tobt der Wettstreit um knappe Ressourcen. Die Die extreme Bevölkerungszunahme stört wirtschaftliche
Erdbevölkerung wächst zwar stetig weiter, aber Entwicklung und politische Stabilität. Vielen Ländern Afrikas
die Trends der vergangenen Jahrzehnte stimmen optimis- mangelt es jetzt schon an Wasser, fruchtbaren Böden oder ei-
tisch. Im weltweiten Durchschnitt bringt jede Frau heutzuta- ner funktionierenden Regierung. Immer heftigere Konkur-
ge 2,5 Kinder zur Welt – nur noch halb so viele wie Anfang der renz um Nahrung und Arbeit schafft Spannungen, die nicht
1950er Jahre. In 40 Prozent aller Länder liegt die Fruchtbar- nur die heimische Versorgung gefährden, sondern auch die
keitsziffer nicht über jenen 2,1 Kindern pro Frau, bei denen natürlichen Ressourcen anderer Kontinente – insbesondere,
die Bevölkerungszahl konstant bleibt. wenn Afrikaner beginnen, scharenweise die Heimat zu ver-
Die große Ausnahme ist Afrika. Dort gebiert jede Frau lassen. Diesen Wunsch äußern nicht weniger als 37 Prozent
durchschnittlich 4,7 Kinder, und die Bevölkerung wächst fast aller jungen Schwarzafrikaner, meist in der Hoffnung auf Ar-
dreimal schneller als im Rest der Welt. Der große Kontinent, beit im Ausland. Allein 2015 ertranken hunderte Afrikaner
aus dem einst unsere Gattung hervorging, sieht einer düste- beim Versuch, nach Europa zu fliehen.
ren Zukunft entgegen. Die Fertilitätsrate – definiert als die Die Welt muss Afrika helfen, sein Bevölkerungswachstum
Anzahl der Lebendgeburten einer Frau – verharrt in fast je- zu bremsen. Von den 1960er Jahren an drängten internatio-
dem der 54 Länder Afrikas auf hohem Niveau. Traditionell nale Stiftungen und Hilfsorganisationen die örtlichen Regie-
gelten große Familien als erstrebenswert, denn der zahlrei- rungen, »etwas zu unternehmen«. Dieses Etwas bestand
che Nachwuchs leistet billige Landarbeit und hohe Kinder- meist aus Investitionen in Programme zur Familienplanung,
sterblichkeit fällt weniger ins Gewicht. die aber nicht mit dem übrigen Gesundheitssystem vernetzt
Heute erreichen jedoch viel mehr Babys als früher das Er- waren, sowie aus Regierungsappellen nach dem Motto »Klei-
wachsenenalter und werden selbst Eltern. Die fast 1,2 Milliar- ne Familien sind besser«. Doch ab Mitte der 1990er Jahre ver-
den Bewohner Afrikas sind zur Hälfte Kinder oder Jugendli- stummten die Appelle. Kritik am Bevölkerungswachstum
che. Diese Altersverteilung wirkt als Treibsatz eines beispiel- galt nun als politisch inkorrekt und als Zeichen von man-
losen Bevölkerungswachstums. Nach neuen demografischen gelndem Kulturverständnis. Die internationalen Geldgeber
Berechnungen wird sich die Einwohnerzahl Afrikas bis zum konzentrierten sich auf Gesundheitsreformen, insbesondere
Ende des Jahrhunderts verdrei- oder gar vervierfachen. auf den Kampf gegen Aids und andere tödliche Krankheiten.
Früher rechnete man für 2100 mit zwei Milliarden Men-
schen in Afrika. Diese Modelle unterstellten eine zügig fal- Die Frauen ermächtigen
lende Fertilitätsrate, doch in Wirklichkeit gehen die Geburten­ Es ist höchste Zeit, wieder vom Bevölkerungsproblem zu re-
ziffern nur sehr zögernd und ungleichmäßig zurück. Neu­ den. Erfahrungsgemäß genügt es nicht, den Frauen bloß
erdings prognostizieren die Vereinten Nationen deshalb Zugang zu wirksamen Verhütungsmitteln zu verschaffen
atemberaubende Zahlen zwischen 3 und 6,1 Milliarden. Selbst und sie über deren Gebrauch aufzuklären. Auf Dauer wir­-
die sehr vorsichtige Schätzung des in Österreich ansässi­- ken nur emanzipatorische Maßnahmen: Schulbildung für
gen Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse Mädchen und Frauen sowie soziale und rechtliche Gleich-
(IIASA) kommt auf 2,6 Milliarden. stellung mit den Männern. Zwar haben einige Länder hier
In den letzten Jahren musste die UNO die für 2100 voraus- und da damit angefangen, doch letztlich hilft nur ein mehr-
gesagte Höhe der Weltbevölkerung fortwährend anheben – gleisiger Ansatz, der den Frauen echte Chancen auf Bildung,
von anno 2004 geschätzten 9,1 Milliarden auf heute 11,2 Mil- Beruf, eigenes Einkommen, sozialen und politischen Status
verschafft.
AUF EINEN BLICK Eine menschliche Population lässt sich niemals »kontrol-
lieren«; ein solcher Versuch verletzt die Menschenrechte
OHNE DIE FRAUEN GEHT GAR NICHTS und funktioniert meist ohnehin nicht. Aber es gibt indirekte
und dennoch wirksame Methoden. Eine strategisch geplante

1 Bis 2100 könnte die Bevölkerung Afrikas von heute 1,2 Milliar-
den auf 3 oder gar mehr als 6 Milliarden steigen, falls es bei den
hohen Geburtenziffern bleibt. Das unerwartet starke Bevölke-
Serie von Maßnahmen kann den Wettbewerb um Ressour-
cen mildern, Konflikte entschärfen und die Lebensqualität
rungswachstum gefährdet die Lebensgrundlagen – nicht nur in erhöhen – für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer.
Afrika. Etliche Messstatistiken zeichnen derzeit ein düsteres Bild

2 Ein deutlicher Rückgang der Geburtenziffer lässt sich nur er-


reichen, wenn die Frauen bessere Bildungs- und Berufschancen
sowie mehr soziale und politische Mitsprache bekommen. Außer-
von Afrika. Trotz wirtschaftlicher und politischer Fortschrit-
te herrschen vielerorts niedrige Lebenserwartung, große Ar-
dem brauchen sie leichteren Zugang zu Verhütungsmitteln. mut und Mangelernährung. Die Ernteerträge gehören zu
den niedrigsten der Welt. Südlich der Sahara führt die Über-
3 Die Männer müssen lernen, über die Anzahl ihrer Kinder nicht
allein zu entscheiden. Und sie müssen aufhören, ihren Frauen
Gewalt anzutun, sobald diese Verhütung praktizieren.
weidung durch Nutztiere zur Ausbreitung der Wüsten; das
zwingt nomadisch lebende Hirtenvölker, in Bauernland ein-
zudringen, während beide Bevölkerungsgruppen weiter

68  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


wachsen. Ägypten und Äthiopien rasseln mit dem Säbel; sie kanische Staaten – Sudan, Südsudan, Somalia und die Zen­
streiten um das Wasser des Nils, von dem einst elf Nationen tral­afrikanische Republik – als die instabilsten Länder der
gut leben konnten. Laut einer Analyse aus dem Jahr 2010 lie- Welt: Sie seien am unfähigsten, ihr Gebiet zu verwalten und
gen die vier wasserärmsten Länder der Welt in Afrika. ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten.
Der Streit um immer knappere Ressourcen schürt Terro- Wie sähe der Erdteil erst mit zwei Milliarden Menschen
rismus und Bürgerkriege. Auf der kenianischen Insel Lamu aus – oder gar mit sechs Milliarden? Andere Kontinente bieten
wurden im Juli 2014 bei einem Streit zwischen Christen und kaum vergleichbare Bedingungen. Asien hat zwar 2007 die
Muslimen um Landbesitz 80 Menschen ermordet. Manche Vier-Milliarden-Marke überschritten, verfügt aber über 50
Experten erklären auch den Aufstieg der islamistischen Ter- Prozent mehr Landmasse und im Ganzen über ein beträcht-
rorgruppe Boko Haram in Nigeria zumindest teilweise mit lich höheres Entwicklungsniveau. Allerdings sind auch in Asi-
dem Streit von Hirten und Bauern um das austrocknende en riesige Landflächen gekennzeichnet durch verarmte Acker-
Buschland der Sahelzone. In ganz Zentralafrika wächst die Ag- böden, fallende Grundwasserspiegel, mangelnde Ernährungs-
gressivität junger Männer, denen sich kaum Arbeitschancen sicherheit und gesundheitsschädliche Luftverschmutzung.
bieten. »Wenn es mehr Jobs gäbe, vor allem in der Landwirt- Ein enormer Wandel steht Afrika mit der unkontrollierten
schaft, hätten wir weniger Frustration und Streit in Plateau«, Ausbreitung riesiger Städte bevor. Durch Landflucht und
sagt die Regierungsberaterin Becky Adda-Dontoh über einen Slumbildung verstädtert der Kontinent rapide. Heute leben
Bundesstaat Nigerias, in dem Boko Haram besonders aktiv ist. fast 500 Millionen Menschen in Ballungszentren; bis 2050
The Fund for Peace, eine Nichtregierungsorganisation mit könnte diese Zahl nach UN-Schätzungen auf mehr als
Sitz in der US-Hauptstadt Washington, bezeichnet vier afri- 1,3 Milliarden steigen. Die Demografen Jean-Pierre Guengant

16 Milliarden Gesamtbevölkerung
Afrika treibt das
globale Bevölkerungs-
wachstum an
14

Wegen des rapiden Wachstums in Afrika


mussten die Vereinten Nationen ihre Prog-
nose der Weltbevölkerung für 2100 dras-
12
tisch nach oben korrigieren: von 9,1 auf Bliebe die Geburtenziffer in Afrika
11,2 Milliarden Menschen. Fast die gesamte unverändert hoch, würden auf
dem Kontinent im Jahr 2100 fast
Zunahme verursacht Afrika (orange), wo die 16 Milliarden Menschen leben
Prognose für 2100 zwischen 3 und 6,1 Mil­ (dünne orange­farbene Linie) – mehr
10 als das Doppelte der heutigen

DEPARTMENT OF ECONOMIC AND SOCIAL AFFAIRS, POPULATION DIVISION, 2015. (ESA.UN.ORG/UNPD/WPP/PUBLICATIONS/FILES/KEY_FINDINGS_WPP_2015.PDF)


liarden liegt. Obwohl der Mittelwert der Weltbevölkerung. Demografen hal-
ten das zwar nicht für realistisch,
Schätzungen für Asien (dicke rote Linie) mit aber die Projektion zeigt, wie stark

TIFFANY FARRANT-GONZALEZ, NACH: WORLD POPULATION PROSPECTS: THE 2015 REVISION, KEY FINDINGS AND ADVANCE TABLES. UNITED NATIONS,
4,9 Milliarden etwas höher ist als die die Fruchtbarkeitsziffer das Be­-
völ­kerungswachstum hochtreibt.
4,4 Millionen für Afrika, wird die Bevölke-
8
rung in Asien insgesamt abnehmen, wäh-
mittlere
rend sie in Afrika immer weiter zu wach­- bei gleich- Prognose
sen droht. Afrika bleibender
Geburtenziffer
Asien
6
Europa
Lateinamerika
Nordamerika
Ozeanien
4 Bandbreite
der Prognose

1950 2000 2015 2050 2100

WWW.SPEK TRUM .DE 69


vom französischen Institut de Recherche pour le Développe- Musimbi Kanyoro, Präsidentin des Global Fund for Women,
ment in Marseille und John May vom Population Reference verlangte kürzlich »zur Verlangsamung des Bevölkerungs-
Bureau in Washington sagen ein explosives Wachstum afri- wachstums rechtmäßige, kulturell angepasste Maßnahmen,
kanischer Großstädte voraus: In Lagos, der größten Stadt Ni- welche die Menschenwürde und eine umsichtige Entwick-
gerias, werde die Einwohnerzahl von 11 Millionen im Jahr lung fördern«.
2010 auf 40 Millionen bis 2050 steigen, und in Kinshasa, der Derzeit verwenden nur 29 Prozent aller verheirateten Afri-
Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, im glei- kanerinnen in gebärfähigem Alter moderne Verhütungsmit-
chen Zeitraum von 8,4 auf 31 Millionen. tel; auf allen anderen Kontinenten übersteigt der Anteil
Eine Szene aus dem Film »Der Ewige Gärtner« von 2005 durchweg 50 Prozent. Einen Übergang zu Wohlstand bis 2050
veranschaulicht diese Zukunft durch Kameraschwenks über halten die Demografen Guengant und May nur dort für mög-
das Kibera-Viertel der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Mit lich, wo die Verhütungsrate 60 Prozent erreicht. Mehr als ein
einer halben bis einer Million Menschen – niemand kennt Drittel aller Schwangerschaften in Afrika sind unbeabsich-
die wahre Zahl – ist Kibera der größte Slum des Kontinents. In tigt; in Schwarzafrika nutzen 58 Prozent der Frauen zwischen
jede Richtung erstrecken sich Wellblechhütten bis zum Hori- 15 und 49 Jahren, die sexuell aktiv sind und erklärtermaßen
zont. Nach heutigen Prognosen werden bis 2050 Hunderte nicht schwanger werden wollen, keine modernen Verhü-
solcher Armutssiedlungen aus dem Boden schießen. tungsmethoden.
Die Aussicht auf einen übervölkerten, zerstrittenen und
verstädterten Kontinent gibt selbst den Staatsoberhäuptern Erste Erfolge: Mauritius, Tunesien
zu denken, die traditionell große Familien befürworten. 2012 An sich fördert Verstädterung den Trend zu kleineren Fami­
forderten die Präsidenten von Äthiopien und Ruanda mehr lien. In der Stadt kosten Kinder mehr Geld und tragen oft
Familienplanung, »um Armut und Hunger zu reduzieren, na- nichts zum Haushaltseinkommen bei, was die Eltern moti-
türliche Ressourcen zu schonen und den Folgen von Klima- viert, sich für Familienplanung zu interessieren. Doch das al-
wandel und Umweltzerstörung zu begegnen«. Die Kenianerin lein reicht natürlich nicht. Wie Erfahrungen gerade in Afrika

1950 – 1955 Fertilitätsrate 2010 –2015 Die Geburtenziffern


8 (lebend geborene Kinder pro Frau)
müssen sinken
Niger

Die durchschnittliche Fertilitätsrate – die An-


7
zahl der lebend geborenen Kinder pro Frau –
hat zwar in Afrika seit Beginn der 1950er Jah-
Tschad re leicht abgenommen, doch in jeder anderen

DEPARTMENT OF ECONOMIC AND SOCIAL AFFAIRS, POPULATION DIVISION, 2015. (ESA.UN.ORG/UNPD/WPP/PUBLICATIONS/FILES/KEY_FINDINGS_WPP_2015.PDF)


6 Weltregion war der Rückgang viel stärker
Gambia (schwarze Linien). In Afrika beträgt die Ge-

TIFFANY FARRANT-GONZALEZ, NACH: WORLD POPULATION PROSPECTS: THE 2015 REVISION, KEY FINDINGS AND ADVANCE TABLES. UNITED NATIONS,
burtenziffer noch immer 4,7 Kinder, während
5
sie nirgendwo sonst über 2,5 liegt. In man-
Afrika
chen afrikanischen Ländern (orangefarbene
Linien) bleibt sie extrem hoch: 7,6 in Niger; 6,3
im Tschad; 5,8 in Gambia. Hingegen konnte
4
Mauritius seine Rate von 6 auf 1,5 senken,
und Tunesien von 6,6 auf 2,2. Damit eine Be-
Libyen völkerung generell nicht immer weiter
3 Ozeanien wächst, muss sich die Fertilitätsrate auf dem
Asien so genannten Ersatzniveau von 2,1 Kindern
einpendeln: Die Nachkommen ersetzen dann
Tunesien
im Schnitt gerade ihre Eltern.
2 Lateinamerika
Ersatzniveau: 2,1 Kinder Nordamerika
Europa
1 afrikanische Länder
Mauritius
afrikanische Länder mit
besonders stark veränderter Geburtenziffer
Weltregionen
0

70  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE
Lokale Gesundheitsberater können alte Denkmuster besonders

JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE


erfolgreich ändern. In Shompole (Kenia) erklärt eine Beraterin
jungen Müttern vom Volk der Massai den Gebrauch von Kondo­
men (oben). In Laniar (Senegal) demonstriert eine Aktivistin,
wie ein Intrauterinpessar funktioniert (rechts).

zeigen, müssen die Frauen mehr Kontrolle über ihr Leben


und das ihrer Familie erlangen.
Im arabisch geprägten Norden Afrikas sowie in Südafrika
und seinen Nachbarstaaten ist die Fruchtbarkeitsrate auf un-
ter 3 zurückgegangen; sie hat dort quasi Weltdurchschnitts-
niveau erreicht. Doch im riesigen Bereich von Ost-, Zentral-
und Westafrika liegen die Geburtenziffern zwischen 3 und 7
oder gar darüber. Die spärlichen Lichtblicke sind Resultat nem für ein muslimisches Land kaum vorstellbaren Maß.
jahrelanger Arbeit. Bourguiba gewährte den Frauen volle Bürgerrechte, ein-
Die niedrigsten Geburtenraten finden sich heute in einem schließlich des Rechts, zur Wahl zu gehen und kein Kopftuch
halben Dutzend kleiner Inselstaaten. Auf der östlich von Ma- zu tragen. Er führte die allgemeine Schulpflicht ein, verbot
dagaskar gelegenen Insel Mauritius überstieg die Fruchtbar- die Vielweiberei, erhöhte das Heiratsalter für Mädchen auf
keitsziffer noch in den 1960er Jahren den Wert 6; heute be- 17 Jahre und gab Frauen das Recht zur Scheidung. Er legali-
trägt sie 1,5 – vergleichbar mit Europa oder Japan. Am steils- sierte die Verhütung und subventionierte Abtreibungen für
ten fiel die Familiengröße in den 1960er und frühen 1970er kinderreiche Frauen. Mitte der 1960er Jahre boten mobile Fa-
Jahren, obwohl die Wirtschaft stagnierte. Dafür genossen milienplanungskliniken im ganzen Land orale Verhütungs-
Frauen wie Männer auf Mauritius eine relativ gute Schulbil- mittel an.
dung, und Anfang der 1960er Jahre setzte die Regierung ge- Bourguiba war gewiss kein Demokrat: Die von ihm streng
gen zahlreiche Widerstände, vor allem von Katholiken und kontrollierte Nationalversammlung wählte ihn 1975 zum
Muslimen, die Förderung der Familienplanung durch. Bin- Präsidenten auf Lebenszeit. Doch seine Sozialreformen blie-
nen zwei Jahrzehnten benutzten vier von fünf Frauen in ge- ben auch nach seiner Absetzung anno 1987 in Kraft. In Tune-
bärfähigem Alter Verhütungsmittel. sien fiel die Geburtenziffer von vormals 7 Kindern auf nur
1957 verbesserte Tunesiens erster Präsident Habib Bour- noch 2 zu Beginn der 2000er Jahre; seitdem steigt sie aller-
guiba den rechtlichen Status von Frauen und Müttern in ei- dings wieder leicht an. Etwas weniger drastische präsidiale

WWW.SPEK TRUM .DE 71


Eingriffe haben auch in Kenia, Ghana und Südafrika die Zif-

JONATHAN TORGOVNIK / GETTY IMAGES REPORTAGE


fern gesenkt.
Wie diese Beispiele zeigen, liegt der Schlüssel zu kleineren
Familien in der wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Frau
und ihrer rechtlichen Gleichstellung mit dem Mann. Bloßes
Wachstum der Volkswirtschaft senkt die Geburtenziffer
nicht nachhaltig.

