Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Kritik, Satire, Parodie: Kar! Riha
Kritik, Satire, Parodie: Kar! Riha
Riha
Kritik, Satire, Parodie
Karl Riha
Westdeutscher Verlag
Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International.
Struwwelhitler.
Mit dem Kinderbuch gegen das 'Dritte Reich' 233
"Dichter heute: zu 51 Prozent Scheißesammler" .
Zu Eckhard Henscheids Sudelblättern 243
Register 251
ZUR 'SACHE' DER DUNKELMÄNNER
EIN SATIRISCHER HUMANISTEN-BRIEFWEXEL
Handspiegel erschien: in ihr wurde Reuchlin aufs schärfste angegriffen und ver-
unglimpft.
Der attackierte Reuchlin intervenierte beim Kaiser; dieser stützte ihn auch -
doch die offizielle Untersuchung der Angelegenheit verzögerte sich, und so kon-
terte er seinerseits die Unterstellungen und Verleumdungen noch im gleichen Jahr
mit seinem Augenspiegel, in dem er sich mit aller Gelehrsamkeit zur Wehr
setzte. Mit seiner Widerlegung zog er ein interessiertes Publikum auf sich, han-
delte es sich doch hinter aller Vordergründigkeit des Streits um die zentrale
Auseinandersetzung zwischen dem alten scholastischen Geist des Mittelalters und
dem Aufbruch in die neue humanistische Ära. Auf seinen Italienreisen in den
Jahren 1492 und 1498 war Reuchlin mit führenden Köpfen der neuen Bewegung
wie Marsilio Ficino (1433-1499) und Pico della Mirandola (1463-1494) zusam-
mengetroffen und hatte sich - neben seinen literarischen Arbeiten, also der politi-
schen Satire Sergius oder Capitis caput (Sergius oder Kopfes Kopf) von 1496/98
und der Komödie Scenica progymnasmata oder Henno (Schulung durch das
Theater oder Henno) von 1497, dt. um 1500 - mitDe verbo mirifico (Vom wun-
dertätigen Wort) von 1494 und den drei Büchern De rudimentis hebraicis
(Hebräische Rudimente) von 1505 zu ihrer Stoßrichtung bekannt.
Die zugespitzte Auseinandersetzung verlief also zwischen bereits abgesteckten
Fronten und mobilisierte die Anhänger der längst auseinandergetretenen Parteien.
Neben anderen bekannten sich Philipp Melanchthon (1497-1560), Georg
Spalatin (1484-1545), Helius Eobanus Hessus (1488-1540), Ulrich von Hutten
(1489-1523), Crotus Rubianus (1480-1545), Willibald Pirckheimer (1470-1530),
Joachim Vadian (1483/84-1551), Hermann von dem Busche (1468-1534) und
Sebastian Brant (1457/58-1521), der Autor des Narrenschiffs von 1494, zu
Reuchlin und sprachen ihm Mut zu. Auf ihre schriftlichen Sympathiebekun-
dungen konnte Reuchlin zurückgreifen, als er zur weiteren Rechtfertigung seiner
Sache 1514 die Sammlung der Epistulae clarorum virorum (Briefe berühmter
Männer) herausgab. Er hatte zwar zu diesem Zeitpunkt im Verfahren gegen
Hoogstraaten einen günstigen Schiedsspruch durch den Bischof von Speyer
erreicht, doch hatte dieser damit die Antagonisten nicht zum Schweigen gebracht,
sondern eher noch mehr angeheizt: ihr Kölner Anführer trieb die Sache vor die
Kurie - und wo immer Dominikaner an den theologischen Fakultäten der Univer-
sitäten das Sagen hatten, wiederholten sie ihren Verdammungsspruch.
Die Dunkelmännerbriefe nun von 1515 und 1517 waren ihrerseits eine satiri-
sche Parallelaktion dieser Humanistenfreunde zur Unterstützung Reuchlins in
seinem Streit mit den Mächten der gegen ihn verschworenen Finsternis. Mit
sprechenden Namen wie 'Federleser' , 'Kannegießer', 'Ziegenmelker', 'Gänsepre-
diger' oder 'Scherenschleifer', 'Dollenkopf, 'Eitelnarrabianus', 'Federfuchser',
'Mistlader', 'Schlauraff, 'Fotzenhut', 'Schafmaul' etc. bekunden die Schüler ihrem
Magister und Meister Ortvinus Gratius allen Beifall und alle Bewunderung -
plaudern mit ihm in jeder Richtung aus der Schule und gehen ihn in allen Fra-
gen, die ihnen im Kopf herumschwirren, um Rat an. Dabei offenbaren sie meist
Zur 'Sache' der DWJ1celmänner 9
schon im Ansatz, wes Geistes Kinder sie sind. Sie schreiben ein barbarisches
Latein, das zum Himmel schreit, tappen bei jeder Briefzeile voll in die Fallen
ihrer Unbildung und kehren so unfreiwillig - aber eben deshalb umso effektiver -
ihre ganze Torheit, Frömmelei, Scheinheiligkeit und Unmoral heraus. Hier eine
Probe im lateinischen Originalton: "Salutem maximam et multas bonas noctes
sicut sunt stelle in celo, et pisces in mari. Et debetis scire quod ego sum sanus,
et etiam mater mea. Et vellem libenter etiam taliter audire de vobis, quia ego
cogito cottidie ad minus semel de vestra dominatione. Sed cum licentia audite
unum magnum miraculum, quod fecit hic unus nobilista: diabolus confundat
eum in eternum: quia scandalizavit dominum magistrum nostrum Petrum Meyer
in mensa, ubi fuerunt multi domini et nobiliste, et nin habuit unam guttam
verecundie, sed fuit ita pretensus quod ego miror. Ipse dixit: 'Ecce doctor Ioannes
Reuchlin est doctior quam vos', et dedit ei knipp. Tunc magister noster Petrus
dixit: 'Ego mitterem solvere collum meum an hoc est verum. Sancta Maria,
doctor Reuchlin est in theologia sicut unus puer, et unus puer plus scit in
theologia quam doctor Reuchlin; Sancta Maria, credatis mihi, quia ego habeo
experientiam: tarnen ipse nihil scit in libris Sententiarum; Sancta Maria, ista
materia est subtilis, et homines non possunt ita capere sicut grammaticam et
poetriam. Ego vellem etiam bene poeta esse, et scirem etiam componere metra,
quia audivi in Lyptzick Sulpitium de quantitatibus syllabarum. Sed quid est? Ipse
deberet mihi proponere unam questionem in theologia, et deberet arguere pro et
contra"'.l
Der väterliche Ansprechpartner kommt in einigen wenigen Antwortbriefen
ebenfalls zu Wort - und entpuppt sich als Figur vom gleichen Schrot und Korn;
als "Ausjäter des Unkrautes, das heißt: Henker der Diebe, Vierteiler der Hoch-
verräter, Auspeitscher der Fälscher und Verleumder, Verbrenner der Ketzer und
vieles andere" wendet sich Gratius in einem der letzten Briefe überhaupt an seinen
Neffen, der wie er auf den Namen Ortvin hört; er freut sich, daß der junge Mann
Anschluß an den Ketzermeister Jakob van Hoogstraaten, den Magister Arnold
von Tongern und auch an den Herrn Johannes Pfefferkorn gefunden habe und mit
ihnen zusammen ein Quartett wahrer Leuchten in dunklen Zeiten bilde: "Ich
glaube, wenn Ihr vier mit Eurer Wissenschaft, unter Beihilfe eines starken Pfah-
les und eines an irgend einem erhabenen Orte von trockenem Holze errichteten
Scheiterhaufens, beisammen wäret, so könnte auf der Stelle ein großes Weltlicht
zustande kommen ... "2.
Natürlich setzte sofort nach dem Erscheinen des Buches ein heftiges Rätsel-
raten um die Urheberschaft dieser glänzenden, ihre Opfer so schonungslos entlar-
venden Satire ein. Aufgrund seiner bereits unter Beweis gestellten satirischen
Epistulae obscurorum virorum, hrsg. von Aloys Böhrner (Heidelberg 1924, Aalen 1978,
S. 13ff.
2
Dunkelmännerbriefe, Epistulae obscurorum virorum an Magister Ortuin Gratius aus
Deventer (übers. von Wilhelm Binder), (neu) hrsg. von Kar! Riha, Frankfurt/Main 1991,
S. 289ff.
10 Zur 'Sache' der DUlIulmänner
Talente galt zeitweise Reuchlin selbst als der Verfasser, aber auch Erasmus von
Rotterdam (1469-1536), dessen Encomium moriae (Lob der Torheit) von 1511,
dt. 1534, einschlägige Assoziationen weckte. Heute gilt der erste Part dieser
gegen die Finsterlinge der Zeit sich wendenden Dunkelmännerbriefe in der
Hauptsache als das Werk des Erfurter Humanisten Crotus Rubianus (um 1480-
1545). Neben ihm griffen Hermann von dem Busche und Ulrich von Hutten zur
Feder; letzterer verfaßte wohl auch den Appendix zum ersten Teil und die meisten
Briefe des zweiten Parts, doch geht man sicher nicht fehl, wenn man sich das
Ganze seiner Entstehung und zumindest teilweisen Realisation nach als eine aus
einer beschwingten Laune heraus geborene Gemeinschaftsproduktion vorstellt,
die viele Einfälle aus sich heraus hervorgebracht und vorangetrieben hat. Gerade
satirisches Schreiben verträgt ja, wie man aus zahlreichen Beispielen auch anderer
literarischer Epochen weiß, solche geselligen Formen der Hervorbringung und
Steigerung von Einfällen!
Heinz Otto Burger bestätigt in Renaissance Humanismus Reformation,
Deutsche Literatur im europäischen Kontext diese Ableitung, wenn er im direk-
ten Vergleich mit zwei anderen berühmten Satiren dieses Jahrhunderts unmittel-
bar vor der Reformation - Wittenwilers Ring (ca. 1414-1418) und Erasmus von
Rotterdams bereits apostrophiertem Lob der Torheit - zu folgender Einschätzung
kommt: "Ja und Nein zur primitiven Vitalität schmelzen bei Wittenwiler im
Grotesken, bei Erasmus in der Ironie, bei den Verfassern der 'Epistolae' in der
Komik zusammen. Dieser letzte Begriff ist abgeleitet von komos - fröhliches
Gelage - und trifft genau die Grundstimmung der 'Epistolae', jedenfalls in den 41
Briefen von 1515. Trinkgelagen des Erfort-Gothaer-Kreises um Mutianus Rufus
könnten sie ihre Entstehung verdanken". Und er fügt als konkreten Autoren-
hinweis hinzu: "Hauptredaktor der 'Epistolae' war Crotus Rubianus, der damals
die Stiftsschule der Reichsabtei Fulda leitete. 'Hätte ich Blitze in der Hand, ...
den zweiten würde ich auf die Feinde Reuchlins werfen'. Diesen Blitz hatte
Crotus in der Hand, und er traf seine Opfer. Lachen tötet. Ein paar Schläge oder
Stiche kamen wohl auch von Mutianus Rufus, von Eobanus Hessus, Hutten und
irgendwelchen unbekannten Erfurter Studenten. Ortwin van Graes zur Hauptfigur
zu machen, dürfte der Einfall des Hermannus Buschius gewesen sein, der sich als
Kollege in Köln mit ihm überworfen hatte"3.
Erasmus von Rotterdam zeigte sich enthusiasmiert - und speziell den einlei-
tenden Brief des Thomas Langschneider, in dem die Streitfrage referiert wird, die
sich jüngst bei einem Aristotelesschmaus in Leipzig erhoben habe, ob man
einen angehenden Magister als 'noster magistrandus' oder 'magister nostrandus',
einen angehenden Doktor als 'noster doctorandus' oder 'doctor nostrandus' be-
zeichnen solle, habe er auswendig zu zitieren gewußt. Derlei ernsthaft vorgetra-
gene scholastische Scheinprobleme machen überhaupt einen Hauptteil des Witzes
dieser Schrift aus: da spaltet man Haare darüber, ob man an einem Fasttag, an
dem doch das Fleischessen verboten ist, ein Ei mit einem fast ausgebrüteten
Hühnchen zu sich nehmen dürfe, analog etwa zum Käse mit Würmern? Über die
rechten Gruß- und Trinksitten wird mit derselben tölpelhaften Akribie gestritten,
als handle es sich um das Seelenheil - und vor allem ereifert man sich immer
wieder über die humanistischen Poeten, die diesen sich hier so scheingelehrt pro-
duzierenden Mönchsdeppen ein schmerzender Dom im Auge sind. Zu ihrer
Diffamierung ist ihnen kein Bibelzitat schlecht genug; da heißt es etwa, mit
Blick auf die von den Humanisten angestrebte und bereits in die Wege geleitete
Universitätsreform: "In der Poetik aber sind Lügen; darum können auch die, wel-
che ihren Unterricht mit der Poetik beginnen, im guten nicht vorwärts schreiten,
weil eine schlimme Wurzel auch ein schlimmes Kraut über sich hat, und ein
schlechter Baum schlechte Frucht trägt, nach dem Evangelium, wo der Heiland
sagt: 'es ist kein guter Baum, der schlechte Frucht trägt"'. Für sich selbst aller-
dings nehmen die das Vertrauen ihres Meisters Ortvin Gratius suchenden Mönche
aber durchaus den Schutz der Bibelzitate in Anspruch, um unter ihm verbotenen
Gelüsten nachzugehen: daß da im Prediger Salomonis zu lesen sei, man solle
sich seiner Jugend erfreuen, nimmt beispielsweise Magister Conrad von
Zwickau, der überhaupt für die erotische Komponente dieses Briefwechsels zu-
ständig ist, zum Anlaß, sich offen zur Hurerei zu bekennen, weil er ja doch ein
Mensch und kein Engel sei und hie und da seine Nieren ausputzen müsse.
Scheinheiliger geht's nicht!
Den humanistischen Poeten den Wind aus den Segeln zu nehmen, stellt man
mönchischerseits selbst gelegentlich eigene poetische Talente unter Beweis und
löst die ohnedies schon holprige Briefprosa in noch holperigere Verse auf; in
wilder und in sich widersprüchlicher Anhäufung poetologischer Termini rühmt
sich Johannes Arnoldi, seine Strophen "Chorjambisch, Sechsfüßig, Sapphisch,
Jambisch, Asc1epiadisch, Eilfsilbig, Elegisch, Zweigliederig, Zweistrophig"
zugleich ausgelegt zu haben - und bringt es damit gerade zu folgendem Resultat
Sogar Magister Ortvin Gratius höchstselbst, geht das Gerücht, soll sich auf diese
Weise als Poet versucht haben, und der Briefschreiber, der dies kolportiert, weist
die Kritik, die Verse des verehrten Meisters seien nicht gut und voller Fehler,
barsch mit dem Hinweis zurück, wenn Magister Ortvin sie verfaßt habe, dann
seien sie ohne Fehler, das sei gewiß.
Was wir aus den Briefen der Mönche über ihr eigenes Leben erfahren, geht ins
Boccacciohafte - und wie im Decamerone entfaltet sich hinter den plots von Lug,
Trug und Eifersucht ein reiches Zeitkolorit, dem wir mitunter sogar recht exakt
entnehmen können, welche Turbulenzen damals an den Universitäten ausgebro-
chen sein mögen. Greifen wir - stellvertretend für anderes - folgende Episode her-
aus: "Einmal, während ich in Wien war, kam ein Geselle aus Mähren, der ein
Poet sein soll und auch Gedichte machte; er wollte Vorlesungen über Poetik hal-
ten, war aber noch nicht inskribiert. Da verbot es ihm unser Magister Heck-
mann; jener aber war so vermessen, daß er sich um dessen Verbot nichts
kümmern wollte. Nun verbot der Rektor der Studentenschaft, seine Vorlesungen
zu besuchen. Hierauf verfügte sich jener Lotterbube zu dem Rektor, stieß viele
hochmütige Reden aus und dulzte ihn sogar"s.
Da zeichnet sich umrißhaft in satirischer Brechung eine vorweggenommene
Studentenrevolte ab, die - damals wie heute - den 'Muff aus den Talaren treiben
und sich ihre eigenen Rechte nehmen will.
Die Attacken gegen Reuchlin und die einzelnen Schritte, mit denen man die
Angriffe gegen ihn inszeniert und seine Verfolgung betreibt, ziehen sich wie ein
roter Faden durch alle Briefe; so aufgedeckt, wie es hier geschieht, entlarvte diese
Offenlegung seine Gegner und brandmarkte sie in ihren bösen Absichten. Und
dies anscheinend umso authentischer, als sich ja in einem der Briefe sogar Jakob
van Hoogstraaten zu Wort meldete - und zwar zwischenzeitlich aus Rom, wo er
in Eskalation des Streits die Kurie gegen Reuchlin aufzubringen suchte. Dabei
behält er jedoch in der südlichen Feme die nördliche Heimat fest im inquisitori-
schen Blick und hat mit Erasmus von Rotterdam bereits sein nächstes Opfer im
Visier: "Wenn ich nach Deutschland komme und seine Scharteken lese, und auch
nur den allerkleinsten Punkt finde, wo er geirrt hat, oder wo ich ihn nicht ver-
stehe, dann soll er sehen, wie ich ihm über den Pelz Will"6.
Das ganze Verwirrspiel zwischen Realität und Fiktion noch toller zu treiben,
eröffnet Johannes Labia, tituliert als apostolischer Protonotarius, den ersten Brief
des zweiten Parts mit seinem Lektürehinweis auf den ersten Teil der Dunkelmän-
nerbriefe und kommt dabei Ortuin Gratius gegenüber zu folgender Einschätzung:
"Heiliger Gott! wie freute ich mich in meinem Herzen, als ich dieses Buch sah,
das so viel Schönes enthält, Verse und Prosa untereinander. Auch war es eine
große Freude und süßer Jubel für mich, daß Ihre viele Anhänger, Poeten, Rheto-
ren und Theologen habt, welche mit Euch in schriftlichem Verkehr stehen und
A.a.O., S. 40f.
6 A.a.O., S. 127.
Zur 'Sache' der Dunkelmä1l1ler 13
Eure Freunde gegen den Johannes Reuchlin sind". Das Wort 'finster', heißt es
weiter, habe im übrigen "vielerlei Bedeutung", sei sogar als Familienname
gebräuchlich und berge gar manchen 'mystischen Sinn'7.
Anders als Erasmus von Rotterdam entwickelte Martin Luther keinen rechten
Sinn für die Satire der Dunkelmänner und nannte das Werk 'ineptias', also
'Albernheiten'. Dies ist umso verwunderlicher, als es eben diese Schrift war, die
vor dem Auftreten des Reformators den Zeitgeist am schärfsten spaltete und vor-
führte, in welcher Weise die alten und die neuen Kräfte der Epoche gegeneinander
standen. Wilhelm Binder, der die Epistolae erstmals ins Deutsche übersetzte,
merkt dazu in seiner Einleitung an: "Unter allen Erzeugnissen deutschen Witzes
und deutscher Satire behauptet jene Sammlung scherzhafter, in nachgeahmtem
barbarischen Latein geschriebener und zu Anfang des 16. Jahrhunderts unter dem
Titel'Epistolae obscurorum virorum' erschienener Briefe noch bis auf den heuti-
gen Tag unstreitig den ersten Rang. Sie sind es, welche schon vor dem öffentli-
chen Auftreten Luthers und seiner Freunde den Kampf gegen die Finsternis mit
den schärfsten Waffen geführt und der Welt gezeigt haben, daß der Geist der Zeit
ein durchaus anderer geworden sei, und daß die Herrschaft eines entsittlichten
Priester- und Mönchtums, sowie eines verknöcherten Scholasticismus in der
Gelehrtenrepublik, mit Riesenschritten ihrem Untergange zueilte"s.
Diese Einschätzung läßt sich wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich erhärten.
Zu einer ganz direkten Reprise der Satire kam es zum Ende des neunzehnten
Jahrhunderts unter dem Titel Briefe moderner Dunkelmänner, 1883 im Leipziger
Verlag Otto Wigand herausgegeben von Eckart Warner (d. i. Severin Simoneit).
Nach dem Motto "ln's faule Fleisch einen tiefen Schnitt!" bezieht die Schrift
Position im sogenannten Kulturkampf, also in der Auseinandersetzung zwischen
dem neugegründeten deutschen Kaiserreich und dem Papst in Rom um den
Einfluß, den dieser im nun politisch geeinten und sich seiner Macht ganz bewuß-
ten Deutschland nicht mehr haben sollte. Das satirische Prinzip der sprechenden
Namen wird aktuell modifiziert. Mit dem ersten Brief meldet sich jetzt der stud.
theo1. Johannes Filuzius - ein Name, an dem bereits Wilhelm Busch (1832-
1908) im Jahre 1875 seine antiklerikal-antipapistische Bildergeschichte vom
Pater Filuzius aufgehängt hatte - bei seinem Vater und erhält die Mahnung, sich
die Herren Prediger Forsch und Aalglatt zum Vorbild zu nehmen; der korrespon-
dierende Kirchenvorsteher heißt Rindfleisch, der darüberstehende Präsident
Dusterling, der noch einmal eine Stufe höher situierte Regierungsrat Dienemann;
der Lehrer schließlich hört auf den Namen Unterthänig.
Auch hier ist die Komik auf Selbstentlarvung von Frömmelei, Torheit,
Scheinheiligkeit und Unmoral aus - und der Stil der Briefschreiber unterstützt und
trägt diese Tendenz. Am überzeugendsten gelingt dies, wo die Aufdeckung bis in
7
A.a.O .• S. 139ff.
S Briefe von Dunkelmännern (Epistulae obscurorurn virorurn) ...• Zum ersten Mal ins
Deutsche übersetzt von Wilhelrn Binder. Gera o. J.• Einleitung.
14 Zur 'Sache' der Dunkelmänner
die falsche Orthographie hinein betrieben wird, so der Fall etwa im zwölften
Brief, den der Kirchenvorsteher und Schornsteinfeger August Rindfleisch an den
Barbiergehülfen Jakob Schaumlöffel in Berlin richtet, um ihm ein anschauliches
Bild von den religiösen Zuständen am ländlichen Ort zu entwerfen; da heißt es
etwa: "Lihber Bruhder Schaumleffel getz haben wihr ahber eine Zeid der
Erqückun durch unser lihben Hern Ahlklatt Kenigli Breisischen Suppridenten in
Lausewitz so was is noch jar ni da jewesen wie der kan brädigen einen Stain
mechte es erparmen so erschittert er die Laite. Das Härz in Laibe kehrt sich einen
um aber es is nichs fihr die vornähmen welche der Herr ferworfen hat in sainen
jroßen und starken Zorn und hat ihre Härzen ferstockt wie das Härz Farao". Oder:
"(... ) die Offenbahrunk Sankt Johannüs is main Lihblüngs Buch in janzen naien
Destamende alle Abent läse üch müt maine Frau und Künder ein Kapüttel darauß
und das is jewis erst mus der Satan wihder los sein auf Ärden denn komt das
Ände. bei uns verklaidet er süch in einen Ängel des Lüchts mit den Dalar das is
der Arjitiagonus Saimenieh der falsche Brofet. Dihsen nännen wir Klaibigen mit
Recht den Andikrüst den er wais niehs fon Kristi Blud und Geröchtigkeit das ist
main Schmugg und Ährenglaid damüt wüll ich for Gott bestähn wen ieh zum
Himmel werd aingähn. dihsen Drost wüll er uns rauben der Ligenbrofet darum
brädigt er ümmer von Lihbe stahts von Glauben und von ainen ährbaren
Läbenswandel. aber unser lihber Supprident der trestet uns wihder in rechten
Glauben hier komt ain armer Sinder her der jäm ums LesgeIt sälig wer das ent-
reußt uns ale die wir Klaibig sünd aus den Glauen des Satans"9.
Das Vorwort zum zweiten Teil eröffnet der Herausgeber Warner mit einem
Essay Über das Recht der Satire in der Religion. Darin verweist er auf den
Literarhistoriker August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868) und Friedrich
Theodor Vischer (1807-1887) als den führenden Ästhetiker der Zeit, die mit Blick
auf Aristophanes, Fischart, Shakespeare, Jean Paul, Goethe und Tieck das Derb-
Komische in seinen Rechten verteidigt und ihm gerade für gärende Zeiten - gene-
rell und zeitbezogen definiert als "Widersprüche eines mit Riesenkräften mit sieh
selbst ringenden Zeitalters" - eine wichtige Funktion zugeschrieben hätten; und
er fügt hinzu: "Wer aber auf alles Gesagte die Probe machen will, der nehme
einmal Fischarts 'Bienenkorb' oder die 'Epistolae obscurorum virorum' in die
Hand und studiere daran die Gesetze der classischen Satire, dann, denken wir, wird
er, wenn er nicht ganz von der edlen Gottesgabe des Humors im Stich gelassen
ist, bald merken, welch ein Segen und welch ein Erfolg die derbe Komik dieser
Schriften begleitet, und daß die Satire, mag sie auch keine Lectüre für zimperli-
che J ungfem und große oder kleine Kinder sein, im Kampfe der Männer eine der
glänzendsten Waffen ist"lo.
Briefe moderner Dunkelmänner, hrsg. von Eckart Warner, Erster Teil, Leipzig 1883, S.
6Off.
10
Briefe moderner Dunkelmänner, hrsg. von Eckart Warner, Zweiter Teil, Leipzig 1885, S.
Vff.
~'Sache'derL>unkelnlänner 15
11
Ludwig Thorna, Briefwechsel eines bayrischen Landtagsabgeordneten, München 1920,
S. 12f.
16 Zur 'Sache' der DII1I/celmänner
doch blieben diese Produkte durchweg hinter ihren Mustern zurück und bestätig-
ten daher - ungewollt - nur noch einmal die Treffsicherheit des Spotts von der
richtigen Seite her. Dies gilt im sechzehnten Jahrhundert für die Repliken
Ortvins - Lamentationes obscurorum virorum (Klagen der Verfasser der Dun-
kelmännerbriefe) und Lamentationes novae obscurorum Reuchlinistarum (Neue
Klagen der finsteren Anhänger Reuchlins), beide 1518 - , die über lahme und
erzwungene Witze nicht hinauskamen und daher zu Recht ohne jeden Erfolg blie-
ben. Und dies gilt in unserem Jahrhundert auch für einen publizistischen
Nachtrab zu den Filser-Briefen, der 1939 im nationalsozialistischen Eher-Verlag
mit Sitz in München - damals 'Hauptstadt der Bewegung' - unter dem Titel Josef
Filsers Ende, Lezder Briefwexel und bolidisches Desdamend herauskam; als
Verfasser zeichnet Max Kirschner. Was ausdrücklich immer noch "im Geiste
Ludwig Thomas" konzipiert zu sein vorgab, fällt prompt als billige Imitation
auf den Urheber zurück und straft ihn Lügen, geht es ihm doch um nichts anderes
als den Nachweis, daß unter Adolf Hitler und im 'neuen Reich' für derlei
Erscheinungen wie JozefFilser und deshalb auch für die Satire auf ihn kein Platz
mehr sei. Es ist daher nur noch ein scheinkomischer Einfall, der aber in Wirk-
lichkeit bitter ernst gemeint ist, wenn der bayrische Landtagsabgeordnete von
damals nun in seinem 'Desdamend' mit Blick auf die neue politische Ära, die er
zunächst bekämpft hat, dann aber zu akzeptieren gelernt habe, bekennen muß:
"Ich habe imer gerneund, das ich ein erleuchdeder Gobf bin. Haber jäz weus ich,
das ich erschd jäz erleuchded bin. Wo haber schon zu schpäd isd"12.
12 Max Kirschner, lose! Filsers Ende. Lezder Briefwexel U1Id bolidisches Desdamend. Im
Geiste Ludwig Thomas. München 1939, S. 206ff.
AERO-GROSSTADT-SATIRE
W LESAGES HINKENDEM TEUFEL
Jetzt rette sich, wer kann! der Teufel ist über die Stadt losgelassen,
ein ganz französischer Teufel, mit dem Geist, der Grazie und der
lebendigen Rührigkeit des Gil Blas. Nehmt euch in acht, ihr Narren
und Schufte, die ihr der großen Komödie entgangen seid; kraft dieser
allmächtigen Zauberrute werden nicht nur eure Häuser, sondern auch
eure Herzen klar und offen vor den Blicken neugieriger Zuschauer
daliegen. Seid wohl auf der Hut, denn Asmodi, der furchtbare Spötter,
wird sein unbarmherziges Auge in euer Inneres dringen lassen, das
ihr so nett verschlossen glaubt, und jedem von euch seine geheime
Geschichte erzählen; er wird euch ohne Mitleid mit seiner elfen-
beinernen Krücke schlagen, die alle Türen und alle Herzen auf-
schließt; und laut und deutlich wird er eure Lächerlichkeiten und eure
Laster verkündigen. Keiner entgeht diesem scharfblickenden Wäch-
ter, der, auf seiner Krücke reitend, über die Dächer der bestver-
schlossenen Häuser hinschweift, und die darin wohnenden Regungen
des Ehrgeizes und der Eifersucht, die Bekümmernisse, Schlaflosig-
keiten nebst ihren Ursachen mit Sicherheit erratet.
Jules Janin, im Vorwort zur Ausgabe des Hinkenden Teufels
von 1840.
Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke, hrsg. von Richard Maria Wemer, Berlin 1901 ff.,
Briefe, Bd. 3, S.194.
18
ten, die Ludwig XIV. gewaltsam unterdrücken mußte. Unter diesem Blickwinkel
erscheint die Komödie als eine scharfe Satire auf das damalige Finanz- und
Steuersystem, aber auch als das kühne Werk eines Dichters, der eine solch frei-
mütige Kritik wagte.
Wie zunächst im Drama so folgt Lesage auch im Roman spanischem Vorbild.
Die wichtigste Vorlage für den Hinkenden Teufel ist Luiz Velez de Guevaras EI
diabio cojuelo von 1641, aber die Gleichheit des Titels verdeckt, daß der franzö-
sische gegenüber dem spanischen Autor zu einer durchaus eigenen Schreibkon-
zeption kommt. Die Bindung der Einzelerzählungen an die nächtliche Stadtschau
hat bei Guevara in dieser Totalität keine Entsprechung; dort liefern nur zwei
Kapitel Kurzbilder von Madrid, die übrigen gelten einer Luftreise quer durch
Andalusien, ganz nach dem Muster des pikaresken Sittenromans. Lesages Le
Diable boiteux ist also in einem sehr viel entschiedeneren Sinn ein Stadtroman,
wohl der erste Großstadtroman der europäischen Literatur; als solchen apostro-
phiert ihn jedenfalls Volker Klotz in Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausfor-
derung des Romans von Lesage bis Döblin (1969).3
Die Besonderheit, unter der das Stadtbild Lesages steht, ist aufs engste von der
Figur des Stadtführers, des Teufels Asmodi abhängig, dessen Geschäfte Unzucht,
Wollust und Kuppelei, Luxus, Ausschweifungen, Tanz und neue Moden sind. Er
bezeichnet sich selbst als den "lebhaftesten und fleißigsten Teufel von der Welt";
folglich fällt es ihm nicht schwer, seinem Begleiter allenthalben - quer durch die
Stadt - Spuren seines Wirkens nachzuweisen und überhaupt das städtische Trei-
ben als Ausfluß seiner Existenz vorzuführen. Nur folgerichtig sind es deshalb das
nächtliche Madrid, die mitternächtliche Finsternis einer Oktobemacht, das ent-
hemmende Dunkel, die Stunde der "Freiheit für die Liebhaber", wie es heißt, aus
denen heraus der Blick in die Stadt und ihre Verborgenheiten freigegeben wird;
auch Leandro befindet sich ja in galanten Verwicklungen, als er - von vier Rauf-
bolden verfolgt - in die Stube jenes Astrologen oder Zauberers gerät, in der er
dem in der Flasche gefangenen Asmodi begegnet, ihn befreit und mit ihm seinen
Pakt schließt. Zum Dank verspricht der Teufel, dem Studiosus in Nöten "alles zu
offenbaren, was in der Welt vorgeht", die Fehler der Menschen aufzudecken und
ihm als Schutzgeist zur Seite zu stehen: "und da ich etwas gebildeter bin als der
Genius des Sokrates, so will ich Euch noch gelehrter machen, als diesen großen
Philosophen". Kurz, er schenkt sich ihm mit allen seinen "guten und schlechten
Eigenschaften", die einen so nützlich wie die anderen, und verspricht, Leandro
noch in dieser Nacht an der treulosen Geliebten zu rächen, "die vier Schurken bei
sich versteckt hatte, um Euch zu überfallen und zur Heirat mit ihr zu zwingen".
