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Bahn
KLASSIK
1951 – 1981
Zeitreisen
Orte
Best.-Nr. 721401
ISBN 978-3-89610-405-2
Bahn-Klassik 1 ∙ € 10,-
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Tel. 08141/534810, Fax 08141/53481-100, bestellung@vgbahn.de
Bahn-KLASSIK #1
LIEBE LESER, die Verlagsgruppe Bahn heißt Sie zur ersten Ausgabe von „Bahn-KLASSIK“ willkommen! Die völlig neu kon-
zipierte Publikation stellt gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar. Bahn-KLASSIK wird sich in ganz spezieller Herangehensweise
unkonventionellen Themen aus den großen Tagen der klassischen Eisenbahn widmen, also grob umrissen aus dem Zeitraum 1950 – 1990.
Bahn-KLASSIK wird dort ansetzen, wo die – in der Regel sowieso hinlänglich bekannte – technische Seite aufhört, und stattdessen die
Eisenbahn in der jeweiligen Themenstellung über den üblichen Tellerrand hinaus betrachten, Bahn-KLASSIK wird sich Themen wid-
men, die den Kontext zwischen Eisenbahn und Zeitgeschichte herstellen; Themen, die Eisenbahn nicht als isolierte Technik abstrahieren,
sondern als Verkehrsmittel, das auch den jeweiligen gesellschaftlichen Zeitgeist transportiert und kulturelle Aspekte widerspiegelt; The-
TITELFOTO (MILSPE TAL, 1951): HELMUT SÄUBERLICH
men, die das reisekulturelle und atmosphärische Spektrum der Bahn beleuchten und dabei nicht zuletzt liebenswerte, emotional bewegen-
de oder auch mitunter schrullig-skurrile Details am Rande hervorheben. So auch beim Thema dieser ersten Bahn-KLASSIK-Ausgabe, das
schon per se ein Novum bildet: „Zeitreisen zwischen 1951 und 1981 an 11 Sehnsuchtsorte“. Anders als bei herkömmlichen Porträts von
Regionen, Strecken, Bahnhöfen oder Bahnbetriebwerken werden die elf ausgewählten „Sehnsuchtsorte“ nicht allumfassend von der Eröff-
nung der Eisenbahn bis heute oder bis zu einer Stilllegung beschrieben, sondern schlaglichtartig im Fokus eines bestimmten Jahres vor-
gestellt. Das Jahr, in das die jeweilige Zeitreise führt und den jeweiligen Zielort wie eine Momentaufnahme beleuchtet, ergibt sich aus dem
Aufnahmezeitpunkt einer besonders markanten Fotografie, die den Aufhänger der jeweiligen historischen Erzählung bildet. Neben dem
Situationsbericht zum betreffenden Jahr beschreiben wir einfühlsam die besondere Atmosphäre, die Aura und das Charisma der jeweili-
gen Örtlichkeit im Zusammenspiel mit dem gerade herrschenden Zeitgeist und ergründen in Text und Bildern die Emotionalität, die den
jeweiligen Sehnsuchtsort ausmacht. Dies führt letztlich dazu, dass man sich nichts anderes mehr wünscht als mit einer Zeitmaschine um-
gehend an diese elf Sehnsuchtsziele zur klassischen Eisenbahnzeit zurückversetzt zu werden. Natürlich werfen wir, mal knapper, mal et-
was ausführlicher, auch einen kurzen Blick aus dem gewählten Zeitreise-Fenster hinaus auf die Jahre zuvor und danach und binden zudem
– ebenso mal mehr, mal weniger – auch gesellschaftliche, kulturelle und politische Ereignisse in die Betrachtungen ein. Bei den elf ausge-
wählten Sehnsuchtszielen handelt es sich um Orte, die teils schon von der Eisenbahn-Landkarte verschwunden sind, sich teils bis heute
komplett verändert oder aber auch noch viel aus den klassischen Eisenbahntagen ins Heute hinübergerettet haben. Mit ideengebend war
die von mir konzipierte Serie „Zeitreise nach ...“, die seit Anfang 2012 in unserem monatlichen Eisenbahn-Journal erscheint und in der eini-
ge Orte bereits vorgestellt wurden. Die entsprechenden Kapitel sind in der vorliegenden Ausgabe aber völlig neu gestaltet und mit zusätzli-
chen sowie bisher unveröffentlichten Bildern versehen worden. Für ein empathisches Einleitungskapitel zu den elf Zeitreisen sorgt zudem
ein besonders prägnant bebildertes Essay. Womit nur noch auf ein weiteres Novum hinzuweisen bleibt: Die neue Reihe Bahn-KLASSIK
präsentiert sich in einem ausdrucksstarken und hochwertig aufgemachten Querformat. – Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Gerhard Zimmermann, Chefredakteur
ZEITREISEN 3
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4 ZEITREISEN
FAHRPLAN
6
16
BAHN-KLASSIK #1
EDITORIAL 3
36
ABFAHRT
74
DIE STÄRKSTE DIMENSION 6
1957 LINZ 22
58
1960 ALTENA 28
1963 PASSAU 36
1968 ELLZEE 58
DIE STÄRKSTE DIMENSION
←←
1971 HORB 68 1951 MILSPE TAL
1975 BAD SACHSA 74 ← 1963 PASSAU
1968 ELLZEE
←←
1979 EISERNE HAND 82 1975 BAD SACHSA
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2), HELMUT SÄUBERLICH,
1981 WEILBURG 90 ARCHIV JAHR, SIEGFRIED BAUM
REISEBERICHT
IMPRESSUM, LITERATUR ETC. 96
ZEITREISEN 5
DIE
ABFAHRT
STÄRKSTE
DIMENSION
DIE ZEIT, DAS REISEN UND DIE KLASSISCHE EISENBAHN
TEXT JOACHIM SEYFERTH
6 ZEITREISEN
Westerwälder Wintermorgen: Einen Moment scheint
am 15. Januar 1997 bei Niederzeuzheim die Zeit
stehen zu bleiben. Mit den Telegrafenmasten als
Zeugen der Dekaden und dem immer wiederkehrenden
Sonnenaufgang verschmelzen auf den allem Wandel
trotzenden Anhöhen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, Geschichte und Geschichten – Zeitreise.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
ZEITREISEN 7
ABFAHRT
DIE ZEIT WURDE ERSCHAFFEN, damit nicht alles gleichzeitig Archäologe schafft oder erhält mit seiner vermeintlich „rückwärts-
geschieht. So oder ähnlich beschrieb ein kluger Zeitgenosse einmal gewandten“ Arbeit Zukunftswissen für spätere Generationen und ist
das größte Phänomen und den mächtigsten Herrscher des Univer- absolut gleichgerichtet mit dem Astronomen, der mit seiner futuris-
sums. Die Zeit ist mit nichts anderem beschäftigt, als ihre Dimension
tischen Technik Zeitreisen bis zum Urknall versucht.
nach dem Urknall in alle Welten zu verteilen und eine Reihenfolge zu Aber muss man wirklich so fundamental zu den Sternen und zu den
kreieren. Würde alles auf einmal geschehen, würde nichts geschehen.Gesetzen des Universums greifen, um das Phänomen von unschuldi-
Und würde alles wieder in sich zusammenfallen und in das Stadium gen Zeitreisen zu mehr oder weniger fernen Eisenbahn-Epochen zu
vor dem Urknall zurückgeführt werden, gäbe es auch keine Zeit mehr veranschaulichen? Man muss nicht, aber es hilft. Wir alle versuchen
– die ultimative Erstarrung von allem. uns an der Zeit und an der Verteilung. Als neugierige Wesen wollen wir
Das Urwesen der Zeit ist also die Verteilung. All unser Schicksal
in andere Zeiten reisen, um zu sehen, was die Verteilung gemacht hat –
hängt von Verteilung ab: von der Verteilung der Materie und Ener- die Richtung spielt keine Rolle, eine so bedeutsam und einflussreich
gie im Universum, von der Verteilung der Elemente auf unserem Pla- wie die andere. Die einen schauen eben nach vorn, die anderen zu-
neten, von der Verteilung der Samen in fruchtbare Schöße, von der rück. Letzteres ist freilich beruhigender und befriedigt unseren Trieb
Verteilung der natürlichen Ressourcen, von der Verteilung von Nah- nach Sicherheit, weil die Vergangenheit zumindest unmittelbar nicht
rung und Energie, von der Verteilung des Wetters, von der Verteilung
mehr verändert werden kann. Was aber nicht ausschließt, dass neue
von Geld, Macht, Chancen, Unglück und Liebe. Nahezu alle Krisen, Erkenntnisse aus der Vergangenheit beunruhigend sein können und
Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten sind zu neuen Verteilungen in Gegenwart und Zukunft führen können.
durch Mängel in der Verteilung verursacht. Und die Welt, die wir se- Wir sind ständig auf Zeitreisen. Ob wir uns erinnern, ob wir für
hen und empfinden, ist durch ständige Verteilung und Umverteilung die Zukunft planen, ob wir eine Biografie oder einen Science-Fiction-
innerhalb der Zeit entstanden. Roman lesen, ob wir unseren Eltern und Großeltern zuhören oder
Und weil die Zeit und mit ihr die Verteilung so rastlos und domi-
ob wir Lebensträume entwerfen. Ob wir alte Filme anschauen oder
nant sind, sind wir zu ihrem Bestandteil geworden und reisen durch Wanderungen durch unbekanntes Terrain unternehmen. Oder ob
Rastlos, dominant, unendlich, Zeit erstarrt nie, auch
wenn Uhren stehen bleiben. Dann ist ein einziger
unser Leben, als temporärer, weil sterblicher Gast im Universum. Jedes
wir alte Eisenbahnfotos anschauen und ihre begleitenden Texte lesen.
Moment fixiert – oder eingefroren, wie am 5. Januar Individuum durchlebt eine Zeitreise und sorgt selbst nach dem Tod für
Zeitreisen sind seit jeher ein alter Menschheitstraum, Wissenschaft-
2010 in Wiesbaden-Dotzheim. eine neue Verteilung von Geist und Materie – ob Mooswurzel, Made ler beschäftigen sich nicht nur nach Albert Einstein mit ihrer phy-
FOTO: JOACHIM SEYFERTH oder Mensch. Ja, wir werden wiedergeboren – aber nicht als „fertiges“
sikalischen Möglichkeit, Schriftsteller und Künstler machen sie zum
anderes Wesen oder gar als ähnliches Individuum, sondern in Form lebendigen Gegenstand ihrer Werke. Die Reise zum Mittelpunkt der
Erde, zu fernen Galaxien oder zu unserem Vater
vor unserer Zeugung können wir bislang nur in der
MUSS MAN WIRKLICH SO FUNDAMENTAL ZU DEN STERNEN bildhaft gemachten Fantasie durchleben, während
UND ZU DEN GESETZEN DES UNIVERSUMS GREIFEN, UM DAS PHÄNOMEN die Zeitreisen in einem Museum, beim Blättern
VON UNSCHULDIGEN ZEITREISEN ZU MEHR ODER WENIGER FERNEN in einem Fotoalbum oder am Wagenfenster einer
EISENBAHN-EPOCHEN ZU VERANSCHAULICHEN? Dampfsonderfahrt schon gegenständlicher sind.
MAN MUSS NICHT, ABER ES HILFT. Zeitreisen können auch eine kurze Erinnerung oder
ein Déjà-vu-Erlebnis sein. Und insbesondere schon
leicht in die Jahre gekommene Medien, egal ob Ra-
einer trilliardenfachen Verteilung unserer Atome, die mit unzähliger dio, Fernsehen, Schallplatte oder Tonband, versetzen uns ständig in
Materie, Energie und den Genen der Nachwelt verschmelzen und in Zeitreisen – verrauschte Stimmen auf einem alten Tonband, von Ge-
unzähligen neuen Lebens- und Gegenstandsformen weiterexistie- brauchsspuren übersätes Zelluloid, aus der Zeit gefallene Hörspiele
ren. Nach dieser zumindest nicht eindeutig widerlegbaren und von oder die verknisterten Töne auf schwarzem Vinyl ganz besonders.
Biologen unterstützten These werden wir schlicht verteilt und sind Doch im Prinzip ist jede modernere Übertragung, die nicht „live“ ist,
damit Bestandteil und Helfer der Zeit, dieser stärksten Dimension. bereits eine Zeitreise – wenn auch eine kurze. Dies gilt insbesondere
Im Bewusstsein dieses Schicksals ist unser Streben ausschließlich in auch für die gedruckten Medien: Was heute in der Zeitung steht, ist
die Zukunft gerichtet, denn unser aller derzeitiges Tun spiegelt sich bereits gestern oder noch früher geschehen, bei einem Wochenblatt
in der näheren oder weiten Zukunft wider. Selbst der Historiker oder oder einer Monatszeitschrift liegen die Zeitpunkte der Geschehnisse
8 ZEITREISEN
Was längst eliminiert wurde, macht Zeitreisen
besonders eindrücklich und individuell:
Warteraum in Gau-Odernheim (Februar 1985) .
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
ZEITREISEN 9
ABFAHRT
ZEITREISEN 11
ABFAHRT
schon bei der Errichtung ihrem neuerlichen Austausch ausgeliefert.
Vor diesem Hintergrund sind Zeitreisen nichts anderes als die Sehn-
sucht nach Beständigkeit, nach einem Ruhepol, nach Trost und nach
der Beantwortung von fundamentalen Fragen. Ist die Zeitreise gar
eine Flucht vor der gegenwärtigen Zeit, eine mentale Reise in eine
vermeintlich bessere Zeit? Dabei spielt die Richtung wie bereits er-
wähnt keine Rolle, denn die Ziele von Zeitreisen sind sowohl Historie
als auch ferne Zukunft – in die Sentimentalität der Dampflokzeit oder
in die Hoffnung auf das Paradies auf neuen Planeten.
So taucht der Begriff der Zeitreise immer häufiger auf, im Fernse-
hen sowieso. Die Abendprogramme zeigen mehr oder meist weniger
gute Spielfilme mit Zeitreise-Drehbuch und an Feiertagen wird die
nachmittägliche Sendezeit schon seit jeher mit kitschigen Heimatfil-
Zeitreisen leben von prägenden Details, men aus den Fünfzigern aufgefüllt, bei denen oft und unvermittelt
Emotionen und Flair: Reisekultur im Schalter- sogar originale Eisenbahnszenen aus der Epoche 3 auftauchen und
raum (Rippberg, März 1981), Frühlingsahnen im
selbst hartgesottene Ignoranten dieses Genres an das Fernsehgerät
Silberling (Edertal, Mai 1987), Schnellzug-Klassik
mit Bahnsteig-Imbiss (Bebra, Oktober 1980). stürzen lässt. Hinzu kommen die zahlreichen Zeitreise-Dokumentati-
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (3) onen in den Regionalprogrammen, die historische Straßenszenen mit
uralten Straßenbahnen bereithalten und die Klassik-Autos namens
Käfer, Kadett und Kapitän an der Bahnschranke zeigen – P 8 und 01
inklusive. Besonders in Krisenzeiten, in denen sich die jammervol-
len Deutschen ja prinzipiell ständig befinden, haben derartige Zeit-
reisen in vermeintliche Romantik und zu Wirtschaftswunderjahren
Konjunktur, eine rund siebzigjährige Friedensepoche bietet ja auch
genug zeitlichen Rahmen für eine wehmütige Rückschau.
