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Nr. 2 / 4.1.2020
Deutschland € 5,30
Printed in
Germany
Tschechien Kc 195,-
Ungarn Ft 2670,-

Raus aus der


Spanien/Kanaren € 7,00

Ehrgeiz-Falle
Spanien € 6,80

Gut, besser, Burn-out: Warum man es mit


Slowenien € 6,50

der Selbstoptimierung nicht übertreiben sollte


Slowakei € 6,80
Polen (ISSN00387452) ZL 33,–
Portugal (cont) € 6,80
Norwegen NOK 86,–
Österreich € 6,00
Griechenland € 7,30
Italien € 6,80
Frankreich € 6,80
Finnland € 8,30
Dänemark dkr 57,95
BeNeLux € 6,40

DEUTSCHLANDS HEISSESTES UNTERNEHMEN


Wie sich Adidas mit Superstars und Instagram neu erfunden hat
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»E IN E S DE R
Das deutsche Nachrichten-Magazin
BESTEN
Hausmitteilung
Betr.: Saudi-Arabien, Energiewende, Titel, SPIEGEL COACHING
WIRTSCHAFTS -
BÜCHER DER
Wer in den Maschinenraum Saudi-Arabiens vorgelassen werden möchte, muss früh
aufstehen. Nachts um halb zwei betrat Reporterin Susanne Koelbl den Salam-Palast
in Dschidda, Sommerresidenz und inoffizieller Regierungssitz von Kronprinz Mo-
JÜNGEREN ZEIT.. «
hammed bin Salman, jenem jungen Herrscher, der verdächtigt wird, den Mord an MANAG E R MAG A Z I N
dem Journalisten Jamal Khashoggi in Auftrag gegeben zu haben – und der das Land
zugleich vom Extremismus befreien will. »Die Außenwahrnehmung des Prinzen ist
ganz falsch«, behauptete dort der wohl wichtigste Bera-
ter des Herrschers, Ahmad al-Khatib, und zeigte ein Vi-
SUSANNE KOELBL / DER SPIEGEL

deo, das ausgerechnet die verschlossene Golfmonarchie


als neue Tourismusdestination anpreist. Koelbl traf Ge-
folgsleute und Kritiker des Prinzen, sie fuhr in die Wüste
und besichtigte die Anfänge der Zukunftsstadt Neom.
»Mohammed bin Salman ist ein moderner Autokrat; wer
ihn unterstützt, hat eine gute Zukunft, wer ihn bekämpft,
dem bereitet er die Hölle«, sagt Koelbl, die seit 2011 im-
Koelbl mer wieder nach Saudi-Arabien reist. Seite 76

Wie lange kann es dauern, drei Windräder zu bauen? Sieben Jahre sind verstrichen,
seit der Unternehmer Joachim von Zepelin diese Anlagen auf einem Acker bei
Appelhagen in Mecklenburg-Vorpommern geplant hat. Stefan Schultz besuchte
Zepelin und erlebte den Ort als Lehrbeispiel für den Konflikt um die Energiewende:
Anwohner sorgen sich dort um ihre Gesundheit und den Wertverlust ihrer Häuser.
Zepelin scheint unfähig, ihnen die Bedenken zu nehmen. Und Bürgermeister Hans
Müller versagt in der Krisenkommunikation. »Es fehlt jeglicher Ansatz, die verschie-
denen Interessen zu verbinden«, sagt Schultz. Und das Problem sei größer: »Der
Regierung gelingt es nicht, einen gesellschaftlichen Konsens für die Energiewende
zu schaffen.« Seite 58

4 0 0 Seiten · Deut sch von K arlheinz Dürr


Gebunden mit S U · € 24,0 0 ( D )
Die meisten Menschen wären wohl gern erfolgreicher, fitter Auc h a l s E - B o o k e r h ä l t lic h
und strahlender, als sie es eigentlich sind. Gefährlich aber
wird es für jene, die allzu hart daran arbeiten, ihrem Idealbild
zu entsprechen. Selbstoptimierung nennen Wissenschaftler Sie galt als der weibliche Steve Jobs.
dieses Streben nach dem besseren Ich. Doch viele Männer,
RALF BAUMGARTEN

Frauen und Heranwachsende fühlen sich zermürbt von der Mit ihrem milliardenschweren
permanenten Sorge, nicht zu genügen. Bei den Recherchen St ar t-up Ther anos wollte Eliz abeth
für die Titelgeschichte stieß Katja Thimm auf Erklärungs-
ansätze für den Optimierungsdrang – und auf Menschen, die
Holmes die Medizinindustrie
sich im ständigen Wettkampf mit sich selbst fast verloren Thimm revolutionieren : Ein einziger Tropfen
hätten. Grundsätzlich sei Selbstoptimierung ein Erfolgs- sollte reichen, um Blutbilder zu
prinzip der Menschheit, erfuhr sie. Doch das Gefühl für das richtige Maß scheine ab-
handengekommen. »Viele meinen, sie müssten inmitten der Unüberschaubarkeit un- erstellen. Doch die Technologie
serer Welt ständig bestmögliche Entscheidungen treffen«, sagt Thimm. »Sie fürchten, hinter den schicken Appar aturen hat
sonst als Verlierer dazustehen.« Seite 90
nie funkkttionier t . Pulit zer- Preistr äger
John Carreyrou kam diesem giganti-
Sich Ziele fürs neue Jahr zu setzen ist leicht. Sie dann auch
schen Betrug auf die Spur und er z ählt
zu erreichen, ohne sich dabei zu überfordern, fällt oft deutlich in seinem mehr fach ausgezeichneten
schwerer. Hilfestellung liefert die neue Ausgabe von SPIEGEL Bestseller die packende Geschichte
COACHING. Wie lässt es sich gelassen und entschleunigt
leben? Was hilft dabei, das Gedächtnis zu trainieren? Welches seiner Enthüllung.
Essen ist gut für ein entspannteres Ich? Selbsttests zeigen,
wo es persönlich hakt. Mit den alltagsnahen Übungen, die
im Heft vorgestellt werden, lässt sich das eigene Verhalten
dauerhaft ändern. SPIEGEL COACHING ist jetzt im Handel
erhältlich.

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 3 www.dva.de


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Inhalt
74. Jahrgang | Heft 2 | 4. Januar 2020

Titel Diversität Ein Gesetz sollte


Diskriminierung von
Erfolg Schöner, schlanker, Intersexuellen beenden,
schlauer – der steigende Druck, nun berufen sich auch
sich selbst zu optimieren, andere darauf – zu Recht? . . . 35
überfordert viele . . . . . . . . . . . . 90
Religionen Die jüdische
Lebensstile Bestseller- Gemeinde in Halle kämpft mit
autorin Ildikó von Kürthy den Folgen des Attentats . . . 36
erklärt, wie sie gelassener
werden will . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Onlinedating Zwei Psycho-
loginnen haben Nutzer
von Tinder gefragt, was
Deutschland ihnen gefällt . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Leitartikel Trumps Außen-


politik ist gescheitert . . . . . . . . . 6 Reporter

AGENCE / BESTIMAGE
Meinung Die Gegendarstellung / Familienalbum / Wie fühlt es
So gesehen: Ganz neue Zeit 8 sich an, gehasst zu werden? 42

25 Euro Pfand auf Handys / Eine Meldung und ihre


Seehofers Abschiebeneuregelung Geschichte Wie über Nacht
verpufft / Von der Leyen eine Städtepartnerschaft zu
beliebter als Merkel . . . . . . . . . . 10
Erdoğans Spiel Ende ging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Sicherheit Der geplante Macht- mit den Flüchtlingen Courage Der Portugiese
zuwachs der Bundespolizei 14 Aristides de Sousa Mendes
Mehr als 235 000 Menschen fliehen aus dem Nord- rettete Tausende Menschen
Karrieren Neue Vorschriften westen Syriens in Richtung Türkei. Der Flüchtlings- vor den Nazis . . . . . . . . . . . . . . . 44
sollten Politikern den Wechsel
in Lobby-Jobs erschweren,
deal zwischen Präsident Erdoğan und den Europäern Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 49
doch sie greifen zu kurz . . . . 17 droht zu platzen – nun muss Angela Merkel
die Abmachung mit dem Autokraten retten. Seite 70
Parlament SPIEGEL-Gespräch Wirtschaft
mit den Abgeordneten
Bijan Djir-Sarai und Omid Airbus-Sanktionen treffen
Nouripour über ihre deutsche Winzer / Germania-
iranischen Wurzeln und Insolvenzverwalter fordert
ALEXEY NIKOLSKY / SPUTNIK / EPA-EFE / REX

ihre deutsche Heimat . . . . . . . 20 440 Millionen Euro . . . . . . . . . 50

Essay 2020 könnte das Jahr Innovationen Wie Adidas


der Frauen werden ......... 24 zum digitalen Vorzeige-
unternehmen wurde . . . . . . . . 52
Außenpolitik Deutschland
sucht noch immer seine Rolle Energiewende Bürokratie
in der Welt – andere und Kleinstaaterei bremsen
Regierungen wundern sich den Ausbau der Windkraft 58
über das zaudernde Berlin 26
IT SAP-Co-Chef Christian
Seuchen Das Auswärtige Amt Gefährlicher Hitzkopf Klein im SPIEGEL-Gespräch
will Ebola-Kranke mit über die Zukunftsangst vieler
einem Spezialflieger in deutsche Er war als Reformer angetreten, inzwischen ringt Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 61
Krankenhäuser bringen . . . . 30 Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed
Finanzen Die sinkende
Freizeit Fußballschiedsrichter
bin Salman mit dem Ruf als Kriegstreiber und Staatsverschuldung wird
in den unteren Ligen leben Auftraggeber eines Mordes. Seine Berater zur Gefahr für
gefährlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 versuchen nun, sein Image aufzupolieren. Seite 76 die Finanzmärkte . . . . . . . . . . . 64

4 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Medien Astronomie Steht der rote


Riesenstern Beteigeuze vor
Debatten Intendant Tom der Explosion? . . . . . . . . . . . . 103
Buhrow über das Satirevideo
des WDR-Kinderchors . . . . . 66 Artenschutz Wie ein
italienischer Tierarzt
bedrohte Nashörner
Ausland retten will . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Neue schwarz-grüne Koalition Geschichte Das Netzwerk


in Wien / Umstrittenes der Nonnen – was
Atomkraftwerk in Weiß- lange verschollene Briefe
russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 über die Macht von
Frauen im Spätmittelalter

MOLLY MATALON / NYT / LAIF


Migration Lässt der türkische verraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Präsident Recep Tayyip
Erdoğan den Flüchtlingsdeal
mit der EU platzen? . . . . . . . . 70 Kultur

Libyen Wie internationale Entdeckung aus dem


Mächte im Bürgerkriegsland Nachlass des Schriftstellers
mitmischen . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Peter Kurzeck / »Little Joe«
Das Begehren der Frauen im Kino – aberwitzig und
Australien Tödliche Wald- schlau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
brände setzen den Premier und Das Liebesleben und die Sehnsüchte
Kohle-Freund Scott Morrison junger Amerikanerinnen: In den USA stand Autoren Lisa Taddeo
unter Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 über das Liebesleben
Lisa Taddeos »Drei Frauen« auf Platz eins junger Amerikanerinnen . . . 110
Saudi-Arabien Kronprinz der Bestsellerliste. Jetzt erscheint das Sachbuch auf
Mohammed bin Salman Deutsch. Ein Treffen in Connecticut. Seite 110 Zeitgeschichte Ein Bosnier
kämpft um seinen Ruf . . . . . . . 76 erzählt am Beispiel
eines Hochhauses das
Indien Premier Narendra Modi Drama seines Landes . . . . . . 114
verwandelt sein Land in
einen fundamentalistischen Stimme des Gewissens Entertainment Warum
Hindu-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 so viele erfolgreiche
Im Sommer 1940 flüchteten Hunderttausende Serien aus Israel
Menschen vor Hitlers Wehrmacht. Viele kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Sport wollten nach Lissabon. Die notwendigen Visa Zeitgeist Der seltsame
Die teuersten Devotionalien verschaffte Aristides de Sousa Mendes, Hygge-Trend . . . . . . . . . . . . . . . 121
der Sportstars / Magische der portugiesische Konsul in Bordeaux. Seite 44
Momente: Patrick Hanke Filmkritik Das
über seine Meisterschaft im furiose Rassismusdrama
Rennrutschen . . . . . . . . . . . . . . . 83 »Queen & Slim« . . . . . . . . . . . 122

Handball Wie sich National-


torhüter Andreas Wolff in
Polen neues Selbstvertrauen
erarbeitet hat . . . . . . . . . . . . . . . . 84
ADIDAS / CAMERA PRESS / LAIF

Sponsoring Fernsehrat
stoppt Schleichwerbung
von Red Bull . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Wissenschaft

Später Schulstart erleichtert das Stars and Stripes


Lernen / Masern schon in der SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 57
Antike / Analyse: Biologe plant Adidas gilt als eines der innovativsten Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
genetische Dating-App . . . . . . 88 Unternehmen der Welt. Impressum, Leserservice . . . 124
Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Mobilität Die schwierige Suche
Der Traditionskonzern hat sich fürs Instagram- Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
nach dem klimafreundlichen Zeitalter neu erfunden, kooperiert Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Lkw der Zukunft . . . . . . . . . . 100 mit Beyoncé und expandiert weltweit. Seite 52 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelbild: Getty Images 5


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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Besser ohne Brechstange


Leitartikel Der Westen sollte aus Trumps außenpolitischem Scheitern lernen –
und eine maßvolle Diplomatie verfolgen.

E
r will alles ganz anders machen. Und selbst unter auf Trumps persönliche Avancen eingehen und sein Atom-
Trumps Kritikern gab es viele, die lange dachten: programm zugunsten wirtschaftlicher Zugeständnisse
Vielleicht ist das in der Außenpolitik gar keine zurückfahren. Spätestens seit seiner martialischen Neu-
schlechte Idee. Schließlich hatten sich die US-Präsi- jahrsansprache, in der er Amerika drohte, ist klar, dass Kim
denten vor ihm an den immer gleichen Brandherden ver- die Bombe wichtiger ist als Geschäfte mit den USA.
kämpft – Afghanistan, Iran, Nordkorea. Die US-Regierung und auch die Europäer sollten aus
Donald Trump vollzog einen Bruch mit traditioneller Trumps Scheitern die Lehre ziehen, dass die Brechstangen-
US-Diplomatie. Weg mit den Profis aus dem State Depart- methode vielleicht für den Wahlkampf taugt, aber nicht
ment, weg mit dem diplomatischen Besteck: Verhand- für die Diplomatie. Außenpolitik ist eine mühsame und
lungen, Ausgleich, Interessenabwägung. Das Wort der zugleich gefährliche Angelegenheit. Es braucht Ausdauer,
Stunde war Disruption – Erschütterung. Donald Trump Kompromissbereitschaft, Demut.
behauptete, Konflikte allein durch Auch Obamas Nukleardeal hat
sein Charisma und seine Fantasie das Regime in Teheran nicht
lösen zu können. Hatten nicht davon abgehalten, in der Region
auch die Tech-Firmen im Silicon Unfrieden zu stiften. Sein Ver-
Valley die Welt durch Innovatio- such, das Iran-Problem in Einzel-
nen aus den Angeln gehoben? teile zu zerlegen, war trotzdem
In diesen Tagen offenbart sich richtig. Großkonflikte sind nicht
überdeutlich, dass Trumps Ansatz mit einem bombastischen Deal
gescheitert ist. Disruption mag ein zu lösen, sondern Schritt für
Modell für Google und Facebook Schritt: Ihr lasst von der Atom-
sein, für die Weltpolitik eher nicht. bombe ab, dafür lockern wir
In Bagdad griffen schiitische Sanktionen. So funktioniert
Milizionäre am Dienstag die ame- Diplomatie. Die Europäer sollten
rikanische Botschaft an, wohl im diesen Ansatz weiterverfolgen.
Auftrag Irans. Der Botschafter Das Beispiel Nordkorea zeigt,
und Mitarbeiter mussten evaku- wie wichtig es ist, dass in der Poli-
iert werden. Beinahe zeitgleich tik Profis am Werk sind. Trump
THAIER AL-SUDANI / REUTERS

drohte Nordkoreas Diktator Kim jedoch verachtet Experten. Er hat


Jong Un damit, neue Atomwaffen- das Außenministerium durch Ent-
tests durchzuführen, und das lassungen unzähliger Beamter bei-
obwohl Trump über Twitter ver- nahe handlungsunfähig gemacht.
kündet hatte, dass die nukleare In den Verhandlungen mit
Bedrohung durch Nordkorea Pjöngjang hat sich diese Ignoranz
gebannt sei. Zwei Krisen, die Sicherheitskraft vor US-Botschaft in Bagdad gerächt. Trump setzte auf das
Trump versprochen hatte einzu- vermeintlich freundschaftliche
dämmen, sind damit so akut und Verhältnis, das er mit Kim zu
bedrohlich wie lange nicht mehr. Es ist kein Zufall, dass haben glaubte. Er hat nicht verstanden, und es hat ihm
Iran und Nordkorea gerade jetzt die Eskalation suchen, offenbar auch niemand gesagt, wie wichtig Kim Atomwaf-
da Trump durch das Impeachment-Verfahren und vor fen für den eigenen Machterhalt sind. Nur so lässt sich er-
allem durch den bevorstehenden Präsidentschaftswahl- klären, warum Trump als Gegenleistung für den Gipfel mit
kampf die Hände gebunden sind. Kim in Hanoi 2019 nicht zumindest einen vorübergehenden
Die Führung in Teheran ist in ihrem Vorgehen halbwegs Stopp des nordkoreanischen Nuklearwaffenprogramms
berechenbar. Sie hat versucht, über Gespräche mit Trumps erreicht hat.
Vorgänger Barack Obama ein Ende der Sanktionen gegen Nichts spricht gegen mutige, überraschende Initiativen
iranische Ölexporte zu erwirken. Seit die USA den Atom- in der Außenpolitik. Willy Brandts Annäherung an den
deal aufgekündigt haben, ist sie umgeschwenkt: Sie beant- Osten hat die Welt sicherer gemacht. Nur müssen sie gewis-
wortet den »maximalen Druck« aus Washington, indem senhaft vorbereitet und umgesetzt werden. Im Moment
sie ihrerseits provoziert, etwa durch Angriffe auf US-Ein- überlegen sich Verhandlungspartner zweimal, ob sie Ver-
richtungen im Nahen Osten. Auf diese Weise will das träge mit den USA schließen, wenn sie fürchten müssen,
Regime Trump an den Verhandlungstisch zurückzwingen. dass sie jederzeit kassiert werden können.
Schwieriger ist vorherzusagen, welches Ziel Kim Jong Diplomatie ist ein ernsthaftes Geschäft. Sie verdient,
Un verfolgt. Für einen Moment sah es so aus, als würde er dass man ihr ernsthaft begegnet. Maximilian Popp

6 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Alles oder nichts?


SPIEGEL-Gespräch live im Thalia Theater

Peter Tschentscher Luisa Neubauer Gerald Traufetter

Eine Welle politischen Engagements von sehr jungen Menschen Mittwoch, 22. Januar 2020,
bewegte 2019 die Welt. Es wurden kompromisslose Forderungen 20.00 Uhr im Thalia Theater,
nach schnellen, effektiven Klimaschutzmaßnahmen gestellt. Alstertor 1, 20095 Hamburg
Wo stehen wir jetzt? Was hat es gebracht, und ist dies der rich-
tige Weg? Stärken die Aktionen unsere Demokratie, oder ist das Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse
und unter www.thalia-theater.de.
alles einfach naiv?
Eintritt: 11 bis 22 Euro. Abonnenten 9 bis
Diese und andere Fragen diskutiert SPIEGEL-Redakteur
15 € (nur an der Thalia-Kasse am Alstertor)
Gerald Traufetter mit dem Ersten Bürgermeister der Freien Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
und Hansestadt Hamburg, Dr. Peter Tschentscher, und der Weitere Informationen unter
Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer, Autorin des Buches www.spiegel-live.de.
»Vom Ende der Klimakrise«.
Die Veranstaltung wird per Livestream auf
spiegel.de und thalia-theater.de übertragen.

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Bildnachweise: Ronald Sawatzki/Senatskanzlei, Annette Hausschild/Ostkreuz, Peter Rigaud
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Meinung So gesehen

Ganz neue Zeit


Gesine Schwan weist der SPD
Alexander Neubacher Die Gegendarstellung den Weg in die Zukunft.

Spendenaufruf G Ein aufsehenerregendes Interview


befeuert die mit der Neuwahl der
Vorsitzenden offenbar nur vermeint-
Wird man einem Verstorbe- Sitte aber tun so, als gehöre der Körper lich beendete Führungsdebatte der
nen künftig das Herz eines Toten der Gemeinschaft. SPD. Äußerungen der bereits im
entnehmen, die Lunge, Nun bestreitet niemand, dass es gut ersten Durchgang ausgeschiedenen
Leber, Bauchspeichel- wäre, wenn mehr Menschen ihre Kandidatin Gesine Schwan im
drüse, die Nieren und die Organe spendeten. Trotz Werbekam- »Nordkurier« legen nahe, dass es bei
Augenhornhaut, den Kehl- pagnen haben erst 41 Prozent der der Abstimmung möglicherweise
kopf und den Darm, wenn es Deutschen einer Organ- und Gewebe- nicht mit rechten Dingen zugegan-
der Betroffene zu Lebzeiten versäumt spende zugestimmt. Derweil warten gen ist. Der Juso-Vorsitzende Kevin
oder vergessen hat, sich dem zu ver- etwa 9000 Schwerkranke auf ein Kühnert habe »Absprachen beim
weigern? Darüber soll der Bundestag Organ. Dieses Missverhältnis ist nicht Mitgliedervotum eingeführt, wo-
in seiner ersten Plenarsitzung 2020 nur für Betroffene und deren Angehö- durch das Ziel der Basiswahl torpe-
abstimmen. rige schwer auszuhalten. diert wurde«. Letztlich hätten so
Eine Gruppe um Gesundheitsminis- Ich selbst habe einen Spenderaus- »nicht die einzelnen Mitglieder ent-
ter Jens Spahn (CDU), Karl Lauterbach weis. Doch die Widerspruchslösung schieden«, sondern das »mittlere
(SPD) und Petra Sitte (Linke) will mit halte ich für falsch, denn sie verändert
dem Vorschlag für mehr Spenderorga- das Verhältnis zwischen Bürger und
ne sorgen. Ihre Widerspruchslösung Kollektiv. Das Individuum würde vom
würde die heutige Regel umdrehen. Organspender zum Organschuldner.
Bislang gilt: Organspender wird nur, Aus Freiwilligkeit würde eine morali-
wer seine Zustimmung erklärt. Künftig sche Verpflichtung.
soll gelten: Organspender kann im Um den Organmangel zu beheben,
Prinzip jeder werden, der nicht recht- bleibt einer freiheitlichen Gesellschaft
zeitig widersprochen hat. nichts anderes übrig, als an die Frei-
Schweigen würde nicht länger als willigkeit der Bürger zu appellieren.
Ablehnung, sondern als Zustimmung Deshalb an dieser Stelle:
zur Organspende gewertet – eine nach Liebe Leserin, lieber Leser, bitte Management« der Partei, dessen
deutschem Rechtsverständnis nicht prüfen Sie, ob ein Organspendeaus- Wahlempfehlung für das Duo Saskia
selbstverständliche Praxis. Schon der weis für Sie infrage kommt. Sie könnten Esken und Norbert Walter-Borjans
Kauf einer Kaffeemaschine setzt Menschenleben retten. viele SPD-Mitglieder gefolgt seien.
voraus, dass man schlüssig seinen Wil- Man darf davon ausgehen, dass
len bekundet und nicht nur im Laden An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher die SPD ohne diese unfaire Ein-
herumsteht. Spahn, Lauterbach und und Markus Feldenkirchen im Wechsel. mischung des frechen Juso-Chefs heu-
te anders dastehen würde: mit Ge-
sine Schwan an der Spitze und damit
ungleich erfolgreicher.
Denn die Tatsache, dass jüngst nur
20 583 SPD-Mitglieder für Schwan
und ihren Co-Bewerber Ralf Stegner
als Vorsitzende gestimmt haben,
gibt Hinweise darauf, dass Schwan
ungleich größere Sympathien bei
Menschen genießen könnte, die der
Partei fernstehen. Dieses Potenzial
würde eine Kanzlerkandidatin
Schwan ausschöpfen.
Wie ernst es Schwan mit ihrem
radikalen Reformansatz ist, belegt
bereits der Zeitpunkt ihrer Äuße-
rungen. Bisher war es sozialdemo-
kratische Tradition, dass SPD-Chefs
erst nach ihrem Ausscheiden aus
dem Amt ihre Partei harsch kritisie-
ren. Gesine Schwan braucht kein
Amt, um der SPD die Leviten zu le-
sen – als Vorsitzende der Herzen.
Stefan Kuzmany

8 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Deutschland
»Niemand hat eine Vorstellung von Juden. Man kennt sie nicht.« ‣ S. 36

MARCEL KUSCH / PICTURE ALLIANCE / DPA


Elektroschrott bei einer Recyclingfirma in Lünen

Recycling

25 Euro Pfand auf Handys


Die Bundestagsabgeordne- te verkaufen. Wir wollen, dass zum Bei- men, das Pfand auszahlen und mit dem
te Bettina Hoffmann, 59, spiel auch Discounter Geräte zurückneh- Hersteller verrechnen. Für Handys halte ich
Grünen-Fraktionsspreche- men müssen. Auch für Onlinehändler wie das für deutlich einfacher als für Flaschen.
rin für Umweltpolitik, über Amazon gilt eine Rücknahmepflicht. Sie SPIEGEL: Trotzdem: Lohnt sich das?
Maßnahmen zur Eindäm- sollten Rücknahmestellen in jedem Post- Hoffmann: Das Potenzial ist riesig. Die
mung des Elektroschrotts leitzahlgebiet mitfinanzieren und ihre Deutschen horten über hundert Millionen
Rücknahmepflicht offensiv kommunizie- alte Handys zu Hause in Schubladen. Schon
SPIEGEL: Frau Hoffmann, Ihre Fraktion ren. Schließlich geht es um die Rückgewin- heute können Spezialfirmen 98 Prozent
wird einen langen Maßnahmenkatalog nung wertvoller Rohstoffe. der Bestandteile eines Mobiltelefons recy-
gegen Elektroschrott in den Bundestag SPIEGEL: Sie meinen Edelmetalle? celn. Ihnen fehlen aber die Stückzahlen,
einbringen. Was treibt Sie um? Hoffmann: Genau. Ein Beispiel: In weil die Bürger ihre Altgeräte nicht
Hoffmann: Seit Jahren steigt der Konsum Deutschland werden jährlich 24 Millionen zurückbringen. Das soll das Pfand ändern.
von Elektronikwaren enorm an. Deutsch- neue Smartphones verkauft, in denen 720 SPIEGEL: Wird nach Plastikmüll jetzt
land verfehlt krachend die von der EU Kilogramm Gold, 7,3 Tonnen Silber und Elektroschrott das große Thema?
beschlossene Sammelquote von 65 Pro- 396 Tonnen Kupfer stecken. Wir fordern Hoffmann: Das sollte es sein. Denn elek-
zent in 2019. Kroatien oder Estland schaf- daher ein Pfand: Die Verbraucher sollen trische Geräte, vom Telefon bis zur
fen schon 80 Prozent, wir dagegen nur bei jedem Kauf eines Tablets oder eines Waschmaschine, können ein wichtiger
45 Prozent. Handys 25 Euro bezahlen. Das Geld er- Baustein in einer funktionierenden Kreis-
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? halten sie wieder, wenn sie die Geräte laufwirtschaft werden. Neben der Re-
Hoffmann: Alte Elektrogeräte wieder los- zurückbringen. cyclingfähigkeit müssen Langlebigkeit und
zuwerden muss genauso einfach sein wie SPIEGEL: Klingt nach einem hohen Ver- Reparierbarkeit in den Fokus rücken.
neue Geräte zu kaufen! Händler haben waltungsaufwand. Wer soll das Pfand- Heute haben wir Handys, bei denen Nut-
heute nur dann eine Verpflichtung, Altge- system betreiben? zer nicht einmal den Akku oder das
räte zurückzunehmen, wenn sie auf min- Hoffmann: Es muss ein System geben, Display wechseln können. Wir brauchen
destens 400 Quadratmetern Elektrogerä- sodass die Händler die Altgeräte anneh- ein Recht auf Reparatur. AB

10 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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GroKo-Verhandlungen hen, die wir schon unendlich oft wiederholt


Lauterbach mahnt SPD-Duo haben und nie durchsetzen konnten.« Lau-
terbach hatte im Wettbewerb um den Par-
 Der vormalige Kandidat für den SPD- teivorsitz für ein Ende der GroKo gewor-
Vorsitz Karl Lauterbach drängt die neuen ben. Er fordert das Spitzenduo zu neuen
Parteichefs Saskia Esken und Norbert Wal- Schwerpunkten auf. »Klima und Wirtschaft
ter-Borjans dazu, die Verhandlungen über sind die Gebote der Stunde, Umverteilung
eine Fortsetzung der Großen Koalition allein reicht nicht.« Die Änderungen am

CHRISTOF STACHE / AFP


rasch abzuschließen. »Ob eine Neubele- Klimapaket, wie sie im Vermittlungsaus-
bung der GroKo möglich ist, muss sich in schuss von Bundestag und Bundesrat aus-
den nächsten Wochen zeigen«, so der gehandelt wurden, seien ungenügend, so
Abgeordnete. »Das Schlimmste wäre, uns Lauterbach: »Es gibt im deutschsprachigen
bis zum Ende durchzuwursteln und plötz- Raum keinen Wissenschaftler, der sagt,
lich mit Forderungen im Wahlkampf zu ste- Lauterbach (2. v. r.), Genossen damit seien die Klimaziele erreichbar.« JOS

Werbeverbot Rückführungen ausreichender Haftplätze für rückzufüh-


Im Visier der Tabaklobby Seehofers Maßnahme zur rende Personen auf absehbare Zeit nicht
einlösen«. Bundesweit scheiterten 2019
 Inzwischen werden Tabaklobbyisten Abschiebung verpufft bis Ende Oktober 40 Prozent aller
deutlich seltener bei der Bundesregie- Abschiebungen auf dem Luftweg, weil die
rung vorstellig. Das geht aus der Ant-  Eine Ausnahmeregelung von Bundes- Betroffenen von der Polizei »nicht zuge-
wort der Bundesregierung auf eine Klei- innenminister Horst Seehofer (CSU) zur führt« werden konnten. Dies betraf 8040
ne Anfrage der Linksfraktion im Bun- Abschiebungshaft zeigt bisher kaum von 20 079 Abschiebungen. Thorsten
destag hervor. Zwischen 2014 und 2016 Wirkung. Es geht um das Geordnete- Frei, Unionsfraktionsvize im Bundestag,
fanden die Vertreter der Zigaretten- Rückkehr-Gesetz von August, nach dem ruft die Länder auf, »von allen Möglich-
industrie noch mindestens 31-mal Gehör Abschiebehäftlinge bis 2022 auch in nor- keiten Gebrauch zu machen, die wir
in Ministerien. Von 2017 an waren es in malen Gefängnissen untergebracht wer- ihnen mit dem Migrationspaket bei der
der gleichen Zeitspanne nur noch 8 den dürfen. Eine Umfrage des SPIEGEL Rückführung eröffnet haben«. LYR, ROL
Gespräche, 3 davon im Bundesfinanz- in den Bundesländern ergab, dass nie-
ministerium. Gezählt wurden nur Tref- mand bisher von dieser Möglichkeit
fen auf Leitungsebene. Niema Movas- Gebrauch macht. Die meisten Länder
sat, drogenpolitischer Sprecher der Lin- wollen dies auch künftig nicht tun, nur
ken im Bundestag, schließt daraus, dass Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vor-
die Regierung für die Zigarettenlobby pommern führen darüber Gespräche.
an Reiz verloren hat: »Die Tabak- Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz
industrie versucht viel mehr als früher, und NRW äußern hingegen Zweifel an
in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Europarechtskonformität einer
zu lobbyieren.« Denn diese hatte lange gemeinsamen Unterbringung von Straf-
ein umfassendes Tabakwerbeverbot gefangenen und Abschiebehäftlingen.
blockiert. Erst im Dezember hat die Zudem sei oft gar kein Platz in den norma-
Unionsfraktion sich auf ein Verbot von len Gefängnissen. Viele Länder bauen
Tabak- und E-Zigarettenwerbung auf aber ihre Abschiebehaftanstalten aus, wie

MICHAEL SCHICK / IMAGO IMAGES


Plakatwänden und Litfaßsäulen geei- etwa Hessen, dessen Anstalt in Darmstadt
nigt. Offenbar hofft die Qualm-Indus- »nahezu dauerhaft voll ausgelastet« sei.
trie, doch noch auf die ausstehende Wiederholt seien Inhaftnahmen wegen
Gesetzgebung Einfluss nehmen zu kön- fehlender Haftplätze nicht erfolgt, klagt
nen. Wie intensiv die Abgeordneten das hessische Innenministerium. Das Bun-
bearbeitet werden, bleibt im Dunkeln. desinnenministerium übt deshalb Kritik
Auf ein Lobbyregister konnte sich das an den Ländern. Es sei zu befürchten,
Parlament bisher nicht einigen. LYR dass diese ihre »Zusage der Bereitstellung Zelle der Abschiebehaftanstalt Darmstadt

Verteidigungsministerium dingten Flugaufkommens«, um die »verur- Bonn-Berlin-Flügen ist groß: Laut inter-
Weniger Beamtenflüge sachten CO -Emissionen« zu senken. Die
²
Abteilungsleiter sollen vor Genehmigung
ner Statistik buchten die 2700 Mitarbeiter
und Soldaten, die für das Ministerium
 Verteidigungsministerin Annegret eines Inlandsflugs die »Möglichkeit zur tätig sind, in den ersten acht Monaten des
Kramp-Karrenbauer (CDU) will die Zahl vorrangigen Nutzung schienengebunde- Jahres 2019 mehr als 3100 Tickets. Ins-
der klimaschädlichen Kurzstreckenflüge ner Reisemittel« prüfen. Persönliche Tref- gesamt kamen Kramp-Karrenbauers
ihrer Soldaten und Beamten zwischen fen sollen vermehrt durch Videokonferen- Ministeriale 2018 auf rund 13440 dienstliche
Bonn und Berlin reduzieren. Ihr Ressort zen ersetzt werden. Laut Weisung soll das Inlandsflüge. Unter den Beamten gilt die
teilt sich auf beide Standorte auf. Per Wei- Wehrressort bis 2023 klimaneutral wer- Bahn indes nicht als gangbare Alternative
sung wurden kürzlich alle Abteilungslei- den, dies sei aber auch bei weniger Flügen für Tagestermine in Bonn oder Berlin, da
ter ermahnt, die Hausspitze erwarte »eine nur durch zusätzliche Kompensations- man statt knapp einer Flugstunde mit
signifikante Verminderung des teilungsbe- zahlungen möglich. Das Aufkommen an dem Zug gut vier Stunden brauche. MGB

11
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Frank-Walter
Steinmeier

Ursula Angela
von der Leyen Merkel Olaf Markus Heiko
CDU CDU Scholz Söder Maas Jens Christian Peter
SPD CSU SPD Spahn Lindner Altmaier
CDU FDP CDU
Robert Horst
Habeck Seehofer
Grüne CSU
67 Kevin
Kühnert
SPD

47
44 43 43 42
40 39
37
Beliebtheit von Politikern 34 34
Anteil der Befragten, die angaben, dass der genannte Politiker/
die genannte Politikerin künftig »eine wichtige Rolle« spielen solle 28*
Veränderung der Beliebtheit »Dieser
im Vergleich zur vorigen Politiker
Umfrage im Oktober, ist mir
in Prozentpunkten unbekannt.«
* im Okt.
nicht auf
+6 –6 +5 der Liste

4 11 11 11 15 12 11 30 27

FOTOS: M. POPOW / IMAGO; J. REETZ / BR AUERPHOTOS; T. PADILL A / DPA PICTURE-ALLIANCE; PUBLIC ADDRESS / ACTION PRESS; S. LO OS / AF P ; I . FAS S B E N D E R / D PA P I CT U R E A L L I A N C E ; D. EC K E N / D D P I M AG E S ; C. R E H D E R / D PA ;
BECKER + BREDEL / ACTION PRESS; M. GAMBARINI / DPA PICTURE-ALLIANCE; B. PEDERSEN / DPA P ICTURE-ALLIANCE; B. V. JUTRCZENK A / DPA PICTURE-ALLIANCE; K. NIETFELD / DPA (2); A . PEIN / L AIF; DDP / INTERTOPICS / PA;
EVENTPRESS FUHR / DPA PICTURE-ALLIANCE; M. OSSOWSKI / S. SIMON / PICTURE ALLIANCE; P. FRISCHMUTH / ARGUS; C. SOEDER / PICTURE AL L I A N C E

Mehr Klimaschutz wagen Groko fortsetzen!


»Welches Thema ist Ihrer Meinung nach das wichtigste bei der »Wünschen Sie sich, dass die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD
anstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft?« bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 hält?«
Migration und »ja«
Klimaschutz Zuwanderung Anhänger von:

42% 27% »ja« 67 % CDU/CSU

SPD 80
90

Digitalisierung
FDP 73
17% »nein« 29 % Grüne 72
»nichts davon«/ Gleichstellung von
»weiß nicht«/ Mann und Frau Linke 55
keine Angabe
3%
11% »ist mir egal« 2% AfD 19
an 100% Fehlende: »weiß nicht«/keine Angabe

12 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Umfragen

SPIEGEL- Eine Frau


UMFRAGE
steigt auf
 Außenpolitisch wirksame Ämter stei-
gern die Beliebtheit. Den Beweis für die
Gültigkeit dieser Regel tritt regelmäßig
Bundespräsident Frank-Walter Stein-
meier an, der auf der Politikertreppe
ganz oben steht. Auch die Frau, die
jetzt auf Platz 2 folgt, Ursula von der
Leyen (CDU), bestätigt als neue Präsi-
dentin der EU-Kommission diesen
Mechanismus. 47 Prozent der 1053 von
Annegret Annalena Kantar Public im Auftrag des SPIEGEL
Kramp- Baerbock Befragten wünschen der CDU-Politike-
Karrenbauer Grüne
rin künftig eine »wichtige Rolle«, 6 Pro-
CDU
zentpunkte mehr als bei der letzten
Umfrage im Oktober. Doch ausgerech-
Katja Dietmar Norbert Saskia net Außenminister Heiko Maas (SPD)
Kipping Bartsch Walter- Esken Andreas hilft das Amt gar nicht. Er verliert im
Linke Linke Borjans SPD Scheuer Jörg selben Zeitraum um 6 Prozentpunkte
SPD CSU Meuthen an Gunst, rutscht von Platz 2 auf Platz
AfD
6. Auch Ausnahmen können eben
Regeln bestätigen. Zumal wenn Außen-
amtsinhaber daheim nicht einmal die
eigenen Leute überzeugen: Maas wurde
erst im zweiten Wahlgang in den Bun-
desvorstand der SPD gewählt. Dass die
neue Parteispitze, Saskia Esken und
Norbert Walter-Borjans, nur auf hinte-
28 ren Plätzen gelandet ist, ist kein Trost.
Der banale Grund dürfte nämlich sein,
24 dass die beiden Newcomer auf der Trep-
pe mehr als einem Drittel der Befragten
unbekannt waren.
18 17* Die Erderwärmung sticht alle anderen
15* 15* 15 Probleme. 42 Prozent der Befragten hal-
ten Klimaschutz für das wichtigste The-
12* ma der anstehenden deutschen EU-Rats-
präsidentschaft, erst mit Abstand gefolgt
4 40 34 38 41 37 26 39 von Migration und Zuwanderung mit 27
Prozent, Digitalisierung mit 17 und
Gleichstellung mit 11 Prozent.
Angaben in Prozent; Veränderungen von bis zu drei Prozentpunkten liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
Passend dazu will eine Mehrheit von
52 Prozent eine sozial-ökologische
Neuausrichtung der Regierungspolitik.
Richtungswechsel erwünscht Kaum ein Viertel, 24 Prozent, wünscht
»Welche generelle Ausrichtung der Politik der Bundesregierung wünschen Sie sich?« sich dagegen einen liberal-konservativen
stärker Richtungswechsel. Und nur 16 Prozent
stärker »sozial-ökologisch«
»liberal- finden, dass sich nichts ändern soll. Inte-
es soll sich konser-
Anhänger von: nichts ändern vativ« ressant: Auch unter Unionsanhängern
sind mehr für eine sozial-ökologische
stärker »sozial-
ökologisch« 52% Grüne

Linke 81
92 7

8
1

11
Wende als für eine liberal-konservative
(35 Prozent zu 30 Prozent). Nur AfD-
und FDP-Anhänger halten mehr retro
SPD
für deutlich wichtiger als mehr öko.
73 18 7
stärker »liberal-
konservativ« 24% CDU/CSU 35 30 30
Die GroKo soll weiter regieren, so
der klare Mehrheitswunsch (67 Pro-
zent). Dass die Koalition aus Union
FDP 25 12 61 und SPD bis zum Ende der Legislatur-
periode hält, hofft die Mehrheit der
es soll sich
nichts ändern 16% AfD 19 0 69 Anhänger fast aller im Bundestag ver-
tretenen Parteien. Unter AfD-Anhän-
an 100% Fehlende: »weiß nicht«/keine Angabe Kantar Public für den SPIEGEL vom 17. und 18. Dezember, 1053 Befragte gern will das nur knapp jeder fünfte. AB

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Über alle Grenzen


Sicherheit Das Innenministerium will der Bundespolizei mehr Befugnisse geben, auch
zur automatischen Gesichtserkennung an 135 Bahnhöfen. Kritikern geht das zu weit.

Minister Seehofer, Bundespolizisten: Neue Gefahren, neue Abwehr

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Deutschland

E
s gehört zum Schicksal des ge- Man muss also schon ein ganz besonde- keitsgrenzen halten müssten. »Die im Bun-
meinen Beamten, dass er in sei- rer Beamter sein, wenn man in der »Bild«- despolizeigesetz festgelegte geografische
ner Arbeit blass bleibt. Erstens Zeitung einen Spitznamen hat, der sich Bindung an den 30-Kilometer-Grenzraum
schiebt er seinen Dienst meist in nach Superheld anhört: »Der Rominator«. wird der Schleusungskriminalität mit der
einer tristen Amtsstube. Zweitens fällt Dieter Romann, der Präsident der Bundes- Dynamik und Mobilität der Verkehrsströ-
das grelle Licht der Öffentlichkeit eher polizei, reist außerdem gern in den Irak me im 21. Jahrhundert nicht mehr ge-
auf die Politiker, die Gesetze machen. oder Libanon, um persönlich geflüchtete recht«, heißt es in dem Papier. Deshalb
Dem Beamten bleibt dann nur, sie brav Ausländer zum Wohle der Republik zu- müsse die Bundespolizei Schleuser bun-
auszuführen. rückzuholen und andere endlich mal los- desweit verfolgen dürfen, wie es in Zügen
zuwerden. Je nachdem, was Romann für und auf Bahnhöfen heute schon der Fall
nötig hält, damit nicht nur das Gesetz, son- ist. Künftig sollen die Bundespolizisten
dern auch die Gerechtigkeit siegt. alle Fahrzeuge im ganzen Bundesgebiet
Romann kann sich nun auch noch über kontrollieren dürfen, in denen sie illegal
einen Gesetzentwurf für die Bundespolizei eingereiste Ausländer vermuten – Busse,
freuen. Denn das Papier, das dem SPIEGEL Kleintransporter, Laster, Pkw.
vorliegt, liest sich, als hätte der Chef der Auch ein anderes Problem soll im Ent-
Behörde seinen persönlichen Wunschzet- wurf angegangen werden: In der Vergan-
tel im Innenministerium eingereicht – aus genheit waren immer wieder Warnhinwei-
dem von CSU-Mann Horst Seehofer ge- se zwischen Bund und Ländern versickert.
führten Ressort kommt die Vorlage. Deshalb soll die Bundespolizei nicht nur
Geht es nach dem Papier, das mittler- Schlepper und Geschleppte überall aufspü-
weile mit dem Justizministerium abge- ren. Nach dem Zugriff soll sie für die Ver-
stimmt wird, würden die Kompetenzen dächtigen zuständig bleiben, einen illegalen
der Bundespolizei massiv erweitert – bis Aufenthalt strafrechtlich verfolgen und be-
dahin, dass Romanns Leute die großen enden. Bisher war das Sache der Länder.
deutschen Bahnhöfe mit Kameras zur Laut Entwurf soll vor allem auch die di-
Gesichtserkennung überwachen dürfen. gitale Gesichtserkennung eingeführt wer-
Rund um die Vorlage ist nicht nur Streit den. Bis Mitte 2018 lief am Berliner Bahn-
mit der Opposition im Bundestag program- hof Südkreuz ein Großversuch, um in der
miert, sondern auch mit den Bundeslän- Menge der Passanten Personen zu ent-
dern. Sie haben die Hoheit über polizei- decken, deren Fotos vorher ins Computer-
liche Aufgaben und werden aller Voraus- system eingespeist worden waren. Nun
sicht nach gegen den geplanten Entzug
von Zuständigkeiten heftig protestieren.
Das Papier aus dem Innenministerium Die Polizei soll
sieht vor, dass die Bundespolizei nicht nur
an der Grenze, auf Flughäfen, in Bahnen
Hooligans sogar
und auf Bahnhöfen für Sicherheit sorgt, vorbeugend
sondern künftig für jedes Verkehrsmittel einsperren können.
zuständig ist, bei dem der Verdacht besteht,
dass Ausländer damit geschleust werden.
Und wer den Bundespolizisten ohne Auf- soll die Gesichtserkennung regulär genutzt
enthaltserlaubnis ins Netz geht, den müs- werden und helfen, Menschen zu fassen,
sen sie demnach künftig nicht mehr der die zur polizeilichen Beobachtung oder
Landespolizei übergeben; der Ausländer Fahndung ausgeschrieben sind.
bliebe bis zur Abschiebung in den Händen Das gilt nicht nur für Ausländer, die il-
und der Verantwortung der Bundespolizei. legal ins Land gekommen sind, sondern
Aus der Bundespolizei würde damit vor allem für Terrorverdächtige. Der Ge-
auch eine Ausländerpolizei, sagen Kritiker, setzentwurf zielt auf »besonders gefähr-
die sich zudem darüber wundern, wie die dete Bahnhöfe und Flughäfen«.
41 000 Bundespolizisten all das schaffen Die Deutsche Bahn hat ihre Bahnhöfe
sollen, was der Entwurf vorsieht. dazu in drei Klassen eingeteilt. 46 lande-
Dass es Zeit für ein neues Bundespoli- ten in Kategorie 1 (»Anlage erscheint ge-
zeigesetz ist, bestreiten auch Kritiker nicht. eignet, als Anschlagsort in den Fokus
Das bisherige stammt zum größten Teil potenzieller Täter zu geraten«), 89 in Ka-
aus dem Jahr 1994, als Schleuser noch nicht tegorie 2 (»nachrangig geeignet«), 5528
RALF HIRSCHBERGER / PICTURE ALLIANCE / DPA

auf Messenger-Dienste wie WhatsApp und in Kategorie 3 (unwahrscheinlich«). Ein-


auf ein dichtes Netz an Fernbussen zurück- geführt werden soll die Gesichtserken-
greifen konnten. Und die Grenzpolizei, nung in den 135 Bahnhöfen der ersten bei-
die damals Bundesgrenzschutz hieß, hatte den Risikoklassen, außerdem auf 14 deut-
noch kein Arsenal an moderner Überwa- schen Verkehrsflughäfen.
chungstechnik. Der Gesetzentwurf spiegelt Luftfahrtunternehmen sollen zudem
nun beides wider: die neuen Gefahren, verpflichtet werden, Daten von allen
aber auch Möglichkeiten zur Abwehr. Passagieren, die nach Deutschland ein-
Die Bundespolizei fürchtet offenbar, reisen, an die Bundespolizei zu übermit-
Schlepper könnten ihr entwischen, weil teln. Das betrifft den Namen und die
sich die Beamten an zu enge Zuständig- Staatsangehörigkeit, die Nummern von

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 15


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Deutschland

Reisedokumenten und die Flugroute. Bis- Länder eingreifen dürfe. »Aber wenn es der Grenze, innerhalb deren die Bundes-
lang war das nur auf sogenannten Risiko- um eine effektive Verbrechensbekämp- polizei bislang agieren dürfe, antiquiert
strecken der Fall. fung geht, müssen solche Streitigkeiten und müsse ohne Frage »massiv ausgewei-
Auch gegen Fußball-Hooligans, die meis- manchmal zurückstehen«, sagt Vogt. tet werden«, sagt der CDU-Innenexperte.
tens mit der Bahn zu Auswärtsspielen fah- Armin Schuster, Polizeibeamter und »Der Entwurf aus dem Bundesinnen-
ren, will die Bundespolizei besser gerüstet Innenexperte der Unionsfraktion im Bun- ministerium enthält durchaus interessante
sein. Bisher konnte die Bundespolizei ge- destag, befürwortet den Entwurf im Gro- Ideen«, findet Herbert Reul, der Innen-
gen solche Gewaltfans nur Platzverweise ßen und Ganzen. So habe der Bund den minister aus Nordrhein-Westfalen. »Ich
aussprechen, sie beispielsweise aus dem Ländern schon bei der Einrichtung der hätte mir allerdings gewünscht, dass ich
Bahnhof werfen. Nun soll ihnen bereits Ankerzentren für Asylbewerber eine nicht von Journalisten davon erfahren
vorher und für bis zu drei Monate verbo- Verwaltungsvereinbarung vorgeschlagen, hätte.« Der CDU-Politiker sieht »Nach-
ten werden, überhaupt zum Bahnhof zu wonach sich die Bundespolizei um Ab- besserungsbedarf« bei der Kommunika-
kommen. schiebungen kümmere. »Wir würden nur tion. »Wenn die Bundespolizei neue Be-
Laut Gesetzentwurf können Hooligans vollziehen, was wir seit Jahren diskutie- fugnisse erhält, dann müssen wir sicher-
dazu verpflichtet werden, sich regelmä- ren«, sagt Schuster. stellen, dass die Länderpolizeien über die-
ßig auf einer Wache der Bundespolizei se Maßnahmen auf dem Laufenden gehal-
zu melden. Die Polizei soll sie sogar, mit ten werden. Sonst weiß die eine Hand
einem richterlichen Beschluss, vorüberge- Der Entwurf schaffe nicht, was die andere gerade tut. Diese
hend und vorbeugend einsperren können,
obwohl sie noch keine Straftat begangen
Parallelzuständigkeiten, Pflicht zum Informationsaustausch muss
ins Gesetz geschrieben werden.«
haben, um »die Ausreise gewaltbereiter die vom Grundgesetz Wie schwierig die Einigung mit den Län-
Fußballfans zu Auslandsspielen zu ver- nicht gewollt seien. dern werden wird, zeigt die Diskussion
hindern«, wie es in dem Papier heißt. Das um das Musterpolizeigesetz. Seit zwei-
Gleiche gilt für »Personen, bei denen der einhalb Jahren ringt eine Arbeitsgruppe
begründete Verdacht besteht, dass sie sich Eine Ausweitung der Gesichtserken- der Innenministerkonferenz der Länder
dem bewaffneten Kampf in Kriegsgebie- nung und anderer moderner technischer um bundeseinheitliche Regelungen, etwa
ten anschließen möchten«. Der Bund will Hilfsmittel müssten in einem Gesetz, das wann Verdächtige präventiv in Gewahr-
damit die Lehre daraus ziehen, dass sich heute beschlossen werde, »eine Selbstver- sam genommen werden dürfen. Bislang
Hunderte junge Deutsche zum »Islami- ständlichkeit« sein, sagt Schuster. »So eine konnten sich die Länder nicht einigen. Zu
schen Staat« durchgeschlagen und auf sei- Befugnis setzt ja immer voraus, dass die unterschiedlich sind die politischen Vor-
ner Seite gekämpft haben. eingesetzten Mittel verhältnismäßig sind.« stellungen der Landesregierungen, wie
Die Bundespolizei will außerdem in Zu- Beim Pilotprojekt am Berliner Südkreuz weit der Staat in die persönliche Freiheit
kunft wichtige Zeugen gegen Schleuser- gaben allerdings selbst Vertreter der Bun- eingreifen darf.
banden selbst schützen. Diese würden »re- despolizei zu, dass die Fehlerquote noch Heftige Proteste gegen den aktuellen
gelmäßig« eingeschüchtert. Die bisher zu- viel zu hoch sei. Gesetzentwurf sind von der Opposition
ständigen Länder arbeiten aus Sicht der Es sei zudem notwendig, dass die Bun- im Bundestag zu erwarten. Zwar sieht
Bundespolizei zu schwerfällig. Bis sie ei- despolizei Schleuser im gesamten Bundes- selbst Irene Mihalic, Polizeibeamtin und
nen Zeugen der Bundespolizei übernäh- gebiet bekämpfe. Das müsse aber nicht Innenexpertin der Grünen, dringenden Re-
men, vergingen »nach bisheriger Praxis für Delikte wie illegale Einreisen oder un- formbedarf beim Bundespolizeigesetz –
teilweise 6 bis 8 Wochen« – so steht es in erlaubten Aufenthalt gelten, sagt Schuster. allerdings eher beim Datenschutz.
der Begründung des Gesetzentwurfs. Das »Das ginge selbst mir zu weit, und mit den Der Bundespolizei neue Aufgaben zu-
müsse schneller gehen. Ländern ist das sicher nicht zu machen.« zuweisen sehe sie »erst mal kritisch«, sagt
»Dieser Entwurf wird so nicht Realität Allerdings sei die 30-Kilometer-Zone an Mihalic, »zumal weder die Ressourcen für
werden«, sagt Niedersachsens Innenminis- neue Aufgaben da zu sein schienen, noch
ter Boris Pistorius, der Sprecher der SPD- ein Bedarf an zusätzlichen Befugnissen
geführten Bundesländer. »Das wäre der belegt wäre. Von einem geordneten Ge-
Einstieg in den Ausstieg aus der föderalen setzgebungsverfahren würde ich erwarten,
Polizeistruktur.« Die Kompetenzen der dass diese Fragen zuerst geklärt werden«.
Bundespolizei auf das gesamte Bundes- Bundespolizeichef Romann hat offen-
gebiet auszuweiten würde Parallelzustän- bar mit dem Widerstand aus dem Bun-
digkeiten schaffen, die vom Grundgesetz destag und den Ländern gerechnet. Als
nicht gewollt seien. wollte er die Notwendigkeit eines neuen
Dass die Bundespolizei von der Fest- Gesetzes unterstreichen, hatte Romann
nahme bis zur Abschiebung für einen Aus- Anfang November im Einklang mit dem
länder zuständig bleibe, würde zudem die Bundesinnenministerium die Kontrollen
Handlungsfreiheit der Länder aushebeln, an den Außengrenzen verstärkt. Inner-
sagt Pistorius. Die Bundespolizei solle sich halb von 27 Tagen erwischten Bundespoli-
CHRISTIAN DITSCH / ULLSTEIN BILD

erst einmal auf ihre Kernaufgaben wie die zisten 178 Ausländer, gegen die eine Ein-
Sicherheit auf Bahnhöfen und Flughäfen reisesperre vorlag. Romanns Leute voll-
konzentrieren. streckten 249 Haftbefehle, machten etwa
Andere Sozialdemokraten äußern sich 1200 Personen dingfest, die zur Fahndung
vorsichtiger: Eine Reform des Bundes- ausgeschrieben waren, und stellten rund
polizeigesetzes sei überfällig, meint die 400 Drogen- und 100 Waffendelikte fest.
innenpolitische Sprecherin der SPD-Bun- Jürgen Dahlkamp, Martin Knobbe,
destagsfraktion, Ute Vogt. Sie rechne mit Andreas Ulrich
heftigen Diskussionen um die Frage, wie Bundespolizeichef Romann Mail: juergen.dahlkamp@spiegel.de
weit der Bund in die Kompetenzen der Wunschzettel des »Rominators«

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FUTURE IMAGE / ACT I O N P RE SS; SV E N H O P P E / DPA; ADAM B E RRY / GET T Y I MAGE S; T R UE BA / E PA- E F E / R E X / SH UT T E RSTO C K
HAMILTON / REA / LIFE; TOBIAS SCHWARZ / AFP; DABKOWSKI, WIKTOR / ACTION PRESS; PAUL ZINKEN / DPA; JENS KRICK /
Angezeigte Tätigkeiten
Minister und Parlamentarische Staatssekretäre müssen
mitteilen, wenn sie in den ersten 18 Monaten nach dem
Ausscheiden aus dem Amt eine Tätigkeit
aufnehmen wollen. Die Bundes-
regierung kann das ganz
oder teilweise unter-
sagen.

11 11
4 Sigmar Brigitte 8

Quelle: Bundesanzeiger
Gabriel Zypries
SPD Thomas
Uwe SPD de Maizière
Beckmeyer

5
CDU

2
SPD

Barbara
Ole Hendricks
Schröder SPD

4
CDU

1
Lukrativer Wechsel
Christian
Schmidt
Hermann CSU
Gröhe
CDU

Karrieren Die neuen Regeln für Regierungspolitiker, die nach ihrer Amtszeit hoch bezahlte
Lobbyistenjobs annehmen, greifen zu kurz. Viele gehen in den Ministerien weiter ein und aus.

A
lle paar Wochen kommt im Kanz- eine Auswertung des SPIEGEL von Parla- konnte. Zypries musste 15 Monate pausie-
leramt eine vertrauliche Runde mentsdokumenten, Unterlagen aus dem ren, ehe sie in den Beirat des Bundesver-
zusammen. Offiziell heißt sie Bundesanzeiger und Handelsregistern. bands mittelständische Wirtschaft gehen
»beratendes Gremium«. In Wahr- Die Daten offenbaren, wie beliebt der durfte. Die frühere Wirtschaftsministerin
heit ist es eine Ethikkommission. Sie be- Übertritt von der Politik ins Geschäft der gehört zu jenen Ex-Politikern, die wäh-
schäftigt sich mit ehemaligen Regierungs- Berater und Lobbyisten ist. Seit der vori- rend ihrer Karenzzeit mit Terminen in
politikern, die zum Beispiel in die Wirt- gen Bundestagswahl zeigten mindestens Ministerien auffielen.
schaft wechseln wollen. 13 ausgeschiedene Regierungspolitiker Zypries bestreitet ein Fehlverhalten.
Der Kommission gehören die frühere eine neue Tätigkeit an. Da viele von ihnen Doch Strafen müsste sie ohnehin nicht be-
Hamburger Senatorin Krista Sager (Grü- mehrere Jobs ins Auge fassten, wurden fürchten. Die Regierung setzt auf die ab-
ne), der einstige Bundesfinanzminister der Ethikkommission bis zuletzt 52 Posten schreckende Wirkung der Karenzzeitrege-
Theo Waigel (CSU) und Ex-Verfassungs- mitgeteilt, die meisten in der Wirtschaft. lung in der Öffentlichkeit. Opposition und
richter Michael Gerhardt an. Die altgedien- Und natürlich sind vor allem Politiker Lobbykritikern ist das jedoch nicht genug –
ten Politprofis werten die Lebensläufe der aus der ersten Reihe gefragt. Der frühere sie fordern Sanktionsmöglichkeiten und
Wechselwilligen aus und laden sie zu Ge- Außenminister Sigmar Gabriel und Ex- eine Verlängerung der Karenzzeit.
sprächen ins Kanzleramt ein. Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries, bei- Die neuen Regeln wurden vor dieser
Seit 2015 müssen Minister und Parla- de Sozialdemokraten, strebten mindestens Wahlperiode eingeführt und sollen verhin-
mentarische Staatssekretäre der Regierung je elf neue Tätigkeiten an. Ex-Innenminis- dern, dass Politiker für Gefälligkeiten im
vorab mitteilen, wenn sie einen Job außer- ter Thomas de Maizière (CDU) kommt auf Amt unmittelbar danach belohnt werden
halb des öffentlichen Dienstes antreten acht. Bei allen drei empfahl die Ethikkom- oder ihre Kontakte aus der Amtszeit allzu
wollen. Erkennt die Ethikkommission In- mission mitunter mehrmonatige Karenz- schnell versilbern. Zuvor hatte es Zoff um
teressenkonflikte, kann sie eine Sperrzeit zeiten, was vom Kabinett später auch so Seitenwechsler wie etwa den Staatsminis-
vorschlagen. Darüber entscheidet dann übernommen wurde. ter im Kanzleramt Eckart von Klaeden
das Bundeskabinett. Die Regelung miss- Gabriel sollte erst nach 12 Monaten in (CDU) gegeben, der nahtlos Cheflobbyist
fällt vielen Betroffenen, manche sprechen den Verwaltungsrat eines geplanten Ge- beim Autobauer Daimler wurde.
gar von einem Berufsverbot. meinschaftsunternehmens für Schienen- Für ältere Fälle ist die Ethikkommission
Trotzdem gehen viele Ex-Politiker in fahrzeuge von Siemens und Alstom ein- nicht zuständig. Dabei zeigt sich oft erst
den Ministerien ein und aus. Bei einigen ziehen. De Maizière wurde für 12 Monate im Laufe der Jahre, wie wertvoll die Ver-
liegt der Verdacht nahe, dass sie die ihnen ins Abklingbecken geschickt, bis er als Be- stärkung von der Regierungsbank für Ver-
auferlegte Karenzzeit umgehen. Das zeigt rater für die Deutsche Telekom loslegen bände und Unternehmen sein kann. Die

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 17


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Deutschland

52
Linksfraktion im Bundestag wollte zuletzt
mithilfe einer Kleinen Anfrage herausfin-
den, welche früheren Regierungspolitiker Posten wurden der
in ihren neuen Rollen wieder in Ministe- Ethikkommission
rien vorsprechen durften. Rekordhalter ist seit der Bundestags-
laut Antwort der Regierung der ehemalige wahl angezeigt.
Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU),
heute Vorstand bei der Deutschen Bahn.
Er absolvierte für die Bahn 101 Termine
in den Bundesbehörden.
Mal redete Pofalla mit seinem dama-
ligen Nachfolger im Kanzleramt, Peter Alt-
maier (CDU), über »Stuttgart 21«. Bei
einem anderen Termin diskutierte er mit
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer
(CSU) über die »strukturelle Weiterent-
wicklung« der Deutschen Bahn.
Auf Platz zwei liegt Ex-Staatsminister
Klaeden, der Mann von Daimler. Er durfte
58-mal vorsprechen, allein 15-mal an sei-
ner alten Wirkungsstätte im Kanzleramt.
Dort ging es um »Automobilthemen«,
die »allgemeine politische Lage« oder
»E-Mobilität«. Im September 2018 sprach Zypries mit Karenzzeit, telefonierte Beckmeyer mit
Der frühere Parlamentarische Finanz- ihrer früheren Mitarbeiterin im Bundes- seinem Parteifreund Niels Annen, Staats-
staatssekretär Steffen Kampeter (CDU) wirtschaftsministerium, Claudia Dörr-Voß. minister im Auswärtigen Amt. Beckmeyer
landete mit 54 Terminen auf Platz drei. Er Nach Auskunft der Bundesregierung ging und Annen erörterten »Fragen zu Export-
ist heute Hauptgeschäftsführer des Arbeit- es bei dem Treffen mit der beamteten genehmigungen«. Worum ging es bei dem
geberverbands BDA. Zuletzt geriet der Ex- Staatssekretärin um verschreibungspflich- Gespräch? Aus dem Auswärtigen Amt
Politiker wegen seiner Rolle beim Liefer- tige Medikamente. heißt es, die beiden hätten »allgemeine
kettengesetz in die Kritik. Interessengrup- Auf Nachfrage, in welcher Funktion sie Fragen der deutsch-französischen Rüs-
pen aus dem Entwicklungsbereich fordern das Gespräch geführt habe, erklärt Zy- tungskooperation« diskutiert. Über »ein-
ein solches Gesetz, damit deutsche Firmen pries, sie sei als »Privatperson« dort gewe- zelne Firmen oder Projekte« sei angeblich
bei Geschäften im Ausland gezwungen sen. Worum es genau ging, konnte sie an- nicht geredet worden.
werden, die Menschenrechte zu achten. geblich nicht mehr sagen, »wahrscheinlich In Bremerhaven und Umgebung gibt es
Aus Sicht des BDA würde das Lieferket- um eine Sachstandsnachfrage«, so Zypries. einige Werften, die ihre Kriegsschiffe in
tengesetz dagegen eher zum »Zusammen- Erstaunlich jedenfalls, wofür sich die Ex- die Welt exportieren. Sollte Beckmeyer
bruch des globalen Handels« führen. Ministerin privat so interessiert. für eine Firma aus dem maritimen Bereich
Eine Studie von Brot für die Welt, Mise- Mittlerweile sind die Karenzzeiten für lobbyiert haben, hätte er seine Karenzzeit
reor und dem Global Policy Forum deckte die drei zunächst untersagten Jobs abge- gebrochen. Auf Anfrage bestreitet er, dies
nun auf, dass Kampeter in verschiedenen laufen. Zypries kann sich jetzt voll und getan zu haben. Das Telefonat habe allein
Ministerien heftig intervenierte, um das ganz der geplanten Tätigkeit als Beraterin der »persönlichen Information über die
Gesetz zu verhindern. widmen. Ihr Netzwerk aus Regierungs- generelle Haltung der neuen Bundesregie-
Der Fall macht die Problematik von all- zeiten dürfte dabei nicht schaden. rung« zu Exportgenehmigungen gedient.
zu raschen Seitenwechseln klar: Ex-Politi- Ein Parteifreund von Zypries hat es of- Ähnlich schnell wie Beckmeyer wurde
ker haben für ihre Lobbyaktivitäten die fenbar ähnlich gehandhabt. Uwe Beckmey- auch der ehemalige Parlamentarische
besseren Kontakte zur Verfügung als an- er war Parlamentarischer Staatssekretär Staatssekretär beim Bundesinnenminister,
dere Interessenvertreter. Unternehmen beim Wirtschaftsminister und bis März Ole Schröder, wieder aktiv. Der CDU-Poli-
und Verbände sind bereit, viel Geld für 2018 Maritimer Koordinator der Bundes- tiker zeigte dem Kanzleramt nach Amts-
derartig einflussreiche Persönlichkeiten regierung. Der SPD-Mann aus Bremerha- ende im März 2018 an, als »Rechtsanwalt
und ihre Adressbücher auszugeben. Bri- ven meldete der Regierung unter anderem, sowie als selbstständiger Unternehmens-
sant wird es dann, wenn sie in der neuen dass er als »selbstständiger Unternehmens- berater tätig werden zu wollen«.
Rolle auch mit ihrer einstigen Wirkungs- berater« arbeiten wolle. Die Ethikkommis- Auf Empfehlung der Ethikkommission
stätte zu tun haben. sion empfahl eine Karenzzeit von zwölf untersagte das Kabinett für zwölf Monate
Während für Pofalla, Klaeden und Kam- Monaten für »Sachbereiche«, in denen er Aufträge in Bereichen, »die mit seiner frü-
peter mangels Gesetz noch keine Karenz- als Staatssekretär oder Maritimer Koordi- heren Amtstätigkeit in einem engen Zu-
zeiten galten, mussten andere Ex-Politiker nator tätig war. Die Regierung schloss sich sammenhang stehen«. Außerdem wurde
bereits eine Zwangspause einlegen, bevor dem Vorschlag an. Doch bereits am 16. Ja- Schröder dazu verdonnert, die Regierung
die Linksfraktion anfragte. nuar, rund zwei Monate vor Ablauf der 18 Monaten lang über einzelne Mandate
Brigitte Zypries zum Beispiel: Von den zu informieren, falls diese das »Vertrauen
elf Posten, welche die frühere Wirtschafts- der Allgemeinheit in die Integrität der Bun-
ministerin anzeigte, wurden ihr drei vor- Unternehmen sind bereit, desregierung« beeinträchtigen könnten.
erst untersagt, darunter die Beiratstätigkeit viel Geld für ehemalige Offenbar wollte man sich im Kanzleramt
für den Bundesverband mittelständische weitere Sperren vorbehalten.
Wirtschaft. Das hielt die SPD-Politikerin Minister und ihre Adress- Bereits am 5. September 2018 ließ Schrö-
aber nicht davon ab, im Regierungsviertel bücher auszugeben. der mit seiner Frau Kristina, ehemals Bun-
Kontakte aufzuwärmen.

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13
den in den Ministerien konsequent ausge-

WESTEND61 / W W W.FOTEX.DE
schlossen werden«, sagt Korte.
Im Bundeskanzleramt ist man zufrieden
ausgeschiedene Regierungspolitiker strebten seit mit der neuen Karenzzeitregelung. Pro-
Mindestens der Bundestagswahl 2017 eine neue Tätigkeit an. bleme bereitet noch die Frage, wann ein
Minister oder Parlamentarischer Staats-
sekretär über seinen geplanten Wechsel
informieren muss.
Im Gesetz heißt es schwammig, die »An-
zeigepflicht« bestehe, sobald ein Mitglied
oder ehemaliges Mitglied »mit Vorberei-
tungen für die Aufnahme einer Beschäfti-
gung beginnt oder ihm eine Beschäftigung
in Aussicht gestellt wird«.
In den vergangenen zwei Jahren kam
es aber regelmäßig vor, dass man es im
Kanzleramt erst aus den Medien erfuhr,
wenn ein Ex-Regierungsmitglied einen neu-
en Job erwog. Der SPD-Politiker Florian
Pronold ist wohl so ein Fall. Der 47-Jährige
ist Parlamentarischer Staatssekretär bei
der Bundesumweltministerin. Er soll erster
Direktor der neu gegründeten Berliner
desfamilienministerin, die »Kristina und waltung«. Trotzdem kann Schröder kei- Bauakademie werden und müsste dafür
Ole Schröder Consulting GmbH« beim nen Verstoß gegen seine Auflagen erken- sein politisches Amt niederlegen.
Amtsgericht in Wiesbaden eintragen. Der nen. Bei Tauber und Klöckner sei es um Im Umweltministerium war Pronold bis
Geschäftszweck umfasst die »Beratung »Fragen der Verteidigungs- und Landwirt- März 2018 für Bauthemen zuständig und
und Unterstützung von Unternehmen«, schaftspolitik« gegangen, so Schröder. leitete den Gründungsprozess der Bauaka-
auch in Bereichen des »Regulierungs- Auch in diesen Fällen wollte er die Namen demie. Er schuf also einen Posten, auf den
managements«. Klassische Lobbyarbeit der Auftraggeber nicht nennen. er sich später selbst bewarb. Eigentlich
also. Die Frage, wann Schröder sein erstes Ob es noch mehr kritische Fälle gibt, ist müsste Pronold dafür eine Karenzzeit auf-
Mandat mit der neuen Firma übernahm, unklar. Die Regierung musste auf die An- gebrummt bekommen, heißt es im Kanzler-
ließ er unbeantwortet. frage der Linkenfraktion einräumen, dass amt, weil er mit dem Wechsel das »Vertrau-
In der Antwort auf die Kleine Anfrage die Antworten der Ministerien »möglicher- en der Allgemeinheit in die Integrität der
der Linken findet sich ein Eintrag vom weise nicht vollständig« seien. Bundesregierung beeinträchtigen« könnte.
11. Dezember 2018 zu Schröder. An jenem Dieses Problem könnte gelöst werden – Doch bevor die Ethikkommission ein-
Tag sprach er mit Staatssekretär Lutz durch ein Lobbyregister. Die Ministerien schreiten konnte, schuf das Innenministe-
Stroppe aus dem Bundesgesundheits- könnten damit gezwungen werden, Ter- rium Tatsachen. Am 14. November ver-
ministerium über das Thema »Pflegekräfte mine mit Interessenvertretern zu spei- kündete das mittlerweile für Bauthemen
Pakistan«. Stroppe und Schröder sind Par- chern und offenzulegen. Bis heute aller- zuständige Haus, dass die Wahl auf Pro-
teifreunde. Im Innenministerium beschäf- dings weigert sich die Regierung, ein sol- nold gefallen sei. Schriftlich angezeigt hat
tigte sich Schröder auch mit Einwande- ches Register einzuführen. der Politiker den Job nach eigenen Anga-
rungsfragen. Verstieß er mit dem Gespräch Timo Lange von der Organisation Lob- ben aber erst am 28. November.
gegen die Sperre? bycontrol kritisiert die Untätigkeit der Re- Offenkundig ein Regelverstoß, doch
Schröder bestreitet das. Der Termin gierung. Er fordert zudem eine Karenzzeit Pronold sagt, er habe sich schon viel früher
habe »eindeutig und erkennbar nicht in für ehemalige Regierungsmitglieder von beim Kanzleramt schlaugemacht, wann er
einem engen Zusammenhang mit meiner bis zu drei Jahren. »Insbesondere beim den Fall anzeigen müsse, und dies recht-
früheren Amtstätigkeit« gestanden. Mit Wechsel in Lobbyjobs muss die Abkühl- zeitig getan. Darüber hinaus bitte er um
Stroppe habe er über »Fragen im Bereich phase deutlich ausgeweitet werden«, sagt Verständnis, dass er sich »zu Inhalten des
der Gesundheitspolitik« gesprochen. Ob Lange. Sollten Ex-Regierungspolitiker ge- laufenden Verfahrens nicht äußern kann«.
er im Auftrag eines Mandanten lobbyiert gen ihre Karenzzeit verstoßen, fordert Am Ende könnte ihm nicht nur die
habe, sagt Schröder nicht. Lobbycontrol Sanktionen wie das Strei- Ethikkommission einen Strich durch die
Am 6. Mai sprach Schröder mit dem chen von Versorgungsansprüchen. Rechnung machen. Zwei Kandidaten, die
Parlamentarischen Staatssekretär Peter Auch für den Parlamentarischen Ge- beim Auswahlverfahren um die Direkto-
Tauber (CDU) im Verteidigungsministe- schäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, renstelle unterlegen waren, haben gegen
rium über »Netzausbau und Frequenzver- steht fest, dass die Regeln zu lax sind. die Berufung Pronolds geklagt.
steigerungen«. Am 7. August wurde er bei »Nach Seitenwechseln muss die Nutzung Gesucht war ein Kandidat, der unter an-
Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner von Insiderwissen und das Zurückgreifen derem ein für die Bauakademie relevantes
(CDU) vorstellig, nun ging es um »450- auf persönliche Kontakte zu Parteifreun- Fach studiert hat und ein Renommee als
MHz-Frequenzen und deren Nutzbarkeit Ausstellungsmacher besitzt. Der Jurist und
für die ländlichen Räume«. Politiker Pronold erfüllte aber wohl keines
Beide Termine lagen womöglich noch Die Regierung musste dieser Kriterien. Bis das Arbeitsgericht ent-
im Bereich der 18-monatigen Anzeige-
pflicht, zumal Schröder im Innenministe-
einräumen, dass Ant- schieden hat, ist die Besetzung gestoppt.

rium mit Digitalthemen zu tun hatte. Im worten vielleicht »nicht Sven Becker, Markus Deggerich,
Marcel Pauly, Christoph Schult
Parlament hielt er damals eine Rede über vollständig« seien. Mail: sven.becker@spiegel.de
die »Netzinfrastrukturen der Bundesver-

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 19


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»Ich bin deutscher


Politiker, kein Exil-Iraner«

»Wir sind die Kronjuwelen


der Integration«

DANIEL HOFER / DER SPIEGEL

Politiker Djir-Sarai, Nouripour

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Deutschland

Politisch haben die Bundestagsabgeord- ist. Unsere Geschichte ist die einer ganzen mer, weil wir die Maschinen sahen und
neten Djir-Sarai, 43, und Nouripour, 44, Generation, die ihr Leben verloren hat, in wussten: Die werfen jetzt Bomben auf uns.
wenig gemein. Doch ihre Biografien ver- Gefängnissen, an der Front. Nouripour: Als Kind begriff ich den Ernst
binden sie. Beide verbrachten ihre Kindheit Djir-Sarai: Wenn ich hier in Deutschland der Lage nicht, der Krieg war eher ein
in Teheran und kamen nach der Islami- erzähle, dass ich 1987 ohne Eltern nach großer Spaß. Mein Cousin und ich haben
schen Revolution als politische Flüchtlinge Deutschland kam – da war ich elf Jahre den Luftangriffsalarm aufgezeichnet, ab-
nach Deutschland. Als deutsche Staats- alt –, sind die Leute entsetzt und sagen: gespielt und damit Leute verschreckt. Wir
bürger ringen beide bis heute um Aner- Das muss schlimm gewesen sein. Aber für haben uns aus dem Keller geschlichen,
kennung. Iraner ist es etwas völlig Normales. um das grelle Licht der Luftabwehr am
SPIEGEL: Warum kamen Sie hierher? Himmel zu beobachten. In der Schule hat-
SPIEGEL: Herr Djir-Sarai, Herr Nouripour, Djir-Sarai: Damals tobte der Krieg gegen ten wir Militärkunde, machten eine Klas-
Sie sind beide in Iran geboren und kamen den Irak, und keiner wusste, wie lange er senfahrt an die Front, ich kann immer
als Kinder nach Deutschland. Was ist für noch gehen würde. Ich zog zu meinem On- noch eine Kalaschnikow auseinander-
Sie Heimat? kel in Grevenbroich. Eigentlich wollten bauen.
Nouripour: Meine Heimat ist Frankfurt. meine Eltern und meine Schwester nach- SPIEGEL: Irans Regime hat schon Jungen
Meine Heimat ist Hessen. Und selbstver- kommen, aber das hat nicht funktioniert. in Ihrem Alter ermuntert, sich für die
ständlich Deutschland. Aber auch Europa. Meine Eltern haben sich am Ende dafür Front zu melden. Haben Sie das erlebt?
Djir-Sarai: Heimat ist Deutschland, Hei- entschieden, in Iran zu bleiben. Djir-Sarai: In der Schule wurden wir
mat ist das Rheinland. Heimat ist Greven- Nouripour: Meine Eltern hatten das Ge- aufgefordert, Briefe an die Soldaten an
broich, Rhein-Kreis Neuss. fühl, dass es für ihre Kinder in Iran keine der Front zu schreiben. Unser Schuldirek-
Nouripour: Gibt’s das wirklich? Perspektive gibt. Es gab die Regel, dass tor sagte uns bei jeder Gelegenheit, Mär-
Djir-Sarai: Ja, und man spricht es Greven- Jungs mit 14 nicht mehr ausreisen durften, tyrer – Schahid – zu werden sei das Größ-
broch aus und nicht -broich. Das ist das damit sie sich nicht präventiv dem Wehr- te, was es gibt auf der Welt.
rheinische Dehnungs-i. dienst entziehen. Und meine Schwester SPIEGEL: Haben Sie das geglaubt?
SPIEGEL: Und Iran? Teheran? hatte zwar den Concours für die Uni mit Djir-Sarai: Nein, definitiv nicht. Ich habe
Nouripour: Ich komme aus Iran, da sind einem Spitzenplatz bestanden, fiel aber schon als Kind gemerkt, dass da irgendwas
meine Wurzeln. Aber wenn ich in Teheran durch die ideologische Überprüfung, weil nicht mit rechten Dingen zugeht.
bin, fühlt sich das nicht wie Hei- Nouripour: In so einem System
mat an. lernt man von klein auf zu lügen.
Djir-Sarai: Ich sehe es genauso: SPIEGEL-Gespräch Du bekommst zu Hause beige-
Teheran ist für mich nicht die bracht, draußen etwas anderes
Heimat. Wenn ich dort bin, habe Die Bundestagsabgeordneten Bijan Djir- zu erzählen. Einmal sagte ich
ich nicht das Gefühl, zu Hause Sarai (FDP) und Omid Nouripour (Grüne) zu meiner Großmutter: Ich weiß
zu sein. Aber es ist auch nicht ir- nicht mehr, was ich glauben soll.
gendeine Stadt, ich spüre eine in- erzählen von ihrer Kindheit in Teheran, von Ich werde nie vergessen, wie hef-
nere Bindung, die ich selbst mei- Beleidigungen und dem sehr deutschen tig sie mir darauf antwortete: Zu
ner Frau nicht richtig erklären Hause sagen wir die Wahrheit,
kann. Wenn ich mein Elternhaus Spazierengehen. Und sie streiten über den draußen lügen sie dich an.
oder meine ehemalige Schule be- richtigen Umgang mit Iran. SPIEGEL: Diese Erfahrung des
suche, sind das nicht irgendwel- Lebens in der Diktatur teilen Sie
che Gebäude. mit Angela Merkel.
Nouripour: Ich war einmal dort, wo mein sie nicht zum Freitagsgebet ging. Wir Nouripour: Als ich in den Bundestag kam,
Geburtshaus stand. Es ist inzwischen ab- stimmten dann im Familienrat ab, ob wir hatte ich am schnellsten eine gemeinsame
gerissen worden. Trotzdem war es ergrei- Iran verlassen, und mein Vater wurde Ebene mit Kolleginnen und Kollegen aus
fend dort zu sein. An jeder Straßenecke überstimmt. Für meine Eltern war das der Bürgerrechtsbewegung der ehemali-
waren Erinnerungen. Hier haben wir Mur- schwer. Sie hatten studiert, waren leitende gen DDR. Man ist ein anderer Mensch,
meln gespielt, da haben wir uns geprügelt, Angestellte am Flughafen, sie haben gut wenn man Unfreiheit erlebt hat.
drüben haben wir gekickt. verdient. Aber meine Mutter hat diesen SPIEGEL: Wie haben Sie Ihre Ankunft in
SPIEGEL: Welche Gefühle verbinden Sie Job relativ bald nach der Revolution ge- Deutschland erlebt?
mit Teheran? schmissen, nachdem ihre Bürgerrechte als Djir-Sarai: Ich habe mich sehr willkom-
Djir-Sarai, Nouripour: (gleichzeitig) Frau immer weiter ausgehöhlt worden men gefühlt. Die Nachbarskinder kamen
Schmerz. sind. Sie spürte, dass das ihre Autorität un- vorbei und wollten mit mir Fußball spielen,
Djir-Sarai: Es ist eine alte Wunde, die nicht tergräbt, sie hatte schließlich 80, 90 Män- die Lehrer haben nach dem Unterricht mit
richtig heilt. Ich dachte, ich hab das gut im ner unter sich, denen es nicht so erging. mir Deutsch geübt. Später wurde ich ge-
Griff. Aber als ich selbst Vater wurde, ka- SPIEGEL: 1980 griff Saddam Hussein Iran fragt, ob ich nicht beim Schützenverein
men die Erinnerungen wieder hoch. Ich an, Sie haben einen Teil Ihrer Kindheit im mitmachen will. Ich bin sehr dankbar, dass
habe Iran vor 32 Jahren verlassen, aber es Krieg erlebt. Wie hat Sie das geprägt? ich das so erlebt habe.
ist ein Schmerz, der niemals aufhören Djir-Sarai: Ich erinnere mich an die War- Nouripour: Mir war Deutschland nicht
wird. Dabei bin ich kein sentimentaler nungen im Fernsehen. Man schaute gerade fremd, ich kannte Frankfurt aus dem Ur-
Mensch, ganz anders als Omid. Fußball, und aus dem Nichts wurde ein laub, und ich hatte vorher schon angefan-
Nouripour: Ich bin halt Hesse. Film eines irakischen Angriffs auf Iran ein- gen, Deutsch zu lernen. Ich habe sofort
Djir-Sarai: Ich der lustige Rheinländer. geblendet, dann kam eine Stimme: Ach- Freunde gefunden, die bis heute meine
Nouripour: Mich schmerzt der Verlust von tung, Achtung. Das Licht ging aus, und besten sind. Sie haben mir Deutsch beige-
Heimat. Aber auch, was mit Iran passiert man musste irgendwo Schutz suchen. bracht, indem sie mich korrigiert haben,
Oder die Sirenen: Wenn man die nachts ohne mich auszulachen.
Das Gespräch moderierten die Redakteure Christiane hörte, war das extrem beängstigend. Aber Djir-Sarai: Die negativen Erfahrungen ka-
Hoffmann und Christoph Schult. die Luftangriffe am Tag waren noch schlim- men später.