Damit ist der Rahmen gesetzt, das grobe Spannungsmuster des Romans
entworfen, das jetzt mit einer Fülle von Exempeln gefüllt werden kann. Dabei
läßt sich beobachten, daß die bald enger, bald weiter gespannten Erzählungen,
Volker Klotz, Die erzählte Stadt, Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis
Döblin, München 1969, S. 22ff.
Aero-Großstadt-Satire 21
mit denen Asmodi seinen nächtlichen Fluggenossen über den Dächern von
Madrid unterhält, häufig aus quasi stehenden camera-obscura-Bildern - seltsam
erstarrten Situationen, erstarrten Tableaus - gewonnen sind, die dem Betrachter
zunächst Rätsel aufgeben: Asmodi lenkt den Blick Leandros von dieser auf jene
Szene, die sich ihnen aus ihrer Vogelperspektive bietet, und setzt sich als
Kommentator in Szene. Als Teufelsgeist und allwissender Erzähler kennt er
natürlich die näheren Umstände, die zu dieser oder jener Situation geführt haben,
kann er die Vorgeschichte von Ereignissen referieren, die jetzt noch als stummes
Bild dastehen, skizziert er Zusammenhänge und holt wohl auch zu kleineren
Novellen aus. Bestimmten Lokalitäten entsprechend, über denen sich das Duo
aufhält, kommt es mitunter zur Bündelung von Geschichten um einen ähnlichen
oder gleichen thematischen Kern, wobei Lesage - innerhalb der angeschlagenen
Reihe - alle Möglichkeiten von Kontrast und Variation nutzt, so etwa anläßlich
der Einblicke in die Gefängnisse oder ins Tollhaus von Madrid.
Die Rettung Seraphines, der späteren Braut und Gattin des Studenten Don
Kleophas Leandro, aus einem brennenden Haus fallt ins elfte Kapitel, also genau
in die Mitte des Romans. Damit steht der äußere Zusammenhang der Erzählung
in einer gewissen Symmetrie zur inneren Füllung und ist voll inhaltlich auf
diese bezogen: "Der Außenrahmen ist Voraussetzung für den Innenrahmen und
damit für die Inszenierung der Stadtschau. Umgekehrt ist der Innenrahmen samt
dem, was er demonstriert, Voraussetzung für den glücklichen Abschluß des Akti-
onsrahmens".4 Dieser komplizierte Bezug zwischen Rahmen und Innengesche-
hen unterscheidet Lesages Werk von Novellenzyklen ala Boccaccios Decamerone
und erhebt es erst eigentlich zum Roman. Freilich zum satirischen Roman, der
dem Autor alle Möglichkeiten der verdeckten und offenen Anspielung bietet, und
hierbei beschränkt sich Lesage keineswegs auf die allgemeine Sittenkarikatur und
Moralsatire, sondern geht - wie Ausfalle gegen die Inquisition und Zensur zeigen
- durchaus ins konkret Politische. Beinah läßt er sich verführen, gegen Morgen
der durchwachten Nacht den Teufel Asmodi auch noch in den Königspalast
eindringen zu lassen, ehe er doch noch rechtzeitig einhält und gegen Leandro
erklärt: "Den Königen darf ich nicht zu nahe kommen: dies wäre ein Eingriff in
die Rechte Leviathans, Belfegors und Astaroths. Ich habe Euch ja schon gesagt,
daß diesen drei Geistern allein es vergönnt ist, die unsichtbaren Gefährten der
Fürsten zu sein. Kein anderer Dämon darf sich an den Höfen blicken lassen und
ich weiß wirklich nicht, wo ich den Kopf hatte, als ich Euch hierher brachte. Es
war sehr verwegen."
Ein besonderes Schlaglicht fällt in der Masse der Erzählungen, die sich zum
Roman vereinigen, natürlich auch hier auf die neue Macht des Geldes, die sich -
aus sich heraus - ihre neuen menschlichen Typen schafft. "In einer Gesellschaft,
wie die unsrige", merkt Jules Janin in seinem Vorwort zu der 1840 von Johannot
illustrierten Neuausgabe des Romans an, "ist der Geldmensch eine jener unver-
Der hinkende Teufel \Ion Le Sage, Neue sorgfältige Übertragung durch G. Fink, ill. v. Tony
Johannot, Pforzheim 1840, S. XIf.
24 Aero-Großstadt-Satire
Bertall, Cinq hages du monde parisien (Fünf Etagen der Welt von Paris),
Holzstich von 1850.
Ai!ro-Großstadt-Satire 25
offenbart die Romanwelt der Histoire de Gil Blas ihren historischen Ort: den der
französischen Gesellschaft in der frühkapitalistischen Umbruchsphase der Spät-
zeit Ludwigs XIV. und der Regence. Diese Gesellschaft ist das eigentliche, das
große, neue Thema der Erzählkunst Lesages".6 - Janin hat den Gil Blas als "das
einzig wahrhaft lustige Buch der französischen Sprache" bezeichnet; den Hinken-
den Teufel aber nennt er in Beziehung auf den Geist und die Satire des Werks
"vielleicht das französischste Buch in unserer Sprache, vielleicht das einzige
Buch, das Moliere außer Gil Blas unterzeichnet hätte".
Neben Tony Johannot sind auch die Brüder Charles Isaac und Alfred Johannot
als Illustratoren hervorgetreten. Die Familie kommt aus Offenbach, wo der
Vater, der neben Senefelder zu den frühen Experimentatoren mit der Lithographie
gehört, eine Fabrik für Luxuspapiere betrieb; 1806 übersiedelt er nach Paris, weil
der Betrieb durch die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in
Deutschland nicht zu halten war. Antoine - Tony - Johannot ist 1803 noch in
Offenbach geboren. Zunächst arbeiten sowohl Charles und Alfred, dann aber auch
- nach dem frühen Tod des älteren Bruders - Alfred und Tony J ohannot als
'Johannot freres' zusammen, etwa an den durchaus romantischen Illustrationen zu
den Gesammelten Werken Walter Scotts und James Fenimore Coopers oder den
Chansons Pierre-Jean de Beranger's Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts; die letzte gemeinsame Arbeit - vor dem Tod
Alfreds im Jahr1837 - sind die Illustrationen zu Victor Hugos Notre-Dame de
Paris (1836). Tony Johannot hat etwa hundertfünfzig Bücher illustriert, darunter-
als seine bedeutendste Tat, mit der er Jean Gigoux aus dem Felde schlägt, der
1835 mit seinen Illustrationen zum Gil Blas großen Erfolg hat - die Bebilderung
des Don Quixote in den Jahren 1836/37. Die technische Voraussetzung für den
Siegeszug des illustrierten Buches ist mit der Revolutionierung des alten Holz-
schnitts zur modemen Xylographie gegeben, der sich dann auch Lithographie-
Karikaturisten wie Daumier, Grandville, Gavami und Travies zuwenden. Aus
dem Vergleich mit Gigoux und Gavarni nimmt Arthur Rümann - Verfasser einer
Monographie zum Illustrierten Buch des 19. Jahrhunderts7 - die Kriterien für das
stilistische Urteil über das graphische Schaffen Tony Johannots: "Sicherlich von
Gigoux beeinflußt, hatte Johannot sich eine Art angewöhnt, die mit großer
Vorliebe starke Helligkeit gegen schwarze Partien stellt. Vergleicht man seine
Vignetten mit denen des gleich liebenswürdigen Gavarni, die zur selben Zeit
entstanden, so wirken sie noch weniger graphisch im eigentlichen Sinne, so
meldet sich immer wieder Johannot's malerische Begabung. Mit schweren, unge-
brochen schwarzen Flächen schafft er Hintergründe, vor denen er seine dramatisch
bewegten Figuren sich bewegen läßt". Für das Ende der dreißiger Jahre, in die ja
6
Klaus Heitmann (Hrsg.), Der französische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart,
Düsseldorll975, Bd. 2, S. 147.
7 Artur Rümann, Das illustrierte Buch des 19. Jahrhunderts in England, Frankreich und
Deutschland, Leipzig 1930, vgl. S. 126ff.
26
Vgl. Johann c. Lavater, Von der Physiognomik, hng. VOll Karl Riha u. Carsten Zelle,
Frankfurt/M.l991.
28 Zwn Fragment von Schwänzen
in den Wolken, Mode werdende Adeptensprache gehüllt, daß jedem, der Sachen
sucht und keine Redensarten, die Geduld hundertmal abIäuft"2.
In den folgenden Jahren detailliert und verschärft sich die Kritik, und Lichten-
bergs Anmerkungen zu Lavater und zur Physiognomik summieren sich in den
Briefen und den Sudel-Tagebüchern zu einem Kompendium von Glossen, Rand-
notizen und satirischen Einfällen, die Lichtenberg nur auszuschreiben und in die
gehörige Konstellation zu bringen brauchte, als er 1778 seine große Streitschrift
Ober Physiognomik wider die Physiognomen, Zur Beförderung der Menschen-
kenntniß und Menschenliebe zunächst im Göttinger Taschenkalender, dann noch
im selben Jahr als Separatdruck an die Öffentlichkeit gab.
Das Urteil nimmt kein Blatt vor den Mund. "Wenn doch Feder, oder Meiners,
oder Garve, oder Möser oder Lessing oder irgend einer von den hellen Köpfen, die
in Nicolais Bibliothek hier und da über unsere Philosophie, über unsere Roma-
nen und Schauspiele Gericht halten", heißt es in einer längeren Auslassung der
Sudelbücher, "uns eine Physiognomik gegeben hätten, Männer, die nicht dahin
leuchten, wo es selbst für Dämmerung noch zu früh ist, oder leicht Furcht erre-
gen mögte, allein wo sie die Fackel der Wahrheit einmal vorhalten, es mit
Vorsicht und Herzhaftigkeit tun, Leute die es gezeigt haben, daß sie beobachten,
entwickeln und verbinden können, so hätte man ihnen in einer so schweren
Sache wenigstens auf Kredit bis zur eignen Untersuchung geglaubt. Allein selbst
dieses philosophischen Kredits hat sich Herr Lavater völlig verlustig gemacht
und jeder Denker, der seine Werke kennt, wird alles was er sagt wenigstens bis
zur eignen Untersuchung für falsch erklären müssen ... Denn wer ist denn dieser
Herr Lavater?" Schärfer und kürzer: Lavater sei ein Quacksalber, seine
Physiognomik Astrologie, respective "Cherub mit einem Mfenkopf', ein Unter-
nehmen, das in den Zeiten der sieben mageren Kühe, "worin unsere Literatur
jetzo lebt", gerade noch gefehlt habe, respective ein "babylonisches Gebäude",
von dem nur zu hoffen sei, daß es bald in seinem eigenen Fett ersticken werde.
Oder - gereimter Spott - mit geborgter Feder:
2 Georg Christoph Lichtenberg, Werke und Briefe, hrsg. von W. Promies, Bd. 4: Briefe.
München 1967, S. 252.
A.a.O., Bd. 1: Sude/bücher, München 1968, S. 600.
Zum Fragment von Schwänzen 29
Zur Erklärung heißt es: "Findest du unter diesen Gesichtern allen eines, dem du
dich gern und mit völliger Sicherheit anvertrauen würdest? Ich finde keines. Wo
viel Leidenschaft, wenig Verstand und kein Gefühl für andere außer sich ist, da
flieht mein Herz; wendet sich weg meine Seele. ! Das allerunterste
Mönchsgesicht ist das ekelhafteste Gemische von Bocksgeilheit, Unwissenheit
und Niederträchtigkeit. ! Das männliche neben diesem hat alle Merkmale der
Grausamkeit und der spottenden Verachtung.! Das äußerste männliche Profil
über diesem hätt' einige gute Anlagen, ist aber jämmerlich durch weichliche,
weibische Furcht verzerrt. ! Das weibliche Vollgesicht neben diesem scheint
mehr leer als dumm; mehr gefühllos, als boshaft, mehr kalt als wollüstig. ! Das
weibliche Profil in der Mitte hat unter der Stirne gleich wenig Verstand und
Gefühl. ! Das über sich schauende weibliche Profil unter diesem hat gewiß viel
Schalkheit und wenig Verstand.! Das grad über diesem hochherabschauende, hin-
horchende, ist frech, schamlos, und wollüstig. ! Das äußerste Gesicht ist Mann
und Weib; die seelenlose Wollust, obgleich das rechte Auge so gar dumm nicht
wäre. ! Das jammerhafte, oberste weibliche Gesicht kann von einer sehr gemei-
nen Küchenmagd seyn.! Das männliche Profil neben diesem hat Verstand bis auf
die Nase: ist von da an dumm, geschmacklos, pöbelhaft.! Das emporschauende
oberste Mannsgesicht" schließlich "hat Verstand und Kraft, horcht racheschnau-
bend, und tödtet den Redenden, den es hört, mit dem Blicke"4.
4
Johann Caspar Lavater, Physiogrwmische Frag~nle. Zw Beförderung der Menschelikellnllljß
U1Id Menschenliebe, 4 Bde.: 1775-1778, Bd. 1, S. 228f.
Zum Fragment VOll Schwä/lZell 31
Oder an anderem Ort - und wie stets bei solchen Negativerscheinungen der
menschlichen Gesellschaft nach illustrationen von William Hogarth (1697-1764)
und Daniel Chodowiecki (1726-1797): wo die Nasenlöcher "so klein sind, die
Ohren obenher so abgekürzt, die Winkel des Mundes so herabgezogen, das obere
Augenlid so kaum sichtbar bei dieser Kleinheit der Augen, und bey diesem allen
das Kinn einen so beträchtlichen Theil des Gesichtes ausmacht, da kann man,
ohne Unrecht zu thun, auf natürliche Dummheit von gutmütiger Art Rechnung
machen". Kurz: wie du aussiehst, so bist du; am Ende wird der Pickel zum Indiz.
Wo er ideale Physiognomien entwirft, hält sich Lavater an Raffael (1483-1520)
oder schließt sich an Vorstellungen an, wie sie Johann Joachim Winckelmann
(1717 -1768) von antiker Plastik abgenommen und in seinen Schriften Gedanken
über die Nachahmung der griechischen Werke, 1755, Geschichte der Kunst des
Altertums, 1762 - unter der Formel "... edle Einfalt und stille Größe" der deut-
schen Klassik als Bestimmung gegeben hatte. Aber was tut man ohne klassi-
sches ProfIl? Mit einem Buckel geschlagen und von häufigen Krankheiten ge-
plagt, mußte Lichtenberg gegen derlei Typologie eine geradezu physische
Antipathie entwickeln. Er fragt "Was hat aber Festigkeit des Fleisches mit der
Festigkeit des Charakters zu tun?", "Soll das Fleisch Richter sein vom Geist?"
und setzt dagegen: "Hüte dich vor den Gezeichneten, ist ein Schimpfwort, dem
die Gezeichneten von einer gewissen Klasse der Nicht-Gezeichneten in der Welt
seit jeher ausgesetzt gewesen sind. Mit größerem Rechte könnten also die
Gezeichneten sagen: hüte dich vor den Nicht-Gezeichneten". Mit anderem
Akzent: "Sobald einer ein Gebrechen hat, hat er seine eigene Meinung"s.
Über alles dampfe Lavater in seinem "Physiognomischen Messiat" einen hei-
ligen Nebel her, blitze mit Hexenmehl und donnere auf der Baßgeige; da zeigt es
sich eben: "sobald man anfängt, alles in allem zu suchen, so wird man
gemeiniglich dunkel im Ausdruck". Der Sprachkritik stellt sich die
philosophische Kritik zur Seite; sie rüttelt schon an den Präliminarien, und das,
wie gesagt, durchaus witzig und durchtrieben: "Besteht denn der Mensch auch
bloß aus Leib und Seele? Oder hat er nicht auch Speck, der weder zum einen
noch zum anderen gehört?" Und ernsthafter und konstruktiver: "Nützlicher wäre
ein anderer Weg, den Charakter der Menschen zu erforschen, und der sich viel-
leicht wissenschaftlich behandeln ließe: nämlich aus bekannten Handlungen
eines Menschen, und die zu verbergen er keine Ursache zu haben glaubt, andere
nicht eingestandene zu finden"6.
Wenn er Fensterscheiben einwerfe, merkt Lichtenberg zur satirischen Methode
seiner Kritik an, geschehe es immer mit Dreigroschenstücken. Daraus folgt
zweierlei: zum einen gelingt es ihm, hinter kleinen Anlässen Wesentliches zu
Georg Christoph Lichtenberg, Über Physiogllomilc, UIId am Ende etwas zur ErldärUIIg der
Kupferstiche des Almanachs. In: Gättinger TascheIl CaJellder vom Jahr 1778, Göttingen In7,
hier zitiert nach: Georg Christoph Lichtenberg, SchrifteIl zum PhysiogllOmik-Streit, hrsg. von
K. Riha, Steinbach/Gießen 1970, S. 43f.
6 A.a.O., S. 68.
32 Zum Fragmenl von Schwänzen
sehen, und das erklärt die Verbissenheit, mit der er sich - darin Karl Kraus ver-
gleichbar - an die Verfolgung des Obskuren macht; zum anderen muten viele der
Gegenargumente, die er vorbringt, wie aus jenem niederen Versteck herausgezo-
gen an, in das der Blick des Gegners gar nicht erst geraten ist, da er gar zu tief
sich hätte bücken müssen. Vernunft zu lehren, wie es die erklärte Absicht der
Physiognomik wider die Physiognomen ist, wirft Lichtenberg einfach ein Stück
'billige' Realität in die Debatte und sprengt damit jenes Gedankengebäude, das im
Begriff ist, sich als schlechte Ideologie - mit all ihren Systemzwängen über die
Wirklichkeit zu stülpen. Ein einziger kritischer Einwand genügt; eine einzige
hingeworfene Anmerkung - etwa: "Geht einmal hin und lest im Gesicht des
Kardinals von Retz des Erzbischofs, daß er den Richelieu ermorden wollte" - hat
in der Tendenz eine solche sprengende Kraft.
Wie weit die physiognomischen Spekulationen zu ihrer Zeit getrieben
wurden, mag daraus erhellen, daß man sich im Ernst zu Behauptungen verstieg
wie: niemals werde die Seele eines Newton im Kopfe eines Negers sitzen
können. Die Antwort, die Lichtenberg erteilt, ist gehörig: "Bist du, Elender,
denn Richter von Gottes Werken?7, "Wenn noch kein Newton vom Senegal
gekommen ist, kann deswegen seine Seele nicht in einem europäischen Kopf
wohnen, der geformt ist wie jener, und muß deswegen jeder Nerve senegalisch
sein, weil die Form des Kopfes so ist? "; aber sie erschöpft sich nicht in der
Abfuhr des Vorurteils, sondern zielt bezeichnenderweise so weit darüber hinaus,
daß das derart räsonierende Bürgertum in seinem sichersten Besitzstand getroffen
wird: "0, es ist nicht Rüttgerodt [ein berüchtigter, 1776 hingerichteter Mörder,
dem die Physiognomik "erstes schöpferisches Urgenie" bescheinigt hatte] allein,
der Lavatern betrogen hat, auch elende Schwärmerei hat ihn hintergangen. Er
sieht auf den Silhouetten und ausgezeichneten Köpfen einiger unserer Dichter
alle die großen unüberschwänglichen Talente, die bloß Rezensenten-Gunst,
gutherziger und falschempfindender Unverstand, und hauptsächlich Widerhall aus
leeren Köpfen hinein gelegt hat, und wovon keine Spuren oder doch nur sehr
zweideutige darin zu finden sind. Wie wird nicht die genau wägende Nachwelt
lächeln, die auf der Nase oder der Lippe des Götterhaupts die daunigt hinbrütende
Wärme des Genies, die Stirne, um deren zurückwallende Abdachung in
Feuerschrift die Worte: Es werde auch dem stumpfesten Auge entgegen flammen,
vielleicht und vielleicht auch nicht erkennt, wenn die, sage ich, nun die Schriften
jener Männer ansieht, an das leere Wörter-Gehäus, an die Wohnung
ausgestorbener Verabredung, hingemordeten Prunks der Mode anklopft, und alles
- alles leer findet; auch nicht den kleinsten Gedanken, der riefe: herein"s.
Auch hier heftige und berechtigte Polemik gegen die Geniebewegung, die
Lichtenberg freilich nicht hindert, sich ihr dort anzuschließen, wo sie - als
'Sturm und Drang' - die Zeit tatsächlich in ihre Schranken fordert: das Argument
als solches ist deshalb von besonderem Interesse, weil in ihm - auf historisch
A.a.O., s. 33ff.
Lichtenberg, Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 1: Sudelbücher, S. 58Of. (= F 848).
Zum Fragment von Schwänzen 33
früher Stufe - der Zusammenhang von Manipulation und Meinung gesehen und
aufgezeigt wird. So verwundert es nicht, daß auch die ständische Interessenlage
von Lavaters Schriften - vom Verfasser kaum kaschiert, wo er sich beispielswei-
se an die Beschreibung fürstlicher Physiognomien macht - durchaus durchschaut
und dementsprechend angeprangert wird: wer schöne Spitzbuben, glatte Betrüger
und reizende Waisenschinder suche, dürfe eben nicht wie der Züricher Theologe
"hinter den Hecken und in den Dorfkerkern" suchen, sondern müsse hingehen,
"wo sie aus Silber speisen, wo sie Gesichterkenntnis und Macht über ihre
Muskeln haben, wo sie mit einem Achselzucken Familien unglücklich machen,
und ehrliche Namen und Credit über den Haufen wispern oder mit affectirter
Unschlüssigkeit wegstottern". Eine deutliche stände- bzw. sozialkritische Kom-
ponente enthält der Vorwurf: "Warum deutet ihr nicht ( ... ) kalten Winter, faule
Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten des
Kindbetts aus den Nasen?"; der volle Wert der Frage liegt dann aber darin, daß
von der Autonomie des Charakters, mit welcher Annahme Lavaters physiogno-
mische "Astrologie" steht und fällt, abgelenkt wird auf gesellschaftliche Umwelt,
als deren Resultat Charaktere erscheinen; umgekehrt sind Charaktere als Hin-
weise auf die Verhältnisse zu nehmen, aus denen sie sich gebildet haben, bilden
durften oder bilden mußten. Die heftigste Reaktion gilt daher den kriminal-
anthropologischen Folgerungen, die man, wie Lichtenberg fürchtet, aus Lavaters
Pseudowissenschaft werde ziehen können; er dringt da in den inhumanen Kern der
Physiognomik vor und signalisiert, indem er die brutale Konsequenz eines sich
harmlos gebenden Denkens vor aller Augen projiziert, den wirklich gefährlichen
Punkt, in dem die 'Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe' um-
schlägt in die Eskalation von Unkenntnis und Haß: "Wenn die Physiognomik
das wird", geißelt er mit aller Schärfe, "was Lavater von ihr erwartet, so wird
man die Kinder autbängen ehe sie Taten getan haben, die den Galgen verdienen,
es wird also eine Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen werden. Ein phy-
siognomisches Auto da Fe"9.
Daraus folgt: wenn Lavaters Wahnwitz die Leiden auch nur eines einzigen
rechtschaffenen Gebrechlichen um ein "Gran" vermehrt habe, verdiene er die
"Geißel der Satire durch 6 Messen durch". So ist es kein Zufall, daß tatsächlich
ca. sechs Jahre nach Auslieferung des vierten und letzten Bandes der Physiogno-
mischen Fragmente die Auseinandersetzung mit Lavater noch einmal angefacht,
ja auf ihren satirischen Höhepunkt geführt wird: 1783 erscheint nämlich auf
Betreiben des Göttinger Medizinprofessors und dazumallandgräflichen Leibarztes
Ernst Gottfried Baldinger oder, wie man munkelt. seiner Frau Dorothea Friede-
rike im Neuen Magazin für Ärzte Lichtenbergs Fragment von Schwänzen, das
freilich, ehe es nun hinter dem Rücken seines Verfassers publik gemacht wurde,
schon 1777 - gedacht für den Freundeskreis - niedergeschrieben worden war. Zu
seinen Lebzeiten war das Fragment Lichtenbergs populärste Schrift überhaupt:
D 1 2 3
5 6 7
1. Ist fast Schwanzideal. ( ... ) 2. Hier überall mehr Besonnenheit als Kraft. ( ...) 3.
Eingezwängter Fülldrang. ( ... ) 4. Satyrmäßig verdrehte Meerrettigform. ( ... ) 5.
( ... ) Polemik in der horizontalen Richtung, Freitisch in der Quaste. ( ... ) 6.
Sicherlich entweder junger Kater oder junger Tiger, mit einem Haarübergewicht
zum letztem. 7. Abscheulich. Ein wahrhaftes Pfui! ( ... ) 8. Heil dir und ewiger
Sonnenschein, glückseliges Haupt, das dich trägt. ( ...)
Zum Fragment von Schwänzen 35
sie hat ihm nicht nur den ganzen Dank: des Verlegers eingebracht, der jeden Post-
tag von der "Schwanz-Physiognomik" expedieren mußte, sondern abermals die
ganze Pamphletenhetze und Schmähartikelflut der Pro-Lavaterianer ins Haus ge-
schwemmt.
Im Unterschied zu den kritisch-philosophischen Darlegungen im gelehrten
Artikel Über Physiognomik wider die Physiognomen geht das Fragment von
Schwänzen ins Satyrspie1.l° Das satirisch-parodistische Verfahren ist das der di-
rekten Imitation, der verzerrenden Kopie; man betrachte daraufhin nur die
Nachahmung der ekstatischen Diktion oder des KlassifIkationsschemas in a), b)
und c). Da Lavater der Meinung war, daß man nicht nur von der Nase auf den
Charakter, sondern gleichermaßen auch vom Daumen aufs Gesicht des jeweiligen
Menschen schließen könne etc., bleibt Lichtenberg nur im System, wenn er die
eine Extremität gegen die andere austauscht und nun die ganze Physiognomik so-
zusagen auf den Schwanz stellt. Er komplettiert, indem er so vorgeht, das
System ums schmählich übergangene, ausgesparte Detail: denn so war es natür-
lich nicht gemeint, daß, was fürs edle Auge gilt, auch für den Nabel, was fürs
Riechorgan gilt, auch fürs Pflanzorgan gelten sollte. Eben drum sei's! Daß, ange-
regt durch diverse Auslassungen zur Tierphysiognomik, die Lavater mit demsel-
ben Eifer wie seine Menschenphysiognomik betrieb und unter denselben Vor-
urteilen mit dieser zu kombinieren suchte, Schweinsschwänze und Hundewedel
oder das, was als Zopf und Haarbeutel im Genick der Zeitgenossen starrte, stets
in Griffnähe bleiben, schafft der Satire Spielraum zur Zweideutigkeit hin, ohne
ihr etwas von ihrer Eindeutigkeit zu rauben. Im Gegenteil: "Welchen könnte
Goethe getragen haben", welchen "Alexander, wenn er einen Schwanz hätte
tragen wollen", "Welchen würde Homer wählen, wenn er wiederkäme"? Eine
Vielzahl von Anspielungen auf engstem Raum, ermöglicht eben durch das
besondere Verfahren der imitierenden Parodie, das sich der Vorlage bedient, um
sie in ihrem Sinne umzupolen, im Scherz lächerlich zu machen, im Ernst ad ab-
surdum zu führen: natürlich wußte der Zeitgenosse, daß sich Goethe zu den
Lavaterianern bekannte und mit dem Meister "oft brüderlich zusammen in einem
und demselben Bette geschlafen" hatte. Wir sind, ob wir nun - in der Sprache der
Studentenrevolte zu reden - an den Schwänzen der Eminenzen ("Hier überall mehr
Besonnenheit als Kraft", "schwach arbeitende Tatkraft", "physischer und morali-
scher Speck") oder am eigenen zerren ("aus der Richtung fletscht Philistertod und
unbezahltes Konto") auch heute noch um weitere Fragen zur Übung' nicht verle-
gen. Im übrigen wirkt diese Schrift durch ihren Witz und ihr Sprachspiel heute
so originell wie damals, nicht zuletzt deshalb, weil sie als ein Lapsus wider den
'guten Geschmack' - und der ist nach wie vor geschlechtslos - aus den populären
Ausgaben Georg Christoph Lichtenbergs ferngehalten wurde und, um ihre histo-
rische Wirkung gebracht, nahezu jungfräulich auf uns gekommen ist.
10 Zuerst: Silhouetten (d. i. Fragment von Schwänzen), in: Neues Magazin für Ärzte 5,
1783, S. 1-11. - Mit den folgenden Zitaten nach: Lichtenberg, Schriften zum
Physiognomik-Streit, a.a.O., S. 73-82.
36 Zmn Fragmi/nt von Schwänzen
schichte und Poetik des europäischen Romans, die sich jedoch, wie schon der Ti-
tel sagt, aufs Erzählen und speziell auf Stränge humoristischen Erzählens - in
seinen Voraussetzungen bei Rabelais, Cervantes, Sterne, in seiner Entfaltung bei
Wieland, Hoffmann, Immermann, Fontane, Raabe und Thomas Mann - kon-
zentriert. Immerhin: dem Zitat wird die Bedeutung eines poetischen Strukturele-
ments zuerkannt. Auf unser Thema nimmt Meyer Bezug, wenn er einleitend u.a.
notiert:
Die Komplikation, die Meyer mehr andeutet, als daß er sie ausführt, kommt zur
rechten Zeit. Sie bringt ins Spiel, daß es sich beim kritisch-satirischen Reflex
auf die Klassiker immer auch um ein Eingehen auf ein scheinbar ungebrochenes
Anknüpfen an die Klassiker handelt, ja daß hier der primäre Impuls aller diesbe-
züglichen Parodie zu suchen ist. Diesen Zusammenhang polar entgegengesetzter,
jeweils auf gleicher Zeitebene gegebener Rezeptionsmöglichkeiten deutscher
Klassik gilt es herauszupräparieren und - als Bezugssystem - in seiner nicht nur
literarischen, sondern konkret gesellschaftlichen Funktion zu erhellen. Hier aller-
dings dringe ich, im Gegensatz zu Meyer, auf stärkere Differenzierung, nicht zu-
letzt unter der Perspektive, daß historisch aufgefaltet und nach seinem jeweiligen
historischen Stand exakt bestimmt werden muß, was sich einerseits als Selbstge-
fälligkeit einer erschlaffenden bürgerlichen Bildungstradition, andererseits als Pro-
2
Hennan Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen
Romans. Stuttgart 21967, S. 23. - Zur poetischen Technik satirischen Zitierens s. Karl Riha,
Cross-reading und Cross-tal king • Zitat-Collagen als poetische und satirische Technik, Stuttgart
1971.
Deutsche Klassiker-Parodien 39
test gegen den Bildungskonsum des Philisters und als oppositionelles kulturkriti-
sches Engagement deklarieren läßt. Nur folgerichtig löst sich deshalb das Thema
gerade auch aus dem Rahmen einer abgehobenen Gattungstypologie, befreit sich
also aus der Engführung, in die es Meyer gebracht hat, und gewinnt seine Schärfe
im Rückbezug der abgesprochenen literarischen Sachverhalte auf ihre Basis, die
reale Geschichte und die ihr immanenten Antagonismen.
Ein gutes Beispiel dafür, daß es sich um mehr als "kulturelle Ermüdung und
Erschlaffung" handelt, wenn vom Ruin des Klassiker-Zitats bei "gewissen bür-
gerlichen Kreisen" die Rede sein muß, liefert Karl Kraus in seiner kritischen
Summe des Ersten Weltkriegs, im Weltuntergangsdrama Die letzten Tage der
Menschheit, als Buch gedruckt 1922. In der dreizehnten Szene des zweiten Akts
begegnen sich in der Wien er Florianigasse die Hofräte i.P. Tibetanzl und Dlauho-
betzky von Dlauhobetz, die beide zur nationalen Mobilmachung ihr Teil beitra-
gen, indem sie Gedichte schreiben, der eine für die Mittagszeitung, der andere für
die Muskete. Auf die Frage Tibetanzls "Hast wieder ein Gedicht gemacht? Wor-
auf denn?" antwortet Dlauhobetzky:
Hier unterbricht ihn Tibetanzl und wirft ein: "Aber du - das is klassisch - das is
ja von mir!" Dlauhobetzky erwidert und fährt fort:
Was? Von dir? Das is klassisch, das is von Goethe! Aber paß auf,
wirst gleich den Unterschied merken. Jetzt muß ich noch einmal
anfangen.
Ist das nicht klassisch, alles paßt ganz genau, ich hab nur statt
Vöglein Hindenburg gesetzt und dann also natürlich den Schluß auf
Warschau. Wenn's erscheint, laß ich mir das nicht nehmen, ich
schick's dem Hindenburg, ich bin ein spezieller Verehrer von ihm.