Mehr Bildung schafft kleinere Familien


Wie lassen sich die Einzelerfolge auf ganz Afrika übertragen?
Zunächst einmal: Nicht die Regierung, sondern die Frau hat
das Recht, zu entscheiden, wie viele Kinder sie haben möch-
te. Eine von ihrer Regierung und den Mitmenschen als
gleichberechtigt behandelte Frau legt eher selbst fest, ob und
wann sie schwanger wird. Das hat automatisch kleinere Fa-
milien zur Folge.
Selbstständigkeit setzt vor allem Bildung voraus. In wei-
terführenden Schulen erfahren Mädchen und junge Frauen Hausbesuche sind wichtig, um auch die Bewohner abgelegener
nicht nur etwas über Ernährung, Medizin und Impfung. Ih- Dörfer über Familienplanung zu informieren. Hier leistet eine
nen eröffnen sich ungeahnte wirtschaftliche, soziale, politi- Mitarbeiterin der William und Flora Hewlett Foundation im Dorf
sche und künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten. Je mehr Mbale (Uganda) Aufklärungsarbeit.
sie über die Welt da draußen, ihren eigenen Körper und Mög-
lichkeiten zur Gestaltung ihres eigenen Schicksals erfahren,
desto stärker wächst ihr Wunsch nach einer kleineren Fami- berechtigten Bargeld auszahlt. Das Ergebnis: bessere Schul-
lie. Nach einer IIASA-Studie bekommen Afrikanerinnen, die abschlüsse, spätere sexuelle Aktivität, höheres Heiratsalter –
nie zur Schule gegangen sind, im Durchschnitt 5,4 Kinder, und weniger Teenagerschwangerschaften.
Frauen mit Grundschulbildung hingegen 4,3. Der Abschluss Die äthiopische Regierung rekrutierte kürzlich 38 000 Ge-
einer weiterführenden Schule bringt einen Rückgang der sundheitshelfer, die nun von Dorf zu Dorf radeln und damit
Kinderzahl auf 2,7 – und Frauen mit Hochschulabschluss be- die ländlichen Gebiete erreichen, in denen 80 Prozent der Be-
kommen im Schnitt 2,2 Kinder. völkerung leben. Die Helfer bieten den Frauen – oder, falls
Auch die Bildung der jungen Männer ist wichtig. Nach Ab- der Mann mitmacht, den Paaren – Aufklärungsmaterial und
solvieren eines umfassenden Sexualkundeunterrichts voll- Verhütungsmittel an. In den vergangenen drei Jahren sank
ziehen Mädchen und Jungen den ersten Geschlechtsverkehr dadurch die Fruchtbarkeitsziffer von 4,8 auf 4,1. Ähnlich ein-
später, wodurch es seltener zu frühen und ungewollten drucksvolle Geburtenrückgänge erzielen manche Gemein-
Schwangerschaften kommt. Im Gefolge der Aids-Pandemie den Kenias und Ghanas und sogar die kongolesische Millio-
verbreiteten sich Aufklärungsprogramme zumindest im süd- nenstadt Kinshasa.
lichen und östlichen Afrika. Die Qualität solcher Programme Doch vielerorts denken Afrikas Führungseliten nicht
schwankt aber stark, und in weiten Teilen des Kontinents feh- wirklich um. Die meist männlichen Staatschefs scheinen oft
len sie ganz. immer noch zu glauben, je mehr Kinder, desto besser; und
Sexualaufklärung und Schulbildung wirken jedoch auf Gleichberechtigung sei von Übel. »Die afrikanischen Präsi-
Dauer nur, wenn Regierung und gesellschaftliche Umwelt denten müssten einmal eine Familienplanungsklinik besu-
die Familienplanung unterstützen. Selbst Akademikerinnen chen«, meint Demograf May. »Das würde ihre Einstellung
können schließlich ihre Verhütungsmittel nicht zu Hause fa- ändern. Aber sie gehen lieber in die Impfkliniken.«
brizieren.
Nach und nach sehen das immer mehr afrikanische Staats- Die Gewalt der Männer
oberhäupter ein. Ugandas Präsident Yoweri Museveni wollte Im Leben einer Frau in Afrika hängt viel von ihrem Mann ab.
lange nichts von Familienplanung wissen, doch im Juli 2014 Leider ist sie oft gezwungen, Familienplanung heimlich zu
veranstaltete er eine panafrikanische Konferenz zum Thema. praktizieren, beispielsweise durch empfängnisverhütende
In Kenia und Uganda ermöglicht ein staatliches Gutschein- Injektionen, weil der Mann die alleinige Entscheidung über
system armen Frauen und Ehepaaren den Besuch von Fa­ die Kinderzahl beansprucht. Die Männer wünschen sich ge-
milienplanungskliniken, und in Zimbabwe fördert die Re­ nerell ein bis drei Kinder mehr als die Frauen – kein Wunder,
gierung Familienplanung neben einer für Mutter und Kind wenn man bedenkt, wer schwanger wird, gebiert und sich
kostenlosen Gesundheitsversorgung. In Malawi unterstützt hauptsächlich um die Kinder kümmern muss.
ein Versuchsprogramm den regelmäßigen Schulbesuch, in- Solche Interessengegensätze äußern sich manchmal auf
dem es für diesen Fall an die Mädchen oder ihre Erzie­hungs­ hässliche Weise. Einer Frau, die Verhütung anstrebt oder prak-

72  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


tiziert, droht Missbrauch durch ihren männlichen Partner. riesig sein Land sei – größer als Texas – und dass darin noch
Gemäß einer nigerianischen Studie von 2011 berichten 30 Platz für viel mehr Menschen sei.
Prozent aller verheirateten Frauen von sexueller, physischer
oder emotionaler Gewalt in der Ehe. Besonders häufig tritt Anstöße geben, ohne Zwang auszuüben
häusliche Gewalt dort auf, wo die Frauen Grundschulbildung Bevölkerungsexperte Guengant fordert eine mehrgleisige
besitzen und verhüten. Aber auch ohne physische Gewalt Strategie, die ein starkes Engagement der Regierung, die Be-
wird oft der Wunsch einer Frau nach weniger Geburten teiligung lokaler Behörden und finanzielle Unterstützung
durchkreuzt, wenn etwa der Mann ihr untersagt, die Pille einschließt; doch oft halten die Regierungen ihre Verspre-
zu nehmen, und die örtliche Familienplanungsklinik keine chen nicht ein. 2012 erklärte ein hochrangiger Vertreter des
brauchbare Alternative anbietet. ghanaischen Gesundheitsministeriums bei einer internatio-
Die traditionelle Haltung ändert sich nur langsam. Doch nalen Konferenz in London, die staatliche Krankenversiche-
viele Männer, die ich auf meinen Reisen durch Afrika inter- rung werde die privaten Ausgaben für Familienplanung er-
viewte, erzählten wehmütig von den Zeiten, als es weniger statten. Drei Jahre später berät die Regierung noch immer
Menschen und mehr Wälder gab, und manchmal sahen sie in über die praktische Umsetzung. Dieses Versagen sei in Afrika
der Geburtenkontrolle ein Mittel gegen diese Entwicklung. fast die Regel, beklagt Guengant. »Es muss einen Anstoß ge-
Einige Gesprächspartner zollten Frauen kollegialen Respekt. ben, entweder von der Regierung oder aus der Gesellschaft
»Die Frauen im Stadtrat sehen die Dinge anders, und sie äu- heraus, oder beides. In Afrika fehlt der Anstoß.«
ßern Ideen, auf die keiner von uns gekommen wäre«, meinte Damit ist keinesfalls staatlicher Zwang zur Geburtenkont-
etwa ein männliches Ratsmitglied in Tansania. »Jetzt möch- rolle gemeint. Außer in China, wo auch die neue Zwei-Kind-
ten wir sie nicht mehr verlieren.« Allmählich verbreitet sich Politik die Fortpflanzungsfreiheit noch immer einschränkt,
dieses Umdenken. Tansania berät derzeit über einen Verfas- fordert niemand eine scharfe Grenze der Familiengröße.
sungsentwurf, der den Frauen unter anderem gleiche Eigen- Guengant wünscht sich aber Druck auf die Regierenden, da-
tums- und Erbrechte einräumt. mit sie mutig und öffentlich für ein langsameres Bevölke-
Frauen erobern sogar führende politische Positionen. Ru- rungswachstum eintreten.
anda besitzt nun ein Gleichstellungsministerium sowie ein Kulturelle Einstellungen sind veränderbar – oft sogar sehr
Parlament mit dem weltweit höchsten Frauenanteil: Fast schnell, wie der Geburtenrückgang in Tunesien und Mauriti-
zwei Drittel der Abgeordneten sind weiblich. Joyce Banda war us beweist. Das Ziel ist klar: Alle Frauen müssen die soziale
von 2012 bis 2014 Präsidentin von Malawi, Ellen Johnson Sir- Unterstützung und die Mittel zur Vermeidung unerwünsch-
leaf ist seit 2006 Präsidentin von Liberia. Als erste Frau welt- ter Schwangerschaften bekommen, ohne Druck oder Zwang.
weit leitete Ngozi Okonjo-Iweala in Nigeria sowohl das Au- Das ist der einzige gangbare und ethisch vertretbare Weg, um
ßen- als auch das Finanzministerium, und die Südafrikane- auch in Afrika eines Tages das Bevölkerungswachstum zu
rin Nkosazana Dlamini Zuma ist Kommissionsvorsitzende stoppen und den Menschen ein Leben in Wohlstand und Ein-
der Afrikanischen Union. Solche Vorbilder machen afrikani- klang mit der Umwelt zu ermöglichen. Ÿ
schen Schulmädchen Mut, ihr eigenes Leben in die Hand zu
nehmen.
DER AUTOR
Andererseits gibt es auch Beispiele für hartnäckige Stag-
nation. Der westafrikanische Staat Niger zählt zu den ärms- Robert Engelman leitet am Worldwatch Insti-
ten Ländern der Welt. Die Fruchtbarkeitsziffer liegt bei bei 7,5 tute in Washington die Erforschung des Zu-
sammenhangs zwischen Familienplanung und
Kindern pro Frau und hat sich seit 1950, dem Beginn der Er- ökologischer Nachhaltigkeit. Er schreibt seit vie-
hebungen, kaum verändert. In Umfragen sagen Frauen wie len Jahren für US-Zeitungen über Gesundheits-
Männer, ihr Ideal wären noch größere Familien. Die riesige fragen, Naturwissenschaft und Umwelt und ist
Autor des Buchs »More: Population, Nature, and
Kinderzahl hat vielfältige Ursachen, unter anderem religiöse What Women Want«, Island Press, Washing-
Verhaltensregeln sowie die hohe Kindersterblichkeit. ton 2008.
Außerdem lebt die nigrische Bevölkerung zum gro-
QUELLEN
ßen Teil in ländlichen Gebieten mit schlechten Böden und
bleibt auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen. Für den Casterline, J. B. und El-Zeini, L. O.: Unmet Need and Fertility
Mann gilt eine Familie mit mehreren Frauen und vielen Kin- Decline: A Comparative Perspective on Prospects in Sub-Saharan
Africa. In: Studies in Family Planning 45, S. 227 – 245, 2014
dern als Statussymbol, während die Frau ihren niedrigen
Guengant, J.-P. und May, J. F.: African Demography. In: Global
Status nur durch große Fruchtbarkeit aufbessern kann. Wie Journal of Emerging Market Economies 5, S. 215 – 267, 2013
der Demograf John Casterline von der Ohio State University Sippel, L. et al.: Africa’s Demographic Challenges: How a Young
in Columbus betont, übernimmt in der Regel die ganze Population Can Make Development Possible. Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung, 2011. Online unter
Großfamilie die Kinderaufzucht – was es wiederum den www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Afrika/Africas_de-
Eltern erleichtert, noch mehr Kinder in die Welt zu setzen. mographic_challenges.pdf
Mamadou Tandja, der bis 2010 amtierende Präsident von
Niger, illus­trierte gern mit weit ausgebreiteten Armen, wie Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408643

WWW.SPEK TRUM .DE 73


ENERGIETECHNIK

Die Batterie der Zukunft


Der Ausbau von Wind- und Solarkraftwerken birgt ein ungelöstes Problem:
Wie lässt sich der unregelmäßig erzeugte Strom effizient zwischenspeichern?
Redox-Flow-Akkus könnten die Antwort geben.
Von Neil Savage

W
enn es nach der Firma Avista Utilities in Pull- bieten dafür nicht die nötige Kombination aus hoher Kapazi-
man im US-Bundesstaat Washington geht, tät und raschem Zugriff. So ist eine Autobatterie schnell er-
wurde Anfang 2015 die Tür zur Energiespei- schöpft, wenn der Fahrer an einem kalten Morgen wieder-
cherung der Zukunft aufgestoßen. Damals holt den Anlasser betätigt. Und das Laden eines Elektroautos
nahm das Unternehmen den neuesten Typ von Redox-Flow- dauert mehrere Stunden.
Akku in der größten solchen Anlage der westlichen Welt in Redox-Flow-Akkus stellen eine viel versprechende Alter-
Betrieb. Wiederaufladbare Flussbatterien, wie die Geräte native dar. Sie können große Energiemengen über lange Zeit
auch heißen, speichern Energie in flüssigkeitsgefüllten Tanks. verlustfrei speichern und bei Bedarf rasch wieder abgeben.
Und es sieht so aus, als könnten sie das preiswerter erledigen Da die Energie in einer Flüssigkeit und nicht in einem Fest-
als herkömmliche Akkus. Außerdem passen sie besser zu körper steckt, sind sie zudem sicherer als konventionelle Sys-
Stromnetzen, die zunehmend von schwankenden Energie- teme. Und weil die Flüssigkeit in externen Tanks aufbewahrt
quellen wie Solar- und Windkraft gespeist werden. wird, lässt sich die Speicherkapazität bei Bedarf problemlos
Die Anlage in Pullman besteht aus großen weißen Tanks erhöhen. Vor allem aber dürften Redox-Flow-Akkus über ihre
im Gesamtvolumen von zwei Sattelschleppern und spei- Laufzeit gerechnet wesentlich preiswerter sein als traditio-
chert vier Megawattstunden an Energie – genug, um vier nelle Batterien, wenn Forscher erst einmal die optimale Kom-
Durchschnittshaushalte einen Monat lang mit Elektrizität zu bination von Chemikalien ausfindig gemacht haben.
versorgen. Zwar trägt die Installation nur einen kleinen Teil Letztlich handelt es sich um eine spezielle Art von Brenn-
zur Kapazität des angeschlossenen Stromnetzes bei. Den- stoffzellen, die aus zwei Tanks bestehen. Jeder enthält ein
noch ist sie als neue, zukunftsträchtige Generation von Ener- energiereiches Material – in Form einer Metallverbindung
giespeichersystemen von großer Bedeutung. oder eines Polymers –, das in einer Flüssigkeit gelöst ist. Der
Da Wind- und Solarkraft immer mehr zur Stromversor- eine Tank bildet den negativen und der andere den positiven
gung der Welt beitragen, braucht es effiziente Wege, diesen Pol der Batterie. Beim Laden und Entladen werden die Flüs-
unregelmäßig anfallenden Strom zwischenzuspeichern. sigkeiten durch eine Vorrichtung gepumpt, die aus Elektro-
Herkömmliche Systeme wie Lithiumionen- oder Bleiakkus den und einer Membran dazwischen besteht. Letztere ver-
hindert, dass sich die Lösungen vermischen, erlaubt aber den
AUF EINEN BLICK Übertritt von Ionen. Dabei findet eine so genannte Redox­
reaktion statt – eine Kombination aus Oxidation und Reduk-
FLEXIBLE STROMPUFFER tion –, in deren Verlauf Elektronen über einen externen
Stromkreis von einem Tank zum anderen fließen.
1 Herkömmliche Lithiumionen- oder Bleiakkus haben nicht die
nötige Kapazität und Leistung, um als Zwischenspeicher
Schwankungen im Stromangebot regenerativer Energiequellen
Die Standardvariante des Redox-Fluss-Akkus arbeitet mit
Salzen des Übergangsmetalls Vanadium (V), die in einer Säu-
wirksam auszugleichen. re gelöst sind. Beim Entladen werden an der negativen Elek­
+

2 Redox-Flow-Akkus stellen eine viel versprechende Alternative


dar. Sie können große Mengen an Elektrizität in Form
energiereicher Lösungen über lange Zeit verlustfrei speichern und
trode zweifach positiv geladene Vanadiumionen (V 2 ) zu
+
dreifach positiv geladenen oxidiert (V 3 ). Die dabei abgege-
bei Bedarf rasch wieder zur Verfügung stellen. benen Elektronen wandern durch den externen Stromkreis,
wo sie das jeweils angeschlossene elektrische Gerät mit
3 Außerdem sind sie sicherer als herkömmliche Batterien – und
mit den richtigen Chemikalien, nach denen Forscher allerdings
noch suchen, wohl auch preiswerter.
Strom versorgen, zur positiven Elektrode. Dort gehen sie auf
eine andere Art von Vanadiumionen über, die formal fünf-
+
fach positiv geladen sind (V 5 ), und reduzieren diese zu vier-
4 Auch als Batterien für Elektroautos böten Redox-Flow-Akkus
Vorteile.
4+
fach positivem V . Beim Laden des Akkus kehren sich die be-
schriebenen Vorgänge um.