DER SPIEGEL Nr. 2/ 4. 1. 2020 21


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Nouripour: Es gab immer wieder Befremd- darüber. Ich versuche, souverän damit um-
liches, was sich später verstetigt hat. Wir zugehen, aber es stört mich gewaltig.
sind ja beide so was wie die Kronjuwelen SPIEGEL: Verletzt Sie das?
der Integration, meine Frau ist aus Ost- Nouripour: Verletzend ist es, wenn es ge-
westfalen, woher kommt deine? gen die Familie geht.
Djir-Sarai: Berlin. Djir-Sarai: Ich versuche meistens, so etwas
Nouripour: Mein Kind ist blond, wir ver- schnell abzuhaken oder einen Witz zu ma-
treten die Deutschen im Bundestag, ver- chen. Aber es ist extrem verletzend. Ich hat-
treten die Interessen unseres Landes im te mal eine Freundin. Ihr Vater fragte mich,
Ausland. Aber wenn ich einer älteren ob ich seine Tochter schlagen würde. Das
Dame am Kaufhaus die Tür aufhalte, sei ja bei uns üblich, deshalb wolle er das
kriegt sie zuweilen auch mal einen Kultur- mal direkt ansprechen. Oder die Frage: Wie
schock. Das ist bis heute so. war das für Sie, als Sie Deutscher wurden?
SPIEGEL: Warum gingen Sie in die Politik? Ich sage dann: Als ich die Urkunde bekam,
Nouripour: Genau deshalb, weil ich damit merkte ich sofort, dass ich laktoseintolerant
nicht klarkam. In den »Ghostbusters«-Fil- werde und lange Spaziergänge machen will.
men gibt es diese negative Energie, irgend- Im Ernst, das ist etwas, was ich bei meinen
was in der Welt ist nicht in Ordnung. Da- Anfang Achtzigerjahre in Teheran Schwiegereltern nicht verstehe: Die gehen
gegen wollte ich etwas tun. 1993 habe ich einfach sonntags spazieren.
zum ersten Mal Cem Özdemir im Fern- Nouripour: Meine Frau schleppt mich
sehen gesehen, da ist mir klar geworden, »Als ich Cem Özdemir auch immer mit. Ich gehe meist grimmig
dass man nicht blond und blauäugig sein sah, wurde mir klar, dass los und komme glücklich nach Hause.
muss, um sich politisch zu engagieren. Djir-Sarai: Aus meiner Sicht ist das was
Denn bei den Grünen spielt Herkunft Politiker nicht blond und Deutsches. Ich glaube nicht, dass Perser
schlicht keine Rolle. blauäugig sein müssen.« einfach so spazieren gehen.
Djir-Sarai: Für mich war Özdemir auch SPIEGEL: In der FDP tragen Sie den Spitz-
wichtig. Ich hab ihn im Fernsehen gesehen Omid Nouripour namen »Herr Botschafter«. Warum?
und war begeistert, dass jemand wie er Djir-Sarai: Christian Wulff hat mich mal
dort als deutscher Bundestagsabgeord- mit dem afghanischen Botschafter ver-
neter auftritt. Das hat mich umgehauen. ne Decke. Da wird man auf eine Facette wechselt. Er war Ministerpräsident in Nie-
SPIEGEL: Warum sind Sie bei der FDP ge- seiner Biografie reduziert. dersachsen, ich frisch im Bundestag. Es
landet und nicht bei Özdemirs Grünen? SPIEGEL: Sie haben von der negativen gab einen Bundeswehrempfang in Hanno-
Djir-Sarai: Ich wollte nicht auch noch mei- Energie gesprochen und damit wohl Aus- ver, und ein Mitarbeiter begrüßte mich.
ne Freizeit mit meinen Lehrern verbrin- länderfeindlichkeit gemeint. Welche Er- Ich hätte stutzig werden sollen, als er mich
gen. Bei den Liberalen hat keiner gefragt, fahrungen haben Sie gemacht? mit »Exzellenz« ansprach. Auf dem Emp-
woher ich komme. Die wollten nur wissen, Djir-Sarai: Ich werde manchmal gefragt: fang sagte Wulff, der afghanische Botschaf-
was ich kann und wohin ich will. Ich war Warum machen Sie denn nicht Politik in ter sei da. Er drehte sich zu mir um, gab
schon damals außenpolitisch interessiert, Ihrem eigenen Land? mir die Hand und sagte: Es bedeutet uns
und die FDP war die Partei von Hans-Diet- Nouripour: Ich habe einmal jemanden ver- sehr viel, dass Sie heute hier sind.
rich Genscher. Ich wollte die Welt verän- klagt, weil er mir besoffen in der Bahn zu- SPIEGEL: Und? Was haben Sie gesagt?
dern. Ohne die Erfahrungen in Iran wäre rief: Früher hat man Leute wie dich ins Djir-Sarai: Nichts.
ich wohl nicht in die Politik gegangen. Die- Gas geschickt. Je länger ich diesen Job ma- SPIEGEL: Sie haben das nicht aufgelöst?
se Kindheit in Teheran hat mich sehr poli- che, desto mehr Hassschriften bekomme Djir-Sarai: Das ist eine Schwäche von mir,
tisiert. Zu sehen, wie sich eine Gesellschaft ich. Vor 15 Jahren waren es zwei im Monat, ich spiele Witze manchmal weiter. Dumm
radikalisieren kann, wie Kriege und Elend meistens anonym. Heute sind es, ein- war nur, dass er ein Jahr später bei uns in
entstehen, das hat mich motiviert. schließlich sozialer Medien, zwei pro Stun- der Fraktionssitzung war. Am Rande eines
SPIEGEL: Was bedeutete die Wahl in den de, und die meisten sind nicht anonym. Gesprächs sagte er: Darf ich fragen, in wel-
Bundestag für Sie? War das quasi der ulti- Aber der Hass kommt nicht nur von rechts, cher Funktion Sie heute hier sind?
mative Nachweis gelungener Integration? sondern auch von Islamisten, iranischen SPIEGEL: Und Sie?
Djir-Sarai: Mein Vater hat am Abend der Volksmudschahidin oder Trollen des eri- Djir-Sarai: Ich hab ihm dann gesagt, dass
Bundestagswahl 2009 vor Rührung ge- treischen Regimes. ich Abgeordneter bin.
weint. Aber für mich war Integration da Djir-Sarai: Als Politiker ist man ohnehin SPIEGEL: Kaum ein Land auf der Welt
längst kein Thema mehr. Ich wurde 2004 nicht allzu beliebt. Wenn dann noch der steht wegen seiner Politik so im Abseits
Fraktionsvorsitzender der FDP im Rhein- Migrationshintergrund dazukommt, muss wie Iran. Das Regime zwingt Frauen unter
Kreis Neuss und war fünf Jahre lang stell- man sich warm anziehen. Es gibt Leute, das Kopftuch, lässt Homosexuelle exeku-
vertretender Landrat. Ich wollte mich für die kommen zum Infostand und sagen mir tieren, schlägt Protest brutal nieder. Was
meine Heimat engagieren. Über Integra- ins Gesicht: Für mich bist du eh kein Deut- bedeutet es für Sie, aus Iran zu kommen?
tion habe ich mir keine Gedanken gemacht. scher. Manche Bemerkungen sind so däm- Nouripour: Wenn ich höre, dass eine Men-
Nouripour: Ich habe mich zu Beginn mei- lich, dass man geneigt ist, auch saftige Ant- schenrechtlerin wie Nasrin Sotudeh zu
ner politischen Karriere bewusst für das worten zu geben. 33 Jahren Gefängnis und 148 Peitschen-
Thema Integration entschieden, schließ- SPIEGEL: Zum Beispiel? hieben verurteilt wird, halte ich das kaum
lich war ja genau dies der Grund für mein Djir-Sarai: »Wie oft beten Sie in Ihrem aus. Dabei war der Kern ihrer Arbeit, Kin-
politisches Engagement. Ich habe darüber Büro?«, fragen manche. der vor der Hinrichtung zu retten.
Bücher geschrieben und war im Grünen- Nouripour: (lacht) Und, wie oft? Djir-Sarai: Mir sind Menschenrechte grund-
Bundesvorstand beteiligt an den Verhand- Djir-Sarai: So fünf-, sechsmal. Und dann sätzlich wichtig, aber ich schaue natürlich
lungen über das Zuwanderungsgesetz. fragen die: »Richtung Mekka?« Und ich besonders genau hin, was in Iran passiert.
Aber es stimmt schon: Das ist eine gläser- sag: »Nee, Richtung Plenum.« Wir lachen Wenn die Menschen dort keine Möglichkeit

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Deutschland

haben, sich zu artikulieren, dann ist es auch matie. Manchmal habe ich das Gefühl,
unsere Aufgabe, die Stimme zu erheben. dass Heiko Maas eine Reiseallergie hat.
Mir wird gelegentlich unterstellt, ich wäre Djir-Sarai: Das politische System der Isla-
besonders kritisch im Umgang mit Iran, mischen Republik ist nicht reformfähig. Es
weil ich dort geboren bin. Darüber ärgere wird keinen iranischen Gorbatschow geben,
ich mich sehr. Das würde ja bedeuten, dass der aufsteht und die Tore öffnet. Die Macht-
ich nicht in der Lage bin, sachliche und haber wissen genau, dass ihnen dann alles
nüchterne Entscheidungen zu treffen. Ich um die Ohren fliegt. Jetzt fühlt sich das Re-
bin deutscher Politiker, kein Exil-Iraner. gime in seiner Existenz bedroht und greift
SPIEGEL: Was ist der richtige Umgang mit deshalb noch härter durch als vorher. Euro-
Iran? Soll man mit den Machthabern im pa hat Interesse an Stabilität in Iran. Trotz-
Gespräch bleiben oder auf Härte und dem dürfen Deutschland und Europa nicht
Druck setzen wie Donald Trump? schweigen, wenn so viele Menschen in nur
Nouripour: Unser oberstes Sicherheitsin- wenigen Tagen ermordet werden. Das
teresse ist, eine Nuklearisierung des Nahen Schweigen der Bundesregierung und der EU
Ostens zu verhindern. Wenn die Iraner die ist beschämend. Wir müssen die Menschen-
Bombe haben oder nur den Anschein er- rechtsverletzungen verurteilen, statt perma-
wecken, werden auch andere Staaten da- Anfang Achtzigerjahre in Teheran nent nur über das Atomabkommen zu reden.
nach streben, allen voran Saudi-Arabien. SPIEGEL: Sollten deutsche Politiker Kon-
Damit hätten wir eine Nuklearisierung in takte zu Vertretern des iranischen Regimes
unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Des- »Mir sagen Leute unterhalten? Claudia Roth, die Vizepräsi-
halb ist das Atomabkommen mit Iran so am Infostand ins Gesicht: dentin des Deutschen Bundestags, wurde
wichtig und Trumps Strategie des maxi- scharf kritisiert, weil sie sich mit dem ira-
malen Drucks so verheerend. Für mich bist du nischen Parlamentspräsidenten und Israel-
Djir-Sarai: Das Atomabkommen war auch hasser Ali Laridschani traf.
ein Vertrauensvorschuss an das iranische
eh kein Deutscher.« Djir-Sarai: Das hängt immer von der kon-
Regime, aber das Vertrauen wurde nicht Bijan Djir-Sarai kreten Situation ab. Ich bin Vorsitzender
belohnt. Iran ist weder bereit, über sein der deutsch-iranischen Parlamentarier-
Raketenprogramm zu sprechen, noch über gruppe. Es wäre absurd, wenn ich nicht
seine Rolle in der Region. Wassermangel kommen nicht vom ameri- mit iranischen Politikern sprechen würde.
Nouripour: Es geht nicht um Vertrauen, kanischen Druck, sie sind hausgemacht. Ich weiß nicht, ob ich mich heute unbe-
sondern um Kontrolle. Das Abkommen Djir-Sarai: Die Situation in Iran ist nicht dingt mit Herrn Laridschani treffen würde,
hat in den iranischen Atomanlagen die erst so, seit Trump den Druck erhöht hat. aber ich verurteile solche Treffen nicht.
schärfsten Kontrollen eingeführt, die es je Die Hauptprobleme in Iran sind Korrup- Nouripour: Die Frage, was ein Gespräch
gegeben hat. Die gibt es nicht mehr, wenn tion, Missmanagement und fehlende Bür- bringt, darf nicht Maßstab für Diplomatie
das Abkommen weg ist. gerrechte. Da musste man nicht auf Trump sein. Da geht es darum, dass man mit-
Djir-Sarai: Das Atomabkommen hat ohne warten, damit die Situation eskaliert. einander redet, Eindrücke bekommt, über-
die USA keine Bedeutung mehr. Von dem Nouripour: Dass es keine Krebsmedika- legt, welche Maßnahmen man ergreifen
Moment an, wo sie ausgestiegen sind, war mente mehr gibt für iranische Kinder, liegt kann, was der anderen Seite wichtig ist.
es faktisch tot. Es ist naiv zu glauben, dass nachweislich am amerikanischen Druck. SPIEGEL: Diese Haltung erwartet man
die Europäer allein das Atomabkommen Darüber gibt es mittlerweile Studien west- eher von FDP-Politikern in der Tradition
retten können. licher Organisationen. Hans-Dietrich Genschers. Grüne fordern
Nouripour: Was willst du mir damit sagen? Djir-Sarai: Das ist billige Polemik. Die doch eine wertebasierte Außenpolitik.
Sollen wir vor Angst bibbernd auf der Iraner glauben nicht, dass Trump allein Nouripour: Manchmal muss man mit Ver-
Couch sitzen, Kartoffelchips essen und un- schuld an ihrer Misere ist, sie halten ihre brechern reden, um Schlimmeres zu ver-
sere Füße angucken? Wenn man die Nu- eigene korrupte Regierung für verantwort- hüten. Als ich Kind war, passte einer mei-
klearisierung Irans verhindern will, muss lich, das ist die iranische Sicht. Deshalb ner Onkel auf mich auf, weil meine Eltern
man bereit sein, etwas dafür zu tun. Aber sind die Menschen jetzt auf der Straße. arbeiteten. Von ihm habe ich lesen und
wir Europäer versagen, weil Heiko Maas SPIEGEL: Die Regierung schlug die Protes- schreiben gelernt. Onkel Hassan war noch
und andere nicht den Mut haben, substan- te brutal nieder, es gab vermutlich mehr nicht 20, als er hingerichtet wurde. Wenige
ziell zu liefern. Etwa bei der Ausstattung als 200 Tote. Wie sollten sich Deutschland Minuten vorher rief er aus dem Gefängnis
der Handelsgesellschaft Instex mit Perso- und Europa in dieser Situation verhalten? an, um sich von mir zu verabschieden.
nal und Geld. Das Instrument, das Handel Nouripour: Ich fürchte, es gab weit mehr Heute treffe ich Personen, von denen ich
mit zivilen Gütern trotz US-Sanktionen Tote. Man muss mittlerweile von einer weiß, dass sie an der Exekution meines
ermöglichen soll, ist bisher ein Papiertiger. vierstelligen Zahl ausgehen. Dazu werden Onkels beteiligt waren. Das schmerzt end-
SPIEGEL: Es gab in Iran zuletzt massive wahrscheinlich noch weitere Hinrichtun- los, aber es ist notwendig. In der Außen-
Unruhen. Ist das eine Folge von Trumps gen kommen aus den Reihen der über politik überschreiten wir oft unsere per-
Sanktionspolitik? 7000 Verhafteten. Deshalb ist das Schwei- sönlichen Schmerzgrenzen.
Nouripour: Korruption und Missmanage- gen der Europäer so unerträglich. Es Djir-Sarai: Ich sehe keinen Widerspruch
ment sind chronische Seuchen jeder Klep- braucht lautstarken Protest, der den zwischen wertebasierter und interessen-
tokratie. Die US-Sanktionen haben die Machthabern verdeutlicht, dass ihre Hand- geleiteter Außenpolitik. Man darf in der
wirtschaftliche Lage noch weiter ver- lungen genau wahrgenommen werden und Außenpolitik nicht naiv sein. Dialog kann
schärft. Die Menschen gehen auf die Stra- sie nicht länger Menschen wahllos töten man nur mit Menschen führen, die auch
ße gegen politische Repression, die wirt- können. Auch hier fehlt unserem Außen- an einem Dialog interessiert sind.
schaftliche Misere und gegen die ökologi- minister der Mut, zu seinen Alleinstel- SPIEGEL: Herr Djir-Sarai, Herr Nouripour,
sche Katastrophe. Der tödliche Smog in lungsmerkmalen gehört mittlerweile das wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
den Großstädten und der zunehmende Umschiffen von notwendiger Krisendiplo-

DER SPIEGEL Nr. 2/ 4. 1. 2020 23


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Deutschland

Susanne Beyer Ist es denkbar, dass die Brutalität, mit der etwa Angela Mer-
kel in ihrer Anfangszeit bewertet wurde, sich so ähnlich
wiederholte? Zumindest lässt sich sagen, dass Journalisten

»Ich werde ich sich durchaus Gedanken darüber machen, wie sie über Poli-
tikerinnen schreiben. In Konferenzen ist das ein Thema.
Was wiederum zweierlei bedeutet: Ein Bewusstsein für

selbst sein«
Möglichkeiten und Grenzen von Berichterstattung ist
meistens vorhanden, aber auch die Art, wie politisches
Personal auftritt, ist nun mal Gesprächsstoff. Und eben
nicht nur in Redaktionen, sondern überall, weswegen
Journalisten das Thema, selbst wenn sie es wollten, nicht
Essay Ständig werden Politikerinnen an Äußerlichkeiten ganz ausblenden dürfen. Journalisten dürfen die Welt
gemessen. Das ist nicht fair, aber dass es so ist, nicht so darstellen, wie sie sich diese wünschen, sondern
hat Gründe. Frauen sollten souverän damit umgehen. wie sie selbst und wie vor allem andere sie wahrnehmen.
Wenn Menschen andere Menschen betrachten, nehmen
sie eine Fülle von Signalen auf und nicht nur beispielswei-

D
se den Beitrag einer bestimmten Person zu einem
as Jahr 2020 kann ein gutes Jahr werden für bestimmten Absatz in einem Koalitionsvertrag.
Frauen in der Politik, jedenfalls sind in jüngster Das öffentliche Urteil über Personen wird sowieso
Zeit Bedingungen dafür geschaffen worden. nicht nur in den etablierten Medien gesprochen, wo Texte
Ursula von der Leyen als erste Kommissions- vor dem Erscheinen meist gegengelesen werden und Kri-
chefin der EU. Christine Lagarde als erste Chefin der tik dazugehört: auf Leserbriefseiten und in Kommentar-
Europäischen Zentralbank. Annalena Baerbock, zunächst spalten, bei Blatt- und Websitekritiken, in Konferenzen.
die Unbekannte im Führungsteam der Grünen, bekam Zu einem maßgeblichen Teil werden Urteile heute in den
beim vergangenen Parteitag sogar noch mehr Stimmen sozialen Netzwerken gefällt und verbreitet. Anonyme tei-
als ihr populärer Kompagnon Robert Habeck. Die SPD len hier gern Kritik aus, stellen sich ihr aber nicht.
nahm sich die Grünen zum Vorbild, rang sich zur Doppel- Warum Menschen das Gebaren von Politikern ständig
spitze durch, relativ unbekannte Frauen rückten in den kommentieren, hat mit der Wirkungsweise des Gehirns
Vordergrund. zu tun. Hirnforscher haben die Annahme, dass der
2020 kann ein schlechtes Jahr werden für Frauen in der Mensch ein Homo rationalis sei, der sich nur von seinem
Politik, jedenfalls wenn es ähnliche Vorfälle geben sollte Verstand lenken lasse, in den Bereich des Wunschdenkens
wie die, die dazu beitrugen, dass 2019 Spitzenfrauen bei- verwiesen. Der Mensch kann und sollte sich zwar durch-
nahe oder sogar ganz scheiterten. Annegret Kramp-Kar- aus »seines eigenen Verstandes bedienen«, wie der Philo-
renbauer hatte einen extrem schwierigen Auftakt als Vor- soph Immanuel Kant forderte, aber zuerst reagiert er
sitzende der CDU. Andrea Nahles, die erste SPD-Chefin, intuitiv, er bewertet Eindrücke immer auch emotional. Es
wurde nach nur kurzer Zeit von den eigenen Genossen sind blitzschnelle, oft unbewusste Prozesse, die wirksam
vergrault. Kritik an Politikerinnen, und speziell an diesen sind, ob wir das nun gut finden oder nicht. Hinzu kommt
beiden, hat sich immer wieder an ihrer Art der Präsen- die Prägung der Wahrnehmung durch Gewohnheit, durch
tation entzündet – beim Karneval zum Beispiel. AKK er- Geschichte. Der Anblick von Frauen in der Politik ist für
zählte Latrinenwitze, Nahles sang schräge Lieder. einige noch ungewohnt, die Gehirne sind damit beschäf-
Für Auftritte und Aussehen kritisiert zu werden, das tigt, neue Muster zu bilden.
passiert Männern auch. Aber Frauen sind nicht nur in der Die »Süddeutsche Zeitung« wies auf eine in der Fach-
Bundespolitik, sondern auch in der Kommunal- und Lan- zeitschrift »Social Psychological and Personality Science«
despolitik unterrepräsentiert, insofern ist es wichtig zu veröffentliche Studie hin, die untersuchte, wie Frauen auf
wissen, wodurch sie in ihren Posten gefährdet sind. Es ist Frauen reagieren. Frauen, »die von anderen als attraktiv
für jene Frauen wichtig, die den Weg in die Politik auf oder sexuell freizügig wahrgenommen werden«, haben es
sich nehmen, und auch für die Bürgerinnen und Bürger demzufolge besonders mit »indirekter Aggression« ihrer
eines Landes, das den Gleichheitsgrundsatz gesetzlich ver- Geschlechtsgenossinnen zu tun, weswegen sie zu einer
ankert, aber noch lange nicht erfüllt hat. Die Art, sich auf »Deeskalationsstrategie« neigten und »biedere Outfits«
der politischen Bühne zu zeigen – und ja, Spitzenpolitik wählten, wenn sie sich auf Situationen einstellten, in
ist ein Bühnenberuf –, scheint ein Faktor zu sein. denen sie vor allem auf Frauen träfen.
Natürlich haben Politikerinnen recht, wenn sie sich

M
beklagen, dass es solch oberflächliche Faktoren sind, die
ihren ohnehin schwierigen Aufstieg erschweren. Justizmi- enschen beziehen ihre Wirkung auf andere mit
nisterin Christine Lambrecht sagte in einem Interview mit ein. Und es sieht so aus, als bewegten Frauen
der »FAZ«, es müsse doch egal sein, welche Farbe ihre Fin- sich auf einem schmalen Grat, wenn sie sich
gernägel hätten. Im selben Interview aber spricht sie vom auf politische Bühnen begeben. Sie sollten auf-
Glück, eine tiefe Stimme zu haben; Kolleginnen würden fallen, um wahrgenommen zu werden, aber im Interesse
häufig für ihre hohe Stimme kritisiert. Stellt man beide Äu- ihrer Rolle nicht auf eine Weise, die Aggressionen oder
ßerungen nebeneinander, ergibt sich Folgendes: Es sollte andere unerwünschte Reaktionsweisen provoziert. Auf
egal sein, wie Frauen wirken, aber es ist leider nicht egal. Geschlechtsgenossinnen ist nicht immer Verlass. Gut
Medien haben als Vermittler des Gesprächs über Politik möglich, dass manche von ihnen sich zwar feministisch
auch eine Verantwortung dafür, welches Bild von Politi- gebärden, aber indirekt eben doch ein missgünstiges
kerinnen sie verbreiten. Medienleute sind sich dieser Verant- Urteil fällen und danach handeln.
wortung nicht immer bewusst – aber fühlen sie sich nicht Was also können Politikerinnen tun? Sie können und
doch heute in viel höherem Maße verantwortlich als früher? sollten sich die Welt in dieser Hinsicht durchaus anders

24 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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fallen. An der Wahl der SPD-Vorsitzenden jedenfalls


nahm nur gut die Hälfte der Mitglieder teil, was nicht al-
lein die Schuld der Frauen unter den Kandidaten war –
herumreißen konnten Saskia Esken und Klara Geywitz
die Stimmung aber auch nicht mehr.
Es ist nicht leicht für Frauen, nein. Und es ist nicht fair,
wirklich nicht. Sollen Politikerinnen also tatsächlich die
Angebote zahlloser Coachs annehmen und lernen, wie sie
zu sitzen, zu sprechen und sich zu kleiden haben?
Das ist jedenfalls dann riskant, wenn sie ganz anders
wirken wollen, als sie sind. Sich verstellen zu müssen, das
sollte in keinem Amt nötig sein. Außerdem kostet Verstel-
lung Kraft – Kraft, die in die Inhalte fließen sollte.
Worum geht es bei diesem Auftrittsgewese denn nun
eigentlich? Erstens um Rollenbewusstsein und zweitens
eben doch um etwas Inneres, etwas Substanzielles, näm-
lich darum, ob sich jemand selbst kennt. Das verschafft
Sicherheit und eröffnet Spielraum.
Die Stimme der Familienministerin Franziska Giffey ist
weder tief noch laut, Giffey ist ein eigener Typus –
womöglich hat dies sogar dazu beigetragen, dass sie in
kurzer Zeit bekannt geworden ist. Für Annalena Baer-
bock gilt das Gleiche. Auch sie wirkt authentisch. Anders
als Giffey wechselt Baerbock sogar häufig ihren Stil, sie
bleibt aber als Persönlichkeit klar erkennbar. Und darauf
kommt es an. Authentizität ist in einer individualisierten
Welt wertvoll. Authentizität einerseits, und andererseits,
nicht aus der selbst gewählten Rolle zu fallen.

K
JENS JESKE

ramp-Karrenbauer und Nahles haben ihre Beob-


achter im Unsichern gelassen, wer sie im nächs-
Politikerinnen Kramp-Karrenbauer, von der Leyen, Merkel* ten Moment sein würden. Beim Karneval waren
sie deftig, ja, aber nicht deutlich. Sie traten dort
als Politikerin auf, nicht als Privatperson, und das, was sie
wünschen dürfen, als sie ist, und darauf hinarbeiten. Aber taten, widersprach zu sehr dem, was ihre politische Rolle
sie sollten sich auch klarmachen, wo die Gründe dafür lie- erforderte.
gen, dass es erst mal ist, wie es ist. Die Art des Urteils Innere Sicherheit vermittelt sich nach außen. Über
über Frauen und Männer wandelt sich im historischen AKKs Kleid ist bei ihrer Ernennung zur Verteidigungs-
Prozess durchaus. Öffentlich bekannte Männer kommen ministerin im Juli gespottet worden. Aber war denn ihre
mit Latrinenwitzen auch nicht mehr so einfach durch. Kleidung da so anders als die, die sie sich am Tag ihrer
Und was wäre das denn auch für eine Logik: weil Männer Wahl zur CDU-Vorsitzenden Ende 2018 ausgesucht hat-
sich in der Öffentlichkeit unangenehm verhalten dürften, te? Damals trat sie willensstark auf, das hat gezählt und
sei es richtig, wenn Frauen es ihnen gleichtäten? nicht der kurze Rock. Bei ihrer Ernennung zur Ministerin
Vergleicht man Fotos etlicher seit langer Zeit aktiver wirkte sie unsicher – plötzlich ging das Gemoser über
Politikerinnen aus den Anfängen ihrer Karriere mit Fotos ihre Mode los.
von heute, ist ihnen anzusehen, wie viele Gedanken sie Es wird kein Zufall sein, dass es eine Französin war, die
sich über ihre Wirkung haben machen müssen. Bekannt ihr neues Amt auf beispielhafte Weise antrat. Frau im
ist die Frisurensuche von Merkel und Ursula von der Ley- Beruf – das ist in Frankreich ein schon lange vertrautes
en. Männer haben es hier tatsächlich leichter. Sie verfü- Bild. Christine Lagarde trägt oft jene Kleidungsart, die dem
gen über viele Vorbilder und wenn sie einen ordentlichen Anzug entspricht: Kostüm. Womöglich ist das ihre »Deeska-
Anzug anziehen, machen sie jedenfalls nichts falsch. Fri- lationsstrategie«, siehe oben. Aber sie kombiniert die Kos-
surenwechsel bei Horst Seehofer? Kommen selten vor. tüme meistens mit einer modischen Idee. Außerdem ist
Da Frauen Frisur und Kleidungsstil insgesamt häufiger ihr graues Haar ihr Markenzeichen und ein Zeichen dafür,
wechseln als Männer, wird von ihnen auch eher erwartet, dass eine Frau nicht gängigen Idealen entsprechen muss
dass sie sich durch ihr Äußeres ausdrücken. Ein weiteres – Jugend! –, um als Vorbild wahrgenommen zu werden.
Dilemma. Die neutrale Hülle, die sich Merkel als Kanzle- Als sie sich nun der Presse als EZB-Chefin vorstellte,
rin angelegt hat, spornt zum Rätselraten an: Wer ist denn sagte Lagarde: »Ich werde ich selbst sein.« Man möge sie
nun die Person dahinter? Bei weniger bekannten Frauen, nicht mit ihren Vorgängern vergleichen, sie werde »wahr-
wie den Finalistinnen bei der Wahl zum SPD-Vorsitz, scheinlich anders sein«. Sie wirkte sicher, als sie ihre Zu-
kann die neutrale Hülle auf andere Weise zum Nachteil hörer darauf vorbereitete, sich nicht in allem sicher zu sein.
werden. Sie können, was einer Kanzlerin nie passieren »Wenn ich etwas nicht weiß, werde ich sagen, dass ich es
würde, fast oder ganz durch das Raster der Wahrnehmung nicht weiß.« So signalisierte sie, dass sie sich selbst kennt,
somit die eigenen Schwächen – und Stärken – und auch die
* Bei der Ernennung Annegret Kramp-Karrenbauers zur Verteidigungs- Volatilität der Dinge. »Voilà«, sagte sie. »Seien Sie glück-
ministerin im Amtssitz des Bundespräsidenten am 17. Juli. lich, und machen Sie Ihre Mitmenschen glücklich.« I

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Das deutsche Rätsel


Außenpolitik Deutschland sucht seine Rolle in der Welt, aber wie blickt die Welt auf Deutschland?
In Washington und Peking, Warschau, Moskau und Paris fragt man sich, wohin Berlin steuert.

ESPECIAL / NOTIMEX / DPA

G-7-Gipfel im französischen Biarritz im August 2019: Höllentempo der Umbrüche

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Deutschland

A
m 7. November hält Annegret Australien oder Kanada stärken, hat aber werden. Trump und viele Demokraten
Kramp-Karrenbauer in München wenig bewirkt und Länder wie China dü- wollen Deutschland und die Europäer in
eine Rede. Die deutsche Vertei- piert, die nicht dabei sein dürfen. den kommenden Jahren ein Stück weit
digungsministerin ist zu diesem Oder die »neue Ostpolitik«, die der Au- ihrem Schicksal überlassen.
Zeitpunkt seit fast vier Monaten im Amt, ßenminister 2018 ausgerufen hatte, ohne
jetzt will sie ihre Ideen zur deutschen dass sich seither an der deutschen Russ- China:
Außen- und Sicherheitspolitik darlegen. landpolitik etwas geändert hätte. Oder Vom Vorbild zur Konkurrenz
Es soll eine Grundsatzrede werden. Kramp-Karrenbauers ehrgeizige Vorschlä- Für Chinas Politiker und Diplomaten ist
Die CDU-Chefin hat dafür nicht zufällig ge für einen europäischen Flugzeugträger Deutschland die Antwort auf jene berühm-
München gewählt, es ist die Stadt, in der oder einen Einsatz im Westpazifik. te Frage, die Henry Kissinger zugeschrie-
mehr als fünf Jahre zuvor schon einmal Am wenigsten ratlos sind mit Blick auf ben wird: »Wen rufe ich an, wenn ich mit
eine Grundsatzrede gehalten wurde, die Deutschland die Amerikaner. Aber das liegt Europa sprechen möchte?«
jenseits von Deutschland für Aufregung daran, dass die USA genauso sehr mit sich Berlin, nicht Brüssel, gilt in Peking als
sorgte. Damals war es Bundespräsident selbst beschäftigt sind wie die Deutschen. Schlüssel zu Europa, als dritte Macht, mit
Joachim Gauck, der eine aktivere Außen- der sich China neben den USA und Russ-
politik formulierte und forderte, Deutsch- USA: land misst. Bislang sah Chinas Führung
land müsse sich »früher, entschiedener und Ohne uns Deutschland vor allem als ökonomische
substanzieller« einmischen. »Die Bundes- Wenn Politiker in Washington mal an Großmacht. Als exportorientierte Volks-
republik muss dabei auch bereit sein, mehr Deutschland denken, dann ärgern sie sich wirtschaften teilen Peking und Berlin
zu tun für jene Sicherheit, die ihr von an- vor allem darüber, dass ein so reiches Land grundsätzliche Interessen: Stabilität in Kri-
deren seit Jahrzehnten gewährt wurde«, nicht gewillt ist, zwei Prozent seiner Wirt- senregionen, die Sicherheit von Handels-
so Gauck. schaftsleistung für Verteidigung auszu- routen, der Fortschritt der Globalisierung.
Jetzt spricht Kramp-Karrenbauer wie- geben. Der Geiz stößt nicht nur Donald Gerade die wirtschaftliche Entwicklung
der von einer aktiveren deutschen Rolle Trump übel auf. Auch viele Demokraten aber zeigt, wie sehr sich die Gewichte zwi-
in der Welt, davon, dass Berlin zu oft war- im US-Kongress finden, dass Deutschland schen Peking und Berlin zuletzt verschoben
te, bis andere Länder die Probleme lösten, sich auf Kosten der USA einen schlanken haben: 2007 löste China Deutschland als
die auch Deutschland beträfen. Fuß macht – und auch noch die Frechheit drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ab; in-
Außenpolitisch zeigt sich die Bundes- besitzt, gleichzeitig mit Gasgeschäften die zwischen ist das chinesische Bruttoinlands-
regierung wie gelähmt. Aus den Konflik- Kreml-Autokratie zu stützen. Als der US- produkt dreimal so hoch wie das deutsche.
ten des Nahen Ostens hält sich Deutsch- Kongress Mitte Dezember Sanktionen ge- Chinas absoluter Zuwachs und Deutsch-
land weitgehend heraus, obwohl dort, in gen Unternehmen beschloss, die am Bau lands relativer Verlust an globaler Bedeu-
unmittelbarer Nachbarschaft Europas, sei- der Nord-Stream-2-Pipeline beteiligt sind, tung mache das deutsch-chinesische Verhält-
ne Interessen direkt betroffen sind. Berlin gab es einen parteiübergreifenden Kon- nis »kompliziert«, sagt Cui Hongjian, 49,
tut auch viel zu wenig, um das Atomab- sens zwischen Republikanern und Demo- Chinas führender Europaexperte, der für
kommen mit Iran zu retten, obwohl eine kraten – in den aufgeheizten Zeiten des zwei regierungsnahe Denkfabriken arbeitet.
Nuklearisierung der Region droht. Gegen- Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump So wie Deutschland seit ein paar Jahren
über Russland oder der Türkei fehlt eine eine ungewöhnliche Einigkeit. seine Haltung zu China überdenkt, scheint
langfristige Strategie. »In Berlin sind sich viele immer noch China auch sein Deutschlandbild zu revidie-
Auf die europäische Vision des Franzo- nicht bewusst, wie grundlegend sich die ren. »Bislang haben Deutschland und China
sen Emmanuel Macron reagierte die Bun- Koordinaten der amerikanischen Außen- sich als Partner verstanden und gegenseitig
deskanzlerin mit Sprachlosigkeit. Und ob- politik verschieben«, sagt Constanze Stel- ergänzt«, sagt Cui, »aus dieser Ergänzung
wohl das Bekenntnis der USA zu Europas zenmüller, die an der Brookings Institution wird aber zunehmend ein Wettbewerb.«
Sicherheit immer brüchiger wird, zieht An- in Washington arbeitet. »Die Europäer Und das nicht nur wirtschaftlich, son-
gela Merkel keine sichtbaren außenpoliti- müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dern auch politisch und geostrategisch. So
schen Konsequenzen. dass sie für ihre Nachbarschaft verantwort- haben die Chinesen aufmerksam regis-
Dabei sind die Gründe, die Deutschland lich sind.« Dazu gehöre auch der Nahe triert, dass die EU das Land Anfang 2019
zum Handeln zwingen, offensichtlich: der Osten. zum »systemischen Rivalen« erklärte.
Epochenwandel von Globalisierung und Viele Amerikaner sind der ewigen Krie- Auch war man verwundert über den Vor-
Digitalisierung, die Wiederkehr von Natio- ge überdrüssig. Trump und die beiden lin- schlag Kramp-Karrenbauers, Deutsch-
nalismus und Protektionismus, die Krise ken demokratischen Präsidentschaftsbe- lands sicherheitspolitischen Einfluss bis in
der Demokratie, der EU, des Westens. Das werber Elizabeth Warren und Bernie San- den Westpazifik zu erweitern. »Dieser Vor-
Klima. Mit deutschem Phlegma reagiert ders sind sich völlig einig: Sie wollen die schlag hat mich überrascht«, sagt Cui.
Berlin auf das Höllentempo der Umbrüche. USA in eine neue Ära des Isolationismus »Deutschland will offenbar beweisen, dass
Am Ende der Ära Merkel ist die deut- führen. es nicht nur in wirtschaftlichen, sondern
sche Politik mit sich selbst beschäftigt. Wie Für Deutschland hätte dies enorme Kon- auch in politischen Fragen eine größere
erlebt das Ausland den Stillstand? Wie sequenzen: Sollte der »Islamische Staat« Rolle spielen kann.«
nehmen die Großmächte USA, China und wieder erstarken oder der Irak in einem Noch ist Peking allerdings nicht klar, wo-
Russland Deutschland wahr, wie die wich- Bürgerkrieg versinken, müssten die Euro- rauf Berlin genau hinauswill. Worauf zielt
tigen EU-Partner Frankreich und Polen? päer ohne die USA mit den Folgen fertig- die »Allianz der Multilateralisten«, die Au-
Viele sind ratlos, warum Berlin so wenig ßenminister Maas schmieden will? Und wa-
will. Einige wundern sich aber auch über rum will er Japan, Australien und sogar In-
die großen Ankündigungen der Deut- dien dabeihaben, nicht aber China? »Als
schen, hinter denen oft wenig steht: Die Der belehrende, biswei- unser Außenminister Wang Yi Maas darauf
»Allianz der Multilateralisten« etwa, die len drohende Unterton ansprach, ist er zurückgewiesen worden.
Außenminister Heiko Maas vor andert-
halb Jahren verkündete. Sie soll die Zu-
ist neu im Verhältnis Maas sagte, China sei zu groß, um Teil die-
ser Allianz zu sein.« Das zeige, so Cui, »ein
sammenarbeit mit Ländern wie Japan, Chinas zu Deutschland. sehr, sehr simples Verständnis von Multi-

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4.1. 2020 27


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Deutschland

Geopolitische Streitthemen

BLOOMBERG / GETTY IMAGES


INTS KALNINS / REUTERS
Deutscher Eurofighter in Estland Containerschiffe in Shanghai
Die USA drängen auf höhere Verteidigungsausgaben der Nato-Partner China wird vom Handelspartner zum harten Gegenspieler

lateralismus« – und keine wirklich durch- cker zu einer prosperierenden Wirtschafts- dien ist derzeit oft von der »Steinmeier-
dachte Idee einer neuen Weltordnung. Die- macht aufgestiegen. Deutschland ist mit Formel« aus dem Jahr 2015 die Rede,
ser belehrende, bisweilen auch drohende Abstand der wichtigste Handelspartner einem Vorschlag des damaligen deutschen
Unterton ist neu im Verhältnis Chinas zu des Landes, und mit der ökonomischen Außenministers zur Umsetzung des Mins-
Deutschland. In Gesprächen lassen chine- Verflechtung hat sich auch das Bild vom ker Abkommens, das den Bürgerkrieg in
sische Offizielle gern durchblicken, wie ab- Nachbarn verändert. Umfragen zufolge der Ukraine befrieden sollte.
hängig die deutsche Wirtschaft, vor allem begegnen nur noch rund 30 Prozent der Doch Frank-Walter Steinmeiers Präsenz
die Schlüsselbranche Automobilindustrie, Polen den Deutschen mit Abneigung. steht in merkwürdigem Kontrast zur Stille,
von China ist. Zuletzt hörte man solche »Als Hegemon in der EU wird Deutsch- die ansonsten Deutschlands Außenpolitik
Zurechtweisungen auch öffentlich, als es land immer noch gefürchtet«, sagt Walde- umgibt. »Ich sehe gar keine Politik – und
um den IT-Riesen Huawei und seine mög- mar Czachur, Experte für die deutsch-pol- erst recht keine ›neue Ostpolitik‹«, sagt
liche Beteiligung am Ausbau des deut- nischen Beziehungen an der Universität Tschernenko.
schen 5G-Netzes ging. Warschau. Aber anders: Früher waren die Was Außenminister Maas mit seiner An-
Cui warnt, für China werde es schwierig, Deutschen für die Nationalkonservativen kündigung meinte, darüber rätselt man in
mit Deutschland wirtschaftlich weiter zu- ein Volk von Revisionisten, das die Vor- Russland bis heute. »Weder neu noch eu-
sammenzuarbeiten, wenn man sich poli- herrschaft in der EU anstrebt, um Osteuro- ropäisch noch Ostpolitik«, spottet ein eu-
tisch so uneinig sei: »Es ist nicht weise für pa zu unterjochen. Heute fürchten sie den ropäischer Diplomat in Moskau. »Man hat
Deutschland, Peking Bedingungen für eine deutschen Liberalismus. Deutschland gilt das Gefühl, es gibt sie nicht«, sagt auch
internationale Zusammenarbeit zu stellen.« als Vormacht einer identitätsvergessenen der Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow.
EU, die Familie, Glauben und Nation ge- »Es gibt nur den Wunsch, daran zu erin-
Polen: ringschätzt, dafür Schwulenehe, Feminis- nern, dass es so etwas geben müsste.«
Abschied vom Feindbild mus und Klimaschutz propagiert und auch In Russland ist man verblüfft, wie sehr
Der polnische Präsident ist geradezu be- noch massenhaft Migranten aufnehmen sich Berlin selbst dort zurückhält, wo seine
geistert. Das Verhältnis von Polen und will. Interessen direkt betroffen sind, etwa
Deutschen sei ein »Muster der Versöh- Doch der bevorstehende Brexit und vor wenn es um das Ende des INF-Vertrags
nung«, schwärmt Andrzej Duda in einem allem die Abkehr der USA von Europa oder des Iran-Deals geht. »Deutschland
Interview, und Premierminister Mateusz schwächen die deutschfeindliche Haltung nimmt das alles auf geradezu melancho-
Morawiecki nennt Angela Merkels Rede ab. Mittlerweile hat auch Warschau ver- lische Weise hin«, sagt Tschernenko.
in Auschwitz Anfang Dezember »wichtig« standen, dass es sich auf Trumps Amerika Immerhin haben viele in Moskau zufrie-
und »symbolisch«. nicht mehr so verlassen kann wie zuvor. den registriert, dass Deutschland am Bau
Das sind ungewohnt freundliche Töne Polen ist damit auf Europa zurückge- der Gaspipeline Nord Stream 2 festhält, die
der nationalkonservativen Regierung in worfen, das gibt der EU – und Deutsch- inzwischen weit über ihre wirtschaftliche
Warschau, die bisher eher für ihre Abnei- land – eine neue Bedeutung. Bedeutung hinaus Symbolcharakter bekom-
gung gegen Deutschland bekannt war. Da men hat. In »Moskau galt Nord Stream als
hat sich etwas geändert: Im Parlaments- Russland: Lackmustest für die deutsche Haltung«, so
wahlkampf im Herbst spielte die regieren- Deutsche Melancholie Lukjanow. Wenn sich Deutschland unter
de Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) Es gibt in Russland einen Aberglauben: dem Druck von Verbündeten von dem Pro-
die antideutsche Karte kaum mehr aus. Im Wenn man den Namen eines Menschen jekt distanziert hätte, »dann hätten wir
Juli hatten die PiS-Abgeordneten im Euro- erwähnt, bekommt der einen Schluckauf. nicht gewusst, wie wir weiter mit einem
paparlament dafür gestimmt, die Deutsche »Ich denke mir, Steinmeier hat jetzt tau- Europa umgehen sollen, dass seine eigenen
Ursula von der Leyen zur EU-Kommissions- sendmal pro Woche Schluckauf, weil stän- Interessen nicht verteidigen kann«.
präsidentin zu machen. dig sein Name fällt«, sagt Jelena Tscher- Langfristig sei Deutschlands Bedeutung
In den vergangenen Jahren ist Polen nenko, außenpolitische Redakteurin der für Russland in Europa überragend. Doch
vom armen postkommunistischen Schlu- Zeitung »Kommersant«. In russischen Me- kurzfristig orientiere sich Moskau gerade

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NORD STERAM 2 / IMAGO IMAGES / ZUMA PRESS

MICHELE CATTANI / AFP


Rohrproduktion für Nord-Stream-2-Pipeline in Mülheim Französische Soldaten in Burkina Faso
Verbündete Deutschlands kritisieren die Kooperation mit Russland Macron fühlt sich von Berlin im Stich gelassen

in Richtung Frankreich um, sagt Lukjanow: schen Hauptstadt beobachten. Grünen- Im Verhältnis zu den USA darf sich
»Paris zeigt Initiative, Macron will etwas chef Robert Habeck war in den ersten Ok- Deutschland nicht länger der Illusion hin-
und hat Vorschläge. Und Putin reagiert tobertagen in Paris, und die Neugier und geben, dass sich die alte Partnerschaft ir-
gern darauf, das spürt man.« Offenheit, mit der er von französischen gendwann schon wieder einstellen wird.
Spitzenpolitikern empfangen wurde, sagt Auch deshalb muss Berlin Macrons dra-
Frankreich: viel aus über die Sehnsucht der Franzosen matischen Weckruf zum Zustand der Nato
Hoffen auf die Grünen nach einem politischen Wechsel in Berlin. ernst nehmen.
Wenn die Franzosen auf Deutschland Finanzminister Bruno Le Maire emp- Noch klaffen in Berlin Lethargie und
schauen, sehen sie gerade viele Gewisshei- fing Habeck über eine Stunde lang, selbst der Wille, auf internationaler Bühne mit-
ten schwinden. Sie müssen sich daran ge- die Konservativeren in der französischen zureden, weit auseinander. Manche groß-
wöhnen, dass die bisher so berechenbaren Regierung teilen viele Ansichten des grü- spurigen und unausgegorenen Vorschläge
Deutschen auf einmal unberechenbar ge- nen Parteivorsitzenden. Die erfolgreichen zeigen, dass Deutschland noch in der
worden sind. Grünen sind aus Pariser Sicht eine der we- außenpolitischen Adoleszenz steckt. Die
An der Spitze der CDU steht mit Kramp- nigen greifbaren Neuerungen in der deut- Deutschen gewöhnen sich nur sehr lang-
Karrenbauer eine Frau, von der keiner zu schen Politik. sam an den Gedanken, dass ihr Land seine
sagen vermag, ob sie je Kanzlerin werden »Die Franzosen sind ungeduldig, und da- internationale Rolle größer denken muss.
wird. Die SPD wird neuerdings von zwei mit meine ich nicht nur die Regierung«, sagt Umfragen zeigen, dass die Bundesbürger
Politikern geführt, deren Namen die Fran- Jean Pisani-Ferry, Ökonom und ehemaliger sich immer noch schwertun mit dem Ge-
zosen zuvor noch nie gehört hatten. Macron-Berater. »Sie warten auf eine deut- danken, dass dazu auch Militäreinsätze ge-
Für Paris ist nicht immer einfach zu ver- sche Antwort auf die sich verändernde in- hören können. Aber Deutschland hat jetzt
stehen, was gerade in Berlin geschieht. Das ternationale Ordnung; auch auf die Aus- eine Verteidigungsministerin, die nicht da-
verstärkt die Unsicherheit gegenüber dem sicht, dass eine Wiederwahl Trumps immer vor zurückschreckt, die unpopuläre Diskus-
deutschen Partner. wahrscheinlicher wird; auf die Herausfor- sion zu führen. Dass sie manchmal vor-
Der gemeinsame Auftritt mit Deutsch- derungen, die eine europäische Klimapoli- prescht, ist erfrischend in der sonst so mut-
land auf europäischer Bühne war Präsi- tik an uns stellt.« Aber dieses Deutschland losen Debatte. Ihr Vorschlag für eine inter-
dent Emmanuel Macron von Anfang an wirke merkwürdig unentschlossen, als ob nationale Militärmission in Nordsyrien, an
ein zentrales Anliegen. Er will die EU es sich erst neu definieren müsste. der sich die Bundeswehr beteiligt, kam spät,
reformieren, die Integration mit Deutsch- weist aber in die richtige Richtung.
land vorantreiben, die gemeinsame Ver- Deutschlands Jahr Im neuen Jahr könnte das Frauentrio,
teidigung ausbauen, das Verhältnis zu Warten auf Deutschland – Partner und Merkel, AKK und von der Leyen, in
Russland verbessern. Er versteht Europa Player sehnen sich danach, dass die lange Europa etwas bewegen. In Brüssel führt
als geostrategisches Projekt. Merkel-Dämmerung zu Ende geht und jetzt eine Deutsche die Kommission. Sie
Deutschlands Schwäche und Unent- Deutschland wieder zu sich findet. hat beste Beziehungen zum französischen
schlossenheit lassen auch Macron weniger In der zweiten Hälfte 2020 übernimmt Präsidenten und einen engen Draht zu
strahlen – das gehört zu seinen großen Ent- Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Merkel. Die wiederum könnte in der letz-
täuschungen. »Die Franzosen haben lange Dann gilt es, Großbritannien nach dem ten Phase ihrer Kanzlerschaft freier und
gehofft, dass die Deutschen das Gefühl der Brexit eng in die europäische Außen- und mutiger agieren, losgelöst von den Zwän-
Dringlichkeit in vielen geopolitischen Fra- Sicherheitspolitik einzubinden und an den gen der Parteipolitik. Mit etwas Optimis-
gen mit ihnen teilen«, sagt die Frankreich- Binnenmarkt anzudocken. mus könnte sie sich doch bewegen, die
expertin Claire Demesmay von der Deut- Und Deutschland muss sich im Handels- deutsche Außenpolitik.
schen Gesellschaft für Auswärtige Politik, streit mit den USA so eng mit Frankreich Christian Esch, Christiane Hoffmann,
»das aber ist nicht der Fall.« abstimmen, dass Trump keine Chance hat, René Pfister, Jan Puhl, Britta Sandberg,
Auch deshalb konnte man im Herbst Berlin und Paris gegeneinander auszuspie- Bernhard Zand
interessante Begegnungen in der französi- len und die EU auseinanderzutreiben.

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4.1. 2020 29


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BAZ RATNER / REUTERS


Mitarbeiter von »Ärzte ohne Grenzen« in Goma: »Mit Malaria rein, mit Ebola raus«

Ebola an Bord
Seuchen Das Auswärtige Amt will erkrankte Helfer in Spezialcontainern
aus afrikanischen Krisengebieten nach Deutschland evakuieren.

A
ls Heiko Maas aus dem Bundes- Noch hat sich die Seuche, anders als da- So sterben bis heute in dem afrika-
wehrflugzeug steigt und am Flug- mals in Westafrika, nicht regional ausge- nischen Land noch immer zwei von
hafen von Goma den Boden der breitet, aber die Gefahr ist nicht gebannt. drei Erkrankten. Die Gefahr einer Aus-
Demokratischen Republik Kongo Und da sich in den Infektionsgebieten breitung auf nationaler und regionaler
betritt, wird er von zwei Männern in Weiß auch viele deutsche Helfer engagieren, ist Ebene sei grundsätzlich »sehr hoch«, heißt
begrüßt. Einer sprüht die Hände des deut- ihr Schutz und im Ernstfall auch ihre Be- es in den Lageberichten, die der Gesund-
schen Außenministers mit einem Desinfek- handlung ein drängendes Thema für die heitsdienst des AA einmal pro Woche
tionsmittel ein, der andere hält ihm ein Bundesregierung geworden. Auf Initiative herausgibt.
Thermometer an die Schläfe. des Auswärtigen Amts (AA) könnten bald Um deutschen Ärzten und Helfern im
Den Infrarot-Fiebertest muss jeder Flug- erstmals deutsche Staatsbürger, die sich Notfall eine bestmögliche Behandlung
reisende über sich ergehen lassen. Es ist mit der gefährlichen Krankheit infiziert zu garantieren, würde die Bundesregie-
der Versuch der kongolesischen Behörden, haben, ausgeflogen werden. rung sie gern nach Deutschland fliegen,
die Kontrolle über ein Virus zu erlangen, Zwar gibt es mittlerweile zwei Ebola- aber es gibt ein Problem: »Die Bundes-
das die Region seit mehr als einem Jahr Impfstoffe, doch eine flächendeckende republik verfügt derzeit über keine eigene
bedroht: Ebola. Immunisierung scheitert im Kongo unter Möglichkeit, an Ebola erkrankte deutsche
Die erste Epidemie des tödlichen Fie- anderem daran, dass manche Gebiete von Staatsangehörige unter deutschen Behand-
bers kostete von Ende 2013 bis 2016 in Rebellen kontrolliert werden. In vielen lungs- und Arbeitsschutzstandards nach
Westafrika mehr als 11 000 Menschen das Krankenstationen im Kongo seien die Deutschland zu evakuieren«, sagt Gerhard
Leben. Im Kongo starben seit Sommer Hygienestandards katastrophal, berichtete Boecken, 60. Der Tropenmediziner leitet
2018 etwa 2200 Menschen. Die Weltge- ein WHO-Vertreter in Goma dem deut- seit 2015 den Gesundheitsdienst des AA,
sundheitsorganisation (WHO) erklärte den schen Außenminister: »Da geht man mit zuvor war er acht Jahre lang in Afrika
Ausbruch zum »internationalen Notfall für einer Malaria rein und kommt mit Ebola auf Posten. Bereits in seiner Zeit als Sani-
die öffentliche Gesundheit«. wieder raus.« tätsoffizier in der Marine drängte Boecken

30 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4.1. 2020


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Deutschland

auf eine Transportlösung für infizierte sagt Hartmann. »Erkranken die Helfer, be- senort bis zu einer Sonderisolierstation in
Soldaten. steht die dringende Notwendigkeit, sie aus Deutschland nicht verlassen.
Während der ersten großen Ebola-Epi- dem Krisengebiet zu evakuieren, damit sie Trotzdem stelle der Transport eines mit
demie 2014 in Westafrika beauftragte die eine optimale Therapie bekommen.« Ebola infizierten Patienten die Ärzte vor
Regierung in aller Eile die Deutsche Luft- Auf dem Tisch in Hartmanns Büro liegt große Herausforderungen, wie Alexander
hansa, einen Airbus A340 umzubauen. Be- die Projektskizze für die »Infektionstrans- Uhrig von der Berliner Charité erklärt.
nannt wurde der Flieger nach dem deut- portmodule«. Das System besteht aus drei Der 52-Jährige leitet die Intensivstation
schen Mediziner Robert Koch. Innerhalb Containern: Der eine, rot markiert, ist und die Sonderisolierstation der Klinik für
von gut drei Monaten verwandelten das das Behandlungsmodul. Hier soll der Pa- Innere Medizin mit Schwerpunkt Infektio-
gleichnamige medizinische Forschungs- tient auf dem Flug nach Deutschland in- logie und Pneumologie, bereits 2014 be-
institut, die Berliner Charité und die Luft- tensivmedizinisch versorgt werden. Daran treute er die »Robert Koch«. »Da die
hansa gemeinsam mit dem Auswärtigen schließt sich ein zweiter Container (gelb) Krankheit extrem schnell voranschreitet,
Amt den Großraum-Airbus in eine fliegen- an, er ist die Schleuse, in der Ärzte und hängt das Leben des Patienten davon ab,
de isolierte Intensivstation. medizinische Helfer ihre Schutzanzüge an- dass wir ihn bereits an Bord des Flugzeugs
Aber knapp ein Jahr später wurde der legen, bevor sie das rote Patientenmodul behandeln können«, sagt Uhrig. »Sonst
Flieger schon wieder aus dem Verkehr ge- betreten. Beim Verlassen des roten Con- würde der Patient bereits an multiplem
zogen. Sein Hauptproblem: Er war zu teu- tainers wird das Personal in der Schleuse Organversagen leiden, wenn er in Deutsch-
er. Die Unterhaltskosten beliefen sich auf dekontaminiert. Ein drittes (grünes) Mo- land ankommt.«
etwa eine Million Euro pro Monat, auch dul dient als Vorbereitungs- und Lager- Da sich das Virus nicht durch die Luft
weil eine Lufthansa-Crew rund um die Uhr raum. verbreitet, ist die Ansteckungsgefahr
für den Notfall bereitstehen musste. Die Modullösung habe viele Vorteile, grundsätzlich geringer als bei Grippeviren.
Seitdem tüftelt man im AA an einem erklärt Diplomat Hartmann. Mit einer Ebola wird durch Blut und andere Körper-
Plan, wie die Regierung deutschen Hilfs- Länge von 4 Metern und einer Breite von flüssigkeiten wie Schweiß, Speichel, Stuhl,
kräften maximalen Schutz zu vertretbaren 2,40 Metern passen die Container in jedes Urin oder Erbrochenes von erkrankten
Kosten gewähren kann. Die Idee: eine mo- gängige Frachtflugzeug. Auch kleinere Ma- Menschen oder Verstorbenen übertragen.
bile modulare Evakuierungseinheit. schinen kämen eventuell infrage, so könn- »Für das medizinische Personal ist deshalb
Frank Hartmann ist Krisenbeauftragter te man auch auf Flughäfen mit kürzeren schon auf einer normalen Sonderisolier-
des AA. Der 54-Jährige und seine Mitar- Landebahnen oder Sandpisten landen und station höchste Vorsicht geboten«, sagt
beiter kümmern sich rund um die Uhr um Patienten direkt aus entlegenen Gebieten Uhrig. »In einem Flugzeug, das immer wie-
deutsche Staatsbürger, die irgendwo auf abholen. Das spart wertvolle Zeit, denn der unvorhersehbare Bewegungen macht,
dem Globus in Not geraten, von Natur- Ebola zerstört große Teile des Körpers in- erhöhen sich das Risiko und die Belastung
katastrophen über politische Erdbeben bis nerhalb kurzer Zeit. Patienten sterben für für das Personal. Man muss aufpassen,
zu Entführungen. Das Krisenreaktions- gewöhnlich binnen zehn Tagen. wenn man mit scharfen Gegenständen wie
zentrum im Keller des Auswärtigen Amts Ein weiterer Vorteil der Module: Bei Spritzen oder Scheren umgeht.«
betritt man durch 50 Zentimeter dicke Ankunft in Deutschland müssten die Pa- Ärzte und Pfleger tragen Atemschutz-
Tresortüren, denn im Gebäude am Wer- tienten nicht in spezielle Rettungswagen anzüge mit Gebläsefilter und kommuni-
derschen Markt war einst die Reichsbank umgelagert werden. Das ist umständlich zieren über eine Funksprechanlage. Da in
untergebracht. An den Wänden hängen und birgt das Risiko einer Ansteckung. der Druckkabine eines Flugzeugs in 10 000
Karten mit Krisengebieten, eine zeigt die Das rote Modul könnte direkt vom Fracht- Meter Höhe der Sauerstoffgehalt und die
Ebola-Zone in Zentralafrika. raum auf einen normalen Lastwagen ver- Feuchtigkeit in der Luft geringer sind als
»Das medizinische Hilfspersonal vor laden und zu einer Sonderisolierstation am Boden, können sie nicht länger als drei,
Ort leistet seit über einem Jahr trotz gebracht werden. Der Patient müsste den vier Stunden arbeiten. Man braucht bei
schwierigster Umstände engagiert Hilfe«, Container also von der Abholung am Kri- längeren Transportzeiten in der Luft mehr

Fliegende Intensivstation
Modell der Sonderisolationseinheit am Beispiel des A310 MRTT

Vor dem Lagermodul befinden sich Plätze


für maximal 19 Passagiere.
4 Meter

Lagermodul Schleuse Intensivbehand- Luftsack


Einkleidung in den Anzug, Desinfektionsdusche lungsmodul zur Aufnahme kontaminierter Luft bei Druckabfall
Lagerung des Materials, und Lagerung für einen Patienten im Flugzeug. Eine Lösung mittels Filtersystem
Steuerung der Vorgänge kontaminierter Anzüge befindet sich ebenfalls in Entwicklung.
im Dekontaminations-
modul; sauberer Bereich

Quellen: Auswärtiges Amt, Charité, Nordwest-Box

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Deutschland

Schichtwechsel als auf einer herkömm-


lichen Sonderisolierstation.
Am gefährlichsten ist ein plötzlicher
Druckabfall. In den Behandlungszelten
Knock-out nach
der »Robert Koch« herrschte Unterdruck.
»Wir haben damals in technischer Hinsicht
Neuland betreten«, sagt Peter Atzpodien,
Roter Karte
Senior Account Manager bei Lufthansa
Technik und zuständig für Regierungsbe- Freizeit Fußballschiedsrichter in den unteren Ligen leben gefährlich.
ziehungen. »Wir mussten eine Lösung fin- Die Gewalt nimmt zu, der Nachwuchs bleibt weg.
den, um zu verhindern, dass die Zelte bei Der Fall eines hessischen Vereins zeigt, wie es dazu kommen kann.
einem Druckabfall zerreißen. Dann würde
sich kontaminiertes Material im ganzen
Flugzeug verbreiten und alle an Bord in
große Gefahr bringen.«
Die Lösung: ein Luftsack, der fast die
Hälfte des Flugzeugs einnahm. »Bei einem
D ie Freie Sportvereinigung Münster
genoss bis vor Kurzem hohes Anse-
hen. Der Klub aus der südhessi-
schen Kleinstadt, gegründet 1899, stand
kürzester Zeit Hunderttausende Mal ge-
klickt, weitergeleitet, kommentiert. Die
Bilder schafften es in die Fernsehnachrich-
ten, sie lösten eine Debatte über Gewalt
Druckabfall würde die kontaminierte Luft für fairen Sport und funktionierendes Ver- auf deutschen Fußballplätzen aus. Politi-
dorthin entweichen«, erklärt Atzpodien. einsleben. Generationen von Einheimi- ker, Sportfunktionäre und ehemalige Ki-
Eine solche Lösung ist weltweit einzigartig, schen übten sich hier im Ringen, Turnen, ckergrößen forderten schärfere Regeln und
die Lufthansa hat darauf ein Patent ange- spielten Fußball oder feierten bei den Fast- drastische Sanktionen.
meldet. nachtssitzungen. Das alles zählt jetzt nicht Der Ausraster ist kein Einzelfall. Am
Noch ist das Evakuierungsmodul nicht mehr. selben Sonntag im Oktober streikten in
in Auftrag gegeben. Lange war unklar, wel- »Unser guter Ruf ist weg«, sagt Peter Berlin die Schiedsrichter der Amateur-
ches Ministerium die Federführung über- Samoschkoff, der erste Vorsitzende. Der und Jugendklassen, 1500 Begegnungen
nimmt. Eigentlich käme auch das Gesund- Mittfünfziger, ein freundlicher Herr mit fielen aus. Anlass: Seit Beginn der Saison
heits- oder das Verteidigungsministerium kurz geschnittenen grauen Haaren, sitzt in hatte es in der Hauptstadt 109 Fälle von
infrage, aber die zeigten kein gesteigertes der Vereinsgaststätte und zitiert aus den Gewalt und Diskriminierung auf Fußball-
Interesse. Im Kanzleramt hingegen stießen vielen Hundert Mails, die den Klub er- feldern gegeben, 53-mal wurden dabei
die Beamten des Auswärtigen Amts auf reicht haben. »Sperrt den Verein zu.« »Ihr Unparteiische bedrängt, beleidigt oder at-
offene Ohren, vor allem bei Kanzleramts- seid ja Asoziale.« »Löst euch auf, es ist bes- tackiert. »Es darf nicht den ersten toten
chef Helge Braun, der selbst Mediziner ist. ser so.« Schiedsrichter geben«, warnte der Berliner
Für das Auswärtige Amt ist es zwar ein Ein Videofilm, nur 20 Sekunden lang, Schiedsrichtersprecher Ralf Kisting, einer
ungewöhnliches Projekt, aber Boecken hat den Verein in Not gebracht. Ein der Initiatoren des Streiks.
und Krisenzentrumsleiter Frank Hart- Schiedsrichter zeigt einem FSV-Fußballer Verletzte gibt es immer wieder. In der
mann sind stolz darauf, auch weil seit Ende die Rote Karte; der holt mit dem rechten Kreisliga Nordrhein-Westfalen boxte Ende
November endlich eine sichere Finanzie- Arm aus und schlägt dem Unparteiischen August vergangenen Jahres ein Kicker des
rung in Aussicht steht. Im November ent- mit der Faust gegen den Kopf, voller TSKV Altena einen 71-jährigen Schieds-
schied die zuständige Ratsarbeitsgruppe, Wucht. Das Opfer fällt sofort um, bleibt richter krankenhausreif, weil der ihn ver-
dass die EU die Evakuierungseinheit in regungslos liegen. Andere Spieler eilen warnt hatte. Auch nach dem Eklat in
dieser Form benötigt und sie finanzieren hinzu. Man hört Rufe wie »Krankenwa- Münster riss die Gewalt nicht ab. In Of-
würde. Geschätzte Kosten: etwa zehn Mil- gen« und »Polizei«. fenbach gingen Mitte November mehrere
lionen Euro für die Entwicklung und den Der Film, aufgenommen von einem Spieler der DJK Sparta Bürgel aus Wut
Bau der Containermodule. Zuschauer mit Handykamera, wurde am über einen Elfmeterpfiff auf den Spiellei-
Die EU-Kommission hat das Projekt letzten Oktobersonntag des vergangenen ter los. Nur Tage später, bei einem Pokal-
ausgeschrieben, und Deutschland hat sich Jahres ins Internet gestellt und innerhalb spiel im rheinland-pfälzischen Rüssingen,
beworben. Angesichts der Erfahrungen
mit der »Robert Koch« und der Zusam-
menarbeit zwischen AA, Lufthansa Tech-
nik und Charité stehen die Chancen gut,
dass Berlin den Zuschlag bekommt. Von
da an würde es wohl weitere 18 Monate
dauern, bis das System einsatzbereit ist.
Und was passiert, wenn die aktuelle
Ebola-Krise bis dann besiegt ist? Es gebe
ja noch andere Infektionskrankheiten, sagt
Frank Hartmann und erinnert an die Lun-
genkrankheit SARS, die sich Anfang des
ALEX KRAUS / KAPIX.DE / DER SPIEGEL

Jahrtausends binnen wenigen Wochen um


den Globus ausbreitete. Auch Lassafieber,
Lungenpest oder das Marburg-Virus sind
noch längst nicht ausgerottet. »Mit den
mobilen Evakuierungscontainern«, so
Hartmann, »wären wir in Europa für alle
Fälle gerüstet.« Christoph Schult
Mail: christoph.schult@spiegel.de
Schiedsrichter Czekala (2. v. l.) bei Prozess: »Ich habe ihm noch viel Erfolg gewünscht«

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BRENNWEITEFFM / IMAGO IMAGES


Vereinsvorsitzender Samoschkoff auf dem FSV-Platz: »So eine Mentalität passt nicht zu uns«

streckte ein Fußballer einen Linienrichter Während nur gut ein Drittel der Kicker Mannschaft zu melden ergab keinen Sinn.
mit der Faust nieder. ausländische Wurzeln hat, waren sie an je- Doch Mitte 2017 sprach bei Vereinsboss
Schauplatz sind oft die unteren Ama- dem zweiten schweren Fall beteiligt. Samoschkoff ein alter Bekannter vor:
teurklassen. Dort, wo die Mehrzahl der Als mögliche Ursachen vermutet Ves- Sabri Dogru, Mitglied einer großen kur-
knapp 55 000 Herrenmannschaften kickt, ter: eine niedrigere Hemmschwelle im dischen Familie, den in der Kleinstadt fast
wo kein Videoschiedsrichter im Nach- Konfliktfall, übersteigertes Ehrgefühl jeder kennt.
hinein versteckte Schläge oder Tritte junger Männer bei vermeintlicher Krän- Er habe da ein paar Leute, die richtig
ahndet und wo es häufig an Ordnern fehlt. kung, diffuse Wut aufgrund prekärer so- Lust auf Fußball hätten, sagte er. Mehrere
Und der Schiedsrichter, der auf die Ein- zialer Herkunft, einschlägige Erfahrung seiner Brüder, mehrere Cousins, dazu eini-
haltung von Regeln pocht und Sanktionen mit Gewalt. ge Freunde. Kurdischer Herkunft zumeist,
verhängt, häufig zur Hassfigur wird. Doch das ist nur eine Seite. Längst sind zudem mit italienischen, afghanischen und
Angriffe auf Schiedsrichter gehören zum auch Migranten sonntags ehrenamtlich un- serbischen Wurzeln. Alle aus Münster und
Fußballalltag, Wochenende für Wochen- terwegs, um Amateurspiele zu leiten, wer- Umgebung, viele hier geboren, die meisten
ende. »Das Schlimme ist, dass die Gewalt den dabei ebenso zu Opfern brutaler At- deutsche Staatsbürger. Ob diese Truppe
nicht weniger wird«, sagt die Tübinger Kri- tacken wie ihre deutschen Sportkollegen. nicht für den Verein spielen könne?
minologin Thaya Vester. Sie hat mehr als Der türkischstämmige Schiedsrichter Tur- »Manche im Vorstand waren sehr skep-
700 Sportgerichtsurteile aus Württemberg gay Sukan, der ein Match abbrechen muss- tisch«, erinnert sich Samoschkoff. Ob das
ausgewertet und im Abstand von fünf Jah- te, weil er beleidigt, bespuckt und mit denn gut gehen könne, so viele Zugereiste,
ren 2200 Schiedsrichter nach ihren Erfah- Kopfstößen drangsaliert wurde, forderte so viele Spieler aus einer Großfamilie,
rungen befragt. kürzlich im ZDF-»Sportstudio« eine so viele mit demselben Nachnamen?
Danach ist fast jeder fünfte Spielleiter schwarze Liste für Gewalttäter. »Schließlich haben wir unser Okay ge-
schon einmal tätlich angegriffen worden, Zur Wahrheit zählt auch: Der Amateur- geben«, sagt der Klubchef, »mit Bauch-
Tendenz steigend. Jedem dritten Unpar- sport befördert in vielen Fällen die schmerzen.«
teiischen wurde Gewalt bis hin zum Mord Integration, das Zusammenwachsen und Die erste Saison gab den Skeptikern
angedroht, fast alle mussten sich teils Zusammengehörigkeitsgefühl von Men- recht. Es hagelte Platzverweise und Ver-
grobe Beleidigungen anhören – mit offen- schen unterschiedlicher Herkunft. Nir- warnungen, die Sportgerichte mussten oft
bar gravierenden Folgen: Immer weniger gends sonst finden Einheimische und tätig werden, sie verhängten Sperren und
Menschen haben Lust, sich in ihrer Frei- Migranten so spielerisch zueinander, funk- Geldbußen. Der Vereinsname tauchte fast
zeit beschimpfen und attackieren zu las- tioniert Integration im besten Fall so nur noch im Zusammenhang mit Gelben
sen. Vor zehn Jahren pfiffen noch rund selbstverständlich. und Roten Karten auf.
78 000 Schiedsrichter und Schiedsrichte- So hatten sie es sich auch in Münster Was die alten Mitglieder noch mehr
rinnen in Deutschland, heute sind es nur erhofft. 2015 und 2016 wurde bei der Frei- störte: Die Neuen zeigten ihnen zu wenig
noch rund 57 000. en Sportvereinigung, bekannt vor allem Interesse am Vereinsleben. »Wenn wir im
Kriminologin Vester stellte fest, dass bei für ihre erfolgreichen Ringer, kein Her- Klubheim feierten, haben die draußen in
Spielabbrüchen und Attacken auf Schieds- renfußball mehr gespielt. Nur sieben Ak- einer Ecke gegrillt«, sagt der Vorsitzende,
richter überproportional viele Spieler mit tive waren übrig geblieben, die anderen »Kontakte gab es so gut wie nicht.« Die
Migrationshintergrund beteiligt waren. zur Konkurrenz abgewandert. Eine Fußballer hätten ihr eigenes Ding ge-

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4.1. 2020 33


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macht, seien »ein Verein im Verein« ge- wissen. Eigentlich nichts, erwidert Fuß-
wesen. Weil sie sich auf Kurdisch verstän- baller G., ein junger Mann mit Bart und
digt hätten, sei auch kein Dialog möglich moderner Kurzhaarfrisur, der plötzlich
gewesen. im Mittelpunkt eines Skandals steht. Je-

ALEX KRAUS / KAPIX.DE / DER SPIEGEL


»Stimmt nicht«, sagt Dogru, der Initia- der sieht, wie unangenehm ihm die Situa-
tor und Spielertrainer der Truppe, »wir tion ist, wie gern er weglaufen würde.
waren es, die nicht integriert wurden.« Doch dann sprudelt G. hastig mehrere
Kaum einer im Verein habe sich für die Sätze hervor, abgehackt, nur schwer ver-
vielen Fußballer interessiert, nur zwei, drei ständlich. Wie sehr er die Tat bereue, ehr-
Mitglieder hätten sich zu den Heimspielen lich. Wie gern er sie rückgängig machen
verirrt. In der Kabine und beim Training würde. Aber das gehe ja nicht, leider. »Ich
sei ausschließlich Deutsch gesprochen wor- habe einen Fehler gemacht. Ich entschul-
den. Vor jedem Match habe es einen Ap- Angeklagter G. im Kreissportgericht dige mich für alles, was passiert ist.«
pell gegeben: keine Fouls! Keine Schimpf- Höchststrafe verhängt Wie Hayri G. da stottert, nach den
wörter! Keinen Streit mit dem Schiri! richtigen Worten sucht, verlegen auf sei-
In der zweiten Saison lief alles besser. nem Stuhl hin und her rutscht, wirkt er
Es gab weniger Krawalle auf dem Platz nieren, »der Verein lässt uns nicht mehr hilflos und harmlos, ein netter junger
und weniger Strafen. Die Multikultitruppe auf den Platz«. Mann im falschen Film, angeblich ein
stieg auf, von der untersten Fußballklasse Ein Mittwochabend Mitte November ganz lieber Junge, wie ihn sein Trainer be-
D in die C-Liga. Das Experiment schien vergangenen Jahres, Verhandlung vor dem schreibt. Ein begeisterter Vater zudem,
zu glücken. Kreissportgericht Dieburg. »In der ersten der Fotos mit seinem kleinen Sohn auf
Die dritte Saison war wieder schwieri- Halbzeit war es ein ganz normales Spiel«, Facebook postet. Doch die brutalen Sze-
ger: ein Spielabbruch, provoziert von der berichtet Schiedsrichter Nils Czekala als nen auf dem Videofilm, die auch bei der
eigenen Mannschaft, sechs Rote Karten, Zeuge, ein besonnener Mensch in blauer Verhandlung gezeigt werden, vermitteln
Zoff untereinander. Und dann dieser Ex- Trainingskluft, der älter wirkt als seine ein anderes Bild.
zess beim Match gegen den Lokalrivalen 22 Jahre. An den Fausthieb kurz vor »So etwas passt eher in den Boxring,
TV Semd, als Hayri G. zum Faustschlag Schluss kann er sich nicht erinnern, auch aber nicht auf den Fußballplatz«, urteilt
ausholte und traf. Der Schiedsrichter trug nicht, dass er minutenlang bewusstlos der Vorsitzende des Sportgerichts. Gegen
eine Gehirnerschütterung davon, zum war und mit einem Rettungshubschrauber Hayri G. wird die Höchststrafe verhängt:
Glück waren seine anfänglichen Sprach- zur Universitätsklinik nach Mainz geflo- eine Sperre von drei Jahren. Hessens In-
störungen nur vorübergehend. gen wurde. Aber den Spieler mit der Num- nenminister Peter Beuth (CDU) hatte gar
Im Vorstand des Sportver- mer 12, den hat er im Gedächt- ein lebenslanges Spielverbot gefordert, das
eins herrschte schnell Einig- nis behalten. »Er kam erst zur aber in den Vorschriften des Hessischen
keit: Diese Leute schaden uns,
mit denen wollen wir nichts
mehr zu tun haben, Schluss
jetzt. Die Mannschaft wurde
2906
Angriffe auf
Halbzeit rein, ich habe ihm
noch viel Erfolg gewünscht.«
Was der Unparteiische nicht
wusste: Hayri G. hatte gerade
Fußballverbands nicht vorgesehen ist. Die
Sportvereinigung Münster muss eine Geld-
strafe von 500 Euro zahlen und darf sechs
Monate lang keine Fußballer mehr aufs
schon einen Tag nach dem Feld schicken – was sie ohnehin nicht
Faustschlag abgemeldet, Spie-
Schiedsrichter eine sechswöchige Sperre hin-
ter sich, drei Wochen wegen vorhat.
ler G. erhielt lebenslanges gab es bei den einer Hinausstellung, drei wei- Wegen seines folgenreichen Faust-
Fußballamateuren in
Hausverbot. tere Wochen vom Klub wegen schlags droht Hayri G. demnächst eine
der Saison 2018/19.
»So eine Mentalität passt Disziplinlosigkeit. »Ein Typ weitere Sanktion: Die Darmstädter Staats-
nicht zu uns«, sagte Vorsitzen- Quelle: DFB wie früher Stefan Effenberg«, anwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen
der Samoschkoff. Er sprach beschreibt ihn ein Mitspieler, gefährlicher Körperverletzung. Die Bot-
aus, was viele der alten Mit- »ein Kämpfer, manchmal unan- schaft ist klar: Das Fußballfeld ist kein
glieder denken. Und er reagierte auf Druck gepasst, zwar hart, aber nicht unfair.« In rechtsfreier Raum, in dem jeder machen
von außen. dem Spiel nach so langer Pause will es der kann, was er will, ohne strafrechtliche Kon-
Der Verein geriet nach dem K.-o.-Schlag 28-Jährige allen zeigen. Er grätscht, er sequenzen befürchten zu müssen.
auch ins Fadenkreuz rechter Fanatiker. schimpft, fährt wüst dazwischen, legt sich Die sportliche Zukunft von Schiedsrich-
»Eure Kanaken-Spieler sind der letzte mit Gegenspielern an. Beim ersten groben ter Czekala ist ungewiss. Fußballspiele zu
Dreck«, ätzte einer von zahllosen Hass- Foul zeigt ihm Czekala die Gelbe Karte, leiten war von Kindheit an sein größtes
mailschreibern. »Diese Feindseligkeit war beim zweiten die Rote. Hobby. Mit zwölf Jahren wurde er zum
schwer auszuhalten«, sagt der Klubchef. »Ich kann mir bis heute nicht erklären, Jungschiedsrichter des Jahres gewählt, seit-
Spieler und Trainer empfinden den warum er zugeschlagen hat«, sagt der dem hat er mehr als 250 Partien gepfiffen.
kollektiven Rausschmiss als ungerecht. Schiri. Ebenso wenig verstehe er, warum Doch wird er sich wieder auf den Platz
»Da wurden alle für einen bestraft«, kriti- keiner der Mannschaftskameraden oder trauen? »Ich weiß es nicht«, sagt er, »der
siert Co-Trainer Björn Müller. Der Vor- der Betreuer am Spielfeldrand rechtzeitig Schock sitzt noch zu tief.« Er erhole sich
stand habe unter Druck den einfachsten eingeschritten sei. Warum keiner vom Ver- nur langsam. In einem halben Jahr werde
Weg gewählt. Und dabei nicht berücksich- ein den immer aggressiver agierenden er sich entscheiden, vielleicht.
tigt, dass die Kickergruppe zuletzt auf Spieler schon vor seinem Ausraster zur Die gefeuerten Kicker von Münster ha-
30 Spieler angewachsen sei, »alles junge Ordnung gerufen oder aus dem Spiel ge- ben beschlossen, einen eigenen Verein
Leute, die Fußball spielen wollten«. Man nommen habe. »Da hätte ich mir mehr Zi- zu gründen. Was ihnen fehlt, ist ein Fuß-
habe sogar geplant, eine zweite Mann- vilcourage gewünscht.« Das schmerzhafte ballplatz, auf dem sie trainieren und spie-
schaft zu melden. »Die Jungs wären weg Ende tue ihm leid, »für mich, für den Ver- len können. Sie haben deshalb bei mehre-
von der Straße, die würden nicht auf dum- ein, für den Fußball«. ren Klubs in der Nachbarschaft angefragt.
me Gedanken kommen«, sagt Trainer »Was sagen Sie denn dazu?«, will der Bisher kamen nur Absagen. Bruno Schrep
Dogru. Jetzt könnten sie nicht einmal trai- Gerichtsvorsitzende vom Angeklagten

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Deutschland

Ärztlich
beschlossen, dass Personen, die sich dauer- männlich noch weiblich (also intersexuell)
haft weder dem weiblichen noch dem sind, Paragraf 45b auf sich anwenden dürf-
männlichen Geschlecht zuordnen lassen, ten. Für Personen mit eindeutigem biolo-

attestiert
diskriminiert werden, wenn der Gesetzge- gischen Geschlecht sei das Transsexuellen-
ber ihnen nur die Wahl zwischen dem Da- gesetz maßgeblich.
sein als Mann oder Frau lässt. Die Regelung Das allerdings gilt als veraltet. Betroffe-
zur dritten Option sollte diesen Menschen ne müssen zwei Gutachten von Sachver-
Diversität Ein neues Gesetz die Möglichkeit bieten, sich im Geburten- ständigen vorlegen und vor einem Gericht
sollte Diskriminierung von register und im Reisepass statt männlich die Gründe für die Personenstandsände-
Intersexuellen beenden. oder weiblich als »divers« zu definieren, rung erklären, ein Prozess, der sich über
wenn sie das Feld nicht offen lassen wollten. Jahre hinziehen kann. Die Kosten für die
Nun berufen sich auch Trans- Doch einige, die sich auf das Gesetz be- Begutachtung müssen die Antragsteller
sexuelle darauf – zu Recht? rufen wollen, fühlen sich nun erneut ausge- selbst tragen.
grenzt. Schuld ist eine unklare Definition Julia Monro von der Deutschen Gesell-
der Personengruppe, die das Gesetz in An- schaft für Transidentität und Intersexua-

E ine ärztliche Bescheinigung, ein kur-


zes Gespräch mit dem Standesbeam-
ten, 26 Euro Bearbeitungsgebühr.
Mehr war nicht nötig, um Martina Vetter
spruch nehmen darf. Laut der Neuregelung
in Paragraf 45b muss bei Antragstellern
eine ärztlich attestierte »Variante der Ge-
schlechtsentwicklung« vorliegen. Was das
lität hält dies für eine »mittelalterliche
Methode«. Das Innenministerium vertritt
dagegen den Standpunkt, dass für trans-
idente Personen der Weg zu einem neuen
amtlich zu Martin Vetter zu machen, in- genau bedeutet, darüber wird nun gestritten. Geschlechtseintrag nur über das Transse-
klusive neuer Geburtsurkunde. Es schien Martin Vetter ist transident, er hat einen xuellengesetz möglich sei.
ihm, als wäre die Transformation einfach, eindeutig weiblichen Körper, der aber In dem Schreiben aus dem Ministerium
von der Frau, als die Vetter erzogen wurde, nicht seiner Geschlechtsidentität ent- steht auch, Standesbeamte könnten bei be-
zum Mann, als der er sich fühlt. spricht. Er will als Mann durchs Leben ge- rechtigten Zweifeln eine »Konkretisierung
Martin Vetter heißt in Wirklichkeit an- hen. Er legte dem Standesamt eine Be- der ärztlichen Bescheinigung« verlangen.
ders, er ist 20 Jahre alt, ein Mann mit wei- scheinigung seiner Hausärztin vor, die ihm Martin Vetter weiß, dass der Standesbeamte
chen Gesichtszügen und blondem Haar. eine »Variante der Geschlechtsentwick- mit seiner Ärztin gesprochen hat. Ohne seine
Martin Vetter ist mit weiblichen Ge- lung« attestierte. Dass die Änderung des Einwilligung und ohne sein Wissen, wie Vet-
schlechtsorganen geboren worden. Geschlechtseintrags kurz darauf wieder ter sagt. Er gibt an, seine Ärztin habe ihn da-
Aber er ist sich sicher, dass er keine Frau einkassiert wurde, liegt womöglich an ei- nach sogar angerufen und erzählt, sie fürchte,
ist. Er nimmt Hormone und bereitet sich nem Rundschreiben, das das Bundesinnen- dass sie jetzt in Schwierigkeiten gerate.
auf eine Brust-OP vor. Hinter ihm liegen ministerium im April verschickte. Dann bekam Vetter den Brief zur »Rück-
tränenreiche Gespräche mit seiner Mutter In den »Anwendungshinweisen« präzi- abwicklung«. Der Standesbeamte schrieb,
und Phasen der Depression. Die amtliche siert die Behörde, dass nur Menschen, die er habe in der Praxis nachgefragt und für
Änderung seines Geschlechts im Mai 2019 von Geburt an körperlich weder eindeutig ihn sei »zweifelsfrei geklärt – auch wenn wir
hatte sich Martin Vetter als Ab- nicht über Namen und konkrete Fälle
schluss eines schwierigen Prozesses gesprochen haben«, dass Vetter nicht
vorgestellt. Tatsächlich war es der intersexuell sei. Nun sei das Gebur-
Beginn eines Dramas mit ungewis- tenregister »fehlerhaft«, er beantrage
sem Ausgang. beim Amtsgericht eine Korrektur.
Nur vier Wochen dauerte Vetters Anders als das Innenministerium
Harmonie zwischen amtlichem und ist das Amtsgericht Dortmund der
gelebtem Geschlecht. Dann kam ein Ansicht, dass das neue Gesetz nicht
Brief von seinem Standesamt in ausschließlich körperliche Varianten
Nordrhein-Westfalen, Betreff: »Rück- der Geschlechtsentwicklung voraus-
abwicklung der Änderungen nach setzt. Allerdings ging es in diesem
§ 45b PStG«. Der neue Paragraf des Fall um eine Person, die sich als di-
Personenstandsgesetzes, so teilte das vers im Geburtenregister eintragen
Amt mit, gelte lediglich für interse- lassen wollte.
xuelle Personen, also Menschen, die Solange das Gesetz nicht konkre-
seit Geburt beide Geschlechtsmerk- tisiert wird, hängt es also vom Stan-
male in sich vereinten und somit kör- desamt ab, ob ein Attest auch von
perlich keinem Geschlecht eindeutig Transsexuellen akzeptiert wird.
zugeordnet werden können. »Perso- Martin Vetter bereut mittlerweile,
nen mit transsexuellem Hintergrund« nicht den vermeintlich schwierigeren
könnten von der Regelung nicht pro- Weg über das Transsexuellengesetz
fitieren. Man müsse das Geburten- gegangen zu sein. Aber er mag das,
register folglich »berichtigen« und was er erreicht hat, nicht wieder ver-
aus Martin wieder Martina machen. lieren. Er und seine Anwältin wollen
DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL

Als er das las, sei Panik in ihm das Vorgehen des Standesamts nicht
aufgestiegen, erzählt Vetter. Bei akzeptieren und haben beim Amts-
mehreren Bekannten war doch das gericht Akteneinsicht beantragt.
Geschlecht auf diesem Weg pro- Eine Rückmeldung gibt es bislang
blemlos angeglichen worden. nicht. Laura Backes, Anna Clauß
Die neue Regelung im Personen- Mail: laura.backes@spiegel.de
standsgesetz gilt seit einem Jahr. 2017 anna.clauss@spiegel.de
hatte das Bundesverfassungsgericht Antragsteller Vetter: Drama mit ungewissem Ausgang

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 35


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CHRISTOPH BUSSE / DER SPIEGEL


Gläubige Nelli R. im Gebetsraum der Synagoge: »Je weiter man sich von der Nazizeit entfernt, desto mehr verblasst die Geschichte«

Sehnsucht nach Normalität


Religionen Drei Monate nach dem rechtsextremen Anschlag auf die Synagoge in Halle
kämpft die jüdische Gemeinde mit den Folgen des Attentats.

