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11 Sehnsuchts-

Bahn
KLASSIK

1951 – 1981
Zeitreisen

Orte

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Bahn-KLASSIK #1

LIEBE LESER, die Verlagsgruppe Bahn heißt Sie zur ersten Ausgabe von „Bahn-KLASSIK“ willkommen! Die völlig neu kon-
zipierte Publikation stellt gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar. Bahn-KLASSIK wird sich in ganz spezieller Herangehensweise
unkonventionellen Themen aus den großen Tagen der klassischen Eisenbahn widmen, also grob umrissen aus dem Zeitraum 1950 – 1990.
Bahn-KLASSIK wird dort ansetzen, wo die – in der Regel sowieso hinlänglich bekannte – technische Seite aufhört, und stattdessen die
Eisenbahn in der jeweiligen Themenstellung über den üblichen Tellerrand hinaus betrachten, Bahn-KLASSIK wird sich Themen wid-
men, die den Kontext zwischen Eisenbahn und Zeitgeschichte herstellen; Themen, die Eisenbahn nicht als isolierte Technik abstrahieren,
sondern als Verkehrsmittel, das auch den jeweiligen gesellschaftlichen Zeitgeist transportiert und kulturelle Aspekte widerspiegelt; The-
TITELFOTO (MILSPE TAL, 1951): HELMUT SÄUBERLICH
men, die das reisekulturelle und atmosphärische Spektrum der Bahn beleuchten und dabei nicht zuletzt liebenswerte, emotional bewegen-
de oder auch mitunter schrullig-skurrile Details am Rande hervorheben. So auch beim Thema dieser ersten Bahn-KLASSIK-Ausgabe, das
schon per se ein Novum bildet: „Zeitreisen zwischen 1951 und 1981 an 11 Sehnsuchtsorte“. Anders als bei herkömmlichen Porträts von
Regionen, Strecken, Bahnhöfen oder Bahnbetriebwerken werden die elf ausgewählten „Sehnsuchtsorte“ nicht allumfassend von der Eröff-
nung der Eisenbahn bis heute oder bis zu einer Stilllegung beschrieben, sondern schlaglichtartig im Fokus eines bestimmten Jahres vor-
gestellt. Das Jahr, in das die jeweilige Zeitreise führt und den jeweiligen Zielort wie eine Momentaufnahme beleuchtet, ergibt sich aus dem
Aufnahmezeitpunkt einer besonders markanten Fotografie, die den Aufhänger der jeweiligen historischen Erzählung bildet. Neben dem
Situationsbericht zum betreffenden Jahr beschreiben wir einfühlsam die besondere Atmosphäre, die Aura und das Charisma der jeweili-
gen Örtlichkeit im Zusammenspiel mit dem gerade herrschenden Zeitgeist und ergründen in Text und Bildern die Emotionalität, die den
jeweiligen Sehnsuchtsort ausmacht. Dies führt letztlich dazu, dass man sich nichts anderes mehr wünscht als mit einer Zeitmaschine um-
gehend an diese elf Sehnsuchtsziele zur klassischen Eisenbahnzeit zurückversetzt zu werden. Natürlich werfen wir, mal knapper, mal et-
was ausführlicher, auch einen kurzen Blick aus dem gewählten Zeitreise-Fenster hinaus auf die Jahre zuvor und danach und binden zudem
– ebenso mal mehr, mal weniger – auch gesellschaftliche, kulturelle und politische Ereignisse in die Betrachtungen ein. Bei den elf ausge-
wählten Sehnsuchtszielen handelt es sich um Orte, die teils schon von der Eisenbahn-Landkarte verschwunden sind, sich teils bis heute
komplett verändert oder aber auch noch viel aus den klassischen Eisenbahntagen ins Heute hinübergerettet haben. Mit ideengebend war
die von mir konzipierte Serie „Zeitreise nach ...“, die seit Anfang 2012 in unserem monatlichen Eisenbahn-Journal erscheint und in der eini-
ge Orte bereits vorgestellt wurden. Die entsprechenden Kapitel sind in der vorliegenden Ausgabe aber völlig neu gestaltet und mit zusätzli-
chen sowie bisher unveröffentlichten Bildern versehen worden. Für ein empathisches Einleitungskapitel zu den elf Zeitreisen sorgt zudem
ein besonders prägnant bebildertes Essay. Womit nur noch auf ein weiteres Novum hinzuweisen bleibt: Die neue Reihe Bahn-KLASSIK
präsentiert sich in einem ausdrucksstarken und hochwertig aufgemachten Querformat. – Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Gerhard Zimmermann, Chefredakteur

ZEITREISEN 3
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Sehnsuchtsort „Korridor“ oder „Seedienst“ Brücke zum Norden
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4 ZEITREISEN
FAHRPLAN

6
16
BAHN-KLASSIK #1
EDITORIAL 3
36
ABFAHRT

74
DIE STÄRKSTE DIMENSION 6

1951 MILSPE TAL 16

1957 LINZ 22

58
1960 ALTENA 28

1963 PASSAU 36

1965 MAINZ SÜD 42

1966 BAD SCHWALBACH 50

1968 ELLZEE 58
DIE STÄRKSTE DIMENSION

←←
1971 HORB 68 1951 MILSPE TAL
1975 BAD SACHSA 74 ← 1963 PASSAU
1968 ELLZEE

←←
1979 EISERNE HAND 82 1975 BAD SACHSA
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2), HELMUT SÄUBERLICH,
1981 WEILBURG 90 ARCHIV JAHR, SIEGFRIED BAUM

REISEBERICHT
IMPRESSUM, LITERATUR ETC. 96

ZEITREISEN 5
DIE
ABFAHRT

STÄRKSTE
DIMENSION
DIE ZEIT, DAS REISEN UND DIE KLASSISCHE EISENBAHN
TEXT JOACHIM SEYFERTH

6 ZEITREISEN
Westerwälder Wintermorgen: Einen Moment scheint
am 15. Januar 1997 bei Niederzeuzheim die Zeit
stehen zu bleiben. Mit den Telegrafenmasten als
Zeugen der Dekaden und dem immer wiederkehrenden
Sonnenaufgang verschmelzen auf den allem Wandel
trotzenden Anhöhen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, Geschichte und Geschichten – Zeitreise.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
ZEITREISEN 7
ABFAHRT
DIE ZEIT WURDE ERSCHAFFEN, damit nicht alles gleichzeitig Archäologe schafft oder erhält mit seiner vermeintlich „rückwärts-
geschieht. So oder ähnlich beschrieb ein kluger Zeitgenosse einmal gewandten“ Arbeit Zukunftswissen für spätere Generationen und ist
das größte Phänomen und den mächtigsten Herrscher des Univer- absolut gleichgerichtet mit dem Astronomen, der mit seiner futuris-
sums. Die Zeit ist mit nichts anderem beschäftigt, als ihre Dimension
tischen Technik Zeitreisen bis zum Urknall versucht.
nach dem Urknall in alle Welten zu verteilen und eine Reihenfolge zu Aber muss man wirklich so fundamental zu den Sternen und zu den
kreieren. Würde alles auf einmal geschehen, würde nichts geschehen.Gesetzen des Universums greifen, um das Phänomen von unschuldi-
Und würde alles wieder in sich zusammenfallen und in das Stadium gen Zeitreisen zu mehr oder weniger fernen Eisenbahn-Epochen zu
vor dem Urknall zurückgeführt werden, gäbe es auch keine Zeit mehr veranschaulichen? Man muss nicht, aber es hilft. Wir alle versuchen
– die ultimative Erstarrung von allem. uns an der Zeit und an der Verteilung. Als neugierige Wesen wollen wir
Das Urwesen der Zeit ist also die Verteilung. All unser Schicksal
in andere Zeiten reisen, um zu sehen, was die Verteilung gemacht hat –
hängt von Verteilung ab: von der Verteilung der Materie und Ener- die Richtung spielt keine Rolle, eine so bedeutsam und einflussreich
gie im Universum, von der Verteilung der Elemente auf unserem Pla- wie die andere. Die einen schauen eben nach vorn, die anderen zu-
neten, von der Verteilung der Samen in fruchtbare Schöße, von der rück. Letzteres ist freilich beruhigender und befriedigt unseren Trieb
Verteilung der natürlichen Ressourcen, von der Verteilung von Nah- nach Sicherheit, weil die Vergangenheit zumindest unmittelbar nicht
rung und Energie, von der Verteilung des Wetters, von der Verteilung
mehr verändert werden kann. Was aber nicht ausschließt, dass neue
von Geld, Macht, Chancen, Unglück und Liebe. Nahezu alle Krisen, Erkenntnisse aus der Vergangenheit beunruhigend sein können und
Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten sind zu neuen Verteilungen in Gegenwart und Zukunft führen können.
durch Mängel in der Verteilung verursacht. Und die Welt, die wir se- Wir sind ständig auf Zeitreisen. Ob wir uns erinnern, ob wir für
hen und empfinden, ist durch ständige Verteilung und Umverteilung die Zukunft planen, ob wir eine Biografie oder einen Science-Fiction-
innerhalb der Zeit entstanden. Roman lesen, ob wir unseren Eltern und Großeltern zuhören oder
Und weil die Zeit und mit ihr die Verteilung so rastlos und domi-
ob wir Lebensträume entwerfen. Ob wir alte Filme anschauen oder
nant sind, sind wir zu ihrem Bestandteil geworden und reisen durch Wanderungen durch unbekanntes Terrain unternehmen. Oder ob
Rastlos, dominant, unendlich, Zeit erstarrt nie, auch
wenn Uhren stehen bleiben. Dann ist ein einziger
unser Leben, als temporärer, weil sterblicher Gast im Universum. Jedes
wir alte Eisenbahnfotos anschauen und ihre begleitenden Texte lesen.
Moment fixiert – oder eingefroren, wie am 5. Januar Individuum durchlebt eine Zeitreise und sorgt selbst nach dem Tod für
Zeitreisen sind seit jeher ein alter Menschheitstraum, Wissenschaft-
2010 in Wiesbaden-Dotzheim. eine neue Verteilung von Geist und Materie – ob Mooswurzel, Made ler beschäftigen sich nicht nur nach Albert Einstein mit ihrer phy-
FOTO: JOACHIM SEYFERTH oder Mensch. Ja, wir werden wiedergeboren – aber nicht als „fertiges“
sikalischen Möglichkeit, Schriftsteller und Künstler machen sie zum
anderes Wesen oder gar als ähnliches Individuum, sondern in Form lebendigen Gegenstand ihrer Werke. Die Reise zum Mittelpunkt der
Erde, zu fernen Galaxien oder zu unserem Vater
vor unserer Zeugung können wir bislang nur in der
MUSS MAN WIRKLICH SO FUNDAMENTAL ZU DEN STERNEN bildhaft gemachten Fantasie durchleben, während
UND ZU DEN GESETZEN DES UNIVERSUMS GREIFEN, UM DAS PHÄNOMEN die Zeitreisen in einem Museum, beim Blättern
VON UNSCHULDIGEN ZEITREISEN ZU MEHR ODER WENIGER FERNEN in einem Fotoalbum oder am Wagenfenster einer
EISENBAHN-EPOCHEN ZU VERANSCHAULICHEN? Dampfsonderfahrt schon gegenständlicher sind.
MAN MUSS NICHT, ABER ES HILFT. Zeitreisen können auch eine kurze Erinnerung oder
ein Déjà-vu-Erlebnis sein. Und insbesondere schon
leicht in die Jahre gekommene Medien, egal ob Ra-
einer trilliardenfachen Verteilung unserer Atome, die mit unzähliger dio, Fernsehen, Schallplatte oder Tonband, versetzen uns ständig in
Materie, Energie und den Genen der Nachwelt verschmelzen und in Zeitreisen – verrauschte Stimmen auf einem alten Tonband, von Ge-
unzähligen neuen Lebens- und Gegenstandsformen weiterexistie- brauchsspuren übersätes Zelluloid, aus der Zeit gefallene Hörspiele
ren. Nach dieser zumindest nicht eindeutig widerlegbaren und von oder die verknisterten Töne auf schwarzem Vinyl ganz besonders.
Biologen unterstützten These werden wir schlicht verteilt und sind Doch im Prinzip ist jede modernere Übertragung, die nicht „live“ ist,
damit Bestandteil und Helfer der Zeit, dieser stärksten Dimension. bereits eine Zeitreise – wenn auch eine kurze. Dies gilt insbesondere
Im Bewusstsein dieses Schicksals ist unser Streben ausschließlich in auch für die gedruckten Medien: Was heute in der Zeitung steht, ist
die Zukunft gerichtet, denn unser aller derzeitiges Tun spiegelt sich bereits gestern oder noch früher geschehen, bei einem Wochenblatt
in der näheren oder weiten Zukunft wider. Selbst der Historiker oder oder einer Monatszeitschrift liegen die Zeitpunkte der Geschehnisse

8 ZEITREISEN
Was längst eliminiert wurde, macht Zeitreisen
besonders eindrücklich und individuell:
Warteraum in Gau-Odernheim (Februar 1985) .
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
ZEITREISEN 9
ABFAHRT

Die Zeit teilt Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und


Gegenwart, Alt und Jung: Momentaufnahme am alten Bahnhof
in Bechtolsheim-Biebelnheim (März 1985).
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
10 ZEITREISEN
noch weiter zurück. Besonders in unserer heutigen und schnelllebi-
gen Zeit kann ein Ereignis, das nur einen Monat oder ein Vierteljahr
zurückliegt, bereits als Zeitreise empfunden werden, weil es zwischen-
zeitlich längst von unzähligen anderen Eindrücken überlagert worden
ist und weil sich der Wandel bei vielen Meinungen und Wertvorstel-
lungen immer schneller vollzieht.
Das Phänomen des schnellen Umbruchs ist auch bei der Eisen-
bahn zu beobachten: Zeitreisen an Orte, wo Schienen liegen (oder
gelegen haben), werden immer interessanter und geschichtsträchti-
ger, weil dieses Verkehrsmittel gerade in den letzten Jahrzehnten star-
ken Veränderungen unterworfen wurde, die auch weiterhin anhalten
werden. Denn wurde nach den beiden Weltkriegen die bauliche In-
frastruktur von Siedlungen und Verkehrsträgern wieder weitgehend
im „Original“ rekonstruiert und wiederaufgebaut, so setzte ab den
Siebzigerjahren ein umfassender Umbau und Ersatz ein – erst jetzt
veränderte sich Deutschland wirklich. Nicht der Traktionswandel von
der Dampflok auf die Diesel- und Ellok oder die Umstellung der Sig-
naltechnik haben das fundamentale Gesicht der Eisenbahn verändert,
sondern Stilllegungen, Neubaustrecken, Betonorgien, Lärmschutz-
wände und eine grassierende Flurbereinigung im Detail. Anders
ausgedrückt: Wurde früher behutsam verändert, wird jetzt brachial
geklotzt, scheinbar ausreichende Geldmittel bringen rücksichtslose
Maximallösungen hervor.
Verstärkt wird dieser Umstand noch dadurch, dass viele Infra-
struktur-Bestandteile der Eisenbahn wie Tunnel, Brücken und Bahn-
höfe nach rund 100 bis 170 Jahren tatsächlich in die Jahre kommen
und man nicht mehr den Mut, den Willen und die Sensibilität be-
sitzt, diese Bauwerke im adäquat ästhetischen Sinne zu restaurieren.
Müssen neue Tunnel, Brücken und Bahnhöfe denn wirklich hässlich
Das „Was“ ist geblieben, doch im „Wie“ und sein? Wurden früher solche Veränderungen noch behutsam „unter
allen seinen Erscheinungsformen sind wir dem rollenden Rad“ durchgeführt, so werden heute ganze Strecken-
ständig auf Zeitreise: Bahnsteigleben in abschnitte für die Zeitdauer des Umbaus stillgelegt oder selbst auf
Reuth in der Oberpfalz im Februar 1978
Magistralen ein monatelanger und äußerst betriebshemmender ein-
und in Limburg im Mai 1983.
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2)
gleisiger Betrieb eingeführt. Heraus kommen Neubauten, deren Er-
richtung länger gedauert hat als zu alten Zeiten, die unansehnlicher
sind und die vor allem nicht weitere 100 oder 150 Jahre, sondern
bestenfalls nur noch 20 bis 40 Jahre halten. Der Rückschritt ist eben
nicht aufzuhalten.
Spätestens jetzt ahnt man, warum Zeitreisen im Kommen sind.
Denn der Wandel ist ein Windhund geworden, eine Schnecke ist er
längst nicht mehr. Jahrzehntelang blieb alles beim Alten, doch ge-
messen an der bisherigen Geschichte überschlagen sich die Verän-
derungen jetzt vergleichsweise „plötzlich“, angetrieben und befördert
noch durch eine erbarmungslose und vergötterte Wachstumsideolo-
gie. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen und neue Bausteine sind

ZEITREISEN 11
ABFAHRT
schon bei der Errichtung ihrem neuerlichen Austausch ausgeliefert.
Vor diesem Hintergrund sind Zeitreisen nichts anderes als die Sehn-
sucht nach Beständigkeit, nach einem Ruhepol, nach Trost und nach
der Beantwortung von fundamentalen Fragen. Ist die Zeitreise gar
eine Flucht vor der gegenwärtigen Zeit, eine mentale Reise in eine
vermeintlich bessere Zeit? Dabei spielt die Richtung wie bereits er-
wähnt keine Rolle, denn die Ziele von Zeitreisen sind sowohl Historie
als auch ferne Zukunft – in die Sentimentalität der Dampflokzeit oder
in die Hoffnung auf das Paradies auf neuen Planeten.
So taucht der Begriff der Zeitreise immer häufiger auf, im Fernse-
hen sowieso. Die Abendprogramme zeigen mehr oder meist weniger
gute Spielfilme mit Zeitreise-Drehbuch und an Feiertagen wird die
nachmittägliche Sendezeit schon seit jeher mit kitschigen Heimatfil-
Zeitreisen leben von prägenden Details, men aus den Fünfzigern aufgefüllt, bei denen oft und unvermittelt
Emotionen und Flair: Reisekultur im Schalter- sogar originale Eisenbahnszenen aus der Epoche 3 auftauchen und
raum (Rippberg, März 1981), Frühlingsahnen im
selbst hartgesottene Ignoranten dieses Genres an das Fernsehgerät
Silberling (Edertal, Mai 1987), Schnellzug-Klassik
mit Bahnsteig-Imbiss (Bebra, Oktober 1980). stürzen lässt. Hinzu kommen die zahlreichen Zeitreise-Dokumentati-
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (3) onen in den Regionalprogrammen, die historische Straßenszenen mit
uralten Straßenbahnen bereithalten und die Klassik-Autos namens
Käfer, Kadett und Kapitän an der Bahnschranke zeigen – P 8 und 01
inklusive. Besonders in Krisenzeiten, in denen sich die jammervol-
len Deutschen ja prinzipiell ständig befinden, haben derartige Zeit-
reisen in vermeintliche Romantik und zu Wirtschaftswunderjahren
Konjunktur, eine rund siebzigjährige Friedensepoche bietet ja auch
genug zeitlichen Rahmen für eine wehmütige Rückschau.
Interessant ist, dass nicht nur bei solchen Zeitreisen die sonst so
hoch eingestuften Fakten, Probleme und sonstigen widrigen Begleit-
umstände plötzlich verblassen – Emotion, Flair oder gar Verklärung
sind jetzt die dominanten Stichworte. Völlig sicher in dem Gefühl,
diese fernen Zeiten mehr oder weniger erfolgreich durchlebt zu ha-
ben, saugen wir dankbar die prägenden Details und das pittoreske
Weichbild von Land- und Ortschaften auf. Bildschnipsel von Müll-
männern, die kunstvoll schwere Blechtonnen an den Straßenrand
drehen, oder von Schaffnern in schweißtreibenden Uniformen, die
sich im Anhänger von Schnauzen-Omnibussen mühsam durch die
Fahrgäste quälen und Fahrscheine lochen, goutieren wir mit ebenso
viel Erstaunen und Wehmut wie eine alte Landstraße in offen-aufge-
räumter Landschaft oder die geschäftige Szene beim Halt eines Per-
sonenzuges im Dorfbahnhof.
Ganz Mensch, geraten wir ins Schwärmen und sind voll der Be-
wunderung und Genugtuung, in welcher Form das Leben früher ge-
meistert wurde. Und beim medialen Geschichtsunterricht spüren wir,
dass sich im Prinzip nichts und doch wiederum alles geändert hat –
das „Was“ ist meist geblieben, nur das „Wie“ hat sich vehement ver-
ändert. Den gut besetzten Personenzug gab es einst und gibt es jetzt,

12 ZEITREISEN
Trügerisch zeitlos und doch dem sicheren Untergang
geweiht: Alltagsszenen stehen besonders im Zeitreise-Fokus
und zeigen im Vergleich die deutlichsten oder auch nur
wenige Unterschiede, wie an diesem Bahnübergang mitten
in Altenkirchen (Mai 1982).
FOTO: MARKUS ENGEL

ZEITREISEN 13
ABFAHRT

Orientierung am pittoresken Weichbild


von Land- und Ortschaften: Auf jahrzehnte-
lang kaum veränderten Strecken wie
zwischen Traunstein und Waging geriet
eine Schienenbusfahrt zur Echtzeit-Zeitreise
nach Fahrplan (Februar 1995).
FOTO: GERHARD ZIMMERMANN
14 ZEITREISEN
aber wie verändert ist seine Erscheinungsform und seine Reisekultur? die Eisenbahner beschränkt, sondern prägte auch die übrige Bevölke- sensible Rest ist dank steten Lautsprecherdurchsagen aus der Retor-
Klettern beim Plattformwagen versus ebenerdiger Ein- und Ausstieg, rung: Handwerker, Bäcker, Händler und viele andere Berufsgruppen te, ständigem elektronischen Gefiepe, infantilen Klingeltönen nebst
Zeitungsrascheln versus iPhone, 38 versus 425. waren selbstständig und hingen noch nicht am Gängelband von Fabri- schamlosem Geplapper und einer Armada von Ohrstöpsel-Stakkati
Auffällig ist auch, dass die Ziele von Zeitreisen so gut wie immer in ken, Ladenketten und Konzernen – entsprechend individuell geformt bereits beim Aussteigen reif für die Insel. Zugegeben: Schön, dass
„Agglomerationen“, also in Ortschaften, echten Ballungsräumen und waren ihre Erzeugnisse, ihre Arbeitskraft, ihr Charakter. wieder mehr Menschen, insbesondere auch junge Generationen, Zug
sonstigen menschlichen Ansammlungen, angesiedelt sind, denn eben Am Beispiel der Bahnhöfe setzte die Normierung mit der suk- fahren. Aber wie sie fahren, das ist nicht mehr schön.
hier haben die meisten Veränderungen stattgefunden. Das abgelegene zessiven Zusammenlegung von einzelnen Dienststellen ein, einer All dies sind weitere Gründe, warum es immer mehr Zeitreisen
Tal, die ferne Almwiese oder ganze Waldgebiete in den Mittelgebir- schluckte den anderen. Jetzt war der Bahnhofsvorsteher gleich für gibt. Unsere kleinen Erinnerungen an Epochen und Einzelheiten der
gen werden meist nur beiläufig gestreift und dienen nur als zwischen- etwa zehn Bahnhöfe zuständig, das individuelle Kümmern blieb auf klassischen Eisenbahn sind aber auch deshalb so wertvoll, weil die
zeitliche kurze Kulisse, obwohl der erholsame Picknick-Tag im Grü- der Strecke. Selbst der Bahnhofsarbeiter hatte keinen „eigenen“ Bahn- meisten von uns zwischen früher und heute vergleichen können –
nen oder die ausgedehnte Wanderung inmitten der Landschaft, also hof mehr, sein Arbeitsaufkommen wurde auf mehrere Stationen „ver- ein ungemein wertvolles Privileg, das die iPod-Generation erst sehr
die notwendige Regeneration für die Seele und das viel später erfahren wird. Wir wissen, dass das Le-
Gemüt der Menschen, mindestens genauso wichtig ben auch mit Dampflokomotiven, Wählscheiben
waren (und sind) wie die betriebsame Aktivität im DER WANDEL IST ZUM WINDHUND GEWORDEN. DAHER KOMMT IN und Schreibmaschinen wunderbar funktionierte,
urbanen Alltagsleben. Das ist auch bei unseren Zeit- ZEITREISEN DIE SEHNSUCHT NACH BESTÄNDIGKEIT, NACH EINEM dass alte Stellwerke eine Haltbarkeit von über 100
reisen an historische Orte der Eisenbahn so: Obwohl RUHEPOL UND NACH TROST ZUM AUSDRUCK. UND WIR WISSEN, DASS DAS Jahren hatten und völlig ohne Netzstrom auskamen,
die Abschnitte der freien Strecke viel länger als die LEBEN AUCH MIT DAMPFLOKS, WÄHLSCHEIBEN UND SCHREIBMASCHINEN dass viele Züge nicht langsamer fuhren als heute und
der Bahnhöfe sind, führen uns die Zeitreisen immer WUNDERBAR FUNKTIONIERTE, GANZ OHNE I-POD UND HANDY. dass die Eisenbahner einst eine große Familie wa-
zu den stark veränderten Kulissen der Stationen, weil ren. Wir können einordnen und vergleichen, unsere
an der freien Strecke allenfalls die Elektrifizierung, Zeitreisen sind Information und Reflexion zugleich.
starker Bewuchs und das Verschwinden von Details wie etwa Kilome- dichtet“ und die Bahnhofsblumen verdorrten. Die bahnhofseigenen Sollten die nachfolgenden Bilder und Texte diese Impressionen und
tersteinen für optische Veränderungen gesorgt haben. An den Stätten Rangier- und Kleinlokomotiven wurden abgezogen, Gleisanschlüsse Werte aus vergangenen Jahrzehnten vermitteln, haben sie ihren Zweck
gemeinsamer menschlicher Aktivität, also in den Dörfern und Städten mitsamt jahrzehntelangen Stammkunden vernachlässigt. Die weitere und ihren Auftrag schon voll erfüllt. Letztlich sind auch sie aber nur
und ihren damals oft im Mittelpunkt befindlichen Bahnhöfen, tobte Geschichte kennen wir alle: Mit Schließung der Fahrkartenausgabe Gedächtniskrücken im großen Meer der Eisenbahngeschichte, denn
dagegen das Leben: Dutzende von Schulranzen mit daran hängenden Abzug des letzten Eisenbahners, Bahnsteigasphalt und Gemäuer ein die meisten Erinnerungen, Anekdoten und Sachverhalte warten noch
Schulkindern, die den haltenden Umbauwagen-Zug stürmten, Wech- Paradies für Wildkräuter und Schmierfinken. Die Reise durch die Zeit auf ihre Entdeckung – so groß die Flut der Eisenbahnliteratur auch
selgeldgeklimper im Drehteller der Fahrkartenausgabe, das Dreige- der Bahn ist oftmals keine schöne, wenn man sie wie einen Film be- bisher gewesen sein mag.
spann aus altem Pritschen-Lkw, ratterndem Förderband und Kohlen- wegt. Die Zeitreise wird tröstlicher, wenn man sie auf einen Augen- So fundamental, wie wir begonnen haben, könnten wir wiederho-
wagen an der Ladestraße, Menschentrauben und knarrende Mopeds blick fixiert, entfernt genug vom Unbill. Ein altes Foto ist dazu in der lend schließen: Jedes Individuum durchlebt eine Reise und wir Men-
am benachbarten Bahnübergang, daneben die kleine Bahnbetriebs- Lage, entstanden im Bruchteil einer Sekunde auf Zelluloid sowie in schen werden aufgrund unseres Bewusstseins selbst zum aufmerksa-
werk-Außenstelle mit friedlich vor sich dahinzischenden Rangier- Kameragehäusen und Laborschalen, die nichts anderes als die histo- men Beobachter der Zeitläufte. Genießen wir also ganz besonders die
dampfern. Selbstverständliche historische Alltagsszenen, trügerisch rischen Maschinen für unsere jetzigen Zeitreisen waren. Expeditionen zu den Erinnerungen und Eindrücken unserer Lebzei-
zeitlos und doch dem sicheren Untergang geweiht. „Mit einem alten Bild kann man verreisen – nicht nur gedanklich an ten – und seien es nur die Ausflüge an liebenswerte Sehnsuchtsorte
Neben vielen anderen Faktoren ist das Ziel jeder Zeitreise in die einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit und in die eigene der klassischen Eisenbahn, wie hier im Folgenden nach Bad Schwal-
Vergangenheit auch die Individualität. Denn das Einzigartige, das Be- Vergangenheit. Tief in den Hirnwindungen vergrabene und verloren bach, Milspe Tal, Horb, Altena, Weilburg und anderswohin. Ihnen,
sondere wurde im Laufe der Jahrzehnte immer häufiger und gründ- geglaubte Erinnerungen werden geweckt und reanimiert, Verknüp- lieber Leser und Freund der klassischen Eisenbahn, von Herzen eine
licher eliminiert oder bestenfalls durch Normierung ersetzt. Jeder fungen und Assoziationen mit anderen Erlebnissen und Erfahrungen gute Reise! ☐
Bahnhofszaun, jedes Stellwerk und jeder Schalterraum war früher kommen hinzu. Nur ein Stück Papier, nur ein Bild und doch eine Zeit-
verschieden, jeder kleine Bahnhof war eine eigenständige Dienststelle reise ...“ Diese einleitenden Sätze begleiten in den Eisenbahn-Journal-
mit eigenem Bahnhofsvorsteher und Personal. Und genauso indivi- Monatsheften jede Zeitreise, deren jeweiliges Eingangsfoto der Auf-
duell sah jeder Bahnhof aus, denn kleinere Umbauten, Reparaturen hänger für die nachfolgenden Reminiszenzen in Text und Bild ist. Ob
und Erweiterungen trugen die Handschrift der örtlichen Eisenbahner eine solche Zeitreise eine heutige Reise auf Schienen ersetzen kann,
– vom individuellen Blumenschmuck bis zur Pflege und Gestaltung muss jeder für sich entscheiden – entspannender ist sie allemal. Denn
der Lokbehandlungsanlagen. Derlei – freilich schon damals von den die aktuelle Reisekultur erfordert starke Nerven und wird in der Re-
Bahndirektionen eingeschränkte – Individualität war aber nicht auf gel nur von der Masse der medialen Mitläufer heil überstanden. Der

ZEITREISEN 15
1951 MILSPE TAL

MILSPE TAL
WANDLUNGEN EINES BESONDEREN BAHNÜBERGANGS IM ENNEPETAL
TEXT KONRAD KOSCHINSKI

FAST HUNDERT METER liegen zwischen den Schrankenbäumen, steig führende Durchgangsgleis. Geradeaus wäre die Weiche zum (auf
die auf dem in unsere Zeitreise einstimmenden Bild zu sehen sind. dem Bild mit dem VT 70.9 kaum erkennbaren) Nebengleis gestellt, das
Das ist das eigentlich Besondere an der von Helmut Säuberlich am hinter dem Empfangsgebäude als Ladegleis endet. Der an der Rampe
11. September 1951 prächtig abgelichteten Szenerie – weniger die ni- des Güterschuppens stehende Wagen indes befindet sich auf dem aus
veaugleich die Eisenbahn querende Straßenbahn, denn solche Kreu- Richtung Gevelsberg angeschlossenen Ladegleis. Zwei weiteren La-
zungen gab es in seiner „Heimatdirektion“ Wuppertal mit ihrem degleisen wendet der Fotograf den Rücken zu, sie liegen in Fahrtrich-
engmaschigen Schienennetz oft. An der Schranke im Vordergrund tung Altenvoerde hinter der „Hammerteichbrücke“. Außerhalb des
fällt deren improvisiert wirkende Verlängerung über das meterspu- Blickfelds, hinter der Ausfahrt Richtung Gevelsberg-Nirgena, zweigt
rige Straßenbahngleis auf. Wohin die nach rechts blickende Radlerin das Anschlussgleis zur Gießerei Stockey & Schmitz ab.
schaut, wird ein aus anderer Perspektive aufgenommenes Foto zeigen. Auf dem Bahnsteig haben sich zahlreiche Reisende eingefunden,
Den zu ihrer Linken haltenden Opel Kapitän (Modell ’48 oder ’50) was darauf schließen lässt, dass sich die Schranken bald für den nächs-
beachtet sie offenbar nicht. Auch der heranrollenden, von einem VT ten der im Stundentakt verkehrenden Züge senken werden. Zuvor
70.9 geführten Triebwageneinheit schenkt sie momentan keine Auf- aber passiert der altehrwürdige Wagen 13 der Straßenbahngesellschaft
merksamkeit. Und wir müssen das Bild schon genau betrachten, um Ennepe den Bahnübergang. Das auch schon recht betagte Cabriolet
rechts hinten den zweiten Schrankenbaum und die davor wartende wird ihm doch wohl nicht in die Flanke fahren?
Straßenbahn zu erkennen.
Die Szenerie spielt an der Ennepetalbahn, die am Bahnhof Mils-
Schon zu Zeiten der Pferdefuhrwerke galt der pe Tal beim Streckenkilometer 11,915 im spitzen Winkel die Kölner
Bahnübergang in Milspe Tal als „gefährlich“, war aber
Straße heißende B 7 kreuzt. Von Gevelsberg-Nirgena bis hierher folgt
noch ungesichert. Aufnahme aus dem Jahr 1905.
FOTO: SAMMLUNG WIEMANN
die eingleisige Bahntrasse der B 7. Auf der hinter dem Bahnübergang
sichtbaren Brücke quert sie den Obergraben genannten Zulauf zum
Hammerteich. Unmittelbar danach – seit dem Ausgangspunkt Hagen Regionale Verkehrsgeschichte hat der Fotograf der Bundes-
Hbf zum vierten Mal – überquert sie die Ennepe und erreicht dann bahndirektion Wuppertal am 11. September 1951 beim
weiter flussaufwärts nach knapp zwei Kilometern ihren Endbahnhof Bahnhof Milspe Tal dokumentiert. Hier kreuzte die
Altenvoerde, wo die Triebwageneinheit losgefahren ist. Die bis 1956 Ennepetalbahn im spitzen Winkel die Kölner Straße samt
betriebene Straßenbahnlinie übrigens führte auf ihren letzten Kilo- Straßenbahngleis. Die hundert Meter auseinanderlie-
metern abseits der B 7 zur außerhalb des Tals gelegenen Endhalte- genden Schrankenbäume hatte der Bahnübergang damals
stelle Voerde. erst kurz zuvor zur Sicherung erhalten.
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH
Wir bleiben noch an der Station Milspe Tal und beziehen in Ge-
danken den ebenfalls von Helmut Säuberlich eingenommenen Foto-
standpunkt schräg gegenüber an der „Hammerteichbrücke“. Der von
der Weiche im Vordergrund abzweigende Strang ist das zum Bahn-

16 ZEITREISEN
ZEITREISEN 17
1951 MILSPE TAL

Als die vor dem Zweiten


Weltkrieg in Hagen
beheimatete 91 1524
um 1935 nach Alten-
voerde losdampft, weist Katasterplan der Gemeinde Voerde
der Übergang Kölner von 1880 (!) mit dem Verlauf der
Straße noch immer keine Ennepetalbahn in Milspe Tal.
Schranken auf. GRAFIK: STADTARCHIV ENNEPETAL/
FOTO: SAMMLUNG GERHARD SAMMLUNG WIEMANN

Vermutlich erst Ende der Vierzigerjahre kam die


Sicherung. Als um 1950 die 78 430 – in derselben Fahrt-
richtung wie auf dem Eingangsfoto der Triebwagen – in
den Bahnhof Milspe Tal einfährt, sind die Schranken
bereits vorhanden. An zweiter Stelle im Personenzug
läuft übrigens ein „Hecht“-Wagen.
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH

Die Straßenbahnlinie gibt es bereits nicht mehr,


als 1963 ein Karmann Ghia die Abfahrt eines 515
Richtung Altenvoerde abwartet. 1955 wurde der
Bahnhof Milspe Tal in Ennepetal-Kehr umbenannt.
FOTO: K.-H. HEIN/SAMMLUNG DR. KAUFHOLD

18 ZEITREISEN
Wer darf zuerst den Bahnübergang
passieren? Häufig gerieten hier
Straßenbahn und Individualverkehr in
Konflikt.Geradeaus führt ein Ladegleis
hinter den Bahnhof und vorne am
Bahnhof ist ein Ladegleis aus Richtung
Gevelsberg angeschlossen.
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH

Autos und die eingleisige, daher zwangsläufig auch auf der „fal- per Noth einer Collision mit dem Zuge entgangen sind ...“ Doch die um 1950 fotografierte Helmut Säuberlich dort den von der 78 430
schen Seite“ entgegenkommende Straßenbahn gerieten im Ennepe- Direktion lehnte ab, denn der Verkehr auf dem genannten Übergang geführten Zug (hinter der Lok offenbar ein C4i-35 oder -36, dahin-
tal öfters miteinander in Konflikt. Außerdem wurden die zahlreichen betrage „durchschnittlich täglich von 7 Uhr morgens bis 5 Uhr abends ter ein „Hecht“-Wagen!). Jedenfalls gehörte die 78 430 in der frühen
niveaugleichen Kreuzungen mit der Eisenbahn aus Sicht der Auto- 82 Personen und 25 Fuhrwerke“; er sei demnach „nur als sehr gering Nachkriegszeit zum Bw Wuppertal-Langerfeld und kam 1952 zum Bw
mobilisten immer mehr zum Verkehrshindernis. Ja, schon zur Zeiten zu bezeichnen“. Folglich blieb der Übergang ohne Schranken, doch Wuppertal-Vohwinkel. Die 91 1524 war lange in Hagen beheimatet
der Pferdefuhrwerke galten sie als gefährlich. wies die Direktion darauf hin, „dass sämtliche Züge und Lokomoti- und wanderte 1943 an die Ostfront ab, ihr weiteres Schicksal liegt im
So setzte sich das Amt Voerde bereits 1897 für die Errichtung ei- ven bei der Fahrt von Voerde nach Milspe-Thal vor dem Übergang Dunkeln. Bekanntermaßen jedoch kamen auf der in den 1930er Jah-
ner Barriere am hinter der Ennepebrücke beim Streckenkilometer so langsam zu fahren haben, dass der Zug noch vor dem Übergang ren schon mal stündlich mit Triebwagen bedienten Ennepetalbahn
12,135 gelegenen Bahnübergang „An der Kehr“ ein, so genannt we- sofort zum Halten gebracht werden kann, sobald ein Hindernis auf im Krieg und auch danach preußische T 9.3 (91.3–18) erneut regulär
gen der unweit des Bahnhofs beginnenden Kehre der von Südosten demselben bemerkt wird“. vor Personenzügen zum Einsatz. Ab Winter 1948/49 wurde das stark
kommenden und in Richtung Nordosten weiterfließenden Ennepe. Wann der Übergang „Kölner Straße“ am Bahnhof Milspe Tal mit reduzierte Zugangebot wieder zum Stundentakt ausgeweitet, wobei
Am 29. November 1897 schrieb der Amtmann an die Königliche Ei- Schranken versehen wurde, ist nicht überliefert. Sehr wahrschein- neben Steinbecker VT 70.9 mit VB 140 oder VB 147 zunächst weiter-
senbahndirektion Elberfeld: „An dem Bahnübergang der Thalbahn lich vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Aufnahmen (wie die hin Dampfloks der Baureihen 91.3–18 und 78 sowie auch V 36 den
Hagen – Voerde an der Kehr hierselbst ist die Herstellung einer Sicher- aus der Sammlung Gerhard mit 91 1524 vor einem nach Altenvoerde Verkehr bestritten. Ab 1956 übernahmen Schienenbusse (VT/VS 98)
heitsvorrichtung (Barriere) ein unbedingtes Erfordernis. Schon wie- ausfahrenden Personenzug) zeigen den Übergang unbeschrankt. Mit die Leistungen. Nach Einrichtung einer Ladestation für Akkutriebwa-
derholt ist es vorgekommen, dass Führer von Fuhrwerken mit knap- vage „um 1948/49“ datierte Fotos zeigen ihn mit Schranken. Wohl gen in Altenvoerde erschienen 1962 die ETA/ESA 150.