40 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, daß Tibetanzl den Tag zu-
vor "nämlich ganz dasselbe" Gedicht gemacht hat, nur mit mehr Veränderungen
und "mehr gspassig", wie Dlauhobetzky attestiert; es heißt Beim Bäcken:
Die Szene schließt mit dem Ausruf Dlauhobetzkys "Du, das is förmlich Gedan-
kenübertragung!" und Tibetanzls Reaktion darauf:
Ja, aber jetzt hab ich mich umsonst geplagt. Jetzt muß ich warten,
ob deins erscheint. Wenn deins erscheint, kann ich meins nicht der
Muskete schicken. Sonst glaubt man am End, ich hab dich para-
diertP
Was wie satirische Erfindung anmutet, ist in Wirklichkeit - wie fast alle Satire
bei Karl Kraus - nur Zitat: "die grellsten Erfindungen sind Zitate ... Das Doku-
ment ist Figur"4. Beleg dafür ist, was das anstehende Beispiel betrifft, der Artikel
Goethes Volk in den Heften 454-456 der von Kraus herausgegebenen Zeitschrift
Die Fackel. Im Anschluß an ein Kriegsgedicht Georg Böttichers, das dem Jahr-
gang 1917 der literarischen Zeitschrift Jugend entnommen ist, heißt es dort: mag
die Bestie der Gegenwart wie zur todbringenden Maschine auch zum Vers greifen,
mögen Hauptmann und Dehmel "hinunter bis zum Ulkbruder" zusammenschmie-
ren, was die entgeistigte Zeit hält, vor der letzten weltgeschichtlichen Instanz
werde all dies als unerheblich abgewiesen werden, wenn es sich "zu Ungunsten
der deutschen Sprache gegen das Dasein der Luther, Gryphius, Goethe" etc. be-
haupten wollte. Doch dieser Satz straft sich selbst Lügen, sobald man nur die
Zeitungen aufschlägt. Die verstunkene Epoche hat sich nicht damit begnügt,
"unter Einwirkung einer todbringenden Technik literarisch produktiv zu sein",
sondern hat sich selbst noch an den "Heilgtümern seiner verblichenen Kultur"
vergriffen, "um mit der Parodie ihrer Weihe den Triumph der Unmenschlichkeit
zu begrinsen":
Karl Kraus, Werke, Bd. 5, Die letzten Tage der Menschheit, Tragödie in fünf Akten mit
Vorspiel und Epilog, hrsg. v. Heinrich Fischer, München 1957, S. 266f.
4
A.a.O., S. 9. - Vgl. auch Kar! Kraus, Die Fackel, Nr. 368/9, S. 1: "Mir ist ein Engel
erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie".
Deutsche Klassiker-Parodien 41
Unter allen Wassern wird von zahlreichen deutschen Zeitungen aufgegriffen und
kolportiert. Es entsteht sogar eine Art Wettstreit um die authentischste Fassung;
und natürlich zerbricht man sich den Kopf über den anonym gebliebenen Verfas-
ser. Immer neue Variationen werden publik, darunter eben auch die, auf die Kraus
in der oben wiedergegebenen Dramenszene anspielt. In den Dresdner Nachrichten
meldet sich Admiral Scheer, Chef der Hochseestreitkräfte, zu Wort und bekundet
Beifall und herzliche Freude. Darauf nimmt Kraus in der vierten Szene des dritten
Akts der Letzten Tage der Menschheit Bezug, wenn er die U-Boot-Version von
Wanderers Nachtlied an das Gespräch zweier Studenten der Philosophie knüpft,
die ihrerseits ihrer Freude Ausdruck verleihen, daß der Sieger der Seeschlacht am
Skagerak - "offenbar wegen seiner Stellung zu Goethe"6 - Ehrendoktor ihrer Fa-
kultät geworden ist. Man sieht: Kraus brauchte keinen großen literarischen Auf-
wand zu treiben, um die Satire ins Werk zu setzen. Die szenische Realisation
greift nur insofern über das bloße Zitieren der vorgeführten Goethe-Plagiate hin-
aus, als sie die Mentalität dingfest zu machen versucht, aus der heraus derlei Pro-
duktionen ihren Ursprung nehmen und auf die hin sie ihre Wirkung erhalten.
Indem er "das is klassisch - das is ja von mir" umschlagen läßt in "Das is
klassisch, das is von Goethe" und umgekehrt, thematisiert der Dialog der pensio-
nierten Hofräte Tibetanzl und Dlauhobetzky in seinen entscheidenden Passagen
die abstraktere Etikettierung, wie sie der Fackel-Artikel vornimmt. Der Skopus
liegt darin, daß sich der Verweis auf Goethe als Garant für 'klassisch' absurd in
den Hinweis auf den literarischen Konkurrenten verkehrt, der dem Einfall zuvor-
S
Kar! Kraus, Die Fackel, Nr. 454/6, S. 2f.
6 Kar! Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, a.a.O., S. 33lf.
42 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
gekommen ist. sich am Gedicht des Klassikers die fehlende Aura für rüde Propa-
ganda zu holen und auf diese Weise plump-rabiate Leichenfledderei zu betreiben.
Interessant an dem Fackel-Aufsatz ist. daß Kraus den Begriff der Parodie nicht für
sich oder die Schaustellung von Zitaten reklamiert, die er betreibt, sondern ledig-
lich dazu benutzt. den Stand der Banalisierung oder Aushöhlung zu markieren,
den der Rekurs auf die Klassiker mit Unter allen Wassern ist - U tatsächlich er-
reicht hat Das von Karl Kraus eingeschlagene satirische Verfahren, das die Bei-
träge der Fackel wie das Drama der letzten Menschheitstage trägt, läßt sich daher
treffend als raffmierte Technik der Selbstentlarvung des satirischen Objekts kenn-
zeichnen. Es heißt dazu in der 'Fackel':
Mein Amt war nur ein Abklatsch eines Abklatsches. Ich habe Ge-
räusche übernommen und sagte sie jenen, die nicht mehr hörten.
Ich habe Gesichte empfangen und zeigte sie jenen, die nicht mehr
sahen. Mein Amt war, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in
Druck und Klammer sich verzerren zu lassen, wissend, daß ihr Un-
säglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte. Nicht aus-
zusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzusprechen, was scheint.
Zu zitieren und zu photographieren.7
An dieser eskalierten, aus der Situation des Ersten Weltkriegs diktierten Zuspit-
zung der Satire bei Karl Kraus läßt sich die Differenz veranschaulichen, die zu
Form und Ausprägung der Satire im neunzehnten Jahrhundert besteht. Der auffal-
lendste Unterschied auf dem Feld der Klassiker-Satire ist sicher darin zu sehen,
daß die zunächst noch direkte Auseinandersetzung mit den Klassikern auch direk-
tere Formen der Parodie hervorgetrieben hat. Vor allem für das Junge Deutsch-
land ist Goethe noch eine lebendige Gegebenheit und feste literarische Instanz,
gegen die man anzugehen und sich zu behaupten sucht. Im übrigen aber eröffnen
sich durchaus Parallelen, vor allem dann, wenn man auf die Interferenzen achtet,
die in den direkten parodistischen Affront einfließen und ihn festlegen. - Ich
wähle, der Variation halber, als Ausgangspunkt Goethes Mignon-Ballade Kennst
du das Land, gemeinhin als Mignons und Goethes Italienlied bezeichnet. Als par-
odistische Rezeptionsstufen lege ich mich auf Heinrich Heine, die politische Ly-
rik im Umkreis der achtundvierziger Revolution und den deutschen Frühnaturalis-
mus der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts fest.
Bekanntlich war die Mignon-Gestalt in Goethes Wilhelm Meister das eigentli-
che Faible der deutschen Romantik. Friedrich Schlegels berühmt gewordene Re-
zension des Romans feiert Mignon als Ausdruck heiliger Naturpoesie, romanti-
schen Zaubers und romantischer Musik; das dritte Buch des Romans erhält für
Schlegel durch Mignons Dahin und durch Wilhelms und der Gräfin ersten Kuß
eine schöne Einfassung, der vierte Band, der Mignons Sehnsuchtslied enthält, ist
ihm "eigentlich das Werk selbst"S So verwundert es nicht, daß sich in der ganzen
Romantik - bis hinauf zu Joseph von Eichendorff - immer wieder geradezu di-
rekte Imitationen dieser Figur finden; ja bis in den sogenannten poetischen Rea-
lismus hinein lassen sich zahlreiche Spuren und Spurenelemente dieses fruchtba-
ren poetischen Zwitterwesens aufspüren9 • - Heinrich Heine tritt zu einem Zeit-
punkt auf, da die stimulierende Wirkung des Wilhelm Meister wie die allgemeine
Bewunderung Goethes insgesamt bereits ins Wanken gerät. Einerseits nimmt er
zwar den Weimarer Geheimrat gegen die Anwürfe, die Wolfgang Menzel in seiner
Deutschen Literatur äußert, in Schutz, verteidigt ihn gegen unbillige Kritik, an-
dererseits läßt er keinen Zweifel, daß die Insurrektion gegen Goethe das Signal ei-
ner Zeit ist, die von Goethes Prinzip der Kunstidee abweicht und eine neue Pe-
riode "mit einem neuen Prinzipe" aufsteigen läßt. "Freilich", merkt Heine im
Nachsatz an, "können wir nicht umhin, ausdrücklich zu bemerken, daß wir unter
'Goethentum' nicht Goethes Werke verstehen, nicht jene teuern Schöpfungen, die
vielleicht noch leben werden, wenn längst die deutsche Sprache schon gestorben
ist, und das geknutete Deutschland in slavischer Mundart wimmert; unter jenem
Ausdruck verstehen wir auch nicht eigentlich die Goethesche Denkweise, diese
Blume, die, im Miste unserer Zeit, immer blühender gedeihen wird, und sollte
auch ein glühender Enthusiasmus sich über ihre kalte Behaglichkeit noch so sehr
ärgern; mit dem Worte 'Goethentum' deuteten wir oben vielmehr auf Goethesche
Formen, wie wir sie bei der blöden Jüngerschar nachgeknetet finden, und auf das
matte Nachpiepsen jener Weisen, die der Alte gepfiffen. Eben die Freude, die dem
Alten jenes Nachkneten und Nachpiepsen gewährt, erregte unsere Klage. "10
Ihre literarische Entsprechung und Konkretisierung erhält diese literaturkriti-
sche Auslassung im sechsundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten Kapitel der
Reise von München nach Genua, entworfen und teilpubliziert 1828, vollständig
erschienen 1830 im dritten Band der Reisebilder. Beide Kapitel zitieren einleitend
Goethes Mignon-Lied, einmal mit der ersten Zeile, dann mit der ganzen ersten
Strophe:
Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister, in: F. S., Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich
Rasch, München o. J., S. 272, S. 282. - Mit einem bekannten Wort kennzeichnete Schlegel
Goethes Wilhelm Meister neben der Französischen Revolution und Fichtes Philosophie als eine
der drei Tendenzen des Jaluhunderts.
9 Nachgewiesen bei Dorothea Flashar, Bedeutung, Entwicklung und literarische Nachwirkung von
Goethes Mignongestalt, Berlin 1929, S. ll1ff. - Direkte Aufnahmen von Goethes Mignon-
Ballade finden sich u. a. bei Achint von Arnim ("Kennst du das Land, wohin du, Freund, willst
ziehen" etc.), Oemens Brentano ("Kennst du das Land: 0 wär ich diese Welt doch los" etc.) und
Nikolaus Lenau ("Kennt ihr sie nicht des Nordens alte Sage" etc.).
10
Heinrich Heine, Die deutsche Literatur, in: H. H., Werke (Insel-Heine), Frankfurt/Main 1968,
Bd. 4, Schriften über Deutschland, hrsg. v. Helmut Schanze, S. 18f.
44 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
"Kennst du das Lied?", fragt Heine, anschließend ans erste Zitat: ganz Italien sei
darin geschildert, und in der Italienischen Reise habe es Goethe noch etwas aus-
führlicher besungen. "Wir schauen", fährt Heine fort, "bei Goethe überall tatsäch-
liche Auffassung und die Ruhe der Natur. Goethe hält ihr den Spiegel vor, oder,
besser gesagt, er ist selbst der Spiegel der Natur. Die Natur wollte wissen, wie
sie aussieht, und sie erschuf Goethe" . Sehr verschieden dazu die Anknüpfung ans
zweite, wiederholende Zitat. "t\ber reise", heißt es jetzt, "nur nicht Anfang Au-
gust, wo man des Tags von der Sonne gebraten, und des Nachts von den Flöhen
verzehrt wird. Auch rate ich dir, mein lieber Leser, von Verona nach Mailand ja
nicht mit dem Postwagen zu fahren." Und weiter, Goethes Mignon-Ballade ganz
und gar in den tatsächlichen Reisebericht auflösend und die Kontrafaktur der vor-
gegebenen idealischen Italienstaffage in quasi blitzhaften Camera-obscura-Bildem
vorführend:
11 Heinrich Heine, Reise von München nach Genua, in: H. H., Werke, a.a.O., Bd. 2, Reisebilder,
Erzählende Prosa, Aufsätze, hrsg. v. Wolfgang Preisendanz, S. 286f. - Heine weicht in der
Zitierung geringfügig gegenüber Goethes Schreibweise ab. - Goethe setzt die Mignon -Ballade in
den gesammelten Gedichten nicht in die Abteilung Aus Wilhelm Meister, sondern eröffnet mit
ihr die Balladen. Zur Stellung des Gedichts im Wilhelm Meister und anderen Fragen s.
Kontroverse Oskar Seidlin gegen Herman Meyer und umgekehrt, in: Euphorion, 45, 1950, S.
83-99; 46, 1952, S. 149-169; 47, 1953, S. 462-477. - Ein ganzes Kompendium parodistisch
eingesetzter Klassiker-Zitate in der Art Heines, allerdings zur Manier geronnen, findet sich in
den Schriften Moritz Gottlieb Saphirs.
12
Heinrich Heine, Reise von München nach Genua, a.a.O., S. 288.
Deutsche Klassiker-Parodien 45
13 Heinrich Heine, Werke und Briefe, Berlin 1961, Bd. 3, Reisebilder, Textrevision und
Erläuterungen v. Gotthard Erler, S. 707.
14 Übernommen aus der ähnlichen Bilderrevue, die Heine in den Memoiren des Herren von
Schnabelewopski von Hamburger Zuständen gibt, in: H. H., Werke, a.a.O., Reisebilder,
ErzähleNk Prosa, Aufsätze, a.a.O., S. 521.
1S Oskar Seidlin, Zur Mignon-Ballade, in: Euphorion, 45,1950, S. 83.
46 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
16 Goethe, Werke (Sophien-Ausgabe), Bd. 3, Weimar 1890, S. 239. - Vg1. auch Bd. I, S. 349
("Kennst du das herrliche Gift der unbefriedigten Liebe" etc., bzw. "Kennst du die herrliche
Wirkung der endlich befriedigten Liebe" etc.), Bd. 5, I, S. 281 ("Kennt ihr im Reineke Fuchs
die appetitliche Höhle" etc.), Bd. 5, 2, S. 373 ("Kennt ihr die Dime mit lauerndem Blick" etc.).
V g1. auch zweites der drei Rätsel in Schillers Turandot-Übersetzung: "Kennst du das Bild auf
zartem Grunde? I Es gibt sich selber Licht und Glanz" etc. - Dazu wiederum vgl. als spätere
Parodie Moritz Gottlieb Saphir, Pantoffel-Rede eines Schriftstellers und Satyrikers am Tage
seiner Verheiratung, in: M. G. S., Ausgewählte Schriften, Brunn und Wien 1864, Bd. 2, S. 68.
Weitere Schiller- und Goethe-Parodien Saphirs finden sich in: Das Buch deutscher Parodien und
Travestien, hrsg. v. Z. Funck, Erlangen 1840, Bd. 1 u. 2, passim, darunter speziell auch die
Tell-Parodie auf "Lebt wohl ihr Berge", S. 19Off.
17 Johann Daniel Falk, Sehnsucht nach Holland, an Herrn Professor Wolff in Halle, als er 1797
einen Amtsruf dahin erhalten hatte, zit. nach Das Buch deutscher Parodien und Travestien,
a.a.O., Bd. I, S. 206f. - Die weiteren Strophen lauten:
Kennst du das Land? Die Freistatt ehe daß
Von Muth und Freiheit - jetzt vom besten Käs';
Wo stehn nun frische Heering, Boot an Boot;
Mijn Heer Krumpipen, mijn Heer van der Noot.
Kennst du dieß Land?
Dorthin, dorthin
Möcht' ich mir dir,
o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Land? Wo schält der Schiffsjung Bark?
Wo schwimmt das Seevolk oben, leicht wie Kork!
Wo, wie dein Vorahn' uns gelehrt Salmas!
Noch Licht, noch Luft, noch Wasser taugt etwas!
Kennst du das Land?
Dorthin, dorthin
Möcht' ich mit dir; 10mein Geliebter, ziehn!
Deutsche Klassiker-Parodien 47
Der mit "Geliebter" Angesprochene ist in diesem Fall der bekannte Altphilologe
Friedrich August Wolf, Professor in Halle, der 1797 einen Amtsrufnach Holland
erhalten hatte und offensichtlich durch Falks Poem bewegt werden sollte, diesen
Ruf abzulehnen. Der Satiriker Heinrich Gottfried Bretschneider, ein Anhänger Ni-
colais, bedient sich der Mignon-Ballade, um an ihr seiner anti-pietistischen, auf-
klärerischen und freimaurerischen Auffassung einer "Sehnsucht nach Jenseits"18
Ausdruck zu leihen; August von Kotzebue, der in ganz Europa gefeiertste Drama-
tiker der Goethe-Ära, gießt sie um "Auf den Tod einer geliebten Gattin"19; ihm
antwortet mit Sehnsucht nach Krähwinkel das Pseudonym Eginhardt, offensicht-
lich ein von Kotzebues Kleinstadt-Begeisterung weniger angetaner Poet, und
rühmt mit Unterstützung des "Kennst du wohl" die Stadt, in der man, den widri-
gen Zeitläuften zutrotz, als Graduierter noch froh willkommen geheißen werde:
Dahin! dahin!
Möcht ich mit dir,
Mein Accessist, wohl zieh'n. 20
18 Heinrich Gottfried Bretschneider, Sehnsucht nach Jenseits, zit. nach Das Buch deutscher
Parodien und Travestien, a.a.O., Bd. 1, S. Sf.:
Siehst du das Licht, das jenseits unbegränzt
Aus tausend Welten auf- und niederglänzt,
In das der Nächte Finsterniß nie dringt,
Das rein und frei sich durch den Äther schwingt?
Siehst du das Licht? - Dahin, dahin
Laß aus des Lebens banger Nacht uns fliehn!
Siehst du das Blau, das jeden Stern umschließt,
Den Äther, der durch alle Welten fließt,
Der nie getrübt, von keinem Sturm bewegt,
Den Strahl des reinsten Lichtes trinkt und trägt?
Siehst du das Blau? - Dahin, dahin
Laß aus des Lebens Nebellicht uns fliehn!
Siehst du den Stern, der dort so hell uns glänzt,
Wo keine Nacht des Lebens Traum begränzt,
Wo keines Truges Gaukellicht uns scheint,
Kein Donner rollt, kein liebend Auge weint?
Siehst du den Stern? - Dahin, dahin
Laß aus des Lebens Thränenthal uns fliehn!
19 August von Kotzebue, Das bessere Land. Auf den Tod einer geliebten Gattin, zit. nach Max
Schneider, Deutsches Titelbuch, unveränderter Nachdruck der 2. Aufl., Berlin 1927, S. 340.
20 Eginhardt, Sehnsucht nach Krähwinkel, zit. nach Das Buch deutscher Parodien und Travestien,
a.a.O., Bd. 1, S. 207f.:
Kennst du die Stadt, wo uns der Titelgeist
Als Graduirte froh willkommen heißt?
Wo Niklas Staar, der königliche Rath,
Der Zwietracht Hyder oft mit Füßen trat?
Kennst du sie wohl?
Dahin! dahin!
Möcht' ich mit dir, I Mein Accessist, wohl zieh'n.
48 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Bedeutsamer als die zitierten Beispiele ist jedoch eine Reihe von Mignon-
Ummodelungen, zu deren Kennzeichnung man ein Etikett Karl Gutzkows benut-
zen darf. In seiner Abhandlung Über Goethe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte
spricht er vom "lobpreisenden Detailgeschäft" auf das "große Haus" Goethe und
präzisiert: man "reist auf die Firma seines Gottes und bringt dessen Gold und Sil-
ber als Scheidemünze unter die Leute." Besonders geschieht dies unter der Flagge
einer rezidivierenden "Nordlandsreckenromantik"zl, einer Trivialisierungsform der
eigentlichen deutschen Romantik also, die sich mit ihrem Beitrag zur Bildung ei-
nes deutschen Nationalgefühls eben nicht auf den Boden einer Deutschen Revolu-
tion stellen konnte und wollte, sondern - gegen Frankreich und Napoleon - den
Bezug auf deutsches Wesen in idealisierter deutscher Landschaft und heroisierter
deutscher Geschichte suchte. "Ein anderer", also doch wohl Goethe, heißt es bei
dem Schwaben Christian Ludwig Neuffer, möge "die schönen Au'n" am Amo-
strom" besingen, "wo heil'ger Lorbeer / grünt, und Orangen die Luft durchwür-
zen":
Gegen italienische Zitronen, Goldorangen, Lorbeer und Myrte wird deutschen Ei-
chen, deutschen Reben oder der Sehnsucht nach Rügen23 zu ihrem Recht verhol-
fen; nur der "milde Wind" bleibt - paradox genug - manchmal noch erhalten:
22
Christian Ludwig Neuffer, Schwaben, zit. nach Gedichte auf das deutsche Land und deutsche
Volk, hrsg. v. J.C. Kröger, Altona 1837, S. 129f.
23 E.W. Schregel, Sehnsucht nach Rügen, zit. nach Gedichte auf das deutsche Land und deutsche
Volk, a.a.O., S. 39f.:
Kennst du das Land, wo an dem Ostseestrande
Der braune Fischer seine Netze zieht,
Wo aufgescheucht aus buntem Ufersande
Die scheue Möv' den stillen Wand'rer flieht?
Kennst du das Land, wo gegen weiße Höhen
Die Sonne auf, aus deutschen Huthen, taucht;
Wo gastlich hold, im stillen Abendwehen,
Der bied'ren Wohner enge Hütte raucht?
Kennst du das Land, kennst du die schönen Huren,
Wo teutsche Treue, deutsche Sitte wohnt;
Wo in des Alterthums ergrauten Spuren
Der Genius vergang'ner Zeiten thront?
Kennst du das Land, durch dessen goldne Auen
hn Friedenswagen einstens Hertha fuhr;
Aus dessen Wäldern einst mit wildern Grauen
In's Bad der See gestürzt der wilde Ur?
Dahin! dahin I da steht mein feurig Sehnen.
DieB Land möcht' ich und sein Gestade schau'n,
Hinüber mich in alte Zeiten wähnen,
Umhüllt von alter Wälder düst'rem Grau'n.
S. auch Harro Paul Harring, Das Land der Friesen, a.a.O., S. 195f.:
Kennst du mein Land? - von Nebel oft umhüllt,
Ein Chaos ist's von Wasser, Luft ood Erde!
Da thront kein Fels, aus dem ein Bächlein quillt,
Kein Wald urngrünt des Wildes muntre Herde.
Nie wird dir dort, in hoher Wölboog Nacht,
Ein trillernd lied der Sänger dargebracht.
(... )
Kennst du mein Land? - wo zarte Frauen blüh'n,
Die sittsam fromm, ihr weißes Linnen weben!
Der Jüngling trotzt den Elementen, kühn
und heiter eilt er durch sein stürmisch Leben.
Des Greises silberhelles Lockenhaar
Sagt dir, daß er ein wackrer Jüngling war.
o komm als Gast einst in ein friesisch Haus
Und schau' unther in der Bewohner Mitte,
Nicht gern eilt dann dein Fuß ins Weite aus;
50 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Der 1837 erschienenen Anthologie Gedichte auf das deutsche Land und deutsche
Volk, die das angestaute vaterländische Liedgut an die Schule trägt, der Abteilung
Das deutsche Volk, Allgemeine Loblieder, entnehme ich Karl Friedrich Müch-
lers:
Und geradezu volkstümlich wurden Paul Wigand und Leonhard Wächter, die sich
im Pseudonym Veit Weber bzw. Veit Weber d.J. nannten, mit der von Hans
Georg Nägeli vertonten Neufassung:
über Zensur und Polizei - der "blut'ge Kampf' in zunehmendem Maß vor allem
eine innenpolitische Stoßrichtung erhält, unterschlagen die Neuffer, Eginhardt,
Müchler und Wigand.
Ein oft geäußertes, schon von der zeitgenössischen Kritik vorgebrachtes Vor-
urteil lautet, die dezidiert politische Lyrik im Zirkel des Vormärz und der acht-
undvierziger Revolution sei epigonal geblieben, ohne wirkliche poetische Inno-
vationskraft Als Ausnahme, die die Regel bestätigt, billigt man lediglich Georg
Herwegh - der sogenannten 'eisernen Lerche' - ein gewisses eigenes Pathos zu.
Wie stark es sich hierbei um beabsichtigte Fehleinschätzungen und bewußte Feh-
lurteile handelt, läßt sich in unserem Zusammenhang besonders deutlich nach-
weisen. Natürlich übernimmt man Positionen Heines, aber gerade auf dem Sek-
tor der Klassiker-Parodie und Klassiker-Satire geht man entschieden über ihn hin-
aus, so daß der Instrumentierung des politischen Gedichts durchs Klassiker-Zitat
nahezu Schlüsselwert zukommt. Von der trivial- und nationalromantischen After-
kunst hebt man sich ab, indem man ihre Verfahren kopiert und sie auf ihrem ur-
eigensten Gebiet zu schlagen sucht. - Für die hier maßgebliche theoretische Aus-
einandersetzung mit Goethe und der deutschen Klassik ist die eskalierte Kritik an-
zusetzen, wie sie Ludwig Börne, Ludolf Wienbarg, Heinrich Laube und Theodor
Mundt vortrugen. Böme zum Beispiel schreibt, nie habe der Herkules der deut-
schen Literatur auch nur ein "armes Wörtchen" für sein Volk gesprochen, "er, der
früher auf der Höhe seines Ruhms unantastbar, später im hohen Alter unverletz-
lich, hätte sagen dürfen, was kein anderer wagen durfte. "27 Und Laube merkt zu
den späten Parteigängern Goethes an: "die kompromittiertesten Bürger unseres
Vaterlandes gehörten zu ihnen. Sie gaben der Poesie das Ansehn, als sei sie nur
ein Spielzeug des Despotismus."28
Doppelter Ehrgeiz und doppelte Absicht bestimmen also den Trend der ange-
sprochenen politischen Lyrik. Zum einen versucht man, die Goethesehen For-
men ihrer fatalen Mißnutzung durch reaktionäre Adepten zu entreißen, zum ande-
ren setzt man alle Energie daran, sie im Sinne der Kritik Börnes und Laubes mo-
bil zu machen für Inhalte, um die Goethe sich gedrückt hat. So erklärt es sich,
daß Umsetzungen von Goethes Mignon-Ballade gerade für äußerst konkrete und
brennende zeitpolitische Sachverhalte wie etwa die Auswandererbewegung der
dreißiger Jahre, resultierend aus sozialer Not und politischer Gefahr, wie Presse-
zensur oder andere Maßnahmen polizeistaatlicher Gewalt, relevant werden:
27
Ludwig Böme, Aus meinem Tagebuche, in: L. B., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hamburg
1862, S. 385ff., zit. nach Das Junge Deutschland, hrsg. v. Jost Hermand, Stuttgart 1966, S.
23.
28 Heinrich Laube, ReisenollelIen, Bd. 2, Leipzig 1834, S. 247ff., zitiert nach Das Junge
Deutschland, a.a.O., S. 25.
52 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
29 Jacob Schmidt, Nordamllrika, das Land mIliner Wünsche, zit. nach Walter Grab u. Uwe Friesel,
Noch ist Deutschland nicht verloren, Eine historisch-poliJische Analyse unterdrückJer Lyrik von
der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung, München 1970, S. 133f. - Die weiteren
Strophen lauten:
Wißt ihr, wo man nach eignern Herzensdrang
Den Herrn verehrt, im eignen Lobgesang
Kein Glaubenszwang zu Heuchelei veIfiihrt
Und Duldung stets den freien Glauben ziert?
Wißt ihr es wohl?
Dahin, dahin ...
Kennt ihr das Land, wo gleich sich alle sind?
Wo's keine Junker gibt, kein Fürstenkind,
Den Besten selbst der Name 'Bürger' schmückt,
Kein Kastengeist Gemeinsinn unterdrückt?
Kennt ihr es wohl?
Dahin, dahin ...
Kennt ihr das Land, wo das Gesetz regiert,
Und kein Despot? Wo freie Wahl erkürt
Den besten Mann, des Staates Haupt zu sein,
Kein Titel gilt, nur das Talent allein?
Kennt ihr es wohl?
Dahin, dahin ...
Kennt ihr das Land, wo kein Beamtenheer,
Am Herrenpflug gespannt, des Thrones Wehr,
Im goldbebrämten Rock, mit Ordensband,
Durch Sold und Steuern peinigt Stadt und Land?
Kennt ihr es wohl?
Dahin, dahin ...
Kennt ihr das Land, das stark durch Bürgers Arm
Und Vaterlandeslieb der Söldner Schwarm
Entbehren kann? Wo Zwinger man nicht kennt
Und Männer-Brust die einz'ge Feste nennt?
Kennt ihr es wohl?
Dahin, dahin
Möcht ich mit euch, 0 meine Freunde, ziehn!
Deutsche Klassiker-Parodien 53
und verdreht so, ähnlich wie Heine, den idealischen locus amoenus in sein Ge-
genteil:
30 Friedrich von Sallet, Sehnsuchtsanfall, zitiert. nach Walter Grab u. Uwe Friesel, Noch ist
Deutschland nicht verloren, a.a.O., S. 161. - Die weiteren Strophen lauten:
Dort, wo den Stiefel der Leibeigne küßt,
Weil gleich dem Hund er krumm getreten ist,
Wo man den Popen durchhaut, weil er stahl,
Und dann die Hand ihm küßt mit einemmal,
Kennst du es wohl? Dahin, dahin
Möcht ich mir dir, geliebter Zensor, ziehn I
Wo Tausende um andern Glauben flehn,
Weil sie des Kaisers Wunsch voraus verstehn,
o freier übertrinl Kein Mensch verletzt,
Spurlos verschwand nur, wer sich widersetzt.
Kennst du es wohl? Dahin, dahin
Möcht ich mit dir, geliebter Zensor, ziehn!
Wo Schächern auf sibirischem Gefild
Die freie Zobeljagd für Strafe gilt,
Wo man so ganz politisch aufgehellt,
Europas Reichen Mausefallen stellt -
Kennst du das Land? Dahin, dahin
o laß uns gleich, geliebter Zensor, ziehn!
Vgl. Sallets Hyperboräische Ballade:
Es war ein König von Thule,
Zu seinem Volk der sprach:
'Geh nur erst in die Schule!
Die Freiheit folgt schon nach.
Mit einem Eid gewaltig
Versprech ich sie dir klar,
und was ich verspreche, das halt ich
Am dreißigsten Februar.'
Da war das Volk bestochen,
Manch Jahr lang Vivat schrie,
Als endlich Lunte rochen
Die größten Pfüflzi.
54 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
31
Adolph Glaßbrenner, Sehnsucht nach Rußland, veröffentlicht unter dem Pseudonym Schreck
von Rotstift, zit. nach Walter Grab u. Uwe Friesel, Noch ist Deutschland nicht verloren,
a.a.O., S. 222.
Vgl. als Beispiel aus den zwanziger Jahren Erich Kästner, Gesammelte Schriften, Bd. 1,
Gedichte, München, Zürich 1969, S. 70:
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
In den Büros, als wären es Kasernen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen !
