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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Nachdruck 2/10: Unendlich (plus eins)

highlights
U n se r
best e
Themen en
hef te

Unendlich
im N a c
hdru ck
highlights 2/10

(plus eins)

�€ 8,90 (D) · € 9,70 (A) · � 10,– (L) · sFr. 17,40

Hilberts Russells Plancks Cantors Peanos


Hotel Barbier Konstante Diagonale Himmelsleiter

www.spektrum.de
Editorial z Erweitern Sie
Ihren Horizont.
Christoph Pöppe
Und zwar ins
Redakteur bei
Spektrum der Wissenschaft
Unendliche!
Es gibt ein Leben
nach dem Unendlichen

D ie alte Geschichte wird immer


wieder gerne erzählt: Achilles
läuft zehnmal so schnell wie die
Sie wollen das Unendliche am
Stück kaufen, nach Gewicht? Kein
Problem, sagt die Maßtheorie. Auch
Schildkröte, gibt ihr beim Wettrennen unendlich viele Teilintervalle können
großzügig einen Vorsprung – und Sie exakt zugeschnitten mit nach
wird sie nie einholen, sagte der an- Hause nehmen – solange die Sum-
tike Philosoph Zenon von Elea. Denn me der unendlich vielen Intervall-
in dem Augenblick, in dem Achilles längen endlich bleibt. Wollen Sie die
den Startpunkt der Schildkröte er- Intervalle mit oder ohne Rand? Der
reicht, ist diese schon ein Zehntel der Preis ist der gleiche: Einzelne Punkte
Vorsprungsstrecke weitergekrochen, kosten nichts (S. 64).
hat er auch diese Strecke zurückge-
legt, ist sie schon ein Hundertstel
weiter, und so reiht sich Zeitpunkt an
Zeitpunkt bis ins Unendliche.
Unsereins sieht Achilles an der
E s ist kein Zufall, dass die Bei-
träge dieses Hefts sämtlich aus
Frankreich kommen; bis auf einen
JEDEN
MONAT NEU
Schildkröte vorbeirennen, schaut auf Artikel aus unserer Schwesterzeit- IM HANDEL
seine Uhr – und stellt fest, dass die- schrift »Pour la Science« stammen
se ungerührt weitertickt (siehe S. 32). sie aus der Zeitschrift »Tangente«,
Nach den zweifellos unendlich vie- die sich vornehmlich an Lehrer und
len Zeitpunkten des Zenon kommen Schüler wendet. Allerdings ziehen
immer noch welche. Der wievielte es die Autoren von »Tangente« vor,
Zeitpunkt ist eine Sekunde nach der nicht erkannt zu werden (von ihren
>> Kompetent: Das Magazin entsteht
Überholzeit? Unendlich plus eins? Ir- Schülern, schätze ich) und schreiben in enger Kooperation mit führenden
gendwie schon. daher häufig unter Pseudonym, wes- Wissenschaftlern des Max-Planck-
wegen wir Ihnen das übliche Auto- Instituts
renkästchen diesmal nicht anbieten
>> Hintergründig: Sie erhalten tiefe
E s bleibt jedem unbenommen, in
ehrfürchtiger Anschauung des
Unendlichen zu verharren. In diesem
können.
Sehen Sie es einfach so: Mathe-
matik ist wie Surfbrettfahren. Nicht
Einblicke in die aktuellsten nationalen
und internationalen Forschungspro-
Heft wird jedoch eine andere, hemds- jeder kann es; aber dem, der es jekte
ärmeligere Haltung eingenommen. kann, macht es mächtig Spaß, und
>> Umfassend: Neben der Sternenkunde
Die Mathematiker gehen mit dem selbst das Zuschauen ist faszinie-
erfahren Sie auch alles über
Unendlichen um wie mit ihren klei- rend. Schauen Sie (ab S. 42) zu, wie
nen x und y. Die Begriffe und ihre die Mathematiker Widersprüche des Raumfahrt, Satelliten und Planeten-
Symbole sind gewöhnungsbedürf- Unendlichen bewältigen (und an sonden
tig; aber man lernt sie zu handhaben, manchen scheitern) oder wie Leon-
und auf die Dauer werden sie einem hard Euler, der unübertroffene Jong-
vertraut wie Hammer und Nagel – als leur des Unendlichen, seine Formeln astronomie-heute.de
nützliche Werkzeuge. aus dem Hut zaubert (S. 19).

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) Wissenschaft aus erster Hand
I N H A LT: U N E N D L I C H
SCHWERPUNKTTHEMA z (PLUS 1)

Das Kontinuum S. 60
Was ist nach der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen
das nächstgrößere Unendliche? Kurt Gödel (links) nahm
die Antwort auf die Kontinuumshypothese vorweg

Rekursive Verfahren S. 16
Es genügt, dem Computer zu sagen, wie man eine Karte
richtig in einem bereits sortierten Stapel einsteckt. Damit
ist das Sortierungsproblem schon in voller Allgemeinheit
gelöst – theoretisch wie praktisch

Editorial  3  
Impressum  31 Paradoxien
Das Paradox von Jules Richard 40

Technik des Unendlichen Es ist erstaunlich schwer, eine Zahl mit Worten zu definieren

Erster Vorstoß ins Unendliche: Bijektion  6 Der Albtraum des Bibliothekars 43


Zwei Mengen sind »gleich groß«, wenn man die eine mit der
anderen abzählen kann Muss man das Auswahlaxiom auswählen? 44
Nein. Die Mathematik ist mit dem Auswahlaxiom so
Induktion: Die Leiter ins Unendliche 10 widerspruchsfrei wie ohne
Mit endlichen Mitteln unendlich viel auf einmal aussagen
Das Paradox der Biografie 46
Der unendliche Abstieg 15
Sind Sie sicher? 47
Rekursive Verfahren: praktizierte Induktion 16
Der Schritt von n nach n+1, ausgeführt vom Computer Diskret und kontinuierlich
Leonhard Eulers unendliche Summen 19 Cantors Diagonale 48
Dem Hexenmeister der Analysis über die Schulter geschaut Ein einziges Argument zerstört den Traum von der Einheit-
lichkeit des Unendlichen – und von der Unbegrenztheit
Die bizarre Welt der links-unendlichen Zahlen 24 unserer Erkenntnismöglichkeiten
Unendlich viele Ziffern vor dem Komma – warum nicht?
Verschieden und doch gleich 52
Unendlich plus eins 32
Es gibt ein Leben nach dem Ende der natürlichen Zahlen Die rationalen Zahlen sind abzählbar 53

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Das niemals ausgebuchte Hotel S. 76
Von den rationalen zu den reellen Zahlen 54
Gegen die »harte« Unendlichkeit der reellen Zahlen hilft keine Schon aus touristischen Gründen sollte man dem
Induktion. Andere Hilfsmittel wie Grenzwerte, Intervallschach- Hotel Hilbert mit seinen abzählbar unendlich vielen
telungen und Stetigkeit sind heranzuziehen Zimmern einen Besuch abstatten
Das Kontinuum: Labyrinth der Vernunft 60
Es gibt einen Zeitpunkt, aber nicht den unmittelbar benachbarten
Zeitpunkt. Wie soll man das verstehen?

Wie viel wiegen die rationalen Zahlen? 64


Nichts! Vor der Übermacht der namenlosen reellen Zahlen
verblasst alles, was man mit Brüchen ausdrücken kann, zur
Bedeutungslosigkeit

Triumph des Diskreten: Plancks Konstante 70


Physik ist kontinuierlich – dachten die Physiker. Da musste Max
Planck sie wider Willen eines Besseren belehren
Bijektion S. 6
Das Hotel Hilbert 76
Alle Zimmer sind belegt? Das macht nichts. Ein kleiner Umzug – Alle Plätze belegt, und keiner mehrfach: Dieser
und abzählbar viele neue Gäste finden Platz Traum des Theaterdirektors lässt sich auch an
abstrakten, unendlichen Schauplätzen realisieren
Spiel des Geistes
Zum Titelbild: Mit einer geschickt gewählten Projektion lässt sich
Aufgaben und Lösungen 69 / 81
eine unendliche Anzahl von Würfeln in einem endlichen Sechseck
unterbringen. Einige der zentralen Würfel »tanzen aus der Reihe«,
aus künstlerischen Gründen. titelmotiv: Alexander Koewius
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 5
Erster Vorstoß ins
Unendliche: Bijektion
Die milden Formen des Unendlichen kann man
sich an den Fingern abzählen – nicht wirklich, aber
im Prinzip schon.

Von Francis Casiro und Gilles Cohen schen Sinn (oder auch »Funktion«) nur ver-
langt wird, dass jedem Element der ersten

W
ie kann ich mich vergewissern, Menge ein Element der zweiten Menge zuge-
dass ich an beiden Händen gleich ordnet wird – genau eins, nicht weniger und
viele Finger habe? Ganz einfach: nicht mehr –, muss für eine Bijektion auch
Ich lege die Finger aufeinander, Daumen auf das Umgekehrte gelten. Insbesondere werden
Daumen, Zeigefinder auf Zeigefinger und so bei der so vorgenommenen Zuordnung weder
weiter. Jeder rechte Finger liegt genau auf ei- zwei verschiedene Elemente der ersten Menge
nem linken Finger, und umgekehrt. Kein Fin- »in einen Topf geworfen«, noch wird ein Ele-
ger ist doppelt belegt, und keiner bleibt übrig. ment der zweiten Menge vergessen.
Das genügt, um zu wissen, dass ich rechts wie Mengen, zwischen denen es eine Bijektion
links gleich viele Finger habe. gibt, heißen »gleichmächtig«. Welch ein groß-
Das uralte, biedere Prinzip des Abzählens mächtiges Wort für eine einfache Sache!
ist nicht auf Finger (als Objekte) und Finger Wenn ich eine Menge mit meinen fünf Fin-
(als Zählhilfsmittel) beschränkt. Der chaldäi- gern abzählen kann, hat sie fünf Elemente.
sche Schäfer vergewisserte sich nach der Rück- Allgemein haben zwei Mengen gleich viele
kehr von der Weide, dass er kein Tier verloren Elemente, wenn es eine Bijektion zwischen
Für jedes Schäfchen ein hatte, indem er für jedes Tier, das in den Pferch ihnen gibt. Wozu der begriffliche Aufwand?
u Steinchen: Schäfchenzäh- eintrat, einen kleinen Stein (calculus) aus einem Um auch mit Mengen umzugehen, für die
len ist die einfachste Art der bi- Umhängebeutel herausnahm. Diese Zuord- man nicht mehr von der »Anzahl der Elemen-
jektiven Zuordnung. Sie funkti- nung konnte scheitern; am Ende blieb viel- te« sprechen kann: unendliche Mengen.
oniert auch ohne Zahlbegriff. leicht ein Stein übrig (schlecht) oder ein über- Der Begriff der Mächtigkeit stammt von
zähliges Schaf wanderte in den Pferch (gut). Georg Cantor, dem »Vater der Mengenlehre«.
Inzwischen ist der Beutel des Schäfers In seinen »Grundlagen einer allgemeinen
durch einen abstrakten und unerschöpflichen Mannigfaltigkeitslehre« von 1883 schreibt er:
Beutel ersetzt worden, nämlich die Folge der »Jeder wohl definierten Menge kommt …
natürlichen Zahlen. Der Akt des Zählens aber eine bestimmte Mächtigkeit zu, wobei zwei
hat sich nicht verändert. Nach wie vor geht es Mengen dieselbe Mächtigkeit zugeschrieben
darum, ausdrücklich oder stillschweigend das wird, wenn sie sich gegenseitig eindeutig, Ele-
herzustellen, was die Mathematiker eine Bi- ment für Element, einander zuordnen lassen.«
jektion nennen.
Die mathematische Definition dieses Be- Injektion, Surjektion, Bijektion
griffs wirkt zunächst abschreckend, so als wür- Wie stellt der Theaterdirektor fest, ob sein
de man unnötig viele und schwierige Worte Haus ausverkauft ist? Er muss sich von zwei
um eine einfache Sache machen: verschiedenen Dingen überzeugen:
»Eine Abildung von einer Menge in eine r Kein Sitzplatz ist unbesetzt;
zweite Menge ist eine Bijektion, wenn jedem r kein Sitzplatz ist von mehr als einer Person
Element der zweiten Menge ein und nur ein besetzt: keine Kinder auf dem Schoß, keine
  oday / Superbild

Element der ersten Menge zugeordnet ist.« eng umschlungenen Liebespaare, nirgends
Anstelle von Bijektion spricht man auch prügeln sich zwei Leute um einen Sitz, weil
von einer bijektiven, eineindeutigen, umkehr- Karten fehlerhaft ausgestellt wurden.
your photo t

bar eindeutigen oder Eins-zu-eins-Abbildung. Dieses Beispiel zeigt, dass für jede bijek­
Während für eine Abbildung im mathemati- tive Zuordnung – hier zwischen Theaterbesu-

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q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
chern und Sitzplätzen – zwei Bedingungen er-
füllt sein müssen. In der Fachsprache ausge-
drückt: Eine Abbildung (oder Funktion) ist
genau dann bijektiv, wenn sie sowohl injektiv
als auch surjektiv ist.
r Surjektiv bedeutet: Jeder Platz ist besetzt.
r Injektiv heißt: Es sitzen nirgends zwei ver-
schiedene Zuschauer auf demselben Platz.
In der formalen Sprache: Eine Abbildung
f von einer Menge M in eine Menge N heißt
injektiv, wenn die Bilder zweier verschiedener
Elemente A und A’ von M unter der Abbil-
dung f niemals gleich sind. Oder, was dassel-
be ist, wenn aus der Gleichheit der Bilder be-
reits die Gleichheit der Elemente selbst folgt:
f (A) = f (A’ ) ⇒ A=A’ .
Die Abbildung f heißt surjektiv, wenn es
zu jedem Element B der zweiten Menge N ein
Urbild gibt, das heißt ein Element A von M
mit der Eigenschaft f (A) = B.
  oday / Superbild

Ein weiteres Beispiel: Nehmen wir an, auf


dieser Erde gäbe es weder Vielweiberei noch
Vielmännerei. Jeder Mensch ist, wenn über-
your photo t

haupt, verheiratet mit genau einem Partner


des anderen Geschlechts. Dann gibt es in je-
dem Moment genauso viele Ehemänner wie
Ehefrauen. Um das nachzuprüfen, muss man gibt, derart, dass M gleichmächtig mit der Der Theaterdirektor ist
nicht beide Sorten Menschen einzeln auszäh- Menge {1, 2, …, n} der natürlichen Zahlen o genau dann glücklich,
len. Es genügt die Feststellung, dass jeder Ehe- von 1 bis n ist. M heißt unendlich, falls es kei- wenn es eine bijektive Zuord-
mann genau eine Ehefrau hat und umgekehrt. ne derartige Bijektion gibt. nung zwischen den Plätzen des
Damit ist nämlich per definitionem die Abbil- Für unendliche Mengen müssen wir also Theaters (hier des Cuvilliés-
dung, die einem Ehemann seine Ehefrau zu- jenen abstrakten Steinchenbeutel namens Theaters in München) und der
ordnet, bijektiv. Es folgt daraus, dass die Men- hervorkramen, der sämtliche natürlichen Zah- Menge der bezahlten Eintritts-
ge der Ehemänner und die der Ehefrauen len enthält. Vielleicht benötigen wir im kon- karten gibt.
gleichmächtig sind. kreten Fall nicht alle Steinchen, mit Sicherheit
aber mehr als jede endliche Anzahl. Merkwür-
Rückfahrt gratis digerweise kommt es nicht wirklich darauf an,
Die umgekehrte Funktion, die der Ehe­frau ob es alle Steinchen aus sind oder nur un-
den Ehemann zuordnet, ist gleichfalls bijek- endlich viele. Man kann nämlich zeigen, dass
tiv. Allgemein gilt für Bijektionen: Hat man jede unendliche Teilmenge von die gleiche
die Fahrkarte für die »Hinfahrt«, bekommt Mächtigkeit hat wie selbst. So ist beispiels-
man die »Rückfahrt« gratis. Jede Bijektion weise n n 2 eine Bijektion zwischen den na-
hat ihre – ebenfalls bijektive – Umkehrab­ türlichen Zahlen und den Quadratzahlen. In
bildung. diesem Sinne gibt es genauso viele Quadrat-
Wenn andererseits eine Abbildung eine zahlen wie natürliche Zahlen überhaupt. Das
Umkehrabbildung hat, ist sie bereits bijektiv. Ganze ist in diesem Fall also nicht größer als
Man muss dann nicht mehr eigens beweisen, einer seiner Teile.
dass sie sowohl injektiv als auch surjektiv ist. Es ist ein Witz der Geschichte, dass der
Eine Bijektion ist also so etwas wie ein Begriff der Bijektion ursprünglich eingeführt
Wörterbuch in beiden Richtungen. Der erste wurde, um das Aktual-Unendliche entbehr-
Teil »Englisch – Deutsch« ordnet dem Wort lich zu machen. In der Tradition der Grie-
»house« das Wort »Haus« zu, im zweiten Teil chen, die dem Unendlichen wegen seiner Pa-
findet man unter »Haus« die Übersetzung radoxa misstrauten, waren viele Mathematiker
»house«. Allerdings ist die sprachliche Wirk- zwar bereit, sich auf Aussagen einzulassen wie,
lichkeit viel zu komplex, als dass sie in das dass es »mehr Primzahlen gibt als jede endli-
Schema der Bijektion zu zwängen wäre. che Anzahl« (so ein berühmt gewordener Satz
Der Begriff der Bijektion ist ein wichtiges von Euklid), nicht aber, der »Menge aller
Hilfsmittel zur Untersuchung des Unendli- Primzahlen« eine legitime Existenz zuzugeste-
chen. Man nennt eine Menge M endlich, falls hen. Um das nicht tun zu müssen, führte man
es eine natürliche Zahl n mit der Eigenschaft den Bijektionsbegriff ein – der heute das klas-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 7
Bijektion z sische Mittel zur Handhabung des Unend­
lichen ist. Nach Richard Dedekind (1831 – 
Gibt es eine Zwischengröße im Reich
des Unendlichen? Gibt es eine Menge, deren
1916) definiert man sogar eine Menge als un- Mächtigkeit größer ist als ℵ0, aber kleiner als
endlich, wenn es eine Bijektion von ihr auf die Mächtigkeit des Kontinuums? Lange hat
eine echte Teilmenge ihrer selbst gibt. man dazu geneigt, die Existenz einer Zwi-
schengröße zu verneinen; die entsprechende
Vom Abzählbaren zum Kontinuum Vermutung ist als Kontinuumshypothese be-
Mengen, die gleichmächtig mit der Menge kannt geworden. Paul Cohen hat bewiesen,
der natürlichen Zahlen sind, heißen auch ab- dass diese Frage unentscheidbar ist. Man kann
zählbar unendlich; ihre Mächtigkeit wird mit dem Lehrgebäude der Mathematik die Konti-
dem Symbol ℵ0 (aleph-null) bezeichnet. Wie nuumshypothese als Axiom – das heißt als un-
sich herausstellt, ist das nur die kleinste Art beweisbare Grundwahrheit – hinzufügen oder
der Unendlichkeit. Durch das Studium der deren Gegenteil. In beiden Fällen bleibt die
Bijektionen lernt man, dass es noch viel un- Mathematik so widerspruchsfrei wie zuvor.
endlichere Mengen gibt! Die bekannteste un- Die Mächtigkeit des Kontinuums ist gut
ter ihnen ist die Menge R der reellen Zahlen. für einige Kopfzerbrecher. So kann man zei-
Ihre Mächtigkeit wird allgemein als »die gen, dass es in einer Minute ebenso viele Zeit-
Mächtigkeit des Kontinuums« bezeichnet. punkte gibt wie in einer Stunde. Das scheint
Man beweist, dass R gleichmächtig ist mit der verrückt. Eine Stunde muss doch offensicht-
Menge aller Teilmengen von . Andererseits lich sechzigmal so viele Zeitpunkte enthalten
hat Cantor gezeigt, dass keine Menge mit der wie eine Minute? Falsch. Vielmehr liefert uns
Menge ihrer Teilmengen gleichmächtig ist. die schlichte Aussage »Eine Stunde besteht aus
Die Mächtigkeit des Kontinuums ist folglich sechzig Minuten« die für unseren Beweis er-
echt größer als die einer abzählbaren Menge. forderliche Bijektion!

Die allgegenwärtige Sieben


Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen Und er brachte mich im Geist in die Wüste. Und ich sah eine Frau
hatten, redete mit mir und sprach: Komm, ich will dir zeigen das auf einem scharlachroten Tier sitzen, das war voll lästerlicher
Gericht über die große Hure, die an vielen Wassern sitzt, mit der Namen und hatte sieben Häupter und zehn Hörner.
die Könige auf Erden Hurerei getrieben haben; und die auf Erden
wohnen, sind betrunken geworden von dem Wein ihrer Hurerei. Offenbarung des Johannes, Kapitel 17, Vers 1 bis 3

Die Zahl Sieben spielt in der Geschichte, den Religionen, den Traditi­
onen, den Legenden, den Erzählungen und den Mythologien der
AKG Berlin  (Jacopo Alberegno, die Hure Babylon und der siebenköpfige Drache, 1380; Galleria dell‘ Accademia, Venedig)

Menschheit eine prominente Rolle:


r  die sieben Tage der Woche
r  die sieben Todsünden
r  die sieben Sakramente der katholischen Kirche
r  die sieben Chakras der Hindus
r  die sieben heiligen Tempel der arabischen Welt
r  die sieben freien Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik,
  Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie)
r  die sieben Weltmeere
r  die sieben Planeten
r  die sieben Weltwunder
r  die sieben Töne der Tonleiter
r  die sieben Zwerge
r  die sieben Elementarkatastrophen von René Thom

Warum wohl? Vielleicht ist der Grund ganz einfach. Die Psy­
chologie lehrt uns, dass der Mensch bei mehr als sieben gleich­
artige Gegenständen nicht mehr spontan ihre Anzahl wahr­
nehmen kann: Er muss zählen. Unsere Fähigkeit, spontan
Bijektionen herzustellen, kann also diese Schicksalszahl nicht
überwinden. Die Kunst des Zählens, ja die ganze Arithmetik
geht aus dem Versuch hervor, diese natürliche Beschränkung
des Menschen zu überwinden.

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Messen wir die Zeit in Minuten. Das Zeit­ ken uns hier auf die Beweisidee für ein schein-
intervall von einer Minute ist das Intervall bar schwächeres Teilresultat, das jedoch dem D C
[0, 1] aller reellen Zahlen, die zwischen 0 und großen Satz äquivalent ist: Das offene Inter-
1 (einschließlich) liegen. Eine Stunde ist ent- vall ]0, 1[ hat dieselbe Mächtigkeit wie das of-
(x, y)
sprechend das Intervall [0, 60]. Betrachten fene Quadrat ]0, 1[ × ]0, 1[. Das einzige tech-
y
wir nun die Abbildung, die einem Zeitpunkt nische Detail, das man im Beweis verwenden
t innerhalb von [0, 1] den Zeitpunkt 60t muss, ist das Folgende: Jede reelle Zahl hat
innerhalb von [0, 60] zuordnet. Zwei unter- eine (im Allgemeinen unendliche) Dezimal-
schiedlichen Zeitpunkten t und t’ des Aus- bruchentwicklung. Sie ist eindeutig, wenn A B
gangsintervalls entsprechen dann zwei ver- man sich für die abbrechenden Dezimalbrü- x
0 1
schiedene Zeitpunkte des Zielintervalls, näm- che (Beispiel: 0,20000… = 0,19999…) auf
lich 60 t und 60 t’. Somit ist unsere Abbildung eine der beiden äquivalenten Schreibweisen
injektiv. Andererseits lässt sich jedem Zeit- festlegt (siehe den Beitrag »Verschieden und

Tangente
punkt T in [0, 60] der Zeitpunkt T/60 in doch gleich« auf S. 52). 0 1
[0, 1] zuordnen; das liefert uns die Umkeh- Seien (x, y) die Koordinaten eines Punktes
rung unserer Abbildung. Also ist sie auch sur- in dem offenen Quadrat ]0, 1[ × ]0, 1[ mit den
jektiv. Damit ist die Gleichmächtigkeit der Dezimalbruchentwicklungen x = 0,x0x1x2… Kaum zu glauben, aber
beiden Zeitintervalle bewiesen. und y = 0,y0 y1 y2… Diesem Punkt ordnet man o wahr: Das Quadrat ABCD
Nach diesem Vorbild lässt sich auch be­ den Punkt 0,x0 y0 x1 y1 x2 y2… des offenen In- enthält »genauso viele« Punk-
weisen, dass die nachfolgenden Intervalle paar- tervalls ]0, 1[ zu. Die so definierte Abbildung te wie das Intervall ]0, 1[.
weise gleichmächtig sind (für c ≠0) : [0, 1] und ist offensichtlich injektiv.
[0, c] (die Bijektion ist x cx), [a, b] und Betrachten wir nun eine reelle Zahl z aus
[0, b–a] (mit der Bijektion x x–a). Indem ]0, 1[ mit z =0,z0 z1z2z3z4z5… Dieser Punkt ist
man mehrere dieser Bijektionen hintereinan- das Bild desjenigen Punktes im offenen Qua-
der schaltet, beweist man, dass zwei beliebige drat ]0, 1[ × ]0, 1[, der die Koordinaten
abgeschlossene Intervalle der reellen Geraden, 0,z0 z2z4… und 0,z1z3z5… hat. Damit wäre die
die nicht nur aus einem Punkt bestehen, Surjektivität bewiesen, wenn es nicht ein klei-
gleichmächtig sind. Ob klein oder groß: Man nes technisches Problem gäbe: Die reelle Zahl
kann sie alle mit einer geeigneten Lupe (der 0,909090… müsste das Bild des Punktes
Bijektion x cx) betrachten, sodass sie gleich (0,999…, 0,000…) = (1, 0) sein; dieser Punkt
groß aussehen, und das ändert nichts an der liegt nicht mehr im offenen Quadrat, sondern
»Anzahl« ihrer (unendlich vielen) Punkte. an dessen Rand. Dasselbe Problem hat man
Es wird jedoch noch erstaunlicher. Auch mit allen Zahlen der Form 0,9y09y19y2…, wel-
Intervalle, die bis ins Unendliche reichen, ha- che sämtlich Bilder von Punkten am rechten
ben nicht wirklich mehr Punkte. So sind die Rand des Quadrats sind (BC im Bild rechts).
beiden Intervalle ]0, 1[ und ]1, +∞[ gleich- Unsere Abbildung des offenen Quadrats
mächtig, wie die Bijektion x 1/x beweist. ]0, 1[ × ]0, 1[ auf das Intervall ]0, 1[ ist al-
(Die auswärts gerichteten eckigen Klammern so injektiv, aber nicht surjektiv und damit
bezeichnen »offene« Intervalle, das heißt un- auch nicht bijektiv. Aber dieses Resultat ist so-
ter Ausschluss der Ränder. ]0, 1[ ist das Inter- gar stärker als das angekündigte. Das »dicke«
vall von 0 bis 1 ohne die Zahlen 0 und 1 Quadrat hat nicht mehr Punkte als das »dün-
selbst.) Indem man die erwähnten Bijektio- ne« Intervall, was für sich schon erstaunlich
nen hintereinander ausführt, beweist man, genug ist, es hat sogar noch ein paar weniger.
dass zwei beliebige offene nichtleere Intervalle Damit ist der schwierige Teil erledigt. Die
der reellen Geraden stets gleichmächtig sind! verbleibenden Unstimmigkeiten klärt der Satz
von Cantor-Schröder-Bernstein: »Wenn es
Reise in einen zweidimensionalen Raum eine Injektion von A nach B gibt und eine
Na gut, werden Sie sagen, dann sind eben alle von B nach A, dann existiert eine Bijektion
Teilstücke der reellen Geraden, endlich oder zwischen A und B.« Eine injektive Abbildung
unendlich lang, offen oder geschlossen, im vom Quadrat ins Intervall haben wir oben an-
Wesentlichen gleich groß, was ihre Mächtig- gegeben, und eine injektive Abbildung vom
keit als Mengen angeht. Aber die Ebene hat Intervall ins Quadrat ist nicht schwer zu fin-
doch die Dimension 2. Sie enthält unendlich den. Man nehme beispielsweise x (x, 1/2).
viele Geraden, die untereinander keinen Punkt Allgemein kommt es für die Mächtigkeit
gemeinsam haben; also muss ihre Mächtigkeit von Punktmengen nicht auf deren Dimension
doch größer sein als die des Kontinuums? an. Jede Menge auf der Geraden, in der Ebe-
Falsch. Die beiden Punktmengen sind gleich- ne oder im Raum, die zumindest ein – belie-
mächtig. big kleines – Intervall beziehungsweise einen
Der Beweis dieses außergewöhnlichen Sat- Kreis oder eine Kugel enthält, hat die Mäch-
zes stammt von Georg Cantor. Wir beschrän- tigkeit des Kontinuums.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 9
Induktion: die Leiter
ins Unendliche
Alle natürlichen Zahlen Schritt für Schritt erfassen, ohne
wirklich unendlich viele Schritte zu tun: Dieses Zauberkunst-
stück vollbringt die mathematische Induktion.

Von Norbert Verdier schöpfend ab, weswegen sie häufig auch »voll­
ständige Induktion« genannt wird. Dieser

S
tellen wir uns ein Kind vor, das eine Schluss vom Speziellen auf das (unendliche)
Treppe mit unendlich vielen Stufen hi­ Allgemeine gelingt, wohlgemerkt, mit endli­
naufsteigen möchte. Es sollen abzählbar chen Mitteln.
unendlich viele Stufen sein, sodass man sie Wegen dieser wünschenswerten Eigen­
zählen kann: 1, 2, 3, … schaften ist das Induktionsprinzip zu einem
Auch der längste Weg beginnt mit dem Eckpfeiler der Mathematik avanciert. Es ist
ersten Schritt. Aber wenn das Kind die erste nicht nur das Standard-Beweismittel für alles,
Stufe erklettern kann und über ein Rezept was es über die natürlichen Zahlen zu sagen
verfügt, um von einer beliebigen Stufe zur gibt; sogar die natürlichen Zahlen selbst wer­
nächsten zu kommen, dann kann es hinauf­ den auf induktivem Wege definiert.
steigen bis zu jeder beliebigen Höhe – zumin­ Das Prinzip der vollständigen Induktion
dest in der Theorie. lässt sich folgendermaßen formulieren:
Das ist es, was die Mathematiker Induk­ Es soll eine gewisse Aussage A für alle natürli­
tion nennen. Eigentlich bedeutet das Wort chen Zahlen bewiesen werden. Wenn
»Schließen vom Speziellen auf das Allgemei­ r  a) die Aussage A für die Zahl 0 gilt und
ne«, zum Beispiel von den ersten paar Trep­ r  b) man aus der Gültigkeit der Aussage A
penstufen auf die ganze unendliche Treppe. Im für eine beliebige Zahl n ihre Gültigkeit für
Gegensatz dazu versteht man unter Deduktion die nachfolgende Zahl n + 1 schließen kann,
das Schließen vom Allgemeinen auf das Spezi­ dann gilt sie für alle natürlichen Zahlen.
elle: Man ist im Besitz einer allgemeinen, abs­ (In diesem Kontext pflegt man die Null als
trakten Wahrheit (»alle Vögel schlüpfen aus Ei­ natürliche Zahl anzusehen. Dass die Indukti­
ern«) und leitet daraus eine Einzelfallaussage on bei 0 beginnt, ist allerdings nicht entschei­
her (»dieses Huhn ist aus einem Ei ge­ dend. Wenn die Aussage A statt für die Null
schlüpft«). für die Zahl, sagen wir, 13 bewiesen wird und
Induktives Denken ist das tägliche Brot des Teil b des Beweises weiterhin Bestand hat,
Experimentalphysikers oder auch des Biologen: folgt eben die Gültigkeit der Aussage für alle
Er beobachtet Fakten, also Einzelfälle, um aus natürlichen Zahlen, die größer oder gleich 13
ihnen allgemeine Gesetze abzuleiten. Studiert sind.)
man Tausende von Raben, so gelangt man zu Ein Induktionsbeweis besteht aus drei
dem allgemeinen Gesetz »Alle Raben sind Teilen:
Spektrum der Wissenschaft / meganim

schwarz«. Weitere Beobachtungen können die­ r  dem Induktionsanfang (Teil a oben): Man
ses Gesetz bestätigen. Aber die Induktion des zeige, dass das Kind die erste Treppenstufe er­
Experimentators ist stets von der Widerlegung klettern kann;
bedroht: Ein einziger weißer Rabe zerstört die r  dem Induktionsschritt (Teil b oben): Man
Universalität des Gesetzes. Die Serie der Beob­ zeige, wie das Kind von einer beliebigen Trep­
achtungen ist niemals abgeschlossen. penstufe auf die nächsthöhere kommt;
Im Gegensatz dazu muss man sich bei der r  und dem stets gleichen Induktionsschluss,
mathematischen Induktion um irgendwelche der Bestätigung, dass aus den Teilen a und b
Die unendliche Treppe Gegenbeispiele keine Sorgen machen. Sie die Gültigkeit der Aussage für alle natürlichen
o der Induktion deckt alle unendlich vielen Einzelfälle er­ Zahlen folgt.

10 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Das Denken Pascals
Die drei Teile der vollständigen Induktion, die er Der junge Pascal auf ei-
zum Beweis verwendet, beschreibt er folgen­ l ner Rötelzeichnung von
dermaßen: Jean Domat
»Obwohl dieser Satz unendlich viele Fälle
einschließt, werde ich einen recht kurzen Be­
weis geben, der zwei Lemmata voraussetzt.
Das erste Lemma liegt von selbst auf der
Hand. Die fragliche Aussage gilt für die zwei­
te Basis, denn es ist deutlich, dass sich f zu s
verhält wie 1 zu 1.
aus: OEuvres de Blaise Pascal

Das zweite Lemma: Trifft die Aussage für


eine beliebige Basis zu, so auch für die nach­
folgende. Also trifft sie notwendig für alle Ba­
sen zu; denn sie gilt für die zweite Basis nach
Lemma 1, also nach dem zweiten Lemma
auch für die dritte Basis, also für die vierte –
und so weiter, bis ins Unendliche.
In seinem »Traité du triangle arithmétique« (»Ab­ Also bleibt hierbei nur das zweite Lemma
handlung über das arithmetische Dreieck«) zu beweisen.«
beweist Pascal einen Satz über die Zahlen
seines Dreiecks, die wir heute Binomialkoeffi­
zienten nennen: »In jedem arithmetischen
Dreieck verhält sich von zwei benachbarten
Zellen derselben Basis die obere zur unteren Die Urform des Pascal‘-
wie die Anzahl der Zellen von der oberen Zel­ l schen Dreiecks. Dreht
le bis zum oberen Ende der Basis zur Anzahl man die ganze Anordnung um
aus: OEuvres de Blaise Pascal

der Zellen von der unteren bis zum unteren 45 Grad im Uhrzeigersinn, so
Ende der Basis, jeweils einschließlich.« In nimmt sie die uns vertraute
heutiger Formelsprache ausgedrückt: Form an. Jede von links unten
nach rechts oben verlaufende
Zahlenreihe nennt Pascal eine
»Basis«.

Der dritte Teil wird häufig nicht ausdrück­ r  Induktionsanfang: Es geht darum, die
lich erwähnt; zahlreiche Mathematiker ver­ Gültigkeit der Formel für eine erste Zahl zu
wenden die Bezeichnung »Induktionsschluss« bestätigen. In unserem Fall ergibt sich für
für den zweiten Teil. n = 1 auf beiden Seiten der Gleichung die
Zahl 1. Also gilt A(1). Nebenbei bemerkt ha­
Ein Beispiel für einen Induktionsbeweis ben wir mit unseren Probierrechnungen die
Was ist die Summe der ersten n ungeraden Aussagen A(2), A(3) und A(4) bewiesen.
natürlichen Zahlen? Probieren wir ein biss­ r  Induktionsschritt: Wir haben zu bewei­
chen herum. Die erste ungerade natürliche sen, dass unsere Aussage erblich ist, dass also
Zahl ist 1. Weiter geht es mit der Summe der für jedes n aus A(n) die Aussage A(n+1) folgt.
ersten zwei, drei, vier … ungeraden Zahlen: Wir machen daher die so genannte Indukti­
onsannahme: »Vorausgesetzt sei, dass A(n) für
1 + 3 = 4,
ein gewisses n gelte«, und beweisen unter die­
1 + 3 + 5 = 9,
ser Annahme die Gültigkeit von A(n+1), das
1 + 3 + 5 + 7 = 16,
heißt der Gleichung

1 + 3 + 5 + … + (2n –1) + (2n +1) = (n + 1)2.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Summe
der ersten n ungeraden Zahlen genau n2 ist: Die linke Seite dieser (noch zu beweisenden)
2 Gleichung besteht aus der Summe der ersten
1 + 3 + 5 + … + (2n – 1) = n
n ungeraden Zahlen, welche nach Induktions­
Diese Aussage, nennen wir sie A(n), möchte annahme gleich n2 ist, plus (2n+1), der
man für alle n beweisen. Wenden wir die drei (n+1)-ten ungeraden Zahl. Unter Verwen­
Teile des Induktionsbeweises an: dung der Induktionsannahme erhält man also

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 11
Philosophie der vollständigen Induktion
Henri Poincaré (1854 – 1912), einer der größten Mathematiker seiner

Ullsteinbild / Roger-Viollet
Zeit, hat sich in seinem Buch »La Science et l‘hypothèse«
(»Wissenschaft und Hypothese«, Teubner, Leipzig 1906) aus­
führlich zum Induktionsprinzip geäußert. Hier einige Auszüge:

»Die Haupteigenschaft der Argumentation durch Rekursion (in heu-


tiger Terminologie: des Induktionsverfahrens, Anm. der Red.)
besteht darin, dass es, sozusagen in einer einzigen Formel zu­
sammengedrängt, eine unendliche Anzahl von Syllogismen
enthält. (Ein Syllogismus ist eine logische Schlussformel nach
dem vielzitierten Muster: Alle Menschen sind sterblich. Sokra-
tes ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.)
Um dies klarer zu machen, will ich die Syllogismen der Reihe
nach aussprechen; sie folgen aufeinander – man gestatte mir
das Bild – wie Kaskaden. Es sind, wohlgemerkt, hypothetische
Syllogismen.
Der Lehrsatz gilt für die Zahl 1.
Ist er richtig für 1, so ist er auch richtig für 2.
Er gilt also für 2.
Ist er richtig für 2, so gilt er auch für 3.
Er gilt also auch für 3, und so weiter.
Man sieht, dass die Schlussfolgerung eines jeden Syllogis­
mus dem folgenden als Unterlage dient. Mehr noch, die Folge­
sätze aller unserer Syllogismen können auf eine einzige Formel
zurückgedrängt werden: Henri Poincaré 1902 in seinem Arbeitszimmer
Wenn der Lehrsatz für n –1 gilt, so gilt er für n.

für die linke Seite der Gleichung Gleichwohl halten viele Wissenschafts­
2 historiker Pascal nicht für den Entdecker der
1+3 + 5 + …+ (2n – 1) + (2n + 1) = n + 2n + 1.
vollständigen Induktion. Er selbst bezieht
Aber nach der binomischen Formel ist sich in seinen Schriften auf Francesco Mau­
n2 + 2n + 1 = (n + 1)2, womit unsere Gleichung rolico (1494 –1575). Aus dem ersten Buch
bewiesen ist. von dessen »Arithmetik« kann man die Vor­
r  Induktionsschluss: Wir ziehen Bilanz. aussetzungen für die Anwendung der voll­
Durch vollständige Induktion haben wir be­ ständigen Induktion herauslesen; allerdings
wiesen, dass die Summe der ersten n ungera­ könnte es sein, dass der moderne Leser dabei
den Zahlen gleich n2 ist. die Ideen Maurolicos überinterpretiert. An­
Übrigens gibt es hierfür auch einen direk­ dere Mathematik­historiker datieren die Ent­
ten Beweis, der keine Induktion verwendet. deckung der vollständigen Induktion noch
Der Leser ist eingeladen, ihn zu suchen. Es ist früher, nämlich in die Zeit der arabischen
zweckmäßig, zuerst über einen Beweis für die und persischen Mathematiker im 11. Jahr­
Formel nachzudenken, welche die Summe der hundert.
ersten n (geraden wie ungeraden) natürlichen Induktionsbeweise, die heutigen Anforde­
Zahlen liefert. rungen an logische Strenge genügen, gibt es
erst seit dem 19. Jahrhundert. Denn erst Giu­
Pascal, Peano und die anderen seppe Peano (1858 – 1932) gab eine strenge
Der Erste, der das Induktionsprinzip in aller axiomatische Konstruktion der natürlichen
Klarheit zu Papier gebracht hat, war Blaise Zahlen an.
Pascal (1623 – 1662). In seinem kurzen, wild­ Das Unterfangen, mit endlich vielen Wor­
bewegten Leben leistete er bedeutende Beiträ­ ten die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen
ge zu Philosophie, Theologie, Physik und Ma­ zu erfassen, kann nicht gelingen, indem man
thematik, darunter den »Traité du triangle unendlich viele natürliche Zahlen einzeln de­
arithmétique« von 1654. Das »arithmetische finiert. Vielmehr muss man sich darauf be­
Dreieck«, von dem dieses Werk handelt, ken­ schränken, ein Rezept anzugeben, welches im
nen wir heute als das Pascal’sche Dreieck, und Bedarfsfall jede natürliche Zahl, und sei sie
Pascal verwendete die Induktion, um einige noch so groß, zu definieren gestattet. Dieses
Eigenschaften der Einträge in diesem Dreieck Rezept besteht darin, zu einer natürlichen
(der Binomialkoeffizienten) zu beweisen (sie­ Zahl deren Nachfolger zu konstruieren: ein
he Kasten S. 11). Induktionsprinzip.