74  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


TECHNIK & COMPUTER

Xiaoliang Wei vom Pacific Northwest National


Laboratory in Richland (US-Bundesstaat Washing-
ton) prüft zwei Flüssigkeiten auf ihre Eignung
als Elektrolyte für einen Redox-Flow-Akku.

PACIFIC NORTHWEST NATIONAL LABORATORY (PNNL)

WWW.SPEK TRUM .DE 75


Die beiden Pole eines Redox- Generator oder

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK, NACH: LIQUID ASSETS. IN: NATURE 526, S. S98-S99, 2015
Elektrogerät
Flow-Akkus bestehen aus
flüssigkeitsgefüllten Tanks.
Die Flüssigkeiten werden, – +
getrennt durch eine für Ionen
Tank Tank
durchlässige Membran, an
Elektroden vorbeigepumpt. Flüssigkeit Flüssigkeit
für für
Dort gehen die enthaltenen negativen positiven
Moleküle Reaktionen ein, bei Pol Pol
Elektrode Elektrode
denen sie Elektronen abge-
ben oder aufnehmen, die
durch einen äußeren Strom- Membran

kreis fließen.

Pumpen

Dieser Aufbau bietet einige grundlegende Vorteile. So sind ligt, um eine Flussbatterie mit 800 Kilometer Reichweite für
anders als bei herkömmlichen Akkus Energiemenge und Autos zu entwickeln – deutlich mehr als die 640 Kilometer, die
Leistung nicht gekoppelt. Wie viel Energie gespeichert ist, der Road­ster von Tesla Motors nach Angaben der Firma fahren
hängt vom Volumen des Tanks ab. Über die Leistung be- kann, bis sein Feststoffakku wieder aufgeladen werden muss.
stimmt dagegen die Elektrodenfläche. »Wenn Sie mehr Spei- Segre verwendet für seine Batterie Nanoteilchen aus Nickel
cherkapazität haben wollen, nehmen Sie einfach einen wei- und Nickelhydroxid in einem Elektrolyten auf Kaliumbasis.
teren Tank und befüllen ihn mit den Chemikalien«, erklärt Die günstigsten chemischen Komponenten zu finden und
Adam Weber, Chemieingenieur am Lawrence Berkeley Natio- sie geeignet zu kombinieren, um eine hohe Speicherkapazität,
nal Laboratory in Kalifornien. Höhere Leistung lässt sich da- eine lange Lebensdauer sowie gute Werte für Stromstärke und
gegen mit großflächigeren Elektroden erreichen – oder in- Spannung bei niedrigen Kosten zu erreichen: Das ist die große
dem man eine größere Zahl davon hintereinanderschaltet. Herausforderung beim Entwurf praxistauglicher Flussbatte­
Die beiden Lösungen, fachsprachlich Elektrolyte genannt, rien. Der Akku von Pullman sowie fünf andere Systeme mit
separat aufzubewahren ist außerdem sicherer. Herkömm­ noch höherer Leistung, von denen zwei in China und drei in Ja-
liche Batterien speichern eine Menge Energie auf kleinem pan installiert sind, verwenden allesamt in Schwefelsäure ge-
Raum, die unvermutet freigesetzt werden kann. Bei Fluss­ löstes Vanadium. Allerdings kann die Säure nicht beliebig vie-
batterien besteht kein solches Risiko. Zudem arbeiten die le Metallionen aufnehmen, was die Speicherkapazität pro Vo-
meisten mit wässrigen Lösungen, die nicht entflammbar lumeneinheit begrenzt. Zudem funktioniert die Batterie nur
sind – im Gegensatz etwa zu Lithiumionenakkus, die schon im Temperaturbereich zwischen 10 und 40 Grad Celsius. Dar-
Handys oder sogar Flugzeuge in Brand gesetzt haben. über oder darunter fällt das Vanadium als Pulver oder Gel aus.
Ein anderes Problem mit herkömmlichen Batterien ist, »Diese Niederschläge würden die Pumpen verstopfen, und
dass die Elektroden sich ausdehnen oder schrumpfen, wäh- der Akku wäre tot«, sagt Wei Wang, Materialforscher am Paci-
rend sie Ionen aufnehmen beziehungsweise abgeben. Das fic Northwest National Laboratory in Richland (US-Bundes-
führt mit der Zeit zu Materialermüdung und schlimmsten- staat Washington). Sein Team hat herausgefunden, dass eine
falls zum Bruch des Gehäuses. Bei Flüssigkeiten passiert so Mischung aus Schwefel- und Salzsäure Temperaturen zwi-
etwas nicht, weshalb Flussbatterien unbegrenzt haltbar sind. schen –5 und 60 Grad Celsius verträgt und überdies 70 Prozent
mehr Vanadium aufnimmt als herkömmliche Lösungen. Der
Attraktive Option für das Elektroauto Akku von Pullman nutzt diesen neuartigen Elektrolyten.
Zwar entwickeln die meisten Forscher Redox-Flow-Akkus für Dennoch hat Vanadium einen großen Nachteil: Es ist sel-
die Energiespeicherung in Stromnetzen. Doch gibt es auch ten und teuer. Nach einer Schätzung des amerikanischen
Überlegungen, sie in Elektroautos einzusetzen. Weil sie sich Energy Power Research Institute (EPRI) liegen die Kosten für
einfach durch den Austausch der Lösungen aufladen lassen, einen Redox-Flow-Akku auf Vanadiumbasis bei über 3000
muss man den Wagen nicht stundenlang an eine Stromquel- US-Dollar pro Kilowatt. Kalifornien mit solchen Batterien zu
le anschließen, damit er wieder fahrbereit ist. »Die Reich­ der bis 2020 angestrebten Speicherkapazität von 1,3 Giga-
weite spielt keine so große Rolle mehr, sofern ein dichtes watt zu verhelfen, würde demnach Investitionen von rund
Netz von Nachfüllstationen existiert«, meint Carlo Segre vier Milliarden Dollar erfordern. Auf der Suche nach preis-
vom Illinois Institute of Technology in Chicago. Die staatli- werteren Alternativen forscht Wang über Zink-Brom-Batteri-
che amerikanische Advanced Research Projects Agency – en. Zink ist wesentlich billiger als Vanadium und kann pro
Energy (ARPA-E) hat dem Physiker Forschungsmittel bewil- Atom gleich zwei Elektronen aufnehmen oder abgeben statt

76  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


nur einem. Wang verwendet es als Feststoff, so dass eine für die Synthese von Zucker in Blättern eine zentrale Rolle
Hälfte seiner Batterie nicht aus einer Lösung besteht. Den- spielt. Vor zwei Jahren stellte er eine metallfreie Flussbatterie
noch erlaube seine Hybridflussbatterie, wie er beteuert, vor, die auf der einen Seite aus Brom bestand und auf der an-
mehr Flexibilität als herkömmliche Systeme und besteche deren aus Anthrachinon-2,6-disulfonat (AQDS) – einem Mo-
durch ihre geringen Kosten und hohe Leistung. lekül, das unter anderem im Rhabarber vorkommt. Seither
Weber arbeitet ebenfalls mit Brom, ersetzt das Zink aber hat er weitere Chinone erprobt, um eines zu finden, das nicht
durch ein Gas, nämlich Wasserstoff. Dieser wird beim Entla- nur gut funktioniert, sondern auch preiswert herzustellen
den an der negativen Elektrode unter Abgabe eines Elektrons ist. »Die Kosten zu senken ist ein zentraler Punkt, und es auf
zum einfach positiv geladenen Ion oxidiert, das sich nach umweltfreundliche Weise zu tun, macht die Sache noch bes-
dem Passieren der Membran mit Bromidionen verbindet, ser. Ich denke, wir haben eine reelle Chance, beides zu schaf-
die an der positiven Elektrode bei der Reduktion des flüssi- fen«, sagt Aziz. Doch in der organischen Chemie lauern auch
gen Broms entstanden sind. Dieses System zählt zu den Re- Fallstricke. So können organische Moleküle eine Vielzahl an
dox-Flow-Akkus mit der höchsten unter Laborbedingungen Reaktionen eingehen, darunter solche, die unlösliche Teil-
erzielbaren Energiedichte. Und weil Wasserstoff billig ist, hat chen ergeben, was Gift für die Batterie wäre.
es auch bei den Kosten die Nase vorn. Kurzfristig dürften laut Chiang erst einmal größtenteils
herkömmliche Lithiumbatterien zum Zwischenspeichern
»Flüssiger Draht« aus Kohlenstoffnanopartikeln von Elektrizität für die Stromnetze dienen. Aber mehrere Ty-
Lithium ist als Bestandteil herkömmlicher Batterien zwar pen von Redox-Flow-Akkus könnten ihnen durch eine attrak-
der schärfste Konkurrent der Redox-Flow-Akkus, könnte bei tive Kombination aus Effizienz, Sicherheit und niedrigem
diesen aber ebenfalls eine Rolle spielen. So entwickelt der Preis zunehmend Konkurrenz machen. Wenn es Segre oder
Materialforscher Yet-Ming Chiang vom Massachusetts Insti- anderen gelingt, praktikable Flussbatterien für Elektroautos
tute of Technology in Cambridge eine Flussbatterie auf der zu entwickeln, sollten sich solche Systeme auch im Straßen-
Basis von Lithium und Schwefel. Die beiden Elemente wur- verkehr durchsetzen, weil sie sich analog zum Tanken durch
den früher schon als Bestandteile herkömmlicher Akkus er- einfaches Nachfüllen aufladen lassen. Obwohl Forscher im-
probt. Doch der Schwefel neigt dazu, kettenförmige, negativ mer noch auf der Suche nach der optimalen Chemie und dem
geladene Polysulfide zu bilden, die zur Elektrode wandern, günstigsten Aufbau von Flussbatterien sind, ist Aziz optimis-
wo sie sich ansammeln und den Stromfluss unterbinden. tisch. »In zwei Jahren werden wir etwas haben, das an der
Was schlecht für konventionelle Batterien ist, könnte sich Schwelle zum industriellen Einsatz steht«, beteuert er. »Ich
bei Redox-Flow-Akkus indes als vorteilhaft erweisen. Chiang denke, das wird die nächste ganz große Sache.« Ÿ
nutzt Schwefel als Anode. Beim Entladen reagieren Lithium-
ionen, die von der Kathode kommen, mit ihm zu Polysulfi-
DER AUTOR
den. Diese lösen sich im Elektrolyten. Beim Laden der Batte-
rie werden sie dann wieder zu Schwefel oxidiert, der ausfällt Neil Savage ist Wissenschaftsjournalist in
und die positive Elektrode zurückbildet. Lowell (Massachusetts).

Weil Schwefel im Überfluss vorhanden ist, sollte ein sol-


cher Redox-Flow-Akku ausgesprochen preiswert sein. »Das
Schöne ist, dass Schwefel praktisch nichts kostet«, freut sich
Chiang. Als weitere Neuerung hat er den Stromabnehmer ab-
gewandelt – normalerweise ein stationäres Netz aus Kohlefa- QUELLEN
sern, das leicht verstopft, wenn die Elektrolyte hindurchströ-
men. Chiang ersetzt es durch ein Gel aus Kohlenstoffnano­ Cho, K. T. et al.: High Performance Hydrogen/Bromine Redox Flow
Battery for Grid-Scale Energy Storage. In: Journal of the Electroche-
partikeln, das sich mit der Lösung mitbewegt und so als eine
mical Society 159, S. A1806 – A1815, 2012
Art flüssiger Draht fungiert, der die Elektronen aufnimmt Dunn, B. et al.: Electrical Energy Storage for the Grid: a Battery of
und weiterleitet. Außer dem Vorteil, nicht zu verstopfen, bie- Choices. In: Science 334, S. 928 – 935, 2011
Fan, F. Y. et al.: Polysulfide Flow Batteries Enabled by Percola-
tet es auch eine größere Oberfläche für den Übertritt der La-
ting Nanoscale Conductor Networks. In: Nano Letters 14,
dungen aus der chemischen Reaktion. Zudem verkürzt sich S. 2210 – 2218, 2014
die Strecke, welche die Moleküle zurücklegen müssen, um Huskinson, B. et al. A Metal-Free Organic–Inorganic Aqueous Flow
Elektronen abzugeben oder aufzunehmen. Battery. In: Nature 505, S. 195 – 198, 2014
Li, L. et al.: A Stable Vanadium Redox-Flow Battery with High
Eine andere kostengünstige Option eröffnen möglicher- Energy Density for Large-Scale Energy Storage. In: Advanced
weise organische Materialien. »Kohlenstoff, Wasserstoff und Energy Materials 1, S. 394 – 400, 2011
Sauerstoff werden uns nie ausgehen«, meint Michael Aziz,
Werkstoffkundler an der Harvard University in Cambridge Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1408644
(Massachusetts). Angeregt durch die Fotosynthese der Pflan-
© Nature Publishing Group
zen, beschäftigt er sich mit Chinonen: einer Klasse organi- www.nature.com
scher Verbindungen, die bei der Verwertung von Sonnenlicht Nature 526, S. S98 – S99, 29. 10. 2015

WWW.SPEK TRUM .DE 77


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

KRYPTOGRAFIE

Alice und Bob im Geheimraum


Kann man mit Zahlen rechnen, die man nur in verschlüsselter Form zu sehen bekommt?
Ja – aber noch ist es äußerst mühsam.

VON BRIAN HAYES

A lice gibt Bob einen verschlossenen


Koffer und bittet ihn, das Geld dar­
in zu zählen. »Kein Problem«, sagt Bob.
cryption« (FHE), was als »total homo­
morphe Verschlüsselung« zu überset­
zen wäre. Die Idee ist nicht ganz neu, galt
kode (dem »Schlüssel«) den Klartext in
Chiffretext. Selbst wenn Eve – so heißt
traditionell die Lauscherin – die Nach­
»Gib mir den Schlüssel.« Alice schüttelt aber lange Jahre als praktisch unreali­ richt abfing, konnte sie nichts damit an­
den Kopf; sie kennt Bob zwar schon seit sierbar. Das änderte sich 2009, als Craig fangen. Bob dagegen hatte den Schlüs­
vielen Jahren, aber sie vertraut einfach Gentry, damals Doktorand an der Stan­ sel und konnte damit den ursprüngli­
niemandem. Bob hebt den Koffer an, ford University und heute bei IBM Re­ chen Text wiederherstellen.
um sein Gewicht abzuschätzen, schüt­ search, eine bahnbrechende Entde­
telt ihn und hört es rascheln – aber das ckung machte. Seitdem gab es in rascher Symmetrische und
bringt es nicht wirklich. »Geht nicht«, Folge Verfeinerungen und neue Ideen. asymmetrische Schlüssel
sagt er. »Was ich nicht sehe, kann ich Inzwischen ist nachgewiesen, dass Bei den gebräuchlichsten Verschlüsse­
nicht zählen.« die homomorphe Verschlüsselung prin­ lungssystemen dient, wie bei einem ge­
Die Kryptografen kennen Alice und zipiell funktioniert, aber für die Praxis wöhnlichen Schloss, derselbe Schlüssel
Bob schon seit vielen Jahren. Immer sind die gegenwärtigen Verfahren noch zum Auf- wie zum Zuschließen, also
wenn es darum geht, vertrauliche In­ viel zu langsam. Sollte sich das jedoch zum Ver- und zum Entschlüsseln. In
formationen auszutauschen, müssen ändern, dann würden die Anwender als­ diesem Fall stehen Alice und Bob aller­
sie als beispielhafte Kommunikations­ bald Schlange stehen. Viele Organisatio­ dings vor dem heiklen Problem, sich
partner herhalten. Echte Koffer mit nen würden ihre Rechenaufgaben lie­ über diesen Schlüssel zu verständigen,
echtem Geld sind normalerweise nicht ber an externe Dienstleister delegieren, ohne dass er dabei Eve in die Hände fällt.
ihr Ding. Deswegen geht die Geschichte statt selbst stets die aktuelle Hard- und Abhilfe schafft eine besonders raffinier­
auch eigentlich ein bisschen anders: Software anzuschaffen. Das läuft darauf te Methode, die asymmetrische Krypto­
Alice gibt Bob eine sicher verschlüsselte hinaus, die eigenen, höchst vertrauli­ grafie oder Kryptografie mit veröffent­
Liste mit Zahlen und bittet ihn, sie zu chen Daten in die »Cloud« zu geben – ei­ lichtem Schlüssel (public-key cryptogra­
addieren. Aber in eine chiffrierte Datei nen undurchdringlichen Verbund von phy). Jeder Schlüssel besteht aus zwei
kann man ebenso wenig hineinschau­ Rechnern, von denen man nicht weiß, Teilen, einem veröffentlichten zum Zu­
en wie in einen verschlossenen Koffer. wer auf die dort verarbeiteten Daten Zu­ schließen und einem privaten zum Auf­
»Geht nicht«, sagt Bob. griff hat. Eine praktikable homomorphe schließen. Durch geschickte Kombina­
Aber diesmal irrt er sich. Weil Alice Verschlüsselung würde die naheliegen­ tion zweier solcher Schlüsselpaare kön­
eine sehr spezielle Art der Verschlüsse­ den Bedenken ausräumen, indem sie nen Alice und Bob sich sogar unter Eves
lung gewählt hat, kann Bob ihren Auf­ die Daten vor Lauschern, Hackern und Augen einen gewöhnlichen symmetri­
trag nämlich doch ausführen: mit Da­ sogar vor den Betreibern des Cloud­ schen Schlüssel zulegen, den außer ih­
ten zu rechnen, die er nicht anschauen dienstes schützt. nen niemand kennt, und diesen für ihre
kann. Die Zahlen in der Datei bleiben In der romantischen Frühzeit ihrer vertrauliche Kommunikation nutzen.
die ganze Zeit verschlüsselt, und Bob Beziehung hatten Alice und Bob kei­ Ein anderes Verfahren, das Alices
erfährt auch nichts über sie. Trotzdem nerlei Geheimnisse voreinander, son­ und Bobs Liebesbriefe vor der Boule­
kann er Computerprogramme auf die dern wollten sie nur vor dem Rest der vardpresse abschirmt, ist die probabi­
verschlüsselten Daten anwenden, sie Welt schützen. Ihnen ging es darum, listische Kryptografie, die Shafi Gold­
zum Beispiel addieren. Die Ausgabe des über einen öffentlichen Kanal zu kom­ wasser und Silvio Micali, beide am MIT,
Programms ist dann ebenfalls ver­ munizieren, ohne dass ein Lauscher zu Beginn der 1980er Jahre entwickel­
schlüsselt, Bob kann also auch sie nicht ihre Daten abhören oder gar verfäl­ ten. Alle früheren Systeme sind deter­
lesen. Erst Alice wendet ihren Dekodie­ schen kann. Zu diesem Zweck entwar­ ministisch: Aus dem gleichen Klartext
rungsschlüssel auf das Ergebnis an und fen die Frischverliebten eine ganze Rei­ wird stets der gleiche Chiffretext. Diese
erhält die Summe im Klartext. he kryptografischer Verfahren. Bevor Verlässlichkeit macht die asymmetri­
Die für diesen Zaubertrick benutzte Alice eine Nachricht an Bob abschickte, sche Kryptografie angreifbar. Eve könn­
Technik heißt »fully homomorphic en­ verwandelte sie mit einem Geheim- te nämlich versuchen, den Inhalt einer