Deutsche K1assiker-Parodien 55
Der satirische Effekt entsteht in der .Hauptsache dadurch, daß Glaßbrenner gewis-
sermaßen als Anhänger und Gesinnungsgenosse Thadden-Trieglaffs zu sprechen
vorgibt; in Wirklichkeit aber nagelt er ihn auf seine reaktionären Äußerungen
fest und unterläuft die Androhung russischer Zustände für Preußen, indem er sie
per Mignons Italiensehnsucht auf ihren Urheber zurückfallen läßt. Und dabei
lehnt sich Glaßbrenner besonders eng an das Goethesche Original an. Vor allem
die beiden ersten Strophen weichen jeweils nur in wenigen Worten ab. In der er-
sten Strophe beispielsweise kommen "Kartätschen" für "Zitronen", "Sibirien" für
"blauer Himmel", "Kantschu" - die Lederpeitsche - für "Myrte" zu stehen, wobei
festzuhalten ist, daß das syntaktische und verbale Wortgitter Goethes erhalten
bleibt und so die einmontierten Insignien der Unterdrückung quasi als Naturer-
scheinungen auftreten: die Kartätschen "blühn", analog zur Fichte - ein Paralle-
lismus, der frappiert - "steht" der Kantschu "hoch". Natur dient zur Charakterisie-
rung von Widematur. Umgekehrt erhält die Naturidiomatik, wo sie unangetastet
bleibt oder geringfügig variiert wird, neue Sinn-Nuancen in Richtung aufs politi-
sche Sujet. Sehr rasch merkt man, daß der "feuchte Wind", der her von Sibirien
weht, Umschreibung für Tränen ist, die erpreßt werden, daß die Fichte, die so
"still" steht, den Untertanen meint, der sich nicht rührt und nicht zu rühren wagt.
Vollends in der Abfolge der Strophen bricht Glaßbrenner aus dem dialektischen
In-sich-Kreisen der Goetheschen Kunstform aus und schafft so eine doppelte Au-
ßenorientierung des Textes. Einmal steigert sich die Abrechnung mit dem politi-
schen Gegner und schreitet von Strophe zu Strophe zielstrebig voran; das andere
Mal-
- wendet sich das Gedicht an seine Leser und läßt durchscheinen, daß die Formen
von Gewalt und Vergewaltigung, die realiter und bildlich aus Rußland sich bezie-
hen lassen, längst preußische Wirklichkeit und geübte Praxis der preußischen
Staatsgewalt sind.
Ein einfacheres und dennoch ähnlich instruktives Beispiel von Mignon-
Parodie fmdet sich in Glaßbrenners Illustrierten deutschen Volksliedern, einer als
Bildergeschichte aufgemachten Zitatsammlung, die ein Pendant bildet zu der spä-
ter in den Fliegenden Blättern fest installierten Sparte Illustrationen zu den deut-
schen Klassikern 32 , die ihrerseits erklärlich macht, weshalb Friedrich Theodor
32
Die genannte Spalte, die ich in verschiedenen Jahrgängen der Fliegenckn Blätter eingesehen
habe, besteht jeweils aus einem oder mehreren Klassiker-Zitaten und einer komisch-satirisch
kommentierenden Zeichnung, die das Zitat in einen anderen Zusammenhang stellt. - Leicht
zugänglich ist die aus den Fliegenckn Blättern in die Anthologie Musenklänge aus Deutschlands
Leierkasten übernommene Mignon-Parodie Wanderlust, zit. nach der Neuausgabe durch Walter
Widmer, Berlin 1962, S. Sff.:
56 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Vischer in den frühen sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts seinen ge-
gen die herrschende Goethe-Philologie gerichteten Faust, Dritter Teil, die wohl
wichtigste Klassiker-Parodie der zweiten Jahrhunderthälfte, eben dieser satirischen
Zeitschrift zur Veröffentlichung anbot. Glaßbrenner druckt Goethes Text unver-
ändert nach, kommentiert ihn aber - in der Abbildung - durch einen Galgen, an
den die Zitronen als gerupfte Untertanen zu hängen kommen33• Dagegen nehmen
die Belege, die sich aus den Fliegenden Blättern beibringen lassen, der Parodie
häufig ihre Schärfe und biegen die Satire ins Humoristische oder Anekdotische
um 34 •
Der Anspielung auf Goethes König in Thule folgt die auf Mignons Kennst du
das Land in der achten Strophe; allerdings zitiert Herwegh nicht den abgedrosche-
nen Eingang, sondern ein entlegeneres Bild der letzten Strophe, macht aber das
Zitat, ähnlich wie Glaßbrenner, am politischen Konkretum fest. Im etwas breiter
genommenen Kontext heißt es:
(...)
Fünfhundert Narrenschellen
Zu Frankfurt spielen die Melodie:
Das Schiff streicht durch die Wellen
Der deutschen Phantasie.35
35 Georg Herwegh, Mein Deutschland, strecke die Glieder, in: G. H., Werke, hrsg. v. Hermann
Tardel, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o. J., Bd. 3, Neue Gedichte, S. 35f. Vgl. a.a.O., Bd. 2,
S. 134, Gutenberglied, bei der Feier der Erfindung der Buchdrucketkunst zu Konstanz, 1840:
Kennt ihr, kennt ihr das freie Wort,
Das mit der Sonne kreist?
Das mit den Wogen donnert fort?
Das mit dem Sturme reist?
Das reich wie Tau vom Himmel tropft,
An Hütten und Paläste klopft?
Kennt ihr den freien Geist?
36
Franz Dingelstedt, Mignon als Volks·Kammer-Sängerin, zit. nach Walter Grab u. Uwe Friesel,
Noch ist Deutschland nicht verloren, a.a.O., S. 262:
Kennst du das Land, wo Einheits-Phrasen blühn:
in dunkler Brust Trennungsgelüste glühn ,
ein kühler Wind durch Zeitungsblätter weht,
der Friede still und hoch die Zwietracht steht?
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin
möcht ich mit dir, 0 mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
es hallt der Saal, die Galerie hallt nach,
und Volksvertreter stehn und sehn sich an:
Was haben wir fürs arme Volk getan?
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin
möcht ich mir dir, 0 mein Beschützer, ziehn!
Deutsche Klassiker-Parodien 59
lismus der Jahre nach 1880 eine markante Entwicklung. Zunächst ist man über
die nationale Einigung durchaus begeistert und bedauert lediglich, daß die große
politische Tat noch nicht die ihr entsprechende kulturelle llluminierung erfahren
habe. Die Brüder Heinrich und Julius Hart wenden sich deshalb in einem offenen
Brief an den Grafen Bismarck und legen ihm die junge Literatur, die sie mit ihren
Kritischen Waffengängen gegen die erdrückende Vormacht der Epigonen ins Le-
ben zu rufen suchen, ans Herz. Erst mit der mehr oder weniger bewußten Annä-
herung an die durchs Sozialistengesetz geknebelte Sozialdemokratie weiten sich
Selbstverständnis und Wille der jungen Literaten zur Literatur-Revolution,
kommt es - neben den bekannten Einflüssen der französischen, nordischen und
russischen Literatur - zur Wiederentdeckung der revolutionären deutschen Litera-
tur und in ihrer Folge zu gleich- oder ähnlichgerichteten literarischen Unterneh-
mungen. Den aktuellen Stellenwert eines Jakob Michael Reinhold Lenz, Hein-
rich Heine, Christian Dietrich Grabbe und Georg Büchner erkennend, begreift
man sich selbst als 'moderner Dichtercharakter', 'neuer Sturm und Drang' und
'wiedergeborenes Junges Deutschland'. Am deutlichsten spiegelt sich der skiz-
zierte Prozeß hin zu oppositioneller, gesellschaftskritisch determinierter Litera-
tur- und Kulturkritik und auf dieser Basis festgelegter poetischer Produktion im
lyrischen Frühwerk des Amo Holz.
Mit seiner Kampfansage gegen die Epigonenliteratur der siebziger und achtzi-
ger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts geht der deutsche Frühnaturalismus eine
ähnliche Frontstellung ein, wie sie Junges Deutschland und politische Dichtung
der lahrhundertmitte gegen Klassizismus und Spätromantik gesucht hatten. Wie-
derum spielt der Ausfall gegen den klassischen Goethe in die Auseinandersetzung
hinein, bestimmt das satirisch-parodistisch eingesetzte Klassiker-Zitat den
Angriff auf die Zeitgenossen:
37 Amo Holz, Buch der Zeit, München 1905, Neue Ausgabe, S. 125. - Die zweite Strophe lautet:
Ich aber denke, heilige Dressur!
Und folgre daraus dieses Eine nur:
Daß Prügel für gewisse Kreise
auch heut noch eine Lieblingsspeise!
Vgl. a.a.O., S. 89, Für Schnillern etcetera!:
Immer noch laufen uns in die Quer,
Faust, Hamlet, Hiob und Ahasver.
Aber ich fmde, nachgerade
wird diese Gesellschaft ein wenig fade.
Zu viel Schminke, zu viel Theater,
zu viel Klimbim und zu viel Kater.
60 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Wolffs Heijerleispoeterei,
kein Baumbach wär ihr nachgetatscht,
und Mirzas Reimklangklingelei
summa cum laude ausgeklatscht.
Aus dem Klassiker-Zitat, zu dem man erinnert, daß es die Frage "Kennst du das
Lied?" aufgreift, mit der Heine im sechsundzwanzigsten Kapitel der Reise von
München nach Genua aufs Mignon-Lied und seinen Verfasser Goethe zu sprechen
kam, entwickelt Holz das groteske Bild des nabelkauenden Eremiten zu Singapur
und entrollt ihm eine Art kritisch-komischer Literatenrevue, in der - neben den
aufgeführten Baumbach, Wolff und Mirza-Schaffy - der Völkerwanderungsepiker
Hermann Lingg, der Schöpfer des nationalen Musikdramas Richard Wagner und
die Verfasser dickleibiger historischer Romane, Felix Dahn und Georg Ebers, ihr
Teil abbekommen. Zusätzlich zu dem Klassiker-Zitat aber sind dem Text weitere
polemische Zitate eingearbeitet, die nicht nur für eine numerische Ausweitung
der satirischen Objekte sorgen, sondern im Inhaltlichen wie im Formalen eine
bemerkenswerte ModifIkation der Satire selbst zur Folge haben. Das "Gott er-
halte" in der dritten und zehnten Strophe, dem der "Kaiser" gekappt ist, ersetzt
38 A.a.O., S. 27f. - Der exotische Bezugspunkt ist einem Gedicht Hermann Linggs entnommen;
aus dessen Epos Die Völkerwanderung, Stuttgart 21892, S. I, vgl. etwa folgende Verse:
Auf, kriegerische Muse, auf: Erwache!
gürt um dein Schwert, stoß in dein goldnes Horn!
Sag, wie für langer Knechtung Schmach zur Rache
Zum Wettkampf rief die Völker heil'ger Zornl
Und du, der Strophen Königin, entfache
der Schlachtgesänge Glut, aus deinem Horn
von Melodie'n, Oktave steig, enthülle
im stolzen Sang des Südens Formenfülle!
62 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
durch das Luder von Nabelschnur, das nicht verrotten will, parodiert den nationa-
len Festgesang und distanziert sich auf diese Weise von den Euphorien des Bis-
marck-Reichs. "Frei, fromm und frisch" in der neunten Strophe schließlich ver-
dreht den bekannten Wahlspruch des Turnvaters Jahn und setzt sich damit von je-
ner Deutschtümelei ab, wie sie nach dem Krieg von 1870nl, nach dem Sieg ge-
gen Frankreich und der Kaiserproklamation in Versailles im Reich grassierte und
in späteren Phasen des deutschen Imperialismus - als aufgeputschter Nationalis-
mus - immer wieder mobilisiert werden konnte. Erst mit Hilfe dieser entwickel-
ten literarischen Technik, Zitate einzumontieren und entsprechend mit anderen
Textelementen so zu kombinieren, daß tatsächlich der intendierte Zusammenhang
zwischen Literatur und Politik ins Blickfeld gerät, gelingt es Holz, solche Sig-
nale zu postieren und die satirische Aussage voll zu artikulieren; der Leser, der
diese Technik bewußt mitrezipiert, weiß um ihre historische Genese und damit
um ihre Einordnung in den engeren literarhistorischen wie den allgemeineren ge-
schichtlichen Prozeß.
Von Arno Holz läßt sich der Bogen zurück auf Karl Kraus schlagen, den wir,
um die Differenz der Klassiker-Parodie des frühen zwanzigsten zu der des neun-
zehnten Jahrhunderts an Beispielen zu dokumentieren, an den Anfang unserer
Überlegungen zur deutschen Klassiker-Satire gestellt hatten. Einer der Hauptun-
terschiede, sagten wir, ist in der Tatsache zu sehen, daß das neunzehnte Jahrhun-
dert die Parodie auf die Klassiker als Gegen-Gesang und Gegen-Sprechen ent-
wickelt, stets unter der Perspektive, die klassischen Formen ihrer reaktionären
Handhabung zu entziehen und für kritische Inhalte, jeweils bezogen auf die kon-
krete literarische und politische Situation, gefügig zu machen. Anders gesagt: es
handelt sich um den ausgeprägten Willen zur Umwertung literarischer Werte, der
seinen Niederschlag fmdet in der Parodie und über die Parodie zu eigener Form
und Aussage zu kommen sucht Karl Kraus dagegen negiert diesen Selbstwert des
Parodistischen und tut ihn - sicher mit gewissem Recht - als falsche Anmaßung
ab; sein Skrupel geht in die Richtung, daß Erfindung und Anstrengung des Sati-
rikers den Parodien, die die Wirklichkeit liefert, stets unterlegen ist, daß die
Wirklichkeit seiner Mühe spottet und ihm - greller, als er's ahnt - immer schon
voraus ist. Parodien schreibt die Zeit; der Satiriker hat nur die Aufgabe, dieser
Zeit den Spiegel vorzuhalten und sie am eigenen Anblick krepieren zu lassen.
Daß sich Satire auf Zitieren und Photographieren reduzieren muß, zieht die Kon-
sequenz aus dieser Erkenntnis und Argumentation.
In bestimmter Hinsicht bildet die voluminöse Literaturtravestie Die Blech-
schmiede, deren erste Fassung Arno Holz 1902 vorlegt, als satirisch-dramatische
Großform den Vorläufer des Weltuntergangsdramas von Karl Kraus. Ein riesiges
Mosaik von Zitaten wird aufgeboten; was da war und da ist, wird in Frage ge-
stellt und bereitwillig der Trivialität geopfert, die sich ohnedies seiner längst be-
mächtigt hat: tabula rasa! Die letzten Tage der Menschheit sind ein riesiges Mo-
saik in exakt diesem Sinn, daß eine Unmasse von Zitaten beigezogen wird und
das Drama konstruiert: auch aus der sogenannten schönen Literatur, doch mehr
Deutsche Klassiker-Parodien 63
noch aus der politisch-gesellschaftlichen Realität, soweit sie sich durch Miß-
brauch von Druckerschwärze und Tinte in Leitartikeln, Reden, Feuilletons usw.
selbst dingfest gemacht hat. "Möglichst dokumentär"39: diese Kennzeichnung,
wie sie Holz zur Bestimmung von Intention und Struktur seines satirischen
Blechschmieden-Panoptikums trifft, sie gilt erst recht hier!
Zwar fallt es nicht schwer, die Parodien auf Wanderers Nachtlied, die Kraus zi-
tatmäßig versammelt und zu Elementen seines Dramas aufbereitet, in den Zu-
sammenhang jener Literatur zu stellen, gegen die Heine, das Junge Deutschland,
die Achtundvierziger und nicht zuletzt auch Arno Holz mit ihren Klassiker-
Parodien ankämpften. Dennoch bleibt, was den Sprung von Holz zu Kraus an-
geht, in dieser Hinsicht eine Lücke; sie gilt es zu schließen. Kraus selbst gibt
den Anstoß, wenn er im Aufsatz Goethes Volk die Ruchlosigkeit, mit der man
den U-Boot-Krieg goethisch versifIziert, nur als den endgültigen Sieg jener Rich-
tung begreift, die längst zuvor mit dem "Abdruck von Klassiker-Zitaten auf Klo-
seupapier"4O eingesetzt habe. Als literarische Parallele darf man dem Kenner der
39 Amo Holz, Briefe, hrsg. v. Anita Holz u. Max Wagner, München 1948, S. 113.
40 Karl Kraus, Goethes Volk, a.a.O., S. 3. - Vgl. auch K. K., Die Fackel, Nr. 406/12, S. 100:
"Ich kann beweisen, daß es doch das Volk der Dichter und Denker ist. Ich besitze einen Band
Klosenpapier, den ein Verleger herausgegeben hat und der auf jedem Blan ein zur Situation
passendes Zitat aus einem Klassiker enthält". Mir liegt durch Zufall ein Exemplar des
nämlichen Bandes vor, ohne Verlags-, Herausgeber- und Erscheinungsdaten, mit dem Titel
Dichter-Grüße, Eine Citatensammlung für stille Winkel; das etwas zerfledderte Exemplar bietet
u. a. folgende Goethe- und Schiller-Zitate aus:
Fliehl Aufl Hinaus ... 1 Und dies geheimnisvolle Buch von Nostradamus' eigner Hand, ist dir es
nicht Geleit genug? (Goethe, Faust /); 0, Carl, es hat gewirkt ... (Schiller, Don Garlos); Da
unten aber ist's fürchterlich (Schiller, Der Taucher); Arbeit, die uns Vergnügen macht, heilt ihre
Müh (Schiller); Dem Ungestüm des rohen Dranges der Menge zu entgehen, hat uns ein Gott
den schönsten Port bezeichnet (Goethe); Die Jugend brauset, das Leben schäumt; Frisch auf, eh
der Geist noch verdüftet (Schiller, Wallensteins Lager); Der Starke ist am mächtigsten allein
(Schiller, Tell); Da tritt kein anderer für ilu:J ein, auf sich selber steht er da ganz allein (Schiller,
Wallensteins Lager); Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen (Schiller,
Piccolomini); Aber wessen das Gefäß ist gefüllt, davon es sprudelt und überquillt (Schiller,
Wallensteins Lager); Bist du es, der von meinem Hauch umwittert, in allen Lebenstiefen zittert,
ein furchtsam weggekrünunter Wurm? (Goethe, Faust); Auch dein Geruch wird sich ergötzen
(Goethe, Faust); Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? zu tauchen in diesen Schlund?
(Schiller, Der Taucher); Du bist Dir nur des einen Triebs bewußt (Goethe, Faust); Der Ort ist
zum Finden gemalt, ich weiß aber kein liebliches Wort dafür (Schiller, Kabale und Liebe); Ja,
kehre nur der holden Erdensonne entschlossen deinen Rücken zu (Goethe, Faust); Denn mich
trieb's mit mächt'gem Drange (Schiller, BrauJ von Messina); Ach und hinter allen diesen wird
doch auch ein Hüttchen liegen (Goethe); Und was die innere Stimme spricht, das täuscht die
hoffende Seele nicht (Schiller); Hier ist Papier ... ! (Schiller, Kabale und Liebe); Kaum wag'
ich's mich herein zu wagen (Goethe, Faust I/); Was euch das Innre stört, dürft ihr nicht leiden
(Goethe, Faust ll); Er will es dann nicht fahren lassen und wirket weiter, weil er muß (Goethe);
Das Unbeschreibliche, hier ist's getan (Goethe, Faust Il); Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön (Goethe, Faust ll); Ein andres Antlitz, eh sie geschehen, ein
andres zeigt die vollbrachte Tat (Schiller); Nun zerbrecht mir das Gebäude, seine Absicht hat's
erfüllt (Schiller); Du bist blaß, Louise! (Schiller, Kabale und Liebe); Auf dem Ocean schifft mit
tausend Masten der Jüngling (Schiller); Vermesse dich, die Pforten aufzureißen, vor denen jeder
64 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Romane Heinrich Manns jenen Passus ins Gedächtnis rufen, nach welchem
Diederich Heßling, Held des Untertan, Papierfabrikant und Stadtverordneter, ge-
treues Abbild seines Kaisers, "zur sittlichen Hebung des Volkes" Klassiker- und
Kaiser-Zitate eben derselben Nutzung unterzieht, die Kraus als Zeichen äußerster
Entmenschung gewertet wissen will; es heißt
gern vorüberschleicht (Goethe, Faust I); Ach, vielleicht, indem wir hoffen, hat uns Unheil
schon betroffen (Schiller, Glocke); Sie wirken still durch labyrinthische Klüfte, im edlen Gas
metallisch reicher Düfte (Goethe, Faustll); Der Gute räumt den Platz dem Bösen (Schiller); Es
liegt um uns herum gar mancher Abgrund (Goethe); Und hinter ihm im wesenlosen Scheine
liegt, was uns Alle bändigt, das Gemeine (Goethe); Ach, wenn in unsrer engen Zelle die Lampe
freundlich wieder brennt (Goethe, Faust); Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
(Goethe, Faust/); Du alt' Geräte, das ich nicht gebraucht, du stehst nun hier, weil dich mein
Vater brauchte (Goethe, Faust/); Fromme Treue soll den bloßgelegten Rücken ihm beschützen
(Schiller); Rauchend in des Henkels Bogen schießt's mit feuerbraunen Wogen (Schiller,
Glocke); Und fragst du noch ... warum ein unerldärter Schmerz dir alle Lebensregung hemmt?
(Goethe, Faust/); Wenn das Gewölbe widerhallt, fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt
(Goethe, Faust//).
Symptomatisch für den angesprochenen Trivialisierungsprozeß ist nicht znletzt auch die
Aufnahme des Mignon-Motivs in die Schlager-literatur, s. z.B. Wo die Orangen blühn .. .1,
Leitmotiv aus dem Metro-Goldwyn-Mayer-Tonfllm Hollywood Revue 0/1929, Monopol·
Liederbücher, 2. Jg., H. 13, S. 12:
1. Ringsum nur Palmen und Blumen, so wie ein Glücksparadiesl Der Himmel so blau wie dein
Aug', kleine Frau, es duftet betäubend und süßt Habe Mut, mein Kind und vertraue mir, weil
ich dich, mein Liebling, ins Glück entführ'1
2. Silberne Glocken uns läuten, läuten in sternheller Nacht! Mit dir ganz allein, ach, wie schön
muß das sein! Von keinem belauscht und bewacht! Wenn wir beide dort, schwindet Zeit und
Raum, wir erleben dann einen Märchentraum.
Refrain: Wo die Orangen blüh'n, bleibt die Liebe ewig grün! Ein Paradies von liebe und Glück,
voll Sphärenmusik und Schönheit! In hellem Sonnenschein liegt der Orangenhain. Dort bleibt
auch uns're Liebe ewig grün. Wo die Orangen blüh'n!
- Vgl. auch Mignon, Waltz, Text von Kurt Schwabach, 2. Jg., H. 10:
1. Du bist jung und schön und ich muß gestehen, keine Frau ist so charmant wie du, keine
Frau ist so interessant wie du! Auf die andern Fraun will ich niemehr schaun, sondern schreib'
dir dies Gedicht, das von Liebe spricht:
2. Ob du vor mir fliehst, oder zärtlich grüßt, wenn dein glühend heißer Blick mich streift, ist's
als ob ein Stückchen Glück mich streift! Ob den Kopf du neigst, oder träumend schweigst, oder
lächelst halb' im Scherz, immer fühlt mein Herz:
Refrain: Mignon, du Märchen einer Sommernacht, Mignon, nur du bist mein Geschick,
Mignon, für dich hab' ich dieses Lied gemacht, Mignon, das Lied von unserm Glück, Mignon,
ich bin aus einem Traum erwacht, Mignon, warum bist du mir fern? Komm' doch, du Märchen
einer Sommernacht ... Denn ich hab' die Märchen so gern!
Deutsche Klassiker-Parodien 65
Karl Kraus und Heinrich Mann lassen keinen Zweifel, daß sie mit derlei Faktum
einen markanten Zug der zeitgenössischen 'öffentlichen Seele' erfaßt haben. Ber-
tolt Brecht bestätigt sie darin, wenn er 1929 im Gespräch über Klassiker zum
Berliner Kritiker Herbert Ihering sagt:
Als ich vor kurzem Ihre Broschüre über die Klassiker 'Reinhardt,
Jessner, Piscator oder Klassikertod?' in die Hand nahm, dachte ich
zuerst, es werde wohl eine Attacke gegen die Klassiker sein ... eine
Art Klassikermord. Aber als ich Ihre Broschüre dann las, sah ich,
daß Sie nicht mordeten, sondern lediglich feststellten, daß die Klas-
siker schon gestorben sind. Wenn sie nun gestorben sind, wann
sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Krieg gestorben.
Sie gehören unter unsere Kriegsopfer. Wenn es wahr ist, daß Sol-
daten, die in den Krieg zogen, den 'Faust' im Tornister hatten - die
aus dem Krieg zurückkehrten, hatten ihn nicht mehr.
Im selben Gespräch stellt Brecht die nachlassenden Kräfte der bürgerlichen Bil-
dungstradition zum Ende des neunzehnten, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun-
derts in unmittelbare Relation zur inneren Verfassung des Bürgertums als herr-
schende Klasse, als gesellschaftsbildende und gesellschaftstragende Schicht. Den
Prozeß kommentierend, der auch uns - sozusagen als Komplementärvorgang und
Abfallprodukt des eigentlichen Gegenstands der Klassiker-Parodie und Klassiker-
Satire - beschäftigt hat, merkt Brecht an:
Und hier wiederum stützt Kraus den nachgezogenen, aus der Situation der späten
zwanziger Jahre bestätigten Befund Brechts, indem er zu seiner Zeit einschlägiges
Material en masse gesammelt und der blinden Zeitgenossenschaft in seiner
Fackel präsentiert hat. Ich greife willkürlich das folgende Beispiel heraus, das die-
selbe Symptomatik beansprucht, wie sie Unter allen Wassern ist - U und die
anderen Nachtlied-Versionen haben. Auf die Nachricht vom Aufführungsverbot
eines Strindbergschen Dramas reagiert Kraus mit einem Bericht zur Berliner
Theaterszene, der offensichtlich die Gegenrechnung aufmacht, die hinter derlei
Staatseingriff in die Literatur zu sehen ist; Vergnügungsindustrie als Kulturbar-
barei:
Um das verwirrte Publikum, das plötzlich nach Schneider-Duncker
verlangt und aus dem gellende Hilferufe: 'Schneider-Duncker soll
komm'n!' hörbar werden, zu beruhigen, tritt Schneider-Duncker auf
und muß sich zu Zugaben entschließen. Nachdem hierauf eine
Dame ein Lied über eine Hinrichtung gesungen hat, fordert unver-
mittelt ein Konferenzier oder sonst ein vifer Bursche das Publikum
auf, ihm Zitate aus Klassikern zuzuschmeißen, aus denen er sofort
bereit ist ein Gedicht zu machen; er übernimmt jede Garantie. Ei-
ner ruft infolgedessen immer wieder: 'Durch diese hohle Gasse muß
er kommen!' Er besteht darauf. Eine innige Mädchenstimme
wünscht: '0 schmölze doch dies allzu feste Fleisch!' Der Dichter
ist ratlos, der Fall ist ihm noch nicht vorgekommen. Er scheint
aber immerhin, wenn alle Stricke reißen, sich so aus der Affaire zu
ziehen:
Durch diese hohle Gasse muß er kommen -
der Kellner nämlich, schon hört man Geräusch -
aber das Essen ist nicht zu genießen -
o schmölze doch dies allzu feste Fleisch -
Ich breche hier ab! - nehme aber die Gelegenheit wahr, da der Gegenstand selbst
uns noch einmal mit Schillers Tell-Monolog konfrontiert, daran eine kurze, ab-
schließende Bemerkung anzuhängen. Wie vielleicht noch gegenwärtig ist, hatte
ich einleitend Schillers
43
Karl Kraus, Die Fackel, Nr. 413n, S. 15.
Deutsche Klassiker-Parodien 67
Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen. Wenn ich
es recht überlege, führt kein andrer Weg nach Küßnacht. Hier muß
es sein. Es ist vielleicht ein Wahnsinn, zu sagen: Hier muß es
sein, aber die Tat, die ich vorhabe, bedarf des Wahnsinns.44
44 Robert Wals er, Tell in Prosa, in: R. W., Aufsätze, Kleine Dichtungen, hrsg. v. earl Seelig,
Genf, Darmstadt 1953, S. 46ff. - Als eine frühe Parodie auf den Tell-Monolog gebe ich Gustav
Schneidereit, Der triumphierende Federheld, zit. nach Das Buch deutscher Parodien und
Travestien, a.a.O., S. 267f.:
In diese hohle Zeitschrift muß es kommen;
Es gibt kein andres Blatt für Schmähung. (... )
Aus den zwanziger Jahren vgl. Hans Reimann, Teils Monolog, von Max Pallenberg, in: H. R.,
Von Karl May bis Max Pallenberg in 60 Minuten, München 1924, S. 93f.:
Durch dieses hohle Gäßchen muß er kommen. Er muß durch dieses Hohlgefäß von Gäßchen
kommenen. Er muß kommenen. Durch diese kahle Hose. Es führt kein andrer Weg nach
Steinaych, nach Steinach, nach Professor Steinach, nach Küßnacht ... jaja, traun, küß nacht -
und die Welt ist mein. I Es küßt kein andrer durch die Nacht. Gott, wie praktisch. I Die
Gegenheit ist künstlich, ein Geschäft zu verrichten. Dort der Holunderstrauch, der fliegende
Holländerstrauch, der Friedrich Holländer-Strauch, der Burgunderstrauch verbirgt mich dem
P.P.Publikum. etc.
68 "Durch diese hohle Gasse muß er kommen ... "
Möglichkeiten noch parat hat, als sie für den Augenblick ins Auge gefaßt wer-
den. Damit changiert der Status von Person, der Charakter von Tat, Situation
und dramatischer Handlung. Die banalisierende Prosaauflösung des Klassiker-
Zitats führt jedoch nicht zur Trivialisierung der Szene insgesamt, sondern treibt
die Tatsache, daß es sich um einen Fall von Wahnsinn handelt, verstanden als
Aus-sieh-Heraustreten, nur um so stärker hervor. Insofern rettet sich das Klassi-
ker-Zitat über die parodistisch-satirische Invektive hinweg und kommt auf einer
neuen Reflexions- und Bewußtseinsstufe zu sich selbst. Ein Schlußsatz noch:
wenn man will, trifft sich hier Robert Walser mit Heinrich Heine, Karl Gutz-
kow, Georg Herwegh, Amo Holz, Karl Kraus und sicher auch Bertolt Brecht, die
bei aller armierten Kritik doch gerade durch diese Kritik immer auch ein Teil
deutscher Klassik in Schutz zu nehmen, für sich und eine weitere Entwicklung
zu bewahren suchten.
KARIKATUR UND PHYSIOGNOMIK
Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke, hrsg. v. R.M. Wemer, Berlin 1901 ff., Tagebücher Il,
2884, 2785 u. 2870.
70 Karikatur und Physiognomik
" .1,.10
Travies, Das Fest ist großartig gewesen und die Freude allgemein, 1832.
Karikatur IDld Physiognomik 71
Der Auseinanderfall der Stadt Paris in ihre Ober- und Unterwelt, wie ihn Sue's
Geheimnisse zur spannenden Romanhandlung erheben, begegnet bei Daumier
und Travies - satirisch ins Politische zugespitzt - bereits in der Phase ihrer Mit-
arbeit an der Zeitschrift La Caricature (1830-1835). Besonders instruktiv ist die
Tafel 195 in Nr. 95 von Travies, erschienen Juli 1832, als Charles Philipon, der
Herausgeber des Blattes und selbst ein wichtiger Karikaturist, inhaftiert war. Die
Trennungslinie zwischen 'oben' und 'unten' markiert hier das Gegeneinander von
Ball-Festivität und Kerker-Elend. Durch die Gruppen der Ballgäste schreitet - der
Kopf die markante 'Birne', eine Erfindung Philipons, die unter den Karikaturisten
der Zeit rasch allgemein wurde - Louis Philippe als der Gastherr davon. Den
Posen der falschen Etikette und leeren Politesse im Angesicht des Bürger-Königs
und der unverhohlenen Gier hinter seinem Rücken sind in den unterirdischen
Gewölben unter den Gefangenen die Haltungen tiefer Verzweiflung, kamerad-
schaftlicher Solidarität und - als Figur zurückgenommen hinters Dunkel der lin-
ken Säule, auf die das Lichtmuster des Kellergitters fällt - des Protests und der
Auflehnung zum Kontrast gegeben. - Den derart abgesetzten und versetzten
Sujets, über deren inneren Zusammenhang dennoch kein Zweifel besteht, ent-
sprechen deutlich kontrastierte Stilmittel. Karikatur im eigentlichen Sinn ist nur
die obere Bildhälfte: das Kerkerbild hat seinen Stellenwert innerhalb der Anfange
des sozial und politisch engagierten Kunst-Realismus der ersten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts und erhält von dort her seine Bedeutung. Ähnliche Umbrü-
che, Montagen oder Ineinsnahmen wiederholen sich dann auch in anderen Blättern
und dokumentieren so eine wichtige Bindung der Karikatur, die man auch dort
nicht außer acht lassen darf, wo sich das karikaturistische Moment, das ja sowohl
bei Daumier wie bei Travies eindeutig dominant ist, verselbständigt und deshalb
separiert und gesondert ins Auge gefaßt werden kann.