12 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Man sieht also, dass man sich bei der Argumentation durch Man kann leicht von einer Form zur anderen übergehen und sich
Rekursion darauf beschränkt, die Unterlage des ersten Syllogis­ so (nämlich indem man die Existenz eines minimalen Elements
mus und die allgemeine Formel darzulegen, welche alle Folge­ in jeder Menge natürlicher Zahlen voraussetzt) der Einbildung
sätze als besondere Fälle enthält. hingeben, man hätte die Legitimität der Argumentation durch
Diese Reihe von Syllogismen, welche niemals enden würde, Rekursion bewiesen. Aber man wird immer auf ein Hindernis
wird so auf einen Satz von wenigen Zeilen reduziert.« stoßen, man wird immer zu einem unbeweisbaren Axiom gelan­
… gen, welches im Grunde nichts weiter ist als der zu beweisende
»Ein Schachspieler kann vier Züge im Voraus berechnen, vielleicht Satz (von der Legitimität des Induktionsprinzips), in eine andere
auch fünf, aber man mag ihm noch so Außerordentliches zutrau­ Sprache übersetzt.
en, er wird sich immer nur eine endliche Anzahl zurechtlegen Man kann daher der Schlussfolgerung nicht entgehen, dass
können; wenn er seine Fähigkeiten auf die Arithmetik anwendet, das Prinzip der Argumentation durch Rekursion nicht auf das
so wird er nicht im Stande sein, sich deren allgemeinen Wahrhei­ Prinzip vom Widerspruch (das heißt die elementare Logik) zu­
ten mit einer einzigen direkten Anschauung zum Bewusstsein rückführbar ist … Dieses Gesetz, welches dem analytischen Be­
zu bringen; selbst für den unbedeutendsten Lehrsatz kann er weise ebenso unzugänglich ist wie der Erfahrung, ist ein eigent­
nicht auf das Werkzeug der Rekursion verzichten, weil dies ein liches Beispiel für ein synthetisches Urteil a priori. Man kann
Werkzeug ist, welches uns gestattet, vom Endlichen zum Un­ andererseits darin nicht bloßes Übereinkommen sehen wollen,
endlichen fortzuschreiten. wie bei einigen Postulaten der Geometrie.
Dieses Werkzeug ist immer nützlich, denn es erlaubt uns, mit Warum drängt sich uns dieses Urteil mit so unwidersteh­
einem Satze beliebig viele Stationen zu überspringen, und er­ licher Gewalt auf? Das kommt daher, weil es nur die Erfahrung
spart uns dadurch lange, ermüdende und einförmige Verifikatio­ des Geistes bestätigt, welcher sich fähig weiß, sich die unend­
nen, die sich bald als undurchführbar erweisen würden.« liche Wiederholung eines und desselben Schrittes vorzustellen,
… wenn er diesen Schritt einmal als möglich erkannt hat. Der
»Das Prinzip, auf welchem die Argumentation durch Rekursion be- ­Verstand hat von dieser Fähigkeit eine direkte Anschauung,
ruht, kann in andere Formen gesetzt werden, zum Beispiel, dass und die Erfahrung kann für ihn nur eine Gelegenheit sein, sich
es in einer unendlichen Menge von verschiedenen (positiven) dieser Fähigkeit zu bedienen und dadurch ihrer bewusst zu
ganzen Zahlen immer eine gibt, welche kleiner ist alle übrigen. werden.«

Nach der modernen, von Peano inspirier­ Erraten kann uns die Induktion nicht abneh­
ten Auffassung ist alles, was man über die na­ men, und es ist nicht immer so einfach wie im
türlichen Zahlen sagen kann, aus dem Indukti­ Falle der Summe der ersten ungeraden Zahlen.
onsprinzip herzuleiten. Dieses Prinzip selbst Nehmen wir ein weniger elementares Bei­
folgt allerdings nicht aus elementaren Axiomen spiel: Was ist die Summe der ersten n Kuben?
der Logik; man muss es als ein eigenes Axiom
Sn = 13 + 23 + 33 + … + n3 ?
postulieren. In einer modernen Formulierung
lautet das Induktionsaxiom: Enthält eine Teil­ Für die ersten Werte von n findet man:
menge P von (der Menge der natürlichen
S1 = 1, S2 = 9, S3 = 36, S4 = 100, S5 = 225
Zahlen) die Zahl 0 und mit jeder natürlichen
Zahl deren Nachfolger, so ist P gleich . Könnten Sie mit Hilfe dieser Ergebnisse eine
Während die formalen Logiker es für nötig allgemeine Formel erraten? Die Antwort liegt
halten, dieses Axiom ausdrücklich einzufüh­ nicht gerade auf der Hand. Mit etwas Erfah­
ren, sieht der Praktiker keinen Anlass, an sei­ rung, Beobachtungsgabe und Fantasie, viel­
ner Wahrheit zu zweifeln. Dass ein Rezept, leicht auch noch ein paar mehr Probierrech­
von dessen Funktionieren man sich überzeugt nungen kommt man auf die Vermutung
hat, unbegrenzt oft anwendbar ist, scheint kei­ Sn = n2(n+1)2/4. Einmal gefunden, ist sie nicht
ner Begründung zu bedürfen, wie Henri Poin­ allzu schwer mit Induktion zu beweisen. Was
caré mit starken Worten darlegte (siehe Kasten aber, wenn man sie nicht findet?
oben). Der Versuch scheitert bereits, wenn man
eine Formel für die Summe der ersten Poten­
Stärken und Schwächen der Induktion zen nicht für einen konkreten Exponenten,
Die große Stärke der Induktion liegt darin, sondern in voller Allgemeinheit sucht: Für
dass man auf systematische Weise – mit den eine Summe der Form 1p + 2p + 3 p + … +np
drei oben beschriebenen Teilschritten – Aussa­ hilft kein Ausprobieren, dessen Ergebnis man
gen für (abzählbar) unendlich viele Objekte durch Induktion bestätigen könnte. Hier
(Zahlen) beweisen kann. Einige Schwachpunk­ muss man einen völlig neuen Zugang suchen.
te sollen dabei nicht verschwiegen werden. Dies ist die größte Schwäche der Indukti­
Im Beispiel oben haben wir zunächst eini­ on. Sie ist kein Entdeckungsmittel (siehe je­
ge Zahlen ausprobiert, daraufhin eine allge­ doch den Beitrag »Rekursive Verfahren« auf S.
meine Formel geraten und erst dann diese For­ 16). Gleichwohl bleibt sie eine der stärksten
mel mit vollständiger Induktion bewiesen. Das Waffen im Arsenal der Mathematik.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 13
Induktion z Die rückwärts gerichtete Induktion
In gewissen Situationen bietet eine Variante der vollständigen Induktion Prob­
lemlösungen von überraschender Eleganz.

D as Prinzip der rückwärts gerichteten In­


duktion ist einfach zu formulieren:
Es sei A(n) eine Aussage, die für alle natürli­
richtig für zwei positive reelle Zahlen, denn in
der Tat gilt

chen Zahlen definiert ist. Wenn


r  A(n) für unendlich viele natürliche Zahlen
gilt und Sie ist auch wahr für vier reelle Zahlen. Das
r  aus der Gültigkeit von A(n) die Gültigkeit zeigt man, indem man das vorangegangene
von A(n – 1), das heißt derselben Aussage für Resultat zweimal verwendet:
die Vorgängerzahl, folgt,
dann gilt A(n) für alle natürlichen Zahlen.
Dieses Prinzip beweist man – mit vollstän­
diger Induktion, wie sonst? Der Leser ist herz­
Ullsteinbild / Becker & Bredel
lich eingeladen, sich an diesem Problem zu
Der Straßenspringfrosch versuchen. Aber wie kann man sich die Idee Durch m-fache Anwendung des Argumentes
o Rana velox retrosaliens veranschaulichen? erhält man die Aussage
ist in besonderer Weise an das Stellen wir uns eine Straße von unendli­
Leben auf dem Asphalt ange- cher Länge vor und einen auf ganz besondere
passt: Er verfügt über einen Weise verzauberten Frosch mit Rückwärts­
Rückwärtsgang. gang: Er kann große Sprünge mit einer Weite Die arithmetisch-geometrische Unglei­
von zehn Metern nach vorne machen sowie chung ist also bewiesen für 2m beliebige reelle
kleinere Ein-Meter-Hüpfer nach hinten. positive Zahlen bei beliebigem m. (Streng ge­
Dann ist unser Frosch in der Lage, jede nommen muss man auch das durch Induk­
beliebige – in ganzen Metern anzugebende – tion über m beweisen, was wir hier nur ange­
Entfernung zurückzulegen. Wenn er zum Bei­ deutet haben.)
spiel am Punkt 0 sitzt und den Punkt 156 er­ Damit ist der erste Teil des rückwärtigen
reichen soll, springt er mit 16 Sprüngen etwas Induktionsbeweises erledigt: Wir haben un­
zu weit, bis zum Punkt 160, und parkt dann endlich viele Zahlen n angegeben, nämlich alle
rückwärts mit vier kleinen Hüpfern auf den Zahlen der Form 2m, für die der Satz gilt.
richtigen Punkt ein. Offensichtlich funktio­ Es bleibt der zweite Teil zu zeigen, das
niert diese Vorwärts-Rückwärts-Strategie für Rückwärtshüpfen: Wenn die arithmetisch-ge­
jeden Punkt mit einer natürlichzahligen ometrische Ungleichung für n positive reelle
Nummer n. Zahlen erfüllt ist, dann gilt das auch für n – 1
Das Froschprinzip – oder, mit dem offizi­ positive reelle Zahlen; nennen wir sie der Rei­
ellen Namen, die rückwärts gerichtete Induk­ he nach b1, b2, …, bn–1.
tion – können wir zum Beweis eines wichti­ Dazu legen wir uns eine n-te Zahl zurecht,
gen Satzes verwenden, der arithmetisch-geo­ die uns am Ende das gewünschte Resultat lie­
metrischen Ungleichung. Sie besagt, dass das fert. Wie sich herausstellt, ist es das arithmeti­
geometrische Mittel von n positiven reellen sche Mittel der n – 1 Zahlen:
Zahlen stets kleiner ist als ihr arithmetisches
Mittel. Dabei ist das arithmetische Mittel der
»Durchschnitt« der n Zahlen, nämlich ihre
Summe geteilt durch n; das geometrische Mit­ Nach Voraussetzung ist die arithmetisch-geo­
tel ist eine andere Art von Mittelwert, näm­ metrische Ungleichung für die n reellen Zah­
lich die n-te Wurzel aus ihrem Produkt. len b1, b2, …, b , U gültig. Also gilt
Nimmt man beide Seiten der Ungleichung
hoch n, so nimmt unsere Behauptung folgen­
de Form an:
Da alle Zahlen positiv sind, kann U nicht null
sein. Also darf man durch U teilen und erhält
das gewünschte Resultat für n – 1 Zahlen:
Für den Beweis folgen wir Augustin Louis
b1b2…bn–1 ≤U n–1,
Cauchy (1789 – 1857), dem großen Meister
der klassischen Analysis. Die Behauptung ist was zu beweisen war.

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Der unendliche
Abstieg

e
l and
der
nie
;
rn,
ny, stieg
Baa
ompa g, Ab
ie
che ufst
Pierre de Fermat, der Begründer der modernen Zahlen-

rC
:A
M. C cher
. Es
theorie, erfand vor 300 Jahren eine Methode, um unend-

. Es
201 rits C
he
lich viele Aussagen auf einmal zu widerlegen.

0, T
Mau
Von Daniel Barthe ausgedrückt, die Menge M aller Zahlen n, für
die A(n) zutrifft, sei nicht leer. Dann hat M

D
er oben stehenden Lithografie »Trepp­ ein kleinstes Element (siehe oben).
auf und treppab« (1960) von Mau­ Wir versuchen nun, eine Behauptung der
rits C. Escher (1898 – 1972) liegt folgenden Art zu beweisen: Wenn die Aussage
eine optische Illusion zu Grunde. Entdeckt A(n) für eine gegebene Zahl n zutrifft, dann
haben sie 1958 der englische Genetiker Lio­ trifft sie auch für eine echt kleinere Zahl (zum

Ullsteinbild / Granger Collection


nel Penrose und sein Sohn, der inzwischen be­ Beispiel n – 1) zu. Gelingt uns das, dann ist
rühmte Mathematiker Roger Penrose. unser Widerspruchsbeweis vollendet.
Die im Karree wandelnden Mönche kön­ Denn: Bezeichnen wir das kleinste Ele­
nen ihre Treppe beliebig oft absteigen, und al­ ment von M mit a. Dann trifft A(a) zu, aber
les sieht genauso aus wie zuvor. In der Realität nach unserer Behauptung trifft auch A(b) zu
hat man dieses Erlebnis vielleicht in einem für ein b < a. Also gehört b zu M, also ist a
großen, schmucklosen Treppenhaus – aber nicht das kleinste Element von M: Wider­
nur endlich oft. Irgendwann landet man auf spruch. Pierre de Fermat (1601 –
dem Fundament des Gebäudes. Ein Beispiel: Wir zeigen mit Hilfe der Me­ o 1665), im Hauptberuf
Mit den natürlichen Zahlen verhält es sich thode des unendlichen Abstiegs, dass 2 kei­ ­Jurist, trieb Mathematik »am
ähnlich. Sie haben ein Fundament, sprich ne rationale Zahl ist. Genauer behaupten wir: Rande«, nämlich in Form von
eine kleinste Zahl, nämlich die Null. (Oder Es gibt keine natürlichen Zahlen m und n mit Randnotizen in Büchern. Eine
die Eins; bei welcher Zahl man die natürli­ der Eigenschaft, dass m /n = 2 wäre. dieser Bemerkungen blieb 350
chen Zahlen beginnen lässt, ist Vereinba­ Nehmen wir also an, es gebe m und n mit Jahre lang unbewiesen und
rungssache.) Das gilt nicht nur für die Menge dieser Eigenschaft. Da 2 zwischen 1 und 2 wurde als »Fermats letzter
der natürlichen Zahlen selbst, sondern für liegt, folgt aus 2 = m /n die Beziehung 0 < n Satz« weltberühmt; eine an­
jede ihrer Teilmengen: Jede (nicht leere) Teil­ < m < 2n. Wegen ( 2 +1)( 2– 1) = 1 kann dere bezieht sich auf den
menge von hat ein kleinstes Element. man schreiben: unend­lichen Abstieg in den na­
Wenn man also in der Menge der na­ türlichen Zahlen, dessen Un­
türlichen Zahlen oder einer Teilmenge belie­ möglichkeit Maurits C. Escher
big oft absteigen kann, ohne je an ein Ende illustriert hat (oben).
zu kommen, dann muss man einer Illusion also
zum Opfer gefallen sein! Das ist die Idee
hinter Fermats Verfahren vom unendlichen
Abstieg.
Aus den Ungleichungen 0 < n < m < 2n folgt,
Fermats Treppe dass 2n – m < m und m – n < n ist. Somit ha­
Nehmen wir an, wir wollen beweisen, dass ben wir Zähler und Nenner unseres Ausgangs­
eine gewisse Aussage A(n) für alle natürlichen bruches um mindestens eine Einheit ver­
Zahlen n falsch ist. Wir nehmen das Gegen­ kleinert: Wenn 2 gleich dem Bruch m /n
teil an und versuchen diese Annahme zum wäre, dann wäre es auch gleich einem Bruch
Widerspruch zu führen. Unsere Annahme mit kleinerem Zähler und Nenner. Der un­
lautet, es gebe (mindestens) eine Zahl n, für endliche Abstieg hat begonnen, 2 ist keine
die A(n) zutrifft, oder, etwas komplizierter rationale Zahl.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 15
Rekursive Verfahren:
praktizierte Induktion
Manchmal ist ein Problem tatsächlich schon dann gelöst,
wenn man ansagen kann, wie man von n nach n +1
kommt: Die Induktion ist nicht gänzlich fantasielos.

Von Hervé Lehning einzufügen, sowie sie höherwertig ist als die
Vergleichskarte. In dem Beispiel links unten

D
ie Induktion (vergleiche den Beitrag ist die neue Karte, die Pik Zehn, nach der
»Induktion« auf S. 10) ist ohne Zwei- zweiten einzufügen.
fel ein äußerst wirkungsvolles Hilfs- Natürlich ist die Anzahl 4 willkürlich. Wir
mittel. Mit ihr kann man mitunter in drei können auf dieselbe Weise in ein Spiel beliebi-
Zeilen Beweise führen, die auf anderem Wege ger Größe eine neue Karte einfügen. Also ha-
einen weit höheren Aufwand erfordert hätten. ben wir, getreu dem Induktionsprinzip, die
Zudem befriedigt sie das ästhetische Empfin- Aufgabe, n +1 Karten zu sortieren, auf die Auf-
den des Logikers, der es schätzt, wenn alle Ge- gabe, n Karten zu sortieren, zurückgeführt.
dankenschritte auf wenige Axiome zurück- Um das deutlich zu machen, schreiben wir
führbar sind. dieses Verfahren so, wie man ein Unterpro-
Beim Praktiker bleibt jedoch manchmal gramm für einen Computer schreiben würde.
ein schaler Nachgeschmack. In seinem Be- Unser Programm Sort soll ein Kartenspiel
wusstsein besteht die eigentliche kreative Ar- entgegennehmen und es sortiert zurückgeben.
beit im Aufstellen der Formel, und der Induk- Was weiter mit dem Kartenspiel geschieht,
tionsbeweis ist nichts weiter als eine Art amt- bestimmt das übergeordnete Programm,
liche Bestätigung der Korrektheit – wichtig welches das Programm Sort aufgerufen hat.
und notwendig, aber keine nennenswerte geis-
tige Leistung. Sort(T):
Das hieße nun wieder das Induktionsprin- Wenn die Anzahl n der Karten gleich 1 ist,
zip zu unterschätzen. Es gibt Fälle, in denen gib T unverändert zurück (denn es gibt
es tatsächlich genügt anzusagen, wie man von nichts zu sortieren);
Das langsame Verfahren: n nach n +1 kommt, und damit ist die ganze ansonsten nimm das letzte Element x von T
u Einfügen einer Karte Arbeit erledigt! Im Prinzip. Die Ausführung weg; dadurch entsteht das Spiel T’; gib
nach der anderen im Detail überträgt man zweckmäßig einem Einfüge(x,Sort(T’)) zurück.
Computer. Die Rede ist von rekursiven Un-
terprogrammen. (Computerexperten erkennen in dieser
Schreibweise die »If-then-else«-Konstruktion
Sortieren durch Einfügen klassischer Programmiersprachen wieder.)
Wir alle verfahren nach diesem Prinzip, wenn Einfüge(x,U) ist ein weiteres Unterpro-
wir ein Kartenspiel sortieren. Stellen Sie sich gramm, das eine Karte x und ein bereits sor-
vor, Sie wissen, wie man vier Karten in die tiertes Spiel U entgegennimmt und das Spiel
alle Abbildungen: spektrum der wissenschaft

richtige Reihenfolge bringt: links die höchste U mit der an der richtigen Stelle eingefügten
Karte und dann absteigend bis zur niedrigs- Karte x zurückgibt. Die kurze Anweisung »gib
ten. Das Ass ist die höchste Karte, es folgen Einfüge(x,Sort(T’)) zurück« bedeutet
König, Dame, Bube, 10, 9, …, 3, 2. Wenn also: Das Unterprogramm Sort ruft das Un-
man Ihnen nun eine fünfte Karte gibt, was terprogramm Sort (jawohl, sich selbst) auf,
machen Sie dann? Sie fügen sie in das bereits indem es ihm das Spiel T ’ übergibt. Das Er-
sortierte Spiel ein. Hierzu genügt es, die neue gebnis reicht es mit der Karte x an das Pro-
Karte von links nach rechts mit jeder der be- gramm Einfüge weiter, und dessen Ergebnis
reits sortierten Karten zu vergleichen und sie gibt es an das aufrufende Programm zurück.

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Wie kann man sich davon überzeugen,
dass dieser Algorithmus funktioniert, unab- Pythagoras durch Induktion
hängig davon, welches Kartenspiel am Anfang
gegeben ist? Mit Induktion! Offensichtlich er- A′′ Jedermann kennt den Satz des Pythagoras: In einem recht-
hält man das richtige Ergebnis, wenn das Spiel winkligen Dreieck ist das Hypotenusenquadrat gleich
T aus einer einzigen Karte besteht. Das war A der Summe der beiden Kathetenquadrate. Mit den Be-
der Induktionsanfang. zeichnungen der Figur: BC 2 = AB 2 + AC 2. Ist der Winkel
Nun der Induktionsschritt: Wir nehmen bei A’’ kleiner als π/ 2, so gilt BC 2 ≤ AB 2 + AC 2. Anderer-
A′
an, der Algorithmus liefere für jedes Spiel mit seits: Liegt A’ im Innern des Dreiecks, so ist
höchstens n Karten das richtige Ergebnis, und B C BC 2 ≤ A’B 2 + A’C 2.
geben uns ein Spiel mit n+1 Karten vor. Füh- Dieses Resultat lässt sich mit Hilfe des Prinzips »teile und herrsche« auf
ren wir den Algorithmus durch. Dieser ver- eine endliche Zahl von Punkten verallgemeinern. Man zerlegt das Dreieck in
langt von uns, T ’ zu sortieren, was nach der zwei Teildreiecke, indem man die Höhe, die vom Scheitel des rechten Winkels
Induktionsannahme korrekt durchführbar ist, ausgeht, einzeichnet. Dann erhält man zwei rechtwinklige Dreiecke.
da T ’ nur n Karten enthält. Wird nun richtig A C Der Satz des Pythagoras lautet in diesen Dreiecken:
eingefügt, so liefert Sort(T)das richtige Er- AB 2 = AH 2 + BH 2 und AC 2 = AH 2 + HC 2. Wenden wir
gebnis für ein Spiel mit n +1 Karten. Mit dem unser letztes Resultat auf die beiden Teildreiecke an:
Induktionsschluss folgt, dass Sort(T)für je- Ist A’ ein Punkt im Inneren des Dreiecks ABH und A’’
des Spiel das korrekte Resultat liefert. H ein innerer Punkt von AHC, so gilt
A’B 2 + A’A 2 ≤ AB 2 und A’’A 2 + A’’C 2 ≤ AC 2.
Teile und herrsche B Nach Addition und Anwendung von BC 2 = AB 2 + AC 2 er-
Ein wesentlich geschickteres Sortierverfahren hält man
lässt sich ebenfalls über ein rekursives Unter- A C A’B 2 + A’A 2 + A’’A 2 + A’’C 2 ≤ BC 2.
programm beschreiben. Wir zerlegen den zu A′′ Im Dreieck AA’A’’ gilt A’A 2 + A’’A 2 ≥ A’A’’ 2, woraus sich die
sortierenden Stapel in zwei Teile der jeweils Ungleichung
halben Größe, sortieren die Teilstapel und fü- BA’ 2 + A’A’’ 2 + A’’C 2 ≤ BC 2
A′
gen die Karten beider Stapel so hintereinan- H ergibt.
der, dass die Sortierung erhalten bleibt. Die Methode lässt sich erneut anwenden, indem
Die Methode lässt sich auch in anderen B man alle Dreiecke wiede­rum in zwei Teildreiecke zer-
Situationen anwenden (Kasten rechts). Sie ist legt. Wir dürfen folgenden Satz vermuten:
im angelsächsischen Sprachraum als »divide Es seien A1, A2, … An n Punkte im Inneren des rechtwinkligen Dreiecks ABC
and conquer« bekannt, im Deutschen als »tei- mit dem rechten Winkel bei A. Dann gilt nach geeigneter Umnummerierung:
le und herrsche«. A 0 A 12 + A 1A 22 + … + A n A n+12 ≤ BC 2, wobei A 0 = B und A n+1 = C sein soll.
Nehmen wir ein Beispiel: Wir wollen acht Zu beweisen ist dieses Resultat mit vollständiger Induktion.
Spielkarten ordnen. Dabei gilt wieder die obi-
ge Rangfolge: Ass, König, Dame, Bube, 10,
… Unter gleichrangigen Karten ist die Rei- in ihrer Hand, und die zu sortieren ist nun
henfolge Kreuz, Pik, Herz, Karo. Wir zerlegen wirklich einfach: Entweder haben die beiden
nun unser Spiel in zwei Spiele zu je vier Kar- Karten die richtige Ordnung, oder man muss
ten und lassen diese neuen Spiele von zwei sie vertauschen.
Freunden sortieren. Angenommen, wir erhal- Auch hinter dieser Methode steckt das In-
ten von ihnen die beiden rechts unten abge- duktionsprinzip. Um uns hiervon zu überzeu-
bildeten sortierten Spiele zurück. gen, schreiben wir sie wieder als Computer-
Damit ist Ihre Arbeit wesentlich einfacher grogramm: Das schnelle Verfahren
geworden. Es genügt nun, von den zuoberst u (»teile und herrsche«):
liegenden Karten beider Stapel die höhere zu Sort(T): Vereinigen zweier Halbstapel
nehmen, und das immer wieder. Im Beispiel Wenn die Anzahl der Karten n gleich 1 ist,
greift man zuerst das Herz-Ass von links, gib T unverändert zurück (denn es gibt
dann den Pik-König von rechts und so weiter. nichts zu sortieren);
Jeder Akt erfordert nur den Vergleich zweier ansonsten teile das Spiel in zwei möglichst
Karten, und nach acht (genau genommen nur gleich große Spiele T1 und T2 (das heißt,
sieben) Vergleichen sind die beiden Spiele ver- beide enthalten n/2 Karten, falls n gerade
einigt zu einem einzigen sortierten Spiel. ist; für ungerades n enthält das eine Teil-
In unserem Verfahren steckt noch eine un- spiel eine Karte mehr als das andere); gib
geklärte Annahme: Die beiden Freunde haben Vereinige(Sort2(T1),Sort2(T2))
uns die Spiele sortiert zurückgegeben, aber sie zurück.
haben uns nicht verraten, was sie gemacht ha-
ben. Das ist aber einfach: Sie machen beide Dabei ist Vereinige ein Programm, das
genau dasselbe wie wir – jeweils mit zwei an- nach der oben beschriebenen Methode zwei
deren Freunden. Diese finden je zwei Karten sortierte Spiele zu einem sortierten Spiel

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 17
Rekursive Verfahren z
zusammenführt (der englische Fachausdruck
ist merge).
einen Vergleich c, so erhalten wir die Bezie-
hung
Wie kann man sich davon überzeugen,
t(n+1) = t(n) + nc.
dass dieser Algorithmus für jedes anfänglich
vorgegebene Kartenspiel funktioniert? Diese Formel lässt uns aus dem Wert für n
r  Induktionsanfang: Offensichtlich funkti- den Wert für n+1 erschließen und ist damit
oniert der Algorithmus, wenn das Spiel T nur wie geschaffen für einen Induktionsbeweis.
aus einer Karte besteht. Der Induktionsanfang ist einfach: Es ist na-
r  Induktionsschritt: Nehmen wir nun an, türlich t(1) = 0. Der Induktionsschritt ver-
er funktioniert korrekt für alle Spiele mit läuft nach demselben Muster wie in dem Be-
höchstens n – 1 Karten, und geben wir uns weis der Formel
ein Spiel mit n Karten vor. (Von n – 1 auf n
1 + 2 + 3 + … + n = n(n + 1)/2,
zu schließen ist dasselbe wie von n auf n + 1;
der Unterschied besteht nur in einer belang- nur muss man mit der Nummerierung ein
losen Änderung der Bezeichnung.) bisschen aufpassen. Das Ergebnis ist
Führen wir den Algorithmus durch. Die-
t(n) = cn(n –1)/2 = c (n 2 – n)/2
ser verlangt, dass wir das Spiel in zwei Teile
aufteilen. Die beiden Spiele T1 und T2, die Für große Werte von n kommt es auf das n
man so erhält, enthalten je n/2 Karten, wenn neben dem n 2 nicht mehr besonders an. Die
n gerade ist, oder anderenfalls (n+1)/2 und wesentliche Aussage ist: Sortieren mit Einfü-
(n–1)/2 Karten. In jedem Fall sind beide gen kostet eine Zeit proportional zu n 2 , wo-
Zahlen kleiner als n, falls n ≥ 2 ist. Also sind bei n die Anzahl der zu sortierenden Gegen-
nach Induktionsannahme die Resultate von stände ist. Das gilt für alle naiven Sortierver-
Sort2(T1) und Sort2(T2) korrekt. Da fahren.
die Zusammenführung der beiden Spiele
ebenfalls korrekt verläuft, ist das Ergebnis von Teilen und Herrschen ist schnell
Sort2(T) korrekt für ein Spiel T mit n Führen wir die entsprechende Berechnung für
Karten. das Sortieren nach der zweiten Methode
r  Induktionsschluss: Mit vollständiger In- durch. Zwei halbe sortierte Spiele zu einem
duktion haben wir gezeigt, dass das Resultat ganzen der Größe n zu vereinigen erfordert n
von Sort2(T) für jedes Spiel T korrekt ist. Vergleiche, also gilt
Für unseren Beispielmenschen, der den
t(n) = 2t (n/2) + nc.
wesentlichen Teil der Arbeit an seine zwei
Freunde abdrückt, ergibt sich natürlich eine Wenn jetzt n eine Zweierpotenz ist, dann ist
große Zeitersparnis. Was aber, wenn er und die Sache einfach. Wir setzen n = 2p und
seine Freunde alle dieselbe Person – oder der- up = t(2 p)/2 p; dadurch nimmt die obige Rela-
selbe Computer – sind? Indem wir die für die tion die Form up = up –1 + c an, woraus – mit
beiden beschriebenen Sortieralgorithmen be- Induktion! – up = pc folgt. Einsetzen ergibt
nötigten Rechenzeiten miteinander verglei- t(2 p) =2 p pc oder t(n) = n c log2 n, denn p ist
chen, werden wir sehen, dass das zweite Ver- der Logarithmus von n zur Basis 2.
fahren weitaus besser ist. Anders ausgedrückt: Das gesamte Spiel
aus n Karten wird in p Halbierungsschritten
Einfügen ist langsam in Teilspiele bis hinunter zu Einzelkarten zer-
Wie viel Zeit – genauer: wie viele Einzelaktio- legt. Die Teilspiele werden in ebenfalls p
nen – braucht man, um n Karten mit dem Schritten wieder zu Teilspielen der jeweils
Einfügeverfahren in die richtige Reihenfolge doppelten Größe vereinigt. Dabei fallen in je-
zu bringen? Das kommt darauf an. Vielleicht dem Schritt – verteilt auf alle jeweils vorhan-
finden wir bereits nach einem oder zwei Ver- denen Teilspiele – n Vergleichsakte an. Also
suchen die richtige Stelle für die neu einzusor- beträgt der gesamte Arbeitsaufwand t(n) = ncp
tierende Karte. Aber rechnen wir lieber mit = n c log2 n.
dem schlimmsten Fall und nennen die – noch Wenn n nicht genau eine Zweierpotenz
unbekannte – Zeit, die wir zum Ordnen von ist, ändert sich an der Argumentation nicht
n Karten höchstens benötigen, t(n). viel. Nur log2 n, was in diesem Fall eine krum-
Um n + 1 Karten zu sortieren, brauchen me Zahl ist, muss auf die nächstgrößere ganze
wir einerseits die Zeit t(n) plus die Zeit für Zahl aufgerundet werden. Die entscheidende
das Einfügen der (n+1)-ten Karte. Dafür muss Aussage bleibt erhalten: Die Rechenzeit ist
die neue Karte so lange mit den Karten des proportional zu n log2 n, was geringfügig grö-
bereits sortierten Spiels verglichen werden, bis ßer ist als n, aber viel kleiner als n2. Der Zeit-
ihr Platz gefunden ist. Im ungünstigsten Fall gewinn gegenüber der naiven Methode ist be-
braucht das n Vergleiche. Beträgt die Zeit für achtlich.

18 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Leonhard Eulers
unendliche Summen
Unendlich viele Terme zu addieren, ist oft ein gefährliches
Unterfangen. In den Händen eines genialen Zauberkünstlers
aber erzeugen gewagte Manipulationen serienweise Wunder.

Tangente
Von Daniel Barthe

W Reihen oder unendliche Summen

Leonhard Euler (1707 –


o 1783) gilt als der produk-
tivste Mathematiker aller Zei-
ten. An den Akademien der
Wissenschaft zu St. Petersburg,
Berlin und nochmals St. Peters-
burg führte er die Analysis, de-
ren Grundlagen Newton und
Leibniz wenige Jahrzehnte zu-
vor geschaffen hatten, zu einer
beispiellosen Blüte.

Die divergenten Reihen sind allesamt eine Erfindung des Teufels ... Mit
Ausnahme der allereinfachsten Fälle, beispielsweise der geome-
trischen Reihen, gibt es in der gesamten Mathematik kaum eine unend-
liche Reihe, deren Summe streng bestimmt ist. Niels H. Abel, 1826

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 19
Unendliche Reihen z
Corbis

Teleskopreihen

James Gregory entdeck-


o te 1671 die bemerkens-
werte Formel

Sie ist allerdings von keinerlei


praktischem Interesse. Selbst
mit einem Computer bräuchte
man mehrere Jahrhunderte,
um mit ihrer Hilfe die ersten
hundert Dezimalstellen von π
auszurechnen.

20 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Überraschungen der harmonischen Reihe

Tangente
»Beweis« ohne Worte
o von Sunday A. Ajose:
Die geometrische Reihe 1/4 +
1/16 + 1/64 + 1/256 + … konver-
giert gegen 1/3.

siehe

Verallgemeinerte harmonische Reihen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 21
Unendliche Reihen z
Beweis durch Bild, von Mark Finkelstein
y= 1
x Für die alternierende harmonische Reihe gilt

= ln 2
5 6 7 8
1
(ln bezeichnet den Logarithmus zur Basis e,
den »natürlichen Logarithmus«)
4
5
1 – 1 2
5 6 3
4
1 – 1 7 1
3 4 1 – 1
7 8 2

1– 1
2

Tangente
0,6 0,8 1 5 3 7 2
4 2 4

Das Baseler Problem

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 23
Die bizarre Welt der
links-unendlichen Zahlen
Reelle Zahlen können unendlich viele Stellen hinter dem Komma
haben – na schön. Aber unendlich viele Stellen vor dem
Komma? Macht das irgendeinen Sinn? Erstaunlicherweise ja.

14 1 Von Jean-Paul Delahaye bekannte Beziehung


+ 28 +2

Z
+ 56 +4 1 + x + x 2 + x 3 + x 4 +… = 1/(1 – x),
+ 112 +8
ur Einstimmung auf ein merkwürdi­
+ 224 +16 ges Thema möchte ich Ihnen zwei (siehe auch Kasten S. 27), so ergibt sich
+ 448 +32 merkwürdige unendliche Additionen
+ 896 +64 S = 7 · (2 /100) · (1/(1 – 2 /100)) 
+ 1792 +128 präsentieren.
= (7 · 2 · 100) /(98 · 1 · 100) 
+ ..... +256 Die erste: Man schreibe die Zahl 14 auf,
+512 = 14/98 = 1/7.
1 1 1 verdopple sie und schreibe das Ergebnis 28
+1024
+2048 um zwei Stellen nach rechts verschoben da­ Kein Wunder, dass wir beide Male dieselbe
+4096 runter. Man verdopple die nun zuunterst ste­ Ziffernfolge vorfinden.
+8192
+16384
hende Zahl, schreibe das Ergebnis um zwei Das ging überraschend einfach. Um die­
Pour la Science

+32768 weitere Stellen nach rechts verschoben darun­ ses erste Rätsel zu lösen, brauchen wir weder
+..... ter, und so weiter. Dann addiere man alle die errechneten Dezimalstellen zu kennen
...052631578947368421052631578947368421
­diese unendlich vielen Zahlen auf (Bild links). noch zu wissen, dass das Endergebnis perio­
Es ergibt sich 142857142857142857… Die­ disch ist. Wir müssen noch nicht einmal
ses Muster wiederholt sich bis ins Unendliche. im Dezimalsystem dividieren oder addieren
Dieselbe ­Ziffernfolge erhält man, wenn man können.
1 durch 7 teilt: Das vermeintliche Wunder – lauter kom­
plizierte Zahlen ohne offenkundige Regelmä­
1/7 = 0,142857142857142857… ­
ßigkeit aufaddiert ergeben eine perio­dische
Warum? Ziffernfolge – ist gar keines. Aber das sieht
Die zweite Addition: Wir beginnen mit man erst, wenn man sich nicht in den unend­
der Zahl 1, verdoppeln wieder in jedem lichen Sumpf dieser Addi­tionsaufgabe hinein­
Schritt, sodass sich die Zweierpotenzen erge­ ziehen lässt, sondern einen abstrakten Satz
ben, verschieben aber dieses Mal in jeder Zei­ anwendet.
le um eine Stelle nach links. Auch hier ergibt Es folgen einige Variationen über das erste
sich bei der Ad­dition eine periodische Ziffern­ Rätsel. Die erste stammt von Paul Hermann.
folge. Es handelt sich um die Dezimalstellen Man beginnt mit 97; in jedem Schritt wird
des Bruchs das Ergebnis verdreifacht und um zwei Stellen
nach rechts verschoben:
1/19 = 0,0526315789473684210526315789
47368421…
97
Warum? + 291
Das erste Rätsel ist wie folgt zu lösen. + 873
Denken wir uns eine Null und ein Komma + 2619
links von der 14. Dann ist die unendliche + 7857
Summe, die wir ausrechnen, + 23571
+ 70713
S = 7 · (2/100 + (2/100)2 + (2/100)3  + …).
+ 212139
In der Klammer steht die Summe einer geo­ + ......................
metrischen Reihe. Verwendet man hierfür die 99999999999999999

24 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Die Erklärung benötigt nur vier Zeilen: taucht unendlich oft auf. (Es ist zwar eine alte
2 Weisheit, dass man die Teufelszahl – ebenso
S = (97/100) · (1 + (3 /100) + (3 /100)  + 
wie jede andere Zahl – durch geeignete Rech­
(3 /100)3 + …) 
nerei überall finden kann, wenn man nur in­
= (97/100)/(1 – 3 /100) 
tensiv genug sucht; aber lassen wir uns davon
= (97 · 100)/(97 · 100) = 1.
nicht beirren.) Man beginnt mit 64 und mul­
Außerdem ist 0,9999… gleich 1. Denn tipliziert immer mit 4, wobei man zwei Stel­
die Differenz von 0,9999 und 1 ist kleiner als len nach rechts rückt
0,1 aber auch kleiner als 0,01, kleiner als
0,001 und so weiter. Die Differenz ist kleiner 64
als jede positive Zahl, also ist sie gleich null. + 256
Eine weitere unendliche Addition stammt + 1024
von Frédéric de Ligt. Man geht von 1 aus und + 4096
multipliziert immer mit 3, wobei man um + 16384
eine Stelle nach rechts verschiebt: + 262144
+ .................................
1 6666666666666666...
+ 3
+ 9 Anscheinend stößt man bei unend­lichen
+ 27 Additionen der vorgestellten Art häufig auf
+ 81 periodische Ziffernfolgen. Wie sich heraus­
+ 243 stellt, sind diese sogar unvermeidlich! Denn
+ 729 das beschriebene Verfahren führt stets auf
+ 2187 eine geometrische Reihe. Deren Summe ist
+ ......................... eine rationale Zahl (das heißt von der Form
142857142857... p /q mit zwei natürlichen Zahlen p und q )
und hat deswegen eine periodische Dezimal­
Wieder handelt es sich um die Dezimal­ entwicklung.
stellen von 1/7. Der Nachweis sei dem Leser Das zweite Rätsel ist schwieriger.
überlassen. Das liegt daran, dass die unendliche Addition
Die nachfolgende Addition von Jean Blan­ nach links läuft – was anscheinend keinen
chard beweist, dass die Informatik, die ja stän­ Sinn macht. Paul Hermann fand eine elemen­
dig von den Zahlen 64, 128, 1024 und ande­ tare und elegante Lösung. Seine Überlegun­
ren geraden Zweierpotenzen Gebrauch macht, gen beruhten auf der Summenformel für end­
Teufelswerk ist, denn die Teufelszahl 666 liche geo­metrische Reihen (Kasten S. 26):

Merkwürdige Interpretation einer Formel


Der von dem Bogenschützen abgeschossene Pfeil durchfliegt einen und wird von dem Pfeil durchbohrt, der von der »falschen« Sei­
Meter in der ersten Sekunde, 10 Meter in der nächsten halben te aus dem Unendlichen kommt! Dieses Paradoxon, das von
Sekunde, 100 Meter in der nächsten Viertelsekunde und so wei­ Ilan Vardi stammt, illustriert die Interpretation einer Formel: Die
ter. Nachdem der Schütze den Pfeil abgeschossen hat, dreht er Summe der divergenten Reihe 1 + 10 + 100 + … ist »gleich« –1/9.
sich um, legt in zwei Sekunden gemächlich 1/9 Meter zurück – Zu Grunde liegt die Summenformel der geometrischen Reihe.
J. M. Thiriet

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 25
Links-unendliche Zahlen

Das Rechnen mit dekadischen Zahlen


z
Eine dekadische Zahl hat unendlich viele Dezimalziffern vor dem a) … 242424242 b)  24242424242
Komma und nur endlich viele dahinter. (Bei den reellen Zahlen · … 111111111 · … 13131313
ist es genau umgekehrt: endlich viele Stellen vor dem Komma, … 24242424242 … 27272726
unendlich viele dahinter.) … 24242424242 … 42424242
Beispiele: …11111111111,111 …13131313,99332 … 24242424242 … 27272726
… 24242424242 … 42424242
Die Addition dekadischer Zahlen hat nichts Geheimnisvolles: … 24242424242 … 27272726
………………………… …………………………
… 242424242 …528615286152862 ??????489746
+ … 111111111
… 353535353 Man kann zeigen, dass das Produkt zweier periodischer deka­
discher Zahlen wieder eine periodische dekadische Zahl ist. In
der Tat sind die periodischen dekadischen Zahlen genau die ra­
… 888888,888 tionalen Zahlen (vergleiche Kasten S. 29).
+  … 111111,112 Durch Multiplizieren findet man
… 000000,000
… 24242424242 · 33 = … 999999986 = –14 und
Allerdings zeigt die zweite Addition, dass die Zahl … 952861952861952862 · 297 = … 00000000014 = 14.
… 111111111,112 das Negative zu … 88888888,888 ist:
– … 88888888,888 = … 11111111,111, denn beide Zahlen addie­ Daraus folgt … 24242424242 = – 14/33 und … 9528619528619
ren sich zu null. Ebenso gilt 52862 = 14/297.
Die Periode eines Produkts kann lang sein: Das Ergebnis der
– … 99999999999 = 1 und – 123 = … 999999877. Multiplikation b) oben ist gleich … sssss6, wobei s die 66stellige
Zahl s = 59442913988368533823079277624732170186715641
Allgemein: – …edcba = … (9 – e)(9 – d )(9 – c )(9 – b)(10 – a). 2610958065503520048974 ist.