Interessant ist, dass nicht nur bei solchen Zeitreisen die sonst so
hoch eingestuften Fakten, Probleme und sonstigen widrigen Begleit-
umstände plötzlich verblassen – Emotion, Flair oder gar Verklärung
sind jetzt die dominanten Stichworte. Völlig sicher in dem Gefühl,
diese fernen Zeiten mehr oder weniger erfolgreich durchlebt zu ha-
ben, saugen wir dankbar die prägenden Details und das pittoreske
Weichbild von Land- und Ortschaften auf. Bildschnipsel von Müll-
männern, die kunstvoll schwere Blechtonnen an den Straßenrand
drehen, oder von Schaffnern in schweißtreibenden Uniformen, die
sich im Anhänger von Schnauzen-Omnibussen mühsam durch die
Fahrgäste quälen und Fahrscheine lochen, goutieren wir mit ebenso
viel Erstaunen und Wehmut wie eine alte Landstraße in offen-aufge-
räumter Landschaft oder die geschäftige Szene beim Halt eines Per-
sonenzuges im Dorfbahnhof.
Ganz Mensch, geraten wir ins Schwärmen und sind voll der Be-
wunderung und Genugtuung, in welcher Form das Leben früher ge-
meistert wurde. Und beim medialen Geschichtsunterricht spüren wir,
dass sich im Prinzip nichts und doch wiederum alles geändert hat –
das „Was“ ist meist geblieben, nur das „Wie“ hat sich vehement ver-
ändert. Den gut besetzten Personenzug gab es einst und gibt es jetzt,
12 ZEITREISEN
Trügerisch zeitlos und doch dem sicheren Untergang
geweiht: Alltagsszenen stehen besonders im Zeitreise-Fokus
und zeigen im Vergleich die deutlichsten oder auch nur
wenige Unterschiede, wie an diesem Bahnübergang mitten
in Altenkirchen (Mai 1982).
FOTO: MARKUS ENGEL
ZEITREISEN 13
ABFAHRT
ZEITREISEN 15
1951 MILSPE TAL
MILSPE TAL
WANDLUNGEN EINES BESONDEREN BAHNÜBERGANGS IM ENNEPETAL
TEXT KONRAD KOSCHINSKI
FAST HUNDERT METER liegen zwischen den Schrankenbäumen, steig führende Durchgangsgleis. Geradeaus wäre die Weiche zum (auf
die auf dem in unsere Zeitreise einstimmenden Bild zu sehen sind. dem Bild mit dem VT 70.9 kaum erkennbaren) Nebengleis gestellt, das
Das ist das eigentlich Besondere an der von Helmut Säuberlich am hinter dem Empfangsgebäude als Ladegleis endet. Der an der Rampe
11. September 1951 prächtig abgelichteten Szenerie – weniger die ni- des Güterschuppens stehende Wagen indes befindet sich auf dem aus
veaugleich die Eisenbahn querende Straßenbahn, denn solche Kreu- Richtung Gevelsberg angeschlossenen Ladegleis. Zwei weiteren La-
zungen gab es in seiner „Heimatdirektion“ Wuppertal mit ihrem degleisen wendet der Fotograf den Rücken zu, sie liegen in Fahrtrich-
engmaschigen Schienennetz oft. An der Schranke im Vordergrund tung Altenvoerde hinter der „Hammerteichbrücke“. Außerhalb des
fällt deren improvisiert wirkende Verlängerung über das meterspu- Blickfelds, hinter der Ausfahrt Richtung Gevelsberg-Nirgena, zweigt
rige Straßenbahngleis auf. Wohin die nach rechts blickende Radlerin das Anschlussgleis zur Gießerei Stockey & Schmitz ab.
schaut, wird ein aus anderer Perspektive aufgenommenes Foto zeigen. Auf dem Bahnsteig haben sich zahlreiche Reisende eingefunden,
Den zu ihrer Linken haltenden Opel Kapitän (Modell ’48 oder ’50) was darauf schließen lässt, dass sich die Schranken bald für den nächs-
beachtet sie offenbar nicht. Auch der heranrollenden, von einem VT ten der im Stundentakt verkehrenden Züge senken werden. Zuvor
70.9 geführten Triebwageneinheit schenkt sie momentan keine Auf- aber passiert der altehrwürdige Wagen 13 der Straßenbahngesellschaft
merksamkeit. Und wir müssen das Bild schon genau betrachten, um Ennepe den Bahnübergang. Das auch schon recht betagte Cabriolet
rechts hinten den zweiten Schrankenbaum und die davor wartende wird ihm doch wohl nicht in die Flanke fahren?
Straßenbahn zu erkennen.
Die Szenerie spielt an der Ennepetalbahn, die am Bahnhof Mils-
Schon zu Zeiten der Pferdefuhrwerke galt der pe Tal beim Streckenkilometer 11,915 im spitzen Winkel die Kölner
Bahnübergang in Milspe Tal als „gefährlich“, war aber
Straße heißende B 7 kreuzt. Von Gevelsberg-Nirgena bis hierher folgt
noch ungesichert. Aufnahme aus dem Jahr 1905.
FOTO: SAMMLUNG WIEMANN
die eingleisige Bahntrasse der B 7. Auf der hinter dem Bahnübergang
sichtbaren Brücke quert sie den Obergraben genannten Zulauf zum
Hammerteich. Unmittelbar danach – seit dem Ausgangspunkt Hagen Regionale Verkehrsgeschichte hat der Fotograf der Bundes-
Hbf zum vierten Mal – überquert sie die Ennepe und erreicht dann bahndirektion Wuppertal am 11. September 1951 beim
weiter flussaufwärts nach knapp zwei Kilometern ihren Endbahnhof Bahnhof Milspe Tal dokumentiert. Hier kreuzte die
Altenvoerde, wo die Triebwageneinheit losgefahren ist. Die bis 1956 Ennepetalbahn im spitzen Winkel die Kölner Straße samt
betriebene Straßenbahnlinie übrigens führte auf ihren letzten Kilo- Straßenbahngleis. Die hundert Meter auseinanderlie-
metern abseits der B 7 zur außerhalb des Tals gelegenen Endhalte- genden Schrankenbäume hatte der Bahnübergang damals
stelle Voerde. erst kurz zuvor zur Sicherung erhalten.
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH
Wir bleiben noch an der Station Milspe Tal und beziehen in Ge-
danken den ebenfalls von Helmut Säuberlich eingenommenen Foto-
standpunkt schräg gegenüber an der „Hammerteichbrücke“. Der von
der Weiche im Vordergrund abzweigende Strang ist das zum Bahn-
16 ZEITREISEN
ZEITREISEN 17
1951 MILSPE TAL
18 ZEITREISEN
Wer darf zuerst den Bahnübergang
passieren? Häufig gerieten hier
Straßenbahn und Individualverkehr in
Konflikt.Geradeaus führt ein Ladegleis
hinter den Bahnhof und vorne am
Bahnhof ist ein Ladegleis aus Richtung
Gevelsberg angeschlossen.
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH
Autos und die eingleisige, daher zwangsläufig auch auf der „fal- per Noth einer Collision mit dem Zuge entgangen sind ...“ Doch die um 1950 fotografierte Helmut Säuberlich dort den von der 78 430
schen Seite“ entgegenkommende Straßenbahn gerieten im Ennepe- Direktion lehnte ab, denn der Verkehr auf dem genannten Übergang geführten Zug (hinter der Lok offenbar ein C4i-35 oder -36, dahin-
tal öfters miteinander in Konflikt. Außerdem wurden die zahlreichen betrage „durchschnittlich täglich von 7 Uhr morgens bis 5 Uhr abends ter ein „Hecht“-Wagen!). Jedenfalls gehörte die 78 430 in der frühen
niveaugleichen Kreuzungen mit der Eisenbahn aus Sicht der Auto- 82 Personen und 25 Fuhrwerke“; er sei demnach „nur als sehr gering Nachkriegszeit zum Bw Wuppertal-Langerfeld und kam 1952 zum Bw
mobilisten immer mehr zum Verkehrshindernis. Ja, schon zur Zeiten zu bezeichnen“. Folglich blieb der Übergang ohne Schranken, doch Wuppertal-Vohwinkel. Die 91 1524 war lange in Hagen beheimatet
der Pferdefuhrwerke galten sie als gefährlich. wies die Direktion darauf hin, „dass sämtliche Züge und Lokomoti- und wanderte 1943 an die Ostfront ab, ihr weiteres Schicksal liegt im
So setzte sich das Amt Voerde bereits 1897 für die Errichtung ei- ven bei der Fahrt von Voerde nach Milspe-Thal vor dem Übergang Dunkeln. Bekanntermaßen jedoch kamen auf der in den 1930er Jah-
ner Barriere am hinter der Ennepebrücke beim Streckenkilometer so langsam zu fahren haben, dass der Zug noch vor dem Übergang ren schon mal stündlich mit Triebwagen bedienten Ennepetalbahn
12,135 gelegenen Bahnübergang „An der Kehr“ ein, so genannt we- sofort zum Halten gebracht werden kann, sobald ein Hindernis auf im Krieg und auch danach preußische T 9.3 (91.3–18) erneut regulär
gen der unweit des Bahnhofs beginnenden Kehre der von Südosten demselben bemerkt wird“. vor Personenzügen zum Einsatz. Ab Winter 1948/49 wurde das stark
kommenden und in Richtung Nordosten weiterfließenden Ennepe. Wann der Übergang „Kölner Straße“ am Bahnhof Milspe Tal mit reduzierte Zugangebot wieder zum Stundentakt ausgeweitet, wobei
Am 29. November 1897 schrieb der Amtmann an die Königliche Ei- Schranken versehen wurde, ist nicht überliefert. Sehr wahrschein- neben Steinbecker VT 70.9 mit VB 140 oder VB 147 zunächst weiter-
senbahndirektion Elberfeld: „An dem Bahnübergang der Thalbahn lich vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Aufnahmen (wie die hin Dampfloks der Baureihen 91.3–18 und 78 sowie auch V 36 den
Hagen – Voerde an der Kehr hierselbst ist die Herstellung einer Sicher- aus der Sammlung Gerhard mit 91 1524 vor einem nach Altenvoerde Verkehr bestritten. Ab 1956 übernahmen Schienenbusse (VT/VS 98)
heitsvorrichtung (Barriere) ein unbedingtes Erfordernis. Schon wie- ausfahrenden Personenzug) zeigen den Übergang unbeschrankt. Mit die Leistungen. Nach Einrichtung einer Ladestation für Akkutriebwa-
derholt ist es vorgekommen, dass Führer von Fuhrwerken mit knap- vage „um 1948/49“ datierte Fotos zeigen ihn mit Schranken. Wohl gen in Altenvoerde erschienen 1962 die ETA/ESA 150.
ZEITREISEN 19
1951 MILSPE TAL
Den Güterverkehr bewältigten bis Mitte der 1960er Jahre fast nur
Dampflokomotiven. 44er schleppten die schweren Erz-, Kohle- und
Kokszüge für die Hasper Hütte bis Hagen-Harkorten, für die Nahgü-
terzüge auf der Gesamtstrecke reichten 50er aus. Für Rangierzwecke,
Übergaben und die Anschlussbedienung waren in Hagen-Kückelhau-
sen und Gevelsberg-Haufe Kleinloks stationiert. Damit vom Trieb-
fahrzeugeinsatz genug.
Kehren wir zurück ins Jahr 1951 und werfen einen Blick auf
Deutschland und die Welt: Just an jenem 11. September, an dem
unser Eingangsfoto entstanden ist, donnert ein Reisezug der Tsche-
choslowakischen Staatsbahnen auf der nur für den Güterverkehr of-
fenen Strecke zwischen Asch und dem oberfränkischen Selb-Plöß-
berg über die Grenze und ermöglicht so über zwanzig Menschen
die Flucht in die von ihnen erhoffte „Freiheit“. Im April gründen
die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Bene-
lux-Staaten die Montanunion. Die Bundesbahn führt zum Sommer-
fahrplan das „Netz der leichten F-Züge“ ein. Weltpolitisch brisant
ist der Koreakrieg, der sich mit der Einnahme Seouls durch Trup-
pen Chinas und Nordkoreas verschärft. Pläne zur Verstaatlichung
der anglo-iranischen Ölgesellschaft lösen blutige Unruhen in Per-
sien aus, Hintergründe deckt Der Spiegel auf. Illustrierte wie Frau
im Spiegel hingegen widmen sich ausgiebigst der Märchenhochzeit
von Schah Mohammad Reza Pahlavi mit der deutsch-persischen
Prinzessin Soraya. Den deutschen Hit des Jahres landet Conny Fro-
Blick nach Gevelsberg: Am Haltepunkt Gevelsberg-Poeten bot sich 1951
dieses Drei-Hütten-Ensemble, das Wartehäuschen, Schrankenposten und
Fahrkartenverkaufsstelle sowie Straßenbahnhaltestelle vereint. Im Ort
verlief die Strecke teils entlang stattlicher Häuser, die hier von einer der in
Gevelsberg-Haufe stationierten Kleinloks passiert werden (Juni 1964).