ZEITREISEN 19
1951 MILSPE TAL
Den Güterverkehr bewältigten bis Mitte der 1960er Jahre fast nur
Dampflokomotiven. 44er schleppten die schweren Erz-, Kohle- und
Kokszüge für die Hasper Hütte bis Hagen-Harkorten, für die Nahgü-
terzüge auf der Gesamtstrecke reichten 50er aus. Für Rangierzwecke,
Übergaben und die Anschlussbedienung waren in Hagen-Kückelhau-
sen und Gevelsberg-Haufe Kleinloks stationiert. Damit vom Trieb-
fahrzeugeinsatz genug.
Kehren wir zurück ins Jahr 1951 und werfen einen Blick auf
Deutschland und die Welt: Just an jenem 11. September, an dem
unser Eingangsfoto entstanden ist, donnert ein Reisezug der Tsche-
choslowakischen Staatsbahnen auf der nur für den Güterverkehr of-
fenen Strecke zwischen Asch und dem oberfränkischen Selb-Plöß-
berg über die Grenze und ermöglicht so über zwanzig Menschen
die Flucht in die von ihnen erhoffte „Freiheit“. Im April gründen
die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Bene-
lux-Staaten die Montanunion. Die Bundesbahn führt zum Sommer-
fahrplan das „Netz der leichten F-Züge“ ein. Weltpolitisch brisant
ist der Koreakrieg, der sich mit der Einnahme Seouls durch Trup-
pen Chinas und Nordkoreas verschärft. Pläne zur Verstaatlichung
der anglo-iranischen Ölgesellschaft lösen blutige Unruhen in Per-
sien aus, Hintergründe deckt Der Spiegel auf. Illustrierte wie Frau
im Spiegel hingegen widmen sich ausgiebigst der Märchenhochzeit
von Schah Mohammad Reza Pahlavi mit der deutsch-persischen
Prinzessin Soraya. Den deutschen Hit des Jahres landet Conny Fro-
Blick nach Gevelsberg: Am Haltepunkt Gevelsberg-Poeten bot sich 1951
dieses Drei-Hütten-Ensemble, das Wartehäuschen, Schrankenposten und
Fahrkartenverkaufsstelle sowie Straßenbahnhaltestelle vereint. Im Ort
verlief die Strecke teils entlang stattlicher Häuser, die hier von einer der in
Gevelsberg-Haufe stationierten Kleinloks passiert werden (Juni 1964).
FOTOS: HELMUT SÄUBERLICH, K.-H. HEIN/SAMMLUNG DR. KAUFHOLD

Ennepetal-Kehr heute: 1986 ersetzte eine Blinklichtanlage die


Schranken. Das Empfangsgebäude, das von den Bauwerken
der Station als einziges übrig geblieben ist, wurde hübsch
restauriert, statt des Güterschuppens schließt sich nun aber eine
klotzige Industriehalle an. Saisonal finden auf der heutigen
„Teckel-Linie“ Schienenbus-Sonderfahrten statt.
FOTO: SAMMLUNG WIEMANN

20 ZEITREISEN
boess mit „Pack die Badehose“ ein. Für einen Skandal sorgt der Krieg war schon die Rede. Am 2. Oktober 1955 benannte die DB den
Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef, wobei sich – allen voran – Bahnhof Milspe Tal in Ennepetal-Kehr um, den Namen der Endsta- Das war 1951
die Kirchenmänner echauffieren; dies aber weniger über die sekun- tion Altenvoerde änderte sie in Ennepetal-Altenvoerde. Nach dem Der Koreakrieg erreicht in diesem Jahr weltpolitische Brisanz,
denkurze Nacktszene als vielmehr über die angebliche Glorifizierung Wiederaufbau des Herdecker Ruhrviadukts wurde der Personen- zwanzig Menschen gelingt in einem Zug die Flucht aus der
der Prostitution. verkehr ab 27. Juli 1957 über Hagen Hbf hinaus bis Dortmund Hbf Tschechoslowakei in den Westen, Hildegard Knef ärgert als „Sün-
Die Wuppertaler feierten 1951 den 50.  Jahrestag der Eröffnung durchgebunden. derin“ Kirchenmänner, die achtjährige Conny Froboess trällert
ihrer Schwebebahn. Ohne großes Jubiläum jährte sich zum 75. Mal Doch Mitte der 1960er Jahre machte die Hagener Straßenbahn mit mit „Pack die Badehose ein“ den Hit des Jahres und die Boulevard-
die Eröffnung des ersten Teilstücks der Ennepetalbahn. Im Mai 1876 der (nach Teilstilllegung) neu geschaffenen Linie 2 Haspe – Gevels- presse schwärmt ausgiebig von der sogenannten Märchenhochzeit
ging der 9,5 Kilometer lange Abschnitt berg-Vogelsang und Niedrigtarifen der von Schah Mohammad Reza Pahlavi mit der deutsch-persischen
von Hagen bis Gevelsberg-Haufe offi- Eisenbahn verschärft Konkurrenz. Im Prinzessin Soraya. Deutscher Fußballmeister wurde Kaiserslautern.
ziell in Betrieb. Das 4,4 Kilometer lange 1955 BENANNTE DIE BUNDESBAHN Sommerfahrplan 1968 blieb auf der wie-
Reststück bis zum Endbahnhof Voerde MILSPE TAL IN ENNEPETAL-KEHR UM. der vom Abschnitt Hagen – Dortmund
(ab Juni 1902 Altenvoerde) wurde erst DIE ENDSTATION HIESS entkoppelten Ennepetalbahn nur noch
am 1. September 1882 feierlich eröffnet. NUN ENNEPETAL-ALTENVOERDE. ein Alibi-Zugpaar übrig, am 29. Septem-
Der Bau erfolgte in Regie der Bergisch- ber 1968 kam für den Personenverkehr
Märkischen Eisenbahn (BME), die auf das endgültige Aus. Infolgedessen wurde
dem ersten Teilstück auch noch den Betrieb aufnahm. Anfang 1882 1972 der Abschnitt Hagen Hbf – Hagen-Kückelhausen unterbrochen,
kam die BME jedoch unter die Fittiche der Königlich Preußischen ans Netz angebunden blieb die Strecke von Hagen-Eckesey her. Die
Staatseinbahnen. Schließung wichtiger Industriebetriebe in den Siebzigern führte dann
Lange vorher hatte die BME bereits eine Bahnlinie von Elberfeld auch zum Niedergang des Güterverkehrs.
durch das Ennepetal und weiter über Hagen und Witten nach Dort- Nach dem Abriss der Hasper Hütte wurde die Ennepetalbahn
mund gebaut, diese Hauptstrecke ging 1849 vollständig in Betrieb. Als mittels einer am 29. Oktober 1984 in Betrieb genommenen Neubau-
nachteilig erwies sich jedoch deren Verlauf in Hanglage am Südrand trasse durch das ehemalige Hüttengelände in Hagen-Haspe an die
des Tals. So waren die Bahnhöfe Milspe und Gevelsberg für Fuhrwer- alte Hauptstrecke der „Bergisch-Märkischen“ angeschlossen; somit
ke und Fahrgäste nur mühsam erreichbar. Auch die 1879 durch die konnte der Abschnitt Hagen-Kückelhausen – Gevelsberg-Vogelsang
Rheinische Eisenbahngesellschaft errichtete Strecke Dortmund – Ha- entfallen.
gen – Wichlinghausen – Vohwinkel – Mettmann – Düsseldorf er- Anfang 2000 gab DB Netz die Infrastruktur der Strecke Hagen-Has-
schloss mit ihrer nördlichen Hanglage das Ennepetal nicht optimal. pe – Ennepetal-Altenvoerde an die Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft
Direkt durch das Tal nahm nur die Nebenbahn Hagen – Alten- mbH im Bergisch-Märkischen Raum (EBM) ab, die auch den Güter-
voerde ihren Weg. Zahlreiche Industriebetriebe erschließend, ins- verkehr übernahm. Nach dem Konkurs der EBM gründeten Anschlie-
besondere die nach 1900 mit neuen Hochöfen ausgestattete Hasper ßer die Betreibergesellschaft Talbahn GmbH. Diese fungiert heute als
Hütte, entwickelte sich die Ennepetalbahn pro Zugkilometer gerech- Infrastrukturunternehmen, den Güterverkehr führt eine Tochterge-
net zur rentabelsten Strecke der Preußischen Staatsbahn, und sie sellschaft der Hochwaldbahn (HWB) durch. Seit 2007 veranstaltet die
war dann eine der lukrativsten der Reichsbahn. Mit Einführung des RuhrtalBahn saisonal regelmäßige Schienenbusfahrten auf der „Te-
Stundentakts im Jahr 1931 stieg auch ihre Bedeutung im Personen- ckel-Linie“ Herdecke – Hagen Hbf – Ennepetal-Kluterthöhle.
verkehr rapide an. Dafür beschaffte die DRG 1932 bei der Waggon- Letztgenannte Station befindet sich rund 700 Meter vor dem End-
fabrik Wismar die damals hochmodernen vierachsigen Triebwagen bahnhof Ennepetal-Altenvoerde. Vom Bahnhof Ennepetal-Kehr, ehe-
875 und 876 (später VT 137 003 und 004), ergänzt um zwei Beiwagen mals Milspe Tal, ist nur noch das Empfangsgebäude übrig geblieben,
VB 147. Mit dem Stundentakt begegnete die DRG auch der Straßen- heute Sitz der Dörken-Oel GmbH. Der Güterschuppen musste einer
bahnkonkurrenz, die zum einen durch die Linie 3 der Hagener Stra- klotzigen Industriehalle weichen. Auch der Gleisanschluss zur Gieße-
ßenbahn nach Gevelsberg-Nirgena und zum anderen durch die von rei Stockey & Schmitz ist ebenso wie die Firma längst Geschichte. Seit
der Straßenbahngesellschaft Ennepe betriebenen Linie Hasslinghau- 1986 sichert eine Blinklichtanlage mit Halb- und Gehwegschranken
sen – Gevelsberg – Milspe – Voerde entstanden war. den Bahnübergang „Kölner Straße“. Gewiss: Das Empfangsgebäude
Vom kriegsbedingt ausgedünnten Fahrplan, von der Wiederauf- ist hübsch restauriert, aber hat es noch Charme? Vom heutigen En-
nahme des Stundentakts und vom Triebfahrzeugeinsatz nach dem semble ganz zu schweigen ... ☐

ZEITREISEN 21
1957 LINZ

LINZ
WEINBERG-BLICK MIT BAHNBETRIEBSWERK AM MITTELRHEIN
TEXT UDO KANDLER

IM UNTEREN MITTELRHEINTAL nahe Bonn liegt Linz, ein deswegen, weil die Versuchung einfach zu groß war, dem Verkehrs-
Städtchen, das man wohl einen verträumten Ort nennen darf. Maß- aufkommen in den nicht fernen Eisenbahnbrennpunkten in Koblenz
geblich prägend ist von jeher Vater Rhein mit seiner touristischen oder gar Köln zu erliegen. Dem hatte ein Bahnhof wie Linz freilich
Strahlkraft, aber natürlich genauso die im Herzen der Ortschaft be- nur wenig entgegenzusetzen.
findliche Eisenbahn. Die Geschichte der Eisenbahn hatte es mit Linz Die bekanntesten Aufnahmen stammen dann auch aus der Plat-
über die bloße verkehrsmäßige Anbindung an die rechte Rheinstre- tenkamera des Altmeisters der Eisenbahnfotografie, Carl Bellingrodt,
cke hinaus durchaus gut gemeint, als der Bahnhof auch noch Aus- die er hier vor einer ganzen Ewigkeit kurz vor dem Verschwinden der
gangspunkt einer Nebenbahn aus dem Rheintal hinauf in den vorde- Zahnradlokomotiven der Baureihe 97.0 und der Umstellung der Stre-
ren Westerwald nach Kalenborn und weiter durch das Wiedtal nach cke auf reinen Adhäsionsbetrieb um 1930 anfertigte. Aber auch nur,
Flammersfeld wurde. weil er genau diese seltene Baureihe hier zu Gesicht bekam. Andern-
Die Rede ist von einer alles andere als gewöhnlichen Nebenbahn, falls hätte es wohl auch ihn nicht nach Linz verschlagen. Demgemäß
vielmehr handelte es sich bei der im Jahr 1912 in Betrieb gegangenen richtete er den Blick allzu sehr auf die Zahnradlokomotiven und we-
Strecke um eine betriebstechnisch überaus aufwändige Bahnlinie, niger auf das Umfeld. Und dies bei einem Fotografen, der bekannter-
und zwar um eine Steilstrecke mit Zahnstangenbetrieb, die den Ein- maßen seine Bildkompositionen immer stark auch an der Eisenbahn
satz nicht alltäglicher Zahnradlokomotiven erforderte. Demzufolge in der Landschaft ausrichtete – in Linz blieb er seiner fotografischen
erfuhr der Bahnhof im Zusammenhang mit dem Streckenbau in den Vorgehensweise offenbar nicht treu. Am Mangel geeigneter Fotomo-
Jahren 1910 bis 1912 mit dem angegliederten Bahnbetriebswerk eine tive konnte es jedenfalls nicht gelegen haben. Für einen Fotografen
angemessene Angleichung an die neue betriebliche Herausforderung. seines Formats wäre es ein Leichtes gewesen, beispielsweise von den
Nun erst vermochte der Bahnhof Linz aus der breiten Masse der angrenzenden Weinbergen herab aussagestarke Übersichtsaufnah-
Blick herab von den Weinbergen auf Linz und seine
unbedeutenden Bahnstationen ein wenig hervorzutreten und avan- men vom Bahnhof oder vom Betriebswerk anzufertigen. Womöglich Bahnanlagen an einem Septembertag 1957: Eine
cierte bei aller provinzieller Bescheidenheit mit seinem Bw zu einem aber zählten ausgerechnet auch solche Aufnahmen zu den Verlusten, Dampflok mit Personenzug hat soeben den Bahnhofsbe-
bescheidenen Eisenbahnerstädtchen. Trotz der betriebstechnischen die das Bellingrodt-Archiv während des Zweiten Weltkriegs durch reich verlassen und passiert nun das Bahnbetriebswerk
Besonderheiten, die der Steilstreckenbetrieb dereinst hervorbrachte, Bombentreffer erlitt. (rechte Seite), um sich auf der rechten Rheinstrecke
fristete der Linzer Bahnhof in der großen weiten Welt der Eisenbahn Es hat aber ganz den Anschein, dass dieser Ort es zu keiner Zeit auf den weiteren Weg durch das romantische Mittel-
freilich auch nicht viel mehr als ein Nischendasein. Alle wichtigen wirklich schaffte, das Interesse von Eisenbahn-Enthusiasten auf sich rheintal Richtung Köln zu machen.
FOTOS: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG (2)
Züge fuhren ohne Halt achtlos durch oder – auf der linken Rheinseite zu ziehen. Lediglich in den 1960er Jahren verschlug es den einen
– gleich ganz an dem Ort vorbei. Allein schon von daher vermochten oder anderen Zeitgenossen mit der Kamera nach Linz am Rhein, als
sich während der Blütezeit der zu Füßen der Burg Ockenfels liegenden sich der Dampfbetrieb hinauf nach Kalenborn mit den mittlerweile
Bahnstation nur denkbar wenige Zeitgenossen überhaupt hierher zu beim Bw Koblenz-Mosel beheimateten Lokomotiven der Baureihen
verirren, die – ob nun von professionellen Anlässen geleitet oder als 94.5 und 82 hier tatsächlich dem Ende zuneigte. Obendrein zu einem
amateurhafter Bahnfreund – ausgerechnet an diesem Ort die Eisen- Zeitpunkt festgehalten, als beim Bw Linz vom Glanz einer ehedem ei-
bahn in den Fokus ihrer Kameras rückten. Vielleicht aber auch nur genständigen Dienststelle kaum was übrig geblieben war und das Bw

22 ZEITREISEN
ZEITREISEN 23
1957 LINZ

Hoch über Linz thront Burg Ockenfels


(Aufnahme aus dem Jahr 1925).

LINZER BW-ALLTAG
ALS DER LICHTBILDNER DER BD KÖLN
1951 DIESE SZENEN FESTHIELT,
HERRSCHTE AUF DEN BAHNANLAGEN DES
KLEINEN RHEINORTES NOCH REGE
GESCHÄFTIGKEIT, DOCH DIE FETTEN
JAHRE DES DAMPFLOKBETRIEBS AM
MITTELRHEIN WAREN SCHON BALD VORBEI.

24 ZEITREISEN
Im Vergleich zum regen Treiben
sechs Jahre zuvor wirkte das
Areal um das Dienstgebäude des
Linzer Bw im September 1957
bereits wenig ausgelastet.
FOTOS: BILDARCHIV
DER EISENBAHNSTIFTUNG (5)

ein Dasein als unbedeutende Außenstelle fristete. Aber immerhin lag um hier wenigstens einige wenige Motive der noch gerade so „in Saft „in Form gebracht“ werden mussten. Daher ist es auch kaum weiter
die Überwindung von knapp 300 Höhenmetern zwischen Linz und und Kraft stehenden“ Dienststelle auf bahnamtlichen Schwarz-Weiß- verwunderlich, dass diese Bilder sich einzig über ihren dokumenta-
Kalenborn noch ganz in der Hand der Dampftraktion, bevor Mitte Film zu bannen. Und das, obwohl die Linzer Bahnanlagen samt Steil- rischen Wert definieren.
1968 die V 100 mit hydrodynamischer Bremse (die spätere Baureihe strecke längst schon nicht mehr zum Kölner Bezirk gehörten. Diese Gottlob kann sich eine derartige Erkenntnis durchaus auch sehr
213) das Ruder übernahm. waren bereits sechs Jahre zuvor im Zuge der Angleichung der Direkti- schnell relativieren, wenn plötzlich doch noch Aufnahmen auftau-
Wie sah es in den jungen Jahren der Deutschen Bundesbahn in den onsgrenzen an die Besatzungszonen mit Wirkung zum 22. September chen, die nicht nur neue Sichtweisen eröffnen, sondern obendrein
frühen 1950er Jahren an diesem Ort wohl tatsächlich einmal aus, als 1945 der Reichsbahndirektion Mainz (später Bundesbahndirektion Emotionen freisetzen, eine gedankliche Zeitreise geradezu provozie-
die Dienststelle als unverzichtbare Einrichtung ihre letzte Blüte erleb- Mainz) zugeschlagen worden. ren. Das Einstiegsbild dieses Beitrags hat das Zeug dazu, ein wenig
te? Lange schien es so, dass der bei der BD Köln beschäftigte Direk- Anlässlich seines Dienstbesuchs hielt Fischer die vorgefundene die Sinne schweifen zu lassen. Festgehalten wurde die atmosphärisch
tionsfotograf Fischer der einzige bekannte bleiben sollte, der sich an Situation in eher nüchtern-sachlichen Bildern fest. Allen Aufnah- dicht anmutende Eisenbahn-Infrastruktur an einem recht düsteren
einem Sommertag des Jahres 1951 veranlasst sah, von Köln aus ei- men ist dann auch gemein, dass sie arg „kippelig“ (verkantet) auf- Septembertag des Jahres 1957. Allenfalls der nur noch spärlich mit
nen dienstlichen Abstecher entlang des Rheins nach Linz zu machen, genommen wurden und für eine Veröffentlichung erst einmal noch Brennstoff gefüllte Kohlenbansen lässt erahnen, dass die wirklich fet-

ZEITREISEN 25
1957 LINZ
ten Jahre der Dienststelle hinsichtlich ihrer ursprünglichen Bedeu-
tung vorbei waren und nur noch eine überschaubare Anzahl der von
außerhalb kommenden Lokomotiven hier „verköstigt“ wurde. Endete
doch die Selbstständigkeit des Bw Linz bereits am 2. Oktober 1954
mit der Angliederung als Außenstelle an das Bw Oberlahnstein. An-
Auch nach der Degradierung zur Außenstelle sonsten sollte sich zunächst rein äußerlich nur wenig ändern, die bau-
des Bw Oberlahnstein im Jahr 1954 blieb das lichen Anlagen blieben auf absehbare Zeit vollumfänglich erhalten.
Linzer Areal baulich erhalten. Am schneereichen
Dennoch: Die Zeichen standen unverkennbar auf Veränderung, die
24. Dezember 1964 war dort die 94 817 in
weihnachtlicher Ruhe abgestellt. DB stand am Anfang einer umfassenden Modernisierung und damit
FOTO: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG vor der Abkehr von der Dampftraktion. Ungeachtet dessen wurden
im Jahr 1957 auch noch die beiden Schnellzugdampfloks der neuen
Baureihe 10 in Dienst gestellt, sie kamen allerdings viel zu spät und
blieben daher Einzelgängerinnen.
Über das Bahngeschehen hinaus gesehen, strengte sich die Bun-
desrepublik seinerzeit an, den Zenit des Nachkriegswirtschaftswun-
ders zu erklimmen, der zunehmende Wohlstand sorgte in beinahe

Auf 8,8 Restkilometern zwischen Linz und Kalenborn hielt sich der Güter-
verkehr noch bis zur Ära der DB AG. Zum Einsatz kamen die Steilstrecken-V 100
der Baureihe 213. Am 13. September 1968 war es noch die 082 040, die
die Übergabe hinab nach Linz beförderte, hier bei Kasbach.
FOTOS: UDO KANDLER, BERNDT VON MITZLAFF

26 ZEITREISEN
allen Lebensbereichen für überwiegend positive Veränderungen. Die Kurz darauf führte die DB für alle Triebfahrzeuge verbindlich das
Jahre der notgedrungenen Nachkriegsimprovisation waren jedenfalls Dreilicht-Spitzensignal ein. Ende 1957 verfügte die Bundesbahn über Das war 1957
überwunden. Betriebswirtschaftliches Denken bestimmte aber mehr 4985 Bahnhöfe, natürlich inklusive unserer eher unbedeutenden Lin- Mit wirklich weltpolitischen Ereignissen hält sich das Jahr zurück.
und mehr auch den Alltag der Deutschen Bundesbahn: Unrentable zer Station. Ferner wurden noch 241 eigenständige Bahnbetriebswer- In Deutschland gilt als verlässliche Konstante die Wiederwahl des
Nebenbahnen etwa wurden alsbald konsequent auf die „Abschuss- ke unterhalten, wozu das Bw Linz aber schon nicht mehr zählte. Das „Alten“: Konrad Adenauer wird am 15. September zum dritten
liste“ gesetzt, Kostenminimierung um jeden Preis lautete fortan die gesamte Streckennetz der DB umfasste knapp 31 000 Kilometer, da- Mal zum Bundeskanzler gewählt. Die zuvor von der CDU/CSU
Losung. Doch noch hatten die Jahre des drastischen Nebenbahnster- von unterlag rund ein stolzes Drittel dem Nebenbahnstatus. Der große ausgegebene Parole „Keine Experimente!“ hatte ihr Ziel erreicht.
bens nicht begonnen. Kahlschlag unter den Nebenbahnen stand zu diesem Zeitpunkt erst Für die SPD ist die Wahl von Willy Brandt zum Regierenden Bür-
Als verlässliche Konstante galt in jenen Tagen allenfalls die Wie- noch bevor. Das Jahr 1957 brachte lediglich die Stilllegung von zwei germeister von Westberlin ein wichtiger Schritt und dem Spiegel
derwahl des „Alten“ aus dem nur wenige Kilometer rheinabwärts Nebenbahnen im Personenverkehr, zusammen nicht einmal zwan- eine Titelstory wert. Erstmalig findet eine Massenimpfung gegen
Kinderlähmung statt. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg
gelegenen Ort Rhöndorf. Konrad Ade- zig Kilometer – eine trügerische Ruhe
teilautonom an Frankreich angeschlossen war, gehört das Saarland
nauer wurde mit der absoluten Mehr- vor dem Sturm.
DIE LINZER STEILSTRECKE ERWISCHTE seit Jahresbeginn wieder zu Deutschland, die D-Mark wird aber
heit der abgegebenen Stimmen am 15. Die Linzer Steilstrecke sollte es zum erst 1959 übernommen. Der VW Käfer erhält eine große recht-
September 1957 ein drittes Mal zum ES ENDE MAI 1960. AUF EINEM Sommerfahrplan am 29. Mai 1960 er- eckige Heckscheibe und im Endspiel um die deutsche Fußball-
Bundeskanzler gewählt. Der von der RESTSTÜCK HIELT SICH BESCHEIDENER wischen und sie zählte damit zu den meistermeisterschaft siegt Borussia Dortmund mit 4:1 gegen den
CDU/CSU unter der Parole „Keine Ex- GÜTERVERKEHR ABER BIS 1995. frühen Streckenstilllegungen, wobei das Hamburger SV. Über die Landesgrenzen hinaus bedeutsam ist die
perimente!“ geführte Wahlkampf hatte neue Jahrzehnt gleich mit einem Pau- Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG.
sein Ziel nicht verfehlt, war ganz auf den kenschlag aufwartete: Im Jahr 1960 wur-
konstanten Fortschrittsglauben der Menschen ausgerichtet, denen den gleich 30 mehr oder weniger lange Nebenbahnen für den Per-
man allzu große politische Veränderungen ersparen wollte. sonen- und/oder Gesamtverkehr aufgegeben. Für den Streckentorso
Mit wirklich weltpolitischen Ereignissen hielt sich das Jahr 1957 der ehedem von Linz nach Flammersfeld führenden Nebenbahn war
aber zurück. Der EWG-Vertrag über die Gründung der Europäischen die Einstellung im Personenverkehr ein konsequenter Schritt. War
Wirtschaftsgemeinschaft dürfte (vor dem Hintergrund der bereits doch zuletzt nur noch ein Alibi-Zugpaar unterwegs, das werktäglich
1951 gegründeten Montanunion) die alles entscheidende politische frühmorgens von Neustadt (Wied) nach Linz und zu vorgerückter
Weichenstellung für Deutschland und Europa gewesen sein – der Abendstunde retour dampfte. Den durchgehenden Zugbetrieb hatte
Grundstein für die spätere Europäische Gemeinschaft. man aufgrund der Kriegsschäden, bedingt durch die beim Rückzug
Ansonsten waren es die kleinen Veränderungen, die uns mitun- der Wehrmacht noch im März 1945 im Wiedtal gesprengten Brücken,
ter bis heute beschäftigen. Die Einwegflasche ersetzte zunächst bei und vor dem Hintergrund eines äußerst geringen Verkehrsbedürfnis-
Wein und Traubensäften die umweltfreundliche Mehrwegflasche. In ses nach dem Krieg gar nicht wieder aufgenommen und das Teilstück
Nordrhein-Westfalen wurde die Radarkontrolle eingeführt; im Vor- Mettelshahn – Flammersfeld aufgegeben.
dergrund stand selbstverständlich ganz die erzieherische Wirkung auf Danach erfolgte am 1. Januar 1961 die „Verschlankung“ des ver-
die Autofahrer, die bei Verstößen fortan mit Strafen rechnen mussten. bliebenen Güterverkehrs formal um das Teilstück Wiedmühle – Neu-
Ganz sportlich wurde Borussia Dortmund deutscher Fußballmeister. stadt (Wied), bevor schließlich am 25.  September 1966 auch der
Das wohl traurigste Ereignis des Jahres war der Untergang des rund Rückzug zwischen Kalenborn und Wiedmühle vollzogen wurde. Im-
600 Seemeilen südwestlich der Azoren in einen schweren Orkan ge- merhin konnten sich die verbliebenen 8,8  Schienenkilometer Linz
ratenen deutschen Segelschulschiffs „Pamir“, wobei 80 der 86 Besat- (Rhein) – Kalenborn im Güterverkehr noch bis in das Zeitalter der
zungsmitglieder den Tod fanden. DB AG hinüberretten, wenngleich unter deren Ägide schnell das defi-
Das Jahr 1957 konnte aber durchaus noch mit erfreulichen bahnre- nitive Ende kam und am 28. Mai 1995 die Gesamtstilllegung erfolgte.
levanten Fakten aufwarten: Mit der national bedeutsamen Rückglie- Die in solchen Situationen obligatorische Entwidmung und der Abriss
derung des Saarlands in die Bundesrepublik Deutschland übernahm fanden hier aber nicht statt. Die heute als „Kasbachtalbahn“ bekann-
die Bundesbahn die „Eisenbahnen des Saarlandes“. Mit dem Som- te Strecke ging am 12. August 1998 auf die in Linz auf dem Areal des
merfahrplan am 2. Juni 1957 starteten sieben europäische Bahngesell- ehemaligen Bw ansässige Eifelbahnverkehrsgesellschaft mbH über,
schaften den TEE-Verkehr. Eine neue Ära des luxuriösen Reisens fand die die Strecke seither im Saisonbetrieb erfolgreich mit einem ehe-
ihren Anfang. Das Angebot des Trans-Europ-Express beinhaltete auch maligen DB-Schienenbus betreibt und sporadisch sogar Dampfzug-
die Beschaffung der neu entwickelten Dieseltriebzüge VT 11.5. fahrten durchführt. ☐

ZEITREISEN 27
1960 ALTENA

ALTENA
ALLTAGSGESCHICHTEN AN EINEM SONNIGEN MAITAG IN WESTFALEN
TEXT JOACHIM SEYFERTH

FAST JEDER DEUTSCHE, so er einigermaßen gebildet ist, hat von Unser Eingangsfoto vom Mai 1960 ist eine weitere Facet-
dem sauerländischen Städtchen Altena schon in einem bestimmten te zur Bereicherung dieser Erinnerungen und Eindrücke: Ein
Zusammenhang gehört: Hier entstand 1912 oberhalb der Stadt auf Frühlingstag am Posten 30 mitten in Altena, links die Lüden-
Burg Altena die erste ständige Jugendherberge der Welt. Initiator scheider Straße und ein historischer Pkw mit Ortskennzeichen,
war der Lehrer Richard Schirrmann, er wurde gleichzeitig der ers- der auf dem im Kopfsteinpflaster eingelassenen 1000-Milli-
te Herbergsvater für müde Globetrotter in deutschen Landen. Diese meter-Gleis der von der Kreis Altenaer Eisenbahn betriebenen Strecke
Jugendherberge ist heute ein Museum und im Originalzustand er- Altena – Lüdenscheid wartet, um nach Öffnen der Schranken auf die
halten. Und fast jeder Deutsche, so er einigermaßen weitgereist und „Große Brücke“ über die Lenne abzubiegen, rechts die beiden Haupt-
vornehmlich auf Schienen unterwegs ist, ist schon einmal durch Al- gleise der Ruhr-Sieg-Strecke und der gerade in Richtung Finnentrop
tena gefahren – auf der Ruhr-Sieg-Strecke ins Ruhrgebiet oder ins vorbeipolternde Güterzug mit seiner 44 058. Die Schranken waren
Westfälische beziehungsweise umgekehrt von dort an den Main oder hier oft geschlossen, sonst wäre die Fußgängerunterführung nicht
noch weiter gen Süden. vorhanden. Das Kind der modisch gekleideten Mutter befindet sich
Ruhr-Sieg-Strecke! Welches Flair geht insbesondere für uns Eisen- im schwächsten aller hier gerade parallel befindlichen Fahrzeuge und
bahnfreunde von diesem Streckennamen aus! Wir denken sofort an ist heute freilich 52 Jahre älter. Wie staunend erfreut würde diese ver-
Hauptbahn-Klassik mit regem Zugbetrieb und Langläufen sowohl mutlich für immer anonym bleibende Person sein, hielte man ihr jetzt
beim Reise- als auch beim Güterzugverkehr, an zugehörige klassi- diesen dokumentierten Moment aus einem Bruchteil ihres Lebens
Postkarten-Blick auf Altena mit Burg. Am Bildrand rechts
unten die von der Lüdenscheider Straße abzweigende Lennebrücke
sche Bahnbetriebswerke wie Hagen-Eckesey oder Altenhundem, an
an der Bahnhofsausfahrt Richtung Finnentrop. kurven- und brückenreiche Trassierung entlang der Lenne, an kurze
FOTO: ARCHIV EJ Tunnelfolgen, an historische Bildklassiker von Carl Bellingrodt und
Ludwig Rotthowe, an herb-schöne Fluss- und Berglandschaften in der
Kino-Leinwand des Abteilfensters, an die kurze Epoche der DC-Züge
mit vier Pop-Wagen und dem rot-beigen Ellok-Renner der Baureihe Erzählerische Szenerie in der Lüdenscheider Straße in
112, an die verschiedenen Rampenabschnitte mit Schubbetrieb, an Altena (Westf.) an einem sonnigen Maitag 1960: Die Bildra-
Schwerindustrie inmitten würziger Waldluft, an die einst typischen rität prägen ein „Meister“ auf seiner 44er, die auf der Ruhr-
Baureihen dieser Strecke wie 01, 03.10, 44 oder 150 und 151, an Ganz- Sieg-Strecke nach Finnentrop ausfährt, eine etwas scheu
züge mit Coils, an Zwischenstationen wie Finnentrop, Kreuztal oder auf den Fotografen blickende junge Mutter mit 50er-Jahre-
Letmathe mit Anschlusszügen und regem Rangierbetrieb, an ihre Kinderwagen und ein ebenso unbekannter Lloyd-Fahrer.
FOTO: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG
typischen Stellwerke mit Formsignal-Technik, an das Kopfmachen
in Siegen und an das Umsteigen in den Dampf-Personenzug nach
Betzdorf. Von den Hütten des Ruhrgebietes zum Angeln an die Sieg.
Hier Industrie, dort Landschaft – besser kann ein Streckenname die-
sen reizvollen Gegensatz nicht charakterisieren!