Die Addition unendlich vieler dekadischer Zahlen hat gelegentlich Die dekadische Division ist gewöhnungsbedürftig:
überraschende Ergebnisse:
… 3333333333333333 : … 1212121212121212121
  +  9 – … 6363636363636363 = … 428571428571428573
  +  90  … 6969696969696970
  +  900 … 696969696969697
  +  9000 – … 848484848484847
  +  90000 … 848484848484850
  +  …………… … 84848484848485
=  … 999999999999 …………….

Andererseits ist … 99999999999 + 1 = 0. Folglich ergibt sich Bei der üblichen Division geht es darum, nacheinander von
das seltsame Resultat: links nach rechts alle Ziffern des Dividenden zu null zu machen,
indem man geeignete Vielfache des Divisors subtrahiert. Bei
9 + 90 + 900 + 9000 + 90000 + … = –1 dekadischen Zahlen muss man die Ziffern des Dividenden von
rechts nach links zu null machen!
Weil aber … 999999999999 = 9 · (… 111111111111) gilt, erhält Man betrachte die letzte Ziffer des Dividenden, also die 3.
man als Ergebnis: Um diese zu null zu machen, ziehe man 3 · … 21212121212121
 = … 636363636363636363 von … 3333333333333 ab. Es
… 111111111111 = – 1/9 bleibt … 696969696970. Man streicht die Null und arbeitet mit
dem Rest … 696969696969697 weiter. Da die letzte Ziffer eine
Damit eine unendliche Summe gebildet werden kann, ist not­ 7 ist, zieht man das Produkt 7 · 21212121212121 = … 48484848
wendig und hinreichend, dass die Anzahl der Nullen am Ende 484847 ab. Man findet … 8484848484848450. Wieder streicht
der zu addierenden Zahlen immer mehr zunimmt. Das erlaubt man die Null. Das liefert: … 84848484848485. Hier lautet die
es auch, die Multiplikation dekadischer Zahlen zu definieren. letzte Ziffer 5. Dann zieht man das Produkt 5 · 21212121212121 =
 … 606060606060605 ab. Und so weiter.
Man multipliziert dekadische Zahlen nach der Schulmethode: lin­ Die Probe durch Multiplizieren ergibt
ker Faktor mal jede einzelne Stelle des rechten Faktors, stellen­ ... 1212121212121212121 · ... 428571428571428573 
richtig untereinander geschrieben und aufaddiert. Allerdings = ... 3333333333333333,
gibt es hierbei kein Ende: wie es sein muss.

26 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
1 + x + x 2 + x3 + … + x n – 1 = (x n – 1)/(x – 1).
Neues zur geometrischen Reihe
Betrachten wir die ersten n Zeilen des myste­
riösen Schemas. Ergänzen wir mit Nullen
nach rechts, so ergibt sich die Summe:
S(n) = 1 + 20 + 202 + 203 + … + 20n – 1 
= (20 n – 1)/(20 – 1) = 10 n · 2 n /19 – 1/ 19.
An dieser Stelle bringt Paul Hermann einen
neuen Gedanken ins Spiel: Wenn n ein Viel­
faches von 18 ist, dann ist die Zahl 2n von
der Form 19 k + 1 mit einer bestimmten
natürlichen Zahl k. Um das einzusehen,
schaut man sich zunächst den Fall n = 18 an:
218 = 262144 = 13797 · 19 + 1. Außerdem gilt:
Multipli­ziert man zwei Zahlen der Form
19 k + 1 miteinander, so hat deren Produkt
wieder diese Form.
Ist also n ein Vielfaches von 18, so exis­
tiert eine natürliche Zahl k, sodass
S(n) = 10 n · (19 k + 1)/19 – 1/ 19 
= 10 n · k + 10 n /19 – 1/19.
Der Term 10 n · k ist eine Zahl mit n Nullen
und hat daher in dieser Summe keinen Ein­
fluss auf die letzten n Ziffern. Ist also n ein
Vielfaches von 18, so liefert die Addition der
ersten n Zeilen in den n letzten Spalten die
Ziffern der Zahl 10 n /19 – 1/19. Das sind ge­
nau die Ziffern, die man erhält, wenn man 1
durch 19 dividiert (denn man erhält dieselbe
Ziffernfolge, einerlei ob man 1, 10, 100 oder
allgemein 10n durch 19 teilt). Die Subtrakti­
on von 1/19 lässt die Ziffern von 10 n /19 ver­
schwinden, die hinter dem Komma stehen.
Folglich sind die letzten n Ziffern des
Schemas gerade die ersten n Ziffern der Dezi­
malbruchentwicklung von 1/19. Nimmt man
immer größere n (n = 18, n = 36, n = 54, …), so
erklärt sich die merkwürdige Koinzidenz voll­
ständig. Die Theorie der dekadischen Zahlen,
die ich Ihnen weiter unten vorstellen möchte,
liefert eine noch einleuchtendere Erklärung.
Frédéric de Ligt und Raymond Millon ha­
ben die nachfolgende hübsche Variante der
»unendlichen Addition nach links« vorge­
schlagen. Ausgangszahl 7, Multiplikation mit
5, Verschiebung um eine Stelle nach links:

7
+ 35
+ 175
+ 875
+ 4375
+ 21875
+ 109375
+ ....................... Frédéric de Ligt hat auch eine Addition
…142857142857142857… entdeckt, die 1/13 ergibt. Man geht von 3
aus, multipliziert immer mit 4 und verschiebt
Das sind die Ziffern von 1/7! eine Stelle nach links:

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 27
Links-unendliche Zahlen



z + 12
3 Diese Koinzidenzen zweiter Art lassen sich
alle nach dem obigen Muster erklären. Aller­
+ 48 dings erscheint dies übertrieben kompliziert.
+ 192 Man muss in jedem Einzelfall eine Zahl fin­
+ 768 den, die im obigen Beweis an die Stelle der 18
+ 3072 tritt, und so weiter. Nachdem wir eine gewisse
+ 12288 Übung in solchen Additionen erworben ha­
+ ....................... ben, die nach links unendlich sind, liegt fol­
...076923076923076923... gender Gedanke nahe: Warum sollen wir mit
den Krücken der endlichen Arithmetik ins
Das sind gerade die Ziffern von 1/13. Unendliche humpeln? Verallgemeinern wir

Die seltsame Welt der dekadischen Zahlen


Automorphe Zahlen: Unter den nach links unendlichen Zahlen Das ist aber ein Widerspruch, da x2 ungleich 0 ist. Also ist un­
hat die Gleichung x 2 = x neben 0 und 1 noch weitere Lösungen; ter den dekadischen Zahlen nicht nur die Division durch null
sie heißen automorphe Zahlen. Es gibt deren zwei, die mit x1 verboten, sondern auch durch jeden Nullteiler.
und x2 bezeichnet werden. Hier sind ihre letzten 90 Stellen: Wenn man allgemeine Sätze aufstellen und beweisen will,
stört die Tatsache, dass die Division nicht uneingeschränkt
x1 = ... 108169802938509890062166509580863811000557423 durchführbar ist, doch erheblich. Das erklärt, warum die deka­
423230896109004106619977392256259918212890625 dischen Zahlen unter den Mathematikern wenig Freunde ha­
ben. Nimmt man aber als Basis des Zahlensystems eine Prim­
x2 = ... 891830197061490109937833490419136188999442576 zahl p anstelle von 10, so hat jede p-adische Zahl ungleich null
576769103890995893380022607743740081787109376 einen Kehrwert, und es gibt keine Nullteiler. Für Primzahlen p
bilden die p-adischen Zahlen einen so genannten Körper. Die­
Das bedeutet im Einzelnen: Man nehme eine (gewöhnliche) ser ist in der Zahlentheorie von großem Nutzen.
Zahl, deren letzte zehn Stellen mit denen von x1 übereinstim­
men – also gleich 8212890625 sind –, und quadriere sie. Dann Quadratwurzeln: Es ist wohl bekannt, dass im Bereich der reel­
ergibt sich eine Zahl, welche dieselben zehn Endziffern auf­ len Zahlen eine Gleichung n-ten Grades höchstens n Lösungen
weist. Gleiches gilt, wenn man die 20 Endziffern von x1 oder x2 hat; insbesondere hat jede reelle Zahl höchstens zwei Quadrat­
nimmt, oder eine andere beliebige Anzahl von Endziffern. wurzeln. Im Reich der dekadischen Zahlen liegen die Dinge an­
Wie berechnet man x1? Für beliebiges n sind die letzten n ders. Eine dekadische Zahl kann bis zu vier Quadratwurzeln ha­
n
­Ziffern von x1 die letzten n Ziffern von 52 . Die zweite auto­ ben. Wie man nachrechnet, gilt (2x1 – 1)2 = 1. Daraus folgt, dass
morphe Zahl hängt mit der ersten über die Beziehung x1 + x2 = 1 die Zahl 1 nicht nur die Quadratwurzeln 1 und – 1 besitzt, son­
zusammen. dern auch noch 2x1 – 1 und damit auch 1 – 2x1. Gleichungen vom
Grad d können bis zu d 2 Lösungen besitzen. Für eine allgemei­
Nullteiler, nicht invertierbare Zahlen: Das Produkt zweier reeller ne Basis b anstelle von 10 sind es d k Lösungen, wobei k die
Zahlen, die beide ungleich null sind, ist wieder ungleich null. In Anzahl der verschiedenen Primfaktoren von b ist.
der Welt der reellen Zahlen gibt es keine Nullteiler, in der Welt Hier sind die letzten Ziffern der beiden nicht-trivialen Qua­
der dekadischen Zahlen aber sehr wohl. Denn x1 · x2 =  dratwurzeln (also außer r1 = 2 und r2 = – 2) von 4:
x1 · (1– x1) = x1 – x12 = 0.
Die Zahlen x1 und x2 sind beide ungleich null, aber ihr Pro­ r3 = ... 70306307076415563983573520090430974960327148437502
dukt ist null! Das bedeutet konkret: Multipliziert man eine Zahl, r4 = ... 29693692923584436016426479909569025039672851562498
deren letzte 20 Ziffern mit denen von x1 übereinstimmen, mit
einer anderen Zahl, deren letzte 20 Ziffern gleich denen von x2 Noch eine Merkwürdigkeit: Während jede natürliche Zahl im
sind, so erhält man eine Zahl, von der man von vornherein Reich der reellen Zahlen eine Quadratwurzel besitzt, liegen die
weiß, dass ihre letzten 20 Ziffern Nullen sind: Dinge bei den dekadischen Zahlen anders. Weder 2 noch 3 noch
5 haben dort eine Quadratwurzel. Dagegen hat die Zahl 41 (die
92256259918212890625 · 07743740081787109376 =
nicht Quadrat einer natürlichen Zahl ist) vier dekadische Quadrat­
714408497724434710200000000000000000000
wurzeln. Eine von ihnen endet auf die folgenden Stellen:
Es gibt viele weitere Nullteiler. So ist das Produkt einer belie­
bigen dekadischen Zahl y mit x1 oder mit x2 wieder ein Nulltei­ ... 780284689680810830084469701318156276927163008501
ler, denn (y · x1 ) · x2 =y · (x1 · x2) = y · 0 = 0. 664117627064056375743830738554067263241296179
Ein Nullteiler kann keinen Kehrwert (mulitiplikatives Inver­
ses) haben. Denn angenommen, die dekadische Zahl z sei der Das bedeutet: Quadriert man diese Zahl, so ergibt sich eine
Kehrwert von x1. Dann müsste gelten: Zahl, deren letzte Stellen … 000041 sind. Folgende natürliche
Zahlen unter 100 haben dekadische Quadratwurzeln: 1, 4, 9,
x2 = x2 · 1 = x2 · (x1 ·z ) = (x2 · x1) · z = 0 · z = 0 16, 25, 36, 41, 64, 81 und 89.

28 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
doch einfach die gängigen Zahlen, indem wir
die Ziffernfolgen mit unendlich vielen Stellen Periodische Zahlen – reell und dekadisch
vor dem Komma hinzunehmen!
Unweigerlich stellen sich die bangen Fra­ Ist s eine endliche Folge von Ziffern der Länge p, so ist der Wert der deka­
gen: Ist all dies überhaupt möglich? Macht es dischen Zahl … ssss gleich – s / (10 p – 1) und der Wert der reellen Zahl
Sinn? Gerät man nicht in unauflösliche Wi­ 0,ssss … gleich s / (10 p –  1). Das ist alles, was man wissen muss.
dersprüche?
So gilt einerseits mit dekadischen Zahlen: … ssss – (10 p · … ssss) = s (Beispiel
Es war vor hundert Jahren … mit s = 51, also p = 2: … 5151515151515151 – … 515151515151515100 = 51). An­
Die Antwort lautet: Nein. Es gibt eine mathe­ dererseits hat man für reelle Zahlen 10p · 0,ssss … – 0,ssss … = s (Beispiel:
matische Theorie, welche die nach links un­ 51,51515151 … – 0,5151515 … = 51).
endlichen Zahlen untersucht und ihnen einen
Sinn gibt. Sie ist »so gut wie widerspruchs­ Hieraus schließt man: Ebenso wie in der Welt der reellen Zahlen sind periodi­
frei«: Aus einem Widerspruch in dieser Theo­ sche dekadische Zahlen Quotienten zweier natürlicher Zahlen (also Brüche
rie würde ein Widerspruch in der Mengenleh­ im gewöhn­lichen Sinn des Wortes: 12 / 47, – 32 / 1997 und so weiter). Daraus
re folgen, und dass ein solcher sich auftun folgt, dass das Produkt zweier periodischer dekadischer Zahlen wieder perio­
könnte, halten die Fachleute für ausgeschlos­ disch ist.
sen (auch wenn nach dem berühmten Satz
von Gödel die Widerspruchsfreiheit der Damit erklären sich elegant die Rätsel zweiter Art vom Anfang des Artikels:
Mengenlehre aus sich selbst heraus nicht be­ 1 + 20 + 400 + 8000 + 160 000 + … = 1/(1–20) = – 1/19 (nach der dekadischen
weisbar ist). Formel für die geometrische Reihe). Berechnet man 1/19 im Bereich der reel­
Diese Theorie, die übrigens nichts mit len Zahlen, so erhält man ein Resultat der Form 0,sss… mit der Ziffernfolge s.
Cantors Theorie der unendlichen Ordinal- Nach dem oben erklärten Grundsatz liefert die Ziffernfolge …ssss als dekadi­
oder Kardinalzahlen zu tun hat, ist etwas sche Zahl das Ergebnis –1/19.
mehr als 100 Jahre alt. Der deutsche Mathe­
matiker Kurt Hensel (1861 – 1941) hat sie
Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen; sie ist besondere harte Konsonanten nur widerwillig
zu einem wichtigen Werkzeug der Zahlen­ aussprechen), sprechen gerne von b-adischen
theorie geworden, wo sie vor allem zur Lö­ Zahlen. Dementsprechend wollen wir unsere
sung gewisser diophantischer Gleichungen 10-adischen Zahlen im Folgenden »dekadi­
(das sind Gleichungen mit ganzzahligen Ko­ sche Zahlen« nennen.
effizienten) verwendet wird. Hensels Theorie Man darf ihnen ein Komma sowie endlich
ist etwas aus der Mode gekommen und wird viele Stellen rechts vom Komma anfügen. Da­
nur wenig gelehrt, obwohl sie auch Schülern mit sind die p-adischen Zahlen in gewissem
des Gymnasiums nahe gebracht werden könn­ Sinn genaue Spiegelbilder der gewöhnlichen
te und ihnen einen Einblick in ein Zahlen­ reellen Zahlen. Denn diese dürfen nur end­
reich voller merkwürdiger Eigenschaften er­ lich viele Stellen vor dem Komma haben, aber
öffnen würde. unendlich viele dahinter.
Gewöhnliche Zahlen kann man von ei­ Eine dekadische Zahl sieht beispielsweise
nem Stellenwertsystem in ein anderes um­ so aus:
rechnen, ohne dass sich etwas Wesentliches
…179179179,345
ändert: Die dezimal, das heißt in unserem ge­
wöhnlichen Zahlensystem zur Basis 10, ge­ Die drei Punkte deuten an, dass sich die Zif­
schriebene 17 ist genau dasselbe wie 10 001 fernfolge 179 unendlich oft wiederholt, wenn
im Zweier-(Binär-)system oder 122 im Zah­ man nach links geht. Dekadische Zahlen
lensystem zur Basis 3. Im Gegensatz dazu ohne Stellen hinter dem Komma sind ganze
vertragen die nach links unendlichen Zahlen dekadische Zahlen.
keinen Wechsel in der Basis. Entscheidet man Die Addition dekadischer Zahlen bereitet
sich dafür, im Dezimalsystem zu arbeiten (was keine Schwierigkeiten (Kasten S. 26):
wir weiterhin tun werden), so muss man bei
dieser Entscheidung bleiben, weil sich die Re­ … 14141414,51
sultate ändern, wenn man die Basis ändert. + … 88888888,888
Anders gesagt: Es gibt ebenso viele Arten von = …03030303,398
nach links unendlichen Zahlen, wie es mögli­
che Basen gibt. Man addiert wie gewohnt, muss sich aller­
Die nach links unendlichen Zahlen zur dings etwas Zeit nehmen, um von rechts nach
Basis p werden p-adische Zahlen genannt – links die Überträge aufzuaddieren – bis ins
zumindest wenn p eine Primzahl ist. Mathe­ Unendliche.
matiker, die sich dem südwestdeutschen Bisher haben wir als Beispiele lauter perio­
Raum besonders verbunden fühlen (und ins­ dische Zahlen gewählt – allerdings nur aus

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 29
Links-unendliche Zahlen z
Bequemlichkeit, denn man kann sich ohne
Weiteres auch nichtperiodische Zahlen wie


… 123123,123
– … 999999,999
= … 123123,124
…1000001000010001001011 oder
…2648323979853562951413
Multiplikation
vorstellen. (Die Ziffernfolgen sind übrigens Auch bei der Multiplikation ergeben sich kei­
nicht zufällig! In der ersten Zahl steht, von ne besonderen Schwierigkeiten. Man verwen­
rechts nach links betrachtet, zwischen zwei det die in der Schule erlernte Methode, die
Einsen immer eine Null mehr als zuvor, die man sich unendlich weit nach links fortgesetzt
andere besteht aus den Ziffern von π in der denkt (Kasten S. 26).
umgekehrten Reihenfolge.) Unsere Beispiele verwenden periodische
Bei manchen Additionen zeigen sich Zahlen; aber die Multiplikation ist für alle de­
merkwürdige Eigenschaften: kadischen Zahlen definiert. Allerdings ist das
Produkt zweier periodischer Zahlen stets peri­
  9 odisch.
+ … 9999999991 Die so definierten Operationen Addition
=  0000000000 und Multiplikation haben alle schönen Eigen­
schaften, die man von ihnen erwarten würde:
… 123123,123
+ …876876,877 a + b = b + a,
= … 000000,000 (a + b) + c = a + (b +c),
a · b = b · a,
Bei der Addition zweier dekadischer Zahlen (a · b) · c =  a · (b · c),
kann 0 herauskommen. Das bedeutet: Man (a + b) · c = a · c + b · c
braucht eigentlich keine Minuszeichen. Was
wir gewöhnlich als –9 schreiben, lässt sich und so weiter. Die Mathematiker nennen da­
hier als … 99999999991 ausdrücken. Zu je­ her die Menge der dekadischen Zahlen einen
der dekadischen Zahl gibt es ein Nega­tives. »kommutativen Ring«, aber das ist für uns
Man erhält es, indem man ziffernweise das nicht wichtig.
Komplement bildet: Ersetze die letzte Ziffer c Bei der Multiplikation gibt es einige Über­
durch 10–c und jede andere durch 9–c. raschungen:
Nebenbei folgt daraus, dass in der dekadi­
… 2857142857143 · 7 = 1
schen Welt der Unterschied zwischen positiv
… 765432098765432 · 9 = … 8888888888
und negativ sich auflöst. Schlimmer noch:
Man kann nicht mehr in jedem Fall sagen, Die erste Gleichung besagt, dass die Zahl 7
welche von zwei dekadischen Zahlen die grö­ den Kehrwert … 2857142857143 hat:
ßere ist. Denn man kann zwar ihre Differenz
1/7 = … 2857142857143.
bilden (siehe unten), aber nicht mehr ent­
scheiden, ob sie positiv oder negativ ist. Da­ Hat jede dekadische Zahl einen Kehrwert?
mit scheint den dekadischen Zahlen eine we­ Für diese Frage müssen wir über die Division
sentliche Eigenschaft von Zahlen zu fehlen: nachdenken.
die Anordnung. Sie taugen nicht dazu, irgend­
etwas der Größe nach zu vergleichen. Division
Die Mathematiker stört das nur mäßig. Zunächst die einfachen Fälle. Dank der Kom­
Die komplexen Zahlen sind auch nicht ange­ maschreibweise kann man jede dekadische Zahl
ordnet und trotzdem sehr nützlich. Und die durch 2 und durch 5 teilen:
dekadischen Zahlen verfügen über zahlreiche
… 11111111 : 2 = … 55555555,5
andere Eigenschaften, welche die Bezeich­
… 321321321 : 5 = … 64264264,2
nung »Zahlen« rechtfertigen.
Allgemeiner ist jede dekadische Zahl
Subtraktion durch eine beliebige Zahl der Form 2n · 5m
Die Subtraktion lässt sich problemlos durch teilbar.
Verallgemeinerung des üblichen Verfahrens Bei anderen Divisoren, insbesondere bei
definieren. Oder man addiert – x, statt x zu nach links unendlichen von der Form … dcba,
subtrahieren, was, wie sich herausstellt, auf wäre der im Kasten auf S. 26 dargestellte
dasselbe hinausläuft: Divisionsalgorithmus anzuwenden, der von
rechts nach links nach und nach Nullen bei
… 22222222222 den Resten produziert. Das Verfahren ist je­
–   5 doch nicht immer anwendbar. Bei genauerem
= …2222222217 Hinsehen stellt man fest, dass es funktioniert,

30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
falls die letzte Ziffer a des Divisors … dcba x2 = ... 6046992680891830197061490109 937
bei Multiplikation mit 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 83349041913618899944257657676910389
8, 9 Zahlen ergibt, die mit allen Ziffern 0, 1, 0995893380022607743740081787109376
…, 9 (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge)
enden. Die erste Zahl ist beliebig oft durch 5 teil­
Das trifft für a = 1 zu. Auch für a = 3 ist bar (man findet also bei Division durch 5 nie
das richtig: 3 · 0 = 0, 3 · 1 = 3, 3 · 2 = 6, 3 · 3 = 9, ein Resultat, das auf 1, 3, 7 oder 9 endet), die
3 · 4 = 12, 3 · 5 = 15, 3 · 6 = 18, 3 · 7 = 21, 3 · 8  zweite ist beliebig oft durch 2 teilbar.
= 24, 3 · 9 = 27. Weiter stellt man fest, dass Diese beiden Zahlen haben eine weitere
auch 7 und 9 die Anforderung erfüllen, nicht bemerkenswerte Eigenschaft, die keine Ent­
aber 0, 2, 4, 5, 6 und 8. sprechung in der Welt der reellen Zahlen hat.
Folglich lässt sich die dekadische Division Ihr Produkt ist null: x1 · x2 = 0.
durchführen, falls die letzte Stelle a des Divi­ Man sagt, dass x1 und x2 Nullteiler sind
sors … dcba 1, 3, 7 oder 9 lautet. (Für eine (und dass der Ring der dekadischen Zahlen
allgemeine Basis n anstelle von 10 ist die ent­ kein »Integritätsbereich« ist). Obendrein hat
sprechende Bedingung, dass a teilerfremd zu jede dieser Zahlen die merkwürdige Eigen­ Jean-Paul Dela-
n sein muss.) schaft, gleich ihrem Quadrat zu sein: (x1)2 = x1, haye ist Professor
Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so ist (x2)2 = x2. Zahlen mit dieser Eigenschaft nennt für Informatik an
noch nicht alles verloren. Wir dividieren zu­ man »automorph«; x1 und x2 sind die beiden der Université des

A u t o r u n d L i t e r at u r h i n w e i s e
Sciences et Tech-
erst den Zähler und den Nenner des Bruchs, einzigen automorphen dekadischen Zahlen – nologies in Lille.
den wir ausrechnen möchten, durch 2 oder von 0 und 1 natürlich abgesehen. Für »Pour la Science«, die französi-
durch 5 (was ja stets möglich ist), um uns da­ Viele weitere erstaunliche Eigenschaften sche Schwesterzeitschrift von Spek-
durch die störenden Endziffern 0, 2, 4, 5, 6 der dekadischen Zahlen beweisen, dass man trum der Wissenschaft, hat er be-
und 8 des Divisors vom Halse zu schaffen. mit ihnen »rechnen« kann – im wörtlichen reits mehr als hundert Beiträge
verfasst.
Wir hoffen, dass wir so nach endlich vielen wie im übertragenen Sinn. Die Pünktchen zur
Schritten einen Nenner erhalten, der auf 1, 3, Linken sind zweifellos gewöhnungsbedürftig; Zahlen. Von Heinz-Dieter Ebbing-
7 oder 9 endet. Das ist fast immer der Fall. aber die dekadischen Zahlen gehorchen den haus, Hans Hermes und Friedrich
Hirzebruch. Springer, Berlin 1992
Allerdings gelangt man für einige befremdli­ üblichen Rechenregeln. Sie helfen einem,
che dekadische Zahlen nie zum Ziel. Hier ohne großen Tiefsinn die Rätsel vom zweiten À l’horizon de l’arithmétique déci-
male: les nombres 10-adiques. Von
sind zwei davon (im Kasten auf S. 28 ist er­ Typ zu verstehen. Und gerade dadurch, dass
Roger Cuculière in: Pour la Science,
klärt, wie man sie berechnet): bei ihnen die Division nicht immer ausführ­ Juni 1986
bar ist, geben sie ein gutes Beispiel für eine al­
Le brenoms. Von Vincent Lefèvre.
x1 = ... 395300731910816980293850989 006 gebraische Struktur ab, welche die Mathema­
Online unter http://www.vinc17.
21665095808638110005574234232308961 tiker einen »Ring« nennen und die ihnen in org/math/index.fr.html
09004106619977392256259918212890625 den verschiedensten Kontexten begegnet.

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 31
Unendlich plus eins
Kann man nach dem Unendlichen einfach weiterzählen? Ja,
und es hat sogar einen Sinn. Die transfiniten Zahlen dienen
dazu, gewisse unendliche Mengen in eine Ordnung zu bringen.

Von Julien Linassier kann mit ihnen rechnen wie mit gewöhnli­
chen Zahlen – mit einigen wesentlichen Ein­

A
chilles läuft mit der Schildkröte um die schränkungen. Um sie zu verstehen, müssen
Wette. Da er die zehnfache Geschwin­ wir ein wenig ausholen.
digkeit hat, gibt er ihr großzügig einen
Vorsprung. So beginnt die berühmte Ge­ Ordnungszahlen
schichte, die der antike Philosoph Zenon von Die natürlichen Zahlen werden zu zweierlei
Elea erdachte, um das Paradox zu beschrei­ Zwecken verwendet: zum Zählen und zum
ben, das heute seinen Namen trägt. Ordnen. Ich bin in einem Buch auf Seite 62.
Zu einem gewissen Zeitpunkt t0 ist Achil­ Diese Zahl sagt mir, dass ich schon 61 Seiten
les am Startpunkt des Tiers angelangt. Es folgt hinter mir habe (das ist das Zählen); das inte­
der Zeitpunkt t1, zu dem Achilles die Stelle er­ ressiert mich allerdings weniger als zum Bei­
reicht, an der sich die Schildkröte im Zeit­ spiel die Tatsache, dass die Seite 57 vor Seite
punkt t0 befand, und so weiter. Allgemein ist 62 kommt, wenn ich etwa dem Verweis auf
tn der Zeitpunkt, zu dem der Held die Stelle Seite 57, der auf Seite 62 steht, folgen möch­
erreicht, an der die Schildkröte zum Zeit­ te. Oder ich muss einen durcheinander gera­
punkt tn–1 war. tenen Papierstapel, dessen Blätter Seitenzah­
Endlich gibt es, im Gegensatz zu der len tragen, sortieren; das ist die Ordnungs­
Überzeugung Zenons, den Zeitpunkt T, an funktion der natürlichen Zahlen.
dem Achilles die Schildkröte einholt. Es ist Wenn wir einen Stapel von Spielkarten in
der früheste Zeitpunkt, der nach allen Zeit­ die richtige Reihenfolge zu bringen haben,
punkten in der geordneten Folge t0, t1, t2, … stützen wir uns regelmäßig auf folgende Ei­
kommt. Die Abzählung 1, 2, 3, … erschöpft genschaften:
nicht die Unendlichkeit der Zeitpunkte. Vor r  Je zwei Karten können immer verglichen
allem: Nachdem die unendlich vielen Zeit­ werden, das heißt, es ist stets möglich festzustel­
punkte t0, t1, t2, … verstrichen sind, läuft die len, welche der beiden – in der von uns gewähl­
Zeit einfach weiter! Es gibt gewissermaßen ei­ ten Sortierung – vor der anderen kommt. Wenn
nen Zeitpunkt mit der Nummer »unendlich a vor b kommt, schreiben wir das, in Analogie
plus eins«, und noch viele mehr. Aber kann zu den Verhältnissen bei Zahlen, als a≤b.
man überhaupt über das Unendliche hinaus r  Jede Karte a kommt vor sich selbst: a≤a.
zählen? (Das ist nichts Tiefsinniges, sondern nur eine
Ja. Die zugehörigen Zahlen heißen »trans­ Verabredung, die einem das Formulieren vie­
finit« (»jenseits des Endlichen«), und man ler Sachverhalte erleichtert.)
r  Kommt die Karte a vor der Karte b und
die Karte b vor der Karte a, so sind a und b
Die Vision des Jakob identisch. (Oder weniger indirekt ausge­
drückt: Für zwei verschiedene Karten a und b
Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kann nicht gleichzeitig a≤b und b≤a gelten.)
kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. r  Kommt die Karte a vor der Karte b und
Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte die Karte b vor der Karte c, so kommt a vor c.
sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Er- r  Für jede Menge von Karten ist es möglich,
den, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen eine von diesen Karten zu finden, die vor al­
daran auf und nieder.  1. Mose 28, 10 – 12 len anderen kommt.
Eine Menge mit einer Ordnungsrelation,
Führt die Leiter der transfiniten Ordinalzahlen in Cantors Paradies oder in die Höl- die diese Kriterien erfüllt, heißt wohlgeord­
le des Paradoxons von Burali-Forti? net. Jede Ordnung einer Menge M lässt sich
sehr einfach beschreiben, indem man die Ele­

32 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Bridgeman (Johann Wilhelm Baur, Jakobs Traum von der Himmelsleiter, 17. Jhdt; Kupferstichkabinett, Kunstmuseum Basel)

mente von M der Reihe nach aufführt: In der wenn es möglich ist, die Elemente der ersten Man stelle sich eine un-
Darstellung (e1, e2, e3, …) ist e1 das erste Ele­ Menge denen der zweiten bijektiv und unter o endliche Anzahl von Lei-
ment von M (dasjenige, das vor allen anderen Erhaltung der Ordnung zuzuordnen. So kann tern vor, die aufeinander fol-
kommt), e2 das erste Element von M ohne e1 man beispielsweise vier nummerierte Karten gen und die jeweils unendlich
und so weiter. Nähere Einzelheiten finden in die übliche Anordnung {1, 2, 3, 4} bringen viele Sprossen besitzen. Um
sich im Kasten auf S. 34. oder in die umgekehrte {4, 3, 2, 1}. Die Zu­ hinaufzuklettern, kann man
Die Zahlen, die wir konstruieren wollen, ordnung, die der Karte mit der Nummer i die entweder Sprosse für Sprosse
sollen nun zur Charakterisierung wohlgeord­ Karte mit der Nummer 5–i zuordnet, bildet erklimmen oder aber auf die
neter Mengen dienen. Dabei soll es nicht da­ die erste Anordnung in die zweite ab. Die bei­ nächste Leiter springen. Dann
rauf ankommen, was die Elemente dieser den geordneten Mengen sind somit vom sel­ muss man sich unendlich viele
Mengen sind, sondern nur auf ihre Ord­ ben Ordnungstyp. Systeme aus unendlichen Lei-
nungsbeziehungen. Deswegen führen wir eine Endliche Mengen sind in dieser Hinsicht tern vorstellen und so weiter.
neue Definition ein: überhaupt wenig überraschend. Alle Anord­ Das gesamte Geheimnis des
Zwei wohlgeordnete Mengen heißen nungen von endlich vielen Spielkarten unter­ Transfiniten liegt in dieser An-
»ähnlich« oder »vom selben Ordnungstyp«, scheiden sich nur durch eine Permutation, ordnung des »und so weiter«.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 33
Wohlordnung z einerlei, welche Farbe gerade Trumpf ist. Für
n Karten ergibt sich also immer derselbe Ord­
meint ist eigentlich: »die sämtlich die gleiche
Anzahl an Elementen haben«; aber das Wort
nungstyp. Diesem Typ weisen wir die »Ordi­ »Anzahl wollen wir ja erst noch definieren.)
nalzahl« (»Ordnungszahl«) n zu. Wenn der Insbesondere ist die Zahl 2 die Klasse aller
Stapel keine Karten enthält, ist seine Ordinal­ Mengen, die bijektiv auf die Menge {mein lin­
zahl 0. In der Mathematik muss eben »alles ker Pantoffel, mein rechter Pantoffel} abbild­
seine Ordnung haben«, auch die leere Menge. bar sind.
Allgemein haben zwei wohlgeordnete Eine Ordinalzahl ist also eine Art Kenn­
Mengen dieselbe Ordinalzahl, wenn sie ähn­ zeichen, das allen wohlgeordneten Mengen
lich sind. Anders gesagt: Eine Ordinalzahl ist desselben Typs zukommt.
die Klasse aller wohlgeordneten Mengen, die Eine Ordinalzahl a heißt »echt größer« als
denselben Ordnungstyp haben. eine Ordinalzahl b (geschrieben a>b oder
Das klingt zunächst einigermaßen ver­ b<a), wenn jede geordnete Menge mit der
schroben. Aber auf ganz analoge Weise defi­ Ordinalzahl a eine Teilmenge hat, der die Or­
nieren manche Grundlagenmathematiker die dinalzahl b zukommt, während das Umge­
natürlichen Zahlen: Eine natürliche Zahl ist kehrte nicht gilt.
eine Klasse von endlichen Mengen, die sämt­ Für endliche Mengen ist der Sinn der gan­
lich bijektiv aufeinander abbildbar sind. (Ge­ zen Definiererei nur mit Mühe zu sehen. Im

Ordnungen
Zum Klassifizieren, Ordnen, Sortieren muss man über ein Vergleichs- Das gelingt allerdings nicht immer. Nehmen wir die unendli-
kriterium verfügen, das einem sagt, ob »a vor b« oder »b vor a« che Menge M = {1, 1/2, 1/3, 1/4, …, 1/n, … }. M hat kein kleins-
kommt. Ein solches Kriterium nennt man »Ordnungsrelation« tes Element! Mit welchem Element soll man anfangen, wenn
und bezeichnet es mit dem geläufigen Zeichen ≤ (»kleiner oder man M in »natürlicher« Ordnung hinschreiben will? (In unserer
gleich«), auch wenn die zu ordnenden Elemente gar keine Zah- Definition haben wir notgedrungen M »verkehrt herum« nie-
len sind. Eine Ordnungsrelation hat per definitionem drei Ei- dergeschrieben.)
genschaften: Um »ordentliche« Mengen wie von »unordentlichen« wie
r  Sie ist reflexiv: Für alle Elemente a der betrachteten Menge M zu unterscheiden, hat man den Begriff der Wohlordnung
gilt a ≤  a. eingeführt. Eine Menge ist wohlgeordnet, wenn sie total ge-
r  Sie ist antisymmetrisch: Aus a ≤ b und b ≤ a folgt a = b. Das ordnet ist und jede nichtleere Teilmenge von ihr ein kleinstes
heißt, wenn zwei Elemente nicht gerade identisch sind, kann Element besitzt (oder, äquivalent hierzu, wenn es keine streng
höchstens eine der beiden Ordnungrelationen gelten. monoton fallende unendliche Folge aus Elementen dieser
r  Sie ist transitiv: Aus a  ≤ b und b ≤ c folgt a  ≤ c . Menge gibt). Anders ausgedrückt: Man kann alle Elemente –
Eine geordnete Menge ist eine Menge mit einer Ordnungs- oder auch nur die Elemente einer Teilmenge – einer wohlgeord-
struktur. Eine Ordnung heißt total, wenn zwei beliebige Ele- neten Menge in einer Liste festhalten, und alle Listen haben ei-
mente der Menge stets vergleichbar sind. nen Anfang.
Auf der Menge aller Wörter kann man die »lexikografische Die Menge ist wohlgeordnet, die Menge R nicht, jeweils
Ordnung« einführen: Man schreibt a  ≤ b, wenn das Wort a im in Bezug auf die übliche Ordnung. Mit Hilfe des Auswahlaxi-
Wörterbuch vor dem Wort b kommt. Die lexikografische Ord- oms kann man den Satz von Zermelo beweisen: Auf jeder
nung ist total: Von zwei gegebenen Wörtern kann man stets Menge existiert eine Wohlordnung.
entscheiden, welches zuerst kommt, indem man sie von rechts
nach links Buchstabe für Buchstabe vergleicht. Ein Buchstabe Oft gibt es Gelegenheit, verschiedene geordnete Mengen mit-
ist kleiner als ein anderer, wenn er diesem im Alphabet voraus- einander zu vergleichen. Ein Bibliothekar ist genau dann glück-
geht, und das Leerzeichen ist kleiner als jeder Buchstabe. lich, wenn die Aufreihung der Bücher im Regal ihrer Ordnung
Unter den Teilmengen einer Menge kann man eine Ordnung im Katalog entspricht. Zwei total geordnete Mengen heißen
einführen, indem man A kleiner oder gleich B nennt, wenn A vom gleichen Typ, wenn es eine Bijektion f von der einen auf
eine Teilmenge von B ist (A B). Die Relation (»ist enthalten die andere gibt, welche die Ordnung erhält: Aus x ≤y folgt
in«) ist zwar eine Ordnungsrelation, aber nicht alle Elemente f (x )  ≤  f ( y ).
sind vergleichbar: Welche von zwei Mengen, die keine Elemen- Die Mengen {…, 3, 2, 1, 0} und {0, 1, 2, 3, …} haben in die-
te gemeinsam haben, ist die größere? Eine solche Ordnung sem Sinne nicht denselben Ordnungstyp, da die erste Menge
heißt Halbordnung. kein erstes Element hat. Dagegen haben und die Menge P
Eine total geordnete Menge stellt man am besten »in der na- = {0, 2, 4, …} der geraden natürlichen Zahlen denselben Ord-
türlichen Reihenfolge« dar: von klein nach groß oder, formal aus- nungstyp (denn sie sind durch die ordnungserhaltende Bijek­
gedrückt, so, dass a links von b steht genau dann, wenn a ≤ b ist. tion n 2n miteinander verbunden).
So macht man das mit den natürlichen Zahlen, wenn man sie als Man unterscheidet verschiedene Arten von Ordnungen: die
{0, 1, 2, 3, …} hinschreibt, oder mit den reellen Zahlen, wenn diskrete Ordnung (diejenige von ), die dichte Ordnung (die
man sie durch die orientierte Zahlengerade wiedergibt. von Q) und die kontinuierliche (diejenige von R).