78  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Rechnen in der Cloud
Alice möchte ihre vertraulichen Daten konventionelle Verschlüsselung total homomorphe Verschlüsselung

auf Bobs Computer, einem Server in der


»Cloud«, bearbeiten. Niemand außer ihr
1 18 0 5 0 0 1917
00
2 ८० ५ ० ०१९१
selbst soll Zugriff auf die Daten haben, ११

105
1 8 0 4 1 90

७२
१ ९ ०००
01 13
nicht einmal Bob. Eine herkömmliche

१०५०११३
Verschlüsselung (links) schützt ihre In­ ent- ver-
schlüsseln schlüsseln

०७०९०३००२३१५ १८० ४
formationen unterwegs, nicht aber auf
Bobs Computer Bobs Computer

०९१९०८००१५१९

०९१९०८००१५१९
०७०९०३००२३१५
Bobs Computer (roter Abschnitt). Da­
gegen schützt die homomorphe Ver­

AMERICAN SCIENTIST, NACH: BRIAN HAYES


schlüsselung (rechts) den Datenstrom
für den ganzen Weg – aber Bobs Compu­
ter muss anders rechnen. In diesem Dia­ ver- ent- ver- ent-
schlüsseln schlüsseln schlüsseln schlüsseln
gramm sind verschlüsselte Daten als Zif­

19 0 9

19 0 9
01
01

fern in der indischen Schrift Devanagari

13
13

61 61
2008 0 5 0

0
2008 0 5 0

0
0

8 0 10705 8 0 10705
Alices Computer Alices Computer
wiedergegeben.

Nachricht zu erraten. Dann verschlüs­ ihnen zu sagen hat. Wenn man aber die Beziehungen der Elemente unterei­
selt sie, was sie geraten hat, mit dem öf­ nicht einmal dem Empfänger vertraut, nander erhalten bleiben. Wenn also un­
fentlichen Schlüssel und schaut, ob das dann ist die homomorphe Verschlüsse­ ter mehreren Elementen der einen
Ergebnis mit dem von ihr abgefange­ lung das Mittel der Wahl. Struktur eine Beziehung besteht, dann
nen Text übereinstimmt. Bei einem soll für ihre Abbilder in der anderen
probabilistischen Verfahren dagegen Ein Paralleluniversum Struktur eine entsprechende Bezie­
gibt es für jeden Klartext eine Vielzahl Über die Jahre haben sich die Wege von hung gelten.
möglicher Chiffretexte, und das Sys­ Alice und Bob getrennt. Alice arbeitet Eigentlich ist das Konzept in der abs­
tem wählt einen davon per Zufall aus. heute als Forschungsdirektorin einer trakten Algebra zu Hause; seine Ver­
Selbst wer den Klartext richtig errät, hat Firma, die Verschlüsselungssoftware schärfung »isomorph« dient dazu, Ord­
also praktisch keine Chance, seine Ver­ entwickelt; Bob hat sich auf Hardware nung in den unübersichtlichen Zoo der
mutung zu bestätigen. Bei der Ent­ spezialisiert und betreibt einen Anbie­ endlichen einfachen Gruppen zu brin­
schlüsselung aber liefern alle unter­ ter für Cloud-Computing. Nachdem ihr gen (Spektrum der Wissenschaft 3/2016,
schiedlichen Chiffretexte wieder ein Liebesgeflüster von eher geschäftli­ S. 48). Aber es gibt auch ein bodenstän­
und denselben Klartext. chen Themen verdrängt wurde, haben digeres Beispiel: den Logarithmus (zu
Kryptografische Techniken dieser sich auch ihre Ansprüche an Privat­ einer beliebigen Basis). Der ist nämlich
Art sind heute ein integraler Bestand­ sphäre und Sicherheit etwas verändert. eine umkehrbare Abbildung zwischen
teil des Internets. Sie arbeiten unauffäl­ Wenn Alice heute mit Bob redet, muss den positiven Zahlen einerseits und al­
lig und im Verborgenen. Wer online sei­ sie sich nach wie vor gegen Eves Schnüf­ len reellen Zahlen andererseits, die
nen Kontostand abfragen oder etwas feleien absichern. Zusätzlich muss sie obendrein eine Homomorphie zwi­
kaufen will, verwendet – von der Bank allerdings sensible Daten aus ihrer Fir­ schen den beiden Bereichen herstellt:
oder dem Verkäufer veranlasst – eine ma vor Bob geheim halten – was nicht Der Multiplikation zweier positiver Zah­
gesicherte Version des Übertragungs­ ganz einfach ist, weil sie mit just diesen len entspricht die Addition ihrer Loga­
protokolls: https statt http (Hypertext geheimen Daten auf Bobs Computern rithmen, denn für drei positive reelle
Transfer Protocol). Das gilt auch für rechnen will. Das ist die Situation, in Zahlen x, y und z mit x · y = z gilt
Suchanfragen bei Google. Auf dem Weg der gewöhnliche Kryptografie nicht log(x) + log(y) = log(z).
vom Absender zum Empfänger sind die hilft, wohl aber die homomorphe (siehe Dieser Homomorphismus eröffnet
Nachrichten verschlüsselt. Das hilft ge­ »Rechnen in der Cloud«, oben). zwei verschiedene Wege zum selben
gen Eve, die im Internetcafé am Nach­ Die Mathematiker nennen zwei Ziel, der Multiplikation zweier positiver
bartisch sitzt und die WLAN-Verbin­ Strukturen homomorph (das griechi­ Zahlen x und y. Entweder man multipli­
dung anzapft, aber nicht gegen den je­ sche Wort bedeutet »von gleicher Ge­ ziert sie nach der Schulmethode, oder
weiligen Empfänger, denn der hat den stalt«), wenn man sie so aufeinander man bildet zunächst ihre Logarithmen,
Schlüssel. Wozu auch – normalerweise abbilden kann, dass sich nicht nur jedes addiert diese und wendet auf das Er­
müssen die Bank, der Verkäufer oder Element der einen Struktur in der ande­ gebnis die Umkehroperation des Loga­
die Suchmaschine ja wissen, was man ren wiederfindet, sondern dabei auch rithmus an. Der zweite Weg sieht zwar

WWW.SPEK TRUM .DE 79


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

viel komplizierter aus, ist aber in der man also einfach durch 2 teilen. Die Ad­ plikation im Geheimraum als a * b =
Praxis sogar bequemer, wenn man die dition im Geheimraum ist dieselbe wie a · b/m zu definieren. Also steht das m
Anwendung des Logarithmus und sei­ im Klarraum. Addiert man nämlich die in dem Programm, das auf Bobs Com­
ner Umkehrfunktion durch Nachschla­ Chiffretexte 2x und 2y, kommt 2x + 2y = puter läuft, und dort kann er es leicht
gen in einer Tabelle ersetzt und die da­ 2(x + y) heraus; das entschlüsselt, also ablesen.
bei auftretenden Rundungsfehler in durch 2 geteilt, ist x + y, wie es sein soll. Ein total homomorphes Verschlüsse­
Kauf nimmt. In der Tat haben Anwen­ Die Multiplikation ist allerdings et­ lungssystem, das einem derartigen An­
der aller Art das Multiplizieren mit der was komplizierter. Wenn man einfach griff standhält, ist sehr viel schwieriger
Logarithmentabelle oder deren mecha­ die Chiffretexte 2x und 2y auf die ge­ zu entwerfen. Genau das gelang Gentry
nischem Äquivalent, dem Rechenschie­ wöhnliche Weise miteinander mal­ 2009 – im Prinzip. Nun gilt es, die Idee
ber, erledigt, bevor der Taschenrechner nimmt, kommt 4xy heraus. Die Ent­ in ein praktikables Verfahren umzuset­
derlei Hilfsmittel erübrigte. schlüsselung (Division durch 2) ergäbe zen, was noch nicht gelungen ist.
2xy statt xy. Also müssen wir die Multi­ Die erste Idee, mit verschlüsselten
Multiplikation neu definieren plikation zweier Zahlen a und b im Ge­ Daten zu rechnen, hatten 1978 Ronald
Die homomorphe Kryptografie bietet heimraum definieren als a * b = a · b/2, L. Rivest, Leonard Adleman und Micha­
ein ähnliches Paar von Wegen an. Ent­ wobei der Punkt die gewöhnliche Mul­ el L. Dertouzos, alle damals am MIT. Nur
weder rechnen wir mit den unver­ tiplikation bezeichnet. wenige Monate vorher hatten Rivest
schlüsselten Eingabedaten x und y. Offensichtlich haben wir diese Defini­ und Adleman gemeinsam mit Adi Sha­
Oder wir verwandeln x und y durch tion so hingedreht, dass das gewünsch- mir die erste Realisierung eines asym­
Verschlüsseln in Chiffretext, wenden te Ergebnis herauskommt. Das mag wie metrischen Verschlüsselungssystems
darauf geeignete Rechenoperationen Schummelei wirken, kann aber die Ma­ vorgestellt, das unter ihren Initialen als
an und entschlüsseln das Ergebnis; am thematiker nur mäßig beeindrucken. RSA bekannt wurde. Übrigens hatten in
Ende kommt dasselbe heraus. Die bei­ Die sind noch viel willkürlicher erschei­ dem entsprechenden Artikel Alice und
den Rechenwege verlaufen gewisser­ nende Definitionen der Multiplikation Bob ihren ersten Auftritt als prominen­
maßen in parallelen Universen. Diese gewohnt, zum Beispiel für komplexe te Kommunikationspartner.
sollen im Folgenden Klarraum und Ge­ Zahlen und Matrizen. Das RSA-Schema in seiner Urform
heimraum heißen. Verschlüsseln durch Verdoppeln ist ist nur »teilweise homomorph«: Es gibt
Rechnen im Klarraum kennt jeder. also ohne jeden Zweifel homomorph, zwar eine Multiplikation verschlüssel­
Wenn eine Zahl computerüblich im aber leider zur Geheimhaltung völlig ter Daten, aber keine Addition. Darauf
Zweiersystem (Binärsystem) als Folge ungeeignet. Schließlich müsste Bob die wiesen Rivest, Adleman und Dertouzos
von Nullen und Einsen (Bits) dargestellt Chiffredaten nur durch 2 teilen, um an schon damals hin und nannten auch ei­
wird, dann bestehen Addition und Mul­ die Klardaten zu kommen. Es hilft auch nige andere Möglichkeiten, zumindest
tiplikation aus einer Folge logischer Ver­ nichts, wenn man zum Verschlüsseln partielle Homomorphismen zu konst­
knüpfungen; und mehr brauchen wir statt mit 2 mit einer beliebig kompli­ ruieren, die man geheim halten kann.
nicht. Alle anderen Rechenoperationen zierten Zahl m multipliziert und m ge­ In den folgenden 30 Jahren gab es
lassen sich aus Addition und Multipli­ heim hält. Denn dann wäre die Multi­ gewis­se Fortschritte. So entwarfen Dan
kation zusammensetzen.
Die Mathematik im Geheimraum
sieht dagegen völlig anders aus. Bei der Verwackelte Verschlüsselung
Verschlüsselung werden nämlich die
Bits einer Zahl gründlich durcheinan­
dergewirbelt, während die klassischen
Additions- und Multiplikationsverfah­
AMERICAN SCIENTIST, NACH: BRIAN HAYES

ren nur dann die richtigen Ergebnisse


liefern, wenn jedes Bit an der richtigen
Stelle steht. Auf den ersten Blick er­
scheint es daher unmöglich, eine Ope­
ration im Geheimraum zu finden, die Verschlüsselung Rechenoperationen Entschlüsselung
der gewöhnlichen Addition im Klar­
raum homomorph ist. Aber es geht. Bei einem probabilistischen Kryptosystem werden die verschlüsselten Daten – hier als
Das möge zunächst ein extrem ein­ weiße Punkte eines regelmäßigen Gitters in einem abstrakten Raum dargestellt – durch
faches Beispiel demonstrieren. Der kleine zufällige Abweichungen geringfügig verfälscht (violette Punkte). Beim Entschlüs-
Klartext besteht aus ganzen Zahlen, seln ziehen die Gitterpunkte wie kleine Magneten die »Abweichler« auf den richtigen
und die Verschlüsselung ist schlicht die Platz zurück. Jede Rechenoperation wirkt im Prinzip fehlerverstärkend. Dadurch kann ein
Verdopplung; zum Entschlüsseln muss Punkt in den Anziehungsbereich des falschen Magneten geraten (rote Pfeile).

80  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Boneh, Eu-Jin Goh und Kobbi Nissim babilistisch, das heißt, sie versieht den Schaltungstiefe nicht überschreitet.
ein homomorphes System, mit dem Chiffretext mit etwas Zufall, um einen Also kann man evaluate auch anweisen,
man im Geheimraum eine unbegrenz­ Lauschangriff zu erschweren. Man stel­ decrypt auszuführen. Und da evaluate
te Zahl von Additionen und anschlie­ le sich den Chiffretext als Punkt in ei­ auf verschlüsselten Daten arbeitet, ist
ßend eine einzige Multiplikation aus­ nem abstrakten, hochdimensionalen der zugehörige Schlüssel die verschlüs­
führen kann. Als Bonehs Doktorand Raum vor. Die Funktion encrypt rückt selte Version des normalen Schlüssels:
Gentry 2009 sein völlig homomorphes den Punkt immer ein bisschen von der Der geheime Schlüssel für das von eva-
Schemas präsentierte, war das trotz­ Position weg, die er in einem rein de­ luate auszuführende decrypt ist das,
dem eine große Überraschung. terministischen System einnehmen was herauskommt, wenn man encrypt
würde (siehe »Verwackelte Verschlüsse­ auf den geheimen Schlüssel anwendet.
Verrauschte Arithmetik lung«, links). Die Funktion decrypt fil­ Und das Ergebnis der ganzen Aktion ist
Im Kontext von Gentrys Verfahren tert das Rauschen heraus, indem sie je­ nicht etwa Klartext, sondern eine neue
heißt die Verschlüsselungsfunktion, den Punkt zur nächstgelegenen unge­ Verschlüsselung des bereits verschlüs­
die Klartext in Chiffretext verwandelt, störten Position verschiebt. Genauer: selten Texts, allerdings mit verringer­
encrypt, und die umgekehrte Funktion, In dem abstrakten Raum gibt es ein – tem Rauschen (siehe »Rauschunterdrü­
die den Klartext aus dem Geheimtext geheimzuhaltendes – Gitter »richtiger« ckung im Geheimraum«, S. 82).
wiederherstellt, decrypt. Außerdem ar­ Punkte. Die Funktion decrypt ersetzt je­ Alice gibt Bob also faktisch eine Ko­
beitet Gentry mit einer dritten Funkti­ den vorgelegten Chiffretext durch den pie des Schlüssels, der für die Entschlüs­
on namens evaluate (»auswerten«); sie nächstgelegenen Gitterpunkt und wen­ selung der Daten gebraucht wird; aber
beschreibt die Ausführung einer Re­ det auf diesen dann den Entschlüsse­ die befindet sich im Innern einer sicher
chenoperation im Geheimraum, aber lungsalgorithmus an. Wenn jedoch die verschlossenen Kiste und kann auch
nicht wie üblich als ein der Reihe nach homomorphe Berechnung die Abwei­ nur dort angewandt werden. Tatsäch­
abzuarbeitendes Programm, sondern chung verstärkt, schiebt decrypt das Er­ lich wurde die Kiste sogar mit genau
in Form einer Schaltung oder eines gebnis auf einen falschen Gitterpunkt, dem Schlüssel abgeschlossen, der in ih­
Netzwerks. Dabei durchlaufen die Da­ und die Entschlüsselung liefert nur rem Innern aufbewahrt ist! (Gentry dis­
ten eine Abfolge logischer Schaltele­ noch Unsinn. kutiert eine noch abgedrehtere Version
mente (»Gatter«). Üblicherweise voll­ Grob gesagt verdoppelt jede homo­ dieser ohnehin verwirrenden Geschich­
führt ein Gatter eine der elementaren morphe Addition das Rauschen, und te, bei der Alice in der verschlossenen
logischen Operationen AND, OR und jede Multiplikation quadriert es. Also Kiste Schmuck herstellt.)
NOT; es darf aber auch eine Addition muss die Anzahl der Operationen und Diese »Erfrischungspausen«, die den
oder Multiplikation sein. damit die Schaltungstiefe beschränkt Chiffretext durch Ent- und Verschlüs­
Im Effekt ist die Funktion evaluate bleiben, damit die Fehler nicht beliebig seln wieder sauber und leistungsfähig
nichts weniger als ein kompletter Com­ anwachsen. Daher kann evaluate nicht machen, lassen sich beliebig wiederho­
puter, der in das Verschlüsselungssys­ alles Berechenbare berechnen, und das len. Auf diese Weise kann der Computer
tem eingebettet ist. Im Prinzip müsste Verschlüsselungs­system ist nicht mehr Schaltungen beliebiger endlicher Tiefe
er jede berechenbare Funktion auch be­ homomorph, sondern bestenfalls »ein verarbeiten und insbesondere totale
rechnen können – vorausgesetzt, das Stück weit ­homomorph« (»somewhat Homomorphie bereitstellen.
Netz der logischen Schaltungen darf homomorphic encryption«, SWHE). Damit das alles funktioniert, muss
von beliebiger Tiefe sein. Die Tiefe ei­ Der Fehlerfortpflanzung wäre abzu­ allerdings die Tiefe der decrypt-Schal­
nes Netzes ist definiert als die Anzahl helfen, indem man auf ein Zwischen­ tung selbst so gering sein, dass sie ohne
der Gatter auf dem längsten Weg von ergebnis erst decrypt anwendet – was Überschreiten der Rauschgrenze durch­
der Eingabe bis zur Ausgabe. Und genau die Fehler entfernt, bevor sie zu groß laufen werden kann – noch deutlich ge­
hier liegt das Problem. Die verschlüssel­ werden – und dann encrypt – was wie­ ringer, um genau zu sein. Sonst würde
ten Daten sind nämlich mit numeri­ der einen hübschen kleinen Fehler ein­ der Computer nämlich die gesamte Zeit
schem »Rauschen« verunreinigt, gerin­ führt. Nur bräuchte man dafür den ge­ mit Erfrischungspausen zubringen,
gen Abweichungen von ihren Ideal­ heimen Schlüssel, und den will man ja ohne zu seiner eigentlichen Arbeit zu
werten. Jede arithmetische Operation gerade nicht zur Verfügung stellen. kommen.
verstärkt dieses Rauschen – im Extrem­ In Gentrys erster Version seines total
fall so sehr, dass das eigentliche Signal Erfrischungspause homomorphen Schemas war diese Be­
darin untergeht. An dieser Stelle wird die Geschichte dingung nicht erfüllt. Die Funktion eva-
Dieses Rauschen ist nicht etwa Folge verwirrend und fantastisch zugleich. luate konnte decrypt nicht verarbeiten,
eines Gerätefehlers oder physikalischer Die in das Verschlüsselungssystem ein­ ohne zu viel Rauschen zu erzeugen. Ab­
Prinzipien; vielmehr wurde es absicht­ gebaute Funktion evaluate kann jede hilfe schaffte erst eine Technik, mit der
lich in den Prozess eingeführt. Die Ver­ Berechnung ausführen, zumindest so­ es gelang, decrypt »flachzudrücken«; al­
schlüsselungsfunktion encrypt ist pro­ weit sie eine gewisse Grenze für die lerdings wurde der Schlüssel dadurch