28 ZEITREISEN
ZEITREISEN 29
1960 ALTENA

Eine der klassischen Ruhr-


Sieg-Baureihen war die 03.10.
Im Mai 1963 nimmt hier die
03 1008 mit einem Eilzug
Richtung Hagen am nördlichen
Ende des Bahnhofsbereichs
mächtig Fahrt auf. Noch ist von
der bevorstehenden Elektrifi-
zierung nichts zu sehen.

Gleisplan des Bahnhofsbereichs von


Altena im Zustand um 1955 bis
1960 (ohne KAE-Gleise). Der rote
Punkt zeigt den Aufnahmestandort
des einleitenden Fotos auf der
vorhergehenden Seite, der gelbe den
Das Altenaer Empfangsgebäude von der Straßen- Standpunkt vom Foto oben.
seite gesehen, in den frühen Fünfzigern (oben) GRAFIK: SAMMLUNG SEYFERTH
mit dem im Pflaster eingelassenen KAE-Gleis und
in den Achtzigern in bunter Bemalung.
FOTOS: ARCHIV EJ, HELMUT SÄUBERLICH

30 ZEITREISEN
vor! Insgesamt eine Alltagsszene, wie sie unspektakulärer und daher dort wohl letztmalig von der Ausbesserung zurückgestellt. Zu diesem im Güterverkehr und am 28. Mai 1961 im Personenverkehr (im Volks-
schöner kaum sein könnte – und doch vermittelt diese Aufnahme den Zeitpunkt hing in ihrer alten Heimat zwischen Ruhr und Sieg schon mund „Schnurre“ genannt) einstellte. Als hier die 44 058 vorbeibraus-
Zeitgeist der beginnenden Wirtschaftswunderjahre mit Nachwuchs der Fahrdraht, die Aufnahme des elektrischen Betriebs am 14. Mai te, fuhr das Schmalspurzüglein auf dem großteils ins Straßenbett ein-
bei den Menschen und Nachschub bei den Gütern. 1965 machte hier der Dampflokzeit ein Ende – unser Eingangsfoto gelassenen Gleis der KAE also noch.
Diese Güter befördert hier unverkennbar die 44 058, die zehn Jahre wurde endgültig Erinnerung. Noch weitaus zukunftsträchtiger und prosperierender ging es da-
vor Entstehen dieses Bildes noch in Heide (Holstein) kriegsbeschädigt Auch der allgemeine Schienenverkehr in Altena selbst blieb vom gegen noch auf den „Staatsbahngleisen“ in Altena zu: Der Gleisplan
auf „Z“ gestellt gewesen sein soll. Wieder aufgearbeitet kam sie 1952 Schicksal des Niedergangs nicht verschont: Dies betraf bereits ein (siehe Abbildung Seite 30) aus dem Jahre 1955, der allerdings nur die
zum Bw Altenhundem und dürfte bei ihren Einsätzen auf der Ruhr- Jahr nach unserer Aufnahme das älteste und wohl auch bekanntes- Anlagen der DB ohne die der KAE zeigt, verrät noch eine gesunde
Sieg-Strecke das Städtchen Altena so wie hier unzählige Male durch- te Schmalspurnetz (1000  Millimeter) im westlichen Sauerland, die Bahnhofs-Infrastruktur insbesondere für die Belange des Güterver-
fahren haben. Zwei Jahre nach dieser Aufnahme kam sie nach Min- „Kreis Altenaer Eisenbahn AG“ (KAE), die den Betrieb auf der 14,5 kehrs. Ein langes Überholgleis (Gleis 3) neben den beiden durchge-
den, 1966 nach Hildesheim und 1969 stand sie in Lehrte und wurde Kilometer langen Strecke Altena – Lüdenscheid am 14. Februar 1961 henden Hauptgleisen war natürlich ebenso vorhanden wie verschie-

Von der „Großen Brücke“ aus, die am südlichen


Bahnhofsende von der Lüdenscheider Straße
über die Lenne führt (siehe Einleitungsfoto),
entstand im Januar 1965 diese Aufnahme
einer 50er mit Güterzug, die kraftvoll Richtung
Finnentrop ausfährt. Die Elektrifizierung der
Ruhr-Sieg-Strecke ist zu diesem Zeitpunkt
bereits weitgehend abgeschlossen.
FOTOS: ARCHIV JAHR (2)

ZEITREISEN 31
1960 ALTENA

ALTENAER
KLEINBAHN-
MEMOIREN

„Schnurre“-Züglein der Strecke


Altena – Lüdenscheid in der Lüden-
scheider Straße auf Höhe Mittlere
Brücke (um 1959).
FOTO: LUDWIG ROTTHOWE

Auf der anderen Lenneseite


befanden sich die IKB-Gleisanlagen.
Hier ein Zug mit der markanten
AEG-Elektrolok (um 1961). Über
die stählerne Brücke gab es eine
Verbindung.

32 ZEITREISEN
Im Bereich der etwas außerhalb des
Altenaer Stadtkerns gelegenen Halte-
stelle Steinerne Brücke der KAE
befanden sich auch Anschlüsse zu
Fabriken (linke Seite großes Bild
und diese Seite). Größtenteils verlief
die 14,5 Kilometer lange Kleinbahn
im Straßenplanum, was wohl auch
zur baldigen Stilllegung im Jahr
1961 geführt hat (Aufnahme linke
Seite von 1961, diese Seite vom Mai
1953; beachtenswert der Borgward
mit Kfz-Kennzeichen der Britischen
Besatzungszone).
FOTOS: ARCHIV JAHR (3)

DAS ÄLTESTE UND WOHL BEKANNTESTE 1000-MILLIMETER-SCHMALSPURNETZ


IM WESTLICHEN SAUERLAND WAR DIE KREIS ALTENAER EISENBAHN. NEBEN DER AUCH
„SCHNURRE“ GENANNTEN KAE GAB ES MIT DER ISERLOHNER KREISBAHN, DER IKB,
NOCH EINE WEITERE METERSPURBAHN, DIE IN ALTENA BEGANN.

ZEITREISEN 33
1960 ALTENA
dene Lade-, Anschluss- und Zugbildungsgleise. In der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts (und hier im Gleisplan nicht mehr ent-
halten) besaß Altena auch noch einen sechsständigen Lokschuppen
samt Drehscheibe.
Aus diesen Gründen ist Altena auch bei Modellbahnern beliebt,
denn der kompakte und in einem reizvollen Bogen auf engstem Raum
liegende Bahnhof bietet mit seiner Fusion aus Normal- und Schmal-
spurbetrieb eine Fülle an Betriebssituationen und Spielmöglichkeiten
– ein nahe gelegener Tunnel an seiner Westseite bildet womöglich so-
gar noch das willkommene Alibi für einen Schattenbahnhof!
Nach den Jahren des Dampfbetriebs auf der Bei der Streckeneröffnung des Teilstücks Altena – Siegen am 5. Au-
Ruhr-Sieg-Strecke gehörten sechsachsige E-Loks gust 1861 entgleiste bei Grevenbrück zwar sogleich der Festzug, aber
wie die E 94 und 150 sowie später 151 auch das war bei glimpflichem Ausgang nur ein realistischer Fingerzeig für
in Altena zum Alltag. Mit schweren Güter-
die bekannte Tatsache, dass beim Hobeln auch Späne fallen. Denn die
zügen war es auch unter Fahrdraht noch immer
ein Spektakel, wenn es über die Rampe bei
Eisenbahn und mit ihr die gesamte Wirtschaft entwickelten sich hier
Welschen-Ennest ging (Aufnahme 1966). im Lennetal prächtig, alsbald stieg die Eisen- und Stahlproduktion
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH und somit die Zahl der Hüttenbetriebe entlang der Strecke rasant an –
die Ruhr-Sieg-Strecke war weit über Altena hinaus sozusagen der
verlängerte Arm des „Reviers“. Die auf der Ruhr-Sieg-Strecke einge-
setzten Lokomotiven kamen daher auch von so legendären Bahnbe-
triebswerken wie Wuppertal-Vohwinkel oder Hagen-Eckesey, waren
aber insbesondere wegen dem Schubbetrieb auf mehreren Rampen-
abschnitten der Ruhr-Sieg-Strecke auch direkt in Altenhundem und
Bahnhof Altena mit Burgblick an Silvester 1982:
Finnentrop beheimatet.
Der nittlerweile eingetretene Verkehsrsrückgang auf
der Strecke kommt auch in der Selbstironie der DB Der Güterverkehr dominierte über viele Jahre hinweg, aber auch
am Bahnsteig zum Ausdruck (Bild unten). der Reisezugverkehr war durchaus repräsentativ: Bis Anfang der
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2) Achtzigerjahre hielten in Altena beispielsweise noch durchgehende
Schnellzüge von München bis Norddeich Mole, nicht zu vergessen
natürlich die bunten DC-Züge im Pop-Jahrzehnt der Siebziger – statt
Speisewagen klingelte sich in ihnen unablässig ein Minibar-Verkäufer
mit seinem scheppernden Wägelchen durch die Gänge der nur vier
oder fünf Abteilwagen.
Die Interregio-Züge ab 1993 fuhren dagegen in Altena schon durch
und was heute dort noch „los“ ist, darf eigentlich getrost verschwie-
gen werden, denn dabei können nicht nur alten sauerländischen
Eisenbahnern die Tränen kommen: Altena verkommt zum bloßen
Haltepunkt! Eine im Vergleich zu früher armselige Station für neue
Triebwagen, der eher Gelenkbussen ähneln. Und natürlich weit und
breit kein einziger Eisenbahner mehr, dafür Warnstreifen, Verbots-
schilder ohne Ende und viele glatte Flächen, die zu neuen Schmie-
rereien einladen.
Dagegen war eine im Mai 1960 durch den Bahnhof brausende 44
zwar spektakulär, aber damals noch eine der langweiligsten Betriebs-
situationen. Wer heute in dieses Datum und an diesen Ort zurückver-
setzt würde, wäre in Altena mindestens ein Vierteljahr damit beschäf-

34 ZEITREISEN
tigt, alle verschiedenen Zug- und Rangierfahrten der DB und der KAE waren meist sechsachsig, wie sich das für ein ordentliches Mittelge-
sowie alle baulichen Anlagen mit dem Fotoapparat und dem Tonband- birge gehört: erst die 194 und die 150, ab 1973 dann auch die 151, für Das war 1960
gerät zu dokumentieren. Und beim freundlichen Fahrdienstleiter im deren Hagen-Eckeseyer Bestand die Ruhr-Sieg-Strecke schon bei- Vieles, was sich in diesem Jahr ereignete, ist eher als Randnotiz
Stellwerk „Af “ hätte er in der Eisenbahner-Gewerkschaftspostille le- nahe vor der Haustüre lag. Nur fünfzehn Jahre nach dem Entstehen der Geschichte festzuhalten. Richtige Aufreger waren für manche
sen können, dass ab Fahrplanwechsel zum 29. Mai die Reisegeschwin- unseres Eingangsfotos gehörten sie mit schweren Kohlezügen bis zu Zeitgenossen aber sicher die Erstbesteigung des im Himalaya-
digkeit der Fernzüge erhöht werden soll: Der TEE „Parsifal“, der Fdt Personenzug-Füllleistungen mit zwei Silberlingen auch zum täglichen Massiv liegenden Dhaulagiri, des siebthöchsten Bergs der Welt,
„Schauinsland“ und der TEE „Helvetia“ waren für Reisegeschwindig- Bild in Altena. Dampfloks beispielsweise der Baureihe 44 verirrten der 3:2-Sieg des Hamburger SV gegen den 1. FC Köln im Endspiel
keiten über 100 Kilometer pro Stunde vorgesehen! sich jetzt nur zu Sonderfahrten auf die Ruhr-Sieg-Strecke, waren aber um die deutsche Fußballmeisterschaft (die Bundesliga gab es ja
Außerdem hätte er erfahren, dass im Rangierbahnhof Duisburg- insbesondere auf den Rampenabschnitten trotz verändertem Ambi- noch immer nicht) sowie der erste Auftritt der Beatles in Ham-
Wedau die erste elektronische Steuerung von vier Gleisbremsen in Be- ente der Elektrifizierung ein Schauspiel wie eh und je. burg, noch bevor die Pilzköpfe aus Liverpool richtig berühmt wa-
ren, und vielleicht auch die Ankündigung von Volkswagen, den
trieb genommen worden ist und dass die Ausbesserungswerke Osna- Kein Schauspiel mehr ist der Güterverkehr auf der Ruhr-Sieg-Stre-
Käfer technisch überarbeitet mit 34 PS auf den Markt zu bringen.
brück und Friedrichshafen geschlossen werden. Gesprächsstoff beim cke: Nur noch wenige „Durchläufer“ zwischen Gießen und Hagen ver-
Ach ja, dann hörte man auch noch die Nachricht, dass es jeden
Fahrdienstleiter war natürlich auch die irren sich hierher, hinzu kommen noch Tag 5000 Fernsehgeräte mehr in deutschen Haushalten gibt ...
bevorstehende Elektrifizierung hier an ein paar Ganzzug-Reste für die Hütten
der Ruhr-Sieg-Strecke – für die Eisen- ALTENA IST HEUTE EIN TRIEBWAGEN- im Raum Kreuztal und Dillenburg.
bahner und insbesondere für die Stell- HALTEPUNKT, WOBEI NICHT NUR ALTEN Ob die zurzeit als Ausbaustrecke ge-
werker zunächst mit bangen Zukunfts- SAUERLÄNDISCHEN EISENBAHNERN führte Ruhr-Sieg-Strecke eine Renais-
fragen verbunden. DIE TRÄNEN KOMMEN. sance erlebt, muss abgewartet werden
Was in jenen Wochen und Monaten – immerhin sollen die Tunnelprofile er-
sonst noch auf der Welt und in Deutsch- neut erweitert werden, um mehr Con-
land geschah, rückte daher für manchen um die eigene Existenz be- tainerverkehr von den Rheinstrecken hierher zu verlagern. Von der
sorgten Bürger eher in den Hintergrund. Für andere dagegen waren es hiesigen Politik wird der Ausbau dieser alternativen Achse erstaun-
regelrechte Aufreger-Themen: sowohl die Erstbesteigung des Dhaula- licherweise begrüßt und forciert, während man in vielen bornierten
giri, des siebthöchsten Bergs der Erde, und die explosionsartige Ver- Rheintal-Regionen den Schienenverkehr am liebsten komplett aus
mehrung deutscher Fernsehgeräte um täglich rund 5000 Stück als den Augen und aus dem Sinn haben möchte.
auch die Ankündigung von Volkswagen, einen überarbeiteten Käfer Und Altena? Der neue „Haltepunkt“ ist barrierefrei ausgebaut,
mit nunmehr 34 PS auf den Markt zu bringen, und der 3:2-Sieg des etwa alle halbe Stunde summen hier die Abellio-Triebwagen und die
Hamburger SV gegen den 1. FC Köln im Endspiel um die deutsche Güterzugpausen sind mitunter lang geworden. Im Mai 1960 herrsch-
Fußballmeisterschaft sowie der erste Auftritt der „Beatles“ im August te hier wirklich eine andere Eisenbahnwelt und noch genau hundert
1960 in Hamburg, noch bevor die Pilzköpfe aus Liverpool überhaupt Jahre früher, am 16. Juli 1860, fuhr hier um 7.20 Uhr überhaupt der
berühmt wurden. erste Zug. Das Wochenblatt für den Kreis Altena widmete dieser Er-
Diese Wirtschaftswunder-Zeit legte aber auch den Grundstein rungenschaft einer wachsenden Industrienation am 18. Juli 1860 sei-
für die Blütezeit der Ruhr-Sieg-Strecke. Die fünf Jahre nach unserer ne ganze erste Seite. Drei Spalten in eng gesetzter Frakturschrift zei-
Aufnahme abgeschlossene Elektrifizierung sollte ja die Leistungsfä- gen an, dass hier etwas Besonderes passiert war. Wo sonst Welt- und
higkeit dieser Strecke erhöhen – trotz eines enormen Aufwandes bei Deutschlandnachrichten dominierten, gab es diesmal nur Altena –
den Umbauarbeiten der zahlreichen Tunnel (Absenkung des Gleis- und die Bahn: Von allen Seiten wurde der Festzug aus Letmathe mit
planums zur Erweiterung des Lichtraumprofils) ein lohnendes Unter- lautem Jubel begrüßt, das Schwenken mit weißen Tüchern und die
fangen: Die Strecke konnte nun nicht nur höhere Zuggewichte beim Hochrufe der überall stehenden dichten Zuschauermengen wollten
Güterverkehr aufnehmen, sondern wurde auch als Alternativroute kein Ende nehmen.
beim Reisezug-Fernverkehr interessant. Wer von Frankfurt am Main Das freilich ist singuläre Eisenbahngeschichte, die sich auch nicht
nach Westfalen oder ins nördliche Ruhrgebiet wollte, fuhr über Sie- ansatzweise wiederholen wird, weil die heute umjubelten Transporte
gen und Altena eigentlich besser – und häufig sogar schneller – als über die virtuellen Datenautobahnen geschickt werden. Und die re-
über die Rheinschiene. duzieren alles ganz nüchtern zu eins oder null – auch eine 110 Ton-
Dabei war zwischen den 60er und 80er Jahren die Begegnung mit nen schwere 44er neben einem Mutterglück an einem ganz gewöhn-
Güterzügen im Blockabstand an der Tagesordnung. Deren Zugloks lichen Frühlingstag. ☐

ZEITREISEN 35
1963 PASSAU

PASSAU
EINBLICKE IN DAS „EINACHSER-BW“ AN DER HAITZINGER STRASSE
TEXT KONRAD KOSCHINSKI

AUF DEN ERSTEN BLICK EINE SZENERIE, wie sie für manches für Leistungen nach Pocking und Haidmühle. Weitere VT 95 ermög-
Bahnbetriebswerk in den sechziger Jahren typisch war: Die Freistän- lichten ab November 1954 die Ausweitung des Schienenbus-Einsatzes
de an der Drehscheibe sind mit VT 95 und 86ern belegt, die dort unter anderem über Pocking hinaus bis Mühldorf und auf den Stre-
längere Zeit pausieren – anders als die beiden auf den Zufahrtsglei- ckenabschnitt Kalteneck – Eging.
sen zu sehenden V 100, von denen die linke an der kleinen Tank- Ab Oktober 1955 in der Donaustadt stationierte Serien-VT 98
anlage vielleicht gerade ihren Kraftstoffvorrat ergänzt. Bei näherem machten auf den steigungsreichen Bayerwald-Strecken nach Frey-
Hinsehen erspäht man einen hinter der 86 250 hervorlugenden VT ung und Haidmühle die Vorkriegstriebwagen der Baureihe VT 70
oder VB/VS 98, der zusammen mit zwei Einachs-Gepäckanhängern entbehrlich, als Letzte schieden im Juni 1957 die VT 70 000 und 001
VB 141 auf dem Freistand ganz links im Bild abgestellt ist. Das ist aus dem Bestand.
nun allerdings speziell. Kommen wir auf unser Hauptbild vom August 1963 zurück. An
Die in unsere Zeitreise einstimmende Aufnahme datiert vom Au- der Drehscheibe sind drei Schienenbusse mit Scharfenbergkupplun-
gust 1963, und wir kennen auch den Aufnahmeort. Doch selbst wenn gen abgestellt, wovon der rechte mit roter Farbe überdeckte Dach-
dieser nicht bekannt wäre, ließe er sich allein anhand der VB 141 mit fenster und aufgesetzte Stirnscheinwerfer hat. Bekannt ist vom da-
hoher Treffsicherheit ermitteln, denn die meisten derartigen Anhän- maligen Zeitpunkt nur die Passauer Beheimatung von zwei VT 95
ger waren 1963 bereits zu Nebenfahrzeugen für Baudienste umgebaut. (VT 95 9157 und 9447), deren Einsätze sich auf die Nebenbahnen
Nur das Bw Passau hielt die VB 141 210 und 247 weiterhin für den nach Hauzenberg und Neumarkt-St. Veit sowie die Teilstrecke nach
Als es in Passau noch mehrere bayerische
Gepäcktransport auf der Strecke Passau – Erlau – Wegscheid vor, de- Waldkirchen beschränkten. Plattlinger oder Mühldorfer VT 95 sollen
Lokalbahnloks gab: 98 852 im Jahr 1954 im
Bw an der Haitzinger Straße.
ren regelmäßiger Einsatz gemeinsam mit Vorserien-VT 98 sich hier
FOTO: WALTER ZEITLER freilich schon seit Sommer 1959 nur auf ein Zugpaar montags bis frei-
tags beschränkte. Dabei liefen sie übrigens zwischen Passau Hbf und
der Spitzkehre Voglau vor dem Triebwagen und wurden – anders als
es in der Literatur herumgeistert – von Voglau nach Wegscheid hinauf
gezogen. Da ein Umsetzen in der Spitzkehre nicht möglich war, hätten
Beim Blick ins Bahnbetriebswerk an der Haitzinger
die Anhänger in Erlau oder am Beginn der Steilrampe in Obernzell
Straße in Passau im August 1963 zeigt sich eine illustre
umgesetzt werden müssen, wofür die planmäßigen Aufenthaltszei- Versammlung von kleinen und größeren Nebenbahn-
ten aber nicht reichten. „Stars“ bis hin zu den Gepäckanhängern für Schienen-
Apropos Vorserien-VT 98: Die im Sommer 1953 fabrikneu dem Bw busse. Die einachsigen Vehikel wurden damals nur noch
Passau zugeteilten Zweimotorer VT 98 901 bis 903 hatten auf der mit auf der Strecke Passau – Erlau – Wegscheid eingesetzt.
Zahnstangenabschnitten ausgerüsteten Strecke Erlau – Wegscheid im FOTO: SAMMLUNG JAHR
reinen Adhäsionsbetrieb den Personenverkehr übernommen. Den
Zahnrad-Dampflokomotiven der Baureihe 97.1 verblieb der Güter-
verkehr. Im Dezember 1953 erhielt Passau zwei einmotorige VT 95

36 ZEITREISEN
ZEITREISEN 37
1963 PASSAU
planmäßig nicht bis Passau gefahren sein. Nun könnte es sich beim sind ihnen wohl nur noch wenige Güterzugleistungen auf den
rechten Schienenbus sowohl um den VT 95 9157 als auch um einen umliegenden Nebenbahnen verblieben, denn abgesehen von
der drei Vorserien-VT 98 handeln, die kaum von den frühen Serien- den im Personenverkehr längst dominierenden Schienenbus-
VT 95 zu unterscheiden sind. Daneben stehen jedenfalls zwei VT 95 sen haben 1961/62 zugeteilte V 100 die meisten lokbespann-
mit bereits in die Stirnfronten integriertem dritten Spitzenlicht, ob- ten Züge übernommen. 1963 verfügt Passau über zwölf V 100.10
wohl das Bw Passau im Sommer 1963 nur über ein solches Fahrzeug, für Plandienste auf den Strecken nach Waldkirchen – Freyung/
nämlich den VT 95 9447, verfügt haben soll. Insofern gibt das nicht Haidmühle und Hauzenberg, zwischen Kalteneck und Eging sowie
mit Fahrzeugnummern überlieferte Bild Rätsel auf, doch wer kann sie auf der Rottalbahn nach Neumarkt-St. Veit.
fast 50 Jahre später lösen? Und will das überhaupt jemand? Die Dampflokomotiven erbringen indes häufig Sonderleisungen,
Kein Kopfzerbrechen bereiten gottlob die beiden „Dampfer“. Die so im Militärverkehr auf der Ilztalbahn nach Freyung, bei der Holz-
86 212 ist eine alte Passauerin, buchmäßig allerdings seit 12. Juni 1963 abfuhr im Bayerischen Wald und beim Zuckerrübentransport aus der
beim Bw Plattling geführt. Die 86 250 hat es im gleichen Monat aus Gegend um Pocking. Außerdem werden sie für Schneeräum- und
ihrer langjährigen Heimat Kaiserslautern nach Niederbayern ver- Bauzugdienste vorgehalten.
schlagen. Offiziell nun zwar ebenfalls in Plattling stationiert, kommt Im Juni 1963 hat in Passau sogar nochmals eine bayerische GtL 4/5
sie von Passau aus zum Einsatz. ausgeholfen: die Schwandorfer 98 1011 – eine alte Bekannte, die bis
Das Bw Passau selbst beheimatet im Sommer 1963 noch zehn 3.  Oktober 1961 als Letzte ihrer Gattung in der Bischofsstadt sta-
Maschinen der Baureihe 86 und ein halbes Dutzend 64er. Regulär tioniert war. Sie wurde damals zusammen mit der letzten GtL  4/4
(98 801) in die Oberpfalz umbeheimatet. Die wirklich letzten bay-
Im heute verschwundenen „österreichischen Bw“
in Passau ist am 5. April 1959 die urig anmutende erischen Lokalbahnloks des Bw Passau waren aber die 97 101, 103
53 7158 der ÖBB anzutreffen. und 104, drei von ursprünglich vier Zahnradmaschinen der Gattung
PtzL 3/4. Eine blieb noch über den Jahreswechsel 1962/63 hinaus ak-
tiv, bis die DB am 5. Januar 1963 den Zahnradbetrieb und damit trotz
heftiger Proteste der Anliegergemeinden den Güterverkehr zwischen
Obernzell und Wegscheid einstellte. Im Juli 1963 jedoch trifft in Pas-
sau der Zahnradschienenbus VT 97 901 aus Tübingen ein, mit dem
man nach Anhebung der Zahnstange die Frachttransporte wieder
aufnehmen kann. Ab Januar 1964 schiebt der VT 97 901 Güterzüge
nach Wegscheid hinauf, bis ein Felssturz zwischen Erlau und Obern-
zell am 28. Januar 1965 dem Gesamtbetrieb auf der Wegscheider Stre-
cke ein jähes Ende bereitet.
Von Mitte Dezember 1962 bis März 1963 fordern Naturgewalten
die gesamte Bundesbahn heraus. Strenger Frost und Schneemassen,
vor denen ihr Nachfolgeunternehmen heute kapitulieren würde, be-
einträchtigen den Betrieb. Gleichwohl befördert die DB aufgrund
der zum Erliegen gekommenen Binnenschifffahrt erheblich mehr
Güter. Unter anderem friert die Donau zu, in Passau registriert man
am 18. Januar mit minus 22,4 Grad den kältesten Tag seit Menschen-
97 104, eine der letzten gedenken.
bayerischen Lokalbahnloks in Noch ein paar andere Schlaglichter aus dem Jahr 1963: Im hohen
Passau, im August 1963 an einer Norden der Republik wird am 30. April die Fehmarnsundbrücke
Drehscheibe in dem zu diesem
eingeweiht. Am 14. Mai eröffnen König Frederik IX. von Dänemark
Zeitpunkt teils schon verkrau-
teten und heute nicht mehr und Bundespräsident Heinrich Lübke mit der Fährroute Puttgar-
existierenden Bahnbetriebswerk den – Rødby das letzte Teilstück der Vogelfluglinie zwischen Deutsch-
östlich des Hauptbahnhofs. land und Skandinavien. Zwölf Tage später beginnt offiziell der elektri-
FOTOS: SAMMLUNG JAHR (2) sche Betrieb auf den Streckenabschnitten Bebra – Hannover und Ge-

38 ZEITREISEN
PASSAU HAUPTBAHNHOF
VT 70 und P 8-geführter Personenzug
im Jahr 1955; 118 039 mit Eilzug nach
Würzburg neben 211 349 mit Eilzug nach
Mühldorf am 29. Dezember 1983; E 18 25
neben einer ÖBB-Ellok im Juli 1966.
FOTOS: WALTER ZEITLER, KONRAD KOSCHINSKI,
H. TAUBER/SAMMLUNG KIRCHNER

ZEITREISEN 39
1963 PASSAU

WO SICH EINST DIE SCHIENENBUSSE,


64ER UND 86ER EIN STELLDICHEIN
GABEN, WOLLEN DIE PASSAUER
EISENBAHNFREUNDE MIT DER 64 344
EINE AUTHENTISCHE BAYERWALD-LOK
WIEDER DAMPFEN LASSEN.

Im Bw-Gelände östlich des Bahnhofs ebenso wie an


der Haitzinger Straße waren auch Elektroloks
von DB und ÖBB abgestellt, hier am 12. August 1968
die 1073.13 und E 94 013.
FOTO: SAMMLUNG JAHR

Am alten Bw-Relikt: ÖGEG-78 618 zu Gast


bei den Passauer Eisenbahnfreunden im ehemaligen
Bahnbetriebswerk (Mai 2010).
FOTO: PASSAUER EF E.V.

40 ZEITREISEN
münden – Elm, ergo ist die Nord-Süd-Strecke komplett unter Draht. den Schuppen angrenzenden früheren Werkstättentrakts waren eine
Bei Recklinghausen erreicht das elektrifizierte Streckennetz der DB dreigleisige Lokomotiv- und Triebwagenhalle nebst Werkstattgebäu- Das war 1963
Anfang Oktober eine Länge von 5000 Kilometern. Das Autobahnnetz de entstanden. Im Mai 1977 gab das Bw Passau seine letzten Schie- Nach vierzehnjähriger Kanzlerschaft tritt Konrad Adenauer wi-
überschreitet mit Eröffnung von 144 Kilometern Neubautrassen die nenbusse (798) an andere Bahnbetriebswerke ab. Genau ein Jahr spä- derwillig zurück, glückloser Nachfolger wird Ludwig Erhard. „Ich
3000-Kilometer-Marke. ter endete die V 100-Beheimatung, doch wurden die nach Mühldorf bin ein Berliner“, bekennt John F. Kennedy anlässlich seiner be-
Im Pariser Élysée-Palast unterzeichnen Charles de Gaulle und umstationierten 211er ebenso wie Rosenheimer 798 weiterhin von rühmten Rede in West-Berlin – der wohl markanteste Satz eines
Konrad Adenauer am 22. Januar den deutsch-französischen Freund- Passau aus eingesetzt. Lediglich Kleinloks blieben in der Donaustadt Politikers in diesem Jahr. Fünf Monate später fällt der US-Prä-
schaftsvertrag. Am 15. Oktober tritt der heimisch, im Jahr 2000 löste die DB AG sident in Dallas einem Attentat zum Opfer. Dagegen verblasst
„Alte aus Rhöndorf “ nach vierzehn- den Betriebshof Passau auf. Schließ- vieles, was sonst noch geschah, wie zum Beispiel der Start des
jähriger Kanzlerschaft widerwillig zu- IMMERHIN SIND DIE BW-ANLAGEN AN lich nutzte sie das Bw-Gelände an der ZDF. Große Anteilnahme erregen dennoch das Grubenunglück
von Lengede, das ein glückliches Ende findet, aber auch der Start
rück, Wirtschaftsminister Ludwig Er- DER HAITZINGER STRASSE ERHALTEN: Haitzinger Straße, wo sich auch Elektro-
in die erste Saison der Fußball-Bundesliga. Erster Tabellenfüh-
hard wird sein glückloser Nachfolger. HIER HABEN HEUTE DIE PASSAUER lokomotiven der DB und ÖBB versam-
rer ist der Meidericher SV mit Trainer Gutendorf und 54er-WM-
Am 26. Juni hält US-Präsident John F. EISENBAHNFREUNDE IHR DOMIZIL. melt hatten, nicht mal mehr zum Abstel- Held Rahn nach einem 4:1 in Karlsruhe; Meister wird am Ende
Kennedy in West-Berlin seine berühm- len von irgendwelchen Triebfahrzeugen. der 1. FC Köln. In der letzten Meisterschaftsendrunde vor der
te Rede mit dem Ausspruch „Ich bin ein Immerhin: Anders als das völlig ver- Bundesliga-Ära holt Schalke 04 den Titel.
Berliner“, fünf Monate später fällt er am 22. November im texanischen schwundene „österreichische Bw“ östlich des Hauptbahnhofs sind
Dallas einem Attentat zum Opfer. die Bw-Anlagen im Westen erhalten. Heute haben hier die Passauer
Weltweites Aufsehen erregt auch die dramatische Rettungsakti- Eisenbahnfreunde ihr Domizil, die beiden Hallen beherbergen die
on nach einem sich in Niedersachsen ereignenden Grubenunglück. vereinseigenen Fahrzeuge. Zur Reparatur weilen dort öfters auch
Vierzehn Tage lang waren elf Bergleute eingeschlossen, die am 7. No- Schadfahrzeuge privater Bahnunternehmen.
vember durch „das Wunder von Lengede“ alle lebend geborgen wer- Als einzige Nebenbahn im Passauer Land hat die seit Dezember
den konnten. 2009 im Stundentakt bediente Rottalbahn alle Stilllegungsabsichten
Im Bahnbetriebswerk Passau bannt ein Fotograf drei Schienen- überdauert. Die nach Einstellung des Personenverkehrs im Jahr 1982
busse, zwei 86er, zwei Einachsanhänger und zwei V 100 auf den Film, noch bis 2001 von Güterzügen befahrene Ilztalbahn wurde 2010 zu-
womit er zugleich eine bauliche Veränderung dokumentiert. Im ziem- nächst im Abschnitt Waldkirchen – Freyung, 2011 auch zwischen Pas-
lich staubigen Vordergrund unseres Aufmacherfotos erkennen wir sau und Waldkirchen für einen von der Ilztalbahn GmbH organisier-
ein Absperrband, Mauerwerksreste, Balken und teils durch eine Pla- ten Wochenendverkehr mit RegioShuttles reaktiviert.
ne abgedeckte Ziegelsteine. Die Wand am rechten Bildrand ist ram- Touristisch ebenfalls von hohem Wert wäre die Wiederbelebung
poniert, sie gehört zum von kürzlich stattgefundenen Abrissarbeiten der Strecke Waldkirchen – Haidmühle und weiter bis Nové Údoli
noch verschonten Teil des einst zwanzigständigen Ringlokschuppens (Neuthal) in Tschechien. Auf der tschechischen Seite rollen längst
von 1906. Die Drehscheibe ist übrigens eine Segmentscheibe. wieder Züge bis zur Grenze. Die Anliegergemeinden auf der deut-
Hinter dem dreigeschossigen Dienstgebäude ragt der fünfzehn schen Seite zogen es hingegen trotz der Grenzöffnung vor, die Bahn-
Meter hohe Turm des im Mai 1962 fertiggestellten Zentralstellwerks trasse zu kaufen und auf ihr einen Radwanderweg anzulegen. Besser
empor. Zum endgültigen Abriss des Ringlokschuppens liegen einige bestellt ist es um die „Granitbahn“ Passau – Erlau – Hauzenberg und
unterschiedliche Angaben vor. Jedenfalls beherbergte er bis Mai 1965 den Abzweig Erlau – Obernzell: Die Bayerische Regionaleisenbahn
in Passau stationierte 64er und 86er. Danach waren dort noch bis (BRE) hat die Strecken 2007 gepachtet und strebt ihre baldige Wie-
1969/70 Plattlinger Maschinen dieser beiden Baureihen anzutreffen. derinbetriebnahme an.
Diese setzte das Bahnbetriebswerk Passau vorwiegend vor Bauzügen, Die Passauer Eisenbahnfreunde übrigens wollen die 64 344 wie-
aber auch vor Güterzügen auf den Strecken nach Waldkirchen – Frey- der dampfen lassen. Die zuletzt als Denkmal in Plattling aufgestellte
ung und Hauzenberg sowie auf der Rottalbahn zumindest im Ab- Maschine ist zwar keine alte Passauerin, aber – langjährig in Plattling
schnitt bis Pocking ein. stationiert – doch eine authentische Bayerwald-Lokomotive. Freuen
Vollständig beseitigte man den Ringschuppen zusammen mit der wir uns darauf, dass sie am immer noch funktionsfähigen Gelenk-
Drehscheibe wohl erst im Jahr 1976, um Platz für eine neue zweiglei- wasserkran des Bw Passau Wasser fasst. Und vielleicht unternimmt
sige Reisezugwagenhalle zu schaffen, mit deren Bau die Umgestaltung sie ihre zweite Jungfernfahrt ja sogar vor respektive auf dem „Hau-
des Bahnbetriebswerks zum Abschluss kam. Anstelle des östlich an zenberger Bockerl“. ☐

ZEITREISEN 41
1965 MAINZ

MAINZ
KLASSISCHE PERSPEKTIVEN AN DER SÜDBRÜCKE ÜBER DEN RHEIN
TEXT JOACHIM SEYFERTH

IST IHNEN AUCH SCHON AUFGEFALLEN, dass die Vorortbahn- Was das alles mit unserem historischen Bild zu tun hat? Sehr viel,
höfe mit der Himmelsrichtungs-Bezeichnung „... Süd“ meist schöner, denn direkt nach den Ausfädelungen der beiden Hauptstrecken nach
lichtdurchfluteter und auf irgendeine Weise auch „lieblicher“ als die Frankfurt bzw. Darmstadt und nach Worms schließt sich die markan-
Pendants gen Osten oder Norden sind? Oder ist das nur eine Täu- te Rheinbrücke an, deren Ansicht auf dem hier gezeigten Bild wohl
schung, weil allein der Begriff „Süden“ meist mit mediterranen As- die bekannteste ist. Wir befinden uns jedoch nicht im Zeitalter von
soziationen und den wärmenden Dingen des Lebens verbunden ist? Ozeanblau-Beige, sondern ein knappes Jahrzehnt früher, am 7. Juni
In Mainz jedenfalls stimmt dieses Phänomen, denn in den westli- 1965, ein zumindest in der Rhein-Main-Region wolkenbedeckter Tag:
chen und nördlichen Vorortbahnhöfen Mainz-Waggonfabrik, Mainz- E 10 1270 noch in der Lackierung Blau-Creme rollt mit dem „Rhein-
Mombach und Mainz Nord ist es dank einer dichten und dunklen In- gold“ von der Brücke, umgeben vom heute übrigens nahezu unverän-
dustriekulisse nicht sonderlich kuschelig. Mainz Süd indes wird so- derten Ambiente aus Rheinblick mit Mainmündung, Straßenverkehr
fort vom ersten Sonnenlicht strahlend erhellt, der breite viergleisige und den markanten einzelnen Kiefern.
Bahnhof mit seiner jahrzehntelang dominierenden Farbe Gelb trug Neben der Lok Spaziergänger auf dem Fußweg zur und über die
zumindest lange Zeit entscheidend zu diesem optimistischen Erschei- Brücke, ein typisches Fernsprechhäuschen am Standort des (nicht
Auch in noch früheren Jahren war die nahezu selbe nungsbild bei. Heutzutage trüben unablässige Bauarbeiten im Bahn- sichtbaren) Einfahrsignals, daneben eine aus heutiger Sicht parken-
Blickrichtung auf die Südbrücke von fotografischem Reiz. hof und in dessen Umfeld diesen Gesamteindruck. de Oldtimersammlung, dahinter und weiter unten die Bundesstraße
Rechts sogar ebenfalls mit „Rheingold“-Zug.
FOTOS: SAMMLUNG BERMEITINGER (2)

Vornehme Spaziergänger, ein VW Käfer mit Faltdach,


ein sportlich anmutendes Coupé und die heranrollende
edle E 10 1270 mit „Rheingold“-Zug: Das am 7. Juni 1965
an der markanten Rheinbrücke in Mainz Süd vom
Stadtpark „Rosengarten“ aus aufgenommene Foto zeigt
viel vom Zeitkolorit der mittsechziger Jahre.
FOTO: SAMMLUNG JAHR

42 ZEITREISEN
ZEITREISEN 43
1965 MAINZ
Bereits am 7. März 1965 war der Fotograf unseres
Eingangsfotos an der Mainzer Südbrücke gewesen. In der
noch kargen Natur nahm er die 01 123 mit
Schnellzug aus einer etwas anderen Perspektive auf.
FOTO: SAMMLUNG JAHR

FÜR IMMER ZEITLOS?