34 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Alltag werden der kardinale und der ordinale
Aspekt einer Menge meist in einen Topf ge­ Die Arithmetik der transfiniten Ordinalzahlen
worfen; allenfalls unterscheidet man die Ordi­
nalzahl 3 von der Kardinalzahl (»Anzahl«) 3, Die üblichen Gesetze in der Arithmetik der natürlichen Zahlen lauten:
indem man die entsprechende Abzählung aus­
Kommutativgesetze: Distributivgesetze:
spricht: erstens, zweitens, drittens.
a + b  = b + a (a + b) c  = ac + bc
Die Lage ändert sich radikal, wenn das
ab  = ba (b +c) a  = ba + ca
Unendliche ins Spiel kommt. Das bemerkens­
werteste Kennzeichen einer unendlichen wohl­
Assoziativgesetze: Potenzgesetze:
geordneten Menge ist, dass man ihre Ord­
a + (b + c)  = (a + b) + c a b a c = a b+c
nungszahl durch eine einfache Umordnung
a (bc) = (ab) c a c b c  = (ab)c
ihrer Elemente verändern kann.
(a b)c  = a bc
Wir bezeichnen mit w (»omega«) die Or­
dinalzahl der wohlgeordneten Menge = {0, Sind a, b, c transfinite Ordinalzahlen, so gelten nur noch die grün geschriebe-
1, 2, 3, …}. nen Gesetze.
Die wohlgeordnete Menge * = {1, 2, 3,
…} hat dieselbe Ordinalzahl w (die Bijektion
n n+1 von auf * erhält die Ordnung). Der Nachfolger von w+1 ist w+2; ein Re­
Aber die Ordnungszahl von {1, 2, 3, …, präsentant hierfür ist {1, 3, 5, 6, …, 2, 4}.
0} ist echt größer als die Ordnungszahl w von Analog definiert man weitere unendliche Or­
{1, 2, 3, …}. Die Ordnungszahl w von {1, 2, dinalzahlen w+3, w+4, …, w+n.
3, …} ist echt kleiner als diejenige von {1, 3, Welche Ordinalzahl folgt auf die unendli­
4, … ,2}. che Folge der Ordinalzahlen w, w+1, w+2,
Offensichtlich ist w echt größer als alle …? Ein Repräsentant für diese Zahl ist die
endlichen Ordnungszahlen: n<w für n=1, 2, wohlgeordnete Folge {1, 3, 5, …, 2, 4, 6, …}.
3, … . w ist die erste transfinite Ordnungs­ Die beiden Teilfolgen {1, 3, 5, …} und {2, 4,
zahl; sie kommt nach allen endlichen Ord­ 6, …} haben denselben Ordnungstyp, der
nungszahlen. durch die Ordinalzahl w ausgedrückt wird.
Da hier einfach zwei Exemplare der Ordinal­
Die Stufenleiter der Ordinalzahlen zahl w aufeinander folgen, ist es nahe liegend,
Wir verfügen bereits über folgende Ordinal­ den Ordnungstyp von {1, 3, 5, …, 2, 4, 6,
zahlen: 0, 1, 2, 3, …, w. Wie geht es weiter? …} mit w·2 zu bezeichnen. Der Anfang un­
Wir schreiben w +1 für den unmittelbaren serer Stufenleiter sieht somit jetzt so aus: 0, 1,
Nachfolger von w; ein Repräsentant für diese 2, …, w, w+1, w+2, …, w·2.
Ordinalzahl ist die wohlgeordnete Menge Man sieht, dass man zur Konstruktion der
{1, 3, 4, 5, …, 2}. (Erinnern wir uns, dass eine Ordnungszahlen zwei Hilfsmittel verwenden
Liste wie diese eine Ordnungsrelation impli­ kann: den Nachfolger nehmen und zum
ziert: Von zwei Elementen der Liste ist dasjeni­ Grenzwert übergehen (in einem noch zu prä­
ge das kleinere, das weiter links in der Liste zisierenden Sinne). Jedenfalls sind w und w·2
steht. Für das obige Beispiel heißt das: 2 ist die Grenzwerte der Folgen der ihnen jeweils
größer als jede natürliche Zahl; im Übrigen vorangehenden Ordinalzahlen.
gelten die gewohnten Ordnungsrelationen.) Warum kann man w·2 nicht als 2·w
Man bestätigt leicht, dass w<w+1 gilt. schreiben? Wir wissen, dass w=1+w=2+w=
Was geschieht, wenn man am Anfang der …=n+w ist; ein Grenzübergang zeigt uns,
Liste ein Element einfügt? Anders gesagt: Wie dass w=2·w sein muss (während w<w·2 ist).
groß ist die Ordinalzahl 1+w, repräsentiert Nichts hindert uns daran fortzufahren.
durch {Jennifer Aniston, 0, 1, 2, …}? (Wobei w·2 hat die Nachfolger w·2+1, w·2+2,
man als hinzuzufügendes Element anstelle w·2+3, … Und was weiter? Natürlich w·3!
von Jennifer Aniston einen beliebigen »Ge­ Dann kommen w·3+1, w·3+2, …, w·4, …,
genstand unserer Anschauung oder unseres w·5, …, w·n, … und so weiter bis zu w2.
Denkens« verwenden kann.) Sie möchten einen Repräsentanten für w2
Die Bijektion Jennifer Aniston 0, n sehen? Nichts einfacher als das: {1, 3, 5, 7, …,
n+1 macht klar, dass unsere links erweiterte 2, 6, 10, 14, …, 4, 12, 20, 28, …, 8, 24, 40,
Menge denselben Ordnungstyp hat wie 56, …, 2n, 3·2n, 5·2n, 7·2n, … }.
={0, 1, 2, 3, …}. Daraus folgt, dass 1+w=w Warum auf halbem Wege anhalten? Wir
ist. Insbesondere ist 1+w≠w+1. Die Additi­ können nun alle Ordinalzahlen der Form w2
on unter Ordinalzahlen ist nicht kommutativ. + w·i1 +i0 bilden, wobei i1 und i0 zwei endli­
Aber das ist nur der Anfang! Einige andere che Ordinalzahlen sind. Indem wir die Schrit­
Regeln werden ebenfalls außer Kraft gesetzt te, die von 0 zu w2 geführt haben, wiederho­
(siehe Kasten oben). len, erhalten wir die Ordinalzahlen von w2 bis

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 35
Wohlordnung z Das Paradoxon von Burali-Forti
1. Jede wohlgeordnete Menge definiert eine Ordinalzahl.
2. Jedes Intervall von Ordinalzahlen (das heißt, jede Menge von Ordinalzahlen, die gemäß
der natürlichen Ordnung angeordnet ist, sodass zu jedem Element dessen sämtliche Vor-
gänger in der Menge sind) definiert eine Ordinalzahl, die strikt größer ist als jede Ordinal-
zahl, die zu einem ihrer Intervalle gehört.
3. Die Menge M aller Ordinalzahlen ist wohlgeordnet.
Gemäß (3) und (1) definiert M eine Ordinalzahl a. Die Ordinalzahl a gehört zu M. Nach (2)
gilt: a<a. Widerspruch!

zu w2 ·2, dann diejenigen von w2 ·2 bis Mit dieser Wohlordnung erhält man fol­
w ·3 und so weiter. Man bekommt w2 ·4,
2
gende Reihenfolge für die natürlichen Zahlen:
w2 ·5, …, w2 ·n, … und dann alle Ordinalzah­
len der Form w2 ·i2 +w·i1 +i0, wobei i2, i1 und 1, 2, 22, 23, 24, 25, …, 3, 3·2, 3·22, 3·23,
i0 drei endliche Ordinalzahlen sind. Die 3·24, …, 32, 32 ·2, 32 ·22, 3·23, 32 ·24, …, 33,
kleinste Ordinalzahl, die größer ist als alle an­ 33·2, 33 ·22, 33 ·23, 33 ·24, …, 3k, 3k ·2, 3k ·22,
gegebenen, ist w3. Und dann geht es weiter: 3k ·23, 3k ·24, …, 5, 5·2, 5·22, 5·23, 5·24, …,
w3 +1, …, w3 ·2, …, w4, w5, w6, … Schließ­ 5·3, 5·3·2, 5·3·22, 5·3·23, 5·3·24, …
lich endet man bei ww. Diese mit Primzahlen konstruierte Ord­
Schwindel erregend! Es ist Zeit, tief durch­ nung besitzt folgenden Vorteil: Jede Ordinal­
zuatmen. Machen wir eine kleine Pause und zahl, die kleiner als ww ist, lässt sich mit ihr
studieren wir eine bemerkenswerte totale mit Hilfe von natürlichen Zahlen ungleich
Ordnungsrelation auf , die eine Wohlord­ Null erfassen.
nung liefert. Zudem erhält man für jede Ordinalzahl
eine wohlgeordnete Folge, die eben diese Or­
Die Primzahlen treten auf dinalzahl repräsentiert. Und zwar ordnet man
Jede natürliche Zahl n außer 0 und 1 lässt sich der Ordinalzahl 0 die Eins zu. Weiter geht die
bis auf die Reihenfolge der Faktoren eindeutig Zuordnung: 1 2, 2 22, 3 23, …, n
in ein Produkt von Primzahlen zerlegen: 2n, … , w 3, w+1 3·2, …, w·2 32,
w·2 + 1 3 ·2, …, w·k
2
3k, …, w 2
5,
n=2a · 3b · 5c · 7d · …
www.torinoscienza.it

…, w2 +k 5·2k, …, w2 + w 5·3, … und


mit natürlichen Zahlen a, b, c, d, … Wir ver­ so weiter.
abreden, dass wir in dieser Darstellung die Darüber hinaus hat jede Ordinalzahl, der
Primzahlen stets in ansteigender Abfolge no­ die natürliche Zahl m zugeordnet ist, als Re­
tieren. Dann kann man eine Wohlordnung präsentanten die wohlgeordnete Folge aller na­
Cesare Burali-Forti (1861 – auf mit Hilfe der umgekehrten lexikogra­ türlichen Zahlen, die bezüglich der oben defi­
o 1931), der Entdecker des fischen Ordnung definieren. Betrachten wir nierten Wohlordnung echt kleiner als m sind.
nach ihm benannten Para­ dazu ein Beispiel, nämlich den Vergleich von
doxes, war Assistent von Giu- 24 472 mit 2 693 944. Es gilt: Zurück zur Stufenleiter
seppe Peano. Damit endete Wir waren bei ww angelangt. Mit etwas Mut
24 472=23 ·30 ·50 ·71 ·110 ·130 ·170 ·191 ·231
­bereits seine akademische Kar- können wir unter Rückgriff auf alle Schritte,
riere, weil er sich nach der ers- und die uns von 0 bis ww geführt haben, weiterge­
ten Ablehnung nie wieder auf hen zur Ordinalzahl ww+1. Diese ist der
2 693 944=23 ·30 ·50 ·70 ·114 ·130 ·170 ·190 ·231.
eine Professur bewarb. Grenzwert von ww ·2, ww ·3, …, ww ·k, …
Wir stellen nun jede natürliche Zahl durch Einmal angeworfen, liefert unsere Maschine
die Folge der Exponenten an den Primzahlen auch noch ww+2, ww+3, …, ww·2, …, ww·3,
2
dar, im Beispiel: 24 472 = (3, 0, 0, 1, 0, 0, 0, ww·4, …, ww·k, …, ww .
1, 1, 0, …), 2 693 944 = (3, 0, 0, 0, 4, 0, 0, 0, Der Motor geht durch. Man konstruiert
1, 0, …). Zum Vergleich zweier Zahlen lesen nacheinander:
wir die zugehörigen »Wörter« (Exponenten­ 3 4 k w
ww , ww , …, ww , …, ww .
folgen), allerdings von rechts nach links (da­
her die Bezeichnung »umgekehrte lexikografi­ Langsam wird es schwierig, diese gigantischen
sche Ordnung«). Im Beispiel ist der letzte Ex­ Ordinalzahlen zu drucken. Die Stapel der Ex­
ponent ungleich Null in beiden Fällen ponenten werden immer höher:
derselbe, nämlich der von 23, also bringt der
Exponent von 19 die Entscheidung: 2 693 944 w ww
ww ww ww
ist kleiner als 24 472! ww , ww , ww ,…

36 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Wir schreiten mit gigantischen Schritten vo­ ziert sind, schließlich kommt ein neues Alpha­
ran: Die kleinste Ordinalzahl, die größer ist bet an die Reihe, dessen Buchstaben bis zum
als alle Ordinalzahlen in der von uns konstru­ e0-ten Buchstaben reichen. Und so weiter.
ierten Folge, ist noch Schwindel erregender Tatsächlich sind alle Ordinalzahlen, die
(unendlich viele Sprossen in der Exponenten­ wir bislang induktiv (das heißt, indem wir
leiter). Nach Konstruktion ist diese Ordinal­ den Nachfolger nahmen oder zum Grenzwert
zahl, die mit e0 bezeichnet wird, die kleinste übergingen) gewonnen haben, lächerlich
Ordinalzahl, welche die Gleichung wx =x er­ klein. Die wohlgeordneten Mengen, die diese
füllt.
Jenseits von e0 beginnt das Abenteuer von
vorne. Dort treffen wir auf die Ordinalzahl Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen,
w e
e0w, viel später dann auf e0e0 , e0e0 , e0e0 0. soll uns niemand vertreiben können. David Hilbert,1926
Schließlich finden wir die zweitkleinste Ordi­
nalzahl, welche die Gleichung wx =x erfüllt.
Man nennt sie e1. Ordinalzahlen repräsentieren, sind sämtlich
Nach diesem Modell kann man die Kon­ abzählbar!
struktion einer neuen Folge von Ordinalzah­ Um weiterzukommen, müssen wir einen
len unternehmen: e0, e1, e2, … Als Grenzwert etwas anderen Standpunkt einnehmen. Wir
erreichen wir die Ordinalzahl ew, welche bemerken mit John von Neumann, dass jede
nichts anderes ist als der Beginn einer neuen Ordinalzahl durch die Menge der ihr voran­
Folge mit den Gliedern ee0, ee1 … Im Grenz­ gehenden Ordinalzahlen repräsentiert wird.
wert erreichen wir die kleinste Ordinalzahl z0, Wir gehen von der Ordinalzahl 0 aus, die
welche die Gleichung ex =x erfüllt. wir als bereits konstruiert ansehen (sie gehört
Ein kleiner Schritt weiter kostet nichts: zur leeren Menge, weil beide keinen Vorgänger
z0+1, …, aber auch ein gewaltiger Sprung besitzen). Dann konstruiert man schrittweise:
nicht: ez0+1 . Ein Hypersprung führt zu eez +1,
ein Hyperhypersprung ist nur – sagen wir –
0 1 = {0}, 2 = {0, 1}, 3 = {0, 1, 2}, …,
eine Bagatelle: z1. Das ist die zweitkleinste w = {0, 1, 2, 3, …},
Lösung der Gleichung ex =x. Dann kommen w+1 = {0, 1, 2,…, w},
z2, z3, z4. Schließlich zeigt sich die Ordinal­ w+2 = {0, 1, 2, …, w, w+1}, …,
zahl zw und weit, weit dahinter ze0, zz0, zz1, w·2 = {0, 1, 2, …, w, w+1, w+2, … }
… ; als Grenzwert tritt eine neue Ordinalzahl und so weiter.
namens m0 in Erscheinung. Nun ist die Menge aller abzählbaren Or­
Das klingt alles schon sehr unendlich. dinalzahlen eine überabzählbare Ordinalzahl,
Aber weit gefehlt! Bislang haben wir das Un­ welche mit w1 bezeichnet wird. Diese Ordi­
endliche der Ordinalzahlen gerade mal ange­ nalzahl ist wahrhaft monströs. Nach Defini­
kratzt. tion ist ihre Kardinalität ℵ1 (aleph-1); man
Denn ab m0 geht es wieder von vorne los. weiß nicht, ob sie gleich der Mächtigkeit des
Alles kann von Neuem beginnen, bis die Buch­ Kontinuums ist (vergleiche »Das Kontinuum«
staben des griechischen Alphabets erschöpft auf S. 60). Und w1 ist, wohlgemerkt, keines­
sind, dann verbrauchen wir ein neues Alpha­ wegs die letzte Ordinalzahl: Nach w1 kommt
bet, dessen Buchstaben mit Zahlen bis w indi­ w1 + 1! 

Auf der Suche nach der Perfektion


Eine Menge heißt perfekt, wenn sie gleich der Menge ihrer Häufungspunkte
ist. Man gelangt zur Perfektion, indem man immer wieder Punkte wegnimmt
– unendlich oft und noch einmal mehr, wenn es sein muss.

E in Punkt x heißt Häufungspunkt einer


Teilmenge M von R, wenn in jedem of­
fenen Intervall, das x enthält, ein von x ver­
Die Menge M´ aller Häufungspunkte einer
abgeschlossenen Menge M heißt die von M
abgeleitete Menge. Man hat also immer
schiedener Punkt von M liegt. Anders gesagt, M´ M. Ist M identisch mit M´ (also M =
kann man sich x beliebig nähern, ohne M zu M´), so nennt man M perfekt.
verlassen. Eine Menge M heißt abgeschlossen, In Cantors Augen waren die perfekten
wenn sie alle ihre Häufungspunkte enthält. Mengen geeignete Kandidaten, um das

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 37
Wohlordnung z Kontinuum vollständig zu charakterisieren
(siehe den Beitrag »Das Kontinuum«, S. 60).
könnte man eine perfekte Menge in endlich
vielen Schritten konstruieren und so jeden
Kann man zeigen, dass eine überabzählbare Bezug zu den transfiniten Zahlen vermeiden.)
abgeschlossene Menge M stets eine perfekte Die Antwort ist ja. Betrachten wir irgend­
Teilmenge enthalten muss? Cantor nahm welche Teilmengen F1, F2, … des Intervalls
1879 seine Untersuchungen zu diesen »abge­ [0, 1]. Es bezeichne Ik das Intervall
schlossenen und in sich dichten« Mengen auf. [1/2k+1, 1/2k]. Die zentrische Streckung hk,
Diese Suche nach der Perfektion führte ihn die das Intervall [0, 1] auf Ik abbildet, »bettet«
Tangente

zur Entdeckung der transfiniten Zahlen. alle Fj in Ik »ein« (das heißt, sie bildet Fj
Cantor betrachtet die von einer abge­ auf eine Teilmenge von Ik ab). Es bezeichne
schlossenen Menge M abgeleitete Menge M´. A(F1, F2, F3, …) die Vereinigung aller Bilder
Ist M´= M, so ist M perfekt. Falls das nicht hk(Fk) und der Menge {0}.
der Fall ist, konstruiert Cantor M´´, die von Sind alle Fk gleich {0}, so ist die abgeleite­
M´ abgeleitete Menge. Fällt M´´ nicht mit M´ te Menge von A1 =A(F1, F2, …) einfach {0}.
zusammen, so wird die Konstruktion fortge­ Sind alle Fk identisch mit A1, so reduziert sich
führt. So erhält man nach und nach M, M´, die »zweite Ableitung« von A2 =A(A1, A2,…)
M´´, M´´´, M (4) , M (5) … auf {0}.
Auf diese Weise definiert man eine abstei­ Und so weiter. Man konstruiert eine Folge
gende Folge von Teilmengen von R. Wenn A1, A2, … derart, dass An(n), die n-te Ableitung
diese schließlich stationär wird, das heißt, von An , gleich {0} ist.
wenn sich ab einer gewissen Nummer die Jetzt muss man nur noch F1 =A1, F2 =A2,
Ivar Otto Bendixson Mengen M (n) nicht mehr ändern, sind wir fer­ … setzen. Dann sind die Ableitungen M´,
o (1861 – 1935) bewies den tig: Die Menge M (n) mit M (n+1) = M (n) ist per­ M´´, M´´´, … von M=A(A1, A2,…) alle nicht-
Satz, der heute nach ihm und fekt. Falls dies nicht eintritt, bildet Cantor leer und verschieden.
Cantor benannt wird, in einem den Durchschnitt über alle abgeleiteten Men­ r  Kann die Menge M (w) leer sein?
Brief an Cantor, als er ein jun- gen (die dann alle voneinander verschieden Ist M oder eine seiner abgeleiteten Men­
ger Student an der Universität sind): gen beschränkt, so erlaubt es ein Kompakt­
Stockholm war. heitsargument zu zeigen, dass M (w) nicht leer
ist. In R gilt nämlich: Jede absteigende Folge
von abgeschlossenen, nichtleeren, in einem
Die Menge M(w) ist nicht unbedingt perfekt. Kompaktum (das heißt einer abgeschlossenen
Man konstruiert also bei Bedarf M(w+1) und beschränkten Menge) enthaltenen Teil­
=(M(w))´, M(w+2) =(M(w+1))´ und so weiter. mengen besitzt einen nichtleeren Durch­
Wenn das immer noch nicht hilft, bildet man schnitt.
.
Falls dies nicht der Fall ist, so darf man
annehmen, alle abgeleiteten Mengen M (n) sei­
en unbeschränkt. Wäre M (w) leer, so hätte
und so weiter. Ohne Ende? Nein. Es gibt im­ man die Darstellung
mer eine Ordinalzahl a derart, dass M (a) per­
M = (M–M (1)) ∪ (M (1) –M (2))
fekt ist. Also war die Suche nach der Perfek­
∪ (M (2) –M (3))∪ …
tion nicht umsonst.
So erhält man den Satz von Cantor-Ben­ Es ist recht einfach, sich klarzumachen, dass
dixson: Jede abgeschlossene überabzählbare die Mengen (M (k)–M (k+1)) höchstens abzähl­
Teilmenge von R ist die Vereinigung einer bar sind; folglich gilt das auch für M, im Wi­
perfekten Menge und einer höchstens abzähl­ derspruch zu unserer Voraussetzung.
baren Menge. Die perfekte Menge hat darü­ r  Ist die Menge der abgeleiteten Mengen M´,
ber hinaus die Mächtigkeit des Kontinuums. M´´, …, M (w), M (w+1), … wohlgeordnet (be­
Die abgeschlossenen Teilmengen von R züglich der Ordnungsrelation »Enthalten­
besitzen somit eine bemerkenswerte Eigen­ sein«)?
schaft: Sie sind entweder gleichmächtig zu r  Was kann man über die Ordinalzahl a
oder zu R (oder sie haben nur endlich viele mit der Eigenschaft, dass M (a) perfekt ist, aus­
Elemente). sagen?
Wäre dem so für alle Teilmengen von R, Eine Antwort auf die beiden letzten Fra­
so wäre die Kontinuumshypothese bewiesen. gen würde auf eine befriedigende Theorie der
Die oben skizzierte Konstruktion von transfiniten Zahlen hinauslaufen oder, was
Cantor wirft zahlreiche Fragen auf, die auch dasselbe ist, der wohlgeordneten Mengen.
heute noch nicht alle beantwortet sind: Eine Bemerkung zum Schluss: Es ist mög­
L i t e r at u r

Einführung in die mathematische r  Gibt es tatsächlich eine Menge, deren ab­ lich, den Satz von Cantor-Bendixson auch
Philosophie. Von Bertrand Russell.
Felix Meiner, Hamburg 2002 geleitete Mengen sämtlich voneinander ver­ ohne Verwendung transfiniter Methoden zu
schieden sind? (Wäre dies nicht der Fall, so beweisen.

38 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Das Paradox
von Jules Richard
Es ist nicht ganz einfach, eine Zahl unzweideutig zu
definieren. Paradoxa wie das hier beschriebene
erscheinen zunächst wie neckische Wortspiele, sind
jedoch äußerst tiefsinnig.

Von Francis Casiro Zu jeder natürlichen Zahl p finden sich sämt-


liche Kombinationen von p Zeichen (Buchsta-

D
er Anfang des 20. Jahrhunderts war ben, Satz- und Leerzeichen) in der so entste-
eine Zeit des Umbruchs auch in der henden Tabelle. Da alles, was sich mit einer
Mathematik. Neue Ideen wie das endlichen Anzahl von Worten schreiben lässt,
Auswahlaxiom oder die Antinomien der Men- eine Anordnung von Buchstaben ist, wird alles,
genlehre versetzten die Szene in Aufruhr. In was man aufschreiben kann, in der Tabelle vor-
dieser Situation fiel eine Idee eines Gymnasi- kommen.
allehrers aus Dijon auf fruchtbaren Boden: Ju- Da Zahlen mit Worten definiert werden und
les Richard löste mit einem Brief, der am 30. diese aus Buchstaben bestehen, werden eini-
Juni 1905 in der »Revue générale des sciences ge Einträge der Tabelle Definitionen von Zahlen
Tangente

pures et appliquées« veröffentlicht wurde, eine sein. Streichen wir alle Einträge, die nicht Defi-
heftige Diskussion aus. nitionen von Zahlen sind.
Sein Argument, eine Variante des Sei u1 die Zahl, deren Definition in der so be-
Jules Richard (1862 – Cantor’schen Diagonalverfahrens, lenkte die reinigten Tabelle an erster Stelle steht, u2 die
o 1956), Gymnasiallehrer in allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage der Zahl an zweiter Stelle, u3 diejenige, die durch
Tours, Dijon und Châteauroux, Definierbarkeit. Ist es möglich, dem Circulus den dritten Tabelleneintrag beschrieben wird,
philosophierte neben dem Pa- vitiosus zu entrinnen, der alle Versuche des und so weiter. Dann hat man alle Zahlen, wel-
radox, das den Großen seiner Definierens bedroht? che mit einer endlichen Anzahl von Worten de-
Zeit Kopfzerbrechen bereitete, finiert werden können, in eine wohldefinierte
über die Natur der Axiome der Der Brief von Richard Reihenfolge gebracht.
Geometrie. Im Gegensatz zum Zeitgeist griff Richard für Folglich bilden alle Zahlen, die man mit einer
sein Paradox nicht auf die aktuellen Theorien endlichen Anzahl von Worten definieren kann,
über unendliche Mengen zurück. Die Be- eine abzählbare Menge. Diese Menge sei mit
trachtung von Zahlen, welche in endlicher M bezeichnet.
Weise definiert sind, genügt vollkommen, um Hier nun zeigt sich der Widerspruch. Man
die Situation aufzumischen. Hier das Argu- kann eine Zahl bilden, welche nicht zur Menge
ment von Richard im Wortlaut: M gehört: »Wir bilden die Zahl N wie folgt: Die
Stelle vor dem Komma sei eine Null; die n -te
Ich werde eine bestimmte Menge von Zah- Stelle hinter dem Komma sei gleich p+1, falls p
len, die ich M nennen werde, mit Hilfe der fol- ungleich 8 oder 9 ist, ansonsten gleich 1. Dabei
genden Überlegungen definieren: ist p die n-te Dezimalstelle der n -ten Zahl in der
Schreiben wir alle möglichen Paare der 26 Menge M.«
Buchstaben des Alphabets in alphabetischer Die Zahl N gehört nicht zur Menge M. Denn
Ordnung nieder, dahinter alle Tripel, die wir wie- wäre sie die n-te Zahl in der Menge M, so wäre
der alphabetisch ordnen, dann alle Quadrupel ihre n-te Stelle gleich der n -ten Stelle dieser
und so weiter. Dabei darf in einer solchen An- Zahl, was nach Konstruktion nicht der Fall ist.
ordnung derselbe Buchstabe mehrfach auftre- Andererseits ist die Zahl N definiert durch
ten. (Um das Argument klarer zu gestalten, ist eine endliche Anzahl von Worten, nämlich die
es zweckmäßig, Satzzeichen sowie die Leer- Worte, die oben in Anführungsstrichen stehen.
stelle zu den Buchstaben hinzuzunehmen.) Nennen wir diese Anordnung von Buchstaben

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
G. Also müsste sie nach der Definition zur Men- Wie definiert man »Definition«? Durch
ge M gehören. Wir haben jedoch gesehen, die Gleichsetzung »Definiendum = Definiens«.
dass dies nicht der Fall ist. Das ist der Wider- Das zu Definierende (Definiendum) ist der
spruch. Begriff (Beispiel: »Kraftfahrzeug«), der durch
das Definiens (also das Definierende) ausge-
Kaum aufgestellt, wurde Richards Paradox drückt wird (»motorgetriebenes, nicht an
schon von ihm selbst widerlegt: »Wir zeigen Schienen gebundenes Landfahrzeug«). Jede
nun, dass der Widerspruch nur ein scheinba- Definition ist eine Abkürzung.
rer ist. Gehen wir zu unseren Anordnungen Eine Forderung wie diejenige Poincarés, Nehmen wir an, in den
zurück. Die Buchstabengruppe G ist eine die- niemals eine Menge M durch Bezug auf sich u Büchern dieses Bücher-
ser Anordnungen; also tritt sie in meiner Ta- selbst zu definieren, ist äußerst restriktiv. rads seien die unbekannten
belle auf. Allerdings hat sie an der Stelle, an Selbst die Grundlagen-Mathematiker halten Begriffe jedes Buchs in dem
der sie auftritt, keinen Sinn. Es ist nämlich die sich nicht immer daran, wenn sie zum darüberliegenden Buch erklärt.
Rede von der Menge M, und diese ist noch ­Beispiel die Zahl 2 als Klasse aller Mengen Dann müsste man nur das Rad
gar nicht definiert. Also muss ich die Erwäh- ­de­finieren, die zwei Elemente enthalten – drehen, um alle Begriffe erklärt
nung von M streichen. Die Anordnung G hat ein krasses Beispiel von Nichtprädikativität. zu bekommen … Es wäre
erst dann Sinn, wenn die Menge M vollstän- Gleichwohl ist diese Definition im Grunde ein Zirkelschluss im Wortsinn.
dig definiert ist, und das geht nur mit einer
unendlichen Menge von Worten. Also gibt es
aus: Agostino Ramelli, Le Diverse et Artificiose Machine, 1588

keinen Widerspruch.«
Daraufhin fuhr Henri Poincaré 1906 in
seinem Artikel »Les mathématiques et la lo-
gique« das schwere Geschütz der Grundlagen-
forschung auf: »Man muss erkennen können,
ob eine Definition prädikativ ist oder nicht.«
Dabei bedeutet »prädikativ« so etwas wie
»gültig«, »aussagekräftig« oder »zulässig«; ins-
besondere ist eine Definition, die einen Zir-
kelschluss enthält, nicht prädikativ.

Tücken der Alltagssprache


Mit diesem Hilfsmittel griff Poincaré das Pa-
radox von Richard wieder auf: »Es sei M die
Menge aller Zahlen, die man mit endlich vie-
len Worten definieren kann, ohne dabei den
Begriff der Menge M selbst einzuführen.
Ohne diese Einschränkung würde die Defini-
tion einen Zirkelschluss enthalten: Man kann
nicht die Menge M durch die Menge M defi-
nieren. Wir haben zwar die Zahl N mit einer
endlichen Anzahl von Worten definiert, aber
wir haben uns dabei auf die Menge M bezo-
gen. Deshalb gehört N nicht zu M.« Anders
gesagt: Die Definition von N ist nicht prädi-
kativ; sie definiert und bedeutet nichts.
Dem widersprach alsbald ein anderer
Großmeister der mathematischen Logik, Giu-
seppe Peano (1858 – 1939): Richard und
Poincaré seien im Irrtum, M sei sehr wohl
endlich definiert, und die Definition von N
enthalte keinen Zirkelschluss. Vielmehr, so
Peano, ergeben sich alle Schwierigkeiten aus
der Verwendung der »Alltagssprache« im Zen-
trum der Argumentation.
Die Umgangssprache ist zu reichhaltig; sie
spricht nicht nur über irgendwelche Gegen-
stände, sondern auch über sich selbst. Diese
Flexibilität hat eine unangenehme Konse-
quenz: Jede Definition enthält eine unver-
meidbare Mehrdeutigkeit.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 41
Richards Paradox z
korrekt. Man muss sie nur geringfügig nach-
bessern, um ihre Zirkularität zu beheben. Sie
unter ihnen besitzen die seltene Eigenschaft,
die Eigenschaft, die sie beschreiben, selbst auf-
entspricht vor allem unserem intuitiven Ver- zuweisen. Beispiele hierfür sind »kurz«, »drei-
ständnis; wie sollte man anders ausdrücken, silbig« oder »deutsch«. Bezeichnen wir diese
dass die Zahl 2 die logische Fiktion ist, welche Adjektive als »autolog« und alle anderen Ad-
ein Paar Schuhe mit einem Taubenpärchen in jektive als »heterolog«. Die überwiegende
Beziehung setzt? Mehrzahl der Adjektive gehört zur letzten
Peanos Lösung des Richard’schen Parado- Gruppe; Beispiele sind »lang«, »einsilbig« und
xes verläuft über die Formalisierung der Spra- »grün«.
chen. Ein Begriff ist definierbar nur in Bezug Ist das Adjektiv »heterolog« heterolog?
auf ein bestimmtes Vokabular und eine be- Wenn ja, dann besitzt es die Eigenschaft, die
stimmte Menge von Wortbildungsregeln. es bezeichnet, und ist deshalb autolog. Ist »he-
Man muss stets von der Definierbarkeit be- terolog« dagegen autolog, so besitzt es nicht
züglich eines Korpus C sprechen. Und was es die von ihm bezeichnete Eigenschaft und ist
heißt, »definierbar in Bezug auf den Korpus folglich heterolog. Aber ein Adjektiv kann
C« zu sein, kann man niemals in Bezug auf nicht zugleich heterolog und autolog sein.
den Korpus C definieren. Über eine Sprache Der Widerspruch ist offenkundig.
in dieser Sprache selbst zu sprechen, ist nie- r  Das Paradox von den »interessanten« natür­
mals zulässig – das darf man nur in einer lichen Zahlen ist besonders verzwickt. Wir
»Metasprache«. So werden die Mehrdeutigkei- nennen eine natürliche Zahl interessant,
ten und die Widersprüche, welche die Um- wenn sie eine auffallende Eigenschaft hat:
gangssprache erzeugt, beseitigt. »Primzahl«, »Summe zweier Quadratzahlen«,
Für Peano gehört daher »das Beispiel von »Schnapszahl aus lauter gleichen Ziffern« und
Richard nicht in die Mathematik, sondern in so weiter. Nun betrachten wir die kleinste na-
die Linguistik«. Sein Prinzip aber, dass man in türliche Zahl, die nicht interessant ist. Das ist
einer Sprache nicht über die Sprache selbst zweifellos eine interessante Zahl.
sprechen dürfe, sondern dies in einer Meta- Dieses Paradoxon ist auflösbar. Jede nicht-
sprache tun müsse, wurde in den 1930er Jah- leere Teilmenge der natürlichen Zahlen besitzt
ren durch Kurt Gödel über den Haufen ge- ein kleinstes Element. Da die Menge der un-
worfen. Sein Unvollständigkeitssatz läuft auf interessanten Zahlen kein kleinstes Element
die Aussage hinaus, dass eine Sprache gar besitzt, muss sie leer sein. Anders gesagt: Alle
nicht vermeiden kann, über sich selbst zu natürlichen Zahlen sind interessant, eine Auf-
sprechen, selbst wenn sie so wortkarg ist wie fassung übrigens, von der die Mathematiker
die Theorie der natürlichen Zahlen. zutiefst überzeugt sind.
Alle diese Paradoxa sind mit dem ältesten
Nach Richard Widerspruch dieser Art, dem Paradox des
In der Nachfolge von Richards Paradox tauch- Epimenides, verwandt. Epimenides der Kreter
ten neue Antinomien auf. Wir führen hier versichert: »Alle Kreter lügen.« Lügt er, sagt er
nur drei von ihnen auf, die sich besonders die Wahrheit, und umgekehrt.
griffig formulieren lassen: In seinem Buch »The foundations of ma-
r  Beim Paradox von Berry geht es um die thematics« (1925) hat Frank Ramsey (1903 –
kleinste natürliche Zahl, die sich nicht mit 1930) als Erster eine Einteilung der logischen
weniger als hundert Worten definieren lässt. Paradoxa in zwei unterschiedliche Klassen
Monstrorum Historia, 1642
aus: Ulisse Aldrovandi,

Diese Zahl N muss existieren. In der Tat vorgenommen: die einen haben die Zugehö-
ist das verfügbare Vokabular endlich. Aus rigkeit eines Elements zu einer Menge zum
höchstens hundert Worten kann man nur Gegenstand (siehe »Der Albtraum des Biblio-
endlich viele Sätze bilden. Die meisten dieser thekars«, S. 43), die anderen den Begriff der
Sätze ergeben keinen Sinn und definieren vor Wahrheit (zum Beispiel das Paradox des Epi-
allem keine natürliche Zahl. Also gibt es not- menides).
Ob Einhorn, Hydra oder wendigerweise natürliche Zahlen, die sich Bertrand Russell (siehe auch S. 46) hat be-
o der Mann mit Kranich- nicht mit weniger als hundert Worten definie- hauptet, dass alle Paradoxa dieselbe Wurzel ha-
kopf und -hals – all diese Fabel- ren lassen. Unter ihnen gibt es gewiss eine ben, nämlich die Verletzung des Prinzips der
wesen sind zwar durch ihre kleinste. Zirkelfreiheit, nach welchem keine Gesamt-
­Eigenschaften eindeutig be- Die Zahl N kann nicht existieren. Denn heit Individuen enthalten darf, die erst durch
stimmt. Dennoch existieren sie ihre Definition als »kleinste Zahl N, die sich die Gesamtheit definiert werden können.
nicht: Die Menge der realen Ge- nicht mit weniger als hundert Worten definie- Stimmt das? Darauf gibt es keine definiti-
genstände, auf welche die ge- ren lässt« enthält selbst weniger als hundert ve Antwort. Liegt der Charme der Paradoxa
nannten Eigenschaften zutref- Worte. nicht gerade darin, dass sie eine unerschöpfli-
fen, hat nicht nur kein kleinstes r  Das Paradox von Grelling betrifft Adjek­ che Quelle für das Fragen, Staunen und
Element, sondern gar keins. tive, die Eigenschaften beschreiben. Einige Nachdenken bilden? 

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Der Albtraum
des Bibliothekars
Der Widerspruch, der die Grundlagen der Mathematik
erschütterte, ist für sich genommen klein und endlich.

Von Francis Casiro nommen klein und endlich. Um es zu for­


mulieren, braucht man keine Unendlichkeit,

B
etrachten wir die Menge M aller Men­ noch nicht einmal die milde Unendlichkeit
gen x, die sich nicht selbst als Element der natürlichen Zahlen. Eine beliebte Verklei­
enthalten; in einer Formel ausgedrückt: dung ist die Geschichte von dem Dorfbarbier,
M = {x | x x}. Enthält M sich selbst als der definiert ist als derjenige Dorfbewohner,
Element? der alle Dorfbewohner rasiert, die sich nicht
Das wäre zu schreiben als M M. Also selbst rasieren. Rasiert der Barbier sich selbst?
gehört M nicht zu den x, für die gilt x   x, Soll der Katalog aller
also ist M kein Element von M: M M. Wi­ Typentheorie u Kataloge, die nicht auf
derspruch! Oder eben die Geschichte vom pingeligen Bi­ sich selbst verweisen, auf sich
Ein gleichartiger Widerspruch tut sich auf, bliothekar. Seine Bibliothek enthält lauter Bü­ selbst verweisen? Oder nicht?
wenn man statt von M M von der Annah­ cher, darunter auch Kataloge; das sind speziel­
AKG Berlin (Jean-Baptiste Chardin, Der Philosoph, 1734; Louvre, Paris)

me M M ausgeht. le Bücher, die auf andere Bücher verweisen. Es


Was hier auf den ersten Blick so aussieht kommt vor  –  wenn auch selten –, dass ein Ka­
wie eine leicht bösartige Spielerei mit Worten, talog auf sich selbst verweist. Unser Bibliothe­
ist die berüchtigte Russell’sche Antinomie, kar verfällt nun auf die sonderbare Idee, den
welche die Grundlagen der Mathematik er­ Katalog zu erstellen, der alle Kataloge enthält,
schütterte. Ihr Entdecker Bertrand Russell welche nicht auf sich selbst verweisen.
(1872 – 1970) sowie Alfred North Whitehead Soll er in diesem neuen Katalog – nennen
(1861 – 1947), beide Mathematiker und Phi­ wir ihn K – den Katalog K aufführen?
losophen, suchten in ihren »Principia mathe­ Wenn K auf sich selbst verweist, dann ge­
matica« (1910 – 1913) einen Ausweg aus die­ hört er nicht zu den Katalogen, die in K auf­
ser Grundlagenkrise und fanden ihn in der so geführt werden sollen. Also soll K nicht in K
genannten Typentheorie. aufgeführt werden. Dann aber gehört K zu
Aussagen der Form x x werden schlicht der Klasse der Kataloge, die in K aufzuführen
verboten. Damit nehmen Russell und White­ sind … Und wieder haben wir einen unauf­
head in Kauf, dass es eine unendliche Hierar­ löslichen Widerspruch.
chie von Sprachebenen geben muss: In der Nach einigen Minuten des Nachdenkens
untersten Sprachebene macht man Aussagen kam der Bibliothekar auf eine gute Idee. Er
über die Welt der gewöhnlichen Dinge. Aus­ nennt seinen neuen Katalog nicht mehr ein
sagen über Aussagen dieser Ebene gehören zu Buch oder auch nur einen Katalog, sondern
einer höheren Ebene (Metaebene), und so einen »Katalog zweiter Ordnung« mit der
weiter. Maßgabe, dass ein Katalog n-ter Ordnung
Es ist äußerst merkwürdig: Das Paradox, nur Kataloge von höchstens (n–1)-ter Ord­
das die Grundlagenforscher zu solch »unend­ nung erwähnen darf. Das ist die Typentheorie
lichen« Anstrengungen zwingt, ist für sich ge­ in anderem Gewand.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 43
Muss man das Auswahl-­
Für gewisse Existenzaussagen ist es unentbehrlich; aber aus
der gewöhnlichen Mengenlehre geht es nicht hervor. Man
muss es zusätzlich postulieren – wenn man will. Das Gegen-
teil zu behaupten ist auch erlaubt.

Von unendlich vielen Da- Von Julien Linassier Menge derart, dass der Durchschnitt dieser
o men je einen Schuh ein- Menge mit jeder Menge aus der Familie C ge­

D
sammeln? Kein Problem – man er bekannte Mathematiker Jerry nau ein Element enthält.
nehme jeweils den rechten. Bona von der Universität von Illinois Anders ausgedrückt: Es ist möglich, aus
Aber jeweils einen Strumpf? in Chicago beschreibt eine unter sei­ jeder Menge der Familie C genau ein Element
Es empfiehlt sich, das durch nen Fachkollegen weit verbreitete Haltung »auszuwählen« und aus diesen Elementen eine
schlichten Beschluss für mög- folgendermaßen: »Das Auswahlaxiom ist of­ neue Menge zu bilden. Noch anders formu­
lich zu erklären. fensichtlich wahr, das Wohlordnungsprinzip liert: Zu einer solchen Familie C gibt es eine
ist offensichtlich falsch, und bezüglich des »Auswahlfunktion«, die jeder Menge aus C
Zorn’schen Lemmas wird man sehen.« Das genau eines ihrer Elemente zuordnet.
Problem ist nur, dass diese drei Prinzipien Mit Hilfe der anderen Axiome der Men­
äquivalent sind. genlehre lässt sich zeigen, dass die Vorausset­
Das Auswahlaxiom lässt sich einfach for­ zung »paarweise disjunkt« entbehrlich ist.
mulieren:
Es sei C eine Familie von Mengen, die Das Auswahlaxiom ist evident
nichtleer und paarweise disjunkt sind (das Betrachten wir die Klasse C, die aus allen
heißt, keine zwei Mengen der Familie haben nichtleeren Teilmengen von = {0, 1, 2, 3,
ein Element gemeinsam). Dann existiert eine …} besteht. Diese Klasse ist enorm groß; sie
hat die Mächtigkeit des Kontinuums! Den­
noch ist es einfach, eine Auswahlfunktion auf
Obere Schranken und maximale Elemente C zu definieren: Es genügt, jeder Menge aus
C ihr kleinstes Element zuzuordnen.
Eine obere Schranke einer total geordneten Menge M ist ein Element s mit der Ei- Betrachten wir nun die Klasse C’ aller In­
genschaft, dass für jedes Element a von M a ≤ s gilt. (Für die Begriffe »total ge- tervalle mit einer echt positiven Länge. Die
ordnet« und »halbgeordnet« siehe den Kasten »Ordnungen« in »Unendlich Funktion, die jedem Intervall seinen Mittel­
plus 1«, S. 34.) s muss nicht selbst Element von M sein. Die kleinste obere punkt zuordnet, ist eine Auswahlfunktion auf
Schranke der Menge aller rationalen Zahlen x mit der Eigenschaft x2  ≤ 2 ist 2; der Klasse C’.
aber 2 ist nicht rational, also auch nicht in der Menge enthalten.
Ein maximales Element einer halbgeordneten Menge ist nicht unbedingt Das Auswahlaxiom ist nicht evident
»das größte«; es gibt nur kein größeres. Wenn m überhaupt mit einem Ele- Es sei C’’ die Klasse aller nichtleeren Teilmen­
ment a von M in einer Ordnungsrelation steht, dann ist es a  ≤ m. Formal aus- gen der reellen Zahlen. Dann wird es schwie­
gedrückt: m ist ein maximales Element von M, wenn für Elemente a von M rig. Noch nie hat jemand eine Auswahlfunkti­
aus m  ≤ a a  =m folgt. on auf C’’ gefunden, und es sieht nicht so aus,
als ob sich das je ändern würde.