E s gibt Tage im Leben, die bleiben


einem immer nah, ein ewiges Ges-
tern. Für Nelli R. ist der 9. Oktober
2019 so ein Tag. »Es war unglaublich«,
te der schwer bewaffnete Rechtsterrorist
Stephan Balliet, die Hoftür aufzuschießen,
vergebens.
Die Gläubigen verschanzten sich im
religiösen Rituale, Gottesdienste und Ge-
betszeiten geben den Gläubigen Halt.
Doch manche Überlebende des Attentats
sind traumatisiert, sie zucken noch immer
sagt die 21-Jährige, die ihren vollen Namen Innern der Synagoge. Auf einem Monitor zusammen, wenn sie eine Sirene hören.
nicht gedruckt sehen will, aus Angst, er- der Videoüberwachung konnten einige Die Gemeindeleitung bietet ihnen psycho-
kannt und noch einmal zu einer Zielschei- sehen, wie der Attentäter eine Passantin logische Betreuung an.
be zu werden. Sie lebe in dem Gefühl der erschoss. Als die Polizei eintraf, war Balliet »Ich hatte bislang nicht das Gefühl, dass
ständigen Bedrohung, sagt sie. Die Studen- schon geflohen. Kurz darauf tötete er einen ich Hilfe brauche«, sagt Nelli R. »Aber es
tin sitzt auf einem der Klappstühle im weiteren Menschen. ist gut zu wissen, dass ich sie bekommen
Gebetsraum der Synagoge von Halle, Nach dem Anschlag wurden die Sicher- könnte.« Sie hat sich mit der Biografie des
Humboldtstraße 52, an jenem Ort, an dem heitsbehörden dafür kritisiert, dass die Täters beschäftigt. »Ich habe gelesen, dass
sie vor drei Monaten dem Tod entkam. Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag er studiert hat«, sagt sie. »Was ist nur in
Draußen, an der massiven Holztür zum unbewacht war. Inzwischen gleicht die seinem Leben passiert, mit was ist er in
Vorhof des Gotteshauses, sind die Ein- Humboldtstraße einer Hochsicherheits- Verbindung gekommen?« Sie habe auf die-
schusslöcher noch zu sehen. Zusammen zone. Polizisten gehen auf und ab. Ein se Fragen keine Antworten gefunden.
mit 50 anderen Jüdinnen und Juden feierte Container dient ihnen als Quartier. Ihr Umgang mit der eigenen Identität
Nelli R. Jom Kippur, das Versöhnungsfest, Drinnen, hinter der Holztür, kehrt lang- habe sich durch das Attentat nicht verän-
als es passierte. Kurz nach 12 Uhr versuch- sam wieder so etwas wie Alltag ein. Die dert. Nelli R. sagt, sie sei als Jüdin schon

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Deutschland

vorher immer »mit einer gewissen Vor- wenige Wochen nach dem Attentat. Vor rer Herr mit der Ziehharmonika Popsongs
sicht« durch die Stadt gegangen. Bereits allem die Führungen durch die Synagoge, und sang Verse aus der Tora, den fünf
in der Schule habe sie ihren Glauben nie den Ort des Anschlags, waren gut besucht. Büchern Mose.
gezeigt. Auf dem Pausenhof in Halle hät- Für Nelli R. waren die Kulturtage auch Es war ein wuseliger Tag mit rennenden
ten sich Klassenkameraden Judenwitze deshalb wichtig, weil sie viel zu erledigen Kindern und verblüffend guter Laune.
erzählt. Das ging an der Universität weiter: hatte. »Wenn man beschäftigt ist, hat man Während sich draußen, vor der abge-
»Wenn mich jemand nach meinem Glau- nicht die Zeit, sich dem zu stellen, was schlossenen Tür, noch die Blumen und
ben fragt, sage ich die Wahrheit. Aber von einem da eigentlich passiert ist«, sagt die Kerzen häuften und Menschen minuten-
mir aus erzähle ich es nicht.« Wirtschaftsstudentin. Sie kam als Klein- lang betroffen davor stehen blieben, war
Viele hallesche Gemeindemitglieder kind mit ihrer Familie aus der Ukraine die Gemeinde im Innern zur Normalität
achten in ähnlicher Weise auf Diskretion, nach Sachsen-Anhalt. Ihre Eltern hätten zurückgekehrt, zumindest für den Augen-
die manchmal an ein Versteckspiel erin- ihren Glauben in der Sowjetunion nicht blick.
nert. Der eine verbirgt am Tag, bevor der leben können, erzählt sie. Doch das Wis- Das ist auch das Verdienst des Vorsit-
Heizungsableser kommt, alle jüdischen In- sen darüber hätten sie über die kommu- zenden Max Privorozki, eines Mannes
signien in der Wohnung. Andere wollen nistische Diktatur hinwegretten können. mit impulsivem Gemüt, ruppig und herz-
zum Geburtstag keine Glückwunschbriefe Nelli R. sagt, sie sei aufgewachsen wie lich zugleich. Privorozki hat in den ver-
mit dem Stempel der Gemeinde nach Hau- jedes andere Mädchen. Wenn in der Schu- gangenen Monaten fast Tag und Nacht in
se geschickt bekommen, damit der Post- le doch einmal ein Mitschüler von ihrem seinem Büro im ersten Stock der Synago-
bote nicht bemerkt, dass sie Juden sind. Glauben erfahren habe, sei er überrascht ge gearbeitet und Anfragen beantwortet.
Die Angst ist berechtigt. Judenhass ist gewesen: »Niemand hat ein Bild vor Au- Es ist ein kleines Hinterzimmer, darin ein
Alltag in der Bundesrepublik. Immer wie- gen, niemand eine Vorstellung von Juden. Tisch, auf dem ein riesiger Flachbild-
der gibt es antisemitische Übergriffe auf Man kennt sie nicht.« schirm steht.
offener Straße, in Schulen oder U-Bahn- Ihre jüdische Identität habe sie nur in Der Gemeindevorsitzende führte Bun-
höfen. 2018 verzeichnete die Polizei 1799 der Familie gelebt, sagt sie, und bei den despräsident Frank-Walter Steinmeier
solcher Straftaten. »Für zahlreiche Juden Festen und Treffen in der Gemeinde. Hier durch die Synagoge und US-Außenminis-
in Deutschland war der Anschlag von Halle hat sie Freundinnen, zusammen traten sie ter Mike Pompeo. Die große Anteilnahme
keine Überraschung, keine Zäsur, sondern bei der Jewrovision auf, an der nach Art aus der Bevölkerung habe ihn zuversicht-
vielmehr eine Bestätigung ihres latenten des Eurovision-Wettbewerbs mehr als lich gestimmt: »Die Reaktion der abso-
Unsicherheitsgefühls«, sagt der Heidelber- 60 jüdische Gemeinden und Jugendzen- luten Mehrheit hat bei mir die Hoffnung
ger Judaistikprofessor Frederek Musall, tren in Deutschland teilnehmen. geweckt, dass die Lage nicht so pessimis-
selbst jüdischen Glaubens. Das Attentat hat die Juden von Halle tisch ist, wie ich noch vor einigen Monaten
Nach Halle wurde viel über den Schutz noch näher zusammenrücken lassen. gedacht habe.« Der Gemeindevorsitzende
jüdischer Einrichtungen diskutiert. Die Schon kurz nach dem Anschlag versuch- kämpft seit Langem gegen Schändungen
Bund-Länder-Kommission zur Bekämp- ten sie, einfach weiterzumachen wie vor- jüdischer Gräber und antisemitische
fung von Antisemitismus forderte unter her. Nur anderthalb Wochen nach dem Schmierereien.
anderem bundesweite Baumaßnahmen Attentat, am 20. Oktober, feierten sie Privorozki wurde 1963 in Kiew geboren
wie kugelsichere Scheiben für Gemeinde- Sukkot, das Laubhüttenfest. Für die Kin- und kam vor 30 Jahren aus der zerfallen-
häuser und Synagogen. Musall sagt: »Si- der hatte man an diesem Tag alles vorbe- den Sowjetunion nach Deutschland. 1999
cherheit ist wichtig, aber nicht das vorran- reitet, Fladenbrot und Hummus, frisches übernahm er den Vorsitz der Gemeinde.
gige Problem.« Ein Großteil der Jüdinnen Gemüse, gegrilltes Fleisch. Im Vorhof war Er ist der Ansicht, die Politik solle sich
und Juden in Deutschland sehne sich nach für das Fest eine Art Pavillon als Laubhütte stärker einbringen, um das jüdische Leben
Normalität. Dafür sei mehr gesellschaft- aufgestellt worden. Darin spielte ein älte- in Halle und ganz Deutschland zu ver-
liche Sensibilisierung nötig. bessern, und es macht ihn wütend, wenn
»Jude, das ist für die meisten Schläfen- ein Brandanschlag auf eine Synagoge von
locken, Israel oder Schoa«, sagt Musall. einem deutschen Gericht nicht als anti-
Es brauche dringend Impulse zur besse- semitischer Akt gewertet wird, sondern
ren Verständigung, neue Begegnungsfor- als Protestaktion gegen Israels Politik, wie
mate in Schulen und Vereinen. Das könne 2017 das Oberlandesgericht Düsseldorf
nicht nur von der Politik ausgehen, son- entschieden hatte.
dern erfordere mehr zivilgesellschaftliches Erst nach dem Anschlag von Halle hat
Engagement. das Bundesjustizministerium einen Gesetz-
In Halle ist die jüdische Gemeinde weit- entwurf vorgelegt, nach dem antisemi-
gehend isoliert. Der Altersdurchschnitt der tische Straftaten in Zukunft härter bestraft
Gläubigen liegt bei über 60 Jahren. Die werden sollen.
meisten von ihnen sind Spätaussiedler aus Nelli R. sagt: »Je weiter man sich von
der Sowjetunion, Hauptsprache im Gottes- der Nazizeit entfernt, desto mehr ver-
dienst ist Russisch. »Es herrscht ein sehr blasst die Geschichte.« Die junge Frau
passives Verhältnis zwischen der jüdischen blickt zur Eingangstür der Synagoge. In
Community und der Stadt«, sagt Igor dem kleinen Vorraum hält ein Sicherheits-
FABRIZIO BENSCH / REUTERS

Matviyets. Der junge SPD-Politiker gehört mann Wacht.


zur Gemeinde: »Dieses Nebeneinander »Der Anschlag hat mich darin bestätigt,
beruht auf Gegenseitigkeit. Daran hat dass es in Deutschland einen Rechtsruck
auch der Anschlag nichts geändert.« gibt«, sagt Nelli R. schließlich. »Selbst
Eine Möglichkeit zur Begegnung bieten nach dem Holocaust ist der Judenhass
einmal im Jahr die jüdischen Kulturtage noch da.« Felix Bohr, Timo Lehmann
mit Vorträgen, Lesungen, Filmen. Sie fan- Einschusslöcher in der Zugangstür Mail: felix.bohr@spiegel.de
den im November zum siebten Mal statt, Latentes Unsicherheitsgefühl

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 37


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Deutschland

»Sex als Bonus«


Onlinedating Wollen die Nutzer von Tinder Sexpartner oder die große
Liebe finden? Und was kommt in der App gut an? Die
Psychologinnen Johanna Degen und Andrea Kleeberg-Niepage haben es erforscht.

Johanna Degen, 33, promoviert an der SPIEGEL: Was ist, wenn ich mich im Bikini SPIEGEL: Und das kommt gut an?
Europa-Universität Flensburg in Psycholo- präsentiere? Degen: Es würden nicht so viele darauf
gie. Eines Abends loggte sie sich privat bei Degen: Bloß nicht! Wer im Bikini auf Part- zurückgreifen, wenn es nicht funktionie-
der App Tinder ein. Man lädt ein Bild hoch, nersuche geht, gilt als promisk. ren würde. Das gilt übrigens auch für die
danach werden einem potenzielle Dating- SPIEGEL: Und welches Vorurteil haben Sache mit den Statussymbolen, auch wenn
partner angezeigt. Das erste Foto, das Degen Frauen gegenüber Männern? das angeblich niemand mag. Wir beobach-
sah, war das eines halb nackten Mannes um Degen: Frauen sagen, es gebe die Verzwei- ten, dass alles, was von den eingeübten,
die dreißig mit einem riesigen Fisch im Arm. felten und die, die nur das eine wollen. ästhetischen Sehgewohnheiten abweicht,
Offenbar glaubte der Nutzer, damit bei Frau- Und wenig dazwischen. erst mal irritiert und deshalb negativ be-
en landen zu können. Degen war fasziniert. SPIEGEL: Für Ihre Studie haben Sie sich wertet wird. Konformismus siegt über In-
Sie schickte einen Screenshot an ihre Dok- Profilbilder von Männern und Frauen aus dividualismus.
tormutter, Andrea Kleeberg-Niepage, 49, ganz Deutschland angeschaut. Was haben SPIEGEL: Sie schreiben, dass auf Tinder
Professorin für Entwicklungspsychologie. Sie gelernt? ältere Menschen authentischer sind.
Kurz darauf entstand die Idee für das For- Degen: Es gibt eine interessante Diskre- Kleeberg-Niepage: Ältere geben mehr
schungsprojekt »Hot or Not«, heiß oder panz: In den Interviews betonten die Einblick in ihr persönliches Leben. Und
nicht, bei dem ihr Team 250 Profilbilder meisten Nutzer, Authentizität sei ihnen die Fotos werden weniger bearbeitet.
und 2651 Fragebögen auswertete. Außer- wichtig. Aber genau das zeigen die Fotos SPIEGEL: Haben Sie eine Idee, wieso das
dem führten sie knapp 70 qualitative In- nicht, manche sind maskenhaft, im Grun- so ist?
terviews mit Nutzern. Weltweit haben rund de lassen sich alle in wenige Kategorien Kleeberg-Niepage: Vielleicht mussten sie
5,7 Millionen Menschen ein Abonnement einordnen, zum Beispiel Selfies oder schon mehr Enttäuschungen verarbeiten
für die App. scheinbar beiläufige Schnappschüsse, auf und haben deshalb ein stärkeres Selbst-
Reisen oder mit Requisite. Viele zeigen bewusstsein. Vielleicht ist die Angst vorm
SPIEGEL: Frau Degen, Frau Kleeberg- sich gern mit Surfbrett unterm Arm oder Scheitern geringer. Aber vor allem reifere
Niepage, wir sind ein Mann und eine Frau, mit Tieren. Männer lügen gern beim Alter. Oft wird
beide zwischen 30 und 40 – wie sollten SPIEGEL: Welche Rückschlüsse ziehen Sie aus einer 41 eine 39, damit man noch in
wir uns bei Tinder präsentieren, um erfolg- daraus? der jüngeren Kategorie auftaucht. Oder
reich zu sein? Degen: sie stellen ältere Bilder ein, auf denen sie
Degen: Als Mann sollten Sie auf keinen noch ein paar Haare mehr haben.
Fall Autos, Geld oder Uhren zeigen. Das SPIEGEL: Lassen die Bilder darauf schlie-
ist weitverbreitet, aber keine einzige Frau ßen, was die Nutzer wollen, Sex oder
hat gesagt, ihr gefalle das. Im Gegenteil, Liebe?
es wird negativ bewertet. Kleeberg-Niepage: Viele glauben das,
Kleeberg-Niepage: In Ihrer Altersgruppe aber es stimmt nicht. Als häufigstes Motiv
ist das, abgesehen von den Autos, sowieso zu tindern wurde bei uns Neugierde ge-
eher unüblich. Je älter die Männer, desto nannt. Viele wollen offenbar ihren Markt-
eher zeigen sie Statussymbole. Schnelles Dating wert checken. Dazu passt, dass ȟber den
SPIEGEL: Und was sollte man als Frau tun Durchschnittliche Anzahl an oder die Ex hinwegkommen« häufig ge-
oder lassen? Tinder-Abonnenten weltweit, 5,7 Mio. nannt wurde. Sex als Motiv kommt deut-
Degen: Männer sagten häufig, Frauen soll- jeweils letztes Quartal lich seltener vor.
ten sauber aussehen. Quelle: Match Group
SPIEGEL: Das will vielleicht kaum einer
SPIEGEL: Was soll das heißen? zugeben.
Degen: Darüber haben wir lange nach- 4,3 Mio. Degen: Natürlich, aber auch wenn man
gedacht, die meisten Leute hier duschen nachfragt, wird Sex oft eher als Bonus
ja täglich. Wir vermuten, dass die Männer wahrgenommen. Viele wollen einen Part-
nach Hinweisen auf Klasse oder Milieu su- ner finden. Allerdings ist die Hälfte der
chen, die Frauen sollen gepflegt aussehen 3,1 Mio. Nutzer auch verheiratet. Einige wünschten
und einen bestimmten Lebensstil reprä- sich eine Art Tinder light, nur für Sex. Die
sentieren. Da das keiner gern zugibt, wird fanden es anstrengend, die Leute anzu-
es so verklausuliert. schreiben, um herauszufinden, was das
SPIEGEL: Präsentieren Frauen sich auf ih- Gegenüber sucht.
ren Fotos entsprechend? 1,6 Mio. SPIEGEL: Wer Sex haben will, muss
Degen: Frauen über 40 posieren häufiger freundlich sein.
in Designerkleidung, vor Champagnerfla- 714 000
Degen: Ja, und viele Männer nervt das.
schen oder mit teuren Bulgari-Ketten um SPIEGEL: Auf Tinder hat man scheinbar
den Hals. Damit wollen sie zeigen, dass 3. Quartal eine schier unendliche Auswahl potenziel-
2015 2016 2017 2018 2019
sie einen gewissen Anspruch haben. ler Partner. Wenn man in der Bahn oder

38 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4.1. 2020


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DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


Wissenschaftlerinnen Degen, Kleeberg-Niepage: »Viele wollen ihren Marktwert checken«

abends auf dem Sofa die Fotos durchgeht, mene wie Beschleunigung und Ökonomi- Kleeberg-Niepage: Tinder wird von jenen
erinnert das an Onlineshopping. sierung. Menschen als normal wahrgenommen, die
Degen: Einige Nutzer haben uns von Stra- SPIEGEL: Kritiker behaupten, Tinder sei wenig andere Möglichkeiten zur Partner-
tegien erzählt, die der Marktlogik folgen. oberflächlich, weil man nur nach dem ers- suche haben, etwa weil sie zwei Kinder zu
Der allgemeine Optimierungswahn wirkt ten Eindruck entscheide. Was ist so anders Hause haben oder sich wegen einer for-
sich auch auf die Partnersuche aus. Selbst daran, eine unbekannte Person in einer dernden Karriere schwertun, jemanden
ein zu 95 Prozent großartiges Date ist Bar oder in der Bahn anzusprechen? kennenzulernen.
plötzlich nicht mehr gut genug, es könnte Kleeberg-Niepage: In so einer Situation SPIEGEL: Essenzieller Teil von Tinder ist
ja noch jemand Besseres auftauchen. So sieht man, wie die Person sich bewegt, rea- ein Ortungstool. Auf Wunsch werden einem
einer sitzt dann während des Treffens auf giert und welche Ausstrahlung sie hat. Das nur Personen in der Umgebung angezeigt.
der Toilette und tindert nach anderen Leu- ist viel mehr als ein Bild. Welche Folgen hat es, wenn Singles nur
ten. Daraus ergibt sich die Strategie, die SPIEGEL: Finden Sie es peinlich zu tin- Personen aus demselben Soziotop vorge-
Treffen ökonomisch zu gestalten. Man dern – oder normal? schlagen werden?
trifft sich nur auf ein Bier, dann hat man Degen: Es ist teilweise immer noch scham- Degen: Viele sagen, gerade über Tinder
nicht ein Abendessen und viel Zeit inves- behaftet, sonst würden sich nicht so viele trifft man Leute, die man sonst nicht ken-
tiert. Andere waren mit ihren Dates jog- im Inkognito-Modus bewegen oder da- nengelernt hätte. Sonst treffen sich nur die
gen. So haben sie immerhin Sport getrie- rauf achten, dass Kollegen es nicht mit- Künstler oder die Sportler untereinander.
ben, selbst wenn das Treffen ein Reinfall bekommen. SPIEGEL: Müssen Sie jetzt eigentlich
war. SPIEGEL: Aber Onlinedating gibt es doch Freunde beraten, die Tinder nutzen?
Kleeberg-Niepage: Man möchte meinen, schon sehr lange. Degen: Falls Sie meine Freundin wären,
dass die große Auswahl etwas Positi- Degen: Das betonen unsere Inter- würde ich als Psychologin gleich zurück-
ves ist. Doch Menschen, die exzessiv tin- viewpartner auch gern und rechtfertigen fragen, was Sie denn da suchen. Im Ge-
dern, sagen selbst, dass sie gestresst seien sich ungefragt mit Sätzen wie »Das macht spräch kommt man dann schnell darauf,
und irgendwann eine Pause brauchten. Es doch heute jeder«. Im Ernst: Wäre das wie sich Erwartungen und Realität in Ein-
ist wie an einem Fließband, die Leute schi- Thema nicht schambehaftet, würde nicht klang bringen lassen.
cken in den Chats Standardsätze raus. Al- gelacht, wenn ich auf einer Konferenz der Interview: Laura Backes, Alexander Preker
lerdings ist das kein Zeichen für den kritischen Psychologie berichte, wie ich Mail: laura.backes@spiegel.de,
schlechten Einfluss von Tinder, sondern zu meinem Untersuchungsgegenstand ge- alexander.preker@spiegel.de
reiht sich ein in gesellschaftliche Phäno- kommen bin.

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Reporter
»Ich danke dich, mein Liebster, dass du gerade jetzt fur mich da bist.« ‣ S. 44

Homophobie
Wie fühlt sich Hass an,
Herr Pehle?
SPIEGEL: Herr Pehle, Sie hatten vor Kur-
zem angekündigt, Ihre Gemeinde verlas-
sen zu wollen. Was war passiert?
Pehle: Ich bin homosexuell, und ich ver-
stecke mich nicht. 2013 bin ich mit meinem
Ehemann Thomas ins Vlothoer Pfarrhaus
gezogen, seitdem wurden wir immer wie-
der angefeindet. Unsere Homosexualität
war für einige hier ein Riesenproblem.
SPIEGEL: Was haben Sie erlebt?
Pehle: Unser Müll wurde durchsucht, die
Nachbarn haben uns ständig beobachtet.
Wenn wir durch die Stadt liefen, wurden
wir nicht gegrüßt. Hinter meinem Rücken
redeten die Leute: dass ich keinen ver-
nünftigen Gottesdienst mache, dass ich
lieber auf dem Markt Wein verkauft und
eine Kneipe – einen offenen Gemeinde-
treff – eingerichtet hätte, statt zu predigen
und die älteren Gemeindemitglieder zu
besuchen. Mitglieder der Nachbargemein-
de schrieben einen offenen Brief, in dem
Familienalbum Tochter, sie starb an Blutkrebs, als sie mich und meinen Mann beleidigten.
sie sieben Jahre alt war. Sie hat das SPIEGEL: Wie fühlte sich das an?
Neuanfang, Leben geliebt. Sie lachte, wenn ich Pehle: Wie ein Krampf im Magen. Wir konn-
ihr nur ein Schleifenband gab. Mein ten und wollten das nicht mehr aushalten.
2016 Mann verließ mich später und ging SPIEGEL: Wie haben die Menschen re-
zur Nachbarin. Ich adoptierte ein agiert, als Sie sagten, Sie würden Vlotho
Ludmilla Gerlach, 64: Mädchen, das auf der Straße lebte, verlassen?
Das Bild ist mir wichtig, weil das jetzt Anastasia. Als sie 18 Jahre alt wurde, Pehle: Mit einer Welle der Unterstützung
meine Familie ist – meine Adoptiv- ging ich nach Deutschland. Meine und Solidarität. Mein Telefon stand nicht
tochter Anastasia und ihre beiden Vorfahren sind deutsch. Heute lebe mehr still, die Leute kamen auf mich zu
Kinder. Wir haben eine kleine Reise ich in Hamburg, singe in einem Chor und sagten, sie stünden
gebucht, an den Riza-See im Kau- und tanze. Ich arbeite seit fünf Jah- hinter mir. Die Stadt
kasus, nahe dem Schwarzen Meer. ren gegenüber vom Rathaus in der verabschiedete eine
Wir machen einen Spaß auf dem Innenstadt, ich mache in der Passage Resolution für Toleranz,
Foto, es soll aussehen, als würde der sauber. Ich treffe viele Leute, die die mehr als tausend
See in unseren Händen liegen. Es meisten sind fröhlich, gut, akkurat. Bürger unterzeichneten.
war meine schönste Reise. Früher Ich fühle mich wohl hier und sicher. SPIEGEL: Und dann?
waren es schwere Jahre. Ich wurde in Und ich habe einen Traum: Ich ver- Pehle: Die Anteilnahme hat mich sehr
Russland geboren. Als ich 10 Jahre diene viel Geld, ich gebe einen Teil berührt. In Kooperation mit der Stadt
alt war, verließ uns mein Vater. Mei- nach Russland, ich unterstütze eine Vlotho und dem Kreis Herford planen
ne Mutter starb, als ich 13 war; später Gruppe, in der Frauen Kostüme wir einen Tag der Toleranz und die
starben noch meine Brüder. Ich zog für Clowns nähen. Die Clowns gehen Einrichtung eines Toleranztelefons. Wir
zu der neuen Frau meines Vaters in ein Haus, wo Kinder leben, die wollen Menschen die Möglichkeit geben,
nach Dschambul in Südkasachstan, Krebs haben. Meine Tochter ist in Hilfe bei Mobbing und Anfeindungen
lernte Buchhalterin, arbeitete in einer so einem Haus gestorben. zu bekommen. Am Ende haben wir
kleinen Gasfirma. Per Fernstudium Aufgezeichnet von Barbara Hardinghaus entschieden zu bleiben. Vlotho ist nicht
wurde ich Ökonomin. Ein Jahr lang homophob, das wissen wir. Wir geben
lebte ich bei meiner Schwester in ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
der Stadt eine zweite Chance. Die hat
Wolschski, lernte in der Disco mei- uns Ihre Geschichte erzählen möchten? jeder verdient. MAP
nen Mann kennen, einen Lokomotiv- Schreiben Sie an:
führer. Ich war 23. Wir hatten eine familienalbum@spiegel.de Jörg Uwe Pehle, 56, ist Pfarrer der St.-Ste-
phan-Gemeinde im ostwestfälischen Vlotho.

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grüßung der polnischen Delegation, es sind dieselben drei


Eine Meldung und ihre Geschichte
Männer, die diesmal zum Fest »Torgau leuchtet« da waren.

Eigenhändig
Barth hält beide Hände des Striegauer Bürgermeisters Zbi-
gniew Suchyta fest, sie lächelt in die Kamera.
28 sächsische Städte hatten Partnerschaften mit Polen, bis

weggemacht
vor Kurzem jedenfalls. Was dazu führte, dass es mittlerweile
nur noch 27 sind, lässt sich nicht genau rekonstruieren; die
Mitglieder der polnischen Delegation sind seit Wochen krank-
gemeldet.
In einer Erklärung teilte Bürgermeister Suchyta mit: »In
Wie über Nacht eine deutsch-polnische der Nacht, während des Schlafens, kam es zu einem unkon-
Städtepartnerschaft zu Ende ging trollierbaren Übergeben des Mageninhalts, wobei es nicht
möglich war, rechtzeitig das WC zu benutzen, so wurden
Auslegeware und Bettwäsche beschmutzt.«

J edes Jahr im Oktober feiert die sächsische Stadt Torgau,


rund 60 Kilometer nordöstlich von Leipzig gelegen, ein
Fest mit dem Namen »Torgau leuchtet«. Die Torgauer
laden dazu Gäste ihrer Partnergemeinden ein: aus dem ba-
Am Morgen, sagt die Hotelleiterin, habe sie den Dreck ei-
genhändig weggemacht, weil sie die Arbeit niemandem hatte
zumuten wollen. Zwei Zimmer konnten drei Tage lang nicht
vergeben, Matratzen und Teppiche mussten ausgetauscht
den-württembergischen Sindelfingen, dem tschechischen werden. Als sie fertig war, schickte sie eine Rechnung über
Znojmo, dem finnischen Hämeenkyrö. Es gibt Lichtshows 1500 Euro nach Striegau, das Geld kam schnell. Auf der
im Schlosshof an der Elbe und eine Kirmes am Rosa-Luxem- Überweisung stand, auf Deutsch: »Entschuldigung«.
burg-Platz, es treten Bands auf, die Tänzchentee oder Geile Die Torgauer Stadträte brauchten danach zwei Sitzungen,
Gugge heißen. um über die Zukunft der Partnerschaft zu Striegau zu ent-
Bis vor Kurzem war Torgau mit einer vierten Partnerstadt scheiden. Bei der ersten wurde eine Mappe mit Fotos prä-
herzlich verbunden, Striegau in Niederschlesien. Auf Polnisch sentiert, grobkörnig, auf DIN A4 vergrößert. Die Bilder zeig-
heißt die Stadt Strzegom. Im Oktober reiste wieder einmal ten die Zimmer der polnischen Gäste nach deren Abreise.
eine kleine Striegauer Delegation nach Torgau zum Fest, sie Bei der zweiten Sitzung wurde abgestimmt. Eine Städtepart-
bestand aus dem Bürgermeis- nerschaft sei wie eine Ehe, sag-
ter und zwei Stadträten. Die te ein CDU-Vertreter. »Nach so
drei Männer stiegen im Cen- etwas« trenne man sich.
tral-Hotel am Friedrichsplatz Bei der Abstimmung im Fest-
ab, drei Sterne, 38 Zimmer, saal des Rathauses Ende No-
»liebevoll geführt«, so steht es vember sagte Oberbürgermeis-
auf der Website. terin Romina Barth (CDU), sie
Am nächsten Morgen war könne nicht »ruhigen Gewis-
die Stimmung heiter. Die Män- sens weiterhin Schüler und
ner frühstückten, bedankten Kinder bei derartigen Gepflogen-
sich beim Auschecken und heiten in ein derartiges Land
machten sich mit dem Auto auf entsenden«.
den Heimweg. Eine Mitarbei- Michael Bagusat-Sehrt (Die
ARNO RUDE / DDP

terin des Hotels stieg die Trep- Linke) sagte: »Eine ganze Stadt
pe hinauf – kam aber sofort und sogar das Land in die Haf-
wieder herunter. tung zu nehmen, finde ich ein
Später schrieb Torgaus bisschen sehr schade.«
Oberbürgermeisterin Romina Hotel Central in Torgau Oberbürgermeisterin Barth
Barth auf Facebook: »Die erwiderte: »Ich möchte nicht
polnische Delegation, darun- sagen, dass jede polnische ...« –
ter auch der Bürgermeister, sie suchte an dieser Stelle nach
haben nicht nur einen Teil der dem richtigen Wort – »... Per-
Einrichtung der Hotelzimmer son ihre Grenzen und Werte
zerstört, sondern auch alle Von der Website Mdr.de nicht kennt.« Aber als Ober-
denkbaren Exkremente in bürgermeisterin habe sie eine
mehreren Hotelzimmern an undenkbaren Orten hinter- Schutzpflicht für Kinder und Jugendliche. Vereine und Schu-
lassen.« len könnten ja weiterhin Austausch pflegen, nur eben auf ei-
Torgau, 20 000 Einwohner, ist eine Stadt mit Selbst- gene Verantwortung.
bewusstsein und ein Ort von historischer Bedeutung. In den 11 der 19 Stadträte stimmten für das Aus der Freundschaft
letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs begegneten sich hier mit Striegau. Mitte Dezember bekam der Stadtrat von Strie-
an der Elbe sowjetische und amerikanische Soldaten. gau das offizielle Kündigungsschreiben.
Die Partnerschaft zwischen Torgau und Striegau wurde In seiner letzten Sitzung vor Weihnachten beauftragte der
1997 geschlossen, damit die Partner sich wirtschaftlich und Stadtrat von Striegau einen Ausschuss, die Hotelaffäre auf-
kulturell würden austauschen können. Über die Jahre unter- zuklären. Der Ausschuss soll unter anderem herausfinden,
nahmen die Torgauer Kita Bärentatzen, die Feuerwehr und ob die einseitige Kündigung einer Städtepartnerschaft juris-
der Männerchor Ausflüge nach Polen. Der Judoverein reiste tisch Bestand hat.
hin, ein Mitglied des Torgauer Lions Clubs hielt in Striegau Am 25. April feiert Torgau das nächste große Fest, das
eine Ansprache auf Polnisch. Als Schüler der Striegauer Ko- sowjetisch-amerikanische Treffen an der Elbe jährt sich zum
pernikus-Schule nach Torgau kamen, nannte die Torgauer 75. Mal. Wer an diesem Festtag die polnische Stadt Striegau
Zeitung das eine »internationale Premiere«. Auf einem Foto vertreten soll, steht noch nicht fest. Offen ist auch, in welchem
von 2018 sieht man Oberbürgermeisterin Barth bei der Be- Hotel die Gäste dann schlafen werden. Timofey Neshitov

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Reporter

Die Liste des Konsuls


Courage Ein Beamter rettete im Sommer 1940 Tausende Flüchtlinge vor den Nazis. Fast 80 Jahre
später machen sich deren Nachkommen auf die Suche nach den Spuren von Aristides de Sousa
Mendes, dem damaligen portugiesischen Generalkonsul in Bordeaux. Von Alexander Smoltczyk

E
in Menschenleben später steht Vor ein paar Jahren hat der französische ihren Ländern ausgewiesene Juden« sowie
Henri Dyner am Grenzbahnhof Journalist José-Alain Fralon ein Buch über Antragsteller ohne gültige Papiere für die
von Vilar Formoso. Es ist die glei- Sousa Mendes geschrieben, es heißt »Der Weiterreise und ohne ausreichende Mit-
che Luft, der gleiche Geruch von Gerechte von Bordeaux«. Es ist die Ge- tel – all diesen Personen sei ein Visum zur
Schmieröl und Metall. Da vorn der Güter- schichte einer Heldentat, die bis heute kaum Einreise nach Portugal zu verweigern.
zug. Dyner war drei Jahre alt damals. »Ich einer kennt – und die in Sousa Mendes’ Hei- Am 1. September 1939 war Deutschland
weiß noch, dieses Blau«, sagt er, auf mat Portugal lange umstritten war. Seine in Polen eingefallen. Frankreich und Groß-
Deutsch. Das Blau, das sind die Kacheln Gewissensentscheidung rettete zwar Tau- britannien hatten Deutschland daraufhin
oben am Bahnhofsgebäude: »Vilar Formo- sende vor den Nazis, aber zugleich verstieß den Krieg erklärt. Im Herbst des Jahres
so«. Es ist die Grenze zwischen Spanien er damit gegen geltendes Recht, einfach in- ist Europa in Angststarre.
und Portugal. Alle anderen Erinnerungen dem er seinen Namen auf Einreisevisa Millionen sind auf der Flucht, die Pen-
an den Juni 1940 sind verschwunden. Das schrieb: einmal, zweimal, zehntausendmal. sionen, Bahnhöfe und Cafés in Paris, Brüs-
Blau ist geblieben. »Ich muss gespürt ha- Jedes Mal öffnete sich eine Fluchttür über sel und Amsterdam überfüllt von Schrift-
ben, was dieses Schild für meine Eltern be- Spanien ins neutrale Portugal. stellern aus Wien, russischen Exilanten,
deutet hat.« Für Salvador Dalí und seine Frau (Vi- Juden aus Galizien, von Antifaschisten,
Henri Dyner ist ein alt gewordener jun- sum 2519), für Otto von Habsburg samt Verjagten, Heimatlosen und Zerrissenen.
ger Mann, schlank und beweglich trotz sei- Familie (Visa ohne Nummer), für Maurice Im Mai 1940 überrollt die Wehrmacht
ner 82 Jahre. Er ist auf einer Reise in die de Rothschild (Visum 1751), für Henriette- das neutrale Belgien, die Niederlande und
Vergangenheit. »A trip of a lifetime« hatte Hélène de Beauvoir (Visum 734), für Fried- Luxemburg. Hitlers Panzer bewegen sich
es im Prospekt geheißen. Elf Tage, von rich Torberg (Visum 2245), für Charlotte bald auf Paris zu.
Bordeaux nach Lissabon. Großherzogin von Luxemburg. Oder, wie Henri Dyner steht in dem Bus, ein Mi-
Dyner schaut noch einmal auf das Blau es auf dem Visum 1257 steht: »Eliezar Dy- krofon in der Hand, er erzählt, wie er am
oben am Bahnhof, dann steigt er in den ner u. Henri«. 10. Mai 1940 gegen fünf Uhr morgens von
Bus. Er habe sich noch einmal auf den Weg Deswegen hat Henri Dyner diese Tour den Bomben geweckt wurde, die auf den
machen müssen, sagt er. »Aus Respekt vor gebucht, diese »Journey on the Road to Hafen von Antwerpen fielen. Sein Vater
meinen Eltern. Und vor Sousa Mendes.« Freedom« auf den Spuren der Flucht von Eliezar, ein Ingenieur, hatte da schon alles
Es ist eine Reisegruppe 60 plus, die zu- 1940, zum Preis von 2800 Dollar, organi- für die Flucht vorbereitet.
sammen mit Henri Dyner in diesem Bus siert von einer amerikanischen Stiftung. Heiß und verstopft waren die Landstra-
unterwegs ist. Da ist ein Rabbi aus Miami Eine Reise im klimatisierten Bus durch die ßen Frankreichs im Juni 1940. Soldaten-
und eine anglikanische Priesterin mit ihrer Weltgeschichte. kolonnen, Fuhrwerke und Taxis, auf dem
Freundin. Fanny Fraynd-Rabinovich ist Am 11. November 1939, man kann das Dach vertäut Kinderwagen, hupende Bus-
dabei, weil sie ein Schoa-Museum in Pa- bei Fralon nachlesen, ergeht ein Rund- se, Limousinen und am Himmel die Sturz-
nama aufbauen will. Michéle Koven hat schreiben an alle Konsulate Portugals. Es kampfbomber der Wehrmacht.
sich immer gefragt, warum ihr Vater, ein ist unmissverständlich: »Ausländer unbe- Viele hatten gehofft, der Feind würde
»Washington Post«-Reporter, nie zur Ru- stimmter Nationalität«, Russen und »aus bei Paris haltmachen wie im Ersten Welt-
he gekommen ist. Mancher sucht auf krieg. Doch diesmal zog die Wehrmacht
dieser Reise seine Eltern, mancher sich weiter, in ihrem Gefolge die Gestapo mit
selbst. Westeuropa im Juni 1940 ihren Listen.
NIEDERLANDE
Wenn sie aus dem Bus steigen, sehen vom Deutschen Reich Bordeaux ist die erste Station der »Jour-
sie aus wie irgendeine Gruppe amerikani- besetzt BELGIEN ney on the Road to Freedom«. Die Regie-
scher Touristen. Nur dass sie nicht über Vorstoß der
rungen Polens, Belgiens und Luxemburgs
den Bordeauxwein oder das Wetter reden. deutschen Truppen Paris hatten sich hierher geflüchtet, gefolgt von
Sie reden über das, was vor 80 Jahren war Diplomaten aus 60 Ländern.
und immer noch ist und sie verfolgt, weil Atlantik Fast eine halbe Million Flüchtlinge
auch eine Flucht sich vererbt. war in der Stadt. Die Reichen kamen
Bordeaux FRANKREICH
Aristides de Sousa Mendes: Im Juni mit Personal und im eigenen Wagen. Die
1940 war er der portugiesische General- Bayonne Waffenstillstandslinie Unsicherheit war für alle dieselbe. Wür-
konsul im französischen Bordeaux. Ein PORTUGAL Hendaye am 22. Juni den die Deutschen bis nach Bordeaux
Salazar-
Bonvivant mit einer Frau, einer Geliebten Diktatur Vilar kommen?
und zwölf Kindern, der schon bald »die Formoso Weiter vorn im Bus sitzt Hellen Kauf-
vielleicht größte Rettungsaktion eines Ein- Mittelmeer mann, eine kleine Frau Anfang fünfzig,
Lissabon
zelnen während des Holocausts« vollbrin- SPANIEN deren Lachen man noch in den letzten
Franco-Diktatur
gen würde, so bezeichnete Yehuda Bauer, Reihen hört. Kaufmann gehört zur jüdi-
Historiker der israelischen Gedenkstätte 300 km schen Gemeinde von Bordeaux. Nein, sie
Yad Vashem, das, was damals geschah. habe nichts gegen Deutsche: »Meine Fami-

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Ururenkelinnen von Sousa Mendes: »Ich werde jedem ein Visum geben, der es verlangt«

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lie ist von Ungarn totgeschlagen worden.« neben zwei Muttersprachen fließend Ja- Und der Konsul, so hat es Fralon, der
Hellen Kaufmann erzählt, wie die franzö- panisch, Chinesisch, Portugiesisch und französische Journalist, recherchiert, muss
sische Regierung, die damals Paris verlas- Hebräisch spricht. sich jeden Tag seinen Weg durch die Schar
sen hatte, in einem der Stadtpalais debat- Ihre Mutter hat nie über ihre Flucht ge- der Wartenden bahnen. Mit einem Visum
tierte, was zu tun sei. »Das war hier ein sprochen. Dann entdeckte Fischer das alte für Portugal, gültig 30 Tage, hatte man An-
Panoptikum, alle waren in Bordeaux«, Tagebuch. Mit jeder Etappe dieser Reise spruch auf ein französisches Ausreise-
sagt sie. »Dort vorn bereiten sich Mar- kommt sie ihrer Mutter etwas näher – und visum und den Transit durch Spanien.
schall Pétain und Pierre Laval auf die sich selbst auch. Die systematische Massenvernichtung
Kapitulation vor. Einige Häuser weiter Im Konsulat hatte auch Sousa Mendes hatte noch nicht begonnen. Aber Sousa
schreibt de Gaulle schon seinen Aufruf seine Wohnung, zusammen mit seiner Fa- Mendes hatte von seinem Zwillingsbruder
zum Widerstand.« milie. Die Sousa Mendes’ sind Landadlige César, damals Gesandter in Warschau, ge-
Auf der weiten Place des Quinconces in aus Cabanas de Viriato, einem Flecken im hört, wie im besetzten Polen mit Juden
Bordeaux lagerten sie damals. Familien Hügelland Mittelportugals. umgegangen wurde.
hocken auf Lastwagenpritschen, seit Tagen Aus einem ähnlich kleinen Dorf kommt Die Züge aus dem Norden und Osten
in denselben Kleidern, unrasiert und un- António Salazar, seit 1933 autokratischer bringen immer mehr Menschen nach Bor-
gewaschen. Viele hatten nur die Kleidung, Herrscher in Portugal. Salazar ist der Sohn deaux. Zunächst hält Sousa Mendes sich
die sie am Leib trugen. eines kleinen Landwirts. Der Staat garan- an die Vorschriften, schickt Telegramme
Das Generalkonsulat Portugals hatte nach Lissabon, bittet um Zustimmung für
seinen Sitz in unmittelbarer Nähe des Plat- einzelne Visa. Seine Bitten werden entwe-
zes, im zweiten Stock der Nummer 14 am »In einer Zeit, da viele der abgelehnt oder gar nicht beantwortet.
Quai Louis-XVIII. Vor dem Gebäude
steht jetzt Jeanette »Cookie« Fischer,
Menschen feige waren, Auch das Telegramm Nr. 1982, Absen-
der ist das portugiesische Außenministeri-
67 Jahre alt, und sagt, dass damals mögli- war er ein wahrhafter um, enthält wieder eine lange Liste von
cherweise auch ihre Mutter in der Schlan- Held des Abendlandes.« Familien, denen die Einreise zu verwehren
ge stand. sei. Darunter: »Abgelehnt Visa Familien
»Ich stelle mir vor, wie ungewiss alles Gellert & Dyner, Breuer u Frau ...« Ge-
war«, sagt Fischer. »Sie mussten ständig um- tiert die Ordnung, so sieht er das, und die zeichnet Salazar.
denken, neu planen, was der nächste Schritt Kirche den Rest. Henri Dyner hat eine Fotografie dieses
sein sollte.« Bleiben oder gehen? Aber wo- Bereits einmal hatte Aristides de Sousa Schreibens auf seinem Handy gespeichert.
hin? Und mit wem? Wem vertrauen? Mendes Ärger bekommen, weil er trotz Er sagt: »Nach diesem Telegramm hätten
Fischers Mutter war eine geborene Van des Verbots Visa ausgestellt hatte. Aber meine Eltern nur noch abwarten können,
den Bergh. Ein Vorfahr hatte in der deut- hier ging es nicht mehr um Einzelfälle. bis die Nazis kommen. Sie wären inter-
schen Kleinstadt Kleve jene Margarine- Draußen auf dem Platz, auf der Straße, im niert und irgendwann als Juden deportiert
fabrik gegründet, aus der dann Unilever Treppenhaus des Konsulats kampierten worden. Zusammen mit mir.« Familie Dy-
geworden war. ganze Völkerschaften. ner hatte Glück: Das Telegramm wurde
Ihre Mutter nahm nur einen Rucksack Aus Angst, ihren Platz in der Reihe zu erst am 17. Juli 1940 ausgestellt, als sie
mit dem Nötigsten mit auf die Flucht. Am verlieren, schliefen die Wartenden auf der längst alle Grenzen überquert hatten.
wichtigsten waren für sie ihre Sprachkennt- Treppe, erleichterten sich dort, wo sie ge- Mit seinem Rundschreiben handelte Sa-
nisse. Das habe ihre Mutter ihr immer rade standen. Kinder schrien, einer ist ver- lazar nicht viel anders als die Regierungen
gesagt. Sie solle möglichst viele Sprachen zweifelt, dass sein Gepäck nicht gekom- der Vereinigten Staaten, Großbritanniens,
lernen. Sprachen könne man leichter mit- men ist, eine andere ruft nach einem Arzt Kanadas, der Schweiz, Schwedens: Nie-
nehmen als Gold, sagt Cookie Fischer, die für ihren röchelnden Vater. mand wollte diese Flüchtlinge haben, je-
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Ehemaliger Konsul Sousa Mendes (r.) mit Rabbi Kruger um 1941, Familie Sousa Mendes 1917: Stimme des Gewissens

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denfalls nicht ohne sorgfältige Prü- Der Bus der Reisegruppe hält
fung und nur unter Nachweis aus- am Rand der Altstadt von Bayonne.
reichender Sicherheiten. Die Nebenstelle des Konsulats lag
Der Konsul hat in diesen Tagen damals dort, in der Rue du Pilori.
schon die beiden Kinderzimmer Die Situation war dieselbe wie in
an wartende Flüchtlinge vergeben. Bordeaux: »Angesichts der Tausen-
Seine eigenen Kinder hat er nach den von Menschen, die sich vor
Portugal geschickt, nur seine Frau dem Konsulat und in der Stadt
Angelina und zwei ältere Kinder drängten, habe ich meinem Kolle-
sind geblieben. Nachts, schreibt gen Machado vorgeschlagen, allen
Biograf Fralon, habe Sousa Men- ein Visum zu erteilen«, so wird
des theologische Gespräche mit Sousa Mendes später seinen Vor-
Chaim Kruger, einem Rabbi aus gesetzten erklären.
Galizien, geführt. »Das Treppenhaus war so voll,
Die Nachrichten werden nicht dass der Sekretär vom Konsulat
besser. Am 14. Juni ist Paris besetzt; über den Dachboden kommen
am Eiffelturm soll eine Haken- musste, vom Nachbarhaus herüber.
kreuzflagge hängen. Sousa Mendes Meine Mutter hatte Angst, dass die
schließt sich in seinem Schlafzim- Treppe einstürzt«, sagt Madame
mer ein, lässt ausrichten, er sei für Chantillon, die heute in der Woh-

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL


niemanden mehr zu sprechen. nung ihrer Mutter lebt.
In der Reisegruppe ist auch Ed- Auf der Treppe stehen jetzt
ward Neuwelt, ein Neurologie-Pro- 31 Nachkommen und Nachgebo-
fessor aus Oregon. Seine Frau Jill rene. Die Mauern sind dieselben,
stammt aus Wien, ihre Eltern ... – dasselbe Licht, die Wendeltreppe,
»you know«. Vermutlich sei Sousa die Fliesen, vielleicht sogar der
Mendes zusammengebrochen, sagt Lichtschalter?
Neuwelt, er kenne das Syndrom Hand des Geretteten Dyner, Sousa-Mendes-Liste Sie lesen sich Texte vor. Etwa
von seiner Arbeit mit Veteranen: Eine Flucht ist nie ganz zu Ende jenen des tschechoslowakischen
»Er rang mit sich. Mit seinem Eid Journalisten Eugen Tillinger (Visum
als Beamter, mit seinem Glauben, 2403): »Man kampierte im Freien,
mit der Aussicht, seine Karriere und sein Das Konsulat arbeitete jetzt fast rund im Park, auf den Bänken. Zu essen gab es
Einkommen zu riskieren.« um die Uhr, nur mit einer kurzen Pause in einfach nichts. Und immer wieder neue
Später erzählte man sich die Legende, der Nacht – vom 16. Juni 1940 bis zum Menschen kamen an. Viele jüdische Emi-
der Konsul sei nach drei Tagen wieder auf- 19. Juni spätnachts, als die Luftwaffe mit granten aus Deutschland und Österreich …
getaucht, das Haar weiß. Tatsache ist, dass der Bombardierung von Bordeaux begann. wanderten hier ziellos umher. Tragödien
in diesen Stunden Sousa Mendes’ Entschei- Eine Visumsfabrik; eine diplomatische Ver- spielten sich da ab; viele versuchten, auf die
dung fiel, auf sein Gewissen zu hören. tretung, die alle Usancen und Vorschriften im Hafen liegenden Schiffe zu kommen.«
Am 16. Juni erklärte er seinem Sekretär, missachtete – außer der einen, der uralten: Einem dieser Schiffe, dem Sardinenkut-
dem Rabbi und seiner Familie: »Ich werde Sei deines Bruders Hüter. ter »Milena«, verdankt Cookie Fischer die
jedem ein Visum geben, der es verlangt.« Michéle Koven lehrt Linguistik in Illi- Rettung ihrer Mutter, am 22. Juni 1940 um
Er habe damals an die Inquisition ge- nois. »Mein Vater, der Reporter, hatte mir 17 Uhr.
dacht, so erklärte er später vor dem Dis- nie erzählt, wie chaotisch die Situation da- Die Uhrzeit ist auf den Tagebuchnoti-
ziplinargericht. An die Verfolgung der mals war. Als er starb, habe ich in seinem zen vermerkt, die die Tochter später ent-
Juden durch Portugals Königin Isabel. Er Schreibtisch einen schwarzen Stoffhund deckte. Dabei lagen auch Liebesbriefe an
habe an den Artikel 8 der Verfassung sei- gefunden. Den hatte er auf der Flucht da- einen Unbekannten, in holprigem Deutsch
nes Landes gedacht, nach dem nieman- mals dabei.« geschrieben: »Ich danke dich, mein Liebs-
dem wegen seiner Religion Nachteile ent- Koven sagt, dass ihr Vater sein Leben ter, dass du gerade jetzt fur mich da bist,
stehen dürfen. lang Bilder von Ozeandampfern bei sich in meinem Leben gekommen bist, und
Jeder bekommt sein Visum. Anfangs hängen hatte. Dass er ihr nicht umsonst wann ich dich nicht bei mir habe! So habe
wurde noch das Registerbuch geführt. diesen französischen Namen gegeben hät- ich immer etwas schönes um an zu denken
Name, Herkunft, geleistete Visumsgebühr. te. Eine Flucht ist nie ganz zu Ende. und mir zu freuen.«
Aber es waren zu viele. Zwei Söhne, der Am 20. Juni 1940 besetzten die Deut- Als Cookie Fischer der Reisegruppe die
Neffe und einige Flüchtlinge, unter ihnen schen Bordeaux. General de Gaulle flog Notizen vorliest, versagt ihr die Stimme.
Henri Dyners Mutter, halfen Sousa Men- nach London und bereitete den Wider- Die Reise durch den Süden Frankreichs
des beim Einsammeln der Pässe und beim stand vor. Frankreichs Regierung ver- ist eine schwierige, aufwühlende Reise.
Stempeln des Datums. Der Konsul brauch- handelte unter Marschall Pétain über die Familiengeschichte ist Weltgeschichte ist
te nur noch zu unterschreiben. Dutzende Kapitulation. Jeder deutsche Flüchtling Gegenwart. Als Olivia Mattis, die Organi-
Mal, Hunderte Mal, Tausende. musste nun ausgeliefert werden. Vor dem satorin aus New York, eine kleine Meldung
Da waren Minister aus Belgien und portugiesischen Generalkonsulat in Bor- vorliest, von jungen Juden, die Flüchten-
Polen, da war die Großherzogin von Lu- deaux standen von jetzt an Polizisten. Der den an der US-Südgrenze helfen – da klat-
xemburg, die Pariser Verlegergattin Gal- konsularische Betrieb war ausgesetzt. schen sie im Bus.
limard und Henriette-Hélène, die jüngere Doch noch blieb das Nebenkonsulat in Schneller und schneller wurde damals
Schwester von Simone de Beauvoir. Alle Bayonne, knapp 250 Kilometer südlich, gestempelt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.
bekamen die begehrte Unterschrift. Der nahe der spanischen Grenze. Sousa Men- Schluss mit den Gebühren, den Listen. Die
Konsul unterschrieb bald nur noch mit des lieh sich ein Auto und fuhr mit seinen Pässe in einen Sack gesammelt, gestem-
»Mendes«. Stempeln nach Bayonne. pelt, unterschrieben und ausgeteilt. Und

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tet Sousa Mendes irgendwann um ein Ge-


spräch mit Diktator Salazar. Vergebens.
Auch die Wiederaufnahme des Verfahrens
wird abgelehnt. Salazar kann Sousa Men-
des manches verzeihen, nur dieses nicht:
den Ungehorsam gegenüber der Autorität.
Sousa Mendes muss erleben, wie sich Sa-
lazar nach Kriegsende als Retter von Flücht-
lingen, insbesondere Juden feiern ließ: Wer
so viele Flüchtlinge aufgenommen hat, kann
kein so schlechter Despot gewesen sein.
Nicht zuletzt dadurch erreicht Salazar, dass

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL


Portugal – anders als Franco-Spanien – 1949
Gründungsmitglied der Nato werden kann.
Aristides de Sousa Mendes stirbt im
Hospital des Dritten Franziskanerordens
in Lissabon, am 3. April 1954.
Und die Geretteten?
Salvador Dalí floh weiter in die USA
Angehörige Geretteter im Lissabonner Rathaus: Reise durch die Weltgeschichte und mischte dort die Kunstszene auf.
Otto von Habsburg entkam nach Wa-
shington, D. C.
schnell weiter zur spanischen Grenze, stört worden. In Bayonne, Hendaye und Albert Vigoleis Thelen blieb zunächst
nach Hendaye. Toulouse wurden auf Anweisungen des in Portugal und schrieb später den Mal-
»Dann ging plötzlich das Gerücht um, Generalkonsuls ebenfalls Papiere ausge- lorca-Kultroman »Die Insel des zweiten
es gäbe keine Züge zur Grenze mehr«, stellt. Auf dem Gedenkstein in Bordeaux Gesichts«.
schreibt der Augenzeuge Eugen Tillinger, steht die Zahl 30 000, und auch José-Alain 1961 lässt Staatspräsident David Ben-
nachdem er sein Visum bekommen hat. Fralon, der Biograf, bestätigt diese Zahl. Gurion in Israel einen Baum zu Ehren des
»Auf einem zerbrochenen Camion ältesten Sein Buch trägt den Untertitel »Wie Aris- Generalkonsuls von Bordeaux pflanzen.
Kalibers gelang es unserer kleinen Gruppe tides de Sousa Mendes 30 000 Menschen 1966 wird Sousa Mendes als einer der ers-
schließlich, bis Hendaye zu kommen. Noch vor dem Holocaust bewahrte«. ten Diplomaten in Yad Vashem zum »Ge-
einmal gab es diverse Formalitäten, x-mal Otto von Habsburg, der später für die rechten unter den Völkern« ernannt.
wurden die Pässe geprüft, immer neue CSU im Europaparlament saß, schrieb an Das von Salazar gegründete Regime in
Stempel und Unterschriften musste man António de Sousa Mendes, den Enkel: »In Portugal endet erst 1974 mit der »Nelken-
einholen und sich zuletzt der Militärbehör- einer Zeit, da viele Menschen feige waren, revolution«.
de präsentieren. Und nun steht man in Rei- war er ein wirklicher Held des Abendlan- Es ist der letzte Tag der Reise, als die
he vor der Brücke, und kaum hundert Meter des; Sie können auf Ihren Großvater sehr Gruppe über einen Nebeneingang in das
entfernt liegt Spanien. Und 24 Stunden spä- stolz sein.« Außenministerium in Lissabon gelassen
ter, während wir an der portugiesischen Flüchtlinge aus 49 Ländern haben in wird. In der »Bibliothek der Königin« lie-
Grenze ankommen, weht an der Hendayer jenen Tagen ein Sousa-Mendes-Visum be- gen nachgedunkelte Holzkästen. »Legaçao
Brücke schon die Hakenkreuzfahne.« kommen, einige ihrer Nachkommen ha- de Portugal Berlim« steht auf einem Kas-
Aus, vorbei. In der Nacht zum 23. Juni ben 2010 in den USA eine Sousa Mendes ten, »Consulado de Portugal Hamburgo
1940 trifft ein Gesandter Salazars an der Foundation gegründet. (Alemanha)« auf einem anderen.
französisch-spanischen Grenze ein und er- Am 4. Juli 1940 leitet Salazar ein Dis- Das Registerbuch liegt aufgeschlagen
klärt alle Visa mit dem Stempel »Consulat ziplinarverfahren gegen seinen Beamten auf einem Pult. Es ist Sousa Mendes’ Liste,
Général du Portugal à Bordeaux« für nich- ein. Sousa Mendes wird vorsätzlichen Un- so wie es Schindlers Liste gab. Nur sind es
tig. Ein Reporter der »New York Times« ka- gehorsams und wiederholter massiver hier viel mehr Namen als dort. Und nie-
belt, für etwa 10 000 Flüchtlinge habe sich Amtsverletzung schuldig gesprochen. Sei- mand kennt Sousa Mendes aus dem Kino.
der letzte Ausweg nunmehr verschlossen. ne Bezüge werden halbiert, er selbst vom Die Archivarin zeigt Henri Dyner auch
Der Konsul fährt noch ein letztes Mal Dienst suspendiert und in den Ruhestand das Originaltelegramm, das ihn das Leben
zur Grenze. Er weiß von einem abgelege- versetzt. Salazar lässt das Dossier »Aristi- hätte kosten können, unterschrieben im
nen Übergang, fünf Kilometer einen Fluss des de Sousa Mendes« versiegeln. Nie- Auftrag Salazars: die Verweigerung der
hinauf. Dort gibt es vielleicht kein Telefon. mand soll diesen Namen je wieder hören. Einreise, der Befehl, den der Konsul igno-
Tatsächlich gelingt es ihm, einen letzten Der ehemalige Konsul trägt danach die- rierte. Dyner fährt mit dem Finger über
Tross von Flüchtlingen über die Grenze selben eleganten Kleider, aber er muss die Zeilen, bis er den Namen seines Vaters
zu geleiten. Dann ist Schluss. Schulden machen. Zuerst wird das Auto findet. Es ist eine sehnige Hand voller Al-
Als Sousa Mendes Bayonne endgültig verkauft, dann der Flügel. tersflecken, die Adern stehen hervor, so
verlässt, sollen Hunderte ihm Beifall ge- Als die Gruppe das Haus in Cabanas do sehr, dass man den Puls zu sehen glaubt.
spendet haben. Wie viele Pässe und Visa Viriato betritt, schon am Ende der Reise, Den Schlag des Herzens.
in diesen drei Tagen ausgestellt wurden, wird sie von António Moncada Sousa
Das Leben des Konsuls ist in mehreren Biografien
ist nicht festzustellen. Noch weniger, wie Mendes empfangen, einem Enkel des Kon-
aufgearbeitet, am ausführlichsten und auch ins Deut-
viele Menschen insgesamt dem Konsul aus suls. Einem herzlichen Mann, etwas ge- sche übersetzt von José-Alain Fralon. Die Recherchen
Bordeaux ihr Überleben verdanken. beugt unter der Last des großen Namens. zu diesem Artikel beruhen darüber hinaus auf Inter-
Allein das Registerbuch im Archiv des Seine Enkelinnen wiederum tragen schüch- views mit Sousa Mendes’ Enkel António, mit der
Historikerin Margarida de Magalhães Ramalho vom
Außenministeriums führt 3652 Namen, tern ein Porträt ihres Ahnen herein. Museum Fronteira da Paz in Vilar Formoso und mit
dazu kommen bei vielen die Kinder. Ein »Im Bewusstsein, meine Pflicht gegen- Olivia Mattis von der Sousa Mendes Foundation
zweites Register ist bei einem Brand zer- über dem Vaterland getan zu haben«, bit- New York.

48 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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vor allem, wenn man ihn mit mir vergleicht. Er kommt, guckt

Alles dreht sich ernst, nickt und verschwindet wieder. Kurz danach beginnt
es zu regnen. Jossi sagt, wenn es regnet, kann er nicht arbeiten.
Wir stellen Schüsseln unter den Fenstern auf, durch die das
Wasser rinnt. Ab und zu schreie ich: Unfassbar! Jossi! Meine
Leitkultur Alexander Osang Frau nickt. Aber wir wissen beide, dass meine Erregung Rou-
über deutsche Ungeduld tine ist. Auch unsere Kinder wissen das inzwischen.
Wie im vorigen Jahr besuchten sie uns zu Weihnachten.
Wir drehten einen deutschen Weihnachtskreisel und sangen

K urz bevor der Regen begann und das Jahrzehnt zu Ende


ging, fuhr ich zu einer Preisverleihung ins Westjordan-
land. Sie fand im Kulturpalast Ramallahs statt, der mich
an die DDR-Kulturpaläste meiner Jugend erinnerte. Es wurden
das Chanukka-Lied »Dreidel, Dreidel, Dreidel«, das die Kin-
der aus New York kennen, wo wir die Mehrheit des vorletz-
ten Jahrzehnts verbracht hatten. Es fasste meine Stimmung
schön zusammen. Man dreht sich und dreht sich, und irgend-
Freunde des palästinensischen Volkes ausgezeichnet, darunter wann fällt man um. Am Zweiten Weihnachtsfeiertag stürmte
eine bulgarische Übersetzerin, ein amerikanischer Arzt, eine es so sehr, dass sich die Fenster bogen und das Meer Beton-
ehemalige IRA-Terroristin sowie ein Mann, der die Grünen blöcke und Autoreifen an den Strand spuckte. In unserem
Deutschlands mitbegründet und in den Achtzigerjahren einen Wohnzimmer regnete es.
US-General im hessischen Landtag mit Blut bespritzt hatte. Am sechsten Tag des Chanukka-Festes besuchten wir is-
Nun trug er eine blaue Europakrawatte und wirkte friedlich. raelische Freunde und redeten über den Sturm. Ich erwähnte
Auf der Bühne leuchtete ein Bild vom Jerusalemer Felsendom. den Müll aus dem Meer, der Gastgeber zeigte Fotos von ei-
Ich verstand wenig, glaubte aber, die Verzweiflung der Paläs- nem zappelnden Fisch, den er am Strand gefunden und wie-
tinenser zu spüren. Sie nehmen jeden Freund aus der Welt der ins Wasser geworfen hatte. Er lachte. Seine Tochter, die
dort draußen, den sie zurzeit in Berlin lebt, sag-
kriegen können, und hän- te, sie sei eher irritiert ob
gen ihm einen Schal um der Umweltpanik, die ih-
den Hals, der die Umris- ren Kindern in der deut-
se Israels in den Farben schen Schule eingeimpft
der Palästinenser zeigt. werde. Sie müsse ihrem
Auch der grüne Preis- siebenjährigen Sohn je-
träger bekam einen Schal. den Abend erklären, dass
Er wendete ihn schnell, die Welt morgen nicht
sodass man die verräte- untergehe. Später rauch-
rische Landkarte nicht te sie im Garten einen
mehr sehen konnte. Sein Joint. Ihr Vater und mein
Schal im Kulturpalast Sohn leisteten ihr Gesell-
erinnerte mich an die schaft. Ich dachte drin-
FOTOS: ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
Nicaragua-Banner, unter nen über den Weltunter-
denen Bruce Springsteen gang nach.
in einem anderen Jahr- Die Sonne erschien
zehnt bei uns in Berlin- kurz, wir fuhren nach
Weißensee auftreten soll- Masada und spielten
te. Die Musik war da- Doppelkopf, dann flogen
mals besser, aber sonst: die Kinder nach Hause.
»Dancing In The Dark«. Es fängt bald wieder
Es dreht sich alles im an zu regnen, und wenn
Kreis, dachte ich, als ich Coca-Cola-Fabrik im Westjordanland der Regen aufhört, wird
in der Nacht mein Auto in Israel wieder gewählt.
bestieg, um nach Hause zu fahren. Ich hatte keine Ahnung, Es werden neue Netanyahu-Abschiedstexte gebraucht. Im
wie lange es diesmal dauern würde. Das in Israel entwickelte SPIEGEL las ich schon vor Monaten die Zeile: »Bye, Bibi«.
Navigationssystem »Waze« führt mich durchs Westjordanland Die deutsche Ungeduld und das deutsche Weltgewissen pro-
wie eine Laborratte. Jedes zweite Mal lande ich nicht am is- duzieren Kriege und solche Überschriften. Seit Jahren lese
raelischen Checkpoint, den ich passieren muss, um nach Hau- ich in Leitartikeln meiner Kollegen, dass Angela Merkel ab-
se zu kommen, sondern an einer Coca-Cola-Fabrik, die mitten treten müsse. Je nach Temperament des Schreibers klingen
im Westjordanland herumsteht wie eine amerikanische Fahne sie wie ein Wunsch, ein Gebet oder ein Befehl. Je ruhiger
auf dem Mond. In diesen Momenten glaube ich dem Fotogra- Merkel wird, desto ungeduldiger werden die Kommentare.
fen, mit dem ich zusammenarbeite, dass Waze in Wirklichkeit Dafür, dass die Deutschen ziemlich hüftsteif sind, haben sie
für die israelische Regierung arbeitet. Ein Navigationssystem, eine erstaunliche Angst vor Stillstand. Vielleicht hängt das
das mir ständig meine Ohnmacht vor Augen führt wie die eine mit dem anderen zusammen. Im »Guardian« hat Apple-
Coca-Cola-Dose, die ich von der Fußball-WM in Russland Chef Tim Cook Angela Merkel zur Person des Jahrzehnts
mitgebracht habe. Darauf steht in kyrillischer Schrift: »Wir gekürt. Mit ihrer stillen Kraft und Würde zeige sie uns jeden
siegen!« Diesmal leitete mich das Navigationssystem zum Tag, warum wir uns für Optimismus entscheiden sollten.
Ausgang. Deine Erleichterung ist Teil des Spiels, würde der Im vorletzten »New Yorker« des Jahrzehnts habe ich den
Fotograf sagen. Ein paar Tage später begann der Winterregen. wunderbar entspannten Text eines amerikanischen Kollegen
Anfang des Monats hatte ich unseren Hausmeister Jossi gelesen, der an Lungenkrebs stirbt. Er zitiert darin eine von
bestellt, um endlich die Fenster abzudichten. So wie ich ihn Mel Brooks’ Empfehlungen für ein hohes Alter: Renne nie
Anfang Dezember des vergangenen Jahres bestellt hatte. Jossi einem Bus hinterher! Das nehme ich mir jetzt auch vor fürs
trägt einen Zopf und tief sitzende Jeans, er ist sehr entspannt, neue Jahrzehnt. Und mehr Bewegung natürlich.

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Wirtschaft
Adidas zählt zu einer bedrohten Art: eine Traditionsmarke, die das Tempo irgendwie mitläuft. ‣ S. 52

Weinberg bei Essenheim

Handelsstreit

Airbus-Sanktionen treffen Winzer

FREDRIK VON ERICHSEN / DPA


Vor allem rheinland-pfälzischen Weinbaubetrieben drohen Einbußen.