WWW.SPEK TRUM .DE 81


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

länger und komplizierter. Mit dieser


letzten Verbesserung war das Problem Rauschunterdrückung im Geheimraum
aber zumindest grundsätzlich gelöst. gewöhnliche Entschlüsselung
Seit Gentry 2009 in seiner Disser­ta­ Geheimtext

tion sein System beschrieb, wurden ९६८६९६१३७५४६२२०६१४ Klartext


zur total homomorphen Verschlüsse­ decrypt 2008050013010709030023
geheimer Schlüssel
lung Dutzende Variationen, Verfeine­ 1066986143685780244428
rungen und alternative Verfahren ver­
öffentlicht. Außerdem gibt es bisher

AMERICAN SCIENTIST, NACH: BRIAN HAYES


Erfrischungsverschlüsselung
mindestens drei Versuche, homomor­ Geheimtext
phe Verschlüsselung in einem arbeits­ ९६८६९६१३७५४६२२०६१४ aufgefrischter Geheimtext
fähigen Computerprogramm zu reali­
geheimer Schlüssel, verschlüsselt decrypt ٢٠٠٨٠٥٠٠١٣٠١٠٧٠٩٠٣٠٠٢٣
sieren.
१०६६९८६१४३६८५७८०२४
Die meisten dieser Systeme arbeiten
wie oben beschrieben mit einer ein
Stück weit homomorphen Verschlüsse­ Im Prinzip könnte man übermäßiges Rauschen in einem Geheimtext dadurch dämpfen,
lung, die dann zu einer total homomor­ dass man ihn ent- und wieder verschlüsselt. Dazu müsste aber der Schlüssel zur Ver­
phen nachgebessert wird. Sie unter­ fügung stehen. An seiner Stelle verwendet man die verschlüsselte Form des Schlüssels.
scheiden sich im Verschlüsselungsme­ Das Ergebnis ist ein neuer Chiffretext (hier durch arabische Ziffern wiedergegeben),
chanismus selbst. der ebenso sicher wie das Original ist, aber weniger Rauschen aufweist.
Jede asymmetrische Verschlüsse­
lung beruht auf einer mathematischen
Aufgabe, die im Prinzip extrem schwie­ zwei ganze Zahlen ist es nicht schwer, passen sie nach jedem Rechenschritt
rig zu lösen ist (damit Eve es nicht deren größten gemeinsamen Teiler Parameter des Systems so an, dass der
kann), aber sehr einfach, wenn man (ggT) auszurechnen – schon Euklid gab nächste Schritt die Berechnungen we­
eine Zusatzinformation hat (weshalb einen effizienten Algorithmus dafür niger stört als sein Vorgänger und der
Bob Alices Nachrichten effizient dechif­ an, der heute seinen Namen trägt. Die gesamte Rauschpegel nie die entschei­
frieren kann). Beim RSA-Verfahren be­ »verrauschte« Version des Problems er­ dende Schwelle überschreitet.
steht das schwierige Problem darin, die weist sich demgegenüber als sehr viel
Faktoren einer immens großen ganzen komplizierter. Ändert man mehrere Arbeitsfähiger Code
Zahl zu bestimmen (Spektrum der Wis­ Zahlen mit dem ggT p durch Addition Rechnen im Geheimraum ist ja theore­
senschaft 9/1996, S. 80); die Zusatzin­ oder Subtraktion kleiner, zufällig ge­ tisch ganz nett; aber ist es auch zu etwas
formation ist die Kenntnis der Fakto­ wählter Größen ein wenig ab, dann nutze? Bleibt der Gesamtrechenauf­
ren. Gentrys Algorithmus von 2009 ar­ wird es sehr schwierig, p zu finden. In wand in erträglichen Grenzen? Diese
beitet dagegen mit einem Problem aus diesem Verschlüsselungssystem ist p Fragen sind bei der FHE drängender als
der Theorie ganzzahliger Gitter; das selbst der geheime Schlüssel. bei der gewöhnlichen Verschlüsselung.
sind diskrete Punktmengen, die in ei­ Gemeinsam mit Zvika Brakerski von Im Normalfall wird das Rechnen ja nicht
nem hochdimensionalen Raum regel­ der Stanford University hat Vaikunta­ dadurch mühsamer, dass die Daten auf
mäßig angeordnet sind wie Atome in na­than ein drittes FHE-System gefun­ dem Weg zum Rechner verwandelt und
einem Kristall. Zu solchen Gittern gibt den (»Learning with errors«, LWE). Das wieder zurückverwandelt wurden. Bei
es eine Fülle schwieriger Berechnungs­ schwere Problem besteht hier darin, ein der homomorphen Verschlüsselung da­
probleme. So ist es schwer im Sinne von System von Gleichungen zu lösen, in gegen wird das Verschlüsselungssystem
äußerst aufwändig, zu einem zufällig dem jede Gleichung mit einer geringen selbst zum Rechner; und wenn der inef­
gewählten Punkt im Raum den nächst­ Wahrscheinlichkeit falsch ist. Wie beim fizient arbeitet, verlangsamt das den ge­
gelegenen Gitterpunkt zu finden. Es sei größten gemeinsamen Teiler ist das Pro­ samten Vorgang.
denn, man kennt spezielle Koordina­ blem im exakten (fehlerfreien) Fall leicht Viele homomorphe Verfahren for­
ten, die dann als eine Art geometrischer zu lösen; dagegen ist die Suche nach ei­ dern einen hohen Preis für ihre Sicher­
Wegweiser zum Gitter dienen können. ner Teilmenge korrekter Gleichungen im heit. Während der Verschlüsselung
Im Jahr 2010 fanden Marten van Dijk Allgemeinen sehr aufwändig. durchlaufen die Daten eine Art »kosmi­
vom MIT, Gentry, Shai Halevi von IBM In einer neueren Variante dieses Sys­ scher Inflation«: Ein einzelnes Bit des
und Vinod Vaikuntanathan, heute an tems gehen Brakerski, Vaikuntanathan Klartexts kann zu Tausenden oder sogar
der University of Toronto, ein anderes und Gentry neue Wege, um den Rausch­ Millionen Bits im verschlüsselten Text
homomorphes Verschlüsselungssys­ pegel zu begrenzen. Anstatt die Berech­ heranwachsen. Das gilt auch für den
tem. In diesem Fall stammt das schwie­ nung in gewissen Abständen durch Er­ Schlüssel – aus Megabyte können leicht
rige Problem aus der Zahlentheorie. Für frischungspausen zu unterbrechen, Gigabyte werden. Schon die Übertra­

82  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


gung solcher Datenmengen wird teuer; tisch umgesetzt haben sie ein entspre­ aufdringliche Viagra-Werbung nicht
mit dem aufgeblähten Chiffretext dann chendes Verfahren auf der Basis des von legitimer Mail zu unterscheiden.
auch noch zu rechnen, macht die Ange­ LWE-Algorithmus. Wenn man nicht auf Andererseits möchte ich dem Betreiber
legenheit nicht leichter. Während die dem höchsten Sicherheitsniveau be­ des Spamfilters den geheimen Teil mei­
Addition oder Multiplikation von Klar­ steht, kommt man mit Schlüssellängen nes Schlüssels nicht anvertrauen. Ho­
textbits mit einem einzigen Maschi­ von etwa einem Megabyte aus. Eine ho­ momorphe Verschlüsselung könnte
nenbefehl zu erledigen ist, erfordert momorphe Addition dauert Millise­ dieses Problem lösen.
dieselbe Operation mit dem aufgebläh­ kunden, eine Multiplikation im Allge­ Meine eigene Fantasieanwendung
ten Chiffretext ausgefeilte Programme meinen weniger als eine Sekunde – ein wäre eine Bank, gerne auf den Cay­­man-
für hochpräzise Arithmetik. gewaltiger Fortschritt gegenüber frühe­ Inseln, die vielleicht Homomorphic
Viele Forscher arbeiten aktuell an ei­ ren Varianten, aber immer noch eine Trust Company heißen würde. Ihre
ner Minderung dieses Aufwands. So Größenordnung langsamer als der Internetseite könnte genau so ausse­
versucht man, nicht jedes Bit Klartext ENIAC von 1946. hen wie die einer gewöhnlichen Bank,
einzeln zu verschlüsseln, sondern meh­ aber bei ihr haben nicht nur die Lau­
rere gemeinsam zu verarbeiten. Patientendaten auswerten scher keine Chance. Selbst die Ange­
Der entscheidende Härtetest ist die Lauter, Naehrig und Vaikuntanathan stellten der Bank können nicht erfah­
Schaffung einer arbeitsfähigen Imple­ diskutieren auch Anwendungen für ho­ ren, was ich mit meinem Geld anstelle.
mentierung. Das haben Nigel P. Smart momorphe Berechnungen. Eine davon Und Alice könnte ihr den Koffer mit
von der University of Bristol und Frede­ sehen sie im Aufbewahren und Auswer­ dem unzählbaren Geld bedenkenlos
rik Vercauteren von der Katholischen ten medizinischer Patientendaten im anvertrauen. Ÿ
Universität Leuven (Belgien) als Erste Internet. Andere potenzielle Kunden fin­
versucht. Sie entwickelten ein teilweise den sich an der Wall Street. Die »Quants«
DER AUTOR
homomorphes System; es gelang ihnen (kurz für quantitative Analysten), die
aber nicht, es zu voller Homomorphie ihre Investmententscheidungen auf der Brian Hayes ist Verfasser
auszubauen. Das Haupthindernis bil­ Grundlage von Computerberechnun­ der Kolumne »Computing
Science« in »American
dete ein äußerst aufwändiger Prozess, gen treffen, haben ein lebhaftes Interes­ Scientist«, aus der dieser
bei dem Schlüssel gewaltiger Größe er­ se daran, nicht nur ihre Daten, sondern Artikel stammt. In seinem
zeugt werden. auch ihre Algorithmen geheim zu hal­ Blog http://bit-player.org
präsentiert er ergänzen­
Mit einer Variante des auf Gittern ten. FHE würde das für beide in einem
des Material zu seinen Kolumnen.
beruhenden Algorithmus gelang es Aufwasch erledigen.
Gentry und Halevi, ein total homomor­ Eine dritte Idee besteht darin, ei-
phes System zum Laufen zu bringen. nen kryptografischen Sicherheitszaun QUELLEN
Dazu brauchten sie nicht einmal, wie zwischen Onlineanbietern und Kon­
Brakerski, Z.et al.: (Leveled) Fully homo-
ursprünglich geplant, einen Supercom­ sumenten zu ziehen. Anbieter, die Per­ morphic Encryption without Bootstrap­
puter; eine Workstation auf ihrem sonen mit speziellen Interessen oder ping, 2011.
Schreibtisch genügte völlig. Auch dabei Gewohn­heiten ansprechen wollen, https://eprint.iacr.org/2011/277.pdf
Gentry, C.: A Fully Homomorphic Encryp-
wuchs der Schlüssel allerdings auf 2,3 sammeln und verknüpfen Daten zu de­ tion Scheme. Dissertation, Stanford Uni-
Gigabyte an; ihn zu erzeugen dauerte ren Aktivitäten im Internet oder an­ versity 2009.
zwei Stunden und jede Erfrischungs­ derswo. Ein Service, der auf homomor­ http://crypto.stanford.edu/craig
Goldwasser, S., Micali, S.: Probabilistic
pause 30 Minuten. pher Verschlüsselung beruht, könnte Encryption and how to Play Mental
In einem weiteren Implementie­ jedem Kunden zielgerichtet auf ihn zu­ Poker Keeping Secret all Partial
rungsversuch zeigten Kristin Lauter geschnittene Werbung zeigen und ihm Information. In: Proceedings of the 14th
ACM Symposium on Theory of Compu­
von Microsoft Research, Michael Naeh­ dabei zugleich garantieren, dass der
ting. ACM, New York 1982, S. 365 – 377
rig von der Technischen Hochschule Anbieter nichts über ihn selbst in Er­ Lauter, K., M. et al.: Can Homomorphic
Eindhoven (Niederlande) und Vaikun­ fahrung bringt. Encryption be Practical? In: Proceedings
of the Third ACM Workshop on Cloud
tanathan, dass große Fortschritte in Be­ Als ich Vaikuntanathan danach frag­
Computing Security. ACM, New York 2011,
zug auf die Effizienz möglich sind, so­ te, welche Anwendungen seiner Mei­ S. 113 – 124
bald man die Forderung nach einem nung nach wohl zuerst umgesetzt wer­ van Dijk, M., C. et al.: Fully Homomor­
­total homomorphen System etwas zu­ den könnten, hatte er eine weitere Idee: phic Encryption over the Integers. In:
Proceedings of Eurocrypt 2009. Springer
rücknimmt. Sie versprechen nicht, Spamfilter. Wenn ich einen öffentlichen Lecture Notes in Computer Science 5479.
Schaltkreise beliebiger Tiefe auswerten Schlüssel bekannt gebe, kann jeder mir Springer, Heidelberg 2010, S. 24 – 43
zu können, sondern beschränken sich verschlüsselte Nachrichten schicken,
auf eine relativ kleine, vorgegebene An­ auch die lästigen und unseriösen Mas­ © American Scientist
zahl von Multiplikationen, lassen je­ senversender. Dagegen hilft dann kein Dieser Artikel im Internet:
doch beliebig viele Additionen zu. Prak­ Spamfilter, denn verschlüsselt ist die www.spektrum.de/artikel/1408646

WWW.SPEK TRUM .DE 83


Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschaft- und
WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK Technikgeschichte des Deutschen Museums

1887 gefundenen, der Nean- den sich nicht bei dem Fossil.
dertalrasse zuzurechnenden Die Abbildungen gestatten
Unterkiefer. Da man nicht kein abschließendes Urteil.
wagen konnte, das völlig Das Ende des Krieges wird
versteinerte Fossil von dem hoffentlich gestatten, das Al-
Steinmantel zu befreien, ter der Mandibula Bañola-
sind die Innenflächen nicht sensis und den Formenkreis,
Neandertaler! zugänglich. Dagegen liegt dem sie angehört, genauer zu
Oder doch nicht? der Alveolarteil mit 16 gut bestimmen.« Die Umschau 23,
»Hernandez-Pacheco (Mad- erhaltenen Zähnen frei. Die 1916, S. 470 – 472
rid) und der Abbé Hugues rechte Kieferhälfte ist ziem- (Bis heute konnte die Spezies
Obermaier veröffentlichten lich intakt, die Kiefer­äste nicht eindeutig bestimmt wer-
eine Untersuchung über eine sind niedrig und breit, auch den. Der Zahnschmelz wurde
Ist dies ein Neander-
›Mandibula Neandertaloide der Kieferkörper ist niedrig auf 66 000 ± 7000 Jahren da-
talerunterkiefer?
de Bañolas‹, einem im April und massig. Werkzeuge fan- tiert; d. Red.)