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
axiom auswählen?

Corbis

Das Auswahlaxiom versichert uns, dass es


dennoch eine solche Auswahlfunktion gibt. Bertrand Russells Socken
Ohne diese Notmaßnahme – etwas, das man
nicht beweisen kann, zum Axiom und damit »Stellen wir uns einen Millionär vor, der jedes Mal, wenn er ein Paar Schuhe
für wahr zu erklären – wären das Lemma von kauft, auch ein Paar Socken ersteht; sonst kauft er nie Socken. Unser Millionär
Zorn und der Satz von Zermelo über die Exis­ ist so besessen von dieser Art von Einkauf, dass er abzählbar unendlich viele
tenz einer Wohlordnung in einer Menge (ver­ Paare Schuhe und Socken besitzt.«
gleiche den Kasten »Ordnungen« in »Unend­ Wenn der Millonär auf die Idee käme, jeweils eine Socke aus jedem Paar sei-
lich plus 1« auf S. 34) nicht beweisbar. ner Sammlung auszuwählen, wäre nicht ohne Weiteres klar, dass das möglich ist.
Er müsste dafür das Auswahlaxiom bemühen, so Bertrand Russell (siehe S. 46),
Das Lemma von Zorn der diese Geschichte zum Zweck der Verdeutlichung ersann. Mit seinen Schuhen
Das Lemma von Zorn besagt, dass eine halb­ hätte der Millionär dagegen kein derartiges Problem. Er könnte sich zum Beispiel
geordnete Menge mit der Eigenschaft, dass darauf festlegen, systematisch immer den rechten Schuh zu nehmen.
jede total geordnete, nichtleere Teilmenge eine Es ist beweisbar, dass man für endlich viele endliche Mengen stets eine
obere Schranke hat, stets ein maximales Ele­ Auswahlfunktion konstruieren kann, ohne das Auswahlaxiom zu verwenden.
ment b enthält. Deshalb muss Russells Millionär unendlich viele Socken (und Schuhe) besitzen
Das Lemma von Zorn ist dem Auswahl­ – sonst würde die Geschichte ihren Reiz verlieren. Aus einer lumpigen Million
axiom äquivalent; es erlaubt beispielsweise zu Sockenpaare je eine Socke auswählen kann jeder.
beweisen, dass jeder Vektorraum über einem
Körper eine Basis besitzt.
Man kann zum Beispiel R als Vektorraum grenztem Nutzwert; denn eine Basis von R
über Q auffassen. Dann sagt der Satz über die über Q hat notwendigerweise die Mächtigkeit
Existenz einer Basis, dass es eine Menge reel­ des Kontinuums, ist also nicht wirklich klei­
ler Zahlen (die Basis) gibt mit der Eigen­ ner als die reellen Zahlen selbst.
schaft, dass jede reelle Zahl eine endliche
Summe aus Produkten der Form »rationale Gute Nacht
Zahl mal ein Element der Basis« ist. Einen effektiven Algorithmus, der einem in al­
Basen von Vektorräumen erfreuen sich bei len Fällen eine Auswahlfunktion liefert, kann
den Mathematikern großer Beliebtheit, weil das Auswahlaxiom nicht bieten. Wer darauf zu
man sich für gewisse Fragestellungen nicht verzichten bereit ist, kann ruhig schlafen: Gö­
mehr mit allen Elementen eines Vektorraums, del und Cohen haben nämlich gezeigt, dass
sondern nur noch mit den – typischerweise sowohl das Auswahlaxiom als auch seine Ne­
wenigen – Elementen der Basis befassen muss. gation nicht zu einem Widerspruch führen
Daher ist der oben zitierte Satz nur von be­ (siehe den Beitrag »Das Kontinuum«, S. 60).

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 45
Das Paradox
der Biografie
Falls die Zukunft unendlich ist, kann man ihre Tage bijektiv
auf die Menge der natürlichen Zahlen abbilden. Die Zuordnung
n 365n bietet Schriftstellern viele Möglichkeiten …

Von Julien Linassier wäre er bei den Ereignissen vom Herbst 1700;
die Ereignisse unserer Zeit würde er um das

U
nter der Voraussetzung, dass die Zu­ Jahr 106 846 herum schriftlich niederlegen.
kunft unendlich ist, hat der Mathe­ Es gibt keinen einzigen Tag, dem nicht auf
matiker und Philosoph Bertrand Rus­ die angegebene Art und Weise ein Jahr in der
sell (1872 – 1970) folgendes Paradoxon erfun­ Zukunft zugeordnet werden könnte. Also
den, das sich auf den 1760 erschienenen wird in der Tat »kein Teil seines Lebens unbe­
Roman »The Life and Opinions of Tristram schrieben bleiben«.
Shandy, Gentleman« bezieht. Russell schreibt: Natürlich gerät Shandy mit seiner Nieder­
»Tristram Shandy verbrachte bekanntlich schrift immer mehr in Rückstand. Mit jedem
zwei Jahre damit, die Geschichte der ersten Jahr, das er schreibend verbringt, hat er sich
beiden Tage seines Lebens niederzuschreiben. um 364 Jahre mehr von dem Tag, den er in
Er beklagte, dass sich auf diese Weise die seiner Niederschrift erreicht hat, entfernt.
Ullsteinbild

­Themen schneller anhäuften, als er sie abar­ Aber das macht nichts, denn er hat ja noch
beiten könne, und er folglich niemals fertig alle Zeit der Welt.
werden würde. Ich behaupte jedoch: Wenn er Das Finanzamt braucht ein Jahr, um den
Bertrand Russell (1872 – ewig leben und sein Vorhaben niemals auf­ Posteingang eines Tages aufzuarbeiten? Das
o 1970) war nicht nur geben würde, würde kein Teil seines Lebens Jüngste Gericht wägt ein volles Jahr lang die
Mathematiker und Philosoph, unbeschrieben bleiben, selbst wenn jeder sei­ guten Taten und die Sünden der Toten eines
sondern auch ein engagierter ner Tage so ereignisreich wäre wie die ersten einzigen Tages? Nur Geduld, arme Seele. Der
Pazifist (Bild von 1916). beiden.« Bescheid und das Urteil kommen in endlicher
Nehmen wir an, Shandy sei am 1. Januar Zeit. Und was ist schon eine endliche Zeit,
1700 geboren und habe am 1. Januar 1720 zu sub specie aeternitatis?
schreiben begonnen. Das erste Jahr brauchte
er, um den ersten Tag seines Lebens, den 1. Das Paradox von John Littlewood
Januar 1700, zu beschreiben. Sein Arbeitsplan Der Mathematiker John Littlewood (1885 –
sähe dann so aus: 1977) bringt in seinem wunderbaren Büch­
lein »Littlewood’s miscellany« ein ähnliches
Leben und Meinungen von Tristram Jahr 1720 Ereignisse des 1. Januar 1700 Paradox. In eine Urne werden Kugeln mit den
Shandy, Gentleman. Von Laurence Jahr 1721 Ereignisse des 2. Januar 1700 Nummern 1, 2, 3, … nach folgendem Ver­
Sterne. 7. Auflage, Insel, Frankfurt
am Main 1996
Jahr 1722 Ereignisse des 3. Januar 1700 fahren gelegt: Eine Minute vor Mitternacht
Jahr 1723 Ereignisse des 4. Januar 1700 werden die Kugeln 1 bis 10 in die Urne gelegt
Im Labyrinth des Denkens. Von Wil-
L i t e r at u r

Jahr 1724 Ereignisse des 5. Januar 1700 und die Kugel 1 wieder entnommen. Eine
liam Poundstone. Rowohlt Taschen-
buch Verlag, Reinbek 1995 Jahr 1725 Ereignisse des 6. Januar 1700 halbe Minute vor Mitternacht werden die Ku­
Jahr 1726 Ereignisse des 7. Januar 1700 geln 11 bis 20 in die Urne gelegt und die Ku­
The princples of mathematics. Von
Jahr 1727 Ereignisse des 8. Januar 1700 gel 2 entnommen. Die Kugeln 21 bis 30 wer­
Bertrand Russell. Routledge, Oxford
1992 … den eine drittel Minute vor Mitternacht ein­
gelegt, die Kugel 3 entnommen, und so
Human knowledge. Its Scope and
Jedem Tag ist ein Jahr zugeordnet. Würde weiter. Wie viele Kugeln sind um Mitternacht
Limits. Von Bertrand Russell. Rout-
ledge, Oxford 1994 der unsterblich gewordene Shandy heute noch in der Urne?
schreiben, also um das Jahr 2000 herum, so Antwort: Gar keine. Sehen Sie, warum?

46 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Spektrum der Wissenschaft / meganim
Sind Sie sicher?
Paradoxien gibt es nicht nur im Unendlichen. Die ganz
­gewöhnliche Beschränktheit des menschlichen Geistes
führt denselben auf  Widersprüche – wenn er ehrlich ist.

Von Daniel Barthe hört die Aussage »Eine der Aussagen der Liste
ist falsch« zur Liste dazu.

E
in Gehirn ist keine unendliche Maschi- Dann aber hat unser Mensch ein Problem.
ne. Insbesondere kann jeder Mensch Ist diese Aussage selbst falsch, widerspricht sie
nur an eine endliche Anzahl von Aussa- sich, weil sie angeblich eine Gewissheit ist. Ist
gen glauben. Daraus ergibt sich das folgende sie wahr, so ist eine andere Gewissheit der Lis-
Paradox, das auf den Logiker und Philoso- te falsch. In beiden Fällen enthält sein logi-
phen Raymond Smullyan zurückgeht. sches System einen Widerspruch. Da das für
Stellen wir uns einen bestimmten Men- jeden Menschen gilt, folgt unvermeidlich:
schen vor und bezeichnen die Aussagen, von Wir alle sind logisch inkonsistent.
denen er absolut überzeugt ist, mit p1, p2, … Raymond Smullyan glaubt tatsächlich,
pn. Unbegründete Vermutungen, Glaubens- dass ein vernünftiger, bescheidener Mensch
sätze, Meinungen und blasse Ahnungen sollen inkonsistent ist. Das ist eine seiner Gewisshei-
in unserer Liste nicht berücksichtigt werden. ten. Im Übrigen hält er sich selbst für einen
Unser Mensch ist sich also sicher, dass die vernünftigen, bescheidenen Menschen.
n Aussagen p1, p2, … pn wohlbegründet sind. Eine letzte Anmerkung: Könnte n=1 sein?
Nur: Wenn er sich nicht hoffnungslos über- Das wäre die Haltung: »Meine einzige Ge-
schätzt (oder der Papst ist), kann er von seiner wissheit ist, dass es keine Gewissheiten gibt.«
Unfehlbarkeit nicht ernstlich überzeugt sein. Oder: »Man kann sich niemals sicher sein.«
Irren ist menschlich. Die intellektuelle Ehr- Nun fragt sich, ob die Aussage » ›Meine
lichkeit zwingt unseren Menschen zu dem einzige Gewissheit ist, dass es keine Gewiss-
Eingeständnis, dass mindestens eine der Aus- heiten gibt‹ ist eine meiner Gewissheiten« eine
sagen p1, p2, … pn nicht zutrifft. Folglich ge- Gewissheit ist oder eine Meta-Gewissheit.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 47
Cantors Diagonale
Die verstörendsten Aussagen der modernen Mathematik
beruhen sämtlich auf einem einzigen Argument: Das
Cantor’sche Diagonalverfahren zwingt uns anzuerkennen,
dass es – mindestens – zwei Sorten der Unend­-
lichkeit gibt: das Abzählbare und das Überabzählbare.

Von Hervé Lehning

E
s geht einem nicht leicht in den Kopf,
dass es von den rationalen Zahlen, die
doch die Zahlengerade an jeder Stelle
dicht belegen, nicht mehr geben soll als von
den natürlichen Zahlen. Aber beide Mengen
sind »gleich groß«: Es gibt eine Bijektion zwi-
schen ihnen (vergleiche den Beitrag »Die rati-
onalen Zahlen sind abzählbar«, S. 53).
Von den reellen Zahlen soll es dagegen
viel mehr geben als von den rationalen. Wie
kann das sein? Wir haben durch einen Wider-
spruchsbeweis gezeigt, dass Wurzeln wie zum
Beispiel 2 nicht rational sind. Also muss
man die rationalen Zahlen noch um die Wur-
zeln ergänzen und hat die reellen?
Weit gefehlt! Wurzeln, genauer: algebrai-
sche Zahlen, sind Lösungen algebraischer
Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten.
Wir repräsentieren jede Wurzel durch die Ko-
effizienten der zugehörigen Gleichung plus
eine Nummer, denn eine algebraische Glei-
chung hat im Allgemeinen mehrere Lösun-
gen. Das sind endlich viele ganze Zahlen, sa-
gen wir fünf Stück. Alle möglichen Kombi-
nationen von fünf ganzen Zahlen ordnen wir
in einer »Tabelle« an. Die hat zwar fünf Di-
mensionen statt der zwei Dimensionen einer
gewöhnlichen Tabelle. Aber analog zu dem
auf S. 53 angeführten Spiralweg findet man
einen Schlangenweg, der sich durch alle fünf
Dimensionen windet, ohne einen Tabellen-
Georg Cantor (1845 – 1918), Pro- eintrag auszulassen. Damit haben wir alle
fessor in Halle, gilt als der Be- Wurzeln abgezählt, die Lösungen von alge-
gründer der modernen Men- braischen Gleichungen dritten Grades sind.
genlehre. Seine neuen Erkennt- Nun gibt es jedoch algebraische Gleichun-
nisse widersprachen nicht nur gen beliebig hohen Grades. Aber das macht
seinen eigenen bisherigen Über- nichts. Wir bringen die Lösungen aller Glei-
zeugungen, sondern konnten chungen n-ten Grades in dem unendlichen
sich wegen heftigen Wider- Hotel Cantor n der Cantor-Hotelkette unter
stands unter den Fachkollegen (siehe »Das Hotel Hilbert«, S. 76). In der
Tangente

auch nur mühsam durchsetzen. nächsten Nacht ziehen die Gäste aller Cantor-
Hotels nach dem ebenfalls dort beschriebenen

48 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Verfahren ins Hotel Hilbert um, wo sie sämt- Dezimalbrüche gewisse Vorsichtsmaßnahmen
lich Platz finden, und siehe da: Alle algebrai- ergreifen muss (Kasten unten). Schreiben wir
schen Zahlen sind abzählbar. die Elemente der Folge u1, u2, u3, … in dieser
Nimmt man von den reellen Zahlen die Form, so erhalten wir:
abzählbar vielen algebraischen (einschließlich
u1 = 0,u11u12u13u14u15…
der rationalen) weg, dann bleiben immer
u2 = 0,u21u22u23u24u25…
noch überabzählbar viele übrig. Die reellen
u3 = 0,u31u32u33u34u35…
Zahlen »merken den Verlust gar nicht«. Das
u4 = 0,u41u42u43u44u45…
gilt auch dann noch, wenn man ihnen be-
u5 = 0,u51u52u53u54u55…
kannte nichtalgebraische (»transzendente«)
Zahlen wie π, e und deren sämtliche algebrai- und so weiter. Jedes uij ist eine Dezimalziffer.
sche Vielfache wegnimmt. Die Menge aller Betrachten wir nun die Zahl
Zahlen, die man in einer Formel oder einer
u = 0,u11u22u33u44u55…
Prosabeschreibung mit endlich vielen Zeichen
definieren kann, ist abzählbar. Beweis wie Die Dezimalstellen dieser Zahl sind gerade
oben, nur treten an die Stelle der Koeffizien- die Diagonalelemente des obigen Schemas
tenfolgen alle endlich langen Zeichenfolgen. (dort rot hervorgehoben). Wir definieren eine
Die große Masse der reellen Zahlen, gegen neue Zahl v = 0,v1v2v3v4v5… dadurch, dass sie
die alle Zahlen, die wir irgendwie kennen von u an jeder Stelle verschieden sein soll:
(weil wir sie mit endlich vielen Gedanken be- vi ≠ uii für jede Nummer i. Wie man die vi im
grifflich erfassen), eine belanglose, verschwin- Einzelnen festlegt, bleibt dem persönlichen
dende Minderheit sind: Das sind die Namen- Geschmack überlassen, solange nicht alle vi ab
losen. Sie können keine Namen haben, denn einer gewissen Stelle gleich 9 sind (Kasten un-
die Namen wären unendlich lang! Aber im- ten). Die Zahl v gehört zu ]0, 1[, ist also nach
merhin haben sie eine Darstellung, nämlich Annahme ein Element der Folge u1, u2, u3, … .
im vertrauten Dezimalsystem. Beschränken Es sei n die Nummer von v, sodass v = un ist.
wir uns der Übersichtlichkeit halber auf Zah- Dann gilt insbesondere vn = unn im Wider-
len zwischen 0 und 1 (ausschließlich). Jede spruch zur Definition von v.
dieser Zahlen ist darstellbar als Null Komma Also ist die Menge der reellen Zahlen zwi-
… und dann eine unendliche Folge von Dezi- schen 0 und 1 – und erst recht die Menge al-
malziffern. Dass diese Folge unendlich ist, lie- ler reellen Zahlen – nicht abzählbar, was zu
fert die wesentliche Handhabe für die Anwen- beweisen war.
dung des Cantor’schen Diagonalverfahrens.
Damit wiederum werden wir den entschei- Das Hilbert-Programm
denden Satz beweisen: Im Rahmen des Zweiten Internationalen Ma-
Die Menge R der reellen Zahlen ist überab- thematikerkongresses, der 1900 in Paris statt-
zählbar. Das heißt, es gibt keine Bijektion zwi- fand, präsentierte David Hilbert 23 später be-
schen R und , der Menge der natürlichen rühmt gewordene Probleme, insbesondere ei-
Zahlen. nes, das die Grundlagen der Mathematik
Der Beweis ist nicht konstruktiv; er zeigt betraf. Seine Idee war, dass sich die Wahrhei-
uns nur, dass die Annahme, es könnte eine ten der Mathematik alle aus endlich vielen
solche Bijektion geben, auf einen Wider- Axiomen nebst Deduktionsregeln ergeben
spruch führt. Er kann auch gar nicht kon- sollten.
struktiv sein, denn eine überabzählbare Men- Dies passte gut in das industrielle Zeital-
ge kann man nicht konstruieren (im Gegen- ter, das an die Macht des Fortschritts und an
satz zu einer abzählbaren, für die uns das die Lösbarkeit aller Probleme glaubte. Mathe-
Mittel der Induktion zur Verfügung steht). matische Theoreme sollten produzierbar sein
wie industrielle Güter: mechanisch. Eine Ma-
Das Diagonalargument schine – heute denkt man an Computer –
Wie es sich für einen Widerspruchsbeweis ge-
hört, beginnen wir mit der Annahme, dass die
Menge der reellen Zahlen zwischen 0 und 1 Unendliche Dezimalbrüche
abzählbar sei. Es gebe also eine Bijektion von
den natürlichen Zahlen auf das Intervall Die Zahl 0,19999999… ist dasselbe wie die Zahl 0,2000000… (siehe »Verschieden
]0, 1[ oder, was dasselbe ist, eine Folge u1, u2, und doch gleich«, S. 52). Damit die Dezimaldarstellung einer reellen Zahl ein­
u3, … von reellen Zahlen mit der Eigenschaft, deutig ist, muss man sich auf eine der beiden Möglichkeiten festlegen. Also be­
dass jede reelle Zahl zwischen 0 und 1 ein Ele- trachten wir für unseren Beweis nur solche Dezimalbruchentwicklungen, die
ment der Folge sei. nicht ab einer gewissen Stelle nur noch aus Neunen bestehen. Das Diagonal­
Jede reelle Zahl ist ein unendlicher Dezi- argument wird durch eine solche Festlegung nicht beeinträchtigt.
malbruch, wobei man für die abbrechenden

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 49
Cantors Diagonale z
wendet eine Schlussregel nach der anderen auf
ein Axiom nach dem anderen an, kombiniert
Dieses Unterfangen kann nur gelingen,
wenn die Maschine nicht sowohl einen ma-
die Ergebnisse, wendet darauf wieder alle thematischen Satz als auch – vielleicht auf ei-
Schlussregeln an und so weiter. So produziert nem anderen Wege – sein Gegenteil produ-
die Maschine ausschließlich wahre, bewiesene ziert. Dann wäre nämlich die Grundlage des
Aussagen; der Beweis besteht in der Aufzäh- Ganzen, also die Axiome und die Dedukti-
lung der Schritte der Schlusskette. Die Hoff- onsregeln, von Anfang an fehlerhaft. Hilbert
nung war, dass auf diese wahrhaft erschöpfen- forderte seine Kollegen in Paris auf zu zeigen,
de Weise alle bekannten und vor allem alle dass genau das nicht passieren kann: Man be-
noch unbekannten Wahrheiten der Mathema- weise die Widerspruchsfreiheit der Arithme-
tik zu Tage treten würden. tik, also der Theorie der natürlichen Zahlen
samt Addition und Multiplikation.
Es fällt zunächst schwer, den Sinn dieser
Die Peano-Axiome Übung einzusehen. Wie soll denn beim ge-
wöhnlichen Zahlenrechnen ein Widerspruch
In der Peano-Arithmetik wird die Menge der natürlichen Zahlen folgendermaßen zu Tage treten? Entweder ist 2+2=5 oder
definiert: eben nicht. Wie soll es möglich sein, mit
enthält mindestens ein Element (das als 0 bezeichnet wird); und es gibt Mitteln der Arithmetik die Aussagen – sagen
auf dieser Menge eine Abbildung namens nach (wie »Nachfolger«) mit folgen­ wir – »2+2 = 4« und »2+2 = 5« herzuleiten?
den Eigenschaften: Nur: Dass das unmöglich ist, hatte vor Hil-
1. nach ist injektiv. berts Aufforderung noch niemand bewiesen.
2. Für jedes a aus gilt: nach (a) =⁄ 0. Schlimmer noch: Kurt Gödel (1906 – 1978)
3. das Induktionsprinzip: Ist M eine Teilmenge von mit der Eigenschaft, dass zeigte 30 Jahre später, dass jeder solche Beweis
0 zu M gehört und mit jedem Element a von M auch nach (a) in M ist, dann ist scheitern muss. Darüber hinaus bewies er:
M= . In jedem System gibt es wahre, aber nicht be-
Die Addition zweier natürlicher Zahlen wird dann definiert über die mehrfa­ weisbare Aussagen.
che Anwendung von nach: n + 0 = n und n + nach (m) = nach(n+m). Diese De­
finition wird durch das Induktionsaxiom (3) gerechtfertigt. Gödel und die Lügner
Analog wird die Multiplikation über die mehrfache Addition definiert: n · 0 = Das klingt zunächst nicht besonders bemer-
0 und n · nach(m) = n · m + n. Mit Hilfe der drei obigen Axiome lassen sich kenswert. Als Menschen verfügen wir nur
dann für die beiden definierten Operationen alle elementaren Eigenschaften über endlich viel (Lebens-)Zeit und Energie,
(Rechenregeln und so weiter) nachweisen. und es gibt beliebig lange, komplizierte Aus-
Ebenso verfährt man für die Division mit Rest, für den Begriff der Primzahl sagen. Ich definiere eine Zahl, die mehr Dezi-
und die ganze übrige Arithmetik. malstellen hat, als es Elektronen im Univer-
sum gibt, und behaupte: »Das ist eine Prim-
zahl.« Diese Aussage ist entweder wahr oder
falsch; aber alle Rechenzeit der Welt reicht
nicht aus, sie zu beweisen oder zu widerlegen,
Eine wahre unbeweisbare Aussage selbst wenn jedes Atom im Universum ein
Computer wäre.
Auch die einfachsten wahren Aussagen, die unter ausschließlicher Verwendung Aber das ist nicht die Aussage des
der Peano-Axiome nicht beweisbar sind, erfordern gewisse Vorbereitungen. Gödel’schen Satzes. Dieser sagt vielmehr: Die
Beginnen wir mit einigen Definitionen. Peano-Arithmetik (Kasten »Die Peano-Axio-
Sei k eine natürliche Zahl und M eine endliche Teilmenge von , die mehr als me«) enthält wahre, aber prinzipiell unent-
k Elemente enthält. Dann bezeichne Mk die Menge aller k-elementigen Teil­ scheidbare Aussagen. Um dies zu beweisen,
mengen von M. Sei r eine natürliche Zahl. Wir interessieren uns für die Färbun­ könnte man in groben Zügen der allgemeinen
gen von Mk mit r Farben, das heißt für die Abbildungen f von Mk in die Menge Idee von Cantor folgen, etwa so: Die Menge
{1, 2, …,r }. Ist P eine k-elementige Teilmenge von M, so wird f (P) deren Farbe der beweisbaren Sätze ist abzählbar, nicht aber
genannt. Schließlich heißt eine Teilmenge F von M monochrom (für eine Fär­ die Menge der wahren Aussagen. Gödel ging
bung f ), falls alle k-elementigen Teilmengen von F dieselbe Farbe besitzen. jedoch nicht so vor. Er fand auf konstrukti-
Mit Hilfe dieser Definitionen können wir nun die fragliche Aussage formu­ vem Weg tatsächlich Aussagen, die wahr, aber
lieren: Für jedes Paar (k, r ) natürlicher Zahlen gibt es eine natürliche Zahl n der­ unbeweisbar sind.
art, dass für jede Färbung mit r Farben der k-elementigen Teilmengen von Im Einzelfall ist ein solcher Defekt stets
{k+1, …,n } eine monochrome Teilmenge von {k+1, …,n } existiert, deren kleins­ reparabel. So wird die im Kasten links ge-
tes Element streng kleiner ist als die Anzahl ihrer Elemente. nannte Aussage beweisbar, wenn man zu den
Diese Aussage lässt sich mit Hilfe des Auswahlaxioms beweisen, aber nicht Peano-Axiomen das Auswahlaxiom hinzu-
mit den Peano-Axiomen alleine. Da das Auswahlaxiom in der Mathematik all­ nimmt. Allgemein kann man stets eine für
gemein akzeptiert wird, ist die fragliche Aussage als wahr, aber in der Peano- nicht beweisbar befundene wahre Aussage
Arithmetik unbeweisbar anzusehen. zum Axiom erklären und damit trivial beweis-
bar machen. Das so erweiterte System erlaubt

50 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
jedoch auch weitere Aussagen, darunter sol-
che, die wahr, aber in dem neuen System
nicht beweisbar sind. Durch Hinzufügen von
Axiomen lässt sich das Gödel’sche Resultat
nicht umgehen.
Das fundamentale Problem hinter dem
Gödel’schen Satz ist das des Selbstbezugs:
Aussagen innerhalb eines Systems werden im-
mer dann problematisch, wenn sie sich auf
das gesamte System oder insbesondere auf
sich selbst beziehen. Man kann den Satz von
Gödel auch so formulieren: Ein formales Sys-
tem kann niemals seine eigene Widerspruchs-
freiheit beweisen. Die Kontroverse um das Pa-
radox von Jules Richard (siehe S. 40) zeigt,
dass man in Widersprüche gerät, falls ein Ele-
ment einer Menge nur in Bezug auf die ganze
Menge definierbar ist. Der Lügner behauptet:
»Ich lüge jetzt«, und es ist unmöglich zu ent-
scheiden, ob er lügt oder die Wahrheit sagt.
Eine nahe liegende Lösung dieses und Alan Turing (1912  –1954) er-
ähnlicher Paradoxa wäre, selbstbezügliche fand das Konzept eines Com-
Aussagen schlicht zu verbieten. Gödels große puters lange vor seiner tech-
Leistung besteht darin zu zeigen, dass dieses nischen Realisierung und
Verbieten nicht möglich ist (es sei denn, man zeigte zugleich in einer theo-
wollte gleich die ganze Arithmetik verbieten). retischen Arbeit dessen un­

Le Scienze
Gödel formuliert nämlich eine Aussage, die überwindliche Grenzen auf.
nach den Regeln der Arithmetik gebildet ist
und besagt: »Diese Aussage ist nicht beweis-
bar.« Um die Existenz dieser Aussage zu zei- Der Beweis verläuft wie folgt: Angenom-
gen, verwendet er das Diagonalargument. men, es gebe ein solches Programm namens
Haltetest(P,D). Dann schreiben wir ein
Turing und das Haltepoblem neues Programm namens HTV (»Haltetestver-
Hinter dem mechanistischen Projekt Hilberts derber«). Dieses nimmt als Eingabe ein Pro-
steckte der Glaube, dass eine Maschine – ein gramm Q entgegen und reicht dieses Pro-
Computer vielleicht – alle beweisbaren Aussa- gramm an das Programm Haltetest wei-
gen einer Theorie beweisen könne. Stellen wir ter, genauer: Haltetest(Q,Q). Das heißt,
uns wie oben ein Computerprogramm vor, sowohl das Programm, das Haltetest un-
das ausgehend von einem System von Axio- tersuchen soll, als auch dessen Daten sind
men und Deduktionsregeln alle beweisbaren identisch mit Q. Wenn Haltetest die Aus-
Aussagen dieser Theorie eine nach der ande- kunft »ja« zurückgibt (das heißt, Q mit Einga-
ren produziert. Wir suchen einen Beweis für be Q wird anhalten), dann hält HTV nicht an;
eine bestimmte Aussage A. Findet das Pro- andernfalls hält HTV an.
gramm unter den von ihm produzierten Aus- Jetzt geben wir dem Programm HTV sei-
sagen die Aussage A, soll es anhalten; wenn nen eigenen Text als Eingabe. Hält HTV(HTV)
nicht, soll es weitersuchen, denn die Aussage an? Wenn ja, dann gibt Haltetest
A – oder ihr Gegenteil – könnte ja unter den (HTV, HTV) die Auskunft »ja« zurück, also
noch zu produzierenden Aussagen sein. Da es hält HTV nicht an; so ist es konstruiert. Wenn
wahre, aber unbeweisbare Aussagen gibt, kann andererseits HTV(HTV) nicht anhält, gibt
es sein, dass das Programm niemals anhält. Haltetest(HTV, HTV) die Auskunft »nein«
Es kommt noch schlimmer. Man kann zurück, also hält HTV an. In beiden Fällen ge-
auch nicht im Voraus wissen, ob ein Pro- raten wir, genau wie beim Lügnerparadox, in
gramm anhalten wird oder nicht. Genauer: einen Widerspruch.
Ein Programm – nennen wir es »Halte- Der Satz von Turing gab dem Hil-
test« –, das als Eingabe ein beliebiges Pro- bert’schen Programm den endgültigen Todes-
gramm P und dessen Eingabedaten D entge- stoß. Eine mechanische Erzeugung von Wahr-
gennimmt und als Ausgabe angibt, ob P mit heiten muss notwendig unvollständig bleiben.
diesen Eingabedaten anhalten wird oder Ein Mathematiker sollte darüber nur eine
nicht, kann es nicht geben. Das hat Alan Tu- beschränkte Menge Tränen vergießen. Am
ring (1912 – 1954) im Jahr 1936 bewiesen. Ende wäre er arbeitslos geworden …

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 51
Verschieden
und doch gleich
Eine kleine, ganz schlichte Fangfrage zeigt, dass es
nicht einfach ist, Zahlen darzustellen.

Von Benoît Rittaud Um dieses Paradoxon aufzulösen, muss


man zu den Ursprüngen zurückgehen.

W
as ist eine Zahl? Auf diese Frage Was genau bedeutet der Ausdruck
wurden im Laufe der Geschichte 0,999 999 999 999…? Erinnern wir uns: De­
die verschiedensten Antworten ge­ zimalzahlen sind eine Kurzschreibweise für
geben. Heute ist die nahe liegendste im Allge­ Brüche. Die erste Ziffer hinter dem Komma
meinen die Dezimaldarstellung. So erscheint bezeichnet die Zehntel, die zweite die Hun­
uns der Ausdruck 3,141 592 653 589 793 … dertstel und so weiter. Also ist
als – mehr oder weniger – getreue Wiederga­
Wie ist es möglich, dass be der Zahl π. Dabei deuten die Pünktchen
u zwei Zahlen, die sich so an, dass weitere Ziffern folgen.
krass unterschiedlich schrei- Welche? Das weiß man nicht vollständig, Das ist offensichtlich die Summe einer geo­
ben, gleich sein können? aber es stört einen nicht besonders. Man weiß, metrischen Reihe mit dem Anfangsglied
es gibt diese Ziffern, sogar unendlich viele, a0 =9/10 und dem Quotienten q=1/10. Für
Sibylle franz / Spektrum der Wissenschaft

1  =  0 , 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 weil die Ziffernfolge nie aufhört, aber man diese Summe gibt es die Formel a0 /(1– q),
99999999999999 braucht sie nicht wirklich. In den allermeisten was in diesem Fall gleich (9/10) · (10/9) = 1
99999999999999 Fällen können wir uns mit den ersten paar ist. Wieder sind wir – auf anderem Wege – zu
99999999999999 Ziffern begnügen. dem Ergebnis x = 1 gekommen.
99999999999999 Betrachten wir nun die Dezimalzahl Diese Überlegung lässt sich auf alle ab­
99999999999999 x = 0,999 999 999 999 999 … Diesmal geben brechenden Dezimalbrüche verallgemeinern:
99999999999999 die Pünktchen nicht nur an, dass weitere Zif­ 0,199 999 999 999 … ist gleich 0,2, und so
99999999999999 fern folgen, sondern auch, dass diese Ziffern weiter. Zu allen Fällen stößt man auf dasselbe
99999999999999 sämtlich gleich 9 sind. Problem.
99999999999999 Spielen wir mit diesem x, indem wir eini­ Was ist die Lösung? Nein, es steckt kein
99999999999999 ge elementare Rechenoperationen damit aus­ Denkfehler in obiger Argumentation. Der
99999999999999 führen. Als Erstes multiplizieren wir x mit 10. scheinbare Widerspruch resultiert aus unserer
99999999999999 Das ist einfach, denn im Dezimalsystem muss Gewohnheit, eine Zahl mit ihrer Dezimalent­
99999999999999 man dafür nur das Komma um eine Stelle wicklung zu identifizieren: Wir gehen still­
99999999999999 nach rechts verschieben. Somit erhalten wir schweigend davon aus, dass eine Folge von
99999999999999 Ziffern zwischen 0 und 9 mit einem Komma
10 x = 9,999 999 999 999 999 …
99999999999999 dazwischen vollkommen dasselbe sei wie eine
99999999999999 Von dieser Zahl ziehen wir jetzt x ab. Alles, Zahl. Unsere Rechnung zeigt, dass diese Über­
99999999999999 was hinter dem Komma steht, stimmt bei x einstimmung nicht so vollkommen ist.
99999999999999 und 10 x überein: Neunen, Neunen, nichts als Man kann zeigen, dass Probleme dieser
99999999999999 Neunen. Daraus folgt Art nur bei bestimmten Dezimalbrüchen auf­
99999999999999 treten, nämlich bei denen, die auf 999 999…
10 x – x = 9
99999999999999 oder auf 000 000… enden (wobei man ganze
99999999999999 Andererseits ist 10 x – x = 9 x. Also ist 9 x = 9 Zahlen wie zum Beispiel 1 als 1,000 000…
99999999999999 und damit x = 1. schreibt). Teuflische Schwierigkeiten machen
99999999999999 Wir haben soeben gezeigt, dass also genau die »einfachen« Zahlen, die nur
99999999999999 endlich viele Stellen hinter dem Komma ha­
0,999 999 999 999 999 … = 1
99999999999999 ben. Ausgerechnet diejenigen, auf welche die
99999999999999 ist. Was ist das? Wie kann es sein, dass zwei Dezimalschreibweise am besten passt, sind die
999999999999...? Zahlen, die so unterschiedlich aussehen, am einzigen, die sich der Regel »eine Zahl, eine
Ende für gleich erklärt werden? Darstellung« entziehen.

52 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Die rationalen Zahlen
sind abzählbar
Es ist möglich, jeder rationalen Zahl eine natürliche Zahl
als »Nummer« zuzuordnen, ohne eine rationale Zahl
auszulassen oder eine Nummer mehrfach zu vergeben.

Von Daniel Barthe ger schwebt im Himmel, und ein Verdamm-


ter schmachtet in der Hölle, wie es sich ge-

E
s gibt viele Möglichkeiten, eine Bijekti- hört; nur einmal im Jahr, an Silvester, tau-
on zwischen der Menge der natür- schen die beiden ihre Plätze.
lichen Zahlen und der Menge Q der ra- Unsere Intuition lässt uns glauben, dass
tionalen Zahlen herzustellen. Eine der ein- der Selige sehr viel mehr Zeit im Paradies als
fachsten Möglichkeiten ist die folgende: in der Hölle verbringt; umgekehrt hat es den
Jeder Bruch p/q wird durch das Paar (p, q) Anschein, als müsste der Verdammte erheb-
der ganzen Zahlen p und q repräsentiert. Die- lich länger die Qualen der Hölle erleiden, als
se Paare ordnen wir in einer unendlichen Ta- er die köstlichen Früchte des Gartens Eden
belle mit dem Mittelpunkt (0, 0) an, sodass genießen kann. Paradoxerweise ist dem nicht
das Paar (p, q) in Zeile p und Spalte q steht. so. Es ist nicht übermäßig schwer, zum Bei-
Man durchläuft nun die Menge der rationa- spiel zwischen den Himmelstagen des Ver-
len Zahlen von (0, 0) aus, indem man dem dammten und seinen Höllentagen eine bijek-
»spiraligen« Weg folgt, der in der Abbildung tive Zuordnung zu konstruieren. Dies ist die erste Version
angedeutet ist. Die rationale Zahl, die man im Versuchen Sie’s! Vielleicht bringt Sie die u der Nummerierung der
n-ten Schritt trifft, erhält dann die natürliche obige Nummerierung der rationalen Zahlen rationalen Zahlen durch natür-
Zahl n als Nummer. Offensichtlich wird auf auf eine Idee. liche Zahlen.
dem Spiralweg kein Zahlenpaar ausgelassen
und keine Nummer doppelt vergeben. Damit

definiert die Nummerierungsvorschrift eine … …


(– 2, – 2) (– 2, – 1) (– 2, 0) (– 2, 1) (– 2, 2)
Bijektion. Also gibt es, entgegen dem, was
man für selbstverständlich hält, »ebenso viele« 20 21 22 23 24
Brüche wie natürliche Zahlen.
Allerdings ist die vorgenommene Zuord- … (– 1, – 2) (– 1, –1) (– 1, 0) (– 1, 1) (– 1, 2) …
nung nicht in jeder Hinsicht zufrieden stel- 19 6 7 8 0
lend. Das liegt daran, dass zwei Zahlenpaare
ein und dieselbe rationale Zahl darstellen kön-
… (0, – 2) (0, – 1) (0, 0) (0, 1) (0, 2) …
nen. So sind beispielsweise 6/9 und 10/15
beides Repräsentanten der rationalen Zahl 18 5 0 1 10
2/3. Um eine Bijektion zwischen und Q zu
erhalten, müssen wir aus unserer Tabelle alle … (1, – 2) (1, – 1) (1, 0) (1, 1) (1, 2) …
Paare mit negativen Nennern und alle Paare,
17 4 3 2 11
die zu kürzbaren Brüchen gehören, streichen.
Dann durchläuft man denselben Spiralweg
wie zuvor; nur bekommen diesmal die ge- … (2, – 2) (2, – 1) (2, 0) (2, 1) (– 2, 2) …
strichenen Paare keine Nummern mehr. 16 15 14 13 12
Tangente

Stellen wir uns vor, Himmel und Hölle


existierten schon seit ewigen Zeiten. Ein Seli-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 53
Von den
rationalen zu den
reellen Zahlen

Erst konstruiert man die natürlichen Zahlen, dann aus ihnen


die rationalen und dann erst aus diesen die reellen Zahlen.
Diese Schritte vom Kleineren zum Größeren klingen ganz
einleuchtend; aber der letzte Schritt ist ungleich schwieriger
als die beiden ersten.