 Die amerikanischen Strafzölle im Streit um die Airbus- men aus Rheinland-Pfalz. Im Oktober hatte die Welthandels-
Subventionen treffen den deutschen Weinbau, vor allem in organisation im Streitschlichtungsverfahren um europäische
Rheinland-Pfalz. Dies geht aus einem Brief von Bundes- Airbus-Subventionen den USA erlaubt, Sonderzölle auf
wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) an seinen rheinland- EU-Waren erheben zu dürfen. Seither verlangen die USA
pfälzischen Amtskollegen Volker Wissing (FDP) hervor. Die Strafzölle von 25 Prozent vor allem auf Lebensmittel wie
Sonderzölle könnten, schreibt Altmaier, »für die deutsche Milcherzeugnisse, Süßgebäck oder auch Wein. Finanziellen
Weinwirtschaft zu deutlichen Belastungen führen«. »Die Ausgleich von der Bundesregierung dürfen die Winzer nicht
deutschen Ausfuhren der von der US-Sanktionsliste betroffe- erwarten. »Die Frage von etwaigen Ausgleichsmaßnahmen
nen Stillweine deutschen Ursprungs in die USA machten betrifft aus meiner Sicht die europäische Ebene«, schreibt
2018 rund 89 Millionen Euro aus«, so der Minister. Schaum- Altmaier. Dies wiederum stößt seinem rheinland-pfälzischen
weine sind von den Strafzöllen ausgenommen. Mit mehr als Amtskollegen Wissing sauer auf: »Airbus bekommt die
20 Prozent des Gesamtexports sind die USA einer der Haupt- staatlichen Milliarden, die Winzerinnen und Winzer dürfen
abnehmer deutschen Weins, 90 Prozent der Ausfuhren kom- die Strafen zahlen. Sehr gerecht ist das nicht.« MAD, REI

Germania ehemals viertgrößten deutschen Fluglinie auch wegen ihrer intern umstrittenen Akti-
Insolvenzverwalter fordert und ihrer Gläubiger 381,4 Millionen Euro
von Balke und einem weiteren Manager.
vitäten in Gambia vorgeht. Die Expansion
in das westafrikanische Land hatte Germa-
rund 440 Millionen Euro Beide sollen noch Zahlungen veranlasst nia Verluste in zweistelliger Millionenhöhe
haben, als dies nach dem GmbH-Gesetz beschert. Die Ermittlungen dauerten an,
 Knapp ein Jahr nach der Pleite der Flug- möglicherweise nicht mehr zulässig war. so Wienberg. Laut Balkes Anwalt liegt sei-
gesellschaft Germania sieht sich der ehe- »Über die Ansprüche wird zunächst außer- nem Mandanten der Bericht des Insolvenz-
malige Geschäftsführer und Alleineigen- gerichtlich verhandelt«, heißt es in der verwalters nicht vor. Der Inhalt sei für
tümer Karsten Balke mit Forderungen Schrift. Darüber hinaus macht Wienberg diesen nicht »nachprüfbar«, deshalb seien
in dreistelliger Millionenhöhe konfrontiert. weitere Ansprüche in Höhe von knapp auch eventuelle Forderungen nicht nach-
Das geht aus dem sogenannten Sach- 60 Millionen Euro gegenüber einer Betei- vollziehbar. Ob und wann gegebenenfalls
standsbericht hervor, den Insolvenzver- ligungsfirma Balkes geltend, über die er Geld von Balke fließt, ist noch völlig offen.
walter Rüdiger Wienberg beim Amts- seine Anteile an der Airline hielt. Zudem »Die weitere Verfahrensdauer«, heißt es
gericht Berlin-Charlottenburg einreichte. überprüft der Insolvenzverwalter, ob in dem Bericht, »wird voraussichtlich min-
Danach verlangt Wienberg im Namen der er gegen die ehemalige Geschäftsführung destens fünf Jahre betragen.« DID, MUM

50 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Prognosen für 2019


Wo wir richtiglagen – und
wo falsch
 Der Aufstieg von Jennifer Morgan an
die Spitze des Walldorfer Softwarekon-
zerns SAP begann mit einem Gefühl der
Verwunderung. Ihr Foto war im Oktober
2019 wirklich in jeder deutschen Zeitung
zu sehen. Denn sie hatte geschafft, was
vor ihr keiner Kollegin gelungen war: »Ich
fand es sehr überraschend, dass ich die
erste Frau bin, die ein Dax-Unternehmen
führt«, sagte Morgan danach.
SPIEGEL-Leser dürfte es weniger ver-
blüfft haben. Vor einem Jahr hatte die
Wirtschaftsredaktion neun Prognosen for-
muliert, wie 2019 verlaufen könnte. Es
ging um große Fragen: Wird es zum Brexit

KARSTEN THIELKER
kommen? Kann ein Handelskrieg ausbre-
chen? Gelingt es der Autoindustrie, die
Entwicklung zur Elektromobilität anzutrei-
ben – oder wird sie getrieben? Und natür-
lich: Wird bis Ende des Jahres eine Frau Autofertigung in VW-Werk Zwickau
Vorstandschefin sein? Ein Jahr später ist es
Zeit, die Einschätzungen – wie im dama- sektor. Seitwärts sei die grobe Richtung, Weichen für die große Transformation
ligen Text versprochen – zu überprüfen. in die sich die Märkte bewegten, so die in der Autoindustrie werden 2019
So viel lässt sich sagen: Mit den meis- Erwartung. In der Tat läuft heute das gestellt« – was kaum übertrieben war:
ten Thesen lagen wir gut, zum Beispiel Geschäft je nach Sektor unterschiedlich, Nichts beschäftigt die Fahrzeughersteller
mit dem Ausblick auf die Konjunktur. Der mit Handelsflächen ist es zuweilen schwie- gegenwärtig mehr als die Frage, wie
Aufschwung werde sich abschwächen, rig, während bei Wohnungen die Dyna- schnell sie Fortschritte in der Frage der
eine Rezession könne aber abgewendet mik anhält und die Quadratmeterpreise Elektromobilität erzielen können.
werden, lautete der Tenor. weiter steigen, insbesondere in den Metro- Dass Flugreisen 2019 teurer würden, hat
Die Zahl der Erwerbstätigen werde mit polen. »Es werden nach wie vor viel weni- sich bewahrheitet, zwar nicht um gut 7 Pro-
mehr als 45 Millionen einen Höchststand ger Wohnungen fertiggestellt als nötig.« zent, wie damals geschätzt, aber immerhin
erreichen, hieß es damals – derzeit sind Genauso könnte man es heute wieder um 5,2 Prozent (von November 2018 bis
es 45,3 Millionen. Das Steueraufkommen schreiben. November 2019). Ebenfalls zutreffend war
steige auf mehr als 800 Milliarden Euro – Für die deutsche Automobilbranche das Urteil, dass sich die Vertrauenskrise
die Summe ist annähernd erreicht. Und lautete die apodiktische Vorhersage: »Die beim Sozialnetzwerk Facebook auch 2019
die Zahl der Arbeitslosen könnte weiter fortsetzen würde. Nicht bestätigt hat sich
sinken – sie rutschte zwar nicht unter die Vermutung, dass Sheryl Sandberg,
zwei Millionen wie prognostiziert, aber die Vertraute von Unternehmensgründer
EVENING STANDARD / INTERTOPICS/ EYEVINE

die Tendenz stimmte. Mark Zuckerberg, ihren Job verlieren


Angemessen war auch der Ausblick, könnte. Dafür wanderten andere hoch-
wie sich die Weltwirtschaft entwickelt. rangige Manager bei Facebook ab.
Das globale Wachstum fällt mit voraus- In einem Punkt allerdings lagen unsere
sichtlich gut drei Prozent etwas geringer Prognosen komplett daneben: Die ameri-
aus als erwartet. Der neue Protektionis- kanische Zentralbank Federal Reserve hat
mus schwächt die Volkswirtschaften, der die Leitzinsen nicht angehoben, sondern
Austausch von Waren und Dienstleistun- in drei Schritten gesenkt, zuletzt im
gen zwischen den USA und China leidet. Oktober.
Der Konflikt der Supermächte ist jedoch – Und dass die Zinsentscheidungen aus
wie prognostiziert – nicht eskaliert, son- Washington nichts Gutes für Aktionäre
dern hat sich in Teilen sogar entschärft. bedeuten würden, hat sich damit auch als
»Erst wird gedroht, dann verhandelt«, lau- Trugschluss erwiesen: Der Dow Jones ist
tete damals die Einschätzung. im vergangenen Jahr um 20 Prozent
In der Brexit-Frage schlugen wir als gestiegen.
wahrscheinliches Szenario ein Abkom- Acht von neun Thesen haben halbwegs
men mit der Europäischen Union vor. gepasst. Das ist eine ordentliche Quote,
Und so kam es auch. Am 17. Oktober zumal es Anfang vergangenen Jahres
haben die EU-Staaten einen Brexit-Deal keinesfalls naheliegend war, dass es, wie
gebilligt. Dass der Austrittstermin zwi- wir geahnt hatten, in den kommenden
JONAS WRESCH

schenzeitlich dreimal verschoben wurde, zwölf Monaten eine Frau an die Spitze
haben wir nicht vorhergesehen. eines Dax-Konzerns schaffen könnte.
Brauchbar waren auch die Prognosen Jennifer Morgan hatten wir nicht auf dem
über die Trends auf dem Immobilien- Brexit-Demonstranten, Containerlager Plan. Alexander Jung

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Wirtschaft

Drei Streifen am Horizont


Innovationen Adidas scheint derzeit das einzige deutsche Unternehmen,
das sich in der digitalen Welt international behaupten und sich mit Facebook und
Tesla messen kann. Was macht die Firma richtig?

D
as neue Hauptquartier von Adi- Dann wieder taucht eines Sommernach- folgreich und zählt zu einer hierzulande
das wirkt wie ein Raumschiff, das mittags unvermittelt der Hip-Hopper Phar- bedrohten Art: eine Traditionsmarke, die
versehentlich in der mittelfränki- rell Williams auf, ein globaler Superstar. das rasende Tempo irgendwie mitläuft. Ein
schen Landschaft aufgeschlagen Er hüpft gut gelaunt über den Firmencam- Gegenpol zu den anderen großen Tradi-
ist. Ein weiß verstrebtes Viereck auf haus- pus, ein Dutzend Schuhe hat er mit Adidas tionalisten, den Autobauern etwa, die
hohen Stelzen, glitzernd und spiegelnd, ir- entworfen, etliche Millionen davon ver- kämpfen und kriseln und nicht so genau
gendwie hineingefallen zwischen die Fach- kauft. In Shanghai kennt niemand Fritz wissen, wohin.
werkhäuschen und Maisfelder. Ein Fremd- Walter, aber jeder Pharrell Williams, und Das vergangene Jahrzehnt war ein
körper, nicht nur architektonisch. Morgens deswegen wollen die Kids dort Schuhe mit höchst seltsames für die deutsche Wirt-
um neun schwappt ein anschwellender drei Streifen so sehr wie keine anderen, schaft. Einerseits lief es richtig rund,
Strom von bunten Turnschuhen, Kopfhö- Adidas ist cool dort, so cool. Die Umsätze Wachstum ohne Ende, goldene Jahre. Die
rern, Shorts und T-Shirts durch die gläser- explodieren in Asien, China ist längst wich- deutschen Konzerne und Mittelständler
nen Eingänge, als begänne gleich die erste tigster Markt. müssten eigentlich voller Selbstbewusst-
Vorlesung an der Uni. Ein Sprachenwirr- Das vergangene halbe Jahrzehnt war sein in die Zwanzigerjahre marschieren,
warr, vor allem Englisch, Dienstsprache. berauschend für Adidas. Der Aktienkurs aber vielerorts ist das Gegenteil der Fall.
Irgendwie scheint keiner älter kletterte seit 2015 um mehr als Wer sich umhört in den Unternehmens-
als 30. 400 Prozent, der Umsatz um zentralen des Landes, bekommt vor al-
Wieso sind die bloß alle hier? Spitzenklasse 30 Prozent, der Gewinn um 120 lem Skepsis zu spüren, oft Verunsiche-
Ausgerechnet Herzogenaurach, Ranking der Prozent. Apple-Zahlen. Kaum rung, manchmal Angst. Es geht dabei
mehr Kaff als Stadt, 24 400 Ein- innovativsten ein deutsches Unternehmen weniger um kurzfristige Krisen – Brexit,
wohner, 25 Kilometer von Nürn- Unternehmen rennt so schnell, findet sich so Trump, Handelskrieg oder derlei –, son-
weltweit, 2019
berg entfernt, auch nicht gerade gut zurecht in der globalisier- dern um die große Linie. »made in Ger-
kosmopolitischer Anziehungs- 1. ten, digitalisierten, zersplitter- many« verliert seine Strahlkraft, andere
punkt, und trotzdem drängeln Alphabet ten Markenwelt, in der zuneh- scheinen schneller, zielstrebiger, besser
sich hier junge Designer aus Los (Google) mend Influencer, Instagramer gerüstet für die global-digital-rasend-
Angeles, Digitalentwickler aus und andere schwammige Gestal- schnelle Wirtschaftswelt. Die ultraambi-
Hongkong und Fashiontalente 2. ten über Erfolg entscheiden. tionierten Chinesen. Die aggressiven US-
aus Paris. Eine Million Bewer- Amazon Das fällt auf, auch internatio- Techriesen. Deswegen ist die Frage nach
bungen erhält Adidas pro Jahr. nal. Die Beratungsfirma Boston dem Erfolg von Adidas eine grundsätz-
Er ist ein seltsames Wesen, 3. Consulting Group veröffentlicht liche. Was machen die richtig?
dieser Konzern. So viel Tradi- Apple jedes Jahr eine Liste der 50 in- Seit drei Jahren hat Adidas einen neuen
tion, gegründet vor 70 Jahren, novativsten Unternehmen der Chef. Einen Dänen. Ohne Erfahrung mit
ein Symbol deutscher Nach- 4. Welt, auf den ersten Plätzen die Turnschuhen und Fußball, dafür mit Sham-
kriegszeit, das Wunder von Microsoft üblichen Verdächtigen: Google, poo und Waschmittel. Kasper Rorsted war
Bern, Fritz Walter, Franz Becken- Amazon, Apple. Aber dann, auf acht Jahre Chef des Konsumgüterkon-
bauer, Steffi Graf, so eng mit den 5. Platz zehn, direkt hinter Face- zerns Henkel. Kein besonders glamourö-
drei Streifen verbunden. In ei- Samsung book und Tesla, auf einmal Adi- ser Job und auf den ersten Blick vielleicht
nem der Nebengebäude huldi- das. Der Kontrast fällt ins Auge, nicht die ideale Vorbereitung, um ein Un-
gen sie dieser Vergangenheit mit 6. fast alles kalifornische Techfir- ternehmen zu führen, das nicht zuletzt er-
einem Schrein, die Temperatur Netflix men, teils keine 20 Jahre alt, da- heblich vom sportiven Glitzer lebt, von
konstant bei 18 Grad, die Luft- hinter ein Sportartikelkonzern seinen Fußball- und Popstars.
feuchtigkeit bei 55 Prozent, und 7. aus Franken, gegründet 1949. Bei einem Treffen im Spätsommer er-
wer hier etwas anfassen will, IBM Drei Streifen am Horizont. scheint Rorsted in kurzer Hose und T-Shirt.
muss weiße Stoffhandschuhe an- Die Adidas-Story besteht Es wirkt ein wenig angestrengt. Jeder bei
ziehen, als gelte es, die erste 8. nicht nur aus Glanz. Zwischen- Adidas weiß, dass Rorsted vor allem ein
Gutenbergbibel umzublättern. Facebook zeitlich sackte der Gewinn ab. Zahlenmensch ist. Sein Vater war Wirt-
Stattdessen holen Archivare mit Markenvorstand Eric Liedtke schaftsprofessor, und Rorsted spricht gern
ernsten Gesichtern die Olympia- 9. verließ zum Jahresende überra- über »financial KPIs«, Key Performance
trikots von 1972 aus einem der Tesla schend das Unternehmen. Und Indicators.
deckenhohen Rollschränke, die überhaupt läuft Adidas trotz al- Es gibt einige, die sagen, Adidas gehe
Schuhe, mit denen Bob Beamon ler Erfolge immer noch der glo- es deshalb so gut, weil Rorsted das Unter-
8,90 Meter sprang, Fußballstie- 10. balen Nummer eins, dem US- nehmen gnadenlos auf Effizienz getrimmt
Adidas
fel, an denen der Ball haftet, Konzern Nike, hinterher. habe, weil er Logistikketten optimiere
dank echter Haifischhaut. Es Davon abgesehen ist Adidas und Budgets stutze. Also gar nicht so in-
riecht muffig. Quelle: BCG in Deutschland beispiellos er- novativ unterwegs sei, sondern eher ganz

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ADIDAS VIA BESTIMAGE


STOCKIMO / ALAMY / MAURITIUS IMAGES

ACTION PRESS

Designer Williams, Nigo, Adidas-Jacke, -Kult-Sneaker: Globale Coolness-Kultur

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 53


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klassisch. Rorsted kennt diese Kritik, lächelt


sie weg, sagt: «Effizienz ermöglicht Frei-
heit.« Etwa, sich ein neues Hauptquartier
für fast eine halbe Milliarde Euro hinzustel-
len, mit eigenem Biobäcker, einem halben
Dutzend Restaurants, die Sushi und Grün-
kohl-Quinoa servieren, mit Trampolins und
Outdoor-Arbeitsplätzen, mit Schwimmbad,
Sportplätzen und Meetingräumen, die wie
Umkleidekabinen in Fußballstadien aus-
sehen. Fast scheint es, als hätte sich eine
Abordnung aus Herzogenaurach bei Face-
book und Apple umgeschaut und entschie-
den: So machen wir es auch.
Die auf den ersten Blick überkandidelte
Firmenzentrale ist nicht bloß eitles Vorzei-
geprojekt, sondern Personalstrategie. Adi-
das hat verinnerlicht, dass nur derjenige
global erfolgreich sein kann, der sich auch
weltweit die besten Köpfe holt. Und mit
Geld allein, aber einem muffigen Büro las-
sen sich keine 25-jährigen Starprogram-
mierer aus Kalifornien, Designer aus Paris
und BWLer aus Harvard in die deutsche
Provinz locken. »Für 25- bis 35-Jährige ist
das ein Traum«, sagt Rorsted. »Die laufen
hier über den Campus, machen Sport und
haben das Gefühl, immer noch in der Uni
zu sein, aber Geld dafür zu kriegen.« Fast
alle sind per Du, Anzüge sind verbannt,
der Ton ist jovial. Nur Fassade? »Man
kann das Unternehmen nicht klassisch
streng hierarchisch führen«, sagt Rorsted.
»Das begräbt die Kreativität.«
Auch anderswo investiert Adidas erheb-
lich ins Erscheinungsbild, neue Flagship-

MATTHIAS FERDINAND DÖRING / SZ PHOTO


stores in London und Shanghai, neue Fir-
menstandorte in New York City und Rio,
alles wirkt extrem »instagramable«: so
chic und fotogen, so hip und hightech und
wie gemacht dafür, ständig Fotos zu schie-
ßen und sie auf Instagram, Twitter oder
Facebook zu stellen und zu posten: Guck
mal, cool, oder?

Kaum ein Ort auf der Welt steht so sehr Manager Rorsted
für diese globale, digitale Coolness-Kultur »Man kann das Unternehmen nicht klassisch hierarchisch führen, das begräbt die Kreativität«
wie Williamsburg, ein kleines Viertel in
Brooklyn, New York City, voller Backstein-
bauten und abgeschrubbelter Industriege- von Kopf bis Fuß in Schwarz. Er soll den Paar pro Jahr. Manche verkaufen sich, weil
bäude am Rande des East River, »Hipster- neuen Adidas-Kreativen alle diese Fein- sie in den Siebzigerjahren schon mal chic
Central«, sagen die Amerikaner, die Welt- heiten beibringen. Die meisten haben In- waren und nun Lady Gaga oder Scarlett
zentrale der Hipster. dustriedesign studiert oder Grafik oder Johansson damit gesehen wurden. Der
Adidas hat hier, am Rande von Wil- Kunst, »die können gut zeichnen, bei uns »Stan Smith« etwa, auf dem Markt seit
liamsburg, vor zwei Jahren in einer ehe- lernen sie, wie man wirklich etwas mit den 1972, jahrzehntelang so unbekannt wie
maligen Fabrik die »Creator Farm« eröff- Händen macht«, sagt Weiss. Er ist selbst sein Namensgeber, ein amerikanischer
net, ein Ausbildungszentrum für Kreative. Industriedesigner, gelernter Schuhmacher, Tennisprofi. Verkaufte Paare insgesamt:
Das Unternehmen schleust Nachwuchs- ausgebildet in Herzogenaurach, er spricht mehr als hundert Millionen.
designer aus aller Welt durch Workshops, von einer »neuen Designkultur« bei Adi- Die meisten aber sind ziemlich ausge-
manche bleiben ein paar Wochen, andere das, kollaborativer, offener. Seine Assis- klügelt, technische Produkte, in denen al-
ein halbes Jahr. Der Eingang führt direkt tentin, platinblonde Haare, rosafarbene les zusammenkommt: Chemie, Material,
in eine Bar, alles schwarz, Metall, Marmor, Plateauschuhe, Ringe durch Nase, Augen- Nähtechnik. Ein harter Wettbewerb mit
Ziegelstein, erst dahinter dann: Nähma- brauen, Zunge, hat mit Cowboystiefeln Nike, Puma und all den anderen, mit Ent-
schinen, 3-D-Drucker, lange Regale mit angefangen. wicklungszyklen fast wie in der Autoin-
Stoffproben, Prototypen. Adidas macht 60 Prozent seines Umsat- dustrie. In Brooklyn planen sie für drei bis
»Um gute Schuhe zu machen, braucht zes mit Schuhen: Laufschuhe, Tennisschu- fünf Jahre in die Zukunft, an der Wand
man Finesse«, sagt Eric Weiss, ebenfalls he, Freizeitschuhe, rund 400 Millionen hängen schon die »Inspiration Boards« für

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siert. Solche Sohlen waren bislang nur


manuell aufwendig herzustellen. Bis 2015
ein Start-up aus dem Silicon Valley einen
Weg fand, mit Licht und Sauerstoff aus
flüssigen Harzen eine neue Art Kunst-
stoff zu fertigen und daraus jede belie-
bige Form herzustellen. Individuell, in
großen Mengen.
Früher hätte Adidas versucht, eine
ähnliche Technologie selbst zu entwickeln,
egal, wie lange es dauert. Heute ent-
wickeln der Konzern und das Start-up
gemeinsam eine Plattform für die Massen-
produktion maßgeschneiderter Sportschu-
he. »Die Welt dreht sich zu schnell, um
jedes Mal selbst das Rad neu zu erfinden«,

ISSLERIMAGES / IMAGO IMAGES


sagt Carnes. Das klingt simpel, aber nicht
jedem deutschen Traditionsunternehmen
fällt diese Erkenntnis leicht.
»Der technologische Einfluss auf unsere
Firma wird immer größer«, sagt Rorsted.
Auf was? Entwicklung, Produktion, Ver-
kauf? »Alles.« Adidas investiert heute er-
heblich mehr in Forschung und Entwick-
lung als noch vor zehn Jahren.
Dazu gehört auch eine Abteilung na-
mens »Future«, 120 Materialwissenschaft-
ler, Mathematiker , Zukunftsstrategen. In
einem Dutzend Labore simulieren sie mit
künstlicher Intelligenz die Maschinenaus-
lastung von Fabriken, testen in Reagenz-
gläsern neues Gummi, lassen Mannequins
in Hightech-Nylon schwitzen. Ein Roboter
schießt Fußbälle mit 200 Stundenkilome-
tern quer durch eine unterirdische Halle.
Das wahrscheinlich wichtigste Zukunfts-
projekt, das »Future« mitersonnen hat,
soll im Sommer 2021 auf den Markt kom-
men: ein Turnschuh mit eigener Kreislauf-
wirtschaft. Adidas will die aufgetragenen
Schuhe einsammeln und dann immer wie-
der zu neuen Schuhen verarbeiten, ohne
dass wieder Rohmaterial eingesetzt wer-
den muss. Dazu muss die traditionelle
Schuhherstellung zu einem guten Stück
Adidas-Zentrale in Herzogenaurach (o.), »Creator Farm« in New York City überholt werden, ein teurer und kompli-
Technische Ideen hübsch verpacken zierter Prozess. Es werde sich dennoch loh-
nen, glaubt Rorsted: »Unternehmen, die
den Weg in echte Nachhaltigkeit finden,
2023: »Kraft ist die Kombination von nen ersten 20 Jahren hier«, sagt Carnes. haben den Schlüssel für die Zukunft.«
Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit« »Wir sind so viel kreativer geworden.«
steht da, oder »Leder 3.0«, neben Bildern Und schneller. In den vergangenen Jahren hat Adidas
von Cyborgs. Über Jahrzehnte hatte Adidas alles selbst sich viel mit sich selbst beschäftigt, eine
»Sehr komplizierte technische Ideen gemacht: Produkte entwerfen, neue Tech- Art unternehmensweite Psychoanalyse,
mit Design so hübsch zu verpacken, dass nologien entwickeln, Fabrikation steuern. wer und was man eigentlich sein will. Ein
daraus etwas Begehrenswertes wird«, sei Ein geschlossenes System, um sich abzu- multinationaler Konzern? Made in Ger-
das Rezept des Unternehmens, sagt James schotten. Seit 2015 gilt nun das Gegenteil: many? Modehaus, Athletenausrüster? Ir-
Carnes. Er leitet die weltweite Marken- Ideen dürfen von überallher kommen, gendwie schien das alles zuzutreffen, aber
strategie und ist seit 1994 bei Adidas. Partner dürfen auch im Kerngeschäft mit- die gemeinsame Klammer, die »übergrei-
Carnes hat einige der wichtigsten Techno- mischen. »Das hat komplett verändert, fende Philosophie«, wie Carnes sagt, hat
logien wie ClimaCool (kühlt beim Sport) wie wir arbeiten«, sagt Carnes. Adidas erst gefunden, »als wir uns mal hin-
und adiZero (leichtes Material) eingeführt. 2018 brachte Adidas einen neuen Schuh gesetzt und einfach aufgeschrieben haben,
Kein neuer Schuh, keine Kollektion kommt auf den Markt, dessen Sohle eine Gitter- wer wir sein wollen«: eine globale Marke
auf den Markt, ohne dass Carnes sie ab- struktur aus einem Guss hat, die an den mit der gleichen Strahlkraft in Peking wie
segnet – falls er sie nicht gleich mitentwor- richtigen Stellen dämpft, an anderen in Rio und Berlin. Natürlich verkauft Adi-
fen hat. »In den vergangenen fünf Jahren Halt gibt und auf den digital erhobenen das schon seit Jahrzehnten in Dutzenden
hat sich Adidas mehr verändert als in mei- Laufdaten von zahllosen Athleten ba- Ländern, aber es ist etwas anderes, ob man

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Wirtschaft

Seit dem Frühjahr kooperiert Adidas


mit Beyoncé, vielleicht größter weiblicher
Popstar dieser Tage. Allein auf Instagram
folgen ihr 137 Millionen Menschen. Als
die Partnerschaft verkündet wurde, posier-
te Beyoncé mit einem Berg von Adidas-
Tretern. Anfang Dezember teilte sie ein
Foto mit dem ersten gemeinsam entwickel-
ten Turnschuh, Teil einer gemeinsamen
Sportmodelinie, die im Januar vorgestellt
wird. Innerhalb von 24 Stunden sammel-
ten sich mehr als eine Million Likes unter
dem Instagram-Post.
Mit Kanye West, Rap-Star und Enfant
terrible, Ehemann von Kim Kardashian,
arbeitet Adidas schon seit 2014 zusam-
men. West ist in Los Angeles zu Hause,
fliegt aber ein zum Marketingmeeting

ADIDAS / LAIF
nach Bamberg, wühlt sich durch das Adi-
das-Archiv in Herzogenaurach, besucht
die Produktion in China, tauscht sich alle
paar Wochen mit einem eigens für ihn zu-
ständigen Adidas-Team aus.
Mit traditionellen Modekooperationen
haben diese neuen Partnerschaften nichts
mehr zu tun, früher durften Prominente
JOSIAH KAMAU / BUZZFOTO / GETTY IMAGES

JOSIAH KAMAU / BUZZFOTO / GETTY IMAGES


eine Farbe auswählen und ihren Namen
auf den Schuh klatschen, fertig. Nun
sollen sie Adidas eine »kulturelle Infu-
BACKGRID UK / BESTIMAGE

sion« geben, wie Carnes sagt. Nicht nur


eine Marketingnummer sein, sondern
»big business«. Die gemeinsame Marke
mit Kanye West, »AdidasYeezy«, hat
HGM-PRESS

dieses Jahr angeblich fast 1,3 Milliarden


Dollar umgesetzt.
Adidas-Gründer Dassler 1954, Stilikonen Irina Shayk, West, Beyoncé, Kardashian Trotz all der Ausflüge in die Popkultur
»Heldenverehrung« soll der Sport im Mittelpunkt bleiben, das
bekommt offenbar jeder Mitarbeiter ein-
geimpft, jedenfalls wird es in jedem Ge-
sich als deutscher Sportartikler versteht, Sportliche Leistung 2. Jan. 2020 spräch dreimal erwähnt. Nur ist Sport
der auch anderswo verkauft, oder als Welt- Adidas-Aktienkurs, in Euro 291,55 nicht mehr gleich Sport. In der alten Welt
unternehmen. von Adidas drehte sich alles um den
So eine »bewusste Transformation«, Quelle: Refinitiv Datastream Athleten, der Marathon läuft, der sechs-
sagt Carnes, habe Folgen für die »Strahl- mal die Woche Tennis spielt. Als Rorsted
250
kraft« der Marke. Wie Adidas wahrgenom- antrat, gab er vor: Wir müssen näher an
men werden soll. Traditionell hat das viel den echten Konsumenten ran. Die große
mit den Sportlern zu tun, die Adidas aus- Mehrheit also, die nur einmal die Woche
rüstet. Zuletzt zahlte der Konzern pro Jahr laufen geht, für die Sport oft auch ein
50 Millionen Euro an den DFB, um Gene- 200 soziales Event ist. Deswegen sponsert Adi-
ralausrüster der Fußball-Nationalmann- das inzwischen eher Lauftreffs statt Spit-
schaft zu sein. Carnes nennt das »Helden- zensportler, fördert Projekte von Hobby-
verehrung«: Man sehe die Stars, »und die kickern statt Profiteams.
Menschen wollen genauso sein und kaufen 150 Vor allem sucht Adidas den digitalen
sich deswegen die gleichen Schuhe«. und damit direkten Kontakt zum Kunden.
Aber im vergangenen Jahrzehnt hat Dieses Jahr sollen vier Milliarden Euro
sich verändert, wer diese Helden sind. Onlineumsatz erreicht werden, allein mit
Sport, Musik, Lifestyle haben sich ver- der eigenen Website und App, viermal
mischt zu einer globalen Körper- und Pop- Anstieg seit 100
so viel wie noch 2016. Rorsted hat dazu
2015:
kultur, aufgeplustert und transportiert »digitale Aktivierungsteams« in vielen
durch Twitter, Facebook, Instagram. Adi- mehr als Ländern aufbauen lassen, um die Kunden
das stattet inzwischen nur noch eine ein- 400% 50
mehr und mehr aus den Läden wegzu-
zige Bundesligamannschaft aus, den FC locken, damit sie, statt bei Karstadt zu
2. Jan. 2015
Bayern München. Dafür aber YouTuber kaufen, eigene Onlineangebote wahrneh-
wie Tyler (»Ninja«) Blevins, dem regel- 56,52 men. Das ist ein großer Wandel, denn
mäßig bis zu 22 Millionen Jugendliche dazu braucht es nicht einfach eine hübsche
zuschauen, wie er Onlinespiele zockt. 0 Bestell-Website, sondern ganz andere Lo-
Noch so ein Traditionsbruch. 2015 2016 2017 2018 2019 gistikketten und Distributionsprozesse.

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Programm
Rorsted ist sicher, dass sich die Anstren-
gung lohnt: »Wir wussten vor fünf Jahren
kaum, wer unser Kunde ist, warum etwas
gefällt, wieso ein Produkt besonders gut
funktioniert.« Was Adidas nun an Daten
einsammelt, fließt direkt in die Produkt-
entwicklung – und zurück in die Läden.
In den vergangenen zwei Jahren hat
Adidas angefangen, viele seiner weltweit
rund 2500 eigenen Läden umzugestalten,
zugeschnitten auf das, was man online
über die Kunden gelernt hat. Im besten
Fall wird beides verknüpft. Wer im Flag-
ship in London die Adidas-App auf dem
Smartphone öffnet und dann per Kamera
einen Schuh im Regal anvisiert, bekommt

VIDICOM
ihn direkt in der richtigen Größe gebracht
– ohne erst einen Verkäufer suchen zu müs-
sen. Spiegel in den Umkleidekabinen er- Wahrzeichen Felsenkirche in Idar-Oberstein
kennen, welche Jogginghose man gerade
anprobiert und zeigen automatisch an, aus
welchem Material sie ist und welche Mo- SPIEGEL GESCHICHTE SPIEGEL TV
delle vielleicht noch gefallen könnten. MONTAG, 6. 1., 18.45 – 19.30 UHR, SKY MONTAG, 6. 1., 23.15 – 23.50 UHR, RTL
Rorsted glaubt nicht, dass der Einzel-
handel zugrunde geht, er ist sich aber si- Der Südwesten von oben Freidrehende PS-Protze
cher, dass die Läden nur voll bleiben, wenn Teil 1: Unsere Berge In Frankfurt am Main macht die
der Konsument darin digital betreut wird, Es ist eine der attraktivsten Regionen »Kontrolleinheit Autoposer, Raser
wenn die Welten verschmelzen. Deutschlands: Von der Saar über den und Tuner« Jagd auf Verkehrssünder.
Das größte Testlabor für diese hybride Rhein bis zum Schwarzwald lockt
Konsumentenwelt ist China. Adidas ist der Südwesten der Republik jährlich Frei laufende Vierbeiner
Marktführer im chinesischen Sportartikel- Millionen Touristen an. Die Serie In Berlin versucht das Ordnungsamt,
geschäft, mit 12 000 Läden, jedes Jahr erzählt die vielfältige Geschichte des Hund und Herrchen an die Leine zu
kommen tausend hinzu – ein rasant wach- Landstrichs und seiner Menschen. nehmen.
sender Markt, mit 42 Milliarden Dollar Luftaufnahmen bieten spektakuläre
fast doppelt so groß wie noch 2014. Vor Blicke auf Metropolen, Nationalparks
allem Millennials, die knapp 20- bis 35- und Industrieanlagen.
Jährigen, geben viel Geld für alles aus, was ARTE RE:
internationalen Flair und Starappeal hat. MITTWOCH, 8. 1., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE
Nirgends haben sich die Adidas-Koopera-
tionen mit Kanye West und Pharrell Wil- SPIEGEL TV WISSEN Die letzten Schwammtaucher
liams so ausgezahlt wie hier. MONTAG, 6. 1., 21.00 – 23.55 UHR, SKY Die griechische Insel
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern Kalymnos im Wandel
Wer Adidas besucht und in Herzogen- Über Jahrhunderte war die griechi-
aurach übernachtet, steigt im Hotel Her- Planet Plastik sche Insel Kalymnos Hochburg
zogspark ab, dem ehemaligen Gästehaus Minütlich landet jeden Tag der Inhalt der Schwammtaucher. Pantelis
des Konzerns. Geboten wird neben The- eines Müllwagens voller Plastik in Georgantis ist einer der letzten Erben
menzimmern (Nachttischlampen in Fuß- den Weltmeeren. In der vierteiligen dieser alten Tradition. Heute
ballform) ein kostenloser Ausflug in die Serie gehen Anita Rani und Hugh sterben die Schwämme im Mittel-
deutsche Nachkriegsgeschichte, die Wän- Fearnley-Whittingstall nicht nur den meer durch Umweltverschmutzung
de gepflastert mit Beckenbauer, Genscher, Ursachen nach, sondern wagen und Klimaerwärmung. Wenn
Olympia 1972. Der WM-Ball von 1954, ein außergewöhnliches Experiment aber die Schwämme sterben, was
das Tornetz aus dem Finale. Und natürlich mit den Anwohnern einer Straße wird dann aus den berühmten
immer wieder Adi Dassler. Das Hotel in Bristol. Wird es den Protagonisten Schwammtauchern von Kalymnos?
gehört bis heute der Familie Dassler. Adi- gelingen, die Plastikmenge im
das nicht. Ihre Unternehmensanteile hat Alltag zu reduzieren?
die Familie 1990 verkauft. Im Rückblick
einer der schlechtesten Deals der deut-
schen Wirtschaftsgeschichte, rund 450
Millionen Mark für 80 Prozent des Un-
HAT TRICK PRODUCTIONS

ternehmens. Wert der Anteile Ende 2019:


46 Milliarden Euro.
Am Eingang des Adidas-Ausbildungs-
SPIEGEL TV

zentrums in New York hängt ein Plakat,


dort steht in dicken Buchstaben: »Alte
Werte zählen nicht mehr. Sie funktionie- Moderatoren Fearnley-Whittingstall, Rani Taucher Georgantis, Sohn
ren nicht.« Thomas Schulz

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Wirtschaft

JENS GYARMATY / DER SPIEGEL


Landbesitzer Zepelin

Turbinenfrust in Appelhagen
Energiewende Joachim von Zepelin will auf seinem Acker drei Windräder bauen.
Die Lage scheint ideal, doch dann rebellieren die Anwohner, die Bürokratie kommt nicht voran.
Sieben Jahre später kämpft er immer noch – und die Windindustrie kollabiert.

D
er Wind weht kräftig an diesem In Appelhagen, einem Ortsteil der 253- Drittel des Durchschnitts der vergangenen
Oktobertag. Böen schütteln die Einwohner-Gemeinde Dalkendorf, zeigt fünf Jahre.
Kronen der alten Eichen. Joa- sich, woran das Jahrhundertprojekt Ener- Dutzende Windkraftfirmen sind pleite,
chim von Zepelin, 60, weißgraue giewende zu scheitern droht: Die Bundes- Zehntausende Jobs verloren gegangen.
Locken, den Rollkragen bis unters Kinn regierung hat ihr wichtigstes klimapoliti- Nach dem Zusammenbruch der deutschen
gekrempelt, spaziert über seinen Acker in sches Vorhaben den Dörfern und Gemein- Solarindustrie steht eine weitere, mit Mil-
Appelhagen, Mecklenburg-Vorpommern. den überlassen, dort tobt ein Nahkampf liarden Euro Fördermitteln aufgebaute
Wäre alles glattgegangen, stünden hier zwischen Gegnern und Befürwortern – wo Zukunftsbranche vor dem Kollaps.
jetzt drei Windräder. Zepelin, im Haupt- Windräder gebaut werden und wo nicht, Für Joachim von Zepelin ging der Stress
beruf Verleger von Belletristik, versucht darüber entscheiden, überspitzt gesagt, los, als Regina und Eberhard Bruss von
seit sieben Jahren, sie zu errichten. Es soll- Bürgerinitiativen statt Behörden. seinen Windparkplänen erfuhren. Das
te sein Beitrag zur Energiewende werden – Nach dem Willen der Bundesregierung Ehepaar habe das halbe Dorf gegen ihn
und nebenbei ein gutes Geschäft. sollen bis 2030 neue Windräder mit einer aufgehetzt – um »zu verhindern, dass ir-
Seit 2013 kämpft Zepelin für sein Pro- Kapazität von 14 000 bis 18 000 Megawatt gendetwas die Idylle in ihrem versailles-
jekt, mit Gutachten und Anwälten, gegen an Land gebaut werden. Doch in vielen haften Garten trübt«, sagt Zepelin.
Bürokratie und Nachbarn. Er hofft noch Gemeinden herrscht Turbinenfrust. Gegen Die Bruss’ sind da anderer Meinung. Sie
immer, dass er seinen Windpark irgend- mehr als 300 Onshore-Windräder wird ge- sitzen im Speisesaal ihres Gutshauses, auf
wann wird bauen können. Aber dass klagt. Im vergangenen Jahr wurden netto dem langen Esstisch stapeln sich Papiere
Deutschland die Energiewende packt, da- nur 180 Anlagen mit einer Leistung von und Aktenordner, Zeugnisse ihres Kampfes
ran hat er inzwischen Zweifel. 758 Megawatt errichtet, nicht einmal ein gegen die Windräder. Regina Bruss, eine

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hagere, dunkelhaarige Frau, zeigt auf eine Schweiz, in der Eberhard Bruss seine westfälischen Arnsberg gingen rund 15 000
Modellzeichnung, die deutlich machen soll, ersten Lebensjahre verbracht hatte. Die Einwendungen ein, in Südhessen waren es
was Zepelins Windpark vor ihrer Tür an- Bruss’ kauften das etwas heruntergekom- gut 25 000 – sie zu prüfen dauert Jahre.
richten würde. Der nächstgelegene Rotor mene Anwesen, ließen es aufwendig reno- Gegen die Fläche, auf der auch Zepelins
wäre nur rund 825 Meter weit weg. Im vieren und zogen ein. Windräder entstehen sollen, gab es anfangs
Winter wären die rund 180 Meter hohen Im Mai 2014 erschien der zweite Ent- nur wenige Einwendungen, sie galt ins-
Turbinen durch die kahlen Bäume gut zu wurf der Regionalplanung für neue Wind- gesamt als »gut geeignet«. Als Zepelin und
sehen. Die Lebensqualität der Gemeinde kraftgebiete in der Region Rostock. Die seine Geschäftspartner ihren Windpark im
würde sinken, eine schützenswerte Land- Regionalplanung ist das zentrale Instru- Herbst 2015 auf zwei Gemeindevertreter-
schaft verschandelt, argumentiert das Paar. ment für den Ausbau der Windenergie. sitzungen vorstellten, war das Interesse
Eberhard Bruss, ein kräftiger Kerl mit Abgesandte der Landkreise legen in soge- gering. Obwohl die Sitzungen öffentlich
kurzen Locken, misstraut der Windkraft- nannten Planungsverbänden Flächen für waren, erschien niemand aus dem Dorf.
branche schon länger. 2016 schrieb er ei- neue Windparks fest. In Mecklenburg- Im Jahr darauf geriet das Projekt unter
nen Brief an Zepelin: Appelhagen werde Vorpommern gilt seit 2012 die Vorgabe, Zeitdruck. Die Bundesregierung verkün-
gekauft, ein hoher Beamter habe ihm von rund 1,5 Prozent der Landesfläche für dete, sie werde die pauschale Förderung
»mafiösen Verhältnissen« in der Branche Windparks auszuweisen. für neue Windstromanlagen weitgehend
berichtet. Heerscharen von Projektierern Doch den Planern schlägt zunehmend einstellen. Wer die alten Summen abgrei-
zögen »mit Koffern voller Geldscheine Skepsis, mancherorts sogar Hass entgegen. fen wollte, musste sich beeilen. Zepelin
durchs Land«. Die »Wessis« würden mal Knapp 30000 Rotoren drehen sich bereits in und die Kloss New Energy versuchten des-
wieder die »Ossis« abzocken. Er werde al- Deutschland. Weil die Ökostromproduktion halb, eine vorgezogene Genehmigung für
les tun, um den Windpark zu verhindern. weiter steigen soll, rücken neue Windparks ihren Windpark zu bekommen. Die Fläche
Zepelin wohnt in Berlin-Mitte. Nach der näher an Menschen und Naturreservate he- sei im neuen Raumplan ohnehin vor-
Wende kaufte er die Ländereien seiner ran. Auch deshalb wächst der Widerstand. gesehen, schrieben sie zur Begründung an
Familie nahe Appelhagen zurück, rund Wirtschaftsminister Peter Altmaier Bürgermeister Hans Müller (Die Linke).
23 Hektar freies Feld. Anfang 2013 klin- (CDU) will die Akzeptanz der Bürger für Müller war einverstanden, auch weil er
gelten Projektentwickler deutscher Wind- neue Windparks mit einer sogenannten Ab- sich neue Gewerbesteuereinnahmen für
parks bei ihm. Raumplaner seien auf Ge- standsregel erhöhen: Mindestens tausend die Gemeinde erhoffte. Am 24. Februar
heiß der Landesregierung auf der Suche Meter sollen zwischen einem Windrad und 2016 wollte er den Gemeinderat abstim-
nach neuen Flächen für Windparks, erfuhr Siedlungen ab fünf Häusern liegen. Der men lassen. Die Sitzung hätte ähnlich
er. Sein Acker nahe Appelhagen gehöre Aufschrei der Windkraftbefürworter ist laut; geräuschlos verlaufen können wie die Ver-
nach Meinung des Planungsverbands Re- neue Windräder zu bauen, wäre kaum noch sammlungen im Vorjahr – doch inzwi-
gion Rostock zum Eignungsgebiet 127. möglich, sagen sie. Umwelt- und Wirtschafts- schen hatte das Ehepaar Bruss von den
Die Projektfirmen drängten Zepelin, er ministerium verhandeln nun nach. Doch Windparkplänen gehört.
solle ihnen das Land verpachten. »Sie woll- ganz gleich, wie sie sich einigen, das Haupt- Am Morgen des 24. Februar lief Regina
ten sich schnell die exklusiven Nutzungs- problem der Windenergie wäre nicht gelöst. Bruss durch die Gemeinde und steckte
rechte sichern«, sagt er. Doch Zepelin, Die Planungsverbände sind verpflichtet, Flugblätter in Briefkästen. »Dalkendorf
früher Mitglied der Anti-Atomkraft-Bewe- jeden Einwand von Anwohnern zu prüfen, wird endgültig von Windrädern umzin-
gung, entschied, lieber selbst einen Wind- zu bewerten und ihre Abwägungen lücken- gelt«, stand darauf. »Ihre Häuser und
park zu bauen. Er habe die Kontrolle da- los zu dokumentieren. Gibt es gravierende Grundstücke erleiden hohe Wertverluste.
rüber behalten wollen, was auf seinem Gründe gegen den Bau eines Windparks, Wer profitiert? Allein die Investoren!!!«
Feld passiert, sagt er. Außerdem schien das wird er aus den Plänen gestrichen. Machen Zur abendlichen Gemeindevertretersit-
Projekt seinerzeit lukrativ: Windräder be- sie bei der Abwägung einen Fehler, kann zung kamen etwa 50 aufgebrachte Bürger.
kamen noch einen fixen, vergleichsweise der gesamte Regionalplan vor Gericht Was dann geschah, bezeichnet Müller als
hohen Fördersatz. gekippt werden. Was als Instrument der eine seiner schlimmsten Erfahrungen als
Mitte 2013 einigte sich Zepelin mit dem Bürgerbeteiligung gedacht war, ist zum bü- Gemeindepolitiker.
Projektierer Kloss New Energy. Die Firma rokratischen Monstrum mutiert: Die Anti- Müller, 74, ist seit 2004 Bürgermeister
wollte insgesamt neun Windräder auf Eig- Windkraft-Bewegung überschüttet die Be- von Dalkendorf. »Ich habe wirklich schon
nungsgebiet 127 bauen, drei davon auf Ze- hörden inzwischen mit Stellungnahmen. einiges erlebt«, sagt er am Telefon. »Aber
pelins Acker. Kloss und Zepelin gründeten Bei einer Regionalplanung im nordrhein- noch nichts, das mir so an die Nieren ging,
für die drei Turbinen ein Joint Venture, wie dieser Windräderprotest.« Die Men-
um sich die Einnahmen aus der Ökostrom- schen im Saal hätten zum Teil durcheinan-
produktion zu teilen. Das Land, auf dem Gegenwind dergeschrien. »Ihr seid doch gekauft«, hät-
die Windräder stehen sollen, und damit Zuwachs an Windenergie* in Deutschland, ten sie ihm und den anderen Gemeinde-
die Pachteinnahmen aus Landwirtschaft Leistung in Megawatt räten entgegengebrüllt. Er habe schließlich
und Windkraft, wollte Zepelin in eine ge- *netto, abzüglich Rückbau, nur onshore die Beherrschung verloren und zurück-
meinnützige Stiftung überführen, die Pro- **vorläufig 1405 gebrüllt. Die Sitzung wurde abgebrochen,
Quellen: BWE, Fachagentur
jekte in der Region fördern soll. Seine Fami- Windenergie an Land ergebnislos. »Ich habe in hasserfüllte Ge-
lie habe von 1420 bis 1945 in Appelhagen sichter geblickt«, sagt Müller.
gelebt, sagt Zepelin. Er fühle sich mit der Am 11. März 2016 lehnte der Gemeinde-
Region verbunden. »Die Anwohner sollen rat von Dalkendorf den Eilantrag ab. Der
von dem neuen Windpark etwas haben.« 690 vorgezogene Bau der drei Windräder bekam
Das Ehepaar Bruss entdeckte im August 758 keine Mehrheit – auch weil Müller sich ent-
2013 eine Verkaufsanzeige für ein Guts- hielt. Heute fühlt er sich von der Regierung
haus in Appelhagen. Es hatte schon lange alleingelassen. »Statt abstrakte Energie-
nach einem Objekt gesucht, um seinen Le- wendeziele zu verkünden, sollten sich Ab-
bensabend auf dem Land zu verbringen – geordnete aus dem Land- und Bundestag
vorzugsweise in der Mecklenburgischen 2011 2017 2019** mal direkt in die Schusslinie begeben« sagt

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FOTOS: JENS GYARMATY / DER SPIEGEL


Bürgermeister Müller, Gutshaus des Ehepaars Bruss, Familie Schilling: »In hasserfüllte Gesichter geblickt«

er. »Dann würden die verstehen, welchen Man habe mögliche Fragen zum Proto- gefunden worden. Gebiet 127 sei weiter
Zorn selbst ein kleiner Windpark entfesselt.« typ beantworten wollen, sagt Zepelin. für den Bau eines Windparks geeignet.
Als das Eilverfahren scheiterte, verstand Doch niemand habe etwas dazu wissen Zepelin hilft das nicht, er ist in der Wind-
Zepelin: Mit seinem Windpark würde es wollen. Die Stimmung im Dorf wurde zu- kraftbürokratie gefangen. Vor einigen Mo-
so schnell nichts werden. Noch immer durf- sehends giftiger. naten verlangte die Untere Naturschutz-
ten Bürger neue Einwände gegen die vor- »Das Gefühl, einfach übergangen zu behörde des Landkreises Rostock, er müs-
gesehenen Flächen einreichen, erst Ende werden, ruft natürlich erst recht Wider- se eine Ausgleichswiese für Rotmilane
2019 war mit einem Abschluss der Raum- stand hervor«, sagt Elisabeth Schilling, 40, schaffen, inklusive einer Feldhecke, für die
planung zu rechnen. aus Dalkendorf. »Ich schätze, dass mehr »je nach Witterungsverlauf 4–6 Gießgänge
Im Frühjahr 2018 versuchten Zepelin als die Hälfte der Anwohner inzwischen mit minimal 20 Liter Wasser pro Pflanze«
und seine Geschäftspartner deshalb auf gegen den neuen Windpark ist.« einzukalkulieren seien.
anderem Weg, zumindest noch ein Windrad Im November 2018 legte der Planungs- Nachdem Zepelin sich verpflichtet hatte,
in diesem Jahrzehnt zu bauen. Die Firma verband Region Rostock den dritten Ent- allen Anweisungen zu folgen, teilte die
Kloss wandte sich an das Staatliche Amt wurf für sein regionales Raumentwicklungs- Behörde mit, sie wolle nun doch lieber das
für Landwirtschaft und Umwelt (StALU) programm vor. Gegen Eignungsgebiet Ende der Regionalplanung abwarten.
und beantragte die Genehmigung für einen Nummer 127 gab es nun seitenlange Ein- Inzwischen ist der Regionalplan zwar
Prototyp. Die Auflagen dafür sind niedri- wendungen. Von einer »Zupflasterung des beschlossen. Doch sollte die Landesregie-
ger, damit Hersteller neue Modelle rasch Landes« war die Rede, von einem »Kolli- rung in Schwerin ihn tatsächlich absegnen,
unter realen Bedingungen testen können. sionsrisiko für Flugzeuge« und einer Be- wollen Anwohner ihn vor Gericht anfech-
Im April 2018 gingen die Bauanträge einträchtigung des Wander-, Rad- und Reit- ten. Ihre Chancen stünden nicht schlecht:
für Testwindrad E-138 EP3 der Firma tourismus. Von einer Bedrohung der Rot- Laut einer Analyse, die das Bundeswirt-
Enercon beim StALU ein, am 13. August milane, Seeadler, Schreiadler, Rohrweihen, schaftsministerium beim Branchendienst
landeten die Unterlagen bei Bürgermeister Wiesenweihen, Kornweihen, Schleiereulen, Navigant beauftragt hat, wurden zuletzt
Müller. Der schrieb, er habe keine Vorbe- Waldohreulen, Wachtelkönige, Rebhühner, sieben Regionalpläne vor Gericht gekippt.
halte gegen den Prototyp, wies aber darauf Raubwürger, Neuntöter, Weißstörche und Zepelin will weiter für seine drei Wind-
hin, dass in Appelhagen viele Bürger ge- Kraniche, die sich angeblich allesamt im räder kämpfen, auch wenn seine ursprüng-
gen neue Windräder seien. Umfeld von Gebiet 127 tummelten. liche Gewinnkalkulation längst hinfällig
Kurz darauf sei Müller zufällig bei ihm Ein Anwohner führte an, er bekomme ist. Statt mit einer Förderung von 8,84 Cent
gewesen, erzählt Eberhard Bruss. Der Bür- seine Wohnung kaum noch vermietet. Wei- pro Kilowattstunde kann er nur noch mit
germeister habe erwähnt, dass es neue An- tere Bürger klagten über »Stresszustände, rund 6,5 Cent rechnen. Hinzu kommen
träge zur Windkraft gebe, mehr aber nicht. Ohrgeräusche, Herzrhythmusstörungen ausufernde Kosten für allerlei Gutachten.
Müller sagt, er habe sich erst mit den Ge- und Schlaflosigkeit«, die angeblich von Unterm Strich fiele noch immer ein
meindevertretern abstimmen wollen. existierenden Windparks in der Umgebung Gewinn ab, sagt er – vorausgesetzt, die
Die Bruss’ erfuhren schließlich auf an- ausgelöst würden. Jeder weitere Rotor wür- Windräder kämen irgendwann.
deren Kanälen, was Zepelin vorhatte. Am de ihr »Recht auf körperliche Unversehrt- Für die Energiewende sieht Zepelin in-
11. September machte das Ehepaar die Pro- heit« zusätzlich gefährden. zwischen schwarz: Bei der Windenergie
totyppläne auf einer Bürgerversammlung Der Planungsverband ging auf alle Ein- gebe es »ein Politikversagen, wie ich es
bekannt. Als Zepelin sich dort zu Wort wendungen vorschriftsgemäß ein. Ihren noch nicht erlebt habe«.
meldete, wurde erst einmal abgestimmt, Unmut konnten die Beamten kaum ver- Bürgermeister Müller flüchtet sich in
ob er überhaupt reden darf. Er durfte bergen: Kritiker würden Artenschutz- Sarkasmus: »Wahrscheinlich werden eher
schließlich, musste sich aber vorwerfen argumente »nahezu beliebig« heranzie- alle Rotmilane wegen der Luftverpestung
lassen, die Versammlung unterwandert zu hen, schrieben sie. In einer umfassenden tot vom Himmel fallen, als dass hier ein
haben: Er hatte seine Geschäftspartner von Untersuchung seien jedenfalls »keine Brut- Windpark entsteht.« Stefan Schultz
Kloss und Enercon mitgebracht. plätze windkraftsensibler Großvogelarten«

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Wirtschaft

»Aus purer Angst verpasst


Deutschland enorme Chancen«
SPIEGEL-Gespräch Christian Klein, Co-Chef des Softwarekonzerns SAP, über die
Widerstände deutscher Firmen in Sachen Digitalisierung, die verfehlte
Bildungspolitik und über die Gründe, warum er seinen Sohn vom Handy fernhält

Klein, 39, ist seit 20 Jahren bei SAP. Am


11. Oktober 2019 wurde er gemeinsam mit
Jennifer Morgan Vorstandssprecher, als
Nachfolger des überraschend zurückgetre-
tenen Bill McDermott.

SPIEGEL: Herr Klein, Sie führen den größ-


ten Softwarekonzern Europas. Und bekla-
gen, dass Deutschland höchstens zehn Pro-
zent seines digitalen Potenzials ausschöpft.
Sind wir ein digitales Entwicklungsland?
Klein: Das Problem Deutschlands ist: Wir
sind zu gut, um uns neu zu erfinden. Viele
Unternehmen wachsen und sind erfolg-
reich – und sehen nicht ein, warum sie sich
ändern sollen. Der Laden läuft doch. Ich
spüre oft große Widerstände, wenn ich mit
Kunden spreche.
SPIEGEL: Derzeit lässt Tesla unsere Auto-
bauer ziemlich alt aussehen. Verschläft die
erfolgsverwöhnte deutsche Wirtschaft den
Wandel?
Klein: Viele deutsche Unternehmen haben
eine lange Tradition. Da haben sich Resis-
tenzen gegen Veränderungen gebildet. Das
Thema »Digitalisierung« wird gern an die
IT-Abteilung ausgelagert, die sollen ein biss-
chen rumspielen. Das geht garantiert schief.
SPIEGEL: Sie klingen düster.
Klein: Dann verstehen Sie mich falsch. Di-
gitalisierung wird mir in Deutschland viel
zu sehr als Horrorszenario diskutiert. Dazu
will ich keinesfalls beitragen. Wir müssen
vielmehr über die Chancen reden. Und
Deutschland hat enorme Chancen – in der
Industrie, im Anlagenbau. Wir sind da jetzt
schon vielfach marktführend, und wir kön-
nen unsere Position sogar noch ausbauen.
SPIEGEL: Wie soll das gehen?
Klein: Wir erleben doch gerade, wie sich
die Globalisierung ein Stück umkehrt. Die
Produktion kommt zurück nach Deutsch-
land und Europa, weil es nicht mehr reicht,
möglichst billig Massenware herzustellen.
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Die Kunden wollen individuelle Ware, und


sie wollen sie heute bestellen und morgen
geliefert bekommen. Das geht nur mit
künstlicher Intelligenz, und es geht nur
mit Fabriken vor Ort.
SPIEGEL: Sie unterschätzen die Produk-
tionskosten am Standort Deutschland. Vorstand Klein: »Wir müssen die nächste Generation vorbereiten«

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normal für ein Unternehmen unserer Grö-


ße. Manche Kollegen waren 20 Jahre und
mehr bei SAP und wollten einfach noch
einmal etwas Neues machen. Das kann ich
verstehen. Mit Differenzen über die Stra-
tegie hat dies nichts zu tun.
SPIEGEL: Nach einer Umfrage der Anwen-
dergruppe DSAG vertraut nur noch ein
Drittel der befragten Kunden der SAP-Pro-
duktstrategie. Ihre Kunden sind unzufrie-
den mit dem Flickenteppich an Program-
men und klagen über eine mangelnde In-
tegration.
Klein: Die Kritik ist durchaus berechtigt.
Wir haben viele Akquisitionen getätigt
und uns zu lange Zeit gelassen, um die
Software untereinander zu harmonisieren.
Wir haben die Geduld unserer Kunden ein
wenig überstrapaziert. Das werden wir
schleunigst wieder gutmachen.
SPIEGEL: Offenbar wissen viele Ihrer Kun-
den nicht, wie sie die Datenbank Hana
gewinnbringend einsetzen können. Woran
liegt das?
Klein: Wir neigen dazu, auf der techni-
schen Ebene zu argumentieren. Viele Kun-
SAP-Manager McDermott, Morgan, Klein im Oktober 2019 den wollen aber den klaren Geschäftsnut-
»Eine gewisse Fluktuation ist völlig normal« zen unserer Technologien verstehen und
für sich selbst anwenden. Hier müssen wir
Klein: Tue ich nicht. Lassen Sie mich das uns herangetragenen Hausaufgaben erle- kommunikativ klar nachlegen. SAP Hana
an einem Beispiel klarmachen. Heute digen und unsere Kunden erfolgreich in ist nach wie vor eine maßgebliche Tech-
kaufen Sie einen Sneaker aus China, weil die Digitalisierung begleiten, wird sich das nologie, die Digitalisierung in Unterneh-
der dort billig hergestellt wird. Er wurde auch positiv im Aktienkurs ausdrücken. men entscheidend voranbringen, wenn
aber schon vor Monaten produziert und SPIEGEL: Der Chefwechsel wirkte über- nicht sogar erst möglich machen kann. Da-
ist ein Massenprodukt. In Zukunft werden stürzt. Gab es Druck der Investoren, Mc- von bin ich fest überzeugt.
Sie ein Paar Sneaker exakt nach Ihren Dermott abzulösen? SPIEGEL: Um den Schritt in die Cloud zu
Vorstellungen und vielleicht mit Ihrem Klein: Nein, die Entscheidung fiel in enger schaffen, musste SAP Milliarden ausgeben
Namenszug bestellen, am nächsten Tag Abstimmung zwischen Bill McDermott für zahlreiche Zukäufe. Mit Bordmitteln
geliefert bekommen und abends viel- und dem Aufsichtsrat. Es gab keinerlei äu- wäre das nicht gelungen. Geht der digitale
leicht schon tragen. Und durch die Di- ßere Einflüsse. Wandel selbst für eine Softwarecompany
gitalisierung sind wir in der Lage, die hö- SPIEGEL: In letzter Zeit verließen diverse zu schnell?
heren Lohnkosten hierzulande auszu- Topmanager das Unternehmen. Es soll Dif- Klein: Für den Erfolg der SAP sind drei
gleichen. ferenzen über die Cloud-Strategie gegeben Faktoren entscheidend: der komplette Fo-
SPIEGEL: SAP hat nun schon 48 Jahre auf haben. kus auf den Erfolg unserer Kunden, die
dem Buckel und knapp 100 000 Mitarbei- Klein: Eine gewisse Fluktuation auch in Entwicklung innovativer Lösungen in en-
ter. Wie stark sind die Beharrungskräfte den höchsten Führungsebenen ist völlig ger Abstimmung mit unseren Kunden und
bei Ihnen? Partnern und agiles Handeln. Gerade
Klein: Vor zehn Jahren, als wir den Weg wenn wir Richtung China und USA schau-
in die Cloud begannen, gab es heftige Deutsche Trägheit en, gilt es, die Transformation der SAP
Widerstände. Unser Geschäftsmodell, Soft- Stand der Digitalisierung in der EU noch schneller voranzutreiben. Hierzu
ware zu verkaufen, die auf den jeweiligen nach dem Digitalen Wirtschafts- und Gesellschaftsindex (DESI), braucht es Rahmenbedingungen, die Inno-
Firmenservern lief, funktionierte prächtig 2019, alle 28 EU-Länder vationen nicht verhindern – ich denke da
Gesamtwertung in Prozent
und erwirtschaftete hohe Profite. Warum an das Thema »künstliche Intelligenz« und
also zu Mietsoftware wechseln? Darüber 1. Finnland 69,9 das Testen mit anonymisierten Daten.
gab es lange Debatten. Viele glaubten, die 2. Schweden 69,5 SPIEGEL: Sie wollen weniger Datenschutz?
Wolke sei eine Art Mode, die wieder ver- 3. Niederlande 68,9 Klein: Nein, er ist Teil unseres Geschäfts-
schwindet. Heute ist klar: SAP stünde 4. Dänemark 68,8 modells. Kundenbezogene Daten müssen
nicht so gut im Markt, wären wir diesen 5. Großbritannien 61,9 geschützt werden. Wenn ein Kunde mor-
Schritt nicht gegangen. gen alle seine Daten aus dem System lö-
SPIEGEL: Dennoch regt sich Unmut bei 11. Spanien 56,1 schen will, geht das sofort. Aber wenn wir
manchen Investoren. Ihr Vorgänger Bill 12. Deutschland 54,4 Daten komplett anonymisiert testen, wün-
McDermott hat angekündigt, SAPs Bör- 13. Österreich 53,9 sche ich mir, dass wir nicht ewig brauchen
senwert bis 2023 auf 300 Milliarden Dollar für die Genehmigung.
zu steigern. Derzeit liegt er bei 167 Mil- 15. Frankreich 51,0 SPIEGEL: Machen Sie das doch bitte ein-
liarden. Ist dieses Ziel noch realistisch? EU- mal konkret.
Klein: Ich sehe uns auf einem guten Weg
24. Italien 43,9 Klein: Wir wollten testen, ob ein Arzt
Durchschnitt
und bin zuversichtlich. Wenn wir die an 25. Polen 41,6 52,5 seinen Befund in ein Mikrofon sprechen

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Wirtschaft

kann, damit dieser dann digital verar- America first geführt. 20 Jahre altes Wissen in einem
beitet wird. Das spart Zeit, die er mit Die weltweit führenden Software-Anbieter, Gebiet, in dem sich alle paar Monate etwas
Patienten verbringen kann. Um das zu nach Umsatz in Milliarden Dollar ändert.
entwickeln, brauchen wir Daten, die un- SPIEGEL: Die Regierung will im Zuge
sere Universitäten nicht einmal anonymi- der Digitalisierung das mobile Netz ver-
siert zur Verfügung stellen dürfen. Im bessern – die Hardware dazu soll mögli-
Mount-Sinai-Krankenhaus in New York cherweise der chinesische Staatskonzern
dagegen kriegen wir die Daten innerhalb Huawei liefern. Ist das eine gute Idee an-
von zwei Wochen – deshalb erforschen Microsoft, gesichts der Tatsache, dass China seine
wir das dort. Unsere Entwickler begleiten USA Bürger mithilfe von IT nahezu lückenlos
die Ärzte auf Visite und digitalisieren de-
ren Alltag. Ich denke, hier sind die Vor-
125,8 bespitzelt und gängelt?
Klein: Huawei ist in China ein Partner von
teile offensichtlich. SAP. Wir haben hohe Hürden, bevor wir
SPIEGEL: Gesundheitsdaten sind nun ein- einen Hardwareprovider an Bord nehmen.
mal besonders sensibel. Es gelten strenge Zertifizierungsstandards
Klein: Ja, gewiss, aber aus purer Angst auch bei der Datensicherheit. Wenn Si-
verpasst Deutschland darüber enorme cherheitsrisiken auftauchten, würden wir
Oracle,
Chancen. Um bei dem Krankenhausbei- USA sofort Konsequenzen ziehen.
spiel zu blieben: Die Voraussetzungen für SPIEGEL: Einem chinesischen Staatskon-
ein solches Projekt sind eigentlich nir- 39,5 SAP,
Deutschland zern das Mobilfunknetz anzuvertrauen, ist
gends besser als bei uns. Wir haben ein das nicht, als würde man Wladimir Putin
öffentlich organisiertes Gesundheitswe-
29,2 die Autobahn übergeben?
sen, wir könnten ganz leicht – anonymi- Klein: Da will ich mich besser mal raus-
siert – Daten erheben. Es will mir nicht CDW, halten. Ich gebe zu bedenken, dass es auch
jeweils letztes Geschäftsjahr USA
in den Kopf, dass das nicht funktioniert. viele US-Unternehmen gibt, die Hardware
Da fehlt es auch am politischen Willen. 16,2 anbieten. Wo zieht man da die Grenze?
Adobe, Salesforce,
Ich habe Wirtschaftsminister Peter Altmai- VMware, USA SPIEGEL: Digitalisierung bedeutet auch,
USA USA
er gesagt, dass es da mehr Offenheit 11,7 13,3 dass sich die Macht auf einige wenige gro-
braucht und mehr Mut. 9,0 ße Konzerne konzentriert, die Unterneh-
SPIEGEL: Würde ein Digitalisierungsminis- men mit den Datenmassen. Google, Face-
terium da helfen? book, Amazon und auch SAP.
Klein: Ja, das wäre ein erster Schritt. Zu der heutigen Grundschüler in Berufsfel- Klein: Die entscheidende Frage lautet
viele Themen, die die digitale Transforma- dern arbeiten werden, die es heute noch eher: Welchen rechtlichen Rahmen und
tion angehen, liegen in zu vielen Ministe- gar nicht gibt. Darauf müssen wir die welche Grenzen setzen wir hier, zum
rien. Das ist nicht nur ein IT-Thema, nächste Generation vorbereiten. Doch Beispiel bei der künstlichen Intelligenz?
sondern auch ein Bildungsthema. Beim während sich die technologischen Trends Da geht es beispielsweise darum, dass Al-
Aufbau der Netze geht es wieder in ver- und die Realität da draußen rasend schnell gorithmen nicht diskriminieren dürfen.
schiedene Ministerien. Ich würde mir auch ändern, diskutieren wir langatmig da- Bei der Personalauswahl muss die Soft-
wünschen, dass der Staat vorangeht und rüber, ob Schulen und Universitäten ware den besten Bewerber auswählen, un-
endlich mal seine Verwaltung digitalisiert. vielleicht einmal neue Lehrpläne benö- abhängig von Herkunft und Geschlecht.
Warum muss man für jeden Umzug aufs tigen. Unsere Software darf nicht nur für weiße
Rathaus, für jeden Service aufs Amt? SPIEGEL: Fehlt es an geeigneten Lehrkräf- Europäer sein. Und natürlich besitzt die
SPIEGEL: Vielleicht unterschätzen Sie die ten? Wahrung der Privatsphäre absoluten
Gefahren der Digitalisierung. Klein: Wir hatten hier einen Schülerwett- Vorrang.
Klein: Ich sehe einige Entwicklungen bewerb, bei dem wir spielerisch mobile SPIEGEL: Sie beliefern auch Geheimdiens-
auch sehr kritisch. Ich habe selbst einen Apps haben bauen lassen. Da erzählte te wie die NSA mit Software. Sind Ihre
Sohn. Von ihm halte ich das Handy weit- mir ein Schüler der 8. Klasse, dass er die- ethischen Grenzen eher fließend?
gehend fern, weil ich möchte, dass er sich ses Jahr keinen Informatikkurs belegen Klein: Nein, da sind wir klar. Wir haben
unabhängig davon entwickelt. Er soll so könne, weil es keinen Lehrer gebe. Und entschieden, dass wir keine künstliche In-
aufwachsen, wie ich selbst aufgewachsen vor ein paar Tagen sprach ich mit einem telligenz an Hersteller von Massenvernich-
bin: auf dem Sportplatz sein, sich mit Studenten. Dem hat man in seinem Wirt- tungswaffen ausliefern.
Freunden treffen, ein Buch lesen. Soziale schaftsinformatik-Studiengang gerade eine SPIEGEL: Ein SAP-Slogan lautet: »Help
Empathie erarbeitet man sich nicht, wenn Powerpoint-Präsentation von 1998 vor- the world run better and improve
man nur in den digitalen sozialen Netz- people’s lives.« Tatsächlich schaffen Sie
werken unterwegs ist. Diese Entwicklung es trotz aller Algorithmen und Datenban-
ist in vieler Hinsicht bedauerlich. ken nicht, das allmorgendliche Stauchaos
SPIEGEL: Lässt sie sich noch aufhalten, vor Ihrem Firmensitz in den Griff zu be-
etwa, wenn die Menschen merken, dass kommen.
die Digitalisierung im großen Stil Jobs ver- Klein: Da haben Sie recht. Wir überlegen
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

nichtet? gerade, ob wir nicht Elektrobusse einset-


Klein: Sie schafft auch welche. Aber wir zen sollen, mit Arbeitsplätzen und WLAN,
bilden völlig falsch aus. Digitale Bildung und unsere Mitarbeiter von ihrem Wohn-
ist in Deutschland Glückssache. Eine Stu- ort abholen. Im indischen Bangalore ma-
die von McKinsey besagt, dass 70 Prozent chen wir das bereits.
SPIEGEL: Herr Klein, wir danken Ihnen
* Mit den Redakteuren Michaela Schießl und Markus Klein beim SPIEGEL-Gespräch* für dieses Gespräch.
Brauck in der SAP-Unternehmenszentrale in Walldorf. »Wo zieht man da die Grenze?«

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Der Vorteil von Safe Assets: Sie lassen


sich jederzeit zu Geld machen, weil An-
leger sie für wertbeständig halten. Durch
ihren Verkauf bleibt eine Bank auch in
einer Krise liquide. Staatsanleihen der
USA, aber auch Deutschlands, gelten welt-
weit als sichere Zuflucht, wenn die Finanz-
märkte in Turbulenzen geraten.
Doch zuletzt wurden die Safe Assets zu-
sehends knapp. Der europäische Rettungs-
schirm ESM, so etwas wie ein Frühwarn-
system für Fiskalprobleme in der Euro-
zone, ist bereits alarmiert. »Anleihen der
Bundesrepublik Deutschland sind heute
das eigentliche Safe Asset des Euroraums«,
sagt ESM-Chef Klaus Regling. Zwar gebe
es auch Papiere anderer solider Saaten,
etwa der Niederlande und Finnland. »Das
reicht aber nicht, vor allem wenn das An-
gebot deutscher Staatsanleihen kontinu-
ierlich sinkt.«
Sein Chefökonom Rolf Strauch wird
deutlicher. Der Mangel an Sicherheiten

PETER RIGAUD
entstehe, »weil besonders das Angebot aus
Minister Scholz Deutschland wegen der grundgesetzlich
verankerten Schuldenbremse stetig ab-
nimmt«, klagt er. Im Klartext: Die Bun-
desregierung bleibt den notwendigen

Gefährliche
werden, so das Argument der Experten, Nachschub schuldig und gefährdet so die
fehle es an Sicherheiten, die Banken brau- Funktionsfähigkeit des Finanzsektors und
chen, um Kredite zu vergeben. als Folge davon Wachstum und Wohlstand.

Sicherheit
Im Mittelpunkt der Überlegungen ste- Daran wird sich auch erst einmal nichts
hen sogenannte sichere Anlagen, im Fi- ändern, wie Berechnungen der Bertels-
nanzsprech »Safe Assets« genannt. Dabei mann-Stiftung aus einer noch unveröffent-
handelt es sich zumeist um Staatsanleihen, lichten Studie belegen. Die Schuldenbremse
Finanzen Werden Staatsanleihen die von den Ratingagenturen mit der Best- erlaubt der Bundesregierung eine Neuver-
mit hoher Bonität knapp, bewertung AAA benotet werden. schuldung von 0,35 Prozent des Brutto-
fehlt es Banken an Rohstoff für Für Banken und Versicherungen sind inlandsprodukts (BIP), also bis zu zwölf
sie so etwas wie der Rohstoff, der ihre Ge- Milliarden Euro. Hält sich die Bundes-
ihre Kreditvergabe – eine schäfte erst möglich macht. Banken be- regierung an die Vorgabe und wächst die
Belastung für die Finanzmärkte. nötigen die Papiere als Sicherheit, mit der Wirtschaft so stark wie im Schnitt der ver-
sie etwa Spareinlagen ihrer Kunden unter- gangenen sechs Jahre, sinkt der Schulden-
legen. stand auf lange Sicht von derzeit 60 Pro-

W enn es um Haushaltsdisziplin
geht, ist Olaf Scholz (SPD) ein
Hardliner: Ob schwarze Null
oder Schuldenbremse, beides verteidigt
Die Bankenaufsicht schreibt den Kredit-
instituten vor, welchen Anteil ihrer Ver-
bindlichkeiten sie mit sicheren Anlagen
unterfüttern müssen.
zent des BIP auf nur noch 10 Prozent und
pendelt sich dort ein (siehe Grafik). Ent-
sprechend schrumpft der Vorrat an siche-
ren Staatsanleihen.
der Bundesfinanzminister routiniert. Schul-
den seien schlecht, ungerecht und gefähr-
lich, sie würgten Wachstum und Wohl-
stand ab. Die Schuldenbremse ist in dieser Aktuelle Staats- Bei einer Neu- ... strebt die Schulden-
schuldenquote verschuldung von ... quote in Richtung
Logik ein Bollwerk gegen allerlei Horror-
szenarien, ein Symbol für Sicherheit und
Stabilität. rund 2,1%
Doch in jüngster Zeit werden zuneh- 60% (laut Maastricht- 60%
des kriterien sind bis zu
mend Zweifel an der Grundgesetzvor- BIP
3% zulässig)
schrift laut. Nicht nur, weil der Staat das
Wachstum dämpft, wenn er zu wenig in-
vestiert. Ein weiteres Argument gewinnt Eine Schuldenquote zwischen
50 % und 80 % erwies sich in empirischen 1,0%
unter Ökonomen an Kraft: Danach sind Studien als wachstumsfördernd.
schwarze Null und Schuldenbremse auf
lange Sicht eine Gefahr für Sicherheit und 0,7 % 30%
Stabilität auf dem Finanzmarkt.
Mangelware Staatsanleihen
Nicht nur zu viele Schulden sind also Der Schuldenabbau kann zur Gefahr
für das Wirtschaftswachstum werden 0,35 % 20%
ein Problem, sondern auch zu wenige. Obergrenze der
Wenn wegen der ständigen Haushaltskon- Annahme: BIP-Wachstum von 3,5 % nominal Schuldenbremse
des Bundes 10%
solidierung erstklassige Schuldtitel knapp Quelle: Bertelsmann-Stiftung

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Wirtschaft

Tatsächlich plant die Bundesregierung


ihren Haushalt sogar komplett ohne neue
Schulden. Und damit nicht genug. Bund,
Länder, Gemeinden und Sozialversiche-
rungen fahren am Jahresende regelmäßig
gemeinsam riesige Überschüsse ein. 2019
dürften es wieder rund 50 Milliarden Euro
gewesen sein.
Die Folge: Irgendwann wäre Deutsch-
lands Schuldenberg restlos abgetragen, der
Nachschub an Safe Assets made in Ger-
many würde versiegen. Der Finanzwirt-
schaft würden Sicherheiten bester Qualität
für ihre Geschäfte fehlen.
»Eine sehr niedrige Schuldenquote von
zum Beispiel zehn Prozent oder gar ein
absoluter Schuldenabbau, wie er lang-
fristig aus der schwarzen Null folgt, ist
nach allen Studien kein erstrebenswertes
Ziel der Fiskalpolitik, im Gegenteil«, sagt
Christian Kastrop, Direktor bei der Ber-
telsmann-Stiftung. Empirische Studien
etwa der OECD sprächen dafür, dass eine
Schuldenquote zwischen 50 und 80 Pro-
zent wachstumsfördernd sei.
Kastrops Experten haben schon einmal
ausgerechnet, wie viel neue Schulden der
deutsche Staat jedes Jahr machen dürfte,
um die Schuldenquote auf dem gegenwär-
tigen Niveau zu stabilisieren. Nötig wäre
ein Defizit von 2,1 Prozent, in absoluten
Zahlen rund 70 Milliarden Euro.
Bedarf für die zusätzlichen Mittel gäbe
es reichlich, etwa für Investitionen in di-
gitale Infrastruktur oder Verkehrswege.
Doch eine solche Größenordnung ist mit
der Schuldenbremse nicht zu vereinbaren.
Ökonomen aller Couleur plädieren des-
halb für eine Reform der Vorschrift. Die
Bundesbank allerdings hält es für eine
»verquere Idee«, aus Angst vor knapper
werdenden Safe Assets die Verschuldung
in die Höhe zu treiben.
Ihre Experten haben einen eigenen Vor- Jetzt
schlag: Die Staaten, die während der Finanz-
im Handel
krise ihre Bestnote verloren hätten, sollten
ihre Finanzen wieder in Ordnung bringen.
Dann würden auch ihre Anleihen wieder
mit AAA bewertet. Bis die Anleihen Frank-
Entspannt
reichs oder Österreichs wieder als Safe As-
sets gelten, wird es allerdings dauern.
Auch ist kaum damit zu rechnen, dass
im Alltag
die Europäische Zentralbank ihre Papiere,
die sie in den vergangenen Jahren massen- mit sechs Wohlfühl-Trainingsprogrammen
weise aufgekauft hat, schon bald wieder
auf den Markt wirft.
So bleibt als wahrscheinlichste Variante, Gelassen bleiben
dass sich das Problem auf natürliche Weise
löst. Wenn der nächste Abschwung kommt, Meine Ziele erreichen
brechen die Steuereinnahmen weg und die
Ausgaben für Arbeitslosigkeit steigen, Gesund genießen
vielleicht wird sogar ein Konjunktur-
programm nötig. Die Finanzierungslücken
Mein Gedächtnis stärken
ließen sich nur mit neuen Schulden schlie- Zeit für mich haben
ßen – Deutschland müsste frische Staats-
anleihen begeben. Christian Reiermann Digital entschleunigen

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 65


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Medien

»Ich bin nicht eingeknickt«


Debatten Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow über den Skandal um ein Satirevideo
des WDR-Kinderchors, den Zorn von Senioren und die Kampagne von rechts

SPIEGEL: Herr Buhrow, werden Sie im


WDR demnächst auch das Ärzte-Lied
»Männer sind Schweine« verbieten?
Buhrow: Das werden wir natürlich nicht
tun.
SPIEGEL: Was unterscheidet den Song
vom Skandallied »Meine Oma ist ’ne alte
Umweltsau«, dessen Text Menschen aufs
Korn nimmt, die SUV fahren und gern mal
Koteletts essen?
Buhrow: Bei dem einen ist klar von der
ersten Zeile an erkennbar, dass es sich um
ein provozierendes Lied handelt. Das an-
dere ist ein missglücktes Satirevideo, das
viele Menschen verletzt hat. Ich habe üb-
rigens noch von keinem einzigen Mann
einen Anruf bekommen, weil er sich we-
gen »Männer sind Schweine« beleidigt ge-
fühlt hat.
SPIEGEL: Muss man also davon ausgehen,
dass der WDR missglückte Satire in Zu-
kunft jedes Mal löscht?
Buhrow: Nein, ich will keine neuen Satire-
richtlinien setzen. Es ist jedes Mal eine
Einzelentscheidung. In diesem Fall hat in
einem Familienprogramm ein nicht als
Satire direkt erkennbares Video pauschal
eine ganze Gruppe mit Umweltverschmut-
zung in den Zusammenhang gestellt. Und
dadurch haben sich einfach viele Senio-
rinnen und Senioren verletzt gefühlt.
SPIEGEL: Allerdings ist die öffentliche Er-
regung nicht wirklich spontan zustande
gekommen, sie wurde von rechten Kreisen
stark angefacht. Sie sind auch vor denen
eingeknickt.
Buhrow: Nein, bin ich nicht.
SPIEGEL: Haben Sie zu spät gemerkt, wie
rechte Kreise dieses Kinderlied instrumen-
talisiert haben?
Buhrow: Überhaupt nicht. Es ist ja nicht
das erste Mal, dass wir mit dergleichen
zu tun haben. Bei diesem und ähnlichen
Anlässen gibt es oft auch eine Instrumen-
DANIEL HOFER / LAIF

talisierung von rechts. Wir konnten die


Mechanismen erkennen, aber wir konn-
Intendant Buhrow ten auch unterscheiden zwischen dem,
was orchestriert ist, und dem, was echte
Gefühlsäußerungen von ansonsten wohl-
Ein Satirevideo des WDR-Kinderchors lös- drohungen gegen WDR-Mitarbeiter. Paral- meinenden Hörern sind. Und da hatten
te um die Jahreswende einen Shitstorm lel beschwerten sich Senioren, Spitzen- wir wirklich Hunderte Seniorinnen und
aus. Die Umdichtung der Liedzeile »Meine politiker schlossen sich der Empörung an. Senioren und deren Enkel am Telefon.
Oma fährt im Hühnerstall Motorrad« zu Der WDR sperrte den Beitrag. Buhrow, 61, Uns war sofort klar, diese Menschen
»Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau« sorg- entschuldigte sich live in einer Radio- waren nicht Teil einer orchestrierten
te auf Twitter für mehr als 200 000 Tweets sendung. Er ist seit 2013 Intendant des Sache.
und Hasstiraden. Rechtsextreme demons- Senders und seit 1. Januar auch Vorsitzen- SPIEGEL: Warum haben Sie es nicht ein-
trierten vor dem Sender. Es gab Mord- der der ARD. fach bei einer Entschuldigung belassen,

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sondern den Beitrag aus dem Netz ge-


nommen?
Buhrow: Da kursieren falsche Behauptun-
gen. Als ich mich zu Wort gemeldet habe,
hatten die zuständigen Programmverant-
wortlichen das Video bereits aus dem Netz
entfernt. Ich habe im Grunde genommen
nur wiederholt, was die Programmverant-
wortlichen auch gesagt haben. Und dazu
stehe ich. Wir müssen für Fehler gerade-
stehen und sagen, es tut uns leid.
SPIEGEL: Darf Satire im WDR nicht mehr
wehtun?
Buhrow: Doch. Satire darf weiter wehtun.
Wir haben zig Sendungen, die ganz klar
als Satire gekennzeichnet sind, und Satire
muss auch frech sein. Aber Satire muss
vor allem den Mächtigen wehtun. In die- WDR-Kinderchor im Studio: »Über dieses Stöckchen werde ich gewiss nicht springen«
sem Fall aber hat sich eine Gruppe von
Menschen an den Pranger gestellt gefühlt.
Ob das jetzt übersensibel war oder nicht, es politisieren zu wollen, dass Kinder sich ein großer Teil unseres Publikums zu
ist unerheblich. ein Kinderlied singen, finde ich absurd. Unrecht angegriffen fühlt. Soll ich denen
SPIEGEL: Als sich die CDU-Vorsitzende Kinder spielen im Fernsehen und im sagen: Sie sitzen einer rechten Instrumen-
Annegret Kramp-Karrenbauer bei einer Hörfunk überall eine Rolle, auf Spenden- talisierung auf, und Ihre Gefühle sind des-
Karnevalssendung mit einem verunglück- galas, bei Weihnachtskonzerten. Ich glau- halb irrelevant? Wir können uns doch
ten Toilettenwitz über intersexuelle Men- be, selbst auf Wahlplakaten von Poli- nicht hinter der Satirefreiheit verstecken
schen lustig gemacht hat, hat das die Ge- tikern. und sagen: Wir haben recht, lieber Hörer,
fühle vieler verletzt. Sollte die Sendung SPIEGEL: Bundestagsvizepräsident Wolf- und dass du so empfindest, das ist eben
auch auf den Index kommen? gang Kubicki (FDP) sprach davon, dass falsch.
Buhrow: Ich werde jetzt nicht neue Maß- der Kinderchor »missbraucht wird, um zu SPIEGEL: Sie können doch auf der Klavia-
stäbe für Satire formulieren … denunzieren und Umerziehung zu betrei- tur der Kommunikation virtuoser spielen,
SPIEGEL: … aber faktisch setzen Sie neue ben«, ihn erinnere das Ganze »an die als entweder zu schweigen oder einen Bei-
Maßstäbe. untergegangene DDR«. Gegen diesen Vor- trag gleich zu sperren. Da hätte es doch
Buhrow: Nein, das tue ich nicht. wurf haben Sie Ihren Sender nicht ver- Zwischentöne gegeben.
SPIEGEL: In einer Satiresendung hätten teidigt. Buhrow: Ich gehe hier doch nicht durch
Sie denselben Beitrag also durchgewinkt? Buhrow: Es steht jedem frei, seine Mei- die Redaktion, suche nach Verantwort-
Buhrow: Ich will gar nicht erst in diese nung zu äußern. Ich reagiere nicht auf jede lichen und drohe mit Konsequenzen.
Kategorisierung einsteigen, was Satire darf Politikeräußerung. Über dieses Stöckchen, Überhaupt nicht. Ich habe die Redaktion
und was nicht. Mein Thema ist, dass wir das Herr Kubicki mir da hinhält, werde in einem ersten Gespräch am Montag so-
in einer Familienwelle viele, viele Hörer ich gewiss nicht springen. gar ermutigt, weiter experimentierfreudig
verletzt haben. Und da bin auf deren Seite. SPIEGEL: Müssen sich WDR-Redakteure zu sein. Dass mal was danebengeht, heißt
Mehr ist es gar nicht. Sorgen machen, dass der Intendant nicht doch nicht, dass wir nie wieder etwas ris-
SPIEGEL: Der nordrhein-westfälische Mi- mehr hinter ihnen steht, wenn es hart auf kieren dürfen.
nisterpräsident Armin Laschet (CDU) hat hart kommt? SPIEGEL: Sie sind seit Anfang des Jahres
sich öffentlich über die »Umweltsau« ge- Buhrow: Wir haben jede Woche zuhauf auch ARD-Vorsitzender. Sie gehen ein
ärgert. Ist der Eindruck falsch, dass der Beiträge, die kontrovers sind, die Mächtige wenig beschädigt in dieses Amt.
Intendant dann sofort springt und sich ent- kritisieren, die Missstände aufspießen. Da Buhrow: Im Gegenteil. Mir geht es auch
schuldigt? braucht sich niemand Gedanken zu ma- um unser Selbstverständnis als WDR und
Buhrow: Der ist absolut falsch. Dass Herr chen. Ich erlebe auch den WDR nicht so, als ARD. Wir können doch nicht die
Laschet sich geäußert hat, hat es eher dass hier eingeschüchterte Redakteure he- Zugbrücke hochziehen, uns zurückziehen
schwieriger gemacht zu reagieren. rumlaufen. Wir wollen weiter unbequem hinter unseren öffentlich-rechtlichen
SPIEGEL: Nach außen sieht es zumindest sein. Im Übrigen kommt mir die Debatte Auftrag und sagen, wir sind die Einzi-
peinlich aus. Herr Laschet twittert sein etwas konstruiert vor. Man wird doch noch gen, die wissen, was richtig und falsch
Missfallen, und etwas später reagiert der mal Entschuldigung sagen dürfen, ohne ist.
Intendant mit einer Entschuldigung. dass einem gleich Zensur vorgeworfen SPIEGEL: Hat sich die ARD zu lange kritik-
Buhrow: Herr Laschet hat sich am Sams- wird. unfähig gezeigt?
tag eingeschaltet. Die Redaktion hatte den SPIEGEL: Es gab Morddrohungen gegen Buhrow: Zumindest sind das doch die
Beitrag bereits Freitagabend kurz vor Mit- WDR-Mitarbeiter, Neonazis demonstrier- grundsätzlichen Vorwürfe vieler Men-
ternacht aus dem Netz genommen und ten vor dem Sender. Würden Sie ange- schen gegen uns Öffentlich-Rechtliche: Ihr
sich entschuldigt. sichts der weiteren Entwicklungen heute seid uns lange Zeit so gegenübergetreten,
SPIEGEL: Trotzdem sieht es jetzt so aus, anders entscheiden? als wärt ihr unbelehrbar, ihr haltet euch
als würden Sie sich der Meinung von Buhrow: Erstens: Diese Art von Leuten für unfehlbar. Und dieses Klischee sollten
Herrn Laschet anschließen, dass in diesem können Sie gar nicht bremsen, die können wir nicht bestätigen, wir sollten uns lern-
Beitrag Kinder für politische Zwecke in- Sie nicht lenken. Und von denen mache fähig zeigen. Meine Entscheidung war nie
strumentalisiert worden sind. ich meine Entscheidungen auch nicht ab- taktisch. Sie entspricht meiner Überzeu-
Buhrow: Das ist doch lächerlich. Dem hängig. Zweitens: Wir können doch nicht gung. Interview: Markus Brauck
schließe ich mich überhaupt nicht an. Und einfach so tun, als ob es nicht zählt, wenn

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Ausland
Erdoǧan weiß, wie wertvoll er für die Europäer ist, allen voran für Merkel. ‣ S. 70

ISAAC LAWRENCE / AFP


Ausgerüstet mit Schlagstock, Kampfanzug, Schutzschild und Visierhelm drängen Polizisten in Hongkong
Demonstranten zurück. Silvester bildeten Tausende Bürger Menschenketten durch die Innenstadt,
sie fordern mehr Demokratie und protestieren gegen die Hegemonie Chinas. 400 wurden allein bei den
jüngsten Protesten festgenommen, seit Juni sind es mehr als 6000.

