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Unendlich
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highlights 2/10
(plus eins)
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Editorial z Erweitern Sie
Ihren Horizont.
Christoph Pöppe
Und zwar ins
Redakteur bei
Spektrum der Wissenschaft
Unendliche!
Es gibt ein Leben
nach dem Unendlichen
Das Kontinuum S. 60
Was ist nach der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen
das nächstgrößere Unendliche? Kurt Gödel (links) nahm
die Antwort auf die Kontinuumshypothese vorweg
Rekursive Verfahren S. 16
Es genügt, dem Computer zu sagen, wie man eine Karte
richtig in einem bereits sortierten Stapel einsteckt. Damit
ist das Sortierungsproblem schon in voller Allgemeinheit
gelöst – theoretisch wie praktisch
Editorial 3
Impressum 31 Paradoxien
Das Paradox von Jules Richard 40
Technik des Unendlichen Es ist erstaunlich schwer, eine Zahl mit Worten zu definieren
Von Francis Casiro und Gilles Cohen schen Sinn (oder auch »Funktion«) nur ver-
langt wird, dass jedem Element der ersten
W
ie kann ich mich vergewissern, Menge ein Element der zweiten Menge zuge-
dass ich an beiden Händen gleich ordnet wird – genau eins, nicht weniger und
viele Finger habe? Ganz einfach: nicht mehr –, muss für eine Bijektion auch
Ich lege die Finger aufeinander, Daumen auf das Umgekehrte gelten. Insbesondere werden
Daumen, Zeigefinder auf Zeigefinger und so bei der so vorgenommenen Zuordnung weder
weiter. Jeder rechte Finger liegt genau auf ei- zwei verschiedene Elemente der ersten Menge
nem linken Finger, und umgekehrt. Kein Fin- »in einen Topf geworfen«, noch wird ein Ele-
ger ist doppelt belegt, und keiner bleibt übrig. ment der zweiten Menge vergessen.
Das genügt, um zu wissen, dass ich rechts wie Mengen, zwischen denen es eine Bijektion
links gleich viele Finger habe. gibt, heißen »gleichmächtig«. Welch ein groß-
Das uralte, biedere Prinzip des Abzählens mächtiges Wort für eine einfache Sache!
ist nicht auf Finger (als Objekte) und Finger Wenn ich eine Menge mit meinen fünf Fin-
(als Zählhilfsmittel) beschränkt. Der chaldäi- gern abzählen kann, hat sie fünf Elemente.
sche Schäfer vergewisserte sich nach der Rück- Allgemein haben zwei Mengen gleich viele
kehr von der Weide, dass er kein Tier verloren Elemente, wenn es eine Bijektion zwischen
Für jedes Schäfchen ein hatte, indem er für jedes Tier, das in den Pferch ihnen gibt. Wozu der begriffliche Aufwand?
u Steinchen: Schäfchenzäh- eintrat, einen kleinen Stein (calculus) aus einem Um auch mit Mengen umzugehen, für die
len ist die einfachste Art der bi- Umhängebeutel herausnahm. Diese Zuord- man nicht mehr von der »Anzahl der Elemen-
jektiven Zuordnung. Sie funkti- nung konnte scheitern; am Ende blieb viel- te« sprechen kann: unendliche Mengen.
oniert auch ohne Zahlbegriff. leicht ein Stein übrig (schlecht) oder ein über- Der Begriff der Mächtigkeit stammt von
zähliges Schaf wanderte in den Pferch (gut). Georg Cantor, dem »Vater der Mengenlehre«.
Inzwischen ist der Beutel des Schäfers In seinen »Grundlagen einer allgemeinen
durch einen abstrakten und unerschöpflichen Mannigfaltigkeitslehre« von 1883 schreibt er:
Beutel ersetzt worden, nämlich die Folge der »Jeder wohl definierten Menge kommt …
natürlichen Zahlen. Der Akt des Zählens aber eine bestimmte Mächtigkeit zu, wobei zwei
hat sich nicht verändert. Nach wie vor geht es Mengen dieselbe Mächtigkeit zugeschrieben
darum, ausdrücklich oder stillschweigend das wird, wenn sie sich gegenseitig eindeutig, Ele-
herzustellen, was die Mathematiker eine Bi- ment für Element, einander zuordnen lassen.«
jektion nennen.
Die mathematische Definition dieses Be- Injektion, Surjektion, Bijektion
griffs wirkt zunächst abschreckend, so als wür- Wie stellt der Theaterdirektor fest, ob sein
de man unnötig viele und schwierige Worte Haus ausverkauft ist? Er muss sich von zwei
um eine einfache Sache machen: verschiedenen Dingen überzeugen:
»Eine Abildung von einer Menge in eine r Kein Sitzplatz ist unbesetzt;
zweite Menge ist eine Bijektion, wenn jedem r kein Sitzplatz ist von mehr als einer Person
Element der zweiten Menge ein und nur ein besetzt: keine Kinder auf dem Schoß, keine
oday / Superbild
Element der ersten Menge zugeordnet ist.« eng umschlungenen Liebespaare, nirgends
Anstelle von Bijektion spricht man auch prügeln sich zwei Leute um einen Sitz, weil
von einer bijektiven, eineindeutigen, umkehr- Karten fehlerhaft ausgestellt wurden.
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bar eindeutigen oder Eins-zu-eins-Abbildung. Dieses Beispiel zeigt, dass für jede bijek
Während für eine Abbildung im mathemati- tive Zuordnung – hier zwischen Theaterbesu-
Die Zahl Sieben spielt in der Geschichte, den Religionen, den Traditi
onen, den Legenden, den Erzählungen und den Mythologien der
AKG Berlin (Jacopo Alberegno, die Hure Babylon und der siebenköpfige Drache, 1380; Galleria dell‘ Accademia, Venedig)
Warum wohl? Vielleicht ist der Grund ganz einfach. Die Psy
chologie lehrt uns, dass der Mensch bei mehr als sieben gleich
artige Gegenständen nicht mehr spontan ihre Anzahl wahr
nehmen kann: Er muss zählen. Unsere Fähigkeit, spontan
Bijektionen herzustellen, kann also diese Schicksalszahl nicht
überwinden. Die Kunst des Zählens, ja die ganze Arithmetik
geht aus dem Versuch hervor, diese natürliche Beschränkung
des Menschen zu überwinden.
Tangente
punkt T in [0, 60] der Zeitpunkt T/60 in doch gleich« auf S. 52). 0 1
[0, 1] zuordnen; das liefert uns die Umkeh- Seien (x, y) die Koordinaten eines Punktes
rung unserer Abbildung. Also ist sie auch sur- in dem offenen Quadrat ]0, 1[ × ]0, 1[ mit den
jektiv. Damit ist die Gleichmächtigkeit der Dezimalbruchentwicklungen x = 0,x0x1x2… Kaum zu glauben, aber
beiden Zeitintervalle bewiesen. und y = 0,y0 y1 y2… Diesem Punkt ordnet man o wahr: Das Quadrat ABCD
Nach diesem Vorbild lässt sich auch be den Punkt 0,x0 y0 x1 y1 x2 y2… des offenen In- enthält »genauso viele« Punk-
weisen, dass die nachfolgenden Intervalle paar- tervalls ]0, 1[ zu. Die so definierte Abbildung te wie das Intervall ]0, 1[.
weise gleichmächtig sind (für c ≠0) : [0, 1] und ist offensichtlich injektiv.
[0, c] (die Bijektion ist x cx), [a, b] und Betrachten wir nun eine reelle Zahl z aus
[0, b–a] (mit der Bijektion x x–a). Indem ]0, 1[ mit z =0,z0 z1z2z3z4z5… Dieser Punkt ist
man mehrere dieser Bijektionen hintereinan- das Bild desjenigen Punktes im offenen Qua-
der schaltet, beweist man, dass zwei beliebige drat ]0, 1[ × ]0, 1[, der die Koordinaten
abgeschlossene Intervalle der reellen Geraden, 0,z0 z2z4… und 0,z1z3z5… hat. Damit wäre die
die nicht nur aus einem Punkt bestehen, Surjektivität bewiesen, wenn es nicht ein klei-
gleichmächtig sind. Ob klein oder groß: Man nes technisches Problem gäbe: Die reelle Zahl
kann sie alle mit einer geeigneten Lupe (der 0,909090… müsste das Bild des Punktes
Bijektion x cx) betrachten, sodass sie gleich (0,999…, 0,000…) = (1, 0) sein; dieser Punkt
groß aussehen, und das ändert nichts an der liegt nicht mehr im offenen Quadrat, sondern
»Anzahl« ihrer (unendlich vielen) Punkte. an dessen Rand. Dasselbe Problem hat man
Es wird jedoch noch erstaunlicher. Auch mit allen Zahlen der Form 0,9y09y19y2…, wel-
Intervalle, die bis ins Unendliche reichen, ha- che sämtlich Bilder von Punkten am rechten
ben nicht wirklich mehr Punkte. So sind die Rand des Quadrats sind (BC im Bild rechts).
beiden Intervalle ]0, 1[ und ]1, +∞[ gleich- Unsere Abbildung des offenen Quadrats
mächtig, wie die Bijektion x 1/x beweist. ]0, 1[ × ]0, 1[ auf das Intervall ]0, 1[ ist al-
(Die auswärts gerichteten eckigen Klammern so injektiv, aber nicht surjektiv und damit
bezeichnen »offene« Intervalle, das heißt un- auch nicht bijektiv. Aber dieses Resultat ist so-
ter Ausschluss der Ränder. ]0, 1[ ist das Inter- gar stärker als das angekündigte. Das »dicke«
vall von 0 bis 1 ohne die Zahlen 0 und 1 Quadrat hat nicht mehr Punkte als das »dün-
selbst.) Indem man die erwähnten Bijektio- ne« Intervall, was für sich schon erstaunlich
nen hintereinander ausführt, beweist man, genug ist, es hat sogar noch ein paar weniger.
dass zwei beliebige offene nichtleere Intervalle Damit ist der schwierige Teil erledigt. Die
der reellen Geraden stets gleichmächtig sind! verbleibenden Unstimmigkeiten klärt der Satz
von Cantor-Schröder-Bernstein: »Wenn es
Reise in einen zweidimensionalen Raum eine Injektion von A nach B gibt und eine
Na gut, werden Sie sagen, dann sind eben alle von B nach A, dann existiert eine Bijektion
Teilstücke der reellen Geraden, endlich oder zwischen A und B.« Eine injektive Abbildung
unendlich lang, offen oder geschlossen, im vom Quadrat ins Intervall haben wir oben an-
Wesentlichen gleich groß, was ihre Mächtig- gegeben, und eine injektive Abbildung vom
keit als Mengen angeht. Aber die Ebene hat Intervall ins Quadrat ist nicht schwer zu fin-
doch die Dimension 2. Sie enthält unendlich den. Man nehme beispielsweise x (x, 1/2).
viele Geraden, die untereinander keinen Punkt Allgemein kommt es für die Mächtigkeit
gemeinsam haben; also muss ihre Mächtigkeit von Punktmengen nicht auf deren Dimension
doch größer sein als die des Kontinuums? an. Jede Menge auf der Geraden, in der Ebe-
Falsch. Die beiden Punktmengen sind gleich- ne oder im Raum, die zumindest ein – belie-
mächtig. big kleines – Intervall beziehungsweise einen
Der Beweis dieses außergewöhnlichen Sat- Kreis oder eine Kugel enthält, hat die Mäch-
zes stammt von Georg Cantor. Wir beschrän- tigkeit des Kontinuums.
Von Norbert Verdier schöpfend ab, weswegen sie häufig auch »voll
ständige Induktion« genannt wird. Dieser
S
tellen wir uns ein Kind vor, das eine Schluss vom Speziellen auf das (unendliche)
Treppe mit unendlich vielen Stufen hi Allgemeine gelingt, wohlgemerkt, mit endli
naufsteigen möchte. Es sollen abzählbar chen Mitteln.
unendlich viele Stufen sein, sodass man sie Wegen dieser wünschenswerten Eigen
zählen kann: 1, 2, 3, … schaften ist das Induktionsprinzip zu einem
Auch der längste Weg beginnt mit dem Eckpfeiler der Mathematik avanciert. Es ist
ersten Schritt. Aber wenn das Kind die erste nicht nur das Standard-Beweismittel für alles,
Stufe erklettern kann und über ein Rezept was es über die natürlichen Zahlen zu sagen
verfügt, um von einer beliebigen Stufe zur gibt; sogar die natürlichen Zahlen selbst wer
nächsten zu kommen, dann kann es hinauf den auf induktivem Wege definiert.
steigen bis zu jeder beliebigen Höhe – zumin Das Prinzip der vollständigen Induktion
dest in der Theorie. lässt sich folgendermaßen formulieren:
Das ist es, was die Mathematiker Induk Es soll eine gewisse Aussage A für alle natürli
tion nennen. Eigentlich bedeutet das Wort chen Zahlen bewiesen werden. Wenn
»Schließen vom Speziellen auf das Allgemei r a) die Aussage A für die Zahl 0 gilt und
ne«, zum Beispiel von den ersten paar Trep r b) man aus der Gültigkeit der Aussage A
penstufen auf die ganze unendliche Treppe. Im für eine beliebige Zahl n ihre Gültigkeit für
Gegensatz dazu versteht man unter Deduktion die nachfolgende Zahl n + 1 schließen kann,
das Schließen vom Allgemeinen auf das Spezi dann gilt sie für alle natürlichen Zahlen.
elle: Man ist im Besitz einer allgemeinen, abs (In diesem Kontext pflegt man die Null als
trakten Wahrheit (»alle Vögel schlüpfen aus Ei natürliche Zahl anzusehen. Dass die Indukti
ern«) und leitet daraus eine Einzelfallaussage on bei 0 beginnt, ist allerdings nicht entschei
her (»dieses Huhn ist aus einem Ei ge dend. Wenn die Aussage A statt für die Null
schlüpft«). für die Zahl, sagen wir, 13 bewiesen wird und
Induktives Denken ist das tägliche Brot des Teil b des Beweises weiterhin Bestand hat,
Experimentalphysikers oder auch des Biologen: folgt eben die Gültigkeit der Aussage für alle
Er beobachtet Fakten, also Einzelfälle, um aus natürlichen Zahlen, die größer oder gleich 13
ihnen allgemeine Gesetze abzuleiten. Studiert sind.)
man Tausende von Raben, so gelangt man zu Ein Induktionsbeweis besteht aus drei
dem allgemeinen Gesetz »Alle Raben sind Teilen:
Spektrum der Wissenschaft / meganim
schwarz«. Weitere Beobachtungen können die r dem Induktionsanfang (Teil a oben): Man
ses Gesetz bestätigen. Aber die Induktion des zeige, dass das Kind die erste Treppenstufe er
Experimentators ist stets von der Widerlegung klettern kann;
bedroht: Ein einziger weißer Rabe zerstört die r dem Induktionsschritt (Teil b oben): Man
Universalität des Gesetzes. Die Serie der Beob zeige, wie das Kind von einer beliebigen Trep
achtungen ist niemals abgeschlossen. penstufe auf die nächsthöhere kommt;
Im Gegensatz dazu muss man sich bei der r und dem stets gleichen Induktionsschluss,
mathematischen Induktion um irgendwelche der Bestätigung, dass aus den Teilen a und b
Die unendliche Treppe Gegenbeispiele keine Sorgen machen. Sie die Gültigkeit der Aussage für alle natürlichen
o der Induktion deckt alle unendlich vielen Einzelfälle er Zahlen folgt.
der Zellen von der unteren bis zum unteren 45 Grad im Uhrzeigersinn, so
Ende der Basis, jeweils einschließlich.« In nimmt sie die uns vertraute
heutiger Formelsprache ausgedrückt: Form an. Jede von links unten
nach rechts oben verlaufende
Zahlenreihe nennt Pascal eine
»Basis«.
Der dritte Teil wird häufig nicht ausdrück r Induktionsanfang: Es geht darum, die
lich erwähnt; zahlreiche Mathematiker ver Gültigkeit der Formel für eine erste Zahl zu
wenden die Bezeichnung »Induktionsschluss« bestätigen. In unserem Fall ergibt sich für
für den zweiten Teil. n = 1 auf beiden Seiten der Gleichung die
Zahl 1. Also gilt A(1). Nebenbei bemerkt ha
Ein Beispiel für einen Induktionsbeweis ben wir mit unseren Probierrechnungen die
Was ist die Summe der ersten n ungeraden Aussagen A(2), A(3) und A(4) bewiesen.
natürlichen Zahlen? Probieren wir ein biss r Induktionsschritt: Wir haben zu bewei
chen herum. Die erste ungerade natürliche sen, dass unsere Aussage erblich ist, dass also
Zahl ist 1. Weiter geht es mit der Summe der für jedes n aus A(n) die Aussage A(n+1) folgt.
ersten zwei, drei, vier … ungeraden Zahlen: Wir machen daher die so genannte Indukti
onsannahme: »Vorausgesetzt sei, dass A(n) für
1 + 3 = 4,
ein gewisses n gelte«, und beweisen unter die
1 + 3 + 5 = 9,
ser Annahme die Gültigkeit von A(n+1), das
1 + 3 + 5 + 7 = 16,
heißt der Gleichung
…
1 + 3 + 5 + … + (2n –1) + (2n +1) = (n + 1)2.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Summe
der ersten n ungeraden Zahlen genau n2 ist: Die linke Seite dieser (noch zu beweisenden)
2 Gleichung besteht aus der Summe der ersten
1 + 3 + 5 + … + (2n – 1) = n
n ungeraden Zahlen, welche nach Induktions
Diese Aussage, nennen wir sie A(n), möchte annahme gleich n2 ist, plus (2n+1), der
man für alle n beweisen. Wenden wir die drei (n+1)-ten ungeraden Zahl. Unter Verwen
Teile des Induktionsbeweises an: dung der Induktionsannahme erhält man also
Ullsteinbild / Roger-Viollet
Zeit, hat sich in seinem Buch »La Science et l‘hypothèse«
(»Wissenschaft und Hypothese«, Teubner, Leipzig 1906) aus
führlich zum Induktionsprinzip geäußert. Hier einige Auszüge:
für die linke Seite der Gleichung Gleichwohl halten viele Wissenschafts
2 historiker Pascal nicht für den Entdecker der
1+3 + 5 + …+ (2n – 1) + (2n + 1) = n + 2n + 1.
vollständigen Induktion. Er selbst bezieht
Aber nach der binomischen Formel ist sich in seinen Schriften auf Francesco Mau
n2 + 2n + 1 = (n + 1)2, womit unsere Gleichung rolico (1494 –1575). Aus dem ersten Buch
bewiesen ist. von dessen »Arithmetik« kann man die Vor
r Induktionsschluss: Wir ziehen Bilanz. aussetzungen für die Anwendung der voll
Durch vollständige Induktion haben wir be ständigen Induktion herauslesen; allerdings
wiesen, dass die Summe der ersten n ungera könnte es sein, dass der moderne Leser dabei
den Zahlen gleich n2 ist. die Ideen Maurolicos überinterpretiert. An
Übrigens gibt es hierfür auch einen direk dere Mathematikhistoriker datieren die Ent
ten Beweis, der keine Induktion verwendet. deckung der vollständigen Induktion noch
Der Leser ist eingeladen, ihn zu suchen. Es ist früher, nämlich in die Zeit der arabischen
zweckmäßig, zuerst über einen Beweis für die und persischen Mathematiker im 11. Jahr
Formel nachzudenken, welche die Summe der hundert.
ersten n (geraden wie ungeraden) natürlichen Induktionsbeweise, die heutigen Anforde
Zahlen liefert. rungen an logische Strenge genügen, gibt es
erst seit dem 19. Jahrhundert. Denn erst Giu
Pascal, Peano und die anderen seppe Peano (1858 – 1932) gab eine strenge
Der Erste, der das Induktionsprinzip in aller axiomatische Konstruktion der natürlichen
Klarheit zu Papier gebracht hat, war Blaise Zahlen an.