Seifenfrei – stoppelfrei? Das Menschliche im Menschenaffen


»Diese Frage behandelt G. der die Haut geschmeidig ma- »Über Menschenaffen berichtet R. L. Garner, der einen großen
Arbour-Stephens in einem che, sondern das unter den Teil seines Lebens dem Studium der afrikanischen Men-
Briefe an den Herausgeber Bläschen befindliche Wasser. schenaffen in ihrer natürlichen Umgebung gewidmet hat. In
der Zeitschrift »Nature«. Er Unter den heutigen Verhält- vieler Hinsicht sind diese vergleichbar den niederen Men-
weist darauf hin, daß bei den nissen sei es anzuraten, ein- schenrassen. Ihre Diät ist vorwiegend vegetarisch. Sie schla-
beschränkten Mitteln zur Sei- fach Wasser zu benützen. Die- fen auf dem Rücken oder auf der Seite. Ihr Bett machen sie im
fenfabrikation, welche man ses Verfahren werde bei den Ast und Laubwerk hoch über dem Erdboden, es ist einem
in alten Zeiten besaß, die Grie- Orientalen allgemein ange- Storchnest vergleichbar. Gehör und Gesicht sind sehr scharf,
chen und Römer sich wohl wandt; es sei billig und habe während ihr Geruch nicht besser als beim Menschen entwi-
ohne rasiert hätten, wie es noch den Vorteil, daß Ent- ckelt ist, und der Geschmack ist sogar weniger entwickelt. Die
heute noch die Japaner und zündungen nicht so häufig Weibchen sind mit 7 bis 9 Jahren geschlechtsreif, die Männ-
Chinesen tun. Beim Ge- seien, daß das Rasiermesser chen ein bis zwei Jahre später. Das gewöhnliche Lebensalter
brauch von Seifenschaum nicht so leicht stumpf wer- ist etwa 20 Jahre. Es konnten Anerkennungen von Eigentums-
sei es nicht eigentlich dieser, de.« Die Umschau, 23, 1916, S. 456 rechten beobachtet werden.« Prometheus 1388, 1916, S. 575 – 576

Muskelstromprothesen 32 Millionen Bit in


»Die Atomic Weapons Research Establishment in Alder­maston der Sekunde
hat eine verbesserte Handprothese entwickelt, die durch einen »Die Leistungsfähigkeit des
Elek­tromotor angetrieben wird. Dieses neue Modell wird myo- IBM Systems 360, Modell
elektrisch, d. h. von Strömen gesteuert, die normalerweise den 44, das insbesondere für
Muskeln die Befehle erteilen. Die Befehlsspannungen werden wissenschaftlich-technische gebaut werden: Das Modell
mit Oberflächenelektroden aus den im Unterarm verbliebe- Anwendungen bestimmt ist, 44 hat 32 unabhängige Un-
nen Muskeln abgeleitet. Die ist durch erweiterte Ausstat- terbrechungsebenen und je
Hand ist mit einem Gleich- tungsmöglichkeiten wesent- Ebene 256 Unterebenen für
strommotor ausgerüstet, der lich erhöht worden. Durch eine Gesamtkapa­zität von
die ersten zwei Finger zusam- einen direkten Datenkanal 8192 Leitungen. Hinzu
men Richtung Daumen bewe- erreicht die elektronische kommt eine Hauptspeicher-
gen kann. Die übrigen sind Anlage jetzt bei der Über­ Schreib- und Lesesperre. Im
biegsame Attrappen. Sobald tragung von Daten von oder Zuge der Er­wei­terung ist die
der Amputierte die der Len- zu externen Einheiten eine maxi­male Hauptspeicher-
kung der Prothese dienenden Geschwindigkeit von 1 Mil­ größe bis auf 65 536 Worte
Muskeln entspannt, nimmt lion Worte zu 32 Informa­ erweitert worden. Das ent-
die Hand eine halbgeschlos- tionsbit in der Sekunde. Die spricht 262 144 Bytes zu je
sene Haltung an.« Die Umschau Verarbeitungsorganisation 8 Informationsbit.« Automatik
Muskeln steuern Prothese. 11, 1966 S. 365 kann äußerst komplex auf- 6, 1966, S. 235

84  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


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REZENSIONEN

Margot und Roland Spohn Maikäfer hat ein Neuntöter (Lanius col-
Bäume und ihre Bewohner lurio) auf dem Gewissen – ein Vogel, der
Der Naturführer zum reichen Leben sich Vorratslager in Sträuchern anlegt.
an Bäumen und Sträuchern Spohn und Spohn stellen die Ge-
Haupt, Bern 2016 hölzbewohner in jeweils etwa halbseiti-
302 S., € 29,90 gen Absätzen vor, wobei sie neben cha-
rakteristischen Eigenschaften auch fas-
zinierende Besonderheiten erläutern.
So erfährt man, dass der Gelbfüßige
Glanzrüssler, ein Rüsselkäfer, eigent-
ÖKOLOGIE lich gern an Birkenblättern frisst, aber
Bäume meidet, die neben Sumpfporst
Verborgen unter Blattwerk (Rhododendron tomentosum) wachsen.
Der Geruch dieser Pflanze, die zu den
Heidekrautgewächsen gehört, vertreibt
Bei genauem Hinsehen zeigt sich auf Bäumen und Sträuchern 
den Sechsbeiner.
allerlei Verblüffendes.
Die Autoren haben viele aktuelle
wissenschaftliche Erkenntnisse zusam-

E in Haselnussstrauch mit einem ab- mischen und exotischen Gehölze vor. mengetragen. Beide sind ausgebildete
gestorbenen Blatt, mitten im Som- Das Besondere an den Porträts von Biologen, Roland Spohn zudem Natur-
mer? Eine Birke mit eigenartig ver- mehr als 50 Arten: Im Fokus stehen die fotograf und -maler. Sie besitzen reich-
wachsener Krone? Ein Maikäfer, aufge- Wechselbeziehungen zwischen Bäu- lich Erfahrung darin, Naturführer zu
spießt auf einen Dorn in einem Strauch? men und Sträuchern einerseits und ih- verfassen, und ihr Buch zeugt von ei-
Die Lektüre dieses Buchs macht Lust ren Bewohnern andererseits – vor allem nem unvergleichlichen Talent, komple-
darauf, sich mit den Ursachen solcher Vögeln, Insekten und Pilzen. Das ein- xe Sachverhalte einfach, spannend und
Phänomene zu beschäftigen: Tiere, gangs erwähnte Blatt etwa nutzt der dennoch fundiert darzustellen.
Pflanzen oder Pilze, die den Baum als Haselblattroller (Apoderus coryli) als Zahlreiche hervorragende Fotos und
Wohnstätte nutzen. Kinderstube für seine Käferlarven, die Zeichnungen bebildern das Werk. Be-
In ihrem Naturführer stellen Margot verwachsene Baumkrone rührt von achtlich, dass die Autoren fast alle der
und Roland Spohn die häufigsten hei- Pilzbefall her und den aufgespießten mehr als 400 Fotos selbst aufgenom-

Der Eichelbohrer (links) hat einen extrem langen Rüssel. Mit die- röhre ein und legt Eier ab. Auf Rosen spezialisiert haben sich da-
sem bohrt das Weibchen ein Loch bis weit in das Samengewe- gegen die Larven mehrerer Blattwespen (rechts). Hier fressen
be hinein. Anschließend dreht es sich um, dringt mit seiner Lege- die Afterraupen einer Bürstenhorn-Blattwespe an den Blättern.
ROLAND SPOHN; AUS SPOHN, M. & R.: BÄUME UND IHRE BEWOHNER; MIT FRDL. GEN. DES VERLAGS HAUPT, BERN

ROLAND SPOHN; AUS SPOHN, M. & R.: BÄUME UND IHRE BEWOHNER; MIT FRDL. GEN. DES VERLAGS HAUPT, BERN

86  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


men haben. Man kann nur erahnen, wie Das Buch richtet sich an alle Natur­ mer begeistern können. Empfehlens-
viele Stunden genauer Naturbeobach- interessierten und wird sowohl Laien wert ist die Lektüre vor allem während
tung nötig waren, um die vielen Ge- als auch Experten begeistern. Einerseits der warmen Jahreszeit, wenn die meis-
hölzbewohner aufzuspüren und abzu- benötigt man kein Fachwissen, um die ten Baumbewohner aktiv sind. Denn
lichten. Ebenso beeindrucken die exak- Texte zu verstehen. Andererseits lernt man kann es beim Lesen kaum erwar-
ten Zeichnungen, in denen sich des man selbst als Biologe noch viel Neues. ten, im eigenen Garten nach Spuren zu
Künstlers Begeisterung für die Natur Welcher Fachmann weiß schon, dass suchen, die man vielleicht früher schon
und seine Liebe zum Detail widerspie- Rotkehlchen die besten Verbreiter von bemerkt hat, aber nie zuordnen konnte.
geln. Zur rundum schönen Optik tra- Pfaffenhütchensamen sind? Oder dass Jedem, der gern Natur entdeckt und
gen zudem das ansprechende Layout Proteine des Kleinen Zangenbocks sich für das Zusammenspiel von Orga-
und die hohe Druckqualität bei. Mo- (Rhagium inquisitor), eines fichtenbe- nismen interessiert, sei das Buch
natsangaben erlauben eine schnelle wohnenden Käfers, dazu genutzt wer- wärmstens empfohlen.
Übersicht darüber, wann die beschrie- den, die Kristallisation von Speiseeis zu
benen Fraßspuren, Pflanzengallen oder hemmen? Peter Biedermann
Pilzfruchtkörper in der Natur zu fin- Besonders Naturpädagogen und Der Rezensent ist Zoologe am Max-Planck-
den sind. Dies macht es den Lesern ein- Fachleute, die Exkursionen leiten, fin- In­stitut für chemische Ökologie und
fach, sich selbst auf Spurensuche zu be- den in dem Band einen reichen Wis- Träger des »Klartext«-Preises der Klaus Tschira
geben. sensfundus, mit dem sie ihre Teilneh- Stiftung.

Die Geheimnisse der Energie der Zeit verbesserte man »Energiesam-


Thermodynamik und Entropie melmaschinen« wie Wassermühlen im-
Dokumentation, England 2016 mer weiter, ohne jedoch die dahinter
Komplett-Media, Grünwald 2016 stehenden Prinzipen zu begreifen. Der
DVD, Lauflänge zirka 60 Minuten deutsche Universalgelehrte Gottfried
€ 19,99 Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) spekulier-
te über eine »lebendige Kraft«, die etwa
ausgetauscht werde, wenn zwei Billard-
kugeln kollidieren. Er erkannte auch,
dass im Schießpulver enorme Kräfte
THERMODYNAMIK vorhanden sein müssen, die dort quasi
schlummern und beim Zünden frei
Wärmefluss und Ordnung werden. Welch großer Vorteil müsste es
sein, wenn man diese Kräfte einfinge,
überlegte Leibniz: Ein Mensch könnte
Die meisten Studenten zählen Thermodynamik nicht zu ihren liebs­
die Arbeit von hunderten verrichten.
ten Fächern. Dass die Disziplin trotzdem hochspannend ist, beweist
An der Stelle entführt uns die Doku-
diese Dokumentation auf DVD. mentation in die Pumpstation Cross-
ness im Südosten Londons. Riesige

D ie Physik kennt abstrakte Konzep- Mit Blick auf den letzten Umstand
te, die heute dermaßen vertraut lautet der Originaltitel des Films tref-
klingen, dass man leicht die enorme fend »Order and Disorder«. Der Physik-
Dampfmaschinen verwandelten dort
im 19. Jahrhundert Wärme in mechani-
sche Bewegung. Obwohl es jeden inter-
wissenschaftliche Leistung dahinter professor Jim Al-Khalili von der Uni­ essierte, der solche Maschinen betrieb,
vergisst. Wir meinen beispielsweise den versity of Surrey (England) erzählt darin wusste lange Zeit niemand: Wie effizi-
Begriff »Energie« intuitiv zu verstehen: die Geschichte der Thermodynamik. ent können sie überhaupt sein? 1824
Energie ist eben nötig zur Beleuchtung, Al-Khalili tritt seit Jahren in diversen veröffentlichte der französische Physi-
zur Fortbewegung, zum Heizen und so Physikdokumentationen in Erschei- ker Nicolas Léonard Sadi Carnot (1796 –
weiter. Selten machen wir uns jedoch nung und ist mittlerweile so etwas wie 1832) eine Abhandlung, in der er Wärme
bewusst, dass sich damit zwei funda- der Harald Lesch Englands. als eine Art Substanz beschrieb. Er er-
mentale Naturgesetze verbinden: ers- Menschen haben seit jeher Energie fand den Begriff des Wärmeflusses und
tens die Energieerhaltung und zweitens angezapft, die in natürlichen Prozessen entdeckte, dass der Temperaturunter-
die Tatsache, dass in einem geschlos­ umgesetzt wird: Obst ernten, Holz sam- schied in der Maschine über deren Effi-
senen System die Entropie nicht ab- meln, segeln oder Wasserkraft nutzen zienz entscheidet. Carnots Erkenntnisse
nimmt (»Tendenz zur Unordnung«). sind nur einige Beispiele dafür. Im Lauf mündeten letztlich in den ersten Haupt-

WWW.SPEK TRUM .DE 87


REZENSIONEN

satz der Thermodynamik, dem zufolge verhalten sich mit statistischen Metho- brennt. Dem deutschen Publikum ver-
sich Energie immer nur umwandeln, den beschreiben lässt. Diese Vorgehens­ trauter sein dürfte das Projekt Wendel-
aber nie aus dem Nichts entstehen kann. weise rief allerdings den erbitterten stein 7-X in Greifswald, das auf das glei-
Nach allem, was wir heute wissen, gilt Widerstand von Kollegen hervor. Der che Ziel hinarbeitet. An die schönen
das im gesamten Universum. österreichische Physiker Ernst Mach Aufnahmen aus dem Innern des (engli-
Der deutsche Physiker Rudolf Clau­ (1838 – 1916) etwa nannte die Atome schen) Reaktors knüpft Al-Khalili die
sius (1822 – 1888) machte die einfache, »nicht-reale Entitäten«. Heute wissen Hoffnung, dass wir die Ordnung auf der
aber wichtige Beobachtung, dass Wär- wir: Boltzmanns Ansatz war der richtige. Erde noch etliche Millionen Jahre be-
me immer vom heißeren zum kälteren Wenn abgeschlossene Systeme im- wahren können.
Körper übergeht. Claudius gilt als Ent- mer zur Unordnung streben, wieso Der Film behandelt ein zentrales
decker des zweiten Hauptsatzes der kann sich dann im Universum etwas so und spannendes Thema der Physik,
Thermodynamik. Dieser besagt unter Geordnetes bilden wie das Leben? Wie und die Visualisierung ist ausgezeich-
anderem, dass die Entropie in einem Al-Khalili demonstriert, ist dies in nicht- net wie so oft bei Dokumentationen
abgeschlossenen, wärmedichten Sys- abgeschlossenen Systemen möglich, mit Al-Khalili. Jedoch hat das Werk eini-
tem nicht abnehmen kann. bei denen Energie fließt. Genau das ist ge Längen und Redundanzen. Sie wären
Ein mathematisches Modell für die- der Grund, warum Lebewesen Nahrung leicht zu vermeiden gewesen, hätte
ses Verhalten lieferte der österreichi- aufnehmen müssen: um ihren geord- man weitere Physiker ins Drehbuch
sche Physiker Ludwig Boltzmann (1844 – neten Zustand zu erhalten. Deshalb aufgenommen, die ebenfalls zur Ther-
1906). Al-Khalili stellt ihn als manisch- sind die Biosphäre im Allgemeinen und modynamik beitrugen: Robert Mayer
depressiven Menschen mit stark die Menschen im Besonderen perma- (1814 – 1878), James Joule (1818 – 1889)
künstlerischem Einschlag vor. Boltz- nent auf Energiequellen angewiesen. oder James Maxwell (1831 – 1879) etwa.
manns genialer Ansatz bestand darin, In der letzten Szene besucht Al-­
die betrachteten Systeme als Ensemb- Khalili folgerichtig die britische Ein- Stefan Gillessen
les zahlloser Atome anzusehen, deren richtung Culham für Kernfusionsfor- Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitar-
Bewegungen man nicht individuell ver- schung. Dort versuchen Physiker das beiter am Max-Planck-Institut für extraterres-
folgen muss, sondern deren Kollektiv- Feuer zu zünden, das auch in der Sonne trische Physik in Garching.

Norbert Hermann Hinterberger von Versuchsergebnissen? Sind Mathe-


Die Fälschung des Realismus matiker Erfinder oder Entdecker?
Kritik des Antirealismus in Philosophie Auf solche und ähnliche Fragen gibt
und theoretischer Physik Hinterberger – laut Klappentext freier
Springer Spektrum, Berlin 2016 Schriftsteller mit Schwerpunkt Philoso-
225 S., € 19,99 phie der Naturwissenschaften – eine
eindeutige Antwort, die er sperrig als
fallibilistischer Falsifikationismus be-
zeichnet. Gemeint ist die Lehre des
­österreichisch-britischen Philosophen
WISSENSCHAFTSTHEORIE Karl Popper (1902 – 1994), eine Spielart
des kritischen Realismus.
Ist das alles wirklich wahr? »Realismus« meint jene Auffassung,
die wohl jeder Mensch in der Praxis ver-
tritt: Die Dinge existieren unabhängig
Sagen wissenschaftliche Theorien etwas über die Natur aus – 
von unserer Anschauung. Wie Einstein
oder sind sie bloß einstweilige Übereinkünfte unter Forschern? 
anlässlich des Streits um die Deutung
Eine anregende Streitschrift. der Quantentheorie sagte: Der Mond ist
auch da, wenn keiner hinschaut. Diese

W er auf die Idee kommt, praktizie- musproblem ein Dauerthema der Phi- alltägliche Ansicht schmähen Philoso-
rende Naturwissenschaftler zu losophie und Wissenschaftstheorie. phen als »naiven Realismus«; sofern
fragen, ob sie wirklich die Natur erfor- Sind individuelle Sinneseindrücke das sie den Realismus dennoch verteidi-
schen oder bloß mit abstrakten Ideen einzig Wahre, um Theorien zu beweisen gen, adeln sie ihn zum »kritischen Rea-
herumspielen, wird wahrscheinlich oder zu widerlegen? Sagt die Quanten- lismus«.
höflich des Labors verwiesen. Trotzdem theorie etwas über die Wirklichkeit aus Popper gesteht naturwissenschaftli-
ist die Frage als so genanntes Realis- oder nur über die Wahrscheinlichkeit chen Theorien einen Bezug zur Wirk-

88  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


Bei Angst ist Wissen ein guter Berater.