Analyse

Der Akrobat
Österreichs alter und neuer Kanzler Sebastian Kurz saugt die Konkurrenz auf.

Sebastian Kurz hat ein Kunststück der politischen Artistik voll- abgewählt, siegte bei der Neuwahl im September trotzdem trium-
bracht. Er hat gewechselt von ganz rechts, dem Koalitionspart- phal – auch aufgrund seiner Fähigkeit, sich Kernthemen der
ner FPÖ, nach Mitte-links, zu den Grünen als neuem Mehrheits- Konkurrenz einzuverleiben. Und zwar so, dass es am Ende wirkt,
beschaffer. Er darf Kanzler bleiben. Das Grundprinzip seiner Art als hätten er selbst und die ÖVP diese Themenfelder seit eh und
des Regierens besteht im politischen Kannibalismus. Das je besetzt. Im Fall FPÖ bedeutete das: Kampf gegen illegale
Abkommen mit den Grünen feierte der Chef der ÖVP mit den Migration und gegen den Missbrauch von Sozialleistungen durch
Worten, nun komme »das Beste aus beiden Welten« zusammen. Asylbewerber. Im Fall des bevorstehenden Bündnisses mit den
Schon nächste Woche soll die Koalition besiegelt werden. unerfahrenen Grünen gilt das Hauptaugenmerk des Juniorpart-
Die Allianz mit der links verwurzelten Ökopartei ging Kurz ners dem Kampf gegen den Klimawandel.
ähnlich entschlossen an wie zwei Jahre zuvor das Bündnis mit Die zuletzt nicht im Parlament vertretene Ökopartei, bei der Neu-
der rechtspopulistischen FPÖ unter Heinz-Christian Strache. wahl auf einen Stimmenanteil von fast 14 Prozent hochgeschnellt,
Ende 2017 gebildet, funktionierte die Mitte-rechts-Koalition weit- wäre gut beraten, sich Strategien im Umgang mit dem Kanzler
gehend geräuschlos, bis von SPIEGEL und »Süddeutscher zurechtzulegen. Andernfalls könnte bei künftigen Wählern die Bot-
Zeitung« veröffentlichte Ibiza-Videos zum Rücktritt Straches und schaft ankommen, kein anderer als Kurz habe Österreich zu einem
zum Sturz der Regierung führten. Kurz, per Misstrauensvotum Musterschüler in Sachen Klimaschutz umerzogen. Walter Mayr

68 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Spanien Italien
Wieder mehr Wacklige Hassbeziehung
Frauenmorde  Im Vergleich zu deutschen Bundeslän-
dern haben die meisten Regionen Italiens
 Das letzte Opfer hieß Alexia Paola wenig Macht. Wichtige Entscheidungen
Carralero, mutmaßlich vergiftet von werden in Rom gefällt. Doch jetzt wird
ihrem Lebensgefährten in Madrid. 2019 das Hinterland für Ministerpräsident
wurden 55 Frauen von ihrem Partner Giuseppe Conte und seine Koalition aus
oder Ex-Mann umgebracht, das sind so Movimento Cinque Stelle (M5S) und
viele wie seit 2015 nicht. Dabei war die Sozialdemokraten gefährlich. Ende Janu-
Zahl solcher Taten in den vergangenen ar wählen die roten Hochburgen Emilia
Jahren tendenziell gesunken. Schon Romagna und Kalabrien neue Präsiden-
seit 2004 hat Spanien ein Gesetz, das ten, später folgen sechs weitere Regionen.
Frauen vor häuslicher Gewalt schützen Einiges spricht dafür, dass Ex-Vize-
soll. Feministinnen halten es für vor- premier Matteo Salvini, der bis Anfang

GIOVANNI PULICE / CONTRASTO / LAIF


bildhaft, die rechtsextreme Partei Vox September mit dem M5S regierte,
möchte das Gesetz abändern. Sie dann seinen Siegeszug quer durchs Land
stieg 2019 von einer Splittergruppe zur fortsetzt. Schon 2019 triumphierte der
drittstärksten politischen Kraft auf. Lega-Chef an der Basis: Bei allen fünf Re-
Ihr Antifeminismus beeinflusst nun die gionalwahlen verloren die bis dahin regie-
öffentliche Debatte. renden Präsidenten aus dem Mitte-links-
Vox-Politiker bestreiten etwa, dass es Lager ihre Macht an Salvini und seine
geschlechterspezifische Gewalt gibt. rechten Partnerparteien. Regierungschef
Sie halten die Diskussion um Gleich- Conte kann seine Koalition ohnehin nur Salvini
berechtigung für überflüssig und von mit Mühe zusammenhalten. Es rächt sich,
einer »Genderideologie« getrieben. Die dass Sterne und Sozialdemokraten bloß sident zu werden. Regionale Wahlsiege in
Partei will das Budget für Gleichstel- aus Angst vor Salvini zusammengefun- den nächsten Monaten würden seine For-
lungsmaßnahmen kürzen. In Andalusien den haben. Fast lustvoll pflegen sie im derung untermauern. Ziemlich ungelegen
verlangte Vox eine Liste der Mitarbeiter Alltag ihre Hassbeziehung. Es ist der kommen ihm deshalb die »Sardinen«,
von Initiativen, die Hilfe für misshan- immergleiche Konflikt: Sterne-Populisten eine neu entstandene Anti-Salvini-Bewe-
delte Frauen und Kinder anbieten. Das gegen linkes Establishment. Vor allem gung. Bis zu 25 Prozent der Italiener
seien »ideologisierte Fachkräfte«. Sterne-Chef und Außenminister Luigi können sich laut Umfragen vorstellen,
Lucía Avilés, Gründungsmitglied der Di Maio fällt immer wieder über die die Protestbewegung zu wählen. Deren
Vereinigung der Richterinnen, vermutet Beschlüsse des eigenen Kabinetts her. Anhänger wollen bisher zwar keine
einen Zusammenhang zwischen der Vertrauen in der Bevölkerung schafft das Partei gründen. Ihre Erfolgsgeschichte
Debatte und den steigenden Tötungs- jedenfalls nicht. haben sie allerdings in der Emilia Ro-
zahlen. Dank Vox, so Avilés, fühlten Salvini verlangt seit Monaten eine magna begonnen – als Großdemo gegen
sich die Täter bestärkt. SLÜ Neuwahl in der Hoffnung, so Ministerprä- den Populismus von Salvinis Lega. HOR

Weißrussland schenko einen Reaktor in Ostrowez in unternehmen Rosatom gebaut und mit
Gefahr aus dem Osten Gang setzen. Das neue Kraftwerk steht
nur vier Kilometer von der litauischen
einem zehn Milliarden Dollar schweren
Kredit aus Moskau finanziert.
 Litauen und Polen liebäugeln seit Jah- und 250 Kilometer von der polnischen Während der Bauarbeiten kam es zu
ren damit, Atomkraftwerke zu bauen – Grenze entfernt. In Litauen trainieren Ka- etlichen Unfällen, mehrere Arbeiter verlo-
doch dass das Nachbarland Weißrussland tastrophenschützer bereits, ganze Dörfer ren ihr Leben. 2016 krachte ein mehr als
auf nukleare Energie setzt, beunruhigt die zu evakuieren. Die Regierung hat vier 300 Tonnen schweres Reaktorteil auf das
Regierungen in Warschau und Vilnius. Millionen Jodtabletten gegen radioaktive Fundament. Ein neues Segment stieß bei
Anfang des Jahres will Europas letzte Dik- Partikel verteilen lassen. Ostrowez wird der Anlieferung gegen Eisenbahnanlagen.
tatur unter Machthaber Alexander Luka- seit acht Jahren vom russischen Staats- Der Reaktor vom Typ WWER-1200/491
soll nach Herstellerangaben den neuesten
Sicherheitsstandards entsprechen. Doch
Kritiker warnen, die Anlage könne störan-
fällig sein. In einem ähnlichen Reaktor bei
der russischen Stadt Nowoworonesch
CLAUDIA THALER / PICTURE ALLIANCE / DPA

brach vor drei Jahren beim Anfahren ein


Brand aus. Weißrussische Kernkraftgeg-
ner haben einen Film auf YouTube gestellt
unter dem Titel »Ostrowez des Todes«.
Sie zweifeln daran, dass die Reaktor-
außenhaut hielte, würde ein größeres
Flugzeug einschlagen. Im Falle einer Kata-
strophe könnten bis zu 100 000 Quadrat-
kilometer Land bis weit nach Westeuropa
Kernkraftwerk-Baustelle in Ostrowez 2018 atomar verseucht werden. JPU

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Ausland

Ausgeliefert
Migration Die syrische Offensive auf die letzte Rebellenregion im Norden könnte eine neue
Massenflucht auslösen. Der türkische Präsident Erdoğan nutzt den Angriff
des Assad-Regimes, um neue Forderungen zu stellen. Scheitert der EU-Türkei-Deal?

K
urz bevor in Idlib die Sonne auf- der Türkei fern. Doch kann er dauerhaft granten über die Türkei nach Europa ka-
geht, trifft Yaman al-Hammo die zusehen, wie sich Hunderttausende Not- men, wären dann »unvermeidlich«.
Entscheidung, vor der er sich so leidende, unter ihnen viele Frauen und Es ist nicht das erste Mal, dass Erdoğan
lange gefürchtet hat. Er hat die Kinder, an seiner Grenze drängeln? Und den Europäern mit dem Ausstieg aus dem
Nacht im Keller verbracht, neben seinen wenn es die Menschen doch in die Türkei Flüchtlingsabkommen droht, doch selten
zwei Söhnen, seiner Frau und seiner Mut- schaffen, versorgt Erdoğan sie dann im ei- war sein Ton so schrill, der Anlass so real.
ter. Sie lauschten den Explosionen der genen Land, wie es der EU-Türkei-Migra- Die EU hat der Türkei 2016 unter an-
Fassbomben und den Artilleriegeschossen, tionspakt vorsieht? Oder lässt er sie doch derem sechs Milliarden Euro und Visa-
die in die Häuser seiner Heimatstadt nach Europa weiterziehen? erleichterungen für türkische Staatsbürger
Maarat al-Numan in der syrischen Provinz Erdoğan hat bereits klargemacht, dass zugesagt, wenn sie Migranten an der Wei-
Idlib einschlugen. Die Frauen weinten, die sein Land keine weitere Zuwanderung ver- terreise nach Europa hindert und Schutz-
Kinder auch, so erinnert er sich heute, drei kraften könne. Werde die Offensive auf suchende von den griechischen Inseln
Wochen später. Idlib nicht gestoppt, würden »alle europäi- zurücknimmt. Der Deal hat mit dazu ge-
Im Morgengrauen wickeln Hammos schen Länder, insbesondere Griechenland, führt, dass deutlich weniger Geflüchtete
Ehefrau und seine Mutter die Kinder in die negativen Folgen zu spüren bekom- nach Europa kamen. Er hat die EU aber
Decken. Ein letzter Anruf, um zu erfah- men«, sagte er bei einer Rede in Istanbul. auch erpressbar gemacht – durch den Auto-
ren, wo die russischen Jets gerade angrei- Szenen wie 2015, als rund 800 000 Mi- kraten in Ankara.
fen; dann startet Hammo seinen weißen Erdoğan weiß, wie wertvoll er für die
Hyundai Van und lenkt ihn auf eine Land- Erdoǧans Druckmittel Europäer ist, allen voran für Bundeskanz-
straße Richtung Türkei. lerin Angela Merkel, die das umstrittene
Als er hinter sich die Explosionen hört, Abkommen eingefädelt hat. Für ihn ist die
drückt Hammo aufs Gas. Im Van stoßen Krise in Idlib ein Problem, da seine Bürger
sich die Kinder den Kopf. Mit 80, 90 Kilo- kaum bereit sind, weitere Flüchtlinge auf-
metern pro Stunde fährt er vorbei an ver- zunehmen. Die Bilder von den Migranten-
zweifelt winkenden Familien, im Auto ist Rund trecks sind jedoch zugleich eine will-
kein Platz für sie. Erst als der Vater seine
Familie in Sicherheit glaubt, hält er an,
4 Mio. kommene Gelegenheit, die Europäer zu
Zugeständnissen zu bewegen, konkret: zu
Flüchtlinge
weint, minutenlang. weiteren Zahlungen.
Seit Wochen nehmen Syriens Diktator sind derzeit in der Die sechs Milliarden Euro der EU sind
Türkei registriert.
Baschar al-Assad und seine Unterstützer größtenteils verplant. Aber auch in den
Russland und Iran die letzte verbliebene kommenden Jahren wird die Flüchtlings-
Rebellenhochburg im Nordwesten des hilfe die Türkei Geld kosten. Mehr als drei
Landes unter Beschuss. Sie bombardieren Millionen Syrer leben schon jetzt im Land,
gezielt Wohnhäuser, Schulen, Kliniken. in zehn Jahren werden es durch Geburten
Die Offensive auf Idlib könnte das Ende Rund 74000 Flüchtlinge wohl fünf Millionen sein. Erdoğan will,
des Syrienkriegs markieren – und den Be- kamen 2019 über den Land- oder Seeweg dass die EU für einen Teil der Kosten auf-
ginn einer erneuten Massenflucht. aus der Türkei in Griechenland an. kommt. Wenn der türkische Präsident im
Schätzungsweise drei Millionen Men- Januar Merkel in der Türkei empfängt,
schen leben in der Region, unter ihnen vie- dürfte es vor allem um Geld gehen.
le, die aus anderen Landesteilen in die Pro- Neu registrierte Flüchtlinge pro Monat Die Kanzlerin informierte die neuen
vinz geflohen sind. Mehr als 235 000 Men- SPD-Chefs beim Koalitionsausschuss
schen wurden laut Uno in Idlib allein in 12 000 Griechenland über die außenpolitische Lage. Unter an-
den zwei Wochen vor Weihnachten vertrie- Spanien derem mit Blick auf Syrien sagte sie laut
ben. Am 10. Januar läuft eine Resolution Teilnehmern, man könne nicht wollen,
9000
des Uno-Sicherheitsrates aus, die Hilfslie- dass jemand wie Russlands Präsident
Dez. 19
ferungen nach Syrien ermöglicht. Russland Putin Einfluss auf Flüchtlingsbewegungen
7410
und China blockieren eine Verlängerung 6000 nach Europa bekomme. Das klingt fast
der Mission. Hunderttausenden Syrern wie eine Rechtfertigung für Gespräche mit
bleibt nur der Weg in Richtung Türkei. Erdoğan.
Das Drama um Idlib bringt nun auch 3000 Die Europäer sind gegenüber Ankara
das ohnehin fragile Arrangement ins Wan- 2744 in einer schwachen Verhandlungsposition.
ken, auf das sich die Türkei und die EU in Italien Die EU-Staaten haben es bis heute nicht
580
der Migrationspolitik geeinigt haben. Der fertiggebracht, in Europa ein einheitliches
türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Jan. 2018 Jan. 2019 Asylsystem zu etablieren. So kann selbst
hält die Flüchtlinge durch eine Mauer von Quelle: UNHCR ein moderater Anstieg der Flüchtlings-

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ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES

Staatschef Erdoǧan auf einer Parteiveranstaltung in Ankara: »Europa wird die negativen Folgen zu spüren bekommen«

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Ausland

zahlen etwa in Griechenland eine huma- den Inseln überfordert. Erdoğan, so formu- deten 2018 acht von zehn Befragten, An-
nitäre Krise auslösen. liert es ein deutscher Diplomat, setze den kara gebe zu viel Geld für Geflüchtete aus.
Wie schlimm es um die Flüchtlingsver- Grenzschutz inzwischen »wie einen Laut- In mehreren türkischen Städten kam es zu
sorgung bestellt ist, zeigt sich in diesen Ta- stärkeregler« ein. Er dreht ihn hoch oder Angriffen auf Syrer, Rassisten schlugen die
gen auf der griechischen Insel Samos. 7500 runter – je nach politischem Interesse. Schaufenster syrischer Geschäfte ein.
Asylbewerber hausen hier an einem Berg- Für Merkel ist der Umgang mit dem tür- Ibrahim Abdullah will inzwischen nur
hang. Röcheln und Husten dringt aus den kischen Präsidenten ein Balanceakt. Sie noch weg. Sein Ziel: über die griechischen
Zelten. Das Regenwasser läuft zwischen weiß, dass sie auf Erdoğan angewiesen ist. Inseln nach Europa. Abdullah, der seinen
die Plastikplanen, macht die Menschen Gleichzeitig darf sie nicht erpressbar er- echten Namen nicht nennen will, floh 2016
krank, lässt sie frieren. Immer wieder bre- scheinen. mit drei Kindern und seiner Frau aus Alep-
chen mitten im Lager Brände aus. Der CSU-Mann Manfred Weber, Frak- po. In Istanbul fand er eine Arbeit als De-
Auf dem griechischen Festland ist die tionschef der Europäischen Volkspartei im korateur. Weil seine Familie sich aber in
Lage nicht viel besser. Seit Monaten bringt EU-Parlament, gibt vor Merkels Türkei- Ankara zuerst bei den Behörden registriert
die griechische Regierung Flüchtlinge in Besuch schon einmal den Ton vor. »Das hatte, wurde sie zurück in die Hauptstadt
Hotels unter, weil die regulären Lager Flüchtlingsabkommen ist in unserem Inte- geschafft. Dort hat Abdullah noch keinen
überbelegt sind. resse, aber erpressen lassen wir uns nicht«, neuen Job. In der neuen Schule würden
Dabei hatte die EU Zeit, die Zustände sagt er. »Wer keine vertrauensvolle Zusam- seine Kinder geschlagen, erzählt er. Der
in Griechenland zu verbessern. 2017 er- menarbeit praktiziert, der kann auch nicht zunehmende Rassismus verbaue ihnen die
reichten in den ersten sechs Monaten nicht dauerhaft die wirtschaftlichen Privilegien Zukunft.
mal zehntausend Asylbewerber die Inseln. behalten.« Kanzlerin Merkel muss das Kunststück
vollbringen, den Flüchtlingsdeal zu retten,
obwohl die zentrale Prämisse des Abkom-
mens kaum noch haltbar erscheint. Die Tür-
kei ist für viele Migranten schon lange kein
sicherer Staat mehr. Über eine halbe Mil-
lion Syrer sollen laut türkischem Verteidi-
gungsministerium bereits freiwillig in ihre
Heimat zurückgekehrt sein. Nach Angaben
syrischer Oppositioneller soll die Türkei
aber auch mehrere Tausend Flüchtlinge ins
Kriegsgebiet nach Idlib deportiert haben.
Sollte der Deal scheitern, befürchtet der
Erfinder des Abkommens, der österrei-
chische Politikberater Gerald Knaus, im
GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL

Frühjahr ein »Festival für Populisten«.


»Dann haben wir bald noch mehr Zäune
auf dem Balkan.«
Thomas Gammeltoft-Hansen, Migra-
tionsforscher an der Universität Kopenha-
gen, hält eine neue, große Fluchtbewegung
für durchaus realistisch. »Abkommen mit
autokratisch regierten Staaten haben meist
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Samos: »Festival für Populisten« nur eine begrenzte Lebenszeit«, sagt er.
Nach ein paar Jahren, so Gammeltoft-Han-
sen, änderten sich die politischen Bedin-
Weder die griechischen Behörden noch die Weber hat vor allem die Zollunion im gungen im Aufnahmeland, oder es kämen
EU-Kommission hielten es für nötig, eine Blick. Von der profitiere die Türkei enorm. doch mehr Flüchtlinge als erwartet – dann
belastbare Infrastruktur für Schutzsuchen- Im Gegenzug könne man ein partner- würden solche Deals regelmäßig platzen
de aufzubauen. Zugleich lässt Griechen- schaftliches Verhalten erwarten. Das Geld oder müssten nachverhandelt werden.
land Flüchtlinge, anders als 2015, nicht für Flüchtlinge sei zwar gut investiert, eine In Idlib fühlen sich die Menschen im
mehr weiterreisen. Auf Druck der EU Verlängerung der Zahlungen hänge aber Stich gelassen. »Wir sind Opfer eines inter-
haben die Behörden die Grenze zu Nord- vom zukünftigen Verhalten der Türkei ab. nationalen Spiels«, sagt Yaman al-Hammo.
mazedonien geschlossen. Die meisten »Drohungen sind der falsche Weg.« In der Grenzstadt Darkusch hat er eine
griechischen Bürger sind laut Umfragen Auch in Griechenland sieht man das so. Wohnung gemietet. Lange will er in dem
besorgt, dass die Flüchtlingskrise außer Die Türkei benutze die Migranten als Ort nicht bleiben. Die Lage sei zu instabil,
Kontrolle gerät. Knapp drei Viertel aller Druckmittel in der Außenpolitik, sagt sagt er. Nachts kann er die Lichter der Tür-
Griechen halten die Migration inzwischen Miltiadis Varvitsiotis, der griechische Vize- kei sehen.
für das drängendste Problem des Landes. außenminister. Europa dürfe nicht mal den Einen Menschenschmuggler habe er
In Ankara ist man sich der Notlage der Anschein erwecken, Erdoğans Drohungen schon kontaktiert, sagt Hammo. Von
Europäer bewusst. Erdoğan ist ein Meister zu fürchten. Freunden, die es in die Türkei geschafft
darin, Schwächen seiner Gegner für sich zu Die türkisch-europäischen Verhandlun- haben, hat er gehört, dass die türkische
nutzen. Er muss Flüchtlinge nicht in Bussen gen werden zudem dadurch erschwert, Armee an der Grenze scharf schieße. Die-
an der Grenze abladen, wie er das einmal dass Erdoğan innenpolitisch stark unter ses Risiko, sagt der Familienvater, müsse
angedroht hat. Es genügt, dass die türkische Druck steht. Viele Türken würden die er wohl eingehen, trotz der Kinder.
Küstenwache ihre Kontrollen lockert, denn Flüchtlinge am liebsten wieder loswerden. Melanie Amann, Giorgos Christides, Steffen
Griechenland ist bereits mit der Ankunft Gegenüber Forschern der US-Denkfabrik Lüdke, Peter Müller, Maximilian Popp
weniger Tausend Flüchtlinge pro Monat auf Center for American Progress beanstan-

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Ein zweites
Syrien
Libyen Der Westen hat in dem
Bürgerkriegsland ein
Vakuum hinterlassen, das nun
andere Mächte füllen – allen

ESAM OMRAN AL-FETORI / REUTERS


voran Russland und die Türkei.

S
ie haben in Syrien gegen Diktator
Baschar al-Assad gekämpft und
gegen die Kurden. Nun sollen sie
sich in Libyen verdingen – offen-
bar im Auftrag des türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan: Mitglieder der Panzer der Libyschen Nationalen Armee in Bengasi: Internationaler Stellvertreterkrieg
Freien Syrischen Armee (FSA). Ein Video
zeigt die Männer, wie sie durch die liby-
sche Hauptstadt Tripolis ziehen. Rom steht fest zu Sarraj, Frankreichs Prä- Auch der türkische Präsident verfolgt
Libysche Offizielle bestätigten dem sident Emmanuel Macron hingegen koope- geostrategische Interessen. Libyen gehörte
SPIEGEL, dass mehrere Flugzeuge mit ehe- riert mit Haftar. Der Westen hat in Libyen bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs
maligen FSA-Kämpfern aus der Türkei in ein Vakuum hinterlassen, das nun andere zum Osmanischen Reich. Erdoğan betrach-
Libyen gelandet seien. Die Syrische Beob- Kräfte füllen – allen voran Russland und tet das Land bis heute als Teil seines Ein-
achtungsstelle für Menschenrechte berich- die Türkei. flussgebiets. Sarraj soll zudem wie Er-
tet, protürkische Milizen hätten im Norden Russlands Präsident Wladimir Putin hat doğan den Muslimbrüdern nahestehen.
Syriens ein Rekrutierungsbüro für den Ein- bislang noch keine offiziellen Truppen Der jüngste Vorstoß der Türkei hat des-
satz in Libyen eröffnet. Die Türkei soll nach Libyen geschickt. Söldner der Wag- halb vor allem die Regierung in Kairo alar-
Söldnern bis zu 2000 Dollar im Monat ner-Gruppe, einer privaten russischen miert, die die Muslimbrüder als Staatsfein-
zahlen, damit sie die Regierung von Liby- Sicherheitsfirma mit engen Beziehungen de betrachtet. Ägyptens Autokrat Abdel
ens Premier Fayez Sarraj im Kampf gegen in den Kreml, kämpfen jedoch an der Seite Fattah el-Sisi berief am Silvestertag die
den Warlord Khalifa Haftar unterstützen. der LNA. Auch Militärlieferungen, Waffen Arabische Liga in Kairo ein.
Der Libyenkonflikt weitet sich zu einem und Munition, soll Haftar aus Moskau Erdoğan zeigt sich davon unbeein-
internationalen Stellvertreterkrieg aus: erhalten haben. Sollte Putin Haftar zum druckt. Türkische Firmen haben in Libyen
Während die Vereinten Nationen Sarraj Sieg verhelfen, hätte er nach Assad in milliardenschwere Aufträge abgeschlossen.
als rechtmäßigen Regierungschef aner- Syrien einen zweiten kremlhörigen Staats- Im November verständigten sich Erdoğan
kennen und er außer von der Türkei auch chef in einem Schlüsselland installiert. und Sarraj zudem über die Ausbeutung
von Katar gestützt wird, haben sich Russ- Moskau hätte dann Einfluss darauf, wie der Gasvorkommen vor Griechenland und
land, Ägypten, Jordanien, die Vereinigten viele Migranten sich auf den Weg nach Zypern. Sollte Haftar in Libyen vollständig
Arabischen Emirate und Saudi-Arabien Europa machen. die Macht übernehmen, wäre das Über-
auf die Seite Haftars geschlagen. einkommen nichtig.
Haftar, in dessen Reihen auch Söldner 500 km Schon jetzt liefert die Türkei trotz eines
aus afrikanischen Nachbarstaaten kämp- Tripolis internationalen Embargos Waffen an das
fen sollen, ist von der Großstadt Bengasi Bengasi Tobruk Sarraj-Regime. Libysche Soldaten werden
im Osten Libyens immer weiter in den in türkischen Krankenhäusern behandelt.
Westen des ölreichen Landes vorgerückt. Nun bereitet sich Ankara darauf vor, selbst
Seit April belagert seine Libysche Natio- Militär in das Bürgerkriegsland zu schi-
nale Armee (LNA) Tripolis. Beobachter cken. Am Donnerstagabend billigte das
LIBYEN
rechnen damit, dass die Entscheidungs- Parlament einen entsprechenden Einsatz.
schlacht um die Hauptstadt unmittelbar In Libyen könnten sich schon bald tür-
bevorsteht. kische und russische Kämpfer auf dem
Hunderttausende Migranten gelangten Schlachtfeld gegenüberstehen, und das, ob-
in den vergangenen Jahren über Libyen wohl sich beide Länder angenähert haben.
nach Italien und Malta. Trotzdem haben Deutschland versucht, eine politische
die Europäer – wie auch die Amerikaner – Gebiete unter Kontrolle von Lösung für den Libyenkonflikt zu finden.
das Land nach dem Sturz von Diktator Die Bundesregierung lädt Vertreter der
international anerkannter Einheitsregierung
Muammar al-Gaddafi 2011 sich selbst (unterstützt von Türkei, Katar, Italien u.a.) Kriegsparteien im Januar nach Berlin. Es
überlassen und lediglich Milizen Geld be- Haftars Libyscher Nationaler Armee (LNA) sieht nur so aus, als kämen ihre Bemühun-
zahlt, damit sie Migranten an der Flucht (unterstützt von Ägypten, Vereinigten Arabischen Emiraten, gen wieder einmal zu spät. Libyen ist da-
Russland, Frankreich u. a.)
übers Mittelmeer hindern. Insbesondere bei, ein zweites Syrien zu werden.
die beiden ehemaligen Kolonialmächte anderen Milizen/Stammesgebiete
Mirco Keilberth, Dominik Peters,
Italien und Frankreich können sich auf dem »Islamischen Staat«
Maximilian Popp
Quelle: Risk Intelligence (Stand: 23. Dezember 2019)
keine Strategie einigen. Die Regierung in

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Ausland

SAEED KHAN / AFP


Brandbekämpfer im Bundesstaat New South Wales: Wie in einem Katastrophenfilm

Im Inferno
Australien Das Ausmaß der verheerenden Buschfeuer ist auch eine Folge des Klimawandels. Die
Regierung verharmlost das Desaster, denn das Land ist einer der größten Kohleexporteure.

S
cott Morrison war jenseits der Inzwischen ist Scott Morrison Austra- den Richtungen machen eine effektive
australischen Grenzen noch weit- liens Premierminister, seit der Unterhaus- Brandbekämpfung extrem schwierig. Es
gehend unbekannt, als er eine Lie- wahl im Mai führt er die Regierungskoali- sind apokalyptische Bilder, die aus den Ka-
beserklärung an einen Brocken tion aus Liberalen und der Nationalen Par- tastrophengebieten kommen. Kinder spie-
Steinkohle abgab. Es war vor knapp drei tei an. Seine Zuneigung zur Kohle ist ge- len mit Staubmasken vor einer Kulisse aus
Jahren, Morrison arbeitete als Schatzkanz- blieben – trotz des Klimawandels, trotz Feuer und Rauch, Häuser sind zu verkohl-
ler, da hob er im Parlament zu einer Wut- der steigenden Temperaturen in Austra- ten Gerippen mutiert, vor Tankstellen bil-
rede an. Australien verdanke seinen Wohl- lien, trotz der Buschfeuer, die derzeit im den sich Schlangen von Autofahrern, die
stand der Kohle, rief Morrison in den Saal. Süden und Osten des Kontinents lodern dem Inferno zu entkommen versuchen.
Die Opposition verbreite eine »pathologi- und den Himmel über Sydney und ande- Schon jetzt sind die Buschfeuer flächen-
sche, ideologische Angst« vor dem Roh- ren Küstenstädten orangerot färben wie mäßig wesentlich größer als die Brände in
stoff. Den Kohleklumpen hielt er dabei in einem Katastrophenfilm. Brasilien voriges Jahr und in Kalifornien.
wie eine Waffe. Die Requisite glänzte in Rund 140 Brände wüten allein in den Bislang ist eine Fläche so groß wie Belgien
seiner Hand, denn sie war chemisch ver- beiden Bundesstaaten New South Wales und Luxemburg betroffen. Selbst im be-
siegelt worden, damit Morrison sich dabei und Victoria, Temperaturen von mehr als nachbarten Neuseeland verfärbt sich der
nicht schmutzig machte. 40 Grad und starke Winde aus wechseln- Himmel, weil der Rauch aus Australien

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rund 2000 Kilometer weit über den Pazi- denkbar ungünstigen Zeitpunkt. China zur Kohle haben, muss man sich anschau-
fischen Ozean gezogen ist. Die Rauchwol- versucht gerade, von Kohleimporten we- en, wie die Bergbauinteressen mit den na-
ken verursachen inzwischen ihre eigenen niger abhängig zu werden, was wiederum tionalen Interessen verwoben sind. Zum
Wetterphänomene, die die Lage für die Australien unter Druck setzt. Denn schon einen wechseln Politiker schon mal nach
Einsatzkräfte unberechenbar machen. Ein jetzt ist die australische Wirtschaft eine dem Ausscheiden aus dem Amt in die
Feuerwehrmann kam ums Leben, als ein der unausgeglichensten unter den Indus- Kohlebranche. Zum anderen ist es die Gier
Löschfahrzeug im Südosten Australiens trienationen. nach mehr. Der Anteil Australiens am
von einem sogenannten Feuertornado aufs Forscher der Harvard Kennedy School Weltmarkt für gehandelte Kohle ist größer
Dach geworfen wurde. Die Behörden ge- reihten den Kontinent 2019 auf einer Skala als der Anteil Saudi-Arabiens am Weltöl-
hen von mindestens 18 Todesopfern durch der ökonomischen Entwicklung weit hin- markt. Das Land hat das Potenzial, diesen
die Flammen aus. ten ein, da das Land viel Geld mit dem Anteil zu verdoppeln.
Nun gehören Waldbrände zum austra- Export von Kohle, Eisenerz und Gas ver- Die Buschfeuer haben aus Australien ei-
lischen Sommer dazu, in jedem Jahr ste- dient – für die zehntreichste Nation der nen schizophrenen Staat gemacht. Einer-
hen zwischen Ende Dezember und März Erde eine erstaunlich unterkomplexe Mi- seits kann man die verstärkende Wirkung
große Buschgebiete in Flammen. Darauf schung, vergleichbar mit dem Exportprofil des Klimawandels auf regionale Phänome-
beruft sich bisher auch die Regierung. Was von Angola. Das ist sowohl klima- als auch ne an kaum einem Ort besser beobachten
gerade in Australien passiere, sei zwar tra- wirtschaftspolitisch riskant. als hier; selbst Klimaskeptiker können das
gisch, so der Tenor aus der Hauptstadt Australien gehört zu den weltgrößten nicht mehr beiseitewischen. Andererseits
Canberra. Aber eben normal. Exporteuren von Stein- und Braunkohle, kann das Land nicht auf die Förderung kli-
So klang es ebenfalls in der Neujahrs- die Hauptabnehmer sind Japan, China, maschädlicher Rohstoffe verzichten, wenn
ansprache des Regierungschefs. Frühere Südkorea, Indien, auch in deutschen Kraft- es das Fundament der eigenen Wirtschaft
Generationen seien ebenfalls mit »Natur- werken wird ein Teil der Kohle verfeuert. nicht zerstören will. Und so bleibt die Re-
katastrophen, Überschwemmungen, Brän- Zuletzt nahm der Staat mit der Ausfuhr gierung auch weiterhin bei dem Argument,
den, globalen Konflikten, Krankheit und von Energieträgern rund 280 Milliarden dass man die Kohle schließlich nur expor-
Dürre« fertig geworden, sagte Premier australische Dollar ein, ohne seine Roh- tiere – und nicht bestimme, was damit pas-
Morrison. »Das ist der Geist der Austra- stoffe wäre Australien wenig mehr als eine siere.
lier, das ist der Geist, den wir heute sehen Agrarnation mit bezaubernden Stränden. Die Opposition fordert daher Kon-
und den wir als Australier feiern können.« Für Scott Morrison sind die Brände daher sequenzen. So regt der Vorsitzende der
Eine Verbindung zur Klimakrise zog er in eine Naturkatastrophe, die es zu bewälti- Australian Greens, Richard Di Natale, an,
der Videobotschaft an seine Landsleute gen gilt, nicht mehr. eine sogenannte Royal Commission einzu-
nicht. Um zu verstehen, warum seine Regie- richten. Eine solche groß angelegte öffent-
Während die Opposition fordert, die Re- rung und bedeutende Teile der Bevölke- liche Untersuchung könnte für die Regie-
gierung müsse ihre Klimapolitik ändern, rung eine derart emotionale Verbindung rung heikel werden. »Morrison gefährdet
gibt sich der Premierminister davon über- das Leben von Australiern, indem er hart-
zeugt, dass er genug tue. Auf einer Pres- 500 km
näckig leugnet, was wir seit Jahrzehnten
sekonferenz am Donnerstag in Sydney Verbranntes Land wissen: Die Nutzung fossiler Brennstoffe
sagte Morrison, die Buschfeuer ließen sich steigert das Risiko für häufigere und schwe-
nicht zwangsläufig auf den Klimawandel rere Waldbrände«, so Di Natale.
zurückführen. Und überhaupt: Australien Auch die Umfragewerte dürften zum
halte sich vorbildlich an die Vorgaben zur Problem werden. Nach einer Erhebung
Emissionsreduzierung. sind Umweltthemen für die Australier fast
Auch wenn Buschfeuer auf dem Konti- ebenso wichtig wie das Gesundheitssys-
nent in dieser Jahreszeit nicht ungewöhn- AUSTRALIEN tem und die Wirtschaft. Und das war vor
lich sind – noch nie kamen so verheerende den Bränden. Im November sagten 60 Pro-
Brände derart früh, waren die Bedingun- zent der durch den britischen »Guardian«
gen so extrem. Und das hat natürlich auch NEW SOUTH befragten Australier, dass ihr Land mehr
WALES
mit dem Klimawandel zu tun, selbst wenn für den Klimaschutz tun müsse – ein deut-
die Regierung es wegwischt. Die Durch- Canberra liches Plus.
schnittstemperatur Australiens liegt inzwi- VICTORIA Sydney Mögliche Verschärfungen der Klima-
Brände seit
schen um ein Grad Celsius über dem lang- 1. Oktober 2019 ziele seines Landes hatte Morrison jedoch
jährigen Mittel. Neun der zehn heißesten schon vor Weihnachten abgelehnt. »Wir
Quelle: Nasa, Stand: 2. Januar
Jahre, die Australien durchlitt, fanden seit werden uns nicht auf unbesonnene Ziele
2005 statt. einlassen und unsere traditionellen Indus-
Der Frühling war in großen Teilen des triebranchen aufgeben, wodurch austra-
Kontinents der trockenste und einer der lische Arbeitsplätze gefährdet würden, ob-
wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. wohl die Ziele keinen bedeutsamen Ein-
Die Hitze und die Dürre, verbunden mit fluss auf das globale Klima haben«, schrieb
starken Westwinden, die heiße Luft aus er in einem Zeitungsbeitrag. Was er mit
dem Landesinnern an die Küstenorte »traditionelle Industrien« meint, ist klar:
WOLTER PEETERS / IMAGO

transportieren, führen dazu, dass die Feuer den Kohlesektor.


mehr Nahrung finden und sich rascher aus- Doch es wird dem Premier immer
breiten als in vergangenen Jahren. schwerer fallen, seinen Kurs durchzuhal-
Für die Regierung in Canberra kommt ten. Fürs Wochenende sind wieder Höchst-
die Debatte um die Klimapolitik zu einem temperaturen von 35 Grad und mehr an-
gekündigt. Australien wird weiter brennen.
* Im Helikopter über Brandgebiet in den Blue Moun- Premierminister Morrison* Johannes Korge, Katherine Rydlink
tains bei Sydney. Die Gier nach mehr

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Thronfolger Mohammed bin Salman: »Ich bin nicht Gandhi oder Mandela, ich bin ein Mitglied der Herrscherfamilie«

Ausland

Der Falke des Königs


Saudi-Arabien Kronprinz Mohammed bin Salman könnte als großer Reformer in die Geschichte
eingehen. Doch er ist umgeben von Kritikern und Feinden, auch aus der eigenen Familie.

A
ls Norah O’Donnell dem Kron- hof in Dschidda. Mohammed bin Salman einer der Führer in Saudi-Arabien, insbe-
prinzen die Frage stellt, die über schüttelt den Kopf, als wäre bereits die sondere weil es von Mitgliedern der sau-
sein Ansehen in der Welt ent- Idee, er habe einen Journalisten ermorden dischen Regierung verübt wurde.« Es
scheidet, vielleicht auch über lassen, so abwegig, dass sich die Frage von klingt, als hätten Juristen nächtelang an
seine Zukunft, blickt sie ihm direkt ins selbst beantwortet. »Auf keinen Fall!«, ant- einer Erklärung gefeilt, die Tat zwar ein-
Gesicht: »Haben Sie den Mord an Jamal wortet er. »Das war ein verabscheuungs- zuräumen, eine persönliche Schuld aber
Khashoggi befohlen?«, fragt die Modera- würdiges Verbrechen.« auszuschließen.
RYAD KRAMDI / AFP

torin des US-Senders CBS. Er habe keine Ahnung von dem Plan Es ist das erste Mal seit Khashoggis Tod,
Der Kronprinz ist ein großer, kräftiger gehabt, Khashoggi im saudi-arabischen dass sich der Thronfolger vor laufender
Mann, 34 Jahre alt. Es ist Ende September Konsulat in Istanbul zu töten. »Aber ich Kamera zu den Vorwürfen äußert. Bereits
2019, er sitzt in einem Zimmer am Königs- übernehme die volle Verantwortung als im November 2018 kam der US-Auslands-

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geheimdienst CIA zu dem Schluss, dass Der König erbte ein Staatsdefizit von rund befiehlt und der im Jemen für ein Gemet-
der junge Herrscher »mit mittlerer bis ho- 100 Milliarden Dollar. Heute liegt der zel mitverantwortlich ist, wirklich für eine
her Gewissheit« den Mord selbst befohlen Ölpreis bei rund 65 Dollar pro Fass. Aus Hoffnung auf Wandel stehen?
hat. In einem Uno-Bericht vom Juni 2019 Sicht Riads ist das noch zu niedrig. Sämtliche Entscheidungsstränge des
zum Mordfall heißt es, »glaubhafte Bewei- Saudi-Arabien steht wirtschaftlich an ei- Landes laufen heute bei Prinz Mohammed
se« rechtfertigten weitere Untersuchungen nem prekären Punkt. Das Land muss um- zusammen. Im Sommer regieren sein Va-
gegen Mohammed bin Salman. Doch mit gekrempelt werden, weg vom Öl, auf das ter und er aus dem Salam-Palast in Dschid-
dem Interview hoffen der Prinz und seine sich die Herrscher bisher stützen. Weg von da. Wegen der Hitze wird bevorzugt
Strategen in Riad, die westliche Welt wie- der Abschottung. nachts gearbeitet.
der einwickeln zu können. Im Dezember Westliche Sicherheitsexperten wie der Es ist morgens 1.10 Uhr, als unser Wa-
wurden fünf Menschen wegen des Mordes ehemalige BND-Chef August Hanning sa- gen das erste Tor des königlichen Hofs pas-
an Khashoggi von einem saudi-arabischen gen, man müsse Saudi-Arabien bei diesem siert. Neonstrahler an der Wache, strenges
Gericht zum Tode verurteilt. Umbau helfen. Hanning warnt davor, das Protokoll, Sprengstoffhunde an einer wei-
Mohammed bin Salman, oft MbS ge- Machtgefüge im Wüstenreich an westli- teren Schranke. Dann öffnet sich ein ele-
nannt, braucht dringend gute Nachrichten, chen Maßstäben zu messen. Am Ende ganter Komplex von Parkanlangen mit
und er braucht Verbündete. Nicht nur we- gehe es in dieser Gesellschaft, die sich im Buchsbäumen, Palmen, hellen Marmorge-
gen des Aufschreis nach dem Khashoggi- Spannungsfeld zwischen Stammestraditio- bäuden. Es ist eine kleine Stadt, umgeben
Mord. Im Jemen führt er seit fast fünf nen und Hightech befinde, eben »nicht um von einem schmiedeeisernen Zaun, um-
Jahren einen nicht endenden Krieg. Zehn- Partizipation, sondern um Dominanz«. spült vom Roten Meer.
tausende tote Zivilisten und Kinder, die Um sich zu behaupten, müsse der Stärkere Am Ende einer Steintreppe öffnet sich
an Hunger sterben, sind die Folge. Und er seine Konkurrenten unterwerfen. der Eingang zu einem Büro. Ein drahtiger
muss sich gegen den Erzfeind Iran be- Mohammed bin Salman wollte die Licht- Mann betritt den Konferenzsaal und sinkt
haupten, der im September mutmaßlich gestalt sein, die diesen Prozess in Gang in einen cognacfarbenen Ledersessel. Ah-
mit Raketen und Drohnen saudi-arabische setzt. Er beschnitt die Macht der Islamis- mad al-Khatib ist eigentlich Banker. Er hat
Ölanlagen attackierte und damit zwischen- ten, gestattete Frauen das Autofahren, ließ mal in Kanada studiert. Jetzt gehört er zu
zeitlich 50 Prozent der Ölproduktion des Kinos wiedereröffnen, nach 35 Jahren den engsten Beratern des Kronprinzen.
Landes lahmlegte. Ist es schwierig, mit einem so jungen, so
Dazu kämpft MbS mit inneren Wider- selbstbewussten Prinzen zusammenzuar-
sachern, volatilen Rohstoffpreisen und der Der BND stützt seine beiten, der als impulsiv beschrieben wird?
Jugend in seinem Land, die sich nach Auf- Kenntnisse über Khatib winkt energisch ab: »Diese Außen-
bruch sehnt. Mehr als die Hälfte der Sau- wahrnehmung ist völlig falsch.« Der Prinz
di-Araber ist unter 30. MbS auf eine deutsche sei »fair« und »klug«, »sehr unterstützend«.
Der Zeitpunkt für das Interview war Krankenakte. Khatib ist 54, glatt rasiert, er trägt die
zeitlich präzise gesetzt, zumal vier Wochen rot-weiße Ghutra auf dem Kopf und den
später die »Future Investment Initiative« weißen Thaub. Die Füße stecken in gelben
stattfand, eine wichtige Investorenkon- Verbot, und er gewährte der Jugend lange Kamelledersandalen.
ferenz in Riad. Die internationale Empö- ersehnte Freiheiten. Es gibt jetzt Musik- Khatib leitet die Behörde für Tourismus
rung wegen des damals gerade erst ge- festivals, bald soll am Roten Meer eine ein- und Nationales Erbe, er ist Vorstandsvor-
schehenen Mordes an Khashoggi hatte zigartige Zukunftsstadt entstehen, Neom, sitzender des staatseigenen Rüstungsun-
im vorvergangenen Jahr viele Wirtschafts- mit fliegenden Taxis und den höchsten Ge- ternehmens, das das Königreich unabhän-
führer fernbleiben lassen. 2019 aber sind sundheitsstandards. gig machen soll von Waffenimporten. Und
die meisten Entscheider wieder da: der Der Westen empfing diesen jungen Prin- er berät den Kronprinzen, der zugleich
indische Regierungschef Narendra Modi zen euphorisch auf der Weltbühne. Von Verteidigungsminister ist, bei Militär- und
und die Geschäftsführer von Firmen wie dem jungen De-facto-Herrscher gehe der Wirtschaftsfragen. Es gibt wenig, über das
Blackstone, Blackrock und Siemens. »entscheidendste Reformprozess des Na- Khatib nicht im Bilde ist.
Die Schamfrist galt ziemlich genau ein hen Ostens« aus, schrieb der einflussreiche Khatib müsste also eigentlich über alles
Jahr – ein Indiz dafür, dass die Welt wohl »New York Times«-Kolumnist Thomas L. Auskunft geben können, auch über Kha-
bereit ist, den Mordverdacht gegen den Friedman 2017, nachdem er eine halbe shoggi, den Jemenkrieg, den Konflikt mit
Prinzen unter den Tisch fallen zu lassen. Nacht mit Prinz Mohammed bin Salman Iran, die Gefangenen im Ritz. Doch darü-
Die Interessen gegenüber dem einflussrei- zusammengesessen hatte. ber möchte er gar nicht sprechen.
chen Wüstenstaat scheinen den meisten Zugleich mehrten sich aber schon damals Ein Bediensteter bringt schwarzen Tee
einfach zu groß. die Indizien, dass da ein Mann an die Macht mit frischer Minze. »Warum blickt die in-
Mohammed bin Salman steht so oder strebte, der mit Kontrahenten wenig zim- ternationale Gemeinschaft nur auf die Feh-
so vor einer gigantischen Aufgabe. Wenn perlich umgeht. Im November 2017 ließ ler, nicht auf die Dinge, auf die wir hier
Saudi-Arabien bestehen will, muss es sich MbS in einem Putsch von oben Hunderte stolz sind?«, fragt Khatib. Er wirkt jetzt
von Grund auf ändern. Es braucht Han- der einflussreichsten Geschäftsleute und etwas gereizt.
delsbeziehungen in alle Teile der Erde, es Prinzen des Landes einsperren, die meisten »Sehen Sie die gesellschaftlichen Verän-
braucht kluge Köpfe, dazu Weltoffenheit im Luxushotel Ritz-Carlton in Riad. Ziel derungen, die Konzerte, die Lockerung
und einen moderaten Islam. Der junge der Aktion, die offiziell als Antikorrup- des Vormundschaftssystems, der Touris-
Kronprinz war immerhin der Politiker, der tionsrazzia deklariert wurde, war es, der mus.« Der Kronprinz bringe »Stabilität«
begriff, dass keine Zeit zu verschwenden alten Elite die Macht zu entziehen. in die Region. »Prinz Mohammed bin Sal-
ist für Reformen, und der auch den Mut MbS presste seinen wohlhabenden Häft- man ist ein starker Führer, ein Visionär.
hatte, sie anzugehen. lingen große Teile ihres Vermögens ab, Warum seid ihr nicht glücklich?«
Als König Salman, der Vater von MbS, zum Teil mit Gewalt. Einer der Verhafte- Welche Schwächen hat der Kronprinz?
2015 die Macht übernahm, war der Preis ten überlebte die Verhöre nicht. »Keine«, antwortet Khatib.
für Rohöl ins Bodenlose gefallen, von Kann ein Mann, der Kritiker derart kalt- Mohammed bin Salman wuchs im Pa-
125 Dollar pro Fass auf nur noch 40 Dollar. stellt, der mutmaßlich Morde im Ausland last seines Vaters auf, des früheren Gou-

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Ausland

BANDAR AL-JALOUD / AFP


Kronprinz Mohammed mit New Yorks Ex-Bürgermeister Bloomberg (2. v. r.), mit CBS-Moderatorin O’Donnell, König Salman: Wenn sich der

verneurs von Riad. Der Vater hatte er- Über den aufstrebenden Mohammed Prinz Mohammed war als Jugendlicher
wachsene Kinder aus erster Ehe, entwi- bin Salman erzählen Diplomaten gern die einmal zur ärztlichen Untersuchung nach
ckelte aber eine besondere Beziehung zum Patronengeschichte. Darin wird eher das Deutschland geschickt worden, wegen des
ersten Sohn seiner damals neuen Frau, Bild eines Halbstarken gezeichnet. Verdachts auf Epilepsie. Ein BND-Mann,
Fahda. Nach seinem Jurastudium wollte der der mit dem Fall zu tun hatte, sagt, der
MbS war ein Junge mit schwarzen Lo- damalige Gouverneurssohn für den Ab- Kronprinz sei nicht »krank« gewesen. Die
cken und einem gewinnenden Lachen, schluss eines Geschäfts einen Vertrag rati- medizinischen Unterlagen hätten jedoch
selbstbewusst bis vorlaut. Seinen Englisch- fizieren lassen. Dafür benötigte er die Un- dabei geholfen, seine Persönlichkeitsstruk-
lehrer zog er vor der Klasse so auf, dass terschrift eines Richters. Es gab jedoch ein tur besser zu verstehen.
dieser sich außerstande sah, den Unter- Problem mit dem Vertrag, und der Richter Danach wuchs der Junge mit ausländi-
richt fortzuführen. Doch der Vater ließ lehnte es ab zu unterschreiben. schen Dienstboten auf, für die er »keinerlei
ihm mehr durchgehen als seinen übrigen MbS zog daraufhin eine Patronenhülse Respekt« gezeigt habe. Ihm seien kaum
zwölf Söhnen und Töchtern. aus seiner Tasche, legte sie auf den Tisch Grenzen gesetzt worden: »Mohammed
Schon als Teenager wurde Mohammed und forderte den Staatsbediensteten auf, bin Salman erfuhr nie die Konsequenzen
seines Vaters ständiger Begleiter. Er mach- die Unterschrift zu leisten. Der Richter be- seines Handelns«, sagt ein ehemaliger
te sich Notizen wie ein Adjutant und flüs- BND-Mann.
terte seinem Vater Ideen zu. Freunde, die sich in der Vergangenheit
Ganz selbstverständlich lernte der jun- Seit der Nacht der langen beim Vater über Prinz Mohammeds Do-
ge Prinz so den Maschinenraum des Messer fürchtet der minanz beklagten, ließ Salman wissen, die-
Königreichs von innen kennen, den Um- ser Sohn erinnere ihn an den eigenen Vater,
gang mit Politikern, Aristokraten, Ge- Kronprinz Rache aus Ibn Saud, den mutigen Gründer des Kö-
schäftsleuten. Was er nicht lernte: Kom- den eigenen Reihen. nigreichs: »Er ist mein Falke.«
promissfähigkeit. Wer verstehen will, warum selbst viele
Prinz Mohammed machte einen Bache- aufgeklärte Saudi-Araber gegenüber dem
lor-Abschluss in Rechtswissenschaft an klagte sich beim damaligen König Abdul- Prinzen bedingungslose Loyalität demons-
der King Saud Universität in Riad. Von lah. Dieser verbannte Mohammad bin trieren, muss zurückgehen in die Vergan-
Anfang an aber war der Königssohn von Salman für längere Zeit vom Königshof. genheit. In die Zeit, als Prinz Mohammeds
unermesslichem Reichtum umgeben. Der Nach der Machtübernahme von König Vater noch Gouverneur von Riad war.
Besitz seines Vaters wird auf 17 Milliarden Salman wurden bald ausländische Ge- Prinz Salman war erst 19 Jahre alt,
Dollar geschätzt, das Gesamtvermögen heimdienste auf den jungen Prinzen als er im Jahr 1954 das Amt übernahm.
der Al Sauds auf 1,4 Billionen. aufmerksam, auch der deutsche. Im Damals lebten in der Hauptstadt
2016 kaufte MbS von einem russischen Dezember 2015 schrieb der Bundesnach- noch mehr Kamele als Einwohner. Der
Geschäftsmann spontan eine Jacht für eine richtendienst, die Machtkonzentration Gouverneur machte aus den Lehmsied-
halbe Milliarde Dollar, im Jahr zuvor in auf MbS berge innen- wie außenpolitisch lungen eine Metropole mit Schulen,
Frankreich das Schloss Chateau Louis XIV. eine »latente Gefahr«, auch weil dieser Krankenhäusern, Wolkenkratzern und
für angeblich 300 Millionen Dollar. Ange- eine andere Persönlichkeit besitze als frü- Shoppingmalls, Parks und Villengegen-
sprochen auf seine Ausgaben, sagt der here Regenten und Konflikte offensiv an- den. Heute leben dort mehr als sechs Mil-
Thronfolger in einem TV-Interview, er gehe, gemeint war der Jemenkrieg. Der lionen Menschen.
rede nicht gern über Persönliches: »Ich bin BND stützte seine Erkenntnisse neben Prinz Salman war gefürchtet. Seine
nicht Gandhi oder Mandela, ich bin ein anderen Quellen auf eine deutsche Kran- Freundlichkeit konnte von einer Sekunde
Mitglied der Herrscherfamilie.« kenakte. zur nächsten in Wut umschlagen, erinnert

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ERIC KERCHNER FOR CBS NEWS / 60MINUTES / REUTERS

REUTERS
Thronfolger im Nahen Osten behaupten will, wird er weiterhin die USA brauchen, die alte Schutzmacht der Herrscher von Riad

sich ein saudischer Prinz, der heute in schildert: die Bedrohung durch iranische mit offenen Armen empfangen. Zum Auf-
Deutschland lebt. »Es gab auch Schläge.« Milizen im Jemen, »Wut und Hass« der takt sitzt er neben Trump, lachend, wäh-
Der Gouverneur errichtete einen Staat konservativen Geistlichkeit und der eifer- rend dieser von den milliardenschweren
im Staat. Als Hauptquartier diente sein süchtigen Königsfamilie. Rüstungsdeals mit Riad schwärmt. Er
Büro, inoffiziell als »Ministerium der Al Seit der Nacht der langen Messer, in der trinkt Kaffee mit dem ehemaligen Bürger-
Sauds« bekannt, erzählt der Prinz in sei- MbS den Reichen ihr Geld und ihre Macht meister New Yorks, Michael Bloomberg,
ner Wohnung in Düsseldorf. abnahm, fürchtet der Kronprinz Rache aus speist mit dem Medienmogul Rupert Mur-
50 Jahre lang regelte Gouverneur Sal- den eigenen Reihen. Zwei Anschläge auf doch, plaudert mit Bill Clinton und trifft
man die Angelegenheiten der Al Sauds. sein Leben soll er Gerüchten zufolge be- sich mit Bill Gates und Jeff Bezos.
Wenn die Prinzen einen Palast bauen oder reits überlebt haben. Hanning hält MbS Der Prinz besucht Eliteuniversitäten
heiraten oder Stipendien im Ausland ge- für einen geschickten Machttaktiker. »Ma- und arrangiert Kooperationen, etwa mit
nehmigen lassen wollten, gingen sie zu chiavelli hätte Ähnliches empfohlen.« dem elitären Massachusetts Institute of
Prinz Salman. Niemand wusste deshalb Wenn sich der Thronfolger in diesem Technology in Boston. Mit Unternehmer-
besser Bescheid über Streitigkeiten, Schei- kriegerischen Nahen Osten behaupten ikone Richard Branson plante er sogar,
dungen, über korrupte Geschäfte als dieser, will, wird er weiterhin die USA brauchen, Touristen in den Weltraum zu schießen.
selbst in die Krankenakten nahm Prinz Sal- die alte Schutzmacht der Herrscher von Vermutlich war es dennoch unausweich-
man Einsicht. Dieses Wissen verschaffte Riad. Schon unter Barack Obama hatten lich, dass die Aura des MbS irgendwann
ihm Macht, die sich heute in der Hand des sich die Amerikaner stark von dem alten verblassen würde. Denn der junge Prinz
Thronfolgers befindet. Verbündeten entfernt. Der alte Deal – hat noch eine andere Seite. Seit Jahren
Eigentlich hatte Prinz Mohammed kei- günstiges Öl gegen militärischen Bei- stützt er sich auch auf eine Handvoll am-
nerlei Anspruch auf den Königsthron. Die stand – ist offenbar nicht mehr verlässlich. bitionierter Männer, die durch die Nähe
Krone wird seit dem Tod von Staatsgrün- Die USA haben inzwischen alternative zur Macht selbst mächtig wurden.
der Ibn Saud unter dessen Söhnen weiter- Ölquellen. Einer von ihnen ist Saud al-Qahtani,
gereicht, von einem Bruder zum nächsten. Mohammed bin Salman suchte deshalb Leiter der Medienabteilung am könig-
Mit Kronprinz Mohammed wird nun wohl die Nähe zu einem Mann, der ihm bald lichen Hof. Qahtani ist Jurist und ehema-
erstmals ein Enkel den Thron besteigen. den direkten Draht ins Weiße Haus sichern liger Luftwaffenoffizier, groß und massig.
Um dies möglich zu machen, entmach- sollte: Jared Kushner, dem Schwiegersohn Er wirkt älter als seine 41 Jahre.
tete Salman zunächst den eigentlich de- von US-Präsident Donald Trump und Qahtani arbeitet schon seit 2003 am kö-
signierten Kronprinzen Muqrin, einen Halb- selbst eine Art Kronprinz. Den Kontakt niglichen Hof. Er diente bereits dem alten
bruder und ehemaligen Geheimdienst- hatten gemeinsame Bekannte hergestellt. König Abdullah. Für MbS entwickelte
chef, stattdessen setzte er einen Neffen ein, Der Kronprinz und der Präsidenten- Qahtani ein Netzwerk zur Manipulation
Prinz Mohammed bin Nayef. Doch dann schwiegersohn begannen eine WhatsApp- sozialer Medien. Er stieg damit zur rechten
zwang König Salman in einer Art familiä- Freundschaft. Sie nennen sich beim Vor- Hand des Kronprinzen auf.
rem Putsch auch diesen zum Rücktritt. namen. Beobachter im IT-Bereich schätzen,
Als der ehemalige BND-Chef August Im März 2017 gelingt es Kushner sogar, dass Qahtanis elektronische Armee meh-
Hanning im Dezember 2018 mit einer US- seinen neuen Kumpel MbS spontan ins rere Zehntausend Leute umfasst. Seine In-
Delegation zum saudischen Thronfolger Weiße Haus zu einem Lunch mit Trump ternettrolle verleumden Kritiker, vernich-
ins Königreich reiste, traf er im Palast auf einzuladen. Als MbS kurz darauf zum ten das Ansehen unliebsamer Personen
einen »sehr selbstsicheren Mann, der heu- Kronprinzen gekürt wird und ein Jahr und mehren den Ruhm ihres Herrn. In
te fest im Sattel sitzt«. MbS habe den Be- später zu einer dreiwöchigen Charme- Riad nennen sie Qahtani den »lord of the
suchern die ihn umgebenden Gefahren ge- offensive in die USA aufbricht, wird er flies« – den Herrn der Fliegen, denn so

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Ausland

200 Millionen
werden die digitalen Verfolger aus dem
Palast von ihren Opfern genannt.
In Qahtanis Fadenkreuz geriet zuletzt
auch eine Gruppe von Frauen, die seit Jah-
ren für ihre Rechte streiten und gegen das
sogenannte Vormundschaftssystem kämp-
fen. Qahtani halte die Frauen für »Wich-
tigtuerinnen«, die süchtig nach »Ruhm«
Staatsfeinde
seien, erklärt einer seiner Vertrauten. Im Indien Der Nationalist Modi baut die größte Demokratie der Welt
Mai 2018 wurden die Frauen verhaftet, ei- in einen Hindu-Staat um. Muslime werden ausgegrenzt.
nige wohl gefoltert, mindestens zwei sexu-
ell gedemütigt. Eine von ihnen, eine Mut- Doch die Mehrheit der Inder ist dem Premier treu ergeben.
ter von vier Kindern, versuchte sich nach

S
Auskunft von Vertrauten dreimal das Le-
ben zu nehmen. Mehrere Betroffene iden- elbstbewusst marschieren die Män- die BJP, und das größte Netzwerk an Pri-
tifizierten Qahtani als einen der Folterer. ner in Reih und Glied, weißes vatschulen. Seine Mitglieder besetzen
Noch im Oktober 2018 wurde er von sei- Hemd, braune Hose, die Schultern Lehrstühle an Universitäten, Posten in der
nem Posten am Königshof gefeuert, auf Be- durchgedrückt. »Eins, zwei, drei«, Zentralbank und im Kabinett. Sein be-
fehl des Königs. Die Hinweise, er sei am schreit eine Stimme durch die Lautsprecher, rühmtestes Mitglied ist der Regierungschef
Khashoggi-Mord beteiligt gewesen, hätten dazu trommelt eine Marschkapelle. Die selbst, Narendra Modi.
sich verdichtet. Noch ist er nicht angeklagt, Männer schwingen Bambusstöcke. Hunder- Wer eine Ahnung davon haben will, wo-
MbS hält schützend die Hand über ihn. te Menschen paradieren auf dem Sandplatz hin Modi die größte Demokratie der Welt
Es gibt viel Kritik, aber auch viele Stim- in Nagpur, Zentralindien. Sie treten in die führen könnte, der muss das RSS-Haupt-
men, die den Prinzen für die einzige Op- Luft und brüllen dabei. Als der Vorsitzende quartier in Nagpur besuchen.
tion halten, das Land in eine Zukunft ohne aufsteht, heben sie den Arm über die Brust J. Nandakumar ist der Chefideologe der
Öl zu führen. Der saudi-arabische Unter- als Gruß, den Kopf aufrecht. Truppe. Er beschreibt die Geschichte In-
nehmer Fahad Al-Deghaither sagt, MbS Die Männer gehören zu Rashtriya diens als eine Geschichte einer Erniedri-
habe das Königreich »vom Bankrott zu- Swayamsevak Sangh (RSS), es ist die größ- gung. Einst lebte ein Volk friedlicher Hin-
rück ins Leben« befördert. te Freiwilligenorganisation der Welt. Sie dus im Indus-Tal. Es kannte angeblich kein
Deghaither sitzt in einer eleganten Ho- selbst sehen sich als Patrioten. Ihren Kriti- Leid, bis muslimische Fürsten einfielen. Die
tellobby nahe dem Flughafen von Riad. Er kern gelten sie als eine militante Bewe- britischen Kolonialherren, die auf sie folg-
ist wütend auf die westlichen Länder, auf gung, die einst Hitler verehrte und deren ten, seien wenig besser gewesen. Und nach
die Medien, die sich als »Richter« aufspiel- Ideologie zum Mord an Freiheitskämpfer der Unabhängigkeit regierte eine säkulare
ten. »Dieser Kronprinz ist stark, er ändert Mahatma Gandhi durch einen Hindu- Elite, die sich der muslimischen Minderheit
alles, manchmal ist er auch aggressiv. Ge- Extremisten beitrug. anbiederte. Auch Premier Modi sprach ein-
nau das brauchen wir jetzt!« Anfang Oktober feierte der RSS seinen mal von »1200 Jahren Sklaverei«.
Deghaither hat sich vom Kioskbesitzer 94. Geburtstag. Wenige Monate darauf Der RSS hat sich zum Ziel gesetzt, die
zum Manager einer großen Supermarktket- brachen in Indien die schwersten Unruhen vermeintliche Herrlichkeit von einst wie-
te hochgearbeitet. Er kannte Jamal Kha- der jüngeren Geschichte aus. Hunderttau- derherzustellen. Ein früherer Chef nannte
shoggi, die beiden waren Freunde, bis die sende Menschen sind seither immer wie- die Judenverfolgung 1939 »eine gute Lek-
Politik sie trennte. Khashoggi hielt MbS für der gegen die Regierung auf die Straße ge- tion für uns in Hindustan«. Die heutigen
einen diktatorischen Egomanen. Deghai- gangen, die meisten friedlich. Die Polizei Führungskader würden solche Sätze nicht
ther dagegen sagt: »MbS ist ein Geschenk reagierte mit Härte. Mindestens 25 Men- mehr sagen. Sie propagieren eine Gesell-
des Himmels. Die Medien wollen einfach schen starben, Tausende wurden festge- schaft, die – trotz aller Vielfalt – eine ge-
nicht, dass dieser junge, brillante Mann un- nommen. Es gelten Versammlungsverbote, meinsame Kultur eint. Eines jedoch haben
ser Land führt! Sie sehen nur das Negative!« in mehreren Millionenstädten wurde zeit- sie mit Europas Rechtsextremisten gemein:
Gut möglich, dass MbS das Land bis an weise das Internet gekappt, darunter auch Sie wollen bestimmen, wer dazugehört –
sein Lebensende regieren wird. Im besten in Teilen Delhis. und wer nicht.
Fall entwickelt sich das Wüstenreich dann Vordergründig geht es den Demonstran-
zu einem modernen arabischen Land mit ten um ein Gesetz, das die Staatsbürger-
offener Wirtschaft und gesellschaftlichen schaft für Flüchtlinge regelt. Tatsächlich
Hinduismus
Freiheiten, bei totaler politischer Kontrol- geht es um das Selbstverständnis der Na-
79,8
le. Im schlechteren Fall bleibt es ein auto- tion, darum, welches Land Indien künftig
ritäres Regime, das mit seinen Nachbarn sein will: eine säkulare Demokratie, so wie
in Unfrieden lebt und weiter brutal Kriti- die Demonstranten es fordern? Oder eine
ker unterdrückt. Ehemals glühende Unter- Nation, in der die hinduistische Mehrheit Hindu-Nation
stützer im Ausland jedenfalls beginnen an den Minderheiten sagt, wo es langgeht, so Religionszugehörigkeiten
der Redlichkeit des Kronprinzen zu zwei- wie der RSS es will? in Indien,
feln. Das wissen auch seine Berater. In Indien leben 1,37 Milliarden Men- Angaben in Prozent
Einer der Vertrauten schickt spätnachts schen, unter ihnen rund 200 Millionen
nach einem Treffen in der Küstenstadt Muslime. Es gibt hier Hunderte Sprachen Quelle: Zensus 2011
Dschidda noch eine Textnachricht: »Ich und alle großen Religionen der Welt. Der
wünschte, ich hätte einen Zauberstab, und Kampf um Indiens Identität ist so alt wie
all das löste sich in nichts auf.« die Republik, doch noch nie zuvor war der Islam
Susanne Koelbl RSS seinem Ziel so nah. Sonstige 14,2
Mail: susanne.koelbl@spiegel.de Zur »Sangh Parivar«, der »Familie« des 2,0
RSS, gehören die größte Partei des Landes, Sikhismus 1,7 Christentum 2,3

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ADNAN ABIDI / REUTERS


Regierungschef Modi in Delhi: Der Säkularismus ist vorbei

»Ob Hindu, Muslim oder Christ, wir alle Kinder besuchen RSS-Schulen. Der RSS Land zu erneuern. Modis Vergangenheit
gehören zur gleichen Hindu-Familie«, sagt muss nicht putschen, nicht bestechen, blendeten viele aus.
RSS-Ideologe Nandakumar. Es gebe nur wenn seine Leute eines Tages die wichtigs- Die Stadt Ahmedabad im Bundesstaat
eine Voraussetzung: »Hindu ist, wer dieses ten Positionen im Staat einnehmen. Gujarat wirkt modern. Ein begradigter
Land als das Land seiner Vorfahren aner- Narendra Modi wurde als Sohn eines Fluss verläuft quer durchs Zentrum, für
kennt und die Werte achtet, die diese Na- Teeverkäufers in Vadnagar geboren, einer Busse wurden getrennte Spuren angelegt.
tion stark machen.« Die Probleme fangen Kleinstadt im Bundesstaat Gujarat im Doch etwas ist anders als in anderen indi-
an, wenn es darum geht zu sagen, um wel- Westen des Landes. Er wurde als Jugend- schen Städten: Kaum eine Moschee ist zu
che Werte es sich handelt. Und wer darü- licher von seinen Eltern verheiratet. Die sehen und kaum Passanten in muslimi-
ber entscheidet. Eheleute lebten nur kurz zusammen. Modi scher Kleidung. Es ist, als würde der Islam
Ein RSS-Mitglied führt durch die Ein- widmete sein Leben dem RSS und studier- hier nicht existieren.
richtungen, die der RSS in Nagpur betreibt. te Politikwissenschaft. Er galt als talentier- Ahmedabad war vor 18 Jahren Schau-
Da ist die Praxis, in der ein Arzt einmal ter Redner und wurde dem politischen platz einer der schwersten Auseinander-
die Woche für nur wenige Rupien Slum- Arm des RSS »entliehen«, der BJP. Dort setzungen zwischen Hindus und Muslimen
bewohner behandelt. Da sind der Blut- stieg er schnell auf, 2001 wurde er Regie- in der indischen Geschichte. Ein Zug mit
spendedienst und das neue Krebskranken- rungschef von Gujarat und blieb es für hinduistischen Pilgern hatte Feuer gefan-
haus. Am Paradeplatz steht ein Junge, der 13 Jahre. gen. Hindu-Extremisten machten Muslime
erzählt, warum er gern beim RSS sei: die Für Indien waren es entscheidende Jah- verantwortlich. Hindus und Muslime brach-
Spiele, die sie dort spielen, das Gefühl der re. Die Wirtschaft wuchs. Die Globalisie- ten sich gegenseitig um. Ein Politiker wur-
Gemeinschaft. Er zählt eine Reihe Kämp- rung machte viele reich, aber der rapide de auf offener Straße zerhackt und ver-
fer und Könige auf, die Großes für Indien soziale Wandel, der damit einherging, brannt. Binnen zwei Monaten starben min-
geleistet haben, unter ihnen befindet sich überforderte auch viele. Korruptionsskan- destens 1000 Menschen.
kein einziger Muslim. dale zerstörten die Glaubwürdigkeit der Modi war damals Regierungschef von
Laut dem französischen Politologen damals regierenden Kongresspartei. Gujarat. Kritiker warfen ihm vor, untätig
Christophe Jaffrelot will der RSS langfris- Als Modi bei der Wahl 2014 als Spitzen- geblieben zu sein. Der Oberste Gerichts-
tig die Gesellschaft prägen. »Er denkt nicht kandidat für die BJP antrat, war er der hof fand keine Beweise für seine Mit-
in Jahren, sondern in Jahrhunderten.« richtige Mann zur richtigen Zeit. Ein Mann schuld. Die EU und die USA verhängten
Wenn die Erde bebt, wenn Fluten das aus dem Volk, der lieber Hindi spricht als trotzdem Einreisesperren gegen ihn.
Land heimsuchen, dann sind oft die Män- Englisch, der sich offensiv zum Hinduis- Heute lebt fast die Hälfte der Muslime
ner des RSS mit als Erste zur Stelle. Wo mus bekennt und der einen Bundesstaat in Ahmedabad in einem Getto nahe einer
der Staat versagt, gehen sie voran. Das gilt regierte, der schneller wuchs als viele an- Müllhalde. Es gibt hier weniger öffentliche
vor allem für die Bildung: Fünf Millionen dere. Die Menschen trauten ihm zu, das Schulen als in anderen Teilen der Stadt,

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 81


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Ausland

Modi verkauft den Schritt als humanitären


Akt. Was sie nicht erklären kann: warum
nur drei Länder? Warum nicht die mus-
limischen Minderheiten der Rohingya aus
Myanmar oder der Uiguren in China?
Kritiker sagen, Modi wolle in Wahrheit
Indischsein über die Religion definieren.
Für ein geplantes neues Bürgerverzeich-
nis sollen alle Inder beweisen, dass ihre
Vorfahren aus Indien stammen. Die
Regierung sagt, sie wolle illegale Einwan-
derer ausfindig machen. Im Bundesstaat
Assam scheiterten fast zwei Millionen
Menschen daran, den entsprechenden
Nachweis zu erbringen. Sie drohen nun
staatenlos zu werden. Die Regierung in
Assam hat damit begonnen, Internie-
rungslager zu bauen.
Die Zeit des Säkularismus in Indien sei
vorbei, schrieb Milan Vaishnav von der

AFP
Carnegie-Stiftung nach der Wahl im Früh-
Anhänger der Gemeinschaft RSS bei Kundgebung in Hyderabad: Gesellschaft langfristig prägen jahr. Es gehe nicht mehr darum, ob Indien
»eine Hindu-Identität annehme, sondern
nur um die exakte Art und Weise, wie das
Straßen und Wasserversorgung sind einen Milchbauern gelyncht, weil er angeb- geschehen soll«.
schlecht. Der Fortschritt, dessen Modi sich lich Kühe zum Schlachthof gefahren hatte. Modi wettet darauf, dass er auch ohne
so gern rühmt, erreicht sie nicht. Vielen Hindus gilt die Kuh als heilig. Tanwar den Zuspruch der 14 Prozent Muslime im
Für viele Muslime in Indien scheinen sagt, der Vorfall überrasche sie nicht. Kühe Land Wahlen gewinnen kann. Eine Mehr-
sich all jene Vorurteile zu bestätigen, die zu schlachten sei schließlich ein Verbrechen. heit der Inder stimmt in Umfragen hindu-
sie spätestens seit dem Pogrom von Ahme- Modi bedient antimuslimische Ressen- nationalistischen Forderungen zu. Die Pro-
dabad gegen Modi hegen. Schon in seiner timents. Er hat mit Amit Shah einen Weg- teste sind für Modi trotzdem bedrohlich –
ersten Amtszeit als Premier wurde ein ra- gefährten und Hindu-Hardliner zum In- vor allem für sein Image im Ausland.
dikaler Hindu-Priester Regierungschef des nenminister gemacht, der muslimische Ein- Modi hat in einer Rede bestritten, dass
bevölkerungsreichsten Bundesstaats Uttar wanderer »Termiten« nennt. seine Regierung Internierungslager errich-
Pradesh. Die Zahl der Hassverbrechen ge- Die Regierung entzog dem einzigen te. Er sieht die Opposition und linke Intel-
gen Minderheiten steigt seit 2014 an. Jour- mehrheitlich muslimischen Bundesstaat lektuelle am Werk, die »Lügen und Ge-
nalisten, die darüber berichten, verlieren Jammu und Kaschmir im August die Au- rüchte« über ihn verbreiteten.
schon mal ihren Job. tonomie. Tausende zusätzliche Truppen So sieht das auch Modi-Anhängerin
Das Jobwunder hingegen ist bislang aus- wurden ins Kaschmirtal verlegt, das Inter- Tanwar aus Haryana. Modi habe ihr eine
geblieben. Trotzdem gewann die BJP bei net ist dort mittlerweile seit fünf Monaten Gasflasche geschenkt, ihre Witwenrente
der Wahl im vergangenen Frühjahr Sitze abgeschaltet, der längste Blackout in der erhöht und eine Toilette gebaut. Dann er-
hinzu. Geschichte einer Demokratie. zählt sie die Geschichte, die jeder hier
Chando Tanwar sitzt vor ihrem Kiosk Im Dezember verabschiedete das Par- kennt: Vor 20 Jahren sollen Muslime einen
in einem Dorf in Haryana, Nordindien, lament dann das neue Staatsbürgerschafts- Hindu getötet haben. Die Hindus hätten
und saugt an ihrer Zigarette. Über ihren gesetz: Flüchtlinge aus Pakistan, Bangla- Muslime dann aus Rache angezündet. Auf
Kopf hat sie ein Tuch gelegt, auf der Hand desch und Afghanistan können künftig die Frage, warum Muslime Modi nicht
ist ein hinduistisches Zeichen tätowiert. In schneller die Staatsbürgerschaft erlangen, wählten, sagt sie: »Weil Muslime korrupt
einem Gebäude im Hintergrund weht die wenn sie vor 2014 ins Land gekommen sind und Modi die Korrupten jagt.«
Flagge der BJP. sind. Das Gesetz listet sechs Religions- Laura Höflinger
Im muslimischen Nachbardorf haben gemeinschaften Südasiens auf, mit einer Twitter: @hoeflingern
Hindu-Extremisten vor fast drei Jahren Ausnahme: den Muslimen. Die Regierung

Wellen des Widerstands Juli 2018 Januar 2019 August 2019


Protestveranstaltungen in Indien Veröffentlichung eines vorläufigen Proteste von Frauen gegen Ausschreitungen im indischen Teil
Bürgerregisters für den Bundes- ein Tempelverbot Kaschmirs gegen die Streichung des
Anzahl staat Assam. Vier Millionen Menschen – Sonderstatus mit Autonomierechten
pro Monat vorwiegend Muslimen – droht der Entzug
der indischen Staatsbürgerschaft.
1600

1200

800 Dezember 2019


Tagelange Proteste nach Verabschiedung des Gesetzes zur
400 indischen Staatsbürgerschaftsreform; verschärfte Sicherheitsvorkehrungen,
regionale Versammlungsverbote, teilweise Sperrung des Internets
0
Januar Juli Januar Juli bis zum
2018 2019 Quelle: ACLED 14. Dez.