Von Benoît Rittaud viel. Man kann nämlich das Induktionsprin-


zip nicht nur zum Beweisen, sondern auch

D
ie Menge der reellen Zahlen ist eine zum Definieren verwenden.
»große« Menge; sie enthält insbeson- Nehmen wir beispielsweise an, wir wollten
dere »viel mehr« Elemente als die definieren, was Potenzieren bedeutet. Für po-
Menge der natürlichen Zahlen. Die Wörter in sitive ganzzahlige Exponenten geht das sehr
Anführungszeichen sind viel zu schwach, um einfach und hat das allgemein bekannte Er-
den gewaltigen Unterschied zwischen der eher gebnis. In aller Strenge und unter Vermeidung
harmlosen Unendlichkeit von , der Menge von Pünktchen und ähnlichen einleuchten-
der natürlichen Zahlen, und der wahrhaft gi- den, aber unpräzisen Umschreibungen tut
gantischen Unendlichkeit von R, der Menge man das induktiv (»rekursiv«) wie folgt: Man
der reellen Zahlen, wiederzugeben. legt fest, dass für jede beliebige Zahl a der
Ausdruck a2 das Produkt von a mit sich selbst
In R gibt es keine Induktion! bedeuten soll (Induktionsanfang); dann legt
Die natürlichen Zahlen sind nämlich, im Ge- man für alle n ≥ 3 fest, dass a n das Produkt
gensatz zu den reellen Zahlen, abzählbar (so von a n–1 mit a sein soll (Induktionsschritt),
sind sie definiert, siehe »Induktion«, S. 10). denn nach Induktionsannahme ist a n–1 be-
Und diese Eigenschaft erleichtert ungeheuer reits definiert. Damit ist die Angelegenheit ein

54 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Diese Variante der berühmten Mandelbrot- Den Zähler hinzuzunehmen ist jetzt nicht
Menge enthält einen großen Kreis, von dem mehr schwer: Für positive natürliche Zahlen p
hier nur etwas mehr als die obere Hälfte ab- und q definieren wir a p/q als (a1/q)p; dann kann
gebildet ist. Man messe Winkel in diesem man zeigen, dass diese Definition mit dem
Kreis im Uhrzeigersinn und in Vielfachen übereinstimmt, was man auf Grund der klas-
von 2π: von 0 am linken Rand über 1/4 oben sischen Potenzgesetze erwartet. Insbesondere
und 1/2 rechts bis zurück zu 1 am linken gilt (a p)1/q = a p/q, was nicht schon unmittelbar
Rand. An jeder rationalen Zahl sitzt eine aus unserer Definition hervorgeht, sondern ei-
Knospe, die um so größer ist, je kleiner der gens bewiesen werden muss.
Nenner der Zahl ist. Der Kreisrand ist daher Damit können wir eine beliebige positive
dicht mit Knospen besetzt. Dass die knos- Zahl a zu einer beliebigen rationalen Potenz
penlosen irrationalen Zahlen dazwischen erheben. Dazu müssen wir im Wesentlichen
noch viel zahlreicher sind, sieht man nicht. nur wissen, wie man multipliziert sowie Qua-
drat-, Kubik- und höhere Wurzeln zieht.
Aber wie ist ein Ausdruck wie a 2 zu ver-
stehen? Nun ja, man verspürt vielleicht nicht
wirklich die dringende Notwendigkeit, eine
Zahl a in die 2-te Potenz zu erheben. Aber
täuschen Sie sich nicht: Das Bedürfnis, den
Definitionsbereich einer Funktion von den ra-
tionalen auf die reellen Zahlen zu erweitern,
kommt schneller, als man denkt.
Das wird deutlich an einem Beispiel aus
der Geometrie: dem Strahlensatz. Eine einfa-
che Form dieses Satzes lautet: Seien ABC und
A´B´C´ zwei Dreiecke, deren Winkel paarwei-
se gleich sind. Dann sind die Dreiecke ähn-
lich; insbesondere gilt die Verhältnisgleichheit
A´C´/AC = A´B´/AB.
Christoph Pöppe

C′
C

für alle Mal, das heißt für alle unendlich vie- A B


len n, geregelt. Der Mathematiker ist zufrie-
den und der Computer auch – na ja, nicht
ganz, denn für große n gibt es wesentlich
schnellere Methoden, a n zu berechnen, als A′ B′
stur n-mal a aufzumultiplizieren; gleichwohl
ist die angegebene Definition nicht nur ele- Zum Beweis kann man so vorgehen: Zuerst
gant, sondern auch praktisch nutzbar. erledigt man den Fall, dass A´B´ ein ganzzah-
Definieren wir in einem zweiten Schritt liges Vielfaches von AB ist (in der unten ste-
das Potenzieren für allgemeinere, nämlich ra- henden Abbildung ist A´B´ = 3AB). Dann ge-
tionale Exponenten. Wir beschränken uns auf nügt es, drei Kopien des Dreiecks ABC in das
positive Exponenten; die negativen bieten kei- Dreieck A´B´C´ hineinzulegen; einfache Sätze
ne grundsätzlich neuen Schwierigkeiten. über die Gleichheit gegenüberliegender Seiten
Eine rationale Zahl (kurz: ein Bruch) ist im Parallelogramm liefern dann die Aussage,
durch zwei natürliche Zahlen gegeben, den dass A´C´ das Dreifache der Strecke AC ist.
Zähler und den Nenner. Kümmern wir uns Daraus ergibt sich, dass A´C´/AC = A´B´/AB
zunächst um den Nenner: Ist q eine natürli- (= 3) ist.
che Zahl ungleich null, so definieren wir a 1/q C′
als die Zahl b mit der Eigenschaft, dass b q =a C
ist. Was b q bedeutet, haben wir oben ja schon
definiert. Diese Definition erfordert noch ei-
nige Zusatzarbeit, auf die wir hier nicht einge-
A B
hen: Man muss beweisen, dass es eine und ge-
nau eine Zahl b mit der geforderten Eigen-
schaft gibt; es stellt sich heraus, dass man dazu
sowohl a als auch b auf die positiven Zahlen A′ B′
einschränken muss.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 55
Reelle Zahlen z Der nächste Schritt ist der Übergang zu den
rationalen Zahlen. Nehmen wir beispielsweise
A´B´/ZX=5 (nach der Annahme über das Ver-
hältnis A´B´/AB und dem Strahlensatz für
an, das Verhältnis A´B´/AB sei 5/3. In diesem ganzzahlige Verhältnisse). Damit erhält man
Fall führt man ein Hilfsdreieck XYZ ein, so nicht nur die Gleichung A´B´/AB =5/3 zurück,
dass ZX ein Drittel von AB ist, und legt mit sondern auch B´C´/BC=5/3. Das beweist den
mehreren Exemplaren von XYZ die beiden Strahlensatz für rationale Verhältnisse.
Dreiecke wie folgt aus:
C Der wahre Strahlensatz
Nun kommt die nahe liegende Frage: Wie er-
C′ weitert man die Gültigkeit des Strahlensatzes
Y von rationalen auf beliebige reelle Verhältnis-
se? Das ist vollkommen analog der oben ge-
Z X
stellten Frage, wie man die Definition der Po-
A B tenz von rationalen auf reelle Exponenten er-
weitert. Aber während die Algebra keinen
guten Anlass liefert, sich überhaupt mit Aus-
drücken wie a 2 zu befassen, liegt der ent-
A′ B′
sprechende Grund im Fall des Strahlensatzes
auf der Hand: In der Geometrie hat man es
Daraus ergibt sich einerseits AB/ZX=3 (nach oft mit nichtrationalen Längenverhältnissen
der Annahme über XYZ und dem Strahlen- zu tun; schon das Verhältnis von Quadratseite
satz für ganzzahlige Verhältnisse), andererseits und -diagonale ist nicht rational. Wenn man

Dedekind’sche Schnitte
»Also wird kein Bruch die Länge der Diagonale eines Quadrats ge- Trotzdem können wir auf
nau wiedergeben, dessen Seite 1 cm lang ist. Dies erscheint diese Weise die Quadrat-
wie eine Herausforderung, die die Natur der Arithmetik bietet. wurzel aus 2 tatsächlich
So stolz der Arithmetiker (wie Pythagoras) auch auf die Macht nicht erreichen.
der Zahlen sein mag, so lacht die Natur ihn aus, indem sie ihm Wenn wir alle Brüche in
Längen vorsetzt, die durch die Einheit nicht zahlenmäßig aus- zwei Klassen teilen, je nach-
gedrückt werden können … dem, ob ihre Quadrate klei-
Es ist klar, dass man Brüche finden kann, deren Quadrat sich ner sind als 2 oder nicht, so
von 2 immer weniger unterscheidet. Wir können eine aufstei- finden wir, dass alle diejeni-
gende Folge von Brüchen bilden, deren Quadrate stets kleiner gen, deren Quadrate nicht
sind als 2, die sich aber von der Zwei, wenn wir weit genug kleiner sind als 2, Quadrate

Tangente
fortschreiten, um weniger als jeden vorgegebenen Betrag un- besitzen, die größer als 2
terscheiden. Angenommen also, ich setze einen kleinen Be- sind. Die Brüche, deren Qua-
trag, sagen wir ein Billionstel, von vornherein fest, so werden drat kleiner als 2 ist, haben Richard Dedekind (1831
von einem bestimmten Element an, sagen wir vom zehnten, kein Maximum und die, de- o – 1916) war unter denje-
alle Elemente unserer Folge Quadrate haben, die sich von 2 ren Quadrate größer ist als nigen, die Cantors Ideen zum
um weniger als diesen Betrag unterscheiden. Hätte ich einen 2, haben kein Minimum. Die Durchbruch verhalfen.
noch kleineren Betrag angenommen, so hätte ich in der Folge Differenz zwischen den Zah-
noch weiter gehen müssen. Aber früher oder später hätten wir len, deren Quadrat etwas
ein Element erreicht, sagen wir das zwanzigste, sodass alle fol- größer ist als 2, und denen, deren Quadrat etwas kleiner ist als
genden Elemente Quadrate besitzen, die sich von der Zwei um 2, besitzt keine untere Grenze außer der Null. Wir können, kurz
weniger als diesen kleinen Betrag unterscheiden. Wenn wir gesagt, alle Brüche in zwei Klassen teilen, sodass alle Elemen-
uns an die Arbeit machen, nach den üblichen Regeln die Qua- te der einen Klasse kleiner sind als alle Elemente der anderen
dratwurzel aus 2 zu ziehen, so werden wir einen unendlichen und die eine kein Maximum, die andere dagegen kein Mini-
Dezimalbruch bekommen, der, wenn auf so und so viele Stel- mum besitzt. Zwischen diesen beiden Klassen aber, da wo 2
len berechnet, die obigen Bedingungen erfüllt. Wir können sein sollte, ist nichts. Obwohl wir also unsere Einschnürung so
ebenso gut eine fallende Folge von Brüchen bilden, deren Qua- dicht wie möglich gemacht haben, haben wir sie an der fal-
drate alle größer sind als 2, sodass bei späteren Elementen der schen Stelle zugezogen und die Wurzel aus 2 nicht gefangen.
Folge der Unterschied immer abnimmt. Früher oder später un- Die obige Methode, alle Elemente einer Folge in zwei Klas-
terscheidet sich das Quadrat eines Elements von 2 um weni- sen zu teilen, von denen die eine ganz vor der anderen kommt,
ger als irgendeinen angegebenen Betrag. Auf diese Weise ha- ist durch Dedekind allgemein bekannt geworden. Sie heißt da-
ben wir scheinbar die Wurzel aus 2 umzingelt. Man kann sich her ein ›Dedekind’scher Schnitt‹.«
schwer vorstellen, dass sie uns immer entschlüpfen wird. Bertrand Russell: Einführung in die mathematische Philosophie (1919)

56 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
den Strahlensatz nur auf rationale Verhältnisse
anwenden könnte – und sich auch noch in je-
dem Einzelfall vergewissern müsste, dass das
Verhältnis rational ist –, wäre das äußerst hin-
derlich.
Glücklicherweise gibt es ein Hilfsmittel,
mit dem man alle reellen Zahlen von den rati-
onalen aus erreichen kann. Im Fall des Strah-
lensatzes wäre dieses folgendermaßen anzu-
wenden: Auch wenn das Verhältnis B´C´/BC
nicht rational ist, kann man es doch mit rati-
onalen Verhältnissen annähern. Wenn zum
Beispiel dieses Verhältnis ein (nicht abbre-
chender) Dezimalbruch ist, liefern die ersten
paar Stellen dieses Dezimalbruchs eine ratio-
nale Näherung. Diese Näherung wird umso
besser, je mehr Stellen man verwendet.
Geometrisch läuft diese Näherung darauf
hinaus, das Dreieck A´B´C´ durch ein ge­
ringfügig größeres (oder kleineres) Dreieck
A´´B´´C´´ zu ersetzen, für das B´´C´´/BC ratio-
nal ist.
C′ C′′
C

Ag. Focus / SPL


A B

r  Die zweite Eigenschaft ist in unserem Bei- Der schottische Mathe-


spiel leicht zu übersehen, weil sie so selbstver- o matiker John Napier
ständlich scheint. Es handelt sich um die so (1550 – 1617) erfand die Zeh-
A′ = A′′ B′ B′′
genannte Stetigkeit. Sie garantiert, dass sich nerlogarithmen, die in Form
Nach dem Strahlensatz für rationale Verhält- bei Annäherung des Verhältnisses B´´C´´/BC von Logarithmentafeln und
nisse gilt dann: B´´C´´/BC = A´´B´´/AB. Die an B´C´/BC auch B´´C´´ an B´C´ annähert. Rechenschiebern die Bürde
Differenz zwischen B´´C´´ und B´C´ kann nun Dichtheit und Stetigkeit sind die Schlüs- des Multiplizierens erleichter-
beliebig klein gemacht werden, indem man selbegriffe, mit denen man den Übergang ten, bis das Zeitalter des Ta-
das Dreieck A´´B´´C´´ durch Wahl einer besse- von den rationalen zu allen reellen Zahlen be- schenrechners anbrach.
ren rationalen Näherung entsprechend dicht wältigt.
an das Dreieck A´B´C´ »heranrückt«. Dasselbe Zur Definition von a 2 (und ähnlicher
gilt für die Differenz zwischen A´´B´´ und Ausdrücke) verwendet man im Wesentlichen
A´B´. Indem man solcherart das Dreieck dasselbe Prinzip: Man betrachtet eine Folge
A´´B´´C´´ gegen das Dreieck A´B´C´ gehen von Brüchen pn/qn, die gegen 2 konvergiert
lässt, streben die Verhältnisse A´´B´´/AB und (eine solche gibt es auf Grund der Dichtheit
B´´C´´/BC gegen A´B´/AB beziehungsweise der rationalen Zahlen), und definiert a 2 als
B´C´/BC. Da für jede dieser Näherungen Grenzwert der Folge a pn /qn. Die Existenz die-
B´´C´´/BC = A´´B´´/AB gilt, folgt auch B´C´/BC ses Grenzwerts wird durch ein Stetigkeitsargu-
= A´B´/AB, was zu beweisen war. ment gesichert.
Das vielfältig verwendbare Prinzip, das
Zwei Schlüssel zum Geheimnis hinter dieser Überlegung steckt, lässt sich so
Das obige Argument verwendet zwei wichtige ausdrücken: Man hat eine bestimmte Aussage
Tatsachen. für eine gewisse Kategorie von zugänglichen
r  Erstens: Es ist immer möglich, eine reelle Objekten (im Beispiel die rationalen Zahlen)
Zahl (im Beispiel das Verhältnis B´C´/BC) be- und erweitert diese dann mit Hilfe eines ana-
liebig gut durch eine rationale Zahl anzunä- lytischen Arguments (Dichtheit und Stetig-
hern (das waren die Verhältnisse B´´C´´/BC, keit) auf eine allgemeinere Situation. Dieses
die wir gegen B´C´/BC gehen ließen). Man Prinzip bildet den Schlüssel zur Konstruktion
sagt, die rationalen Zahlen liegen dicht in den vieler mathematischer Objekte, wie beispiels-
reellen Zahlen: Es gibt sozusagen keine Lö- weise des Integrals.
cher auf der Zahlengeraden, wo keine rationa- Wir haben es zur Definition der Potenz
len Zahlen hinkämen. und damit zur Konstruktion der Exponential-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 57
Reelle Zahlen z funktion eingesetzt, man hätte es aber auch
zur Konstruktion ihrer Umkehrung, der Lo­
log(ab) = log(a) + log(b)

garithmusfunktion, verwenden können. Und Hat man eine Funktion mit dieser Eigen-
Logarithmen wären in der Tat schlicht un- schaft und zusätzlich noch eine Tabelle, die ei-
brauchbar, wenn man sie nicht auch auf irra- nem alle benötigten Funktionswerte mit hin-
tionale Zahlen anwenden könnte. reichender Genauigkeit liefert, so kann man
John Napier (1550 – 1617) war erstmalig sich in der Tat das Multiplizieren vereinfa-
auf die Logarithmen gekommen, weil er die chen: Um ein Produkt ab zu errechnen, finde
mühsamen Multiplikationen durch einfacher man die Logarithmen von a und b durch
durchzuführende Additionen ersetzen wollte. Nachschlagen in der Tabelle, addiere diese
Er suchte also nach einer Funktion, welche (was im Handbetrieb viel schneller geht als
die folgende Fundamentalformel erfüllte: das Multiplizieren) und finde mit Hilfe der

Poincarés Stufenleiter
»Wenn man wissen will, was die Mathematiker unter einem Konti-
nuum verstehen, soll man nicht in erster Linie bei der Geometrie
anfragen. Der Geometer macht sich stets eine Darstellung der
Dinge, die er studiert – er stellt sich eine Gerade im Kopf vor
oder zeichnet sie mit Kreide an die Tafel; aber diese Darstellun-
gen sind für ihn nur ein Hilfsmittel. Man muss sich hüten, Zu-
fälligkeiten, welche oft ebenso unwichtig sind wie die Farbe
der Kreide, allzu viel Bedeutung beizulegen.
Der reine Analytiker hat diese Klippe nicht zu fürchten. Er hat
die mathematische Wissenschaft aller fremden Elemente ent-
kleidet und er kann auf die Frage antworten: Was ist eigentlich
dieses Kontinuum, mit dem die Mathematiker arbeiten? …
Gehen wir von der Stufenleiter der ganzen Zahlen aus; zwi-
schen zwei aufeinanderfolgenden Stufen schieben wir eine
oder mehrere Zwischenstufen ein, dann zwischen diese neuen
Stufen wieder andere und so fort ohne Ende. Wir haben so
eine unbegrenzte Anzahl von Gliedern; das sind die Zahlen,
welche man als Brüche oder als rationale oder kommensurab-
le Zahlen bezeichnet. Aber dies ist nicht alles; zwischen diese
Glieder, welche doch schon in unendlicher Anzahl vorhanden
sind, muss man noch wieder andere einschalten, welche man
als irrationale oder inkommensurable Zahlen bezeichnet …

Tangente
Das so aufgefasste Kontinuum ist nur eine Ansammlung von Indi-
viduen, die in eine gewisse Ordnung gebracht sind; zwar ist
ihre Anzahl unendlich groß, aber sie sind doch voneinander ge-
trennt. Das ist nicht die gewöhnliche Vorstellung, bei der man Für das Kontinuum kommt es nicht darauf an, ob man
sich zwischen den Elementen des Kontinuums eine Art inniger o mit einer Leiter neue Höhen erreicht; entscheidend ist
Verbindung denkt, welche daraus ein Ganzes macht und wo das »Unfassbare«, das selbst dann noch übrig bleibt, wenn
der Punkt nicht früher als die Linie existiert, aber wohl die Linie man immer wieder Sprossen zwischen Sprossen einfügt.
früher als der Punkt. Von der berühmten Formulierung »das
Kontinuum ist die Einheit in der Vielheit« bleibt nur die Vielheit
übrig, die Einheit ist verschwunden. man Stufen einzufügen habe und dass die Zulässigkeit der gan-
Die Analytiker sind deshalb nicht weniger berechtigt, ihr zen Aktion zu beweisen sei. Aber das wäre unbillig; die einzige
­Kontinuum so zu definieren, wie sie es tun, denn nur mit ihrer wesentliche Eigenschaft dieser Stufen ist, dass jede sich vor
Definition erreichen sie die höchste Strenge ihrer Beweise. oder hinter einer anderen befindet; mehr ist nicht dahinter, und
Aber dieses mathematische Kontinuum ist etwas ganz ande- mehr darf auch in die Definition der Stufen nicht eingehen.
res als das Kontinuum der Physiker oder dasjenige der Meta- Also braucht man sich nicht darüber zu beunruhigen, wie die-
physiker … ses Einfügen vor sich geht; und niemand wird daran zweifeln,
Man wird vielleicht die Mathematiker, welche sich mit der dass diese Operation möglich ist, es sei denn, er vergäße, dass
Definition der Physiker begnügen, für zu leichtgläubig halten dieses letzte Wort in der Sprache der Mathematik nur so viel
und darauf bestehen, dass in präziser Form auszudrücken sei, bedeutet als ›frei von Widersprüchen‹.«
was jede dieser dazwischen liegenden Stufen bedeute, wie Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese (1901)

58 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Tabelle die Zahl, deren Logarithmus gerade
die berechnete Summe ist. Das ist das gesuch-
8 x 2
te Ergebnis ab. Vor dem Siegeszug der Ta- y=e y=x
schenrechner waren die Logarithmentabelle 7
und ihr mechanisches Äquivalent, der Re-
chenschieber, das Standardhilfsmittel für alle, 6
die viel zu multiplizieren hatten.
Wie aber erstellt man die Tabelle? Wie 5

kann man Logarithmen konstruieren (oder


4
berechnen)? Die Technik ist die gleiche wie
oben: ein Dichtheitsargument gekoppelt mit 3
einem Stetigkeitsargument. y = ln x
Beginnen wir mit der Festsetzung 2
log(10)=1, was auf die gebräuchlichen Zeh-
1
nerlogarithmen hinausläuft. Aus der Funda-
mentalformel erhält man dann log(100)=2,
log(1000)=3 und so weiter. Außerdem fin- –4 –2 0 1 2 4

det man log(√1000)=log(1000)/2=3/2. Nach


demselben Muster kann man die Logarith-
men aller (positiven) Zahlen ermitteln, die
sich in der Form 10 p/q mit ganzen Zahlen p
und q (ungleich null) schreiben lassen. Nen-
nen wir die Menge der Zahlen mit dieser Ei-
genschaft M. Die Menge M ist dicht in der

Tangente
Menge der reellen Zahlen (was eigens zu be-
weisen ist); es genügt folglich festzuhalten,
dass unsere Funktion log auf der Menge M
stetig ist, dass also die Logarithmen zweier neben den Logarithmen auch eine frühe Ah- Drei nützliche Exemplare
Elemente von M, die nahe beieinander liegen, nung von der Notwendigkeit eines analyti- o von Funktionen aus der
sich ebenfalls nur wenig unterscheiden. schen Arguments. Eine dichte Menge lässt reichhaltigen Vorratskiste der
Von unserer Funktion log, die auf allen re- eben noch »Löcher« neben sich, die es in kor- Analysis, die von John Napier
ellen Zahlen definiert sein soll, müssen wir rekter Weise zu stopfen gilt. und seinen Zeitgenossen all-
jetzt nur noch fordern, dass sie für alle (positi- Es müssen übrigens nicht so viele Löcher mählich bereitgestellt wurde.
ven) reellen Zahlen stetig sein soll. In der Tat sein wie im Fall der Potenzen oder der Lo­ Ohne begriffliche Mittel wie
genügt das Fordern! Mit unserem Stetig- garithmen, wo das »Gerüst« eine verschwin- die stetige Fortsetzung wären
keitsargument ergibt sich nämlich ein Nähe- dende Minderheit gegenüber den Löchern solche und ähnliche Funktio-
rungsverfahren für den Logarithmus jeder be- bildet. Mit dem Stetigkeitsargument lassen nen nicht einmal denkbar.
liebigen (positiven) reellen Zahl. sich bequem auch einzelne Löcher stopfen. So
Da die Logarithmus- und die Exponen­ trifft man häufig Funktionen von der Art
tialfunktionen Umkehrungen voneinander f (x) = x 2/x, die für x = 0 nicht definiert sind,
sind, lassen sich die obigen Überlegungen von weil man durch null nicht dividieren darf. In
einer dieser Funktionen auf die andere über- diesem Fall könnte man zwar das Problem da-
tragen. durch erledigen, dass man x herauskürzt; die
interessanten Fälle sind jedoch solche, wo die-
Verworren, aber korrekt se Möglichkeit nicht besteht oder zumindest
Die Stetigkeitsforderung ist nicht nur hinrei- nicht offensichtlich ist. Dann hilft immer
chend, sondern auch notwendig! Wenn man noch das Mittel der stetigen Fortsetzung.
nicht auf der Stetigkeit der Logarithmusfunk- Wir haben in diesem Artikel ein allgemei-
tion besteht, gibt es andere Funktionen, wel- nes Rezept vorgeführt, schwierigere Funktio-
che die Fundamentalgleichung erfüllen, auf nen wie zum Beispiel die Potenz- und die Lo-
der Menge M dieselben Werte annehmen wie garithmusfunktion für alle reellen Zahlen zu
der Logarithmus und auf den übrigen Zahlen konstruieren: Man definiert zunächst die
völlig andere. Sie sind mühsam zu konstruie- Funktion auf einer abzählbaren, dichten Teil-
ren und von sehr wildem Verhalten, aber es menge – eine solche Definition kann rekursiv
gibt sie. und damit formal über alle Zweifel erhaben
Zu der Zeit, als Napier die Logarithmen sein – und erweitert dann durch stetige Fort-
einführte, war der Stetigkeitsbegriff noch setzung auf alle reellen Zahlen. Dieser letzte
nicht vollständig geklärt; folglich musste Na- Schritt ist nicht immer einfach.
pier improvisieren und eine etwas verworrene Wenn doch nur die Menge der reellen
Überlegung anstellen. So verdanken wir ihm Zahlen abzählbar wäre! 

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 59
Das Kontinuum:
Labyrinth der Vernunft
Die Zeit verstreicht, auch ohne dass eine Uhr tickt. Aber wie
können wir dieses gleichförmige, stufenlose, eben kon­
tinuierliche Fließen begrifflich fassen? Die Mathematiker
haben mehrere tausend Jahre dafür gebraucht.

Von Elisabeth Busser ist, wie der Kirchenvater Augustinus in einem


viel zitierten Spruch eingestand. Auch der

W
ir alle glauben zu wissen, was es Raum stellt sich uns als Kontinuum dar.
ist, geraten aber in Verlegenheit, Klarer wird der Begriff »kontinuierlich« in
wenn wir es erklären sollen: »das Gegenüberstellung zu seinem Gegensatz »dis-
Kontinuierliche«. Beispiele können den Be- kret«. Das Diskrete fließt nicht; es tritt in Ge-
griff eingrenzen helfen: Wasser fließt kontinu- stalt isolierter Einzelereignisse in Erscheinung,
ierlich, desgleichen die Zeit, die ebenfalls al- die voneinander getrennt sind wie die Signale
len geläufig, aber schwer in Worte zu fassen eines Leuchtturms. Für das Diskrete fallen
uns viele Bilder ein: Kilometersteine an einer
AKG Berlin (Rembrandt Harmensz van Rijn, Aristoteles, 1653; Metropolitan Museum of Art, New York)

Straße, Seiten eines Buchs, Noten eines Mu-


Das Kontinuum lässt sich teilen sikstücks, Anschläge beim Klavier, die Strich-
in weiter teilbare Teile. einteilung auf dem Zollstock. Was geschieht,
 Aristoteles wenn man beispielsweise zwischen je zwei
Striche immer wieder einen dritten in die
Mitte setzt? Dann geht »diskret« in »dicht«
über, aber das ist noch lange nicht dasselbe
wie kontinuierlich.
Wie aber ist dieser Begriff zu bestimmen?
Das ist nicht einfach, wie uns die Geschichte
der Mathematik lehrt. Nicht umsonst hat es
Jahrhunderte gedauert, bis nach vielen Umwe-
gen und Fortschritten in der Sprache der Ma-
thematik der Begriff des Kontinuums sich in
der heutigen Form etablieren konnte. Dieser
Artikel will in groben Zügen die Entwicklung
nachzeichnen.

Von Aristoteles zu Leibniz:


die Indivisiblen
Nachdem die Entdeckung des Irrationalen die
Welt der Pythagoreer in eine schwere Krise
gestürzt hatte, vollbrachten die griechischen
Philosophen und Mathematiker, vor allem
Aristoteles und Euklid, eine gewaltige Abs-
traktionsleistung.
Aristoteles kommt in seiner »Physik«
mehrfach auf das Kontinuum zu sprechen,
insbesondere im ersten Buch, wo er versichert,
Aristoteles legt seine Hand auf dass das »Kontinuum unbegrenzt teilbar ist«.
die Büste des Homer (Gemälde Nachdem er im VI. Buch die Existenz des
von Rembrandt aus dem Jahr
60
1653). SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Aktualunendlichen bestritten und damit be-
hauptet hat, dass das Unendliche nur als Mög-
lichkeit existiert, präzisiert Aristoteles: »Es ist
unmöglich, dass das Kontinuum aus unteilba-
ren Größen besteht«; denn »jedes Kontinuum
ist in Teile teilbar, die ihrerseits stets wieder
teilbar sind«. Insbesondere könne ein Konti-
nuum wie eine gerade oder gekrümmte Linie
nicht aus – per definitionem unteilbaren –
Punkten bestehen.
Aristoteles führt das aus: »Stetigkeit liegt
vor, wenn die Grenzen in eine zusammenfal-
len, Berührung, wenn nichts Weiteres von
gleicher Gattung dazwischen liegt.« Folglich
ist es nach Aristoteles unmöglich, dass Punkte
eine Linie erzeugen. Sein Argument ist nicht
zu widerlegen: Ein Punkt hat keine Grenzen,
denn sonst wäre er teilbar; folglich kann man
nicht sagen, dass die Grenzen zweier Punkte
zusammenfallen. Die Punkte können sich
auch nicht berühren – was unmöglich ist, da
eine solche Berührung beide Punkte zur Gän-
ze erfassen müsste – oder unmittelbar aufein-
ander folgen, weil dann etwas anders Gearte-
tes zwischen ihnen liegen müsste. Mit diesen
Gedanken kommt Aristoteles dem, was die Für Gottfried Wilhelm
moderne Topologie zur Geraden zu sagen hat, Leibniz (1646  – 1716) war
schon recht nahe. die Idee einer unbegrenzt
Nachdem Aristoteles so einleuchtend auf- teilbaren Substanz ein

Tangente
gezeigt hat, dass gewisse Dinge denkunmög- Widerspruch.
lich sind, stellt Euklid ein Mittel bereit, den
damit benannten Problemen trotzdem auf den
Leib zu rücken. Der erste Satz des X. Buchs vielen Indivisiblen [unteilbaren Einheiten]
seiner »Elemente« erlaubt es, eine Größe zu bestehen.«
konstruieren, die kleiner ist als eine beliebig Ein knappes Jahrhundert später schreibt
vorgegebene andere Größe. Hierzu genügt es, der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm
so Euklid, wenn zwei verschiedene (gleicharti- Leibniz (1646 – 1716), der seine ganze Philo-
ge) Größen gegeben sind, von der größeren ei- sophie in die Mathematik einbrachte: »Es
nen Teil wegzunehmen, der größer ist als ihre gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich
Hälfte, vom Rest wiederum eine Größe größer unsere Vernunft oft verirrt: das eine betrifft
als die Hälfte wegzunehmen und so fort. Ir- die große Frage der Freiheit und der Notwen-
gendwann bleibt eine Größe übrig, die kleiner digkeit, besonders in Bezug auf Erzeugung
ist als die kleinere der beiden vorgegebenen und Ursprung des Bösen; das andere besteht
Größen. in der Erörterung der Kontinuität und der
Diese Konstruktion liegt insbesondere dem Indivisiblen, die als ihre Elemente erscheinen,
Exhaustionsprinzip zu Grunde, mit dem die wohin auch das Problem des Unendlichen
Tangente

antiken Geometer das taten, wofür wir heute gehört.«


den Grenzwertbegriff verwenden: zum Beispiel Die mathematischen Ideen Leibnizens
die Flächengleichheit zweier krummlinig be- sind aufs Engste verknüpft mit seinen philo- Bernhard Bolzano (1781 –
grenzter Figuren nachzuweisen. sophischen Konzeptionen, mit gelegentlich o 1848) war mit seinem
Die Gedanken der griechischen Gelehr- merkwürdigen Konsequenzen. So sind bei posthumen Werk »Die Parado-
ten beeinflussten das abendländische Denken ihm Indivisible dasselbe wie »Monaden«, un- xien des Unendlichen« der Ers-
auf Jahrhunderte hinaus. Noch fast 2000 Jah- teilbare, räumlich nicht ausgedehnte, aber te, der einer lieb gewordenen
re später zitiert Galileo Galilei (1564 – 1642) gleichwohl beseelte Wesenheiten; aber ihre Vorstellung den Garaus mach-
wörtlich Aristoteles, allerdings um ihm zu wi- unendliche Kleinheit hindert Leibniz nicht te: Es ist nicht wahr, dass das
dersprechen: »Gesteht man zu, dass die Linie daran, Gott als die Ur-Monade aufzufassen. Ganze stets größer als ein Teil
und alle Kontinua in stets weiter teilbare Tei- Zugleich hat Leibniz gleichzeitig mit Isaac ist. Im Gegenteil: Unendliche
le unterteilt werden können, so sehe ich Newton, aber unabhängig von ihm, die Dif- Mengen sind genau die, für die
nicht, wie man der Schlussfolgerung entge- ferenzial- und Integralrechnung geschaffen ein Teil »genauso groß« sein
hen könnte, dass die Kontinua aus unendlich und damit den Grundstein der modernen kann wie das Ganze.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 61
Kontinuum z Mathematik gelegt. Dort gibt es gleichfalls
unendlich kleine Größen, die aber »nur in der
geeignet angeordnet sein … Ein Kontinuum
liegt dann und nur dann vor, wenn wir ein
mathematischen Berechnung Sinn« haben. Aggregat einfacher Gegenstände (Zeitpunkte,
Punkte, Substanzen) vor uns haben, die so an-
Von Bolzano zu Cantor: geordnet sind, dass jedes einzelne Mitglied des
das Kontinuum kennzeichnen Aggregates zu jeder beliebig kleinen vorgege-
Fast 200 Jahre später versucht Bernhard benen Entfernung ein Mitglied des Aggrega-
Bolzano (1781 – 1848) in seinen »Paradoxien tes hat, das ihm näher ist als diese Entfer-
des Unendlichen« (1847) das Kontinuum zu nung.« Bolzano, dem es an einer klaren Defi-
charakterisieren: »Unendlich viele Punkte ge- nition der reellen Zahlen gebricht, gibt hier
nügen allein noch nicht, um ein Kontinuum eine Kennzeichnung des Kontinuums, die kei-
zu erzeugen; diese Punkte müssen vielmehr ne ist, da sie genauso gut auf die rationalen
Zahlen passt.
Für eine wirklich saubere Definition
Cantor und die Kontinuumshypothese musste die Welt noch einige Jahrzehnte war-
ten. Erst Georg Cantor (1845 – 1918) gab
Seit Cantor bezeichnet man die verschie- 1883 eine mathematische Charakterisierung
denen Typen des Unendlichen mit dem »einer rein arithmetischen, möglichst allge-
ersten Buchstaben des hebräischen meinen Idee eines Kontinuums von Punk-
Alphabets: Aleph, ℵ. ten«. Cantor definiert den n-dimensionalen
Das Unendliche der natürlichen Raum, den wir heute Rn nennen, und be-
Zahlen wird bezeichnet mit ℵ0. weist, dass alle Räume Rn dieselbe Mächtig-
Die nachfolgenden Unendlichkei- keit wie R haben. Folglich haben alle unend-
ten schreiben sich als ℵ1, ℵ2, ℵ3 … lichen Punktmengen entweder die Mächtig-
Das Unendliche des Kontinuums, keit der natürlichen Zahlen R oder die
also der reellen Zahlen, wird als 2ℵ0 unmittelbar darauf folgende größere Mächtig-
bezeichnet, aus dem folgenden keit, nämlich die von R.
Grund: Es stellt sich heraus, dass diese Behaup-
r  Für jede endliche Menge M mit n tung kein mathematischer Satz ist, sondern
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Elementen ist die Mächtigkeit der eine Vermutung, die berühmte »Kontinuums-
»Potenzmenge« P(M ), das ist die hypothese«. Über ihre Gültigkeit haben sich
Menge aller Teilmengen von M, die Mathematiker intensiv den Kopf zerbro-
gleich 2n. chen. Unter den berühmten 23 Problemen,
r  Für jede Menge M ist die Mächtig- mit denen David Hilbert 1900 auf der inter-
keit der Potenzmenge P (M) echt grö- nationalen Tagung in Paris seinen mathemati-
ßer als die der Menge M selbst. schen Fachkollegen den Weg zukünftiger For-
Wenn M unendlich ist, dann ist P( M) schung wies, ist der Beweis der Kontinuums-
»noch unendlicher«, das heißt von ei- hypothese die Nummer 1.
ner höheren Unendlichkeit (Funda- Georg Cantor als 25-jähriger Auf dem Weg zum Kontinuum definiert
mentalsatz von Cantor). o Professor in Halle: Blick ins Cantor dann zu einer Punktmenge P die »ab-
r  Die Menge R der reellen Zahlen ­Unendliche gerichtet, Zigarre in der geleitete Menge« P´ als die Menge ihrer Häu-
hat dieselbe Mächtigkeit wie die Men- Hand fungspunkte. Ein Häufungspunkt der Menge
ge P ( ) aller Teilmengen der P ist ein Punkt, bei dem jede – beliebig kleine
natürlichen Zahlen. In Analogie zum – Umgebung mindestens einen Punkt von P
endlichen Fall wird dieses »gemeinsa- Die Kontinuumshypothese ist im Rah- enthält. Cantor nennt eine Menge S »perfekt«
me« Unendliche als 2ℵ0 bezeichnet. men der klassischen Mengenlehre (heutige Sprechweise: »abgeschlossen«), wenn
Aus dem Fundamentalsatz von unentscheidbar. Kurt Gödel zeigte S´= S gilt. Aber um kontinuierlich zu sein, ge-
Cantor ergibt sich die folgende Hierar- 1938, dass man das Axiom »die Kon- nügt es nicht, perfekt zu sein. Cantor kon-
chie von Unendlichkeiten: tinuumshypothese ist wahr« zur Men- struierte ein Gegenbeispiel, das heute seinen
ℵ0
ℵ0 < 2ℵ0 < 22 < … genlehre hinzufügen kann, ohne dass Namen trägt: Das Cantor’sche Diskontinuum
Gibt es nun eine Unendlichkeit zwi- sich ein Widerspruch ergibt. Im Jahr ergibt sich, wenn man aus einem Intervall
schen dem »abzählbar Unendlichen« 1963 zeigte Paul Cohen, dass man dessen mittleres Drittel herausnimmt, dann
und dem »Kontinuum«? Die Kontinu- auch das Axiom »die Kontinuumshy- die mittleren Drittel der verbleibenden Teile
umshypothese sagt »nein«, in For- pothese ist falsch« zur Mengenlehre wegnimmt und so weiter.
meln ausgedrückt: ℵ1=2ℵ0 . hinzufügen kann, ohne dass sich ein Für die Eigenschaft »kontinuierlich« muss
Die verallgemeinerte Kontinuums- Widerspruch ergibt. Somit ist die ge- also eine weitere Bedingung hinzukommen:
hypothese behauptet Ähnliches für genwärtige Theorie des Unendlichen Die Menge muss »verkettet« sein (in Cantors
alle Unendlichkeiten: Für alle natürli- nicht fähig, den Schleier über einem Ausdrucksweise: »zusammenhängend«, was
chen Zahlen n gilt ℵn+1 = 2ℵn . wesentlichen Problem zu lüften. heute eine ganz andere Bedeutung hat). Das
heißt: Sind x und y beliebige Punkte der

62 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Menge und e eine beliebig kleine positive
Zahl, so gibt es stets endlich viele Punkte Gödel und die Kontinuumshypothese
x1, x2, …, xn der Menge mit der Eigenschaft,
dass die Abstände zwischen x und x1, zwi- Im Jahr 1947 schrieb Kurt Gödel einen
schen x1 und x2, …, zwischen xn und y sämt- Artikel mit dem Titel »Was ist das
lich kleiner als e sind. Kontinuumsproblem von Cantor?«
Schließlich definiert Cantor ein Kontinu- (American Mathematical Monthly,
um als eine perfekte verkettete Menge. Damit Bd. 54, S. 515 – 525).
ist erstmals in der Geschichte eine abstrakte Darin stellt er fest:
und präzise Kennzeichnung des Kontinuums 1. Dieses Problem ist wohldefiniert.
erreicht. Die Menge R der reellen Zahlen ist 2. Das Kontinuumsproblem ist unlös-
die abgeleitete Menge der rationalen Zahlen bar auf der Grundlage der üblicher-
und damit als Kontinuum erwiesen. weise akzeptierten Axiome; das ist
das Axiomensystem von Zermelo und
Nach Cantor Fraenkel plus das Auswahlaxiom, was
Die Arbeiten Cantors über die Abzählbarkeit, als ZFC abgekürzt wird (C wie choice,
das Kontinuum, die reellen Zahlen und die Auswahl).

Archives of the Institute for Advanced Study, Princeton


Topologie haben auch nach seinem Tod 1918 3. Auch wenn sich die Kontinuums-
nachhaltig fortgewirkt. Überall in der moder- hypothese als unentscheidbar auf der
nen Mathematik kommt die Mengenlehre Basis der Axiome der Mengenlehre
zum Vorschein und mit ihr die philo­ erweisen sollte, verliert die Frage, ob
sophischen Fragen, die untrennbar dazuge­ die Hypothese zutrifft, nicht ihre Be-
hören. deutung.
Die Philosophen setzten sich mit Cantors 4. Die Rolle des Kontinuumspro-
Ideen in dem 1922 gegründeten »Wiener blems in der Mengenlehre ist es, zur
Kreis«, dem auch Naturwissenschaftler ange- Entdeckung neuer Axiome zu führen,
hörten, auseinander – und waren zunächst die es erlauben, Cantors Vermutung
nicht begeistert. Ludwig Wittgenstein (1889 – zu widerlegen.
1951), Schüler Bertrand Russells und einfluss- Kurt Gödel und Albert Einstein
reiche Figur – wenn auch nicht Mitglied – des Dieser Artikel war in zweifacher Hin- o im Park von Princeton (New
Wiener Kreises, kritisierte in seinen »Bemer- sicht weitsichtig. Punkt 2 wurde durch Jersey) im August 1950
kungen zu den Grundlagen der Mathematik« das Resultat von Paul Cohen über die
die Verwendung des Aktualunendlichen in Unabhängigkeit der Kontinuumshypo-
der Mengenlehre und die Anwendung der für these bestätigt. Fügt man dem Axiomensystem ZFC
endliche Mengen üblichen Methoden auf un- Die aktuellen Forschungen zu den diese Axiome hinzu, kann man zei-
endliche. Er ging sogar so weit, den Begriff »Axiomen der großen Kardinalzah- gen, dass gewisse unendliche Teil-
der Abzählbarkeit in Frage zu stellen. len« (Spektrum der Wissenschaft mengen von R die Mächtigkeit von
Überraschend erschütterte um 1930 ein 12/1998, S. 46) lassen auf einen Fort- haben, was mit dem System ZFC
neues Mitglied des Wiener Kreises die Grund- schritt im Sinne von Punkt 4 hoffen. allein nicht möglich ist.
lagen der Mathematik durch philosophische
Fragestellungen sowie durch seinen neuarti-
gen Zugang zum Problem des Kontinuums. Die Geschichte des Kontinuums, deren
Es war Kurt Gödel (1906 – 1978); allgemein wichtigste Etappen wir hier nachgezeichnet
bekannt wurde er durch seine Unvollständig- haben, ist ein weiteres, drastisches Beispiel
keitssätze: dafür, dass mathematische Strukturen sich
r  Ist die formale Arithmetik widerspruchs- gänzlich anders verhalten, als selbst die Ma-
frei, so ist sie keine vollständige Theorie. thematiker, die doch diese Strukturen defi-
r  Die Widerspruchsfreiheit der formalen niert haben, sich das vorstellen konnten. Es
Arithmetik lässt sich nicht mit Methoden ist die Intuition, die sich unmittelbar auf-
beweisen, die in dieser Arithmetik formalisier- drängende Vorstellung, die aus der banalen
bar sind. Geschichte von Achilles und der Schildkröte
Gödels Sätze versetzten Hilberts Pro- ein Paradox gemacht hat und genau deswe-
gramm zum Beweis der Kontinuumshypo- gen in Misskredit geriet. Die Intuition hat
these den Todesstoß. Schließlich zeigte Paul auch lange Zeit einem richtigen Verständnis
Cohen 1963, dass die Kontinuumshypothese der reellen Zahlen im Weg gestanden. Dabei
unentscheidbar ist. Das heißt, dass man zu ist die Intuition ohne Zweifel ein nützliches,
den Axiomen der Mengenlehre sowohl die sogar unentbehrliches Hilfsmittel; nur muss
Kontinuumshypothese als auch ihre Negati- sie gelegentlich überwunden werden, wie die
on hinzufügen kann, ohne in Widersprüche letzten Entwicklungen der mathematischen
zu geraten. Logik beweisen.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 63
Wie viel wiegen die
rationalen Zahlen?
Wie wiegt man mathematisch die Teile einer homogenen ­Menge?
Alle Verfahren dafür bauen auf dem Begriff der Abzählbarkeit
auf, einem Aspekt des »Paradieses«, das Cantor uns geöffnet hat
und das uns mittlerweile unentbehrlich geworden ist.