WENIG HAT SICH ZWISCHEN 1965 UND
HEUTE IM UMFELD DER MAINZER SÜDBRÜCKE GEÄN-
DERT. DER GENIESSERISCH ANMUTENDE BEOBACH-
TER STAND IM JULI 1988 AM FOTOPUNKT IM STADT-
PARK UND HÄTTE DORT AUCH ZWANZIG JAHRE FRÜHER
ODER ZWANZIG JAHRE SPÄTER STEHEN KÖNNEN.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH

nach Worms sowie das Richtungsgleis Worms – Mainz, dessen Pen- 7. Juni vertieft und erfährt unter anderem, dass ein verheerender Wir-
dant Mainz – Worms sich rechts am Bildrand befindet. Das Foto ent- belsturm in Pakistan über 30 000 Menschenleben gefordert hat, dass
stand von einer Aussichtsstelle des Stadtparks „Rosengarten“, dem in Gestalt von Edward H. White der erste amerikanische Astronaut
Standort eines der meistfotografierten Mainzer Bahnmotive. Diese an Bord der „Gemini 4“ einen kurzen „Weltraumausflug“ unternom-
Örtlichkeit kommt vielen Eisenbahnfreunden entgegen: Nur zehn men hat, dass eine 20-jährige Deutsche „Miss Europa 1965“ gewor-
Minuten Fußweg vom Bahnhof, ein erhöhter Standpunkt mit viel den ist und dass die FDP mit dem Slogan „Neue Wege wagen – FDP
Übersicht und alle drei Minuten irgendwo immer ein Zug. nötiger denn je“ in den kommenden Bundestagswahlkampf ziehen
Obgleich uns das Bild viel vom Kolorit der mittsechziger Jahre will – noch ahnt niemand und Herr Holzeisen am wenigsten, dass
verrät, können wir den allgemeinen Zeitgeist im Sommer 1965 na- diese Partei eines fernen Tages zur Splitterpartei verkommen wird.
türlich nicht sehen, aber erahnen. Herr Holzeisen, auf Geschäftsreise Zwei Wagen weiter ist Familie Zimmermann mit ihrem ausnahms-
von Frankfurt am Main nach Düsseldorf in einem feudalen 1.-Klasse- weise zwei Tage von der Schule befreiten achtjährigen Sohn auf der
Abteil unseres gerade die Mainzer Südbrücke verlassenden Zuges, ist Reise von Augsburg nach Köln, hauptsächlich stehen ein wichtiger
an diesem Montag in die Lektüre einer druckfrischen Tageszeitung des Verwandtenbesuch sowie die Besichtigung des Doms auf dem Pro-

44 ZEITREISEN
Altes Brückenschild und
Erdungsstangen bei
den trutzig-wuchtigen
Portaltürmen des linksrhei-
nischen Brückenkopfs.

Reizvoll und interessant zu


jeder Jahreszeit, aus jeder
Perspektive und mit jedem
Zug: die Südbrücke am winter-
lichen 10. Februar 1985, als
soeben ein S-Bahn-Zug das
Bauwerk passiert hat.
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2)

ZEITREISEN 45
1965 MAINZ
Am anderen Ende der
Südbrücke, die zeitweise auch
Mainz-Gustavsburger Eisen-
bahnbrücke genannt wurde,
ist im März 1989 eine 103 mit
Intercity unterwegs.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH

gramm. Der Filius ist bereits vom Eisenbahnbazillus befallen und


auf der langen Zugfahrt ganz in seinem Element, den Inhalt der im
Abteil ausliegenden aktuellen Bundesbahn-Kundenzeitung Rad und
Schiene kennt er schon beinahe auswendig: Der elektrische Zugbe-
trieb auf der Ruhr-Sieg-Strecke zwischen Gießen und Hagen wurde
aufgenommen, Englands Königin Elisabeth II. reiste im Rahmen eines
Staatsbesuchs zehn Tage lang mit einem Sonderzug durch Deutsch-
land, die Strecke Augsburg – München wird für Hochgeschwindig-
keitsfahrten bis 200 km/h vorbereitet, die dafür vorgesehene brand-
neue Schnellfahrlok E 03 wird in Wort und Bild euphorisch gefeiert,
die ersten V 90 erobern die Rangierbahnhöfe und im Hauptbahnhof
von Hannover wurden im Mai zwei Fahrkartenautomaten in Betrieb
genommen, die Fahrkarten für einfache Fahrt, Rückfahrkarten und
sogar Tagesrückfahrkarten für Bahnhöfe im Umkreis von 50 Kilome-
ter ausgeben können! Doch jetzt liegt Rad und Schiene wieder achtlos
auf dem Nebenplatz, denn gerade ging es polternd über den breiten
Einen guten Gesamteindruck von der Mainzer Südbrücke Rhein – da oben am Geländer, ein Fotograf!
vermittelt diese alte Postkarte. Am rechten Ufer das Ob es dem hauptsächlich um die Lok ging? Bestimmt, denn die
Brückenende ohne Türme; dahinter die Mainmündung. E 10 1270 gehörte zu den sechs Maschinen der Untergattung E 10.12,
FOTO: SAMMLUNG BERMEITINGER die eine veränderte Getriebeübersetzung für bis zu 160 km/h erhiel-
ten, um damit die neuen Starzüge „Rheingold“ und „Rheinpfeil“ zu
bespannen. Zur Verbesserung der Laufeigenschaften erhielten diese
Loks außerdem schwere Henschel-Drehgestelle. Die E 10 1265 bis
E 10 1270 wurden von Oktober 1962 bis März 1963 dem Betrieb der
Deutschen Bundesbahn übergeben, unsere E 10 1270 wurde dem-
nach mit der Fabriknummer 18929 am 21. März 1963 abgenommen
und war zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade einmal gut zwei Jah-
re im Einsatz. Zwischen Oktober 1963 und Februar 1964 kamen mit
den E 10 1308 bis E 10 1312 noch fünf weitere Loks mit den gleichen
Leistungsmerkmalen hinzu. Aus allen elf Loks wurde später die Bau-

46 ZEITREISEN
ZEITREISEN 47
1965 MAINZ
Am Standpunkt unseres Eingangsfotos bei den
Portaltürmen (hier ganz im Hintergrund) befindet
man sich schon im Einzugsbereich des Bahnhofs
Mainz Süd, der sich unmittelbar anschließt.
Am 25. August 1981 fährt hier soeben eine 141 mit
Nahverkehrszug Richtung Hbf aus.

reihe 112, unsere Lok hieß ab 1968 demnach 112 270 und wurde als dere auf der gegenüberliegenden Rheinseite bereichert worden und
113 270 nach einem Trafoschaden am 7. Oktober 2003 z-gestellt und auch der „Mainzer Ruder Verein“ hat dort immer noch sein Domizil.
nach 41 Jahren auf der Schiene ein halbes Jahr später verschrottet. Die Fahrleitungsanlagen sind mit der Zeit erneuert worden und
Ihre gesamte Laufleistung betrug mit 8 719 429 knapp neun Millio- nicht mehr ganz so unaufdringlich wie auf diesem Bild. Das Fern-
nen Kilometer, darunter auch der eine Kilometer, den wir auf diesem sprechhäuschen indes ist verschwunden, weil das Einfahrsignal jetzt
Bild noch einmal sehen. direkt am Brückenausgang steht und weil die Kommunikation zwi-
Der Lauf der Dinge ist auch, dass wohl ebenso kein Einziger der schen Zug- und Stellwerkspersonal ohnehin keine Kabelverbindung
auf dem Foto sichtbaren Pkw erhalten sein dürfte. Da sieht es mit dem mehr benötigt.
Aus nordwestlicher Richtung rollt ein 103-bespannter
anderen Umfeld trotz der fortgeschrittenen Zeit von 47 Jahren – also Im Übrigen gehört der komplette sichtbare Fahrweg des von der
IC-Zug aus dem Tunnel vom Mainzer Hauptbahnhof her fast einem halben Jahrhundert – schon besser aus: Die Brücke mit E 10 1270 geführten Zuges bereits zum Bahnhof Mainz Süd (heute
in den Bahnhofsbereich von Mainz Süd. ihren wuchtigen Portaltürmen ist weitgehend unverändert, der cha- zu Mainz Hbf), weil die Bahnhofsgrenze grundsätzlich beiderseits bis
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2) rakteristische Baumbestand ist durch weiteres Wachstum insbeson- zum Standort des jeweiligen Einfahr-Vorsignals reicht – und dieses

48 ZEITREISEN
stand auch 1965 schon an der gegenüberliegenden Brückenauffahrt. teidigungstürme“ blieben nur auf der linksrheinischen Seite erhalten
Genau genommen befinden wir uns also schon im Bahnhof Mainz und dienen heute als friedlicher und runder Wohnraum mit Blick Das war 1965
Süd, zumal links (und hier nicht mehr sichtbar) die ersten Weichen- auf Zugdächer und den ewigen Strom. Der rheinabwärts angebrach- Dass die Freien Demokraten auf „neuen Wegen“ in den Bundes-
verbindungen beginnen. Es ist erst das siebte Jahr der Elektrifizierung, te kombinierte Rad- und Fußweg wurde 2009/2010 saniert und ver- tagswahlkampf ziehen, war damals noch eine Nachricht wert, zu-
denn diese wurde am 1. Juni 1958 abgeschlossen. breitert – bis dahin wurde es insbesondere für sich begegnende Rad- mal niemand ahnen konnte, welch unbedeutende Gruppierung
Vor weiteren 100 Jahren – am 1. August 1858 – ging die von der pri- fahrer gefährlich eng. diese Partei knapp fünfzig Jahre später bildet ... Nach der Wahl im
vaten Hessischen Ludwigsbahn gebaute Rhein-Main-Bahn von Mainz Eine ähnlich wechselvolle und namensreiche Geschichte weist Herbst bleibt Ludwig Erhard als Bundeskanzler im Amt. Wirk-
nach Darmstadt (und weiter nach Aschaffenburg) in Betrieb. Da die der Bahnhof Mainz Süd auf, an den sich in südöstlicher Richtung die lich neue Wege schlägt der amerikanische Astronaut Edward H.
Südbrücke über den Rhein jedoch erst Brückenrampe anschließt. Zum Zeit- White bei seinem „Weltraumausflug“ mit der „Gemini 4“ ein. Wie
1862 fertiggestellt wurde, wurden die punkt der Aufnahme hieß er noch lange wichtig die Nachricht war, dass eine zwanzigjährige Deutsche zur
DIE VERTEIDIGUNGSTÜRME BLIEBEN „Miss Europa“ gekürt wird, bleibt zweifelhaft. Unstrittig dagegen:
Reisenden bis dahin per Eisenbahn- so, bis unmittelbar neben dem Wormser
Mit „Like a rolling stone“ gelingt Bob Dylan ein Meisterwerk, das
Fährschiff an die gegenüberliegende NUR LINKSRHEINISCH ERHALTEN UND Gleis (Gleis 4) die Ruine eines römischen
heute auf Platz 1 der 500 besten Songs aller Zeiten rangiert. Mit
Mainspitze (im Bild die hintere ande- DIENEN HEUTE ALS RUNDER WOHNRAUM Theaters freigelegt wurde und er zum einer weiteren Dylan-Komposition, „Mr. Tambourine Man“, heute
re Uferseite) gebracht. Wie lange dies MIT BLICK AUF ZÜGE UND STROM. Fahrplanwechsel im Dezember 2006 in in der besagten Liste auch unter den ersten 100, schafft die US-
damals dauerte, ist kaum überliefert – „Mainz Römisches Theater“ umbenannt Band The Byrds den Durchbruch. In der zweiten Saison der noch
heute benötigen durchfahrende Fern- wurde. Eröffnet wurde er 1858 jedoch als jungen Fußball-Bundesliga holt Werder Bremen den Meistertitel.
züge zwischen Mainz Süd und Mainz-Gustavsburg gerade einmal Bahnhof „Mainz-Neuthor“ der Rhein-Main-Bahn von Mainz nach Ja, und dann war da noch die Queen auf Deutschland-Besuch.
zwei Minuten, umgekehrt wegen reduzierter Einfahrgeschwindigkeit Darmstadt und Aschaffenburg. Das zuletzt bestehende Empfangs-
nach Verlassen der Brücke drei Minuten. gebäude wurde als Klinkerbau im Jahr 1884 errichtet und im Jahr
Die Mainzer Südbrücke, die früher zeitweise auch „Mainz-Gus- 2006 zugunsten der sich überall krebsartig ausbreitenden Büro- und
tavsburger Eisenbahnbrücke“ genannt wurde, war seinerzeit die Parkhäuser abgerissen, ein Rest der „denkmalgeschützten“ Fassade
zweite feste Mainzer Rheinbrücke und die vierte Rheinbrücke, die wurde verschämt in die fremden Neubauten integriert. In nordwest-
in Deutschland errichtet wurde. Sie wurde in nur zwei Jahren zwi- licher Richtung schließen sich wenige Meter nach Bahnsteigende die
schen 1860 und 1862 errichtet, am 3. Januar 1863 fuhr hier der erste alten und neuen Tunnelbauwerke in Richtung Mainz Hauptbahnhof
fahrplanmäßige Zug. Die Brücke wurde ursprünglich mit vier gro- an, doch dies ist dann eine andere Geschichte.
ßen Linsenträgern erbaut (nach dem Ingenieur Friedrich August von Der Zugbetrieb über die Mainzer Südbrücke ist seit jeher sehr viel-
Pauli auch Pauliträger genannt), an die sich rechtsrheinisch eine lange fältig und reich an Baureihen, wobei zu rund 95 Prozent der Reisezug-
Flutbrücke mit 31 Feldern anschloss. verkehr dominiert. Zum Zeitpunkt der Eingangsaufnahme waren die
Beide Brückenköpfe erhielten massive Brückentürme schon beina- „Star-Loks“ die gezeigte E 10.12 vor den Zügen der linken Rheinstre-
he in Form einer Trutzburg, die im Falle eines Krieges zur Verteidi- cke sowie die V 200 vor den Schnellzügen von Frankfurt nach Saar-
gung der Brücke dienen sollten. Vergeblich, denn in den letzten Tagen brücken und Paris, die damals noch den Weg durch das beschauliche
des Zweiten Weltkrieges wurde die Brücke von der Wehrmacht selbst Nahe- und Alsenztal via Bad Kreuznach nahmen. Die S-Bahn gab’s
gesprengt, um die vorrückenden amerikanischen Truppen aufzuhal- noch nicht, ihre Rolle nahmen seinerzeit die 141-Knallfrösche mit
ten. Diese dachten jedoch nicht daran und errichteten oberhalb der Umbauwagen und Silberlingen ein. Mit etwas Glück rollt auch heute
zerstörten Brücke eine eingleisige, teils hölzerne Behelfsbrücke, die noch eine „Bügelfalte“ mit Verstärkerzügen im Berufsverkehr oder mit
„Franklin D. Roosevelt Memorial Bridge“. Sonderzügen von der Brücke. Die 110 hat die historischen Automo-
Diese Behelfskonstruktion, von der es zu dieser Zeit auch ein ähn- bile jedenfalls deutlich überlebt und ist jetzt neben den austauschba-
liches Pendant im Werratal an der Nord-Süd-Strecke gab, behinderte ren Plastikkutschen und dem fahrbaren Auto-Elektronikschrott von
mit ihren Feldern den Schiffsverkehr stark und hatte für den Bahnver- heute selbst zum Oldtimer geworden.
kehr eine nur sehr eingeschränkte Kapazität. Ebenfalls nur zwei Jahre Der Rest ist nach einem knappen halben Jahrhundert erstaunlich
benötigte man zum Wiederaufbau der neuen und heutigen Mainzer unverändert – ein Umstand, der für die meisten vergleichbaren Zeit-
Südbrücke: 1948 bis 1949 erfolgte der Bau mit zwei nebeneinander reisen eher nicht zutreffen dürfte. Ein einschneidender Wandel ist
liegenden parallelgurtigen K-Stahlfachwerkträgern. Die Felder der hier zwar vorerst nicht in Sicht, aber wer weiß schon, wie und wann
Flutbrücke wurden in der Anzahl vermindert, teilweise erfolgte die es auch diesem Hauptbahnknoten im Rahmen der eskalierenden Um-
Ausführung in Form von so genannten Fischbauchträgern. Die „Ver- bauorgien an den Kragen geht. ☐

ZEITREISEN 49
1966 BAD SCHWALBACH

BAD SCHWALBACH
EIN KURORT UND VIEL BETRIEB MITTEN IM TAUNUS
TEXT JOACHIM SEYFERTH

EIN RECHT NORMALER FRÜHLINGSTAG mitten im Taunus, che Monatslohn beträgt 552,80 Mark, der Minirock begleitet die se-
es ist Samstag, der 23. April 1966. Das dokumentarische und farb- xuelle Revolution, ganzjährig wird weltweit gegen den Vietnamkrieg
lich noch recht authentische Lichtbild zeigt eine Momentaufnahme protestiert, 22 Strecken verlieren ihren Personenverkehr und 26 Stre-
am südlichen Bahnhofskopf in Bad Schwalbach – dort, wo es früher cken werden stillgelegt. Und: Im Bahnhof Bad Schwalbach wird an
für den Eisenbahnfreund am interessantesten war. Ein zweiteiliger einem April-Wochenende ein ausfahrender Schienenbus nebst zwei
Schienenbus der Baureihe 798 fährt gerade nach Bleidenstadt und 86ern bildlich festgehalten.
den Endbahnhof Wiesbaden Hbf aus, links neben ihm das Wärter- Für alte Bilder gelten mildernde Umstände. Man verzeiht ihnen
stellwerk „Bs“ einschließlich Schrankenanlage für den kleinen Weg- fehlende fotografische Raffinesse und technische Perfektion. Das ge-
übergang. Rechts ein Güterzug-Begleitwagen, vermutlich der Bauart rettete Abbild der Historie besticht weniger durch Kunst als durch
Pwghs 054, im Vordergrund die Zufahrt zur Ladestraße. Fakten; zunächst interessant ist, was abgebildet ist, und nicht, wie es
Links neben dem Lokschuppen die Bundesstraße nach Wiesba- fotografiert wurde. Der Blickfang auf dem Hauptbild unserer Zeit-
den mit einem taubenblauen Pkw, es könnte – wie passend – ein Ford reise nach Bad Schwalbach ist also der Lokschuppen mit seinen bei-
„Taunus“ sein. Schließlich und am längsten bleibt das Auge an dem den „Schwarzen“. Im Jahre 1905 fertiggestellt, bot diese Lokomotiv-
kleinen „Bahnbetriebswerk“ mit den beiden vor sich hindampfenden halle aus Backstein auf vier Gleisen überdachten Abstellplatz für Lo-
86ern hängen. Eigentlich nur ein – mit Verlaub – geknipstes Bild ohne komotiven und andere Schienenfahrzeuge. Übrigens ist sie mit dem
fotografische Stilmittel und heute doch eine kleine Sensation. 46 Jah- Lokschuppen in Niedernhausen (ehemalige Außenstelle des Bahnbe-
Stadtansicht Bad Schwalbach mit Taunus-Blick (um 1965).
re genügen für eine gewaltige Zeitreise, Atmosphäre und Materie von triebswerks Limburg) nahezu baugleich.
FOTO: ARCHIV EJ 1966 sind wie von einem anderen Planeten.
Was geschah eigentlich alles in jenem Jahr – im Rest der Welt und
abseits von Bad Schwalbach und seinem Lokschuppen? Noch ist Lud-
wig Erhard Bundeskanzler, England wird Fußball-Weltmeister, mit
„Alle reden vom Wetter“ wird das berühmteste Eisenbahn-Plakat
kreiert, in Südspanien fallen nach der Kollision eines B-52-Bombers Mit dem Taunus in den Taunus: Ob der Fahrer des
der US-Luftwaffe mit einem Tankflugzeug vier Plutoniumbomben taubenblauen Ford den frühlingshaften 23. April 1966
vom Himmel, das elektrifizierte Streckennetz erreicht eine Länge von zu einem Ausflug nach Bad Schwalbach genutzt hat, ist
nicht überliefert. Dass in dem vorbei am Lokschuppen
7000 Kilometer, erstmals gelingt die weiche Landung einer Sonde auf
Richtung Bleidenstadt soeben ausfahrenden Schie-
dem Mond, die Deutsche Bundespost stellt den Betrieb der letzten nenbus aber Ausflügler im Kurort angekommen oder
Handvermittlungsstelle für innerdeutsche Gespräche ein, die S 3/6 Nr. eingestiegen sind, ist sehr wahrscheinlich.
18 622 wird ausgemustert, ein Weißwal verirrt sich in den Rhein, in FOTO: SAMMLUNG JAHR
San Francisco findet der letzte gemeinsame Auftritt der Beatles statt,
der TEE „Blauer Enzian“ wird mit 200 km/h zwischen Augsburg und
München der schnellste Zug der Bundesrepublik, der durchschnittli-

50 ZEITREISEN
ZEITREISEN 51
1966 BAD SCHWALBACH

Der Gleis- und Lageplan des Bahnhofs Bad


Schwalbach im Zustand der Jahre 1955 bis
1965: Ein platzsparender, reizvoller Halbbogen,
der Modellbahnfreunde sicher ins Schwärmen
geraten lässt. Der rote Punkt markiert den
Aufnahmestandpunkt für das Eingangsfoto.
GRAFIK: SAMMLUNG SEYFERTH

Dem Bad Schwalbacher Lokschuppen vorgelagert sind eine Dreh-


scheibe mit einer Nutzlänge von maximal 12,6 Meter sowie ein ein-
facher Kohlenkran, der auf unserem Bild bereits dem Verfall preis-
gegeben ist. Buchstäblich nur eine Momentaufnahme sind auch die
beiden 86er auf dem Zufahrgleis zur Drehscheibe, denn diese Bau-
reihe war nur rund ein Jahr lang im Bahnbetriebswerk Limburg sta-
tioniert. 17 Maschinen kamen in den Jahren 1965/66 von den Bahn-
betriebswerken München Hbf, Gießen und Friedberg nach Limburg
und wurden in den gleichen Jahrgängen wieder nach Gießen und
Friedberg zurückgegeben; der größte Teil wurde allerdings z-gestellt
und ausgemustert. Die 86er lösten seinerzeit die Baureihe 93 ab und
wurden von der Baureihe 65 ersetzt. Ihre Hauptaufgabe war die Be-
förderung von Nahgüterzügen, die damals auch auf der Aartalbahn
eine teilweise beachtliche Länge und illustres Wagenmaterial aufzu-

52 ZEITREISEN
Die 86er waren nur rund ein Jahr im Bw Limburg stationiert
und kamen von dort auch nach Bad Schwalbach. Abgelöst
hatten sie die Baureihe 93 – hier noch im Mai 1965 geschäftig
am Werk – und wurden wiederum von 65ern ersetzt.
FOTO: SAMMLUNG GARN

ZEITREISEN 53
1966 BAD SCHWALBACH
weisen hatten. Neben dem Wagenladungsverkehr war Bad Schwal- Was wir noch sehen? Natürlich den damals allgegenwärtigen Schie-
bach ja noch Stückgutbahnhof; für heutige Generationen unvorstell- nenbus, der wie selbstverständlich am Ausfahrsignal vorbei gen Wies-
bar wurden nicht alle Güter auf der Straße befördert! Übrigens war baden brummt. Er erinnert uns an die seligen Zeiten des Personen-
die kleine Bw-Anlage im betrieblichen Sinne kein Bahnbetriebswerk verkehrs auf der Aartalbahn, der unter anderem mit so illustren Fahr-
oder dessen Außenstelle, sondern nur eine Lokstation ohne Büro- zeugen wie dem „Langenschwalbacher“ oder der „Zigarre“ stattfand.
gebäude und größere Werkstatt. Mitte der Siebzigerjahre wurde der Der Triebwagen auf unserem historischen Foto schaukelt derweil er-
Lokschuppen verkauft und diente zunächst als Autoreparaturwerk- leichtert davon, denn von Limburg kommend hat er bis Bad Schwal-
statt, später als Lagerhalle. Heute hat er eine ähnliche Funktion, ist bach jede Menge Reisegepäck und Expressgut gebracht, das dort bei
von allerlei Wildwuchs umgeben und immerhin ein Kulturdenkmal dem mehrminütigen Aufenthalt ausgeladen wurde.
des Landes Hessen. Was seine Zukunft indes auch nicht rosiger macht, Unzählige Koffer der Kurgäste, Pakete und kleinteiliges Gut für die
denn der Denkmalschutz ist ein schwaches und stumpfes Schwert in ortsansässige Molkerei und andere Firmen. Der oder die Mitarbeiter
der vom „Zeitgeist“ bekämpften Historie! der Fahrkartenausgabe und Expressgutabfertigung haben die hoch

Panoramahafte Perspektive auf den


im Gleisbogen liegenden Taunus-Bahnhof,
in dem es am 1. Mai 1966 recht
geschäftig zugeht.

Eher gemächlich „rauch-


kräuseln“ die beiden 86er
einige Tage zuvor, am
23. April, am Lokschuppen
vor sich hin.
FOTOS: ARCHIV JAHR (2)

54 ZEITREISEN
ZEITREISEN 55
1966 BAD SCHWALBACH
beladene Gepäckkarre gerade in den Dienst- und Lagerraum gescho-
ben und die mitgelieferten Begleitpapiere verheißen wenig Einladen-
des: Arbeit! Prüfen, Einsortieren, Stempeln, Buchen, Gut dem Kun-
den avisieren. Zu alledem kommt auch noch der Fahrdienstleiter zu
einem Schwatz vorbei, denn der Schienenbus ist weg und betrieblich
herrscht jetzt erst einmal eine Zugpause.
Spätestens jetzt wird uns wieder einmal schmerzlich bewusst, welch
Die Idylle am verschneiten 3. Januar 1985 großer Fehler die Stilllegungen in den Jahren 1983 (Abschnitt Wiesba-
diesseits (mit heimelig beleuchtetem 515) und den – Bad Schwalbach) und 1986 (Abschnitt Bad Schwalbach – Diez)
jenseits (mit Bahnbus) des Empfangsgebäudes waren: In beiden Fällen verlor die Kreis- und Kurstadt Bad Schwal-
war trügerisch, denn bald folgte die Still-
bach einen leistungsfähigen Zubringer insbesondere für ihren Kur-
legung der Aartalbahn.
betrieb, der von nun an natürlich rückläufig war. Busse waren und
sind keine ernsthafte Alternative, schon gar nicht mitten im Taunus,
wo beispielsweise verschärfte winterliche Verhältnisse für Chaos auf
den Straßen sorgen. Genauso wie die benachbarten Taunusstädte Bad
Soden, Kronberg und Königstein ihre selbstverständliche Schienen-
anbindung besitzen, genauso hätte Bad Schwalbach seinen Anschluss
ans Schienennetz behalten müssen. Initiativen für einen Ausbau der

Der Güterverkehr in Bad


Schwalbach war Ende der Siebziger-
jahre noch recht umfangreich.
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (3)

56 ZEITREISEN
Strecke und sogar für eine S-Bahn-Verbindung Wiesbaden – Bad Arbeitszug bis zum dampfenden 50-Achsen-Nahgüterzug. Etwa 20
Schwalbach wurden natürlich abgeschmettert, Verkehr wird in die- Weichen, eine kleine Drehscheibe sowie ein rundes Dutzend Formsi- Das war 1966
sem Teil des Rheingau-Taunus-Kreises seither dem Auto und einer gnale für Zug- und Rangierfahrten genügen für einen authentischen Ein Jahr nach der Bundestagswahl zerbricht die Koalition aus
unattraktiven Busbedienung überlassen. Nachbau und lebhaften Modellbetrieb. Fehlt nur noch Kaiserin „Sis- CDU/CSU und FDP und wird von der ersten Großen Koalition
Allzu rosig sollte unser historisches Eingangsbild also trotz aller si“ als Preiser-Püppchen. abgelöst; als Bundeskanzler wird Kurt Georg Kiesinger vereidigt.
beginnenden Frühlingsidylle nicht betrachtet werden, denn zum Zeit- Zur Bad Schwalbacher Bahnhofs- und Eisenbahngeschichte ge- Bei der Fußball-Weltmeisterschaft holt England im eigenen Land
punkt der Aufnahme (1966) sollten nur noch zwei Jahrzehnte verge- hört auch die Existenz einer Bundesbahnschule im Stadtbereich, in mit einem 4:2-Sieg nach Verlängerung gegen Deutschland den Ti-
hen, bis Bad Schwalbach seinen regulären Schienenverkehr im Jahre deren Mauern heute das Finanzamt untergebracht ist. Im Jahre 1973 tel; das umstrittene dritte Tor der Engländer geht als „Wembley-
1986 verlor. Dabei war die am 15. No- hatte der Verfasser das Vergnügen, die Tor“ in die Geschichte ein. Für Aufsehen sorgen außerdem der
vember 1889 eröffnete Station Bad ersten Schritte seiner Ausbildung zum bereits letzte Tournee-Auftritt der Beatles und die Minirock-Mode
DIE STILLLEGUNG DER AARTALBAHN sowie ein weißer Wal, der sich in den Rhein verirrt hat. Weltweit
Schwalbach (bis 1927 Langenschwal- Eisenbahner in dieser Bundesbahnschu-
gibt es massive Proteste gegen den Vietnam-Krieg und deutscher
bach) als Mittelpunkt der Aartalbahn ALS ZUBRINGER TRAF DEN KURORT HART. le zu absolvieren, die noch in der ersten Fußballmeister wird der TSV 1860 München.
in ihrer Blütezeit ein Prachtstück von BUSBETRIEB MITTEN IM TAUNUS WAR Hälfte des gleichen Jahrzehnts geschlos-
Bahnhof mit entsprechend lebhaftem KEINE ALTERNATIVE. sen wurde. Per Schienenbus wurde dafür
und gar internationalem Betrieb: 1897 zwischen Wiesbaden und Bad Schwal-
reiste Kaiserin Elisabeth von Österreich bach gependelt und bei der nachmittäg-
(„Sissi“) zu einem einmonatigen Kuraufenthalt ins damalige Langen- lichen Rückfahrt wurde im Bahnhof Bad Schwalbach oftmals ein Zug
schwalbach, im K.u.k.-Sonderzug mit dabei ihr Tagessalonwagen so- übersprungen, um die letzten Limburger Dampflokomotiven der Bau-
wie ihr Schlafwagen. Im gleichen Jahr erschien kurz darauf Fürstin reihe 050 – 053 bei ihrer Arbeit mit den Nahgüterzügen zu beobach-
Anna Maria zu Schaumburg-Lippe mit einem „rheinischen Salon- ten. Noch im gleichen Jahr übernahm die Petroleum-P 8 alias V 100
wagen“ sowie einem Gepäckwagen, die freilich etwas weniger spek- diese Leistungen und der planmäßige Dampfbetrieb auf der Aartal-
takulär nur an einen planmäßigen Zug angehängt wurden. Kaum zu bahn wurde endgültig Geschichte.
glauben, aber zu dieser Zeit fanden im Langenschwalbacher Bahn- Und zur Bad Schwalbacher Eisenbahngeschichte gehören natürlich
hof sogar noch Lokwechsel statt – der kleine Lokschuppen hatte also auch die berühmten Wagen, die den Namen Schwalbach im Namen
vollste Daseinsberechtigung. tragen – die „Langenschwalbacher“. Speziell für die Aartalbahn und
Wegen der fast ständig geschlossenen Schranken an der wichti- hier besonders für die engen Gleisbögen des Abschnitts zwischen
gen Zufahrt zur Stadt (ein- und ausfahrende Planzüge, Rangierbe- Wiesbaden und Langenschwalbach ließ die Königlich Preußische
trieb und umsetzende Lokomotiven) wurden Überlegungen laut, das Eisenbahnverwaltung (K.P.E.V.) spezielle vierachsige Personenwa-
Empfangsgebäude auf die Stadtseite zu verlegen, um dieses „Hinder- gen konstruieren, die seit 1891 verkehrten und alsbald als „Langen-
nis“ für an- und abreisende Fahrgäste auszuschalten. Dazu kam es je- schwalbacher“ bezeichnet wurden.
doch nicht, noch heute befindet sich das Empfangsgebäude zwischen Es gab Wagen der 1. Klasse, der 1./2. Klasse, der 2./3. Klasse und
der Bundesstraße am Waldrand und den eher traurigen Resten einst nur der 3. Klasse; ab 1907 auch Wagen der 4. Klasse. Ihre Drehgestel-
großzügiger Gleisanlagen. Und die sind für eine verwandte und hier le führten zu ungeahntem „Fahrkomfort“ auf der Aartalbahn sowie
natürlich mitlesende Spezies hochinteressant. auf einigen benachbarten Strecken, wohin die Wagen zeitweise aus-
Modellbahnfreunde kamen und kommen beim Anblick der his- geliehen wurden. Heute existieren noch fünf „Langenschwalbacher“,
torischen und vollständigen Bad Schwalbacher Bahnhofsanlagen ins darunter ein mustergültig aufgearbeitetes Exemplar beim „Hessen-
Schwärmen: Im platzsparenden und perspektivisch reizvollen Halb- courrier“ in Kassel, das im Jahre 1989 zu Gast auf der Aartalbahn war.
bogen („Bananenform“) angelegt, präsentierte dieser Bahnhof im Nur ein Bild, ein recht normaler Frühlingstag mitten im Taunus.
Vorbild die Vorlage für abwechslungsreichen Modellbetrieb mit dem Und doch so viel Geschichte, sowohl aus dem Jahre 1966 als auch aus
Charme einer Nebenbahn. Für einen Teil der Züge Endbahnhof, für den Zeiten davor und danach. Die Zeitreise ist nicht vorbei, denn so-
andere Zwischenstation, Zugkreuzungen, dazu Rangierbetrieb an der lange Trasse und Schienen noch liegen, ist auch die tatsächliche und
Ladestraße und einer benachbarten Ausweichanschlussstelle, zwei tägliche Zugreise nach Bad Schwalbach wieder möglich. Vielleicht
Bahnübergänge, Formsignale, ein kleines „Bahnbetriebswerk“. Drei steht dann wieder jemand dort und fotografiert die Einfahrt des Zu-
Traktionsarten (Dampf, Diesel, Akku) mit überschaubaren Zuggar- ges, im Bild noch immer der alte Lokschuppen. Denn Geschichte
nituren vom einteiligen 515 über den V 100-Wendezug und den Köf- wiederholt sich, auch wenn sie sich dabei immer neu verkleidet. ☐

ZEITREISEN 57
1968 ELLZEE

ELLZEE
EIN DENKWÜRDIGER TAG IN DER MITTELSCHWÄBISCHEN IDYLLE
TEXT GERHARD ZIMMERMANN

EINEM UNBESCHWERTEN HOCHSOMMERTAG schien nichts Auf dem letzten Stück der Wanderung wurde es nun aber zuse-
im Wege zu stehen, als Siegfried Baum am Morgen des 21. August hends schwül-warm, immer dichtere Quellwolken zogen auf und
1968 mit Frau und Kindern zu einem Ausflug ins Kammeltal auf- sorgten binnen kürzester Zeit, es war noch nicht einmal Mittag, für
brach. Das Auto blieb in der Garage, man fuhr mit dem Zug und hat- eine gewittrige Stimmung. Nur noch ab und zu blinzelte die Sonne
te als Eisenbahnfreund natürlich den Fotoapparat im Rucksack. Von durch die aufgeheizt-dunstige Atmosphäre. Macht nichts, sagte sich
Krumbach aus ging es zunächst im Schienenbus bis nach Neuburg an Siegfried Baum, wenn ich nun schon mal hier bin, möchte ich den
der Kammel. Dort machte sich die junge Familie auf die Wanderung Übergabezug auch fotografieren, ob mit oder ohne Sonne.
entlang des weiteren Verlaufs der Strecke in nördlicher Richtung, wo Am Haltepunkt Ellzee standen damals neben einem schmucken
die Mittelschwabenbahn Mindelheim – Krumbach – Günzburg in ih- Agenturgebäude nur eine Handvoll Häuser samt einer sogenannten
rem wohl schönsten Abschnitt kurvenreich durch Felder und Wiesen „Bahnhofsrestauration“ und heute sind es auch nicht mehr. Zur ei-
in die Steigung am Behlinger Berg, einem Höhenrücken zwischen gentlichen kleinen Ortschaft an der Bundesstraße 16 führte – und
Kammel- und Günztal, übergeht und dann am Rand eines großen führt noch heute – eine Landstraße, die unmittelbar neben der Hal-
und dichten Waldgebietes, bereits wieder leicht abwärts, zum nächs- testelle auch die Bahnstrecke überquert. Direkt hinter dem Stations-
ten Haltepunkt führt: Ellzee. Diese überaus idyllisch gelegene Station gebäude ging es in den Hochwald. Angesichts der vermutlich bald
war auch das Ziel des Ausflugs. aufziehenden Gewitterfront überlegte Herr Baum kurz, ob sich sei-
Zunächst jedoch marschierte Familie Baum frohgelaunt über Feld- ne Frau und die Kinder wirklich, wie ursprünglich geplant, auf einer
wege die Anhöhe beim Behlinger Berg hinauf, wo sich früher eine Be- nahen Waldlichtung ausruhen sollen, während er das Eintreffen des
darfshaltestelle befand, weitab einer kleinen Siedlung. Noch trübten Güterzugs abwarten und fotografieren wollte, oder ob es nicht bes-
In der langgezogenen Steigung nördlich von Neuburg an der den strahlend blauen Himmel nur vereinzelte Wölkchen. Während
Kammel führt die Mittelschwabenbahn Mindelheim – Günzburg eines kleinen Picknicks im Grünen machte der schon seit seiner Ju-
über einen Höhenrücken zum Haltepunkt Ellzee. Um 1938 kämpft
gend eisenbahnbegeisterte Familienvater ein paar Aufnahmen vom
sich hier ein mit Baureihe 98 bespannter Zug bergauf.
FOTO: RBD AUGSBURG/SAMMLUNG BAUM
nächsten Zug bergauf Richtung Günzburg und dem bergab rollenden
Gegenzug Richtung Krumbach. Der einsam am Waldrand liegende
Haltepunkt Ellzee war nämlich eine Kreuzungsstation, sodass man Gewittrige Schwüle lag über Ellzee, als am 21. August
am Behlinger Berg stets innerhalb kurzer Zeit zwei Züge fotografie- 1968 der mit 212 186 bespannte Übergabezug aus
Krumbach spätvormittags weit nach Plan in dem idyllisch
ren konnte. Und weil an jenem Tag ein Werktag war, Siegfried Baum am Waldrand gelegenen Haltepunkt eintrifft. Bis Mitte
hatte ja noch Urlaub, war schon bald nach den beiden Personenzü- der Siebzigerjahre blieb das schmucke Agenturgebäude
gen, jeweils Schienenbusgarnituren, ein dritter Zug zu erwarten: die erhalten, das der Station zur reizvoll abgeschiedenen Lage
Übergabe aus Krumbach, bespannt mit einer V 100. Also machten noch zusätzlichen Charme verlieh.
sich die Ausflügler nun zügig auf den weiteren Weg nach Ellzee, wo FOTO: SIEGFRIED BAUM
neben dem Kreuzungsgleis auch Ladegleise lagen und eventuell Ran-
gierarbeiten beobachtet werden konnten.