82 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Sport
Für viele Sportler sei das »Extra-Geld« von Firmen wie Red Bull »lebenswichtig«. ‣ S. 87

Auktionserlöse von Sportdevotionalien


Nationaltrikot
Brasilien
US-Open-Pokal

JÖRN FRIEDERICH / M AURIT IUS IMAGE S; T H O MAS LO H N E S / E P D; W YL E S H ARDY & C O


von Boris Becker 33 000 $ von Pelé
1971
1989

New-York-Yankees-
Baseballshirt
188000 $
5,6 Mio. $ von Babe Ruth
1928 bis 1930
olympische
Goldmedaille
615000 $ von Jesse Owens
1936 8,8 Mio. $ 120 000 $
Manifest für die
Ferrari F2002 Olympischen Spiele
von Michael der Neuzeit Basketballshirt
5,9 Mio. $ Schumacher von Pierre de Coubertin von Barack Obama
2002 1892 1979

Die Rekordsumme von 8,8 Millionen Dollar erbrachte jüngst aufleben zu lassen. Bislang war der Ferrari von Michael Schu-
die Versteigerung des Manifests zur Wiederauflage der Olympi- macher, der 2002 für 5,9 Millionen Dollar verkauft wurde,
schen Spiele. In dem Schriftstück aus dem Jahr 1892 entwirft teuerste Sportdevotionalie. Immerhin 120 000 Dollar brachte
Pierre de Coubertin seine Idee, die antiken Wettkämpfe wieder- das Highschool-Basketballtrikot von Barack Obama ein.

Magischer Moment würde. In Norwegen und Schweden gibt

»Ich hatte eine supergeile Zeit«


es auch Meisterschaften. Sportlich sind
wir den Skandinaviern sehr weit voraus,
aber dort gibt es viele Sponsoren. Sowohl
Patrick Hanke, 29, über seinen Titel als deutscher Rennrutschmeister kleine örtliche, beispielsweise Supermärk-
te, als auch bekannte Firmen. Wenn ich
SPIEGEL: Herr Hanke, Sie SPIEGEL: Auf welchen Wasserrutschen hier zu einer Baumarktkette gehen würde,
haben im Dezember trainieren Sie? würden die mich doof anschauen.
in Erding Ihren Titel als Hanke: Wenn man auf einer Rutsche mit SPIEGEL: Was müsste sich ändern?
deutscher Meister im Zeitmessanlage trainieren kann, ist das Hanke: Rennrutschen wird als verkind-
Rennrutschen verteidigt. die beste Vorbereitung. Bei mir in der lichter Sport gesehen und belächelt.
Hat es wie im Vorjahr zu Umgebung von Bochum Der Sport müsste an-
einem Bahnrekord gereicht? gibt es solche Rutschen erkannt werden,
Hanke: Ich habe meinen Rekord von nicht. Ich bin allerdings dann würde es sicher-
16,70 Sekunden nicht knacken können, seit sechs Jahren dabei, lich auch mehr In-
aber ich war der Einzige, der es unter und über die Jahre lernt teresse von Sponsoren
die magischen 17 Sekunden geschafft hat. man die unterschied- geben. Zudem müss-
Da kam Freude auf – ich hatte eine super- lichen Rutschen kennen. ten Rutschen mit
geile Zeit, und Adrenalin schoss in den SPIEGEL: Wie viel reisen mehr Technik wie
Körper. Sie für Wettbewerbe? Kameras ausgestattet
SPIEGEL: Wie sieht der Modus bei der Hanke: Es gibt Stadt- werden.
deutschen Meisterschaft aus? meisterschaften, die SPIEGEL: Gibt es für
Hanke: Es gibt zwei Qualifikationsläufe, manchmal bis zu 200 die deutsche Meister-
daraus gehen die Top 16 in ein Achtel- oder 300 Kilometer ent- schaft eine Prämie?
finale. Dort startet dann der Erste gegen fernt sind. 2018 bin ich Hanke: In der Therme
den Sechzehnten, der Zweite gegen den inklusive einer Norwe- Erding gewinnt der
Fünfzehnten und so weiter. Im Halbfinale genfahrt 28 000 Kilo- Beste einen Reisegut-
habe ich meinen stärksten Konkurrenten meter zu Wettbewerben schein. Ich kann dann
Sven Schubert besiegt. Ich habe alle mei- gefahren. Der Sport ist dort ein Wochenende
ne Kräfte mobilisiert, tief eingeatmet, viel sehr kostenintensiv, und im Thermenhotel ver-
Sauerstoff aufgenommen und bis unten es wäre schön, wenn bringen und so
voll durchgezogen. sich ein Sponsor finden Hanke beim Rennrutschen 250 Euro sparen. MEM

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MARIA FECK / LAIF

Sportler Wolff

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Sport

»Die Nummer 1 der Welt«


Handball Torhüter Andreas Wolff sicherte Deutschland 2016 mit seinen Paraden
den Europameistertitel, aber dann geriet er emotional aus dem Tritt. Nun sucht er in der
polnischen Provinz den Weg zurück an die Spitze. Kann das gelingen?

Z
unächst sei er sehr irritiert gewe- 2016, bei der EM in Polen. Wolff, damals Weltmeister, Olympia- und Champions-
sen, sagt Andreas Wolff: »Ich habe ein weitgehend unbekannter Torwart im League-Sieger. Alles schien möglich für
mich gefragt, ob ich vielleicht et- hessischen Wetzlar, war überraschend in den vom Ehrgeiz Besessenen.
was falsch verstanden habe.« Es den Kader berufen worden, die Fachzeit- Doch es kam anders.
war eine Situation während der Saisonvor- schrift »Handballwoche« schrieb von einer Kiel hatte in dem Dänen Niklas Landin
bereitung. Sein Trainer hatte die Handball- »Sensation«. bereits einen zweiten Weltklassetorwart
mannschaft nach einer Übungseinheit zu- Er brillierte, hielt schier unhaltbare Bäl- im Kader. Wolff musste sich unterordnen,
sammengerufen und ein paar Worte an die le, war in mehreren Spielen der Garant für die Spielzeit teilen, in vielen wichtigen
Spieler gerichtet, auf Polnisch, in der Spra- den deutschen Erfolg. Innerhalb von zwei Spielen von außen zuschauen. Eine Situa-
che, die Wolff gerade erst zu lernen begon- Wochen katapultierte sich der junge Mann tion, die ihn überforderte.
nen hatte. Dann sei sein Name gefallen: aus Euskirchen ins internationale Rampen- »Als Nummer eins in Wetzlar oder
Andi. licht. im Nationalteam hatte ich eine totale
Seit diesem Tag Anfang August beklei- Das Endspiel verfolgten 13 Millionen Zufriedenheit verspürt, ein unbändiges
det Wolff, 28, das Kapitänsamt beim pol- Menschen in der ARD, Deutschland war Selbstvertrauen«, sagt Wolff. »Ich habe
nischen Topklub PGE Vive Kielce. Der vor der EM nur als Außenseiter gehandelt mir einfach gesagt, ich kann jeden Ball
Neuzugang aus Deutschland, der zu dem worden, triumphierte aber mit 24:17 gegen halten, ohne mir dabei groß Gedanken zu
Zeitpunkt erst wenige Wochen lang Teil Spanien. Wolff gelang eine Fangquote von machen.«
des Teams war und noch nicht mal sein 48 Prozent, er wurde zum besten Torhüter Mit einem Konkurrenten im eigenen
neues Zuhause bezogen hatte, war zum des Turniers gewählt. Im Fernsehen ver- Team seien dieses Selbstverständnis, die-
Anführer auserkoren worden. »Es hat beugte sich der ehemalige Nationalspieler ser »Flow« aber verloren gegangen: »Es
mich sehr überrascht«, sagt Wolff. ist kein schönes Gefühl zu wissen, dass du
Eigentlich sollte die Entscheidung nicht nur die Nummer zwei bist, und wenn du
verwundern. Andreas Wolff, 1,98 Meter »Ist mein Stellungsspiel einen Fehler machst, hat man noch einen
groß, 110 Kilogramm schwer, ist Deutsch-
lands Handballtorwart Nummer eins,
schlechter geworden? anderen in der Hinterhand.«
Wolff fiel in ein Tief. Wenig Spielzeit,
einer der Besten der Welt. Doch der Sport- Ich fing an, mich kaputt- stagnierende Leistungen, dazu eine lang-
ler Wolff hat auch ein Problem. Der Mann zureden.« wierige Entzündung der Hüfte. Er bekam
mit Vollbart und Holzfälleroberarmen ist Zweifel: »Bin ich langsamer als früher? Ist
ein sensibler Zeitgenosse. mein Stellungsspiel schlechter geworden?
Für Wolff glich die Beförderung zum Stefan Kretzschmar demonstrativ vor Ich fing an, mich selber kaputtzureden.«
Kapitän einer Schocktherapie. Schließlich Wolff. »Von dem werden wir demnächst Auch bei der Nationalmannschaft gab
hatte er beinahe vergessen, wie es sich an- so viel lesen«, kommentierte Kretzschmar. es nun Probleme. 2017 scheiterte Deutsch-
fühlt: Verantwortung zu tragen. Gebraucht »Als junger Spieler musst du deinen Fuß- land bei der Weltmeisterschaft bereits im
zu werden. Unentbehrlich zu sein. Drei abdruck hinterlassen«, sagt Wolff rück- Achtelfinale an Katar. Die EM 2018 unter
Jahre lang hatte er zuvor beim THW Kiel blickend. Durch seine Leistungen 2016 sei dem neuen Bundestrainer Christian Pro-
verbracht, dem FC Bayern des Handballs – ihm dies gelungen, nachhaltig: »Ich bin kop geriet zur Enttäuschung: Die Mann-
und häufig nur auf der Bank gesessen. nicht von draußen gekommen und habe schaft gewann nur zwei von sechs Partien,
Der Weltklassespieler haderte mit sich ein paar Schlammspuren auf dem Teppich landete auf Platz neun. Der Trainer kom-
selbst, stürzte in ein Leistungstief und woll- hinterlassen – ich habe einfach die Tür ein- me nicht bei den Spielern an, hieß es im
te irgendwann nur noch weg aus Kiel. Nun getreten.« Anschluss, seine Kaderzusammenstellung
aber holt er sich sein Selbstvertrauen im Der »Handball-Gigant« (»Bild«) schaff- habe für Unverständnis gesorgt. Prokop
Südosten Polens zurück. Parade für Para- te es aus einer Sportart der Namenlosen selbst bekannte Fehler, entkam knapp
de, Spiel für Spiel. in die Mainstream-Unterhaltung. Ein einer Demission.
Davon soll auch die deutsche National- schwäbischer Bartklub verlieh ihm den Ti- »Es ist nie nur eine Person für Erfolg
mannschaft profitieren. Am 9. Januar be- tel »Bart des Jahres«, bei einer Spieleshow oder Misserfolg verantwortlich«, sagt
ginnt in Österreich, Schweden und Nor- im Fernsehen stapelte Wolff Bierkästen Wolff. Bei der EM habe es einfach »von
wegen die Europameisterschaft. Der Deut- waagerecht an eine Wand und erspielte allen Seiten nicht gereicht«, um ein erfolg-
sche Handballbund visiert das Halbfinale 100 000 Euro. reiches Turnier zu spielen.
an, doch eine gute Platzierung hängt auch Ein halbes Jahr nach dem EM-Titel ge- Auch der Torwart selbst konnte seine
maßgeblich von Wolffs Leistung ab. »Oh- wann Deutschland Bronze bei den Olym- Leistung von 2016 nicht wiederholen. Der
ne einen starken Andi Wolff«, sagt Natio- pischen Spielen in Rio de Janeiro. Wolff Wechsel nach Kiel hatte ihn nicht weiter-
naltrainer Christian Prokop, »spielen wir wechselte zum THW Kiel, dem Verein, gebracht. »Ich hätte besser beraten sein
um die Plätze fünf bis acht.« von dem er bereits als Kind geträumt hatte. können, als damals zu einem Verein wie
Schon einmal hat Wolff die deutsche Schon damals hatte Wolff eine Reihe von Kiel zu gehen«, sagt Wolff an einem kalten
Mannschaft durch ein Turnier getragen: Karrierezielen für sich ins Auge gefasst: Adventssonntag in Polen. Der Torwart

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HOLSTEINOFFICE / IMAGO IMAGES


CONTRAST / IMAGO IMAGES
Torwart Wolff mit Nationaltrainer Prokop, im Tor von Kielce im September in Kiel: »Einfach die Tür eingetreten«

sitzt in einem Café am Rande der Kielcer Jede Trainingseinheit sei hier sehr an- mer. Über der Terrassentür hängt ein Bild
Altstadt, die Kellnerin bringt ihm zwei Por- spruchsvoll, sagt Wolff und schaut an den von der Europameistermannschaft 2016,
tionen »Omlet z owocami«, Omelette mit Nebentisch im Café, an dem ein spanischer auf dem Kaminsims steht die Trophäe des
Obst. Wolff hatte auf Polnisch geordert. Teamkollege mit seiner Familie sitzt. Neun besten Torhüters des Turniers.
Der THW sei ein toller Verein, er sei Nationalitäten beherbergt der Kader, trai- Für seinen Trainer Dujshebaev steht
stolz, ein Teil davon gewesen zu sein. Für niert werden sie von Talant Dujshebaev, außer Frage, dass der Neuzugang das Leis-
ihn persönlich wäre es aber wohl besser einem ehemaligen Welthandballer kirgisi- tungsniveau von damals wieder erreichen
gewesen, 2016 zu einem »Topklub zu scher Abstammung, der nun einer der re- wird. »Ich bin zu 100 Prozent davon über-
wechseln, in dem man auf mich als Num- nommiertesten Trainer ist. zeugt, dass Andi die Nummer eins der
mer eins aufgebaut hätte«. Das sei nun Der Preis für die eigene Exzellenz: lang- Welt werden wird. Fraglich ist nur, wann
hier in Polen der Fall. weilige Ligapartien, die nicht viel mehr er das schafft.« Auch deswegen habe
Nicht nur sportlich kriselte es in Kiel. bieten als ein Warm-up für Champions- Dujshebaev ihn zum Kapitän ernannt: »Er
Wolff überwarf sich mit dem Geschäfts- League-Duelle gegen Barcelona, Paris ist sehr intelligent, hat sich sehr schnell in-
führer des Vereins, Animositäten wurden oder Flensburg – weil es in Polen so gut tegriert. Nun braucht er Spielpraxis, um
nach außen getragen. Schon früh orientier- wie keine ernsthaften Gegner mehr gibt. sein Selbstvertrauen wieder zu steigern.«
te er sich deshalb Richtung Polen. Am Vorabend war eine Mannschaft aus Wolff hat in Polen einen Vierjahresver-
Was wolle er da, fragten sich viele. Stettin in Kielce zu Gast, Tabellenmittel- trag unterschrieben, er plant langfristig.
Kielce, eine Stadt von der Größe Kas- feld. Kielce gewann 45:28, die rund 1300 »Im Sport entwickeln sich die Dinge nicht
sels, liegt in einer alten Bergbauregion, Zuschauer spendeten moderat Applaus. in ein oder zwei Jahren«, sagt Wolff.
rund zwei Autostunden südlich von War- Bis zu 25 Zloty hatten sie für ihr Ticket be- Auch bei der Nationalmannschaft
schau, irgendwo zwischen Vergangenheit zahlt, keine sechs Euro, zu sehen bekamen scheint die Tendenz wieder nach oben zu
und Gegenwart. Es gibt Bauruinen und sie ein besseres Trainingsspiel. gehen. Nach der ernüchternden EM 2018
McDonald’s, Plattenbauten und ein klas- Wolff verfolgte die Partie in grauer Trai- gelang dem Team mit Trainer Prokop bei
sizistisches Rathaus. »Es ist nicht Hamburg ningsjacke und Jeans auf einem Sitz hinter der Heim-WM 2019 die Wende: Deutsch-
oder Berlin«, sagt Wolff, doch er finde al- der Kielcer Bank; während der Trainings- land erreichte das Halbfinale, entfachte
les, was er brauche, es gebe gute Restau- woche hatte ein Muskel im rechten Ober- mit teils begeisternden Spielen eine Eu-
rants. Aus einem Glasschälchen schüttet schenkel geschmerzt. Die EM sei nicht in phorie im Land.
er Erdbeermarmelade auf sein Omelett. Gefahr, versichert Wolff, aber er werde Nun soll bei der anstehenden EM Ähn-
Einzige wirkliche Attraktion der Stadt vorsichtshalber geschont. liches geschafft werden. Ein ambitioniertes
ist der Handballverein. PGE Vive Kielce, Ein Luxus, den man sich in Deutschland Unterfangen. Mehrere Leistungsträger sag-
ein Starensemble, Produkt eines Gönners: nicht erlauben könne. In der Bundesliga ten verletzt ab; gerade die Rückraummitte,
Bertus Servaas, 56, ein gebürtiger Nieder- sei die Taktung höher, die Belastung grö- die Spielmacherposition im Handball, ist
länder, der einst in der Jugend von Ajax ßer, Regeneration nach anstrengenden Eu- nur dünn besetzt. Prokop warnt deshalb
Amsterdam mit Marco van Basten Fußball ropapokal-Spielen nicht möglich. »Statt- bereits vor zu hohen Erwartungen.
spielte. Anfang der Neunzigerjahre ging er dessen fährst du zu Auswärtsspielen nach Für Andreas Wolff zählt dennoch nur
als Geschäftsmann nach Polen, heute be- Lemgo oder Stuttgart, wo dich unfassbar eins: das Maximum. »Warum sollte ich
sitzt er nach eigenen Angaben das größte schwere Spiele erwarten«, sagt Wolff, 2020 nicht ein ähnliches Turnier spielen
Unternehmen für Textilrecycling in Europa. »und wenn du in solche Partien nicht alles können wie 2016?«, fragt er zum Abschied.
2002 kaufte er den Handballverein des hineinwirfst, hast du nach 60 Minuten die Der europäische Handballverband
Ortes, nannte ihn in Vive Kielce um und Meisterschaft verspielt.« Physisch, aber wählte ihn im November zum Spieler des
formte ihn zu einem der besten Klubs der auch mental sei eine Saison in Deutschland Monats, nach herausragenden Leistungen
Welt. In Polen ist das Team der Konkur- deshalb extrem anstrengend. in der Champions League. »Das Top-
renz inzwischen weit enteilt, in der Cham- In Polen verfolgt Wolff die Bundesliga niveau kann nicht so weit entfernt sein«,
pions League erreichte die Mannschaft seit vom Sofa, zwischendurch stemmt er Ge- sagt Wolff. Thilo Neumann
2012 viermal das Halbfinale. wichte an der Hantelbank im Arbeitszim-

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Sport

helden. Sie sehen sich in ihren Vermark-

Verbot für tungsmöglichkeiten beschnitten.


Super-G-Weltmeister Dominik Paris aus
Italien, der in diesem Winter bereits vier Ab-

die Dose fahrtsrennen gewinnen konnte, kündigte an,


er werde sich nicht an die Vorgabe der TV-
Macher halten. Auch der deutsche Topläufer
Thomas Dreßen ist verärgert. Für viele Sport-
Sponsoring Skifahrer sind
ler sei das »Extra-Geld« von Firmen wie

ARTHUR THILL / HY / AGENCY PEOPLE IMAGE


besonders kreativ in der Red Bull »lebenswichtig«, erklärte der Renn-
Produktwerbung. Einem Fern- läufer am Rande des Weltcups in Gröden.
Red Bull gehört zu den größten Spon-
sehzuschauer wurde das nun
soren des kommerziellen Sports. Der Kon-
zu viel – und er bekam recht. zern hält sich unter anderem Fußballteams
in Leipzig, Salzburg, New York sowie zwei

A lpine Skirennläufer sind rasende Lit-


faßsäulen. Die Logos ihrer Sponso-
ren tragen sie auf dem Rennanzug,
dem Helm, den Handschuhen. Bevor die
Formel-1-Rennställe. Und er veranstaltet
Wettbewerbe im Kunstfliegen oder Klip-
penspringen.
Besonders gern dockt die Firma bei
Gladiatoren im Ziel vor die Kameras tre- Extremsportlern an, deren Abenteuer in
ten, reißen sie ihre Skier in die Höhe, Hel- aufwendig produzierten Videos mit viel
fer reichen ihnen Mützen, Stirnbänder Pathos in Szene gesetzt werden.

E. CIANCAGLINI / NURPHOTO / GETTY IMAGES


oder Schals, auf denen weitere Werbe- Kritiker werfen dem Konzern vor, er schü-
botschaften prangen. re mit seinem Sponsoring die Risikobereit-
Der österreichische Getränkehersteller schaft der Sportler. In Athletenkreisen wird
Red Bull ließ sich zuletzt etwas Besonde- der Brausebrauer hingegen geschätzt, weil
res einfallen, um auf dem umkämpften er sich nicht nur auf publikumswirksame
Produktmarkt herauszustechen. Repräsen- Sportarten konzentriere, sondern auch Ak-
tanten des Konzerns wie der deutsche teure aus Nischensportarten unterstütze.
Abfahrer Thomas Dreßen erschienen zu Um die Verträge, die Red Bull mit Sport-
TV-Interviews im Zielraum mit einer über- lern abschließt, macht der Konzern seit je
dimensionierten Dose des Getränkeher- ein Geheimnis. Fest steht, dass den Athle-
stellers, die sie – unauffällig auffällig – in Skirennläufer Dreßen, Paris ten Vorgaben gemacht werden, wie sie die
die Kamera hielten oder dreist neben sich »Unzulässige Schleichwerbung« Marke zu präsentieren haben – und wie
auf dem Kommentatorentisch platzierten. weit sie dabei gehen sollen.
Diese Praxis wurde lange auch von den »Mein Problem ist, dass ich in meinem
deutschen Sendern ARD und ZDF, die men oder Skiern handle es sich bei dem Vertrag stehen habe, dass ich eine Dose
regelmäßig Skirennen übertragen, nicht Dosentrick um »unzulässige Schleich- halten muss«, so erklärte Abfahrtsläufer
ernsthaft unterbunden. In diesem Winter werbung«. Dreßen in Gröden sein Dilemma, nach-
aber soll es nun ein Dosenverbot geben. Künftig darf kein Skiläufer mehr mit dem ARD und ZDF den Büchsenbann aus-
Der Hintergrund: Bereits im vorigen einem Behältnis eines Sponsors vor die gesprochen hatten.
Januar hatte sich ein ZDF-Zuschauer Kameras des ZDF treten. Die ARD schloss Auf Anfrage des SPIEGEL, wie die Fir-
beim Fernsehrat über zwei Interviewauf- sich dem Verbot an. Athleten, die sich der ma nun auf die neue TV-Linie reagieren
tritte Dreßens beklagt, bei denen der Anordnung nicht fügen wollen, so heißt werde, erklärte Red Bull, man äußere sich
Rennläufer eine Büchse seines Sponsors es, würden künftig von den Öffentlich- grundsätzlich nicht über die Inhalte von
ins Bild geschummelt hatte. Die Fälle wur- Rechtlichen nicht mehr zu Interviews ein- Verträgen mit Sportlern, man respektiere
den in den zuständigen Gremien des geladen. aber die »Guidelines« der Sender.
Senders debattiert, mit dem Ergebnis: Im Die Maßnahme sorgt, wie zu erwarten Gerhard Pfeil
Gegensatz zu Werbebotschaften auf Hel- war, für Unmut bei den betroffenen Ski-
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Wissenschaft+Technik
Wenn der rote Riese explodiert, wird er heller strahlen als der Vollmond. ‣ S. 103

CORNELL UNIVERSITY
Wie mit einem Pinselstrich gezeichnet wirkt der Eisstrom, der sich von der sibirischen Wawilow-Eiskappe in das
arktische Meer schiebt. Seit das Eis vor sieben Jahren in Bewegung geriet, hat die Kappe mehr als ein Zehntel
ihrer Masse verloren. Das Tempo überrascht: Eiskörper der arktischen Inseln bewegen sich meist nur um einige
Meter im Jahr. Forscher glauben, durch die Erderwärmung könnten stützende Eisschichten geschmolzen sein.

Seuchen sierten die Forscher das Virengenom aus Fußnote

30
Früher Siegeszug einer mehr als 100 Jahre alten Lungen-
gewebsprobe. So schätzten sie ab, wann
der Masern sich das Masernvirus von seinem nächs-
ten Verwandten, der mittlerweile ausge-
 Masern sind bereits mit dem Aufstieg rotteten Rinderpest, abgespalten hat. MSK
antiker Großstädte über die Menschheit Mikrometer klein – und damit schma-
gekommen, vermuten Wissenschaftler ler als ein menschliches Haar – ist ein
des Robert Koch-Instituts. Demnach neuartiger Teilchenbeschleuniger, den
könnte das Virus im 4. Jahrhundert vor Ingenieure der US-Universität Stanford
JAMES CAVALLINI / BSIP / OKAPIA

Christus auf Menschen übergesprungen auf einem Chip gebaut haben. Noch ist
sein, als erste Siedlungen mehr als ihr Prototyp nicht sehr leistungsstark.
250 000 Einwohner zählten. Diese Min- Als Nächstes wollen sie 1000 Einheiten
destgröße ist nötig, damit sich das Virus zusammenschalten und so Elektronen
in der Bevölkerung ausbreiten kann. Bis- auf 94 Prozent der Lichtgeschwindig-
lang gingen Epidemiologen davon aus, keit bringen. Zum Einsatz kommen
dass die ersten Masernfälle im Mittelalter könnte der Minibeschleuniger etwa in
aufgetreten seien. Für ihre Studie analy- Masernviren der Strahlentherapie gegen Krebs.

88 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Chronobiologie dern das Lernen unnötig schwer, wenn die natürlichen Schlafenszeit. Zu Eltern und
Schule schon um acht Uhr beginnt. Lehrern sage ich manchmal, das wäre so,
»Wir machen Kindern das SPIEGEL: Warum leiden so viele Jugend- als ob Sie selbst um drei Uhr früh aufste-
Lernen unnötig schwer« liche unter Schlafmangel? hen müssten. Da kann niemand Höchstleis-
Roenneberg: Wann wir müde oder hung- tung erbringen. Hinzu kommt noch etwas:
Till Roenneberg, 66, rig werden, wann wir einschlafen und auf- Während des Schlafs verfestigt sich im
erforscht an der wachen, regelt eine innere Uhr. Sie hat Hirn, was wir am Tag zuvor gelernt haben.
Münchner Ludwig- ihre Schaltzentrale im Hirn, tickt aber Das geschieht vor allem in der zweiten
Maximilians-Universi- auch in allen anderen Zellen. Diese Uhr Hälfte der Nacht, und genau diese Zeit rau-
tät, wie der Schlaf und unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. ben wir den Schülern. Manche Lehrer hal-
die Leistungsfähigkeit Manche Menschen, »Lerchen« genannt, ten sie dann für faul oder gar dumm. Dabei
des Menschen von werden früh müde und früh wieder wach. sind sie bloß nicht ausgeschlafen.
seiner inneren Uhr »Eulen« dagegen gehen spät ins Bett und SPIEGEL: Hat sich die Leistung der Kinder
abhängen. In einer Studie hat der Biologe wachen spät auf. Zudem verschiebt sich in Alsdorf denn gesteigert?
gezeigt, dass Schüler deutlich ausgeschlafe- die innere Uhr im Lauf des Lebens. Roenneberg: In unseren Fragebögen
ner sind, wenn die Schule später beginnt. SPIEGEL: Wie genau? gaben sie an, dass sie sich wacher fühlten,
Roenneberg: Bis zum 20. Lebensjahr wer- sich besser konzentrieren und nach der
SPIEGEL: Herr Roenneberg, in einem den Menschen immer mehr zu Eulen, Schule effektiver lernen konnten. Ob sich
Gymnasium in Alsdorf bei Aachen können danach kehrt sich diese Tendenz um. Für auch die Noten verbessert haben, das kön-
Oberstufenschüler selbst entscheiden, ob Jugendliche bedeutet das, dass ihre innere nen wir aufgrund der kleinen Gruppen-
sie zur ersten oder erst zur zweiten Stun- Uhr gegenüber dem Schulbeginn zuneh- größe schwer statistisch beweisen. Wir
de kommen. Wie wirkt sich diese Freiheit mend aus dem Takt gerät. Selbst wenn wissen allerdings aus anderen Studien,
auf den Schlaf der Jugendlichen aus? Eltern sie früh ins Bett schicken, hilft das dass Leistungen eng mit der inneren Uhr
Roenneberg: Als die Schule den neuen nicht. Die sind einfach noch nicht müde. zusammenhängen. Extreme »Eulen«
Stundenplan im Jahr 2016 eingeführt hat, SPIEGEL: Welche Folgen hat das? schneiden in Prüfungen am frühen Morgen
haben 60 Jugendliche für uns ein Schlaf- Roenneberg: Wenn Sie Jugendliche um beispielsweise schlechter ab als andere.
tagebuch geführt, sechs Wochen lang. Das sechs Uhr morgens wecken, befinden die SPIEGEL: Kritiker eines späteren Schulbe-
Ergebnis ist eindeutig: An den Tagen, an sich in der Regel erst in der Mitte ihrer ginns wenden ein, dass der Unterricht
denen die Kinder später zur Schule gin- dann später vorbei sei und weniger Zeit
gen, haben sie im Durchschnitt etwa eine bleibe für Sport, Musik oder Freunde.
Stunde länger geschlafen. Roenneberg: Ja, aber das kann doch kein
SPIEGEL: Eine Stunde – macht das wirk- Argument gegen eine Schule sein, die
lich einen großen Unterschied aus? sich nach den Bedürfnissen der Schüler
Roenneberg: Ja, absolut. Denn so beka- richtet. Vielmehr muss sich die Schule ins-
men die Kinder mindestens acht Stunden gesamt ändern – hin zu einer Ganztags-
MOMENT / GETTY IMAGES

Schlaf. Das ist das Minimum, das für schule, in der Kinder ein Instrument lernen
Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren und eine Sportart ausüben können. Wenn
empfohlen wird. Es gibt mittlerweile eine sie nachmittags nach Hause kommen,
Vielzahl von Studien dazu, und sie lassen sollten sie nicht noch zu irgendwelchen
nur einen Schluss zu: Wir machen Kin- Musikstunden gekarrt werden. MSK

Analyse

Welche Gene passen zu mir?


Mithilfe einer Dating-App will ein US-Forscher tödliche Erbkrankheiten ausrotten.

Kaum hatte der amerikanische Molekularbiologe George Church Wer Vergleiche zur Nazizeit zieht, der übersieht, dass die
öffentlich über seinen Plan gesprochen, schlug ihm Empörung Macher von Digid8 nicht in die genetische Vielfalt der Bevölke-
entgegen. Kritiker warfen ihm »Eugenik« vor und fühlten sich an rung eingreifen oder Menschen nach einem Idealbild formen
das »Dritte Reich« erinnert. Die provokante Idee des Harvard- wollen. Vielmehr möchten sie unheilbare Leiden wie die Muko-
Professors: eine genetische Dating-App, mit der Erbkrankheiten viszidose oder die Tay-Sachs-Krankheit verhindern, an denen
ausgerottet werden sollen. Betroffene oft im jungen Alter versterben. Schon heute können
Sein Programm namens Digid8 sieht vor, das Erbgut der Nut- sich Menschen mit Kinderwunsch auf solche Mutationen testen
zer aus einer Speichelprobe zu sequenzieren und auf seltene Ver- lassen. Das ist sinnvoll, vor allem wenn in der Familie eine Erb-
änderungen zu untersuchen, die sogenannte rezessive Erbkrank- krankheit bereits einmal aufgetreten ist.
heiten hervorrufen können. Nur wenn beide Elternteile dieselbe Problematisch ist daran aber, bei welcher seltenen Krankheit
Mutation in sich tragen, besteht das Risiko, dass die Krankheit die Forscher die Grenze ziehen. Zwar sagt Church, jeder Nutzer
bei ihren Kindern auftritt. Es liegt dann bei 25 Prozent. Männer könne selbst wählen, welche Mutationen berücksichtigt werden.
und Frauen mit der gleichen Mutation sollen sich auf der Flirt- Doch wer will sich schon durch eine Liste mit Hunderten Gen-
plattform deshalb gar nicht erst begegnen können. Church rech- varianten quälen? Am Ende werden also die Betreiber einer
net vor, dass so weniger als 3 von 100 potenziellen Partnern solchen Dating-App darüber entscheiden, welches Leben wün-
ausgeschlossen würden. schenswert ist und welches nicht. Martin Schlak

89
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Titel

Mein bestes Ich


Erfolg Schöner, schlanker, schlauer – noch nie war der Druck,
sich zu optimieren, so stark wie heute. Doch viele
überfordert der ständige Wettkampf mit anderen und sich selbst.

V
ivien Suchert zählte zu den Fort- deln bringt. Es sind Studenten wie Clara Backshops, Nudelsorten und Erziehungs-
geschrittenen. Die 29-Jährige leg- Beusse, Dozenten wie Benjamin Windhoff, methoden hat sich in den zurückliegenden
te Gurkenscheiben auf die Kü- Kommunikationsprofis wie Kim Zumdiek Jahren vervielfacht. Zahlreiche Männer,
chenwaage, um das exakte Ge- oder Geschäftsleute wie Peter Grob. Sie Frauen und Heranwachsende fühlen sich
wicht in ihren Computer übertragen zu wollten ihre Ziele besonders gut erreichen, dem Zwang ausgesetzt, inmitten von Un-
können. Und wenn sie Joghurt oder Tofu erfolgreich sein, konzentrationsfähig, ge- überschaubarkeit immer mehr bestmög-
aß, scannte sie vorher den Barcode auf der sund, klar, durchsetzungsstark. Und sie liche Entscheidungen treffen zu müssen.
Verpackung mit einer App, um die genaue alle haben sich bei ihrer Arbeit am Ich zwi- Die großartigste Biogemüsekiste, der
Grammzahl von Fett, Eiweiß und Kohlen- schendurch schmerzhaft verhoben. coolste Black-Friday-Deal, der tollste Fri-
hydraten zu erfahren. »Selbstoptimierung« nennen Soziolo- seur – selbst in nebensächlichen Alltags-
Suchert wog 56 Kilo, bei ihrer Größe gen, Ärzte, Psychologen und andere The- disziplinen gilt es, optimal dazustehen. Die
von 168 Zentimetern ein gesundes Nor- rapeuten das Perfektionsstreben. Es ist ein Sorge, das eigene Potenzial nicht auszu-
malgewicht. Aber sie hatte ein anderes Lebensgefühl, das sich in unterschiedlichs- schöpfen, strengt an.
Ziel: die optimale Körperfettverteilung. ten sozialen Milieus rasant ausbreitet. Zu- »Wir beobachten, dass Menschen in see-
Quark, bio, Anbieter Edeka, 200 Gramm, rückhaltende Wissenschaftler sprechen von lische Schieflagen geraten, weil sie dem
so speiste sie die Daten ein, 40 Minuten einem Trend, andere haben das 21. Jahr- gängigen Ideal von Leistung, Klugheit
Joggen, 9,6 Kilometer pro Stunde. Heidel- hundert zum Zeitalter der Selbstoptimie- oder Schönheit nicht zu genügen meinen«,
beeren, lose, 100 Gramm. Und jedes Mal rung erklärt. sagt Georg Juckel, Ärztlicher Direktor
zeigte das Programm ihr an, ob sie auf »Viele Menschen müssen sich in ständig der Klinik für Psychiatrie und Psycho-
dem richtigen Weg war. wechselnden Projekten am Arbeitsplatz therapie an der Universität Bochum.
Sechs Monate lang hielt sie durch, dann behaupten und auch im Privatleben mit »Selbst Yogakurse oder Wellness geraten
brach sie erschöpft ab. »Ich habe meinem Umbrüchen zurechtkommen«, so be- heute zum Wettbewerb gegen sich selbst«,
Körper zu viel zugemutet«, sagt sie mitt- schreibt Greta Wagner die Lage. Die So- ergänzt die Lüneburger Theologin und
lerweile, »es war letztlich ein überflüssiger ziologin an der Technischen Universität Achtsamkeitstrainerin Selma Polat-Menke.
Wettbewerb gegen mich selbst. Man läuft Darmstadt hat erforscht, wie gesellschaft- »Die bestmögliche Entspannung gehört
Gefahr, den Sinn für seine wirklichen Be- licher Wettbewerb menschliches Verhalten zum Programm wie der nächste Karriere-
dürfnisse zu verlieren. Und oft genießt beeinflusst. Gefragt seien heute jene, die schritt.«
man den Erfolg nicht einmal. Denn besser »sich alle möglichen Kompetenzen an- Selbstoptimierung bedeute Glück, Er-
geht es immer.« eignen, um flexibel auf die Neuerungen folg und Entfaltung, argumentieren hinge-
Suchert ist Psychologin, vom Fenster zu reagieren«. Dieser Anspruch erzeuge gen Coaches wie der Hamburger Pascal
ihrer Wohnung im Leipziger Südosten Druck. Habighorst. Zu erkennen, dass man kein
blickt sie auf Seen, die am Rande der Stadt Und das nicht nur am Arbeitsplatz oder Opfer der Verhältnisse sein müsse und aus
liegen. Im Sommer Stand-up-Paddeln, im in der Partnerschaft. Die individualisierte eigener Kraft selbstbewusster, reicher oder
Herbst schnelle Joggingrunden, von der Welt bietet unzählige Möglichkeiten und schlagfertiger werden könne, sei ein Akt
Wohnzimmerdecke hängt eine Metallstan- Alternativen. Allein das Angebot an Stu- der Emanzipation.
ge für Klimmzüge, bei den Büchern liegt diengängen, Strom- und Handytarifen, Dass der Mensch nach der bestmög-
eine noppenbesetzte Hartgummirolle für lichen Version seiner selbst strebt, gehört
das Faszientraining. Suchert hat promo- zu seiner Erfolgsgeschichte. Ohne diesen
viert, außerdem ist sie Fitnesstrainerin und Coaching Motor hätte er sich kaum an die sich stän-
Autorin eines Sachbuchs über Sport und dig verändernde Umwelt angepasst. Spä-

8000
Bewegung. Taillierte Bluse, eng anliegen- Schätzungsweise testens seitdem die Philosophen der Anti-
de Hose: Dass diese Frau nicht einfach vor ke die Frage aufwarfen, wie sich Geist und
sich hinlebt, ist unübersehbar. Körper vervollkommnen lassen, zählt die
Aber die Psychologin zählt nicht mehr. Arbeit am Ich auch als Kulturleistung.
Keine Gurkenscheiben, keine Kalorien Coaches gab es 2013 Doch bei alldem galt es stets, das rechte
und nicht die 120 Treppenstufen vom in Deutschland. Maß zu finden, das Ideal. Und ebendas
Briefkasten zu ihrer Wohnungstür. scheint aus dem Blick zu geraten.

520 Mio.
»Ich habe mich früher ziemlich unter Rund Der Optimierungstrend sei auf eine bis-
Druck gesetzt«, sagt sie. »Jetzt empfinde lang unbekannte Weise radikal, resümiert
ich es als megabefreiend, anders zu leben. die Baseler Philosophieprofessorin Dag-
Es war ein Lernprozess.« mar Fenner in ihrem jüngst erschienenen
Alle, die in diesem Text von sich erzäh- Euro Umsatz wurden 2016 Buch*. Man habe es mit einem »gesell-
len, blicken ähnlich zurück; sie alle gerie- durch Coaching erzielt.
ten in einen Sog, der viele Menschen nach * Dagmar Fenner: »Selbstoptimierung und Enhance-
Ansicht von Experten zunehmend ins Tru- Quelle: Marburger Coaching-Studie ment«. UTB; 360 Seiten; 24,99 Euro.

90 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Illustrationen: Mona Eing und Michael Meißner für den SPIEGEL 91


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schaftlichen Leitbild« zu tun, das fähigkeit verfliegt schnell«, sagt


die Lebenswelt jedes Einzelnen Klaus Lieb. Der Psychiater und
immer stärker präge. »Die Idea- Leiter des Leibniz-Instituts für
le, an denen Menschen heute zu Resilienzforschung in Mainz er-
scheitern meinen, sind derart forscht die unterschiedlichen Va-
vielfältig, wie wir es uns vor rianten von Neuro-Enhancement
30 Jahren nicht hätten vorstellen seit Jahren, er weist regelmäßig
können«, sagt Juckel. »Manche auf die Nebenwirkungen derar-
erwachsenen Menschen reagie- tigen Hirndopings hin – »Schwin-
ren mit Tränen, wenn in einem del, Nervosität, Schlafstörungen
angesagten Fingernagelstudio und Abhängigkeit, außerdem
kein Termin mehr für sie frei ist.« können bei dafür veranlagten
Ist das schon krankhaft – oder Menschen psychische Störungen
noch im Rahmen? Wieso streben wie Depressionen oder Psycho-
Menschen überhaupt so hartnä- sen ausgelöst werden«.
ckig nach einer besseren Version Die allgegenwärtige Idee vom
ihrer selbst? Und wie lernt man, Bestmöglichen verbinde sich auf
sich von dem übergroßen Druck riskante Weise mit ohnehin vor-
zu befreien, den dieser Ehrgeiz handenen Risikofaktoren, warnt
oft mit sich bringt? auch sein Kollege Juckel. Die
Zahlreiche Männer und Frau- Zahl psychisch Kranker sei zwar
en führen Kurven wie Kranken- nicht angestiegen, aber per-
schwestern oder Kadertrainer. manente Selbstoptimierung kön-
Sie vermessen ihren Ruhepuls, ne bei vorbelasteten Menschen
ihre Schlafphasen und Gemüts- Angstzustände, depressive Pha-
zustände, die Zahl der Schläge sen, Sucht oder aggressives Ver-
im Paddelboot oder der Stöße halten auslösen und verschlim-
beim Geschlechtsverkehr. Selbst mern.
ernannte Biohacker geben vor, Dauerhafter Leistungsdruck
den menschlichen Organismus begünstigt zudem jenen chroni-
zu durchschauen und seine schen Stress, der das Risiko er-
Schwachstellen überlisten zu höht, am Herz-Kreislauf-System
können: Manche Menschen in Europa abend noch energiegeladen zu fühlen – oder an chronischen Schmerzen zu erkran-
tragen ihre Körperdaten auf Mikrochip- ohne dass ein Arzt ihnen die Tabletten ver- ken. Jeder zehnte Deutsche fühlt sich der-
Implantaten gespeichert unter der Haut schrieben hätte. Andere greifen zu Drogen artigem Stress ausgesetzt. Vier von zehn
und schicken die Werte per Funk an eine wie Kokain und Amphetaminen. berichten, sie kämen sich abgearbeitet vor,
Software, die aus dem Datenstrom neue Lange galten derartige Mittel als letzte beinahe jeder zweite Schüler hält den Un-
Formeln für ein besseres Leben ableiten Hoffnung von Managern und Kreativen, terricht für belastend.
soll. Der Buchmarkt lockt mit Titeln wie laut DAK-Report finden sich unter den Nicht alle sind deswegen gefährdet. Sich
»Better Body – Better Brain. Mit komplet- Konsumenten zunehmend ungelernte und anzustrengen und zu fordern, auch extrem,
tem 4-Wochen-Reset-Programm«. Tausen- angelernte Beschäftigte. Der Soziologin gehöre zum Leben, sagt Lieb. »Punktuel-
de Personal Trainer, Lebensberater und Greta Wagner berichteten Studenten, sie ler Stress steigert die Leistungsfähigkeit,
Chirurgen versprechen maximalen Fort- könnten motivierter lernen, wenn sie vor- und ein gewisses Maß an Anspannung ver-
schritt. her die Tabletten genommen hätten. bessert das Ergebnis, weil die Konzentra-
922 000 Schönheitsoperationen und »Dabei wirken diese Medikamente bei tion wächst.«
-eingriffe im Jahr, 31 Prozent mehr als gesunden Menschen in der Regel nicht bes- Wer indes ständig damit beschäftigt sei,
2017 – damit gehört die Bundesrepublik ser als Placebos, und der Zustand leicht alle möglichen gesellschaftlichen Ideale
zu den Ländern mit den meisten ästheti- erhöhter Wachheit und Konzentrations- mit dem eigenen Dasein abzugleichen, ver-
schen Behandlungen. Die Botox-Spritze halte sich riskant. Die Zahl der Befindlich-
gegen Falten führt mit fast 321 700 Einsät- keitsstörungen nehme zu – jene nagenden
zen die Liste an, mehr als 57 400-mal wur- Fitness Gefühle der Unzufriedenheit, die nicht
den Oberlider gestrafft. Weitere Favoriten krankhaft sind, aber das Leben beschwe-

11 Mio.
bei Frauen und Männern sind Fettabsau- Weit über ren. »Weil es immer weniger optimierungs-
gen und Lippenkorrekturen, auch Tränen- freie Zonen gibt, fehlt Menschen das für
säcke verschwinden aus immer mehr Ge- eine gesunde Psyche notwendige Gegen-
sichtern. Wer jung und unverbraucht aus- gewicht: das Gefühl, dass etwas einfach so
sieht, verdient vermeintlich mehr Geld Mitglieder verzeichneten sein darf, wie es ist.«
und steigt eher auf als jene, die ihren Job die Fitnessklubs 2018 in Deutschland.
vielleicht ebenso wenig in den Griff be- Ein Abend im Oktober, im ehemaligen Es-
kommen wie ihren Körper. Auch diese Lo-

5,3 Mrd.
Mehr als sener Bergwerk Zeche Zollverein trägt
gik gehört zur Selbstoptimierung. Ildikó von Kürthy beim Literaturfestival
Laut neuen Zahlen im DAK-Gesund- Lit.Ruhr eine szenische Lesung aus ihrem
heitsreport nutzen 730 000 Beschäftigte neuen Roman vor*. Die Bestsellerautorin
stimulierende Substanzen wie Methylphe- Euro Umsatz ist bekannt für humoristische Schilderungen
nidat (zum Beispiel in Form von Ritalin) wurden in der Branche erzielt.
oder Modafinil, um am Arbeitsplatz er- Stand: 2018 * Ildikó von Kürthy: »Es wird Zeit«. Wunderlich;
folgreicher zu sein oder sich am Feier- Quelle: Statista 384 Seiten, 20 Euro.

92 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Titel

leicht nervöser Frauen, die als Mütter, Be- Traurigkeit, Magenkrämpfen und Zweifeln Dann konnte er nicht mehr. Als er am
rufstätige, Geliebte und beste Freundinnen hat er sich wieder der alten Form angenä- dritten Tag immer noch im Bett lag, die
gleichermaßen hinreißend sein wollen und hert. Es gab Tage, da lag er nur im Bett, Decke überm Kopf, brachte ihn seine Frau
über diesem Anspruch verzweifeln. Auch ungeduscht, die Decke über dem Kopf, als in die Klinik, und die Ärzte diagnostizier-
die Heldin des neuen Buchs leidet an der dürfte ihn, den Versager, niemand sehen. ten eine Erschöpfungsdepression.
niederschmetternden Kluft zwischen eige- Peter Grob, der eigentlich anders heißt,
nem Anspruch und eigenem Mittelmaß. besaß früher ein Autohaus. Neuwagen, Ge- Es existieren viele Ansätze, die erklären
Sie hat, erfahren die 600 Frauen und Män- brauchtwagen, Reparaturen, fast 20 Jahre sollen, warum Menschen sich dem Druck
ner im ausverkauften Saal, gerade ihre lang hatte er die Filiale geführt. »Das Beste der Selbstoptimierung stärker aussetzen,
Mutter beerdigt und sinniert nun mit der oder nichts«, lautet das Motto der Marke, als sie es ertragen. Vereinfacht zusammen-
besten Freundin über das eigene Leben. die er vertrat, und 25 Mitarbeiter taten, was gefasst, ist ein Wechselspiel aus äußeren
Neben Kürthy auf der Bühne: Schmink- er für richtig hielt. Dann verkaufte Grob Faktoren und persönlicher Veranlagung
pinsel, Zellophantücher und, in der Rolle die Filiale und plante sein Alterswerk, sein dafür verantwortlich.
der besten Freundin, die Kabarettistin Cor- Meisterstück, wie er sagt – den Umbau ei- Der Wunsch, das eigene Dasein als Er-
dula Stratmann. Kürthy trägt Türkis, der nes Mietshauses. Ökologisch, seniorenge- folgsgeschichte zu erleben, wachse mit
damenhafte Morgenmantel wippt ausla- recht und überhaupt optimal sollten die dem miesen Allgemeinzustand der Welt,
dend um ihren Körper. Wohnungen werden, derart, dass er selbst argumentieren Sozialwissenschaftler. Seit-
»Schade, dass man erst bemerkt, dass dort einziehen würde. Grob erlebte, wovon dem die Aufklärung im 18. Jahrhundert
man schlank, schön und ohne Sorgen ist, nahezu alle Bauherren berichten: Verzöge- den Glauben an einen göttlichen Plan in
wenn man nicht mehr schlank, schön und rungen und Pannen, unzuverlässige Hand- den Hintergrund drängte, gilt zumindest
ohne Sorgen ist«, lässt sie ihre Romanhel- werker, eigensinnige Architekten. in der westlichen Welt der Grundsatz, dass
din sagen. »Es reicht nicht, im Leben ein- Aber er, der ehemalige Chef, wollte sich jeder sein Leben eigenverantwortlich ge-
fach nur zufrieden zu sein.« Zwischen- nicht ausgebremst fühlen, also zeichnete stalten kann. Derzeit aber komme die
durch meldet sich eine Wasser-App mit er eigenhändig Pläne, schleppte Zement- Welt mit ihren Klimakatastrophen, Terror-
dem Geräusch einer Toilettenspülung und säcke, verbrachte jeden Tag auf der Bau- anschlägen und Fluchtbewegungen vielen
erinnert die beiden Frauen daran, ausrei- stelle und las abends Lernmaterial für Ge- Menschen so unbeherrschbar vor, dass sie
chend zu trinken. Viel Gelächter im Publi- sellenprüfungen, um gegen die Einwände um ihren Status fürchteten.
kum, doch beim Bier danach fallen auch der Handwerker gewappnet zu sein. Vor allem in der Mitte der Gesellschaft
betretene Sätze. Kürthys Szenen erinnern Schon bei seiner Arbeit im Autohaus hatte wachse die Angst vor dem sozialen Ab-
manche an die eigenen Kämpfe. er sich am Ideal eines Buddelschiffs orien- stieg, beobachten Soziologen. Ein Hoch-
»Rückblickend betrachtet, fand man tiert: Alles muss auf Anhieb funktionieren, schulabschluss garantiert längst kein kom-
sich ja leider in allen Lebensphasen opti- weil keine Reparaturen mehr möglich sind, fortables Leben mehr, eine steigende Zahl
mierungswürdig, auch in jenen, in denen sobald das Ding in der Flasche steht. von Menschen leistet in schlecht bezahl-
man eigentlich keinen Grund hatte, ten Jobs Knochenarbeit. Und
an sich selbst rumzumeckern«, sagt selbst manche gefragten Manager
die 51-Jährige später beim Gespräch und Entscheider fühlen sich ver-
(siehe Interview Seite 98). »Das ist unsichert, weil sie ihre Aufgaben
auch deshalb bedauerlich, weil es jederzeit an Konkurrenten in
so viel Kraft kostet.« Shanghai, Dubai oder anderen Or-
Die 30-jährige Hamburgerin Kim ten der globalisierten Welt verlie-
Zumdiek hat es in den zurücklie- ren könnten.
genden Jahren ähnlich erlebt. Es Lebensläufe, so fassen es die
sei schwierig, einen kühlen Blick zu Wissenschaftler zusammen, ver-
behalten, wenn es um das eigene liefen immer weniger planbar.
Befinden gehe, meint sie. Immer Selbstoptimierung komme da dem
wieder entschied sie sich voller Versuch gleich, sich bestmöglich
Zweifel für die vermeintlich bessere zu wappnen.
Karriere: Stationen in Marketing- Allerdings ist die Welt auch frü-
abteilungen von Unternehmen, her manches Mal in Katastrophen
dann in einer Agentur, dann eine versunken. Und sicher planen ließ
Promotion, dann Lehre an einer sich ein Leben noch nie. Die Alten
Hochschule. Und bei jedem Wech- in Deutschland erinnern sich an
sel die Frage: Erfüllt mich das ei- Bombennächte und Hunger; seit
gentlich? Oder will ich im allgemei- je müssen Menschen Prüfungen
nen Wettbewerb nur toller daste- bestehen, Selbstzweifel aushalten
hen? Jedes Mal redete sie sich ein, und Ängste ertragen.
es werde sich alles zum Besten wen- Was also, der Gedanke drängt
den, wenn sie sich noch mehr auf sich auf, soll das Gerede von Leis-
die Arbeit einlasse – vergebens. tungsdruck und Selbstoptimie-
Auch Peter Grob kennt dieses rungszwängen? Der durchschnitt-
Gefühl, zum dritten Mal in den zu- liche Deutsche verbringt mehr Zeit
rückliegenden sechs Monaten ist mit Urlaub und Arbeitspausen als
der 52-Jährige als Patient bei Georg seine Großeltern. Auch seiner Psy-
Juckel in Bochum, dieses Mal in che ist ein vormals undenkbares
der Tagesklinik. Interesse sicher. Sie bestimmt Ta-
Gebügeltes Hemd, glatt rasiertes gesordnungspunkte in Betriebs-
Gesicht, nach Wochen voller Wut, ratsrunden, Paragrafen im Arbeits-

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schutzgesetz und Beiträge zahlreicher Wege aus der Selbstoptimierungsfalle untersuchen, wie eine Theorie aussehen
Fachkongresse, Talkshows, Coachingstun- – was Experten raten könnte, die Ansätze aus Kunst, Hirnfor-
den und Therapiesitzungen. schung, Philosophie und Pädagogik vereint.

1
Aber eines habe sich eben elementar Dass er, ein Typ, der zweimal durch die
verändert, sagt Suchert, die Psychologin
aus Leipzig. »Unsere durchdigitalisierte
Andere Abiturprüfung gefallen war, für eine solche
Grundsatzfrage zuständig sein sollte, habe
Welt ermöglicht es heute überhaupt erst, Perspektiven ihn geehrt – und ihm zugleich derart zu-
dass wir uns im großen Stil bewerten und gesetzt, dass er einen Arzt gedrängt habe,
vergleichen.« Ihr neues Buch handelt von Manchmal verhindern festgefahrene ihm Ritalin zu verschreiben, erzählt er.
den gesellschaftlichen Folgen dieser Da- Überzeugungen und Sichtweisen Wochenlang sei er um die Packung he-
tenflut*. »Natürlich gibt es auch lauter einen besseren Blick auf die eigenen rumgeschlichen, habe währenddessen
positive Effekte«, sagt sie, »ein digitales Bedürfnisse. Sich von alten Glaubens- Abhandlungen über Nebenwirkungen und
Ernährungstagebuch hilft nachweislich sätzen und Zuschreibungen zu über den Konkurrenzdruck in der Leis-
beim Abnehmen und ist für übergewichti- verabschieden kann hilfreich sein. tungsgesellschaft gelesen; er verfolgte die
ge Menschen sinnvoll. Aber viele Leute Medikamentenfrage mit der gleichen

2
vermessen sich aus reinem Selbstzweck.« grüblerischen Genauigkeit, die ihn davon

Soziologen, Philosophen, Hirnforscher,


Ausgewogene abhielt, auch nur das Exposé seiner Arbeit
fertigzustellen. Sein Selbstbild und die
Mediziner, Psychologen und Trendfor- Mischung Wirklichkeit drifteten immer weiter ausei-
scher sind sich einig, dass die Informa- nander: Nach wie vor sah er sich als lässigen
tionsflut der digitalen Welt die Selbst- Jeder Mensch lebt von Anerkennung – Motorradfahrer, der wie nebenbei den ge-
wahrnehmung grundlegend verändere. aber genauso wichtig sind Beziehun- sellschaftlichen Aufstieg hinlegt. Tatsächlich
Lauter Chats und Posts über Höhepunkte gen zu Menschen, denen man sich verlor er sich längst in seinen Ansprüchen
und Erfolge, unzählige bearbeitete, aufge- verbunden fühlt, und Momente, in de- und in den Parallelwelten des Internets.
hübschte Fotos – verglichen mit so viel nen Leistung keine Rolle spielt. Als er schließlich zu dem Medikament
Hochglanz erscheine das eigene Leben Wer allen Anteilen ausreichend Platz griff, zermürbt von den ergebnislosen Ta-
zwangsläufig verbesserungsbedürftig. »Wir im Leben einräumt, hat es leichter. gen, habe er nur eine halbe Tablette ge-
sind eine oberflächlichere Gesellschaft nommen und sich trotzdem gefühlt, als

3
geworden«, so fasst es der Bochumer hätte er doppelt versagt. Erschöpft, lustlos
Psychiater Juckel zusammen. »Die Idee, und innerlich leer, sah er sich nicht mehr
dass innere Werte einen Menschen aus-
Selbsterkenntnis in der Lage, den Alltag zu bestehen, er-
zeichnen könnten, hat im Moment eher trainieren zählt er. Sechs Wochen verbrachte er in
weniger Konjunktur.« einer psychiatrischen Klinik. Inzwischen
Benjamin Windhoff erlebt das am eige- Das Bedürfnis nach Anerkennung und verantwortet Windhoff die Social-Media-
nen Beispiel. An manchen Tagen gesteht Perfektion steht oft stellvertretend Aktivitäten eines Fernsehsenders für Ge-
sich der 36-jährige Rheinländer noch im- für andere Wünsche. Wer sich mit in- sundheitsfragen. Mit dem klar umrissenen
mer ungern ein, dass er nie der locker auf- nerer Distanz befragt, was ihm im Halbtagsjob gehe es ihm trotz des karge-
tretende Jungwissenschaftler war, als der Leben fehlt und wie sich das ändern ren Lebensstils besser, meint er.
er sich gern sah. Dass er nun halbtags ar- ließe, ist einen Schritt weiter. Dass man heute in vielen Jobs weit-
beitet, kommt ihm dann unangenehm vor, gehend selbstbestimmt arbeiten könne,

4
obwohl er es so wollte. Und dass er sein berge auch Fallstricke, sagt die Soziologin
Motorrad abgeben musste und nur noch
wenige Paar Sneakers besitzt, weil ein hal-
Stimmiges Greta Wagner. »So notwendig es war,
autoritäre Strukturen in Betrieben aufzu-
bes Gehalt nicht weiter reicht, empfindet Lebensgefühl brechen, und sosehr die Flexibilisierung
er trotz der neu gewonnenen Freiheit als der Arbeitszeit zur Vereinbarkeit von Fa-
Statusverlust. Meist bleibt trotz aller Zwänge im milie und Beruf beiträgt – die flacheren
Er hat als Designtheoretiker gearbeitet, Alltag ein Handlungsspielraum, der Hierarchien, beweglicheren Bürozeiten
stets am Computer, aß oft vor dem Bild- sich nach eigenen Werten und Ideen und Projektarbeiten führen auch dazu,
schirm oder schlief mit dem Rechner auf gestalten lässt. Orientiert man sich dass viele Menschen mehr leisten, weil sie
den Knien im Bett ein. »Ich war permanent dabei ehrlich an seinen Bedürfnissen sich selbstbestimmter fühlen. Sie sind erst
online, um mein Leben zu organisieren und weniger an den Erwartungen an- einmal zufriedener, beuten sich aber oft
und für meine Projekte zu recherchieren«, derer, stellt sich eher Zufriedenheit ein. irgendwann selbst aus.«
sagt er. »Und natürlich habe ich dabei stän- Zumal Chefs ihre Mitarbeiter gern im

5
dig links und rechts geklickt: Welche Ideen Wettstreit um Etats gegeneinander antre-
haben andere, wie weit sind sie, wo stehe
ich?« Er habe sich eingebildet, seine Ziele
Gesunder ten lassen oder die Konkurrenz anfachen,
indem sie Erfolgszahlen von Abteilungen
voranzutreiben. »Aber in Wahrheit habe Lebensstil veröffentlichen. »Der Leistungsdruck hat
ich mir mit den andauernden Vergleichen sich seit den Neunzigerjahren auch als
ein lähmendes Gefühl von Leistungsdruck Fürsorglich mit sich umzugehen ist Folge der Hartz-Reformen verändert«, ur-
beschert.« die Grundvoraussetzung: genügend teilt Wagner. »Seitdem der Staat weniger
An seinem Arbeitsplatz, der Fakultät Schlaf und Ruhepausen, maßvoller soziale Sicherheit gewährleistet, wird von
für Architektur an der Technischen Hoch- Sport, ausgewogenes Essen, realis- jedem Einzelnen viel stärker gefordert,
schule Köln, sollte Windhoff eine Doktor- tische Ziele. Und sollte etwas nicht wettbewerbsfähig zu bleiben. Dieses Prin-
arbeit über Kreativität schreiben – und nach Plan verlaufen, führt eine ge- zip spiegelt sich in den Unternehmenskul-
lassene Fehleranalyse eher zum Ziel turen wider: Den Mitarbeitern wird immer
* Vivien Suchert: »Das vermessene Ich«. Ecowin; als quälende Selbstkritik. mehr Verantwortung für den Erfolg des
280 Seiten; 18 Euro. ganzen Unternehmens und genauso für

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die eigene psychische Widerstandsfähig-


keit übertragen.«
Bereits im Bewerbungsgespräch müss-
ten Kandidaten oft erklären, wie sie es an-
stellen wollten, trotz hoher Belastungen
gesund und leistungsfähig zu bleiben. »Un-
ter dem Deckmantel der Fürsorge bauen
Arbeitgeber auf diese Weise zusätzlichen
Optimierungsdruck auf«, kritisiert die So-
ziologin.
Selbst Freiräume, die früher den Ab-
stand zur Arbeit markierten, sind geka-
pert. In zahlreichen Betrieben finden sich
heute Yogaräume, weil Chefs sich davon
gesündere und dadurch produktivere Mit-
arbeiter erhoffen. Andere Vorgesetzte set-
zen ein Achtsamkeitstraining aufs Pro-
gramm, bei dem Angestellte mithilfe von
Meditationstechniken lernen sollen, sich
in Gelassenheit zu üben und Gedanken
kommen und gehen zu lassen, ohne sie so-
fort zu bewerten.
»Man sollte genau hinsehen, mit wel-
chem Ziel solche Kurse angeboten wer- Ich-Schwäche auszugleichen, indem sie ih- im Wald: Ein Sturm kann die ganze Exis-
den«, sagt die Trainerin Polat-Menke. ren Selbstwert durch äußerlich sichtbare tenz gefährden.«
»Achtsamkeit bedeutet nicht, die Wut über Erfolge wie Karriere, Reichtum oder einen
Missstände am Arbeitsplatz oder unge- möglichst makellosen Körper aufwerten.« Igor Wetta verlor den Halt, als er am
rechte Verhältnisse wegzumeditieren. Es Der Grund dafür, so die psychoanalyti- Schreibtisch saß und vor dem Fenster in
geht vielmehr darum, sich der eigenen Ge- sche Theorie, sei jene Portion Narzissmus, der Sonne die Spaziergänger vorbeischlen-
fühle bewusst zu werden und dann hilf- die viele in sich tragen: das elementare dern sah. Er studierte damals Informatik,
reich damit umzugehen. Aber wie alle Bedürfnis, die eigene Bedeutsamkeit im seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er
Techniken lässt sich auch Achtsamkeit in- Applaus der anderen gespiegelt zu sehen – Computerprogramme ersonnen, Men-
strumentalisieren.« um sich dadurch am Ende so gut zu fühlen, schen in Onlinechats bei Problemen mit
Dass sich so viele Menschen dem Opti- dass man sich trotz eines schwachen Ichs Trojanern oder der Software geholfen –
mierungstrend unterwerfen, dass es als Er- selbst lieben und akzeptieren könne. und seine Fähigkeiten rund um den Rech-
rungenschaft gilt, nach 21 Uhr keine be- Der Prozess der Zivilisation hat den ner genauso optimiert wie sein Selbstver-
ruflichen E-Mails mehr lesen zu müssen, Menschen gelehrt, seine narzisstischen Sei- ständnis als Digitalprofi.
dass Signale wie Erschöpfung, Magen- ten in vielen Fällen gewinnbringend um- »Ich hatte nur nie darüber nachgedacht,
schmerzen oder ständige Unzufriedenheit zumünzen. »Dabei kann Großartiges he- dass mein soziales Wissen zu kurz kom-
oft erst einmal unbeachtet bleiben, liegt rauskommen, tolle Kunst, tolle Musik, tol- men könnte«, sagt er. »Und plötzlich frag-
an einem grundlegenden menschlichen le Führungspersönlichkeiten«, sagt Axel te ich mich, wieso andere Leute Freunde
Verhaltensmuster. Es gehe dabei im Kern Schmidt. »Aber für einen stabilen Selbst- haben und ich nicht einmal weiß, wie man
um drei große Daseinsfragen, erklärt der wert brauchen wir neben Applaus und An- sich zum Spazierengehen verabredet.«
Psychiater und Coach Axel Schmidt, der erkennung auch Menschen, denen wir uns Igor Wetta, auch er erzählt von seinen
in Bonn eine Klinik für Suchtpatienten lei- verbunden fühlen, und lustvolle Momente, Erfahrungen lieber unter einem anderen
tet und außerdem Führungskräfte berät. in denen Leistung keine Rolle spielt. Sind Namen, wollte sein Problem wie gewohnt
»Die Spiralen der Selbstoptimierung dre- diese Anteile im Leben sehr ungleich ver- mit Gebrauchsanweisungen aus dem In-
hen sich letztlich um Anerkennung, teilt, reagieren wir wie eine Monokultur ternet lösen. Aber er kam mit seinen Fra-
Selbstzweifel und ein stimmiges Lebens- gen nicht weiter. Wie verabredet man sich
gefühl.« In diesem Dreieck reibe der zum Spazierengehen? Was zieht man an
Mensch sich auf. Krankheit als junger Mann? »Alle erwarten, dass
»Wir brauchen die Anerkennung ande- man das im Leben nebenbei lernt.«

90 %
rer – und lernen schon im Kindergarten, Fehlzeiten von Berufstätigen ... Dann verlor er den Job, mit dem er sein
dass wir dafür am besten erwartungs- ... aufgrund Studium finanziert hatte, lag vier Wochen
gemäß funktionieren«, sagt Schmidt. »Zu- psychischer/ lang wie lahmgelegt auf dem Sofa und
gleich gelten in unserer hoch individua- Verhaltens- knapp dachte nach. Der Chef hatte ihm unsozia-
lisierten Welt jene besonders viel, die be- störungen Steigerung gegenüber 2000
les Verhalten vorgeworfen. Wetta ahnte,
sonders originell und durchsetzungsstark warum, wusste aber nicht, wie er sich an-
auftreten. Und mitten in diesen Wider- ders hätte verhalten sollen. Wieder bemüh-
spruch flüstert unser Unbewusstes, wir Quelle: zum Vergleich: te er die Suchmaschine, fand Einträge über
müssten den eigenen Werten gemäß le- Die Techniker Krankheiten soziale Phobie, sah sich darin nicht exakt
ben.« Mit diesem Paradox müsse man erst des Atmungs- beschrieben und verschob das Problem.
systems
einmal klarkommen. Dass gleich sein erster Job nach dem
»Vereinfacht gesprochen, sind viele Studium besser bezahlt ist als der seines
Menschen mit einem eher schwachen Vaters nach 20 Berufsjahren, erfüllt ihn
Ich ausgestattet«, ergänzt der Bochumer Krankheiten des mit Stolz. Aber sein Unwissen im Umgang
Psychiater Juckel. »Sie versuchen, diese 2000 Muskel-Skelett-Systems 2017 mit Menschen hat Wetta in sein neues

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 95


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Mühe, mit der sie das Bild eines funktio-


nierenden Menschen aufrechterhalten
habe, offenbar vergeblich gewesen sei.
»Ich hätte mir gewünscht«, sagt sie heu-
te, »dass mal jemand in mein Zimmer ge-
kommen wäre und mir geraten hätte, mich
um mich zu kümmern – und nicht darum,
irgendwelche tollen Sachen zu leisten.«
Auch Merle Tebbe hatte die Fähigkeit
perfektioniert, ihre Seele zu ignorieren.
»Nichts dramatisieren, weitermachen, kei-
ne Umstände bereiten, wegarbeiten«, die-
se Ansprüche prägten das Selbstbild der
32-jährigen Grafikerin. Wurde sie in Zeiten
beruflicher Anspannung ohnmächtig, schob
sie es auf Kreislaufprobleme; schnürten
ihr nachts Versagensängste den Atem ab,
ging sie in eine Kneipe und legte sich erst
bei Sonnenaufgang schlafen. Sie nahm je-
den Auftrag in ihrem Job an, wollte nicht
als schwierig gelten, schlug selbst wenig
vertrauten Bekannten kaum eine Bitte ab –
und wies sie doch einmal ein Ansinnen zu-
Hamburger Leben mitgebracht. Er hätte und wenig Raum für sperrige Gefühle, so rück, litt sie an schlechtem Gewissen und
so gern mal einen Gast in seiner Wohnung, beschreibt sie ihr Elternhaus. Schon als Magendrücken.
auch einen weiblichen, sagt er. Neulich hat Grundschülerin musizierte sie bei zahlrei- Dann starb ihre Schwester. Merle Tebbe
er den Eltern zum ersten Mal im Leben chen Wettbewerben und brachte tadellose arbeitete weiter, ohne Besinnung, als wäre
mitgeteilt, wie es ihm geht. Unaufgefor- Zeugnisse nach Hause. Und als sie mit nichts geschehen – bis der Schmerz sie an-
dert. Sie hätten noch nie danach gefragt. zwölf Jahren kaum mehr aß und schließ- derthalb Jahre später überfiel. Sie bemerk-
lich aus Angst vor der Welt nicht mehr zur te im ersten Moment nicht einmal, dass
Wie sich der Selbstwert eines Menschen Schule ging, klammerte sie sich daran, dass sie weinte, sie wunderte sich während ei-
entwickelt, hängt wie viele Persönlichkeits- alles wieder gut werden könne, wenn sie nes Telefonats mit einem Kunden nur über
merkmale in hohem Maß von Kindheits- nur die Zähne zusammenbeiße. ihr nasses Gesicht. Dann ließ der Kummer
erfahrungen ab. Fühlen sich Heranwach- »Ich bin ein liebenswerter Mensch, mir sie nicht mehr los.
sende nicht anerkannt und nicht geborgen, kann nichts passieren«, sprach sie sich vor, »Es mag im ersten Augenblick merkwür-
können sie ausgeprägte Fantasien von der wie sie es in den Therapiestunden gelernt dig klingen, aber hinter unseren Selbst-
eigenen Größe und Stärke entwickeln. Sie hatte. Die Abiturnote reichte für ein Me- optimierungsstrategien verbirgt sich auch
versuchen dadurch, so lässt sich die Theorie dizinstudium, Clara hätte stolz sein kön- unsere Angst vor der Endlichkeit«, meint
zusammenfassen, den erlebten Mangel aus- nen oder erleichtert wie die Eltern, statt- der Bochumer Mediziner Juckel. »Solange
zugleichen – und laufen dabei Gefahr, sich dessen beobachtete sie sich argwöhnisch, wir rastlos von einem Projekt zum nächs-
ständig selbst zu überschätzen und einem damit ihr bloß kein Fehler unterlief, der ten ziehen, können wir uns einbilden, es
unrealistischen Selbstbild hinterherzulau- ihre Hilflosigkeit verraten hätte. Nach ginge ewig so weiter. Wir gaukeln uns den
fen. Zudem fällt es ihnen oft eher schwer, 14 Monaten brach sie das Studium ab. Zustand immerwährender Lebendigkeit
für andere Menschen Interesse aufzubrin- Drei Jahre lang verweigerte sie sich allen vor – bis unser Körper, unser Geist und un-
gen und Nähe aufzubauen. Sie haben die Bewertungen. Sie lag meistens auf dem sere Psyche uns eines Besseren belehren.«
Fähigkeit dazu nicht verinnerlicht, weil ih- Sofa, aß zu viel, duschte selten, hörte Mu- Warum die einen sich erst stoppen las-
nen die Erfahrung fehlt, sich sicher an einen sik und versuchte, die innere Stimme zu sen, wenn es beinahe zu spät ist, andere
Menschen gebunden zu fühlen. überhören, die ihr zuzischte, dass alle aber rechtzeitig das Tempo drosseln, lässt
Auch wenn Kinder lernen, dass sie nur sich schwer verallgemeinern. Genetische
anerkannt werden, wenn sie einem Bild Faktoren und Lebensumstände, die Per-
entsprechen, gerät der Selbstwert in Not. Leistungssteigerung sönlichkeit, die Familie, das soziale Mi-
Wer ständig ein Ideal verkörpern muss, lieu – vieles spielt eine Rolle. Geraten

730 000
verliert am Ende womöglich den Blick für Rund Menschen dann in seelische Not, stehen
sich selbst. alle vor der gleichen Aufgabe. Sie müssen
»Bis auf die vergangenen zwei Jahre »ein alternatives Selbstbild entwickeln«,
habe ich mich eigentlich immer optimiert«, wie es Experten nennen. Manchen gelingt
erinnert sich die 24-jährige Clara Beusse, Beschäftigte nutzen verschreibungs- es aus eigenem Antrieb, andere suchen Le-
sie hat ebenfalls darum gebeten, ihren pflichtige Medikamente zur bensberatung bei einem Coach, viele be-
wirklichen Namen im SPIEGEL nicht zu Leistungssteigerung. nötigen die Hilfe von Psychologen oder

2,2 Mio.
nennen, nicht alle Freunde kennen ihre Psychiatern. Oft sind sie damit jahrelang
Geschichte, und so soll es bleiben. »Ich beschäftigt. Ein fest verankertes Verhalten
fühlte mich oft ängstlich und niedergeschla- zu ändern zählt zu den schwierigsten Ent-
gen. Aber um mich herum hieß es, man wicklungsaufgaben.
solle sich Ziele stecken und sich zusam- Menschen haben Man müsse sich darüber klar werden,
menreißen, dann klappe es schon.« bereits Hirndoping ausprobiert. warum einem die Anerkennung anderer
Der Vater Arzt, die Mutter Pädagogin, Stand: September 2019
so wichtig sei, raten die Experten. Was ei-
ein Erziehungsstil mit hohem Anspruch Quelle: DAK-Studie »Doping am Arbeitsplatz« nem im Leben fehle. Und was man verän-

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Titel

dern könne, um diese Sehnsucht zu stillen. stadt gezogen. Manchmal denkt er weh-
Exklusive Einblicke
Blicke man aus dieser Vogelperspektive
auf seinen Alltag, stelle man fest, dass trotz
mütig an den alten Status, weiß aber, dass
ihm das abgespeckte Leben besser be-
in eines der
aller Zwänge immer ein Handlungsspiel-
raum bleibe. »Letztlich geht es darum, ein
kommt. Er ist inzwischen Hundebesitzer,
und seitdem er entdeckt hat, dass ihm die
verschlossensten
stimmiges Lebensgefühl zu finden«, sagt kurze Form mehr liegt als eine Doktor-
Juckel. »Und der Weg dorthin führt über
eigene Werte, nicht allein über die Glau-
arbeit, schreibt er Texte für Poetry-Slams.
Und er meditiert, mindestens 15 Minuten
LÄNDER
benssätze der Allgemeinheit.«
»Nehmen Sie Abschied von alten Über-
täglich, überhaupt helfe ihm der struktu-
riertere Tagesablauf, sich nicht in Zweifeln der WELT
zeugungen«, empfiehlt der Hamburger zu verlieren, sagt er.
Coach Pascal Habighorst. »Und halten Sie
es aus, dass Sie bei Freunden und Kollegen In der Bochumer Uniklinik eilt Peter Grob
wahrscheinlich als anstrengend gelten, durch den Flur zum Speisesaal, er ist zum
wenn Sie sich stärker an Ihren Bedürfnis- Tischdecken eingeteilt. Auch er muss wie-
sen ausrichten«, ergänzt der Psychiater der lernen, den Tagen eine Struktur zu ge-
Axel Schmidt. »Blicken Sie auf das, was ben und statt des großen Wurfs die kleinen
Sie vorfinden, einschließlich Schmerz, Aufgaben zu meistern.
Leid und Ohnmacht – und nicht auf das, »Selbstsorge« sagen die Fachleute dazu,
was sein sollte. Anzunehmen, was ist, »und nach einer Erschöpfungsdepression
schenkt inneren Frieden. Gehen Sie mit- hat man damit tatsächlich gut zu tun«, sagt
fühlend mit sich um. Und befeuern Sie sich Grob. »Es ist ja erst einmal nichts mehr
nicht mit Selbstkritik«, rät die Trainerin da, wenn man sich komplett infrage ge-
Polat-Menke. stellt hat. Egal was schiefläuft: Man fühlt
»Ruhepausen« empfiehlt der Mainzer sich als Versager – und sei es, weil man
Psychiater Lieb. »Ausreichend Schlaf. Rea- keinen Parkplatz findet.«
listische Ziele. Gesunde Ernährung. Ge- Grob hat Bücher über die faszinierende
mäßigter Sport. Und nehmen Sie statt Natur der Bäume in einem Rucksack de-
hirnstimulierender Medikamente lieber poniert, den er immer bei sich trägt. So-
Kaffee zu sich! Koffein verbessert die bald sich Versagensängste ankündigen,
Wachheit und Konzentrationsfähigkeit versucht er, dagegen anzulesen. Er bemüht
kaum weniger als Ritalin, Modafinil oder sich, oft daran zu denken, dass ein Mensch
Amphetamine.« sein Lebensglück nicht nur an ein Thema
Der ehemaligen Selbstvermesserin Vi- binden kann, und seit zwei Wochen
vien Suchert hat ein Jahr in Australien ge- schnitzt er bei den Ergotherapeuten eine
holfen. Mit nur einem Koffer kam sie an, Robbe aus Speckstein – zufrieden, obwohl
suchte Arbeit, hatte kein anderes Ziel als er nur langsam vorankommt. Und er will
zu leben und merkte, wie erstrebenswert wieder Fahrrad fahren, »ohne Ziel, einfach
Gelassenheit ist. so, seit der Zeit im Autohaus habe ich das 320 Seiten mit farbigen Abb. · € 22,00 (D)
Auch als E-Book erhältlich
Merle Tebbe arbeitet nun als freie De- nicht mehr gemacht«.
signerin; an vielen Tagen kämpft sie gegen Peter Grob optimiert sich noch immer –
das alte Selbstbild des stets funktionieren- genauso wie Merle Tebbe, Vivien Suchert,
den Menschen, doch als sie neulich eine Clara Beusse oder Benjamin Windhoff.
Reise nach Schottland absagte, weil diese Aber sie haben die Vorzeichen geändert. Saudi-Arabien erlebt den
in eine ohnehin belastete Zeit gefallen wäre, Es helfe jedem, die Perspektive mal zu tiefgreifendsten Wandel seiner
war sie mit ihren Fortschritten zufrieden. wechseln, meint der Psychiater Axel
Kim Zumdiek, die studierte Kommuni- Schmidt. »Nicht: schneller, weiter, toller. Geschichte: Der junge Kronprinz
kationsmanagerin, hat sich für die ersehn- Sondern: langsamer, überlegter, demüti- öffnet das Land, zeigt aber zugleich
te Selbstständigkeit als Motivationstraine- ger.« Auch diese Eigenschaften gehörten
eine dunkle, aggressive Seite.
rin entschieden, und Igor Wetta begibt sich zur Erfolgsgeschichte der Menschheit.
inzwischen mit seinem Coach Pascal Ha- »Und denken Sie öfter an Ihre Beerdi- SPIEGEL-Reporterin Susanne Koelbl
bighorst unter Leute. Beim Straßenfest gung«, rät der Mainzer Psychiater Lieb. hält diesen historischen Aufbruch
oder in Kneipen beobachtet der Coach, »Oder zumindest an den 80. Geburtstag.«
wie Wetta sich im Kontakt mit Fremden Was wolle man da in den Festreden über aus nächster Nähe fest. Ihr Buch
verhält, und bespricht seine Eindrücke spä- sich hören? Dass man ein Mensch sei, der gewährt faszinierende Einblicke in
ter mit dem Klienten. Ein paarmal hat Wet- immer funktioniert und alle stets zufrie-
ta bereits allein einen After-Work-Treff dengestellt habe? Oder dass man gut ge- die Welt der Machthaber und
oder ein Speeddating besucht und dort launt mit den Kindern spielte, in schlechten Ultrakonservativen genauso wie in
zwar keine Freundin, aber einen Bekann- Zeiten Freunde an der Seite hatte und sich
das verborgene Leben der Frauen.
ten gefunden. im Job mit Freude engagierte, aber noch
Clara Beusse, die ehemalige Studienab- lieber mit der Frau oder dem Mann spa-
brecherin, studiert wieder. Seitdem ein zieren ging?
Arzt eine chronische Depression diagnos- »Mit diesem Blick«, meint Lieb, »be-
tiziert hat, nimmt sie Medikamente, damit ginnt man zu verstehen, was richtig ist.«
gehe es ihr gut, sagt sie. Und Benjamin Katja Thimm
Windhoff, der Mann mit der Doktorarbeit, Mail: katja.thimm@spiegel.de
ist aus Köln in eine überschaubare Klein-

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 97 www.dva.de


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Titel

»Ich will nicht verbiestern«


Lebensstile Wer seine Sünden genießt, ist auf dem besten Weg
zur Selbstoptimierung, behauptet Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy.