Hebbels Metapher von der 'Tiefe des Meeres' stellt sich für Travies konkret
politisch als Abgrund von Verfolgung, als Gefängnis dar. Auch bei Daumier
geben die Opfer des Restaurations- und Reaktionsprozesses nach 1830 die Per-
spektive frei für den Blick auf das Proletariat und die Kämpfe des Proletariats. Ich
erinnere an so bekannte Blätter wie Der Mord in der Transnonaingasse (Asso-
ciation mensuelle, Tafel 24, Delteil 135), nach Philipon "keine Karikatur,
sondern eine blutgetränkte Seite unserer modemen Geschichte"2, Gestorben für
die Freiheit am 27., 28 .• 29. Juli 1830, Daumiers Beitrag zur letzten Nummer
der Caricature, August 1835 (DelteiiBO), oder Pressefreiheit. Rührt nicht dran!.
(Association mensuelle, Tafel 20, Delteil 133), im Zentrum die leicht überdi-
mensionierte Gestalt des abwehrbereiten Buchdruckers mit aufgekrempelten
Ärmeln und geballten Fäusten, Muster für zahlreiche spätere Proletarierdar-
stellungen, zwei karikaturistische Gruppen - abzielend auf Justiz und Krone - im
Hintergrund. Gegen Travies und überhaupt gegen die Mitstreiter der Caricature
2 Zit. nach Wolfgang Balzer, Der junge Daumier und seine Kamp/gefährten, Dresden 1965, S.
238.
72 Karikatur und Physiognomik
hebt sich Daumier durch seine starke Konzentration auf Einzelfiguren und die
damit verbundene 'dramatische' Zuspitzung der jeweiligen Thematik ab: bei annä-
hernd gleichem Ansatz kommt es zu doch recht unterschiedlichen Visualisie-
rungen und Instrumentierungen der Kritik. Zum unmittelbaren Vergleich mit der
besprochenen Caricature Tafel 195 von Travies eignet sich Daumiers Galilei
heute. Und sie bewegt sich doch! (Caricature, Tafel 436, November 1834): wo
Travies den Gegensatz zwischen Herren und Opfern der Geschichte, zwischen
Unterdrückern und Unterdrückten ganz über die breite und facettierte Entfaltung
der Szene laufen läßt und damit 'episch' arbeitet, geht Daumier auf das konzen-
trierte szenische Moment, die szenische Figuration, agiert also als 'Dramatiker'.
Die unterschiedlichen Haltungen der Gefangenen bei Travies mit ihren unter-
schiedlichen Aussagen schießen bei Daumier in der Figur des einen Gefangenen
zusammen, wie umgekehrt die unterschiedlichen Kräfte der Gewalt in dem einen
Juristen - dem Untersuchungsrichter - manifest werden. Die größere Bedeutung,
die den Einzelfiguren beigemessen wird, schlägt sich in größerer Differenzierung
nieder. Hinzukommt das allegorische Moment, das den dargestellten Vorgang in
die Geschichtsperspektive erhebt und klar zu erkennen gibt, auf welche Seite sich
Daumier stellt, für wen er Partei ergreift: als Licht- und Zukunftserscheinung für
die eine, als Menetekel für die andere Partei läßt er an der Kerkerwand die
Freiheitsgöttin erscheinen und die Jahreszahlen hinauf ihre Bahn ziehen. In die
Bildmitte gerückt, verkörpert sie in der ansonst reichlich starren Szene das einzig
reale Bewegungsmoment, Aktion. - Kritischer Realismus, satirische Karikatur
und politische Allegorie bilden bei Daumier eine feste Einheit: eben deshalb
kann bald das eine, bald das andere Moment dominant werden.
Auf die große Bedeutung, die für die karikaturistische Entwicklung Daumiers
das frühe Caricature-Blatt Masken (Tafel 145, März 1832) hat, ist in der ein-
schlägigen Literatur verschiedentlich hingewiesen worden: es konfrontiert uns in
serieller Anordnung mit fünfzehn Gesichtern, die seltsam von ihren Köpfen und
Körpern abgelöst erscheinen. Der Eindruck einer 'Muster-Kollektion' trägt nicht
unwesentlich zur satirischen Gesamtwirkung bei: es handelt sich um Aufspie-
ßungen. In der Bildmitte erkennen wir die 'Birne', das von Philipon entwickelte
Karikatur-Symbol für Louis Philippe, das wir bereits von Travies her kennen.
Die dem Obststück einbeschriebenen Gesichtszüge des Regenten verweisen
zurück auf die Verwandlung des Gesichts in das Obststück bei Philipon, als
Demonstration entworfen während der Gerichtsverhandlung im November 1831,
danach sowohl in der Caricature (Beilage zu Nr. 65, Januar 1832) wie im
Charivari (1833) veröffentlicht. Wenn man die erste Zeichnung, die Louis
Philippe ähnelt, verurteilen wolle, heißt es in der Erklärung zum Skizzenblatt,
müsse man auch die nachfolgenden Zeichnungen - bis hin zur 'Birne' - verbieten.
Wie gesagt, der Effekt war: wo immer in der Folgezeit das Birnensymbol als
satirische Abbreviatur benutzt wurde, wußte man, wer gemeint war und wie es
gemeint war, ohne daß die Verfolgung einen rechten Hebel zum Eingriff in der
Hand gehabt hätte.
Karikatur und Physiognomik 73
Daumier hat - wie alle Mitarbeiter an der Caricature - mit der 'Birne' gear-
beitet: das Masken-Blatt belegt es. Im übrigen aber ist er andere Wege gegangen:
auch das stellt das Masken-Blatt unter Beweis.
Wie für die realistische Werkkomponente Travies beizuziehen war, so läßt
sich hier Grandville als Kontrastfigur hernehmen. In den unter dem Titel Schat-
tenbilder laufenden Blättern aus dem Jahr 1830 (Caricature Nr. 2 und 3) läßt
Grandville einzelne - in sich schon satirisierte - Figuren oder Figurengruppen an
einer hellen Wand vorbeilaufen, auf die sie ihre Schlagschatten werfen: aus den
typischen Vertretern des Bürgerkönigtums werden so Tierfiguren wie Puter und
Schwein oder satirische Zeigefinger wie Satan und Saufkrug. Zwei für Grand-
villes Karikatur zentrale Komponenten sind da in einem Blatt zusammengenom-
men und zu gemeinsamer Wirkung gebracht: die Entlarvung mittels Tiersym-
bolik und die Addition von Einzelkarikaturen zur karikaturistischen Reihe, den
sogenannten Politischen Prozessionen, die von Grandville die ganze Caricature-
Zeit hindurch als satirische Organisations- und Strukturform immer wieder vari-
iert werden.
Diese Processions Politiques sind definiert als lange, in mehreren Fortsetzun-
gen erschienene Bildstreifen, in denen die Personen friesartig aneinandergereiht
werden: ihnen nähert sich Daumier - durch direkte Übernahme des Prozessi-
onsschemas etwa in einem Blatt wie Der Einzug des Marschalls Lobau in die
Pairskammer (Caricature, Tafel 299/300, August 1833) - gelegentlich an. 'Bild-
streifen, in denen Personen friesartig aneinander gereiht werden': diese Charakte-
risierung trifft jedoch auch auf das Masken-Blatt und seine Weiterentwicklung,
vor allem hin zu Le ventre LegisLatij. Aspect des bancs ministeriels de La
Chambre improstituee de 1834 (Der gesetzgebende Bauch. Blick auf die mini-
steriumstreuen Bänke der nichtprostituierten Kammer von 1834, Association
mensuelle, Tafel 18, Januar 1834), zu. - Einer der Hauptunterschiede zu Grand-
ville ist darin zu sehen, daß Daumier fast durchweg darauf verzichtet, mit den
Mitteln der Tiersymbolik zu arbeiten, das heißt, daß er es ablehnt, sich mit dem
Betrachter über ein vorgegebenes Bezugssystem, ein festgelegtes Raster - eben
die zum satirischen Zweck eingesetzte Tiersymbolik - zu verständigen. Die Tiere
und sonstigen Symbolzeichen, die da bei Grandville als Schattenbilder von
Personen auftauchen, sind sprechende 'Identifikations-Muster': mit ihrer Hilfe
assoziieren wir Trunksucht, Stolz, Perfidie, voller Bauch und enges Hirn. - Wie
aber sind Daumiers Karikaturen zu lesen, und wie sind sie zur Zeit ihrer Ent-
stehung gelesen worden?
Einen wichtigen Hinweis verdanke ich Charles Baudelaire. In seinem Aufsatz
Einige Karikaturisten Frankreichs von 1857 führt er über Daumiers politische
Porträts der Jahre 1832/33 aus: "Hierbei offenbart der Künstler ein wunderbares
Verständnis für das Porträt; obwohl er die Züge des Urbildes aufträgt und über-
treibt, wahrt er doch so sehr ihre Naturgetreuheit, daß diese Blätter dem
Porträtisten als Vorbild dienen könnten. Alle Armseligkeiten des Geistes, alles
Lächerliche, alle Narrheit des Verstandes, alle Laster des Herzens sind da her-
74 Karikatur und Physiognomik
, .
auszulesen und lassen deutlich auf den Gesichtern ihre tierischen Instinkte sehen;
und dabei ist alles schwungvoll gezeichnet und herausgearbeitet. Daumier war
geschmeidig wie ein Künstler und genau wie Lavater". - Robert Macaire gilt
Baudelaire als entscheidender Schritt zur "Sittenkarikatur": "Von da an schlug die
Karikatur eine neue Richtung ein und war nicht mehr nur ausgesprochen poli-
tisch. Sie wurde eine Satire auf alle Bürger. Sie betrat den Herrschaftsbereich des
Romans"3.
Wenn Friedrich Hebbel in den einleitend aufgeführten Zitaten von "physio-
gnomischen Studien" spricht, zu denen in Paris wie kaum an anderem Ort
Gelegenheit sei, so liefert er uns zum Namen, den Baudelaire hinwirft, den
Begriff. Statt "genau wie Lavater" kann man auch sagen "genau wie die Physio-
gnomiker" oder "genau wie die Physiognomik als intendierte Wissenschaft".
Bekanntlich hatte Johann Kaspar Lavater zwischen 1775 und 1778 die vier Bände
seiner Physiognomischen Fragmente erscheinen lassen und war damit rasch eine
europäische Berühmtheit geworden. Dem Untertitel nach - Zur Beförderung der
Menschenkenntniß und Menschenliebe - zielt das Werk aufs politische Weltver-
halten, 'politisch' hier zu verstehen etwa synonym mit 'öffentlich', 'gesellschaft-
lich'. Der Entwurf steht im Zusammenhang der bürgerlichen Emanzipations-
bewegung des achtzehnten Jahrhunderts, wurzelt allerdings stärker in der Emp-
findsamkeit als in der Aufklärung. Gerade aus ihrer Richtung ist ihm denn auch -
wie Lichtenbergs Streitschrift Über Physiognomik wider die Physiognomen und
die Satire Fragment von Schwänzen4 zeigen - heftig in die Parade gefahren
worden: und speziell die Karikatur des neunzehnten Jahrhunderts macht denn auch
von der Lavater'schen Physiognomik einen überraschend-eigenwilligen, wenn
nicht gar gegenläufigen Gebrauch!
Lavater begreift Physiogomik als "Fertigkeit, durch das Äußerliche eines
Menschen sein Inneres zu erkennen; das, was nicht unmittelbar in die Sinne fällt,
vermittelst irgend eines natürlichen Ausdrucks wahrzunehmen"s - so das zweite
Fragment des ersten Bandes. Wo er ideale Physiognomien entwirft und als
Muster gibt, hält sich Lavater an Raffael und schließt sich mehr oder weniger
eng an Vorstellungen an, wie sie Johann Joachim Winckelmann von antiker
Plastik abgenommen und in seinen Schriften unter der Formel 'edle Einfalt' und
'stille Größe' der deutschen Klassik als Bestimmung gegeben hatte. Wo er den
Gegentypus abhandelt, bezieht er sich hingegen auf William Hogarth oder Daniei
Chodowiecki: die Muster selbst wie die Beschreibungen, die er liefert, dürfen also
auch wieder auf Karikaturen zurückbezogen werden. Denn es geht ja dabei nicht
so sehr um eine wirkungsgeschichtliche Zuordnung, sondern um historisch
gebundene Wahrnehmung, aus der Karikaturistisches abgeleitet werden kann und
auf die hin Differenzierungen stattfinden können. Mit dieser Absicht gebe ich
gleich aus dem ersten Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine
Vignettenleiste mit Köpfen zur geflissentlichen Betrachtung:
Man verweile einige Augenblicke bey der Vignette, (...), sie wird
Mitzeugniß der Wahrheit der Physiognomie und zugleich
Bestätigung der bisher behaupteten Harmonie seyn. / (...) Wer sie-
het nicht, wer kennt nicht die Verschiedenheit dieser fünf
Gesichter? Welches Kind wird nicht wenigstens alsdenn die
Wahrheit der Physiognomie empfinden, wenn man ihm den
Character derselben nennt? Man mache den Versuch mit einem
Kinde, das nur fahig ist, die Bedeutung der Worte zu fassen; man
geb' ihm folgende fünf Namen in die Hand, und heiß' es zu jedem
Gesichte denjenigen legen, der ihm zukommt. - Man sage ihm:
»Unter diesen fünfen ist ein leichtsinniger süßer Geck! Ein stolzer
Windbeutel! Ein Trunkener! Ein Geizhals! Ein geiler Bock!« - Es
wird schwerlich irren, und diese Namen unrecht vertheilen. 6
Daß solche und ähnliche Charakterisierungen, wie wir sie von Lavater erhalten,
ohne große Schwierigkeit auf Daumiers Karikaturen übertragen werden können,
liegt auf der Hand: hier wie dort findet eine Reduktion auf Grundrnuster der Ge-
sichtsbildung und Mimik statt, die gleichwohl die Reproduktion von Individuali-
tät nicht ausschaltet, sondern - im Gegenteil - überhaupt erst ermöglicht. Gegen-
über dem achtzehnten Jahrhundert eskaliert jedoch zweifellos das politische
Moment, 'politisch' jetzt verstanden als 'engagiert', 'parteilich'. Unmittelbar
anschließend an das Masken-Blatt von 1832 und als notwendige Zwischenstufe
zu Le ventre legislatif von 1834 liefert Daumier eine längere Kette politischer
Einzelporträts und Einzelfiguren, in denen das physiognomische Prinzip voll
zum Durchbruch kommt. "Bis zu diesem Moment", merkt Erich Knauf in
seinem Daumier-Buch an, "war die politische Karikatur herzlich unbedeutend
gewesen, Fratzenmalerei, verzeichnete Gesichter und Gestalten. Das
Charakteristikum liegt aber nicht in der Fratze und nicht in der Verzeichnung, es
liegt in der schonungslosen Erfassung und Unterstreichung der wesentlichen
Züge einer Figur und eines Vorgangs". Und sehr richtig heißt es: "Die
6
A.a.O .• S. 78.
Karikatur und Physiognomik 77
Entstehung dieser Karikatur fällt zeitlich zusammen mit der Entstehung des
naturalistischen Stils"7. - Der Hauptunterschied gegenüber Lavater ist wohl darin
zu sehen, daß bei Daumier der idealistische Part der 'Physiognomik' quasi
abgeschnitten wird. Damit ist freilich das ganze System auf den Kopf gestellt,
denn natürlich war die ausführlichere Entfaltung der Gegen- und Kontrasttypik als
Grenzmarkierung gedacht, als Abgrenzung: nun wird sie aber für alles
Reputierliche und Staatserhaltende hergenommen und verlegt sich auf die
Verspottung des Bürgers durch alle Masken hindurch.
Konkret läßt sich Daumiers frühe Karikatur auf die vehemente Porträtierwut
der Zeit beziehen, von der wir eine recht anschauliche Nachricht durch Henry
Monnier haben, selbst Karikaturist und mit Daumier befreundet. Nach der Juli-
Revolution wandte er sich der Schriftstellerei zu. Das fünfte Kapitel seiner
Geschichte des Spießbürgers behandelt Des Bürgers übertriebene Liebe zu
Porträts und seine Beziehungen zu den Künstlern. Dort lesen wir unter anderem:
"Wenn ein Bürger gar nicht weiß, wie er seine Zeit passend anwenden soll, so
läßt er sich 'abnehmen'. Das wird dann eine seiner Hauptbeschäftigungen, eine
wahre fixe Idee, direkt ein Bedürfnis. (... ) / Madame bekommt das Porträt ihres
Gatten, Monsieur das Porträt von Madame 20, 30, 40 mal, oft noch häufiger, es
nimmt gar kein Ende. Ihre Porträts schmücken die Knöpfe der Spazierstöcke, die
Griffe der Regen- und Sonnenschirme, sie verschönern die Busen- und Magen-
gegend, die Brusttücher und die Halskrausen. In der ganzen Wohnung gibt es
keinen Winkel, der nicht mit ihren Bildern austapeziert ist. Sogar an den Orten,
an denen man keinen Kunstgegenstand anzutreffen erwartet, hängen ein oder
mehrere Porträts der Herrschaften des Hauses". Öl, Schattenriß, das neu entdeckte
Lichtbild und sogar die neu erstarkende Bildhauerkunst dienen sich dem Bürger
zur Befriedigung seiner Leidenschaft an. "Nur seine Karikatur hat er nicht
gewollt", läßt uns Monnier wissen: "Doch der Unverstand des Künstlers hat sie
in den Schaufenstern der beliebtesten Läden inmitten der zeitgenössischen
Berühmtheiten ausgestellt"8.
In dem Maß, in dem das Bürgertum Kunst nur noch zum privaten 'seelischen
Komfort' benötigt, sind die Künstler, die sich nicht in die allgemeine Korrum-
pierung hineinziehen lassen, sondern am emanzipativen Auftrag der Kunst
festhalten und ihren kritischen Wert propagieren, geradezu gezwungen, in die
Satire zu gehen, denn: die Wirklichkeit selbst ist zur Karikatur geworden. Dieser
politisch-gesellschaftliche Bezug ist ein wichtiger Faktor für die Darstellung der
Geschichte der bürgerlichen Kunst in den letzten anderthalb Jahrhunderten; die
zunehmende Hinwendung zur satirischen und karikaturistischen Kunst - von der
bürgerlichen Ästhetik durch Nichtbeachtung gestraft - hat Indizcharakter. Mit
Bezug auf Karl Kraus, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Kritiker
und Satiriker in einer ähnlichen Position gesehen werden kann wie Daumier in
7
E. Knauf, Daumier, Berlin 1931, S. 30.
Henry Monnier, Geschichte des Spießbürgers, Berlin 1919, S. 4lff.
78 Karikatur und Physiognomik
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, hat deshalb Bertolt Brecht davon
gesprochen, daß, als das Bürgertum Hand an sich legte, eben Karl Kraus diese
Hand gewesen sei. Man muß der Zeit, da sie sich nicht verstellen kann, gar nicht
erst die Maske vom Gesicht reißen: sie trägt den Schimpfnamen als Brandmal
offen daher. Vielleicht darf man diesen Gedanken so auch auf Daumier herüberzie-
hen. - Daß Daumier nicht beim Geschäft, dem Bürgertum den Spiegel vorzuhal-
ten, stehen geblieben, sondern zugeschritten ist auf die aus den Klassenkämpfen
aufsteigende neue Klasse des Proletariats, wobei sich parallel zur Karikatur ein
neuer Realismus bei ihm entwickelt, habe ich in den einleitenden Anmerkungen
aufgezeigt und herausgestellt auf sie verweise ich hier zurück.
Daß die Festlegung der Karikatur auf die karikierende Physiognomik, wie sie
Daumier vorgenommen und weitergetrieben hat zur Situations-Karikatur, in der
Porträtkarikatur voll zum Zuge kommen kann, hat in der Geschichte der euro-
päischen Karikatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts seine Spuren
hinterlassen. Ich hebe für Frankreich den ausgesprochenen 'Porträt'-Karikaturisten
Camara und seine thematisch gebundenen Hefte der L 'Assiette au Beurre heraus
und erinnere für die deutsche Karikatur nach dem Ersten Weltkrieg an George
Grosz und sein MappenwerkDas Gesicht der herrschenden Klasse, das sich allein
schon durch seinen Titel in den von uns angerissenen Zusammenhang von
Karikatur und Physiognomik einordnet. - Aufzunehmen und zu verifizieren bleibt
noch Baudelaires Hinweis darauf, daß Daumier, indem er die politische Karikatur
in die 'Sittenkarikatur' gewendet habe, in den Herrschaftsbereich des Romans
eingedrungen sei.
In den Jahren unmittelbar vor dem Erscheinen der Geheimnisse von Paris hat
Daumier mehrere kleine Broschüren illustriert, die man - mit Baudelaire - als lite-
rarisierte Sittenkarikaturen, als humoristisch-satirische Sittenbilder kennzeichnen
kann. Es handelt sich um essayistisch aufgezogene, gesellschafts- und sozialkri-
tische Erzählstudien zu bestimmten Prototypen der bürgerlichen Gesellschaft,
darunter - wie könnte es anders sein - Robert Macaire, literarisch fixiert durch
James Rousseau. Die 'Physiologie' jeder dieser Figuren ist so angelegt, daß wir
in der Verallgemeinerung doch jeweils eine größere Zahl all der standesmäßigen
und individuellen Aufspaltungen des Typus präsentiert bekommen, wie uns ja
auch Robert Macaire als Repräsentant seiner Klasse vorgeführt wird "als Rechts-
anwalt, Dramatiker, Philantrop, Notar, Journalist, Rechtsbeistand, Arzt, Chemi-
ker, Geldverleiher, Gerichtsvollzieher, Wahlkandidat, Apotheker, Schuldner,
Makler, Homöopath, Minister, Pole, Savoyarde, Literat, Lebensretter und Wohl-
täter der Menschheit" und zuguterletzt "als Toter"9. Man sieht die generelle Ten-
denz der Karikaturen Daumiers, Allgemeines und Besonderes, 'Urbild' und
'Abbild' in ein kompliziertes, aber immer zielgerichtetes Wechselspiel zu setzen,
ist in der literarischen Entsprechung einigermaßen gewahrt; zum Teil sind die
Inhaltsverzeichnis, zit. nach: Honore Daumier. Robert Macaire. Der unsterbliche Betrüger,
übers. durch M. Spiro, Berlin 1921.
80 Karikatur und Physiognomik
Die Zivilisation hat die Menschen nach drei großen Kategorien ge-
ordnet ... Es wäre uns nun natürlich ganz leicht, diese Kategorien
nach der Schematik des Herrn Charles Dupin in schönen Farben
anschaulich zu machen. Aber da der Charlatanismus ein Widersinn
in einem Werk der christlichen Philosophie, wie es das vorliegende
ist, wäre, so wollen wir es uns schenken, die Malerei mit der
Algebra zu vermischen, und uns dafür bemühen, die geheimsten
Gesetze des eleganten Lebens so auszusprechen, daß selbst unsere
Widersacher, die Leute in ausgetretenen Schuhen, uns verstehen
können. Die drei großen Gruppen von Wesen, die das moderne
Leben geschaffen hat, sind also:
- Der Mensch, der arbeitet;
- der Mensch, der denkt;
- der Mensch, der nichts tut.
Daher ergeben sich dann drei Lebensformen, die umfassend genug
sind, um alle Arten der Existenz zu umschließen, angefangen von
dem poetischen und ein wenig vagabundenhaften Roman des
Bohemiens bis zu der einförmigen Geschichte der konstitutionellen
Könige, bei der man einschläft, nämlich:
- Das Arbeitsleben;
- das KünstIerleben;
- das elegante Leben. lO
10
Honore de Balzac, Beamte, Schulden, elegantes Leben, hrsg. von Wolfgang Drost u. Karl Riha,
FrankfurtIM. 1978, S. 187f.
Karikatur IBId Physiognomik 81
strukturiert: in der Breite der Gegenstände, die er erfaßt, wie in der Präzision und
Exaktheit, mit der er sie erfaßt, steht er hinter Balzac nicht zurück. Mit gewis-
sem Recht sind deshalb die Karikatur-Physiognomien Daumiers immer wieder
zur Illustrierung der Roman-Physiologien Balzacs benutzt worden. Umgekehrt ist
es kein Zufall und überrascht nicht, daß man bei Balzac Beschreibungen von
Szenen und Figuren vorfindet, die geradezu als Kopien Daumier'scher Karikaturen
dastehen. Ich zitiere abschließend aus Balzacs Physiologie des Beamten das achte
Kapitel, Beschwörung überschrieben. Der Text bietet sich an, weil in ihm in
etwa an denselben Fäden gezogen wird, an denen auch ich gezogen habe; er macht
deutlich, daß es im literarischen Bezug, der sich herausstellen läßt, nicht darum
geht, Kunst durch Kunst zu erklären. Beschwörung meint so viel wie 'Aufruf,
und aufgerufen sind die Karikaturen Daumiers:
Und nun erscheint, Ihr Gestalten, aU' Ihr roten und fahlen, Ihr frat-
zenhaften und gravitätischen, Ihr müden, welken, enttäuschten,
traurigen, zerzausten und grauhaarigen Physiognomien,
duckmäuserisch bornierte oder Männer, von deren Ruhm keiner
sagt, wenn Ihr auch ein Ordensbändchen habt; die Ihr unsere
Regimenter und Flotten in Bewegung setzt, unsere Geldstücke
einsammelt, Städte und Länder überwacht, Paris approvisioniert,
für Gewissen und Begabung Tarife festsetzt, Bilder und Statuen
bestellt, Beamte in Pension schickt, Charaktere und Fähigkeiten
jener Männer einschätzt, die dem Vaterlande dienen, seine
Einnahmen zählt und Produkte bewertet, sein Hab und Gut
verwaltet! ... Und Ihr Passagiere, Obacht! Dies sind die Matrosen
an Bord, wenn, was der 'Constitutionnel' und viele Redner
behaupten, richtig ist: der Staat ein 'Schiff ist"l1.
11
A.a.O., S. 47f. - Honore de Balzac, Physiologie des Alltagslebens, eingel. u. hrsg. v. W. Fred,
München 1912, S. 147.
Honore Daumier, Roben Macaire in der Karikaturenserie Caricaturana, 1838.
DAUMIERS ROBERT MACAIRE
ZUR PHYSIOLOGIEN-LITERATUR
Als politischer Karikaturist hat sich Honore Daumier (1808 bis1879) zunächst in
der Zeitschrift La Caricature und später im - ebenfalls von Charles Philipon
gegründeten - Charivari einen Namen gemacht. Die graphische Satire war hier die
engste Verbindung mit der neuen Kunsttechnik der Lithographie eingegangen, die
zwar bereits zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt worden war, aber
erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts - besonders für 'aktuelle Zwecke'
wie die der Buch- und Zeitschriftenillustration und ganz besonders der Karikatur -
künstlerisch relevant zu werden begann. Daumier ist deshalb vor allem über seine
Lithographien bekannt geworden. Er hat aber auch ein umfangreiches und
interessantes - der Karikatur wie der Buch- und Zeitschriftenillustration verpflich-
tetes - Holzschnittwerlc geschaffen. 1
Zeitlich ungefähr parallel zum Siegeszug der Lithographie vollzog sich die
technische und künstlerische Erneuerung des alten Holzschnitts zur modernen
Xylographie - und nicht allein als wichtiges Reproduktionsverfahren vor der
Erfindung des Klischees. Der Anstoß ging von England und hier von Thomas
Bewick aus; über die Gebrüder John und Charles Thompson erfolgte der Import
des neuen Verfahrens nach Frankreich und Deutschland. In der Entwicklung einer
selbständigen, technisch perfekten Holzschneiderschule nach 1830 in Paris lag der
Grund für die Eskalation dann auch des künstlerischen französischen Holz-
schnitts, dessen Bedeutung markiert ist durch Namen wie Monnier, Gigoux,
Johannot, Travies, Grandville, Gavarni und eben Daumier. - Über den Zusam-
menhang bzw. die Differenz von Lithographie und Holzschnitt im Schaffen
Daumiers notiert Erich Knauf in seiner Monographie: "Daumiers öffentliches
Schaffen fällt mit dem Beginn der Blütezeit des Holzschnitts zusammen. Im
Bunde mit der Lithographie erfüllte der Holzschnitt die Mission, die ihm das
Jahrhundert diktierte. Diese Mission war vor allem eine politische. Er hatte dem
politischen Journalismus zu dienen, besonders dem Pressekampf der Demokratie
gegen das alte System. Daneben hatte der Holzschnitt die Aufgabe, die Umwäl-
zung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu illustrieren. Während die Litho-
graphie infolge ihrer technischen Eigenart auf bestimmte Zeitschriften beschränkt
bleiben mußte, konnte der Holzschnitt ohne große Mühe in den Spalten aller
Journale, Broschüren und Bücher untergebracht werden."2
Ca. 500 Ölbildern. Aquarellen, Handzeichnungen und ca. 4000 Lithographien siehen im
Werk Honorc~ Daumiers ca. 900 Holzschnitte gegenüber. Das Werkverzeichnis der
Holzschnitte: Eduard Fuchs, Honore Daumier, München o. J., 4 Bde., davon Bd. 1,
Holzschniue.
2 Erich Knauf, Daumier, Berlin 1931, S. 57.
84 Dawniers Robert Macaire
Arthur Riimann, Daumier als Illustrator, Drei Jahrzehnte französischen Bürgertums, München
1919, S. 35ff.; ein Verzeichnis der Bücher und Zeitschriften mit Holzschnitten Daumiers hier
S.I07ff.
Daumien Roben Macaire 85
sagt: Die bürgerliche Seele erlebte die denkbar intimste Schilderung, die
Bloßlegung ihrer geheimsten Fasern und Regungen. Jeder Gedanke wurde bis in
seine letzten Schlupfwinkel verfolgt und triumphierend in irgend einer grotesken
Form ans Tageslicht gebracht. Alle Mysterien der bürgerlichen Seele wurden
erlauscht, alle ihre Geheimnisse ausgeplaudert. .. "4
Die facettierte Darstellung des bürgerlichen Lebens diente freilich nicht
ausschließlich harmloser, weil 'allgemein-menschlicher' Sittenkarikatur, sondern
figurierte durchaus auch als verdeckte politische Satire, der gegenüber die Zensur
voll auf dem Plan blieb und wiederholt gegen sie vorging. Als Vorspiel eines
solchen aus der Not geborenen Versteckspiels der Karikatur kann Philipons
Angriff auf Louis Philippe im Symbol der Birne gelten, das er - während des
Prozesses, den man ihm machte, vor seinen Richtern - aus der Physiognomie des
Herrschers zwingend ableitete. Dem Spottsignal folgten nicht nur die Karikatu-
risten der Caricature durch die Bank, jeder Gassenbube hatte nun die Möglichkeit,
mit simpler Kreide auf Häuserwänden politisch-satirisch zu agieren. Wie das
gemeine Obststück stellvertretend für den Bürgerkönig stand, und dieser schein-
bare Abstand sich eher verschärfend als verharmlosend auf die Satire auswirkte,
so konnte gerade bei Daumier nun auch das Bürger-Defilee zur Entlarvung des
herrschenden Systems benutzt und fruchtbar eingesetzt werden. Unter all den
Hauswirten, Straßenbummlern, Theaterhelden und betrogenen Ehemännern, die er
schuf, entwickelte Daumier in dieser Zeit als Typus des skrupellosen Finanzgau-
ners die Figur des Robert Macaire. - Von nun an würden die Bankiers herrschen,
hatte der Bankier Lafitte schon anläßlich der Julirevolution prophezeit; so war
denn die ganze Julimonarchie "nichts als eine Aktien-Kompagnie zur Ausbeu-
tung des französischen Nationalreichtums, deren Dividenden sich verteilten unter
Minister, Kammern, 240 000 Wähler und ihren Anhang. Louis Philippe war der
Direktor dieser Kompagnie - Robert Macaire auf dem Throne. "s
Die Art und Weise, in der Daumier diesen Macaire anpackte und vorstellte,
machte deutlich, daß es ihm wirklich darum ging, das gesamte korrupte System
anzugreifen, und daß die Prügel, die diese Figur bekam, den großen und größten
Gaunern der Zeit gelten sollten, daß es also durchaus legitim war, Robert
Macaire und Louis Philippe in einen Topf zu werfen. Gleichzeitig machte die
Ineinssetzung darauf aufmerksam, daß das Prinzip 'Macaire' nicht auf die herr-
schenden Gesellschaftsschichten beschränkt geblieben war, sondern wie die
Fäulnis den ganzen Volkskörper angesteckt hatte. Auch die unteren Schichten,
die sogenannten kleinen Leute, wurden vom "Taumel der Profitmacherei" erfaßt,
Betrug und Gaunerei waren allgemein als rechtes Mittel zum rechten Zweck
geheiligt: "Macaire ist der Typ des Profitmachers. Also wird er existieren, so-
lange der Profit die menschliche Gesellschaft regiert. Er ist nicht umzubringen,
4 Eduard Fuchs, D~ Karikatur der ewopäischen Vö/ur, 2 Bde., Miinchen 41921, Bd. I, S. 362ff.
S
A.a.O., S. 365. - Die Wendung "Robert Macaire auf dem Throne" wurde durch Kar! Man
geprägt, Die lunirevolution. Neue Rheinische Zeitung, Januar 1950.