FOTOS: HELMUT SÄUBERLICH, K.-H. HEIN/SAMMLUNG DR. KAUFHOLD
20 ZEITREISEN
boess mit „Pack die Badehose“ ein. Für einen Skandal sorgt der Krieg war schon die Rede. Am 2. Oktober 1955 benannte die DB den
Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef, wobei sich – allen voran – Bahnhof Milspe Tal in Ennepetal-Kehr um, den Namen der Endsta- Das war 1951
die Kirchenmänner echauffieren; dies aber weniger über die sekun- tion Altenvoerde änderte sie in Ennepetal-Altenvoerde. Nach dem Der Koreakrieg erreicht in diesem Jahr weltpolitische Brisanz,
denkurze Nacktszene als vielmehr über die angebliche Glorifizierung Wiederaufbau des Herdecker Ruhrviadukts wurde der Personen- zwanzig Menschen gelingt in einem Zug die Flucht aus der
der Prostitution. verkehr ab 27. Juli 1957 über Hagen Hbf hinaus bis Dortmund Hbf Tschechoslowakei in den Westen, Hildegard Knef ärgert als „Sün-
Die Wuppertaler feierten 1951 den 50. Jahrestag der Eröffnung durchgebunden. derin“ Kirchenmänner, die achtjährige Conny Froboess trällert
ihrer Schwebebahn. Ohne großes Jubiläum jährte sich zum 75. Mal Doch Mitte der 1960er Jahre machte die Hagener Straßenbahn mit mit „Pack die Badehose ein“ den Hit des Jahres und die Boulevard-
die Eröffnung des ersten Teilstücks der Ennepetalbahn. Im Mai 1876 der (nach Teilstilllegung) neu geschaffenen Linie 2 Haspe – Gevels- presse schwärmt ausgiebig von der sogenannten Märchenhochzeit
ging der 9,5 Kilometer lange Abschnitt berg-Vogelsang und Niedrigtarifen der von Schah Mohammad Reza Pahlavi mit der deutsch-persischen
von Hagen bis Gevelsberg-Haufe offi- Eisenbahn verschärft Konkurrenz. Im Prinzessin Soraya. Deutscher Fußballmeister wurde Kaiserslautern.
ziell in Betrieb. Das 4,4 Kilometer lange 1955 BENANNTE DIE BUNDESBAHN Sommerfahrplan 1968 blieb auf der wie-
Reststück bis zum Endbahnhof Voerde MILSPE TAL IN ENNEPETAL-KEHR UM. der vom Abschnitt Hagen – Dortmund
(ab Juni 1902 Altenvoerde) wurde erst DIE ENDSTATION HIESS entkoppelten Ennepetalbahn nur noch
am 1. September 1882 feierlich eröffnet. NUN ENNEPETAL-ALTENVOERDE. ein Alibi-Zugpaar übrig, am 29. Septem-
Der Bau erfolgte in Regie der Bergisch- ber 1968 kam für den Personenverkehr
Märkischen Eisenbahn (BME), die auf das endgültige Aus. Infolgedessen wurde
dem ersten Teilstück auch noch den Betrieb aufnahm. Anfang 1882 1972 der Abschnitt Hagen Hbf – Hagen-Kückelhausen unterbrochen,
kam die BME jedoch unter die Fittiche der Königlich Preußischen ans Netz angebunden blieb die Strecke von Hagen-Eckesey her. Die
Staatseinbahnen. Schließung wichtiger Industriebetriebe in den Siebzigern führte dann
Lange vorher hatte die BME bereits eine Bahnlinie von Elberfeld auch zum Niedergang des Güterverkehrs.
durch das Ennepetal und weiter über Hagen und Witten nach Dort- Nach dem Abriss der Hasper Hütte wurde die Ennepetalbahn
mund gebaut, diese Hauptstrecke ging 1849 vollständig in Betrieb. Als mittels einer am 29. Oktober 1984 in Betrieb genommenen Neubau-
nachteilig erwies sich jedoch deren Verlauf in Hanglage am Südrand trasse durch das ehemalige Hüttengelände in Hagen-Haspe an die
des Tals. So waren die Bahnhöfe Milspe und Gevelsberg für Fuhrwer- alte Hauptstrecke der „Bergisch-Märkischen“ angeschlossen; somit
ke und Fahrgäste nur mühsam erreichbar. Auch die 1879 durch die konnte der Abschnitt Hagen-Kückelhausen – Gevelsberg-Vogelsang
Rheinische Eisenbahngesellschaft errichtete Strecke Dortmund – Ha- entfallen.
gen – Wichlinghausen – Vohwinkel – Mettmann – Düsseldorf er- Anfang 2000 gab DB Netz die Infrastruktur der Strecke Hagen-Has-
schloss mit ihrer nördlichen Hanglage das Ennepetal nicht optimal. pe – Ennepetal-Altenvoerde an die Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft
Direkt durch das Tal nahm nur die Nebenbahn Hagen – Alten- mbH im Bergisch-Märkischen Raum (EBM) ab, die auch den Güter-
voerde ihren Weg. Zahlreiche Industriebetriebe erschließend, ins- verkehr übernahm. Nach dem Konkurs der EBM gründeten Anschlie-
besondere die nach 1900 mit neuen Hochöfen ausgestattete Hasper ßer die Betreibergesellschaft Talbahn GmbH. Diese fungiert heute als
Hütte, entwickelte sich die Ennepetalbahn pro Zugkilometer gerech- Infrastrukturunternehmen, den Güterverkehr führt eine Tochterge-
net zur rentabelsten Strecke der Preußischen Staatsbahn, und sie sellschaft der Hochwaldbahn (HWB) durch. Seit 2007 veranstaltet die
war dann eine der lukrativsten der Reichsbahn. Mit Einführung des RuhrtalBahn saisonal regelmäßige Schienenbusfahrten auf der „Te-
Stundentakts im Jahr 1931 stieg auch ihre Bedeutung im Personen- ckel-Linie“ Herdecke – Hagen Hbf – Ennepetal-Kluterthöhle.
verkehr rapide an. Dafür beschaffte die DRG 1932 bei der Waggon- Letztgenannte Station befindet sich rund 700 Meter vor dem End-
fabrik Wismar die damals hochmodernen vierachsigen Triebwagen bahnhof Ennepetal-Altenvoerde. Vom Bahnhof Ennepetal-Kehr, ehe-
875 und 876 (später VT 137 003 und 004), ergänzt um zwei Beiwagen mals Milspe Tal, ist nur noch das Empfangsgebäude übrig geblieben,
VB 147. Mit dem Stundentakt begegnete die DRG auch der Straßen- heute Sitz der Dörken-Oel GmbH. Der Güterschuppen musste einer
bahnkonkurrenz, die zum einen durch die Linie 3 der Hagener Stra- klotzigen Industriehalle weichen. Auch der Gleisanschluss zur Gieße-
ßenbahn nach Gevelsberg-Nirgena und zum anderen durch die von rei Stockey & Schmitz ist ebenso wie die Firma längst Geschichte. Seit
der Straßenbahngesellschaft Ennepe betriebenen Linie Hasslinghau- 1986 sichert eine Blinklichtanlage mit Halb- und Gehwegschranken
sen – Gevelsberg – Milspe – Voerde entstanden war. den Bahnübergang „Kölner Straße“. Gewiss: Das Empfangsgebäude
Vom kriegsbedingt ausgedünnten Fahrplan, von der Wiederauf- ist hübsch restauriert, aber hat es noch Charme? Vom heutigen En-
nahme des Stundentakts und vom Triebfahrzeugeinsatz nach dem semble ganz zu schweigen ... ☐
ZEITREISEN 21
1957 LINZ
LINZ
WEINBERG-BLICK MIT BAHNBETRIEBSWERK AM MITTELRHEIN
TEXT UDO KANDLER
IM UNTEREN MITTELRHEINTAL nahe Bonn liegt Linz, ein deswegen, weil die Versuchung einfach zu groß war, dem Verkehrs-
Städtchen, das man wohl einen verträumten Ort nennen darf. Maß- aufkommen in den nicht fernen Eisenbahnbrennpunkten in Koblenz
geblich prägend ist von jeher Vater Rhein mit seiner touristischen oder gar Köln zu erliegen. Dem hatte ein Bahnhof wie Linz freilich
Strahlkraft, aber natürlich genauso die im Herzen der Ortschaft be- nur wenig entgegenzusetzen.
findliche Eisenbahn. Die Geschichte der Eisenbahn hatte es mit Linz Die bekanntesten Aufnahmen stammen dann auch aus der Plat-
über die bloße verkehrsmäßige Anbindung an die rechte Rheinstre- tenkamera des Altmeisters der Eisenbahnfotografie, Carl Bellingrodt,
cke hinaus durchaus gut gemeint, als der Bahnhof auch noch Aus- die er hier vor einer ganzen Ewigkeit kurz vor dem Verschwinden der
gangspunkt einer Nebenbahn aus dem Rheintal hinauf in den vorde- Zahnradlokomotiven der Baureihe 97.0 und der Umstellung der Stre-
ren Westerwald nach Kalenborn und weiter durch das Wiedtal nach cke auf reinen Adhäsionsbetrieb um 1930 anfertigte. Aber auch nur,
Flammersfeld wurde. weil er genau diese seltene Baureihe hier zu Gesicht bekam. Andern-
Die Rede ist von einer alles andere als gewöhnlichen Nebenbahn, falls hätte es wohl auch ihn nicht nach Linz verschlagen. Demgemäß
vielmehr handelte es sich bei der im Jahr 1912 in Betrieb gegangenen richtete er den Blick allzu sehr auf die Zahnradlokomotiven und we-
Strecke um eine betriebstechnisch überaus aufwändige Bahnlinie, niger auf das Umfeld. Und dies bei einem Fotografen, der bekannter-
und zwar um eine Steilstrecke mit Zahnstangenbetrieb, die den Ein- maßen seine Bildkompositionen immer stark auch an der Eisenbahn
satz nicht alltäglicher Zahnradlokomotiven erforderte. Demzufolge in der Landschaft ausrichtete – in Linz blieb er seiner fotografischen
erfuhr der Bahnhof im Zusammenhang mit dem Streckenbau in den Vorgehensweise offenbar nicht treu. Am Mangel geeigneter Fotomo-
Jahren 1910 bis 1912 mit dem angegliederten Bahnbetriebswerk eine tive konnte es jedenfalls nicht gelegen haben. Für einen Fotografen
angemessene Angleichung an die neue betriebliche Herausforderung. seines Formats wäre es ein Leichtes gewesen, beispielsweise von den
Nun erst vermochte der Bahnhof Linz aus der breiten Masse der angrenzenden Weinbergen herab aussagestarke Übersichtsaufnah-
Blick herab von den Weinbergen auf Linz und seine
unbedeutenden Bahnstationen ein wenig hervorzutreten und avan- men vom Bahnhof oder vom Betriebswerk anzufertigen. Womöglich Bahnanlagen an einem Septembertag 1957: Eine
cierte bei aller provinzieller Bescheidenheit mit seinem Bw zu einem aber zählten ausgerechnet auch solche Aufnahmen zu den Verlusten, Dampflok mit Personenzug hat soeben den Bahnhofsbe-
bescheidenen Eisenbahnerstädtchen. Trotz der betriebstechnischen die das Bellingrodt-Archiv während des Zweiten Weltkriegs durch reich verlassen und passiert nun das Bahnbetriebswerk
Besonderheiten, die der Steilstreckenbetrieb dereinst hervorbrachte, Bombentreffer erlitt. (rechte Seite), um sich auf der rechten Rheinstrecke
fristete der Linzer Bahnhof in der großen weiten Welt der Eisenbahn Es hat aber ganz den Anschein, dass dieser Ort es zu keiner Zeit auf den weiteren Weg durch das romantische Mittel-
freilich auch nicht viel mehr als ein Nischendasein. Alle wichtigen wirklich schaffte, das Interesse von Eisenbahn-Enthusiasten auf sich rheintal Richtung Köln zu machen.
FOTOS: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG (2)
Züge fuhren ohne Halt achtlos durch oder – auf der linken Rheinseite zu ziehen. Lediglich in den 1960er Jahren verschlug es den einen
– gleich ganz an dem Ort vorbei. Allein schon von daher vermochten oder anderen Zeitgenossen mit der Kamera nach Linz am Rhein, als
sich während der Blütezeit der zu Füßen der Burg Ockenfels liegenden sich der Dampfbetrieb hinauf nach Kalenborn mit den mittlerweile
Bahnstation nur denkbar wenige Zeitgenossen überhaupt hierher zu beim Bw Koblenz-Mosel beheimateten Lokomotiven der Baureihen
verirren, die – ob nun von professionellen Anlässen geleitet oder als 94.5 und 82 hier tatsächlich dem Ende zuneigte. Obendrein zu einem
amateurhafter Bahnfreund – ausgerechnet an diesem Ort die Eisen- Zeitpunkt festgehalten, als beim Bw Linz vom Glanz einer ehedem ei-
bahn in den Fokus ihrer Kameras rückten. Vielleicht aber auch nur genständigen Dienststelle kaum was übrig geblieben war und das Bw
22 ZEITREISEN
ZEITREISEN 23
1957 LINZ
LINZER BW-ALLTAG
ALS DER LICHTBILDNER DER BD KÖLN
1951 DIESE SZENEN FESTHIELT,
HERRSCHTE AUF DEN BAHNANLAGEN DES
KLEINEN RHEINORTES NOCH REGE
GESCHÄFTIGKEIT, DOCH DIE FETTEN
JAHRE DES DAMPFLOKBETRIEBS AM
MITTELRHEIN WAREN SCHON BALD VORBEI.
24 ZEITREISEN
Im Vergleich zum regen Treiben
sechs Jahre zuvor wirkte das
Areal um das Dienstgebäude des
Linzer Bw im September 1957
bereits wenig ausgelastet.
FOTOS: BILDARCHIV
DER EISENBAHNSTIFTUNG (5)
ein Dasein als unbedeutende Außenstelle fristete. Aber immerhin lag um hier wenigstens einige wenige Motive der noch gerade so „in Saft „in Form gebracht“ werden mussten. Daher ist es auch kaum weiter
die Überwindung von knapp 300 Höhenmetern zwischen Linz und und Kraft stehenden“ Dienststelle auf bahnamtlichen Schwarz-Weiß- verwunderlich, dass diese Bilder sich einzig über ihren dokumenta-
Kalenborn noch ganz in der Hand der Dampftraktion, bevor Mitte Film zu bannen. Und das, obwohl die Linzer Bahnanlagen samt Steil- rischen Wert definieren.
1968 die V 100 mit hydrodynamischer Bremse (die spätere Baureihe strecke längst schon nicht mehr zum Kölner Bezirk gehörten. Diese Gottlob kann sich eine derartige Erkenntnis durchaus auch sehr
213) das Ruder übernahm. waren bereits sechs Jahre zuvor im Zuge der Angleichung der Direkti- schnell relativieren, wenn plötzlich doch noch Aufnahmen auftau-
Wie sah es in den jungen Jahren der Deutschen Bundesbahn in den onsgrenzen an die Besatzungszonen mit Wirkung zum 22. September chen, die nicht nur neue Sichtweisen eröffnen, sondern obendrein
frühen 1950er Jahren an diesem Ort wohl tatsächlich einmal aus, als 1945 der Reichsbahndirektion Mainz (später Bundesbahndirektion Emotionen freisetzen, eine gedankliche Zeitreise geradezu provozie-
die Dienststelle als unverzichtbare Einrichtung ihre letzte Blüte erleb- Mainz) zugeschlagen worden. ren. Das Einstiegsbild dieses Beitrags hat das Zeug dazu, ein wenig
te? Lange schien es so, dass der bei der BD Köln beschäftigte Direk- Anlässlich seines Dienstbesuchs hielt Fischer die vorgefundene die Sinne schweifen zu lassen. Festgehalten wurde die atmosphärisch
tionsfotograf Fischer der einzige bekannte bleiben sollte, der sich an Situation in eher nüchtern-sachlichen Bildern fest. Allen Aufnah- dicht anmutende Eisenbahn-Infrastruktur an einem recht düsteren
einem Sommertag des Jahres 1951 veranlasst sah, von Köln aus ei- men ist dann auch gemein, dass sie arg „kippelig“ (verkantet) auf- Septembertag des Jahres 1957. Allenfalls der nur noch spärlich mit
nen dienstlichen Abstecher entlang des Rheins nach Linz zu machen, genommen wurden und für eine Veröffentlichung erst einmal noch Brennstoff gefüllte Kohlenbansen lässt erahnen, dass die wirklich fet-
ZEITREISEN 25
1957 LINZ
ten Jahre der Dienststelle hinsichtlich ihrer ursprünglichen Bedeu-
tung vorbei waren und nur noch eine überschaubare Anzahl der von
außerhalb kommenden Lokomotiven hier „verköstigt“ wurde. Endete
doch die Selbstständigkeit des Bw Linz bereits am 2. Oktober 1954
mit der Angliederung als Außenstelle an das Bw Oberlahnstein. An-
Auch nach der Degradierung zur Außenstelle sonsten sollte sich zunächst rein äußerlich nur wenig ändern, die bau-
des Bw Oberlahnstein im Jahr 1954 blieb das lichen Anlagen blieben auf absehbare Zeit vollumfänglich erhalten.