Kürthy, 51, schreibt seit 20 Jahren biogra- dem verbreiteten Hang zum Perfektionis- mein Profil, so sah ich mich privat wie be-
fisch geprägte Bestseller. Im Mittelpunkt mus zu bewahren. Dass ich nie die Tollste, ruflich. Mit dem Älterwerden empfinde
der millionenfach verkauften Bücher ste- Beste oder Attraktivste sein wollte, hat mir ich Menschen, die sich jedem Gefühl un-
hen Frauen, die sich und ihren Alltag zu einigen Kummer erspart. Ich habe realis- reflektiert hingeben, zunehmend als un-
optimieren versuchen. tische Ansprüche an mich und andere. angenehm. Man sollte nicht alles glauben,
SPIEGEL: Sie kokettieren. Immerhin ha- was man fühlt und denkt. Ein bisschen
SPIEGEL: Frau Kürthy, was müssen Sie in ben Sie einen einjährigen Selbstoptimie- mehr Selbstkontrolle wäre oft angebracht.
Ihrem Leben verbessern? rungsversuch unternommen, an dessen SPIEGEL: Bedeutet Selbstoptimierung dann,
Kürthy: Mehr Gelassenheit wäre schön. Ende Sie sichtlich schlanker und zudem Gefühle zu unterdrücken?
Aber ich stelle fest, dass ich mich auf erblondet auf den Fotos vieler Zeitungen Kürthy: Gefühle sind keine unveränderli-
einem guten Weg befinde – meine Zufrie- zu sehen waren. chen Merkmale, und wir sind ihnen nicht
denheit nimmt zu, auch wenn die Gründe, Kürthy: Kokett sein habe ich nie gelernt. hilflos ausgeliefert. Es geht darum, das
zufrieden zu sein, mit dem Älterwerden Sie sprechen von einem Experiment, das rechte Maß zu finden, es geht um sinnvol-
objektiv betrachtet weniger werden: Es ist ich für mein Buch »Neuland« gemacht les Mitleid, um angemessenen Zorn; auch
eine Zeit der Abschiede. Von Menschen, habe. Ich habe ein Jahr lang die verschie- darum, unnötiges Selbstmitleid und bies-
Träumen, dem Unterhautfettgewebe. Kräf- densten Varianten der inneren und äuße- tigen Zynismus zu vermeiden. Zwischen
te lassen nach, der Tod tritt ins Leben, und ren Selbstoptimierung ausprobiert, die der Reiz und Reaktion liegt ein Verhaltens-
man fängt an, gern früh ins Bett zu gehen. unzufriedenen Frau über 40 mehr Seelen- spielraum, den es zu vergrößern gilt. Das
SPIEGEL: Woher rührt dann Ihre neue heil versprechen: Ich habe mir Botox sprit- versuche ich mir selbst und meinen Kin-
Zufriedenheit? zen lassen, Meditieren gelernt, ich war im dern beizubringen. Ich werde mehr und
Kürthy: Ich werde erwachsen. Kurz nach Schweigekloster, bin erblondet, habe mit mehr eine Freundin des Maßhaltens, der
meinem 50. Geburtstag ging es mir gar einer professionellen Aufräumerin mein festen Strukturen, der stabilisierenden
nicht gut, ich hatte die Zahl unterschätzt. Büro ausgemistet und Zeit in einem Hospiz Routinen. Darin sind stille Glücksmomen-
50, das klingt nach der Mitte des Lebens – verbracht. Ich habe sehr gesund gegessen te verborgen, die einem in schlechten Zei-
in Wirklichkeit sind statistisch gesehen und keinen Alkohol getrunken. Der Effekt ten Beistand leisten können.
schon fast zwei Drittel des Lebens vorbei. war beeindruckend, alles nahm ab – Ängs- SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Kein ganz angenehmer Gedanke. Man te, Stress, Rückenschmerzen und ich. Ich Kürthy: Ich spreche von Augenblicken, die
kann panisch versuchen, gegen Alter und sah besser aus, aber darum geht es mir einen langfristig durchs Leben tragen kön-
Verschrumpelung anzuoptimieren oder nicht mehr. Der vorrangige Grund, schlank nen, wenn man sie in all dem Trubel denn
eine souveräne Haltung zu entwickeln und zu sein, ist für mich heute, dass es mir dann bemerkt. Dein Kind, das neben dir ein-
die positiven Seiten eines voranschreiten- auch besser geht. So wie viele andere Men- schläft, das vertraute Buch, das du schon
den Lebens zu sehen. Ich will keine ver- schen bemühe ich mich Tag für Tag um viermal gelesen hast und das dir immer
biesterte Alte werden. Aber man wird Gelassenheit und gerate selbstverständlich Zuflucht gewährt, die Freundin, die ihren
nicht automatisch weise, man muss sich immer wieder an Grenzen. Erst vor ein Kummer oder ihre Freude mit dir teilt.
zur Ordnung rufen. paar Tagen war es wieder so weit. SPIEGEL: Sie gelten als feierfreudig. Wie
SPIEGEL: Sie erziehen sich also selbst. SPIEGEL: Was war da passiert? passt dazu maßvolle Routine?
Kürthy: Ich bemühe mich. Der Vorteil an Kürthy: Im SPIEGEL standen hämische Kürthy: Routine ist ja nichts, was sich nicht
Lebenserfahrung ist ja, dass man schon Urteile über meinen neuen Roman, die durchbrechen ließe. Ich nehme den Kater
einige kleinere und größere Katastrophen mich auf dem falschen Fuß erwischten. gern in Kauf, wenn der Rausch es wert
hinter sich gelassen hat und das auch weiß. Mein Mann war mit unseren Söhnen ver- war und ich mir keine langweilige Party
Ich leide immer noch unter Lampenfieber reist, ich war erschöpft, allein und habe erträglich getrunken habe. Ich will meine
– aber die Vergangenheit hat mich gelehrt, die Häme unnötig nah an mich herankom- Sünden genießen. Das kann ich nur, wenn
dass ich meine Bühnenshows in der Regel men lassen. Aber nicht lange, ich steigere sie sich in ein Gesamtbild fügen, mit dem
trotzdem überlebe. Wenn mir die Waage mich nicht mehr in jedes Drama hinein, ich mich wohlfühle und das mir entspricht.
ein ungemütliches Gewicht anzeigt, weiß das sich mir bietet. Maßlose Emotionalität Ich bastele und feile ja jeden Tag an mei-
ich, dass ich das in absehbarer Zeit wieder gehörte lange Zeit zu meinem Selbstbild. nem Selbst. Dazu gehört auch, unerschro-
verändern werde. Eine derartige Ruhe lag SPIEGEL: Wie meinen Sie das? cken zurückzuschauen und manche rosige
mir früher fern. Der Vorteil am Älterwer- Kürthy: Dramatisch, gefühlsbetont, aufge- Kindheitserinnerung zu hinterfragen.
den ist, dass man zum Profi seines eigenen regt, Rheinländerin, Halbungarin: Das war SPIEGEL: Inwiefern?
Lebens wird: in der Ehe, im Beruf, im Stra- Kürthy: Was bedeutet es, einen blinden
ßenverkehr, in der Gesundheitspflege. Vater zu haben, wie ich ihn hatte? Ihn be-
SPIEGEL: Das klingt sehr abgeklärt. Ha- »Man muss reits als Dreijährige zu führen, schon früh
dern Sie nie mit Ihrer Unvollkommenheit? Verantwortung zu übernehmen? Was be-
Kürthy: Ich hadere mit einer Menge Dinge alte Glaubenssätze deutet es heute für mich, dass ich seit einem
– aber nicht mit meiner Unvollkommen- hinterfragen, Vierteljahrhundert keine Mutter und kei-
heit. Heute Morgen beim Zähneputzen
habe ich noch darüber nachgedacht, dass
wenn man im Leben nen Vater mehr habe? Was hat mich ge-
prägt, woher komme ich, welche Fragen
es meinen Eltern gelungen ist, mich vor zurechtkommen will.« würde ich meinen Eltern stellen, wenn sie

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Kürthy: Wenn man erwachsen wird, fängt


man an, den Respektspersonen der Ver-
gangenheit zu misstrauen und ihre Urteile
zu hinterfragen, die wie in Stein gemeißelt
waren. Aber es ist ein Kraftakt, sich gegen
die eigene Vergangenheit zu positionieren
und mächtigen Erinnerungen die Stirn zu
bieten. Dabei kann man Hilfe gebrauchen,
und ich leiste mir den Luxus, eine hoch
qualifizierte Therapeutin zu besuchen.
SPIEGEL: Wie sieht deren Hilfe aus?
Kürthy: Einmal in der Woche begleitet sie
mich durch mich selbst, wie eine Stadt-
führerin, die mich auf unentdeckte Ecken,
dunkle Gassen und magische Orte auf-
merksam macht. Ich hatte lange Zeit die
Sehnsucht nach Instantlösungen gegen
Ängste und Nöte. Ich hoffte auf Tabletten
gegen Klaustrophobie, Pillen gegen Unsi-
cherheit, ein Seminar für Spontaneität und
mitreißende Vorträge gegen Verzagtheit.
Selbstoptimierung auf Knopfdruck. Aber
die Psyche braucht zeitintensive Hege und
Sorgfalt und im besten Fall das Wissen einer
Fachfrau. Die Muster unserer digitalisier-
ten Welt machen es uns nicht leichter, bei
uns selbst anzukommen, das habe ich bei
meinem Ausflug zu Instagram erlebt.
SPIEGEL: Was ist da passiert?
Kürthy: Ich glaubte, ich müsste für meine
Leserschaft auch auf diesem Kanal präsent
sein und für meine Bücher werben. Und
dann las ich abends vor dem Einschlafen
plötzlich nicht mehr in einem Buch, son-
dern kontrollierte die Zahl meiner Follo-
wer. Wie süchtig wischte ich mich durch
inszenierte Fremdleben und vernachläs-
sigte mein eigenes. Nachdem ein Freund
mich darauf aufmerksam machte, dass ich
gerade dabei war, meine Fähigkeit, lange
GEORG WENDT / PICTURE ALLIANCE / DPA

Geschichten zu erzählen, selbst zu zerstö-


ren, habe ich mich von Instagram abge-
meldet. Mein Mann hatte mir das zuvor
bereits gesagt, aber Kritik aus der eigenen
Familie verfängt ja weniger.
SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, Beruf und
Familie miteinander zu vereinbaren?
Kürthy: Nein. Ich lebe in einer privilegier-
ten Situation, da gibt es keinen Optimie-
Schriftstellerin Kürthy: »Psychotour der Sonderklasse« rungsbedarf. Mein Mann und ich teilen
uns die Familienfürsorge, und wir gehen
unseren Kindern fast rund um die Uhr
mir noch antworten könnten? Vergange- SPIEGEL: Welche Erkenntnis haben Sie auf die Nerven. Mir ist bewusst, dass wir
nes Jahr habe ich 24 Stunden in meinem über sich gewonnen? eine absolute Ausnahme leben dürfen.
Elternhaus in Aachen verbracht, die jetzi- Kürthy: Ich bin nicht mehr die, die ich mal Die Regel ist, dass berufstätige Mütter
gen Besitzer haben es mir einen Tag und war. Mir wurde bewusst, in welchem Aus- mit dem zehrenden Grundgefühl durch
eine Nacht lang überlassen. maß die alten Zuschreibungen aus meiner den Tag hetzen, weder ihrem Arbeitgeber
SPIEGEL: Und dann? Kindheit mein Selbstverständnis lange noch ihrer Familie noch sich selbst ge-
Kürthy: Ich habe mich auf Spurensuche Zeit bestimmt haben. Es hieß von mir, recht zu werden. Es ist eine Form von
begeben. Der Wandschrank, in dem ich ich sei ein egoistisches, verwöhntes Einzel- moderner Verrücktheit zu denken, man
mich früher versteckt habe, die vergilbten kind. Unordentlich, unpünktlich und un- könnte gleichzeitig alles perfekt leisten.
Lichtschalter, der Blick aus der Küche, das diszipliniert. Daran habe ich bis ins Er- Man kann nicht alles haben. Sich das ein-
Gefühl von Heimat, Wärme und die Angst, wachsenenalter geglaubt. Nichts davon ist zugestehen steigert das Selbstwertgefühl,
das alles verlassen zu müssen und eines richtig. Man muss solche alten Glaubens- weil Anspruch und Wirklichkeit dann
Tages zu verlieren. Es war eine Psychotour sätze hinterfragen, wenn man im Leben weniger auseinanderklaffen.
der Sonderklasse, mit jeder Menge Tränen, zurechtkommen und weiterkommen will. Interview: Katja Thimm
Wehmut und Inspiration. SPIEGEL: Und wie gehen Sie da vor?

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Technik

MASSIMO PINCA / REUTERS

Präsentation des Nikola-Elektro-Lkw in Turin

Die Öko-Laster
Mobilität Im Ringen um den klimafreundlichen Verkehr ist der Lkw eines der größten Probleme.
Mit Batterien lassen sich lange Strecken nicht bewältigen. Ingenieure suchen nach
neuen Wegen: Sollen Laster künftig Wasserstoff tanken? Oder Strom aus Oberleitungen ziehen?
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G
roß Dölln, nördlich von Berlin, mit der Produktion einer Kleinserie elek- von 300 Kilowatt ausgelegt. Mit dieser
war mal ein wichtiger Punkt auf trischer 40-Tonner begonnen. Der Akku elektrischen Druckbetankung lässt sich der
der strategischen Landkarte des der Zugmaschine wiegt dreieinhalb Ton- Speicher binnen einer halben Stunde auf
Kalten Krieges. Ein gigantischer nen – also etwa das Vierfache eines 1000- 80 Prozent seiner Kapazität füllen. Aller-
Militärflugplatz unweit des Dörfchens Liter-Dieseltanks. Die Reichweite des E- dings muss dafür sogar die Stromleitung
barg Atomsprengköpfe der Sowjetunion. Riesen: etwa 100 Kilometer; »fern schnell gekühlt werden.
Heute dient die Anlage unter anderem gut«, die alte Logistikerlosung, lässt sich All das funktioniere recht zuverlässig,
als Prüfgelände der Autoindustrie. Ein gut damit nicht erfüllen. sagt Plasberg, allerdings nur im Kurz-
zwei Kilometer langes Stück zeigt womög- Der Wagen werde von ausgewählten streckenbetrieb: »Im Moment ist nicht ab-
lich die Zukunft der deutschen Autobahn – Speditionen als Leasingfahrzeug im Kurz- sehbar, dass die Batteriekapazitäten auch
mit Oberleitung. streckenbetrieb eingesetzt, sagt DAF-Pro- Fernverkehr zulassen könnten.«
Der Siemens-Konzern hat hier Masten duktmanager Tim Plasberg. Preise werden Doch genau hier spielt sich der Lkw-Be-
in die Schorfheide gerammt und eine Ver- noch nicht genannt. trieb in der Hauptsache ab: Gut die Hälfte
suchsstrecke angelegt, die Technologien Die gewaltige Akkumasse ist unter an- aller Lkw-Emissionen in Deutschland
des Schienen- und Straßenwesens vereini- derem darauf zurückzuführen, dass ein stammen von Fahrzeugen mit mehr als
gen soll. Seit knapp zehn Jahren fahren aufwendiges Kühlsystem miteingerechnet 26 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht, die
hier Lastwagen, die ihre Energie wie E- ist, das die Zellpakete umgibt. Der Spedi- vorwiegend im Fernverkehr zum Einsatz
Lokomotiven mit Stromabnehmern aus tionsalltag bedeutet maximalen Stress für kommen. Und der Gesamtanteil des Last-
einem Draht über der Straße ziehen und den Stromspeicher und ist nicht vergleich- wagens am Energieverbrauch im Straßen-
damit einen Elektromotor antreiben. bar mit dem meist kommoden Nutzungs- verkehr ist enorm gewachsen. Zunächst
Das Bundesumweltministerium unter- profil beim Pkw. Unentwegt wird der brachte die Öffnung des Eisernen Vor-
stützt den Modellversuch »eHighway« (so Akku mit hoher Leistung ge- und entladen. hangs und der explodierende Handels-
der Arbeitstitel) mit mehr als 100 Millio- DAF hat den E-Truck für eine Ladeleistung verkehr mit Osteuropa einen Anstieg der
nen Euro, und der Bürger kann einen Teil Lasterflut. Nun kommen neue Konsum-
der Anlagen, in die die Investitionen ge- gewohnheiten wie der Interneteinkauf
flossen sind, inzwischen schon an ersten Die Lasterflut hinzu. Sie treiben das Frachtaufkommen
Autobahnstrecken besichtigen. In Hessen Energieverbrauch des Verkehrs weiter in die Höhe.
wurde zwischen Frankfurt und Darmstadt in Deutschland nach Verkehrsmittel, Zwei Fünftel aller Klimagasemissionen
im Mai eine Erprobungsstrecke in Betrieb in Petajoule* durch den Straßenverkehr kommen laut
genommen, in Schleswig-Holstein bei einer ICCT-Untersuchung inzwischen
Lübeck starten derzeit die Tests. In Baden- aus Lkw-Auspuffrohren. Und bis 2050,
Quelle: VIZ;
Württemberg soll eine elektrifizierte Bun- ab 1991 Gesamtdeutschland;
schätzen Verkehrswissenschaftler, dürfte
desstraße folgen. * 29,3 Petajoule entsprechen sich das Truck-Aufkommen noch einmal
1516 verdoppeln. Der Lastwagen mit kon-
Wer an den jeweils rund fünf Kilometer einer Million Tonnen Steinkohle-
einheiten
langen Erprobungsstrecken entlangfährt, ventionellem Antrieb könnte dann der
mag sich wundern oder auch ärgern. Es größte Klimaschädling des Transport-
gibt wenig Applaus dafür in der öffentli- wesens sein.
chen Debatte angesichts der enormen För- Pkw und Motorrad Doch so weit soll es nicht kommen. Im
dersummen mit ungewissem Ausgang. Der Kanon der Klimaschutzanstrengungen ist
Bund der Steuerzahler hat den eHighway 2050 die Zielmarke der Dekarbonisierung,
in sein jüngstes Schwarzbuch aufgenom- das Ende der Verfeuerung jeglicher fossiler
men, das Bundesverkehrsministerium be- Brennstoffe. Diesen Weg nicht einzuschla-
gegnet dem Konzept des Umweltressorts gen würde für die Lkw-Hersteller teuer –
mit Skepsis, dem die meisten Lkw-Herstel- am Ende unbezahlbar. Strafzahlungen in
ler sowieso eine klare Absage erteilen. Die Milliardenhöhe drohen schon Mitte des
Kernargumente: zu teuer, zu unpraktisch gerade angebrochenen Jahrzehnts für alle,
und nicht europaweit durchsetzbar. Lkw die weitermachen wie bisher.
Martin Daum, Lkw-Vorstand im Daim- Daimler-Vorstand Daum spricht von
804
ler-Konzern, spricht von einer »extrem einer »Mondmission«, die die Branche in
teuren Sackgassenlösung«, zudem mahnt Angriff zu nehmen hat – allen voran Daim-
er: »Wir haben nicht viel Zeit.« 698 ler als größter Lkw-Produzent der Welt.
Ob Ausweg oder Irrweg – der eHigh- Der Konzern gab kürzlich seinen Fahrplan
way soll helfen, ein ernstes Problem zu bekannt. Vom Jahr 2039 an sollen aus sei-
lösen, das einem bisher weniger beachte- nen Fabriken keine Lkw mehr rollen, die
ten Teil der Fahrzeugindustrie ins Haus fossilen Kraftstoff verbrennen. Da es etwa
steht. Der politische Wunsch, mit Akku- ein Jahrzehnt dauere, bis eine Flotte sich
antrieben in eine klimaneutrale Zukunft Flugzeug 426 komplett erneuere, wären dann alle 2050
zu steuern, wird schon beim Pkw schwer im Verkehr befindlichen Daimler-Lkw kli-
zu erfüllen sein – beim Lkw im Fernver- Bahn maneutral.
kehr ist es unmöglich. Auch die Technologie, mit der dieses
Sattelzüge mit 1000-Liter-Dieseltanks Ziel erreicht werden soll, hat Daum defi-
schaffen im heutigen Speditionsalltag bis niert. Auf kurzen Strecken soll der Lkw
zu 3000 Kilometer mit einer Füllung. Wie der Zukunft mit Batteriestrom fahren, auf
ärmlich dagegen ein Batteriebrummi ab- 52 langen mit einer Technik, die der Daim-
schneidet, zeigen erste Experimente. So 56 ler-Konzern vor einem Vierteljahrhundert
hat der niederländische Hersteller DAF als erstmals präsentierte und die seither als
bisher einziger der etablierten Anbieter 1950 1990 2017 eine Art »fliegender Holländer« der auto-

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Technik

Nur so kann er hilfreich sein im Sinne der


Klimaschonung – doch als solcher steht er
noch kaum zur Verfügung.
Nach Angaben der Internationalen
Energieagentur wird Wasserstoff bislang
zu mehr als 99 Prozent aus nicht erneuer-
baren Ressourcen wie Erdgas gewonnen.
Die nachhaltige Produktion aus Wasser
mittels Elektrolyse gibt es bislang nur in
kleinen Pilotprojekten – oder großen
Visionen. Und Ökostrom müsste schon im
Überfluss vorhanden sein, um diesen ver-
schwenderischen Weg zu rechtfertigen.
Von der Quelle bis zur Nutzung im Fahr-
zeug gehen durch Transport, Speicherung
und der Rückverwandlung in Strom bei der
Brennstoffzelle mehr als zwei Drittel der
ursprünglichen Energie verloren. Bei der
direkten Nutzung des Stroms aus der Ober-
leitung hingegen liegt der Verlust bei weni-

DIETMAR GUST
ger als einem Viertel der Grundenergie.
»Der eHighway nutzt den Strom wesent-
lich effizienter als alle anderen Lösungen«,
Teststrecke für Lkw-Oberleitung in Groß Dölln: Teurer Irrweg? bekräftigt Hasso Grünjes, der verantwort-
liche Projektleiter im Siemens-Konzern.
»Und das System ist einsatzreif.«
mobilen Zukunftsmusik durch die Tech- Frachtaufkommen Der 43-jährige Ingenieur plädiert für
nikworkshops geistert, ohne sich jemals Lkw-Verkehr weltweit, eine rasche Elektrifizierung von etwa
durchgesetzt zu haben: dem Wasserstoff- in Billionen Tonnen- 30 4000 Kilometern der meistbefahrenen
antrieb. kilometer deutschen Fernstraßen. Mit dieser Inves-
Eine Brennstoffzelle nutzt dabei eine Prognose: ICCT tition – Siemens schätzt sie auf etwa zehn
elektrochemische Reaktion, um aus Was- Milliarden Euro – ließen sich etwa 60 Pro-
serstoff Strom zu machen, und könnte da- 20 zent aller Tonnenkilometer im Autobahn-
mit das Problem der schlechten Speicher- schwere Lkw verkehr elektrisch erledigen.
barkeit elektrischer Energie endgültig lö- Doch damit ist die ganze Rechnung
sen – doch um welchen Preis? 10 noch nicht gemacht. Selbst wenn ein gro-
Als Daimler 1994 das erste Forschungs- ßer Teil des Straßennetzes über Oberlei-
auto zeigte, waren Brennstoffzellen zuvor mittelschwere Lkw tungen verfügte, brauchten die Lkw neben
vorwiegend bei Rüstung und Raumfahrt einem Stromabnehmer auch noch Batte-
zum Einsatz gekommen, wo Geld kaum leichte Nutzfahrzeuge 0 rien oder Brennstoffzellen, damit sie auch
2015 2050
eine Rolle spielt. Der hohe Platinanteil, mal abseits der Autobahn fahren könnten.
der die Geräte schier unbezahlbar machte, Siemens schätzt die Mehrkosten pro Fahr-
ist inzwischen gesunken und die Markt- Doch ob das so bald gelingen kann, be- zeug auf 50 000 Euro, etwa die Hälfte des
reife womöglich näher gerückt, doch zweifeln Fachleute. Nikola aus Phoenix Werts einer konventionellen Zugmaschine.
Daimler ist nicht mehr der tonangebende Arizona rühmt sich eines »disruptiven Langfristig solle der Aufpreis auf unter
Konzern in diesem Feld. Im Pkw-Sektor Geschäftsmodells«, hat aber außer Visio- 20 000 Euro sinken.
zeigen Toyota und Hyundai weit mehr En- nen noch nicht viel vorzuweisen. Ein Kraftakt für Spediteure und öffent-
gagement, und bei Lastwagen gelang Iveco Daimler-Vorstand Daum sieht Brenn- liche Geldgeber wäre das allemal, doch
kürzlich ein Überraschungscoup. stoffzellen-Lkw deutlich später über die womöglich die weit geringere Investition
Der aus Turin stammende Lkw-Produ- Autobahnen rollen, erst am Ende dieses als der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft.
zent, heute Teil eines internationalen In- Jahrzehnts. Eine der großen technischen Das Umweltbundesamt hat bereits eine
dustrieverbunds und eher ein kleiner Spie- Hürden sieht er einstweilen noch in der Kostenschätzung für diese Variante veröf-
ler in der Branche, vereinbarte im vergan- Lebensdauer. Bei Diesel-Lkw rechnen Spe- fentlicht. Die Mehrkosten gegenüber einer
genen Jahr eine Partnerschaft mit dem diteure inzwischen mit einer Laufleistung direkten Nutzung von Strom durch Batte-
US-amerikanischen Start-up Nikola. Im von mehr als einer Million Kilometern. rieautos und Oberleitungssysteme lägen
Rekordtempo will das Bündnis emissions- Diese Standfestigkeit können Brennstoff- demnach bis zum Jahr 2050 bei giganti-
freie Lkw in den Handel bringen, ab 2021 zellen bislang nicht nachweisen. schen 600 Milliarden Euro.
mit Batterien und schon ab 2023 mit Hinzu kommen die hohen Kosten. Auch Die astronomisch hohe Zahl lässt
Brennstoffzellenantrieb. im Jahr 2040 werde der wasserstoffbetrie- sich schwer überprüfen. Der Bund der
Iveco-Markenchef Thomas Hilse erläu- bene Lkw aller Voraussicht nach noch teu- Steuerzahler behält sich schon weitere
tert das Layout des Zukunftslasters, als rer sein als ein Dieselmodell, prophezeit Schwarzbucheinträge vor. »Auch andere
stünden die ersten Modelle schon im Ver- der Manager, der schon 2039 eigentlich subventionierte Technologien wie Was-
kaufsraum. Die Batteriezellen würden im gar keinen Diesel-Lkw mehr herstellen serstoffantriebe und batterieelektrische
Unterboden der Zugmaschine »modular möchte. Fahrzeuge«, teilt der Verein auf Anfrage
aufgebaut« und könnten entsprechend zu- Völlig unklar ist noch der Preis des Was- mit, könnten »in eine Sackgasse führen«.
rückgenommen werden, wenn das Brenn- serstoffs, der in großen Mengen mithilfe Christian Wüst
stoffzellenmodul die Marktreife erreiche. von Ökostrom hergestellt werden müsste.

102 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Wissenschaft

ziehen sie ihre Energie aus der Verschmel- tige Energieausbrüche vorausgehen, die
Auf dem zung von Atomkernen. Wenn aber der nu-
kleare Brennstoff in seinem gigantischen
seine Helligkeit sogar steigern würden«,
sagt Hans-Thomas Janka vom Max-
Fusionsofen verbraucht ist, kollabiert ein Planck-Institut für Astrophysik in Gar-
Sterbebett solcher Stern und schleudert fast seine ge-
samte Gashülle hinaus ins All – er verwan-
ching. Der Forscher hält es für wahrschein-
licher, dass der Riesenstern lediglich eine
delt sich in eine sogenannte Supernova. gigantische Staubwolke ausgestoßen hat,
Astronomie Es wäre das größte Innerhalb weniger Tage wird Betei- die ihn nun umhüllt und dunkler als bisher
Himmelsereignis der geuze dann so viel Energie freisetzen wie erscheinen lässt.
Geschichte: Steht der Superstern unsere Sonne in ihrem ganzen Leben. Ge- »Allerdings sind Überraschungen nicht
waltige Mengen schwerer Elemente bilden ausgeschlossen, wir wissen noch zu wenig
Beteigeuze vor der Explosion? sich in diesem Inferno. Noch Jahrtausende über die Abläufe im Innern eines solchen
später werden die Gasfetzen seiner Explo- Himmelskörpers«, sagt Janka. »Und ganz
sionswolke mehrere Millionen Grad heiß ohne Zweifel liegt Beteigeuze auf dem

W oche für Woche pustet er Wolken


aus Gas und Staub ins All, die
mehr wiegen als die gesamte
Erde. Befände er sich dort, wo unsere Son-
sein. Im Zentrum der Katastrophe bildet
sich schließlich ein Neutronenstern oder
sogar ein schwarzes Loch.
Schätzungen zufolge endet dreimal pro
Sterbebett. Es kann schon morgen mit ihm
zu Ende gehen – aber auch erst in einigen
Tausend Jahren.«
Eine Art Supernova-Frühwarnsystem
ne ihre Bahnen zieht, reichte sein äußerer Jahrhundert ein Stern der Milchstraße als könnte der Detektor »Hyper-Kamiokan-
Rand fast bis zum Jupiter. Die Planeten Supernova – doch nur äußerst selten ge- de« ermöglichen, der bis 2026 in einer japa-
Merkur, Venus, Erde und Mars würden schieht dies in so großer Nähe. Beteigeuze nischen Bergwerkshöhle errichtet wird. In
sekundenschnell verdampfen. ist gerade einmal rund 600 Lichtjahre von einem riesigen Wassertank sollen dort jene
Beteigeuze ist einer der größten Sterne der Erde entfernt. Wenn der rote Riese ex- Neutrinos genannten Geisterteilchen auf-
der Milchstraße. Eine Raumsonde wäre plodiert, wird er heller strahlen als der gefangen werden, die permanent im Zen-
mehr als zehn Jahre lang unterwegs, um Vollmond und sogar tagsüber am Himmel trum von Sternen entstehen. Das Beson-
den roten Riesen einmal zu umrunden. zu sehen sein. dere daran: Bereits mehrere Tage bevor
Steht dieser Monsterstern jetzt vor der Der Untergang von Beteigeuze wäre ein ein altersschwacher Stern explodiert, steigt
Explosion? Naturschauspiel, wie es seit Menschen- dessen Neutrinostrahlung stark an.
Seit ein paar Wochen verzeichnen As- gedenken noch nie vorgekommen ist. Alle Wird Beteigeuze im Augenblick seines
trophysiker verdächtige Messungen. Bis- historisch überlieferten Supernoven ereig- Todes zu einer Gefahr für die Menschheit?
her gehörte Beteigeuze im Sternbild Orion neten sich in viel größerem Abstand. In Weil sich der Monsterstern in unserer kos-
zu den zehn hellsten Gestirnen am Firma- 6000 Lichtjahren Entfernung blitzte bei- mischen Nachbarschaft befindet, würde
ment (sein arabischer Name heißt über- spielsweise am 4. Juli 1054 ein namenloser die bei seinem Untergang freigesetzte
setzt »Hand der Riesin«). Doch mit seiner Stern im Sternbild Stier auf. Geschichts- Röntgen- und Gammastrahlung auch die
immensen Strahlkraft ist es nun offenbar schreiber der chinesischen Song-Dynastie Erde erreichen und in der Atmosphäre
vorbei. beschrieben ihn als »Gaststern«, der eine chemische Kettenreaktion auslösen.
Innerhalb kürzester Zeit hat er sich auf- »am Tag wie die Venus« strahlte. Noch Die Ozonschicht, die das irdische Leben
fällig verdunkelt – der stärkste Lichtabfall heute wabern seine bizarr geformten Über- vor zu viel UV-Licht der Sonne schützt,
seit vielen Jahrzehnten. In astronomischen reste als »Krebsnebel« durch die Weiten könnte dabei geschädigt werden.
Blogs wird darüber spekuliert, dass Betei- des Alls. Dennoch wird das Strahlenbombarde-
geuze schon bald sein feuriges Leben aus- Astrophysiker sind sich indes uneins, ob ment nicht zum Ende der Zivilisation füh-
hauchen könnte. die Verdunkelung von Beteigeuze tatsäch- ren. Nur holen sich die Menschen dann
Fest steht: Riesensterne wie Beteigeuze lich schon auf dessen baldiges Ende hin- schneller als gewohnt einen Sonnenbrand.
treten mit einem großen Knall von der deutet. »Unseren Theorien zufolge müss- Olaf Stampf
Himmelsbühne ab. Jahrmillionenlang be- ten der Supernovaexplosion eigentlich hef-

Gigant im All Position von


zum Größenvergleich:
Beteigeuze im
Beteigeuze Sonne Erde Sternbild Orion
1 320 000 000 1 392 000 12750
Kilometer Durchmesser Kilometer Kilometer

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Nashornweibchen Najin (o.), Eizellentnahme bei Tochter Fatu*: »Das ist für uns alle Neuland«

Vor knapp 30 Jahren kamen der Tier-

Rettung aus dem Labor arzt und seine Ehefrau Giovanna Lazzari,
eine Studienkollegin von der Universität
Mailand, hierher, um für einen großen
Viehzuchtbetrieb zu arbeiten. Als der Rin-
Artenschutz Nur zwei Weibchen sind noch am Leben: Mithilfe derwahn in Europa grassierte und der Be-
künstlicher Befruchtung will ein italienischer Tiermediziner trieb schloss, gründete das Paar das eigene
die Nördlichen Breitmaulnashörner vor dem Aussterben bewahren. Labor Avantea.
Galli spezialisierte sich auf die Zucht
von Rindern, Schweinen und Pferden.

A uf diese zwei Zellklumpen, jeder ge-


rade mal 0,1 Millimeter groß, hat
Cesare Galli mehr als fünf Jahre
lang hingearbeitet. Was mit bloßem Auge
sche Wissenschaftler als Erster das Ziel er-
reicht – wie so oft.
Die Liste mit Gallis Pionierleistungen
ist lang: Das erste geklonte Pferd der Welt,
Künstliche Befruchtung, Embryotransfer
und Klonen gehören für ihn zur täglichen
Routine. Mehr als 2000 Pferdeembryos
produziere er pro Jahr vor allem für Kun-
aussieht wie Staubkörnchen, sind lebens- der erste geklonte Milchbulle und der erste den aus Europa und dem Mittleren Osten.
fähige Embryos. Schon bald sollen sie zum Klon eines Top-Sportpferds und mehrfa- Der internationale Reitsport verdankt
zweitgrößten Landsäugetier der Erde he- chen World-Champions gehen auf das Er- ihm etliche Nachkommen von Weltklasse-
ranwachsen: zu Nördlichen Breitmaulnas- folgskonto des unscheinbaren Mannes mit pferden.
hörnern, bis zu 2,5 Tonnen schwer und Halbglatze und randloser Brille. Er be- Die Welt verdankt ihm die ersten im
mit einer Schulterhöhe von knapp zwei treibt sein Biotechlabor in einem hellgrau- Labor erzeugten Embryos von Nördlichen
Metern. en Flachbau vor den Toren von Cremona. Breitmaulnashörnern. Zusammen mit dem
Forscherteams in den USA und Südafri- internationalen Forscherteam des Projekts
ka haben sich bereits an der Erzeugung * Links: Veterinäre Robert Hermes, Thomas Hilde-
»BioRescue« verfolgt er das Ziel, die im-
von Nashornembryos im Labor versucht, brandt; Mitte: Vorbereitung der Narkose; rechts: Tier- posanten Tiere mit Hightechmethoden vor
bislang ohne Erfolg. Nun hat der italieni- mediziner Cesare Galli (l.) bei Abtransport der Eizellen. dem endgültigen Aus zu retten.

104 Fotos: Ami Vitale für den SPIEGEL


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Wissenschaft

Ursprünglich lebten die grauen Riesen lang aus. Galli: »Wir dachten schon, das
in Zentral- und Ostafrika, heute sind nur wird nichts mehr.«
zwei Weibchen übrig – der traurige Rest Große Gefühlsausbrüche sind jedoch
einer Population, die Anfang der Sech- nicht seine Sache. Der Tiermediziner ruht
zigerjahre noch mehr als 2200 Tiere um- in sich selbst, und Anfeindungen wegen
fasste. Vor allem die illegale Jagd auf das seiner Forschung ist er gewohnt. 1999 jagte
kostbare Horn der Tiere führte dazu, ihm die italienische Gesundheitsministerin
dass das Nördliche Breitmaulnashorn seit wegen seines Klon-Milchbullen die Cara-
2008 als ausgestorben gilt, zumindest in binieri auf den Hals, einen Tag lang ver-
freier Wildbahn. Die letzten zwei Kühe, hörten die Beamten ihn auf der Polizei-
Najin und ihre Tochter Fatu, stammen station. Es folgte ein Gerichtsverfahren,
aus dem Zoo Dvůr Králové in der Tsche- das nach sechs Monaten mit einem Frei-
chischen Republik und wurden 2009 spruch endete – und einer Anwaltsrech-
zusammen mit zwei Bullen nach Kenia nung von knapp 30 000 Euro.
verlegt. Artenschützer hofften, sie würden Bioterroristen, die in den vergangenen
sich dort vermehren. Beide Weibchen, so Jahren mehrere Forschungslabore in der
zeigte sich jedoch, können keine Nach- Gegend mit Molotowcocktails in Brand
kommen austragen. gesteckt haben, versucht Galli sich mit
Mit Artenschutz hatte Galli eigentlich Fenstergittern, Überwachungskameras
nichts im Sinn, als er vor sieben Jahren und Alarmanlagen vom Hals zu halten. Im
Thomas Hildebrandt zum ersten Mal be- März war ein Unbekannter bei Avantea
gegnete, dem Leiter der Abteilung Repro- eingedrungen und hat das Werksgelände
duktionsmanagement des Leibniz-Insti- ausgekundschaftet.
tuts für Zoo- und Wildtierforschung in Ber- Galli hofft, dass die Nähe seines Labors
lin. Der deutsche Tiermediziner kämpft zu den Tierställen mit Pferden, Schwei-
schon seit Jahren für die Rettung der Nas- nen und Rindern ihn vor einem ähnlichen
hörner in Asien und Afrika und überrede- Angriff schützt. Vor allem seine For-
te Galli, ihm dabei zu helfen. schung zur Zucht genmanipulierter
»Ich konnte irgendwie nicht Nein Schweine für humanmedizinische Zwe-
sagen«, erinnert sich der 58-jährige Ita- cke macht ihn derzeit zur Zielscheibe von
liener, den der Forscherdrang auch an Tierschützern.
Wochenenden ins Labor treibt. Routine Auch die Rettungsaktion für das Nörd-
ist dem Vizepräsidenten der »Internatio- liche Breitmaulnashorn, für die er unent-
nal Embryo Technology Society« ein geltlich arbeitet, ist umstritten. Arten-
Graus. schutzorganisationen argumentieren, dass
Für die künstliche Befruchtung nutzt Hightechlösungen aus dem Labor nur
Galli eingefrorene Spermien verstorbener dann sinnvoll sind, wenn es in freier Wild-
Nashornbullen. Die Nashorneizellen hin- bahn einen sicheren Lebensraum für die
gegen müssen frisch sein, Einfrieren funk- Tiere gibt.
tioniert bei ihnen nicht. Aber wie rankom- Auch Galli selbst sieht die Herstellung
men bei einem lebenden Tier, wenn die von Laborembryos nur als letzten Ausweg.
Eierstöcke etwa eineinhalb Meter tief in Alle drei bis vier Monate will Hildebrandt
der Bauchhöhle liegen und der Geburts- in Kenia künftig Eizellen sammeln, aus
kanal viele Windungen hat? denen der italienische Forscher dann
Hildebrandt entwickelte mit seinem weitere Embryos erzeugt – je mehr, desto
Team ein Spezialinstrument, um über den besser.
Darm an die Eizellen heranzukommen. Bis diese von Hildebrandt in ein Süd-
Ende August entnahm er den zwei Weib- liches Breitmaulnashorn als Leihmutter
chen in Kenia erstmals zehn Eizellen, Galli eingesetzt werden, können indes noch Jah-
brachte sie dann nach Cremona. Im Labor re vergehen. Knackpunkt ist das Timing:
spritzte er jeweils einzelne Spermien di- Embryoalter und Hormonzyklus des Weib-
rekt hinein. Anschließend versetzte er den chens müssen exakt übereinstimmen. Die-
befruchteten Eizellen einen Elektroschock, se Synchronisierung hinzubekommen ist
um die Teilung zu aktivieren. Am Ende die große Kunst. »Das ist für uns alle wis-
hatte der Reproduktionsexperte zwei le- senschaftliches Neuland«, sagt Galli. »Mit
bensfähige Embryos geschaffen, die er so- Glück kommt in fünf Jahren das erste Jung-
fort in flüssigem Stickstoff einfror. Später tier zur Welt.«
sollen sie Südlichen Breitmaulnashorn- Falls der Embryotransfer in ein Süd-
weibchen eingesetzt werden, die dann als liches Breitmaulnashornweibchen am
Leihmütter fungieren. Ende doch kein gesundes Jungtier her-
Dass die letzten Nördlichen Breitmaul- vorbringt, hat Galli bereits einen Plan B.
nashörner nach Kenia gebracht worden Der Klonexperte hält es für möglich, einen
seien, habe alles verkompliziert, sagt Galli. Nashornembryo von einer verwandten
Die große Entfernung, jede Menge Papier- domestizierten Säugetierart austragen zu
kram und die zeitweise strittige Frage, lassen – einem Pferd. Das wäre dann sein
wem denn eigentlich die Tiere in Kenia nächster großer Coup. Susanne Will
gehören, bremsten die Retter zwei Jahre

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Wissenschaft

te« verstanden, meint Schlotheuber. Ge-

»Im Ofen der Liebe« stützt wurde diese These durch unrühmli-
che Betrachtungen wie jene des Archivars
Ernst Nolte (nicht identisch mit dem His-
Geschichte Historikerinnen haben im Kloster Lüne einen einzigartigen toriker gleichen Namens). Ihm waren An-
fang der Dreißigerjahre des vergangenen
Briefschatz aus dem Spätmittelalter gehoben. Die Jahrhunderts einige Proben der Lüner Kor-
Korrespondenz enthüllt ein machtvolles Netzwerk der Nonnen. respondenz in die Hände geraten; sein Ur-
teil fiel für die Zeit typisch abschätzig aus.
»Die Briefe sind größtenteils ascetisch und

W
ie schnell das Leben seine hat. Das Klischee von eifrigen Frömmle- mystisch und also von keinem anderen
Richtung ändern kann, hat rinnen an der Schwelle zur Schlichtheit, Nutzen, als dass man daraus die Gabe ver-
Anna van der Molen recht die in Zubern merkwürdige Kräuterrezep- schiedener geistlicher Damen, sich flie-
früh erfahren. Bereits mit turen anrührten, hat mit der Wirklichkeit ßend und ziemlich correct über mancher-
neun Jahren musste sie das elterliche Heim wenig zu tun. ley Gegenstände in lateinischer Sprache
verlassen und fortan hinter den zugigen In Wahrheit war das Leben in den Ab- ausdrücken zu können, vernimmt.«
Mauern des Klosters Lüne in Norddeutsch- teien offenbar weit weniger trist. Die Non- Ein großer Irrtum.
land leben. nen hielten sich zu ihrem Vergnügen kleine Wie andere Forscher vor ihm hatte Nol-
Doch was aus heutiger Sicht wie ein Hunde und Eichhörnchen. An Fastnacht te übersehen, dass sich die Lüner Schwes-
schwerer Schicksalsschlag anmutet, war malten sie sich Bärte ins Gesicht und tanz- tern als harte Unternehmerinnen behaup-
für das Mädchen selbst wohl eine freudige ten ausgelassen. In den Klöstern geborene ten mussten. Dem Kloster gehörten im
Wendung. Im Frühsommer 1502 meldete Kinder zeugen zudem von Liebschaften Spätmittelalter große Anteile der Saline
das Kind aus seinem neuen Zuhause an mit Knechten und Chorknaben. Lüneburg – einer Anlage zur Herstellung
die Eltern, es sei im »Weingarten des Wie munter es im Kloster Lüne mit- von Speisesalz, die seit dem frühen Mit-
Herrn« angekommen. Auch sonst gestal- unter zuging, belegt der undatierte Brief telalter in Betrieb war und der Region zu
tete sich ihr Dasein als angehende Nonne einer Nonne an einen Verwandten. In dem großem Wohlstand verhalf.
offenbar glücklich: »Die liebe Tante Prio- Schreiben kündigte die Schwester die Lie- »Die Nonnen mussten auf Zack sein«,
rin«, schwärmte Anna, sei so gut zu ferung eines Schweins an, »dass es Euch sagt Schlotheuber, »ihre Waffe war die spit-
ihr und gebe ihr beim Essen stets die zu einem guten, fetten Schweinsbraten die- ze Feder.« Über gekonntes Strippenziehen
»Keulchen und die Flügelchen von den nen möge«. Zuvor war das Tier offenbar hätten es die Schwestern verstanden, Ein-
Hühnchen« (»unde gift my vaken de ku- in das Kloster eingedrungen und hatte dort fluss auf Wirtschaft und Politik auszuüben
leken unde den vlogelken van dem hone- Verheerungen angerichtet. »Es hat mir und etwa Pfarrstellen zu besetzen. Neben
ken«). meine gesamte Zelle umgewühlt«, klagte ihrer Lobbytätigkeit mussten sie jedoch
Nicht nur solch offenherzige Zeugnisse die Betroffene. immer wieder ihre Einkünfte gegen den
aus dem Leben der Nonnen sind rar; auch Vor allem aber offenbaren die Lüner Zugriff gieriger Kleriker und Lüneburger
ist wenig darüber bekannt, unter welchen Briefe, wie gebildet, humorvoll und kulti- Stadtoberer verteidigen – oder Schulden
Bedingungen die »Bräute Christi« einst viert die Ordensfrauen mal in flüssigem eintreiben.
hinter den Klostermauern lebten, als die Latein, mal in einem nur mühsam zu de- Als eine Kundin eine Zahlung schuldig
Reformation das religiöse Dasein auf den chiffrierenden Niederdeutsch kommuni- blieb, reagierten die Nonnen ungehalten:
Kopf stellte. zierten. Überraschender noch: Die Fund- Sie könnten nicht verstehen, um das ihnen
Umso spektakulärer ist jener umfassen- stücke aus dem Spätmittelalter und der zustehende Geld wie um ein Almosen bet-
de Briefschatz, den die Historikerin Eva frühen Neuzeit deuten auf ein machtvolles teln zu müssen, und erwarteten eine Zah-
Schlotheuber von der Heinrich-Heine- Netzwerk der Nonnen hin, wie es bislang lung binnen einer Woche.
Universität Düsseldorf und Henrike Läh- kaum denkbar schien. Neben ihrer Geschäftstüchtigkeit, so be-
nemann von der University of Oxford Lange habe die historische Forschung legt ihre nun ausgewertete Korrespondenz,
mit Kolleginnen im Kloster Lüne bei Frauenklöster nur »als Orte kontemplati- fielen die Lüner Haubenträgerinnen auch
Lüneburg jetzt gehoben haben. Die Schil- ven Nichtstuns und unverstandener Gebe- durch ihren erbitterten Widerstand gegen
derungen der kleinen Anna gehören zu die Reformation auf. Mit aller Kraft wehr-
einem Konvolut von knapp 1800 Briefen, ten sie sich gegen die Folgen der Lehren
die überwiegend von Nonnen verfasst Luthers, der etwa die katholische Messe
wurden und bislang nahezu unbeachtet in durch ein Abendmahl im protestantischen
einer Truhe der Äbtissin des Klosters Lüne Sinne ersetzen wollte.
lagerten. »Ein einzigartiger Fund«, befin- Die Nonnen aus dem Kloster Lüne wet-
det Schlotheuber. terten in Briefen an befreundete Kloster-
Spärliche Notizen, ein paar Briefe und schwestern in Norddeutschland derart be-
dazu diverse Chroniken – aus diesem harrlich gegen den Eisenacher Aufrührer,
knappen Stoff versuchten Geschichts- dass der empörte Reformator Urbanus
kundler bislang, das irdische Dasein der Rhegius (1489 bis 1541) drohte, »das ich
himmlischen Schwestern von einst zu re- den freuelichen, hartneckigen feinden des
konstruieren. Evangelii, an welchen kein leren, vermane,
KLOSTERARCHIV LÜNE

Die neue Quellenlage könnte den Blick bitten noch warnen hilfft, mus das maul
auf das Wirken der Nonnen im ausgehen- stopffen«.
den Mittelalter gründlich ändern. Denn Schwestern des Klosters Medingen im
die nun wieder aufgetauchten Briefe zeich- heutigen Bad Bevensen in Niedersachsen
nen ein völlig anderes Bild von den Or- lässt der zum Protestantismus übergetre-
densfrauen als jenes, das sich über Jahr- Manuskript aus der Briefsammlung tene Herzog Ernst I. im Wortsinne stramm-
hunderte bis in die Gegenwart überliefert »Ascetisch und mystisch« stehen: Stundenlang dürfen sich die Non-

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»In den Briefen zeigt sich, dass die Or-


densschwestern die gesamte Klaviatur der
Konversation beherrschten«, sagt Schlot-
heuber. Mit Klerikern parlierten sie per-
fekt Latein, mit Freunden, Verwandten
und örtlichen Würdenträgern meist Nie-
derdeutsch, in der Korrespondenz mit an-
deren Frauenklöstern entwickelten die
Nonnen eine kunstvolle Mischform aus
beiden Sprachen.
Die von den Schwestern raffiniert ge-
wobenen, hintersinnigen Sprachbilder lie-
ßen sich allerdings mit den Werkzeugen
der Historiker kaum enträtseln. Das Pro-
jekt geriet ins Wanken. Dank der Hilfe der
in Düsseldorf ansässigen Gerda Henkel
Stiftung konnte das Forscherteam einen
Sprachwissenschaftler hinzuziehen, um
die vertrackten Satzgebilde zu entwirren.
Als Herausforderung erwiesen sich Bot-

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN, INSCHRIFTENKOMMISSION, DR. SABINE WEHKING


schaften wie jene, die von der Lüner Klos-
tervorsteherin Mechthild Wilde in der
Fastenzeit 1529 kurz vor Ostern an ihre
kranke Amtsschwester Elisabeth von Dan-
nenberg versandt wurde – ein elaborierter
Genesungswunsch, der heutige Leser über-
fordert: »Derjenige, der im Ofen der Liebe
der Fisch ist«, notierte Wilde, »der möchte
bewirken und Euch zurückgeben aus der
Honigwabe der Liebe den süßen Ge-
schmack der bitteren Passion, damit ihr
bald wieder gesund werdet an Seele und
Leib.«
Wie bitte? Ohne tiefere Kenntnis der so-
genannten Homilien des Kirchenvaters
Papst Gregor I. aus dem 6. Jahrhundert
ließ sich dieser rätselhafte Text nicht ent-
schlüsseln. In der Mythologie des alten
Heilligen kehrt Jesus nach der Auferste-
hung als gebratener Fisch und Honigwabe
wieder. Den gebildeten Lüner Nonnen galt
der Fisch mit Honig entsprechend als Sinn-
Nonnen des Klosters Lüne (Gemälde um 1650): »Kommst du aus freiem Willen?« bild für Christus, aber auch für das nahen-
de Osterfest. Die mitfühlende Mechthild
aus Lüne wünschte also ihrer Kollegin,
nen nicht setzen, während sie vom Herzog Mädchen zur Ausbildung in den Klöstern dass sie nach Fastenzeit und erhoffter bal-
mit bohrenden Fragen traktiert werden. antraten. diger Genesung einen kräftigenden Oster-
Doch die Schwestern bleiben standhaft Die feineren Adels- und Patrizierhäuser schmaus genießen möge.
und verteidigen ihre katholische Lebens- balgten sich für ihre Töchter um einen je- Dass die aus Lüne stammenden Briefe
form, wenden sich anschließend aber hilfe- ner seltenen Plätze, die im Konvent frei nun im Kloster selbst für die Nachwelt ein-
suchend an die Priorin des Lüner Klosters: wurden. »Kommst du aus freiem Willen?«, sehbar sind, ist schon für sich ein Kurio-
»Liebste Herrin«, schreibt die Medinger fragte der Klostervorsteher die Kandidatin sum. Das Vorhandensein der historischen
Äbtissin Margarete Stöterogge am 26. Sep- stets, bevor für sie eine mehrjährige Probe- Kostbarkeiten geht auf die besondere Kon-
tember 1525 an ihr Gegenüber in Lüne, zeit begann. trollpraxis der Klosterleitung im Spätmit-
»unsere Eingeweide und Herzen sind tief Aber war es nicht der Eintritt in eine telater zurück. Sämtliche ausgehende Post
bewegt und zittern wegen der unerhörten Welt der Unfreiheit? »In dem, was wir heu- musste der Priorin vorgelegt werden; alle
Verhandlungen, zu denen unser Kloster te als freie Welt verstehen, hatten die Frau- Briefe wurden handschriftlich kopiert.
gezwungen wurde!« So seien »viele Worte en damals nicht unbedingt gute Karten«, Später verschwanden sie für lange Zeit
und Widerworte getauscht« worden, »bei widerspricht Schlotheuber. Unbeherrschte in einer Schatulle der damaligen Äbtissin
denen es uns mit Gottes Hilfe unmöglich Ehemänner waren oft so gewalttätig, dass des Konvents.
war, ihm zuzustimmen«. sie ihre Frauen im Zuge ehelicher Züchti- Die Frauen, die heute im Kloster Lüne
Die Schmähungen der Reformations- gungen schon mal totprügelten, ohne da- leben, wären nicht mehr in der Lage zu
anhänger prägten das Image der Nonne für belangt zu werden. Auch die Ausübung deuten, was ihre Vorgängerinnen vor
als graumäusiges Geschöpf bis heute, sagt eines Berufes ihrer Wahl war Frauen kaum 500 Jahren aufgeschrieben haben. Ihnen
Schlotheuber. Dabei war Generationen möglich. Im Kloster hingegen erwartete fehlen dazu die Kenntnisse der lateini-
von Historikern entgangen, mit welch stol- die Mädchen eine Ausbildung, die ihres- schen Liturgie. Frank Thadeusz
zem Gefühl des Auserwähltseins junge gleichen suchte.

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Kultur
»Wer bei uns nicht verrückt wird, ist nicht normal.« ‣ S. 114

POPPERFOTO / GETTY IMAGES


Hamburger Synagoge auf dem Bornplatz um 1910

Architektur

»Falsches Signal«
Miriam Rürup, 46, Direkto- SPIEGEL: Weil die meisten Menschen, goge in Halle publik. Man will ein Zei-
rin des Hamburger Instituts die damals diese Synagoge besuchten, von chen gegen den Antisemitismus setzen.
GEORG WAMHOF

für die Geschichte der den Nazis ermordet wurden? Rürup: Und das ist auch gut so. Aber um
deutschen Juden, über eine Rürup: Richtig, die Gemeinde wurde aus- ein starkes Zeichen für jüdisches Leben
parteiübergreifende Initiative gelöscht. Dieser neue Plan reiht sich für heute zu setzen, wäre die Wiedererrich-
zur Wiedererrichtung der mich in eine lange Serie von Bemühungen tung des Vorkriegsbaus das falsche Signal.
alten Synagoge auf dem früheren Born- ein, die Vergangenheit künstlich wieder- Wenn man jüdische Gegenwart dokumen-
platz in Hamburg herzustellen, denken Sie nur an die Garni- tieren will, sollte man das auch baulich
sonkirche in Potsdam. ausdrücken. Man könnte zum Beispiel
SPIEGEL: Frau Rürüp, vor 80 Jahren SPIEGEL: Aber das Grundstück, auf dem nach München schauen, nach Dresden
wurde die große Hamburger Synagoge die alte Synagoge stand, existiert noch. oder nach Mannheim, wo moderne Syna-
von den Nazis zerstört, jetzt soll Und bis auf einen Hochbunker am Rande gogen entstanden sind.
sie neu entstehen. Eine gute Idee? ist der Platz nicht bebaut. SPIEGEL: Die aber mehr als nur Synagogen
Rürup: Dass es eine Initiative zur Rürup: Nun ja, zwar nicht bebaut, aber sind, nämlich jüdische Gemeindezentren.
Stärkung des jüdischen Lebens gibt, dort befindet sich ein beeindruckendes Rürup: Genau. Wenn man auch in Ham-
finde ich wunderbar. Offenbar scheint Mahnmal, das 1988 von der Stadt und der burg ein jüdisches Kulturzentrum bauen
man aber der Fantasie anzuhängen, jüdischen Gemeinde eingerichtet wurde. würde, das offen für alle wäre, für die
dass man durch den Wiederaufbau einer Dieses Bodenmosaik vermittelt eine kleine weltlichen Juden ebenso wie für die gläu-
prächtigen Synagoge an eine Vergan- Ahnung davon, wie groß dieses 1906 bigen, die liberalen und die orthodoxen,
genheit nahtlos anknüpfen kann, die fertiggestellte Gebäude einst gewesen ist. dann klingt das schon wieder spannender.
zerstört wurde und die sich nicht wieder- SPIEGEL: Die Idee zum Wiederaufbau Aber das hat dann in so einer rückwärts-
herstellen lässt. wurde nach dem Anschlag auf die Syna- gewandten Architektur nichts verloren. DY

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DDR-Kunst bereits in der Mediathek zu sehen ist. Nils Minkmar Zur Zeit
Brasilianischer Retter Der Berliner Filmemacher Tom Ehrhardt
beschreibt, wie Chagas dazu kam, sich Wie geht’s?
 Die schönste Zeit seines Lebens habe für die Arbeiten von Künstlern wie Ger-
er in der DDR verbracht, erzählt der da Lepke, Max Uhlig oder Eberhard Auf einer Party neulich begann
Kunstsammler Francisco Chagas Freitas. Göschel zu interessieren, die in der fast jede Antwort auf die
Der Brasilianer, der von 1984 bis 1991 DDR als nicht systemkonform gal- Frage, wie es gehe, mit einer
Kulturattaché an der Botschaft seines ten und oft Schwierigkeiten mit dem Unterscheidung: »Privat
Landes in Ost-Berlin war, ist der Protago- Regime hatten. Chagas kaufte viele geht es mir gut, aber …«
nist der TV-Dokumentation »Der ver- ihrer Werke und legte eine der welt- Dann wurden die modernen
gessene Schatz«, die am 19. Januar um weit größen Privatsammlungen von Reiter der Apokalypse aufge-
23.05 Uhr im MDR läuft, vorher aber DDR-Kunst an. Ehrhardt nimmt den zählt – Klimawandel, Rechtsradikale,
Zuschauer mit auf eine Spurensuche und Digitalisierung, Organisierte Krimi-
zeigt Chagas auf seinen Reisen von Cott- nalität und die Schwäche der politischen
bus bis zum Amazonas. Der Film ist die Parteien.
GUSTAVO HIROYUKI ALMEIDA / MDR

Chronik einer großen Leidenschaft für Privat gibt es mehr Möglichkeiten


die Kunst und vieler Kämpfe für ihre Frei- denn je, aber wenn man die eigenen
heit, oft berührend, nicht selten skurril. vier Wände verlässt, wächst die Unsicher-
So erzählt Göschel, er sei in den Achtzi- heit. Helmut Kohl, der seine Lands-
gerjahren auf die Idee gekommen, abge- leute gut kannte, prägte den Satz, die
storbene Baumstämme grün anzumalen. Deutschen seien heute ein Volk, das
Die Behörden hätten diese Aktion für sein Glück im Privaten suche. Er wollte
staatsgefährdend gehalten und ihn obser- damit die deutschen Nachbarn beruhi-
Chagas Freitas vieren lassen. LOB gen, ein erneuter Überfall sei nicht zu
erwarten, und er hatte ja auch recht
damit. Allerdings setzte der jahrzehnte-
lang gelungene Rückzug ins Private
Literatur und nun in seinem Werk aufgehoben einiges voraus. Eine internationale Ord-
Suchtstoff sind. »Der vorige Sommer und der
Sommer davor« ist das zweite Buch aus
nung etwa, in der noch ab und zu etwas
vom idealistischen Gehalt der Men-
 Mit diesem Autor verhält es sich wie dem Nachlass des Schriftstellers, der schenrechte und der westlichen Werte
mit einer sanften, nachhaltigen Droge. 2013 in Frankfurt starb. Sorgfältig ediert, aufblitzt.
Ihre Wirkung: Offenbarung alltäglicher nimmt es die Leser mit auf eine Reise in Aber auch das trauteste Heim
Schönheit. Dicke, langsame und betören- die Achtzigerjahre, nach Südfrankreich kommt einem bedrückend vor, wenn
de Bücher schrieb Peter Kurzeck über in die Cevennen, in deren Landschaften draußen Mächte walten, die kein Ver-
sein Leben im hessischen Staufenberg und Schönheiten Kurzeck schwelgt. So trauen verdienen. Zwar kennt die offene
und in Frankfurt am Main, über Reisen bekommen neue Leser die Gelegenheit, Gesellschaft ein Instrument, das Bür-
nach Frankreich, Wanderungen durch süchtig zu werden nach diesem Stoff. ES gerinnen und Bürgern als Ventil für den
Kneipen, Cafés, durch Straßen und Land- Notfall dient, die gewaltlose Ablösung
schaften, die der Modernisierung trotzten Peter Kurzeck: »Der vorige Sommer und der Sommer der Regierung durch Wahlen. Doch wie
und doch irgendwann verschwanden davor«. Schöffling; 656 Seiten; 32 Euro. sieht es damit heute aus? Obwohl alle
Demokratien politisch gespalten sind,
erleben wir Rekorde in der Dauer der
Amtszeiten. Angela Merkel regiert nun
Kino ten und ihnen Glücksgefühle bescheren. länger als Adenauer. Hätte sie ihren
Der Duft des Glücks Tatsächlich verhalten sich alle Menschen,
die mit Little Joe in Berührung kommen,
Abschied aus dem Amt nicht selbst be-
schlossen, würde sie wohl lebenslang
 Als »Mindfuck« bezeichnet man in der auf einmal anders. Aber liegt das an der Bundeskanzlerin bleiben. In Frankreich
Sprache Hollywoods einen Film, der seine Genmanipulation oder am gesellschaftli- ist keine republikanische Alternative zu
Gedankenspiele so weit treibt, dass der chen Druck, möglichst alles für die per- Macron in Sicht. Im Vereinigten König-
Zuschauer nicht mehr weiß, was und sönliche Wellness zu tun? Und was davon reich geht es turbulent zu, aber die
wem er noch vertrauen kann. Die öster- wäre gruseliger? »Little Joe« sorgt für viel Konservativen brauchen den Machtver-
reichische Regisseurin Jessica Hausner Verwirrung – und ebenso viel Spaß. HPI lust nicht zu befürchten. Auch in Israel,
macht in ihrem Film »Little Joe« (Kino- Russland, der Türkei, Polen und
start: 9. Januar) etwas Ähnliches, aller- Ungarn geht das politische Personal in
dings sehr subtil. Fast unmerklich evo- die ewige Verlängerung. Professionelle
ziert sie Vermutungen und Empfindun- Daueroppositionen gibt es natürlich,
gen, bis man sich nicht mehr sicher ist, aber als Folklore.
was man eben gesehen hat: einen Science- In vielen Ländern ist die Lebensver-
Fiction-Thriller, einen Horrorfilm oder sicherung der Dauerregierer die struk-
eine Satire? Im Zentrum steht eine gen- turelle Schwäche der liberalen Linken.
technisch veränderte Topfpflanze, von Tatsächlich gilt: In einer Republik
ihrer Schöpferin (Emily Beecham, beim gibt es auf Dauer kein privates Glück –
Festival in Cannes als beste Darstellerin ohne öffentliches Engagement.
X VERLEIH

ausgezeichnet) Little Joe getauft. Der


Duft des Gewächses soll bei Menschen An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
das Bindungshormon Oxytocin ausschüt- Szene aus »Little Joe« Elke Schmitter im Wechsel.

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Kultur

Das größte,
gnadenloseste Gefühl
Autoren Die US-amerikanische Reporterin Lisa Taddeo hat ein erschütterndes
Buch über Sehnsucht geschrieben. »Drei Frauen« erzählt von Maggie, Lina und Sloane –
und davon, was ein Leben zusammenhalten kann. Von Takis Würger

G
anz am Anfang, als Lisa Taddeo, Es ist kein Buch über Sex geworden,
39, noch dachte, sie möchte ein sondern ein Buch über Sehnsüchte. Die
Buch über Sex schreiben, fand sie Sehnsucht dreier Frauen. »Ich glaube, es
sich zwischen den Beinen eines gibt nur Sehnsucht und Traurigkeit in der
der größten lebenden Reporter wieder. Welt. Karriere, Essengehen und Reisen
Gay Talese saß auf einer Couch in seinem sind wunderbar, aber am Ende werden wir
Anwesen, sonderbar erhöht. Taddeo hock- geboren, wir haben Sehnsüchte, und dann
te sonderbar niedrig auf einem Stühlchen sterben wir«, sagt Taddeo.
davor, so erzählt sie es. Sie hat acht Jahre lang für dieses Buch
Talese ist in den USA eine legendäre recherchiert und geschrieben. Sie ist sechs-
Gestalt, wegen seiner gelben Krawatten mal von Küste zu Küste durch ihr Land
und Maßanzüge und wegen seiner Bücher gefahren. Sie hat in Bars rumgehangen, in
»Ehre deinen Vater« über die Mafia und Arztpraxen, in Pornostudios, in Wohnzim-
»Du sollst begehren« über Sex in den mern und immer wieder fremde Leute ge-
Vereinigten Staaten. Letzteres war in den fragt, was ihre geheime Sehnsucht ist: was
Achtzigern ein Bestseller und ist sehr sie aus der Finsternis ihrer Seele heraus
voyeuristisch und sehr männlich. begehren. Sie hat mit 30 Menschen, die
Taddeo saß also vor Talese, weil der sie begleitete, angefangen und sich am
Lektor eines wichtigen Verlags sie gefragt Ende für drei von ihnen entschieden, de-
hatte, ob sie eine moderne Version von ren Geschichten sie erzählt: Maggie, Lina
»Du sollst begehren« schreiben wolle. Bis und Sloane.
dahin war sie Reporterin gewesen und hat- Maggie: Diese Geschichte dominiert das
te für ein Golfmagazin, das »New York Buch, was unter anderem daran liegt, dass
Magazine« und »Esquire« geschrieben. Maggies Sehnsüchte sie in einen Gerichts-
Auf der Suche nach der richtigen Idee saal bringen. Als sie 17 Jahre alt war, be-
für ihr Buch besuchte sie Talese und fragte gann sie eine Affäre mit ihrem damals
ihn um Rat, den alten Reportergott, wie 29 Jahre alten Englischlehrer Aaron Kno-
er so ein Buch angehen würde. Seine del. Knodel und Maggie schreiben sich
Antwort kann man vielleicht nur auf Textnachrichten, telefonieren nachts, tau-
Englisch zitieren, auch weil sie dann etwas schen geheime Nachrichten aus. Mit ihm
weniger peinlich ist. Gott sagte: »Fuck fühlt sich Maggie zum ersten Mal in ihrem
married men.« Leben gesehen und geliebt – sie sagt, »wie
Taddeo erzählt diese Geschichte in ei- ein Supermodel«. Knodel verführt Maggie
nem Milchshakefachgeschäft in der Nähe im Keller seines Hauses. In Taddeos Buch
ihres Hauses in einem Waldgebiet in Con- beginnt Maggies Teil der Geschichte damit,
necticut an der Ostküste der USA. wie sie zum Gerichtstermin gegen Knodel
Sie hat nicht auf Talese gehört. fährt. Sie hat ihn angezeigt wegen Miss-
Sie hat ein anderes Buch geschrieben: brauch. Aber insgeheim kann Maggie es
»Three Women – Drei Frauen«. Es war ei- nicht abwarten, ihn vor Gericht endlich
nes der erfolgreichsten Sachbücher in den wiederzusehen.
Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr. Lina: Sie ist verheiratet, streng katho-
Es schoss von null auf eins der Bestseller- lisch, hat zwei Kinder und einen Mann.
liste der »New York Times« und verkaufte Als Jugendliche wurde sie von drei Män-
mehr als 300 000 Exemplare. Nun wird nern nacheinander vergewaltigt. Damals
es als Serie verfilmt und in 26 Sprachen hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem
übersetzt. anderen Teenager, Aidan, von dem sie so

Lisa Taddeo: »Three Women – Drei Frauen«. Aus


dem Amerikanischen von Maria Hummitzsch. Piper; Journalistin Taddeo
416 Seiten; 22 Euro. Erscheint am 13. Januar. »Eine Geschichte von wilder Leidenschaft?«

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besessen war, dass es immer noch nach- liebt sie sich in den Koch. Die beiden zie- partner sein würden. Sie dachte eine Zeit
hallt. Ihr jetziger Ehemann weigert sich, hen nach Newport, Rhode Island, eine ma- lang, ein Buch über Sex sei interessant,
Lina das zu geben, was sie sich am meisten lerische, reiche Stadt am Atlantik. Sloane aber dann ging sie an einen Ort, der »Porn
wünscht: Er küsst sie nicht auf den Mund. hat viel guten Sex mit ihrem Mann. Irgend- Castle« genannt wird, ein Gebäude bei
Wenn er das Bedürfnis nach Sex verspürt, wann fragt er sie, wie sie es finden würde, San Francisco, in dem Pornofilme gedreht
was selten vorkommt, trommelt er mit den mit anderen Männern zu schlafen, wäh- werden. Dort schaute Taddeo sich an, wie
Fingern auf Linas Arm und fragt: »Na, rend er ihr dabei zuschaut. Sie macht es. Menschen kopulieren und wie Frauen Sex
Lust?« Lina leidet an ihrem Leben. Dann Es gefällt ihr. mit Maschinen haben, und kam zu der Er-
trifft sie ihre erste Liebe Aidan wieder und Es dauerte Jahre, bis Taddeo diese drei kenntnis, dass das alles nach ein paar kur-
beginnt eine Affäre, wild, leidenschaftlich, Frauen fand. Anfangs fuhr sie mit einem zen aufregenden Momenten immer so
kompromisslos, die ihr Leben aus der alten Auto durch die USA und fragte frem- wirkt, als würde man sich Tierfilme angu-
Bahn katapultiert. de Menschen in Bars, wann sie das letzte cken. Sex war ihr zu langweilig für ein
Sloane: Sie ist reich, kultiviert, war an Mal Sex hatten, weil sie dachte, so würde Buch. Sie wollte etwas Tieferes. So kam
einer Eliteuniversität, versteht etwas von sie die richtigen Gesprächspartner finden. sie zur Sehnsucht.
Kunst, Kleidung und gutem Essen. In dem Taddeo wusste anfangs allerdings selbst Eine Weile druckte sie kleine, hutzelige
damals hipsten Restaurant New Yorks ver- nicht genau, wer die richtigen Gesprächs- Plakate in einem Copyshop aus und

CHRISTOPHER BEAUCHAMP / OBERSERVER / EYEVINE

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 111


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hängte sie heimlich überall aus, an lichen, aber sehr interessanten Sex-
Hauswänden, in Bars. Auf dem leben.
Plakat stand: »Haben Sie eine Ge- Parallel sprach Taddeo noch mit
schichte von wilder Leidenschaft?« den 30 anderen Frauen und Män-
Und darunter Taddeos E-Mail- nern über deren Sehnsüchte. Am
Adresse. Es meldeten sich darauf Ende blieben Maggie, Lina und
vor allem Männer, die mit ihr Sloane, weil sie am meisten Nähe
schlafen wollten. zuließen und am meisten erzählten.
Anfangs dachte Taddeo noch, sie In vielen Momenten fühlte sich
wollte über die Sehnsüchte von Taddeo wie die Freundin dieser
Frauen und Männern schreiben, Frauen, sagt sie, auch wenn sie von
aber die Interviews mit den Män- sich selbst kaum etwas erzählte und
nern funktionierten nicht. Die Män- 95 Prozent der Fragen stellte. Aber
ner versuchten entweder zu flirten, sie wusste, dass sie am Ende alle In-
oder ihnen stand ihr Ego im Weg. formationen benutzen würde. Sie
Sogar bei Taddeos eigenem Bruder war nicht als Freundin in das Leben
war das so (das Ego, nicht das Flir- dieser Frauen gekommen. Sie war
ten). Er war kurz vorher von seiner als Reporterin gekommen. Und Re-
Frau verlassen worden, weil sie sich porter benutzen ihre Gesprächspart-
in einen viel jüngeren Personal Trai- ner immer irgendwie, um eine Ge-
ner verliebt hatte. Aber wenn er von schichte erzählen zu können. Das

NATAN DVIR / POLARIS IMAGES / LAIF


seinen Sehnsüchten sprach, erzählte klingt hart, muss aber nicht unmo-
er immer Geschichten, nicht die ralisch sein und lässt sich nicht ver-
Wahrheit, sondern Geschichten, in meiden. Auch dann nicht, wenn
denen er immer am Ende einiger- man so behutsam und empathisch
maßen gut wegkam. schreibt wie Taddeo. Eine Reporte-
Taddeo hatte außerdem das Ge- rin schmeißt ihre Protagonisten in
fühl, dass Männer ihr Leben auftei- die Wurstmaschine, ob sie will oder
len, als müsse alles in kleine Kartons nicht, weil die Wurstmaschine der
passen. Ein Karton für Arbeit, einer Reporter Talese 2017
einzige Weg zu einer Reportage ist.
für Sport, einer für Freunde, einer »Fuck married men« Taddeo glaubt, die Frauen hätten
für Liebe, einer für Sex, einer für sich ihr gegenüber aus unterschied-
Sehnsucht. Bei Frauen fliegen die lichen Motiven geöffnet. Lina war
Themen, so erlebte es Taddeo, alle durch- Krieg nach Afghanistan. Aber welche Be- einfach froh, dass jemand da war und zu-
einander. Es gibt keine Boxen. sessene zieht für zwei Jahre in eine Klein- hörte. Maggie wollte, dass ihre Seite der
Lina traf sie als erste der Frauen. Tad- stadt in Indiana, um über die Sehnsüchte Geschichte gehört wird und nicht nur die
deo war auf ihren Recherchen nach India- einer interessanten, aber relativ gewöhn- ihres Englischlehrers, der öffentlich Inter-
na gekommen, dort befindet sich das Kin- lichen Frau namens Lina zu schreiben? views gab, sehr überzeugend seine Un-
sey Institute der Indiana University, das Taddeo sagt, sie habe in der Zeit der Re- schuld beteuerte und Maggie als durchge-
sich der Erforschung von Sex in allen sei- cherche mehr Yoga gemacht als jemals zu- knalltes White-Trash-Girl darstellte. Bei
nen orchideenhaften Facetten widmet. Sie vor. Und sie habe einfach sehr viel gewar- Sloane ist sich Taddeo nicht sicher, warum
begann dort eine Gesprächsrunde mit tet und geredet, aber sie vermutet, dass sie mit ihr sprach. Heute sorgt sich Taddeo
Frauen, die ein bestimmtes Mittel beka- sie vor allem deshalb so radikal in ihrer darum, dass Sloanes Identität aufgedeckt
men, durch das sie mehr Lust auf Sex hat- Recherche gewesen sei, weil sie so viel werden könnte. Sie hat zwar ihren Namen
ten (es war irgendeine Graubereich-Studie, Angst vor dem Versagen habe. Sie sagt: für das Buch geändert, aber Sloane lebt in
das Mittel sei eigentlich nicht wirklich zu- »Ich habe immer einen Sturm von Angst einer kleinen Stadt, und dort gibt es nicht
gelassen gewesen, vermutet Taddeo). Eine in mir, und ich habe mich immer zu den zu viele schöne, erfolgreiche Restaurant-
der Frauen, die zur Gesprächsrunde ka- einsamen Menschen hingezogen gefühlt.« wirtinnen. Vorsichtshalber hat Sloane Tad-
men, war Lina, die Frau mit dem Mann, Von Maggie und dem Gerichtsprozess deo jüngst als Facebook-Freundin gelöscht.
der sie nicht auf den Mund küsste. Sie kam gegen ihren ehemaligen Englischlehrer las Taddeo vermutet, dass Sloane vor allem mit
in den Raum, Taddeo schaute ihr ins Ge- Taddeo in der Zeitung. Sie suchte im Tele- ihr sprach, weil sie nicht wusste, worauf sie
sicht und sah das Leben darin und hörte fonbuch Maggies Nummer heraus, rief sie sich einließ, und weil niemand erwartete,
ihr zu und fragte sich, ob sie je eine Person an, fuhr hin, hörte zu und wusste, die hier dass dieses Buch ein Erfolg werden würde.
getroffen hatte, die so genau wusste, wer ist es auch. Dieser Erfolg kommt mit Sicherheit
sie war und was sie brauchte. Taddeo wuss- Sloane fand sie, indem sie nach New- nicht daher, dass man als Leser bei allen
te, Lina ist es. Sie zog nach Indiana und port zog und dort so lange herumfragte, möglichen Sexszenen dabei ist, auf kleb-
blieb zwei Jahre. ob jemand eine gute Geschichte über Sehn- rigen Autositzen, in Highschool-Klassen-
Moment. sucht kenne, bis eine Frau ihr erzählte, es zimmern, in Motels. Sex gibt es direkter,
Zwei Jahre? gebe da diese Sloane mit diesem wider- in Bewegtbild und Farbe und mit weniger
Reporter machen immer wieder irre auf- Aufwand umsonst im Internet. Taddeo hat-
wendige Recherchen. Der deutsche Repor- te recht mit ihrem Gedanken zu Beginn
ter Moritz von Uslar zog einmal ein paar der Recherche, dass Sehnsucht interessan-
Monate in die ostdeutsche Provinz, um Zwischen den Zeilen sagt ter ist als Geschlechtsverkehr. Ihr Buch ist
danach nah, einfühlsam und lustig das Taddeo: Hört auf, der Beweis auf 416 Seiten.
Leben dort zu beschreiben. Der amerika- Die Leser begehren, verlangen, trauern,
nische Reporter Sebastian Junger ging ein euch für eure Sehnsüchte hoffen, lieben mit den drei Frauen. Dieses
Jahr lang für ein Buch mit Soldaten in den zu verurteilen. Buch ist so wahr und dadurch so hart, dass

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man nicht aufhören kann, es zu lesen. Ich


habe den etwas langweiligen Prolog gele-
SPIEGELJAHRESBESTSELLER2019
sen, das Buch dann drei Monate weggelegt Im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
und die restlichen knapp 400 Seiten da-
nach in einem Stück weggesuchtet. Tad-
Belletristik Sachbuch
deo beschreibt, wie gnadenlos Sehnsucht
sein kann. Und wie schön, wenn sie Erfül-
lung findet. Taddeo tut das, ohne eine der 1 Sebastian Fitzek 1 Bas Kast Der Ernährungskompass
Frauen bloßzustellen. Auch in ihren dunk- Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro
C. Bertelsmann; 20 Euro
len, verzweifelten und grenzwertigen Mo-
menten weiß man als Leser, warum die 2 Saša Stanišić 2 Stephen Hawking Kurze Antworten
Frauen so handeln, und dadurch behalten Herkunft auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro
Luchterhand; 22 Euro
sie ihre Würde.
3 Michelle Obama
Die Männer verlieren fast alle ihre Viele Jahre nach der Flucht
Becoming
Würde. seiner Familie vor dem
Balkankrieg sucht der Goldmann; 26 Euro
Sie sind stumpf, dumm, grob, brutal und Autor nach seinen Wurzeln
ekelhaft. Man liest dieses Buch und fragt – eine erstaunlich leicht- Die Autobiografie der ehe-
füßige Selbstbefragung. maligen First Lady – ein
sich, wie das möglich ist, dass wir im Jahr wuchtiges und warm-
2020 Sonden zum Mars schicken und viele herziges Buch über den
3 Ferdinand von Schirach amerikanischen Traum
gefährliche Krankheiten heilen können,
Kaffee und Zigaretten Luchterhand; 20 Euro und seine Schatten.
dass aber manche Männer Frauen behan-
deln wie Vieh. 4 Lucinda Riley 4 Edward Snowden
Als Mann, der dieses Buch liest, schämt Die Sonnenschwester Goldmann; 22 Euro Permanent Record S. Fischer; 22 Euro
man sich. »Drei Frauen« ist, ohne beleh-
rend zu sein, ein Buch wie ein Mahnmal. 5 Dörte Hansen 5 Peter Wohlleben Das geheime Band
Mittagsstunde zwischen Mensch und Natur
Nach der Lektüre geht man anders mit den Penguin; 22 Euro
Ludwig; 22 Euro
Gefühlen anderer Menschen um.
Vielleicht ist es auch deshalb so erfolg- 6 Simon Beckett 6 Marcel Eris / Dennis Sand
reich, weil zwischen den Zeilen die Bot- Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro
MontanaBlack Riva; 19,99 Euro
schaft steht, an die wir uns eigentlich alle
7 Jussi Adler-Olsen 7 Andreas Michalsen
gern halten würden, es aber meistens nicht Opfer 2117
hinkriegen: Hört auf, euch für eure Sehn-
dtv; 24 Euro Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro

süchte zu verurteilen. 8 Ildikó von Kürthy 8 Anne Fleck


Wenn eine Reportage, in der beinahe Es wird Zeit Wunderlich; 20 Euro Ran an das Fett Wunderlich; 24,99 Euro
alle Namen geändert sind, fast zu gut ist,
um wahr zu sein, fragt man sich in Zeiten 9 Daniela Krien 9 Marc Friedrich / Matthias Weik
von Claas Relotius natürlich, ob sie wahr Die Liebe im Ernstfall Diogenes; 22 Euro Der größte Crash aller Zeiten
Eichborn; 20 Euro
ist. Taddeo hat ihr gesamtes Buch von ei-
nem unabhängigen Faktenprüfer durch- 10 Delia Owens Der Gesang
der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro
10 Meike Winnemuth
checken lassen. Ein Anwalt hat zwei Mo- Bin im Garten Penguin; 22 Euro
nate lang geprüft, ob alles seine Richtigkeit 11 Ursula Poznanski
hat (und ob die beschriebenen Männer 11 Michael Winterhoff Deutschland
Erebos 2 Loewe; 19,95 Euro
verdummt Gütersloher Verlagshaus; 20 Euro
irgendeine Möglichkeit haben, Taddeo zu
verklagen). Relotius ist der Mann, der sich 12 Jojo Moyes Wie ein Leuchten 12 Thomas Pletzinger The Great Nowitzki
als Reporter des SPIEGEL jahrelang Ge- in tiefer Nacht Wunderlich; 24 Euro Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
schichten ausgedacht hat. Taddeo ist die
Frau, die jahrelang in der Provinz gewohnt 13 Sebastian Fitzek 13 Yuval Noah Harari 21 Lektionen für
hat, um echte Geschichten zu finden. Er Der Insasse Droemer; 22,99 Euro das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro
hat erfunden; sie hat gefunden.
Es ist spät geworden im Milchshake- 14 Michel Houellebecq 14 Harald Jähner
Serotonin DuMont; 24 Euro Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro
laden in Connecticut und dieser Text eine
Hymne. Das muss so sein, man merkt 15 Rebecca Gablé 15 Jonathan Safran Foer Wir sind
»Drei Frauen« an, dass hier eine Autorin Teufelskrone Lübbe; 28 Euro das Klima! Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
alles riskiert und alles gegeben hat. Wenn
Gay Talese mal wissen will, wo der Ham- 16 Jo Nesbø 16 Jürgen Todenhöfer
mer hängt, sollte er vor seiner nächsten Messer Ullstein; 24 Euro
Die große Heuchelei Propyläen; 19,99 Euro

Recherche bei Taddeo vorbeigehen. 17 Sebastian Fitzek Fische,


Es gibt einen Satz in »Drei Frauen«, der 17 Matthias Brandt die auf Bäume klettern Droemer; 18 Euro
zitiert werden soll. Er stammt von einer Blackbird Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

Stelle des Buches, in der eine Frau heraus- 18 Andrea Wulf Die Abenteuer des
findet, dass Sloane eine Affäre mit ihrem 18 Nele Neuhaus Alexander von Humboldt
Muttertag Ullstein; 22 Euro
C. Bertelsmann; 28 Euro
Mann hat. Es ist ein Satz, von dem Taddeo
sagt, sie frage sich bis heute, was genau 19 Walter Moers 19 Richard David Precht
damit gemeint sei: »Du bist die Frau«, sagt Der Bücherdrache Penguin; 20 Euro Sei du selbst Goldmann; 24 Euro
die Betrogene, »weißt du denn gar nicht,
dass eigentlich du die Macht hast?« 20 Donna Leon Ein Sohn ist 20 Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
uns gegeben Diogenes; 24 Euro Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro

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Kultur

Senkrechter Sarg
Zeitgeschichte Die Erinnerung an die Massaker des Jugoslawienkriegs droht zu verblassen.
Nicht so im höchsten Haus der bosnischen Stadt Prijedor. Dort lebt, umgeben von
Handlangern und Opfern des Balkangemetzels, ein Dichter. Er schreibt an gegen das Vergessen.