Pascal (1623 – 1662). In seinem kurzen, wild Das Unterfangen, mit endlich vielen Wor
bewegten Leben leistete er bedeutende Beiträ ten die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen
ge zu Philosophie, Theologie, Physik und Ma zu erfassen, kann nicht gelingen, indem man
thematik, darunter den »Traité du triangle unendlich viele natürliche Zahlen einzeln de
arithmétique« von 1654. Das »arithmetische finiert. Vielmehr muss man sich darauf be
Dreieck«, von dem dieses Werk handelt, ken schränken, ein Rezept anzugeben, welches im
nen wir heute als das Pascal’sche Dreieck, und Bedarfsfall jede natürliche Zahl, und sei sie
Pascal verwendete die Induktion, um einige noch so groß, zu definieren gestattet. Dieses
Eigenschaften der Einträge in diesem Dreieck Rezept besteht darin, zu einer natürlichen
(der Binomialkoeffizienten) zu beweisen (sie Zahl deren Nachfolger zu konstruieren: ein
he Kasten S. 11). Induktionsprinzip.
Nach der modernen, von Peano inspirier Erraten kann uns die Induktion nicht abneh
ten Auffassung ist alles, was man über die na men, und es ist nicht immer so einfach wie im
türlichen Zahlen sagen kann, aus dem Indukti Falle der Summe der ersten ungeraden Zahlen.
onsprinzip herzuleiten. Dieses Prinzip selbst Nehmen wir ein weniger elementares Bei
folgt allerdings nicht aus elementaren Axiomen spiel: Was ist die Summe der ersten n Kuben?
der Logik; man muss es als ein eigenes Axiom
Sn = 13 + 23 + 33 + … + n3 ?
postulieren. In einer modernen Formulierung
lautet das Induktionsaxiom: Enthält eine Teil Für die ersten Werte von n findet man:
menge P von (der Menge der natürlichen
S1 = 1, S2 = 9, S3 = 36, S4 = 100, S5 = 225
Zahlen) die Zahl 0 und mit jeder natürlichen
Zahl deren Nachfolger, so ist P gleich . Könnten Sie mit Hilfe dieser Ergebnisse eine
Während die formalen Logiker es für nötig allgemeine Formel erraten? Die Antwort liegt
halten, dieses Axiom ausdrücklich einzufüh nicht gerade auf der Hand. Mit etwas Erfah
ren, sieht der Praktiker keinen Anlass, an sei rung, Beobachtungsgabe und Fantasie, viel
ner Wahrheit zu zweifeln. Dass ein Rezept, leicht auch noch ein paar mehr Probierrech
von dessen Funktionieren man sich überzeugt nungen kommt man auf die Vermutung
hat, unbegrenzt oft anwendbar ist, scheint kei Sn = n2(n+1)2/4. Einmal gefunden, ist sie nicht
ner Begründung zu bedürfen, wie Henri Poin allzu schwer mit Induktion zu beweisen. Was
caré mit starken Worten darlegte (siehe Kasten aber, wenn man sie nicht findet?
oben). Der Versuch scheitert bereits, wenn man
eine Formel für die Summe der ersten Poten
Stärken und Schwächen der Induktion zen nicht für einen konkreten Exponenten,
Die große Stärke der Induktion liegt darin, sondern in voller Allgemeinheit sucht: Für
dass man auf systematische Weise – mit den eine Summe der Form 1p + 2p + 3 p + … +np
drei oben beschriebenen Teilschritten – Aussa hilft kein Ausprobieren, dessen Ergebnis man
gen für (abzählbar) unendlich viele Objekte durch Induktion bestätigen könnte. Hier
(Zahlen) beweisen kann. Einige Schwachpunk muss man einen völlig neuen Zugang suchen.
te sollen dabei nicht verschwiegen werden. Dies ist die größte Schwäche der Indukti
Im Beispiel oben haben wir zunächst eini on. Sie ist kein Entdeckungsmittel (siehe je
ge Zahlen ausprobiert, daraufhin eine allge doch den Beitrag »Rekursive Verfahren« auf S.
meine Formel geraten und erst dann diese For 16). Gleichwohl bleibt sie eine der stärksten
mel mit vollständiger Induktion bewiesen. Das Waffen im Arsenal der Mathematik.
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Pierre de Fermat, der Begründer der modernen Zahlen-
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M. C cher
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theorie, erfand vor 300 Jahren eine Methode, um unend-
. Es
201 rits C
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lich viele Aussagen auf einmal zu widerlegen.
0, T
Mau
Von Daniel Barthe ausgedrückt, die Menge M aller Zahlen n, für
die A(n) zutrifft, sei nicht leer. Dann hat M
D
er oben stehenden Lithografie »Trepp ein kleinstes Element (siehe oben).
auf und treppab« (1960) von Mau Wir versuchen nun, eine Behauptung der
rits C. Escher (1898 – 1972) liegt folgenden Art zu beweisen: Wenn die Aussage
eine optische Illusion zu Grunde. Entdeckt A(n) für eine gegebene Zahl n zutrifft, dann
haben sie 1958 der englische Genetiker Lio trifft sie auch für eine echt kleinere Zahl (zum
Von Hervé Lehning einzufügen, sowie sie höherwertig ist als die
Vergleichskarte. In dem Beispiel links unten
D
ie Induktion (vergleiche den Beitrag ist die neue Karte, die Pik Zehn, nach der
»Induktion« auf S. 10) ist ohne Zwei- zweiten einzufügen.
fel ein äußerst wirkungsvolles Hilfs- Natürlich ist die Anzahl 4 willkürlich. Wir
mittel. Mit ihr kann man mitunter in drei können auf dieselbe Weise in ein Spiel beliebi-
Zeilen Beweise führen, die auf anderem Wege ger Größe eine neue Karte einfügen. Also ha-
einen weit höheren Aufwand erfordert hätten. ben wir, getreu dem Induktionsprinzip, die
Zudem befriedigt sie das ästhetische Empfin- Aufgabe, n +1 Karten zu sortieren, auf die Auf-
den des Logikers, der es schätzt, wenn alle Ge- gabe, n Karten zu sortieren, zurückgeführt.
dankenschritte auf wenige Axiome zurück- Um das deutlich zu machen, schreiben wir
führbar sind. dieses Verfahren so, wie man ein Unterpro-
Beim Praktiker bleibt jedoch manchmal gramm für einen Computer schreiben würde.
ein schaler Nachgeschmack. In seinem Be- Unser Programm Sort soll ein Kartenspiel
wusstsein besteht die eigentliche kreative Ar- entgegennehmen und es sortiert zurückgeben.
beit im Aufstellen der Formel, und der Induk- Was weiter mit dem Kartenspiel geschieht,
tionsbeweis ist nichts weiter als eine Art amt- bestimmt das übergeordnete Programm,
liche Bestätigung der Korrektheit – wichtig welches das Programm Sort aufgerufen hat.
und notwendig, aber keine nennenswerte geis-
tige Leistung. Sort(T):
Das hieße nun wieder das Induktionsprin- Wenn die Anzahl n der Karten gleich 1 ist,
zip zu unterschätzen. Es gibt Fälle, in denen gib T unverändert zurück (denn es gibt
es tatsächlich genügt anzusagen, wie man von nichts zu sortieren);
Das langsame Verfahren: n nach n +1 kommt, und damit ist die ganze ansonsten nimm das letzte Element x von T
u Einfügen einer Karte Arbeit erledigt! Im Prinzip. Die Ausführung weg; dadurch entsteht das Spiel T’; gib
nach der anderen im Detail überträgt man zweckmäßig einem Einfüge(x,Sort(T’)) zurück.
Computer. Die Rede ist von rekursiven Un-
terprogrammen. (Computerexperten erkennen in dieser
Schreibweise die »If-then-else«-Konstruktion
Sortieren durch Einfügen klassischer Programmiersprachen wieder.)
Wir alle verfahren nach diesem Prinzip, wenn Einfüge(x,U) ist ein weiteres Unterpro-
wir ein Kartenspiel sortieren. Stellen Sie sich gramm, das eine Karte x und ein bereits sor-
vor, Sie wissen, wie man vier Karten in die tiertes Spiel U entgegennimmt und das Spiel
alle Abbildungen: spektrum der wissenschaft
richtige Reihenfolge bringt: links die höchste U mit der an der richtigen Stelle eingefügten
Karte und dann absteigend bis zur niedrigs- Karte x zurückgibt. Die kurze Anweisung »gib
ten. Das Ass ist die höchste Karte, es folgen Einfüge(x,Sort(T’)) zurück« bedeutet
König, Dame, Bube, 10, 9, …, 3, 2. Wenn also: Das Unterprogramm Sort ruft das Un-
man Ihnen nun eine fünfte Karte gibt, was terprogramm Sort (jawohl, sich selbst) auf,
machen Sie dann? Sie fügen sie in das bereits indem es ihm das Spiel T ’ übergibt. Das Er-
sortierte Spiel ein. Hierzu genügt es, die neue gebnis reicht es mit der Karte x an das Pro-
Karte von links nach rechts mit jeder der be- gramm Einfüge weiter, und dessen Ergebnis
reits sortierten Karten zu vergleichen und sie gibt es an das aufrufende Programm zurück.
Tangente
Von Daniel Barthe
Die divergenten Reihen sind allesamt eine Erfindung des Teufels ... Mit
Ausnahme der allereinfachsten Fälle, beispielsweise der geome-
trischen Reihen, gibt es in der gesamten Mathematik kaum eine unend-
liche Reihe, deren Summe streng bestimmt ist. Niels H. Abel, 1826
Teleskopreihen
Tangente
»Beweis« ohne Worte
o von Sunday A. Ajose:
Die geometrische Reihe 1/4 +
1/16 + 1/64 + 1/256 + … konver-
giert gegen 1/3.
siehe
= ln 2
5 6 7 8
1
(ln bezeichnet den Logarithmus zur Basis e,
den »natürlichen Logarithmus«)
4
5
1 – 1 2
5 6 3
4
1 – 1 7 1
3 4 1 – 1
7 8 2
1– 1
2
Tangente
0,6 0,8 1 5 3 7 2
4 2 4
Z
+ 56 +4 1 + x + x 2 + x 3 + x 4 +… = 1/(1 – x),
+ 112 +8
ur Einstimmung auf ein merkwürdi
+ 224 +16 ges Thema möchte ich Ihnen zwei (siehe auch Kasten S. 27), so ergibt sich
+ 448 +32 merkwürdige unendliche Additionen
+ 896 +64 S = 7 · (2 /100) · (1/(1 – 2 /100))
+ 1792 +128 präsentieren.
= (7 · 2 · 100) /(98 · 1 · 100)
+ ..... +256 Die erste: Man schreibe die Zahl 14 auf,
+512 = 14/98 = 1/7.
1 1 1 verdopple sie und schreibe das Ergebnis 28
+1024
+2048 um zwei Stellen nach rechts verschoben da Kein Wunder, dass wir beide Male dieselbe
+4096 runter. Man verdopple die nun zuunterst ste Ziffernfolge vorfinden.
+8192
+16384
hende Zahl, schreibe das Ergebnis um zwei Das ging überraschend einfach. Um die
Pour la Science
+32768 weitere Stellen nach rechts verschoben darun ses erste Rätsel zu lösen, brauchen wir weder
+..... ter, und so weiter. Dann addiere man alle die errechneten Dezimalstellen zu kennen
...052631578947368421052631578947368421
diese unendlich vielen Zahlen auf (Bild links). noch zu wissen, dass das Endergebnis perio
Es ergibt sich 142857142857142857… Die disch ist. Wir müssen noch nicht einmal
ses Muster wiederholt sich bis ins Unendliche. im Dezimalsystem dividieren oder addieren
Dieselbe Ziffernfolge erhält man, wenn man können.
1 durch 7 teilt: Das vermeintliche Wunder – lauter kom
plizierte Zahlen ohne offenkundige Regelmä
1/7 = 0,142857142857142857…
ßigkeit aufaddiert ergeben eine periodische
Warum? Ziffernfolge – ist gar keines. Aber das sieht
Die zweite Addition: Wir beginnen mit man erst, wenn man sich nicht in den unend
der Zahl 1, verdoppeln wieder in jedem lichen Sumpf dieser Additionsaufgabe hinein
Schritt, sodass sich die Zweierpotenzen erge ziehen lässt, sondern einen abstrakten Satz
ben, verschieben aber dieses Mal in jeder Zei anwendet.
le um eine Stelle nach links. Auch hier ergibt Es folgen einige Variationen über das erste
sich bei der Addition eine periodische Ziffern Rätsel. Die erste stammt von Paul Hermann.
folge. Es handelt sich um die Dezimalstellen Man beginnt mit 97; in jedem Schritt wird
des Bruchs das Ergebnis verdreifacht und um zwei Stellen
nach rechts verschoben:
1/19 = 0,0526315789473684210526315789
47368421…
97
Warum? + 291
Das erste Rätsel ist wie folgt zu lösen. + 873
Denken wir uns eine Null und ein Komma + 2619
links von der 14. Dann ist die unendliche + 7857
Summe, die wir ausrechnen, + 23571
+ 70713
S = 7 · (2/100 + (2/100)2 + (2/100)3 + …).
+ 212139
In der Klammer steht die Summe einer geo + ......................
metrischen Reihe. Verwendet man hierfür die 99999999999999999
Die Addition unendlich vieler dekadischer Zahlen hat gelegentlich Die dekadische Division ist gewöhnungsbedürftig:
überraschende Ergebnisse:
… 3333333333333333 : … 1212121212121212121
+ 9 – … 6363636363636363 = … 428571428571428573
+ 90 … 6969696969696970
+ 900 … 696969696969697
+ 9000 – … 848484848484847
+ 90000 … 848484848484850
+ …………… … 84848484848485
= … 999999999999 …………….
Andererseits ist … 99999999999 + 1 = 0. Folglich ergibt sich Bei der üblichen Division geht es darum, nacheinander von
das seltsame Resultat: links nach rechts alle Ziffern des Dividenden zu null zu machen,
indem man geeignete Vielfache des Divisors subtrahiert. Bei
9 + 90 + 900 + 9000 + 90000 + … = –1 dekadischen Zahlen muss man die Ziffern des Dividenden von
rechts nach links zu null machen!
Weil aber … 999999999999 = 9 · (… 111111111111) gilt, erhält Man betrachte die letzte Ziffer des Dividenden, also die 3.
man als Ergebnis: Um diese zu null zu machen, ziehe man 3 · … 21212121212121
= … 636363636363636363 von … 3333333333333 ab. Es
… 111111111111 = – 1/9 bleibt … 696969696970. Man streicht die Null und arbeitet mit
dem Rest … 696969696969697 weiter. Da die letzte Ziffer eine
Damit eine unendliche Summe gebildet werden kann, ist not 7 ist, zieht man das Produkt 7 · 21212121212121 = … 48484848
wendig und hinreichend, dass die Anzahl der Nullen am Ende 484847 ab. Man findet … 8484848484848450. Wieder streicht
der zu addierenden Zahlen immer mehr zunimmt. Das erlaubt man die Null. Das liefert: … 84848484848485. Hier lautet die
es auch, die Multiplikation dekadischer Zahlen zu definieren. letzte Ziffer 5. Dann zieht man das Produkt 5 · 21212121212121 =
… 606060606060605 ab. Und so weiter.
Man multipliziert dekadische Zahlen nach der Schulmethode: lin Die Probe durch Multiplizieren ergibt
ker Faktor mal jede einzelne Stelle des rechten Faktors, stellen ... 1212121212121212121 · ... 428571428571428573
richtig untereinander geschrieben und aufaddiert. Allerdings = ... 3333333333333333,
gibt es hierbei kein Ende: wie es sein muss.