Linzer Areal baulich erhalten. Am schneereichen
Dennoch: Die Zeichen standen unverkennbar auf Veränderung, die
24. Dezember 1964 war dort die 94 817 in
weihnachtlicher Ruhe abgestellt. DB stand am Anfang einer umfassenden Modernisierung und damit
FOTO: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG vor der Abkehr von der Dampftraktion. Ungeachtet dessen wurden
im Jahr 1957 auch noch die beiden Schnellzugdampfloks der neuen
Baureihe 10 in Dienst gestellt, sie kamen allerdings viel zu spät und
blieben daher Einzelgängerinnen.
Über das Bahngeschehen hinaus gesehen, strengte sich die Bun-
desrepublik seinerzeit an, den Zenit des Nachkriegswirtschaftswun-
ders zu erklimmen, der zunehmende Wohlstand sorgte in beinahe
Auf 8,8 Restkilometern zwischen Linz und Kalenborn hielt sich der Güter-
verkehr noch bis zur Ära der DB AG. Zum Einsatz kamen die Steilstrecken-V 100
der Baureihe 213. Am 13. September 1968 war es noch die 082 040, die
die Übergabe hinab nach Linz beförderte, hier bei Kasbach.
FOTOS: UDO KANDLER, BERNDT VON MITZLAFF
26 ZEITREISEN
allen Lebensbereichen für überwiegend positive Veränderungen. Die Kurz darauf führte die DB für alle Triebfahrzeuge verbindlich das
Jahre der notgedrungenen Nachkriegsimprovisation waren jedenfalls Dreilicht-Spitzensignal ein. Ende 1957 verfügte die Bundesbahn über Das war 1957
überwunden. Betriebswirtschaftliches Denken bestimmte aber mehr 4985 Bahnhöfe, natürlich inklusive unserer eher unbedeutenden Lin- Mit wirklich weltpolitischen Ereignissen hält sich das Jahr zurück.
und mehr auch den Alltag der Deutschen Bundesbahn: Unrentable zer Station. Ferner wurden noch 241 eigenständige Bahnbetriebswer- In Deutschland gilt als verlässliche Konstante die Wiederwahl des
Nebenbahnen etwa wurden alsbald konsequent auf die „Abschuss- ke unterhalten, wozu das Bw Linz aber schon nicht mehr zählte. Das „Alten“: Konrad Adenauer wird am 15. September zum dritten
liste“ gesetzt, Kostenminimierung um jeden Preis lautete fortan die gesamte Streckennetz der DB umfasste knapp 31 000 Kilometer, da- Mal zum Bundeskanzler gewählt. Die zuvor von der CDU/CSU
Losung. Doch noch hatten die Jahre des drastischen Nebenbahnster- von unterlag rund ein stolzes Drittel dem Nebenbahnstatus. Der große ausgegebene Parole „Keine Experimente!“ hatte ihr Ziel erreicht.
bens nicht begonnen. Kahlschlag unter den Nebenbahnen stand zu diesem Zeitpunkt erst Für die SPD ist die Wahl von Willy Brandt zum Regierenden Bür-
Als verlässliche Konstante galt in jenen Tagen allenfalls die Wie- noch bevor. Das Jahr 1957 brachte lediglich die Stilllegung von zwei germeister von Westberlin ein wichtiger Schritt und dem Spiegel
derwahl des „Alten“ aus dem nur wenige Kilometer rheinabwärts Nebenbahnen im Personenverkehr, zusammen nicht einmal zwan- eine Titelstory wert. Erstmalig findet eine Massenimpfung gegen
Kinderlähmung statt. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg
gelegenen Ort Rhöndorf. Konrad Ade- zig Kilometer – eine trügerische Ruhe
teilautonom an Frankreich angeschlossen war, gehört das Saarland
nauer wurde mit der absoluten Mehr- vor dem Sturm.
DIE LINZER STEILSTRECKE ERWISCHTE seit Jahresbeginn wieder zu Deutschland, die D-Mark wird aber
heit der abgegebenen Stimmen am 15. Die Linzer Steilstrecke sollte es zum erst 1959 übernommen. Der VW Käfer erhält eine große recht-
September 1957 ein drittes Mal zum ES ENDE MAI 1960. AUF EINEM Sommerfahrplan am 29. Mai 1960 er- eckige Heckscheibe und im Endspiel um die deutsche Fußball-
Bundeskanzler gewählt. Der von der RESTSTÜCK HIELT SICH BESCHEIDENER wischen und sie zählte damit zu den meistermeisterschaft siegt Borussia Dortmund mit 4:1 gegen den
CDU/CSU unter der Parole „Keine Ex- GÜTERVERKEHR ABER BIS 1995. frühen Streckenstilllegungen, wobei das Hamburger SV. Über die Landesgrenzen hinaus bedeutsam ist die
perimente!“ geführte Wahlkampf hatte neue Jahrzehnt gleich mit einem Pau- Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG.
sein Ziel nicht verfehlt, war ganz auf den kenschlag aufwartete: Im Jahr 1960 wur-
konstanten Fortschrittsglauben der Menschen ausgerichtet, denen den gleich 30 mehr oder weniger lange Nebenbahnen für den Per-
man allzu große politische Veränderungen ersparen wollte. sonen- und/oder Gesamtverkehr aufgegeben. Für den Streckentorso
Mit wirklich weltpolitischen Ereignissen hielt sich das Jahr 1957 der ehedem von Linz nach Flammersfeld führenden Nebenbahn war
aber zurück. Der EWG-Vertrag über die Gründung der Europäischen die Einstellung im Personenverkehr ein konsequenter Schritt. War
Wirtschaftsgemeinschaft dürfte (vor dem Hintergrund der bereits doch zuletzt nur noch ein Alibi-Zugpaar unterwegs, das werktäglich
1951 gegründeten Montanunion) die alles entscheidende politische frühmorgens von Neustadt (Wied) nach Linz und zu vorgerückter
Weichenstellung für Deutschland und Europa gewesen sein – der Abendstunde retour dampfte. Den durchgehenden Zugbetrieb hatte
Grundstein für die spätere Europäische Gemeinschaft. man aufgrund der Kriegsschäden, bedingt durch die beim Rückzug
Ansonsten waren es die kleinen Veränderungen, die uns mitun- der Wehrmacht noch im März 1945 im Wiedtal gesprengten Brücken,
ter bis heute beschäftigen. Die Einwegflasche ersetzte zunächst bei und vor dem Hintergrund eines äußerst geringen Verkehrsbedürfnis-
Wein und Traubensäften die umweltfreundliche Mehrwegflasche. In ses nach dem Krieg gar nicht wieder aufgenommen und das Teilstück
Nordrhein-Westfalen wurde die Radarkontrolle eingeführt; im Vor- Mettelshahn – Flammersfeld aufgegeben.
dergrund stand selbstverständlich ganz die erzieherische Wirkung auf Danach erfolgte am 1. Januar 1961 die „Verschlankung“ des ver-
die Autofahrer, die bei Verstößen fortan mit Strafen rechnen mussten. bliebenen Güterverkehrs formal um das Teilstück Wiedmühle – Neu-
Ganz sportlich wurde Borussia Dortmund deutscher Fußballmeister. stadt (Wied), bevor schließlich am 25. September 1966 auch der
Das wohl traurigste Ereignis des Jahres war der Untergang des rund Rückzug zwischen Kalenborn und Wiedmühle vollzogen wurde. Im-
600 Seemeilen südwestlich der Azoren in einen schweren Orkan ge- merhin konnten sich die verbliebenen 8,8 Schienenkilometer Linz
ratenen deutschen Segelschulschiffs „Pamir“, wobei 80 der 86 Besat- (Rhein) – Kalenborn im Güterverkehr noch bis in das Zeitalter der
zungsmitglieder den Tod fanden. DB AG hinüberretten, wenngleich unter deren Ägide schnell das defi-
Das Jahr 1957 konnte aber durchaus noch mit erfreulichen bahnre- nitive Ende kam und am 28. Mai 1995 die Gesamtstilllegung erfolgte.
levanten Fakten aufwarten: Mit der national bedeutsamen Rückglie- Die in solchen Situationen obligatorische Entwidmung und der Abriss
derung des Saarlands in die Bundesrepublik Deutschland übernahm fanden hier aber nicht statt. Die heute als „Kasbachtalbahn“ bekann-
die Bundesbahn die „Eisenbahnen des Saarlandes“. Mit dem Som- te Strecke ging am 12. August 1998 auf die in Linz auf dem Areal des
merfahrplan am 2. Juni 1957 starteten sieben europäische Bahngesell- ehemaligen Bw ansässige Eifelbahnverkehrsgesellschaft mbH über,
schaften den TEE-Verkehr. Eine neue Ära des luxuriösen Reisens fand die die Strecke seither im Saisonbetrieb erfolgreich mit einem ehe-
ihren Anfang. Das Angebot des Trans-Europ-Express beinhaltete auch maligen DB-Schienenbus betreibt und sporadisch sogar Dampfzug-
die Beschaffung der neu entwickelten Dieseltriebzüge VT 11.5. fahrten durchführt. ☐
ZEITREISEN 27
1960 ALTENA
ALTENA
ALLTAGSGESCHICHTEN AN EINEM SONNIGEN MAITAG IN WESTFALEN
TEXT JOACHIM SEYFERTH
FAST JEDER DEUTSCHE, so er einigermaßen gebildet ist, hat von Unser Eingangsfoto vom Mai 1960 ist eine weitere Facet-
dem sauerländischen Städtchen Altena schon in einem bestimmten te zur Bereicherung dieser Erinnerungen und Eindrücke: Ein
Zusammenhang gehört: Hier entstand 1912 oberhalb der Stadt auf Frühlingstag am Posten 30 mitten in Altena, links die Lüden-
Burg Altena die erste ständige Jugendherberge der Welt. Initiator scheider Straße und ein historischer Pkw mit Ortskennzeichen,
war der Lehrer Richard Schirrmann, er wurde gleichzeitig der ers- der auf dem im Kopfsteinpflaster eingelassenen 1000-Milli-
te Herbergsvater für müde Globetrotter in deutschen Landen. Diese meter-Gleis der von der Kreis Altenaer Eisenbahn betriebenen Strecke
Jugendherberge ist heute ein Museum und im Originalzustand er- Altena – Lüdenscheid wartet, um nach Öffnen der Schranken auf die
halten. Und fast jeder Deutsche, so er einigermaßen weitgereist und „Große Brücke“ über die Lenne abzubiegen, rechts die beiden Haupt-
vornehmlich auf Schienen unterwegs ist, ist schon einmal durch Al- gleise der Ruhr-Sieg-Strecke und der gerade in Richtung Finnentrop
tena gefahren – auf der Ruhr-Sieg-Strecke ins Ruhrgebiet oder ins vorbeipolternde Güterzug mit seiner 44 058. Die Schranken waren
Westfälische beziehungsweise umgekehrt von dort an den Main oder hier oft geschlossen, sonst wäre die Fußgängerunterführung nicht
noch weiter gen Süden. vorhanden. Das Kind der modisch gekleideten Mutter befindet sich
Ruhr-Sieg-Strecke! Welches Flair geht insbesondere für uns Eisen- im schwächsten aller hier gerade parallel befindlichen Fahrzeuge und
bahnfreunde von diesem Streckennamen aus! Wir denken sofort an ist heute freilich 52 Jahre älter. Wie staunend erfreut würde diese ver-
Hauptbahn-Klassik mit regem Zugbetrieb und Langläufen sowohl mutlich für immer anonym bleibende Person sein, hielte man ihr jetzt
beim Reise- als auch beim Güterzugverkehr, an zugehörige klassi- diesen dokumentierten Moment aus einem Bruchteil ihres Lebens
Postkarten-Blick auf Altena mit Burg. Am Bildrand rechts
unten die von der Lüdenscheider Straße abzweigende Lennebrücke
sche Bahnbetriebswerke wie Hagen-Eckesey oder Altenhundem, an
an der Bahnhofsausfahrt Richtung Finnentrop. kurven- und brückenreiche Trassierung entlang der Lenne, an kurze
FOTO: ARCHIV EJ Tunnelfolgen, an historische Bildklassiker von Carl Bellingrodt und
Ludwig Rotthowe, an herb-schöne Fluss- und Berglandschaften in der
Kino-Leinwand des Abteilfensters, an die kurze Epoche der DC-Züge
mit vier Pop-Wagen und dem rot-beigen Ellok-Renner der Baureihe Erzählerische Szenerie in der Lüdenscheider Straße in
112, an die verschiedenen Rampenabschnitte mit Schubbetrieb, an Altena (Westf.) an einem sonnigen Maitag 1960: Die Bildra-
Schwerindustrie inmitten würziger Waldluft, an die einst typischen rität prägen ein „Meister“ auf seiner 44er, die auf der Ruhr-
Baureihen dieser Strecke wie 01, 03.10, 44 oder 150 und 151, an Ganz- Sieg-Strecke nach Finnentrop ausfährt, eine etwas scheu
züge mit Coils, an Zwischenstationen wie Finnentrop, Kreuztal oder auf den Fotografen blickende junge Mutter mit 50er-Jahre-
Letmathe mit Anschlusszügen und regem Rangierbetrieb, an ihre Kinderwagen und ein ebenso unbekannter Lloyd-Fahrer.
FOTO: BILDARCHIV DER EISENBAHNSTIFTUNG
typischen Stellwerke mit Formsignal-Technik, an das Kopfmachen
in Siegen und an das Umsteigen in den Dampf-Personenzug nach
Betzdorf. Von den Hütten des Ruhrgebietes zum Angeln an die Sieg.
Hier Industrie, dort Landschaft – besser kann ein Streckenname die-
sen reizvollen Gegensatz nicht charakterisieren!
28 ZEITREISEN
ZEITREISEN 29
1960 ALTENA
30 ZEITREISEN
vor! Insgesamt eine Alltagsszene, wie sie unspektakulärer und daher dort wohl letztmalig von der Ausbesserung zurückgestellt. Zu diesem im Güterverkehr und am 28. Mai 1961 im Personenverkehr (im Volks-
schöner kaum sein könnte – und doch vermittelt diese Aufnahme den Zeitpunkt hing in ihrer alten Heimat zwischen Ruhr und Sieg schon mund „Schnurre“ genannt) einstellte. Als hier die 44 058 vorbeibraus-
Zeitgeist der beginnenden Wirtschaftswunderjahre mit Nachwuchs der Fahrdraht, die Aufnahme des elektrischen Betriebs am 14. Mai te, fuhr das Schmalspurzüglein auf dem großteils ins Straßenbett ein-
bei den Menschen und Nachschub bei den Gütern. 1965 machte hier der Dampflokzeit ein Ende – unser Eingangsfoto gelassenen Gleis der KAE also noch.