N ebel liegt über Prijedor. Wie ein


Mantel, gnädig ausgebreitet, um
die Spuren vergangener Gräuel-
taten hier im Norden Bosniens zu verhül-
len. Aus den Konzentrationslagern, die zu
Beginn des Krieges rund um Prijedor ent-
standen, kehrten 3176 Menschen nicht ser-
bischer Nationalität nie mehr zurück.
Die Überlebenden wirken auf beklem-
mende Art bemüht um Normalität. Werk-
tätige hasten an den Denkmälern für ge-
fallene Serben vorbei. In der Grillstube
»Bei Jerkan« herrscht mittags Andrang auf
Ćevapčići und Kalbfleischsuppe. Ein paar
Schritte weiter bewirbt ein Plakat das vom
Internationalen Tennisverband ausgerich-
tete Turnier »Prijedor Open«.
Dass hier im Frühsommer 1992, auf
dem Parkplatz vor dem Tennisgelände, die
Leichen überwiegend muslimischer Mit-
bürger gestapelt und vor dem Abtransport
zum Massengrab zwischengelagert wur-
den – genauso wie drüben auf der grünen
Wiese vor dem Hochhaus, wo mittlerweile
die Grillstube steht? Davon erzählt keine
Gedenktafel, kein Mahnmal. Davon er-
zählt Darko Cvijetić.
Der schmächtige Schriftsteller, Regis-
seur und Schauspieler wohnt in dem aus
rostroten Ziegeln gebauten Hochhaus, das
Prijedor überragt wie ein mahnender stei-
nerner Zeigefinger. Cvijetić ist ein uner-
bittlicher Chronist. Er legt den Finger in
die Wunden dieser Stadt, deren Name un-
trennbar mit den Todeslagern Omarska,
Trnopolje und Keraterm verbunden ist.
Außerhalb der ehemals jugoslawischen
Teilrepublik Bosnien und Herzegowina
war Cvijetić, obwohl in zehn Sprachen
übersetzt, bislang wenig bekannt. Jetzt ist
er für den Preis des Europäischen Dichters
der Freiheit nominiert, den eine Jury unter
Mitwirkung der Nobelpreisträgerin Olga
Tokarczuk im März verleihen wird. Gleich-
zeitig soll sein erster Roman verfilmt wer-
den und in deutscher Sprache auf den
Markt kommen. In Anspielung auf einen
Schweizer Aufzughersteller lautet der Titel
beziehungsreich: »Schindlers Lift«.
JELENA JANKOVIC / DER SPIEGEL

Den Aufzug, um den es im Buch geht,


gibt es wirklich. Er ist alt, zerschrammt, mit
Schmierereien übersät. Er verbindet die auf
dreizehn Stockwerken zu je vier Apart-
ments verteilten Bewohner im rechten Flü-
gel des Hochhauses. Hier wohnt Cvijetić,
Sohn eines Serben und einer Kroatin, seit
der Fertigstellung des Gebäudes 1975. Autor Cvijetić: »Wer nicht verrückt wird, ist nicht normal«

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Entstanden »in den goldenen Jahren versucht der Dichter aus dem neunten meisten wollen von unserer und ihrer
Jugoslawiens«, wie der Schriftsteller im Stock in Worte zu fassen: »Mittlerweile jüngeren Geschichte nichts wissen – so ent-
Aufzug sagt, war der Wohnturm das Ar- vergeht kaum mehr ein Tag, an dem sich steht das Fundament für neue Katastro-
chitektur gewordene Abbild titoistischen nicht ein Opfer und sein früherer Peiniger phen.«
Glaubens an »bratstvo i jedinstvo«, Brü- in Prijedor wieder auf der Straße begeg- Von zwölf in Den Haag als Kriegsver-
derlichkeit und Einheit. Professoren, Ärzte nen.« Im Hochhaus sitzt die Frau des er- brecher Verurteilten aus Prijedor und Um-
und Bergarbeiter aus den umliegenden mordeten Nachbarn Fadil mit der Mutter gebung sind elf bereits wieder in Freiheit.
Minen wohnten hier Tür an Tür. Ob sie des serbischen Kriegstreibers Goran bei Die minderschwer Belasteten zeigen sich
Serben, Kroaten oder muslimische Bosnia- Kaffee und Gebäck vor dem Fernsehgerät. offen in der Stadt, treffen sich im Café an
ken waren, spielte bis zum Kriegsausbruch Gemeinsam sehen sie die BBC-Serie »Mid- der Brücke, organisieren sich in Sicherheits-
kaum eine Rolle. somer Murders«. diensten und Kampfsportvereinen. Hinter-
Der von Steven Spielberg verfilmte Aus Splittern, die er im höchsten Haus bliebene der Opfer treffen in der Stadtver-
Roman »Schindlers Liste« behandelt die der beschädigten Provinzstadt sammelt, waltung, wo sie ihre Anträge stellen, auf
Rettung von mehr als tausend Juden; formt Cvijetić in seinem Roman ein Mo- ehemalige Täter als Sachbearbeiter. »Das
»Schindlers Lift« hingegen dreht sich in be- saik, das schaudern macht. Seine Art, im- ist als Signal gedacht, dass wir abhauen sol-
wusster Antithetik um die Auslieferung mer weiter, immer tiefer zu schürfen, sei len«, klagt einer von ihnen, »ethnische Säu-
unzähliger Unschuldiger und um das töd- »ein seltenes Phänomen in Bosnien wie in berung mit anderen Mitteln.«
liche Scheitern einer Utopie. Am Beispiel der ganzen postjugoslawischen Literatur«, »Es ist unmöglich, den Wahnsinn in Wor-
seines Wohnhauses liefert Cvijetić eine schreibt der Kritiker Djordje Krajišnik. te zu fassen«, sagt Darko Cvijetić vor sei-
Innenansicht der bosnischen Tragödie, bes- Die Panik, wegen der kroatischen Mut- nem Hochhaus, »wer bei uns nicht verrückt
ser: der jugoslawischen Zerfallskriege ins- ter ins Lager zu kommen, all das selbst Er- wird, ist nicht normal.« Dann tritt er ein
gesamt. »Dieses Hochhaus war Kleinjugo- lebte fließt ein in »Schindlers Lift«. Cvije- ins Treppenhaus. Fast jeder grüßt den Au-
slawien, erbaut und gedacht als vertikales tić diente zeitweilig an der Front in Gra- tor hier, »Schindlers Lift« hat Schlagzeilen
Dorf«, sagt der Schriftsteller, »inzwischen daćac, sah haufenweise Tote dort und ging gemacht. »Super«, ruft eine Rentnerin und
ist es ein senkrechter Sarg.« später mit einer Schauspielertruppe auf reckt beide Daumen hoch. »Warum kom-
Wie es dazu kommen konnte, dass Men- Tour zur Stärkung der Truppenmoral. An me ich in deinem Buch nicht vor?«, beklagt
schen plötzlich aufeinander eindroschen die Fortsetzung seiner Ausbildung zum sich eine zweite. »Ich habe versucht, ihnen
und schossen, die kurz zuvor noch gemein- einen Spiegel vors Gesicht halten, aber sie
sam mit Blasmusik den Tag der Arbeit und erkennen sich nicht darin«, sagt Cvijetić.
die Tito-Partei gefeiert sowie den Republik- Dann öffnet er die Tür zum Lift, drückt
geburtstag begossen hatten? Oben im neun- auf den Knopf und stoppt den Fahrstuhl zwi-
ten Stock, wo die finsteren Flure mit Graffiti schen der ersten und der zweiten Etage. »Ich
verziert und die Fenster vom Taubendreck wollte Ihnen etwas zeigen, sehen Sie das
blind sind, schenkt Cvijetić im Wohnzim- hier?« Eingetrocknete rostrote Linien auf
mer Rakija ein, Obstbrand, und erzählt: grauem Gemäuer. »Die meisten neu Zuge-
AFP / GETTY IMAGES

»Ich war bei Kriegsbeginn 1992 mit 24 Jah- zogenen halten das für Farbe«, sagt Cvijetić.
ren alt genug, um mich an Jugoslawien im »Sie kennen die wahre Geschichte nicht.«
schönsten Licht zu erinnern, aber auch alt Es war ein Septembertag im ersten bos-
genug, um zu begreifen, wie mir dieses nischen Kriegsjahr, als die sechsjährige Sto-
Land durch die Finger rutschte.« janka Kobas zum Spielen in den Hausflur
Es begann, nur Wochen nach der bosni- Gedenkaktion für die Opfer von Prijedor* lief. Das Flüchtlingskind vom Land hatte
schen Unabhängigkeitserklärung, im Mai Mehr als 5000 kehrten nicht zurück noch nie einen Aufzug gesehen. Sie steckte
1992 damit, dass radikale Serben vor dem den Kopf durch die zerborstene Scheibe
Hochhaus und oben auf dem Dach Position Elektrotechniker im Bergwerk Omarska der Fahrstuhltür, ausgerechnet in dem Mo-
bezogen. Es folgte die von den Serben »eth- war nicht mehr zu denken. ment, als nach stundenlangem Stromaus-
nische Säuberung« getaufte Auslese: »Fiel Seit die Bilder halb verhungerter Häft- fall wieder die Lichter angingen. Der Auf-
ja nicht schwer, die Bosniaken und Kroaten linge von Omarska aus um die Welt gin- zug setzte sich in Bewegung. Nur der Tor-
unter uns ausfindig zu machen, sie waren gen, gilt der Ort als Chiffre für die schier so des Mädchens kam im Erdgeschoss an.
plötzlich die Einzigen im Haus ohne Uni- unbeschreiblichen Gräuel dieses Krieges. Noch 27 Jahre später ist Cvijetić der
form.« Ab Ende Mai mussten alle Nichtser- Augenzeugen berichten von Folter, Mord Schmerz anzusehen, der ihn beim bloßen
ben am Arm ein weißes Band tragen – die und Verstümmelung. Gedanken an diese Tragödie erfasst. Der
bosnische Variante des gelben Judensterns. Eine Gedenkstätte für die Opfer fehlt kleinen Stojanka hat er in seinem Buch
Den muslimischen Nachbarn Fadil in Omarska bis heute. Der Stahlkonzern ein Denkmal gesetzt und danach keine
konnte Cvijetićs Vater anfangs noch vor Arcelor-Mittal fördert dort unverdrossen Ruhe gegeben, ehe er nicht die Mutter in
dem Zugriff retten. Später verschwand der Eisenerz, obwohl noch Leichen auf dem einem Vorort Prijedors und auch das Grab
Mann im Lager, er kam nicht wieder. Zwei Gelände vermutet werden. Im »Weißen des Kindes gefunden hatte. Zumindest den
Freunde, ein Serbe und ein Muslim, die Haus« wurde gefoltert, im »Roten Haus« Zustand, dass dort bis heute nicht einmal
sich als Kinder im Hochhaus kennenge- ermordet. Wer die Orte des Grauens be- ein Grabstein steht, weil das Geld dafür
lernt hatten, tauchten ab in verschiedenen sichtigen will, benötigt eine Sondergeneh- fehlt, will Cvijetić ändern.
Armeen und trafen sich später an der migung der Werksbetreiber. Der nächste Roman, der in Arbeit ist,
Front wieder, bei der Übergabe gefallener »In den Schulbüchern steht kein Wort wird wieder vom Krieg handeln. Während
Kameraden. Und die unzertrennlichen über Omarska«, sagt Darko Cvijetić. »Da- mehr und mehr Menschen Prijedor verlas-
Matheprofessoren im Haus, Crnčević und mals hatte jeder eine andere Erklärung, sen, weil »kaum mehr einer seine Zukunft
Borić? Der erste kam ins Todeslager, der warum es diese Lager geben musste, heute hier sieht«, will Cvijetić bleiben. In seiner
zweite zog in Uniform ins Feld. heißt es: ›Ich war dort nur Koch.‹ Die Stadt, in seinem Wohnturm, verwurzelt
Wie aus Bürgern Bestien wurden, wie in seinen Erinnerungen. Walter Mayr
banal das Böse daherkommen kann, das * 2019 in Sarajewo.

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Die exklusive
Kino-Preview!
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Jetzt zwei kostenlose Karten reservieren.

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Die Preview-Aktion wird am Montag,


dem 13.1.2020, stattfinden. Für zwei
kostenlose Kinokarten können Sie sich
ab sofort online registrieren:
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Ab Donnerstag, dem 9.1.2020, werden
Sie per E-Mail informiert, ob Sie bei
der Preview dabei sind.
Achtung: Die Tickets sind nicht über-
tragbar. Missbrauch wird zur Anzeige
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kinopreview

Berlin
Zoo Palast
Hardenbergstraße 29a
Beginn: 20.00 Uhr
JOJO RABBIT
In »Jojo Rabbit« wird das Leben des einsa- Düsseldorf
Atelier-Kino im Savoy-Theater
men deutschen Jungen Jojo (Roman Griffin Graf-Adolf-Straße 47
Davis) während des Zweiten Weltkriegs auf Beginn: 20.00 Uhr
den Kopf gestellt, als er herausfindet, dass
seine alleinerziehende Mutter (Scarlett Frankfurt am Main
Johansson) in einer Dachkammer ein jüdi- Harmonie Kinos
Dreieichstraße 54
sches Mädchen (Thomasin McKenzie) ver-
Beginn: 20.30 Uhr
steckt. Jojo muss seine Ansichten revidie-
ren – und der Einzige, den er um Rat fra- Hamburg
gen kann, ist sein idiotischer imaginärer Zeise Kinos
Freund Adolf Hitler (Taika Waititi). Friedensallee 7 – 9
Beginn: 20.00 Uhr
In einer ebenso witzigen wie scharfsinnigen
und aufwühlenden Schilderung wird in Hannover
»Jojo Rabbit« aus der Perspektive eines Kino am Raschplatz
Kindes eine Welt porträtiert, die durch ihre Raschplatz 5
Beginn: 20.00 Uhr
Intoleranz verrückt geworden ist. Die tief-
schwarze Satire über die Zeit des Zweiten Köln
Weltkriegs entstand nach dem Drehbuch Cinedom
und unter der Regie von Taika Waititi und Im Mediapark 1
basiert auf dem Roman »Caging Skies« von Beginn: 20.00 Uhr
Christine Leunens. Waititi wagt sich an die Leipzig
Geschichte, die fast zu entsetzlich ist, um Passage Kinos
sie mit nüchterner Gefasstheit zu erzählen Hainstraße 19a
– die Geschichte eines Jungen, der, wie so Beginn: 20.00 Uhr
viele in jener Zeit, einer Gehirnwäsche
unterzogen wurde und Hitler totale Gefolg-
München
City Kinos
schaft geschworen hat. In einer Gratwande- Sonnenstraße 12
rung zwischen Spaß und tödlichem Ernst Beginn: 20.00 Uhr
uar verbindet der Regisseur dabei den Furor
Preview am 13. Jan einer Satire mit der unerschütterlichen Nürnberg
nuar
Kinostart am 23. Ja Hoffnung, dass Fanatismus und Hass über- Cinecittà
Gewerbemuseumsplatz 3
wunden werden können. Beginn: 20.00 Uhr
Stuttgart
Atelier am Bollwerk
www.fox.de/jojo-rabbit Hohe Straße 26
/20thCenturyFoxGermany Beginn: 20.00 Uhr
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RONEN AKERMAN / PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO


Szene aus »Fauda«: Die grellen, ungefilterten Reize der Gegenwart

Immer nur Drama


Entertainment Unhöflich, ultranervös, politisch unkorrekt: Israelische Serien spiegeln die Konflikte
des Landes – und sind deshalb weltweit gefragt. Ein Besuch in Tel Aviv und Jerusalem.

E
in enger Besprechungsraum ohne els abgerungen. »Niemand schreibt hier um den israelisch-palästinensischen Kon-
Fenster, drei Wände kahl, an der Genreserien«, sagt Ziv. »Es geht immer flikt geht es in der Neuauflage um den in-
vierten ein riesiger Bildschirm. nur um Drama.« disch-pakistanischen.
Das ist der War-Room von Keshet, So wie in »Prisoners of War«, der be- Krieg fühle sich überall gleich an, glaubt
einem der einflussreichsten Fernsehanbie- kanntesten Serie von Keshet. Der Plot: Ziv, deshalb könne man solche Geschich-
ter Israels. Am Morgen wurde bekannt ge- Zwei entführte israelische Soldaten kehren ten gut exportieren.
geben, dass die Israelis zum dritten Mal nach 17 Jahren Gefangenschaft und Folter In den vergangenen Jahren hat sich
innerhalb von zwölf Monaten eine neue in einer palästinensischen Terroreinheit Israel als wichtige Exportnation für Serien
Regierung wählen sollen. Karni Ziv, 52, heim und peinigen ihre ihnen fremd ge- und Serienideen etabliert. Sechs große An-
seit zwei Jahrzehnten zentrale Kraft in der wordenen Frauen und Kinder. Terror als bieter kämpfen um die Gunst von nur rund
Fernsehszene des Landes und zurzeit TV- Familiendrama. neun Millionen Einwohnern, das Format
Filmchefin bei Keshet, lächelt erschöpft, »Prisoners of War« ist die Vorlage für Serie ist dabei die härteste Währung. Der
aber auch ganz zufrieden. »Homeland«, jene US-amerikanische Pro- unregulierte Wettbewerb hat eine ganz
Das Desaster bei der Koalitionsbildung duktion, die Anfang des Jahrzehnts den eigene Art des Fernsehens hervorgebracht,
ist für sie nur ein weiteres Drama unter internationalen Serienboom mit ausgelöst die grellen, ungefilterten Reize der Gegen-
vielen, Grund für Frust und Wut – aber hat. Inzwischen wurde ein weiteres Re- wart werden in schnellen seriellen Dramen
möglicherweise auch Inspiration für die make abgedreht. Auf dem Fernseher hin- verarbeitet. Dabei versuchen die israeli-
nächste Keshet-Serie. Diese seien stets der ter Ziv läuft gerade der dazugehörige Trai- schen TV-Anbieter, einander mit riskanten,
harten, unübersichtlichen Gegenwart Isra- ler – mit indischen Schauspielern. Statt spektakulären Erzählkonstruktionen das

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Kultur

Publikum streitig zu machen. Den Stoff drei Perspektiven, Geheimdienst, Killer, muss sie niesen, macht sich dabei in die
dafür finden sie direkt vor der Haustür. Vater des Opfers. Israelis als Mörder, Pa- Hose, und mit dem Sex ist Essig.« Zu den
Ob Arbeitswelt- und Alltagsdramen: lästinenser als Opfer, das gefiel Netanyahu Frauen am Tisch ruft sie über die Saxofon-
Bei den Israelis wird alles zum Krieg. »Mit nicht. kaskaden: »Ladys, ihr wisst, was ich mei-
der einen Hand taten sie ihre Arbeit, mit Netanyahus Boykottaufruf kann Levi ne!« Dann wirft sie sich in den Stuhl vor
der anderen hielten sie die Waffe«, heißt nicht ernst nehmen: »Mein Geschäft ist Lachen.
es im Alten Testament im Buch Nehemia, nicht die Propaganda. Mir ging es um Dass sie so was wie »Fifty« in den USA
Kapitel 4, Vers 11. Ein Satz, der immer Hate-Crime, das zentrale Thema unserer machen könnte, glaubt Levin nicht. »Is-
wieder zitiert wird, wenn es darum geht, Zeit. Ob ein Amerikaner einen Schwulen raelisches Fernsehen ist wie unsere Gesell-
die israelische Gesellschaft zu beschreiben. erschießt, weil er nicht mit dessen Sexua- schaft: unhöflich, brutal, politisch völlig
Er bringt auch auf den Punkt, worum es lität klarkommt, oder ob ein Deutscher unkorrekt. Bei uns hat #MeToo keine
im Fernsehen geht. einen Flüchtling totschlägt, es geht immer große Rolle gespielt. Zumindest hat es kei-
Serien zu machen heißt ja, einen Kon- um dieselben Hassmechanismen.« ne Spuren in unseren Serien hinterlassen.
flikt ständig am Laufen zu halten, ihm Levi ist ein kräftiger Mann, der leise Wir fragen uns beim Dreh nie: Dürfen wir
immer neue Facetten, Perspektiven, Emo- spricht, oft ringt er nach Worten. Er ist bei das?«
tionen abzuringen. Über eine Staffel oder orthodoxen Eltern in einem Kibbuz auf- Das kann Tamar Kay bestätigen, die
sogar über zwei, drei. Dass diese Kunst gewachsen, bis in seine späte Jugend war sich an den Tisch im Restaurant gesellt.
heute überall auf der Welt solchen Reso- er selbst strenggläubig. Dann kamen die Kay, 34, arbeitet als Dokumentarfilmerin
nanzraum hat, kommt den Fernsehleuten Selbstzweifel, die großen, schwierigen Fra- und Serienregisseurin, ihre Dokumenta-
aus Tel Aviv höchst gelegen. gen des Seins, die er unter anderem in der tion »The Mute’s House« über die letzten
Das Beschwichtigungsfernsehen, wie Serie »BeTipul« behandelt. Der US-Sen- zwei palästinensischen Bewohner in einem
wir es aus Deutschland kennen, wo jeder der HBO hat daraus unter dem Titel »In Haus im jüdischen Viertel von Hebron
Konflikt so lange geschliffen wird, bis man Treatment« ein Remake gemacht, einen schaffte es auf die Shortlist für den Oscar
ihn kaum noch erkennt, ist der Hyperrea- ersten großen Hit des Serienzeitalters. als bester Dokumentarkurzfilm. Kay ist
lität der israelischen Serien denkbar fremd. Jede Folge drehte sich um eine Therapie- eine Generation jünger als Levin, sie ken-
»Wir sind eine Gesellschaft voll von Kon- sitzung, Fernsehen als tiefenpsychologi- ne die verstörenden Geschichten vom Set,
flikten, Spaltungsprozess folgt auf Spal- sches Erzählexperiment. die Machtdemonstrationen von Männern
tungsprozess, Versöhnung findet so gut Die Regisseurin und Autorin Daphna in Führungsrollen. Kay hat nichts dagegen,
wie nicht statt«, sagt Drama-Chefin Ziv. Levin, 51, hat an »In Treatment« mitge- dass die #MeToo-Bewegung diese Grau-
»Unsere Autoren bringen diese Konflikte arbeitet. Vor sechs Jahren hat sie mit dem zonen ausleuchtet. »Dinge ändern sich,
mit in ihre Arbeit ein.« Teenagerdrama »Euphoria« das Vorbild das finde ich gut.«
Die Wirkung ihrer Serien lässt sich auch für die gleichnamige Serie geschaffen, mit Dazu trägt auch ihre Serie »Unchained«
daran messen, welche mächtigen Gegner der HBO gerade Preise einsammelt. Es ist bei, die derzeit beim öffentlich-rechtlichen
sie sich macht. Keshet hat Benjamin Ne- Mittag in einem Restaurant in Tel Aviv, Le- Sender Kan läuft und Sprengstoff für das
tanyahu zum Feind. Der israelische Minis- vin trinkt Rotwein, aus den Boxen tönt traditionelle Gefüge Israels birgt: Ein Rab-
terpräsident rief dazu auf, den Sender zu laut Jazz. Sie fuchtelt mit den Weinglas. bi hilft Frauen aus dem orthodoxen jüdi-
boykottieren. Amerika ist für sie trotz ihrer Erfolge keine schen Milieu dabei, die Scheidung von
Der Grund dafür ist Hagai Levi, 56, der Option, sie fühlt sich im israelischen Chaos ihren Männern durchzusetzen. Angelegt
zu Ziv in den War-Room von Keshet wohl. ist die Serie als Detektivgeschichte, der Rab-
kommt. In »Our Boys«, einer Co-Produk- Ihr letztes Projekt als Regisseurin, »Ha- bi-Underdog muss fintenreich das traditio-
tion von Keshet und HBO, verarbeitet mishim« (internationaler Titel: »Fifty«), nelle jüdische Eherecht aushebeln und die
Levi Ereignisse aus dem Jahr 2014. Nach- war allerdings selbst in Israel schwer zu trennungsunwilligen Männer austricksen.
dem drei israelische Teenager von Palästi- lancieren. Im Zentrum steht eine Frau kurz Kay ist selbst orthodox erzogen worden,
nensern getötet worden waren, verübten vor ihrem 50. Geburtstag. Levin: »Eine ihr Abschied von der Religion war flie-
Israelis einen Rachemord an einem paläs- Szene handelt davon, wie sie endlich kurz ßend. »Irgendwann stellte ich fest, dass ich
tinensischen Jungen. Die Serie erzählt aus davorsteht, wieder Sex zu haben, dann am Sabbat fernsah, und musste mir einge-

Israelisches Original US-amerikanische Version


»Prisoners of War« »Homeland«
COLLECTION CHRISTOPHEL / ACTION PRESS

SUNSET BOX / ALLPIX / LAIF

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Israelisches Original US-amerikanische Version


»Euphoria« »Euphoria«

HOLLYWOOD PICTURE PRESS / FACE TO FACE


TEDY PRODUCTIONS

stehen, dass es mit dem strengen Glauben zess, auf den Netanyahu eingewirkt und alle digitalen Präsentationsformen zu spin-
bei mir wohl vorbei ist.« im Gegenzug positive Berichterstattung nen, von Smart-TV bis Snapchat. Netflix
Wer sich in den Studios und Sendern über seine Regierungsarbeit bei einem ist dann seiner Ansicht nach längst tot,
rund um Tel Aviv bewegt, trifft viele Frau- wichtigen Webportal gefordert haben soll, aber Israel soll immer noch vorn mitspie-
en wie Kay: eng vernetzt, gut ausgebildet was der Premier allerdings bestreitet. len. Eine Allianz aus der Tech- und der
und mit Anfang dreißig bereits in kreati- Die Unruhe in Israels Medienwelt ist ebenso wendigen Fernsehbranche soll es
ven und organisatorischen Schlüsselposi- ein Dauerzustand, ständig wird verschmol- möglich machen. Leichtes Gepäck, große
tionen. Vielleicht ist das Fernsehgeschäft zen, umgebaut, neu aufgestellt. Israel ist Ideen.
dort auch deshalb das mobilste der Welt. ein nervöses Land, und das ultranervöse Das könnte auch das Motto der Maaleh
In Sachen Produktionskosten ist es ohne- Fernsehen sein Spiegelbild. Uri Shenar School of Film and Television in Jerusalem
hin unschlagbar. Eine Episode von 45 Mi- kann am besten erklären, weshalb das so sein, die nur zwei, drei Blocks entfernt von
nuten entsteht hier im Durchschnitt für ist. Er war Senderchef bei Keshet, verließ Mea Schearim liegt, dem Viertel der ultra-
150 000 Euro – in den USA geht es bei den Sender im Streit und arbeitet jetzt un- orthodoxen Juden. Ori Elon, 38, sitzt hier
ernst zu nehmenden Serien bei zwei Mil- ter anderem als Berater beim Konkurren- mit Kippa in einem Raum vor einer ver-
lionen überhaupt erst los. Reich wird da ten Reshet. gilbten Leinwand, die aussieht, als hätte
keiner. Bekommt ein Topschauspieler in Bis 1993, so Shenar, habe es nur den sie schon 20 Jahre in der Gerätekammer
Deutschland bis zu 15 000 Euro Tagesgage, staatlichen Sender in Israel gegeben, dann gestanden, daneben ein DVD-Player. Elon
sind es in Israel höchstens 1200. sei der Markt geöffnet worden und die ist in einem orthodoxen Elternhaus auf-
Auch »Fauda«, neben »Prisoners of Szene explodiert. »Wir sind ein kleiner gewachsen, die ersten beiden Kinder hat
War« die berühmteste Serie Israels, wur- Markt, aber mit so viel Wettbewerb wie er sehr jung bekommen, als er auf der Film-
de trotz aufwendiger Gefechtsszenen nirgendwo sonst auf der Welt. Wir arbei- hochschule studiert hat, man sehe das auf
mit schmalem Budget in Szene gesetzt, ten so agil und so günstig wie kein anderes der Maaleh School lässig, inzwischen hat
200 000 Euro soll eine Episode gekostet Land«, sagt Shenar und führt als Beweis er sechs Kinder.
haben. Es geht darin um eine israelische die Realityshow »Survivor« an, ein inter- »Meine Frau und ich haben uns kennen-
Spezialeinheit, die verdeckt in Palästinen- nationales Erfolgsformat, für das er im gelernt, als wir 16 waren, ich hatte nie so
sergebieten Terroristen sucht. Gedreht Laufe seiner ereignisreichen Karriere auch was wie ein Date«, sagt Elon und schmun-
wurde teils auf Hebräisch, teils auf Ara- mal verantwortlich war. Die Show werde zelt in seinen Bart. Trotzdem wollte er
bisch, der israelisch-palästinensische Kon- für unterschiedliche Länder produziert, eine Geschichte übers Daten schreiben, in
flikt wird bis in kleinste familiäre Zellen und oftmals teilten sich Teams verschie- der sich der Held in eine ältere Frau ver-
ausgebreitet. Die ersten zwei Staffeln sorg- dener Nationalitäten die Sets – und wann liebt. Eine romantische Komödie – die
ten für hitzige Diskussionen, die einen immer die Israelis anrückten, seien nur Elon im ihm vertrauten Milieu der ultra-
sahen in ihnen Propaganda für den israe- halb so viele Leute beim Dreh. Shenar orthodoxen Juden ansiedelte.
lischen Geheimdienst, den anderen war vergleicht das örtliche Fernsehen mit der »Shtisel« heißt die Serie, die erst ein Hit
die Darstellung von Hamas-Terroristen zu Start-up-Szene Israels: »Wenige Leute tun in Israel war und durch die Lizenzierung
mitfühlend. viel.« von Netflix ein internationaler Erfolg ge-
Ende Dezember ist die dritte Staffel von Shenar ist Produzent, Lobbyist und Zu- worden ist. Eigentlich wollte Elon es bei
»Fauda« beim israelischen Satellitensender kunftsforscher. Netflix und andere Strea- zwei Staffeln belassen, aber dann, so zwin-
Yes gestartet, im Laufe des Jahres wird sie mingplattformen sieht er kritisch, für ihn kert er, »rief die Bank an«. Sechs Kinder
auch bei Netflix zu sehen sein. Sie entstand treten sie, während sie die Welt mit Geld kosten eben. Nach Angaben von Netflix
unter nochmals erschwerten Bedingungen. fluten, inhaltlich und technologisch auf der ist »Shtisel« eine der meistgesehenen
Während der Entwicklung gab es Umbau- Stelle: »Netflix macht Fernsehen wie 1950. Serien der Plattform in den USA. Sitcom-
ten im Management des Medienunterneh- Obwohl die Herkunft des Unternehmens Spezialistin und »Friends«-Schöpferin
mens; der Sender Yes spielt eine wichtige im Digitalen liegt, finden sie dort keine zu- Marta Kauffman hat bereits die Rechte
Rolle in einem zentralen Korruptionsver- kunftsweisenden neuen Formen.« Shenar erworben, sie will damit ein Remake für
fahren gegen Benjamin Netanyahu. Es ist sich sicher, dass die Zukunft des Fern- Amazon drehen. Christian Buß
geht um einen komplizierten Fusionspro- sehens darin liegt, eine Geschichte über

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bei Plätzchen am offenen Feuer zu backen. stellt: »Ich bin mir sicher, dass ich alle Ar-
Marihuana Zumindest in Gedanken.
Die Gemütlichkeitsmagazine heißen
»Hygge«, »Flow« oder »Happinez«, es gibt
ten von Katzenbildern und Yogaposen ver-
passe, aber werde ich sie vermissen?« Und
sich selbst die erlösende Antwort gibt:
zum Lesen auch die »Flow«-Sonderausgabe zum The-
ma »Achtsamkeit für jeden Tag«. Schon
»Nein.« Und im selben Heft ist wenige Sei-
ten zuvor eine Fotostrecke mit Katzen-
beim ersten Durchblättern wird klar, bildern abgebildet: Louis, der Kater der
Zeitgeist Gemütlich, nett, dass das eigentlich nichts für Männer ist. Fotografin Helena Granzin. Von ihm kön-
angenehm – und ziemlich Es schreiben hier fast nur Frauen, und es ne man lernen, was es heißt, im Augen-
sind fast nur Frauen auf den Bildern zu blick präsent zu sein.
verpeilt: der sonderliche Trend sehen, allenfalls Gurus, Philosophen und Also was denn jetzt: Ist die Abwesen-
der Achtsamkeitsmagazine Zen-Lehrmeister können auch mal Män- heit von Katzenbildern der wahre Flow?
ner sein. Oder das Gegenteil? Sind in Wahrheit die-
Wie auch immer – Hygge-Amateure se Gemütlichkeitszeitschriften das wahre

S ie stapeln sich wie ein machtloser


Gegenzauber an den Orten ihrer Be-
stimmung. Heft auf Heft türmt sich
in den Bahnhofs- und Flughafenbuchhand-
sollten sich der Sache jedenfalls sanft und
vorsichtig nähern. Im »Flow«-Achtsam-
keitsspezial empfiehlt die Trainerin Mila
de Koning, man solle jeden Tag drei Rou-
neue Facebook? Tue nichts, und schreibe
möglichst wortreich darüber?
Wahr ist, dass dieser Kater Louis wirk-
lich sehr entspannt aussieht. Und man si-
lungen, Hefte, die Ruhe versprechen, Ruhe tinehandlungen ins Auge fassen, auf die cher sein kann, dass er niemals auf die Idee
wie eine einsame Schneeflocke, die auf die man besondere Aufmerksamkeit verwen- käme, täglich das Jahresjournal der »Hap-
Erde schwebt. Ruhe, wie sie eine Pilz- den möchte. Sie berichtet von sich selbst: pinez«-Redaktion auszufüllen. Und dabei
sammlerin im Norden Finnlands emp- »Als ich noch in der Uniklinik gearbeitet jede Woche allen Ernstes die Felder des
findet oder ein Schamane auf einer einsa- habe, bin ich immer so aufmerksam wie »Habit Trackers« anzukreuzen, die in die-
men Insel im Baikalsee. Die Achtsamkeits- möglich zur Toilette gegangen. Schritt für ser Woche besonders zutreffen: Dankbar-
magazine liegen uns rasenden Hektikern Schritt. So kann man kurz zu Atem kom- keit. Yoga/Sport. Schlaf. Meditation. Ge-
des Alltags ausgerechnet an den hektischs- men und schafft sich Freiraum inmitten sunde Ernährung. Oder das »Natur-Büch-
ten Orten der Welt im Weg. Denn dort der Hektik.« lein« der »Flow«. Darin werden Vorschläge
vermutet man ihre gierigsten Käufer. Die Ehrlich gesagt klingt das für den Hygge- gemacht, worauf man draußen achten
Hygge-Sucher. Amateur nach noch mehr Stress und könnte. »Auf der Suche nach Schätzen«
Hygge, das weiß inzwischen jeder, ist irgendwie antihygge. Wäre es nicht im Ge- ist eine Doppelseite überschrieben. Man
das dänische Wort für »gemütlich«, »nett«, genteil superhygge, einfach so zur Toilette kann ankreuzen, wenn man »Schiefer«
»angenehm«. Es bezeichnet die freund- zu gehen? Nein. Falsch verstanden. Dem gefunden hat. Oder einen geraden Stock.
liche Gegenutopie zu unserer kalten, Alltag einen Wert verleihen, darum geht Oder Lavendel. Oder einen Marienkäfer.
schnellen Gegenwart. Warum also daraus es. Die Dinge wertvoll machen durch Auf- (Bei diesem Fund fügt die Redaktion allen
nicht eine Zeitschrift machen? Man liest merksamkeit, Betrachtungskunst, Konzen- Ernstes in Klammern »wieder freilassen«
doch gern, was man nicht hat. Und wo frü- tration auf den Moment. hinzu. Ja, was denken die denn, was die
her eilige Männer heimlich Busen-Illus- Das Sonderbarste an diesen Ruhemaga- »Flow«-Leser sonst mit dem machen?
trierte erwarben, sieht man heute scham- zinen ist ihre offenherzige Widersprüch- Drauftreten? Anzünden? Flügel ausrei-
hafte Businesstypen mit der neuen »Flow« lichkeit. Ist es nicht merkwürdig, dass eine ßen?) Als besonders wertvoll stuft die
an der Kasse stehen. Muss ja nicht jeder junge Frau mit dem tollen Namen Otje van Redaktion die Funde »vierblättriges
sehen, dass man ein überforderter Hetz- der Lelij in einem sechsseitigen Erfah- Kleeblatt«, »Edelweiß« und »Bonsai« ein.
ling ist, der sich danach sehnt, mal in einer rungsbericht das Ende ihrer Facebook- Auch hier im Falle des Fundes: bitte an-
Inuithütte eingeschneit zu werden und da- Aktivitäten feiert und sich darin die Frage kreuzen.
Je weiter man in diese Flow-Welt ein-
dringt, desto unheimlicher wird sie. »Auf
in den Wald« ist eine Doppelseite über-
schrieben. »Halte dich warm. Trink aus-
reichend. Bleib wach«, steht dort. Warum?
Was ist das für ein Wald? Doch »Flow«-
Follower haben zu folgen und keine Fra-
gen zu stellen: »Beherrsch den Drang, weg-
gehen zu wollen (es sei denn, du hast wirk-
lich ein Problem).«
Im Grunde scheint dieses Hygge-Ding
einfach nur einen schönen, altmodischen
Marihuanarausch wortreich zu umschrei-
ben. Die Zeitschrift als Droge. Bildlich
lässt sich das in der neuen »Happinez –
HARTMANN + BEESE / PLAINPICTURE

Das Mindstyle-Magazin« betrachten. Da


haben sich fünf Redakteurinnen in Hippie-
kleidern um eine Feuerschale versammelt,
um gemeinsam ihre Herzen zu öffnen. Sie
tragen geflochtene Stirnbänder und Feder-
schmuck im Haar, sie haben gute Laune.
Schade nur, dass man diese Magazine
nicht rauchen kann. Volker Weidermann
Ruhesuchende am See: Tue nichts, und schreibe möglichst wortreich darüber

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Kultur

des schwarzen britischen Sängers und Songwriters Devonté

Hoffnung und Hynes.


Mal treffen die Flüchtigen auf stille Solidarität, wird ihnen
von einer schwarzen Barkeeperin ein Bourbon ausgegeben

Verzweiflung oder von einem weißen Anwaltspaar (gespielt von Flea, dem
Bassisten der Red Hot Chili Peppers, und von Chloë Sevigny)
ein Versteck organisiert. Mal lösen die zwei Gesuchten aber
auch Unheil aus, werden in ihrem Namen Polizisten getötet
Filmkritik »Black Lives Matter« trifft auf die und Freundschaften verraten.
große Pop-Pose: das furiose Das Bild der USA, das dabei entsteht, ist zwiespältig. Die
Rassismusdrama »Queen & Slim«. Gewalt und die Ungerechtigkeit, die der Rassismus seit
Jahrhunderten hervorbringt, werden in »Queen & Slim« klar
Kinostart: 9. Januar gezeigt. Auf der anderen Seite stehen die komplizierten
Lebenswirklichkeiten, in denen es nicht die eine Überlebens-

N a, wenn das nicht die schwarzen Bonnie und Clyde


sind!«, kriegt das Paar, das im Zentrum des Films
»Queen & Slim« steht, auf halber Strecke seiner Flucht
von Ohio nach Florida zu hören. So richtig zutreffend ist
strategie für alle Schwarzen gibt und nicht jeder zu allen
Zeiten ehrenhaft handelt.
Ruhepol in diesem Sturm der Zeichen und Gefühle sind
die zwei herausragenden Hauptdarsteller. Zum einen ist das
der Vergleich nicht, denn der junge Mann und die junge Frau Daniel Kaluuya. Für eine andere Rolle, in dem Horrorfilm
sind im Gegensatz zu Bonnie und Clyde keine Bankräuber, »Get Out«, wurde er bereits für den Oscar nominiert. Die
sondern eine Anwältin und ein Verkäufer. Sie haben sich weibliche Hauptfigur ist die Newcomerin Jodie Turner-
wenige Abende zuvor auf ein Tinder-Date in einem Diner Smith. Kaluuya spielt einen behäbigen, prinzipientreuen
in Cleveland getroffen und sich dabei noch nicht einmal Familienmenschen, der auch schlechtes Diner-Essen in Kauf
besonders gut verstanden. nimmt, solange das Geschäft von Schwarzen betrieben wird.
Und Turner-Smith eine Frau, die
sich nur auf sich selbst verlässt und
lieber gar nichts isst als faden Salat.
Als am Ende ihres Tinder-Dates für
einen kurzen Moment die Frage in
der Luft liegt, ob der Abend viel-
leicht doch mit Sex enden werde,
liefert ein kurzes Schnauben ihrer-
seits die unfreundliche Antwort.
Im Verlauf ihrer Flucht aber las-
sen beide alte Gewissheiten hinter
sich. Je länger sie durch das Land
fahren, desto mehr können sie sich
für den anderen und dessen Wahr-
UNIVERSAL PICTURES

heiten öffnen. Schließlich lernen sie


sich tatsächlich lieben – symbolisch
womöglich ein Zeichen der Versöh-
nung innerhalb der schwarzen Com-
munity. Als sie von Unterstützern
Darsteller Kaluuya, Turner-Smith in »Queen & Slim«: Durch Glamour herausragen neue Kleidung erhalten, vollziehen
sie eine weitere Verwandlung: Im
weinroten Trainingsanzug aus Samt
Aber sie sind schwarz, und das sorgt hier für den entschei- und im violetten Minikleid mit Tigerstreifen werden sie zu
denden Unterschied. Deshalb kommen sie in Konflikt mit der Popfiguren, aus der hässlichen Gegenwart ragen sie so durch
Polizei, deshalb fällt ein tödlicher Schuss, deshalb fliehen sie, Würde und Glamour überlebensgroß heraus.
und deshalb gehen schließlich Leute im ganzen Land aus Soli- In dieser Stilisierung steckt denn auch das Widerständische.
darität mit ihnen auf die Straße. Ähnlich wie der Superheldenfilm »Black Panther« bedient
»Queen & Slim« ist der Debütfilm der mehrfachen Grammy- »Queen & Slim« das durchaus eskapistisch motivierte Bedürf-
und MTV-Video-Music-Awards-Gewinnerin Melina Matsoukas, nis nach einer neuen schwarzen Ikonografie, nach Helden-
berühmt vor allem für Clips wie dem zum Song »Formation« figuren für das desolate Jetzt. Die politische Wucht ihres
aus »Lemonade«, dem epochalen Album der US-amerikani- Films schwächen Matsoukas und Drehbuchautorin Lena
schen R-&-B-Königin Beyoncé. Darin ließ Matsoukas Tänze- Waithe damit jedoch nicht ab. »Queen & Slim« verweigert
rinnen in einer Art Black-Panther-Uniform aufmarschieren, sich der Entscheidung zwischen politischem Realismus und
während Beyoncé davon sang, dass sie ihre »negro nose« am ekstatischer Wunschfantasie und liefert einfach beides, Hoff-
liebsten mit breiten »Jackson-5-Nasenlöchern« möge. nung und Verzweiflung.
Ähnlich, wie Matsoukas im Verbund mit anderen Regis- Dazu passt auch der Titel. »Queen & Slim« heißen die
seuren bei »Lemonade« für jeden Song des Albums ein Hauptfiguren nämlich gar nicht. Die längste Zeit des Films
Video gedreht hatte, geht sie nun auch bei »Queen & Slim« über haben sie sogar überhaupt keinen Namen. Erst ganz
vor. Die einzelnen Stationen des Fluchtdramas wirken wie am Schluss erfährt man, wie die beiden wirklich heißen – es
die Kapitel eines Films, der weniger durch einen Spannungs- sind nichtssagende, banale Namen. Zu Queen und Slim sind
bogen zusammengehalten wird als durch die verwendeten sie dennoch geworden, zu zwei Ikonen neuen Zuschnitts, die
Stilmittel: allen voran die sinnlichen, üppigen Bilder des keinen Vergleich mehr mit Bonnie und Clyde brauchen, weil
Kameramanns Tat Radcliffe und der schwelgerische R & B sie ganz für sich stehen. Hannah Pilarczyk

122 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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mann
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(stellv.), Britta Stuff (stellv.). Redaktion: Maik Große- Dirk Schulze, Martin Sümening Mohn Media AGB, Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
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Dialika Neufeld, Jonathan Stock. Autoren, Reporter: AUDIO Leitung: Sandra Sperber, Yasemin Yüksel. Gütersloh www.spiegel.de/agb
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Nachrufe
Jan Fedder, 64 Mann vor sich zu taxieren.
Seinen Durchbruch als Die Szene machte die Schau-
Schauspieler hatte er spielerin Sue Lyon weltbe-
vor fast 40 Jahren im Kino- rühmt. Sie war 15 – zu jung,
blockbuster »Das Boot«,
die Rolle seines Lebens aber
fand Jan Fedder im ARD-
Vorabendprogramm. 1992

M. THUROW / WDR / OBS


betrat er das »Großstadt-
revier« als Polizist Dirk
Matthies: ein Beamter mit
Charme und Charakter-
gesicht, der sich selbst »Bul-
le« nannte und auf Streife
den Menschen wichtiger um sich das Ergebnis im
nahm als das Gesetz. Das Kino ansehen zu dürfen.
Publikum liebte Fedder Der Film war ein Skandal.
in der Rolle – und es schien, Fortan verkörperte sie
als liebte er sich darin auch nymphomane oder lesbi-
selbst. »Hauptberuflich sche Frauen, doch als
bin ich Mensch. Und neben- das Kino in den Siebziger-
beruflich bin ich Schauspie- jahren die sexuelle Be-
UDO HESSE / AKG-IMAGES ler«, sagte Fedder einmal. freiung offen propagierte,
Den herben Charme seiner bekam sie kaum noch gute
Stimme baute er durch Ket- Rollen und verschliss ihr
tenrauchen aus, soff dazu Talent in billigen Horror-
»wie eine Sau«, wie er selbst filmen. Vielleicht war sie
erzählte. Fedder, Sohn eines auch für Hollywood etwas
Kneipenwirts und einer zu frühreif. Sue Lyon
Tänzerin, haderte öffentlich starb am 26. Dezember in
Manfred Stolpe, 83 nie grundlegend mit diesen Los Angeles. LOB
Der erste Ministerpräsident des damals neuen Bundeslands Exzessen, im Rückblick
Brandenburg zählte zu den wichtigsten Persönlichkeiten des erzählte er sein Leben eher Hans-Jörg Criens, 59
sich vereinigenden Deutschlands, eine bedeutende Stimme als nostalgische Folklore. Es gibt Fußballer, die wer-
des Ostens. Der 1936 in Stettin geborene Stolpe hatte Jura So erinnerte er sich etwa an den wegen ihrer überragen-
studiert und war dann Chefjurist der evangelischen Kirche seine Jugend im Hamburger den Leistungen verehrt.
der DDR. Als eine Art unabhängiger Diplomat pflegte er Stadtteil St. Pauli: »Wenn Oder wegen der Titel, die
Kontakte zu führenden Politikern im Westen, aber auch zu einer unten lag, hast du nicht sie gewonnen haben. Und
Funktionären der SED, darunter jenen des Staatssicher- hinterhergetreten.« Eine es gibt Fußballer, die wer-
heitsdiensts. Auf diplomatischem Weg bemühte sich Stolpe den von den Fans geliebt,
einerseits darum, in Bedrängnis geratenen DDR-Bürgern weil sie in ihnen Emotionen
zu helfen, andererseits um die Anerkennung der Kirchen hervorrufen. Hans-Jörg
P. TIMM / BABIRADPICTURE

im SED-Staat. So endete eine Politik, die die Abschaffung Criens war so ein Mann.
der Kirchen zum Ziel hatte. 1990 wurde Stolpe schnell Fast 300 Bundesligaspiele
für politische Ämter gehandelt, darunter auch als Bundes- bestritt der Stürmer in den
präsident. Er entschied sich, für das Amt des Ministerpräsi- Achtziger- und Neunziger-
denten von Brandenburg zu kandidieren. Als in den Neun- jahren für Borussia Mön-
zigerjahren Stasi-Unterlagen auftauchten, wurde gegen chengladbach und erzielte
Stolpe der Vorwurf erhoben, er habe nicht die Kirche ge- dabei 92 Tore – viele davon
genüber dem Staat, sondern den Staat gegenüber der Kir- schöne Vorstellung. Wobei: als Einwechselspieler. Seine
che vertreten. Die Wahlen in Brandenburg 1994 wurden Gab es diese heile Kiezwelt Popularität hing wohl auch
daraufhin zu einer Abstimmung über Stolpes Vita – mit überhaupt je? Vielleicht, damit zusammen, dass
dem Ergebnis, dass seine SPD die absolute Mehrheit errang. wenn Dirk Matthies im »der Lange«, wie er genannt
Stolpes Bilanz als Ministerpräsident war durchwachsen. »Großstadtrevier« auf Gau- wurde, ein Rheinländer war
Einerseits ermunterte er die Brandenburger, selbstbewuss- nerjagd ging. Jan Fedder wie die meisten Zuschauer.
ter zu agieren. Er verharmloste jedoch rechtsextreme Ten- starb am 30. Dezember in Anders als viele andere
denzen im Land. Anfang der Nullerjahre bereitete Stolpe Hamburg. ETH Fußballer machte Criens
einen Machtwechsel in der Brandenburger SPD-Spitze nicht viel Gewese um seine
vor und machte Matthias Platzeck zum Ministerpräsidenten. Sue Lyon, 73 Person. Nach der sportli-
Stolpe selbst wechselte als Verkehrsminister ins Bundes- In Stanley Kubricks Verfil- chen Karriere arbeitete er
kabinett. Nach einer Krebserkrankung zog er sich von der mung des Romans »Lolita« als Handelsvertreter und
großen politischen Bühne zurück, schaltete sich aber mit (1962) sitzt sie im Bikini auf als Fahrer für Krankentrans-
seinem legendären Brummbass immer wieder in Debatten einer Wiese und schiebt porte. Hans-Jörg Criens
ein. In den letzten Jahren konzentrierte er sich auf die sich langsam die Sonnenbril- starb am 26. Dezember in
Bewältigung seiner Erkrankung und die seiner Frau. Man- le die Nase runter, um den Mönchengladbach an
fred Stolpe starb am 29. Dezember in Potsdam. STB mehr als 30 Jahre älteren einem Herzinfarkt. ULU

DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020 125


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Personalien

Tradition und
Rassismus
G Die erste afroamerikanische Prima-
ballerina am American Ballet Theatre in
New York sorgte mit einem Posting auf
Instagram für eine wochenlange Diskussion.
Misty Copeland, 37, stellte ein Foto ins
Netz, das bei einer Probe am Bolschoi-Thea-
ter in Moskau aufgenommen wurde. Das
Bild zeigt zwei Frauen, die in dem Ballett
»La Bayadère« mittanzen, einem Stück aus
dem 19. Jahrhundert, das in Indien spielt.
Die Tänzerinnen tragen dunkles Make-up,
der Mund ist dick rot geschminkt. Das
sogenannte Blackfacing war in den USA lan-
ge Teil einer rassistischen Unterhaltungs-
kultur und gilt dort heute als diskriminie-
rend und verletzend, es ist weitgehend tabu-
isiert. In Russland bestehe dafür schlicht
kein geschichtliches Bewusstsein, erklärte

MARC BAPTISTE / CONTOUR RA / GETTY IMAGES


ein Historiker der »New York Times«: Dort
könne das Make-up einfach als Teil einer
Theatertradition verstanden werden. Einige
russische Künstler empörten sich über Cope-
lands Vorwurf des Rassismus; der Vorgang
fand auch in der Tageszeitung »Iswestija«
Beachtung. Beim klassischen Ballett stellen
schwarze Tänzer und Tänzerinnen eine
Minderheit dar, ein Umstand, der immer
wieder kritisiert wird. KS

Alles für die Krone ebenso wie Bankette oder


Auslandsreisen, wie die Lon-
bekannt, seit 1952 hatte er
mehr als 22 000 Einzelauftrit-
G Bisher galt seine jüngere doner »Times« berichtet. te absolviert. Für das neue
Schwester als die Fleißigste, Die Geschwister tragen seit Jahr plane Prinz Charles eine
doch im Jahr 2019 konnte Mitte der Neunzigerjahre die Reduzierung des königlichen
er sie überholen: Mit insge- Hauptlast der königlichen Engagements, heißt es. Dum-
samt 521 offiziellen Auf- Jobs, damals begannen die merweise fällt nun auch
tritten hatte Prinz Charles, Queen und ihr Ehemann, Prinz Andrew aus, der wegen
71, britischer Thronfolger, ihre Aktivitäten einzuschrän- seiner Verstrickung in den
15 mehr als Prinzessin Anne. ken. Prinz Philip gab 2017, Epstein-Skandal alle öffent-
HGM-PRESS

Zu den Verpflichtungen im Alter von 96 Jahren, sei- lichen Verpflichtungen auf-


zählen Eröffnungsfeiern nen Rückzug ins Private geben musste. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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sieur X« spielt er nun einen


Tapferes von der Außenwelt abge-
Streikopfer schottet lebenden Rentner.
Bereits die Premiere am
G Der französische Schau- 10. Dezember im Théâtre de
spieler Pierre Richard, 85, l’Atelier in Paris überschnitt
leidet unter den Streiks in sich mit den Streiks gegen
Frankreich. Richard war die Rentenreform der franzö-
1972 als Titelheld der Komö- sischen Regierung. Doch noch
die »Der große Blonde mit immer bleiben Zuschauer aus,

ERIC VAZZOLER / DER SPIEGEL


dem schwarzen Schuh« denn in Paris fahren seit
berühmt geworden. In dem Wochen nur wenige U-Bah-
Einpersonenstück »Mon- nen und Busse. Viele Pariser
wollen sich nicht durch
die Verkehrsstaus quälen und
verzichten auf Kino- oder
Theaterbesuche. Er könne
schon verstehen, dass im Der Augenzeuge
Moment nicht so viele Leute
zu seinem Stück kommen,
sagt Richard. »Ich selbst »Verwirrte Gesichter«
WILLIAM BEAUCARDET

brauche jedes Mal eine Drei-


viertelstunde mit dem Die Kultusministerkonferenz empfiehlt, im Unterricht
Motorrad.« Das sei ermü- an Berufsschulen künftig verstärkt die Sprache der
dender als der Auftritt auf Schüler zu fördern. Herbert Huber, 65, Lehrer für Be-
der Bühne. PE
triebswirtschaftslehre, Physik und Informatik aus Lahr
im Schwarzwald, schildert, wie er sich umstellen will.

nen, die seit 2008 im großen G »›Ein Vertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willens-
Unerhört Stil Kreditkartenbetrug erklärungen zustande.‹ Das ist ein vermeintlich simpler deut-
preiswürdig an ihren Kunden begangen scher Satz, wie ich ihn in meinem Betriebswirtschaftslehre-
haben. Lopez, ausgebildete Unterricht jahrzehntelang verwendet habe. Seit einiger Zeit
G Seit 25 Jahren feiert sie Tänzerin, legt in dem Film schaue ich dabei häufiger in verwirrte Gesichter. Auch meine
als Schauspielerin und auch einen sensationellen Auftritt Kollegen berichten, dass ihre Schüler mit Fachbegriffen wie
als Popstar große Erfolge – an der Polestange hin, die Willenserklärung immer seltener etwas anfangen können.
und jetzt kann sich Jennifer Idee dazu habe sie selbst Und sie können sich auch nur schwer herleiten, was damit
Lopez, 50, sogar Hoffnun- gehabt. »Ich sagte, Ramona wohl gemeint sein könnte. Oft, nicht immer, sind diese
gen auf einen Oscar machen. müsse etwas Unerhörtes Jugendlichen erst vor Kurzem nach Deutschland zugewan-
Ihre Chancen stehen laut auf der Bühne zeigen, einen dert. Mangelndes Sprachverständnis betrifft auch viele
Wettbüros jedenfalls bei 69 Tanz, der ihre Persönlichkeit Schüler mit deutscher Staatsangehörigkeit. Es ist also nicht
zu 20, das ist immerhin eine zum Ausdruck bringt«, verwunderlich, dass sie sich mit bestimmten, aber unver-
Wahrscheinlichkeit von erzählte sie dem Sender CBS. zichtbaren Fachbegriffen schwertun, die im Alltagsdeutsch
77,53 Prozent. Für ihre Rolle Ob ihre Rolle oscarwürdig so gut wie nie auftauchen.
als Stripperin Ramona in sei, fragte der Reporter; Wir Lehrkräfte haben nun die Aufgabe, diese Lücke zu
»Hustlers« könnte sie dem- Lopez findet, ja: »Ich hoffe schließen. Wir müssen geduldig erklären, Synonyme finden,
nach als beste Nebendar- es, ich hoffe es.« Bis zum Beispiele aufzählen – ohne auf die Fachsprache zu verzichten.
stellerin ausgezeichnet wer- 13. Januar bleibt noch alles Später, wenn unsere Schüler ins Berufsleben starten, müssen
den. Der Film beruht auf offen, dann werden die sie schließlich wissen, was eine Beitragsbemessungsgrenze,
der wahren Geschichte einer Nominierungen bekannt eine Eigenkapitalquote oder eine Handelsbilanz ist. Auch in
Gruppe von Nackttänzerin- gegeben. KS Prüfungen gibt es immer wieder Probleme. Ich erinnere mich
an eine Prüfungsaufgabe mit einem zwölfseitigen Anhang.
Bis Jugendliche, die im Deutschen nicht so sicher sind, das gele-
sen haben, ist ein Großteil der Prüfungszeit verstrichen.
Ich bin Vorsitzender des Berufsschullehrerverbands hier in
Baden-Württemberg. Wir sprechen schon seit vielen Jahren
darüber, wie wir den Unterricht so gestalten können, dass alle
COLLECTION CHRISTOPHEL / ACTION PRESS

gut mitkommen. Dafür brauchen Lehrkräfte mehr Zeit und


qualifizierte Fortbildungsangebote. Wir müssen schon in der
Vorbereitung mitdenken, wo sprachliche Stolperfallen liegen
könnten. Wir müssen unsere Arbeitsblätter umformulieren
und den Unterricht neu planen. Hilfreich wäre es auch, wenn
die Kultusministerien den Lehrkräften passendes Unterrichts-
material und Musterprüfungsaufgaben für alle Fächer zur
Verfügung stellten. Es muss ja nicht jeder Einzelne das Rad
neu erfinden.« Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch

127
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»Die Prognose zur Demografie steht nicht zu Recht an erster Stelle


des Artikels. Auf globaler Ebene werden Klimawandel und
gerechte Ressourcenverteilung die größten Anstrengungen erfordern.«
Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenburg)

Details, keine Visionen von fröhlichen Golf spielenden alten Män- Absichten entlarvt
nern, die noch immer in Politik und Wirt-
Nr. 1/2020 Die neuen 20er – Aufbruch, Nr. 52/2019 SPIEGEL-Gespräch mit Christian
schaft mitmischen und zum derzeitigem
Umbruch, Crash-Angst: Wie golden wird Lindner über seinen Zoff mit Klimaschützern
das kommende Jahrzehnt? Zustand unserer Welt beigetragen haben,
habt ihr in diesem Zusammenhang nicht Schon die erste Antwort zeigt, Herr Lind-
Ganz gleich, ob die Städte immer stärker gefunden? ner hat nicht verstanden! Es geht nicht um
wachsen und autofreier werden oder zwei Inge Fürhapper, Wien (Österreich) die freiheitliche Lebensweise und die in-
Rentner auf einen Beitragszahler kommen, dustrielle Basis in Deutschland. Davon ab-
die Geburtenrate von Jahr zu Jahr sinkt Ein wirklich interessanter Artikel. Was mir gesehen sind Rekordzahlen bei Flugreisen,
und die Älteren immer älter werden, der aber auffiel: elf Einzelteile, keine Zusam- Kreuzfahrten und SUV-Zulassungen kein
Crash der Kapitalmärkte kommt oder auf menhänge. Wenn wir mehr Rentner und Indiz für freiheitliche Lebensweise, son-
sich warten lässt – ich bin überzeugt da- weniger Arbeitnehmer haben, dazu mehr dern vielmehr Anzeichen für fehlgeleitete
von, dass sich das alles anpassend regulie- Roboter, woher kommen die Einnahmen und von Lobbyismus gesteuerte Politik.
ren wird, wie es immer wieder die Natur des Staates, um die Städte zu verändern? Bernd Schönecker, Idstein (Hessen)
uns vormacht. Es wird ein spannendes
Jahrzehnt werden! Habe mich beim Lesen des Interviews
Lambert Kottler, Gernsbach (Bad.-Württ.) köstlich amüsiert. Herr Lindner hat den
beiden Journalisten gekonnt Paroli gebo-
Nun werde ich wieder viel Arbeit haben, ten und sich von deren Fragen, die eindeu-
meinen Verwandten und Bekannten, mei- tig darauf abzielten, ihn aus dem Konzept
nen Schülerinnen und Schülern die richti- zu bringen, in keiner Weise verunsichern
ge Verwendung des Begriffs Jahrzehnt zu WENN.COM
lassen. Gut gemacht!
erklären, nachdem er in mehreren Arti- Annemarie Fischer, Wielenbach (Bayern)
keln und sogar auf der SPIEGEL-Titelseite
falsch verwendet wurde. Ein Jahrzehnt be- Lufttaxi (Simulation) Entweder ist das Erreichen konkreter Kli-
ginnt nicht irgendwann. Das nächste Jahr- maschutzziele für uns alle überlebensnot-
zehnt beginnt am 1. 1. 2021. Es ist nicht Klimawandel, Einwanderung, AfD, Ar- wendig – was mittlerweile als wissenschaft-
identisch mit den »Zwanzigerjahren«, die beitskräftemangel … Alles einzeln betrach- lich hinreichend gefestigte Tatsache gelten
am 1. 1. 2020 beginnen; diesen Begriff kön- tet, nicht vernetzt. Und genau daran man- sollte. Dann aber kann jede Argumenta-
nen Sie also gern für die zehn Jahre ab gelt es in Deutschland: Wir fahren auf tion nur mit dem Satz beginnen: »In erster
dem 1. 1. 2020 verwenden. Das erste Jahr- Sicht mit einer Kurzsichtigen am Steuer, Priorität müssen diese Ziele uneinge-
zehnt endete mit dem Ende des 10. Jahres, brauchten aber ein Fernglas, um zu sehen, schränkt sichergestellt werden …« Punkt,
also mit Ablauf des Jahres 10. Entspre- ob wir in die richtige Richtung fahren. Wir Absatz. Danach können weitere relevante
chend endet das 202. Jahrzehnt mit dem reden über Details und nicht Strategien gesellschaftliche Interessen berücksichtigt
Ablauf des Jahres 2020. und Visionen. Wie will Deutschland 2030 werden. Oder aber Klimaschutz wird nur
Jan-Dirk Strauer, Hamburg oder gar 2050 leben? Wie kann es leben konsequent verfolgt, wenn bedeutende
bei dem demografischen, technischen, in- Partikularinteressen nicht beschädigt wer-
DER SPIEGEL Lieber Herr Strauer, Sie ha- ternationalem Wandel? Sie reißen wirklich den. Dann sollte ehrlicherweise diese
ben einerseits natürlich recht, weil das tolle Einzelpunkte an, aber stellen sie nicht Leugnung der globalen Bedeutung von Kli-
neue Jahrzehnt tatsächlich am 1. 1. 2021 in Beziehung. Schade. maschutz offen ausgesprochen werden.
beginnt. Das Jahr 0 hat es in unserer Zeit- Gregor Wolf, Trier Wer beim Untergang der »Titanic« noch
rechnung ja nie gegeben, weil sie am 1. 1. ein Funktelegramm an seinen Finanzbera-
des Jahres 1 beginnt. Andererseits ist der Was mich stets verwundert, sind die ge- ter senden wollte, bevor er ins Rettungs-
allgemeine Sprachgebrauch längst ein an- genläufigen Arbeitsmarktprognosen, die boot steigt, hat nicht überlebt.
derer. Spätestens seit dem Beginn des neu- nach einer vereinenden Metaanalyse Johann Wolfgang Rosskopf, Schwarmstedt-Bothmer
en Jahrtausends, das ja eigentlich auch erst schreien, die mal Nettoeffekte berechnet. (Nieders.)
2001 begann. Uns war dieses Dilemma be- Die eine Gruppe von Studien sagt infolge
wusst, als wir die Titelzeilen formulierten. fehlender Arbeitskräfte Dauerengpässe Die Politik der FDP war noch nie so sach-
Wir haben uns dann jedoch am eingängi- am Arbeitsmarkt voraus und als Folge stei- lich wie heute, weshalb es umso abstruser
gen Sprachgebrauch orientiert. gende Löhne. Die andere Gruppe sieht ist, sie in bestimmte Ecken stellen zu wollen.
Clemens Höges, Co-Chefredakteur durch Automatisierung und künstliche In- Wenn man ein Interview mit einem hoch-
telligenz eine Massenarbeitslosigkeit kom- rangigen Politiker liest, erwartet man sich
Das Bild auf Seite 55 mit den fröhlichen men. Wenn beides gleichzeitig passiert, einen Einblick in seine Positionen. Dies war
alten Damen im Badekostüm und dazu im könnte alles bestens ausgehen. Für die we- hier nicht möglich, da Herr Lindner haupt-
Text die Aussage, dass »zu viele Ältere nigen übrig bleibenden Arbeitsplätze ha- sächlich mit der Abwehr der Unterstellun-
Wohlstand verzehren« – das ist extrem ben wir die passende Zahl an Bewerbern. gen und Angriffe beschäftigt war. Schade.
diskriminierend und kränkend! Ein Bild Michael Carus, Hürtz (NRW) Christiane Hoster, Eckental (Bayern)

128 DER SPIEGEL Nr. 2 / 4. 1. 2020


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Briefe

Wenn alle naturwissenschaftlichen und sta- Unterschiedliches Niveau Interessantes Thema, leider höchst unter-
tistischen Beweise für eine extreme Bedro- schiedliches Niveau der Diskutanten. Lei-
hung unserer Lebensgrundlagen sprechen, Nr. 52/2019 Angst vor dem Crash – die der etwas wertarm für den Leser und auch
Ökonomen Peter Bofinger und Marc
geht dieser Mensch her und warnt vor Pa- Friedrich im SPIEGEL-Streitgespräch schade, da es ja durchaus Experten gibt,
nikmache und fordert eine neue Ausbeu- die Herrn Bofinger inhaltlich hätten for-
tungswissenschaft und technische Erneue- Die Nullzinspolitik der EZB lädt ein, das dern können.
rungen – um die Welt halt anders kaputt Geld gewinnbringender als auf dem Giro- Florian Schrom, Wien (Österreich)
zu machen, harmloser! Wie soll das in kur- konto anzulegen. Der eine überlässt es der
zer Zeit den Umgang mit der uns umge- Bank, die versucht, es mit spekulativen,

B. BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL


benden Welt inklusive Flora und Fauna risikoreicheren Finanzprodukten zu ver-
verändern? Wir leben nicht mit unserer mehren. Ein anderer steckt es in gut ver-
natürlichen Umwelt, wir leben von ihr! zinste Staatsanleihen von Schuldenstaaten,
Wilhelm Stauch-Becker, Stuttgart die ihre Haushalte schon lange nach dem
Schneeballprinzip finanzieren, und wieder
Das Interview ist an peinlichen Aussagen andere setzen auf den enormen Wertzu-
und Fragen der Herren Schult und Wei- wachs kommender Aktien- und Immobi-
land kaum zu überbieten. Ihre Parteilich- lienblasen. Es entsteht also ein Geflecht,
keit – ja mittlerweile offen gezeigte Nähe bei dem jeder direkt oder indirekt dem an-
zu den Grünen – ist für an Qualitätsjour- deren etwas leiht. Wenn nun nur ein Do- Diskutanten Friedrich, Bofinger
nalismus interessierte Leser völlig inakzep- minostein im System fällt, sind am Ende
tabel. Das Interview sollte ausschließlich alle Mitspieler arm. Dann hilft auch kein Die Ausführungen des Herrn Bofinger er-
dem Zweck dienen, Herrn Lindner sowie »whatever it takes« der EZB mehr, so viel innern mich an die Argumentation wäh-
die gesamte FDP zu diskreditieren. Er hat Geld hat auch die nicht. rend der Dotcom-Blase. Plötzlich galten
durch intelligente Antworten und Gegen- Rüdiger Lüttge, Altlandsberg (Brandenb.) alle herkömmlichen Werte der Aktienbe-
fragen Ihre Absichten entlarvt und mich urteilung nicht mehr. Neue Kriterien soll-
als Anhänger gewonnen. Selten wurde ein Populist wie der Autor ten belegen, dass die Kursentwicklungen
Karsten Krause, Pürgen (Bayern) Marc Friedrich argumentativ so zerlegt auch der schrägsten Luftnummern gerecht-
wie von dem Ökonomen Peter Bofinger. fertigt waren. Was daraus geworden ist, ist
Bitte schickt uns doch den Herrn Lindner Beispielhaft seine sprunghafte hilf- und bekannt.
für diesen kommenden Sommer hierher konzeptlose Reaktion, sobald Bofinger ihn Hans Gerd Scholz, Delbrück (NRW)
nach Australien – zur großen Buschfeuer- mit nüchternen Fakten und kritischen
Safari! Ganz vorn darf er mitfahren im Rückfragen konfrontierte. Kompliment für dieses Interview. Erfreu-
großen roten Tatütata, wochenlang, mit Klaus Löffler, Mannheim lich zu lesen, wie der Unheilsprophet
den vielen freiwilligen Feuerwehren. Die Friedrich auseinandergenommen wird.
Hitzewellen kommen immer früher und Das Schlimme bei Wirtschaftsexperten ist Hans Brommer, Karlsruhe
häufiger, die Temperaturen steigen jedes stets, dass sie immer auch ein Eigen-
Jahr. Wie viele Beweise braucht man interesse verfolgen. Jemand wie Marc Dass Herr Friedrich ausgerechnet Gold als
noch? Wir sind da! Wir sind in der Klima- Friedrich möchte sein Buch verkaufen Anlage empfiehlt, spricht gegen seine
katastrophe. Bitte, bitte, bitte lasst sie uns und seinen Sachwertefonds an den Mann Kenntnis der Performance dieses Edelme-
nicht auch noch unumkehrbar machen! bringen. Und die Experten sind direkt talls. Inflationsbereinigt hat Gold zwischen
Sabine Hahn, Hahndorf (Australien) oder indirekt Verantwortliche innerhalb 1980 und 2018 eine Rendite von minus
des bestehenden Wirtschafts- und Finanz- 0,7 Prozent per annum erzielt.
Christian Lindner hat recht, wenn er eine systems. Würden Letztere nur einen Pieps Benedikt Laackman, Bergisch Gladbach
technologisch offene Diskussion fordert von sich geben, dass es kracht, würd’s auch
und nicht wie Grüne und Regierungs- krachen. Das Ende dieses Streitgesprächs Vielen Dank für das sehr unterhaltsame
koalition das Heil der Welt im Elektromo- ist jedenfalls witzig, klingt albern und Gespräch, in dem wunderbar die Limitie-
tor sieht. Als die Technologienation der rechthaberisch wie unter Kindern. rungen der faktenbasierten, wissenschaft-
Erde sollte uns mehr einfallen, als den Chi- Claus Arnold, Filderstadt (Bad.-Württ.) lichen Argumentation und populistischen
nesen hier hinterherzulaufen. Synthetische Trommelei aufgezeigt werden. Symbo-
Kraftstoffe, zukunftsweisende Speicher- Interessant zu lesen, wie substanzlos Best- lisch für unsere Zeit aber auch, dass es zu
technologien et cetera werden eine ebenso sellerautor Friedrich dem Ökonomen Bo- keiner Annäherung kommt. Herr Fried-
finger gegenübersteht. Offensichtlich hat rich wiederholt die gleichen Plattitüden,
er keine Ahnung, verdient aber mit der die sich in Gesellschaftsteilen, die sich
Angst viel Geld. Angst verkaufen, das abgehängt fühlen (auch wenn sie es oft in
scheint immer zu funktionieren, besonders einem historischen Vergleich nicht sind),
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

bei uns Deutschen. gut ankommen, weil sie Ängste unterfüt-


Reinke Haar, Oldenburg (Nieders.) tern. Während das hier ganz unterhaltsam
ist, speisen leider die gleichen Mechanis-
Sehr gut, solche Streitgespräche zwischen men den politischen Rechtsruck quer
Vertretern zweier gegensätzlicher Lager durch Europa.
finde ich hilfreich für eine gesunde Mei- Vahit Alili, Zürich (Schweiz)
FDP-Vorsitzender Lindner nungsbildung. Derartiges würde ich mir
wünschen für die aufgeheizte Klimadebat-
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
große Rolle spielen. Jetzt gilt es, bei der Ent- te, zum Beispiel zwischen Hans von Storch (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
wicklung vorn dabei zu sein und nicht alles und einem Klimaforscher, der einen gegen- sowie digital zu veröffentlichen und unter
auf die Karte Elektromobilität zu setzen. sätzlichen Standpunkt einnimmt. www.spiegel.de zu archivieren.
Michael Zehe, Flörsheim-Dalsheim (Rhld.-Pf.) Michael von Drach, Gerhardshofen (Bayern)

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Hohlspiegel Rückspiegel
Das Wissen Zitate
der Besten Die »Berliner Zeitung« über die Jahres-
pressekonferenz von Wladimir Putin,
Jetzt im Handel auf der er dem SPIEGEL zur Ermordung
des Georgiers Zelimkhan Khangoshvili
im Berliner Tiergarten antwortete:

Vergangene Woche hatte er in Paris erklärt,


dass Russland wiederholt von Deutschland
die Auslieferung des später ermordeten
Tschetschenen verlangt habe, die deutsche
Seite hätte dafür leider kein Verständnis ge-
Auslage in einem Supermarkt zeigt. Jetzt gab Putin auf eine Frage der
in Barth (Meckl.-Vorp.) Zeitschrift SPIEGEL zu, es habe keinen offi-
ziellen Auslieferungsantrag gegeben, son-
dern nur Verhandlungen auf der Ebene der
Aus einem Prospekt zu einem Geheimdienste. Das Mordopfer aber sei ein
Buch über Offroad-Autos: Terrorist gewesen. »Und solche Banditen
»Er zählt zu den wenigen Geländewagen gehen bei Ihnen in Berlin spazieren.«
von echtem Schrott und Korn.«
Der Mecklenburger Steffen Dobbert
in der »Zeit« über seinen
Überdruss an »Ossi-Wessi«-Debatten:

Vor fast genau fünf Jahren sagte ich voraus,


dass »Ossis« und »Wessis« aussterben wür-
den … Damals freute ich mich auf das Jahr
Aus dem Anzeigenblatt »Blick« 2019. Denn dann, 30 Jahre nach der Fried-
Schwerpunkt Teams lichen Revolution, könnten wir endlich
Thüringer Thüringer nennen. Und so wie
Aus der »Neuen Westfälischen«: Die überraschend Bayern eben Bayern sind, würden wir
»Der Bielefelder Koch, der sogar schon einfachen Regeln Mecklenburger zu Mecklenburgern sagen
für Richard Wagner bei den … Heute weiß ich: Ich lag falsch. »So isser,
Filmfestspielen in Bayreuth gekocht hat, erfolgreicher der Ossi«, druckte der SPIEGEL im August
weiß so etwas natürlich.« 2019 auf sein Cover. Rund um das Mauer-
Zusammenarbeit fall-Jubiläum sprachen Politiker von Frank-
Walter Steinmeier bis zu Angela Merkel
wieder reflexartig über »die Ostdeut-
Weitere Themen: schen«. Wir hätten ja »nie über die Pro-
bleme im Osten geredet«, behauptete
Sachsens Integrationsministerin Petra Köp-
Von der Website Web.de
KARRIERE ping ganz im Ernst. Und als würden Men-
Wie Frauen effektiver schen aus Sachsen, Thüringen, Branden-
burg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-
Aus der »Fuldaer Zeitung«: netzwerken Vorpommern allesamt einem einzigen
»Eine Stunde später konnten im Beisein der Stamm angehören, kürte die »Zeit« gerade
Kommunalverantwortlichen unter den die »100 wichtigsten jungen Ostdeutschen«.
Schweinwerfern des Fernsehens die ersten SUPPLY CHAIN
Fahrzeuge die Grenze passieren – Die Vorteile einer digitalen Die »Stuttgarter Zeitung« über einen
Freudentränen in vielen Gesichtern.« SPIEGEL-Bericht zur Renaissance der
Lieferkette Kernkraft (»Strahlend grün«, Nr. 51/2019):

Ausgelöst durch den SPIEGEL-Bericht,


FALLSTUDIE flackerte kurzzeitig eine Debatte über
Wenn sich Innovationen Atomkraft in Deutschland wieder auf. Der
CDU-Energiepolitiker Joachim Pfeiffer er-
nicht verkaufen
klärt, für ihn sei in Zukunft der Betrieb
von Kernkraftwerken unter Umständen
denkbar. Vor einigen Wochen brachte Lan-
desagrarminister Peter Hauk (CDU) län-
gere Laufzeiten für die noch bestehenden
Meiler ins Gespräch. Regierungssprecher
Steffen Seibert hat weiteren Spekulationen
Unbeabsichtigte Wahlwerbung auf jedoch den Boden entzogen. »Der Aus-
einer »Fridays for Future«- stieg wird wie geplant vollzogen«, erklärte
Demonstration in Hildesheim Jetzt App er in Berlin.
downloaden
130 DER SPIEGEL Nr. 2/ 4. 1. 2020
harvardbusinessmanager.de
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