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REZENSIONEN

Alastair Fothergill, Huw Cordey


Die Jagd – Der Kampf ums Überleben
Aus dem Englischen von Jorrun Wissmann, Monika Niehaus, Coralie Wink
National Geographic, Hamburg 2016. 312 S., € 39,99
Bei einer Jagd geht es um Leben und Tod, und das nicht nur für die Beute. Jeder missglückte Angriff
kostet den Jäger wertvolle Energie und lässt ihn noch mehr hungern. Diese dramatische Beziehung
zwischen Greifern und Ergriffenen beleuchten die Autoren mit Hilfe detailreicher Texte und atembe-
raubender Fotos. Beide sind erfahrene Naturfilmer. Neben Großkatzen präsentieren Fothergill und
Cordey auch Spinnen, die ihre Fangnetze quer über Flüsse spannen, sowie meterbreite Armeen von
Wanderameisen, die den Wald durchkämmen. Die potenziellen Opfer, erfahren wir, wehren sich mit
kollektivem Hören und Sehen, mit dem Schutz der Masse, mit Tarnung oder mit Defensivmaßnahmen
wie betonharten Termitenhügeln. Das Werk überzeugt mit klarer Sprache und faszinierendem Bildma-
terial, es ist lesens- und sehenswert für alle einschlägig Interessierten. FRANZISKA MÜSCHENICH

Jürgen Beetz
Feedback – Wie Rückkopplung unser Leben bestimmt
Springer Spektrum, Berlin und Heidelberg 2016. 298 S., € 19,99
Der Systemanalytiker Jürgen Beetz zeigt überraschend viele Zusammenhänge auf, in denen Rückkopp-
lungen eine zentrale Rolle spielen. Sie sind stets unmittelbar und ohne Mühe nachzuvollziehen, auch
wenn sie einem vorher nicht bewusst waren. Das Buch bietet zahlreiche Aha-Erlebnisse, getrübt nur
von wenigen sachlichen Ungenauigkeiten. Im vorderen Teil des Werks klärt der Autor begriffliche
Grundlagen: Was ist Rückkopplung, was ein System? Was versteht man unter Chaos und was unter
Selbstbezüglichkeit? Gelegentlich fordert Beetz seinen Lesern etwas Durchhaltevermögen ab, gibt aber
interessante Anregungen in Sachen Philosophie. Es folgen zahlreiche Beispiele zu Rückkopplungspro-
zessen, sei es aus Evolution, Klima, Psychologie oder menschlichem Sozialleben, aus Politik, Wirtschaft,
Geschichte oder Technik. Leider weist das Buch jene Unzahl an Rechtschreib- und Druckfehlern auf, die
bei modernen Druckerzeugnissen mittlerweile üblich geworden ist. MARKUS NEUROHR

Iain Stewart
Planet Oil – Die Geschichte des Öls
Dokumentation, Großbritannien 2016. Polyband, München 2016. Laufzeit 150 Minuten, DVD € 16,–
Diese dreiteilige BBC-Dokumentation zeigt spannend aufbereitet die Geschichte des Erdöls. Geologie­
professor Iain Stewart führt uns zu einschlägigen Schlüsselorten: Zu den ersten Förderstellen in den
USA, zu modernen Bohrplattformen in der Nordsee sowie nach Vorderasien, von wo aus die Ölkrisen in
den 1970er Jahren ihren Ausgang nahmen. Die Filme machen überdeutlich: Moderne Gesellschaften
sind abhängig vom Öl, und dies durchdringt alle Lebensbereiche und bestimmt wesentlich die Politik.
Eine Botschaft, die wieder und wieder unterstrichen wird, was auf Dauer die Geduld strapaziert und
vielleicht dem Seriencharakter der dreiteiligen Doku geschuldet ist. Das Werk behandelt auch den
anthropogenen Klimawandel und die Suche nach neuen Ölvorkommen und liefert hier für Laien eine
brauchbare Zusammenfassung. Alles in allem ist es sehenswert. TIM HAARMANN

Thomas Pfeifer
Treffen sich zwei Knochen – Fit und gelenkig bis ins hohe Alter
Westend, Frankfurt a. M. 2016. 224 S., € 14,99
Viel Bewegung, aber wenig Belastung: So heißt die Zauberformel für gesunde Gelenke. Thomas Pfeifer
ist seit über 20 Jahren Orthopäde in eigener Praxis und spricht aus Erfahrung. Sein Buch richtet sich an
medizinische Laien und erklärt, wie unsere Gelenke aufgebaut sind, was ihnen guttut und was nicht,
und wie man Gelenkverschleiß vorbeugen und behandeln kann. Fast jeden wird es irgendwann treffen.
Sobald die Gelenke anfangen, hier und da zu zwicken, sollte man sich Pfeifers Ratschläge zu Herzen
nehmen. Dann wird man auch noch eine ganze Weile mit den eigenen Körperteilen leben können.
Pfeifer versucht den Stoff aufzulockern, indem er Gelenke und Muskeln bisweilen sprechen lässt und
einen konstruierten Dialog mit dem Leser führt. Auch wenn das manchmal etwas gewollt wirkt, ist
sein Buch gut lesbar, ausgesprochen unterhaltsam und informativ. TANJA NEUVIANS

90  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


lichkeit zu, ist also Realist. Doch woher wie es kommt, dass sich mathematische (SdW 7/2014) aufgefallen. Den Struktu-
weiß man, ob eine Theorie stimmt? Begriffe so gut zur Naturbeschreibung renrealismus, der dort angesichts der
Popper antwortet: Sie muss sich dem eignen – laut Einstein ein wahres Wun- Quantenfeldtheorie propagiert wird
Falsifikationskriterium stellen, das der. Kanitscheider antwortet: Die Ma- (real sind nicht Felder und Teilchen,
heißt widerlegbar sein; sie gilt, solange thematisierbarkeit muss bereits in der sondern Strukturen), bezeichnet Hin-
sie nicht falsifiziert worden ist. Natur selbst angelegt sein. Die Dinge terberger als – Sie erraten es sicher – an-
Diese trügerisch einfache Antwort müssen von Natur aus gewisse Zählbar- tirealistisch. Hingegen lobt er den The-
hat unter Poppers Schülern, etwa Imre keiten, Symmetrien und Strukturen oretiker Lee Smolin, der in seinem Buch
Lakatos und Paul Feyerabend, sowie un- aufweisen, damit Mathematiker sie auf »Im Universum der Zeit« über eine zeit-
ter Kritikern wie dem amerikanischen den Begriff bringen können. liche Evolution der Naturgesetze spe-
Wissenschaftsphilosophen Thomas Sa- Diese, wie mir scheint, plausible An- kuliert, als wahren Realisten.
muel Kuhn (1922 – 1996) einen Ratten- nahme verdammt Hinterberger als Hinterbergers Polemik ist durchaus
schwanz weiterer Fragen nach sich ge- ­antirealistische Verirrung – allerdings anregend und kenntnisreich, dennoch
zogen. Hinterberger hält all diese Dis- ohne das Problem einer Lösung näher- habe ich einen Einwand: Man sollte der
kussionen jedoch für verfehlt und lässt zubringen. Er betont nur, auch der abs- Realität keine Vorschriften machen, au-
nur Meister Popper gelten: Wer von der trakteste mathematische Begriff exis- ßer dass es sie schon gegeben haben
reinen Lehre des Falsifikationismus ab- tiere letztlich als neurophysiologischer muss, als noch kein Wissenschaftler auf
weiche, mache sich ausnahmslos ver- Hirnprozess, sei also real. Doch damit der Welt war. Ob die Natur letztlich aus
dächtig, Antirealist zu sein. bleibt die Ausgangsfrage, wie Mathe- Teilchen oder Feldern oder Strukturen
Hinterbergers Verdikt trifft auch den matikerhirne natürliche Strukturen besteht, das steht nicht bei Popper.
deutschen Philosophen Bernulf Kanit- entdecken, völlig offen.
scheider (* 1939), obwohl der in seiner Als Leser von »Spektrum der Wissen- Michael Springer
Zunft fast schon als naiver Realist gilt. schaft« ist Hinterberger der Artikel Der Rezensent ist Physiker und ständiger
Dieser hat unter anderem untersucht, »Was ist real?« von Meinard Kuhlmann Mitarbeiter von »Spektrum der Wissenschaft«.

Val McDermid Die Autorin versteht es, ihrem Werk


Anatomie des Verbrechens gekonnt Atmosphäre zu verleihen. Die
Meilensteine der Forensik Abbildungen, meist Fotos beteiligter
Aus dem Englischen von Doris Styron Personen, sind durchweg schwarz-weiß.
Knaus, München 2016 Auf jeder Doppelseite ist eine Fliege zu
384 S., € 14,99 sehen, aber stets an etwas anderer Stel-
le, als würde sie sich mit dem Leser
durch das Buch bewegen. Im Mittelteil
findet sich eine bunte Bildersammlung
mit Fotos, Grafiken und Schemata zu
FORENSIK den besprochenen Kriminalfällen.
Im Lauf der Zeit, schreibt McDermid,
Auf den Spuren der Straftäter ist zwischen Ermittlern und Tätern eine
Beziehung entstanden, die an Räuber-
Beute-Dynamiken der Tierwelt erinnert.
Seit zwei Jahrhunderten helfen Forensiker dabei, Verbrechen aufzuklären.
Die Ersten entwickeln stetig mehr Fan-
Intime Einsichten in ihre oft unappetitliche Arbeit.
tasie, Kreativität und dauernd bessere
technische Verfahren, um Fälle aufzu-

V al McDermid, Journalistin und fiktionale Genre und führt ihre Leser in klären. Die Zweiten bringen immer
­Dozentin für englische Literatur, 200 Jahre Forensikgeschichte ein. Sie mehr Einfallsreichtum auf, um der Poli-
schreibt normalerweise Krimis und richtet ihren Blick auf echte Opfer, reale zei zu entkommen. So lernen wir einen
Thriller. Die gebürtige Schottin ist be- Täter und wirkliche Ermittler. In zwölf Mörder kennen, der ein Regenschirmge-
kannt dafür, ihre fiktiven Helden in äu- Kapiteln, die jeweils einem forensi- wehr konstruierte, mit dem er seinem
ßerst ungewöhnlichen Fällen auftreten schen Arbeitsgebiet gewidmet sind, Opfer tödliches Rizin an einer Bushalte-
zu lassen. Doch ihre blühende Fantasie lässt sie zahlreiche Experten zu Wort stelle injizierte.
wird von der Realität oft noch weit in kommen. Darunter finden sich Brand­ Bis sich die Forensik zur heutigen
den Schatten gestellt. Im vorliegenden ermittler, Entomologen, Pathologen, Wissenschaft entwickelte, war es ein lan-
Sachbuch verlässt McDermid daher das Computerspezialisten und viele mehr. ger Weg. 1247 verfasste der chinesische

WWW.SPEK TRUM .DE 91


REZENSIONEN

Beamte Song Chi erste »Aufzeichnun- pers. Während dieser allmählich aus- Grad der Leichenstarre sowie der Zerset-
gen zur Tilgung von Ungerechtigkeit« trocknet, erscheinen erst Schmeißflie- zungsfortschritt analysiert, wie aus dem
als Grundlage für die Untersuchung gen, gefolgt von Käfern, Mottenlarven Band hervorgeht. Forensiker und Kri-
von Leichen. Erst im 19. Jahrhundert und Milben, die das Fleisch verzehren. minalbeamte geben schließlich ihre
wurde Beweismaterial vor Gericht zur Laut der forensischen Anthropolo- Untersuchungsergebnisse in die Hände
Regel, und 1892 verurteilte ein Gericht gin Sue Black gleicht kein Verwesungs- der Justiz, wo sie neutral und gewissen-
zum ersten Mal eine Täterin auf Grund prozess dem anderen, denn er hängt haft abgewogen werden sollen, um ein
ihrer Fingerabdrücke. Seit 1918 gibt es unter anderem von der Körpermasse, gerechtes Urteil zu ermöglichen.
das erste gerichtsmedizinische Institut Bekleidung und dem Fettgehalt des To- Der sachliche Stil des Buchs erlaubt
in New York, und 1988 wurde erstmals ten ab sowie von Medikamenten und es den Lesern, sich von den behandel-
ein Verbrechen anhand eines geneti- Drogen, die dieser eingenommen hatte. ten Verbrechen und den damit verbun-
schen Fingerabdrucks aufgeklärt. Heute Wie sich diese und weitere Variablen auf denen Schicksalen emotional zu dis-
suchen forensische Computerspezialis- den Zersetzungsprozess auswirken, un- tanzieren. Die zahlreichen Fallbeispiele
ten auch im Internet nach digitalen tersuchen Wissenschaftler an der an­ sind facettenreich dargestellt in Bil-
Spuren von Gewaltverbrechen. thropologischen Forschungsanstalt der dern, Zitaten und gut verständlichen
Um Verdachtsmomente zu erhärten, University of Tennessee. Sie setzen Erläuterungen wissenschaftlicher Me-
müssen die Ermittler oft viele Puzzletei- Leichname unterschiedlichen Umwelt- thoden und Erkenntnisse. Für fachlich
le miteinander kombinieren. Fingerab- bedingungen aus und überlassen diese näher Interessierte fallen sie stellenwei-
drücke, Aussagen von Zeugen und Sach- dann sich selbst. Ziel ist es, die große se etwas zu oberflächlich aus, ansons-
verständigen, DNA-Analysen und Un- Menge an unbekannten Einflüssen zu ten aber ist das Werk interessant und
tersuchungen an Insekten fügen sich erfassen und zu kategorisieren. Dabei lehrreich. Freunden abendlicher Krimi-
als Mosaiksteinchen in ein forensisches haben die Forscher unter anderem 400 serien bietet es die Möglichkeit, die
Gesamtbild ein. So erfahren wir von ei- verschiedene Verwesungsgerüche iden- Sendungen beim nächsten Mal mit ei-
nem Entomologen, dass sich anhand tifiziert. Das Wissen darüber, wann und nem kritischeren Blick zu verfolgen.
von Kerbtieren ermitteln lässt, wie lan- unter welchen Bedingungen ein toter
ge eine Leiche am Fundort liegt – das Körper diese abgibt, kann helfen, den Franziska Müschenich
Fressen beziehungsweise Eierablegen Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Die Rezensentin hat Biologie und Kogni­
richte sich bei den Sechsfüßern nach Zurzeit werden dafür vor allem die Tem- tionswissenschaften studiert und arbeitet als
dem zeitabhängigen Zustand des Kör- peratur der sterblichen Überreste, der Wissenschaftsjournalistin in Köln.

Norman MacLeod ren, verschwanden in weniger als drei


Arten sterben Millionen Jahren bis zu 97 Prozent (!)
Wendepunkte der Evolution der marinen wirbellosen Arten.
Aus dem Englischen von Iris Newton Gewiss sind solche Zahlen mit Frage-
Theiss, Darmstadt 2016 zeichen behaftet. Sie hängen von den
240 S., € 39,95 Unsicherheiten des Fossilbefunds und
der Datierung ab. Zudem beziehen sie
sich nur auf Arten, die fossile Spuren
hinterlassen haben – über die anderen
wissen wir nichts. Trotzdem ist klar: Ir-
PALÄONTOLOGIE gendetwas Drastisches muss im Perm
passiert sein. Das irdische Leben steckte
Triumphe des Todes damals in einer schweren Krise, stand
vielleicht sogar ganz auf der Kippe.
Norman MacLeod, Paläontologe am
Im Zuge der Evolution kam es mehrmals zu massenhaftem Artensterben.
Natural History Museum in London,
Mancher glaubt, jetzt sei es wieder so weit.
befasst sich in diesem Band mit den
fünf bekannten Massenaussterben der

Ö koromantiker verbinden Natur So kam es in der Vergangenheit mehr- Erdgeschichte. Er umreißt für jedes da-
gern mit Harmonie. Blickt man zu- fach zu Massenaussterben: Perioden, in von, wie es ablief, welche Ursachen ihm
rück in die Erdgeschichte, erscheint das denen der weltweite Artenschwund ex- zu Grunde lagen, welche Organismen-
allerdings ziemlich absurd. Natur war treme Ausmaße erreichte. Im späten gruppen es betraf und was für Folgen
und ist oft alles andere als harmonisch. Perm etwa, vor rund 252 Millionen Jah- es hatte.