58 ZEITREISEN
ZEITREISEN 59
1968 ELLZEE
Die südliche Stationsweiche Richtung Krumbach
befand sich bereits in einer Steigung. Die Aufnahme
aus dem Jahr 1969 zeigt die Übergabe, hier von
Günzburg kommend, mit einem deutlich höheren
Wagenaufkommen als auf dem Eingangsfoto.
FOTO: SIEGFRIED BAUM

Ein Gleisplan mit interessanten Details: Gleich drei


Stationsgleise führten über die Landstraße. Der
Lagerschuppen neben dem Agenturgebäude war ein
ehemaliger Wagenkasten eines G 10.
GRAFIK: SIEGFRIED BAUM

ser wäre, gleich in die Wirtschaft einzukehren, um vor Regen, Blitz


und Donner geschützt zu sein. Gesagt, getan. Siegfried Baum schick-
te seine Familie in die „Restauration“ und begab sich wieder an die
Stationsgleise, um die in Kürze zu erwartende Übergabe optimal in
Szene setzen zu können.
Da der Krumbacher nicht das erste Mal auf Fotopirsch an seiner
Hausstrecke war, wusste er, dass die V 100 frühmorgens von Günz-
burg kam und für die Wagenzustellung bzw. -abholung zumeist bis
zum Haltepunkt Loppenhausen im südlichen Streckenabschnitt un-
terwegs war. Dort gab es bisweilen ein erhöhtes Rangieraufkommen
zu absolvieren, sodass die Rückfahrt erst weit nach Plan angetreten
werden konnte. Wenn dann in Krumbach noch weitere Rangierarbei-
ten anstanden, was die Regel war, kam die Rückleistung der Übergabe
nach Günzburg entsprechend verspätet auf den nördlichen Abschnitt.
Offenbar war dies auch jetzt wieder einmal der Fall. Ausgerechnet
heute sind die so spät dran, ärgerte sich Baum ein wenig, denn der
In früheren Jahren waren Himmel zog sich immer mehr zu.
am Giebelvorbau des Der Eisenbahnhistoriker aus Leidenschaft hatte bereits jahrelang
Agenturgebäudes noch
prachtvolle Laternen
Aufzeichnungen über den Betrieb der Kammel- und Günztalbahn,
mit gusseisernem Zierrat wie die Mittelschwabenachse auch genannt wird, gemacht. Neben sei-
angebracht (Foto um 1935). ner allgemeinen Begeisterung für Dampflokomotiven und einer Lie-
FOTO: RBD AUGSBURG/ be zur majestätischen S 2/6 im Besonderen hatten es ihm seine Hei-
SAMMLUNG BAUM matstrecke und andere schwäbische Bahnlinien angetan, mit deren

60 ZEITREISEN
Nach der Ankunft in Ellzee
hatte die 212 am 21. August
1968 einen Wagen an die
dortige Laderampe zu
verschieben und fährt hier
soeben unter dem Lademaß
hindurch (siehe auch
Zeichnung).
FOTO: SIEGFRIED BAUM

Geschichte und Entwicklung er sich vor allem befasste. Die eigenen „Wie stolz und glücklich müssen die Dorfgemeinschaften vor 116 Jah- der Behlinger Berg mit gut einem Kilometer Länge und einer Höchst-
Beobachtungen und Fotos sowie Notizen und gesammelte Archiva- ren über die neue Bahnstation gewesen sein, dass man einen Baumeister steigung von 25 Promille über Jahrzehnte den Dampfloks buchstäblich
lien waren es dann auch, die einige Jahre später zur Veröffentlichung beauftragte, an diesem einsamen Fleck ein so hübsches Agenturgebäu- das Letzte abverlangte. Und dass damit die Station Ellzee nur an dieser
seines bekannten Buches „Schwäbische Eisenbahn – Die Verkehrs- de hinzustellen? Eben ein wenig anders als der Standard der Stations- – schon unterhalb des Kulminationspunktes liegenden – Stelle angelegt
geschichte der Lokalbahnen in Mittelschwaben“ führten und ihn bis häuschen, die 1892 entlang der neuen Bahnstrecke von Günzburg nach werden konnte. Eine einsame Station am Waldrand.
heute zahlreiche weitere Artikel zu Strecken im schwäbischen Raum, Krumbach im Entstehen waren. Die erst wenige Jahre zuvor in Kraft In Anbetracht der großen Entfernungen zu den nächsten Stationen
zur Dampflok-Historie sowie auch zu allgemeinen Bahnthemen in getretenen neuen Baurichtlinien für bayerische Lokalbahnen verlang- im Norden und Süden, insbesondere aber auch im Hinblick auf die ge-
verschiedenen Fachzeitschriften verfassen ließen. ten, dass der neue Typus von Nebenbahn alle Geländevorteile weitest- fürchtete Steigung wurde Ellzee auch Kreuzungsstation. Was besonders
So befasste er sich in seinen Beiträgen im Eisenbahn-Journal unter gehend ausnutzen sollte. Dadurch mussten bei der Trassenfindung der dann von Wichtigkeit war, wenn es am Berg Probleme gab und sich Züge
anderem auch bereits einmal mit der geschichtlichen Entwicklung des Mittelschwabenbahn alle Geländefurchen und Talmulden berücksich- verspäteten. Und so bestand über Jahrzehnte neben dem obligatorischen
Haltepunkts Ellzee und erläuterte, warum dort eine Kreuzungssta- tigt werden, um den mehr als Kirchturmhöhe messenden Höhenrücken Ladegleis das Kreuzungsgleis, das bis zum Ende der Dampflokzeit in
tion besonders wichtig war: zwischen Kammel- und Günztal zu überwinden. Mit der Folge, dass den sechziger Jahren regelmäßig genutzt wurde.

ZEITREISEN 61
1968 ELLZEE

IN ANBETRACHT DER GROSSEN


ENTFERNUNGEN ZU DEN
NÄCHSTEN STATIONEN SÜDLICH
UND NÖRDLICH, VOR ALLEM ABER
WEGEN DER ZUR DAMPFLOKZEIT
GEFÜRCHTETEN STEIGUNG
AM BEHLINGER BERG WURDE
DER HALTEPUNKT ELLZEE EINST ALS
KREUZUNGSSTATION GEBAUT.

Oben am Behlinger Berg bietet sich


ein herrlicher Panoramablick ins
Kammeltal (im Hintergrund Schloss
Neuburg) sowie auf die bergauf
fahrenden Züge, wie hier am 21. August
1968. In Kürze wird der Schienenbus-
Dreiteiler Ellzee erreichen.
FOTO: SIEGFRIED BAUM

62 ZEITREISEN
ZEITREISEN 63
1968 ELLZEE
Das sogenannte Agenturgebäude trug seinen Namen zu Recht. Und
wer war der Agent? Ganz einfach: der Wirt von nebenan! Gehörte
doch zu einer richtigen (bayerischen) Bahnstation auch eine „Restau-
ration“. Wo Bauern und Fuhrleute, die hier ihre Waren abholten oder
landwirtschaftliche Produkte verluden, nach Labsal und Stärkung ver-
langten oder Passagiere im Warmen auf den verspäteten Zug warten
konnten. Und einst gab es noch ein Kuriosum: Für die Bahnmeister-
rotte hatte man als Lagerschuppen zwischen Bahnsteig und Waldrand
den Wagenkasten eines ehemaligen G 10 aufgestellt. In späteren Jahren
wurde daraus eine willkommene Unterstellmöglichkeit für Fahrräder.“
Neben all diesen Fakten kannte Baum auch viele eher unbekannte
Begebenheiten in der Geschichte der kleinen Bahnstation. So war es
seinen Berichten zufolge nur glücklichen Umständen zu verdanken,
dass dort nach dem Zweiten Weltkrieg das Agenturgebäude über-
haupt noch vorhanden war:
Einen langen PmG Richtung
Günzburg, bestehend „Um ein Haar hätte das originelle und handwerklich sauber gebaute
aus Umbauwagen und Stationshäuschen den ,Gebäudesturm‘ der ausgehenden Bundesbahn-
verschiedenen offenen und zeit gar nicht mehr erlebt. Denn kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs
gedeckten Güter- sowie tobte hier ein mächtiges Feuer, als ein mit Benzinkanistern der US-Army
einem Kesselwagen, hat beladener offener Güterwagen durch den Funkenflug der Lok in Brand
eine 212 bei Billenhausen, geraten war. Die Soldaten sollen, so ein Augenzeuge, im nahen Depot
zwei Stationen vor Ellzee, Kleinkötz die Kanister nicht fein säuberlich in die Waggons gestapelt,
am Haken (Sommer 1969).
sondern diese mit ihren Bärenkräften einfach in die offenen Wagen ge-
Sicher sind ein oder
mehrere Waggons für dort worfen haben, wobei nicht wenige Verschlüsse diese rohe Behandlung
bestimmt. nicht aushielten und der ganze Waggon mit Benzin getränkt war. Dem
FOTO: SIEGFRIED BAUM couragierten Lokführer gelang es trotz der lodernden Flammen, die Lok
abzuhängen und aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu bringen.
Außer den zerstörten Wagen fiel auch ein angrenzendes Waldstück
den Flammen zum Opfer. Eine Wiese und die Ortsverbindungsstraße
verhinderten ein Überspringen der Flammen auf das Stationsgebäude
und bewahrten es so vor der Vernichtung. Ein Schicksal, dem es bei
In den Achtzigerjahren prägten einem Streckenumbau in den siebziger Jahren allerdings leider nicht
Akkutriebwagen den Perso-
mehr entgehen konnte.“
nenverkehr auf der Mittel-
schwabenbahn. Ein 515 mit Bevor es so weit kam, hatten sich aber bereits mehrmals Stillle-
Steuerwagen voraus Richtung gungsgerüchte um die Strecke oder zumindest die Auflösung einiger,
Günzburg ist am 19. September laut Bundesbahn angeblich unrentabler Betriebsstellen gerankt. Auch
1983 zwischen Ellzee (ganz Ende der Sechzigerjahre war die Zukunft der Strecke zwischen Günz-
rechts im Hintergrund) und burg und Mindelheim wieder einmal sehr unsicher und der Fortbe-
Ichenhausen, einer weiteren, stand des Haltepunkts Ellzee im alten Zustand ganz besonders frag-
sogar besetzten Kreuzungs- lich. Siegfried Baum hielt es daher für zwingend, sich alsbald noch
station, unterwegs.
einige Male näher mit den von Schließung und Abbau bedrohten
FOTO: ANDREAS RITZ
Sationen fotografisch zu beschäftigen, vornehmlich eben Ellzee und
dem dortigen Betrieb.
Doch so spät wie an jenem Augusttag 1968, es ging nun bereits
auf Mittag zu, war der Übergabezug bisher selten dran. Jetzt end-

64 ZEITREISEN
lich hörte er das Pfeifen der V 100 in der Ferne, vermutlich war die und war von zunehmender Neugier getrieben, was es da Besonderes das wohl zu bedeuten hatte, verspürte ich eine plötzliche Bedrohung
Fuhre noch unterhalb der Behlinger Steigung, und wunderte sich im Radio zu hören gab. unserer ausgelassenen Ferienstimmung. Drinnen dröhnte das Tran-
plötzlich über eine ungewöhnliche Stille um ihn herum. Er stand am Und es waren in der Tat ganz besondere, aufsehenerregende Nach- sistorradio hinter dem Tresen und an den bereits gut besetzten Tischen
Ausweichgleis gegenüber dem Agenturgebäude, höchstens fünfzehn richten! in der Wirtsstube saßen die meisten Gäste regungslos und lauschten
Meter von der Bahnhofswirtschaft entfernt. Einige Fenster der Gast- Der Verfasser dieser Zeilen, damals elf Jahre alt, kann sich noch gebannt den Sondermeldungen des Bayerischen Rundfunks, einige
stube waren wegen der Schwüle geöffnet, doch statt der üblichen Ge- gut erinnern, wie das alles beherrschende Gesprächsthema an jenem standen auch um den Ausschank, als ob sie so die Nachrichten über
räusche hörte er, zwar kaum verständlich, aber unverkennbar mono- 21. August 1968 dem so unbeschwert begonnenen Sommerferientag das Vordringen russischer Panzereinheiten in die damalige Tsche-
tone Radiostimmen. Was ist denn da drinnen los, dachte er sich, seit die fröhliche Leichtigkeit raubte. Ich war mit Eltern und Bruder auf choslowakei besser verstehen würden oder eher glauben könnten.
wann hören die statt der üblicherweise im Hintergrund dudelnden einer Fahrradtour in den Westlichen Wäldern von Augsburg unter- Langsam dämmerte mir, dass in dem direkt an Bayern grenzenden
Volksmusik oder einem gelegentlichen Schlager für fünfzig Pfennig wegs, als wir am späteren Vormittag in eine Waldschenke in Burgwal- Nachbarland, von dem ich nur so viel wusste, dass dort vieles anders
aus der Musikbox nur Nachrichten? Er wusste nicht mehr so recht, den einkehrten und uns schon am Eingang jemand mit: „Die Russen war als bei uns und schlechter, schwer bewaffnete böse Soldaten aus
ob er die arg verspätete Lok mit der Übergabe noch abwarten sollte, kommen“ empfing. Obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was einem noch viel schlechteren Land im Osten irgendwie für Unruhe

Der Abschnitt zwischen Ellzee


und Neuburg an der Kammel ist
zweifelsohne der reizvollste
der Strecke Günzburg – Krumbach.
Von Ellzee kommend rollt der
798 706 mit Steuerwagen am
28. Dezember 1992 soeben den
Behlinger Berg abwärts.
FOTO: GERHARD ZIMMERMANN

ZEITREISEN 65
1968 ELLZEE
und Aufruhr unter der Bevölkerung sorgten, vor allem in der dorti-
gen Hauptstadt Prag, wie man mir flüchtig erklärte. Warum dies aber
nun auch den Radiosender in München und uns in Augsburg und
Umgebung, alles weit weg von dort, an jenem schönen Augusttag in
helle Aufregung versetzte, erschloss sich mir auch in den folgenden
Stunden und an den nächsten Tagen nicht. Ich spürte nur: die gute
Ferienstimmung war dahin, zumindest deutlich getrübt.
Zurück nach Ellzee. In der dortigen „Bahnhofsrestauration“ fanden
sich an jenem Tag, so wie es immer an Werktagen gegen Mittag der
Fall war, einige Feldarbeiter und Bauern zur Stärkung ein, dazu ein
paar alte Dörfler zum Schafkopfen am Stammtisch und, wie zumeist
an schönen Tagen in der Ferien- und Urlaubszeit im August, auch
einige Ausflügler – wie Frau Baum mit den beiden kleinen Söhnen,
während das Familienoberhaupt draußen weiter auf das Eintreffen der
Übergabe wartete, die dem inzwischen laut vernehmbaren Pfeifen an
den Feldwegübergängen nach nicht mehr weit weg sein konnte. Die
212 186 hatte sich die Steigung hochgekämpft, den Kulminations-
Trotz der abgeschiedenen Lage punkt erreicht und kam nun auch schon aus dem Wald heraus in der
der Station gibt es hier schon seit wieder leicht abwärts auf den Haltepunkt zuführenden Geraden zum
frühen Jahren eine „Bahnhofs- Vorschein, zwei gedeckte Güterwagen und einem Kesselwaggon am
restauration“, die noch heute Haken. Für das lange Warten wurde Siegfried Baum nun sogar noch
bewirtschaftet ist. Am frühlings- mit einer kurzzeitigen Aufheiterung am Himmel belohnt, als er den
haften 11. April 1991 passiert eine
Auslöser seiner Kamera drückte. Jetzt war die ersehnte Übergabe ne-
Richtung Günzburg einfahrende
798/998-Garnitur soeben den
ben dem Agenturgebäude auf den Diafilm gebannt!
Bahnübergang vor der Haltestelle. Nun erschien auch ein Bahnarbeiter, der offenbar ebenfalls auf den
FOTO: GERHARD ZIMMERMANN Güterzug gewartet und an der Laderampe auf der anderen Seite des
Bahnübergangs etwas zu reparieren gehabt hatte, ab und an auch in
dem als Unterstand dienenden alten Wagenkasten verschwunden war
Nur noch ein Gleis, und dem offensichtlich auch das hinter der Station geparkte Lloyd-
Wartehäuschen und moderne Automobil gehörte. Weil Siegfried Baum, wie schon erwähnt, nicht das
Triebwagen. Das ist erste Mal an der Strecke fotografierte und auch nicht das erste Mal in
Ellzee heute. Ellzee war, kannte man sich vom Sehen. „Wird heute rangiert?“, fragte
FOTO: SIEGFRIED BAUM
er den Eisenbahner. „Ja, oi Waga wird zugstellt“, schwäbelte dieser et-
was mürrisch zurück und fügte hinzu, dass dies doch völlig „wurscht“
sei und „koin intressiert, jetzt, wo d᾽Russa komma“.
Siegfried Baum stutzte: „Die Russen? Wieso?“ „Ja, woisch des
no net?“, grummelte der Bahnarbeiter zurück, „Geh nüber in
d᾽Wirtschaft und horch d᾽Nachrichten.“ Nun sichtlich in Unruhe
versetzt, machte der Eisenbahnfreund schnell noch eine Aufnahme
von der 212, die soeben den für Ellzee bestimmten Wagen unter dem
Lademaß hindurch zur Verladerampe schob. Dann eilte er schnell hi-
nüber in die „Bahnhofs-Restauration“. In der Gaststube, wo es sonst
um diese Mittagszeit laut herging, herrschte statt Stimmengewirr, Kar-
tenspielerlärm und Geschirrgeklapper betretenes Schweigen, nach-
dem gerade die letzte Sondermeldung über den Äther gegangen war.

66 ZEITREISEN
„Stell᾽ dir vor, in der Nacht sind russische Truppen und andere Ost- Neben dem Ereignis des russischen Einmarschs in der CSSR im
block-Einheiten in die Tschechoslowakei einmarschiert“, nahm Frau August hatte das Jahr 1968 bereits zuvor für viel Gesprächsstoff ge- Das war 1968
Baum sogleich ihren nach wie vor rätselnden und noch mit Fotoap- sorgt. Von weltweiten Studentenprotesten gegen die Politik der Groß- Ein unruhiges Jahr, das im Kontrast zum idyllischen Fleck un-
parat und Kameratasche „behängten“ Mann zur Seite. Im Radio sei mächte über Auflehnung gegen die Einführung der Notstandsgesetze serer 68er-Zeitreise steht. Vor dem ergreifendsten Ereignis, dem
eben gemeldet worden, dass der Einmarsch das Ziel habe, mit Panzern in der Bundesrepublik bis hin zu Krawallen nach dem Attentat auf Einmarsch von Ostblock-Truppen in die Tschechoslowakei in der
und Waffengewalt die jüngsten Reformbestrebungen in der CSSR für Rudi Dutschke, den führenden Kopf der Außerparlamentarischen Nacht vom 20. auf 21. August, stehen weltweite Proteste von Stu-
mehr Freiheiten der Bevölkerung zu unterdrücken. Opposition. Dazu die Politisierung der bis dahin relativ wenig poli- denten gegen die Politik der Großmächte im Fokus. In Deutsch-
Weil momentan auf dem Radiosender keine weiteren Nachrichten tische Stellung beziehenden Rock- und Popmusik und aufsehenerre- land geht die Außerparlamentarische Opposition, angeführt von
kamen, war an den Tischen der Wirtsstube wieder verhaltenes Ge- gende sexuelle Aufklärungsarbeit durch einen gewissen Oswalt Kolle. Rudi Dutschke, unter anderem gegen die Einführung der Not-
murmel zu vernehmen. Baum war der fragende Gesichtsausdruck Am einsamsten Haltepunkt der Mittelschwabenbahn dagegen blieb standsgesetze auf die Straße und manifestiert ihr Aufbegehren
auch an der Person von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, der
noch immer nicht ganz gewichen, als es auch die nächsten Jahre weiterhin be-
weiter an der Spitze einer Großen Koalition regierte. In dem von
er darauf drängte, doch gleich mit dem schaulich, die Schienenbusse brummel-
der rechten Presse aufgeheizten Klima kommt es dann zum At-
nächsten Zug aus Günzburg wieder ELLZEE IST HEUTE SCHLICHT EINE ten noch lange beim Kreuzungshalt in tentat auf Dutschke, das die Protestwellen noch verschärft. So-
heim nach Krumbach zu fahren. Und DER ACHT HALTESTELLEN ZWISCHEN Ellzee, ehe Akkutriebwagen die meisten gar die ansonsten nur auf rollende Dollars schielenden „Rolling
angesichts der gewittrigen Wetterlage, GÜNZBURG UND KRUMBACH, ABER NACH Personenzugleistungen übernahmen Stones“ schreiben in diesem Jahr mit „Street Fighting Man“ den
die nun irgendwie zu den besorgniser- WIE VOR DIE EINSAMSTE STATION. (bevor sie ihrerseits Ende der Achtziger politischsten Song ihrer Karriere, der sich mit den weltweiten Pro-
regenden Vorkommnissen im kommu- abermals von Schienenbussen abgelöst testen gegen das Establishment solidarisiert. Revolutionäre sexuel-
nistischen Nachbarland passte, würde wurden), und die V 100 brachte und le Aufklärung mit Büchern und Filmen betreibt Oswalt Kolle und
es mit dem für den Nachmittag geplanten Abstecher auf eine nahe holte weiterhin ihre Güterwagen – im Laufe der Jahre aber immer die Bundesligasaison 1967/68 beherrscht der 1. FC Nürnberg unter
Lichtung zum Federballspiel und Waldluft-Genießen ohnehin nichts weniger. Zum Güterverkehr auf seiner Hausstrecke schrieb Siegfried Trainer Max Merkel und holt sich am Ende verdient den Titel.
mehr werden; und sollte die Sonne sich doch nochmal durchsetzen, Baum einmal:
könne man sich ja auch daheim noch im Garten aufhalten, überzeugte „Erst mit dem Kommen der V 100 konnte die Grenzlast am Behlin-
er rasch Frau und Kinder von der verfrühten Rückfahrt. ger Berg deutlich angehoben werden. Dies und der spätere Rückzug der
Zuhause angekommen, wurde sofort das Radio eingeschaltet, um Bahn aus dem Stückgutgeschäft hatten dann den weitgehenden Wegfall
über das Geschehen in Prag und anderen tschechischen Städten auf reiner Güterzüge zur Folge. Bis zum Regionalgüterkonzept ‚MORA-C‘
dem Laufenden zu bleiben, zumindest so weit, wie die laut Rundfunk- der DB AG in den neunziger Jahren wurden fortan die immer weniger
meldungen beträchtlich gestörten Telefonverbindungen und anderen werdenden Güterwagen vom ‚PmG‘ mitgenommen.“
Nachrichtenkanäle Informationen über die dortige Lage überhaupt Die unvermeidbare Konsequenz war der Rückbau fast aller Lade-
zuließen. Dass es bereits zu Konfontationen auf offener Straße zwi- gleise im Verlauf der Strecke, wobei sich auch am Haltepunkt Ellzee
schen russischen Soldaten und sich gegen den Vormarsch wehrenden vieles veränderte. Der iyllische Eisenbahnfleck ist heute kaum noch
Tschechen gekommen sei, vermeldete dann die Tagesschau im Ers- wiederzuerkennen. Mehrere Ab- und Umbaumaßnahmen im Laufe
ten Programm am Abend. Ähnlich vergingen die nächsten Tage, zu der Jahre haben den einst so charismatischen Haltepunkt endgültig
Radio- und Fernsehnachrichten kam nun auch noch die tägliche Be- zu einer gesichtslosen Haltestelle ohne jede Aura gemacht. Einzig ge-
richterstattung in der Zeitung, in Großstädten sogar in Extrablättern. blieben sind der sich östlich anschließende Hochwald und die nach
Als vier Tage nach der Intervention klar war, dass sich die Lage in der wie vor bewirtschaftete „Bahnhofsrestauration“.
CSSR enstpannt hatte, die tschechischen Reformträume zwangsweise Doch lassen wir zur aktuellen Situation in Ellzee noch einmal Sieg-
ausgeträumt waren und das Vorgehen der russischen Panzertruppen fried Baum, der heute in Augsburg lebt, sich seiner Haussstrecke aber
im Bruderland Gott sei Dank keine weitere Gefährdung für den Frie- noch immer verbunden fühlt, zu Wort kommen. 2009 zieht er im
den in Mitteleuropa mit sich gebracht hatte, ging nicht nur ein bereits Eisenbahn-Journal ein kurzes, aber treffendes Resümee:
weltweit heißer und unruhiger Sommer dem Ende entgegen, sondern „Ellzee ist heute schlicht eine der acht Haltestellen an der Strecke
auch Siegfried Baums Urlaub. Nun forderte ihn wieder sein Beruf als zwischen Günzburg und Krumbach. Wie einst von weiten Wald - und
leitender Angestellter im Bankwesen und das Eisenbahnhobby wur- Flurflächen umgeben und von keinem der umliegenden Orte unter
de wieder zur schönsten Nebensache, das in späteren Jahren neben einer halben Fußstunde zu erreichen, gibt es hier zwar längst keinen
der Beschäftigung mit Bahngeschichte auch noch den Eigenbau von Kreuzungsbahnhof mehr, aber nach wie vor die einsamste Station der
Fünf-Zoll-Modellen mit sich brachte. gesamten Mittelschwabenbahn.“ ☐

ZEITREISEN 67
1971 HORB

HORB
SEPTEMBERMORGEN MIT ALTER PREUSSIN IM NECKARTAL
TEXT KONRAD KOSCHINSKI

EIN RECHT FRISCHER SEPTEMBERMORGEN im Jahr 1971, Die Gäubahn verlässt Horb und das Neckartal in Richtung Eu-
vier Tage vor Fahrplanwechsel. Zwar gilt es mittlerweile als sicher, dass tingen in einem Linksbogen. Dabei muss der von Gleis 5 abfahren-
die Tübinger P 8 allen Unkenrufen zum Trotz mindestens noch den de N 4135 unmittelbar hinter dem Ausfahrsignal eine abzweigende
Herbst erleben werden, doch ihre Einsätze gehen absehbar weiter zu- Weiche und dahinter eine Kreuzung passieren. Würde nur der obere
rück. An Diesellokomotiven abtreten müssen sie unter anderem den Signalflügel aufwärts zeigen, stünde die Weiche auf Geradeaus und es
Nahverkehrszug 4135 Horb – Freudenstadt, der um 8.19 Uhr in Horb könnte sich vom Gleis 5 nur um einen Zug auf der Oberen Neckar-
abfährt, sich also bei bestem Morgenlicht mit der Horber Altstadtku- bahn Richtung Tübingen handeln. Hätte Jürgen Nelkenbrecher die
lisse in Szene setzen lässt. Vom gegenüberliegenden Berghang aus be- Zugnummer nicht notiert, ließe sich – Kenntnis der Lage des Bahn-
trachtet, ragen hinter dem stattlichen Empfangsgebäude des Bahnhofs hofs Horb natürlich vorausgesetzt – anhand des Sonnenstands die
die Stiftskirche und links davon der „Schurkenturm“ empor. morgendliche Zeitlage ermitteln. Beim Nachschlagen im Sommer-
Eigentlich ist der werktägliche N 4135 schon seit Ende Mai 1971 kursbuch 1971 kämen wir just auf den N 4135.
keine planmäßige P 8-Leistung mehr, aber mangels Ulmer 215 wird Der rund 20 Minuten früher in Horb abfahrende Kehler Eilzug via
er in einem zweitägigen Dieselersatzplan auch den Sommer über mit Freudenstadt war bereits seit Februar 1971 nicht mehr mit P 8, son-
den alten Preußinnen bespannt. Im regulären Vier-Tage-Umlauf für dern mit einer 215 bespannt. Nach den im Winter 1970/71 erlittenen
Eingebettet in sanfte Hügel und durchzogen von der die Baureihe 038 bietet nur noch der sonntägliche N 4133 nach Freu-
Gäubahn liegt Horb im schönen Neckartal. denstadt die Chance, zu fast gleicher Zeit und aus gleicher Perspektive
FOTO: ARCHIV EJ eine so prächtig von der Morgensonne beschienene P 8 auf den Film
zu bannen – sofern Petrus denn in Sonntagslaune ist.
Jürgen Nelkenbrecher nutzt lieber die mit dem 4135 gebotene Ge-
legenheit. Als er am Mittwoch, dem 22. September 1971, das Aufma-
cherfoto für diese Zeitreise schießt (was er freilich damals nicht ahnte),
ist ihm Petrus durchaus wohlgesonnen gewesen, was man vom Lok- Trotz des strahlend blauen Morgenhimmels am
führer nicht unbedingt sagen kann. Eine derart die Lok einhüllende 22. September 1971 dürfte der Fotograf hin- und herge-
Dampfentwicklung mag dem Fotografen nämlich gar nicht gefallen rissen gewesen sein, denn die Dampfentwicklung der
haben. Mit geöffneten Zylinderventilen und offensichtlich spitzem mit dem P 4135 nach Freudenstadt unmittelbar vor der
Kesseldruck legt sich 038 772 mächtig ins Zeug, muss sie doch gleich Abfahrt stehenden 038 772 war fast zu viel des Guten, gibt
die 13-Promille-Rampe nach Eutingen hinauf bezwingen. Einer nicht der alten Preußin gleichwohl eine würdevolle Aura. Und
gerade sprintfreudigen P 8 kann der Lokführer getrost „die Sporen ge- schließlich geht es gleich auf die Dreizehn-Promille-Rampe
nach Eutingen, da ist spitzer Kesseldruck angesagt.
ben“, obschon das Ausfahrsignal für den anschließenden Weichenbe-
FOTO: JÜRGEN NELKENBRECHER
reich „Langsamfahrt“ (Hp 2) zeigt. Der links im Anschnitt erkennba-
re Bahnpostwagen bildet übrigens den Zugschluss des wohl ebenfalls
mit einer P 8 bespannten N 3933 nach Tuttlingen.