Diese Güter befördert hier unverkennbar die 44 058, die zehn Jahre wurde endgültig Erinnerung. Noch weitaus zukunftsträchtiger und prosperierender ging es da-
vor Entstehen dieses Bildes noch in Heide (Holstein) kriegsbeschädigt Auch der allgemeine Schienenverkehr in Altena selbst blieb vom gegen noch auf den „Staatsbahngleisen“ in Altena zu: Der Gleisplan
auf „Z“ gestellt gewesen sein soll. Wieder aufgearbeitet kam sie 1952 Schicksal des Niedergangs nicht verschont: Dies betraf bereits ein (siehe Abbildung Seite 30) aus dem Jahre 1955, der allerdings nur die
zum Bw Altenhundem und dürfte bei ihren Einsätzen auf der Ruhr- Jahr nach unserer Aufnahme das älteste und wohl auch bekanntes- Anlagen der DB ohne die der KAE zeigt, verrät noch eine gesunde
Sieg-Strecke das Städtchen Altena so wie hier unzählige Male durch- te Schmalspurnetz (1000 Millimeter) im westlichen Sauerland, die Bahnhofs-Infrastruktur insbesondere für die Belange des Güterver-
fahren haben. Zwei Jahre nach dieser Aufnahme kam sie nach Min- „Kreis Altenaer Eisenbahn AG“ (KAE), die den Betrieb auf der 14,5 kehrs. Ein langes Überholgleis (Gleis 3) neben den beiden durchge-
den, 1966 nach Hildesheim und 1969 stand sie in Lehrte und wurde Kilometer langen Strecke Altena – Lüdenscheid am 14. Februar 1961 henden Hauptgleisen war natürlich ebenso vorhanden wie verschie-
ZEITREISEN 31
1960 ALTENA
ALTENAER
KLEINBAHN-
MEMOIREN
32 ZEITREISEN
Im Bereich der etwas außerhalb des
Altenaer Stadtkerns gelegenen Halte-
stelle Steinerne Brücke der KAE
befanden sich auch Anschlüsse zu
Fabriken (linke Seite großes Bild
und diese Seite). Größtenteils verlief
die 14,5 Kilometer lange Kleinbahn
im Straßenplanum, was wohl auch
zur baldigen Stilllegung im Jahr
1961 geführt hat (Aufnahme linke
Seite von 1961, diese Seite vom Mai
1953; beachtenswert der Borgward
mit Kfz-Kennzeichen der Britischen
Besatzungszone).
FOTOS: ARCHIV JAHR (3)
ZEITREISEN 33
1960 ALTENA
dene Lade-, Anschluss- und Zugbildungsgleise. In der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts (und hier im Gleisplan nicht mehr ent-
halten) besaß Altena auch noch einen sechsständigen Lokschuppen
samt Drehscheibe.
Aus diesen Gründen ist Altena auch bei Modellbahnern beliebt,
denn der kompakte und in einem reizvollen Bogen auf engstem Raum
liegende Bahnhof bietet mit seiner Fusion aus Normal- und Schmal-
spurbetrieb eine Fülle an Betriebssituationen und Spielmöglichkeiten
– ein nahe gelegener Tunnel an seiner Westseite bildet womöglich so-
gar noch das willkommene Alibi für einen Schattenbahnhof!
Nach den Jahren des Dampfbetriebs auf der Bei der Streckeneröffnung des Teilstücks Altena – Siegen am 5. Au-
Ruhr-Sieg-Strecke gehörten sechsachsige E-Loks gust 1861 entgleiste bei Grevenbrück zwar sogleich der Festzug, aber
wie die E 94 und 150 sowie später 151 auch das war bei glimpflichem Ausgang nur ein realistischer Fingerzeig für
in Altena zum Alltag. Mit schweren Güter-
die bekannte Tatsache, dass beim Hobeln auch Späne fallen. Denn die
zügen war es auch unter Fahrdraht noch immer
ein Spektakel, wenn es über die Rampe bei
Eisenbahn und mit ihr die gesamte Wirtschaft entwickelten sich hier
Welschen-Ennest ging (Aufnahme 1966). im Lennetal prächtig, alsbald stieg die Eisen- und Stahlproduktion
FOTO: HELMUT SÄUBERLICH und somit die Zahl der Hüttenbetriebe entlang der Strecke rasant an –
die Ruhr-Sieg-Strecke war weit über Altena hinaus sozusagen der
verlängerte Arm des „Reviers“. Die auf der Ruhr-Sieg-Strecke einge-
setzten Lokomotiven kamen daher auch von so legendären Bahnbe-
triebswerken wie Wuppertal-Vohwinkel oder Hagen-Eckesey, waren
aber insbesondere wegen dem Schubbetrieb auf mehreren Rampen-
abschnitten der Ruhr-Sieg-Strecke auch direkt in Altenhundem und
Bahnhof Altena mit Burgblick an Silvester 1982:
Finnentrop beheimatet.
Der nittlerweile eingetretene Verkehsrsrückgang auf
der Strecke kommt auch in der Selbstironie der DB Der Güterverkehr dominierte über viele Jahre hinweg, aber auch
am Bahnsteig zum Ausdruck (Bild unten). der Reisezugverkehr war durchaus repräsentativ: Bis Anfang der
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2) Achtzigerjahre hielten in Altena beispielsweise noch durchgehende
Schnellzüge von München bis Norddeich Mole, nicht zu vergessen
natürlich die bunten DC-Züge im Pop-Jahrzehnt der Siebziger – statt
Speisewagen klingelte sich in ihnen unablässig ein Minibar-Verkäufer
mit seinem scheppernden Wägelchen durch die Gänge der nur vier
oder fünf Abteilwagen.
Die Interregio-Züge ab 1993 fuhren dagegen in Altena schon durch
und was heute dort noch „los“ ist, darf eigentlich getrost verschwie-
gen werden, denn dabei können nicht nur alten sauerländischen
Eisenbahnern die Tränen kommen: Altena verkommt zum bloßen
Haltepunkt! Eine im Vergleich zu früher armselige Station für neue
Triebwagen, der eher Gelenkbussen ähneln. Und natürlich weit und
breit kein einziger Eisenbahner mehr, dafür Warnstreifen, Verbots-
schilder ohne Ende und viele glatte Flächen, die zu neuen Schmie-
rereien einladen.
Dagegen war eine im Mai 1960 durch den Bahnhof brausende 44
zwar spektakulär, aber damals noch eine der langweiligsten Betriebs-
situationen. Wer heute in dieses Datum und an diesen Ort zurückver-
setzt würde, wäre in Altena mindestens ein Vierteljahr damit beschäf-
34 ZEITREISEN
tigt, alle verschiedenen Zug- und Rangierfahrten der DB und der KAE waren meist sechsachsig, wie sich das für ein ordentliches Mittelge-
sowie alle baulichen Anlagen mit dem Fotoapparat und dem Tonband- birge gehört: erst die 194 und die 150, ab 1973 dann auch die 151, für Das war 1960
gerät zu dokumentieren. Und beim freundlichen Fahrdienstleiter im deren Hagen-Eckeseyer Bestand die Ruhr-Sieg-Strecke schon bei- Vieles, was sich in diesem Jahr ereignete, ist eher als Randnotiz
Stellwerk „Af “ hätte er in der Eisenbahner-Gewerkschaftspostille le- nahe vor der Haustüre lag. Nur fünfzehn Jahre nach dem Entstehen der Geschichte festzuhalten. Richtige Aufreger waren für manche
sen können, dass ab Fahrplanwechsel zum 29. Mai die Reisegeschwin- unseres Eingangsfotos gehörten sie mit schweren Kohlezügen bis zu Zeitgenossen aber sicher die Erstbesteigung des im Himalaya-
digkeit der Fernzüge erhöht werden soll: Der TEE „Parsifal“, der Fdt Personenzug-Füllleistungen mit zwei Silberlingen auch zum täglichen Massiv liegenden Dhaulagiri, des siebthöchsten Bergs der Welt,
„Schauinsland“ und der TEE „Helvetia“ waren für Reisegeschwindig- Bild in Altena. Dampfloks beispielsweise der Baureihe 44 verirrten der 3:2-Sieg des Hamburger SV gegen den 1. FC Köln im Endspiel
keiten über 100 Kilometer pro Stunde vorgesehen! sich jetzt nur zu Sonderfahrten auf die Ruhr-Sieg-Strecke, waren aber um die deutsche Fußballmeisterschaft (die Bundesliga gab es ja
Außerdem hätte er erfahren, dass im Rangierbahnhof Duisburg- insbesondere auf den Rampenabschnitten trotz verändertem Ambi- noch immer nicht) sowie der erste Auftritt der Beatles in Ham-
Wedau die erste elektronische Steuerung von vier Gleisbremsen in Be- ente der Elektrifizierung ein Schauspiel wie eh und je. burg, noch bevor die Pilzköpfe aus Liverpool richtig berühmt wa-
ren, und vielleicht auch die Ankündigung von Volkswagen, den
trieb genommen worden ist und dass die Ausbesserungswerke Osna- Kein Schauspiel mehr ist der Güterverkehr auf der Ruhr-Sieg-Stre-
Käfer technisch überarbeitet mit 34 PS auf den Markt zu bringen.
brück und Friedrichshafen geschlossen werden. Gesprächsstoff beim cke: Nur noch wenige „Durchläufer“ zwischen Gießen und Hagen ver-
Ach ja, dann hörte man auch noch die Nachricht, dass es jeden
Fahrdienstleiter war natürlich auch die irren sich hierher, hinzu kommen noch Tag 5000 Fernsehgeräte mehr in deutschen Haushalten gibt ...
bevorstehende Elektrifizierung hier an ein paar Ganzzug-Reste für die Hütten
der Ruhr-Sieg-Strecke – für die Eisen- ALTENA IST HEUTE EIN TRIEBWAGEN- im Raum Kreuztal und Dillenburg.
bahner und insbesondere für die Stell- HALTEPUNKT, WOBEI NICHT NUR ALTEN Ob die zurzeit als Ausbaustrecke ge-
werker zunächst mit bangen Zukunfts- SAUERLÄNDISCHEN EISENBAHNERN führte Ruhr-Sieg-Strecke eine Renais-
fragen verbunden. DIE TRÄNEN KOMMEN. sance erlebt, muss abgewartet werden
Was in jenen Wochen und Monaten – immerhin sollen die Tunnelprofile er-
sonst noch auf der Welt und in Deutsch- neut erweitert werden, um mehr Con-
land geschah, rückte daher für manchen um die eigene Existenz be- tainerverkehr von den Rheinstrecken hierher zu verlagern. Von der
sorgten Bürger eher in den Hintergrund. Für andere dagegen waren es hiesigen Politik wird der Ausbau dieser alternativen Achse erstaun-
regelrechte Aufreger-Themen: sowohl die Erstbesteigung des Dhaula- licherweise begrüßt und forciert, während man in vielen bornierten
giri, des siebthöchsten Bergs der Erde, und die explosionsartige Ver- Rheintal-Regionen den Schienenverkehr am liebsten komplett aus
mehrung deutscher Fernsehgeräte um täglich rund 5000 Stück als den Augen und aus dem Sinn haben möchte.
auch die Ankündigung von Volkswagen, einen überarbeiteten Käfer Und Altena? Der neue „Haltepunkt“ ist barrierefrei ausgebaut,
mit nunmehr 34 PS auf den Markt zu bringen, und der 3:2-Sieg des etwa alle halbe Stunde summen hier die Abellio-Triebwagen und die
Hamburger SV gegen den 1. FC Köln im Endspiel um die deutsche Güterzugpausen sind mitunter lang geworden. Im Mai 1960 herrsch-
Fußballmeisterschaft sowie der erste Auftritt der „Beatles“ im August te hier wirklich eine andere Eisenbahnwelt und noch genau hundert
1960 in Hamburg, noch bevor die Pilzköpfe aus Liverpool überhaupt Jahre früher, am 16. Juli 1860, fuhr hier um 7.20 Uhr überhaupt der
berühmt wurden. erste Zug. Das Wochenblatt für den Kreis Altena widmete dieser Er-
Diese Wirtschaftswunder-Zeit legte aber auch den Grundstein rungenschaft einer wachsenden Industrienation am 18. Juli 1860 sei-
für die Blütezeit der Ruhr-Sieg-Strecke. Die fünf Jahre nach unserer ne ganze erste Seite. Drei Spalten in eng gesetzter Frakturschrift zei-
Aufnahme abgeschlossene Elektrifizierung sollte ja die Leistungsfä- gen an, dass hier etwas Besonderes passiert war. Wo sonst Welt- und
higkeit dieser Strecke erhöhen – trotz eines enormen Aufwandes bei Deutschlandnachrichten dominierten, gab es diesmal nur Altena –
den Umbauarbeiten der zahlreichen Tunnel (Absenkung des Gleis- und die Bahn: Von allen Seiten wurde der Festzug aus Letmathe mit
planums zur Erweiterung des Lichtraumprofils) ein lohnendes Unter- lautem Jubel begrüßt, das Schwenken mit weißen Tüchern und die
fangen: Die Strecke konnte nun nicht nur höhere Zuggewichte beim Hochrufe der überall stehenden dichten Zuschauermengen wollten
Güterverkehr aufnehmen, sondern wurde auch als Alternativroute kein Ende nehmen.
beim Reisezug-Fernverkehr interessant. Wer von Frankfurt am Main Das freilich ist singuläre Eisenbahngeschichte, die sich auch nicht
nach Westfalen oder ins nördliche Ruhrgebiet wollte, fuhr über Sie- ansatzweise wiederholen wird, weil die heute umjubelten Transporte
gen und Altena eigentlich besser – und häufig sogar schneller – als über die virtuellen Datenautobahnen geschickt werden. Und die re-
über die Rheinschiene. duzieren alles ganz nüchtern zu eins oder null – auch eine 110 Ton-
Dabei war zwischen den 60er und 80er Jahren die Begegnung mit nen schwere 44er neben einem Mutterglück an einem ganz gewöhn-
Güterzügen im Blockabstand an der Tagesordnung. Deren Zugloks lichen Frühlingstag. ☐
ZEITREISEN 35
1963 PASSAU
PASSAU
EINBLICKE IN DAS „EINACHSER-BW“ AN DER HAITZINGER STRASSE
TEXT KONRAD KOSCHINSKI
AUF DEN ERSTEN BLICK EINE SZENERIE, wie sie für manches für Leistungen nach Pocking und Haidmühle. Weitere VT 95 ermög-
Bahnbetriebswerk in den sechziger Jahren typisch war: Die Freistän- lichten ab November 1954 die Ausweitung des Schienenbus-Einsatzes
de an der Drehscheibe sind mit VT 95 und 86ern belegt, die dort unter anderem über Pocking hinaus bis Mühldorf und auf den Stre-
längere Zeit pausieren – anders als die beiden auf den Zufahrtsglei- ckenabschnitt Kalteneck – Eging.
sen zu sehenden V 100, von denen die linke an der kleinen Tank- Ab Oktober 1955 in der Donaustadt stationierte Serien-VT 98
anlage vielleicht gerade ihren Kraftstoffvorrat ergänzt. Bei näherem machten auf den steigungsreichen Bayerwald-Strecken nach Frey-
Hinsehen erspäht man einen hinter der 86 250 hervorlugenden VT ung und Haidmühle die Vorkriegstriebwagen der Baureihe VT 70
oder VB/VS 98, der zusammen mit zwei Einachs-Gepäckanhängern entbehrlich, als Letzte schieden im Juni 1957 die VT 70 000 und 001
VB 141 auf dem Freistand ganz links im Bild abgestellt ist. Das ist aus dem Bestand.
nun allerdings speziell. Kommen wir auf unser Hauptbild vom August 1963 zurück. An
Die in unsere Zeitreise einstimmende Aufnahme datiert vom Au- der Drehscheibe sind drei Schienenbusse mit Scharfenbergkupplun-
gust 1963, und wir kennen auch den Aufnahmeort. Doch selbst wenn gen abgestellt, wovon der rechte mit roter Farbe überdeckte Dach-
dieser nicht bekannt wäre, ließe er sich allein anhand der VB 141 mit fenster und aufgesetzte Stirnscheinwerfer hat. Bekannt ist vom da-
hoher Treffsicherheit ermitteln, denn die meisten derartigen Anhän- maligen Zeitpunkt nur die Passauer Beheimatung von zwei VT 95
ger waren 1963 bereits zu Nebenfahrzeugen für Baudienste umgebaut. (VT 95 9157 und 9447), deren Einsätze sich auf die Nebenbahnen
Nur das Bw Passau hielt die VB 141 210 und 247 weiterhin für den nach Hauzenberg und Neumarkt-St. Veit sowie die Teilstrecke nach
Als es in Passau noch mehrere bayerische
Gepäcktransport auf der Strecke Passau – Erlau – Wegscheid vor, de- Waldkirchen beschränkten. Plattlinger oder Mühldorfer VT 95 sollen
Lokalbahnloks gab: 98 852 im Jahr 1954 im
Bw an der Haitzinger Straße.
ren regelmäßiger Einsatz gemeinsam mit Vorserien-VT 98 sich hier
FOTO: WALTER ZEITLER freilich schon seit Sommer 1959 nur auf ein Zugpaar montags bis frei-
tags beschränkte. Dabei liefen sie übrigens zwischen Passau Hbf und
der Spitzkehre Voglau vor dem Triebwagen und wurden – anders als
es in der Literatur herumgeistert – von Voglau nach Wegscheid hinauf
gezogen. Da ein Umsetzen in der Spitzkehre nicht möglich war, hätten
Beim Blick ins Bahnbetriebswerk an der Haitzinger
die Anhänger in Erlau oder am Beginn der Steilrampe in Obernzell
Straße in Passau im August 1963 zeigt sich eine illustre
umgesetzt werden müssen, wofür die planmäßigen Aufenthaltszei- Versammlung von kleinen und größeren Nebenbahn-
ten aber nicht reichten. „Stars“ bis hin zu den Gepäckanhängern für Schienen-
Apropos Vorserien-VT 98: Die im Sommer 1953 fabrikneu dem Bw busse. Die einachsigen Vehikel wurden damals nur noch
Passau zugeteilten Zweimotorer VT 98 901 bis 903 hatten auf der mit auf der Strecke Passau – Erlau – Wegscheid eingesetzt.