92  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


MEHR WISSEN BEI resspiegels, Vereisungen, tektonische

JAHRGANGS-
Vorgänge, Vulkanismus, Klimaschwan-
kungen, Veränderungen von atmosphä-
rischen und ozeanischen Zirkulations-
mustern sowie marine Sauerstoffarmut.
MacLeod geht zudem auf außerir­
CD-ROM 2015
dische Faktoren ein, insbesondere den
großen Meteoriteneinschlag in der spä-
ten Kreide, der den Chicxulub-Krater
hinterließ. Er äußert begründete Zweifel
daran, dass dieser Impakt das damalige
Mehr Rezensionen finden Sie Artensterben allein verursachte. Das
unter: Aufprallereignis habe vielmehr eine be-
www.spektrum.de/rezensionen reits krisenhafte Situation weiter de­
stabilisiert, schreibt der Paläontologe.
Ebenfalls erhellend sind seine Betrach-
Für kundige Autoren wie MacLeod tungen kleinerer Aussterbeereignisse in
ist das eigentlich dankbarer Stoff. Ohne den vergangenen 65 Millionen Jahren.
große Mühe können sie die Aufmerk- Dass wir heute ein anthropogenes
samkeit eines breiten Publikums ge- »sechstes Massenaussterben« erleben,
winnen. Umso erstaunlicher, wie wenig wie vielfach behauptet wird, kann der
populär der Wissenschaftler sein The- Autor nicht bestätigen. Solche Thesen
ma präsentiert. Nicht nur, dass er seine beruhten ausnahmslos auf Extrapola­
Leser hemmungslos mit Fachsprache tionen kleiner Datensätze, die sich auf
konfrontiert, weit gehend ohne sich zu vergleichsweise kurze Zeitintervalle
erklären. Er quält sie auch mit endlosen oder begrenzte Regionen beziehen oder
Schachtelsätzen, extremem Nominal- von Organismen stammen, die fossil
stil und furchtbar umständlichen For- eher schlecht vertreten sind. Daher lie-
mulierungen. Die Übersetzung mag ßen sie sich kaum mit dem Fossilbe-
­ihren Anteil daran haben; sie könnte fund vergangener Aussterbeereignisse
­jedenfalls besser sein. Nach wie vor be- vergleichen. Man wisse schlicht zu we-
steht kein zwingender Grund, den nig, um die Tragweite des derzeitigen
Strahlstrom als Jetstream zu bezeich- Artenschwunds einzuschätzen. In dem
nen und die Stoßwelle als Schockwelle. Zusammenhang stellt MacLeod ver-
Man täte dem Buch trotzdem Un- schiedene Methoden vor, um künftige
recht, würde man es als schlecht be- Aussterberaten abzuschätzen.
zeichnen. MacLeod hat Interessantes Das Buch ist üppig bebildert und mit Die CD-ROM bietet Ihnen alle Artikel
mitzuteilen, und wenn er sich in den Grafiken versehen. Es fehlt ihm jedoch (inklusive Bildern) des vergangenen
hinteren beiden Buchdritteln mit ver- eine zentrale Übersicht über alle be- Jahres im PDF-Format. Diese sind im
gangenen Erdzeitaltern und längst aus- sprochenen Zeitabschnitte. Und das Volltext recherchierbar und lassen
gestorbenen Lebewesen befasst, geht Glossar, immerhin vorhanden, erklärt sich ausdrucken. Eine Registerdaten-
davon fraglos Faszination aus. Es ist nur wenige der verwendeten Fachbe- bank erleichtert Ihnen die Suche ab
spannend zu erfahren, dass sich die gro- griffe.
der Erstausgabe 1978. Die Jahrgangs-
ßen Aussterbeereignisse mehr oder we- Alles in allem präsentiert sich »Arten
CD-ROM kostet im Einzelkauf € 25,–
niger ohne extraterrestrische Einflüsse sterben« als Werk aus kompetenter
(zzgl. Porto) oder zur Fortsetzung
erklären lassen – ob im späten Ordovizi- Hand, das leider viel von seinem Poten-
€ 18,50 (inkl. Porto Inland).
um (vor 444 Millionen Jahren), Devon zial verschenkt. Das ist schade, hat der
(vor 360 Millionen Jahren), Perm (vor Autor doch Substanzielles beizutragen –
252 Millionen Jahren), der späten Trias speziell wenn es darum geht, den an­
(vor 200 Millionen Jahren) oder Kreide thropogenen Artenschwund mit erdge-
(vor 66 Millionen Jahren). Die damali- schichtlichen Krisen zu vergleichen.
gen ökologischen Krisen, so die These,
So erreichen Sie uns:
entstanden vermutlich, weil irdische Frank Schubert
Faktoren unglücklich zusammentrafen. Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der Telefon: 06221 9126-743
Dazu gehörten Änderungen des Mee- Wissenschaft«. www.spektrum.de/recherche
Fax: 06221 9126-751
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Störungen eliminieren Störungen begrenzen die Messemp-


Felicitas Mokler erklärte, wie Forscher findlichkeit, können aber kein Signal FOLGEN SIE UNS
zum ersten Mal die von Einstein vorher- der Intensität von GW150914 und zu- IM INTERNET
gesagten Gravitationswellen maßen dem synchron in beiden Detektoren
(»Gravitationswellen nachgewiesen«, hervorrufen.
Forschung aktuell, April 2016, S. 12). Verschmelzungen massereicher stel- www.spektrum.de/facebook
larer Schwarzer Löcher sind nach aktu-
Walter Langel, Greifswald: Der Beitrag ellen Schätzungen keinesfalls ein Jahr-
zu Gravitationswellen erklärt das Mi- tausendereignis, sondern eher ein wö-
chelson-Interferometer (mit dem man chentliches – im Mittel, versteht sich. www.spektrum.de/youtube
ursprünglich den Äther finden wollte, Vielen Dank für den Hinweis auf die
in dem sich die Lichtwellen fortbewe- fehlende Beschriftung der Zeitachse in
gen sollten wie Schall in der Luft), ohne der Grafik, die wir unten noch einmal
www.spektrum.de/googleplus
aber auf die entscheidende Frage einzu- vollständig abdrucken.
gehen, wie man dort eine Längenände-
rung von 10–21 sauber von thermischer
Fluktuation zu trennen glaubt. Findiges Umrüsten www.spektrum.de/twitter
Weitere Frage: Wie häufig verschmel- Michael Springer erinnerte am Beispiel
zen eigentlich große Schwarze Löcher? China daran, dass Recycling Ressour-
Falls das ein Jahrtausendereignis ist, ist cen schont und die Umwelt weniger
es extrem unwahrscheinlich, dass die belastet (»Keine Zukunft ohne Kreis-
LESERBRIEFE
Wellen genau dann eintreffen, wenn laufwirtschaft«, Springers Einwürfe,
der Detektor angeschaltet wird. Mai 2016, S. 18). … sind willkommen! Schicken Sie Ihren
Es ist zudem gute Praxis in der Wis- Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich
senschaft, die Achsen einer Grafik zu Hans-Peter Nicolai, Schwäbisch Gmünd:
beziehen, einfach an die E-Mail-Adresse
beschriften. Dann könnten nämlich die Ich bin auch der Ansicht, dass es ohne www. leserbriefe@spektrum.de
Zeitachsen der Messung und Simula- eine Kreislaufwirtschaft mit unserem oder geben Sie Ihren Kommentar direkt
tion mit dem angegebenen Frequenz- Lebensstil nicht mehr lange so weiter unter dem zugehörigen Artikel auf
Spektrum.de ab. Die individuelle Web­
bereich (60 – 250 Hz) verglichen werden. funktionieren kann. adresse ist stets am Ende des Artikels im
Gestolpert bin ich über den letzten Heft in Rot abgedruckt.
Antwort der Autorin Felicitas Mokler: Satz: »In einigen Städten surrten Mo-
Wie die Forscher versuchen, die im peds und dreirädrige Motorrikschas
Michelson-Interferometer auftreten- ausnahmslos mit Elektroantrieb da- Ich habe selbst Dreiradlastenfahrräder
den Störungen zu minimieren, be- hin.« Mein Eindruck von China ist, dass gesehen, die von Pedal- auf Elektroan-
schrieb der Artikel »Warten auf die Wel- sogar in jeder größeren Stadt (zu sehen trieb umgebaut waren.
le« in der Ausgabe 12/2015 von »Spek­ an 20- bis 30-stöckigen Wohnsilos) aus-
trum der Wissenschaft«. In diesem schließlich solche Fahrzeuge unter-
Kurzbeitrag der Rubrik »Forschung wegs sind. Nur noch auf dem Land (wo Erratum
­aktuell« war leider nicht genug Platz maximal vierstöckige Plattenbauten Editorial, Mai 2016, S. 3
für eine angemessene Darstellung der stehen) findet man eine Mehrzahl von
technischen Maßnahmen. Thermische Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Die kosmische Höhenstrahlung wurde
nicht 1930 entdeckt, sondern 1912, und
zwar von Victor Franz Hess. Vielen
Am 14. September 2015 registrierten die LIGO-Detektoren der USA (H1, L1) erstmals Dank an Ludwig Devrient, der uns auf
Gravitationswellen. Sie stammen von der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher. den Fehler aufmerksam machte.

Hanford, Washington (H1) Livingston, Louisiana (L1) Verkleinerung des Orbits


Verschmel-
zung
Längenänderung (10 )

1,0
–21

Abkling-
relative Längenänderung (10 )
–21

0,5 phase
1,0
relative

0,0 0,5

0,0
– 0,5
– 0,5
– 1,0 L1 beobachtet – 1,0 numerische Relativität
H1 beobachtet H1 beobachtet (angepasst an relative Position zu L1) Wellenmodelle

0,30 0,35 0,40 0,45 0,30 0,35 0,40 0,45 0,30 0,35 0,40 0,45
Zeit in Sekunden Zeit in Sekunden Zeit in Sekunden

ABBOTT, B.P. ET AL.: OBSERVATION OF GRAVITATIONAL WAVES FROM A BINARY BLACK HOLE MERGER. IN: PHYSICAL REVIEW LETTERS 116, 061102, 2016, FIG. 1 UND 2 (10.1103/PHYSREVLETT.116.061102)

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FUTUR III

DER GEISTERFÄNGER
Wer die Geografie fremder Planeten erforschen will, sollte 
über die Gebräuche der Aliens Bescheid wissen.

VON S. R. ALGERNON

Z uerst hielt ich es für Donner, dann


begriff ich, dass unzählige Beine an
meinem Zelt vorbeitrampelten: Die
sagten sie. »Der Geistersturm wird stär­
ker. Der Geisterfänger ruft.«
Wie sollte ich das meinem Doktor­
»Ich verlasse mich lieber auf die Kli­
nik am Raumhafen«, sagte ich, wäh­
rend ich mir den Staub abwischte.
Prozession hatte begonnen. Ich stopfte vater erklären? »Raumhäfen kommen und gehen,
mir die Ohren zu und konzentrierte Da mir nur noch wenige Tage blie­ die Geister bleiben für immer«, sprach
mich wieder auf das Display meines ben, besorgte ich mir Zelt und Schlaf­ der Pilger und reihte sich wieder in die
Smartphones. Nach zwei Wochen auf sack und brach allein auf. Natürlich Prozession ein. »Ich wünsche eine si­
diesem öden Planeten hatte ich nicht musste ich auf die Scanner verzichten, chere Reise.«
einmal die Hälfte der Daten für meine die waren viel zu schwer, aber die Apps Ich kletterte bergauf und beobach­
Dissertation zusammen. Das Thema auf meinem Smartphone würden zur tete das Gewitter. Interessant, die meis­
klang interessant: eine Welt, deren drei Not reichen. Ich hoffte, die Daten später ten Blitze sammelten sich hinter einem
Monde sich zu einer bestimmten Zeit ordnen zu können. Hügelkamm. Nach gut einer Stunde
hintereinander am Firmament aufrei­ Und jetzt hatten mich die Pilger ein­ stand ich am verwitterten Rand eines
hen. Nach Meinung meines Doktor­ geholt. Draußen schlug ein Blitz ein, so Einschlagkraters. Blitze hatten das
vaters sollte dies die Atmosphäre auf­ nahe, dass er Schatten von Exoskeletten ­Gestein verfärbt und geschmolzen, so
wühlen und der perfekte Test für meine und mehrgliedrigen Beinen an die Zelt­ dass es abwechselnd pockennarbig
Hypothese sein, der zufolge bestimmte wand warf. oder glitschig aussah.
kristalline Formationen auf Planeten­ Ein stachliges Bein stach wie ein Ich fotografierte das Kraterinnere.
oberflächen von spektakulären Mag­ Speer durch die Plane und bohrte sich Drei Blitzschläge ätzten ein Spinnen­
netstürmen erzeugt werden. in meinen Schlafsack. Panisch raffte netz von Linien durch meine geschlos­
Aber niemand hatte mir gesagt, dass ich meine Sachen zusammen, stopfte senen Lider. Meine Haut kribbelte. Mei­
diese Zeit für die insektoiden Eingebo­ mein Smartphone in den Rucksack und ne Ohren sangen. Die Blitze sammelten
renen der Monat der Synergie war. Das stürzte hinaus. Die Prozession wälzte sich irgendwie dort unten im Krater.
ganze Dorf war erfüllt von Umzügen, sich langsam vorbei. Was zog sie an?
Glockenschlägen und vom Quieken der Der Insektoid zog sein Bein aus mei­ Ich aktivierte eine App und zielte
Puppen. Obendrein unterbrach das Un­ nem Zeltdach und schlängelte sich mit dem Smartphone auf den Fokus
wetter die Verbindung zu den Satelli­ durch die Menge zu mir. der Einschläge. Vorsichtig stieg ich wäh­
ten; ich brauchte aber die Sicht auf die »Verzeihung«, sagte er. »Hoffentlich renddessen hinunter. Der Abhang war
Formationen der Oberfläche. Also woll­ habe ich Sie nicht verletzt.« steiler als gedacht, aber ich hielt das
te ich ins Gebirge, aber die einheimi­ »Nur ein paar Kratzer.« Gleichgewicht. Ich blieb eigenartig ru­
schen Träger weigerten sich, meine »Sie sollten sich der Prozession an­ hig. Mein Gefühl sagte mir: Lauf davon,
Ausrüstung zu schleppen, selbst für schließen. Der Geisterfänger wird einen aber der Krater zog mich magisch an.
doppelten Lohn. »Wir können nicht«, Geist finden, der Ihre Wunden heilt.« Nachdem ich noch ein Dutzend Blitze

96  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JUNI 2016


aufgenommen hatte, beschloss ich um­ baren Geräusche des Pilgerzugs näher­ DER AUTOR
zukehren. kamen.
S. R. Algernon hat Biologie an der Uni-
Ich rutschte aus, fiel auf die Knie und »Sie sind der Geisterfänger«, sagte
versity of North Carolina in Chapel
stützte mich mit den Händen ab. Als ich, dankbar, dass der Kokon mir zu Hill studiert. Derzeit lebt er in Singapur.
ich wieder aufstand, hafteten Fäden an sprechen erlaubte.
meinen Fingern. Wie Spinnweben. Die Spinne inspizierte die Ränder ih­
Wieder blitzte es. Die Fäden glühten. res Netzes. Jetzt sah ich, dass darin hun­ Wohin mögen die Entwicklungen unserer
Zeit dereinst führen? Sciencefiction-Autoren
Jeder Muskel meines Körpers krampfte derte ramponierter Maschinen und spekulieren über mögliche Antworten. Ihre
sich zusammen, und ich stolperte rück­ Dutzende nichtmenschlicher Skelette Geschichten aus der »Nature«-Reihe »Futures«
wärts. Als mein Kopf aufschlug, machte hingen. erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache.
mich der Schmerz benommen. Fäden Ein verbeulter, alter Roboter rollte © Nature Publishing Group
umspannen mich und bildeten einen auf mich zu. Ein rotes Kreuz wies ihn www.nature.com
Nature Nature 531, S. 408, 17. März 2016
Kokon – einen silbrig schimmernden als medizinischen Assistenten aus.
faradayschen Käfig. »Du kannst das bedienen, ja?«
Ich nickte. Alle Feldforscher muss­
ten damit trainieren. Im Notfall konnte
Als ich erwachte, hing ich in einem dieser Roboter sogar einen Blinddarm
Netz über dem Kraterboden. Ich war entfernen.
eingesponnen in einen Kokon, der je­ Der Geisterfänger war anscheinend
den Fuß, Arm und Finger so umhüllte, zufrieden und krabbelte wieder seiner
dass ich sie bewegen konnte. Nische zu. Das Gewitter hörte auf.
Ein Blitz schlug ein. Das Netz über »Wenn die anderen kommen«, be­
mir glühte auf, als Strom hindurchfuhr. fahl er, »folge meinen Anweisungen
Ich hörte ein Rascheln und drehte und sag kein Wort.« Der Kokon zog sich
den Kopf. In einer dunklen Nische er­ plötzlich um meinen Hals zusammen,
schien eine Art Spinne, die auf zwölf so dass ich kaum Luft bekam, dann lo­
Beinen krabbelte. Während sie sich nä­ ckerte er sich wieder. »Wage nicht, mich
herte, zogen sich meine Arme eng vor zu täuschen.«
der Brust zusammen, als wäre ich eine Dann erhob er die Stimme und er­
ägyptische Mumie. Fäden strafften sich füllte das Tal mit ihrem Echo.
und hoben mich weiter vom Boden, bis »Preiset den Geisterfänger, ihr Pil­
ich wie eine Marionette in der Luft ger. Bringt mir die Verletzten und Ge­
schwebte. Ich hörte, wie die unverkenn­ brechlichen.«

WWW.SPEKTRUM.DE 97
VORSCHAU Das Juliheft ist ab 25. 6. 2016 im Handel.

FOTOLIA / OUTDOORSMAN
Gottfried Wilhelm Leibniz
Vor 370 Jahren geboren, vor 300 Jahren gestorben: Aus Anlass des Doppel­
jubiläums widmen wir dem Universalgelehrten eine Artikelserie. Er ent­
warf für das gesamte Themenspektrum vom Binärsystem und der mecha­
nischen Rechenmaschine bis hin zu der Idee von der besten aller mögli­
chen Welten einen umfassenden philosophischen Rahmen.

Unsichere Zukunft
Die Eisbären sind nahe Verwandte
des Braunbären, die sich an das Leben
auf dem Packeis angepasst haben.
Jetzt gefährden Umweltverschmutzung
und schrumpfender Lebensraum ihr
Über­leben. Aber wie genau wirken sich
solche Schadfaktoren auf die Popula-
tion dieser Tiere aus?

FOTOLIA / DENIS JUNKER


Das Neutronenrätsel
FOTOLIA / GEORGIOS KOLLIDAS (STICH VON 1859)

Physiker haben mit zwei Präzisionstests


untersucht, wie schnell Neutronen zer-
fallen – und erhalten verschiedene Wer-
te. Steckt dahinter bloß ein unentdeck­
ter Fehler oder offenbart die Diskrepanz
ein noch unbekanntes Phänomen von
fundamentaler Bedeutung?

Wer war Homo naledi? Archäologie aus der Luft


Erst am genauen Alter der früh­ Ein LiDAR-Gerät sendet von einem NEWSLETTER
menschlichen Fossilien aus Süd­ Flugzeug Hunderttausende von Möchten Sie immer über die
afrika wird sich sagen lassen, Laserpulsen in der Sekunde aus, Themen und Autoren des neuen
Hefts informiert sein?
wohin die neue Art im Homini­ um ein hoch aufgelöstes Profil des
nenstammbaum gehört. So lange Bodens zu gewinnen. Das hilft Wir halten Sie gern auf dem 
bleibt strittig, wie die vielen Archäologen bei der Suche nach Laufenden: per E-Mail – 
und natürlich kostenlos.
Individuen in die schwer zugäng­ den Spuren der Vergangenheit,
lichen Höhlen kamen – und ob selbst in Urwaldgebieten. Registrierung unter:
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sie dort vielleicht sogar absichtlich
beerdigt wurden.

98  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JUNI 2016


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