7
+ 35
+ 175
+ 875
+ 4375
+ 21875
+ 109375
+ ....................... Frédéric de Ligt hat auch eine Addition
…142857142857142857… entdeckt, die 1/13 ergibt. Man geht von 3
aus, multipliziert immer mit 4 und verschiebt
Das sind die Ziffern von 1/7! eine Stelle nach links:
z + 12
3 Diese Koinzidenzen zweiter Art lassen sich
alle nach dem obigen Muster erklären. Aller
+ 48 dings erscheint dies übertrieben kompliziert.
+ 192 Man muss in jedem Einzelfall eine Zahl fin
+ 768 den, die im obigen Beweis an die Stelle der 18
+ 3072 tritt, und so weiter. Nachdem wir eine gewisse
+ 12288 Übung in solchen Additionen erworben ha
+ ....................... ben, die nach links unendlich sind, liegt fol
...076923076923076923... gender Gedanke nahe: Warum sollen wir mit
den Krücken der endlichen Arithmetik ins
Das sind gerade die Ziffern von 1/13. Unendliche humpeln? Verallgemeinern wir
A u t o r u n d L i t e r at u r h i n w e i s e
Sciences et Tech-
erst den Zähler und den Nenner des Bruchs, einzigen automorphen dekadischen Zahlen – nologies in Lille.
den wir ausrechnen möchten, durch 2 oder von 0 und 1 natürlich abgesehen. Für »Pour la Science«, die französi-
durch 5 (was ja stets möglich ist), um uns da Viele weitere erstaunliche Eigenschaften sche Schwesterzeitschrift von Spek-
durch die störenden Endziffern 0, 2, 4, 5, 6 der dekadischen Zahlen beweisen, dass man trum der Wissenschaft, hat er be-
und 8 des Divisors vom Halse zu schaffen. mit ihnen »rechnen« kann – im wörtlichen reits mehr als hundert Beiträge
verfasst.
Wir hoffen, dass wir so nach endlich vielen wie im übertragenen Sinn. Die Pünktchen zur
Schritten einen Nenner erhalten, der auf 1, 3, Linken sind zweifellos gewöhnungsbedürftig; Zahlen. Von Heinz-Dieter Ebbing-
7 oder 9 endet. Das ist fast immer der Fall. aber die dekadischen Zahlen gehorchen den haus, Hans Hermes und Friedrich
Hirzebruch. Springer, Berlin 1992
Allerdings gelangt man für einige befremdli üblichen Rechenregeln. Sie helfen einem,
che dekadische Zahlen nie zum Ziel. Hier ohne großen Tiefsinn die Rätsel vom zweiten À l’horizon de l’arithmétique déci-
male: les nombres 10-adiques. Von
sind zwei davon (im Kasten auf S. 28 ist er Typ zu verstehen. Und gerade dadurch, dass
Roger Cuculière in: Pour la Science,
klärt, wie man sie berechnet): bei ihnen die Division nicht immer ausführ Juni 1986
bar ist, geben sie ein gutes Beispiel für eine al
Le brenoms. Von Vincent Lefèvre.
x1 = ... 395300731910816980293850989 006 gebraische Struktur ab, welche die Mathema
Online unter http://www.vinc17.
21665095808638110005574234232308961 tiker einen »Ring« nennen und die ihnen in org/math/index.fr.html
09004106619977392256259918212890625 den verschiedensten Kontexten begegnet.
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Von Julien Linassier kann mit ihnen rechnen wie mit gewöhnli
chen Zahlen – mit einigen wesentlichen Ein
A
chilles läuft mit der Schildkröte um die schränkungen. Um sie zu verstehen, müssen
Wette. Da er die zehnfache Geschwin wir ein wenig ausholen.
digkeit hat, gibt er ihr großzügig einen
Vorsprung. So beginnt die berühmte Ge Ordnungszahlen
schichte, die der antike Philosoph Zenon von Die natürlichen Zahlen werden zu zweierlei
Elea erdachte, um das Paradox zu beschrei Zwecken verwendet: zum Zählen und zum
ben, das heute seinen Namen trägt. Ordnen. Ich bin in einem Buch auf Seite 62.
Zu einem gewissen Zeitpunkt t0 ist Achil Diese Zahl sagt mir, dass ich schon 61 Seiten
les am Startpunkt des Tiers angelangt. Es folgt hinter mir habe (das ist das Zählen); das inte
der Zeitpunkt t1, zu dem Achilles die Stelle er ressiert mich allerdings weniger als zum Bei
reicht, an der sich die Schildkröte im Zeit spiel die Tatsache, dass die Seite 57 vor Seite
punkt t0 befand, und so weiter. Allgemein ist 62 kommt, wenn ich etwa dem Verweis auf
tn der Zeitpunkt, zu dem der Held die Stelle Seite 57, der auf Seite 62 steht, folgen möch
erreicht, an der die Schildkröte zum Zeit te. Oder ich muss einen durcheinander gera
punkt tn–1 war. tenen Papierstapel, dessen Blätter Seitenzah
Endlich gibt es, im Gegensatz zu der len tragen, sortieren; das ist die Ordnungs
Überzeugung Zenons, den Zeitpunkt T, an funktion der natürlichen Zahlen.
dem Achilles die Schildkröte einholt. Es ist Wenn wir einen Stapel von Spielkarten in
der früheste Zeitpunkt, der nach allen Zeit die richtige Reihenfolge zu bringen haben,
punkten in der geordneten Folge t0, t1, t2, … stützen wir uns regelmäßig auf folgende Ei
kommt. Die Abzählung 1, 2, 3, … erschöpft genschaften:
nicht die Unendlichkeit der Zeitpunkte. Vor r Je zwei Karten können immer verglichen
allem: Nachdem die unendlich vielen Zeit werden, das heißt, es ist stets möglich festzustel
punkte t0, t1, t2, … verstrichen sind, läuft die len, welche der beiden – in der von uns gewähl
Zeit einfach weiter! Es gibt gewissermaßen ei ten Sortierung – vor der anderen kommt. Wenn
nen Zeitpunkt mit der Nummer »unendlich a vor b kommt, schreiben wir das, in Analogie
plus eins«, und noch viele mehr. Aber kann zu den Verhältnissen bei Zahlen, als a≤b.
man überhaupt über das Unendliche hinaus r Jede Karte a kommt vor sich selbst: a≤a.
zählen? (Das ist nichts Tiefsinniges, sondern nur eine
Ja. Die zugehörigen Zahlen heißen »trans Verabredung, die einem das Formulieren vie
finit« (»jenseits des Endlichen«), und man ler Sachverhalte erleichtert.)
r Kommt die Karte a vor der Karte b und
die Karte b vor der Karte a, so sind a und b
Die Vision des Jakob identisch. (Oder weniger indirekt ausge
drückt: Für zwei verschiedene Karten a und b
Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kann nicht gleichzeitig a≤b und b≤a gelten.)
kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. r Kommt die Karte a vor der Karte b und
Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte die Karte b vor der Karte c, so kommt a vor c.
sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Er- r Für jede Menge von Karten ist es möglich,
den, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen eine von diesen Karten zu finden, die vor al
daran auf und nieder. 1. Mose 28, 10 – 12 len anderen kommt.
Eine Menge mit einer Ordnungsrelation,
Führt die Leiter der transfiniten Ordinalzahlen in Cantors Paradies oder in die Höl- die diese Kriterien erfüllt, heißt wohlgeord
le des Paradoxons von Burali-Forti? net. Jede Ordnung einer Menge M lässt sich
sehr einfach beschreiben, indem man die Ele
mente von M der Reihe nach aufführt: In der wenn es möglich ist, die Elemente der ersten Man stelle sich eine un-
Darstellung (e1, e2, e3, …) ist e1 das erste Ele Menge denen der zweiten bijektiv und unter o endliche Anzahl von Lei-
ment von M (dasjenige, das vor allen anderen Erhaltung der Ordnung zuzuordnen. So kann tern vor, die aufeinander fol-
kommt), e2 das erste Element von M ohne e1 man beispielsweise vier nummerierte Karten gen und die jeweils unendlich
und so weiter. Nähere Einzelheiten finden in die übliche Anordnung {1, 2, 3, 4} bringen viele Sprossen besitzen. Um
sich im Kasten auf S. 34. oder in die umgekehrte {4, 3, 2, 1}. Die Zu hinaufzuklettern, kann man
Die Zahlen, die wir konstruieren wollen, ordnung, die der Karte mit der Nummer i die entweder Sprosse für Sprosse
sollen nun zur Charakterisierung wohlgeord Karte mit der Nummer 5–i zuordnet, bildet erklimmen oder aber auf die
neter Mengen dienen. Dabei soll es nicht da die erste Anordnung in die zweite ab. Die bei nächste Leiter springen. Dann
rauf ankommen, was die Elemente dieser den geordneten Mengen sind somit vom sel muss man sich unendlich viele
Mengen sind, sondern nur auf ihre Ord ben Ordnungstyp. Systeme aus unendlichen Lei-
nungsbeziehungen. Deswegen führen wir eine Endliche Mengen sind in dieser Hinsicht tern vorstellen und so weiter.
neue Definition ein: überhaupt wenig überraschend. Alle Anord Das gesamte Geheimnis des
Zwei wohlgeordnete Mengen heißen nungen von endlich vielen Spielkarten unter Transfiniten liegt in dieser An-
»ähnlich« oder »vom selben Ordnungstyp«, scheiden sich nur durch eine Permutation, ordnung des »und so weiter«.
Ordnungen
Zum Klassifizieren, Ordnen, Sortieren muss man über ein Vergleichs- Das gelingt allerdings nicht immer. Nehmen wir die unendli-
kriterium verfügen, das einem sagt, ob »a vor b« oder »b vor a« che Menge M = {1, 1/2, 1/3, 1/4, …, 1/n, … }. M hat kein kleins-
kommt. Ein solches Kriterium nennt man »Ordnungsrelation« tes Element! Mit welchem Element soll man anfangen, wenn
und bezeichnet es mit dem geläufigen Zeichen ≤ (»kleiner oder man M in »natürlicher« Ordnung hinschreiben will? (In unserer
gleich«), auch wenn die zu ordnenden Elemente gar keine Zah- Definition haben wir notgedrungen M »verkehrt herum« nie-
len sind. Eine Ordnungsrelation hat per definitionem drei Ei- dergeschrieben.)
genschaften: Um »ordentliche« Mengen wie von »unordentlichen« wie
r Sie ist reflexiv: Für alle Elemente a der betrachteten Menge M zu unterscheiden, hat man den Begriff der Wohlordnung
gilt a ≤ a. eingeführt. Eine Menge ist wohlgeordnet, wenn sie total ge-
r Sie ist antisymmetrisch: Aus a ≤ b und b ≤ a folgt a = b. Das ordnet ist und jede nichtleere Teilmenge von ihr ein kleinstes
heißt, wenn zwei Elemente nicht gerade identisch sind, kann Element besitzt (oder, äquivalent hierzu, wenn es keine streng
höchstens eine der beiden Ordnungrelationen gelten. monoton fallende unendliche Folge aus Elementen dieser
r Sie ist transitiv: Aus a ≤ b und b ≤ c folgt a ≤ c . Menge gibt). Anders ausgedrückt: Man kann alle Elemente –
Eine geordnete Menge ist eine Menge mit einer Ordnungs- oder auch nur die Elemente einer Teilmenge – einer wohlgeord-
struktur. Eine Ordnung heißt total, wenn zwei beliebige Ele- neten Menge in einer Liste festhalten, und alle Listen haben ei-
mente der Menge stets vergleichbar sind. nen Anfang.
Auf der Menge aller Wörter kann man die »lexikografische Die Menge ist wohlgeordnet, die Menge R nicht, jeweils
Ordnung« einführen: Man schreibt a ≤ b, wenn das Wort a im in Bezug auf die übliche Ordnung. Mit Hilfe des Auswahlaxi-
Wörterbuch vor dem Wort b kommt. Die lexikografische Ord- oms kann man den Satz von Zermelo beweisen: Auf jeder
nung ist total: Von zwei gegebenen Wörtern kann man stets Menge existiert eine Wohlordnung.
entscheiden, welches zuerst kommt, indem man sie von rechts
nach links Buchstabe für Buchstabe vergleicht. Ein Buchstabe Oft gibt es Gelegenheit, verschiedene geordnete Mengen mit-
ist kleiner als ein anderer, wenn er diesem im Alphabet voraus- einander zu vergleichen. Ein Bibliothekar ist genau dann glück-
geht, und das Leerzeichen ist kleiner als jeder Buchstabe. lich, wenn die Aufreihung der Bücher im Regal ihrer Ordnung
Unter den Teilmengen einer Menge kann man eine Ordnung im Katalog entspricht. Zwei total geordnete Mengen heißen
einführen, indem man A kleiner oder gleich B nennt, wenn A vom gleichen Typ, wenn es eine Bijektion f von der einen auf
eine Teilmenge von B ist (A B). Die Relation (»ist enthalten die andere gibt, welche die Ordnung erhält: Aus x ≤y folgt
in«) ist zwar eine Ordnungsrelation, aber nicht alle Elemente f (x ) ≤ f ( y ).
sind vergleichbar: Welche von zwei Mengen, die keine Elemen- Die Mengen {…, 3, 2, 1, 0} und {0, 1, 2, 3, …} haben in die-
te gemeinsam haben, ist die größere? Eine solche Ordnung sem Sinne nicht denselben Ordnungstyp, da die erste Menge
heißt Halbordnung. kein erstes Element hat. Dagegen haben und die Menge P
Eine total geordnete Menge stellt man am besten »in der na- = {0, 2, 4, …} der geraden natürlichen Zahlen denselben Ord-
türlichen Reihenfolge« dar: von klein nach groß oder, formal aus- nungstyp (denn sie sind durch die ordnungserhaltende Bijek
gedrückt, so, dass a links von b steht genau dann, wenn a ≤ b ist. tion n 2n miteinander verbunden).
So macht man das mit den natürlichen Zahlen, wenn man sie als Man unterscheidet verschiedene Arten von Ordnungen: die
{0, 1, 2, 3, …} hinschreibt, oder mit den reellen Zahlen, wenn diskrete Ordnung (diejenige von ), die dichte Ordnung (die
man sie durch die orientierte Zahlengerade wiedergibt. von Q) und die kontinuierliche (diejenige von R).
zu w2 ·2, dann diejenigen von w2 ·2 bis Mit dieser Wohlordnung erhält man fol
w ·3 und so weiter. Man bekommt w2 ·4,
2
gende Reihenfolge für die natürlichen Zahlen:
w2 ·5, …, w2 ·n, … und dann alle Ordinalzah
len der Form w2 ·i2 +w·i1 +i0, wobei i2, i1 und 1, 2, 22, 23, 24, 25, …, 3, 3·2, 3·22, 3·23,
i0 drei endliche Ordinalzahlen sind. Die 3·24, …, 32, 32 ·2, 32 ·22, 3·23, 32 ·24, …, 33,
kleinste Ordinalzahl, die größer ist als alle an 33·2, 33 ·22, 33 ·23, 33 ·24, …, 3k, 3k ·2, 3k ·22,
gegebenen, ist w3. Und dann geht es weiter: 3k ·23, 3k ·24, …, 5, 5·2, 5·22, 5·23, 5·24, …,
w3 +1, …, w3 ·2, …, w4, w5, w6, … Schließ 5·3, 5·3·2, 5·3·22, 5·3·23, 5·3·24, …
lich endet man bei ww. Diese mit Primzahlen konstruierte Ord
Schwindel erregend! Es ist Zeit, tief durch nung besitzt folgenden Vorteil: Jede Ordinal
zuatmen. Machen wir eine kleine Pause und zahl, die kleiner als ww ist, lässt sich mit ihr
studieren wir eine bemerkenswerte totale mit Hilfe von natürlichen Zahlen ungleich
Ordnungsrelation auf , die eine Wohlord Null erfassen.
nung liefert. Zudem erhält man für jede Ordinalzahl
eine wohlgeordnete Folge, die eben diese Or
Die Primzahlen treten auf dinalzahl repräsentiert. Und zwar ordnet man
Jede natürliche Zahl n außer 0 und 1 lässt sich der Ordinalzahl 0 die Eins zu. Weiter geht die
bis auf die Reihenfolge der Faktoren eindeutig Zuordnung: 1 2, 2 22, 3 23, …, n
in ein Produkt von Primzahlen zerlegen: 2n, … , w 3, w+1 3·2, …, w·2 32,
w·2 + 1 3 ·2, …, w·k
2
3k, …, w 2
5,
n=2a · 3b · 5c · 7d · …
www.torinoscienza.it
zur Entdeckung der transfiniten Zahlen. alle Fj in Ik »ein« (das heißt, sie bildet Fj
Cantor betrachtet die von einer abge auf eine Teilmenge von Ik ab). Es bezeichne
schlossenen Menge M abgeleitete Menge M´. A(F1, F2, F3, …) die Vereinigung aller Bilder
Ist M´= M, so ist M perfekt. Falls das nicht hk(Fk) und der Menge {0}.
der Fall ist, konstruiert Cantor M´´, die von Sind alle Fk gleich {0}, so ist die abgeleite
M´ abgeleitete Menge. Fällt M´´ nicht mit M´ te Menge von A1 =A(F1, F2, …) einfach {0}.
zusammen, so wird die Konstruktion fortge Sind alle Fk identisch mit A1, so reduziert sich
führt. So erhält man nach und nach M, M´, die »zweite Ableitung« von A2 =A(A1, A2,…)
M´´, M´´´, M (4) , M (5) … auf {0}.
Auf diese Weise definiert man eine abstei Und so weiter. Man konstruiert eine Folge
gende Folge von Teilmengen von R. Wenn A1, A2, … derart, dass An(n), die n-te Ableitung
diese schließlich stationär wird, das heißt, von An , gleich {0} ist.
wenn sich ab einer gewissen Nummer die Jetzt muss man nur noch F1 =A1, F2 =A2,
Ivar Otto Bendixson Mengen M (n) nicht mehr ändern, sind wir fer … setzen. Dann sind die Ableitungen M´,
o (1861 – 1935) bewies den tig: Die Menge M (n) mit M (n+1) = M (n) ist per M´´, M´´´, … von M=A(A1, A2,…) alle nicht-
Satz, der heute nach ihm und fekt. Falls dies nicht eintritt, bildet Cantor leer und verschieden.