Zahnstangenabschnitten ausgerüsteten Strecke Erlau – Wegscheid im FOTO: SAMMLUNG JAHR
reinen Adhäsionsbetrieb den Personenverkehr übernommen. Den
Zahnrad-Dampflokomotiven der Baureihe 97.1 verblieb der Güter-
verkehr. Im Dezember 1953 erhielt Passau zwei einmotorige VT 95
36 ZEITREISEN
ZEITREISEN 37
1963 PASSAU
planmäßig nicht bis Passau gefahren sein. Nun könnte es sich beim sind ihnen wohl nur noch wenige Güterzugleistungen auf den
rechten Schienenbus sowohl um den VT 95 9157 als auch um einen umliegenden Nebenbahnen verblieben, denn abgesehen von
der drei Vorserien-VT 98 handeln, die kaum von den frühen Serien- den im Personenverkehr längst dominierenden Schienenbus-
VT 95 zu unterscheiden sind. Daneben stehen jedenfalls zwei VT 95 sen haben 1961/62 zugeteilte V 100 die meisten lokbespann-
mit bereits in die Stirnfronten integriertem dritten Spitzenlicht, ob- ten Züge übernommen. 1963 verfügt Passau über zwölf V 100.10
wohl das Bw Passau im Sommer 1963 nur über ein solches Fahrzeug, für Plandienste auf den Strecken nach Waldkirchen – Freyung/
nämlich den VT 95 9447, verfügt haben soll. Insofern gibt das nicht Haidmühle und Hauzenberg, zwischen Kalteneck und Eging sowie
mit Fahrzeugnummern überlieferte Bild Rätsel auf, doch wer kann sie auf der Rottalbahn nach Neumarkt-St. Veit.
fast 50 Jahre später lösen? Und will das überhaupt jemand? Die Dampflokomotiven erbringen indes häufig Sonderleisungen,
Kein Kopfzerbrechen bereiten gottlob die beiden „Dampfer“. Die so im Militärverkehr auf der Ilztalbahn nach Freyung, bei der Holz-
86 212 ist eine alte Passauerin, buchmäßig allerdings seit 12. Juni 1963 abfuhr im Bayerischen Wald und beim Zuckerrübentransport aus der
beim Bw Plattling geführt. Die 86 250 hat es im gleichen Monat aus Gegend um Pocking. Außerdem werden sie für Schneeräum- und
ihrer langjährigen Heimat Kaiserslautern nach Niederbayern ver- Bauzugdienste vorgehalten.
schlagen. Offiziell nun zwar ebenfalls in Plattling stationiert, kommt Im Juni 1963 hat in Passau sogar nochmals eine bayerische GtL 4/5
sie von Passau aus zum Einsatz. ausgeholfen: die Schwandorfer 98 1011 – eine alte Bekannte, die bis
Das Bw Passau selbst beheimatet im Sommer 1963 noch zehn 3. Oktober 1961 als Letzte ihrer Gattung in der Bischofsstadt sta-
Maschinen der Baureihe 86 und ein halbes Dutzend 64er. Regulär tioniert war. Sie wurde damals zusammen mit der letzten GtL 4/4
(98 801) in die Oberpfalz umbeheimatet. Die wirklich letzten bay-
Im heute verschwundenen „österreichischen Bw“
in Passau ist am 5. April 1959 die urig anmutende erischen Lokalbahnloks des Bw Passau waren aber die 97 101, 103
53 7158 der ÖBB anzutreffen. und 104, drei von ursprünglich vier Zahnradmaschinen der Gattung
PtzL 3/4. Eine blieb noch über den Jahreswechsel 1962/63 hinaus ak-
tiv, bis die DB am 5. Januar 1963 den Zahnradbetrieb und damit trotz
heftiger Proteste der Anliegergemeinden den Güterverkehr zwischen
Obernzell und Wegscheid einstellte. Im Juli 1963 jedoch trifft in Pas-
sau der Zahnradschienenbus VT 97 901 aus Tübingen ein, mit dem
man nach Anhebung der Zahnstange die Frachttransporte wieder
aufnehmen kann. Ab Januar 1964 schiebt der VT 97 901 Güterzüge
nach Wegscheid hinauf, bis ein Felssturz zwischen Erlau und Obern-
zell am 28. Januar 1965 dem Gesamtbetrieb auf der Wegscheider Stre-
cke ein jähes Ende bereitet.
Von Mitte Dezember 1962 bis März 1963 fordern Naturgewalten
die gesamte Bundesbahn heraus. Strenger Frost und Schneemassen,
vor denen ihr Nachfolgeunternehmen heute kapitulieren würde, be-
einträchtigen den Betrieb. Gleichwohl befördert die DB aufgrund
der zum Erliegen gekommenen Binnenschifffahrt erheblich mehr
Güter. Unter anderem friert die Donau zu, in Passau registriert man
am 18. Januar mit minus 22,4 Grad den kältesten Tag seit Menschen-
97 104, eine der letzten gedenken.
bayerischen Lokalbahnloks in Noch ein paar andere Schlaglichter aus dem Jahr 1963: Im hohen
Passau, im August 1963 an einer Norden der Republik wird am 30. April die Fehmarnsundbrücke
Drehscheibe in dem zu diesem
eingeweiht. Am 14. Mai eröffnen König Frederik IX. von Dänemark
Zeitpunkt teils schon verkrau-
teten und heute nicht mehr und Bundespräsident Heinrich Lübke mit der Fährroute Puttgar-
existierenden Bahnbetriebswerk den – Rødby das letzte Teilstück der Vogelfluglinie zwischen Deutsch-
östlich des Hauptbahnhofs. land und Skandinavien. Zwölf Tage später beginnt offiziell der elektri-
FOTOS: SAMMLUNG JAHR (2) sche Betrieb auf den Streckenabschnitten Bebra – Hannover und Ge-
38 ZEITREISEN
PASSAU HAUPTBAHNHOF
VT 70 und P 8-geführter Personenzug
im Jahr 1955; 118 039 mit Eilzug nach
Würzburg neben 211 349 mit Eilzug nach
Mühldorf am 29. Dezember 1983; E 18 25
neben einer ÖBB-Ellok im Juli 1966.
FOTOS: WALTER ZEITLER, KONRAD KOSCHINSKI,
H. TAUBER/SAMMLUNG KIRCHNER
ZEITREISEN 39
1963 PASSAU
40 ZEITREISEN
münden – Elm, ergo ist die Nord-Süd-Strecke komplett unter Draht. den Schuppen angrenzenden früheren Werkstättentrakts waren eine
Bei Recklinghausen erreicht das elektrifizierte Streckennetz der DB dreigleisige Lokomotiv- und Triebwagenhalle nebst Werkstattgebäu- Das war 1963
Anfang Oktober eine Länge von 5000 Kilometern. Das Autobahnnetz de entstanden. Im Mai 1977 gab das Bw Passau seine letzten Schie- Nach vierzehnjähriger Kanzlerschaft tritt Konrad Adenauer wi-
überschreitet mit Eröffnung von 144 Kilometern Neubautrassen die nenbusse (798) an andere Bahnbetriebswerke ab. Genau ein Jahr spä- derwillig zurück, glückloser Nachfolger wird Ludwig Erhard. „Ich
3000-Kilometer-Marke. ter endete die V 100-Beheimatung, doch wurden die nach Mühldorf bin ein Berliner“, bekennt John F. Kennedy anlässlich seiner be-
Im Pariser Élysée-Palast unterzeichnen Charles de Gaulle und umstationierten 211er ebenso wie Rosenheimer 798 weiterhin von rühmten Rede in West-Berlin – der wohl markanteste Satz eines
Konrad Adenauer am 22. Januar den deutsch-französischen Freund- Passau aus eingesetzt. Lediglich Kleinloks blieben in der Donaustadt Politikers in diesem Jahr. Fünf Monate später fällt der US-Prä-
schaftsvertrag. Am 15. Oktober tritt der heimisch, im Jahr 2000 löste die DB AG sident in Dallas einem Attentat zum Opfer. Dagegen verblasst
„Alte aus Rhöndorf “ nach vierzehn- den Betriebshof Passau auf. Schließ- vieles, was sonst noch geschah, wie zum Beispiel der Start des
jähriger Kanzlerschaft widerwillig zu- IMMERHIN SIND DIE BW-ANLAGEN AN lich nutzte sie das Bw-Gelände an der ZDF. Große Anteilnahme erregen dennoch das Grubenunglück
von Lengede, das ein glückliches Ende findet, aber auch der Start
rück, Wirtschaftsminister Ludwig Er- DER HAITZINGER STRASSE ERHALTEN: Haitzinger Straße, wo sich auch Elektro-
in die erste Saison der Fußball-Bundesliga. Erster Tabellenfüh-
hard wird sein glückloser Nachfolger. HIER HABEN HEUTE DIE PASSAUER lokomotiven der DB und ÖBB versam-
rer ist der Meidericher SV mit Trainer Gutendorf und 54er-WM-
Am 26. Juni hält US-Präsident John F. EISENBAHNFREUNDE IHR DOMIZIL. melt hatten, nicht mal mehr zum Abstel- Held Rahn nach einem 4:1 in Karlsruhe; Meister wird am Ende
Kennedy in West-Berlin seine berühm- len von irgendwelchen Triebfahrzeugen. der 1. FC Köln. In der letzten Meisterschaftsendrunde vor der
te Rede mit dem Ausspruch „Ich bin ein Immerhin: Anders als das völlig ver- Bundesliga-Ära holt Schalke 04 den Titel.
Berliner“, fünf Monate später fällt er am 22. November im texanischen schwundene „österreichische Bw“ östlich des Hauptbahnhofs sind
Dallas einem Attentat zum Opfer. die Bw-Anlagen im Westen erhalten. Heute haben hier die Passauer
Weltweites Aufsehen erregt auch die dramatische Rettungsakti- Eisenbahnfreunde ihr Domizil, die beiden Hallen beherbergen die
on nach einem sich in Niedersachsen ereignenden Grubenunglück. vereinseigenen Fahrzeuge. Zur Reparatur weilen dort öfters auch
Vierzehn Tage lang waren elf Bergleute eingeschlossen, die am 7. No- Schadfahrzeuge privater Bahnunternehmen.
vember durch „das Wunder von Lengede“ alle lebend geborgen wer- Als einzige Nebenbahn im Passauer Land hat die seit Dezember
den konnten. 2009 im Stundentakt bediente Rottalbahn alle Stilllegungsabsichten
Im Bahnbetriebswerk Passau bannt ein Fotograf drei Schienen- überdauert. Die nach Einstellung des Personenverkehrs im Jahr 1982
busse, zwei 86er, zwei Einachsanhänger und zwei V 100 auf den Film, noch bis 2001 von Güterzügen befahrene Ilztalbahn wurde 2010 zu-
womit er zugleich eine bauliche Veränderung dokumentiert. Im ziem- nächst im Abschnitt Waldkirchen – Freyung, 2011 auch zwischen Pas-
lich staubigen Vordergrund unseres Aufmacherfotos erkennen wir sau und Waldkirchen für einen von der Ilztalbahn GmbH organisier-
ein Absperrband, Mauerwerksreste, Balken und teils durch eine Pla- ten Wochenendverkehr mit RegioShuttles reaktiviert.
ne abgedeckte Ziegelsteine. Die Wand am rechten Bildrand ist ram- Touristisch ebenfalls von hohem Wert wäre die Wiederbelebung
poniert, sie gehört zum von kürzlich stattgefundenen Abrissarbeiten der Strecke Waldkirchen – Haidmühle und weiter bis Nové Údoli
noch verschonten Teil des einst zwanzigständigen Ringlokschuppens (Neuthal) in Tschechien. Auf der tschechischen Seite rollen längst
von 1906. Die Drehscheibe ist übrigens eine Segmentscheibe. wieder Züge bis zur Grenze. Die Anliegergemeinden auf der deut-
Hinter dem dreigeschossigen Dienstgebäude ragt der fünfzehn schen Seite zogen es hingegen trotz der Grenzöffnung vor, die Bahn-
Meter hohe Turm des im Mai 1962 fertiggestellten Zentralstellwerks trasse zu kaufen und auf ihr einen Radwanderweg anzulegen. Besser
empor. Zum endgültigen Abriss des Ringlokschuppens liegen einige bestellt ist es um die „Granitbahn“ Passau – Erlau – Hauzenberg und
unterschiedliche Angaben vor. Jedenfalls beherbergte er bis Mai 1965 den Abzweig Erlau – Obernzell: Die Bayerische Regionaleisenbahn
in Passau stationierte 64er und 86er. Danach waren dort noch bis (BRE) hat die Strecken 2007 gepachtet und strebt ihre baldige Wie-
1969/70 Plattlinger Maschinen dieser beiden Baureihen anzutreffen. derinbetriebnahme an.