86 Daumiers Roben Macaire
solange die bürgerliche Weltordnung besteht. Er gehört zu ihr wie der Zuhälter
zur öffentlichen Dime."6
Daumier hat aber die Macaire-Figur, die er als Lithographien-Serie mit
Untertiteln von Philipon zwischen August 1836 und November 1838 unter dem
Titel Caricaturiana im Charivari vorstellte, nicht selbst erfunden. Es handelte
sich vielmehr um die Umformung einer bereits vorhandenen literarischen Figur,
die im Bewußtsein des Publikums eine feste Kontur hatte. Robert Macaire war
die Hauptfigur des Schauspiels L'Auberge des Adrets von Augier und Amand, das
1823 uraufgeführt worden war und sich durch das schauspielerische Geschick
Frederick (Antoine) Lemaitres, der die Vagabunden und Ganovengestalt des
Helden zum unteinehmerischen Scharlatan wandelte, bis 1835 auf der Pariser
Bühne gehalten hatte: "Durch diese Akzentverlagerung hatte Lemaitre das Schau-
spiel zu einer Zeitsatire und zugleich zu einem Erfolgsstück umgebaut, das nach
seiner 1823 erfolgten Premiere einen ungeheuren Zulauf erlebte. Während dieser
Aufführungsperiode hat er in der Titelrolle als Schauspieler mit der Fähigkeit
zum spontanen Einfall und zur Improvisation die Gestalt des Macaire von Abend
zu Abend um neue kennzeichnende Charakterzüge bereichert. Als das Stück 1835
bei seiner Reprise nach kurzer Zeit von der Zensur verboten wurde, war die
Gestalt bereits Allgemeingut, auch setzte sie ihr Dasein in der Publikation des
Textbuches fort: eine gesellschaftliche Dominante hatte in ihr einen treffsicheren,
sarkastischen Ausdruck gefunden. ''7
Grandville ist wohl der erste gewesen, der in der Karikatur die Attribute der
Theaterfigur Macaire - die schwarze Augenklappe und den zerlöcherten Zylinder -
dazu benutzte, den Bürgerkönig ins rechte Schandlicht zu rücken; Daumier
übernahm den Einfall des Caricatw"e- Kollegen und wiederholte ihn einige Male in
den Jahren 1834 und 1835, als der direkte Angriff auf Louis Philippe noch
möglich war. Jetzt - in den Lithographien zur Robert-Macaire-Serie - konnte er
an den früher schon gezogenen Vergleich erinnern und den Spiegel, vor den er den
politischen Gegner gestellt hatte, für diesen selbst stehen lassen, der sich durch
scharfe Zensur vor jeglicher satirischen Abbildung zu schützen suchte. Über die
bloße Theateradaption ging Daumier aber nun darin entscheidend hinaus, daß er
den Spitzbuben und Lumpenkerl Macaire als stattlichen Mann in mittleren
Jahren gab, unter wechselnden Verkleidungen in die unterschiedlichsten Berufe
steckte und auf diese Weise - über die Anspielung auf Louis Philippe hinaus -
wirklich zum Prototyp des herrschenden Systems und der es kennzeichnenden
bürgerlichen Grundhaltung ausweitete. - Die Erfindung Bertrands als Begleitfigur,
die auf vielen Blättern als Schüler, Spießgeselle und Handlanger Macaires
dargestellt ist, von ihm als Sprachrohr benutzt wird, diesen seinen Herrn aber
6
Knauf, a.a.O., S. 55.
7
Klaus D. Uhhnann, Soziale Stereotypen bei Honore Daumier, Seminararbeit (masch.) 1967, S.
50.
Daurniers Roben Macaire 87
auch entlarvt, kommt als weitere Neuerung noch hinzu, in formaler Hinsicht
wichtig für die dialogische Anlage der Bildunterschriften.
Die Holzschnitte zum Rohert Macaire in den Jahren 1841/42 brachten dann
eine nochmalige Aufnahme des karikaturistischen Sujets und mit ihm eine
Erneuerung des satirischen Angriffs. Texter bzw. literarischer Mitautor war jetzt
nicht mehr Philipon, sondern James Rousseau; durch ihn fanden Thema und
Stoff Anschluß an die Modeliteratur der Physiologien, die sich um 1840 aus
einer beschränkt-kleinbürgerlichen Literaturspezies im Einzugsbereich des aufwu-
chernden und zunehmend Bedeutung gewinnenden Journalismus zunächst ins
Satirische gedreht, dann aber sehr rasch auch realistische Tendenzen im Sinne
einer Erfassung der sozialen Wirklichkeit in sich aufgenommen hatte. Im Hang
zur Durchsystematisierung der Gegenstände folgte man den Naturwissenschaften
und unternahm den Versuch, auf ähnliche Weise auch die Gesellschaft - Volk,
Stadt und Staat, in denen man lebte - etwa nach Ständen, Schichten, Klassen etc.
aufzugliedern, diese in ihren lebendigen Ausfaltungen zu erfassen, konkret-
anschaulich abzubilden und dann auch mit Namen zu versehen, zu benennen,
auszuschildern. Die soziologischen Kategorien waren dabei - gemäß ihrer Ablei-
tung - zunächst durchaus naturhaft-statisch, fixiert auf den Betrachterstandpunkt
des Kleinbürgertums, das in eben diesen Jahren über die eskalierende Entwick-
lung der Presse zu einem entscheidenden Faktor der Literaturentwicklung gewor-
den war. Der Zwang zum geschlossenen Schema, als Darstellungsmuster vorge-
geben, führte dann tatsächlich in die Breite der sozialen Erscheinungen; insbe-
sonders erfaBte man nun auch die bislang unausgeleuchteten Zonen am unteren
Rand des Gesellschaftsspektrums - zum Beispiel die bunte Welt der Dienstboten.
In formaler Hinsicht forderte die 'naturgeschichtliche' Orientierungs Beschreibun-
gen oder Erzählungen in der Form kleiner Essays, Genrebilder, Skizzen und
Augenblicksgemälde, die nur lose miteinander verbunden werden mußten. Die
Ausprägung solcher separat und etwa als Fortsetzungsserie präsentierbaren
literarischen Kleinformen zu einer reichen Palette journalistisch-erzählerischer
Gestaltungsmöglichkeiten ist vor dem Hintergrund der Entstehung des Zeitungs-
feuilletons und überhaupt der Bindung der schönen Literatur an die unterschied-
lichen Ausprägungen der Presse zu sehen, wie sie in den dreißiger und vierziger
Jahren des neunzehnten Jahrhunderts speziell in Frankreich zu beobachten waren.
Die allgemeine Beliebtheit, deren sich diese Artikel und Artikelketten beim
breiten Publikum erfreuten, führte folglich sehr rasch dazu, daß es zu Nachah-
mungen und Gegenangeboten auf dem Buchmarkt kam. Philipon war es, der auch
hier wieder den Anstoß gab: nachdem er die Figur des Robert1Macaire zunächst
einmal an die Karikaturenserie herangeführt hatte, öffnete er ihr nun - wie mit
einem Wort Charles Baudelaires zu zeigen ist - sogar den "Herrschaftsbereich des
Romans".9
8
NatwgeschichJe: so schon die zeitgenössische deutsche ÜberselZWlg für Physiologie.
9 Chades Baudelaire. Aufsätze. München 1960. S. 37.
88 Damnien Rohert Macaire
10
Physiologie des Alltagslebens. Unveröffentlichte Aufsätze von Honore de Balzac, eingel. u.
hrsg. v. W. Fred. München 1912, S. 3f.
11 A.a.O., S. 17.
Daurniers Roben Macaire 89
nicht irgendein Prinzip unter anderen, sondern stellte den Schwindelgeist der
Epoche dar und war deshalb - so im ersten, als Einführung gedachten Kapitel zu
lesen - unter den Angehörigen aller Stände, aller Berufe und jeden Alters
anzutreffen. Das unterstreicht der Holzschnitt, den Daumier unmittelbar vor
dieses erste Kapitel gesetzt hat: "leicht auf seinen Stock gelehnt, die Beine
übereinandergeschlagen, den Hut schief auf dem Ohr, das Auge mit dem
schwarzen Fleck verdeckt", den Daumen der linken Hand ins Ännelloch der
Weste gesteckt, sehen wir Robert Macaire, "und im Hintergrund als verschwom-
mene Silhouetten eine Reihe von Typen seines Zeichens. Ein Kaufmann, ein
Advokat, Musiker, Minister, Bürger etc." Damit ist der Bogen angedeutet, den
uns das schmale Bändchen führt, "eine sehr willkommene Ergänzung und
Bereicherung des Materials über Macaire". Zieht man das letzte Kapitel ab, das
den Helden 'als Toten' vorführt, haben wir es mit insgesamt zwanzig Mutationen
zu tun, aber gerade dieser Schluß sollte ja deutlich machen, daß die mächtigste
Grabplatte nichts vennag: "Er kann nicht tot sein, er wird stets wieder aufleben.
Sein Typ wird nie untergehen, einen 'Robert Macaire' wird es überall und ewig
geben."12
Für diese Behauptung lassen sich konkrete Belege nicht nur aus der
Gesellschaftsgeschichte, sondern auch aus der Literaturgeschichte aufführen. Mir
liegt als willkürlich herausgegriffenes Beispiel - in nahezu derselben Aufma-
chung wie die Original-Physiologien der frühen vierziger Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts in Frankreich - aus dem Jahre 1920 eine deutsche Fortschreibung des
Robert Macaire vor: Max oder die Seelenhaltung des Schiebers. mit Illustra-
tionen von Meister Honore Daumier. In einer Vorbemerkung hat der Verfasser-
Walther Franke - auf die direkte Entsprechung über die Zeiten hinweg ausdrück-
lich hingewiesen: "Robert Macaire heißt der Hochstapler jener Zeit, wie er heute
Max, der Schieber, heißt"13. Die historische Vorlage kam also gerade zupaß, um
den Trend der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ins Bild zu fassen; so frisch
schienen die Illustrationen Daumiers, obwohl es doch längst eine neuere Karika-
tur gab, die sich in Deutschland etwa im Rahmen der satirischen Zeitschrift
Simplicissimus entwickelt hatte. Als Karikaturisten jenseits des Münchener
Satire-Blatts wäre an George Grosz zu denken, dessen Kritik am Schieberwesen
der Zeit unter seinen karikaturistischen Themen hervorsticht und in zahlreichen
Litho-Blättern und Illustrationen festgehalten ist -
Trotz Balzacs Physiologie du Rentier und der hier nachzutragenden Natur-
geschichte des Spießbürgers mit Texten und Illustrationen Henry Monniers darf
Daumier/Rousseaus Physiologie du Robert-Macaire als der Höhepunkt der gan-
zen Physiologien-Literatur gelten. Ihr zur Seite stehen mit Der Dichter (Physio-
logie du Poete), Die Portierfrau (Physiologie de la Portiere) und all den anderen
15
Heinrich Heine, in: Französische Zustlintk und Dk Februa"evolution 1848, in Insel-Heine, 4
Bde., Frankfurt/Main 1968, Bd. 3, S. 178 u. 605.
92 Damniers Robert Mocaire
16
Ludwig Eichler, Berlin und die Berliner, Berlin 184lff., Heft 1, Die Putzmacherin, Das
Colosseum, Berlin 1841, S. 19.
Dawniers Robert Macaire 93
hätten letztlich doch nur der "Ergötzung der Bourgeoisie" gedient17 . In Frank-
reich waren es die Erfolgsromane Eugene Sue's, die für die folgende Zeit alle
anderen literarischen Stadt-Genres erst einmal aus dem Feld schlugen. Den
Physiologien, die sich der Mehrzahl nach als humoristisch-satirische Studien zu
einzelnen Ständetypen konturiert und dabei ein essayistisch-anekdotisches Ver-
hältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit angesprochen hatten, waren Zeitungs-
fortsetzungsromane vom Schlag der Mysteres de Paris, die sich als literarische
Sensation der Zeit an das Massenpublikum der Presse richteten, schon allein in
ihrer reißerischen Aufmachung als Abenteuerromane gewiß überlegen. Paris
erschien hier unter den zentralen Metaphern der 'Großstadtwildnis', des 'Großstadt-
dschungels'18; die vielen Figuren, die in der Handlung auftauchen und ver-
schwinden, waren über die Spannungsmuster des Verbrechens, der Verschlep-
pung, der wunderbaren Rettung, des Mords u.a.m. - und nicht über ein bloß
additives Anordnungsschema - aufeinander bezogen, miteinander verbunden. Das
Publikum verschlang deshalb die täglichen Fortsetzungen wie sonst nur auf-
regendste Gerichtsreportagen. Paris, suggerierte Sue, sei unterhöhlt von einer
schrecken erregenden anderen Stadt, nur mühsam durch den dünnen Firnis der
Zivilisation und einer wenig zuverlässigen Gesittung kaschiert: die Freischenken,
Hinterhöfe, Kellerlöcher, Spitäler und Zuchthäuser erschienen als Brutstätten und
Schlupfwinkel einer barbarischen zweiten Gesellschaft mit eigenen Ritualen und
Ordnungen. Der publizistische Typus der Physiologie mochte damit historisch
entwertet und überholt worden sein, Daumier als Illustrator blieb aktuell. Wir
finden daher Holzschnitte von ihm gerade auch in der illustrierten Ausgabe der
Geheimnisse von Paris, die 1843 und damit zeitlich fast parallel zur Zeitungs-
ausgabe erschien. Im Kalkül des Verlegers rangierte Daumier - aufgrund seines
bisherigen Karikatur-Oeuvres, aber sicher auch aufgrund seiner Holzschnitte und
hier wieder seiner Beiträge in den Physiologien - als Spezialist fürs 'niedere
Genre'. Während die adligen Helden des Romans - der edle Graf Rodolphe, die
gequälte Unschuld Fleure-de-Marie - zu ihrem Buch-Konterfei an Stahlstich-
künstler der Zeit delegiert wurden, die im modischen Porträtstil der feineren
Gesellschaft arbeiten (und heute so gut wie vergessen sind), wurde Daumier mit
Illustrationen zu den Verbrechergestalten Bras-Rouge, Tortillard und Polidori-
Bradamanti beauftragt. Die Holzschnitte zeigten einen ausgesprochenen Hang
zum Makabren und Gespenstischen; in dieser Einfarbung gaben sie etwas von der
Drohung und von der Angst wieder, wie sie allgemein - und von vielen
Besuchern der französischen Metropole bezeugt - in den Jahren vor der Februar-
revolution des Jahres 1848 und der Abdankung Louis Philippes als Gärung unter
der blanken und ruhigen Oberfläche der Zeit verspürt wurden.
Balzac selbst hat sich gerühmt1', die Physiologien in den Roman eingeführt
zu haben: seine durch die Zeitungen und Zeitschriften der Zeit vermittelte
Hinwendung zu den Physiologien legte den Keim für seine erzählerisch-systema-
tische Durchdringung und Erfassung der bestehenden Gesellschaft seiner Gegen-
wart und leitete ihn zu dem Plan, die Spezies Mensch in der ganzen Breite ihrer
soziologischen Erscheinungen mit quasi naturwissenschaftlicher Methode
darzustellen. Beides aber sind die Grundpfeiler seiner Comedie Humaine, die
zeitlich die Epoche von der Französischen Revolution bis zum Bürgerkönigtum
Louis Philippes erfaßt, insbesondere durch die Etudes de moeurs (Sittenschil-
derungen), die den größten Teil der Menschlichen Komödie ausmachen, mit den
Szenen des häuslichen Lebens, des Pariser Lebens, des Provinz-Lebens, des poli-
tischen Lebens sowie des militärischen Lebens. Exakt damit ist aber ein Punkt
erreicht, der über das Einzeloeuvre hinaus generell für die Geschichte des Ro-
mans von Bedeutung ist. Der russische Formalist Viktor Schklowskji hat im
Zusammenhang mit der Frage nach der Erneuerung der literarischen Formen
davon gesprochen, daß historisch immer wieder ein Rückgriff auf niedere, primi-
tive, außerdichterische Literatur zu beobachten sei: 'neue Kunstformen' seien
einfach die Kanonisierung 'niederer (subliterarischer) Gattungen'. "Dies könnte
man als die Ansicht bezeichnen, daß die Literatur sich immer wieder durch
'Rebarbarisierung' zu erneuern habe"20. Balzacs Rekurs auf die Physiologien-
Literatur paßt sich in diese Argumentation ein und stützt sie. Immer in seiner
Geschichte ist der Roman - trotz aller festen Traditionsmuster - auch eine Leer-
form gewesen, die sich aus der unterschiedlichsten Richtung füllen ließ. Balzac
hat Aussageformen des Journalismus und der Zeitung, also der zu seiner Zeit
modernsten und aktuellsten, am stärksten eskalierenden Medien, an den Roman
herangehoben und damit die Öffnung des Romans für die Wirklichkeit des neun-
zehnten Jahrhunderts bewerkstelligt: er hat damit den Roman nicht nur inhalt-
lich, sondern gerade auch seiner Form und Struktur nach aktualisiert.
und war mit ihr - zur Unterstützung der von Hecker und Struve geführten
Erhebung - in Süddeutschland eingefallen.
Die Erhebung der Jahre 1848/49 ist für Burger die "Revolution der Gedichte
und Reden". Mit J osef Nadler (der den Dichter - des hessischen Vaters wegen -
ganz aus der "schwäbischen Umwelt" herausfallen läßt und gar bestreitet, daß er
überhaupt - "wie immer das zugegangen sein mag" - "deutschen Blutes" sei) be-
greift er die erste deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche
nicht etwa als Einlösung oder Enttäuschung demokratischer Hoffnungen, sondern
- formal - als "Schöpfung der deutschen Staatsrede" . Ohne Herweghs Stellung zur
Revolution selbst näher zu eräutern, schließt er seinen Passus mit einem Reflex
auf das vom Dichter geführte Gespräch mit dem preußischen König und formu-
liert:
Die Audienz bei dem geistreichen und durch die Etikette geschütz-
ten Friedrich Wilhelm IV. verlief für Herwegh kläglich, und als er
in einem Brief doch noch den Posa spielen wollte und der Brief in
die Zeitungen kam, antwortete der König mit einer Verschärfung
der Pressezensur. Daraufhin gab es für den Dichter auf einmal statt
der Kränze nur mehr faule Äpfel. Herwegh hat diesen jähen Absturz
nie verwunden. Der 'eisernen Lerche' (nach Heine) waren die
Schwingen gebrochen. l
Spätestens hier stößt man auf einen festen Argumentationsbestand, der sich früh
herausgebildet hat und im neunzehnten Jahrhundert anhaltend behauptet. In der
Regel bringt man die strikt für wahr erklärte Einstellung der dichterischen
Produktion unmittelbar in Zusammenhang mit dem Scheitern der Revolution
selbst und illustriert das besonders augenfällig durch Gerüchte, die sich an die
Flucht Herweghs hefteten, als er nach der Zerschlagung des badischen Aufstandes
in die Schweiz zu entkommen suchte. "Im März schloß er sich der von Hecker
und Struve geleiteten Insurrection des badischen Oberlandes an", lesen wir in
Karl Barthels Deutscher Nationalliteratur der Neuzeit, die nach 1850 zahlreiche
Neuauflagen erlebte,
Heinz Otto Burger, Annalen der deutschen Literatur, Stuttgart 21971, S. 641, 664f.
Georg Herwegh - in rezeptionsgeschichtlicher Sicht 97
er ist. Los von Gott. keck im Wort. feig in der That, das ist das
Motto seines Charakters.2
bequemen Räumen und bei recht gutem Leben der nahenden 'Tage der Freiheit für
das geknechtete Volk'" zu harren. - Der Tenor läuft ganz auf "politisches
Meßgebäck" hinaus. "Wie alle diese revolutionären Dichter" der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts, formulieren Robertson und Purdie, "wurde Herwegh
über Nacht berühmt"; und wiederum über Nacht gab es plötzlich - folgt man
Burger - für den Dichter "statt der Kränze nur mehr faule Äpfel". Den Talmi-
Charakter des Werks herauszustreichen, ist da die Rede von der "Hohlheit" der
politischen Poesie Herweghs, ihrem "tosenden Redeschwall" bei "Armut an
poetischem Gefühl", ihrem "Fanfarenklang kühner Reime" angesichts "zu-
sammengesuchter Bilder". Die ganze "Augen rollende politische Leidenschaft",
heißt es, könne nicht verhehlen, daß es sich um nichts weiter als die "unan-
gemessene Berechnung" einer "Tagesgröße" handele. Ausdrücklich beruft man
sich in solchen und ähnlichen Urteilen auf Friedrich Theodor Vischer, der 1844
in einer ausführlichen Rezension der Lieder eines Lebendigen und einem
allgemeineren Artikel zur Politischen Poesie mit Herwegh ins Zeug gegangen
war, setzt aber dessen Urteile schlecht absolut und entzieht sie so der Diskussion,
in die sie Vischer doch gerade hatte einführen wollen. Der politische Charakter
der ästhetischen Urteile läßt sich durch nichts besser belegen als durch die
Tatsache, daß man sich - ohne Skrupel - auch solcher Gewährsmänner wie
Heinrich Heine und Karl Marx bedient, die man ansonst eher auf die Seite
Herweghs zu schlagen und mit diesem abzuurteilen bereit ist.
"Die wenigen wahrhaft schönen Gedichte Herweghs, die sich erhielten und
noch heute einen tieferen Eindruck hinterlassen", schreibt schon Vilmar in den
späteren Auflagen seiner zuerst 1845 veröffentlichten Geschichte der deutschen
National-Litteratur, "waren nichtpolitische, die elegischen formvollen 'Strophen
aus der Fremde', einige von ähnlichen Stimmungen durch hauchte Sonette, in
denen sich Herwegh als berufener Schüler Platens bewährte, und einige Lieder".
Auch Koenig findet inmitten der "garstigen politischen" Lieder manche Perlen
echter Lyrik; besonders angerührt fühlt er sich dort, wo das unserem Volk
"ureigene 'Heimweh'" besonders tiefgefühlt ausgedrückt wird. - Es gilt zu begrei-
fen, daß die Entpolitisierung des dichterischen Werks auf der Basis solcher
scheinbaren Rettungsversuche Hand in Hand geht mit der Verachtung und
Vernichtung der politischen Dichtung Herweghs, wie ich sie oben zitiert habe.
Mal ist es der Klassizismus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, mal
die hypostasierte 'deutsche Seele' und schließlich der existenzphilosophisch vari-
ierte Standpunkt der Gefühls- und Erlebnislyrik, auf die hin interpoliert wird,
wenn es darum geht, unter der Maske des mißliebigen politischen Dichters und
Revolutionärs jenes Stück eines "echten Dichters" hervorzuholen, das denn doch
in ihm versteckt sein soll. Man mag darüber streiten, welches Vorgehen als das
letztlich effektivere anzusehen ist: die offene Verunglimpfung des politischen
Gegners im übergestülpten Bild des Revoluzzers als Maulheld, Drückeberger und
überhaupt mediokres Individuum oder jene Form der stillen Vereinnahmung, bei
der in Wirklichkeit jedweder politische Funke ausgetrieben und das Werk im
Georg Herwegh - in rezeptions geschichtlicher Sicht 99
willkürlichen Ausschnitt gefügig gemacht wird. Diese Frage stellt sich ganz
konkret dort, wo zwar die biographische Charalcterisierung abgewogener er-
scheint, im Bereich der ästhetischen Wertung aber sehr wohl die Schablonen wei-
tergereicht werden: im Hinblick auf die politische Lyrik nach 1866, die also
nicht unterschlagen wird, lesen wir zum Beispiel in Fritz Martinis Deutscher
Literatur im bürgerlichen Realismus von 1962, die politische Starrheit habe
Herwegh auch im Poetischen "keine neuen eigenen Formen" mehr fmden lassen,
er sei deshalb "im nur Subjektiven und im Zeitungs stil" verarmt und habe sich
damit selbst von einer breiteren Wirkung ausgeschlossen.
Es fällt nicht schwer, derlei Konstruktionen in ihrer Parteilichkeit klar zu er-
kennen. Zur Verdeutlichung der politisch-ideologischen Implikate empfiehlt es
sich jedoch, kontrastierende Rezeptionspositionen beizuziehen: etwa aus dem ge-
genbürgerlichen Lager oder aber - seitab von den Literaturgeschichten - in der
Literatur selbst. Mit Heinrich Manns Untertan habe ich bereits einen ersten
Hinweis in diese Richtung gegeben. In etwa zeitlich parallel zur Buchver-
öffentlichung des satirischen Romans nach dem Ersten Weltkrieg veranstaltete
Karl Otten im Berliner Malik-Verlag eine schmale Auswahlausgabe der Gedichte
Herweghs und versammelt hier vor allem die späte politische Lyrik. In der
Einleitung fmden sich Sätze wie:
Georg Herwegh, Was machl Deutschland? Gedichle. hrsg. von Karl Otten, Berlin 1924, S. 5.
100 Georg Herwegh - in rezeptionsgeschichtlicher Sicht
dreifacher Tücke und Unterdrückung beantwortet wird. Demgemäß wird der Ton
seiner Gedichte im späteren Teil seiner 'Gedichte eines Lebendigen' und in den
'Nachgelassenen Schriften' immer drohender, klarer und diesseitiger."
In seiner Auffassung von Dichter und Werk reiht sich Otten in gegenläufige
Rezeptionsweisen ein, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg in der oppositionellen
demokratischen und sozialdemokratischen Bewegung zuhaus sind. Man kann dies
an der von Franz Diederich 1911 herausgegebenen Anthologie Von Unten Auf-
Ein neues Buch der Freiheit ennessen, wo der Dichter nicht nur mit zahlreichen
Beispielen aus dem ersten und zweiten Band der Gedichte eines Lebendigen, son-
dern - ebenso stark - mit Liedern und Gedichten aus der Geschichtsperiode nach
1848/49 vertreten ist, darunter selbstverständlich mit dem Bundeslied von 1863,
das ihm Lasalle abverlangt hatte, und dem Lied auf den Achtzehnten März, in
dem er - 1873 - den proletarischen Anteil an der Erhebung von 1848 herausstellt
und seiner Hoffnung auf eine künftige Revolution Ausdruck gibt:
4
Georg Herwegh, Werke, hrsg. von Herrnann Tardel, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J., Teil
3, S. 142f.
Georg Herwegh - in rezeptionsgeschichtlicher Sicht 101
hätten. Besonders deutlich wird das Verhältnis zwischen Herwegh und Karl Marx
herausgearbeitet und in seinen Wechsellagen charakterisiert. - Im Unterschied je-
doch zur Anthologie Von Unten Auf und auch zu Otten teilt Mehring die
Geringschätzung des Spätwerks, wie wir sie als Konstante der bürgerlichen
Herwegh-Rezeption nachgewiesen haben. "Seinem Dasein", urteilt Mehring über
Herweghs Talent, "fehlte der heiße Sommer und der fruchtbare Herbst und selbst
das wärmende Herdfeuer des Winters." Das Bundeslied für den Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein ausgenommen, handelt es sich für ihn bei den späten
Versen - "mit wenigen Ausnahmen" - "um achtbares Mittelgut, wie es sich in
besseren Witzblättern auch sonst findet." Von den Gedichten Herweghs aus den
fünfziger und sechziger Jahren sind in der Tat verhältnismäßig viele im
Kladderadatsch veröffentlicht worden.
Die grundSätzlich unterschiedlichen und zum Teil polar entgegengesetzten
Einschätzungen Herweghs in der zweiten Hälfte des neunzehnten und zu Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts wiederholen sich nach dem Zweiten Weltkrieg in
den auseinanderstrebenden politischen Lagern: bereits anläßlich der Jahrhundert-
feiern der Revolution im Frühjahr 1948 kommt es zu heftig divergierenden Erin-
nerungen an die politischen Ereignisse und in ihnen an die politische Lyrik: der
Zeit. "Um die Dichtung des Revolutionsjahres beurteilen zu können", lesen wir
beispielsweise im ostberliner lugend-Start, "ist es notwendig, ein Bild der
politischen Situation zu gewinnen." Herwegh, heißt es, "stritt nicht nur mit dem
Wort für eine geeignete deutsche Republik, er griff auch selbst zur Waffe. ( ... )
Sein Schicksal ist typisch für das vieler aufrechter Demokraten und Freiheits-
kämpfer jener Zeit: Verfolgung, Emigration, Flucht von einem Land ins andere,
Rückkehr und wieder Exil." Unter Aussparung der eigentlich historischen
Fakten, negative ästhetische Urteile fortschleifend, die wir bereits kennen, heißt
es dagegen im März 1948 im Westberliner Tagesspiegel:
Mit dem Tagesspiegel-Zitat biegen wir wieder in die Linie ein, die ich ein-
gangs mit einigen Anmerkungen zu zeitgenössischen Literaturgeschichten aufge-
nommen habe. Während der fünfziger und sechziger Jahre, in denen diese Werke
publiziert wurden, kommt die gegenläufige Rezeption, wie ich sie für das späte
neunzehnte Jahrhundert an Franz Mehring, für das frühe zwanzigste Jahrhundert
an Franz Diederich und Karl Otten belegt habe, voll nur in der ostdeutschen
Literaturgeschichtsschreibung zum Durchbruch. Die 1948 unter dem Titel Der
Freiheit eine Gasse von Bruno Kaiser veranstaltete Auswahlausgabe Aus dem
Leben und Werk Georg Herweghs - ein Pendant zur Malik-Ausgabe nach dem
Ersten Weltkrieg - reiht sich ein in rege publizistische und wissenschaftliche
Aktivitäten, die dem Jahrhundertereignis gewidmet sind. Zeitlich parallel zur
Geschichte der deutschen Literatur von Robertson und Purdie - 1968 - fmden wir,
ganz im Einklang mit bereits zitierten Positionen, in der von Geerdts herausge-
gebenen Deutschen Literaturgeschichte folgende historische Charakterisierung
und aus ihr abgeleitete Wertung des Dichters:
Besonders deutlich treten die Unterschiede der Argumentation dann zutage, wenn
man noch einmal auf die zentralen biographischen Signalelemente rekurriert und
verfolgt, wie sie hier aufgenommen werden. Hieß es bei Burger, Politik sei für
den "relegierten Tübinger Stiftler Ersatz der Religion geworden", so hier - ohne
den Renegaten herauszukehren: "Im Tübinger Stift studierte er einige Semester
Theologie und Jura. Ab 1837 war er, ohne sein Studium beendet zu haben, als
freier Schriftsteller (... ) tätig." Statt 'Desertion' lesen wir: "1839 ging er nach
Zürich und entzog sich damit dem Militärdienst"; es zieht ihn weiter nach Paris
und nicht ins "Dorado der Jungdeutschen". Und schließlich knüpft sich an die
Niederlage im badischen Aufstand nicht die diffamierende Spritzleder-Anekdote
an, sondern es heißt lapidar: "Nur mit Mühe gelang es Herwegh, in die Schweiz
zu entkommen". - Ausdrücklich wird mehrfach auf die "aufrechte Haltung" des
Dichters und sein gerades politiches Rückgrat hingewiesen, das speziell auch
nach 1849 nicht krumm geworden sei. Man sieht: das Schreckbild Revolutio-
när', das die bürgerlichen Literaturgeschichten nicht müde werden zu entwerfen,
löst sich auf; an seine Stelle tritt das Realbild und punktuell wohl auch das
Idealbild vom Dichter als Revolutionär.
Hans Jürgen Geerdts, Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, Berlin 1971, S. 362.