Cantor benannt wird, in einem den Durchschnitt über alle abgeleiteten Men r Kann die Menge M (w) leer sein?
Brief an Cantor, als er ein jun- gen (die dann alle voneinander verschieden Ist M oder eine seiner abgeleiteten Men
ger Student an der Universität sind): gen beschränkt, so erlaubt es ein Kompakt
Stockholm war. heitsargument zu zeigen, dass M (w) nicht leer
ist. In R gilt nämlich: Jede absteigende Folge
von abgeschlossenen, nichtleeren, in einem
Die Menge M(w) ist nicht unbedingt perfekt. Kompaktum (das heißt einer abgeschlossenen
Man konstruiert also bei Bedarf M(w+1) und beschränkten Menge) enthaltenen Teil
=(M(w))´, M(w+2) =(M(w+1))´ und so weiter. mengen besitzt einen nichtleeren Durch
Wenn das immer noch nicht hilft, bildet man schnitt.
.
Falls dies nicht der Fall ist, so darf man
annehmen, alle abgeleiteten Mengen M (n) sei
en unbeschränkt. Wäre M (w) leer, so hätte
und so weiter. Ohne Ende? Nein. Es gibt im man die Darstellung
mer eine Ordinalzahl a derart, dass M (a) per
M = (M–M (1)) ∪ (M (1) –M (2))
fekt ist. Also war die Suche nach der Perfek
∪ (M (2) –M (3))∪ …
tion nicht umsonst.
So erhält man den Satz von Cantor-Ben Es ist recht einfach, sich klarzumachen, dass
dixson: Jede abgeschlossene überabzählbare die Mengen (M (k)–M (k+1)) höchstens abzähl
Teilmenge von R ist die Vereinigung einer bar sind; folglich gilt das auch für M, im Wi
perfekten Menge und einer höchstens abzähl derspruch zu unserer Voraussetzung.
baren Menge. Die perfekte Menge hat darü r Ist die Menge der abgeleiteten Mengen M´,
ber hinaus die Mächtigkeit des Kontinuums. M´´, …, M (w), M (w+1), … wohlgeordnet (be
Die abgeschlossenen Teilmengen von R züglich der Ordnungsrelation »Enthalten
besitzen somit eine bemerkenswerte Eigen sein«)?
schaft: Sie sind entweder gleichmächtig zu r Was kann man über die Ordinalzahl a
oder zu R (oder sie haben nur endlich viele mit der Eigenschaft, dass M (a) perfekt ist, aus
Elemente). sagen?
Wäre dem so für alle Teilmengen von R, Eine Antwort auf die beiden letzten Fra
so wäre die Kontinuumshypothese bewiesen. gen würde auf eine befriedigende Theorie der
Die oben skizzierte Konstruktion von transfiniten Zahlen hinauslaufen oder, was
Cantor wirft zahlreiche Fragen auf, die auch dasselbe ist, der wohlgeordneten Mengen.
heute noch nicht alle beantwortet sind: Eine Bemerkung zum Schluss: Es ist mög
L i t e r at u r
Einführung in die mathematische r Gibt es tatsächlich eine Menge, deren ab lich, den Satz von Cantor-Bendixson auch
Philosophie. Von Bertrand Russell.
Felix Meiner, Hamburg 2002 geleitete Mengen sämtlich voneinander ver ohne Verwendung transfiniter Methoden zu
schieden sind? (Wäre dies nicht der Fall, so beweisen.
D
er Anfang des 20. Jahrhunderts war ben, Satz- und Leerzeichen) in der so entste-
eine Zeit des Umbruchs auch in der henden Tabelle. Da alles, was sich mit einer
Mathematik. Neue Ideen wie das endlichen Anzahl von Worten schreiben lässt,
Auswahlaxiom oder die Antinomien der Men- eine Anordnung von Buchstaben ist, wird alles,
genlehre versetzten die Szene in Aufruhr. In was man aufschreiben kann, in der Tabelle vor-
dieser Situation fiel eine Idee eines Gymnasi- kommen.
allehrers aus Dijon auf fruchtbaren Boden: Ju- Da Zahlen mit Worten definiert werden und
les Richard löste mit einem Brief, der am 30. diese aus Buchstaben bestehen, werden eini-
Juni 1905 in der »Revue générale des sciences ge Einträge der Tabelle Definitionen von Zahlen
Tangente
pures et appliquées« veröffentlicht wurde, eine sein. Streichen wir alle Einträge, die nicht Defi-
heftige Diskussion aus. nitionen von Zahlen sind.
Sein Argument, eine Variante des Sei u1 die Zahl, deren Definition in der so be-
Jules Richard (1862 – Cantor’schen Diagonalverfahrens, lenkte die reinigten Tabelle an erster Stelle steht, u2 die
o 1956), Gymnasiallehrer in allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage der Zahl an zweiter Stelle, u3 diejenige, die durch
Tours, Dijon und Châteauroux, Definierbarkeit. Ist es möglich, dem Circulus den dritten Tabelleneintrag beschrieben wird,
philosophierte neben dem Pa- vitiosus zu entrinnen, der alle Versuche des und so weiter. Dann hat man alle Zahlen, wel-
radox, das den Großen seiner Definierens bedroht? che mit einer endlichen Anzahl von Worten de-
Zeit Kopfzerbrechen bereitete, finiert werden können, in eine wohldefinierte
über die Natur der Axiome der Der Brief von Richard Reihenfolge gebracht.
Geometrie. Im Gegensatz zum Zeitgeist griff Richard für Folglich bilden alle Zahlen, die man mit einer
sein Paradox nicht auf die aktuellen Theorien endlichen Anzahl von Worten definieren kann,
über unendliche Mengen zurück. Die Be- eine abzählbare Menge. Diese Menge sei mit
trachtung von Zahlen, welche in endlicher M bezeichnet.
Weise definiert sind, genügt vollkommen, um Hier nun zeigt sich der Widerspruch. Man
die Situation aufzumischen. Hier das Argu- kann eine Zahl bilden, welche nicht zur Menge
ment von Richard im Wortlaut: M gehört: »Wir bilden die Zahl N wie folgt: Die
Stelle vor dem Komma sei eine Null; die n -te
Ich werde eine bestimmte Menge von Zah- Stelle hinter dem Komma sei gleich p+1, falls p
len, die ich M nennen werde, mit Hilfe der fol- ungleich 8 oder 9 ist, ansonsten gleich 1. Dabei
genden Überlegungen definieren: ist p die n-te Dezimalstelle der n -ten Zahl in der
Schreiben wir alle möglichen Paare der 26 Menge M.«
Buchstaben des Alphabets in alphabetischer Die Zahl N gehört nicht zur Menge M. Denn
Ordnung nieder, dahinter alle Tripel, die wir wie- wäre sie die n-te Zahl in der Menge M, so wäre
der alphabetisch ordnen, dann alle Quadrupel ihre n-te Stelle gleich der n -ten Stelle dieser
und so weiter. Dabei darf in einer solchen An- Zahl, was nach Konstruktion nicht der Fall ist.
ordnung derselbe Buchstabe mehrfach auftre- Andererseits ist die Zahl N definiert durch
ten. (Um das Argument klarer zu gestalten, ist eine endliche Anzahl von Worten, nämlich die
es zweckmäßig, Satzzeichen sowie die Leer- Worte, die oben in Anführungsstrichen stehen.
stelle zu den Buchstaben hinzuzunehmen.) Nennen wir diese Anordnung von Buchstaben
keinen Widerspruch.«
Daraufhin fuhr Henri Poincaré 1906 in
seinem Artikel »Les mathématiques et la lo-
gique« das schwere Geschütz der Grundlagen-
forschung auf: »Man muss erkennen können,
ob eine Definition prädikativ ist oder nicht.«
Dabei bedeutet »prädikativ« so etwas wie
»gültig«, »aussagekräftig« oder »zulässig«; ins-
besondere ist eine Definition, die einen Zir-
kelschluss enthält, nicht prädikativ.
Diese Zahl N muss existieren. In der Tat vorgenommen: die einen haben die Zugehö-
ist das verfügbare Vokabular endlich. Aus rigkeit eines Elements zu einer Menge zum
höchstens hundert Worten kann man nur Gegenstand (siehe »Der Albtraum des Biblio-
endlich viele Sätze bilden. Die meisten dieser thekars«, S. 43), die anderen den Begriff der
Sätze ergeben keinen Sinn und definieren vor Wahrheit (zum Beispiel das Paradox des Epi-
allem keine natürliche Zahl. Also gibt es not- menides).
Ob Einhorn, Hydra oder wendigerweise natürliche Zahlen, die sich Bertrand Russell (siehe auch S. 46) hat be-
o der Mann mit Kranich- nicht mit weniger als hundert Worten definie- hauptet, dass alle Paradoxa dieselbe Wurzel ha-
kopf und -hals – all diese Fabel- ren lassen. Unter ihnen gibt es gewiss eine ben, nämlich die Verletzung des Prinzips der
wesen sind zwar durch ihre kleinste. Zirkelfreiheit, nach welchem keine Gesamt-
Eigenschaften eindeutig be- Die Zahl N kann nicht existieren. Denn heit Individuen enthalten darf, die erst durch
stimmt. Dennoch existieren sie ihre Definition als »kleinste Zahl N, die sich die Gesamtheit definiert werden können.
nicht: Die Menge der realen Ge- nicht mit weniger als hundert Worten definie- Stimmt das? Darauf gibt es keine definiti-
genstände, auf welche die ge- ren lässt« enthält selbst weniger als hundert ve Antwort. Liegt der Charme der Paradoxa
nannten Eigenschaften zutref- Worte. nicht gerade darin, dass sie eine unerschöpfli-
fen, hat nicht nur kein kleinstes r Das Paradox von Grelling betrifft Adjek che Quelle für das Fragen, Staunen und
Element, sondern gar keins. tive, die Eigenschaften beschreiben. Einige Nachdenken bilden?
B
etrachten wir die Menge M aller Men noch nicht einmal die milde Unendlichkeit
gen x, die sich nicht selbst als Element der natürlichen Zahlen. Eine beliebte Verklei
enthalten; in einer Formel ausgedrückt: dung ist die Geschichte von dem Dorfbarbier,
M = {x | x x}. Enthält M sich selbst als der definiert ist als derjenige Dorfbewohner,
Element? der alle Dorfbewohner rasiert, die sich nicht
Das wäre zu schreiben als M M. Also selbst rasieren. Rasiert der Barbier sich selbst?
gehört M nicht zu den x, für die gilt x x, Soll der Katalog aller
also ist M kein Element von M: M M. Wi Typentheorie u Kataloge, die nicht auf
derspruch! Oder eben die Geschichte vom pingeligen Bi sich selbst verweisen, auf sich
Ein gleichartiger Widerspruch tut sich auf, bliothekar. Seine Bibliothek enthält lauter Bü selbst verweisen? Oder nicht?
wenn man statt von M M von der Annah cher, darunter auch Kataloge; das sind speziel
AKG Berlin (Jean-Baptiste Chardin, Der Philosoph, 1734; Louvre, Paris)
Von unendlich vielen Da- Von Julien Linassier Menge derart, dass der Durchschnitt dieser
o men je einen Schuh ein- Menge mit jeder Menge aus der Familie C ge
D
sammeln? Kein Problem – man er bekannte Mathematiker Jerry nau ein Element enthält.
nehme jeweils den rechten. Bona von der Universität von Illinois Anders ausgedrückt: Es ist möglich, aus
Aber jeweils einen Strumpf? in Chicago beschreibt eine unter sei jeder Menge der Familie C genau ein Element
Es empfiehlt sich, das durch nen Fachkollegen weit verbreitete Haltung »auszuwählen« und aus diesen Elementen eine
schlichten Beschluss für mög- folgendermaßen: »Das Auswahlaxiom ist of neue Menge zu bilden. Noch anders formu
lich zu erklären. fensichtlich wahr, das Wohlordnungsprinzip liert: Zu einer solchen Familie C gibt es eine
ist offensichtlich falsch, und bezüglich des »Auswahlfunktion«, die jeder Menge aus C
Zorn’schen Lemmas wird man sehen.« Das genau eines ihrer Elemente zuordnet.
Problem ist nur, dass diese drei Prinzipien Mit Hilfe der anderen Axiome der Men
äquivalent sind. genlehre lässt sich zeigen, dass die Vorausset
Das Auswahlaxiom lässt sich einfach for zung »paarweise disjunkt« entbehrlich ist.
mulieren:
Es sei C eine Familie von Mengen, die Das Auswahlaxiom ist evident
nichtleer und paarweise disjunkt sind (das Betrachten wir die Klasse C, die aus allen
heißt, keine zwei Mengen der Familie haben nichtleeren Teilmengen von = {0, 1, 2, 3,
ein Element gemeinsam). Dann existiert eine …} besteht. Diese Klasse ist enorm groß; sie
hat die Mächtigkeit des Kontinuums! Den
noch ist es einfach, eine Auswahlfunktion auf
Obere Schranken und maximale Elemente C zu definieren: Es genügt, jeder Menge aus
C ihr kleinstes Element zuzuordnen.
Eine obere Schranke einer total geordneten Menge M ist ein Element s mit der Ei- Betrachten wir nun die Klasse C’ aller In
genschaft, dass für jedes Element a von M a ≤ s gilt. (Für die Begriffe »total ge- tervalle mit einer echt positiven Länge. Die
ordnet« und »halbgeordnet« siehe den Kasten »Ordnungen« in »Unendlich Funktion, die jedem Intervall seinen Mittel
plus 1«, S. 34.) s muss nicht selbst Element von M sein. Die kleinste obere punkt zuordnet, ist eine Auswahlfunktion auf
Schranke der Menge aller rationalen Zahlen x mit der Eigenschaft x2 ≤ 2 ist 2; der Klasse C’.
aber 2 ist nicht rational, also auch nicht in der Menge enthalten.
Ein maximales Element einer halbgeordneten Menge ist nicht unbedingt Das Auswahlaxiom ist nicht evident
»das größte«; es gibt nur kein größeres. Wenn m überhaupt mit einem Ele- Es sei C’’ die Klasse aller nichtleeren Teilmen
ment a von M in einer Ordnungsrelation steht, dann ist es a ≤ m. Formal aus- gen der reellen Zahlen. Dann wird es schwie
gedrückt: m ist ein maximales Element von M, wenn für Elemente a von M rig. Noch nie hat jemand eine Auswahlfunkti
aus m ≤ a a =m folgt. on auf C’’ gefunden, und es sieht nicht so aus,
als ob sich das je ändern würde.
Corbis
Von Julien Linassier wäre er bei den Ereignissen vom Herbst 1700;
die Ereignisse unserer Zeit würde er um das
U
nter der Voraussetzung, dass die Zu Jahr 106 846 herum schriftlich niederlegen.
kunft unendlich ist, hat der Mathe Es gibt keinen einzigen Tag, dem nicht auf
matiker und Philosoph Bertrand Rus die angegebene Art und Weise ein Jahr in der
sell (1872 – 1970) folgendes Paradoxon erfun Zukunft zugeordnet werden könnte. Also
den, das sich auf den 1760 erschienenen wird in der Tat »kein Teil seines Lebens unbe
Roman »The Life and Opinions of Tristram schrieben bleiben«.
Shandy, Gentleman« bezieht. Russell schreibt: Natürlich gerät Shandy mit seiner Nieder
»Tristram Shandy verbrachte bekanntlich schrift immer mehr in Rückstand. Mit jedem
zwei Jahre damit, die Geschichte der ersten Jahr, das er schreibend verbringt, hat er sich
beiden Tage seines Lebens niederzuschreiben. um 364 Jahre mehr von dem Tag, den er in
Er beklagte, dass sich auf diese Weise die seiner Niederschrift erreicht hat, entfernt.
Ullsteinbild
Themen schneller anhäuften, als er sie abar Aber das macht nichts, denn er hat ja noch
beiten könne, und er folglich niemals fertig alle Zeit der Welt.
werden würde. Ich behaupte jedoch: Wenn er Das Finanzamt braucht ein Jahr, um den
Bertrand Russell (1872 – ewig leben und sein Vorhaben niemals auf Posteingang eines Tages aufzuarbeiten? Das
o 1970) war nicht nur geben würde, würde kein Teil seines Lebens Jüngste Gericht wägt ein volles Jahr lang die
Mathematiker und Philosoph, unbeschrieben bleiben, selbst wenn jeder sei guten Taten und die Sünden der Toten eines
sondern auch ein engagierter ner Tage so ereignisreich wäre wie die ersten einzigen Tages? Nur Geduld, arme Seele. Der
Pazifist (Bild von 1916). beiden.« Bescheid und das Urteil kommen in endlicher
Nehmen wir an, Shandy sei am 1. Januar Zeit. Und was ist schon eine endliche Zeit,
1700 geboren und habe am 1. Januar 1720 zu sub specie aeternitatis?
schreiben begonnen. Das erste Jahr brauchte
er, um den ersten Tag seines Lebens, den 1. Das Paradox von John Littlewood
Januar 1700, zu beschreiben. Sein Arbeitsplan Der Mathematiker John Littlewood (1885 –
sähe dann so aus: 1977) bringt in seinem wunderbaren Büch
lein »Littlewood’s miscellany« ein ähnliches
Leben und Meinungen von Tristram Jahr 1720 Ereignisse des 1. Januar 1700 Paradox. In eine Urne werden Kugeln mit den
Shandy, Gentleman. Von Laurence Jahr 1721 Ereignisse des 2. Januar 1700 Nummern 1, 2, 3, … nach folgendem Ver
Sterne. 7. Auflage, Insel, Frankfurt
am Main 1996
Jahr 1722 Ereignisse des 3. Januar 1700 fahren gelegt: Eine Minute vor Mitternacht
Jahr 1723 Ereignisse des 4. Januar 1700 werden die Kugeln 1 bis 10 in die Urne gelegt
Im Labyrinth des Denkens. Von Wil-
L i t e r at u r
Jahr 1724 Ereignisse des 5. Januar 1700 und die Kugel 1 wieder entnommen. Eine
liam Poundstone. Rowohlt Taschen-
buch Verlag, Reinbek 1995 Jahr 1725 Ereignisse des 6. Januar 1700 halbe Minute vor Mitternacht werden die Ku
Jahr 1726 Ereignisse des 7. Januar 1700 geln 11 bis 20 in die Urne gelegt und die Ku
The princples of mathematics. Von
Jahr 1727 Ereignisse des 8. Januar 1700 gel 2 entnommen. Die Kugeln 21 bis 30 wer
Bertrand Russell. Routledge, Oxford
1992 … den eine drittel Minute vor Mitternacht ein
gelegt, die Kugel 3 entnommen, und so
Human knowledge. Its Scope and
Jedem Tag ist ein Jahr zugeordnet. Würde weiter. Wie viele Kugeln sind um Mitternacht
Limits. Von Bertrand Russell. Rout-
ledge, Oxford 1994 der unsterblich gewordene Shandy heute noch in der Urne?
schreiben, also um das Jahr 2000 herum, so Antwort: Gar keine. Sehen Sie, warum?