68 ZEITREISEN
ZEITREISEN 69
1971 HORB
Leistungseinbußen liefen noch sechs P 8 pro Tag. Davon gingen die
beiden Tage des Dieselersatzplans und damit auch der N 4135 zum fol-
genden Winterfahrplan ab 26. September 1971 auf die 215 über. Den
überwiegend von Freudenstädter Personalen gefahrenen P 8 verblieb
bis 27. Mai 1972 der Vier-Tage-Plan mit Leistungen auf den Strecken
Tübingen – Horb und Horb/Eutingen – Freudenstadt – Hausach sowie
zwischen Horb und Böblingen oder Sindelfingen. Eine fünfte Lok be-
förderte noch bis zum 24. Oktober auch einen Nahverkehrszug von
Tuttlingen bis Böblingen. Ab 25. Oktober 1972 waren die P 8 auf der
Gäubahn südlich von Horb nicht mehr regelmäßig anzutreffen.
Dass die letzten drei P 8 der DB (038 382, 711 und 772) zum Som-
merfahrplan 1973 von Tübingen nach Rottweil umbeheimatet und im
Wechsel mit der letzten T 18 (078 246) unter anderem erneut Plan-
züge in der Relation Rottweil – Horb – Tübingen bespannen würden,
sah 1971 wohl niemand voraus. In einem Jahr, in dem sich der Ein-
satzbestand der Baureihe 038 von 13 auf sechs Maschinen verringerte,
erwartete man vielmehr das baldige Ende der P 8 überhaupt.
Da die DB nach drei Boom-Jahren weniger Güter transportiert,
nimmt der zwischenzeitlich gestiegene Bedarf an Dampflokomotiven
insgesamt wieder ab. In die Bahnchronik geht 1971 vor allem als Un-
glücksjahr ein: Zugkatastrophen bei Aitrang (9. Februar), Kellmünz
(18. Mai), Radevormwald (27. Mai) und Rheinweiler (21. Juli) löschen
über 100 Menschenleben aus. Daraufhin beschließt der DB-Vorstand
ein Dreijahresprogramm zur Verstärkung der sicherheitsrelevanten
Investitionen. Erfreuliches Aufsehen erregt das zum Fahrplanwech-

Noch einmal der P 4135: Fast majestätisch hat sich


die 038 772 jetzt in Bewegung gesetzt und wird
nun zügig in einem Linksbogen aus Horb und dem
Neckartal hinaus und hinauf nach Eutingen ziehen.
FOTO: JÜRGEN NELKENBRECHER

Nach dem Fahrplanwechsel im Herbst 1971 war es mit


der P 8-Herrlichkeit – erst einmal – vorbei, wie die im
Juli 1972 im Ruinenteil des Horber Schuppens abgestellte
038 382 kaum treffender hätte symbolisieren können.
FOTO: ARCHIV JAHR

70 ZEITREISEN
Im Sommer 1973 ist 038 711 abermals im
Plandienst nahe Horb unterwegs (oben links).
Die schier unverwüstliche 038 772 wendete
sogar noch bis August 1974 als allerletzte
DASS DIE LETZTEN DREI P 8 DER DB IM Preußin in Horb, wo die Zeichen der Elektri-
SOMMERFAHRPLAN 1973 ZUSAMMEN MIT DER fizierung bereits unübersehbar sind (oben
LETZTEN T 18, 078 246, ERNEUT PLANZÜGE rechts). Und für die 078 246 war im Mai 1974
endgültig Schluss (links, Ausfahrt in Horb
IN DER RELATION ROTTWEIL– HORB – TÜBINGEN mit Personenzug Richtung Tübingen).
BESPANNTEN, SAH NIEMAND VORAUS. FOTOS: JÜRGEN POHLMANN/SAMMLUNG KOSCHINSKI,
ARCHIV JAHR, JÜRGEN NELKENBRECHER

sel am 26. September eingeführte neue Spitzenangebot „Intercity im


Zweistundentakt“. Als Ärgernis empfinden die meisten Fahrgäste
hingegen die deftige Anhebung der Grundfahrpreise im Personen-
verkehr. Der Normaltarif 2. Klasse steigt ab 1. März um rund zwölf
Prozent. Außerdem werden die populären Sonntagsrückfahrkarten
abgeschafft.
Die Politik steht 1971 im Zeichen der Ost-West-Entspannung. Am
3. September unterzeichnen die Botschafter Frankreichs, Großbritan-
niens, der USA und der Sowjetunion das Vier-Mächte-Abkommen
über Berlin, dem am 17. Dezember das Transitabkommen zwischen
beiden deutschen Staaten folgt. Bundeskanzler Willy Brandt nimmt
am 10. Dezember den Friedensnobelpreis entgegen. Ungeachtet
der deutsch-deutschen Annäherung befreit die Springer-Presse die

ZEITREISEN 71
1971 HORB
„DDR“ noch lange nicht von den Gänsefüßchen. Eine neue Sprach-
regelung auf ganz anderem Gebiet setzen die westdeutschen Behör-
den nur zögerlich um: Das Bundesinnenministerium verbannt mit
Erlass vom 16. Februar die Anrede „Fräulein“ aus der Amtssprache.
Längst vertraglich vereinbart ist die Elektrifizierung der Gäubahn
über Böblingen hinaus bis Hattingen, wo sie auf die ebenfalls zu elek-
trifizierende Schwarzwaldbahn trifft. Offene Finanzierungsfragen
haben jedoch den Baubeginn verzögert. Besonders engagiert nimmt
sich Baden-Württembergs Finanzminister Robert Gleichauf der Sache
an, zumal er fast täglich im Zug zwischen seinem Wohnort Obern-
dorf (Neckar) und Stuttgart pendelt. Endlich können 1971 erste Bau-
aufträge für den Abschnitt Böblingen – Horb vergeben werden. Hier
haben Dampflokfreunde nun noch drei Jahre Zeit, die Objekte ihrer
Begierde abzulichten. Dreh- und Angelpunkt des Dampfbetriebs auf
der Gäubahn und abzweigenden Strecken bleibt Horb.
Aufgrund seiner zentralen Lage war Horb schon zu Zeiten der
Württembergischen Staatseisenbahnen eine Lokomotivstation. Die
Reichsbahn führte diese ab 1922 als Lokomotivbahnhof des Bw Tü-
bingen. Im Zusammenhang mit dem Ausbau des Horber Rangier-
bahnhofs entstand dort um 1930 ein moderner zehnständiger Ring-

Noch 1973 hat das Bw Rottweil für die abgegebenen 44er Loks der
Baureihen 050 – 053 aus Tübingen erhalten. Mit Ng 63357 nach Schwen-
ningen nimmt 052 953 am 1. September 1974 beim Horber Rbf Fahrt
auf. Bereits drei Wochen später kommen nach Aufnahme des elektrischen
Betriebs planmäßig keine Dampfloks mehr nach Horb.
FOTO: KONRAD KOSCHINSKI

Horb heute: Noch hat sich erstaunlich wenig verändert im Bahnhof. Neben
dem schmucken Empfangsbau stehen noch zwei aufgelassene Bahndienstgebäude.
Um eine ähnliche Perspektive wie auf dem Eingangsfoto auf Seite 69 zu erhalten,
muss man sich heute aber in ein monströses Parkhaus begeben, das ansonsten den
Blick, wie ihn einst Jürgen Nelkenrecher hatte, versperrt. Dass es am 6. Januar
2012 in Horb dampfte, war natürlich dem Dreikönigs-Dampfsonderzug mit
52 7596, hier bei der Ausfahrt Richtung Stuttgart, zu verdanken.
FOTO: JÜRGEN POHLMANN

72 ZEITREISEN
lokschuppen mit 22-Meter-Drehscheibe. Krass davon abweichende Der Dreizylindertakt schwer arbeitender 44er ertönt nicht mehr
Angaben zur Drehbühnenlänge sind eindeutig falsch. Schon gar nicht entlang der Gäubahn, mit der 044 402 hat das Bw Rottweil seinen Das war 1971
handelte es sich um eine 16-Meter-Scheibe. In einem als Standardwerk letzten „Jumbo“ im Mai 1973 nach Crailsheim abgegeben. Dafür hat Die Politik steht 1971 im Zeichen der Ost-West-Entspannung.
geltenden Buch über die P 8 soll ein Bild aus Horb erkennen lassen, es die 50er aus Tübingen übernommen und setzt im Winter 1973/74 Botschafter Frankreichs, Großbritanniens, der USA und der So-
warum Tübinger P 8 wegen der „kurzen Drehscheiben“ den kürzeren planmäßig elf Lokomotiven der Baureihen 050 – 053 ein. Im Sommer wjetunion unterzeichnen das Vier-Mächte-Abkommen über
Kastentender hatten. Dabei zeigt selbiges Bild klar, dass die Kasten- 1974 beträgt der Planbedarf noch sechs Maschinen, zuzüglich des Berlin, dem das Transitabkommen zwischen beiden deutschen
tender-P 8 die Bühnenlänge nicht ausnutzt. Selbst die 50er passte lo- zweitägigen 38/50-Mischplans. Auffällig sind die zahlreichen Sonn- Staaten folgt. Bundeskanzler Willy Brandt nimmt am 10. Dezem-
cker auf die Scheibe. Richtig ist, dass fast alle Tübinger P 8 wegen der tagsleistungen. So geben sich sonntagnachmittags fünf Dampfloks ber den Friedensnobelpreis entgegen. 374 Frauen aus der Bun-
kurzen Drehscheiben in Sigmaringen, in der Bw-Außenstelle Horb (wie man desrepublik geben in der Hamburger Illustrierten stern bekannt:
Freudenstadt und Böblingen mit dem sie inoffiziell noch immer nennt) ein „Wir haben abgetrieben.“ Die Selbstbezichtigungskampagne er-
ZULETZT GABEN SICH SONNTAGS NOCH regt großes Aufsehen. Der Bundestag verabschiedet das erste
Kastentender gekuppelt waren. Neben- Stelldichein, neben 50ern fallweise auch
Gesetz zur Verminderung von Luftverunreinigungen. Das Wort
bei: Wie viel Spielraum für die P 8 auf FÜNF DAMPFLOKS EIN STELLDICHEIN eine der übrigens mehrfach ausgetausch-
„Fräulein“ wird aus der Amtssprache verbannt. Im ZDF startet die
der Horber Drehscheibe blieb, können IN HORB. NEBEN 50ERN BIS AUGUST 1974 ten 23er aus Crailsheim oder bis August Musiksendung „Disco“ mit Ilja Richter. Nach 1970 wird Borus-
Modellbahner im Maßstab 1:87 auf der DIE LETZTE 038 UND FALLWEISE 23ER. eben die 038 772. So zwischen 15 und 16 sia Mönchengladbach erneut deutscher Fußballmeister. Durch
Roco-Drehscheibe nachvollziehen, de- Uhr herrscht an den beiden württember- den Bundesliga-Skandal, mit dem der Spiegel sogar titelt, gerät der
ren Vorbild eine 22-Meter-Scheibe ist. gischen Wasserkränen regelrechtes Ge- Fußballsport aber vorübergehend etwas ins Zwielicht. In der DDR
Der in Betonbauweise errichtete Horber Lokschuppen besaß ur- dränge. Eine Bekohlungsanlage gibt es nicht mehr, allerdings deutet wird Erich Honecker Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees.
sprünglich einen verglasten Dachaufsatz, der Bombentreffern im ein auf Fotos erkennbares Förderband auf eine Notbekohlung hin.
Zweiten Weltkrieg zum Opfer fiel. Fotos aus der Bundesbahnzeit Am 22. September 1974 findet das sonntägliche „Dampf-Rendezvous“
zeigen sieben Stände mit in vereinfachter Form wiederhergestelltem letztmalig statt, und nach Aufnahme des elektrischen Zugbetriebs im
Schuppendach und nur teilweise erhaltener Verglasung oberhalb der Streckenabschnitt Böblingen – Horb genau eine Woche später kom-
Schuppentore. Eine Holzwand trennte den überdachten Teil von ei- men planmäßig gar keine Dampflokomotiven mehr bis Horb.
nem lediglich skelettartig erhaltenen Bereich ab, dessen drei Stände Im Jahr 1977 wurde die Elektrifizierung der gesamten Gäubahn
aber ebenfalls noch genutzt wurden. abgeschlossen. 1979 löste die DB den Horber Rangierbahnhof auf.
Die Bundesbahn bezeichnete den Lokbahnhof Horb seit dem Auf dessen Areal befindet sich heute die 2011 eröffnete „Eisenbahn-
19. Mai 1952 als Bw-Außenstelle von Tübingen, löste diese jedoch Erlebniswelt“ mit einer nüchternen Zweckhalle und fast bis zum Stell-
bereits zum 1. Januar 1953 formell wieder auf. Dennoch wurden werk 4 im Westen des Geländes reichenden Gleisen. Im Gestrüpp der
dort weiterhin Dampfloks behandelt und im Ringschuppen abge- Richtung Rottweil anschließenden Eisenbahnbrache verbirgt sich der
stellt. Auch Schienenbusse und später Diesellokomotiven fanden sich Ablaufberg.
ein. Zeitweilig bot der erst in den Achtzigerjahren vollends abgetra- Am Ostkopf des einstigen Rangierbahnhofs steht das außer Betrieb
gene Schuppen den ausgemusterten Zahnraddampfloks 97 501 und gesetzte Stellwerk 3. Der nordöstlich davon gelegene Personenbahn-
504 der Strecke Honau – Lichtenstein Unterschlupf. Die Drehscheibe hof Horb strahlt noch viel altes Flair aus. Die Sicht von jenem Foto-
wurde 1986 beseitigt. standpunkt, den Jürgen Nelkenbrecher im September 1971 wählte,
Fokussieren wir unsere Zeitreise nun auf das Jahr 1974, auf die ist allerdings durch ein monströses Parkhaus versperrt. Man muss
letzten Monate vor Aufnahme des elektrischen Betriebs bis Horb. Der sich schon in selbiges begeben, um aus ähnlicher Perspektive einen
Planeinsatz der 078 246 ist seit 25. Mai beendet, die 038 382 und 711 Richtung Eutingen fahrenden Zug aufzunehmen (siehe Foto Seite 69).
sind schon vor Ablauf des Winterfahrplans 1973/74 schadhaft abge- Schwenkt man die Kamera nach rechts, rücken neben dem schmu-
stellt worden. Als einzige Preußin wendet noch bis in den August hi- cken Empfangsbau zwei aufgelassene Bahndienstgebäude ins Bild.
nein die 038 772 regelmäßig auch in Horb. Nach einem Lagerschaden Beim Schwenk nach links jedoch geriete auf der Stadtseite – dort, wo
wird die letzte P 8 zwar wieder repariert, kehrt aber nicht mehr in mal der Ortsgüterbahnhof war – ein klotziger Kaufland-Supermarkt
den Plandienst zurück. Im gemeinsam mit 50ern bestrittenen Zwei- mit Parkhaus ins Blickfeld, weiter Richtung Rottweil ein ALDI-Markt.
Tage-Umlauf wird sie bis Ende September von einer der beiden 23er Das Umfeld hat sich also gründlich verändert, bald wird auch der
aus Crailsheim vertreten, die eigentlich für zur Elektrifizierung not- Bahnhof selbst an Charme verlieren. Mit dem absehbaren Einzug der
wendige Bauzugdienste an das Bw Rottweil respektive das Einsatz-Bw ESTW-Technik sind die Tage der von den Stellwerken 1 und 2 elekt-
Freudenstadt verliehen sind. romechanisch betätigten Formsignale gezählt. ☐

ZEITREISEN 73
1975 BAD SACHSA

BAD SACHSA
EIN HEISSER AUGUSTTAG IM PARADIESISCHEN BAHNHOF IM SÜDHARZ
TEXT JOACHIM SEYFERTH

HIER OBEN HERRSCHT GÖTTLICHE RUHE. Abgesehen davon, sich am nunmehr göttlichen Lärm und findet vor lauter Ablenkung
dass diese in einem Kurort mit dem Vornamen „Bad“ ohnehin fast kaum den Kameraauslöser. Nur der buchstäblich über allen Dingen
vorgeschrieben ist, unterstreichen die im Wind rauschenden Birken stehende Schrankenwärter verzieht keine Miene. Infernalisch laut zi-
diese Stille nur noch. Hier oben – das ist der „Heideberg“ genannte schend schwebt die Maschine mit kreisenden Treibrädern vorbei, am
Hügel schräg gegenüber dem Empfangsgebäude von Bad Sachsa mit Zughaken eine nur mäßig lange Wagenkette, die so viel Engagement
dem Schrankenposten 135, von dem aus der Wärter an seinen zwei des Heizers gar nicht erfordert hätte. In die Akustik der letzten Güter-
Kurbelböcken die Schranke am Bahnhof sowie eine Anrufschran- wagen mischt sich die leiernde Schrankenkurbel, ein einsamer Glo-
ke in Richtung Tettenborn bedient. Eine lange Treppe führt von der ckenschlag vom Bahnübergang vermeldet die geöffnete Endstellung
Ladestraße zu ihm hinauf, gesäumt von der Farbenpracht der Eisen- des rot-weißen Gestänges. Wie von der Schere geschnitten verstum-
bahnerblumen und gekrönt von eben jenen Birken, die dem Wär- men die Sicherheitsventile, der Dampfzug entschwindet mit nunmehr
terhäuschen wohltuenden Schatten spenden. Wer vergangene Para- weichem Schornstein-Stakkato und erlaubt der Stille allmählich die
diese auf Erden sammelt, sollte diese paar versteckten Quadratmeter gewohnte Oberhand. Die Kurgäste liegen wieder, der Wind setzt das
ruhig zu seiner altmodischen Auflistung addieren, auch wenn es nur Spiel mit den Birkenblättern fort und der Schrankenwärter beißt in
ein Paradies für Eisenbahnfreunde war. Denn schon die hier oben in einen Apfel. So wie es sich für ein Paradies gehört.
Bad Sachsa um 1910. Rechts am Bahnsteig eine Lok einsamer Dienstausübung tätigen Eisenbahner sehnten sich sicher- So war das damals in Bad Sachsa, am 9. August 1975, an einem
der preußischen Gattung P 4. lich eher nach belebteren Paradiesen aus dem Klischee-Reisekatalog heißen Samstagnachmittag um kurz nach zwei. Doch so schön dieser
FOTO: ARCHIV EJ
mit türkisfarbenem warmen Wasser und über den Strand flanieren- Sommer war, so gewiss war auch das baldige Ende der Lehrter 50er
den Badenixen, deren Kurven in der von langen Zugpausen gespeis-
ten Fantasie erotischer als der holzschwellenverschwitzte Gleisbogen
nach Tettenborn und deren Tanga-Schnüre weitaus dünner als die
verölten Seilzüge zu den Schrankenbäumen waren.
Nein, Dienst ist Dienst – vor wenigen Minuten wurde der 45868 Ein heißer Hochsommer-Samstag: Kurz nach
von Walkenried vorgemeldet, das Deckungssignal steht schon oder zwei erreicht die 050 578 mit einem Güterzug die
immer noch auf Fahrt. Die Grundstellung der Anrufschranke ist oh- Gerade im Bahnhof Bad Sachsa. Die Sicherheits-
nehin in der Horizontalen, also wird nur der Übergang am Bahnhof ventile knallen, die Wagen rumpeln und unter
geschlossen, der Wind trägt die Schläge des Läutewerks hier hoch dem Ächzen der Kupplungen geht es gleich weiter
ins Paradies. Aber insbesondere aus Sicht der Kurgäste ist dieses als- in die Ausfahrt. Schon wenig später rauschen am
bald keines mehr, denn kaum hat der dampfende Güterzug die Ge- Bahnhof an diesem 9. August 1975 die Birken
wieder ruhig und sanft im Wind.
rade am Bahnhof erreicht, knallen urplötzlich die Sicherheitsventile
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
der 50er los. Mit der göttlichen Ruhe ist es vorbei, stattdessen stehen
jetzt die Kurgäste in ihren Ruheliegen senkrecht, Reisende am Bahn-
hof sind erschreckt bis verdattert und ein Eisenbahnfreund ergötzt

74 ZEITREISEN
ZEITREISEN 75
1975 BAD SACHSA
Nach der 50er mit dem
schweren Güterzug dampft
eine weitere Lok dieser
Baureihe, die 050 529, als
Lz 45864 nach Northeim
durch den Bahnhof Bad
Sachsa. An seinem Posten auf
dem paradiesisch gelegenen
„Heideberg“ an der Ladestraße
kurbelt der Wärter die
Schranken wieder hoch und
es herrscht erneut samstäg-
liche Ruhe.

Herbststimmung im Südharz: In Bad Sachsa passiert


am 23. Oktober 1971 ein Schienenbus die am
Ladegleis bereitgestellten Güterwagen.
FOTO: ARCHIV EJ

Der Gleisplan von Bad Sachsa um 1975. Der rote


Punkt markiert den Aufnahmestandpunkt auf dem
schräg gegenüber dem Empfangsgebäude gelegenen
„Heideberg“. Von hier aus enstanden das Eingangs-
foto auf der vorigen Seite und das Foto oben.
GRAFIK: JOACHIM SEYFERTH

76 ZEITREISEN
Zehn Kilometer westlich von Bad Sachsa:
Eine 50er im Kampf mit 14 Promille auf der
Osterhagener Rampe. Noch fünf Kilometer
donnernde Qual bis zum Kulminationspunkt,
dann rollt die Winterfahrt wieder hinab – bis
nach Ellrich in der Deutschen Dampfenden
Republik DDR (14. Februar 1976).
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2)

und Ottbergener 44er auf dieser durch die deutsche Teilung noch ab- Reisezugdienst die Baureihen 212, 216, 220, 515, 613, 614, 624 und kannte Bedarfszug 47861 mit Ottbergener 44 von Quadrath-Ichen-
gelegenen Strecke. Bereits ein Jahr später fuhren dort keine „Schwar- 628 vertreten. So mancher würde heutzutage schon deshalb an die- dorf nach Bitterfeld (in Gegenrichtung leer), der ab Herzberg planmä-
zen“ mehr und statt abblasender Sicherheitsventile war auch in Bad se Strecke pilgern, bis zum Sommerfahrplan 1976 waren es aber die ßig Schub mit einer 44 oder 50 bekam. Dieser Zug beförderte Alumi-
Sachsa vor Güterzügen „nur“ noch das kernige Nageln der Baurei- 44er und 50er mit ihren schweren innerdeutschen Güterzügen, die niumoxid in mehr als 30 Ucs-Wagen und verlangte den Maschinen mit
hen 212, 216 und 218 zu hören. Überhaupt hat die Südharzstrecke die Eisenbahnfreunde an die Osterhagener Rampe oder durch den seinen rund 1400 Tonnen insbesondere auf der 14-Promille-Rampe
von Northeim nach Ellrich im Lauf ihrer Geschichte so gut wie jede Fußweg im Walkenrieder Tunnel bis zum Eisernen Vorhang lockten. zwischen Scharzfeld und Osterhagen alles ab. Und war keine Schub-
Baureihe ohne Stromabnehmer gesehen, beispielsweise zum Ende der Etwa sechs werktägliche Güterzugpaare zwischen Northeim und lok zur Stelle, so knallte die 44er mit der Gefahr des Liegenbleibens
dortigen Dampflokzeit und wenige Jahre später waren dort allein im Ellrich verkehrten mit Baureihe 50 des Bw Lehrte, hinzu kam der be- nur noch im doppelten Schritttempo die lange Steigung hinauf, so

ZEITREISEN 77
1975 BAD SACHSA

78 ZEITREISEN
beispielsweise am 23. November 1974, wo dieser Zug kurz vor Os-
terhagen ein 20-minütiges akustisches Schauspiel gab.
Doch nicht nur die Vielfalt und die Faszination der Lokbaurei-
hen waren zu dieser Zeit größer, sondern im Jahre 1975 tobte auch
sonst in Deutschland der Bär. Die Siebziger waren in ihrer Blüte, das
Lebensgefühl der Menschen war ein fröhliches und das Eis im Som-
mer – also auch an diesem warmen Augusttag in Bad Sachsa – war
unvergleichlich besser als die heutige überkandidelte Kunstpampe:
Fürst Pückler aus der Pappschachtel von Langnese oder den herrlich
cremigen „Rumtopf “ im kleinen Plastikfässchen von Schoeller hät-
te man tonnenweise wegschlürfen können. Dazu Miniröcke, Mini-
golf und Minibar, Afri-Cola, ABBA und Abteilwagen, Pril-Blumen,
Plateau-Treter und Praktica-Kamera – die fragwürdige Grenze zum
Herstellerland letzterer „feinmechanischer Optik“ war in Bad Sach-
sa ja ohnehin nicht weit.
Eigentlich war 1975 also alles paletti, bis auf die Galgenfrist für die
letzten Dampflokomotiven eben. Und bis auf das schreckliche Zugun-
glück in Warngau mit 39 Toten und 178 Schwerverletzten. Gegenüber
dieser Tragik, die auf technischer Seite die Ausrüstung von bislang
„ungesicherten“ Strecken mit Streckenblock enorm beschleunigte,
verblassten alle übrigen Weltnachrichten dieses Sommers: Die USA
und die UdSSR trafen sich anlässlich der Raumfahrtmission „Apollo-
Sojus“ erstmals im All, mit Unterzeichnung der Schlussakte von Hel-
sinki wurde europaweit die KSZE gegründet, ausschließlich in West-
deutschland wurde der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutsch-
land aus der Taufe gehoben und Borussia Mönchengladbach wurde
deutscher Fußballmeister.
Für Fußball blieb dem Schrankenwärter im „Paradies“ auf dem
Heideberg an diesem Samstag aber freilich keine Zeit, denn da wur-
de von Walkenried unter anderem noch der E 3658 angemeldet, ein
sagenhafter Langlauf von Walkenried nach Duisburg, an diesem Tag

„Politischer Empfang“ in Bad Sachsa mit –


Achtung: zweideutig – Eierköpfen: Im Rahmen der
CDU-Wahlwerbung frohlockt im Südharz-Bahnhof
in den achtziger Jahren auch bayerische Sturköpfigkeit.
FOTO: ANDREAS RITZ

ZEITREISEN 79
1975 BAD SACHSA
Südharz-Heuler: Akku-515 506 zwischen
Bad Sachsa und Walkenried an den Kreidefelsen
am 28. September 1982.

Zehn Kilometer östlich von Bad Sachsa: Eine andere


Welt, ein anderes System, ein anderes Gefühl. Im
gefahrvollen deutsch-deutschen Niemandsland an
den Grenzanlagen in Ellrich ist nur die Loksilhouette
vertraut (15. November 1975).
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2)

geführt von der 216 146. Natürlich hielt dieser Ferneilzug in Bad Sach- den zudem drei Buslinien des Verkehrsverbundes Süd-Niedersachsen
sa und nicht wenige Kurgäste dürften ihn beneidenswerterweise bis das Umland mit dem (nunmehrigen) Haltepunkt Bad Sachsa, dessen
zum Endbahnhof benutzt haben. ehemals belebtes Empfangsgebäude heute verschlossen ist – auch hier
Der Fremdenverkehr ist in diesem heilklimatischen Kurort im „grüßt“ die Neue Bahn nur noch mit der toten Materie eines Fahr-
Landkreis Osterode seit Mitte des 19. Jahrhunderts der wichtigste kartenautomaten.
Wirtschaftszweig, den Zusatz „Bad“ trägt die Stadt seit 1905. Mit der Aus betrieblicher Sicht war Bad Sachsa freilich überhaupt kein
Fertigstellung der Bahnlinie Nordhausen – Northeim im Jahre 1869 Bahnhof, sondern lediglich eine Haltestelle mit angegliederter Aus-
wurde die An- und Abreise der Kurgäste wesentlich beschleunigt und weichanschlussstelle („Hst Awanst“, siehe auch Abbildung des Gleis-
erleichtert, jedoch lag anfänglich der einzige Bahnhof von Bad Sach- plans). Der Reisenden- und Publikumsverkehr zum Mittelbahnsteig
sa in Tettenborn (heute eingemeindeter Stadtteil, Haltepunkt bereits wurde durch ein Deckungssignal für Züge aus Richtung Walkenried
zum Beginn des Sommerfahrplans 1976 aufgelassen). Die Bahnhofs- gesichert; der Fußgänger-Bahnübergang zu den Bahnsteigen und zum
anlagen in Bad Sachsa selbst wurden erst 1898 errichtet. Heute verbin- Empfangsgebäude wurde wie eingangs erwähnt vom Schrankenwär-

80 ZEITREISEN
ter auf dem „Heideberg“ bedient. Die Grundstellung des Deckungssi- Herzberg oder Northeim zu bringen, um die ersehnen Anschlüsse in
gnals war meist geöffnet, es wurde nur bei haltenden Reisezügen auf alle Himmelsrichtungen zu gewährleisten. Das war 1975
Gleis 2 und einer gleichzeitigen Zugfahrt aus Walkenried geschlossen, In den Zugpausen konnte die Station Bad Sachsa zudem noch Anlässlich der Raumfahrtmission „Apollo-Sojus“ treffen sich USA
um keine Personen zu gefährden. Die Ladegleise der „Awanst“ wur- mit einer richtigen Bahnhofsgaststätte aufwarten. Ein Freund der und UdSSR erstmals im All, in Helsinki wird die Schlussakte zur
den per Sperrfahrt von Walkenried aus bedient, in den Siebziger- und Eisenbahn im Südharz und seiner anmutigen Gipskarstlandschaft Gründung der KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusam-
Achtzigerjahren meist mit Köf oder V 100. Hatte sich diese Fuhre in schildert hierzu im weltweiten Netz seine bildhaften Eindrücke: „Zu menarbeit in Europa, unterzeichnet und in der Bundesrepublik
Bad Sachsa „eingeschlossen“, konnten von Osterhagen nach Walken- einem richtigen Bahnhof gehört natürlich auch eine Bahnhofsgast- der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) aus
ried auch wieder reguläre Zugfahrten stattfinden. stätte. Und die gab es hier. Das Ehepaar Bornhausen bewirtschaftete der Taufe gehoben. Voll im Trend liegen in diesem Jahr Minigolf,
Bis in die Achtzigerjahre gab es auf der Ladestraße auch noch das Lokal. Es gab den Schankraum, einen Klubraum und einen Ki- Afri-Cola, ABBA, Plateau-Schuhe und Praktica-Kameras, „fein-
Culemeyer-Transporte – trotz dürftiger Gleis-Infrastruktur sind osk, der in der Schalterhalle war. Schon 1973 war die Auslage in den mechanische Optik“ aus der DDR. Mit berauschendem Offensiv-
spiel dominiert Borussia Mönchengladbach die Fußball-Bundesli-
Bahnhof/Haltestation Bad Sachsa also auch für Modellbahner und Glaskästen verblichen. Es waren kunstvoll drapierte (leere) Schoko-
ga, wird nach 1970 und 1971 zum dritten Mal unter Trainer Weis-
beispielsweise für ein markantes Diorama mit typischen Schienen- ladenschachteln der Marke Hachez. Nichtsdestoweniger gab es alles,
weiler deutscher Meister und gewinnt zudem den UEFA-Cup.
und Straßenfahrzeugen interessant. Denn immerhin existierten die was der Bahnreisende brauchte: Zigaretten, Bier (Paderborner) und
Ladegleise seit 1953 (Abriss 1990), die eine kleine Auswahl Zeitschriften. Für
von mehreren Gipswerken, einem Koh- Kinder gab es die übliche lose Auswahl
lenhändler und sonstigen Betrieben ge- ABGESEHEN VON SURRENDEN 515 UND an Haribo und Kirschlutschern (1 Pfen-
nutzt wurden. DIESELLOKS WURDE ES IM „PARADIES“ nig!). Die Gaststube war typisch, wie
Mag Bad Sachsa abgesehen von die- NACH DEM DAMPF-ENDE NOCH STILLER. viele andere Bahnhofsgaststätten damals
ser mitunter recht lebhaften Ladestelle NUR DIE BIRKEN RAUSCHTEN WEITER. auch. Dunkelbraune Vierertische mit ei-
auch seit jeher wenige Weichen, Signale ner rot-weiß karierten Tischdecke, die
und typische Attribute eines „richtigen“ Decke nikotinverbräunt, an der Decke
Bahnhofs besessen haben, so ging es hinter den Kulissen – also im hingen das ganze Jahr über Fliegenfänger, die ab und zu im Winter
Empfangsgebäude – dafür umso lebhafter zu. In dieser Station domi- dann herunterfielen. Es gab Wolters Pilsener vom Fass, 0,2 Liter für
nierte nämlich der Verkehrsdienst, also das Ausstellen von Fahrkar- neunzig Pfennig. Auch der Geruch war typisch. Etwas schales Bier,
ten sowie die Reisezugauskunft und Gepäckabfertigung. Zahlreiche Frittierfett, kalter Zigarettenrauch.“
Kurgäste und andere Besucher, für die im rund 8000 Seelen großen Da war der Rauch hier oben im „Paradies“ schon würziger: Der
Bad Sachsa bis zu 3000 Betten zur Verfügung standen, verlangten Schrankenwärter war erneut aus seinem Häuschen getreten, hatte mit
nach entsprechender Dienstleistung und belagerten die Fahrkarten- routinierten Kurbelumdrehungen die „Bengel“ heruntergelassen und
ausgabe und den Gepäckschalter. Zum Zeitpunkt des Einleitungsfo- wurde wenig später vom Abdampf und den Rauchgasen einer 50er
tos (1975) waren hier pro Schicht noch drei Mann beschäftigt (der nach Walkenried umnebelt. Vermutlich roch er das schon gar nicht
vierte saß als reiner Betriebseisenbahner eben oben im „Paradies“ mehr, aber es soll nicht wenige Eisenbahnfreunde gegeben haben, die
und kurbelte die Schranken). in solchen Momenten derlei Sinnlichkeit mit tiefen Lungenzügen zu
Die meisten Kurgäste hatten schon ihre Rückfahrkarte, also wur- verinnerlichen versuchten. Ab Sommerfahrplan 1976 war es auch
den hier mehr kursbuchwälzende Fahrplanauskünfte als Fahrkarten hier mit dieser exotischen Befriedigung des Geruchssinns vorbei, die
ausgegeben, Taxis bestellt und Anschlüsse zum bereitstehenden Bus dampfsüchtigen Narren verließen freiwillig das Paradies und pilger-
an der Ladestraße mitgeteilt – der eigentliche „Stadtkern“ von Bad ten nun zur letzten Gnadenbrot-Region namens Rheine und Emsland.
Sachsa liegt nämlich etwa zwei Kilometer nordwestlich des Bahnhofs. Der Schrankenwärterdienst auf dem Heideberg wurde wieder etwas
Der Gepäckmensch wuchtete täglich mehrere Dutzend schwere Rei- einsamer und dieser Arbeitsplatz vor allem ruhiger: Abgesehen vom
sekoffer auf seine orangefarbene Gepäckkarre, denn früher pflegten Aufbrummen der Dieselloks und dem Surren der Akkutriebwagen
die erholungssuchenden Kurgäste noch ihren halben Hausrat mitzu- rauschten hier nur noch die Birkenblätter im Wind, das Abblasen
nehmen – einschließlich altertümlichen Bügeleisen, Föhn-Geräten von Sicherheitsventilen war längst über alle Berge verhallt und hier
und Büchern. Da war das Packabteil des 515 oder des BDm nach bis in Bad Sachsa nur in einer einzigen Tonkonserve verewigt worden.
zu fünf Minuten Einlade- und Aufenthaltszeit schon ordentlich voll, Und in einem Foto: 050 578 mit Dg 45868, auf dem Bahnsteig drei
endlich konnte der Zugführer die Fuhre abpfeifen und der Lokfüh- verschreckte Reisende. Am 9. August 1975, einem heißen Samstag-
rer all seinen Ehrgeiz dreinlegen, den Zug doch noch pünktlich bis nachmittag um kurz nach zwei. Im Paradies. ☐

ZEITREISEN 81
1979 EISERNE HAND

EISERNE HAND
AUF DEM GIPFEL VON STIMMUNG UND STRECKE DER AARTALBAHN
TEXT JOACHIM SEYFERTH

JEDE STRECKE HAT IHREN HÖHEPUNKT. Oft im ästhetischen schwachen Triebfahrzeuge – egal ob frühere Dampflokomotiven oder
Sinne, dagegen niemals in erotischer Hinsicht, aber so gut wie im- spätere Schienenbusse und Akkutriebwagen – waren diese Steigun-
mer bezüglich ihrer geografischen Lage. Manchmal befindet sich gen in der Tat martialisch, weil zudem noch enge Gleisbögen hinzu-
der Kulminationspunkt einer Bahnlinie mitten auf der freien Stecke, kamen, die Spurkränze und Schienenköpfe deutlich hörbar malträ-
manchmal in einem Scheiteltunnel, manchmal oder sogar meist in- tierten. Gerade einmal 220 Tonnen schafften in den vier Jahrzehn-
mitten einer Station. Ob das 832 Meter hoch gelegene Sommerau an ten ab 1924 die 93er auf den Bergabschnitten; mit einer zusätzlichen
der Schwarzwaldbahn, die auf 2253 Meter über Normal-Null gelege- Schublok ließen sich immerhin 370 Tonnen Anhängelast befördern.
ne Station Ospizio Bernina der Rhätischen Berninabahn oder der mit Gerade die gut besetzten Personenzüge des Ausflugsverkehrs waren
„nur“ 372 Meter höchste Punkt der klassischen Nord-Süd-Strecke im oft genug auf eine solche Schublok angewiesen, um auf die Eiserne
osthessischen Sterbfritz. Doch auch unscheinbare Flachlandstrecken Hand gelangen zu können. Ohne Schublok und bei widrigen Wet-
haben irgendwo ihren Höhepunkt; im Laufe der Eisenbahngeschich- terbedingungen (Nässe, Laubfall) war das fahrplanmäßige Erreichen
te wissen zahlreiche „frei entlaufene“ und ungesicherte Wagen davon der Eisernen Hand nicht selbstverständlich, oft blieben insbesonde-
ein oft katastrophales Lied zu singen. Auf den Grafiken der Bildfahr- re Dampfloks und Schienenbusse liegen und mussten meist von der
pläne ist die Neigung einer Strecke in der Kopfleiste auf den ersten Station Chausseehaus her erneut Anlauf nehmen.
Blick zu erkennen und die Promille-Angaben sind gänzlich anders So unscheinbar die Station Eiserne Hand also in den letzten Bun-
zu verstehen als bei den abseits der Schienen befindlichen Lenkern desbahn-Jahrzehnten als bloßer Haltepunkt war, so wichtig war sie
von schlingernden Straßenkarossen. aber für Bahnpersonal und Fahrgäste bezüglich des „Aufatmens“. Ab
Die historische Ansicht zeigt das außergewöhnliche Stations- Der Höhepunkt der Aartalbahn zwischen Wiesbaden und Diez hier ging’s nur noch bergab, sowohl ins vierzehn Kilometer entfernte
gebäude um 1900. heißt Eiserne Hand. Auch hier also eine Station. Früher ein Bahnhof Wiesbaden als auch ins noch weiter entfernte Diez entlang des Aar-
FOTO: SAMMLUNG SEYFERTH
mit mehreren Gleisen, Weichen und einem Mittelbahnsteig, dann ein
Haltepunkt, aber immer 421 Meter über dem Meeresspiegel. Der Be-
griff Eiserne Hand bezeichnet hier den in verkehrstechnischer Hin-
sicht niedrigsten Übergang des Taunuskamms nördlich von Wiesba-
den, den Bundesstraße und Aartalbahn hier gemeinsam überqueren. Den besonderen Reiz der höchstgelegenen Station der
Allgemeinsprachig ist „Eiserne Hand“ ein historischer Ausdruck bzw. Aartalbahn mit dem etwas martialisch klingenden Namen
ein Flurname und bezeichnet in der Regel einen eisernen Wegwei- Eiserne Hand bringen das Gemütlichkeit ausstrahlende
ser, der insbesondere früher in Zeigerichtung als Hand ausgeformt Licht in der „Bahnhofswirtschaft“ und der Schienenbus
am Abend des frühwinterlichen 18. November 1979
war. Doch der leicht martialisch klingende Begriff bezeichnet bei der
ausdrucksstark zur Geltung.
Aartalbahn nicht nur die höchstgelegene Station, sondern auch die FOTO: JOACHIM SEYFERTH
beiderseitigen Bergstrecken von den Stationen Chausseehaus und
Hahn-Wehen mit Neigungen von bis zu 1:30, also ein Meter Steigung
auf 30 Meter Streckenlänge. Zu Recht, denn für die vergleichsweise

82 ZEITREISEN
ZEITREISEN 83
1979 EISERNE HAND

„Wanderführer“ des Bahnhofswirts aus


dem Jahr 1914. Der Begriff Waldbahnhof
verrät schon damals die interessante Lage
der Station, die dann allerdings bereits
1962 zum Haltepunkt herabgestuft wurde.
FOTO: SAMMLUNG SEYFERTH

Kopfleiste des Bildfahrplans der Aartalbahn.