Diese setzte das Bahnbetriebswerk Passau vorwiegend vor Bauzügen, Die Passauer Eisenbahnfreunde übrigens wollen die 64 344 wie-
aber auch vor Güterzügen auf den Strecken nach Waldkirchen – Frey- der dampfen lassen. Die zuletzt als Denkmal in Plattling aufgestellte
ung und Hauzenberg sowie auf der Rottalbahn zumindest im Ab- Maschine ist zwar keine alte Passauerin, aber – langjährig in Plattling
schnitt bis Pocking ein. stationiert – doch eine authentische Bayerwald-Lokomotive. Freuen
Vollständig beseitigte man den Ringschuppen zusammen mit der wir uns darauf, dass sie am immer noch funktionsfähigen Gelenk-
Drehscheibe wohl erst im Jahr 1976, um Platz für eine neue zweiglei- wasserkran des Bw Passau Wasser fasst. Und vielleicht unternimmt
sige Reisezugwagenhalle zu schaffen, mit deren Bau die Umgestaltung sie ihre zweite Jungfernfahrt ja sogar vor respektive auf dem „Hau-
des Bahnbetriebswerks zum Abschluss kam. Anstelle des östlich an zenberger Bockerl“. ☐
ZEITREISEN 41
1965 MAINZ
MAINZ
KLASSISCHE PERSPEKTIVEN AN DER SÜDBRÜCKE ÜBER DEN RHEIN
TEXT JOACHIM SEYFERTH
IST IHNEN AUCH SCHON AUFGEFALLEN, dass die Vorortbahn- Was das alles mit unserem historischen Bild zu tun hat? Sehr viel,
höfe mit der Himmelsrichtungs-Bezeichnung „... Süd“ meist schöner, denn direkt nach den Ausfädelungen der beiden Hauptstrecken nach
lichtdurchfluteter und auf irgendeine Weise auch „lieblicher“ als die Frankfurt bzw. Darmstadt und nach Worms schließt sich die markan-
Pendants gen Osten oder Norden sind? Oder ist das nur eine Täu- te Rheinbrücke an, deren Ansicht auf dem hier gezeigten Bild wohl
schung, weil allein der Begriff „Süden“ meist mit mediterranen As- die bekannteste ist. Wir befinden uns jedoch nicht im Zeitalter von
soziationen und den wärmenden Dingen des Lebens verbunden ist? Ozeanblau-Beige, sondern ein knappes Jahrzehnt früher, am 7. Juni
In Mainz jedenfalls stimmt dieses Phänomen, denn in den westli- 1965, ein zumindest in der Rhein-Main-Region wolkenbedeckter Tag:
chen und nördlichen Vorortbahnhöfen Mainz-Waggonfabrik, Mainz- E 10 1270 noch in der Lackierung Blau-Creme rollt mit dem „Rhein-
Mombach und Mainz Nord ist es dank einer dichten und dunklen In- gold“ von der Brücke, umgeben vom heute übrigens nahezu unverän-
dustriekulisse nicht sonderlich kuschelig. Mainz Süd indes wird so- derten Ambiente aus Rheinblick mit Mainmündung, Straßenverkehr
fort vom ersten Sonnenlicht strahlend erhellt, der breite viergleisige und den markanten einzelnen Kiefern.
Bahnhof mit seiner jahrzehntelang dominierenden Farbe Gelb trug Neben der Lok Spaziergänger auf dem Fußweg zur und über die
zumindest lange Zeit entscheidend zu diesem optimistischen Erschei- Brücke, ein typisches Fernsprechhäuschen am Standort des (nicht
Auch in noch früheren Jahren war die nahezu selbe nungsbild bei. Heutzutage trüben unablässige Bauarbeiten im Bahn- sichtbaren) Einfahrsignals, daneben eine aus heutiger Sicht parken-
Blickrichtung auf die Südbrücke von fotografischem Reiz. hof und in dessen Umfeld diesen Gesamteindruck. de Oldtimersammlung, dahinter und weiter unten die Bundesstraße
Rechts sogar ebenfalls mit „Rheingold“-Zug.
FOTOS: SAMMLUNG BERMEITINGER (2)
42 ZEITREISEN
ZEITREISEN 43
1965 MAINZ
Bereits am 7. März 1965 war der Fotograf unseres
Eingangsfotos an der Mainzer Südbrücke gewesen. In der
noch kargen Natur nahm er die 01 123 mit
Schnellzug aus einer etwas anderen Perspektive auf.
FOTO: SAMMLUNG JAHR
nach Worms sowie das Richtungsgleis Worms – Mainz, dessen Pen- 7. Juni vertieft und erfährt unter anderem, dass ein verheerender Wir-
dant Mainz – Worms sich rechts am Bildrand befindet. Das Foto ent- belsturm in Pakistan über 30 000 Menschenleben gefordert hat, dass
stand von einer Aussichtsstelle des Stadtparks „Rosengarten“, dem in Gestalt von Edward H. White der erste amerikanische Astronaut
Standort eines der meistfotografierten Mainzer Bahnmotive. Diese an Bord der „Gemini 4“ einen kurzen „Weltraumausflug“ unternom-
Örtlichkeit kommt vielen Eisenbahnfreunden entgegen: Nur zehn men hat, dass eine 20-jährige Deutsche „Miss Europa 1965“ gewor-
Minuten Fußweg vom Bahnhof, ein erhöhter Standpunkt mit viel den ist und dass die FDP mit dem Slogan „Neue Wege wagen – FDP
Übersicht und alle drei Minuten irgendwo immer ein Zug. nötiger denn je“ in den kommenden Bundestagswahlkampf ziehen
Obgleich uns das Bild viel vom Kolorit der mittsechziger Jahre will – noch ahnt niemand und Herr Holzeisen am wenigsten, dass
verrät, können wir den allgemeinen Zeitgeist im Sommer 1965 na- diese Partei eines fernen Tages zur Splitterpartei verkommen wird.
türlich nicht sehen, aber erahnen. Herr Holzeisen, auf Geschäftsreise Zwei Wagen weiter ist Familie Zimmermann mit ihrem ausnahms-
von Frankfurt am Main nach Düsseldorf in einem feudalen 1.-Klasse- weise zwei Tage von der Schule befreiten achtjährigen Sohn auf der
Abteil unseres gerade die Mainzer Südbrücke verlassenden Zuges, ist Reise von Augsburg nach Köln, hauptsächlich stehen ein wichtiger
an diesem Montag in die Lektüre einer druckfrischen Tageszeitung des Verwandtenbesuch sowie die Besichtigung des Doms auf dem Pro-
44 ZEITREISEN
Altes Brückenschild und
Erdungsstangen bei
den trutzig-wuchtigen
Portaltürmen des linksrhei-
nischen Brückenkopfs.
ZEITREISEN 45
1965 MAINZ
Am anderen Ende der
Südbrücke, die zeitweise auch
Mainz-Gustavsburger Eisen-
bahnbrücke genannt wurde,
ist im März 1989 eine 103 mit
Intercity unterwegs.
FOTO: JOACHIM SEYFERTH
46 ZEITREISEN
ZEITREISEN 47
1965 MAINZ
Am Standpunkt unseres Eingangsfotos bei den
Portaltürmen (hier ganz im Hintergrund) befindet
man sich schon im Einzugsbereich des Bahnhofs
Mainz Süd, der sich unmittelbar anschließt.
Am 25. August 1981 fährt hier soeben eine 141 mit
Nahverkehrszug Richtung Hbf aus.
reihe 112, unsere Lok hieß ab 1968 demnach 112 270 und wurde als dere auf der gegenüberliegenden Rheinseite bereichert worden und
113 270 nach einem Trafoschaden am 7. Oktober 2003 z-gestellt und auch der „Mainzer Ruder Verein“ hat dort immer noch sein Domizil.
nach 41 Jahren auf der Schiene ein halbes Jahr später verschrottet. Die Fahrleitungsanlagen sind mit der Zeit erneuert worden und
Ihre gesamte Laufleistung betrug mit 8 719 429 knapp neun Millio- nicht mehr ganz so unaufdringlich wie auf diesem Bild. Das Fern-
nen Kilometer, darunter auch der eine Kilometer, den wir auf diesem sprechhäuschen indes ist verschwunden, weil das Einfahrsignal jetzt
Bild noch einmal sehen. direkt am Brückenausgang steht und weil die Kommunikation zwi-
Der Lauf der Dinge ist auch, dass wohl ebenso kein Einziger der schen Zug- und Stellwerkspersonal ohnehin keine Kabelverbindung
auf dem Foto sichtbaren Pkw erhalten sein dürfte. Da sieht es mit dem mehr benötigt.
Aus nordwestlicher Richtung rollt ein 103-bespannter
anderen Umfeld trotz der fortgeschrittenen Zeit von 47 Jahren – also Im Übrigen gehört der komplette sichtbare Fahrweg des von der
IC-Zug aus dem Tunnel vom Mainzer Hauptbahnhof her fast einem halben Jahrhundert – schon besser aus: Die Brücke mit E 10 1270 geführten Zuges bereits zum Bahnhof Mainz Süd (heute
in den Bahnhofsbereich von Mainz Süd. ihren wuchtigen Portaltürmen ist weitgehend unverändert, der cha- zu Mainz Hbf), weil die Bahnhofsgrenze grundsätzlich beiderseits bis
FOTOS: JOACHIM SEYFERTH (2) rakteristische Baumbestand ist durch weiteres Wachstum insbeson- zum Standort des jeweiligen Einfahr-Vorsignals reicht – und dieses
48 ZEITREISEN
stand auch 1965 schon an der gegenüberliegenden Brückenauffahrt. teidigungstürme“ blieben nur auf der linksrheinischen Seite erhalten
Genau genommen befinden wir uns also schon im Bahnhof Mainz und dienen heute als friedlicher und runder Wohnraum mit Blick Das war 1965
Süd, zumal links (und hier nicht mehr sichtbar) die ersten Weichen- auf Zugdächer und den ewigen Strom. Der rheinabwärts angebrach- Dass die Freien Demokraten auf „neuen Wegen“ in den Bundes-
verbindungen beginnen. Es ist erst das siebte Jahr der Elektrifizierung, te kombinierte Rad- und Fußweg wurde 2009/2010 saniert und ver- tagswahlkampf ziehen, war damals noch eine Nachricht wert, zu-
denn diese wurde am 1. Juni 1958 abgeschlossen. breitert – bis dahin wurde es insbesondere für sich begegnende Rad- mal niemand ahnen konnte, welch unbedeutende Gruppierung
Vor weiteren 100 Jahren – am 1. August 1858 – ging die von der pri- fahrer gefährlich eng. diese Partei knapp fünfzig Jahre später bildet ... Nach der Wahl im
vaten Hessischen Ludwigsbahn gebaute Rhein-Main-Bahn von Mainz Eine ähnlich wechselvolle und namensreiche Geschichte weist Herbst bleibt Ludwig Erhard als Bundeskanzler im Amt. Wirk-
nach Darmstadt (und weiter nach Aschaffenburg) in Betrieb. Da die der Bahnhof Mainz Süd auf, an den sich in südöstlicher Richtung die lich neue Wege schlägt der amerikanische Astronaut Edward H.
Südbrücke über den Rhein jedoch erst Brückenrampe anschließt. Zum Zeit- White bei seinem „Weltraumausflug“ mit der „Gemini 4“ ein. Wie
1862 fertiggestellt wurde, wurden die punkt der Aufnahme hieß er noch lange wichtig die Nachricht war, dass eine zwanzigjährige Deutsche zur
DIE VERTEIDIGUNGSTÜRME BLIEBEN „Miss Europa“ gekürt wird, bleibt zweifelhaft. Unstrittig dagegen:
Reisenden bis dahin per Eisenbahn- so, bis unmittelbar neben dem Wormser
Mit „Like a rolling stone“ gelingt Bob Dylan ein Meisterwerk, das
Fährschiff an die gegenüberliegende NUR LINKSRHEINISCH ERHALTEN UND Gleis (Gleis 4) die Ruine eines römischen
heute auf Platz 1 der 500 besten Songs aller Zeiten rangiert. Mit
Mainspitze (im Bild die hintere ande- DIENEN HEUTE ALS RUNDER WOHNRAUM Theaters freigelegt wurde und er zum einer weiteren Dylan-Komposition, „Mr. Tambourine Man“, heute
re Uferseite) gebracht. Wie lange dies MIT BLICK AUF ZÜGE UND STROM. Fahrplanwechsel im Dezember 2006 in in der besagten Liste auch unter den ersten 100, schafft die US-
damals dauerte, ist kaum überliefert – „Mainz Römisches Theater“ umbenannt Band The Byrds den Durchbruch. In der zweiten Saison der noch
heute benötigen durchfahrende Fern- wurde. Eröffnet wurde er 1858 jedoch als jungen Fußball-Bundesliga holt Werder Bremen den Meistertitel.
züge zwischen Mainz Süd und Mainz-Gustavsburg gerade einmal Bahnhof „Mainz-Neuthor“ der Rhein-Main-Bahn von Mainz nach Ja, und dann war da noch die Queen auf Deutschland-Besuch.
zwei Minuten, umgekehrt wegen reduzierter Einfahrgeschwindigkeit Darmstadt und Aschaffenburg. Das zuletzt bestehende Empfangs-
nach Verlassen der Brücke drei Minuten. gebäude wurde als Klinkerbau im Jahr 1884 errichtet und im Jahr
Die Mainzer Südbrücke, die früher zeitweise auch „Mainz-Gus- 2006 zugunsten der sich überall krebsartig ausbreitenden Büro- und
tavsburger Eisenbahnbrücke“ genannt wurde, war seinerzeit die Parkhäuser abgerissen, ein Rest der „denkmalgeschützten“ Fassade
zweite feste Mainzer Rheinbrücke und die vierte Rheinbrücke, die wurde verschämt in die fremden Neubauten integriert. In nordwest-
in Deutschland errichtet wurde. Sie wurde in nur zwei Jahren zwi- licher Richtung schließen sich wenige Meter nach Bahnsteigende die
schen 1860 und 1862 errichtet, am 3. Januar 1863 fuhr hier der erste alten und neuen Tunnelbauwerke in Richtung Mainz Hauptbahnhof
fahrplanmäßige Zug. Die Brücke wurde ursprünglich mit vier gro- an, doch dies ist dann eine andere Geschichte.