Von Daniel Barthe hört die Aussage »Eine der Aussagen der Liste
ist falsch« zur Liste dazu.
E
in Gehirn ist keine unendliche Maschi- Dann aber hat unser Mensch ein Problem.
ne. Insbesondere kann jeder Mensch Ist diese Aussage selbst falsch, widerspricht sie
nur an eine endliche Anzahl von Aussa- sich, weil sie angeblich eine Gewissheit ist. Ist
gen glauben. Daraus ergibt sich das folgende sie wahr, so ist eine andere Gewissheit der Lis-
Paradox, das auf den Logiker und Philoso- te falsch. In beiden Fällen enthält sein logi-
phen Raymond Smullyan zurückgeht. sches System einen Widerspruch. Da das für
Stellen wir uns einen bestimmten Men- jeden Menschen gilt, folgt unvermeidlich:
schen vor und bezeichnen die Aussagen, von Wir alle sind logisch inkonsistent.
denen er absolut überzeugt ist, mit p1, p2, … Raymond Smullyan glaubt tatsächlich,
pn. Unbegründete Vermutungen, Glaubens- dass ein vernünftiger, bescheidener Mensch
sätze, Meinungen und blasse Ahnungen sollen inkonsistent ist. Das ist eine seiner Gewisshei-
in unserer Liste nicht berücksichtigt werden. ten. Im Übrigen hält er sich selbst für einen
Unser Mensch ist sich also sicher, dass die vernünftigen, bescheidenen Menschen.
n Aussagen p1, p2, … pn wohlbegründet sind. Eine letzte Anmerkung: Könnte n=1 sein?
Nur: Wenn er sich nicht hoffnungslos über- Das wäre die Haltung: »Meine einzige Ge-
schätzt (oder der Papst ist), kann er von seiner wissheit ist, dass es keine Gewissheiten gibt.«
Unfehlbarkeit nicht ernstlich überzeugt sein. Oder: »Man kann sich niemals sicher sein.«
Irren ist menschlich. Die intellektuelle Ehr- Nun fragt sich, ob die Aussage » ›Meine
lichkeit zwingt unseren Menschen zu dem einzige Gewissheit ist, dass es keine Gewiss-
Eingeständnis, dass mindestens eine der Aus- heiten gibt‹ ist eine meiner Gewissheiten« eine
sagen p1, p2, … pn nicht zutrifft. Folglich ge- Gewissheit ist oder eine Meta-Gewissheit.
E
s geht einem nicht leicht in den Kopf,
dass es von den rationalen Zahlen, die
doch die Zahlengerade an jeder Stelle
dicht belegen, nicht mehr geben soll als von
den natürlichen Zahlen. Aber beide Mengen
sind »gleich groß«: Es gibt eine Bijektion zwi-
schen ihnen (vergleiche den Beitrag »Die rati-
onalen Zahlen sind abzählbar«, S. 53).
Von den reellen Zahlen soll es dagegen
viel mehr geben als von den rationalen. Wie
kann das sein? Wir haben durch einen Wider-
spruchsbeweis gezeigt, dass Wurzeln wie zum
Beispiel 2 nicht rational sind. Also muss
man die rationalen Zahlen noch um die Wur-
zeln ergänzen und hat die reellen?
Weit gefehlt! Wurzeln, genauer: algebrai-
sche Zahlen, sind Lösungen algebraischer
Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten.
Wir repräsentieren jede Wurzel durch die Ko-
effizienten der zugehörigen Gleichung plus
eine Nummer, denn eine algebraische Glei-
chung hat im Allgemeinen mehrere Lösun-
gen. Das sind endlich viele ganze Zahlen, sa-
gen wir fünf Stück. Alle möglichen Kombi-
nationen von fünf ganzen Zahlen ordnen wir
in einer »Tabelle« an. Die hat zwar fünf Di-
mensionen statt der zwei Dimensionen einer
gewöhnlichen Tabelle. Aber analog zu dem
auf S. 53 angeführten Spiralweg findet man
einen Schlangenweg, der sich durch alle fünf
Dimensionen windet, ohne einen Tabellen-
Georg Cantor (1845 – 1918), Pro- eintrag auszulassen. Damit haben wir alle
fessor in Halle, gilt als der Be- Wurzeln abgezählt, die Lösungen von alge-
gründer der modernen Men- braischen Gleichungen dritten Grades sind.
genlehre. Seine neuen Erkennt- Nun gibt es jedoch algebraische Gleichun-
nisse widersprachen nicht nur gen beliebig hohen Grades. Aber das macht
seinen eigenen bisherigen Über- nichts. Wir bringen die Lösungen aller Glei-
zeugungen, sondern konnten chungen n-ten Grades in dem unendlichen
sich wegen heftigen Wider- Hotel Cantor n der Cantor-Hotelkette unter
stands unter den Fachkollegen (siehe »Das Hotel Hilbert«, S. 76). In der
Tangente
auch nur mühsam durchsetzen. nächsten Nacht ziehen die Gäste aller Cantor-
Hotels nach dem ebenfalls dort beschriebenen
Le Scienze
Gödel formuliert nämlich eine Aussage, die überwindliche Grenzen auf.
nach den Regeln der Arithmetik gebildet ist
und besagt: »Diese Aussage ist nicht beweis-
bar.« Um die Existenz dieser Aussage zu zei- Der Beweis verläuft wie folgt: Angenom-
gen, verwendet er das Diagonalargument. men, es gebe ein solches Programm namens
Haltetest(P,D). Dann schreiben wir ein
Turing und das Haltepoblem neues Programm namens HTV (»Haltetestver-
Hinter dem mechanistischen Projekt Hilberts derber«). Dieses nimmt als Eingabe ein Pro-
steckte der Glaube, dass eine Maschine – ein gramm Q entgegen und reicht dieses Pro-
Computer vielleicht – alle beweisbaren Aussa- gramm an das Programm Haltetest wei-
gen einer Theorie beweisen könne. Stellen wir ter, genauer: Haltetest(Q,Q). Das heißt,
uns wie oben ein Computerprogramm vor, sowohl das Programm, das Haltetest un-
das ausgehend von einem System von Axio- tersuchen soll, als auch dessen Daten sind
men und Deduktionsregeln alle beweisbaren identisch mit Q. Wenn Haltetest die Aus-
Aussagen dieser Theorie eine nach der ande- kunft »ja« zurückgibt (das heißt, Q mit Einga-
ren produziert. Wir suchen einen Beweis für be Q wird anhalten), dann hält HTV nicht an;
eine bestimmte Aussage A. Findet das Pro- andernfalls hält HTV an.
gramm unter den von ihm produzierten Aus- Jetzt geben wir dem Programm HTV sei-
sagen die Aussage A, soll es anhalten; wenn nen eigenen Text als Eingabe. Hält HTV(HTV)
nicht, soll es weitersuchen, denn die Aussage an? Wenn ja, dann gibt Haltetest
A – oder ihr Gegenteil – könnte ja unter den (HTV, HTV) die Auskunft »ja« zurück, also
noch zu produzierenden Aussagen sein. Da es hält HTV nicht an; so ist es konstruiert. Wenn
wahre, aber unbeweisbare Aussagen gibt, kann andererseits HTV(HTV) nicht anhält, gibt
es sein, dass das Programm niemals anhält. Haltetest(HTV, HTV) die Auskunft »nein«
Es kommt noch schlimmer. Man kann zurück, also hält HTV an. In beiden Fällen ge-
auch nicht im Voraus wissen, ob ein Pro- raten wir, genau wie beim Lügnerparadox, in
gramm anhalten wird oder nicht. Genauer: einen Widerspruch.
Ein Programm – nennen wir es »Halte- Der Satz von Turing gab dem Hil-
test« –, das als Eingabe ein beliebiges Pro- bert’schen Programm den endgültigen Todes-
gramm P und dessen Eingabedaten D entge- stoß. Eine mechanische Erzeugung von Wahr-
gennimmt und als Ausgabe angibt, ob P mit heiten muss notwendig unvollständig bleiben.
diesen Eingabedaten anhalten wird oder Ein Mathematiker sollte darüber nur eine
nicht, kann es nicht geben. Das hat Alan Tu- beschränkte Menge Tränen vergießen. Am
ring (1912 – 1954) im Jahr 1936 bewiesen. Ende wäre er arbeitslos geworden …
W
as ist eine Zahl? Auf diese Frage Was genau bedeutet der Ausdruck
wurden im Laufe der Geschichte 0,999 999 999 999…? Erinnern wir uns: De
die verschiedensten Antworten ge zimalzahlen sind eine Kurzschreibweise für
geben. Heute ist die nahe liegendste im Allge Brüche. Die erste Ziffer hinter dem Komma
meinen die Dezimaldarstellung. So erscheint bezeichnet die Zehntel, die zweite die Hun
uns der Ausdruck 3,141 592 653 589 793 … dertstel und so weiter. Also ist
als – mehr oder weniger – getreue Wiederga
Wie ist es möglich, dass be der Zahl π. Dabei deuten die Pünktchen
u zwei Zahlen, die sich so an, dass weitere Ziffern folgen.
krass unterschiedlich schrei- Welche? Das weiß man nicht vollständig, Das ist offensichtlich die Summe einer geo
ben, gleich sein können? aber es stört einen nicht besonders. Man weiß, metrischen Reihe mit dem Anfangsglied
es gibt diese Ziffern, sogar unendlich viele, a0 =9/10 und dem Quotienten q=1/10. Für
Sibylle franz / Spektrum der Wissenschaft
1 = 0 , 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 weil die Ziffernfolge nie aufhört, aber man diese Summe gibt es die Formel a0 /(1– q),
99999999999999 braucht sie nicht wirklich. In den allermeisten was in diesem Fall gleich (9/10) · (10/9) = 1
99999999999999 Fällen können wir uns mit den ersten paar ist. Wieder sind wir – auf anderem Wege – zu
99999999999999 Ziffern begnügen. dem Ergebnis x = 1 gekommen.
99999999999999 Betrachten wir nun die Dezimalzahl Diese Überlegung lässt sich auf alle ab
99999999999999 x = 0,999 999 999 999 999 … Diesmal geben brechenden Dezimalbrüche verallgemeinern:
99999999999999 die Pünktchen nicht nur an, dass weitere Zif 0,199 999 999 999 … ist gleich 0,2, und so
99999999999999 fern folgen, sondern auch, dass diese Ziffern weiter. Zu allen Fällen stößt man auf dasselbe
99999999999999 sämtlich gleich 9 sind. Problem.
99999999999999 Spielen wir mit diesem x, indem wir eini Was ist die Lösung? Nein, es steckt kein
99999999999999 ge elementare Rechenoperationen damit aus Denkfehler in obiger Argumentation. Der
99999999999999 führen. Als Erstes multiplizieren wir x mit 10. scheinbare Widerspruch resultiert aus unserer
99999999999999 Das ist einfach, denn im Dezimalsystem muss Gewohnheit, eine Zahl mit ihrer Dezimalent
99999999999999 man dafür nur das Komma um eine Stelle wicklung zu identifizieren: Wir gehen still
99999999999999 nach rechts verschieben. Somit erhalten wir schweigend davon aus, dass eine Folge von
99999999999999 Ziffern zwischen 0 und 9 mit einem Komma
10 x = 9,999 999 999 999 999 …
99999999999999 dazwischen vollkommen dasselbe sei wie eine
99999999999999 Von dieser Zahl ziehen wir jetzt x ab. Alles, Zahl. Unsere Rechnung zeigt, dass diese Über
99999999999999 was hinter dem Komma steht, stimmt bei x einstimmung nicht so vollkommen ist.
99999999999999 und 10 x überein: Neunen, Neunen, nichts als Man kann zeigen, dass Probleme dieser
99999999999999 Neunen. Daraus folgt Art nur bei bestimmten Dezimalbrüchen auf
99999999999999 treten, nämlich bei denen, die auf 999 999…
10 x – x = 9
99999999999999 oder auf 000 000… enden (wobei man ganze
99999999999999 Andererseits ist 10 x – x = 9 x. Also ist 9 x = 9 Zahlen wie zum Beispiel 1 als 1,000 000…
99999999999999 und damit x = 1. schreibt). Teuflische Schwierigkeiten machen
99999999999999 Wir haben soeben gezeigt, dass also genau die »einfachen« Zahlen, die nur
99999999999999 endlich viele Stellen hinter dem Komma ha
0,999 999 999 999 999 … = 1
99999999999999 ben. Ausgerechnet diejenigen, auf welche die
99999999999999 ist. Was ist das? Wie kann es sein, dass zwei Dezimalschreibweise am besten passt, sind die
999999999999...? Zahlen, die so unterschiedlich aussehen, am einzigen, die sich der Regel »eine Zahl, eine
Ende für gleich erklärt werden? Darstellung« entziehen.
E
s gibt viele Möglichkeiten, eine Bijekti- hört; nur einmal im Jahr, an Silvester, tau-
on zwischen der Menge der natür- schen die beiden ihre Plätze.
lichen Zahlen und der Menge Q der ra- Unsere Intuition lässt uns glauben, dass
tionalen Zahlen herzustellen. Eine der ein- der Selige sehr viel mehr Zeit im Paradies als
fachsten Möglichkeiten ist die folgende: in der Hölle verbringt; umgekehrt hat es den
Jeder Bruch p/q wird durch das Paar (p, q) Anschein, als müsste der Verdammte erheb-
der ganzen Zahlen p und q repräsentiert. Die- lich länger die Qualen der Hölle erleiden, als
se Paare ordnen wir in einer unendlichen Ta- er die köstlichen Früchte des Gartens Eden
belle mit dem Mittelpunkt (0, 0) an, sodass genießen kann. Paradoxerweise ist dem nicht
das Paar (p, q) in Zeile p und Spalte q steht. so. Es ist nicht übermäßig schwer, zum Bei-
Man durchläuft nun die Menge der rationa- spiel zwischen den Himmelstagen des Ver-
len Zahlen von (0, 0) aus, indem man dem dammten und seinen Höllentagen eine bijek-
»spiraligen« Weg folgt, der in der Abbildung tive Zuordnung zu konstruieren. Dies ist die erste Version
angedeutet ist. Die rationale Zahl, die man im Versuchen Sie’s! Vielleicht bringt Sie die u der Nummerierung der
n-ten Schritt trifft, erhält dann die natürliche obige Nummerierung der rationalen Zahlen rationalen Zahlen durch natür-
Zahl n als Nummer. Offensichtlich wird auf auf eine Idee. liche Zahlen.
dem Spiralweg kein Zahlenpaar ausgelassen
und keine Nummer doppelt vergeben. Damit
…
D
ie Menge der reellen Zahlen ist eine zum Definieren verwenden.