Georg Herwegh - in rezeptions geschichtlicher Sicht 103
Ganz auf der Linie der moralisierenden Betrachtung der Person des Dichters und
ihrer Subsumierung unter das politische Rollenbild des 'Revolutionärs als Maul-
held' ist es meist abfällig gemeint, wenn die bürgerlich-konservative Literatur-
geschichtsschreibung an Herweghs Gedichten eines Lebendigen die "lyrisch-
rhetorische Formbegabung" herausstreicht und eine gewisse Meisterschaft in
"pathetischer Rhetorik" nicht leugnet 'pathetisch' und 'rhetorisch' bedeuten dann
in der Regel so viel wie 'leer', 'hohr, 'oberflächlich', 'kalt' und dienen als
Instrument der Abgrenzung gegenüber der 'wahren' Poesie, die aus der 'Tiefe'
schöpft. An dieser Stelle tritt der Verweis auf den "mitreißenden" Charakter der
frühen Verse Herweghs und ihre "rhythmisch schöne Sprache" voll in seine
korrigierende Funktion, haben wir es doch mit einer Dichtung zu tun, in der sich
die "stürmische Entwicklung der bürgerlichen Oppositionsbewegung der 40er
Jahre" widerspiegelt, wie umgekehrt die oppositionelle Politisierung der bürger-
lichen Öffentlichkeit durch solche Verse angestachelt und vorangetrieben wurde:
Umschreibungen für 'rhetorisch' und 'pathetisch' haben in diesem Zusammenhang
fast immer den Sinn von 'agitatorisch', 'zündend', begeisternd'. Widerspruch -
wie gesagt - ist jedoch anzumelden, wenn der Versuch unternommen wird, das so
gewonnene und so gefärbte Bild auf das Gesamtwerk auszudehnen oder als einzig
maßgebliche Richtlinie für die Aufschlüsselung des Werks nach der entscheiden-
den Wende von 1848/49 zu benutzen: da droht zwangsläufig die Gefahr, daß man
das Opfer der eigenen Rezeptionsstereotype wird. Der Gefahr zu begegnen, gilt
es, Kaiser in der Umwertung der satirischen Medien des neunzehnten Jahrhunderts
zu folgen, denn gerade die satirischen, konkret in die politischen Zeitereignisse
sich einmischenden Gedichte nach 1848/49 sind es, die durch das gesetzte Raster
durchzurutschen drohen, weil sie weder vom formalen Gesamt noch vom poeti-
schen Detail her den vorgegebenen Kriterien zu entsprechen scheinen.
Ich gebe abschließend als Beispiel Herweghs Deutschland zum Neujahr 1849,
ein Gedicht, in dem die Klage über den Ruin der Revolution Gestalt gewinnt, so
daß der Text bis zu einem gewissen Grad überhaupt stellvertretend stehen kann
für die nachrevolutionäre Lyrik des Dichters. Thematisch entwickelt sich der
Zusammenhang zwischen Professoren-Parlament in der Frankfurter Paulskirche,
intendierter Kaiserwahl und allgemein einziehender Reaktion. Die bürgerliche
Rezeption im späten neunzehnten Jahrhundert und vor allem nach 1870/71 nahm
diese Verse, wenn es sie überhaupt registrierte, als Synonym für Kurzsichtigkeit
und begriff sie dementsprechend als "Musterstück pessimistisch-sarkastischer
Satire":
6
Bruno Kaiser, Der Freiheit eine Gasse, Aus dem Leben und Werk Georg Herweghs, Berlin
1948.
Georg Herwegh - in rezeptions geschichtlicher Sicht 105
Von 'gebrochenen Schwingen' ist da wenig zu spüren, wohl aber von zerbroche-
ner Hoffnung: aus dieser Situation resultiert der Spott des Dichters und nicht aus
einer "pessimistisch-sarkastischen" Grundhaltung. Im Gegenteil: gerade der Spott
hält ja die Hoffnung aufrecht und rettet sie so - nicht unbeschädigt, aber auch
nicht restlos aufgerieben - über das Scheitern der Revolution hinweg. Auf eine
fatale, allerdings gegen ihn selbst sich wendende Weise behält Fritz Martini
recht, der von der späten Lyrik behauptet hatte, die politische Starrheit habe
Herwegh "keine neuen eigenen Formen" mehr finden lassen, er sei deshalb im
"nur Subjektiven und im Zeitungsstil" verarmt. In der Tat arrangiert sich der
Dichter mit der in Deutschland sich ausbreitenden Restauration nicht; im
Gegensatz etwa zu Ferdinand Freiligrath und anderen Repräsentanten der
Vormärz- und Revolutionsdichtung verschmähte er es, mit dem Bismarck-Reich
seinen Frieden zu schließen und war auch nach der Kaiserkrönung von Versailles
als Demokrat ein scharfer Gegner der nun "glücklich verpreußten Mutter
Germania": man mag das 'Starrheit' nennen, Verarmung im "nur Subjektiven" ist
es gewiß nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem formalen, dem stilkritischen
Vorwurf. Ein wichtiges Kennzeichen des Gedichts - wie überhaupt der späten po-
litischen Lyrik Herweghs - ist das Arbeiten mit Fremdzitaten und zahlreichen
Anspielungen auf bekannte poetische Bilder und Stillagen; vor allem handelt es
sich um Klassiker-Zitate, die aufgenommen und zu Zwecken der poetisch-politi-
schen Artikulation eingespannt werden. Als vermittelte Aussage signalisiert die
satirische Umstülpung, daß sich das Erbe Goethes und Schillers nicht unbeschä-
digt über die Schwelle der gescheiterten Revolution in die zweite Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts hinüberzuretten vermag. Insofern dreht es sich gar
nicht mehr um den Entwurf "neuer eigener Formen", wie Martini fordert, da ja
die literarische Produktion auf einer Poetik fußt, in der die gesellschaftskritische
Rezeption vorgegebener Literatur zum entscheidenden Moment erhoben wird,
also in exakt diesem Sinn, in dem ich es anzudeuten versuche, nachklassisch und
gegenklassisch ist: gerade das ist aber in der deutschen Literaturgeschichte - trotz
Heinrich Heine und Jungem Deutschland - sehr wohl ein 'neuer Entwurf!
Das Gedicht zeigt aber auch, wie wenig zu seiner Erfassung und Beschreibung
ästhetische Kategorien nutzen, die gradlinig und damit allzu unproblematisch aus
dem "Atem der Revolution" sich ableiten und das politische Gedicht festlegen auf
Bestimmungen wie "mitreißend", "Klang und Mark" oder "rhythmisch schön".
Der Stilwandel vom agitatorischen Kampfgedicht hin zur satirischen Elegie, vom
Gedicht als Vorreiter der Revolution zum bissigen Kommentar der Reaktion -
von ihm selbst als Schwierigkeit begriffen, "auch in der Form aus dem Kreis der
bisherigen Anschauung" herauszutreten - ist Herwegh durch die historische
Situation auferlegt: wenn er unter dem Druck der politischen Verhältnisse nicht
überhaupt das Dichten aufgeben und auf Veröffentlichungen verzichten wollte,
mußte er sich den Bedingungen stellen, die ihm durch die einzig in Frage kom-
menden literarischen Medien der Zeit - die satirischen Zeitschriften - gesetzt wur-
den. Es ist daher notwendig, für die nachrevolutionäre Lyrik Herweghs medien-
ästhetische Perspektiven mit ins Spiel zu bringen, damit gerechtere und gründli-
chere Aussagen über Intention und Zustand des politischen Gedichts möglich
werden, als sie die aufgeführten Rezeptionsstandpunkte bieten.
Stilisiert man Herwegh zu ausschließlich auf die dichterische 'Spitze der
Revolution' hin, als die er mit seinen Gedichten vor 1848 gewiß agierte, fällt es
schwer, die nachfolgenden dichterischen Produktionen anzuschließen und richtig
einzuordnen: sie werden deshalb - auch hier - allzu häufig an den Rand gerückt,
erscheinen lediglich als Dokumente der politischen Haltung des Autors interes-
sant und müssen hinter den wenigen agitatorischen Texten, die sich auch nach der
Jahrhundertmitte noch finden, zurückstehen. Dabei braucht man die Rezeptions-
perspektive nur umzukehren! Nimmt man die politische Lyrik des deutschen
Frühnaturalismus - etwa das Buch der Zeit des Arno Holz oder Frank Wedekinds
politische Simplicissimus-Verse, die ähnlich spottlustig auftreten und eng an das
politische Zeitgeschehen sich anlehnen, geläufige politische Allegorien aufgrei-
fen und an ihnen den Zustand von Politik und Gesellschaft sichtbar zu machen
suchen - , erweist sich die Bindung an die satirische Zeitschrift - in inhaltlicher
wie stilistischer Hinsicht - gerade als der springende Punkt der Neuerung. Erst
recht gilt das für das tagespolitisch agile Chanson Kurt Tucholskys, das sich
ebenfalls im Rahmen der kritisch-satirischen Zeitschrift entwickelt, und
überhaupt für die politische Lyrik der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts. Für
diese Traditionsbildung - angesetzt gegen die Entwicklungsgänge der Kunstlyrik
des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts - ist Georg Herwegh
mit seiner politischen Lyrik nach 1848 ein wichtiger Wegbereiter.
~Der Graf warf stolz den Kopf in die' Luft
und schritt dem nahen Schlosse zu. W
In seiner anhaltenden Kritik der publizistischen Phrase, wie sie ihm in der
Wiener Presse und generell in den Zeitungen seiner Zeit tagtäglich vors erboste
Auge trat, berief sich der Wiener Satiriker Karl Kraus (1874-1936) gelegentlich
auf Ferdinand Kümberger (1821-1879) als seinen unmittelbaren Vorläufer, einen
der Mitbegründer des sogenannten 'Wiener Feuilletons'. In der Tat kann
Kümberger mit seinen Essays Sprache und Zeitungen von 1866 oder Die Blumen
des Zeitungsstils von 1872 bzw. 1876 als erster Kritiker der modernen
Zeitungssprache in jenem Sinne gelten, daß er dem 'Geheimnis des Wortes' sei-
nen falschen Zauber rauben wollte. "Die politische Phrase", gibt er den zentralen
Begriff seiner Kritik, "ist ein gefährliches Spielzeug"! Und er belegt dies, indem
er die gängigen Schlagworte der politischen Leitartikel dieser Ära und alle son-
stigen stehenden Redensarten aufgreift, die sich in den Spalten der Zeitung zu fe-
sten Klischee-Schreibformeln verdichtet haben; im 'Feuilleton unterm Strich'
geht er ihnen auf den Grund. Ein aufmerksamer Beobachter der medialen Prozesse
seiner Gegenwart, hat er erkannt, daß sich die literarische Kultur längst aus dem
Buch in die Zeitung gewandt hat; auch die Kritik müsse sich nun, folgert er kon-
sequent, von den Büchern weg zu den Zeitungen hinwenden, wenn sie nicht zop-
fig hinter der Zeit zurückbleiben wolle: "Zeitungskritik müßte sie richtiger sein",
heißt es 1873 in der Glosse zum Wiener Zeitungswesen, "aber freilich wäre sie
dann - Selbstkritik".1
Konkret wendet sich Kürnberger dem 'ritterlichen' und dem 'pöbelhaften'
Zeitungsstil als den auffälligsten Ausdrucksformen der bürgerlichen Presse seiner
Zeit zu und illustriert seine einschlägigen Beobachtungen wie folgt da werfen
sich Redakteure gegenseitig "den Fehdehandschuh hin", fordern sich "in die
Schranken", halten "ihr Banner hoch" oder kämpfen "mit offenem Visier", ziehen
gegeneinander "zu Felde", machen "Front" und "heben sich aus dem Sattel", an-
dere "zerren sich in den Kot", liegen sich "in den Haaren", "begeifern" und
"geißeln" sich, schreiben, um zu "brandmarken" oder "an den Pranger zu stellen".
Oder - an anderer Stelle: "Ein Schauder überläuft meinen Rücken. Wer kann sich
die Möglichkeit vorstellen, daß gebildete Menschen 'sich in den Haaren liegen'?
(...) Und nun versichert mir der Sprachgebrauch der Zeitungen, daß Männer, wel-
che Bildung haben und Bildung verbreiten - sich in die Haare geraten und sich in
den Haaren liegen! (... ) Denn nicht nur, daß die Zeitungen mit nie gesättigter
Ferdinand Kümberger, Feuilletons, ausgew. und eingeI. von Kar! Riha, FrankfunlMain 1967,
S. 165f. - Vgl. auch S. 14lff., S. 155ff.
110 Sprachwitz und Sprachkritik als Bildergeschichte
Wollust untereinander sich 'geißeln'; sie 'brandmarken' sich auch, sie 'drücken'
sich 'ein Brandmal auf die Stirne' und sie 'stellen sich an den Pranger'. Zum deut-
lichen Beweis, daß die Zeitungssprache die Galgensprache nicht zufällig, sondern
als ein tiefgefühltes Bedürfnis und in all ihren Variationen sich anzueignen
liebt"! - Im so markierten Sprachbefund zeigt sich ein fIXer Hang zu verfestigten,
starr gewordenen Spmchhülsen: den metaphorischen Wendungen muß ja ihre
konkrete Bedeutung ausgetrieben sein, damit sie im übertragenen Sinne um so
markiger ihr Ziel verfolgen können. Eine ganz spezifische Gefährlichkeit der
Presse deutet sich damit an; im Bewußtsein von Karl Kraus sollte sie sich dann
noch einmal steigern - bis in die apokalyptische Dimension eines drohenden
Untergangs der Welt durch schwarze Magie.
Als kritischer Philosoph im Zeitungsgewande, dem nun aber auch die Zeitung
selbst in ihrer Phmseologie problematisch werden mußte, steht Kürnberger in
seiner Zeit isoliert - und doch täuscht dieser Eindruck! Es ist jedenfalls als inter-
essantes Pendant festzuhalten, daß sich zeitlich parallel in der humoristisch-sati-
rischen Presse der Fliegenden Blätter und des Kladderadatsch, die ihren publizisti-
schen Ursprung in der bürgerlichen Revolution der Jahre 1848/49 hatten, auf
spielerische Weise ganz ähnliche Tendenzen zeigen. Als ein besonderer
Karikaturtypus bildet sich hier in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren
des neunzehnten Jahrhunderts die Sparte Zitate nach deutschen Klassikern aus, in
der witzige Graphik-Pointen aus den Vers-Sentenzen Shakespeares, Goethes,
Schillers etc. gezogen werden; das Ganze basiert auf dem prekären Doppelsinn
von Worten und Sätzen und richtet sich gegen eine aus den Klassikern gezogene
Erbaulichkeit, die sich mit Georg Büchmanns (1822-1884) erstmals 1864 aufge-
legter Zitatensammlung den einprägsamen Namen der Geflügelten Worte gab.
Diesen bildlich pamphrasierten 'Klassiker-Zitaten' schlossen sich als ebenfalls
stehende Karikaturfolgen, mit denen die Leser und Betmchter dieser Zeitschriften
über viele Jahrgänge hin fest rechnen konnten, Illustrierte Zeitungs- bzw.
Romanphrasen an: in ihnen wurden unfreiwillige Stilblüten festgenagelt, wie sie
den Schreibern von Zeitungsartikeln immer wieder unterliefen, wurden metapho-
rische Wendungen aufgegriffen, deren verblaßte Bildlichkeit zwangsläufig ins
Groteske und Absurde geriet, sobald man sie doch wieder zu vergegenständlichen,
mit dem Zeichenstift zu verlebendigen und ad oculos zu demonstrieren suchte.
Sprachkritik, wie sie Kümberger intendierte, erscheint hier überraschend im
Gewand der Bildersatire, der Karikatur - mit oft ausgesprochen surrealistischem
Effekt!
Und sogar eine ganze Bildergeschichte mit dem Titel Rodrigo Semmelschmarn
und Rosamunda Blüthenthau, dem Untertitel nach Ein Musterroman mit illu-
strierten Schlagwörtern und dem Motto folgend: "Allen gefühlvollen Seelen,
insbesondere den Liebenden gewidmet", steht exakt in dieser sprachkritischen,
humoristisch-karikaturistischen, also aus dem Wort ins Bild gehobenen Satire-
Tradition. Erstveröffentlicht im Jahrgang LV, Nr. 1368/69 (1871) der Fliegenden
Blätter und dort auf zwei mal zwei als Fortsetzung offerierten Druckseiten präsen-
Sprachwitz und Sprachkritik als Bildergeschichte 111
tiert, summiert sie eine Folge von Einzelbildern und bringt diese in ein wirkli-
ches Sukzessions-Schema. Kamen die Illustrierten Romanphrasen der Zeitschrift
als Einzelkarikaturen daher, so bündelten sie sich hier und traten ihrerseits in eine
effektvolle Erzählabfolge. Statt das triviale Roman-Beispiel, auf das der anonym
bleibende Zeichner abzielt, in satirisch belichtete Einzelzitate aufzulösen, wird
dem Leser und Betrachter also eine Karikaturenfolge offeriert, welche die hervor-
gehobenen Phrasen und Klischeewendungen wiederum zu einer Geschichte bin-
det: im Detail wie im Ganzen entsteht auf diese Weise eine seltsam-witzige
Trivialroman-Parodie. Solche narrativen Karikatur-Folgen - wie hier intendiert -
waren bereits in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bei den fran-
zösischen Karikaturisten in Mode gekommen; in ganz eigener und eigenwilliger
graphischer Manier, mit der er die Erfindung des Films vorwegnahm, hatte
Rodolphe Toepffer (1799-1846) in den dreißiger und vierziger Jahren seine
Humoristischen Bilderromane geschaffen, mit Alexander von Ungern-Sternbergs
(1806-1868) phantastischen Episoden und poetischen Exkursionen unter dem
Titel Tutu von 1846 können wir sogar das Eindringen solcher Karikatur-
Erzählungen in den Roman beobachten - und seit ihren ersten Jahrgängen zeigten
natürlich auch die Fliegenden Blätter und der Kladderadatsch die Tendenz zu
Verkettung der karikaturistischen Einzelbilder zu kleinen und größeren Folgen.
Von Einzelheft zu Einzelheft der Zeitschrift fortgesetzt, weckten sie die Neugier
der Leser und stimulierten zum Abnonnement; hier nun traten sie zu einer kom-
positorischen Einheit zusammen und präsentierten sich dem doppelten Blick 'auf
einen Schlag'. Parallel zu den Fliegenden Blättern gab das Münchener
Verlegerpaar Braun und Schneider die Münchener Bilderbogen heraus, in denen
solche fortgesponnenen Einblatt-Bildergeschichten ebenfalls zum editorischen
Standard gehörten; hier legte dann bekanntlich im späteren Verlauf des neunzehn-
ten Jahrhunderts Wilhelm Busch (1832-1908) den graphischen Grund für seinen
großen Erfolg als Bilderpossen- und Bildergeschichten-Erzähler.
Die satirische Energie unseres Rodrigo Semmelschmarn richtet sich in beson-
derer Weise gegen das Angestrengte und zugleich Klischeehafte einer aufgebläh-
ten Stillage, die zu bildhaften Wendungen und Metaphern tendiert und diese in ih-
rer verschlissenen Bedeutung ganz willkürlich kombiniert. Der Zeichner nimmt
sie noch einmal ganz konkret und gibt ihnen so eine überraschend realistische
und doch zugleich höchst absurdistische Plastizität, denn der Zeichenstift wird ja
gezwungen, Sachverhalte zu fixieren, gegen die er sich an sich heftig sträuben
müßte, so etwa wenn vom 'Aufschlagen der Augen' die Rede ist, als handle es
sich um die Bearbeitung von Pflastersteinen mit dem Hammer, wenn
'entzündetes Herz' und 'brennende Lippen' apostrophiert werden, als sei tatsäch-
lich das Feuer ausgebrochen wie in einem Heuschober, oder wenn das Auge auf
die 'Selbstverzehrung' des Liebenden und seinen 'verschlingenden Blick' gelenkt
wird, als seien wir aus der entwickelten, uns zügelnden Zivilisation unter die
wilden Antropophagen - sprich: Menschenfresser - zurückgesunken. "Plötzlich
sein Haupt erhebend", "Er wollte entfliehen, allein er stand wie festgewurzelt",
112 Sprachwitz und Sprachkritik als Bildergeschichte
Er ließ sich neben ihr nieder und verschlang mit seinen Augen die holde Gestalt
der schönen Träumerin.
Er umwand sie mit den Armen und rief: Sie schlug ihre Augm auf.
.. Hier bin ich. geliebte Rosamunde!"
In seinen Armen liegend sah sie den Himmel in seinem Auge. Beider Lippen brannten aufeinander und
ihre Hände waren fest ineinander verwachsen. In süßem Liebesrausche wandelten sie Arm in Arm
durch den stillen Hain der Stadt zu,
"Er umwand sie mit den Armen" oder "ihre Hände waren fest ineinander verwach-
sen", heißt es - und tatsächlich reißt sich da Rodrigo den Kopf vom Rumpf bzw.
fügt sich dem Zwang der Naturmetaphern, die ihn wie einen Baum Wurzeln
schlagen bzw. sich mit seiner Geliebten ast- und zweigerlweis verbinden lassen.
Die sonst im Innern der Brust so sorgsam verschlossenen Gemütszustände des
Liebenden werden bildhaft nach außen gekehrt wie ein Steinbrocken wird ihm
das Herz zu schwer in seinen Händen, so daß er es nicht mehr 'halten' kann, wie
eine Bombe 'zerspringt' ihm das Herz unterm Jackett und fliegt in Brocken da-
von. Der ganze Himmel senkt sich hernieder, um bald das Antlitz Rosamundes
"mild, wie das Mondlicht" erglänzen zu lassen, bald Rodrigos Augen von "des
Kummers dunkler Nacht" umflort zu zeigen bzw. mit Sternen und Engeln in
seine Brust herniederzusteigen. Das "dunkle Roth" der Liebesscham ergießt sich
tatsächlich aus einem gekippten Bottich als veritable Farbe über die Wangen
Rosamundes - und derb wird aus dem romantischen 'Liebesrausch' , der aus dem
"stillen Hain" prompt vor den Priester führt, wo dem Liebespaar mit kundiger
Geste nicht nur die Hände in Ketten gelegt, sondern auch die Augen wie zum
Blindekuhspiel 'verbunden' werden, ein torkelnder alkoholischer Exzess.
Die Untertitel, welche die einzelnen Bilder als Folge arrangieren und miteinan-
der verbinden, lösen das groteske Bildgeschehen auf und lenken es auf die sprach-
liche Ebene zurück; dabei verharmlost es sich jedoch nicht, sondern gewinnt eine
eigene Befremdlichkeit. Ließe man diese Schriftlegenden weg, handelte es sich
um Bilderrätsel jener Art, wie man sie als stehende - und offensichtlich beliebte -
Unterhaltungssparte ebenfalls in den Fliegenden Blättern, aber auch quer durch die
übrige Zeitungs- und Zeitschriftenpresse der Zeit antreffen kann. In seinem klei-
nen Aufsatz mit dem Titel Worüber sich unsere Großeltern den Kopjzerbrachen 2
entwickelte Walter Benjamin (1892-1940) eine spezifische Aufmerksamkeit für
diese Rebus-Literatur und apostrophierte sie als sprechendes Dokument der
Bilder- und Lesewelt des neunzehnten Jahrhunderts par excellence; hinter dem
vordergründigen Spiel hielt er dabei allerdings gerade auch das Monströse dieser
Art von Unterhaltung fest, wenn er etwa mit mehr als einem Seitenblick gleich-
zeitig auf den "genialen Illustrator Grandville" hinwies, "dessen zeichnerische
Demagogie nicht nur Himmel und Erde, sondern Möbel, Kleider, Instrumente
gegen den Herrn der Schöpfung mobil machte und noch den Buchstaben die
Gliedmaßen und den Übermut lieh, mit denen sie hier den Leser m ystiftzieren" .
Mit einer anderen Bemerkung zu seinem merkwürdigen Sujet hält Benjamin
fest, daß derlei Rätsel eine lange Vorgeschichte haben, aber freilich "nicht ganz
so alt" sind "wie die dunklen vornehmen Rätselfragen, von denen die Sphinx die
berühmteste ist". Und er fügt hinzu: "Vielleicht mußte die Ehrfurcht des
Menschen vor dem Wort schon ein wenig geschwunden sein, ehe er es wagen
konnte, den scheinbar so festen Zusammenhang von Laut und Bedeutung zu lok-
2
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt/Main
1972,S. 622f.
Sprachwitz und Sprachkritik als Bildergeschichte 115
kern und sie zum Spiele miteinander einzuladen. Das haben sie sodann Nach
Feierabend im Daheim, im Schoße des Familienfreundes, in der Rätselecke des
Bazar anmutig getrieben. Aber so gut wir die Faszination der Kreuzworträtsel,
des Golfmit Worten und ähnlichen Denksports verstehen, der ihnen heute in der
Gunst der Modejournale gefolgt ist, so kurios und entlegen scheint uns dieser
vergangene. Wenn wir noch begreifen, wie unsere Großeltern daran Spaß hatten -
wie sie diesen ausgemergelten Corps de ballet der Geräte und Lettern sein
Geheimnis abzugewinnen wußten, das bleibt uns dunkel. Doch nur solange wir
von unserer Merkwelt, der das Kreuzworträtsel so gut entspricht, von den nor-
mierten Architekturen, den Schemata der Statistik, der eindeutigen Sprache unse-
rer Lichtreklame und unserer Verkehrszeichen ausgehen". Das markiert die histo-
rische Distanz, die den Wiederbetrachter von 1929 und wohl auch den des Jahres
1992 von diesen seltsamen, ihrer Auflösung harrenden Bild-Konglomeraten
trennt. Nicht so in unserem Fall! Der Vorgang ist ja eher umgekehrt! Der
Zeichner fixiert die Sprache im Zustand ihrer Verfremdung, die alle lebendige
Wahrnehmung aus ihr ausgetrieben hat, und versucht, ihr über den Umweg der
Satire, Parodie und Karikatur, die verlorene plastische Anschaulichkeit wiederzu-
geben. Zu diesem Zwecke aktiviert er alle Mittel des Grotesken und
Phantastischen, die im 'Zeitalter des Realismus' gewiß nicht allzu hoch im Kurs
standen, und bannt sie unterströmig in ihre eigenwillige Gestalt, die uns heute
ganz 'modem' berührt, gehören doch derlei Stilformen und Gestaltungsweisen fix
zu jener Auflösung der Wirklichkeit, wie wir sie im allgemeinen erst mit jenen
avantgardistischen Kunstbewegungen verbinden, die nach der Jahrhundertwende
einsetzen und von hier aus unser zwanzigstes Jahrhundert so nachhaltig bestim-
men.
Man sollte sich diese humoristische Presse des neunzehnten Jahrhunderts mit
Blick auf die Vorgeschichte dieser Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts bei
Gelegenheit einmal gründlich ansehen - und würde überrascht sein durch die
Vielzahl der Parallelen, die sich da auftut! Die zeitgenössische Kritik nahm derlei
Presseprodukte kaum wahr, wo sie dies tat, verharmloste sie das journalistische
Produkt Doch bereits Wilhelm Kaulen (Lebensdaten unbekannt) wies in seiner
Geschichte des Alltagslebens3 von 1880 den Fliegenden Blättern neben dem
Struwwelpeter, dem Eulenspiegel und Münchhausen, dem Robinson Crusoe und
der ganzen Sphalanx der vielgelesenen Volks-Klassiker von Johann Peter Hebel
(1760-1826) bis Heinrich Zschokke (1771-1848) einen festen Platz in der deut-
schen Haus-Bibliothek zu und merkte an, daß das Blatt seine rasche Popularität
ihren karikaturistischen Illustrationen und speziell eben auch ihren
Bildergeschichten zu danken hatte, darunter als erste "des Herrn Baron Beiseie und
seines Hofmeisters Dr. Eiseie Kreuz- und Querzüge durch Deutschland", zu deren
näherer Charakterisierung er ausführt: "Des Zöglings Physiognomie war stumpf,
die des Erziehers spitz; jener im Reisepaletot, dieser im Frack, durchwandern (sie)
das ganze Vaterland, treffen überall und geißeln in Bild und Wort die Schwächen
der Zustände. So z.B. zogen die beiden Reisenden in Wien ein, und ihre
Schlagschatten folgten ihnen horchend nach (eine scharfe Anspielung auf das
Metternich'sche System der geheimen Polizei, von der man sagte, daß sie jeden
Fremden wie seinen Schatten verfolge)". Und weiter in diesem offensichtlich po-
pulären, picto-narrativen Genre: "Nun kam der Staatshämorrhoidarius! Von des
liebenswürdigen Poeten und Malers Franz Graf Pocci bekanntem derbem Griffel
gezeichnet, erschien der kleine Aktenmann, untersetzt, mit etwas knolliger
Biemase, in allen möglichen amtlichen Funktionen, die Schwächen der
Bureaukratie kennzeichend. / 'Willst Du mir nicht die Zeitung zurücklassen?' bit-
tet ihn ein Hausgenosse. - 'Aber was soll ich denn auf dem Bureau anfangen,
wenn ich nichts zu lesen habe?' antwortet der pflichtgetreue Staatsdiener". - "Sehr
fein", heißt es im unmittelbaren Anschluß in Richtung unsres Rodrigo
Semmelschmarn, seien von Anfang an auch "die überschwänglichen Poeten" per-
sifliert und in die Karikatur gezogen worden ...
Unter den zeitgenössischen Philosophen zeigte überraschenderweise Friedrich
Theodor Vischer (1807-1887) ein frühes Interesse für die politische Karikatur
seiner Zeit und in ihrem Gefolge dann natürlich auch für die Karikaturenpresse.
Das Erscheinen der Fliegenden Blätter begrüßte er bereits 1846 "mit Freude" -
und ausführlicher äußerte er sich in seinem Aufsatz Über neuere deutsche
Karikatur4 aus dem Jahre 1881. "Wer ergötzte sich nicht", erinnert er sich, "als
Braun ( ... ) mit seinem Eiseie und Beiseie, als Pocci mit seinem Staats-
hämorrhoidarius auf den Plan trat! Mit diesen Figuren war zugleich ein Wurf
getan, der so recht im innersten Wesen der Karikatur liegt und ihr aufs beste
dient, ihre Fruchtbarkeit zu steigern". Und zur Bestätigung dieser Perspektive
fügt er als weiteren Beleg gleich auch noch die Erinnerung an einen parodierten
Ritterroman an, den wir in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Rodrigo
Semmelschmarn zu sehen haben: "Erschrecklich rührender kann das große
Thema: edler Räuber kaum behandelt werden. Melusinens Geliebter, Karl von
Platzki, Offizier in der bayrischen Uniform der zwanziger Jahre, das Raufen der
Soldaten mit Pasqualini bei der Gefangennehmung, seine Flucht und Greueltaten,
dann die tiefe Erweichung, Läuterung der wilden Räuberseele beim Anblick von
Melusinens photographischem Bildnis, und nun der Beschluß, die Liebenden zu
vereinigen, - neben Leichenhaufen hingerneuteter Opfer werden dem grausamen
Onkel Schnabel und dem schnöden Werber Hahnebiene die Köpfe zusammenge-
stoßen und die glücklich Liebenden von ihrem Retter 'stadteinwärts' geführt. Die
letztere Szene ganz besonders ist hoch zu preisen: Mondschein, im Hintergrunde
die Stadt, die drei Figuren vom Rücken gesehen, dunkel sich abhebend, starke
Schlagschatten werfend, das veredelte Ungeheuer führt die Braut am linken, den
4
Friedrich Theodor Vischer, Kritische Gänge, hrsg. von Roben Vischer, München 1922, Bd. 5,
S.308ff.
Sprachwitz und Sprachkritik als Bildergeschichte 117
ritterlichen Verlobten am rechten Ann - das Bild hat ganz malerischen Wurf,
wirkt stimmungsvoll sentimental und wird durch den inneren Widerspruch im
Gegenstande so überaus komisch, daß Tränen der Wehmut wunderbar mit Tränen
des Lachkrampfs sich mischen".