ßen Linsenträgern erbaut (nach dem Ingenieur Friedrich August von Der Zugbetrieb über die Mainzer Südbrücke ist seit jeher sehr viel-
Pauli auch Pauliträger genannt), an die sich rechtsrheinisch eine lange fältig und reich an Baureihen, wobei zu rund 95 Prozent der Reisezug-
Flutbrücke mit 31 Feldern anschloss. verkehr dominiert. Zum Zeitpunkt der Eingangsaufnahme waren die
Beide Brückenköpfe erhielten massive Brückentürme schon beina- „Star-Loks“ die gezeigte E 10.12 vor den Zügen der linken Rheinstre-
he in Form einer Trutzburg, die im Falle eines Krieges zur Verteidi- cke sowie die V 200 vor den Schnellzügen von Frankfurt nach Saar-
gung der Brücke dienen sollten. Vergeblich, denn in den letzten Tagen brücken und Paris, die damals noch den Weg durch das beschauliche
des Zweiten Weltkrieges wurde die Brücke von der Wehrmacht selbst Nahe- und Alsenztal via Bad Kreuznach nahmen. Die S-Bahn gab’s
gesprengt, um die vorrückenden amerikanischen Truppen aufzuhal- noch nicht, ihre Rolle nahmen seinerzeit die 141-Knallfrösche mit
ten. Diese dachten jedoch nicht daran und errichteten oberhalb der Umbauwagen und Silberlingen ein. Mit etwas Glück rollt auch heute
zerstörten Brücke eine eingleisige, teils hölzerne Behelfsbrücke, die noch eine „Bügelfalte“ mit Verstärkerzügen im Berufsverkehr oder mit
„Franklin D. Roosevelt Memorial Bridge“. Sonderzügen von der Brücke. Die 110 hat die historischen Automo-
Diese Behelfskonstruktion, von der es zu dieser Zeit auch ein ähn- bile jedenfalls deutlich überlebt und ist jetzt neben den austauschba-
liches Pendant im Werratal an der Nord-Süd-Strecke gab, behinderte ren Plastikkutschen und dem fahrbaren Auto-Elektronikschrott von
mit ihren Feldern den Schiffsverkehr stark und hatte für den Bahnver- heute selbst zum Oldtimer geworden.
kehr eine nur sehr eingeschränkte Kapazität. Ebenfalls nur zwei Jahre Der Rest ist nach einem knappen halben Jahrhundert erstaunlich
benötigte man zum Wiederaufbau der neuen und heutigen Mainzer unverändert – ein Umstand, der für die meisten vergleichbaren Zeit-
Südbrücke: 1948 bis 1949 erfolgte der Bau mit zwei nebeneinander reisen eher nicht zutreffen dürfte. Ein einschneidender Wandel ist
liegenden parallelgurtigen K-Stahlfachwerkträgern. Die Felder der hier zwar vorerst nicht in Sicht, aber wer weiß schon, wie und wann
Flutbrücke wurden in der Anzahl vermindert, teilweise erfolgte die es auch diesem Hauptbahnknoten im Rahmen der eskalierenden Um-
Ausführung in Form von so genannten Fischbauchträgern. Die „Ver- bauorgien an den Kragen geht. ☐
ZEITREISEN 49
1966 BAD SCHWALBACH
BAD SCHWALBACH
EIN KURORT UND VIEL BETRIEB MITTEN IM TAUNUS
TEXT JOACHIM SEYFERTH
EIN RECHT NORMALER FRÜHLINGSTAG mitten im Taunus, che Monatslohn beträgt 552,80 Mark, der Minirock begleitet die se-
es ist Samstag, der 23. April 1966. Das dokumentarische und farb- xuelle Revolution, ganzjährig wird weltweit gegen den Vietnamkrieg
lich noch recht authentische Lichtbild zeigt eine Momentaufnahme protestiert, 22 Strecken verlieren ihren Personenverkehr und 26 Stre-
am südlichen Bahnhofskopf in Bad Schwalbach – dort, wo es früher cken werden stillgelegt. Und: Im Bahnhof Bad Schwalbach wird an
für den Eisenbahnfreund am interessantesten war. Ein zweiteiliger einem April-Wochenende ein ausfahrender Schienenbus nebst zwei
Schienenbus der Baureihe 798 fährt gerade nach Bleidenstadt und 86ern bildlich festgehalten.
den Endbahnhof Wiesbaden Hbf aus, links neben ihm das Wärter- Für alte Bilder gelten mildernde Umstände. Man verzeiht ihnen
stellwerk „Bs“ einschließlich Schrankenanlage für den kleinen Weg- fehlende fotografische Raffinesse und technische Perfektion. Das ge-
übergang. Rechts ein Güterzug-Begleitwagen, vermutlich der Bauart rettete Abbild der Historie besticht weniger durch Kunst als durch
Pwghs 054, im Vordergrund die Zufahrt zur Ladestraße. Fakten; zunächst interessant ist, was abgebildet ist, und nicht, wie es
Links neben dem Lokschuppen die Bundesstraße nach Wiesba- fotografiert wurde. Der Blickfang auf dem Hauptbild unserer Zeit-
den mit einem taubenblauen Pkw, es könnte – wie passend – ein Ford reise nach Bad Schwalbach ist also der Lokschuppen mit seinen bei-
„Taunus“ sein. Schließlich und am längsten bleibt das Auge an dem den „Schwarzen“. Im Jahre 1905 fertiggestellt, bot diese Lokomotiv-
kleinen „Bahnbetriebswerk“ mit den beiden vor sich hindampfenden halle aus Backstein auf vier Gleisen überdachten Abstellplatz für Lo-
86ern hängen. Eigentlich nur ein – mit Verlaub – geknipstes Bild ohne komotiven und andere Schienenfahrzeuge. Übrigens ist sie mit dem
fotografische Stilmittel und heute doch eine kleine Sensation. 46 Jah- Lokschuppen in Niedernhausen (ehemalige Außenstelle des Bahnbe-
Stadtansicht Bad Schwalbach mit Taunus-Blick (um 1965).
re genügen für eine gewaltige Zeitreise, Atmosphäre und Materie von triebswerks Limburg) nahezu baugleich.
FOTO: ARCHIV EJ 1966 sind wie von einem anderen Planeten.
Was geschah eigentlich alles in jenem Jahr – im Rest der Welt und
abseits von Bad Schwalbach und seinem Lokschuppen? Noch ist Lud-
wig Erhard Bundeskanzler, England wird Fußball-Weltmeister, mit
„Alle reden vom Wetter“ wird das berühmteste Eisenbahn-Plakat
kreiert, in Südspanien fallen nach der Kollision eines B-52-Bombers Mit dem Taunus in den Taunus: Ob der Fahrer des
der US-Luftwaffe mit einem Tankflugzeug vier Plutoniumbomben taubenblauen Ford den frühlingshaften 23. April 1966
vom Himmel, das elektrifizierte Streckennetz erreicht eine Länge von zu einem Ausflug nach Bad Schwalbach genutzt hat, ist
nicht überliefert. Dass in dem vorbei am Lokschuppen
7000 Kilometer, erstmals gelingt die weiche Landung einer Sonde auf
Richtung Bleidenstadt soeben ausfahrenden Schie-
dem Mond, die Deutsche Bundespost stellt den Betrieb der letzten nenbus aber Ausflügler im Kurort angekommen oder
Handvermittlungsstelle für innerdeutsche Gespräche ein, die S 3/6 Nr. eingestiegen sind, ist sehr wahrscheinlich.
18 622 wird ausgemustert, ein Weißwal verirrt sich in den Rhein, in FOTO: SAMMLUNG JAHR
San Francisco findet der letzte gemeinsame Auftritt der Beatles statt,
der TEE „Blauer Enzian“ wird mit 200 km/h zwischen Augsburg und
München der schnellste Zug der Bundesrepublik, der durchschnittli-
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ZEITREISEN 51
1966 BAD SCHWALBACH
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Die 86er waren nur rund ein Jahr im Bw Limburg stationiert
und kamen von dort auch nach Bad Schwalbach. Abgelöst
hatten sie die Baureihe 93 – hier noch im Mai 1965 geschäftig
am Werk – und wurden wiederum von 65ern ersetzt.
FOTO: SAMMLUNG GARN
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1966 BAD SCHWALBACH
weisen hatten. Neben dem Wagenladungsverkehr war Bad Schwal- Was wir noch sehen? Natürlich den damals allgegenwärtigen Schie-
bach ja noch Stückgutbahnhof; für heutige Generationen unvorstell- nenbus, der wie selbstverständlich am Ausfahrsignal vorbei gen Wies-
bar wurden nicht alle Güter auf der Straße befördert! Übrigens war baden brummt. Er erinnert uns an die seligen Zeiten des Personen-
die kleine Bw-Anlage im betrieblichen Sinne kein Bahnbetriebswerk verkehrs auf der Aartalbahn, der unter anderem mit so illustren Fahr-
oder dessen Außenstelle, sondern nur eine Lokstation ohne Büro- zeugen wie dem „Langenschwalbacher“ oder der „Zigarre“ stattfand.
gebäude und größere Werkstatt. Mitte der Siebzigerjahre wurde der Der Triebwagen auf unserem historischen Foto schaukelt derweil er-
Lokschuppen verkauft und diente zunächst als Autoreparaturwerk- leichtert davon, denn von Limburg kommend hat er bis Bad Schwal-
statt, später als Lagerhalle. Heute hat er eine ähnliche Funktion, ist bach jede Menge Reisegepäck und Expressgut gebracht, das dort bei
von allerlei Wildwuchs umgeben und immerhin ein Kulturdenkmal dem mehrminütigen Aufenthalt ausgeladen wurde.
des Landes Hessen. Was seine Zukunft indes auch nicht rosiger macht, Unzählige Koffer der Kurgäste, Pakete und kleinteiliges Gut für die
denn der Denkmalschutz ist ein schwaches und stumpfes Schwert in ortsansässige Molkerei und andere Firmen. Der oder die Mitarbeiter
der vom „Zeitgeist“ bekämpften Historie! der Fahrkartenausgabe und Expressgutabfertigung haben die hoch
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1966 BAD SCHWALBACH
beladene Gepäckkarre gerade in den Dienst- und Lagerraum gescho-
ben und die mitgelieferten Begleitpapiere verheißen wenig Einladen-
des: Arbeit! Prüfen, Einsortieren, Stempeln, Buchen, Gut dem Kun-
den avisieren. Zu alledem kommt auch noch der Fahrdienstleiter zu
einem Schwatz vorbei, denn der Schienenbus ist weg und betrieblich
herrscht jetzt erst einmal eine Zugpause.
Spätestens jetzt wird uns wieder einmal schmerzlich bewusst, welch
Die Idylle am verschneiten 3. Januar 1985 großer Fehler die Stilllegungen in den Jahren 1983 (Abschnitt Wiesba-
diesseits (mit heimelig beleuchtetem 515) und den – Bad Schwalbach) und 1986 (Abschnitt Bad Schwalbach – Diez)
jenseits (mit Bahnbus) des Empfangsgebäudes waren: In beiden Fällen verlor die Kreis- und Kurstadt Bad Schwal-
war trügerisch, denn bald folgte die Still-
bach einen leistungsfähigen Zubringer insbesondere für ihren Kur-
legung der Aartalbahn.
betrieb, der von nun an natürlich rückläufig war. Busse waren und
sind keine ernsthafte Alternative, schon gar nicht mitten im Taunus,
wo beispielsweise verschärfte winterliche Verhältnisse für Chaos auf
den Straßen sorgen. Genauso wie die benachbarten Taunusstädte Bad
Soden, Kronberg und Königstein ihre selbstverständliche Schienen-
anbindung besitzen, genauso hätte Bad Schwalbach seinen Anschluss
ans Schienennetz behalten müssen. Initiativen für einen Ausbau der
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Strecke und sogar für eine S-Bahn-Verbindung Wiesbaden – Bad Arbeitszug bis zum dampfenden 50-Achsen-Nahgüterzug. Etwa 20
Schwalbach wurden natürlich abgeschmettert, Verkehr wird in die- Weichen, eine kleine Drehscheibe sowie ein rundes Dutzend Formsi- Das war 1966
sem Teil des Rheingau-Taunus-Kreises seither dem Auto und einer gnale für Zug- und Rangierfahrten genügen für einen authentischen Ein Jahr nach der Bundestagswahl zerbricht die Koalition aus
unattraktiven Busbedienung überlassen. Nachbau und lebhaften Modellbetrieb. Fehlt nur noch Kaiserin „Sis- CDU/CSU und FDP und wird von der ersten Großen Koalition
Allzu rosig sollte unser historisches Eingangsbild also trotz aller si“ als Preiser-Püppchen. abgelöst; als Bundeskanzler wird Kurt Georg Kiesinger vereidigt.
beginnenden Frühlingsidylle nicht betrachtet werden, denn zum Zeit- Zur Bad Schwalbacher Bahnhofs- und Eisenbahngeschichte ge- Bei der Fußball-Weltmeisterschaft holt England im eigenen Land
punkt der Aufnahme (1966) sollten nur noch zwei Jahrzehnte verge- hört auch die Existenz einer Bundesbahnschule im Stadtbereich, in mit einem 4:2-Sieg nach Verlängerung gegen Deutschland den Ti-
hen, bis Bad Schwalbach seinen regulären Schienenverkehr im Jahre deren Mauern heute das Finanzamt untergebracht ist. Im Jahre 1973 tel; das umstrittene dritte Tor der Engländer geht als „Wembley-
1986 verlor. Dabei war die am 15. No- hatte der Verfasser das Vergnügen, die Tor“ in die Geschichte ein. Für Aufsehen sorgen außerdem der
vember 1889 eröffnete Station Bad ersten Schritte seiner Ausbildung zum bereits letzte Tournee-Auftritt der Beatles und die Minirock-Mode
DIE STILLLEGUNG DER AARTALBAHN sowie ein weißer Wal, der sich in den Rhein verirrt hat. Weltweit
Schwalbach (bis 1927 Langenschwal- Eisenbahner in dieser Bundesbahnschu-
gibt es massive Proteste gegen den Vietnam-Krieg und deutscher
bach) als Mittelpunkt der Aartalbahn ALS ZUBRINGER TRAF DEN KURORT HART. le zu absolvieren, die noch in der ersten Fußballmeister wird der TSV 1860 München.
in ihrer Blütezeit ein Prachtstück von BUSBETRIEB MITTEN IM TAUNUS WAR Hälfte des gleichen Jahrzehnts geschlos-
Bahnhof mit entsprechend lebhaftem KEINE ALTERNATIVE. sen wurde. Per Schienenbus wurde dafür
und gar internationalem Betrieb: 1897 zwischen Wiesbaden und Bad Schwal-
reiste Kaiserin Elisabeth von Österreich bach gependelt und bei der nachmittäg-
(„Sissi“) zu einem einmonatigen Kuraufenthalt ins damalige Langen- lichen Rückfahrt wurde im Bahnhof Bad Schwalbach oftmals ein Zug
schwalbach, im K.u.k.-Sonderzug mit dabei ihr Tagessalonwagen so- übersprungen, um die letzten Limburger Dampflokomotiven der Bau-
wie ihr Schlafwagen. Im gleichen Jahr erschien kurz darauf Fürstin reihe 050 – 053 bei ihrer Arbeit mit den Nahgüterzügen zu beobach-
Anna Maria zu Schaumburg-Lippe mit einem „rheinischen Salon- ten. Noch im gleichen Jahr übernahm die Petroleum-P 8 alias V 100
wagen“ sowie einem Gepäckwagen, die freilich etwas weniger spek- diese Leistungen und der planmäßige Dampfbetrieb auf der Aartal-
takulär nur an einen planmäßigen Zug angehängt wurden. Kaum zu bahn wurde endgültig Geschichte.
glauben, aber zu dieser Zeit fanden im Langenschwalbacher Bahn- Und zur Bad Schwalbacher Eisenbahngeschichte gehören natürlich
hof sogar noch Lokwechsel statt – der kleine Lokschuppen hatte also auch die berühmten Wagen, die den Namen Schwalbach im Namen
vollste Daseinsberechtigung. tragen – die „Langenschwalbacher“. Speziell für die Aartalbahn und
Wegen der fast ständig geschlossenen Schranken an der wichti- hier besonders für die engen Gleisbögen des Abschnitts zwischen
gen Zufahrt zur Stadt (ein- und ausfahrende Planzüge, Rangierbe- Wiesbaden und Langenschwalbach ließ die Königlich Preußische
trieb und umsetzende Lokomotiven) wurden Überlegungen laut, das Eisenbahnverwaltung (K.P.E.V.) spezielle vierachsi