»große« Menge; sie enthält insbeson- Nehmen wir beispielsweise an, wir wollten
dere »viel mehr« Elemente als die definieren, was Potenzieren bedeutet. Für po-
Menge der natürlichen Zahlen. Die Wörter in sitive ganzzahlige Exponenten geht das sehr
Anführungszeichen sind viel zu schwach, um einfach und hat das allgemein bekannte Er-
den gewaltigen Unterschied zwischen der eher gebnis. In aller Strenge und unter Vermeidung
harmlosen Unendlichkeit von , der Menge von Pünktchen und ähnlichen einleuchten-
der natürlichen Zahlen, und der wahrhaft gi- den, aber unpräzisen Umschreibungen tut
gantischen Unendlichkeit von R, der Menge man das induktiv (»rekursiv«) wie folgt: Man
der reellen Zahlen, wiederzugeben. legt fest, dass für jede beliebige Zahl a der
Ausdruck a2 das Produkt von a mit sich selbst
In R gibt es keine Induktion! bedeuten soll (Induktionsanfang); dann legt
Die natürlichen Zahlen sind nämlich, im Ge- man für alle n ≥ 3 fest, dass a n das Produkt
gensatz zu den reellen Zahlen, abzählbar (so von a n–1 mit a sein soll (Induktionsschritt),
sind sie definiert, siehe »Induktion«, S. 10). denn nach Induktionsannahme ist a n–1 be-
Und diese Eigenschaft erleichtert ungeheuer reits definiert. Damit ist die Angelegenheit ein
C′
C
Dedekind’sche Schnitte
»Also wird kein Bruch die Länge der Diagonale eines Quadrats ge- Trotzdem können wir auf
nau wiedergeben, dessen Seite 1 cm lang ist. Dies erscheint diese Weise die Quadrat-
wie eine Herausforderung, die die Natur der Arithmetik bietet. wurzel aus 2 tatsächlich
So stolz der Arithmetiker (wie Pythagoras) auch auf die Macht nicht erreichen.
der Zahlen sein mag, so lacht die Natur ihn aus, indem sie ihm Wenn wir alle Brüche in
Längen vorsetzt, die durch die Einheit nicht zahlenmäßig aus- zwei Klassen teilen, je nach-
gedrückt werden können … dem, ob ihre Quadrate klei-
Es ist klar, dass man Brüche finden kann, deren Quadrat sich ner sind als 2 oder nicht, so
von 2 immer weniger unterscheidet. Wir können eine aufstei- finden wir, dass alle diejeni-
gende Folge von Brüchen bilden, deren Quadrate stets kleiner gen, deren Quadrate nicht
sind als 2, die sich aber von der Zwei, wenn wir weit genug kleiner sind als 2, Quadrate
Tangente
fortschreiten, um weniger als jeden vorgegebenen Betrag un- besitzen, die größer als 2
terscheiden. Angenommen also, ich setze einen kleinen Be- sind. Die Brüche, deren Qua-
trag, sagen wir ein Billionstel, von vornherein fest, so werden drat kleiner als 2 ist, haben Richard Dedekind (1831
von einem bestimmten Element an, sagen wir vom zehnten, kein Maximum und die, de- o – 1916) war unter denje-
alle Elemente unserer Folge Quadrate haben, die sich von 2 ren Quadrate größer ist als nigen, die Cantors Ideen zum
um weniger als diesen Betrag unterscheiden. Hätte ich einen 2, haben kein Minimum. Die Durchbruch verhalfen.
noch kleineren Betrag angenommen, so hätte ich in der Folge Differenz zwischen den Zah-
noch weiter gehen müssen. Aber früher oder später hätten wir len, deren Quadrat etwas
ein Element erreicht, sagen wir das zwanzigste, sodass alle fol- größer ist als 2, und denen, deren Quadrat etwas kleiner ist als
genden Elemente Quadrate besitzen, die sich von der Zwei um 2, besitzt keine untere Grenze außer der Null. Wir können, kurz
weniger als diesen kleinen Betrag unterscheiden. Wenn wir gesagt, alle Brüche in zwei Klassen teilen, sodass alle Elemen-
uns an die Arbeit machen, nach den üblichen Regeln die Qua- te der einen Klasse kleiner sind als alle Elemente der anderen
dratwurzel aus 2 zu ziehen, so werden wir einen unendlichen und die eine kein Maximum, die andere dagegen kein Mini-
Dezimalbruch bekommen, der, wenn auf so und so viele Stel- mum besitzt. Zwischen diesen beiden Klassen aber, da wo 2
len berechnet, die obigen Bedingungen erfüllt. Wir können sein sollte, ist nichts. Obwohl wir also unsere Einschnürung so
ebenso gut eine fallende Folge von Brüchen bilden, deren Qua- dicht wie möglich gemacht haben, haben wir sie an der fal-
drate alle größer sind als 2, sodass bei späteren Elementen der schen Stelle zugezogen und die Wurzel aus 2 nicht gefangen.
Folge der Unterschied immer abnimmt. Früher oder später un- Die obige Methode, alle Elemente einer Folge in zwei Klas-
terscheidet sich das Quadrat eines Elements von 2 um weni- sen zu teilen, von denen die eine ganz vor der anderen kommt,
ger als irgendeinen angegebenen Betrag. Auf diese Weise ha- ist durch Dedekind allgemein bekannt geworden. Sie heißt da-
ben wir scheinbar die Wurzel aus 2 umzingelt. Man kann sich her ein ›Dedekind’scher Schnitt‹.«
schwer vorstellen, dass sie uns immer entschlüpfen wird. Bertrand Russell: Einführung in die mathematische Philosophie (1919)
garithmusfunktion, verwenden können. Und Hat man eine Funktion mit dieser Eigen-
Logarithmen wären in der Tat schlicht un- schaft und zusätzlich noch eine Tabelle, die ei-
brauchbar, wenn man sie nicht auch auf irra- nem alle benötigten Funktionswerte mit hin-
tionale Zahlen anwenden könnte. reichender Genauigkeit liefert, so kann man
John Napier (1550 – 1617) war erstmalig sich in der Tat das Multiplizieren vereinfa-
auf die Logarithmen gekommen, weil er die chen: Um ein Produkt ab zu errechnen, finde
mühsamen Multiplikationen durch einfacher man die Logarithmen von a und b durch
durchzuführende Additionen ersetzen wollte. Nachschlagen in der Tabelle, addiere diese
Er suchte also nach einer Funktion, welche (was im Handbetrieb viel schneller geht als
die folgende Fundamentalformel erfüllte: das Multiplizieren) und finde mit Hilfe der
Poincarés Stufenleiter
»Wenn man wissen will, was die Mathematiker unter einem Konti-
nuum verstehen, soll man nicht in erster Linie bei der Geometrie
anfragen. Der Geometer macht sich stets eine Darstellung der
Dinge, die er studiert – er stellt sich eine Gerade im Kopf vor
oder zeichnet sie mit Kreide an die Tafel; aber diese Darstellun-
gen sind für ihn nur ein Hilfsmittel. Man muss sich hüten, Zu-
fälligkeiten, welche oft ebenso unwichtig sind wie die Farbe
der Kreide, allzu viel Bedeutung beizulegen.
Der reine Analytiker hat diese Klippe nicht zu fürchten. Er hat
die mathematische Wissenschaft aller fremden Elemente ent-
kleidet und er kann auf die Frage antworten: Was ist eigentlich
dieses Kontinuum, mit dem die Mathematiker arbeiten? …
Gehen wir von der Stufenleiter der ganzen Zahlen aus; zwi-
schen zwei aufeinanderfolgenden Stufen schieben wir eine
oder mehrere Zwischenstufen ein, dann zwischen diese neuen
Stufen wieder andere und so fort ohne Ende. Wir haben so
eine unbegrenzte Anzahl von Gliedern; das sind die Zahlen,
welche man als Brüche oder als rationale oder kommensurab-
le Zahlen bezeichnet. Aber dies ist nicht alles; zwischen diese
Glieder, welche doch schon in unendlicher Anzahl vorhanden
sind, muss man noch wieder andere einschalten, welche man
als irrationale oder inkommensurable Zahlen bezeichnet …
Tangente
Das so aufgefasste Kontinuum ist nur eine Ansammlung von Indi-
viduen, die in eine gewisse Ordnung gebracht sind; zwar ist
ihre Anzahl unendlich groß, aber sie sind doch voneinander ge-
trennt. Das ist nicht die gewöhnliche Vorstellung, bei der man Für das Kontinuum kommt es nicht darauf an, ob man
sich zwischen den Elementen des Kontinuums eine Art inniger o mit einer Leiter neue Höhen erreicht; entscheidend ist
Verbindung denkt, welche daraus ein Ganzes macht und wo das »Unfassbare«, das selbst dann noch übrig bleibt, wenn
der Punkt nicht früher als die Linie existiert, aber wohl die Linie man immer wieder Sprossen zwischen Sprossen einfügt.
früher als der Punkt. Von der berühmten Formulierung »das
Kontinuum ist die Einheit in der Vielheit« bleibt nur die Vielheit
übrig, die Einheit ist verschwunden. man Stufen einzufügen habe und dass die Zulässigkeit der gan-
Die Analytiker sind deshalb nicht weniger berechtigt, ihr zen Aktion zu beweisen sei. Aber das wäre unbillig; die einzige
Kontinuum so zu definieren, wie sie es tun, denn nur mit ihrer wesentliche Eigenschaft dieser Stufen ist, dass jede sich vor
Definition erreichen sie die höchste Strenge ihrer Beweise. oder hinter einer anderen befindet; mehr ist nicht dahinter, und
Aber dieses mathematische Kontinuum ist etwas ganz ande- mehr darf auch in die Definition der Stufen nicht eingehen.
res als das Kontinuum der Physiker oder dasjenige der Meta- Also braucht man sich nicht darüber zu beunruhigen, wie die-
physiker … ses Einfügen vor sich geht; und niemand wird daran zweifeln,
Man wird vielleicht die Mathematiker, welche sich mit der dass diese Operation möglich ist, es sei denn, er vergäße, dass
Definition der Physiker begnügen, für zu leichtgläubig halten dieses letzte Wort in der Sprache der Mathematik nur so viel
und darauf bestehen, dass in präziser Form auszudrücken sei, bedeutet als ›frei von Widersprüchen‹.«
was jede dieser dazwischen liegenden Stufen bedeute, wie Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese (1901)
Tangente
Menge der reellen Zahlen (was eigens zu be-
weisen ist); es genügt folglich festzuhalten,
dass unsere Funktion log auf der Menge M
stetig ist, dass also die Logarithmen zweier neben den Logarithmen auch eine frühe Ah- Drei nützliche Exemplare
Elemente von M, die nahe beieinander liegen, nung von der Notwendigkeit eines analyti- o von Funktionen aus der
sich ebenfalls nur wenig unterscheiden. schen Arguments. Eine dichte Menge lässt reichhaltigen Vorratskiste der
Von unserer Funktion log, die auf allen re- eben noch »Löcher« neben sich, die es in kor- Analysis, die von John Napier
ellen Zahlen definiert sein soll, müssen wir rekter Weise zu stopfen gilt. und seinen Zeitgenossen all-
jetzt nur noch fordern, dass sie für alle (positi- Es müssen übrigens nicht so viele Löcher mählich bereitgestellt wurde.
ven) reellen Zahlen stetig sein soll. In der Tat sein wie im Fall der Potenzen oder der Lo Ohne begriffliche Mittel wie
genügt das Fordern! Mit unserem Stetig- garithmen, wo das »Gerüst« eine verschwin- die stetige Fortsetzung wären
keitsargument ergibt sich nämlich ein Nähe- dende Minderheit gegenüber den Löchern solche und ähnliche Funktio-
rungsverfahren für den Logarithmus jeder be- bildet. Mit dem Stetigkeitsargument lassen nen nicht einmal denkbar.
liebigen (positiven) reellen Zahl. sich bequem auch einzelne Löcher stopfen. So
Da die Logarithmus- und die Exponen trifft man häufig Funktionen von der Art
tialfunktionen Umkehrungen voneinander f (x) = x 2/x, die für x = 0 nicht definiert sind,
sind, lassen sich die obigen Überlegungen von weil man durch null nicht dividieren darf. In
einer dieser Funktionen auf die andere über- diesem Fall könnte man zwar das Problem da-
tragen. durch erledigen, dass man x herauskürzt; die
interessanten Fälle sind jedoch solche, wo die-
Verworren, aber korrekt se Möglichkeit nicht besteht oder zumindest
Die Stetigkeitsforderung ist nicht nur hinrei- nicht offensichtlich ist. Dann hilft immer
chend, sondern auch notwendig! Wenn man noch das Mittel der stetigen Fortsetzung.
nicht auf der Stetigkeit der Logarithmusfunk- Wir haben in diesem Artikel ein allgemei-
tion besteht, gibt es andere Funktionen, wel- nes Rezept vorgeführt, schwierigere Funktio-
che die Fundamentalgleichung erfüllen, auf nen wie zum Beispiel die Potenz- und die Lo-
der Menge M dieselben Werte annehmen wie garithmusfunktion für alle reellen Zahlen zu
der Logarithmus und auf den übrigen Zahlen konstruieren: Man definiert zunächst die
völlig andere. Sie sind mühsam zu konstruie- Funktion auf einer abzählbaren, dichten Teil-
ren und von sehr wildem Verhalten, aber es menge – eine solche Definition kann rekursiv
gibt sie. und damit formal über alle Zweifel erhaben
Zu der Zeit, als Napier die Logarithmen sein – und erweitert dann durch stetige Fort-
einführte, war der Stetigkeitsbegriff noch setzung auf alle reellen Zahlen. Dieser letzte
nicht vollständig geklärt; folglich musste Na- Schritt ist nicht immer einfach.
pier improvisieren und eine etwas verworrene Wenn doch nur die Menge der reellen
Überlegung anstellen. So verdanken wir ihm Zahlen abzählbar wäre!
W
ir alle glauben zu wissen, was es Raum stellt sich uns als Kontinuum dar.
ist, geraten aber in Verlegenheit, Klarer wird der Begriff »kontinuierlich« in
wenn wir es erklären sollen: »das Gegenüberstellung zu seinem Gegensatz »dis-
Kontinuierliche«. Beispiele können den Be- kret«. Das Diskrete fließt nicht; es tritt in Ge-
griff eingrenzen helfen: Wasser fließt kontinu- stalt isolierter Einzelereignisse in Erscheinung,
ierlich, desgleichen die Zeit, die ebenfalls al- die voneinander getrennt sind wie die Signale
len geläufig, aber schwer in Worte zu fassen eines Leuchtturms. Für das Diskrete fallen
uns viele Bilder ein: Kilometersteine an einer
AKG Berlin (Rembrandt Harmensz van Rijn, Aristoteles, 1653; Metropolitan Museum of Art, New York)
Tangente
gezeigt hat, dass gewisse Dinge denkunmög- Widerspruch.
lich sind, stellt Euklid ein Mittel bereit, den
damit benannten Problemen trotzdem auf den
Leib zu rücken. Der erste Satz des X. Buchs vielen Indivisiblen [unteilbaren Einheiten]
seiner »Elemente« erlaubt es, eine Größe zu bestehen.«
konstruieren, die kleiner ist als eine beliebig Ein knappes Jahrhundert später schreibt
vorgegebene andere Größe. Hierzu genügt es, der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm
so Euklid, wenn zwei verschiedene (gleicharti- Leibniz (1646 – 1716), der seine ganze Philo-
ge) Größen gegeben sind, von der größeren ei- sophie in die Mathematik einbrachte: »Es
nen Teil wegzunehmen, der größer ist als ihre gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich
Hälfte, vom Rest wiederum eine Größe größer unsere Vernunft oft verirrt: das eine betrifft
als die Hälfte wegzunehmen und so fort. Ir- die große Frage der Freiheit und der Notwen-
gendwann bleibt eine Größe übrig, die kleiner digkeit, besonders in Bezug auf Erzeugung
ist als die kleinere der beiden vorgegebenen und Ursprung des Bösen; das andere besteht
Größen. in der Erörterung der Kontinuität und der
Diese Konstruktion liegt insbesondere dem Indivisiblen, die als ihre Elemente erscheinen,
Exhaustionsprinzip zu Grunde, mit dem die wohin auch das Problem des Unendlichen
Tangente
Elementen ist die Mächtigkeit der eine Vermutung, die berühmte »Kontinuums-
»Potenzmenge« P(M ), das ist die hypothese«. Über ihre Gültigkeit haben sich
Menge aller Teilmengen von M, die Mathematiker intensiv den Kopf zerbro-
gleich 2n. chen. Unter den berühmten 23 Problemen,
r Für jede Menge M ist die Mächtig- mit denen David Hilbert 1900 auf der inter-
keit der Potenzmenge P (M) echt grö- nationalen Tagung in Paris seinen mathemati-
ßer als die der Menge M selbst. schen Fachkollegen den Weg zukünftiger For-
Wenn M unendlich ist, dann ist P( M) schung wies, ist der Beweis der Kontinuums-
»noch unendlicher«, das heißt von ei- hypothese die Nummer 1.
ner höheren Unendlichkeit (Funda- Georg Cantor als 25-jähriger Auf dem Weg zum Kontinuum definiert
mentalsatz von Cantor). o Professor in Halle: Blick ins Cantor dann zu einer Punktmenge P die »ab-
r Die Menge R der reellen Zahlen Unendliche gerichtet, Zigarre in der geleitete Menge« P´ als die Menge ihrer Häu-
hat dieselbe Mächtigkeit wie die Men- Hand fungspunkte. Ein Häufungspunkt der Menge
ge P ( ) aller Teilmengen der P ist ein Punkt, bei dem jede – beliebig kleine
natürlichen Zahlen. In Analogie zum – Umgebung mindestens einen Punkt von P
endlichen Fall wird dieses »gemeinsa- Die Kontinuumshypothese ist im Rah- enthält. Cantor nennt eine Menge S »perfekt«
me« Unendliche als 2ℵ0 bezeichnet. men der klassischen Mengenlehre (heutige Sprechweise: »abgeschlossen«), wenn
Aus dem Fundamentalsatz von unentscheidbar. Kurt Gödel zeigte S´= S gilt. Aber um kontinuierlich zu sein, ge-
Cantor ergibt sich die folgende Hierar- 1938, dass man das Axiom »die Kon- nügt es nicht, perfekt zu sein. Cantor kon-
chie von Unendlichkeiten: tinuumshypothese ist wahr« zur Men- struierte ein Gegenbeispiel, das heute seinen
ℵ0
ℵ0 < 2ℵ0 < 22 < … genlehre hinzufügen kann, ohne dass Namen trägt: Das Cantor’sche Diskontinuum
Gibt es nun eine Unendlichkeit zwi- sich ein Widerspruch ergibt. Im Jahr ergibt sich, wenn man aus einem Intervall
schen dem »abzählbar Unendlichen« 1963 zeigte Paul Cohen, dass man dessen mittleres Drittel herausnimmt, dann
und dem »Kontinuum«? Die Kontinu- auch das Axiom »die Kontinuumshy- die mittleren Drittel der verbleibenden Teile
umshypothese sagt »nein«, in For- pothese ist falsch« zur Mengenlehre wegnimmt und so weiter.
meln ausgedrückt: ℵ1=2ℵ0 . hinzufügen kann, ohne dass sich ein Für die Eigenschaft »kontinuierlich« muss
Die verallgemeinerte Kontinuums- Widerspruch ergibt. Somit ist die ge- also eine weitere Bedingung hinzukommen:
hypothese behauptet Ähnliches für genwärtige Theorie des Unendlichen Die Menge muss »verkettet« sein (in Cantors
alle Unendlichkeiten: Für alle natürli- nicht fähig, den Schleier über einem Ausdrucksweise: »zusammenhängend«, was
chen Zahlen n gilt ℵn+1 = 2ℵn . wesentlichen Problem zu lüften. heute eine ganz andere Bedeutung hat). Das
heißt: Sind x und y beliebige Punkte der
Von Benoît Rittaud Kaum schwieriger ist die Frage: Wie viel
wiegt der rot gezeichnete Teil der Stange im
W
enn die homogene Eisenstange AB Bild rechts, b? Es genügt, die einzelnen Stü
(Bild rechts, a) ein Kilogramm cke, aus denen sich unser Teil zusammensetzt,
wiegt, wie viel wiegt dann der Teil zu untersuchen. Die Gesamtmasse ist gleich
MN ? Die Frage ist auch ohne Waage nicht der Summe der Massen der Stücke, welche
schwer zu beantworten. Da die Stange homo sich wiederum aus deren Längen ergibt.
gen sein soll, ist die Masse jedes Teilstücks sei Auf diese Weise finden wir – ohne Waage
ner Länge proportional. Wenn die Strecke – das Gewicht für viele Teilmengen unserer
von M nach N gerade halb so lang ist wie die Stange. Dabei nutzen wir zwei elementare
Gesamtstrecke von A nach B, dann wiegt das Tatsachen: Man weiß, wie viel ein Intervall
Teilstück MN genau ein halbes Kilogramm, wiegt, nämlich – bis auf einen Proportiona
und so weiter. (Auf den Unterschied zwischen litätsfaktor – so viel, wie die Differenz seiner
Masse und Gewicht, auf den die Physiker mit Endpunkte angibt; und wenn man die Mas
gutem Grund so großen Wert legen, soll es sen zweier disjunkter (elementefremder) Teil
uns hier nicht ankommen.) mengen kennt, dann weiß man, wie viel ihre
Vereinigung wiegt, nämlich die Summe der
Einzelmassen. Und wenn man die Massen
Ein Punkt hat die Masse null! zweier Mengen addieren kann, dann geht das
auch für endlich viele; das ergibt sich aus ei
Die Masse des Intervalls [0, 1] sei gleich 1 und gleichmäßig verteilt. Dann ist die nem einfachen Induktionsargument.