Von Benoît Rittaud Kaum schwieriger ist die Frage: Wie viel
wiegt der rot gezeichnete Teil der Stange im

W
enn die homogene Eisenstange AB Bild rechts, b? Es genügt, die einzelnen Stü­
(Bild rechts, a) ein Kilogramm cke, aus denen sich unser Teil zusammensetzt,
wiegt, wie viel wiegt dann der Teil zu untersuchen. Die Gesamtmasse ist gleich
MN ? Die Frage ist auch ohne Waage nicht der Summe der Massen der Stücke, welche
schwer zu beantworten. Da die Stange homo­ sich wiederum aus deren Längen ergibt.
gen sein soll, ist die Masse jedes Teilstücks sei­ Auf diese Weise finden wir – ohne Waage
ner Länge proportional. Wenn die Strecke – das Gewicht für viele Teilmengen unserer
von M nach N gerade halb so lang ist wie die Stange. Dabei nutzen wir zwei elementare
Gesamtstrecke von A nach B, dann wiegt das Tatsachen: Man weiß, wie viel ein Intervall
Teilstück MN genau ein halbes Kilogramm, wiegt, nämlich – bis auf einen Proportiona­
und so weiter. (Auf den Unterschied zwischen litätsfaktor – so viel, wie die Differenz seiner
Masse und Gewicht, auf den die Physiker mit Endpunkte angibt; und wenn man die Mas­
gutem Grund so großen Wert legen, soll es sen zweier disjunkter (elementefremder) Teil­
uns hier nicht ankommen.) mengen kennt, dann weiß man, wie viel ihre
Vereinigung wiegt, nämlich die Summe der
Einzelmassen. Und wenn man die Massen
Ein Punkt hat die Masse null! zweier Mengen addieren kann, dann geht das
auch für endlich viele; das ergibt sich aus ei­
Die Masse des Intervalls [0, 1] sei gleich 1 und gleichmäßig verteilt. Dann ist die nem einfachen Induktionsargument.
Masse eines Intervalls [a, b], das in [0, 1] enthalten ist, einfach durch b  – a
gegeben. Folglich hat das Intervall [a, a], das nur aus dem Punkt a besteht, die Das Unendliche in der Klemme
Masse a – a, das heißt null. Haben wir jedoch unendlich viele Teilmengen
Durch ein Zufallsexperiment werde eine bestimmte Zahl x aus dem Intervall zu vereinigen, dann ist, wie beim Unendli­
[0, 1] ausgewählt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Zahl x Ergebnis die- chen üblich, Vorsicht geboten. Nehmen wir
ses Zufallsexperiments ist, beträgt null, wie für jede Zahl x, siehe oben. Man als Beispiel die Vereinigung der Intervalle
ist gewohnt, »Wahrscheinlichkeit null« mit »unmöglich« gleichzusetzen. Aber [1/2, 1], [1/8, 1/4], [1/32, 1/16] und so wei­
das muss man sich abgewöhnen. Da die Zahl x Ergebnis des Experiments ist, ter (Bild rechts, c). Die Teilintervalle grenzen
war es offensichtlich nicht unmöglich, dass sie gezogen wurde. Also ist »Wahr- nicht aneinander, sondern lassen Lücken zwi­
scheinlichkeit null« etwas anderes als »unmöglich«. schen sich (sonst wäre es ja auch zu einfach).
Nebenbei ergibt sich, dass es bei der Masse eines Intervalls nicht darauf an- Wie also wiegt man eine unendliche disjunkte
kommt, ob man die Endpunkte mitzählt oder nicht: Die Intervalle [a, b], [a, b [, Vereinigung von Mengen?
]a, b] und ]a, b [ haben alle dasselbe Maß, nämlich b – a. Hier macht sich eine Idee nützlich, die
schon zur Definition reeller Zahlen diente:

64 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Corbis
das Einklemmargument oder, mit dem offizi­ rig, als auch gewichtsmäßig zwischen den Ge­ Messen und Wägen ist
ellen Namen, die Intervallschachtelung. Eine wichten von Vn und Wn zu liegen: Für die o schwieriger, als man
Zahl wie 2 gibt es zunächst (bevor die reel­ Masse m von U gilt denkt – jedenfalls wenn es um
len Zahlen definiert sind) nicht. Aber es gibt das Gewicht überabzählbarer
1/2 + 1/8 + … + 1/22n+1 < m
Zahlen, die etwas zu groß, und solche, die et­ Zahlenmengen geht. Das Bild
< 1/2 + 1/8 + ... + 1/22n+1 + 1/22n+1
was zu klein sind, und zwar so, dass der Un­ »Le cabinet géométrique de M.
terschied zwischen den zu Großen und den zu Die linke Seite ist bis auf einen Faktor 1/2 Le Clerc« zeigt zahlreiche geo-
Kleinen beliebig klein gemacht werden kann. eine geometrische Reihe mit dem Quotienten metrische Gerätschaften des
Solcherart eingeklemmt, bleibt der neuen 1/4; das gilt auch für die rechte Seite, abgese­ 18. Jahrhunderts.
Zahl nichts anderes übrig, als widerspruchs­ hen von dem letzten Summanden 1/22n+1, der
frei und eindeutig zu sein, und das genügt be­ jedoch mit wachsendem n beliebig klein wird.
kanntlich, um zu existieren. Für n gegen unendlich streben beide Seiten
Bezeichnen wir mit I0 das Intervall der Ungleichung gegen 2/3, wie man mit der
[1/2, 1], mit I1 das Intervall [1/8, 1/4], allge­ Formel für die geometrische Reihe bestätigt.
mein mit In das Intervall [1/22n+1, 1/22n] für Also ist das gesuchte Gewicht der Menge U
jede natürliche Zahl n. Dann hat das Intervall gleich 2/3.
In das Gewicht 1/22n – 1/22n+1 = 1/22n+1. Nen­
nen wir nun U die Vereinigung aller dieser In­ Massen und Wahrscheinlichkeiten
tervalle und versuchen, diese Menge U zwi­ Natürlich betreibt man diesen – beträchtli­ Die Länge eines Inter-
schen etwas Kleineres und etwas Größeres chen – gedanklichen Aufwand nicht, um das u valls ist einfach zu be-
einzuklemmen. Gewicht unendlich fein zersägter Eisenstan­ stimmen; dasselbe gilt für meh-
Das Kleinere ist schnell gefunden: U ent­ gen zu bestimmen. Interessant wird die so ge­ rere Intervalle zusammen. Aber
hält für jedes n die Vereinigung der ersten n nannte Maßtheorie im Zusammenhang mit wie lang ist die Vereinigung un-
Teilintervalle: Vn =I0 ∪I1 ∪ …∪In mit dem der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mit wel­ endlich vieler Intervalle?
Gewicht 1/2 + 1/8 + ... + 1/22n+1. cher Wahrscheinlichkeit liegt eine »zufällig ge­
Tangente

a M N
Das Größere findet sich, indem man zu Vn wählte« Zahl aus dem Intervall [0, 1] im – sa­
das Intervall [0, 1/22n+1] hinzunimmt; denn gen wir – mittleren Drittel dieses Intervalls?
alle noch nicht berücksichtigten Teilintervalle Die Bezeichnungen »Masse« und »Länge« A B

liegen zwischen 0 und 1/22n+1, werden also von oben lassen sich durch Wahrscheinlich­ b M1 N1 M2 N2 M3 N3 M4 N4
von dem Intervall [0, 1/22n+1] gnädig zuge­ keiten ersetzen: Wenn die Wahrscheinlichkeit
deckt. Also ist U enthalten in der Vereinigung über das ganze Intervall gleichmäßig verteilt A B
Wn = I0 ∪ I1 ∪ … ∪ In ∪ [0, 1/22n+1] mit der ist – das entspricht der Homogenität des Ei­ c 1/
1/
4 1/ 1
Masse 1/2 + 1/8 + ... + 1/22n+1 + 1/22n+1. senstabs –, dann ist die Wahrscheinlichkeit 8 2

Solcherart zwischen den Mengen Vn und dafür, dass eine zufällig aus [0, 1] gezogene
A B
Wn eingeklemmt, bleibt U nichts anderes üb­ Zahl im Intervall [1/3, 2/3] liegt, gleich

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 65
Masstheorie z der Masse des entsprechenden Stücks Stan­
ge: 2/3 – 1/3 = 1/3.
enthalten ist beziehungsweise die in Q enthal­
ten sind. Wenn sich dann die Maße von
Allgemein spricht man statt von der Mas­ Ober- und Untermengen einem gemeinsamen
se vom »Maß« einer Menge. Formal ausge­ Wert nähern, kann man diesen Wert vernünf­
drückt: Ein Maß ist eine Abbildung, die ge­ tigerweise als Maß von Q ansehen.
wissen Teilmengen einer »Universalmenge« Beginnen wir mit den Untermengen. Su­
eine reelle Zahl ≥0 zuordnet (die man dann chen wir ein Intervall I = [a, b], das in Q ent­
das Maß dieser Menge nennt), mit folgenden halten ist. Da zwischen zwei rationalen Zahlen
Eigenschaften: stets eine irrationale Zahl liegt (Kasten rechts),
r  Die leere Menge hat das Maß 0; muss a=b (und a rational) sein: Ein Intervall,
r  das Maß einer Vereinigung disjunkter das nur aus rationalen Zahlen besteht, kann
Émile Borel (1871 – 1956) Mengen ist gleich der Summe der Maße der nur einen einzigen Punkt enthalten! Wären es
u gilt gemeinsam mit Hen- Einzelmengen. zwei Punkte, hätte man unvermeidlich irgend­
ri Lebesgue und René Baire als r  Eine weitere Eigenschaft, die sich auf die welchen irrationalen Schmutz dazwischen.
Begründer der modernen Maß- Vereinigung unendlich vieler Teilmengen be­ Also kann eine Untermenge von Q nur eine
und Integrationstheorie. Von zieht, kann erst weiter unten präzisiert werden. endliche Vereinigung von Punkten sein.
1925 bis 1940 war er französi- Wenn darüber hinaus die Universalmenge Das Maß eines Punkts beträgt null (Kas­
scher Marineminister; nach der das Maß 1 hat, spricht man von einem Wahr­ ten S. 64); endlich viele Punkte zusammen
Besetzung Frankreich arbeitete scheinlichkeitsmaß; denn dann – und nur haben immer noch das Maß null; also haben
er für die Résistance. dann – kann man das Maß einer Teilmenge wir als untere Abschätzung für das Maß unse­
als die Wahrscheinlichkeit dafür interpretie­ rer Menge Q den Wert 0 erhalten. Das allein
ren, dass ein Zufallsereignis diese Teilmenge ist nur mäßig beeindruckend; die wirklich
trifft. Auf der gesamten Menge R der reellen mühsam zu akzeptierende Erkenntnis ist, dass
Zahlen ist das oben definierte Maß kein es Mengen gibt, die nichts wiegen. Auch eine
Wahrscheinlichkeitsmaß, denn das Maß der Milliarde Punkte hat das Maß null.
Universalmenge R ist nicht 1, sondern un­ Gehen wir zu den Obermengen über, das
endlich: Da hilft kein Proportionalitätsfaktor. heißt, suchen wir eine endliche Vereinigung
Das Maß eines Intervalls muss nicht un­ von Intervallen, in der Q enthalten ist; nen­
bedingt gleich der Differenz seiner Endpunk­ nen wir diese Menge M. Leider kommen wir
te sein; im Gegenteil! Viele Zufallsexperimen­ bei dieser Suche nicht weit. Warum?
te liefern ein Ergebnis, das mehr oder weniger Betrachten wir statt der Menge M deren
heftig um einen Mittelwert streut; das gilt Komplement N, das heißt die Menge aller
zum Beispiel für physikalische Messungen, die Punkte aus [0, 1], die nicht in M enthalten
mit einem Messfehler behaftet sind. In diesem sind. N muss ebenfalls eine endliche Vereini­
Fall hat ein Intervall in der Nähe des Mittel­ gung von Intervallen sein und darf keine rati­
werts ein großes Maß (nämlich eine große onalen Zahlen enthalten; denn die liegen ja
Wahrscheinlichkeit, vom nächsten Messwert alle in M. Aber zwischen zwei irrationalen
getroffen zu werden), ein gleich großes Inter­ Zahlen findet man immer eine rationale (Kas­
vall fern vom Mittelwert dagegen ein kleines ten rechts). Also können, mit derselben Be­
Maß. Im Folgenden soll jedoch nur von dem gründung wie oben, die Intervalle, aus denen
»natürlichen« Maß die Rede sein, das einem N besteht, nur Punkte sein (irrationale dies­
Intervall die Differenz seiner Endpunkte zu­ mal). Somit hat N das Maß 0 und dement­
ordnet. sprechend M das Maß 1. Das ist die einzige
obere Abschätzung für das Maß von Q, auf
Wie viel wiegen die rationalen Zahlen? die man hoffen kann.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Insgesamt wissen wir jetzt, dass das Maß
zufällig zwischen 0 und 1 ausgewählte reelle von Q größer oder gleich 0 und kleiner oder
Zahl rational ist? Anders ausgedrückt, welches gleich 1 ist – ein Erkenntnisgewinn, der einen
Maß hat die Menge Q der im Intervall [0, 1] nicht wirklich vom Hocker reißt.
enthaltenen rationalen Zahlen? (Man beachte Man könnte es dabei bewenden lassen und
die Schreibweise: Q, mit dem zusätzlichen festlegen, dass Q (und damit Q) eben kein
Strich, ist die Menge aller rationalen Zahlen; Maß hat. Der Logarithmus von –1 ist auch
Q ist eine Teilmenge von Q, nämlich die Men­ nicht sinnvoll definierbar, die Division durch
ge aller rationalen Zahlen zwischen 0 und 1.) 0 ist verboten, und die Summe 1 + 1/2 + 1/3
Offensichtlich lässt sich die Menge Q + ... hat keinen Grenzwert: Die Mathematiker
Ullsteinbild / Roger-Viollet

nicht als endliche Vereinigung von Intervallen sind es gewohnt, damit zu leben, dass gewisse
schreiben. Also greifen wir auf unser Ein­ Dinge nicht definierbar sind; also wären sie im
klemmverfahren zurück und suchen Ober- Prinzip auch bereit hinzunehmen, dass Q
und Untermengen von Q, das heißt endliche nicht messbar ist, das heißt, dass man ein Maß
Vereinigungen von Intervallen, in denen Q von Q nicht definieren kann.

66 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Es blieb ihnen im 19. Jahrhundert auch
zunächst nichts anderes übrig. Bernhard Rie­ Rationale Punkte, irrationale Punkte
mann (1826 – 1866) hatte den Begriff des In­
tegrals, der mit dem Maßbegriff eng verknüpft Zwischen zwei rationalen Zahlen
ist, auf solide theoretische Füße gestellt. Dabei liegt stets wieder eine rationale
war unter anderem klar geworden, dass es Zahl. Das ist einfach zu sehen:
beim Integral auf endlich viele Punkte nicht Man bilde den Mittelwert der
ankommt, dass also eine Menge aus endlich beiden Zahlen.
vielen Punkten das Maß 0 hat. Aber die Frage Um zu zeigen, dass zwi-
nach dem Maß der rationalen Zahlen wurde schen zwei irrationalen Zahlen
erst beantwortbar, nachdem Henri Lebesgue stets eine rationale liegt, ge-
(1875 – 1941) weitere theoretische Hilfsmittel nügt es festzustellen: Die Dezi-
geschaffen hatte. malbruchentwicklungen unse-
Nicht dass es vorher keine Antworten ge­ rer beiden Irrationalzahlen
geben hätte. Schon im 14. Jahrhundert müssen sich notwendig von ei-
schrieb Nicole Oresme (um 1323 – 1382), ner bestimmten Stelle an un-
wenn eine Zahl rein durch Zufall bestimmt terscheiden. Deshalb genügt
würde, dann sei die Wahrscheinlichkeit, dass es, die Dezimalbruchentwick-
diese Zahl rational sei, verschwindend gering. lung der größeren der beiden
AKG Berlin

Mit sechs Jahrhunderten Vorsprung hatte er Zahlen an einer geeigneten


die Auffassung ausgesprochen, dass das Maß Stelle danach abzubrechen. So
der rationalen Zahlen null sei – aber nicht be­ Zur Bestimmung des Mittelpunkts ge­ erhält man einen endlichen De-
wiesen. nügen Zirkel und Lineal. »Bildnis des Ni- zimalbruch, also eine rationale
Wie kann man das beweisen? Wir haben klaus Kratzer« von Hans Holbein dem Zahl, welche zwischen den bei-
gesehen, dass unsere bisherigen Hilfsmittel zu Jüngeren (1497 – 1543) den Ausgangszahlen liegt.
schwach sind. Also müssen wir stärkere aus­
arbeiten. Um zu zeigen, dass es zwischen zwei rationalen Zahlen stets eine irrationale gibt,
Oder haben wir zu viel verlangt? Müssen genügt es zu wissen, dass die Dezimalbruchentwicklung einer rationalen Zahl
wir eine Menge wirklich von oben und von ab einer gewissen Stelle stets periodisch wird. Am Anfang kommen mögli-
unten einklemmen, um ihr Maß zu bestim­ cherweise irgendwelche Ziffern; aber nur endlich viele. Ab da wiederholt sich
men? Oder kommen wir mit weniger Be­ bis ins Unendliche nur ein einziges Motiv. So ist zum Beispiel 22 / 7 = 3,14285
weisaufwand auch zum Ziel? In unserem obi­ 7142857142857142857…, das Motiv ist hierbei 142857. Sind zwei verschiede-
gen Beispiel ist die Menge U, deren Maß wir ne rationale Zahlen gegeben, so genügt es, bei einer der beiden die Dezimal-
suchten, eine unendliche Vereinigung von In­ bruchentwicklung ab einer bestimmten Stelle durch eine nichtperiodische zu
tervallen. Die Untermengen Vn sind jeweils ersetzen, und zwar derart, dass die abgeänderte Zahl zwischen die beiden ge-
die Vereinigung der ersten n Intervalle. In ir­ gebenen Zahlen zu liegen kommt. Man nehme zum Beispiel die Ziffern von p
gendeinem Sinn strebt doch Vn gegen U, oder die beliebte nichtperiodische Folge 10100100010000…, bei der zwischen
wenn n gegen unendlich strebt. Also ist es ver­ zwei Einsen immer eine Null mehr kommt als zuvor.
nünftig anzunehmen, dass das Maß vom
Grenzwert gleich dem Grenzwert der Maße
ist – was im vorliegenden Fall durch das Ein­ Ist es so einfach? Leider nein. Das Maß ei­
klemmargument bestätigt wird. nes Punkts ist null. Ein Intervall – zum Bei­
So ohne Weiteres ist die Überlegung aller­ spiel unsere Eisenstange – ist die Vereinigung
dings nicht akzeptabel: Es gibt Folgen von aller seiner Punkte (genauer: die Vereinigung
Mengen, die »gegen eine andere Menge stre­ aller Mengen, die je genau einen Punkt des
ben«, wobei aber das Maß des Grenzwerts Intervalls als Element enthalten). Also wäre
nicht gleich dem Grenzwert der einzelnen das Maß des Intervalls gleich einer Summe
Maße ist (Kasten S. 68). von lauter Nullen. Gewiss, eine unendliche
In unserem Fall liegt jedoch eine Folge Summe von Nullen, aber was soll dabei ande­
vor, die man getrost als »wachsend« bezeich­ res herauskommen als null? Und selbst wenn
nen darf: Für jedes n ist Vn in Vn+1 enthalten. 1 dabei herauskäme (zum Beispiel weil wir es
Das zusammen mit der Tatsache, dass Vn ge­ durch Dekret so definierten), hätten wir
gen U »strebt«, erlaubt es zu schließen, dass Schwierigkeiten, das Maß eines Teilintervalls
das Maß des Grenzwerts gleich dem Grenz­ zu berechnen. Wir wissen doch: Es gibt eine
wert der Maße ist. Bijektion von einem Intervall auf ein beliebi­
Dieses Ergebnis legt folgende Idee nahe: ges Teilintervall (siehe den Beitrag »Bijek­tion«,
Ist M eine Vereinigung von – möglicherweise S. 6). Also enthalten beide Intervalle »gleich
unendlich vielen – Intervallen, so ist das Maß viele« Punkte, also hätte jedes Teilintervall
von M gleich der – möglicherweise unendli­ dasselbe Maß wie das Ganze, und das wäre
chen – Summe der Maße dieser Intervalle. nun vollkommen absurd.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 67
Masstheorie z
Maß des Grenzwerts, Grenzwert der Maße Nullmenge gilt; und fast überall ist in diesem
Kontext fast so gut wie überall.
Wie beweist man nun das, was Oresme
Wenn eine Folge von Mengen gegen eine »Grenzmenge« konvergiert, ist dann das schon ahnte, aber nicht in logisch einwand­
Maß der Grenzmenge gleich dem Grenzwert der Maße der Folgenglieder? freie Formulierungen kleiden konnte? Entwe­
Im Allgemeinen nein! Sonst könnte man nämlich beweisen, dass p = 2 ist. der man stellt fest, dass Q abzählbar ist, sich
Die Mengen, um die es hier geht, sind Zusammensetzungen von Kurven, also als abzählbare Vereinigung von einele­
und das Maß einer solchen Menge ist die Gesamtlänge der Kurve beziehungs- mentigen Mengen schreiben lässt. Diese sind
weise die Summe der Längen aller ihrer Teilstücke. alle vom Maß null, folglich auch Q. Oder
Es sei ein Halbkreis mit Radius 1 über dem Durchmesser AB gegeben. Die man schachtelt Q ein in eine Vereinigung von
Länge dieses Halbkreises ist nach der klassischen Formel genau p. Intervallen, deren Maß beliebig klein wird.
Ersetzen wir nun diesen Halbkreis durch Das geht zum Beispiel auf folgende, merk­
zwei Halbkreise der halben Größe, so bleibt würdig anmutende Weise: Da Q abzählbar ist,
die Länge der Gesamtkurve offensichtlich kann man seine Elemente in einer Folge
unverändert. q1, q2, q3, … anordnen. Um jedes dieser qn le­
Dasselbe gilt, wenn wir jeden der kleinen gen wir ein Intervall, und zwar so, dass die In­
Halbkreise durch zwei mit nochmals halbier- tervalle mit zunehmendem n rasch sehr klein
ter Größe ersetzen, und so weiter. Die Ge- A B werden. Dann ist auch die Summe der Län­
samtlänge bleibt stets gleich p. gen dieser Intervalle noch beherrschbar.
Andererseits strebt die Folge dieser Kur- Im Einzelnen verläuft der Beweis nach ei­
ven offensichtlich gegen den Durchmesser nem beliebten Schema der Analysis, das den
AB des ursprünglichen Halbkreises, und A O B Spitznamen »Epsilontik« trägt. Es beginnt
dessen Länge ist 2. nämlich damit, dass man sich eine positive
Daraus ergibt sich die Gleichung p = 2. Da Zahl vorgibt, die man traditionell e zu nen­
das aber offensichtlich Unfug ist, kann die nen pflegt. Zu jedem qn betrachten wir die In­

Tangente
Behauptung mit dem Grenzwert der Maße tervalle Jn = [qn–e/2n+1, qn+e/2n+1]. Die Verei­
nicht richtig sein. nigung aller Jn enthält dann nach Konstrukti­
on Q. Da das Maß jedes Intervalls Jn gleich
e/2n ist, liefert die Summe e/2+e/4+e/8+
Wo steckt die Lücke im Gedankengang? e/16+ … = e eine Abschätzung nach oben für
Für die Berechnung des Maßes von U haben das gesuchte Maß.
wir nur die Maße abzählbar unendlich vieler Jetzt kommt das klassische Argument der
Intervalle aufaddiert: I0, I1, I2, … Die Punkte Epsilontik: e kann beliebig klein gewählt wer­
des Intervalls, deren Maße wir soeben aufad­ den. Folglich ist das von e nach oben abge­
dieren wollten, sind dagegen überabzählbar schätzte Maß kleiner als jede positive Zahl,
viele. Und dieser kleine, fast esoterisch anmu­ also ist es null, was zu beweisen war.
tende Unterschied zwischen den verschiede­ Die Sache mit den Nullmengen ist also
nen Sorten von Unendlichkeit erweist sich als ausgesprochen gewöhnungsbedürftig. Eine
entscheidend. Menge wie Q ist immerhin nicht nur unend­
Damit können wir endlich unsere Defi­ lich, sondern auch noch dicht: Wo auch im­
nition von »Maß« von oben vervollständigen. mer man sich auf der reellen Zahlengeraden
Die dritte Bedingung an ein Maß lautet: herumtreibt, es findet sich in beliebiger Nähe
Das Maß einer Vereinigung abzählbar unend­ stets eine rationale Zahl. Aber trotz dieser
lich vieler disjunkter Mengen ist gleich der Omnipräsenz ist die Menge Q schlicht ver­
­(unendlichen) Summe der Maße der Einzel­ nachlässigbar!
mengen. Übrigens hilft auch Überabzählbarkeit
Die moderne Maßtheorie, die großenteils nicht gegen den Absturz in die Bedeutungs­
auf dem subtilen Unterschied zwischen den losigkeit. Der berüchtigte Cantorstaub – man
beiden Typen von Unendlichkeit beruht, ver­ nehme dem Einheitsintervall das mittlere
danken wir Henri Lebesgue und seinem Zeit­ Drittel, den verbleibenden Teilintervallen wie­
genossen Émile Borel (1871 – 1956). der das mittlere Drittel, und so weiter ad in­
finitum – enthält zwar überabzählbar viele
Nur so wenige rationale Zahlen Punkte, ist aber vernachlässigbar. Warum? Die
Was sagt uns all das über die rationalen Zah­ endlichen Vereinigungen von Intervallen, die
len? Sie sind vernachlässigbar! So ist der als Konstruktionsstadien dienen, sind sämtlich
Sprachgebrauch der Maßtheoretiker, die alles, Obermengen für den Cantorstaub. Aber deren
was das Maß null hat, kurz als »Nullmenge« Gesamtlänge nimmt bei jedem Konstruktions­
und damit als vernachlässigbar kennzeichnen. schritt um ein Drittel ab. Das macht eine geo­
Sie sagen auch, eine Aussage gelte »fast über­ metrische Folge mit dem Quotienten 2/3, und
all«, wenn sie überall mit Ausnahme einer deren Grenzwert ist bekanntlich null.

68 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Diskrete Spielereien
Diese Aufgaben stammen aus der Buchreihe »Que sais-je?«,
Nr. 1567 (Aufgabe 1) sowie dem Wettbewerb »Cham­pion-
nat des Jeux Mathématiques et Logiques« (Aufgaben 2 bis 4).
Schwierigkeitsgrad: ** mittel; *** schwer; **** sehr schwer

Ausgewählt von Michel Criton che Summen«, S. 19). Genügt es, die Folge der natürlichen
Zahlen ein wenig auszudünnen, um die Divergenz in eine
Konvergenz zu verwandeln?
1. Eine fast harmonische Reihe *** Konkret gefragt: Man streiche von den natürlichen Zahlen
Die »harmonische Reihe«, das heißt die Summe 1 + 1/2 + 1/3 alle, die irgendwo in ihrer Dezimaldarstellung eine Zwei ent-
+ 1/4 + ... der Kehrwerte der natürlichen Zahlen, strebt gegen halten. Wenn man die Kehrwerte der verbleibenden Zahlen
unendlich, aber sehr langsam (siehe »Leonhard Eulers unendli- addiert, konvergiert diese Summe gegen eine endliche Zahl?

2. Immer wieder Differenzen ** ten Zahl gilt die erste. Alle Differenzen wer-
José schreibt die fünf Zahlen 0, 6, 9, 9, 2 in den positiv genommen. Nach demselben Sys-
eine Zeile. In die Zeile darunter schreibt er je- tem schreibt José eine zweite Zeile unter die
weils die Differenz zwischen der darüber ste- erste, darunter eine dritte und Ausgangszeile
henden Zahl und ihrer rechten Nachbarin. so weiter. 2
0 6 9 9
Man muss sich die Zeile zum Ring geschlos- Welche fünf Ziffern stehen in 1. Zeile 6 3 0 7
2
4
sen vorstellen: Als rechte Nachbarin der letz- der 1992. Zeile? 2. Zeile 3 3 7 5

3. Ein diskreter Satz **** Punkten des diskreten Raums bilden kann,
Ein »diskreter« Raum ist ein Raum, in dem gibt es mit Sicherheit mindestens eines, des-
alle Punkte ganzzahlige Koordinaten besitzen. sen Schwerpunkt ganzzahlige Koordinaten be-

e
Frank behauptet, er habe eine natürliche Zahl sitzt; und n ist die kleinste Zahl mit dieser Ei-

Tangent
n mit folgender Eigenschaft gefunden: Unter genschaft.
allen Dreiecken, die man aus n beliebigen Welche Zahl hat Frank gefunden?

4. Das Hotel Paris *** Da die Gäste freundlich und kooperativ


Im Hotel Paris sind 16 Zimmer belegt. Herr sind, führen sie die Anweisungen aus. In der
Eins befindet sich in Zimmer 1, Herr Zwei in nachfolgenden Nacht vergisst der Portier je-
Zimmer 2, …, Herr Sechzehn in Zimmer 16. doch, die Karten wieder einzusammeln. Also
Leider kann der Portier nicht mit dem Com- folgen auch am nächsten Morgen die gefügi-
puter umgehen und trägt die Namen falsch gen, aber dummen Gäste den Anweisungen
ein. So steht in der Gästeliste jeder Gast mit der Karten. Daraus ergibt sich die folgende
einer falschen Zimmernummer. Zimmerbelegung:
Der Portier zieht es vor, lieber die Gäste
umzuquartieren als seine Liste zu korrigieren. Gast Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben Acht
Folglich findet jeder Gast am Morgen nach
Zimmernummer 3 11 15 10 8 14 6 9
dem Aufstehen eine Karte an seiner Tür mit
der Aufschrift: »Sie befinden sich in Zimmer Gast Neun Zehn Elf Zwölf Dreizehn Vierzehn Fünfzehn Sechzehn

Nummer X. Ziehen Sie bitte um in Zimmer Zimmernummer 13 16 7 4 5 2 1 12


Nummer Y.«
So steht beispielsweise auf der Karte, die
an der Tür von Zimmer 4 angebracht ist: »Sie Sie kennen (aus dem Beispiel) den Inhalt der
befinden sich in Zimmer 4. Ziehen Sie bitte Karte an Zimmer 4.
Lösungen: S. 81
um in Zimmer 5.« Was steht auf den anderen Karten?

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 69
Triumph des Diskreten:
Plancks Konstante
Um die Strahlung eines schwarzen Körpers korrekt zu beschreiben,
musste Max Planck vom Kontinuierlichen zum Diskreten über­
gehen. Dabei gab er – fast beiläufig – den Anstoß zu einer revolu­
tionären Theorie: der Quantenmechanik.

Von Benoît Rittaud denen in der Folge die gesamte klassische Phy­
sik zerbrechen wird.

W
ir schreiben das Jahr 1900. Die Es geht um die Strahlung des »schwarzen
Physiker sind mehrheitlich davon Körpers«, das heißt eines Körpers, der alle ein­
überzeugt, dass ihre Arbeit, bis auf fallende Strahlung absorbiert. Experimentell
einige kleine Umstimmigkeiten, im Wesentli­ pflegte man ihn durch einen Behälter mit
chen erledigt sei. Auf der einen Seite gibt es rußgeschwärzten Wänden zu realisieren. Inte­
die Materie, die von den Gesetzen der univer­ ressant ist ein schwarzer Körper allerdings nur
sellen Gravitation regiert wird (auch wenn dann, wenn er strahlt, und genau dann ist er
man deren Bestandteile, die Atome, noch nicht mehr schwarz; man denke an zur Weiß­
nicht besonders gut versteht), auf der anderen glut erhitztes Eisen.
Seite die elektromagnetische Strahlung, die Das Wesentliche am schwarzen Körper ist
den Maxwell’schen Gesetzen unterliegt und also nicht, dass er keine Strahlung reflektiert,
deren einleuchtendstes Beispiel das sichtbare sondern dass die von ihm ausgehende Strah­
Licht ist. lung ihren Ursprung ausschließlich im Körper
Da stellt sich in natürlicher Weise die Fra­ selbst hat. Unter dieser Voraussetzung hängt sie
Physikalisches Laborato­ ge, wie die Wechselwirkung zwischen Materie nämlich nicht vom Material des Körpers oder
u rium im Jahr 1909: Ein und Strahlung beschaffen ist; schon das Be­ sonstigen Eigenschaften ab, sondern nur von
Physiker arbeitet an einem leuchten eines Gegenstands ist eine solche seiner Temperatur (siehe Kasten S. 71). Und
Spektrometer, das vor einem Wechselwirkung. Und genau an dieser Stelle zwar ist, grob gesprochen, die Frequenz der
Elektroofen aufgestellt ist. liegt eine der kleinen Unstimmigkeiten, an Strahlung um so höher, je höher die Tempera­
tur ist. Auch bei Zimmertemperatur strahlt ein
Ullsteinbild / Roger-Viollet

schwarzer Körper, allerdings im Infrarotbe­


reich, das heißt bei so geringer Frequenz, dass
wir die Strahlung nicht sehen können.
Um die Wechselwirkung von Materie und
Strahlung zu verstehen, scheint es daher ange­
bracht, den Zusammenhang zwischen der
Temperatur des Körpers und der Frequenz der
von ihm ausgesandten Strahlung zu erfor­
schen. Die elektromagnetische Strahlung ei­
nes Körpers ist durch ihr Spektrum charakte­
risiert, das heißt durch ihre verschiedenen Fre­
quenzen und deren jeweiligen Beitrag zur
Gesamtstrahlung. Rotes Licht hat eine relativ
niedrige Frequenz (große Wellenlänge); mit
zunehmend höheren Frequenzen und kürze­

70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Max Planck (1858 – 1947)
l im Jahr 1913. »Die Ein­
führung des Wirkungsquan­
tums h in die Theorie sollte so
konservativ wie möglich erfol­
gen, das heißt, sie sollte nur zu
absolut unvermeidlichen Än­
derungen führen.«

Ullsteinbild

ren Wellenlängen folgen gelbes, grünes, blau­


es und violettes Licht; noch höherfrequentes Die Äquivalenz zweier schwarzer Körper
(»ultraviolettes«) Licht ist für unsere Augen
nicht mehr sichtbar. Die Strahlung eines schwarzen Körpers hängt nur von seiner Temperatur ab.
Wenn es nur endlich viele verschiedene Nehmen wir an, wir hätten zwei schwarze Körper gefunden, von denen einer
Frequenzen wären, könnte man sich damit bei einer bestimmten Temperatur T in der Umgebung einer bestimmten Fre­
begnügen zu messen, mit welcher Intensität quenz n eine stärkere Strahlung abgibt als der andere. Verbinden wir nun die
jede dieser Frequenzen zur Gesamtstrahlung beiden schwarzen Körper durch eine kleine Röhre und lassen mit Hilfe eines
beiträgt. In der Realität besteht jedoch ein Filters nur solche Strahlung vom einen zum anderen Körper übergehen, deren
Spektrum aus einem Kontinuum von Fre­ Frequenz in der Nähe von n liegt. Weil der erste Körper stärker bei diesen Fre­
quenzen (Bild S. 72 oben). Fragt man nach quenzen strahlt als der zweite, empfängt dieser mehr Strahlung, als er an den
dem Beitrag einer einzelnen Frequenz, so ge­ ersten abgibt. Folglich steigt die Temperatur des zweiten, während die des ers­
rät man in die Schwierigkeiten, die in dem ten abnimmt – und das ohne jeglichen Eingriff von außen. Das ist aber nach
Beitrag »Wie viel wiegen die rationalen Zah­ dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik unmöglich.
len?« (S. 64) ausführlich beschrieben sind:

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 71
Plancks Konstante z
Spektren
Nach Gustav Kirchhoff (1824 – 1867) unterscheidet man drei unterschiedliche Typen elektromag­
netischer Spektren in Abhängigkeit von der Strahlungsquelle:

r  Ein strahlender Körper, gleichgültig ob flüssig oder fest, strahlt Licht aller Wellenlängen
aus und liefert somit ein kontinuierliches Spektrum.
r  Ein heißes leuchtendes Gas sendet sichtbares Licht in der Form eines diskontinuierli­
chen Emissionsspektrums aus.
r  Durchquert weißes Licht aus einer Strahlungsquelle ein Gas, so kann dieses gewisse
Wellenlängen, an denen dann schwarze Bänder erscheinen, aus dem kontinuierlichen Spek­
Tangente

trum auslöschen; man spricht von einem Absorptionsspektrum.