GRAFIK: SAMMLUNG SEYFERTH

Die höchstgelegene Station der Aartalbahn war ein


beliebtes Ausflugsziel, natürlich auch für Winter-
sportfreuden – hier am 17. Januar 1982.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH

84 ZEITREISEN
Am Maifeiertag 1966 herrscht
Hochbetrieb am einsamen
Waldbahnhof. Die Frühlings-
Ausflügler kommen mit Schienenbus
und Automobilen.
FOTO: SAMMLUNG JAHR

flüsschens. In betrieblicher Hinsicht machte dies der Fernsprechkas- talbahn: Ganz früher reisten hier die betuchten Gäste der „Weltkur- „Der nicht nachlassende Publikumsandrang zu den Ausflugsfahrten
ten am Empfangs- und Gaststättengebäude deutlich, von dem aus die stadt“ Wiesbaden in den „Langenschwalbacher“-Wagen zum Dinie- in den Taunus zwang bald darauf zu einer auf Nebenbahnen ungewöhn-
Zugführer ihre Ankunft auf der Eisernen Hand den Fahrdienstleitern ren und Flanieren hinauf, später waren es unzählige Wanderer und lichen Maßnahme. Ab 1. Mai 1909 wurde in Dotzheim, Chausseehaus
in Wiesbaden-Dotzheim und Hahn-Wehen meldeten und somit für Ausflügler, je nach Jahreszeit mit Wanderstöcken oder Skiern und und Eiserne Hand an Sonn- und Feiertagen eine „Perronsperre“ ein-
Beruhigung sorgten. Allgemeine Ruhe herrschte hier im Gegensatz Rodelschlitten ausgerüstet. geführt, da die Zugschaffner mit den Fahrkartenkontrollen in den oft
zum üblichen Bahnbetrieb an den Werktagen, nur die nahe Bundes- Der Ausflugsmagnet Eiserne Hand sorgte dafür, dass an den Wo- überfüllten Wagen nicht mehr nachkamen. In den Sommermonaten
straße 54 beschert dem von Wald umgebenen Haltepunkt seit eh und chenenden nicht nur dieser unscheinbare Haltepunkt selbst, sondern Juli/September 1911 wurden allein im Bahnhof Dotzheim 62 000 Eisen-
je eine eher nervende Geräuschkulisse. Unter der Woche stieg hier auch viele andere sonst schwach frequentierte Aartalbahn-Bahnhöfe bahnfahrten verkauft, mehr als 10 000 mehr als im Vorjahr. 1912 zähl-
meist nur der Zugführer ein und aus, einzelne Wanderer und Jäger wie Waldstraße oder Wiesbaden-Dotzheim aus den Nähten platzten. te man in Dotzheim 174 047 Fahrgäste, im letzten Friedensjahr 1913
waren die auffallende Ausnahme. Hierzu seien zwei Textabschnitte aus dem Buch „100 Jahre Langen- schließlich fuhren 190 597 Passagiere ab.“ Und weiter heißt es: „Wie sehr
Aber an vielen Wochenenden des Jahres wurde die Eiserne Hand schwalbacher Bahn“ von Klaus Kopp zitiert, das 1989 vom Heimat- die Experten das Fahrgastaufkommen der Langenschwalbacher Bahn
nicht nur zum Höhepunkt, sondern auch zum Mittelpunkt der Aar- und Verschönerungsverein Dotzheim herausgegeben wurde: unterschätzt hatten, wird besonders am nahezu kontinuierlichen Aus-

ZEITREISEN 85
1979 EISERNE HAND

MOMENTE
AUF DER
„ EISERNEN“
Blick aus der Gaststätte auf den Museumsbe-
trieb mit ELNA-Lok am 27. Juni 1986 (oben).
Übergabe mit Stückgutwagen: 212 356 am
19. Januar 1983 (rechts Mitte).
Automaten aus der Bundesbahn-Betriebszeit
(rechts oben, 1983).
„Wintersportzentrale“ am Bahnsteig (rechts
unten, 1983).
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (4)

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ZEITREISEN 87
1979 EISERNE HAND

Symbolhafte Tafel an der Aartalbahn aus den letzten


Jahren des Planbetriebs: Die Straße „entlastet“ die
Straße und die Schiene bleibt auf der Strecke.

Eine besondere Stimmung umgab die Station Eiserne


Hand stets – ob in den letzten Bundesbahn-Jahren
(oben; Indusi-Messfahrt, 27. Oktober 1981) oder auch
noch heute mit verkrautetem Gleis (24. April 2012).
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (3)

88 ZEITREISEN
bau des Waldbahnhofs Eiserne Hand deutlich. Ursprünglich bestand die Sonderzug am 9. Mai 1976, als die „Eisenbahnfreunde Mainz/Wiesba-
Haltestelle nur aus einer schlichten Halle für die auf den Zug wartenden den“ die Aartalbahn mit einer TEE-Wagengarnitur, gezogen von zwei Das war 1979
Jäger und Waldarbeiter. Gegen Ende der 1890er Jahre kam ein beschei- V 100, befuhren. Annähernd komfortabel war auch die weiche Fe- Im Frühjahr werden „Die Grünen“ gegründet, im Herbst küren
dener Wirtschaftsbetrieb dazu. Dann entwickelte sich die Eiserne Hand derung der Akkutriebwagen 515 und 517, wogegen der Schienenbus CDU/CSU Franz Josef Strauß zu ihrem Kanzlerkandidaten für
aber mehr und mehr zum bevorzugten Ausflugsziel der Wiesbadener diesbezüglich nur die mitreisenden Eisenbahnfreunde begeisterte. die Bundestagswahl 1980. In bis dato nicht gekannter Dimension
und Mainzer und nicht zuletzt der vielen Kurgäste der Weltkurstadt, so Und wer Zeit und Muße hatte, stieg eben auch einmal werktags wird gegen Atomenergie demonstriert. Als erstes deutsches Res-
daß sowohl Dienst- als auch Wirtschaftsräume dem Andrang angepaßt auf der Eisernen Hand aus und ließ sich vom hiesigen Gaststätten- taurant erhält Eckart Witzigmanns „Aubergine“ drei Sterne im
werden mußten. 1906 entstand ein Dienstwohngebäude, die Wirtschaft Personal bewirten, in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts unter „Guide Michelin“. In der ARD läuft die 100. Folge der bis heute
erhielt 1909/10 einen umfangreichen, anderem mit dem an der Saar gebrauten erfolgreichen Krimireihe „Tatort“. In „Ein Schuss zuviel“ ermittelt
verglasten Gastraum und für den som- Karlsberg-Bier, das hier oben einmal lo- Hansjörg Felmy alias Kommissar Haferkamp in Essen. Die leider
WER ZEIT UND MUSSE HATTE, STIEG nur 20 Tatortfolgen mit Felmy haben heute Kultstatus. Mit der
merlichen Ausflugsbetrieb einen großen kaler Marktführer war. Auch 1979, dem
Doppel-LP „London Calling“ markiert die britische Band „The
Biergarten. Durch den Vortrieb eines EBEN AUCH EINMAL WERKTAGS AUF DER Zeitpunkt des winterlichen Schienen-
Clash“ um Joe Strummer einen Meilenstein des Punkrock. Und
Trinkwasserstollens (‚Schläferskopfstol- EISERNEN HAND AUS UND LIESS SICH bus-Fotos, konnte man hier gemütlich die Fußball-Bundesliga „rockt“ – aus heutiger Sicht kaum zu
len‘) hatte die Stadt Wiesbaden damals IN DER GASTSTÄTTE BEWIRTEN. sitzen, draußen die Züge und ihre Fahr- glauben – der Hamburger SV.
allerdings dem Bahnhofsgelände buch- gäste beobachten und in den langen Zug-
stäblich das Wasser abgegraben. In den pausen einen Blick in die ausliegende
ersten Monaten des Jahres 1909 mußte deshalb Wasser in Faßwagen Zeitung werfen, die von einem anderen Restaurant berichtete: Eckart
vom Bahnhof Dotzheim herangeschafft werden.“ Witzigmanns „Aubergine“ erhält im November 1979 als erstes deut-
Diese interessanten Details können den Fotos von der Eisernen sches Restaurant drei Sterne im „Guide Michelin“. Und die Bonner
Hand kaum allein entnommen werden, umso dankbarer können Politik wird von einer Großdemonstration gegen die Atomenergie
wir sein, dass Zeitzeugen und Chronisten diese Einzelheiten für uns „gestört“, während sie an anderer Stelle damit beschäftigt ist, ein we-
recherchiert und festgehalten haben. Das Eingangsfoto mit seiner nig scheinheilig Pläne zu dementieren, jedem Bundesbürger inner-
winterlichen Einsamkeit kann also „nur“ das Fluidum eines Bruch- halb von zehn Kilometern einen Autobahnanschluss zu gewähren.
stückes von Eisenbahngeschichte vermitteln, die zum Zeitpunkt der Also gleich zwei von drei Meldungen, die sogleich in Korrelation mit
Aufnahme im Falle der Eisernen Hand schon fast komplett geschrie- der Eisernen Hand stehen ...
ben war. Denn jene Einsamkeit, die den meisten Haltepunkten im Im Oktober 2004 wurde das Stationsgebäude durch ein Feuer stark
ländlichen Raum zu eigen ist, währte hier endgültig ab dem 23. No- beschädigt und anschließend annähernd der vorherigen Bausubstanz
vember 1962, als die Eiserne Hand zum Haltepunkt zurückgestuft wieder aufgebaut. Heute beherbergt es das „Restaurant Waldgeist“,
wurde und anschließend auch der Rückbau der Signale und Weichen das getreu dem aktuellen und übergeschnappten Größenwahn mit
vollzogen wurde. XXL-Speisen und -Getränken wirbt und mangels Zugfahrgästen ei-
Bereits seit Sommerfahrplan 1959 war der Waldbahnhof Eiser- nen großen Parkplatz bereithält. Doch die riesigen Schnitzel, über-
ne Hand nur noch an Sonn- und Feiertagen besetzt, werktags stan- langen Currywürste und Steaks in Backsteingröße kommen bei den
den deshalb beide Einfahrsignale Tag und Nacht auf freie Fahrt – ein Gast-Bewertungen im Internet nicht sonderlich gut weg: Masse statt
verbreitetes betriebliches Phänomen, das die Eisenbahner zwar kalt- Klasse mache zwar satt, aber den Gaumen nicht glücklich. Hier muss
lässt, aber mit Sicherheit so manchen aufmerksamen Fahrgast beun- eben wieder die Eisenbahn fahren, um auch die Esskultur „rund“ zu
ruhigt haben muss. machen, denn schließlich ist der Haltepunkt ein aktuelles „Kultur-
Zur Geschichte der Eisernen Hand gehört auch die Geschichte denkmal“ des Rheingau-Taunus-Kreises – freilich ein ebenso stump-
der bekannten „Langenschwalbacher“-Wagen, die eben extra wegen fes Schwert wie der Denkmalschutz, der, wenn es ernst wird, zumeist
den beiderseitigen Bergstrecken konstruiert wurden, weil die schar- doch nur mit Füßen getreten wird.
fen Krümmungen am besten mit zweiachsigen Drehgestellen durch- Doch auf den späten Höhepunkt einer Wiederinbetriebnahme
laufen werden konnten. Diese Wagen wurden hier fahrplanmäßig ab können wir noch lange warten und müssen uns derweil mit Aartal-
1. November 1891 eingesetzt und fuhren wegen ihrer betrieblichen bahn-Erinnerungen, dieser Zeitreise und vielleicht einer Strecken-
Eignung und wegen ihres Anklangs beim Publikum später auch auf wanderung durchs verkrautete Gleis auf den Höhepunkt aller Schie-
anderen Taunusstrecken. Komfortabler ist man auch später kaum nenwege und Stimmungen über und im Taunus, die Eiserne Hand,
über die Eiserne Hand gekommen – abgesehen von einem einzigen begnügen. Hoch soll sie leben! ☐

ZEITREISEN 89
1981 WEILBURG

WEILBURG
WINTER-MYSTIK UND HAUPTBAHN-ROMANTIK AN DER LAHN
TEXT JOACHIM SEYFERTH

NACH WEILBURG KOMMT MAN PLÖTZLICH. Zumindest se der Kerkerbachbahn). Und natürlich war die Lahntalbahn trotz
wenn man von West nach Ost reist – und das natürlich auf der Schiene. fehlenden Masten auch elektrifiziert: Nach dem Prinzip der kleinen
Eben noch linker Hand die Lahn mit einem Wehr, dann schon wie- „Eidechse“ summten die Akkutriebwagen der Baureihen 515 und
der ein Tunnel, der „Weilburger Tunnel“, 302 Meter lang und bereits 517 durchs Lahntal und zeigten dem knatternden Schienenbus von
auf gleichnamigem Stadtgebiet. Der V 100-Lokführer hat die Fahrt Wetzlar nach Weilburg, wie leise ein vierteiliger Eilzug von Koblenz
gedrosselt, das Tunnelende taucht auf, gleich danach ein Bahnüber- nach Gießen sein kann.
gang und eine Brücke über die Lahn. Schon ächzen die Drehgestel- All das öffnet natürlich auch das Herz der Modellbahner, die ent-
le der Silberlinge und 4yg-Wagen in den Weichen, ein Stellwerk, der lang der Lahnstrecke insbesondere an den idealen Örtlichkeiten von
Bahnsteig, quietschender Halt. Wir sind da, Bahnhof Weilburg im eben unserem Weilburg hängen bleiben: Ein Bahnhof mittlerer Grö-
Dezember 1981, am vorletzten Tag des Jahres. Sogar ein Fotograf hat ße mit vielen Rangiermöglichkeiten, ein kleines Bahnbetriebswerk,
die Einfahrt unseres Zuges vom Bahnsteigende aus aufgenommen. Formsignale und ein imposantes Empfangsgebäude, das ganze En-
Trotz eingeschränkter Sicht an diesem nebligen Wintertag zeigt das semble umschlungen von einem kleinen Fluss und obendrein noch
Alltagsbild die Essenz des Bahnhofs Weilburg: kleines Bahnbetriebs- ein Tunnelportal am westlichen Bahnhofskopf, das einen idealen
werk, Formsignale, Fahrdienstleiterstellwerk und Empfangsgebäude. Abschluss der Anlage bildet und die Gleise wie erwünscht in einen
Nicht mehr sichtbar sind der Berg und der Tunnel hinter dem Zugende unterirdischen Schattenbahnhof führt, in dem schon die „Limburger
sowie die „Eidechse“, die im niedrigen Schnee ihre Reifenspuren hin- Zigarre“ und die Köf mit ihrer Rangierabteilung aus Tonwagen auf den
Der Weilburger Tunnel führt direkt in den Bahnhof. Mit einem terlassen hat. So hießen umgangssprachlich die flinken Elektrokarren, nächsten Auftritt warten. Wer noch ein wenig mehr Platz hat, kann
Güterzug verlässt 050 034 im Jahr 1973, kurz vor Ende des Dampfbetriebs
die im Zeitalter des Gepäck- und Expressgutverkehrs die Bahnsteige auch gleich den einzigen noch erhaltenen Schiffstunnel in Deutsch-
beim Bw Limburg, hier soeben das Bauwerk.
FOTO: P. LÖSEL
unsicher machten und im Bahnhofsgebäude an einer Steckdose auf- land dazubauen, der sich nicht weit entfernt vom Eisenbahntunnel
geladen wurden – die Elektromobilität auf Asphalt ist also keine neue befindet und insbesondere im Sommer zur Gaudi von zahlreichen
(und fragwürdige) Innovation, sondern ein uralter Hut. Kanufahrern wird.
Eisenbahnfreunde ziehen vor der Lahntalbahn sowieso den Hut.
Eine der schönsten Eisenbahnstrecken Deutschlands, 130 Kilometer
lang, tunnelreich und teilweise bis heute noch von seelenloser Durch-
rationalisierung verschont. Im Jahre 1981 galt das erst recht, denn
trotz Beendigung des Dampflokbetriebes und Abbau ihrer Infrastruk-
tur blieb die Traktion auf der Lahntalbahn sehr abwechslungsreich:
Winterlich-mystische Atmosphäre in Weilburg
Die dicke 216 und die schlanke V 100 mit allen Baureihen-Versionen
am 30. Dezember 1981: Vor der Lahntalbahn,
von 211 bis 213 fuhren grundsätzlich erst einmal alle Zuggattungen ihren Bahnhöfen und der Landschaft ziehen
vom leichten Nahverkehrszug bis zum schweren Ganzzug, hinzu Eisenbahnfreunde seinerzeit den Hut. Die Haupt-
kamen die Köf und V 60 meist mit Übergabe- und Nahgüterzügen streckenidylle war nahezu einzigartig.
sowie auf Teilabschnitten sogar noch Privatbahnloks (beispielswei- FOTO: JOACHIM SEYFERTH

90 ZEITREISEN
ZEITREISEN 91
1981 WEILBURG
Die auf einem Felsrücken gelegene
Weilburger Altstadt zählt zu den schönsten
Stadtbildern im Lahntal. Die 515/815-
Einheit lässt den Ort hinter sich und fährt
Richtung Limburg (Mai 1980).
FOTO: GEORG WAGNER

Gleich wird der über die Lahnbrücke aus dem Bahnhof ausfah-
rende Nahverkehrszug im Tunnel verschwinden (September
1988). Interessant ist die Gleisführung um das Stellwerk.
FOTO: UDO KANDLER

92 ZEITREISEN
Die nächste warme Jahreszeit wird auch an diesem trüben Winter-
tag zur Sehnsucht. Doch am 30. Dezember 1981 ist eher die Zeit zur
Rückschau: Wie ist das Jahr persönlich gelaufen? Oder bei der Eisen-
bahn und in der Welt? Die Deutsche Bundesbahn vermeldet in ihrer
Rückschau jedenfalls eher statistische Werte: Demnach gab es 1981
genau 9465 Triebfahrzeuge und etwa 15 600 Reisezugwagen, 284 000
Güterwagen und 11 800 Bahndienstwagen. Auf 22 Streckenabschnit-
ten mit insgesamt 529 Kilometer Länge wurde der Reiseverkehr
auf Busbedienung umgestellt und auf zwölf Strecken mit insgesamt
129 Kilometer Länge wurde der Gesamtbetrieb eingestellt. Eigentlich
untröstlich, zumal die Neueröffnung eines Streckenabschnitts von ge-
rade einmal 2,1 Kilometer Länge dagegen eine Farce ist.
Grundsätzlich schwächte sich 1981 das Konsum-Klima in Deutsch-
land ab und die Zahl der Arbeitslosen stieg auf 1,25 Millionen. Der
Durchschnittslohn in Deutschland betrug 1981 1744 Mark, das Auto-
und Technikmuseum in Sinsheim wird eröffnet und Marianne Bach-
meier erschießt im Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter. In den
USA kommt Ronald Reagan an die Macht und kündigt den Bau der
Neutronenbombe an. Und wieder zurück in Weilburg, wurde hier
1981 im Ortsteil Kubach die einzige Kristallhöhle Deutschlands für
die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Geschichtsträchtig ist natürlich auch unser Bahnhof: Erbaut wurde
er zunächst als Endbahnhof der Lahntalbahn im Zuge der Eröffnung
der Teilstrecke zwischen den Bahnhöfen Limburg und Weilburg, die
am 14. Oktober 1862 in Betrieb genommen wurde.
Das denkmalgeschützte Empfangsgebäude wurde als spätklassi-
zistischer Bau von Heinrich Velde konzipiert und ähnelt den Bahn-
hofsgebäuden von Leun/Braunfels und Diez, die ebenfalls seinen Ent-

Melancholische Atmosphäre
umgibt das Weilburger
Empfangsgebäude an einem
Regentag im Februar 1984
(hinten die „Bahnsteig-
Eidechse“). Links der Gleisplan
des westlichen Bahnhofskopfes
um 1980 – 1985.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH,
GRAFIK: SAMMLUNG SEYFERTH

ZEITREISEN 93
1981 WEILBURG

Stadt, Land, Fluss: Rangierfahrt


mit einer 333, aufgenommen
oberhalb des Weilburger Tunnels
(18. April 1997).

Pure Melancholie: Bahnhof Freienfels an der stillgelegten


Weiltalbahn – einst erster Halt nach Weilburg in Fahrtrichtung
Grävenwiesbach (30. Dezember 1981).
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (3)

Summend steht die frühabendliche „Zigarre“ nach Gießen


abfahrbereit auf Gleis 3 (März 1980).

94 ZEITREISEN
würfen entstammen. Zwischen giebelständigen, erhöhten Kopfbauten te der Grube Waldhausen und der über den Ottostollen erschlosse-
befindet sich ein traufständiger Trakt mit vorgelagerter Pultdachhalle, nen Buderus’schen Eisenerzgruben im Norden und Osten der Stadt Das war 1981
die nach der Zerstörung im Krieg vereinfacht wiedererrichtet wurde. Weilburg. In der Mitte des 20. Jahrhunderts ging der Erzabbau an der Grundsätzlich schwächt sich 1981 das Konsum-Klima in Deutsch-
Die Gesimsbänder sowie die Giebel verfügen über Schmuckmotive. Lahn aber zurück, 1983 wurde die Förderung in der Grube Fortuna land ab und die Zahl der Arbeitslosen steigt auf 1,25 Millionen,
Heute beherbergt das von der Bahn AG im Jahre 2007 verkaufte und (Solms), dem letzten Erzabbau, eingestellt, im August fuhr der letzte der Durchschnittslohn in Deutschland beträgt 1744 Mark. In
sanierte Bahnhofsgebäude auch ein Hotel mit Restaurant sowie eine Erzzug. Ton, Schiefer, Kalk und Phosphorit wurden aber noch geför- Brokdorf und Bonn finden die bis dahin größten Demos gegen
Mobilitätszentrale der lokalen Nahverkehrsgesellschaft. dert und transportiert. Kernkraft und gegen den NATO-Doppelbeschluss statt. Gleich-
Am 1. November 1891 wurde die Weiltalbahn von Weilburg bis Nachdem in den Neunzigerjahren auch der durchgehende Gü- wohl scheint die Stimmung im Lande prima, die Neue Deutsche
Weilmünster eingeweiht und der zusätzliche Verkehr machte den Bau terverkehr auf der Lahntalbahn sukzessive vollständig zum Erliegen Welle mutiert von einer eher protest- und punkorientierten Un-
von Lokbehandlungsanlagen im Weilburger Bahnhof mit Lokschup- kam, hatte der Abschnitt Löhnberg – Wetzlar jahrelang überhaupt tergrundbewegung in eine sinnfreie musikalische Grauzone, das
Auto- und Technikmuseum in Sinsheim wird eröffnet, privaten
pen und Drehscheibe nötig. Nachdem die Fortsetzung bis Usingen keinen Güterverkehr mehr aufzuweisen und die in vielen Bahnhö-
TV-Programmen wird der Weg geebnet, das Film-Epos „Das
am 1. Juni 1909 in Betrieb genommen fen ursprünglich vorhandenen ausge-
Boot“ sorgt für volle Kinos und ein Fall von Selbstjustiz erschüt-
war, konnten die Züge – zeitweise so- dehnten Gleisanlagen wurden bereits tert die Republik: Marianne Bachmeier erschießt im Gerichtssaal
gar Eilzüge – von Weilburg bis Frank- WEILBURG WAR EINST BESTANDTEIL vor der Jahrtausendwende weitgehend den Mörder ihrer Tochter. Die Fußball-Bundesliga schwächelt, das
furt am Main durchfahren; Weilburg DER „KANONENBAHN“ BERLIN – METZ. abgebaut. Statt in Weilburg wird nun Zuschauerinteresse sinkt und Bayern München wird mit wenig
wurde zu einem kleinen Verkehrskno- UND HIER HIELT DER LEGENDÄRE im benachbarten Bahnhof Löhnberg an begeisternder Spielkultur nach 1980 schon wieder Meister. In den
tenpunkt und Umsteigebahnhof. Der EILZUG TRIER – WESTERLAND. Werktagen Ton verladen, der mit Last- USA kommt Ronald Reagan an die Macht.
Bahnhof Weilburg besaß ein „Eisen- wagen aus den Gruben im angrenzenden
bahn-Telegraphenamt für den öffent- Westerwald dorthin transportiert wird.
lichen Verkehr“, neben den ausgedehnten Gleisanlagen für den Gü- Löhnberg ist somit neben Limburg der einzige Unterwegsbahnhof
terverkehr eine Kopf- und Seitenrampe, einen 15-Tonnen-Kran so- entlang der gesamten Lahntalbahn, der noch im Güterverkehr be-
wie eine 40-Tonnen-Gleiswaage und ein Zollamt. Der allmähliche dient wird. Den Bahnhof Weilburg durchfahren nur noch verein-
Niedergang begann, als am 27. September 1969 der Personenverkehr zelte Ganzzüge zwischen Koblenz und Limburg sowie Kalkzüge der
zwischen Weilmünster und Weilburg eingestellt wurde; auf diesem Kerkerbachbahn.
Teilstück wurde noch bis zum 30. Januar 1988 Güterverkehr betrie- Trotz aller Nüchternheit im Eisenbahnbetrieb ist Weilburg auch
ben. Danach verlor der Bahnhof Weilburg seine Funktion als Kno- heute noch eine Reise wert, zumal sich die Stadt Weilburg und der
tenpunkt im Güterverkehr und der einstige Güterbahnhof wurde bis Landkreis sehr geschichtsbewusst geben und zahlreiche Initiativen
auf vier Gleise abgebaut. Auch Drehscheibe und Lokschuppen sind angeregt haben und aktiv pflegen, um die vergangene Wirtschafts-
längst verschwunden, sie wurden 1983 abgerissen und das Gelände kultur zu veranschaulichen (zum Beispiel das Programm „Geopark“)
der wuchernden Natur überlassen. Vor dem Hessentag in Weilburg und um Industriedenkmäler zu erhalten. Zeitreisen kann man dort
im Jahre 2005 wurden die Bahnsteige im Weilburger Bahnhof erneu- also in Hülle und Fülle erleben, natürlich auch auf der romantischen
ert und behindertengerecht umgebaut. Lahn und am betriebsfähig erhaltenen Schiffstunnel.
Bleiben wir noch ein wenig beim einstigen Güterverkehr, der ne- Viele andere Weilburger Zeitreisen sind von einer größeren Öf-
ben den vielfältigen Fahrzeugausprägungen des Personenverkehrs fentlichkeit freilich weitgehend unentdeckt und schlummern meist
den Charakter des Bahnhofs Weilburg entscheidend prägte. Denn im Maßstab 1:87 in weit verstreuten Modellbahnkellern. Und statt
Weilburg war einer der Mittelpunkte des Bergbaus im Lahntal, hier pannenträchtigen Neigezügen und neuzeitlichem Triebwagen-Ei-
befand sich das wichtigste Oberbergamt der Region. (Das Bergbau- nerlei lebt zumindest hier im kleinen Maßstab wieder die große Zeit
und Heimatmuseum Weilburg am Schlossplatz informiert heute den der Eisenbahn auf, denn Weilburg war immerhin einmal Bestand-
Besucher über Umfang und Methoden des Bergbaus im Lahn-Dill- teil der berühmten „Kanonenbahn“ zwischen Berlin und Metz über
Gebiet.) Natürlich war der Bergbau auch der Grund, warum sich Güsten, Wetzlar, Koblenz und Trier. Hier hielt der legendäre Eilzug
der Eisenbahnverkehr in der Region so schnell und stark entwickelt Trier – Westerland, hier wurden leise summende Akkutriebwagen
hatte. Die Lage im engen Flusstal bestimmte die enorme Längenaus- vom ständigen Gepolter im Rangierbahnhof übertönt und zusammen
dehnung des einst wichtigen Umschlagbahnhofs für regionale Gü- mit Stadt, Land und Fluss hatte der Eisenbahnbetrieb in Weilburg vor
ter und Bodenschätze. Der nördliche Teil des Bahnhofs umfasste die allem einen ganz besonders schönen, mittlerweile leider verschwun-
ausgedehnten Erzverladeanlagen, hier befanden sich die Sturzgerüs- denen Charakter: Hauptbahnidylle! ☐

ZEITREISEN 95
REISEBERICHT

NOCH MEHR SEHNSUCHTSORTE IMPRESSUM


BEREITS 28 FOLGEN der Serie „Zeitreise nach ...“ ZEITREISE NACH
...
TEXT UND BILDER:
JOACHIM SEYFERTH
ZEITREISE NACH ...

Bahn Sonderausgabe Bahn-KLASSIK


... Rippberg
Vormittag zwei
ie V 100 hat am

D
Rippberg ge-

... Assmannshausen
Ed-Wagen nach
das Ladegleis ran-

sind von Januar 2012 bis April 2014 im Eisenbahn-


bracht und auf
später ist ein
giert. Kurze Zeit mit seinem

KLASSIK
aus der Region und dem
Kohlenhändler
auber (Typ L 710) gerum- TEXT UND FOTOS: JOACHIM SEYFERTH
Mercedes-Kurzh

11 Sehnsuchtsorte: Zeitreisen 1951 – 1981


Schlepp zum Bahnhofmit dem
Förderband im

I
die staubige Arbeit Vormit- s alles so schön bunt hier!“, krähte die im
pelt und beginnt am Ostberliner Bezirk Friedrichshain aufge-
Noch ist Winter,
schwarzen Gold. über die Oden- wachsene Punk-Nachtigall Nina Hagen
Schneeschauer
tag sind kurze nach ihrer Emigration in den Westen auf
waldhöhen gezogen BILD ihrem 1978 erschienenen Album mit der Nina
und trotz aufgelo- MIT EINEM ALTEN

Journal erschienen. Hier die komplette Übersicht:


Hagen Band. Und damit meinte sie nicht nur
ckerter Wolkende- KANN MAN VERREISEN an die naive Freude an unschuldiger Farbenviel-
cke und zaghaften – nicht nur gedanklich
ver- Ort, sondern falt (immerhin hieß ihr bekanntester DDR-Hit
Sonnenstrahlen einen anderen
Zeit und „Du hast den Farbfilm vergessen“), sondern
raten die frischen auch in eine andere
dass in die eigene Vergangenheit. auch die farbübersättigten Verlockungen der
Temperaturen,

#BIO,-"44*,FSTDIFJOUJOEFS7FSMBHTHSVQQF#BIO(NC)
noch Tief in den Hirnwindungen westlichen TV- und
die Heizsaison
vergrabene und verloren ge- Konsumwelt, wel-
vor-
lange nicht glaubte Erinnerungen
wer-
che mit ihrer aus- MIT EINEM ALTEN BILD
Mon-
bei ist. Es ist den geweckt und
reanimiert,
tauschbaren Belie- KANN MAN VERREISEN
tag, der 16. Febru- Verknüpfungen
und Assozia-
bigkeit und ober-
– nicht nur gedanklich an
der
ar 1981, und Erlebnis-
tionen mit anderen kom- flächlichen Zer-
einen anderen Ort, sondern
wird auch in eine andere Zeit und
betagte Diesel sen und Erfahrungen streuung nicht nur
ein Stück
heute noch mehr-

Am Fohlenhof 9a, 82256 Fürstenfeldbruck


in die eigene Vergangenheit.
men hinzu. Nur diese Künstlerin ir-
be- Bild und Tief in den Hirnwindungen
mals leer und Papier, nur ein
ritierten. Denn die
d e n z w i s chen doch eine Zeitreise. Diesmal vergrabene und verloren ge-
l a Ripp- Siebziger waren das
Bahnhof und
Koh- ins Jahr 1981 nach glaubte Erinnerungen wer-
bis berg im Odenwald. in jeder Hinsicht den geweckt und reanimiert,
lelager pendeln, bunteste Jahrzehnt, Verknüpfungen und Assozia-
oder
am nächsten hüben wie drüben. tionen mit anderen Erlebnis-
Tag
übernächsten wieder ab- sen und Erfahrungen kom-
Lok die Wagen U nser E i nl ei -
irgendeine andere wie men hinzu. Nur ein Stück
früher so austauschbar auf tungsfoto zur Zeit-

1/2012 Bad Schwalbach 1966


zieht. Ein Alltag, tungen reise nach Ass- Papier, nur ein Bild und
Nahgüterzugleis

5FMt'BY
die werktäglichen historischer und doch eine Zeitreise. Diesmal
heute mannshausen ver-
den kleinen Strecken, sowie unwiederbring- anschaulicht diese
ins Jahr 1984 und nach Ass-
ferner als die D-Mark in den Sommern des Tatsache sogar noch
mannshausen am Rhein.
licher als Eis-Klassiker sechs Jahre später –
vergangenen Jahrhunderts. die gleiche
heutzutage an im Jahre 1984, am ganz gewöhnlichen Werk-
Denn wer sich wie über-
versucht, wird tag des 17. August, einem Freitag. Und genau
Stelle zu begeben vorfinden: Links wie die buntgeschädigte Nina Hagen eine sehr
all die neue Brachen-Bahn „zurückge-
zum Haltepunkt duale, wechselhafte (und natürlich auch ex-
und rechts des
nur Gestrüpp, überwucher-

2/2012 Passau 1963


zentrische) Person ist, genauso dual ist auch
bauten“ Bahnhofs alter
und partielle Okkupation dieses Bild: Auf der einen Seite ein unschul-

Chefredakteur
ter Altschotter für Auto
den Platzbedarf diges Eisenbahnfoto aus dem romantischen
Bahnflächen durch Gleis warn-
Vor dem einzigen in den re- Rheintal, konventionell und bieder ohne Raf-
und Gewerbe. ; das finesse fotografiert, eine Mischung aus Do-
en zahlreiche Hinweisschilder titulierte
als „Schandfleck“ kument und Touristenfoto. Auf der anderen
gionalen Medien zum nied-
de wurde kürzlich an- Seite ein gar schon gesellschaftspolitisches
Empfangsgebäu Betrag zum Verkauf und kulturelles Zeitdokument, insbesondere
rigsten fünfstelligen Bushaltestelle macht fast

Gerhard Zimmermann
ZEITREISE NACH
hiesige aus heutiger Sicht. Warum? Die Autos neben
geboten. Die ...
Eindruck und weil sich der fast ebenso farbenfrohen 112 sind es, die
einen gepflegteren mit ihrer Betonhaltigkeit

3/2012 Mainz Süd 1965


aufgrund ihrer relativen Langlebigkeit die von
Straße und Schiene
Nina Hagen betextete Buntheit der Siebziger-
jahre in die Achtziger gerettet haben, obwohl
zum Zeitpunkt der Aufnahme die Lebensfreu-

... Pfalzfeld
de und fröhliche Naivität des vergangenen
1981: Das dokumentarische
Rippberg im Februar in einem Pop-Jahrzehnts bereits abgeklungen war. Wo
damaligen Bahnhofsalltag
Bild zeigt den n. Zwischen jener sehen wir heute noch giftgrüne oder knallgel-
Odenwald-Örtche Brache an

Konzeption, Redaktion und Gestaltung


unscheinbaren be Autos? Spätestens seit den Neunzigern fah-
e und der heutigen
Kohlenverladeszen erzählen!
es allerhand zu
dieser Stelle gibt

6/2012 43
Eisenbahn-Journal Assmannshausen am 17. August 1984: Eine bunte

  )PSC 


Szenerie auf einem gewöhnlichen Foto, das an einem
gewöhnlichen Werktag im romantischen Rheintal-Ort

Gerhard Zimmermann
aufgenommen wurde – und ein gesellschaftspolitisch-
TEXT: JOACHIM kulturelles Zeitdokument der 80er, betrachtet man
SEYFERTH
nur die für damals typisch grellfarbenen Automobile.
Ein schöner Tag
fünf
legung. Wir knattern Wochen vor der Still-
von Boppard auf mit dem Schienenbus
40 Eisenbahn-Journal 5/2013 Eisenbahn-Journal 5/2013 41
die
42 Eisenbahn-Journal
6/2012 auf dem Steilabschnitt Höhen des Hunsrücks,
über den Hubertus-Via-

5/2012 Gemünden am Main 1965


dukt und durch
fünf
vorbei an Wäldern, Tunnel, nach Buchholz
Hochständen, Wiesen
den Stationsschilder und
sen, und Leiningen. n von Ehr, Emmelshau-
fener, der Himmel Die Landschaft wird of-
Triebwagen rollt

Eigentlich soll
unsere Wanderung
hinab ins Rheintal
am

hier
erscheint breiter
und unser
cke aus – Pfalzfeld! höchsten Punkt der Stre-

MIT EINEM ALTEN


KANN MAN VERREISEN
BILD
Titelgestaltung
6/2012 Rippberg 1981
nach St. Goar

,BUIMFFO#BVNBOO
be- – nicht nur gedanklich
ginnen, aber schon einen anderen an
Ort, sondern
nach wenigen Minu- auch in eine andere
Zeit und
ten Wegstrecke in die eigene Vergangenheit.
bli-
cken wir zurück Tief in den Hirnwindungen
und vergrabene und
halten inne. Hinter verloren
uns liegt ein liebli- glaubte Erinnerungen ge-
den geweckt und wer-
ches Postkartenmo- reanimiert,
tiv, das sofort an Verknüpfungen
und Assozia-

Autoren dieser Ausgabe


die tionen mit anderen
einzigartige Huns- Erlebnis-
sen und Erfahrungen
rück-Saga „Heimat“ men hinzu. Nur kom-

  "MUFOB 


des begnadeten ein Stück
und Papier, nur ein
im Hunsrück aufge- Bild und
doch eine Zeitreise.
wachsenen Regis- Diesmal
ins Jahr 1983 und
seurs Edgar nach
Reitz Pfalzfeld im Hunsrück.
erinnert: Ein ländli-

+PBDIJN4FZGFSUI ,POSBE,PTDIJOTLJ (FSIBSE;JNNFSNBOO 6EP,BOEMFS


ches Bahnhofsensem
Empfangsgebäu ble aus bescheidenem
de, rotem Schienenbus
vergleichsweise
üppigem Wasserturm, und
hinter in einer

8/2012 Pfalzfeld 1983


Talsenke die Straße da-
und nochmals zum Ort
der Bahndamm,
tels einer Kehre der hier mit-
die
Bahnhof gewinnt. letzten Höhenmeter zum
Nein, St. Goar
ten – vielleicht kann war-
ein
wir bleiben, denn andermal. Hier müssen

Bildbearbeitung und Litho


diese Heimat
Wochen Geschichte. ist in vier
gelegt und ohne Die Strecke wird
Eisenbahn ist der still-
keine Heimat mehr. Hunsrück
am 23. April 1983, Ein schöner Tag? Heute
ZEITREISE NACH ... genau fünf Wochen

9/2012 Bingerbrück 1980


der Stilllegung? vor
Die Rast vor

Fabian Ziegler
diesem Pfalzfelder
bild gibt neben
gemischten Gefühlen Weich-
wenig Raum für auch ein
die
seiner Eisenbahn: Geschichte vom Ort und

... Calw
Pfalzfeld wurde
Jahre 893 erstmals im fernen
der Besetzung urkundlich erwähnt.
des Mit
durch französische linken Rheinufers 1794
Revolutionstrup
TEXT UND FOTOS: JOACHIM SEYFERTH der Ort französisch, pen wurde
1815 wurde er
auf dem

Z
10/2012 Rüdesheim 1981
eitreisen werden immer dringlicher.