Masse eines Intervalls [a, b], das in [0, 1] enthalten ist, einfach durch b – a
gegeben. Folglich hat das Intervall [a, a], das nur aus dem Punkt a besteht, die Das Unendliche in der Klemme
Masse a – a, das heißt null. Haben wir jedoch unendlich viele Teilmengen
Durch ein Zufallsexperiment werde eine bestimmte Zahl x aus dem Intervall zu vereinigen, dann ist, wie beim Unendli
[0, 1] ausgewählt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Zahl x Ergebnis die- chen üblich, Vorsicht geboten. Nehmen wir
ses Zufallsexperiments ist, beträgt null, wie für jede Zahl x, siehe oben. Man als Beispiel die Vereinigung der Intervalle
ist gewohnt, »Wahrscheinlichkeit null« mit »unmöglich« gleichzusetzen. Aber [1/2, 1], [1/8, 1/4], [1/32, 1/16] und so wei
das muss man sich abgewöhnen. Da die Zahl x Ergebnis des Experiments ist, ter (Bild rechts, c). Die Teilintervalle grenzen
war es offensichtlich nicht unmöglich, dass sie gezogen wurde. Also ist »Wahr- nicht aneinander, sondern lassen Lücken zwi
scheinlichkeit null« etwas anderes als »unmöglich«. schen sich (sonst wäre es ja auch zu einfach).
Nebenbei ergibt sich, dass es bei der Masse eines Intervalls nicht darauf an- Wie also wiegt man eine unendliche disjunkte
kommt, ob man die Endpunkte mitzählt oder nicht: Die Intervalle [a, b], [a, b [, Vereinigung von Mengen?
]a, b] und ]a, b [ haben alle dasselbe Maß, nämlich b – a. Hier macht sich eine Idee nützlich, die
schon zur Definition reeller Zahlen diente:
a M N
Das Größere findet sich, indem man zu Vn wählte« Zahl aus dem Intervall [0, 1] im – sa
das Intervall [0, 1/22n+1] hinzunimmt; denn gen wir – mittleren Drittel dieses Intervalls?
alle noch nicht berücksichtigten Teilintervalle Die Bezeichnungen »Masse« und »Länge« A B
liegen zwischen 0 und 1/22n+1, werden also von oben lassen sich durch Wahrscheinlich b M1 N1 M2 N2 M3 N3 M4 N4
von dem Intervall [0, 1/22n+1] gnädig zuge keiten ersetzen: Wenn die Wahrscheinlichkeit
deckt. Also ist U enthalten in der Vereinigung über das ganze Intervall gleichmäßig verteilt A B
Wn = I0 ∪ I1 ∪ … ∪ In ∪ [0, 1/22n+1] mit der ist – das entspricht der Homogenität des Ei c 1/
1/
4 1/ 1
Masse 1/2 + 1/8 + ... + 1/22n+1 + 1/22n+1. senstabs –, dann ist die Wahrscheinlichkeit 8 2
Solcherart zwischen den Mengen Vn und dafür, dass eine zufällig aus [0, 1] gezogene
A B
Wn eingeklemmt, bleibt U nichts anderes üb Zahl im Intervall [1/3, 2/3] liegt, gleich
nicht als endliche Vereinigung von Intervallen sind es gewohnt, damit zu leben, dass gewisse
schreiben. Also greifen wir auf unser Ein Dinge nicht definierbar sind; also wären sie im
klemmverfahren zurück und suchen Ober- Prinzip auch bereit hinzunehmen, dass Q
und Untermengen von Q, das heißt endliche nicht messbar ist, das heißt, dass man ein Maß
Vereinigungen von Intervallen, in denen Q von Q nicht definieren kann.
Tangente
Behauptung mit dem Grenzwert der Maße tervalle Jn = [qn–e/2n+1, qn+e/2n+1]. Die Verei
nicht richtig sein. nigung aller Jn enthält dann nach Konstrukti
on Q. Da das Maß jedes Intervalls Jn gleich
e/2n ist, liefert die Summe e/2+e/4+e/8+
Wo steckt die Lücke im Gedankengang? e/16+ … = e eine Abschätzung nach oben für
Für die Berechnung des Maßes von U haben das gesuchte Maß.
wir nur die Maße abzählbar unendlich vieler Jetzt kommt das klassische Argument der
Intervalle aufaddiert: I0, I1, I2, … Die Punkte Epsilontik: e kann beliebig klein gewählt wer
des Intervalls, deren Maße wir soeben aufad den. Folglich ist das von e nach oben abge
dieren wollten, sind dagegen überabzählbar schätzte Maß kleiner als jede positive Zahl,
viele. Und dieser kleine, fast esoterisch anmu also ist es null, was zu beweisen war.
tende Unterschied zwischen den verschiede Die Sache mit den Nullmengen ist also
nen Sorten von Unendlichkeit erweist sich als ausgesprochen gewöhnungsbedürftig. Eine
entscheidend. Menge wie Q ist immerhin nicht nur unend
Damit können wir endlich unsere Defi lich, sondern auch noch dicht: Wo auch im
nition von »Maß« von oben vervollständigen. mer man sich auf der reellen Zahlengeraden
Die dritte Bedingung an ein Maß lautet: herumtreibt, es findet sich in beliebiger Nähe
Das Maß einer Vereinigung abzählbar unend stets eine rationale Zahl. Aber trotz dieser
lich vieler disjunkter Mengen ist gleich der Omnipräsenz ist die Menge Q schlicht ver
(unendlichen) Summe der Maße der Einzel nachlässigbar!
mengen. Übrigens hilft auch Überabzählbarkeit
Die moderne Maßtheorie, die großenteils nicht gegen den Absturz in die Bedeutungs
auf dem subtilen Unterschied zwischen den losigkeit. Der berüchtigte Cantorstaub – man
beiden Typen von Unendlichkeit beruht, ver nehme dem Einheitsintervall das mittlere
danken wir Henri Lebesgue und seinem Zeit Drittel, den verbleibenden Teilintervallen wie
genossen Émile Borel (1871 – 1956). der das mittlere Drittel, und so weiter ad in
finitum – enthält zwar überabzählbar viele
Nur so wenige rationale Zahlen Punkte, ist aber vernachlässigbar. Warum? Die
Was sagt uns all das über die rationalen Zah endlichen Vereinigungen von Intervallen, die
len? Sie sind vernachlässigbar! So ist der als Konstruktionsstadien dienen, sind sämtlich
Sprachgebrauch der Maßtheoretiker, die alles, Obermengen für den Cantorstaub. Aber deren
was das Maß null hat, kurz als »Nullmenge« Gesamtlänge nimmt bei jedem Konstruktions
und damit als vernachlässigbar kennzeichnen. schritt um ein Drittel ab. Das macht eine geo
Sie sagen auch, eine Aussage gelte »fast über metrische Folge mit dem Quotienten 2/3, und
all«, wenn sie überall mit Ausnahme einer deren Grenzwert ist bekanntlich null.
Ausgewählt von Michel Criton che Summen«, S. 19). Genügt es, die Folge der natürlichen
Zahlen ein wenig auszudünnen, um die Divergenz in eine
Konvergenz zu verwandeln?
1. Eine fast harmonische Reihe *** Konkret gefragt: Man streiche von den natürlichen Zahlen
Die »harmonische Reihe«, das heißt die Summe 1 + 1/2 + 1/3 alle, die irgendwo in ihrer Dezimaldarstellung eine Zwei ent-
+ 1/4 + ... der Kehrwerte der natürlichen Zahlen, strebt gegen halten. Wenn man die Kehrwerte der verbleibenden Zahlen
unendlich, aber sehr langsam (siehe »Leonhard Eulers unendli- addiert, konvergiert diese Summe gegen eine endliche Zahl?
2. Immer wieder Differenzen ** ten Zahl gilt die erste. Alle Differenzen wer-
José schreibt die fünf Zahlen 0, 6, 9, 9, 2 in den positiv genommen. Nach demselben Sys-
eine Zeile. In die Zeile darunter schreibt er je- tem schreibt José eine zweite Zeile unter die
weils die Differenz zwischen der darüber ste- erste, darunter eine dritte und Ausgangszeile
henden Zahl und ihrer rechten Nachbarin. so weiter. 2
0 6 9 9
Man muss sich die Zeile zum Ring geschlos- Welche fünf Ziffern stehen in 1. Zeile 6 3 0 7
2
4
sen vorstellen: Als rechte Nachbarin der letz- der 1992. Zeile? 2. Zeile 3 3 7 5
3. Ein diskreter Satz **** Punkten des diskreten Raums bilden kann,
Ein »diskreter« Raum ist ein Raum, in dem gibt es mit Sicherheit mindestens eines, des-
alle Punkte ganzzahlige Koordinaten besitzen. sen Schwerpunkt ganzzahlige Koordinaten be-
e
Frank behauptet, er habe eine natürliche Zahl sitzt; und n ist die kleinste Zahl mit dieser Ei-
Tangent
n mit folgender Eigenschaft gefunden: Unter genschaft.
allen Dreiecken, die man aus n beliebigen Welche Zahl hat Frank gefunden?
Von Benoît Rittaud denen in der Folge die gesamte klassische Phy
sik zerbrechen wird.
W
ir schreiben das Jahr 1900. Die Es geht um die Strahlung des »schwarzen
Physiker sind mehrheitlich davon Körpers«, das heißt eines Körpers, der alle ein
überzeugt, dass ihre Arbeit, bis auf fallende Strahlung absorbiert. Experimentell
einige kleine Umstimmigkeiten, im Wesentli pflegte man ihn durch einen Behälter mit
chen erledigt sei. Auf der einen Seite gibt es rußgeschwärzten Wänden zu realisieren. Inte
die Materie, die von den Gesetzen der univer ressant ist ein schwarzer Körper allerdings nur
sellen Gravitation regiert wird (auch wenn dann, wenn er strahlt, und genau dann ist er
man deren Bestandteile, die Atome, noch nicht mehr schwarz; man denke an zur Weiß
nicht besonders gut versteht), auf der anderen glut erhitztes Eisen.
Seite die elektromagnetische Strahlung, die Das Wesentliche am schwarzen Körper ist
den Maxwell’schen Gesetzen unterliegt und also nicht, dass er keine Strahlung reflektiert,
deren einleuchtendstes Beispiel das sichtbare sondern dass die von ihm ausgehende Strah
Licht ist. lung ihren Ursprung ausschließlich im Körper
Da stellt sich in natürlicher Weise die Fra selbst hat. Unter dieser Voraussetzung hängt sie
Physikalisches Laborato ge, wie die Wechselwirkung zwischen Materie nämlich nicht vom Material des Körpers oder
u rium im Jahr 1909: Ein und Strahlung beschaffen ist; schon das Be sonstigen Eigenschaften ab, sondern nur von
Physiker arbeitet an einem leuchten eines Gegenstands ist eine solche seiner Temperatur (siehe Kasten S. 71). Und
Spektrometer, das vor einem Wechselwirkung. Und genau an dieser Stelle zwar ist, grob gesprochen, die Frequenz der
Elektroofen aufgestellt ist. liegt eine der kleinen Unstimmigkeiten, an Strahlung um so höher, je höher die Tempera
tur ist. Auch bei Zimmertemperatur strahlt ein
Ullsteinbild / Roger-Viollet
Ullsteinbild
r Ein strahlender Körper, gleichgültig ob flüssig oder fest, strahlt Licht aller Wellenlängen
aus und liefert somit ein kontinuierliches Spektrum.
r Ein heißes leuchtendes Gas sendet sichtbares Licht in der Form eines diskontinuierli
chen Emissionsspektrums aus.
r Durchquert weißes Licht aus einer Strahlungsquelle ein Gas, so kann dieses gewisse
Wellenlängen, an denen dann schwarze Bänder erscheinen, aus dem kontinuierlichen Spek
Tangente
Das erste Sonnenspek Ein Punkt wiegt nichts; eine einzelne Fre nämlich ein Integral; das ist zwar zunächst
o trum, aufgenommen von quenz ist nur ein Punkt auf der reellen Achse auch viel schwieriger zu verstehen als eine
Joseph von Fraunhofer (1787 – der Frequenzen und trägt dementsprechend schlichte Summe, aber meistens einfacher zu
1826) im Jahr 1817 nichts zur Strahlungsleistung bei. Sinnvoll berechnen (siehe Kasten S. 74).
sprechen kann man nur über das Gewicht ei
nes Intervalls, in unserem Kontext über den Die Formel
Beitrag eines »Frequenzbands« der Breite l. von Rayleigh und Jeans
Wir zerlegen also das Spektrum in Bänder Aus den Gesetzen des Elektromagnetismus
der Breite l, messen die Strahlungsintensität lässt sich herleiten, dass sich die Spektraldich
in jedem Band und tragen das Ergebnis in ei te rT bis auf eine multiplikative Konstante in
nem Diagramm auf: für jedes Band ein Recht der Form
eck, dessen Breite gleich der Breite des Bands
und dessen Höhe gleich der gemessenen In
tensität ist. schreibt. Dabei bedeutet 〈E(T )〉 die mittlere
Energie der Quellen der Strahlung in der
Wand des schwarzen Körpers.
Was sind diese Quellen? Heute würde man
sagen: die Elektronen, die von einem angereg
Lassen wir nun die Breite l gegen null ge ten Zustand in den Grundzustand zurück
hen: Die Rechtecke werden immer schmaler, springen und dabei ein Photon emittieren.
Grafiken: tangente
und die zugehörigen Diagramme nähern sich Aber wir sind ja im Jahr 1900. Man hatte zwar
einer Kurve. schon eine Vorstellung von Elektronen, glaub
te aber noch, sie würden sich gemäß den Ge
setzen des Elektromagnetismus in einer homo
gen positiv geladenen Kugel bewegen. Als Max
Planck seine theoretischen Überlegungen an
Die zugehörige Funktion nennt man die stellte, ließ er sich auf Spekulationen über de
Spektraldichte rT . Sie drückt die Verteilung ren Natur nicht ein – und hatte es auch gar
der Frequenzen einer elektromagnetischen nicht nötig. Es genügt, »dass man also die
Strahlung aus. Emission von Wärmestrahlen als bedingt an
Wir haben soeben – unter Verzicht auf lo sieht durch die Aussendung elektromagneti
gische Strenge, die man aber nachholen könn scher Wellen von Seiten gewisser elementarer
te – einen Übergang vom Diskreten zum Oscillatoren, die man sich in irgend einem
Kontinuierlichen vollzogen: ein klassisches Zusammenhang mit den ponderablen Atomen
Verfahren der Analysis, das seit dem 17. Jahr der strahlenden Körper vorstellen mag«, so
hundert praktiziert wird. Im vorliegenden Fall Planck in seiner Arbeit »Ueber irreversible
ist der Übergang physikalisch gerechtfertigt Strahlungsvorgänge« von 1900.
durch die Tatsache, dass alle Frequenzen zuge Diese »Oscillatoren« darf man sich wie Fe
lassen sind und keine von ihnen eine beson derpendel vorstellen: Eine Masse m schwingt
dere Rolle spielt. Kontinuierliche Verteilun mit der Frequenz n; ihre potenzielle Energie
gen samt zugehöriger Dichtefunktion – in un ist proportional dem Quadrat ihrer Auslen
serem Fall der Spektraldichte – erfordern zwar kung q aus der Gleichgewichtslage, ihre kine
einen höheren begrifflichen Aufwand; aber tische Energie proportional dem Quadrat ih
hinterher ist das Rechnen mit ihnen häufig res Impulses p. Für die Gesamtenergie ergibt
einfacher. An die Stelle einer Summe tritt sich die Formel
Die erste Version der sehr komplexen Be tastrophe erledigt. Planck in: Annalen der Physik, Bd.
rechnungen Plancks füllte viele Seiten; aber Die Konsequenzen dieses Übergangs vom 309, S. 553, 1901
Planck selbst, der seiner eigenen Entdeckung Kontinuierlichen zum Diskreten erschütter
Ueber irreversible Strahlungsvor-
misstraute, suchte und fand mehrere unter ten wenig später das gesamte Gebäude der gänge. Von Max Planck in: Annalen
schiedliche mathematische Begründungen, klassischen Physik und führten geradewegs der Physik, Bd. 306, S. 69, 1900
darunter die folgende: zur Quantenmechanik.