Das erste Sonnenspek­ Ein Punkt wiegt nichts; eine einzelne Fre­ nämlich ein Integral; das ist zwar zunächst
o trum, aufgenommen von quenz ist nur ein Punkt auf der reellen Achse auch viel schwieriger zu verstehen als eine
Joseph von Fraunhofer (1787  – der Frequenzen und trägt dementsprechend schlichte Summe, aber meistens einfacher zu
1826) im Jahr 1817 nichts zur Strahlungsleistung bei. Sinnvoll berechnen (siehe Kasten S. 74).
sprechen kann man nur über das Gewicht ei­
nes Intervalls, in unserem Kontext über den Die Formel
Beitrag eines »Frequenzbands« der Breite l. von Rayleigh und Jeans
Wir zerlegen also das Spektrum in Bänder Aus den Gesetzen des Elektromagnetismus
der Breite l, messen die Strahlungsintensität lässt sich herleiten, dass sich die Spektraldich­
in jedem Band und tragen das Ergebnis in ei­ te rT bis auf eine multiplikative Konstante in
nem Diagramm auf: für jedes Band ein Recht­ der Form
eck, dessen Breite gleich der Breite des Bands
und dessen Höhe gleich der gemessenen In­
tensität ist. schreibt. Dabei bedeutet 〈E(T )〉 die mittlere
Energie der Quellen der Strahlung in der
Wand des schwarzen Körpers.
Was sind diese Quellen? Heute würde man
sagen: die Elektronen, die von einem angereg­
Lassen wir nun die Breite l gegen null ge­ ten Zustand in den Grundzustand zurück­
hen: Die Rechtecke werden immer schmaler, springen und dabei ein Photon emittieren.
Grafiken: tangente

und die zugehörigen Diagramme nähern sich Aber wir sind ja im Jahr 1900. Man hatte zwar
einer Kurve. schon eine Vorstellung von Elektronen, glaub­
te aber noch, sie würden sich gemäß den Ge­
setzen des Elektromagnetismus in einer homo­
gen positiv geladenen Kugel bewegen. Als Max
Planck seine theoretischen Überlegungen an­
Die zugehörige Funktion nennt man die stellte, ließ er sich auf Spekulationen über de­
Spektraldichte rT . Sie drückt die Verteilung ren Natur nicht ein – und hatte es auch gar
der Frequenzen einer elektromagnetischen nicht nötig. Es genügt, »dass man also die
Strahlung aus. Emission von Wärmestrahlen als bedingt an­
Wir haben soeben – unter Verzicht auf lo­ sieht durch die Aussendung elektromagneti­
gische Strenge, die man aber nachholen könn­ scher Wellen von Seiten gewisser elementarer
te – einen Übergang vom Diskreten zum Oscillatoren, die man sich in irgend einem
Kontinuierlichen vollzogen: ein klassisches Zusammenhang mit den ponderablen Atomen
Verfahren der Analysis, das seit dem 17. Jahr­ der strahlenden Körper vorstellen mag«, so
hundert praktiziert wird. Im vorliegenden Fall Planck in seiner Arbeit »Ueber irreversible
ist der Übergang physikalisch gerechtfertigt Strahlungsvorgänge« von 1900.
durch die Tatsache, dass alle Frequenzen zuge­ Diese »Oscillatoren« darf man sich wie Fe­
lassen sind und keine von ihnen eine beson­ derpendel vorstellen: Eine Masse m schwingt
dere Rolle spielt. Kontinuierliche Verteilun­ mit der Frequenz n; ihre potenzielle Energie
gen samt zugehöriger Dichtefunktion – in un­ ist proportional dem Quadrat ihrer Auslen­
serem Fall der Spektraldichte – erfordern zwar kung q aus der Gleichgewichtslage, ihre kine­
einen höheren begrifflichen Aufwand; aber tische Energie proportional dem Quadrat ih­
hinterher ist das Rechnen mit ihnen häufig res Impulses p. Für die Gesamtenergie ergibt
einfacher. An die Stelle einer Summe tritt sich die Formel

72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
schreibt der Zustand des Oszillators im Ver­
lauf der Zeit eine Bahn.
Ein schwarzer Körper enthält nicht nur ei­
wobei w=2πn gesetzt wird (die Federkon­ nen einzigen Oszillator, sondern sehr viele. Je­
stante unserer gedachten Schraubenfeder er­ der dieser Oszil­latoren hat seinen eigenen Zu­
scheint also gar nicht explizit in der Formel, stand, beschrieben durch die Werte p und q,
sondern nur indirekt über die Frequenz). und dem­entsprechend seine eigene Energie;
Die Menge aller möglichen Zustände des Os­ allerdings haben sie alle dieselbe Frequenz, da
zillators, der so genannte Phasenraum, hat le­ man die Spektraldichte in der Nähe einer be­
diglich die Koordinaten p und q: Der Oszilla­ stimmten Frequenz sucht. Also muss man sich
tor schwingt nur in einer Richtung, und sein eine sehr große Zahl von Bahnen im Phasen­
Zustand ist durch Ort und Impuls vollständig raum vorstellen.
beschrieben. Also lässt sich der Phasenraum Von dem ganzen Gewimmel interessiert
als Ebene darstellen. In dieser Ebene be­ uns nur eine Zahl, nämlich 〈E(T )〉, der Mit­
Ullsteinbild; Speisekarte: Tangente

Während des offiziellen


l Festakts der Deutschen
Physikalischen Gesellschaft zu
Plancks 80. Geburtstag wurde
dem französischen Physiker
Louis de Broglie die Max-
Planck-Medaille verliehen – im
Vorfeld des Zweiten Weltkriegs
eine Demonstration der Unab­
hängigkeit, mit der es wenige
Monate später vorbei war.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 73
Plancks Konstante z
telwert der Energie zu gegebener Temperatur
T. Dazu müssen wir zunächst bestimmen, wie
P(p, q)dpdq ist proportional e –E(p, q)/(kT) dpdq,
wobei k=1,38·10 –23 Joule pro Kelvin die
häufig zu gegebener Auslenkung q und zu ge­ Boltzmann-Konstante ist.
gebenem Impuls p die Oszillatoren sind, die Dieses Ergebnis verdanken wir der von
genau diese Werte p und q annehmen. Dann Ludwig Boltzmann (1844 – 1906) erarbeite­
nehmen wir die nach obiger Formel zu p und ten statistischen Physik: Der Zustand (p, q)
q gehörige Energie, multiplizieren sie mit der eines einzelnen Oszillators ist mehr oder min­
Häufigkeit der Oszillatoren zu p und q, addie­ der beliebig und in der Praxis ohnehin nicht
ren alle diese Produkte auf und teilen durch bestimmbar; auf eine große Anzahl von Oszil­
die Gesamtanzahl an Oszillatoren. Daran ist latoren dagegen sind statistische Gesetze an­
nichts Geheimnisvolles: Jeder Notendurch­ wendbar. Mit deren Hilfe kann man sehr ge­
schnitt wird auf dieselbe Weise berechnet. nau die Wahrscheinlichkeit dafür berechnen,
Man nimmt jede Note mal der Anzahl der dass ein Oszillator sich in einem bestimmten
Klassenarbeiten, die mit dieser Note bewertet Zustand befindet. Und relative Häufigkeiten
wurden, und teilt durch die Gesamtzahl der sind bis auf zufällige Abweichungen nichts
Klassenarbeiten. weiter als Wahrscheinlichkeiten.
Nur tritt hier wieder die Schwierigkeit auf, Die Punkte des Phasenraums, welche zu
dass p und q nicht diskret, sondern kontinu­ einer Energie E gehören, liegen übrigens alle
ierlich variieren. Deswegen steht anstelle einer in einer Ellipse mit den Halbachsen
Summe ein Integral. Es ist auch nicht sinnvoll
zu fragen, wie viele Oszillatoren es zu den ge­ .
nauen Werten p und q gibt, sondern wie viele
in einem kleinen Intervall zwischen p und Der Flächeninhalt dieser Ellipse errechnet sich
p+dp sowie q und q+dq liegen. (Dabei be­ nach der Formel S=πab (wobei a und b die
zeichnen dp und dq »Differenziale«, das sind beiden Halbachsen sind) zu
beliebig kleine Größen. Die Physiker verste­
S(E )=2πE/w=E/n.
hen diese mathematisch etwas dubiosen »infi­
nitesimalen Größen« korrekt und intuitiv Bezeichnen wir mit dS den elliptischen
einleuchtend anzuwenden.) Diese Anzahl Ring, der zwischen den Energien E und E+dE
liegt, wobei dE wieder ein sehr kleiner (»infi­
nitesimaler«) Wert sein soll.
Kontinuierlich ist einfacher als diskret
u1
1
q 2E
Betrachten wir zwei verwandte Objekte: Das eine ist
m
die auf dem Intervall [1, +∞[ definierte Funktion dS
f(x)=1/x 5, das andere ist die Folge mit dem allge­
meinen Glied un = 1/n 5 (mit n > 0). Anscheinend ist 2mE
es einfacher, die Folge zu summieren als die Funkti­
0,8 on, weil man für Ersteres nur die wiederholte Addi­ p
tion der Glieder durchführen muss (selbst wenn es
sich um unendlich viele Additionen handelt), wäh­
rend die »Summation« der Funktion x 1/x 5 Inte­
gralrechnung verlangt. Die Abbildung zeigt beide
0,6
Größen als Flächen: eine Summe von Rechtecken Der Anteil P(E )dE der Oszillatoren, deren
für die Reihe, die Fläche unter dem Graphen der Energie zwischen E und E+dE liegt, ist bis auf
Funktion für das Integral. eine Normierungskonstante gegeben durch
Obwohl es einfacher scheint, den Inhalt der »ge­ das Integral
raden« Fläche aus Rechtecken zu berechnen als
0,4
den der »krummen« Fläche unter der Kurve, ist das
Gegenteil der Fall: Die elementaren Regeln der In­
tegralrechnung liefern, dass die gefärbte Fläche den was nach Obigem gleich
Inhalt 1/4 hat, während man bis heute nichts Kon­
e –E/(kT ) dE / n
kretes über die Fläche aus den Rechtecken weiß.
0,2
Man weiß noch nicht einmal, ob dieser Flächen­ ist. Der gesuchte Mittelwert 〈E(T )〉 errechnet
inhalt eine rationale Zahl ist oder nicht (siehe »Leon­ sich dann mit Hilfe des Integrals
hard Eulers unendliche Summen«, S. 19 ).
u2 .
u3
Tangente

1 2 3 4 5 6 Das ist allerdings nur der Zähler (»Summe


über Note mal Anzahl der Klassenarbeiten

74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
mit dieser Note«) des Bruchs, der uns interes­ Unsere Berechnung von 〈E(T )〉 als Quo­
siert; der Nenner (»Anzahl aller Klassenarbei­ tient zweier Integrale beruht auf der Vorstel­
ten«) ist lung, dass die Energie eine kontinuierliche
Größe ist, also jeden beliebigen Zahlenwert
annehmen kann. Planck dagegen postulierte,
dass die Energie nur diskrete Werte anneh­
Insgesamt erhält man men kann, und zwar ganzzahlige Vielfache
der Größe hn. Dabei ist n nicht mehr eine
kontinuierlich variable Frequenz, sondern
eine feste Grundfrequenz, und die von Planck
eingeführte Proportionalitätskonstante h wur­
de in der Folge als »Planck’sches Wirkungs­
Die Berechnung der beiden Integrale auf der quantum« zur fundamentalen Größe der
rechten Seite ist eine klassische Übungsaufga­ Quantenmechanik.
be zur partiellen Integration. Man erhält den Durch diesen kühnen Schritt ist der Ener­
extrem einfachen und eleganten Ausdruck giemittelwert nicht mehr ein Quotient zweier
Integrale, sondern, wie beim Notendurch­
〈E(T )〉 = kT. schnitt, ein Quotient zweier Summen – un­
Setzt man diesen in die Formel für die Spek­ endlicher Summen allerdings:
traldichte ein, so ergibt sich (bis auf eine mul­
tiplikative Konstante):
rT (n) = kT n 2
Das ist die Formel von Rayleigh und Jeans,
die sich zwangsläufig aus den Gesetzen des
Elektromagnetismus und der Thermodyna­ Verwenden wir die Abkürzung z=e –hn/(kT), so
mik ergibt. wird die Gleichung deutlich übersichtlicher:
Der Graph dieser Funktion gibt für nied­
rige Frequenzen gut die experimentellen Fak­
ten wieder, gerät aber für wachsende Frequen­
zen immer mehr in Widerspruch zu ihnen.
Auch vom Standpunkt der reinen Theorie aus
ist zu erkennen, dass die Formel nicht richtig
sein kann: Die Gesamtenergiedichte ist gleich Die beiden auftretenden Potenzreihen sind
dem Integral der Strahlungsdichte über alle wohlbekannt; die im Nenner ergibt als Sum­
Werte von n, das heißt von null bis unend­ me z/(1–z)2 und die im Zähler 1/(1–z). Folg­
lich. Da aber die Strahlungsdichte nach Ray­ lich ergibt sich
leigh und Jeans proportional zu n 2 ist, wäre
die Gesamtenergie unendlich, was offensicht­
lich nicht sein kann. Im Ultravioletten, das
heißt bei den höheren Frequenzen, wird die oder schließlich (bis auf eine multiplikative
Formel von Rayleigh und Jeans zunehmend Konstante, die man auch noch hätte herleiten
falsch, was seinerzeit die »Ultraviolettkatastro­ können):
phe« genannt wurde.

Revolutionär wider Willen


Das Problem wurde zugleich mit einigen an­ Das ist die Planck’sche Formel. Sie stimmt
deren von Max Planck (1856  – 1947) gelöst. perfekt mit den experimentellen Daten über­
Seine Idee löste eine Revolution aus, die ih­ ein – vorausgesetzt, man wählt den Wert von
rem Urheber in der Seele zuwider war. Meh­ h passend (ungefähr 6,626 · 10 –34 Joule mal
rere Jahrzehnte lang versuchte der eigentlich Sekunde). Anders als in der Formel von Ray­
konservative Planck vergeblich, die physikali­ leigh und Jeans geht die Spektraldichte in der
sche Sprengkraft seiner eigenen Entdeckung Planck’schen Formel gegen 0, wenn n gegen
herunterzuspielen. unendlich geht. Damit ist die Ultraviolettka­ Ueber das Gesetz der Energievertei-
lung im Normalspectrum. Von Max
L i t e r at u r

Die erste Version der sehr komplexen Be­ tastrophe erledigt. Planck in: Annalen der Physik, Bd.
rechnungen Plancks füllte viele Seiten; aber Die Konsequenzen dieses Übergangs vom 309, S. 553, 1901
Planck selbst, der seiner eigenen Entdeckung Kontinuierlichen zum Diskreten erschütter­
Ueber irreversible Strahlungsvor-
misstraute, suchte und fand mehrere unter­ ten wenig später das gesamte Gebäude der gänge. Von Max Planck in: Annalen
schiedliche mathematische Begründungen, klassischen Physik und führten geradewegs der Physik, Bd. 306, S. 69, 1900
darunter die folgende: zur Quantenmechanik.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 75
Das Hotel Hilbert

Unendliche Mengen sind paradox? Nicht wirklich, aber sie sind


zweifellos fremdartig, überraschend, verstörend. Auf dem Weg
ins Unendliche sollte man zumindest eine Nacht in Hilberts Hotel
zubringen – auch wenn es eine ziemlich unruhige Nacht wird.

Von Francis Casiro terzubringen, müsste ich einen Gast hinauswer­


fen, und das kommt nicht in Frage. Ihr Problem

A
m Bolzano-Platz im Zentrum der be- ist unlösbar. Bedaure.«
triebsamen Metropole Cantorstadt Missgestimmt wendet sich unser Reisen-
stehen zwei traditionsreiche Hotels: der auf der anderen Seite des großen Platzes
das Ritz und das Hilbert. dem Hotel Hilbert zu, einem Prachtbau mit
Ein verspäteter Reisender klopft an die monumentaler Fassade, dessen Seitenflügel
Nachtpforte des Ritz und fragt den schlaf- sich im Nebel verlieren.
trunkenen Portier nach einem Zimmer für die
Nacht. Stets ausgebucht
» Alles belegt «, antwortet dieser. Das Hotel Hilbert ist in einem Punkt bemer-
» Aber Sie haben doch 100 Zimmer, nach Ihrer kenswert: Es hat kein letztes Zimmer!
Leuchtreklame «, erwidert der Neuankömmling. Stellen wir uns der Einfachheit halber ei-
»Die sind aber sämtlich vergeben. Da niemand nen Gang ohne Ende vor, daran das Zimmer
sein Zimmer mit einem anderen Gast teilen mit der Nummer 1, dann das Zimmer mit
möchte, kann ich nichts für Sie tun. Um Sie un­ der Nummer 2 und so weiter. Irgendwann

76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
alle Abbildungen: Tangente

kommt man zum Zimmer 31 415, es folgt »Gestatten Sie, dass ich an Ihrem Verstand zwei­
Zimmer 31 416. Auf das Zimmer mit der fele «, erwidert der Reisende. »Es ist unmöglich,
Nummer n folgt immer das Zimmer mit der ein solches Problem zu lösen.«
Nummer n  +  1. Der Flur sieht überall gleich
aus, einerlei wo man steht. Alles spricht dafür, Verschiebung
dass das Hotel Hilbert unendlich viele Zim- »Im Gegenteil: Nichts ist einfacher«, gibt der
mer hat. Portier zurück. »Ich benötige nur diese Tele­fon­
Voller Hoffnung wendet sich unser Rei- anlage. Damit kann ich allen Gästen dieselbe
sender an den Portier. Nachricht übermitteln: ›Bitte ziehen Sie ins
»Ich hätte gerne ein Zimmer, bitte.« nächste Zimmer um.‹ «
»Wir sind voll belegt «, antwortet der Portier »Verstehe ich nicht.«
und zwirbelt sich den Schnurrbart. »Der Gast in Zimmer 1 wird nach Zimmer 2 Ein kleiner nächtlicher
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben wandern, derjenige in 2 kommt nach 3, der u Massenumzug im un-
doch unendlich viele Zimmer!« von 3 nach 4 und so weiter. Allgemein wird endlichen Hotel Hilbert
»Schon, aber unser Geschäft läuft gut«, antwor-
tet der Herrscher der Zimmerschlüssel mit ei-
nem breiten Lächeln. »Aber keine Sorge: Wir 1 2 3 4
regeln das für Sie. Unsere Hotelgäste sind sehr
kooperativ. Mit ihrer Hilfe werden Sie in eini­
gen Minuten ein Zimmer haben und können
beruhigt schlafen. Unsere Devise heißt ›Der
Kunde ist unendlich zufrieden‹, und wir haben
sie bisher noch immer erfüllt.«

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 77
Unendliche Mengen z
der Gast aus dem Zimmer Nummer n nach
Zimmer n + 1 umziehen. Da wir kein letztes
senumzug, der das Zimmer 1 frei macht. Dort
wird der zweite Neuankömmling untergebracht,
Zimmer haben, werden alle Gäste in einem neu­ und das Ganze fängt von vorne an.«
en Zimmer unterkommen. Zimmer 1 ist dann »Verzeihung, aber Sie sind wirklich müde. Kein
frei, und Sie können es belegen« (Bild auf der Gast könnte mehr schlafen, wenn man so ver­
vorigen Seite unten). fahren würde, denn alle wären ständig in Bewe­
»Fantastisch«, sagt der Reisende. Und einen gung. Und dann bräuchte Ihre Lösung unend­
Moment später: »Ich verstehe. Wenn nun zwei lich viel Zeit. Nein, das geht nicht. Aber die Lö­
neue Gäste Zimmer von Ihnen verlangen und sung liegt eigentlich auf der Hand.«
das Hotel wieder voll belegt ist, schicken Sie ein­ »Ich sehe sie nicht«, erwidert der leicht verär-
fach alle Gäste zwei Nummern weiter, um die gerte Reisende.
Neuen unterzubringen: Der Bewohner von »Ich muss nur jeden Gast bitten, in das Zimmer
Zimmer 1 geht nach 3, der von 2 nach 4 und so umzuziehen, dessen Nummer genau doppelt so
weiter.« groß ist wie seine bisherige Zimmernummer. Die
»Ich sehe, mein Herr, Sie haben den Geist des 1 geht nach 2, die 2 nach 4, die 3 nach 6 und so
Hauses verstanden. Im Übrigen kommt es auf weiter, allgemein n nach 2 n. So werden unend­
die Anzahl der Neuankömmlinge nicht an, lich viele Zimmer frei. Der erste Ankömmling
nicht im Mindesten: Ich könnte zusätzlich eine geht nach Zimmer 1, der zweite nach 3, der drit­
Million Gäste unterbringen, wenn es erforder­ te nach 5 und so weiter. Der n-te Neuankömm­
lich wäre.« ling bekommt das Zimmer Nummer 2 n – 1.«
»Ach so: Der Gast aus Nummer 1 kommt nach »Ach so. Man bittet die alten Gäste in die Zim­
Nummer 1 000 001, der aus 2 nach 1 000 002 mer mit den geraden Nummern und die neuen
und so weiter.« in die Zimmer mit den ungeraden.«
»Genau.«
Großer Andrang »Da kann ich ja beruhigt schlafen gehen«, stellt
Beruhigt wendet sich der Gast zum Gehen. der Reisende fest. »Ich denke, schwierigere Pro­
Plötzlich zögert er, bleibt sinnend stehen, den bleme der Zimmerverteilung gibt es nicht. Wo
halb erhobenen Koffer in der Hand, und fragt sollen denn mehr als unendlich viele Reisende
nach einigen Sekunden angestrengten Nach- auf einmal herkommen!«
denkens den Portier:
»Aber wenn nun unendlich viele Reisende ein Rekordandrang
Zimmer möchten und das Hotel voll belegt Wieder kommt der Gast nicht weit mit sei-
wäre, dann wären selbst Sie überfordert.« nem Koffer, denn der Portier ruft ihm nach:
»Meinen Sie? Das Problem hatten wir schon.« »Täuschen Sie sich da nicht. Ein Kollege vom
»Und Sie haben eine Lösung gefunden?« Planeten Dedekind hat mir eine sehr ungewöhn­
»Ja – und es war nicht allzu schwierig. Ich glau­ liche Geschichte erzählt. Er arbeitet für die
be, Sie könnten das auch.« ­Hotelkette Cantor, die unendlich viele Hotels
Unendlich viele Neuan- »Oh nein, das ist zu viel für einen müden Rei­ namens Cantor 1, Cantor 2, …, Cantor n …
u kömmlinge finden Platz, senden. – Aber warten Sie! Die Idee der Ver­ betreibt. Jedes Cantor-Hotel hat unendlich viele
indem sie die Zimmer mit un- schiebung funktioniert immer noch. Es beginnt Zimmer.
geraden Nummern beziehen; wie bei einem einzelnen Reisenden. Man macht Um Energie zu sparen, beschloss die Direktion
zuvor haben die bisherigen Be- nach dem bereits bekannten Verfahren das Zim­ eines Abends, alle Hotels bis auf das erste zu
wohner ihre Zimmer gegen mer 1 frei und gibt das dem ersten Neuan­ schließen und alle obdachlos gewordenen Gäste
solche mit doppelter Nummer kömmling. Dann besteht dieselbe Situation wie in Cantor 1 unterzubringen. Das Verfahren, das
eingetauscht. zuvor. Also bittet man um einen weiteren Mas­ wir eben diskutiert haben, ist nicht mehr an­

1 2 3 4 5 6 7 8

Ankömmling 1 Ankömmling 2 Ankömmling 3 Ankömmling 4

78 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
wendbar, denn man müsste es unendlich oft aus­ Nummer 217 2 in Cantor 1 kommt der ehema­
führen. Das würde unsere Gäste um den Schlaf lige Bewohner von Zimmer 217 aus Cantor 1.
bringen. Mehr als einmal pro Nacht darf man Sein linker Nachbar (Zimmer 217 2–1) wird
einen Gast nicht umquartieren, lautet die eher­ der Gast, der in Cantor 2 Zimmer 217 bewohn­
ne Regel. Sehen Sie, wie es trotzdem geht?« te. So füllt sich der Flur von rechts nach links
»Wie? Unendlich viele Mengen von jeweils un­ mit allen Bewohnern der Zimmer mit der Num­
endlich vielen Gästen unterbringen?« mer 217. Insbesondere landet unser Beispiel­
»Jawohl, es geht«, erwidert der Portier. »Es gibt mensch aus Zimmer 217 in Cantor 136 in dem
sogar unendlich viele Lösungen. Eine der ein­ Zimmer mit der Nummer 217 2 –135.
fachsten geht folgendermaßen: Wir zeichnen die Allgemein gesprochen: Der Gast aus dem Zim­
ursprüngliche Belegung aller Cantor-Hotels auf mer n des Hotels Cantor m bekommt das Zim­
einen Plan und weisen jedem Gast seine neue mer m2 – n  + 1, falls n > m ist, und das Zimmer
Zimmernummer nach einem spiralförmigen Nummer (m – 1) 2  + n, falls n ≤ m ist.«
Schema zu.« »Genial!«
»Der Herr sind zu gütig«, erwidert der Portier
mit falscher Bescheidenheit.
Cantor 1 »Aber – Moment! – es gibt eine Lücke in dieser
1 2 3 4 5 6 7 8 9 • •
Überlegung.«
Cantor 2 »Und zwar?«
1 2 3 4 5 6 7 8 9 • •
»Vielleicht sind ja die Zimmer Ihres Hotels gar
Cantor 3 nicht frei, wenn die Gäste der Cantor-Kette ein­
1 2 3 4 5 6 7 8 9 • • treffen. Was machen Sie dann?«
Cantor 4
»Oh, das ist eine unserer leichtesten Übungen«,
1 2 3 4 5 6 7 8 9 • • erwidert der Portier und richtet seine Schnurr-
• • • • • • • • • • • bartspitzen mit geübtem Griff himmelwärts.
• • • • • • • • • • •
»Ich mache alle Zimmer mit gerader Nummer
Cantor n frei, indem ich meine sämtlichen Gäste bitte,
1 2 3 4 5 6 7 8 9 • •
• • • • • • • • • • •
von Zimmer n nach 2 n – 1 umzuziehen. Ein
• • • • • • • • • • • kleines Entgegenkommen an Sie«, mit beson-
• • • • • • • • • • • ders gewinnendem Lächeln zu seinem Ge-
sprächspartner: »Der Gast in Zimmer 1 ist der
einzige, der sich nicht bewegen muss. Dann muss
1 4 9 16 25 • • • •
Cantor 1 ich nur noch jeden Neuankömmling nicht in
1 2 3 4 5 6 7 8 9
das ursprünglich vorgesehene Zimmer einweisen,
Cantor 2 2 3 8 15 24 • • • • sondern in das mit der doppelten Zimmernum­
1 2 3 4 5 6 7 8 9
mer. Und schon sind unendlich viele Gäste un­
Cantor 3 5 6 7 14 23 • • • • endlich zufrieden.«
1 2 3 4 5 6 7 8 9

Cantor 4 10 11 12 13 22 • • • • Primzahlen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 für den besonderen Service
• • • • • • • • • »Und das ist noch lange nicht alles. Wir können
• • • • • • • • •
auch von Anfang an eine Zuweisung vorneh­
men, die nicht nur alle Gäste der Cantor-Kette
(Der erste Gast aus Cantor 1 bekommt unterbringt, sondern auch noch unendlich viele
Zimmer 1, der erste Gast aus Cantor 2 Zim- Zimmer frei lässt«, fährt der Portier fort. »Das
mer 2, der vierte Gast aus Cantor 3 wandert ist hilfreich für den Fall, dass ein Reisebus mit
nach Zimmer 14, der zweite Gast aus Cantor unendlich vielen Plätzen zur Unzeit eintrifft
4 nach 11, …) oder« – er senkt seine Stimme – »manche Gäs­
»Bekommt so wirklich jeder ein Zimmer?«, te lieber nach nebenan ausweichen, als Wand an
zweifelt der Reisende. Wand mit einem der Schnarcher aus Cantor
»Das ist es ja gerade. Schauen Sie sich die Zeich­ 728 zu logieren. Solche Dinge kann man dann
nung genauer an. Die ersten n Gäste der ersten diskret lösen, ohne gleich das ganze Hotel in
n Hotels bekommen in meinem Hotel die Aufruhr zu versetzen.«
­Zimmer mit den Nummern 1 bis n2. Wo schi­ »Sie erstaunen mich«, sagt der Reisende.
cken wir die Gäste hin? Für die bisherigen Be­ »Nichts einfacher als das, mein Herr. Betrachten
wohner von Cantor 1 ist die Sache einfach. Sie wir die unendliche Abfolge der Primzahlen: 2,
wechseln nicht das Hotel, sondern ziehen nur 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, … Geben wir
von n nach n2. dem n-ten Reisenden in Cantor 1 das Zimmer
Aber nehmen wir zum Beispiel den Gast aus Nummer 2 n, dem n-ten Reisenden in Cantor 2
Zimmer 217 in Cantor 136. In das Zimmer das Zimmer Nummer 3 n und so weiter. Der n-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 79
Unendliche Mengen

David Hilbert
z
In Vorträgen für das allgemeine Publikum pflegte sen lassen. Das Induktionsprinzip (siehe den
David Hilbert (1862 – 1943) die scheinbaren Pa- Beitrag »Induktion: die Leiter ins Unendliche«
radoxien des Unendlichen anhand der Leiden von Norbert Verdier) ist ein solches endliches
der Gäste eines unwahrscheinlichen Hotels zu Mittel: Mit einer geringen Anzahl von Axio-
erläutern. Seitdem ist die Idee von vielen Leu- men erfasst es die unendlich vielen natürli-
ten, insbesondere Mathematikern, aufgegrif- chen Zahlen.
fen und weiterentwickelt worden. Der polni-
sche Autor Stanisław Lem hat sogar einen Mit »Endlichkeitssätzen« gelang es Hilbert in
Sciencefiction-Roman mit dem Titel »Hilberts vielen Fällen nachzuweisen, dass eine unend-
Hotel« geschrieben. liche Vielfalt mathematischer Objekte »end-
Hilbert war einer der größten Mathema­ lich erzeugt« ist. Das heißt, jedes dieser
tiker aller Zeiten; und naturgemäß standen Objekte kann aus einem Baukasten zusam-
Fragen des Unendlichen immer wieder im mengebaut werden, der nur endlich viele
Zentrum seines Interesses. Er sagte: »Mehr ­verschiedene Grundbausteine enthält (aller-
als jede andere Frage hat das Problem des dings stehen von jedem Baustein beliebig
Unendlichen das Denken der Menschen be- viele ­Exemplare zur Verfügung).
schäftigt; mehr als jede andere Idee hat die­ Hilbert war überzeugt, dass – auf diesem
jenige des Unendlichen ihre Intelligenz her- oder einem ähnlichen Weg – alle mathema­
ausgefordert und befruchtet; mehr als jeder tischen Wahrheiten dem menschlichen Geist
andere Begriff erfordert es derjenige des Un- zugänglich seien: »Der wahre Grund dafür,
endlichen, geklärt zu werden.« dass man kein unlösbares Problem gefunden
Jede Frage zum Unendlichen müsse sich in hat, besteht meiner Ansicht nach darin, dass
»finitistischer« Weise, das heißt mit endli- ein unlösbares Problem schlechterdings nicht
chem Aufwand an gedanklichen Mitteln, lö- existiert. Anstatt ›ignorabimus‹ zu sagen, soll-
te unsere Devise im Gegenteil sein: Wir kön-
nen nicht nicht wissen. Wir werden wissen.«
Zu den Zeiten, als Göttingen noch das Der Satz von Gödel hat diese Hoffnung und
l Weltzentrum der Mathematik war, gab diesen Anspruch zerstört. Die Wahrheiten
es Postkarten mit den Portraits seiner Helden sind weit davon entfernt, sämtlich beweisbar
zu kaufen – zum Beispiel von Hilbert. zu sein.

te Reisende von Cantor m erhält das Zimmer »Sie haben Recht, mein Herr«, sagt der Portier
mit der Nummer pmn, wobei pm die m-te Prim­ und senkt entschuldigend das Haupt. »Dieses
zahl ist. Und Sie wissen doch, die Eindeutigkeit Verfahren ist in der Tat rein theoretisch. Aber
der Primfaktorzerlegung …: p r = q s für unter­ eine winzig kleine Abwandlung macht es prak­
schiedliche Primzahlen p und q und natürliche tikabel.«
Zahlen r und s kommt einfach nicht vor. Also »Ich bin ganz Ohr.«
bekommen niemals zwei Reisende dasselbe Zim­ »Wir brauchen nur die beiden Primzahlen 2
mer zugewiesen.« und 3. Das ist einfach. Es genügt, dem n-ten
»Das schaffen Sie nicht in einer Nacht«, entgeg- Reisenden aus Cantor m das Zimmer mit der
net der Reisende. Nummer 2 n · 3 m zuzuweisen. Wieder rettet uns
»Ich habe es noch nicht ausprobiert. Aber wa­ die elementare Arithmetik. Ist m ≠ p oder n ≠ q,
rum nicht?« so ist 2 m3 n ≠ 2 p3 q. Also streiten sich nirgends
»Es gibt keine Formel, die einem die n-te Prim­ zwei Gäste um ein und dasselbe Zimmer. Und
zahl liefern würde, ohne dass man zuvor alle obendrein preist jeder die himmlische Ruhe;
kleineren Primzahlen bestimmt hätte. Man denn abgesehen von den kleineren Zimmernum­
kennt auch noch kein deterministisches Verfah­ mern logiert der nächste Schnarcher meistens
ren, das einem schnell und zuverlässig sagt, ob weit entfernt.«
eine Zahl prim ist oder nicht. Das Zerlegen ei­ »Genial«, sagt der Reisende, ehrlich beein-
ner sehr großen Zahl kann mehrere Millionen druckt, aber bemüht, den Redeschwall des
Neue Erlebnisse aus dem Cantor- Jahre dauern. Da werden die Leute aus Cantor Schlüsselgewaltigen nun wirklich zu beenden.
L i t e rat ur

land, Teil 1 und 2. Von Bernhard 1 000 000 ungeduldig, während Sie deren Zim­ »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht,
Strowitzki in: Spektrum der Wissen- mernummern ausrechnen; und die anderen un­ was Sie tun, wenn die Gäste unendlich vieler
schaft 4/2000, S. 112, und 5/2000,
S. 112 endlich vielen Gäste aus unendlich vielen Hotels Hotelketten mit jeweils unendlich vielen unend­
stehen auch noch Schlange.« lichen Hotels vor Ihrer Tür stehen?«

80 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)
Diskrete Spielereien
Lösungen zu den Aufgaben von Seite 69
1. Nennen wir die natürlichen Zahlen, die Eine n-stellige Zahl liegt zwischen 10n–1 Anfang: 0 6 9 9 2
keine Zwei enthalten, »zulässig«. Um die und 10n, ihr Kehrwert zwischen 1/10n und Zeile 1: 6 3 0 7 2
Summe der Kehrwerte der zulässigen Zahlen 1/10n–1, die Summe der Kehrwerte der n-stel- Zeile 2: 3 3 7 5 4

Vorperiode
zu bestimmen, gehen wir getrennt nach ein- ligen zulässigen Zahlen zwischen 8 . 9n–1 / 10n Zeile 3: 0 4 2 1 1
Zeile 4: 4 2 1 0 1
stelligen, zweistelligen, … Zahlen vor. = (8/10) . (9/10)n–1 und 8 . (9/10)n–1.
Zeile 5: 2 1 1 1 3
Für die erste Ziffer einer n-stelligen zuläs- Summiert man über alle n, so ergibt sich, Zeile 6: 1 0 0 2 1
sigen Zahl haben wir acht Möglichkeiten zur dass unsere unbekannte Summe nach unten Zeile 7: 1 0 2 1 0
Auswahl (alle außer 0 und 2), für alle anderen und oben durch eine geometrische Reihe mit Zeile 8: 1 2 1 1 1
Ziffern neun Möglichkeiten (alle außer 2). dem Faktor (9/10) abgeschätzt wird. Daraus Zeile 9: 1 1 0 0 0
Also gibt es insgesamt 8 . 9n–1 n-stellige zuläs- folgt, dass die Summe zwischen 8 und 80 Zeile 10 : 0 1 0 0 1
Zeile 11 : 1 1 0 1 1
sige Zahlen. liegt. Insbesondere ist sie endlich!
Zeile 12 : 0 1 1 0 0

Periode der Länge 15


Zeile 13 : 1 0 1 0 0
Zeile 14 : 1 1 1 0 1
2. Sehen wir uns an, was geschieht: Zeile 15 : 0 0 1 1 0
Ab Zeile 9 treten nur noch Einsen und Nullen auf. Von dieser Zeile an können also die Zeile 16 : 0 1 0 1 0
Differenzen nur noch die Werte 0 und 1 annehmen. Es gibt aber nur 25 = 32 verschiedene Zeile 17 : 1 1 1 1 0
Zeile 18 : 0 0 0 1 1
Folgen aus fünf Zahlen, die nur 0 und 1 enthalten. Spätestens nach 32 Zeilen stoßen wir also
Zeile 19 : 0 0 1 0 1
auf eine, die schon einmal da war, und von da an wiederholt sich das Muster der Zeilen im- Zeile 20 : 0 1 1 1 1
mer wieder aufs Neue (periodisch). Zeile 21 : 1 0 0 0 1
In unserem Fall stellen wir fest, dass die Zeile 24 mit der Zeile 9 identisch ist. Die Länge Zeile 22 : 1 0 0 1 0
Zeile 23 : 1 0 1 1 1
der Periode beträgt somit 15 Zeilen. Es ist aber 1992 = 8 + 132 . 15 + 4. Hieraus schließen
wir, dass die Zeile mit der Nummer 1992 identisch ist mit der vierten Zeile des periodischen Zeile 24 : 1 1 0 0 0
Zeile 25 : 0 1 0 0 1

Tangente
Musters: 0 1 1 0 0. Zeile 26 : 1 1 0 1 1

3. Der Schwerpunkt des Dreiecks mit den Der kleine Raum ist in der Tat sehr eng.
Eckpunkten A=(a1, a2, a3), B=(b1, b2, b3) und Er besteht aus den Punkten (a1, a2, a3), deren
C=(c1, c2, c3) ist gleich ihrer Summe, geteilt Koordinaten a1, a2 und a3 die Werte 0, 1 und
durch 3: 2 annehmen dürfen. Das sind insgesamt nur
33=27 Punkte, wie die Würfelchen eines Ru-
S=( (a1+b1+c1)/3, (a2+b2+c2)/3, (a3+b3+c3)/3)
bik-Würfels. Spätestens von 55 beliebigen
(Man addiert Punkte, indem man ihre Koor- Punkten des großen Raums müssen drei den-
dinaten addiert, wie bei der Vektoraddition.) selben Schatten haben, und das Dreieck aus
Der Schwerpunkt hat also genau dann ganz- diesen drei Punkten hat dann einen ganzzah-
zahlige Koordinaten, wenn alle drei Koordi- ligen Schwerpunkt, denn die Summe ihrer
natensummen a1+b1+c1, a2+b2+c2 und a3+b3+c3 Schatten ist (3a1, 3a2, 3a3)=(0, 0, 0).
durch 3 teilbar sind. Wir wissen also schon, dass n≤55 ist; ge-
Deswegen rechnet man »modulo 3«: Man sucht ist aber das kleinste n mit dieser Eigen-
betrachtet statt der Koordinaten selbst deren schaft. Andersherum gedacht: Man sucht mög-
Reste bei der Division durch 3. Man addiert lichst viele Punkte mit der Eigenschaft, dass
und multipliziert wie gewohnt, ersetzt aber je- kein aus diesen Punkten gebildetes Dreieck ei-
des Vielfache von 3 durch 0. Es kommen also nen ganzzahligen Schwerpunkt hat. Nennen
nur die Zahlen 0, 1 und 2 überhaupt vor, und wir diese größtmögliche Punkteanzahl m, so ist
1+2=0. n = m +1. Wir suchen also m Punkte im Schat-
Statt in dem großen diskreten Raum ar- tenraum mit der Eigenschaft, dass niemals die
beiten wir nun in dem »kleinen« Raum der Summe dreier Punkte gleich 0 ist. (Wir schrei-
Punkte modulo 3. Man sagt, wir »projizieren« ben einfach 0 für den Punkt (0, 0, 0). )
vom großen Raum in den kleinen, weil dieser Unter diesen m Punkten dürfen gewisse
Übergang einer Schattenbildung ähnlich ist. Punkte doppelt vorkommen; sie könnten ja
Insbesondere können zwei verschiedene Punk- Schatten verschiedener Punkte des großen
te des großen Raums durch die Projektion auf Raums sein. Deswegen sprechen wir nicht
denselben Punkt abgebildet werden. von einer Menge von Punkten, sondern von

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1) 81
y
Diskrete Spielereien – Lösungen z
einer »Familie«, was nichts weiter ist als eine
Menge, in der gewisse Elemente mehrfach vor-
den Punkt (1, 1) gehen. Aber eine Gerade
sieht nicht unbedingt gerade aus. Die drei
kommen dürfen. Wir nennen unsere Punkt­ grünen Punkte im Bild darunter liegen eben-
familie »frei«, wenn sie die gesuchte Eigen- so auf einer Geraden wie die drei roten, weil
(0, 2) (1, 2) (2, 2) schaft hat, nämlich dass niemals die Summe man sich – wir rechnen ja modulo 3 – belie-
dreier Punkte aus der Familie gleich 0 ist. big viele Exemplare dieser Ebene neben- und
Eine Familie, die drei gleiche Punkte ent- übereinander angeordnet vorstellen muss.
(0, 1) (1, 1) (2, 1) hält, ist nicht mehr frei, denn die Summe drei- Gleichwohl gilt wie in der gewöhnlichen Ge-
x er gleicher Punkte ist stets 0. Eine freie Fami- ometrie, dass durch zwei beliebige Punkte ge-
(0, 0) (1, 0) (2, 0) lie, die einen Punkt einfach enthält, bleibt frei, nau eine Gerade geht.
wenn sie denselben Punkt doppelt enthält, Von den neun Punkten dieser Ebene kann
denn das einzige neu hinzukommende Drei- man höchstens vier so auswählen, dass keine
eck, das die Freiheit verderben könnte, müsste drei auf einer Geraden liegen. Wählt man
eben diesen Punkt doppelt enthalten. Der drit- nämlich zwei Punkte aus (rot im unteren
te Punkt dieses Dreiecks müsste jedoch ein Bild), dann ist der dritte Punkt auf der Gera-
drittes Exemplar desselben Punktes sein, sonst den durch diese zwei Punkte nicht mehr
kann die Summe 0 nicht zustande kommen. wählbar (rotes Kreuz). Der dritte ausgewählte
Eine maximale (größtmögliche) freie Fa- Punkt (blau) sperrt dementsprechend zwei
milie enthält also jeden ihrer Punkte doppelt. weitere Punkte (blaue Kreuze), sodass der
Denken wir im Folgenden der Einfachheit zu- vierte gerade noch in die Ebene passt und die
liebe nur über »maximale Halbfamilien« nach, restlichen Punkte sperrt. Dass das allgemein
also solche, die von den doppelt vorhandenen gilt, bestätigt man, indem man die wenigen
Punkten einer maximalen Familie nur je eine möglichen Fälle durchprobiert.
Ausfertigung enthalten. Eine maximale freie Halbfamilie, die auf
Eine Halbfamilie ist genau dann frei, eine Ebene beschränkt ist, hat also genau vier
wenn keine drei Punkte aus ihr auf einer Ge- Elemente. Auf dieselbe Weise, nur mit we-
raden liegen. Denn im Schattenraum besteht sentlich mehr Fallunterscheidungen, findet
jede Gerade aus genau drei Punkten: a, a+b, man, dass man im gesamten Würfel höchstens
und a+2b; a+3b ist nämlich schon wieder neun Punkte so auswählen kann, dass keine
gleich a, denn 3b=0. Und die Summe aller drei auf einer Geraden liegen, zum Beispiel
drei Punkte einer Geraden ist stets null: (0, 0, 1), (0, 1, 0), (0, 1, 2), (1, 0, 1),
a+(a+b)+(a+2b)=3a+3b=0. Ebenso kann (1, 1, 0), (1, 1, 2), (2, 0, 0), (2, 0, 2) (2, 2, 1).
man nachrechnen: Wenn ein Dreieck im Dabei können die Geraden ziemlich schräg
Schattenraum den Schwerpunkt 0 hat, dann durch den Würfel verlaufen.
liegen seine Ecken auf einer Geraden. Damit ist das Problem gelöst: Eine maxi-
Christoph Pöppe

Das obere Bild links zeigt eine von drei male freie Halbfamilie im gesamten Würfel
Würfel­ebenen (die dritte Koordinate ist weg- hat genau neun Elemente, eine maximale freie
gelassen) mitsamt den vier Geraden, die durch Familie hat 18 Elemente, und n=19.

4. Es geht darum, eine Permutation f aus der Kenntnis ihres auch die Mitglieder von B bei der Anwendung von g unter sich
»Quadrates« g=f º f zu ermitteln. ( f º f bedeutet, die Abbil- bleiben müssen, bleibt als einzige Möglichkeit B=A, denn es
dung f zweimal hintereinander anzuwenden.) Nicht jede belie- steht keine andere dreielementige Teilmenge zur Auswahl. Dar-
bige Permutation g hat in diesem Sinne eine »Wurzel«. aus ergeben sich die Karten an den Zimmern 1, 3 und 15:
Man schreibt zunächst die (bekannte) Permutation g in
Form von »Bahnen« auf. Das sind die Wege, die einzelne Gäs- Sie sind in Zimmer 1 3 15
te durchlaufen würden, wenn das Zimmer-wechsle-dich-Spiel Ziehen Sie bitte um in Zimmer 15 1 3
unbegrenzt fortgeführt würde.
r  Herr Eins: 1 → 3 → 15 (→ 1 …)
r  Herr Zwei: 2 → 11 → 7 → 6 → 14 (→ 2 …) Entsprechend erschließt man aus der Bahn von Herrn Zwei:
r  Herr Drei durchläuft den Weg von Herrn Eins mit einer
Sie sind in Zimmer 2 11 7 6 14
Nacht Vorsprung und muss daher nicht eigens aufgeführt wer-
Ziehen Sie bitte um in Zimmer 6 14 2 11 7
den; Ähnliches gilt für die anderen hier nicht genannten Gäste.
r  Herr Vier: 4 → 10 → 16 → 12 (→ 4 …)
r  Herr Fünf: 5 → 8 → 9 → 13 (→ 5 …). Aus der Karte an Zimmer 4 wissen wir, dass die Bahn von
Die Gästeschar zerfällt also in vier Teilmengen, deren Mit- Herrn Vier von f in diejenige von Herrn Fünf abgebildet wird
glieder den Zimmertausch g jeweils unter sich ausmachen. und umgekehrt:
Eine dieser Teilmengen ist A={1, 3, 15}. Sie wird von der ge-
Sie sind in Zimmer 4 5 10 8 16 9 12 13
suchten Permutation f auf eine ebenfalls dreielementige Teil-
Ziehen Sie bitte um in Zimmer 5 10 8 16 9 12 13 4
menge B abgebildet, und B wird von f auf A abgebildet. Da

82 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


q SPEZIAL 2/05: UNENDLICH (PLUS 1)

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