Lektorat
Denn in den letzten zwei Jahr-
38 Eisenbahn-Journal Pfalzfeld am 23.
zehnten hat 8/2012
sich Deutschland op- denn ein Stück
April 1983: Die
Idylle
tisch mehr verändert, als zwei Welt- urtypischer Heimatkultur trügt,
wenige Wochen
vor dem Verschwinden steht nur
kriege es vermochten. Gebäude und Infra- Landstrich im aus dem
Hunsrück. Ende
struktur, die endgültig in die Jahre gekommen das Knattern der Mai verstummte
Schienenbusse.
sind, wurden und werden mit fragwürdiger JOACHIM SEYFERTH

Manfred Grauer
Ästhetik ersetzt, gleich fünf neue Bundeslän-
der wurden grundlegend „saniert“ und sind
gesichtsloser als die Eisenbahn-Journal
alte Bundesrepublik 8/2012 39
geworden und eine MIT EINEM ALTEN BILD

 #BE4BDITB 


grundsätzlich be- KANN MAN VERREISEN ZEITREISE NACH ...
– nicht nur gedanklich an
grüßenswerte En-
einen anderen Ort, sondern
ergiewende lässt auch in eine andere Zeit und
verspargelte Land- in die eigene Vergangenheit.
schaften und mit

... Laufach
Tief in den Hirnwindungen
Solarflächen zer- vergrabene und verloren ge-
rissene Ortsbilder glaubte Erinnerungen wer-
entstehen. Alles hat den geweckt und reanimiert,

12/2012 Milspe Tal 1951


eben seinen Preis, Verknüpfungen und Assozia- TEXT UND FOTOS: JOACHIM SEYFERTH
auch wenn es „nur“ tionen mit anderen Erlebnis-
sen und Erfahrungen kom-

L
auf Kosten von aufach besitzt zwei interessante Kir-
Schönheit und An- men hinzu. Nur ein Stück
Papier, nur ein Bild und
chen – die kleinere „Petruskirche“
mut geht. Natür- nahe den Bahngleisen bei den Dü-
doch eine Zeitreise. Dies-
lich setzt sich die- ker-Werken sowie die „St. Thomas
mal ins Jahr 1983 und nach
ser Trend auch „im Morus-Kirche“, die dank ihrer auffälligen
Calw in Württemberg.
Kleinen“ bei der Ei- Architektur der Sechzigerjahre auf vielen Ei-
senbahn fort: heller senbahn-Panoramaaufnahmen von Laufach
Beton, überall die gerade Linie und Kante,

1/2013 Bebra 1980


sofort heraussticht. Ihre Bausubstanz aber
Lärmschutzwände. Ein anderer Krieg. bröckelt, der Seelsorger und seine Schäfchen
Auch Calw ist bedroht. Auf unserem gro- beten und betteln für
ßen Eingangsbild erscheint das städtische eine Sanierung. Den
Panorama mit klassischem Bundesbahn-Zug meisten Eisenbahn- MIT EINEM ALTEN BILD

Verlagsgruppe Bahn GmbH


zeitlos, für nahezu alle Zeiten von der Denk- KANN MAN VERREISEN
freunden, die die-
malpflege beschützt. Doch wir trauen uns – nicht nur gedanklich an
sen Ort besuchen,
nicht, diesen „erst“ 1983 entstandenen An- einen anderen Ort, sondern
dürfte dies aber egal auch in eine andere Zeit und
blick heute zu wiederholen, weil wir wissen, sein, denn ihr eigent- in die eigene Vergangenheit.
dass der Denkmalschutz ein stumpfes Schwert liches Heiligtum be- Tief in den Hirnwindungen
ist und ganz aktuell am nicht sehr entfernt lie- findet sich am west- vergrabene und verloren ge-
genden Stuttgarter Hauptbahnhof mit Bag- lichen Ortseingang glaubte Erinnerungen wer-

  &JTFSOF)BOE 


gern getreten wird. Weil die vielen Dächer zu von Laufach, gleich den geweckt und reanimiert,
sehr nach energieeffizienter Ausbeute verlo- hinter der Eisen- Verknüpfungen und Assozia-
cken und weil uns auch hier in Calw Straßen- bahnbrücke über die tionen mit anderen Erlebnis-

Am Fohlenhof 9a, 82256 Fürstenfeldbruck


neubauten zu Lasten alter Eisenbahntrassen Bundesstraße: Fast sen und Erfahrungen kom-
melancholisch werden lassen. Am großen, men hinzu. Nur ein Stück
... versteckt zwischen
ZEITREISE NACH ehrwürdigen Empfangsgebäude halten ohne-
UDO KANDLER
einem Dschungel Papier, nur ein Bild und
doch eine Zeitreise. Dies-
hin keine Züge mehr, ein neuer Haltepunkt TEXT UND FOTOS: von Büschen und
mit Parkhaus und Omnibusbahnhof in der mal ins Jahr 1981 und nach
Seelen zäh-

... Neunburg
Fahrleitungsmasten
Ortsmitte befriedigt Stadtplaner und erfreut mehr als 8000 Laufach im Spessart.
Wer die kaum Neunburg vorm
Wald stehen hier zwei di-
lende Pfalzgrafenstadt

  -JO[BN3IFJO 


Schwan- cke Lokomotiven
des Landkreises
sucht, wird im Osten fündig. herum, dazu eine Wartebude für die Lokführer.
Oberpfälzer Waldes
dorf am Rand des wird man die Ortschaft Das ist der „Altar“ von Laufach, hier befindet

5FMt'BY
Mit der Eisenbahn Verbindung sich die Keimzelle für den interessanten Ei-
Calw am 25. April 1983: Als damals der klassische kaum mehr in
indes unmittelbar schon vor ge- senbahnbetrieb auf den anschließenden sechs
Bundesbahn-Zug hoch über den schmucken Häusern wurde diese dort
hinwegdieselte, glaubte man in der Hoffnung auf Denkmal- bringen können, ch von der Land- Kilometern – die Spessartrampe nach Heigen-
pflege dieses Ortspanorama für immer als geschützt. raumer Zeit unwiederbringli
an der 28,4 Kilometer
brücken. Und das auch nicht an christlichen
Getäuscht! Sucht nach Energieeffizienz und Parkhäusern karte getilgt. Ehedem Feiertagen, sondern viel eher dienstags bis
sowie Geschmacksirrungen in Gestalt von Waschbeton messenden Lokal- BILD
freitags, wenn die Menschen näher beim Geld
mitten im Fachwerkambiente verhindern heute diesen Blick. bahn Bodenwöhr MIT EINEM ALTEN als bei Gott sind.
KANN MAN VERREISEN

  8FJMCVSHBOEFS-BIO 


Nord – Neunburg an Am 5. Februar 1981 standen dort aber
Rötz – nicht nur gedanklich
vorm Wald – Ort, sondern
nicht nur zwei dicke Krokodile, sondern vor
38 Eisenbahn-Journal 6/2013 Eisenbahn-Journal 6/2013 39 ge-
(ex KBS 423 d) einen anderen
Zeit und dem Exemplar 194 585 auch noch ein anderes
auch in eine andere

Geschäftsführung
lie-
legen, kann das Heiligtum: Das Auto, sehr sehr weit vor der
in die eigene Vergangenheit.
benswerte Städt- Eisenbahn das liebste Kind der Deutschen.
Be- Tief in den Hirnwindungen
chen in aller verloren ge- Es gehörte zum Stolz eines aus dem Raum
ei- vergrabene und
scheidenheit mit glaubte Erinnerungen
wer- Aschaffenburg kommenden Lokführers, der
be-
ner durchaus den geweckt und
reanimiert, neben einem zweiten Kollegen zum Dienst auf
vom
wegten, stark und Assozia-

5/2013 Assmannshausen 1984


Verknüpfungen den Schublokomotiven eingeteilt war und sich
bayerischen Lokal- Erlebnis-

Manfred Braun, Ernst Rebelein, Horst Wehner


tionen mit anderen kom- in der Wartebude mit Lesen, Dösen oder Kar-
kolorit geprägten sen und Erfahrungen tenspielen die Zeit bis zum nächsten schwe-
ich- ein Stück
Eisenbahngesch men hinzu. Nur ren Güterzug gen Heigenbrücken vertrieb.
Man Bild und
te aufwarten. Papier, nur ein Der bayerische Stahl des Lokomotiv-Reptils
in Dies-
muss allerdings doch eine Zeitreise.
und nach
das 19. Jahrhundert mal ins Jahr 1982
Wald.
zurückgehen,
will Neunburg vorm
den
man etwas über
Laufach am 5. Februar 1981: Bayerischer Stahl und
Ursprung des Bähn-
bringen. bayerisches chromblitzendes Blech geben sich ein Stell-

6/2013 Calw 1983


chens in Erfahrung z

Verlagsleitung
Lokalbahngeset dichein. Während der Ellok-„Reptil“ 194 585 soeben
Es war jenes bayerische 500 km umfassende vom Schubdienst auf der Spessartrampe zurückgekehrt
das knapp
von 1882, das en Ober- ist, wartet der Limousinen-Klassiker auf das Schichtende
der strukturschwach
Schienennetz in las- seines Besitzers in der örtlichen Fahrdienstleitung.
rund 400 km anwachsen km
pfalz um weitere 10,67
die zunächst auf
sen sollte. Darunter Bodenwöhr
Lokalbahn von
40 Eisenbahn-Journal 9/2013 Länge trassierte vorm Wald; die
Bau- Eisenbahn-Journal 9/2013 41

Thomas Hilge
Bahnhof nach Neunburg sion erging in
typisch
und Betriebskonzes ganz Gesetzeskonform
bayerischer Manier die fest im Sattel sitzen-
ZEITREISE NACH ... am 26. Mai 1892
an
. Ein Bähnchen,
de bayrische Staatseisenbahn z nie und nim-

  /FVOCVSH 


das ohne das Lokalbahngeset einer realistischen
den Hauch
mer auch nur gehabt hätte. Sinn
Chance auf Verwirklichung Gesetzes-

... Herzberg (Harz)


1882 geschaffenen
und Zweck der gezielte Förde-
schließlich die
vorlage war ja

Anzeigenleitung
durch die
er Landstriche
rung strukturschwach für eine
wesentlicher Garant
TEXT: KONRAD KOSCHINSKI
Eisenbahn. Ein Entwicklung war
aufstrebende wirtschaftliche unabdingbar mit

8/2013 Wiesbaden West 1984


Jahrhundert
im vorletzten

D
as Ende war seit 1974 vorherge-
sagt. Mit Aufnahme des durch-
gehenden elektrischen Betriebs

#FUUJOB8JMHFSNFJO %VSDIXBIM

von Osnabrück über Löhne bis


Die Zeiten,
August 1982:
Braunschweig würden die Lehrter und Ott- Wald am 23.
Neunburg vorm eine V 100 des
Bw Schwandorf,
berger Dampflokomotiven abgestellt. Doch in die
als dreimal wöchentlich rote wie hier,
selbst kurz vor dem Fahrplanwechsel am 30. eine klassisch Waldes
womöglich noch des Oberpfälzer
Mai 1976, dem nun „amtlichen“ Termin für chaft am Rande Lokalbahn
ZEITREISE NACH 8000-Seelen-Orts
längst entrückt.
Die an der einstigen
wird heute
den Dampfabschied, mochte es kaum jemand ... tuckerte, sind
gelegene Pfalzgrafenstadt gebracht.
in der Fangemein- Bodenwöhr – Rötz in Verbindung
mit der Eisenbahn
de so recht wahrha- wohl kaum noch

  -BVGBDI 


MIT EINEM ALTEN BILD

Anzeigensatz und Anzeigenlayout


ben. Noch im Win- 7/2013 45
KANN MAN VERREISEN Eisenbahn-Journal
ter 1975/76 benö-
– nicht nur gedanklich an

... Oldenburg
tigte das Bw Lehr-
einen anderen Ort, sondern
te laufplanmäßig auch in eine andere Zeit und
13 Maschinen der in die eigene Vergangenheit.
Baureihe 050 – 053, Tief in den Hirnwindungen
setzte das Bw Ott- vergrabene und verloren ge-
bergen regulär eben- glaubte Erinnerungen wer-

10/2013 Weinheim 1984 &WFMZO'SFJNBOO 

so viele „Jumbos“ den geweckt und reanimiert,


7/2013
44 der Baureihe 044
Eisenbahn-Journal Verknüpfungen und Assozia-
ein. Außerdem be- tionen mit anderen Erlebnis-
schäftigten beide sen und Erfahrungen kom-
Bahnbetriebswerke men hinzu. Nur ein Stück
Papier, nur ein Bild und TEXT UND FOTOS:
zahlreiche Loks in JOACHIM SEYFERTH
doch eine Zeitreise. Dies-

O
Sonder- und Bereit-
mal ins Jahr 1976 und nach ldenburg Hauptbahnhof
schaftsdiensten.
Oldenburg Hauptbahnhof!, hier

Vertriebsleitung
Herzberg im Harz.
Damit sollte nun Der
eingefahrene
schlagartig Schluss Eilzug von Gos-
lar fährt
sein? Einen derart umfangreichen Dampfbe- nach Wilhelmshaven.um 10.18 Uhr weiter
Sie haben Anschluss

 )FS[CFSH )BS[


 
trieb konnte man doch nicht über Nacht auf zu einem Nahverkehrszug
Null runterfahren! Aber als sich trotz Rest- über Cloppenburg, nach Osnabrück
zweifeln das Ende klar abzeichnete, reiste Quakenbrück,
Abfahrt 10.17 Bramsche,
Uhr auf Gleis sechs.
der Fotograf aus Berlin eine Woche vor be- Nahverkehrszu Zu einem
sagtem Planwechsel nach Herzberg (Harz) – g nach Leer

&MJTBCFUI.FOIPGFS 

Abfahrt 10.22 über Ocholt,


so geschrieben der Bahnhof, die Stadt heißt Uhr
auf Gleis zwei.
Herzberg am Harz. Wenigstens einmal noch Zu
einem Bahnbus
nach MIT EINEM ALTEN
wollte er die ihm schon von früheren Besu- Rastede, Abfahrt BILD
KANN MAN VERREISEN
chen vertraute Szenerie erleben. Im an der 10.27 Uhr auf – nicht nur gedanklich
Südharzstrecke Northeim – Nordhausen ge- dem an
Bahnhofsvorp einen anderen Ort, sondern
latz

 ,PSEFM 


legenen Knotenbahnhof fand die Zollabfer- und zu einem Bahn- auch in eine andere
tigung von Güterzügen in und aus der DDR Zeit und
bus nach Wüsting, in die eigene Vergangenheit.
statt, weil der eigentliche DB-Grenzbahnhof

Vertrieb und Auftragsannahme


Abfahrt 10.30 Tief in den Hirnwindungen
Walkenried dafür zu klein war. Dabei wurden Uhr vergrabene und
ebenfalls auf verloren
dem glaubte Erinnerungen ge-
sie teils neu zusammengestellt und meistens Bahnhofsvorpl
atz. den geweckt und wer-
umgespannt: ostwärts von Ottberger 44ern auf Oldenburg, hier reanimiert,
Lehrter 50er, westwärts natürlich umgekehrt. Ol- Verknüpfungen
denburg!“ und Assozia-
Am 22. Mai 1976 brachte die 051 816 den tionen mit anderen
So oder ähnlich Erlebnis-
sen und Erfahrungen

1/2014 Elters 1981


Dg 45867 über die innerdeutsche Grenze hin- schallte es kom-
anno men hinzu. Nur
weg bis Ellrich. Das Einstiegsbild in unsere 1979 aus über ein Stück
Papier, nur ein

1FUSB4DIXBS[FOEPSGFS 
*OHSJE)BJEFS 
/JDPMF'SJFEM 

Zeitreise zeigt den Zug beim Passieren des ei- Bild und
nem Dutzend Bahn- doch eine Zeitreise.
Wärterstellwerks „Ho“. Von den vier Ausfahr- steiglautsprech Diesmal
ern ins Jahr 1979 und
signalen haben drei verkürzte Flügel, während in der niedersächsi- nach
Oldenburg/Kreis
Oldenburg.
schen „Metropole“
Oldenburg und
die interne Vorschrift
Ansagedienst auf für den
dem Stellwerk
Herzberg (Harz) am 22. Mai 1976: Mit voller Kraft auch vor, den Ortsnamen sah demnach
Ansage noch auch am Schluss
beschleunigt 051 816 vor Dg 45867 nach Ellrich aus einmal in doppelter der

Marketing
ZEITREISE NACH
dem ...
Bahnhof heraus vorbei am Stellwerk Ho. wiederholen –
man ist eben wichtig.Form zu
KONRAD KOSCHINSKI Universitätsstad Man ist

  0MEFOCVSH 


t, nach Hannover
schweig – man und Braun-
mag es kaum
drittgrößte Stadt glauben – die
40 Eisenbahn-Journal 11/2013 Eisenbahn-Journal 11/2013 41 Niedersachsens
der Oberzentren und
dieses Bundeslandes. eines

... Kordel
Minuten Zeit haben Zehn
gäste im Eilzug die durchreisenden
von Goslar nach Fahr-
ven, um sich vom Wilhelmsha-

5IPNBT4DIBMMFS 
,BSMIFJO[8FSOFS 

geöffneten Abteilfenster
Treiben auf dem
TEXT UND FOTOS: JOACHIM SEYFERTH Bahnhof anzuschauen: das
und her surrende Hin

3/2014 Mainz Hbf 1982


Gepäckkarren,
Bremsen, ratternde quietschende

W
er mit der Eisenbahn von der Kofferkulis, Reisende,
rotbemützten den
Mosel mitten durch die Eifel Aufsichtsbeamt
Arbeiter, der mit en und einen
an den Rhein fährt, hat – ange- einem breiten
Tapetenkleister Pinsel voller
kommen in Köln – angesichts ein aktuelles Werbeplakat
dem HB-Männchen mit
der vielen Sinneseindrücke schon wieder drapiert. Großstadtbahnh auf eine Reklamefläche

Außendienst, Messen
vieles vergessen. So auch das unscheinbare of eben.
Und zwischen
Städtchen Kordel, der erste Halt nach dem Be- all
211, dort eine 220 dem nagelt es. Hier eine
ginn der Eifelstrecke hinter den großen Bahn- und
mehr oder weniger nebenan eine 216, alle
anlagen von Ehrang. Kuckuckslay-Tunnel, in Dieselschwaden
die Burg Ramstein, und
das Flüsschen Kyll

  #BMEVJOTUFJO 


40 Eisenbahn-Journal MIT EINEM ALTEN BILD
2/2014 und eben Kordel –
KANN MAN VERREISEN
alles schon wieder

$ISJTUPQI,JSDIOFS 6MSJDI1BVM
– nicht nur gedanklich an Oldenburg, 18.
verdrängt und ver- August 1979:
In der Diesel-Hochburg
einen anderen Ort, sondern geben die Motoren
gessen. Der Kölner den Ton an. Und
auch in eine andere Zeit und nenhalle des Bahnbetriebswerk vor der Schiebebüh-
Dom ist eben ge- in die eigene Vergangenheit. nahezu alle gängigen s tummeln sich
waltiger. Wir aber Dieselloktypen.
Tief in den Hirnwindungen
kehren noch einmal vergrabene und verloren ge-
zurück, an unseren glaubte Erinnerungen wer-
Eisenbahn-Journal
Schienenweg mit- den geweckt und reanimiert, 2/2014 41
ten durch die Ei- Verknüpfungen und Assozia-
fel, an unser Ziel
anno 1982, Kordel
statt Köln. Hier sind
die typischen Sin-
neseindrücke der
Hauptbahn durch
die Eifel sofort prä-
tionen mit anderen Erlebnis-
sen und Erfahrungen kom-
men hinzu. Nur ein Stück
Papier, nur ein Bild und
doch eine Zeitreise. Diesmal
ins Jahr 1982 und nach
Kordel in der Eifel.
Vertrieb Pressegrosso und Bahnhofsbuchhandel
.;7(NC)$P,( 0INTUSB•F 6OUFSTDIMFJ•IFJN
sent, während der
Streckencharakter von der rheinischen Me-

*O7PSCFSFJUVOHTJOEVB
tropole aus erst allmählich an Fahrt gewinnt.
Also steigen wir gleich nach Ehrang an der
Station mit dem hintergründig klingenden Na-
men aus und steigen auf einen der zahlreichen
Berge, die den Ort und das Tal der Kyll um-
schließen. Aus dieser Vogelperspektive gibt es

1PTUGBDI 6OUFSTDIMFJ•IFJN 5FM 'BY


viel zu entdecken, nicht nur den gerade ein-
laufenden E 2805 aus Köln mit seiner durch
...
ZEITREISE NACH

Bammental 1983
einen Stückgutwagen bereicherten Zugkom-
JOACHIM SEYFERTH position. Der Bahnsteig am Innenbogen muss
TEXT UND FOTOS:

... Mainz Hbf


wohl gerade erneuert worden sein, für die da-
en zu sein ist neben abgestellten älteren Schiebedach-Gü-
in Mainzelmännch

E
einfach. Insbeson-
manchmal nicht terwagen dürfte die Nutzungszeit aber wohl
den mit der Brille, abgelaufen sein, denn die Verwendung von
dere für „Det“,

Druck
Schlaumeier gilt.
der bei allen als sich vom
kaum noch benötigten Nebengleisen für aus-
1982 hatte er gemusterte Wagen ist gerade im „Dunstkreis“
Am 6.  November zum Main-
dem Lerchenberg von großen Rangierbahnhöfen (hier Ehrang)
ZDF-Sitz auf hinabbegeben,
um mal
keine Seltenheit. Der Güterschuppen und die
zer Hauptbahnhof

Zwiesel 1954
Bahnsteigen lustzuwandeln scheinbar im Umbruch befindlichen Anlagen
wieder auf den
Zugbetrieb anzuschauen. der Kordeler Kleinindustrie stehen im Kont-
und sich den regen
ab- rast zum ansonsten geschlossenen Ortsbild, in
Und neben dem

ESVDLTFSWJDFEVJTCVSHNFEJFOGBCSJL(NC)$P,(
BILD dessen Mitte ein Baukran weiteren Zuwachs
fahrbereiten N 7512 MIT EINEM ALTEN ZEITREISE NACH ...
mit KANN MAN VERREISEN
nach Koblenz an
der schiebenden – nicht nur gedanklich
dem Ort, sondern
141  099 kam einen anderen Kordel in der Eifel am 21. September 1982: Aus der
Zeit und
Wicht plötzlich
die auch in eine andere Vogelperspektive zeigt sich ein geschlossenes Ortsbild
in die eigene Vergangenheit.

... Balduinstein
in
Eingebung, dass diesseits der Bahnstrecke, im Umbruch befindliche Klein-
Jahren Tief in den Hirnwindungen industrie jenseits des Güterschuppens und ein klassischer,
gut dreißig verloren ge-
ein- vergrabene und 215-geführter Eifelbahn-Eilzug mittendrin. Ein Bild, das
hier in Mainz wer-

5IFPEPS)FVTT4US %VJTCVSH/FVNàIM
glaubte Erinnerungen Modellbahner zum Nachbau anregen müsste.
mal fast alle Räder den geweckt und
reanimiert,
stillstehen würden, Verknüpfungen
und Assozia- TEXT: JOACHIM SEYFERTH
gar
weil dem dann Erlebnis-
tionen mit anderen kom-

E
36 Eisenbahn-Journal 12/2013 neu- Eisenbahn-Journal 12/2013 37 in Bahnhof mit Signal und ein Zug.
nicht mehr so sen und Erfahrungen
ein Stück Für normale Betrachter eine nicht
en Zentralstellwerk men hinzu. Nur
Bild und einzuordnende Szenerie, aufge-
das Bedienungsper- Papier, nur ein
Diesmal nommen überall und nirgends. Ei-
sonal ausgegangen doch eine Zeitreise.
nach
war – mit der
Folge ins Jahr 1982 und senbahnfreunde – jedenfalls die meisten von
bun- Mainz Hauptbahnhof. ihnen – wissen allein schon anhand des zwerg-
tagelanger und
wüchsigen Formsignals und der „Zigarre“ so-
desweiter Verspä-

%JF&+"VTHBCFOoTJOEEJHJUBMBVG
fort, wohin das Foto zu verorten ist: natürlich
tungen und Zugaus- der Aufmacher
Abends sogar nach Balduinstein, gelegen an der Lahntal-
fälle, die eines auch bei der
(und natürlich bahn zwischen Ko-
in der Tagesschau g) waren. Und
blenz und Limburg,
hauseigenen „Heute“-Sendun diese damals völlig MIT EINEM ALTEN BILD
einer Strecke mit
Det war so unvorsichtig, seinen fünf KANN MAN VERREISEN
Vorhersehung reicher Vergangen-
unglaubwürdige zu erzäh-
en-Kollegen weiter
– nicht nur gedanklich an
heit und wohl eher
Mainzelmännch zweifelten einen anderen Ort, sondern
seiner Schlauheit
len, die fortan an von Auftritten
unspektakulärer Zu- auch in eine andere Zeit und
zunächst sogar kunft. Denn „schö-
und den Armen „Der Große Preis“
mit in die eigene Vergangenheit.
in der ZDF-Quizshow ner“ wird die Stre- Tief in den Hirnwindungen

EFSKFXFJMJHFO+BISFT%7%C[XFSIÊMU
Wim Thoelke ausschlossen. dann end- cke keinesfalls mehr vergrabene und verloren ge-
2013 war Det sein, ferngesteuerte glaubte Erinnerungen wer-
Im Spätsommer uns noch

"MMF3FDIUFWPSCFIBMUFOÃCFSTFU[VOH /BDIESVDL 3FQSPEVLUJPOPEFSTPOTUJHF


Wir alle können be- Signal- und Schran- den geweckt und reanimiert,
lich rehabilitiert:
eingetretene Desaster der kenanlagen werden Verknüpfungen und Assozia-
an das tatsächlich Personalpolitik das (noch) örtliche tionen mit anderen Erlebnis-
züglich der sparwütigen die in Mainz ja nur sen und Erfahrungen kom-
erinnern, Bedienungsperso-
Deutschen Bahn bildete (auch in
Bebra
men hinzu. Nur ein Stück
die Spitze des Eisbergs gar nichts mehr). Was nal verschwinden
Papier, nur ein Bild und
fast lassen und so ge-
ging beispielsweise grünen
Bild mit dem doch eine Zeitreise. Diesmal

Vervielfältigung – auch auszugsweise und mithilfe elektronischer Datenträger – nur


wir dem unschuldigen aber auch entnehmen nannte Stations-Sa-
099 ins Jahr 1979 und nach
Knallfrosch 141 nierungen werden

MJDIEJF"VTHBCFOoTJOEBLUVFMMOPDIMJFGFS
sah frü- Balduinstein an der Lahn.
Hauptbahnhof
können: Der Mainzer– großzügig, lichtdurch- die schon jetzt halb
aus verschüttete Sub-
her ganz anders und niedrigen
De-
flutet, keine Rolltreppen stanz historischer Bahnhofsinfrastruktur voll-
eine luftige Bahnhofshalle, ends verschwinden lassen. Natürlich auch in
cken. Stattdessen
Balduinstein, wo demnächst ein neuer Au-
ßenbahnsteig – dort, wo auf dem nebenste-

mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags.


henden Eingangsfoto gerade der Käfer fährt
stehen – das Überqueren von Gleis 1 durch Reisende
1982: Im Hauptbahnhof
Mainz, 6. November in vermeintlich zu haltenden Zügen nach Limburg überflüssig
Lokomotiv-Klassik
Gebäude- und aber herrscht

CBS#F[VH%7%VOE)FGUFàCFSEFO7(#7FSUSJFC
gemacht werden soll.
Einklang. Tatsächlich Landeshaupt-
beschaulichem of der hessischen In den Augen von uns Eisenbahnfreunden
im Durchgangsbahnh rastloser Zugverkehr. wird der Bahnhof nicht mehr wiederzuerken-
stets
stadt schon damals
nen sein, ganz im Gegensatz zur Szene vom
3/2014 39 14. September 1979, in der eine dreiteilige

Für unverlangt eingesandte Beiträge wird keine Haftung übernommen.


Eisenbahn-Journal
„Zigarre“ mit 517 005 an der Spitze zwei
Reisende entlassen hat und zur Weiterfahrt
bereit ist. Der Zugführer, beäugt vom Fahr-
dienstleiter an der Tür des Dienstraumes, hat
eine Tür der mittleren Einheit geschlossen

,POUBLUTJFIF*NQSFTTVNSFDIUT

und läuft nun zum ersten „Wagen“, um von
dort den Abfahrauftrag zu geben und nach der
Abfahrt die Fahrkarten weiterer Fahrgäste zu

Zzt. gilt die Anzeigenpreisliste vom 1.1.2014.


3/2014
38 Eisenbahn-Journal
kontrollieren. Auf der abschüssigen „Brühl-
straße“ rollt ein Käfer zeitgemäßer Bauart in
Richtung Bahnübergang und Ort, neben dem

Balduinstein, 14. September 1979: Klassische


Szene im Bahnhof mit dem Zwergsignal an der
Lahntalbahn. Eine dreiteilige „Zigarre“ mit 517 005

44 Eisenbahn-Journal 4/2014
an der Spitze wartet auf die Weiterfahrt.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH

Eisenbahn-Journal 4/2014 45
Bahn-KLASSIK 2014*4#/

96 ZEITREISEN
LITERATUR
,MBVT,PQQ +BISF-BOHFOTDIXBMCBDIFS#BIO )FJNBUVOE7FS
TDIÚOFSVOHTWFSFJO%PU[IFJNF7 8JFTCBEFO

Wolfgang Edelmann/Joachim Seyferth, Die Dampflokomotiven des
#BIOCFUSJFCTXFSLFT-JNCVSH %BNQG3FQPSU 8JFTCBEFO

.BUUIJBT'VISNBOO )STH
%FVUTDIF#BIOCFUSJFCTXFSLF 4BNNFM
XFSL (FSB/PWB7FSMBH

4JFHGSJFE #VGF /FCFOCBIOFO JN 1BTTBVFS -BOE #VGF'BDICVDI
7FSMBH

Rainer Moll, Ansgar Völmicke, Dirk Wiemann, Rudolf Ahrens, Bernd
.BVSFO%JF&OOFQFUBM#BIO"SEFOLV7FSMBH )BHFO
%S3PMG-ÚUUHFST)BHFO)CGo&OOFQFUBM"MUFOWPFSEF#FJUSBHJN
4BNNFMXFSL/FCFOVOE4DINBMTQVSCBIOFOJO%FVUTDIMBOE ‫&ڀ‬S
HÊO[VOHTBVTHBCF
(FSB/PWB7FSMBH .àODIFO
Siegfried Baum, Schwäbische Eisenbahn – Die Verkehrsgeschichte
EFS-PLBMCBIOFOJO.JUUFMTDIXBCFO 7FSMBH8PMGHBOH;JNNFS &QQ
TUFJOJ5BVOVT

"MUFOFEFS4DIàTTMFS  %JF /FCFOCBIOFO EFS #% .àODIFO 7FSMBH
$‫ڀ‬,FSTUJOH #POO

Zeitschrift Eisenbahn-Journal EJWFSTF.POBUTVOE4POEFSBVTHBCFO
#BVSFJIFO#àDIFSEFT&,7FSMBHT

Aufbruch zu neuen Zielen: Auf der Zeitreise-Agenda im


„Eisenbahn-Journal“ stehen noch zahlreiche Sehnsuchtsorte
der klassischen Eisenbahn, die es zu besuchen gilt.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH

ZEITREISEN 97
DIE GROSSE ZEIT DER EISENBAHN
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