A
m Bolzano-Platz im Zentrum der be- ist unlösbar. Bedaure.«
triebsamen Metropole Cantorstadt Missgestimmt wendet sich unser Reisen-
stehen zwei traditionsreiche Hotels: der auf der anderen Seite des großen Platzes
das Ritz und das Hilbert. dem Hotel Hilbert zu, einem Prachtbau mit
Ein verspäteter Reisender klopft an die monumentaler Fassade, dessen Seitenflügel
Nachtpforte des Ritz und fragt den schlaf- sich im Nebel verlieren.
trunkenen Portier nach einem Zimmer für die
Nacht. Stets ausgebucht
» Alles belegt «, antwortet dieser. Das Hotel Hilbert ist in einem Punkt bemer-
» Aber Sie haben doch 100 Zimmer, nach Ihrer kenswert: Es hat kein letztes Zimmer!
Leuchtreklame «, erwidert der Neuankömmling. Stellen wir uns der Einfachheit halber ei-
»Die sind aber sämtlich vergeben. Da niemand nen Gang ohne Ende vor, daran das Zimmer
sein Zimmer mit einem anderen Gast teilen mit der Nummer 1, dann das Zimmer mit
möchte, kann ich nichts für Sie tun. Um Sie un der Nummer 2 und so weiter. Irgendwann
kommt man zum Zimmer 31 415, es folgt »Gestatten Sie, dass ich an Ihrem Verstand zwei
Zimmer 31 416. Auf das Zimmer mit der fele «, erwidert der Reisende. »Es ist unmöglich,
Nummer n folgt immer das Zimmer mit der ein solches Problem zu lösen.«
Nummer n + 1. Der Flur sieht überall gleich
aus, einerlei wo man steht. Alles spricht dafür, Verschiebung
dass das Hotel Hilbert unendlich viele Zim- »Im Gegenteil: Nichts ist einfacher«, gibt der
mer hat. Portier zurück. »Ich benötige nur diese Telefon
Voller Hoffnung wendet sich unser Rei- anlage. Damit kann ich allen Gästen dieselbe
sender an den Portier. Nachricht übermitteln: ›Bitte ziehen Sie ins
»Ich hätte gerne ein Zimmer, bitte.« nächste Zimmer um.‹ «
»Wir sind voll belegt «, antwortet der Portier »Verstehe ich nicht.«
und zwirbelt sich den Schnurrbart. »Der Gast in Zimmer 1 wird nach Zimmer 2 Ein kleiner nächtlicher
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben wandern, derjenige in 2 kommt nach 3, der u Massenumzug im un-
doch unendlich viele Zimmer!« von 3 nach 4 und so weiter. Allgemein wird endlichen Hotel Hilbert
»Schon, aber unser Geschäft läuft gut«, antwor-
tet der Herrscher der Zimmerschlüssel mit ei-
nem breiten Lächeln. »Aber keine Sorge: Wir 1 2 3 4
regeln das für Sie. Unsere Hotelgäste sind sehr
kooperativ. Mit ihrer Hilfe werden Sie in eini
gen Minuten ein Zimmer haben und können
beruhigt schlafen. Unsere Devise heißt ›Der
Kunde ist unendlich zufrieden‹, und wir haben
sie bisher noch immer erfüllt.«
1 2 3 4 5 6 7 8
Cantor 4 10 11 12 13 22 • • • • Primzahlen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 für den besonderen Service
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auch von Anfang an eine Zuweisung vorneh
men, die nicht nur alle Gäste der Cantor-Kette
(Der erste Gast aus Cantor 1 bekommt unterbringt, sondern auch noch unendlich viele
Zimmer 1, der erste Gast aus Cantor 2 Zim- Zimmer frei lässt«, fährt der Portier fort. »Das
mer 2, der vierte Gast aus Cantor 3 wandert ist hilfreich für den Fall, dass ein Reisebus mit
nach Zimmer 14, der zweite Gast aus Cantor unendlich vielen Plätzen zur Unzeit eintrifft
4 nach 11, …) oder« – er senkt seine Stimme – »manche Gäs
»Bekommt so wirklich jeder ein Zimmer?«, te lieber nach nebenan ausweichen, als Wand an
zweifelt der Reisende. Wand mit einem der Schnarcher aus Cantor
»Das ist es ja gerade. Schauen Sie sich die Zeich 728 zu logieren. Solche Dinge kann man dann
nung genauer an. Die ersten n Gäste der ersten diskret lösen, ohne gleich das ganze Hotel in
n Hotels bekommen in meinem Hotel die Aufruhr zu versetzen.«
Zimmer mit den Nummern 1 bis n2. Wo schi »Sie erstaunen mich«, sagt der Reisende.
cken wir die Gäste hin? Für die bisherigen Be »Nichts einfacher als das, mein Herr. Betrachten
wohner von Cantor 1 ist die Sache einfach. Sie wir die unendliche Abfolge der Primzahlen: 2,
wechseln nicht das Hotel, sondern ziehen nur 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, … Geben wir
von n nach n2. dem n-ten Reisenden in Cantor 1 das Zimmer
Aber nehmen wir zum Beispiel den Gast aus Nummer 2 n, dem n-ten Reisenden in Cantor 2
Zimmer 217 in Cantor 136. In das Zimmer das Zimmer Nummer 3 n und so weiter. Der n-
David Hilbert
z
In Vorträgen für das allgemeine Publikum pflegte sen lassen. Das Induktionsprinzip (siehe den
David Hilbert (1862 – 1943) die scheinbaren Pa- Beitrag »Induktion: die Leiter ins Unendliche«
radoxien des Unendlichen anhand der Leiden von Norbert Verdier) ist ein solches endliches
der Gäste eines unwahrscheinlichen Hotels zu Mittel: Mit einer geringen Anzahl von Axio-
erläutern. Seitdem ist die Idee von vielen Leu- men erfasst es die unendlich vielen natürli-
ten, insbesondere Mathematikern, aufgegrif- chen Zahlen.
fen und weiterentwickelt worden. Der polni-
sche Autor Stanisław Lem hat sogar einen Mit »Endlichkeitssätzen« gelang es Hilbert in
Sciencefiction-Roman mit dem Titel »Hilberts vielen Fällen nachzuweisen, dass eine unend-
Hotel« geschrieben. liche Vielfalt mathematischer Objekte »end-
Hilbert war einer der größten Mathema lich erzeugt« ist. Das heißt, jedes dieser
tiker aller Zeiten; und naturgemäß standen Objekte kann aus einem Baukasten zusam-
Fragen des Unendlichen immer wieder im mengebaut werden, der nur endlich viele
Zentrum seines Interesses. Er sagte: »Mehr verschiedene Grundbausteine enthält (aller-
als jede andere Frage hat das Problem des dings stehen von jedem Baustein beliebig
Unendlichen das Denken der Menschen be- viele Exemplare zur Verfügung).
schäftigt; mehr als jede andere Idee hat die Hilbert war überzeugt, dass – auf diesem
jenige des Unendlichen ihre Intelligenz her- oder einem ähnlichen Weg – alle mathema
ausgefordert und befruchtet; mehr als jeder tischen Wahrheiten dem menschlichen Geist
andere Begriff erfordert es derjenige des Un- zugänglich seien: »Der wahre Grund dafür,
endlichen, geklärt zu werden.« dass man kein unlösbares Problem gefunden
Jede Frage zum Unendlichen müsse sich in hat, besteht meiner Ansicht nach darin, dass
»finitistischer« Weise, das heißt mit endli- ein unlösbares Problem schlechterdings nicht
chem Aufwand an gedanklichen Mitteln, lö- existiert. Anstatt ›ignorabimus‹ zu sagen, soll-
te unsere Devise im Gegenteil sein: Wir kön-
nen nicht nicht wissen. Wir werden wissen.«
Zu den Zeiten, als Göttingen noch das Der Satz von Gödel hat diese Hoffnung und
l Weltzentrum der Mathematik war, gab diesen Anspruch zerstört. Die Wahrheiten
es Postkarten mit den Portraits seiner Helden sind weit davon entfernt, sämtlich beweisbar
zu kaufen – zum Beispiel von Hilbert. zu sein.
te Reisende von Cantor m erhält das Zimmer »Sie haben Recht, mein Herr«, sagt der Portier
mit der Nummer pmn, wobei pm die m-te Prim und senkt entschuldigend das Haupt. »Dieses
zahl ist. Und Sie wissen doch, die Eindeutigkeit Verfahren ist in der Tat rein theoretisch. Aber
der Primfaktorzerlegung …: p r = q s für unter eine winzig kleine Abwandlung macht es prak
schiedliche Primzahlen p und q und natürliche tikabel.«
Zahlen r und s kommt einfach nicht vor. Also »Ich bin ganz Ohr.«
bekommen niemals zwei Reisende dasselbe Zim »Wir brauchen nur die beiden Primzahlen 2
mer zugewiesen.« und 3. Das ist einfach. Es genügt, dem n-ten
»Das schaffen Sie nicht in einer Nacht«, entgeg- Reisenden aus Cantor m das Zimmer mit der
net der Reisende. Nummer 2 n · 3 m zuzuweisen. Wieder rettet uns
»Ich habe es noch nicht ausprobiert. Aber wa die elementare Arithmetik. Ist m ≠ p oder n ≠ q,
rum nicht?« so ist 2 m3 n ≠ 2 p3 q. Also streiten sich nirgends
»Es gibt keine Formel, die einem die n-te Prim zwei Gäste um ein und dasselbe Zimmer. Und
zahl liefern würde, ohne dass man zuvor alle obendrein preist jeder die himmlische Ruhe;
kleineren Primzahlen bestimmt hätte. Man denn abgesehen von den kleineren Zimmernum
kennt auch noch kein deterministisches Verfah mern logiert der nächste Schnarcher meistens
ren, das einem schnell und zuverlässig sagt, ob weit entfernt.«
eine Zahl prim ist oder nicht. Das Zerlegen ei »Genial«, sagt der Reisende, ehrlich beein-
ner sehr großen Zahl kann mehrere Millionen druckt, aber bemüht, den Redeschwall des
Neue Erlebnisse aus dem Cantor- Jahre dauern. Da werden die Leute aus Cantor Schlüsselgewaltigen nun wirklich zu beenden.
L i t e rat ur
land, Teil 1 und 2. Von Bernhard 1 000 000 ungeduldig, während Sie deren Zim »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht,
Strowitzki in: Spektrum der Wissen- mernummern ausrechnen; und die anderen un was Sie tun, wenn die Gäste unendlich vieler
schaft 4/2000, S. 112, und 5/2000,
S. 112 endlich vielen Gäste aus unendlich vielen Hotels Hotelketten mit jeweils unendlich vielen unend
stehen auch noch Schlange.« lichen Hotels vor Ihrer Tür stehen?«
Vorperiode
zu bestimmen, gehen wir getrennt nach ein- ligen zulässigen Zahlen zwischen 8 . 9n–1 / 10n Zeile 3: 0 4 2 1 1
Zeile 4: 4 2 1 0 1
stelligen, zweistelligen, … Zahlen vor. = (8/10) . (9/10)n–1 und 8 . (9/10)n–1.
Zeile 5: 2 1 1 1 3
Für die erste Ziffer einer n-stelligen zuläs- Summiert man über alle n, so ergibt sich, Zeile 6: 1 0 0 2 1
sigen Zahl haben wir acht Möglichkeiten zur dass unsere unbekannte Summe nach unten Zeile 7: 1 0 2 1 0
Auswahl (alle außer 0 und 2), für alle anderen und oben durch eine geometrische Reihe mit Zeile 8: 1 2 1 1 1
Ziffern neun Möglichkeiten (alle außer 2). dem Faktor (9/10) abgeschätzt wird. Daraus Zeile 9: 1 1 0 0 0
Also gibt es insgesamt 8 . 9n–1 n-stellige zuläs- folgt, dass die Summe zwischen 8 und 80 Zeile 10 : 0 1 0 0 1
Zeile 11 : 1 1 0 1 1
sige Zahlen. liegt. Insbesondere ist sie endlich!
Zeile 12 : 0 1 1 0 0
Tangente
Musters: 0 1 1 0 0. Zeile 26 : 1 1 0 1 1
3. Der Schwerpunkt des Dreiecks mit den Der kleine Raum ist in der Tat sehr eng.
Eckpunkten A=(a1, a2, a3), B=(b1, b2, b3) und Er besteht aus den Punkten (a1, a2, a3), deren
C=(c1, c2, c3) ist gleich ihrer Summe, geteilt Koordinaten a1, a2 und a3 die Werte 0, 1 und
durch 3: 2 annehmen dürfen. Das sind insgesamt nur
33=27 Punkte, wie die Würfelchen eines Ru-
S=( (a1+b1+c1)/3, (a2+b2+c2)/3, (a3+b3+c3)/3)
bik-Würfels. Spätestens von 55 beliebigen
(Man addiert Punkte, indem man ihre Koor- Punkten des großen Raums müssen drei den-
dinaten addiert, wie bei der Vektoraddition.) selben Schatten haben, und das Dreieck aus
Der Schwerpunkt hat also genau dann ganz- diesen drei Punkten hat dann einen ganzzah-
zahlige Koordinaten, wenn alle drei Koordi- ligen Schwerpunkt, denn die Summe ihrer
natensummen a1+b1+c1, a2+b2+c2 und a3+b3+c3 Schatten ist (3a1, 3a2, 3a3)=(0, 0, 0).
durch 3 teilbar sind. Wir wissen also schon, dass n≤55 ist; ge-
Deswegen rechnet man »modulo 3«: Man sucht ist aber das kleinste n mit dieser Eigen-
betrachtet statt der Koordinaten selbst deren schaft. Andersherum gedacht: Man sucht mög-
Reste bei der Division durch 3. Man addiert lichst viele Punkte mit der Eigenschaft, dass
und multipliziert wie gewohnt, ersetzt aber je- kein aus diesen Punkten gebildetes Dreieck ei-
des Vielfache von 3 durch 0. Es kommen also nen ganzzahligen Schwerpunkt hat. Nennen
nur die Zahlen 0, 1 und 2 überhaupt vor, und wir diese größtmögliche Punkteanzahl m, so ist
1+2=0. n = m +1. Wir suchen also m Punkte im Schat-
Statt in dem großen diskreten Raum ar- tenraum mit der Eigenschaft, dass niemals die
beiten wir nun in dem »kleinen« Raum der Summe dreier Punkte gleich 0 ist. (Wir schrei-
Punkte modulo 3. Man sagt, wir »projizieren« ben einfach 0 für den Punkt (0, 0, 0). )
vom großen Raum in den kleinen, weil dieser Unter diesen m Punkten dürfen gewisse
Übergang einer Schattenbildung ähnlich ist. Punkte doppelt vorkommen; sie könnten ja
Insbesondere können zwei verschiedene Punk- Schatten verschiedener Punkte des großen
te des großen Raums durch die Projektion auf Raums sein. Deswegen sprechen wir nicht
denselben Punkt abgebildet werden. von einer Menge von Punkten, sondern von
Das obere Bild links zeigt eine von drei male freie Halbfamilie im gesamten Würfel
Würfelebenen (die dritte Koordinate ist weg- hat genau neun Elemente, eine maximale freie
gelassen) mitsamt den vier Geraden, die durch Familie hat 18 Elemente, und n=19.
4. Es geht darum, eine Permutation f aus der Kenntnis ihres auch die Mitglieder von B bei der Anwendung von g unter sich
»Quadrates« g=f º f zu ermitteln. ( f º f bedeutet, die Abbil- bleiben müssen, bleibt als einzige Möglichkeit B=A, denn es
dung f zweimal hintereinander anzuwenden.) Nicht jede belie- steht keine andere dreielementige Teilmenge zur Auswahl. Dar-
bige Permutation g hat in diesem Sinne eine »Wurzel«. aus ergeben sich die Karten an den Zimmern 1, 3 und 15:
Man schreibt zunächst die (bekannte) Permutation g in
Form von »Bahnen« auf. Das sind die Wege, die einzelne Gäs- Sie sind in Zimmer 1 3 15
te durchlaufen würden, wenn das Zimmer-wechsle-dich-Spiel Ziehen Sie bitte um in Zimmer 15 1 3
unbegrenzt fortgeführt würde.
r Herr Eins: 1 → 3 → 15 (→ 1 …)
r Herr Zwei: 2 → 11 → 7 → 6 → 14 (→ 2 …) Entsprechend erschließt man aus der Bahn von Herrn Zwei:
r Herr Drei durchläuft den Weg von Herrn Eins mit einer
Sie sind in Zimmer 2 11 7 6 14
Nacht Vorsprung und muss daher nicht eigens aufgeführt wer-
Ziehen Sie bitte um in Zimmer 6 14 2 11 7
den; Ähnliches gilt für die anderen hier nicht genannten Gäste.
r Herr Vier: 4 → 10 → 16 → 12 (→ 4 …)
r Herr Fünf: 5 → 8 → 9 → 13 (→ 5 …). Aus der Karte an Zimmer 4 wissen wir, dass die Bahn von
Die Gästeschar zerfällt also in vier Teilmengen, deren Mit- Herrn Vier von f in diejenige von Herrn Fünf abgebildet wird
glieder den Zimmertausch g jeweils unter sich ausmachen. und umgekehrt:
Eine dieser Teilmengen ist A={1, 3, 15}. Sie wird von der ge-
Sie sind in Zimmer 4 5 10 8 16 9 12 13
suchten Permutation f auf eine ebenfalls dreielementige Teil-
Ziehen Sie bitte um in Zimmer 5 10 8 16 9 12 13 4
menge B abgebildet, und B wird von f auf A abgebildet. Da