Zumindest in diesem Leser- und Betrachter-Effekt kommen sich die hier von
Vischer noch einmal aufgegriffene Räuberroman-Parodie und unsere ausgegrabene
Persiflage des trivialen Liebesromans unter dem Signet Semme/schmarn äußerst
nah. Aus dem Vergleich zwischen Töpffer und Busch, wie ihn der Ästhetiker des
neunzehnten Jahrhunderts durchführt, darf man übernehmen, daß es in dieser neu-
artigen 'Literatur im Bilde' darauf ankommt, aus "reicher, quellender Erfindung
(...) in der Form der Kontinuität" eine "Geschichte aus einem Motiv" heraus
fortzuspinnen und dabei Bild und Text geistreich miteinander zu verbinden. In ex-
akt diesem Zusammenhang spricht er davon, daß es ja ein "beliebtes und echt
komisches Verfahren der Karikatur" sei, "daß sie gern eine Metapher buchstäblich
nimmt"; man vergleiche daraufhin Buschs 'Klaviervirtuosen', der "aufhört, ein
menschlicher Organismus zu sein", dessen Finger und Hände sich "verviel-
fältigen", dem sich die Beine so "zur Schraube zusammendrehen", "daß sein gan-
zer Kopf nur Auge und Ohr wird". Er folgert - und auch dies läßt sich besonders
plausibel auf unsere Bildergeschichte übertragen - : das Bild entfalte eben in der
Karikatur ein ganz spezifisches Eigenleben; es ahme die Natur nicht nach, son-
dern nehme sich frech die Freiheit heraus, über das Naturmögliche hinauszugehen
"und uns ganz in der Welt der närrischen Vorstellung festzuhalten ".
Ein letzter - aktueller - Gesichtspunkt schließlich, der sich im Rückblick auf
unser Bildergeschichten-Fundstück des neunzehnten Jahrhunderts freisetzt! Die
'Bewegung der Bilder', wie sie so nachhaltig die Erfindungen der modemen audio-
visuellen Medien Film und Fernsehen bestimmt und zu immer noch eskalieren-
deren Entwicklungen stimuliert, setzt lange vor den ersten Bild-Bewegungs-
maschinen ein und ist mit den letzten technischen Neuerungen auf diesem Gebiet
noch längst nicht erschöpft. Die Bilder- bzw. Bildergeschichten-Literatur des
neunzehnten Jahrhunderts scheint diesem Progress gegenüber zunächst weitge-
hend überholt und daher nur noch von nostalgischem Interesse; sie enthält jedoch
zahlreiche Aspekte, die auch heute noch - bzw. heute erst recht - zu verblüffen
und auf unentwickelte Chancen dieses mixed mediums hinzuweisen vermögen. In
diesem und dann noch einmal eine Spirale weitergedrehten Sinne wies vor eini-
gen Jahren Helmut Heißenbüttel in seinem Aufsatz Die Rache der SprechblaseS
auf die vergessenen Autoren und Zeichner der Fliegenden Blätter hin und rekla-
mierte sie ganz unmittelbar für solche Tendenzen innerhalb der experimentellen
Kunstmodeme des zwanzigsten Jahrhunderts, die produktiv bei der Überschrei-
tung jener Grenzen ansetzen, die durch die Separationen der etablierten Künste so
unverrückbar festgelegt sind, daß sie nicht mehr in Bewegung zu bringen
scheinen. Gerade darauf aber kommt es doch immer wieder - und stets erneut - an!
Auch in dieser Hinsicht hat unsere kleine satirische Erzählung in Bildern, die mit
einfachen Mitteln eine komplizierte Verbindung zu knüpfen versteht, indem sie
einerseits unsere Bilderphantasie afftziert und gleichzeitig das sprachkritische
Vermögen stimuliert, einige Bedeutung, die über den vordergründigen Spaß, den
das Ganze macht, weit hinausgeht.
ZU FERDINAND KÜRNBERGERS KRITISCHER
POS mON
EIN PHILOSOPH IM ZEITUNGSGEW AND*
Dieser Aufsatz entstand im Zusammenhang mit einer Auswahlausgabe aus den Schriften
Ferdinand Kümbergers, die 1967 im Frankfurter Inse1-Verlag herauskam. Ich verzichtete damals
auf den Nachweis der Zitate quer durch das ffiuvre nach intensiver Lektüre, so deshalb auch hier
. mit der Bitte um Pardon!
120 Ein Philosoph im Zeinmgsgewand
tiert er (und 'Dichter' schließt hier den 'Kritiker' ein), "das haben wir in Vers und
Prosa, man möchte sagen, in Prosa und Prosa, wie ein Thema behandeln gehört
(...).; das Thema selbst ist ein Dogma! Da inzwischen der wertvollste Teil jedes
Dogmas der dazugehörige Ketzer ist, so lassen wir das Dogma dogmatisch sein
und lesen nur gleich unsere Ketzer-Messe": "Man sieht, die Welt ist gerecht. Sie
erkennt den Dichter an, der das Leben des Augenblicks hat und der in Kunstform
nur das ist, was jedermann in Natur ist Wer mehr ist, der gehört der Zukunft, die
Welt reponiert ihn daher auch der Zukunft, oder - wie man härter sagt - sie ver-
kennt ihn".
Das Paradox auf die Sentenz gebracht: "Nichts ist natürlicher als die späte
Anerkennung und nichts verkehrter, als es anders zu fordern." Hier ist unmittel-
bar berührt, was heute erst - wie man statt 'heute noch' besser sagt - an Ferdinand
Kürnberger zu faszinieren vermag. Anders ausgedrückt: ein Denken, das in sol-
cher Bewegung dem Dogma entkommen könne, entnehmen wir einem der weni-
gen Aufsätze, die nach dem Zweiten Weltkrieg über Kürnberger geschrieben wur-
den, aus dessen Struktur werde auch die anfangs überraschende Tatsache begreif-
lich, daß, obwohl es Kürnberger in seinen Glossen, Feuilletons und Essays um
aktuelles Denken geht, dennoch seiner Prosa vom Stoff her nicht grundsätzlich
jene Schwere anhafte, die den größten Teil der Prosa jener Zeit so schwer genieß-
bar macht, wenn man nicht gewillt ist, die schwerfällige Maschine historischen
Denkens in Gang zu bringen. "Einen scharfsinnigen deutschsprachigen
Schriftsteller zu entdecken, der zugleich noch seine Sprache so vorführt, als habe
er sie nie besessen, ist schon Überraschung genug", notiert Helmut Hartwig un-
ter dem Titel Ferdinand Kürnberger oder Langmut der Geschichte: "Wenn aber
dann dieser Schriftsteller ein Wiener 'Journalist' aus der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts ist und man von ihm Aufsätze vorfindet, deren innere Bewegung so
Wort wie Bild auf die Bedingungen ihres Auftauehens prüft und auf diese Weise
den Gedanken beim Wort nimmt, dann glaubt Verwunderung an Täuschung,
während die Überlegung sich tief in die Doppeldeutigkeit jenes Satzes gezogen
fühlt, nach welchem die Geschichte gerecht sei. Kürnberger hat diese
Doppeldeutigkeit auf den Begriff gebracht, indem er die Gerechtigkeit aufs
Verwerfen beschränkte".
So ist's kein Zufall, sondern nur konsequent, wenn Kürnberger aus der gewiß
umfangreichen Korrespondenz unserer beiden deutschen Klassiker gerade jenen
einen Satz Schillers ans Licht gezogen hat, der am weitesten davon abzustechen
scheint, was als dessen Bild im neunzehnten Jahrhundert mehr und mehr sich
etablierte. Er paraphrasiert Schillers Brief vom 17. August 1797, nach welchem
man es den Leuten, wie sie einmal sind, nicht wohl, wohl aber recht übel ma-
chen müsse. Man müsse sie "inkommodieren", zitiert er, ihnen ihre "Behag-
lichkeit verderben", sie in Erstaunen und Unruhe setzen, und kommentiert dann,
natürlich seien Schillers Worte Übertreibung und nicht buchstäblich zu nehmen:
"Aber was eingeschränkter zu nehmen ist, ist doch nicht als sein Gegenteil zu
nehmen? (... ) Der Sinn bleibt immer der, der er ist." (Neben Schiller ist es
Ein Philosoph im Zeilungsgewand 121
der Partei der Liberalen fallen schärfste und heftigste Worte. Noch habe sie, ver-
lautet's 1872, Macht genug, um ungestraft lügen zu können, und schon habe sie
Furcht genug, um mit jedem Mittel, also auch der Lüge, sich behaupten zu wol-
len: in der Naturgeschichte der politischen Parteien sei dies das "Stadium der
Lüge". Und nicht weniger hart hatte Kümberger schon 1848, also im
Paulskirchenjahr, im Jahr der Wiener Revolution und seines Kampfrufs zum
Radikalismus auf dem Naschmarkt, die deutsche Freiheitslyrik der Jahrhun-
dertmitte ihrem eigenen Dilemma konfrontiert: entweder sei die Freiheit etwas
ungewöhnlich Köstliches, dann dürfe ihr Mangel nicht besungen werden, denn
eine Elegie auf einen verlomen Diamanten sei prosaisch; oder die Freiheit sei
etwas ganz Schlichtes, nackt Menschliches, dann dürfe ihr Besitz nicht besungen
werden, denn eine Hymne auf ein Stück Brot sei ebenso prosaisch. "Poesie ist
alles das, was mir ewig fehlen kann, was mir ewig unerreichbar bleiben kann, die
Freiheit aber läßt sich besiegelt und verbrieft besitzen. (... ) Der Mensch muß
sich seiner ersten und natürlichen Rechte entwöhnt haben, den die Freiheit
sonderlich überraschen und beglücken kann. Denn noch einmal und zum letzten
Male sei es wiederholt, die Freiheit ist ja nichts, gar nichts, sie ist bloß die
Abwesenheit der Unfreiheit." Die Wurzel eines falschen Pathos könnte noch
heute nicht deutlicher freigelegt werden; und damit nicht genug: daß sie darüber
hinaus zum wahren Begriff vorschreitet, kennzeichnet den Charakter dieser
Entlarvung erst ganz.
Dennoch hätte man Kümberger, wäre er nichts weiter als der Kritiker des
Liberalismus, an die Historie zu verweisen, wie er als dessen Anhänger der
Geschichte anheim zu fallen hätte. Nerv und Energie seiner Kritik gehen denn
auch in dieser speziellen Auseinandersetzung nicht auf, sondern legen sich in ihr
nur bloß. "Sollte man nicht überhaupt lieber die Kritiker kritisieren?", fragt sich
Kürnberger (anläßlich einer Rezension): "Und fast halte ich es für profitabler".
"Der Richter, welcher Diebe verurteilt", illustriert er am Beispiel, "findet an die-
sen das undankbarste Publikum; aber der Richter, welcher richterliche Urteile
überprüft, wird eine Quelle der Gesetzesauslegung, und die Kommentatoren nen-
nen ihn schmeichelhaft 'einen Nutzen für unsere Wissenschaft'." "Nur an Gespen-
ster glauben, überall Phantome sehen, aber den sogenannten Wirklichkeiten
mißtrauen (...)." - Hier liegt der Grund, daß sich mit dem Namen Kürnberger
nicht zuallererst Kontroversen und Fehden, sondern Terrains und Strukturen der
Kritik in Erinnerung bringen.
In einem seiner kirchenkritischen Aufsätze spricht Kümberger von sich als ei-
nem, welcher "über die Aufklärung selbst wieder aufgeklärt ist". Daß es sich da
um keine leere Behauptung, sondern um Maxime, Antrieb und Ziel seiner Kritik
handelt, kann vielfach nachgeprüft werden. So zum Beispiel in jener Einlassung
zu Politik und Literatur, die als eine Schlüsselstelle für Kümbergers kunst- und
literaturkritische Anstrengungen anzusehen ist. Daß die Ehe unsittlich und das
Eigentum Diebstahl, sagt er, gehe in allen Töchterschulen aus und ein und sei
fast schon Zopf, aber "die sanglantesten Revolutionäre, die kreditfähigsten
Ein Philosoph im Zeitungsgewand 123
und ist überhaupt schwerlich beweisbar. Der Beweis wird einfach vorausgesetzt,
wie in der alttürkischen Justiz die Schuld (...)".
Als versteckte Piraterie zu Lande enthüllt Kümberger hier die politische
Ordnung der Zeit, gleichzeitig aber das Gesellschaftssystem als deren
Voraussetzung; die Analyse mündet in die Kritik am Begriff des 'Gemeinwohls'.
Dieser Dreischritt ist bezeichnend für Kümbergers Methode. Parallele Beobach-
tungen ließen sich häufen. 1873, "nach der historisch denkwürdigen Börsen-
Katastrophe" , wird ihm - nicht weniger pars pro toto - das Spekulations- und
Aktienwesen als phantastischer Schemen durchschaubar: "Da liegt sie, die
schöne, weiße Leiche der erschlagenen Diva. Da liegt sie, das Götterkind, 'die
Börse' (... ). Wunderliche Menschen! Sie glauben zu 'realisieren', und sie phanta-
sieren; sie glauben Papiere zu haben, und sie haben Phantasie. Aber mit einer
Art Selbstquälerei nehmen sie sich das noch übel, schimpfen es Schwindel,
Korruption, 'materielles' Treiben, da es doch reinstes Phantasietreiben ist, Leben
in Visionen, asketische Bußübung, Spiel im stofflosesten Stoffe, der nichts ist
als Phantasie, nackte, blanke, in ihrer wahren Gestalt enthüllte Phantasie, ein
diaphaner, ätherischer Körper, aus den Kurszettel-Ziffermoden herausgetreten, wie
ein Schneeflöckchen aus der Schneewolke, ein weißes Nichts - ein weißes
Papier, woran gar nichts zu 'realisieren', dem keine Faser von grober materieller
Wirklichkeit anhaftet, das durch und durch Phantasie!" 'realisieren' = 'phantasie-
ren': Kürnberger hat die irrationale Struktur der Realität im Kapitalismus, den
Gründungsschwindel erkannt; eine wirklich instruktive und aggressive Glei-
chung, gerade in ihrem scheinbar gar nicht aggressiven Ton! Aber die poetische
Tonlage nimmt sich im Gehalt zurück. Dem Bürgertum öffnet Kümberger die
Bilanz, dessen "Fortschritts-Rößlein" greift er in die Zügel. Von der Korruption
und vom Bankrott des Bürgertums ist die Rede, wenn "Fortunemachen" als
Seeräuberkomplott, Friede als heimlich-schwelender "Krieg aller gegen alle",
geräuschlos-schauerlicher "Kampf ums Dasein" erscheint, wenn Geschäft als
Chimäre, als "weißes Nichts" sich präsentiert.
In solcher Demaskierung kommt Kümbergers Kritik historisch auf ihre Höhe,
dennoch erschöpft er sich in der negativen Summe nicht. Selbstverständlich (fast
zu selbstverständlich, um es gesondert auszubreiten), sind ihm, der politische als
"sozial-ökonomische" Geschichtsschreibung erkannt und zu fordern gelernt hat,
die neuen Zeichen der Zeit lesbar und verständlich! - Zu den beiden Sternen des
Jahres 1869 erklärt Kürnberger den Bau der Pazifikbahn und des Suezkanals,
"Komet" dieses Jahres aber ist ihm die Wiener "Arbeiterdemonstration vom drei-
zehnten Dezember". Voll praktischer Energie, mit Tatkraft, Schlagfertigkeit und
aggressiver, stürmischer Kühnheit habe sich der "junge Löwe der Arbeiterbe-
wegung" gegen den "alten Löwen der Hierarchie" erhoben. "Mit diesem Schritt",
heißt es, "tritt ein Herrscher auf die Weltbühne!"; und unmißverständlich: "Hier
wird in die alte bürgerliche Weltordnung ein Keil getrieben, der sie unfehlbar
sprengen muß",
Ein Philosoph im Zeitungsgewand 125
nicht wahr. Wagt's nur! Das Publikum ist allgegenwärtig wie die Luft. Redet ge-
trost in den Wind, unter freiem Himmel - wohnt das Echo!" Neben der Ori-
entierung aufs Objekt, die bisher im Vordergrund stand, aber mit der Einsicht in
die Beschränktheit der Wahrheit 'als solcher' an ihre Grenze geriet, gewinnt nun -
als der einzig andere Weg - die Orientierung auf den Leser, auf ein Publikum an
Gewicht. So gibt Kümberger die Bedingung, die er für den Erfolg der Wahrheit
vorfindet, seiner Kritik als deren Bestimmung zurück. Anders gesagt neben die
zwingende Argumentation tritt die Überzeugung als rhetorisches Moment, die
kritische Logik artikuliert sich als öffentliche Rede. - Dazu, wie zu Kümbergers
Sprache insgesamt, der attraktivsten Kraft seiner Kritik, einige abschließende
Bemerkungen! Einleitend war von Kürnberger als einem Aphoristen die Rede. In
der Tat dürften jene kurzen, energiegeladenen, häufig auch syntaktisch heraus-
fallenden Sätze, in denen seine Prosa die 'ad hoc'-Kritik in philosophische Zu-
sammenhänge erhebt, auf den heutigen Leser die größte Faszination ausüben.
Sätze wie "Das Leben lebt nicht" (Adornos Motto zu den Minima moralia) oder
"Was da ist, ist sichtbar" (ein Satz, der von Wittgenstein stammen könnte)
sprechen für sich selbst; oder: "Die Erde ist entsetzlich unpraktisch verteilt",
"Der Gang der Weltgeschichte ist ein verfehlter".
Das eben ist die Aufgabe, die Kümberger dem Journalismus seiner Zeit wie
sich selbst stellt: es müßten "aus dem tief unterschätzten Feuilleton die politi-
schen Erkenntnisbäume in ihren Weisheitshimmel über dem Strich mit kräftigen
Bastardschößlingen überwuchernd hineinwachsen". Daneben behaupten sich frei-
lich - an Jean Paul und Heinrich Heine, am Jungen Deutschland geschult -
scharfer Sprachwitz, bloßes Sprachspiel und lockere Pointe. Kümberger weiß zu
unterhalten, er beherrscht die Kunst des ersten Worts, des packenden Anfangs, der
leichten Verknüpfung; auch wo er logisch zergliedert, wird die Darlegung nie
trocken. Er redet mit seinem Leser, fällt sich selbst in den Arm, stürmt auch
einmal "wie mit brennendem Kopf in die Welt hinein - zum wahrscheinlichen
Horror so vieler feiner und wohlerzogener Leute, welchen aller Affekt 'mauvais
genre' ist". Das kritische Instrumentarium ist variabel und beweglich.
Den zentralen Begriff, unter dem sich die verschiedensten rhetorischen Aspekte
seiner Kritik summieren lassen, gibt Kürnberger selbst in einer Rezension, die er
mit dem Namen eines zeitgenössischen, heute vergessenen Lyrikers (Stephan
Milow) überschreibt, deren unmittelbarer Anlaß aber eine Auseinandersetzung
mit Gervinus und Koberstein ist. "Didaskalie", sagt er und nennt damit das
Stichwort, "klingt nicht so vornehm wie Kritik, denn es heißt auf deutsch so
ziemlich - Schulmeisterei. Dieser Wechsel der Worte ist natürlich ein Gesin-
nungs-, ja Systemwechsel, und wenn ich ein geneigtes Ohr finde, will ich
erklären, wie ich dazu gekommen bin". Wir brauchen der Explikation im einzel-
nen nicht zu folgen; um welchen Systemwechsel es sich handelt, davon war oben
die Rede. Genug: Kümberger setzt sich gegen die Katheder- und Professoren-
Kritik ab, bei der er die Worte lediglich eine Scheinarbeit verrichten sieht. Schon
der äußere Hautüberzug dieser Sprache sei trocken, rauh und vergilbt: "Nur aus
Ein Philosoph im Zeitungsgewand 129
angebomer, deutscher Schwäche für Professoren verhehlen wir uns das; aber mit
weniger Respekt würden wir sagen: So spricht ein Torzettel vor einem Palast
und ein Meldzettel von einem Fürsten!" - Dies also ist der Weg, schließt die
Passage, "auf dem ich aus der Kritik in die Didaskalie kam".
Von seiner eigenen Sprache fordert Kümberger größte Anschaulichkeit:
"Meine Sprache muß also offenbar eine größere Anschaulichkeit haben, ja einen
Grad davon, der gar nicht in ihrer Natur liegt und der ihr nur durch Kunstgriffe
abzulisten"; der Kunstgriff, durch den die Kritik zu höchster "demonstrativer
Anschaulichkeit" vordringen könne, sei "das Beispiel". Hier hat nahezu jedes ein-
zelne Wort Gewicht! Kümberger entwirft das ästhetische Programm seiner kriti-
schen, einer wirklich lebendigen und demokratischen Didaktik. Er selbst geht,
wie er sagt, mit seinem Leser in die Schule. In seinen Stücken bereitet er den
kritischen Fall zur instruktiven Parabel auf, redet im "Tone Sam Slik's, des
Uhrmachers", hat Illustrationen parat, in denen komplizierte Zusammenhänge auf
ihre einfache Formel, banale Aktualitäten auf ihre wahren Hintergründe gebracht
werden. Er macht im Bild greifbar, was sonst unbegriffen bliebe, transponiert das
Undurchsichtige in die Klarheit des 'Beispiels', erreicht aber wirkliches Bekannt-
machen auch auf umgekehrtem Weg durch Verfremdung. Demonstration, kann
man sagen, soll in Anschauung umspringen. - In diesem Sinn verstand Küm-
berger sich selbst als ein 'Beispiel': "Ich schrieb da nur ein Feuilleton, aber es
muß eine ganze Literatur werden, die das sagt".
Titelillustration zu: Karl Kraus, Die demolirte Literatur, 1897.
VERÄNDERUNGEN DES DRAMAS IN DER SATIRE:
ARNO HOLZ, DIE BLECHSCHMIEDE,
KARL KRAUS, DIE LETZTEN TAGE DER
MENSCHHEIT
EIN VERGLEICH
Verblüffend für einen Autor, der zu Beginn der neunziger Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts - parallel zu Gerhart Hauptmann - dem deutschen naturalistischen
Drama zum Durchbruch verhilft, der in der Mitte der neunziger Jahre - in der
Gestalt eines politischen Lustspiels - die kritische Summe des Berliner
Naturalismus zieht, ohne deshalb die naturalistische Theaterrevolution selbst
preiszugeben, und der auch nach der Jahrhundertwende durchaus an modifiziert
realistisch-naturalistischen Konzeptionen für die Bühne festhält, wählt Arno Holz
für seine große Literatursatire Die Blechschmiede von 1902 einleitend folgende
Szenenanmerkung:
läßt sich freilich einwenden, daß Die Blechschmiede ja gar nicht ernsthaft als
Spielstück, sondern mehr als Lesedrama verfaßt sei und damit auf einer ganz
anderen Linie liege, als sie mit dem naturalistischen Drama des Arno Holz und
seiner sonstigen Dramatik markiert sei.
Tatsächlich geht die erste ausführlichere Konzeption der Dichtung, wie wir sie
in einem Brief an Georg Hirth, den Herausgeber der von ihm gegründeten Jugend
haben, in eine völlig andere Richtung als die des Theaters und der Schauspieler-
Bühne. Holz schlägt vor, das "umfangreichere Werk", mit dem er sich schon seit
Jahren trage und dessen Titel Apollonius Golgatha, Der Mensch und sein Werk
lauten solle, illustriert und in einzelnen Fortsetzungen - in der Manier Julius
Stettenheims als "eine Art pathetischer Wippchen" oder nach Cervantes als "ein
Don Quixote der Feder" - in der Zeitschrift vorzuveröffentlichen, um es dann,
"buchhändlerisch noch einmal verwertet", gesammelt "als großes, reich ausge-
stattetes Prachtwerk im Format der Jugend herauszubringen. Zur näheren forma-
len Charakterisierung bietet es sich daher an, auf die offene Form des Ganzen
hinzuweisen, die einer solchen Publikation in Portionen entgegenkommt:
Die Form, auf die ich gerade bei dieser Arbeit eine besondere
Bedeutung lege, wird eine höchst eigentümliche werden. Sie wird
aus Roman, Tagebuch, Kritik, Erinnerung, Biographie und
Autobiographie, namentlich aber aus eigenen Produktionen des
Gefeierten auf allen Gebieten, merkwürdig zusammengesetzt sein.
Es ist schwer, von ihr, bevor sie vollendet liegt, eine Vorstellung
zu geben. Ich wüßte wenigstens kein Werk, das ich zur Parallele
heranziehen könnte. Es gibt noch die beste Anschauung, wenn ich
sage, ich beabsichtige mit ihr ein riesiges Mosaik. Ein riesiges
Mosaik, das zwar durchaus auf Totalwirkung berechnet sein soll,
dessen tausend bunte Einzelsteinehen aber trotzdem derartig
gearbeitet sein sollen, daß jedes dieser Teilchen, auch aus dem
Ganzen herausgenommen, seine Bildwirkung als Einzelnes behält
/ Um das Werk, wie es mir vorschwebt, niederzuschreiben, werde
ich die kolossale Mühe nicht scheuen dürfen, die gesamte
einschlägige Literatur der letzten zehn, fünfzehn Jahre bis heute auf
die neuesten Erscheinungen nochmal durchzugehen, und zwar
gründlich bis auf eine Legion von Exzerpten. Denn es ist mein
Ehrgeiz, in dieses Buch möglichst dokumentär, möglichst die
ganze Verschrobenheit eines ganzen Zeitalters zu sperren. 2
Man sieht: Die Analogie zum Drama wird nicht gesucht, der Nachdruck liegt
ganz auf der exzeptionellen, völlig herausfallenden Bestimmung des Werks. Zwar
fällt der Name Shakespeares, doch nur, um gegen ihn - wie gegen Michel Angelo
2 Amo Holz, Briefe, eine Auswahl, hrsg. v. Anita Holz u. Max Wagner, München 1948, S. 113.
Veränderungen des Dramas in der Satire 133
Und ein Hinweis aus dem Werk selber! Etwa Mitte der Handlung, nachdem eben
der 'Autor' im Stück ein Intermezzo angekündigt hat, kommt der 'Regisseur' im
Stück wie folgt auf die verwirrende Struktur, das Mosaikhafte der Dichtung zu
sprechen:
Also doch ein Drama, wenn auch etwas gegen den Strich gebürstet, seltsam, was
den Bau, das dramatische Gefüge und die Spielbarkeit betrifft! In den späteren
Druckfassungen, die der Insel-Ausgabe von 1902 folgen sollten, hat Holz schon
im Titel eindeutig aufs dramatische Prinzip hingewiesen und dieses dann auch
durch die Akteinteilung des Ganzen besonders augenflillig gemacht. So lesen wir
etwa in der Text-Fassung des Ausgewählten Werks von 1919:
A.a.O., S. 133.
4
Arno Holz, Die Blechschmiede, 1902, a.a.O., S. 78.
5 Arno Holz, Das ausgewählte Werk, Berlin 1919, S. 133.
134 Veriindenmgm des Dramas in der Satire
Zeitlich parallel zur Entstehung dieser Fassung weist Holz in einem Brief an
Franz Servaes gar auf die "heilige Dramenaktzahl" - fünf Akte - hin, die er ge-
wahrt habe.6 Das ergibt eine entscheidende Blickveränderung, einen markanten
Perspektivenwechsel! Denn plötzlich bietet sich nun doch die Möglichkeit, die-
sem Stück Literatur in seiner dramatischen Anlage, von seiner dialogisch-szeni-
schen Struktur her gerecht zu werden und es seiner vollen Bedeutung nach auch
literar-historisch-theatergeschichtlich zu diskutieren und differenziert auf die
Theatersituation der Zeit zu beziehen. Der Rückzug von den Brettern der öffentli-
chen Schauspielhäuser, die Verlagerung des Dramenschauplatzes in die
"Zirbeldrüse des Dichters" wäre dann alles andere als eine beliebige Caprice und
höchst bedeutungsvoll gerade als Grenzüberschreitung des herrschenden Theaters.
Helmut Amtzen hat dieses vorwärtsweisende Moment erkannt, wenn er - wohl
als erster - das Blechschmieden-Drama von Amo Holz seiner satirischen Drama-
turgie nach in direkte Verbindung mit dem Weltuntergangsdrama Die letzten
Tage der Menschheit von Karl Kraus brachte. Freilich läßt Kraus seine politische
Satire nicht innerhalb der engen Hirnschale des Dichters spielen; er hält die ad-
äquate Aufführung allenfalls auf einem Marstheater für möglich: die Eskalation
in der Geste der Unaufführbarkeit entspricht der Steigerung der literarischen in die
politische und umfassend kulturkritische Dimension.
Anders als ursprünglich geplant, liegt der Zusammenhang des Stücks in der
Blechschmiede nicht bei 'Apollonius Golgatha', sondern beim 'Herrn Mitte
Dreißig', 'Autor', 'Regisseur', 'Dafnis' etc. als unterschiedlichen Figurationen
Amo Holzens selber. Die Identität des 'Herrn Mitte Dreißig' mit dem Dichter
wird ja in der einleitenden Szenenanmerkung ausdrücklich hergestellt, wenn es
heißt: "die gedankenschwere Hirnterrine in die Linke gestützt ( ... ) das ganze
Individuum um seinen Kneifer konzentriert." Im Brief an Hirth weist Holz darauf
hin, er habe den Blechschmieden-Typus "im Kleinen" schon "in allen möglichen
Nuancen studiert", er glaube sich daher "seiner kräftigsten Wirkung, falls er end-
lich einmal festgenagelt wird, sicher zu sein. "7 Er spielt damit auf die satirischen
Stücke bereits im Buch der Zeit von 1886 und speziell in dem parallel dazu ent-
standenen, hektographiert nur für die Freunde veröffentlichten Bändchen Unterm
Heiligenschein. Ein Erbauungsbuchjür meine Freunde von 1885 an. Insofern
handelt es sich um den erneuten Durchbruch früher satirischer Ansätze im Werk
des Dichters und ihre Bündelung in der collagenhaft-dramatischen Großform.
Darüber hinaus bietet sich für Holz die Möglichkeit, sich in der Gestalt des
Schäfers Dafnis mit jenem von ihm neu geschöpften, deftigen Barockstil vorzu-
stellen, den er eben damals für sich entdeckte - man vergleiche dazu die späteren
Separat-Publikationen der Dajnis-Lieder - , oder aber, den 'Herrn Mitte Dreißig'
modifizierend, als 'Herr Anfang Zwanzig', demnach zeitlich auf der Höhe des
Erscheinungsdatums des Buchs der Zeit, und - präsumptiv - als 'Herr Mitte
6
Amo Holz, a.a.O., S. 241.
Amo Holz, Briefe, a.a.O., S. 113.
Verändenmgen des Dramas in der Satire 135
Ein Chor der Ballonmützen fällt ein und deutet auf den "Proletar von Gottes
Zorn"; der 'Herr Mitte Dreißig' jedoch verweist sarkastisch auf den leeren Schall
solcher politischen Töne und fmdet dafür das Bild der Nachtigall, "die dem Bauern
die Schafe frißt"; Szenenanmerkung - trotzdem oder gerade deshalb:
Der Herr Anfang Zwanzig wird unter großem Gejohl definitiv raus-
geschmissen. Krachend, für immer, schließen sich hinter ihm die
ehernen Türen der Zirbeldrüse.
8
Amo Holz, Die Blechschmiede, 1902, a.a.O., S. 115ff.
9 Beleg dafür sind die zahllosen humoristischen Zeitschriften und Heftchen-Publikationen der
Zeit; ein interessanter Innovationsversuch fmdet sich in der Buchpublikatioo des Literarischen
Kabarens Schall und Rauch, hrsg. v. Max Reinhardt, Berlin u. Leipzig 1901.
136 Veränderungen des Dramas in der Satire
Im vierten Akt finden wir uns über die trauernde Harfe gebeugt und unter den
hängenden Weiden an den weinenden Wässern Babylons .
Der Druck von 1902 enthält all dies freilich erst in Andeutungen, im ersten
Entwurf. Mit von der Partie ist allerdings hier schon die Figur des
'Makulaturprofessors', die dazu verurteilt ist, immer wieder in helles Entsetzen
auszubrechen über die Unordnung, die da - in jedweder Hinsicht - gestiftet wird:
Wohin auch meine Zehen treten -
disjekte Membra des Poeten.
Dies Kunstwerk thut mir wirklich weh,
das macht, ihm fehlt die Grundidee. ll
10
Amo Holz. Werke. hrsg. v. Wilhelm Emrich u. Anita Holz, Neuwied, Berlin-Spandau 1964,
Bd. 7, S. 178.
11
Holz, Die Blechschmiede, 1902, a.a.O., S. 118.
Veränderungen des Dramas in der Satire 137
Als Antwort darauf entwickelt Holz in den späteren Überarbeitungen das satiri-
sche Motto der Blechschmiede, die Schlußverse, die den Skopus der ganzen
Zitaten-Collage offenlegen - sowohl beziehbar auf die zahllosen großen Namen,
die hier Revue passieren, als auch auf den zeitgenössischen Leser des Werks, der
nur zu gern selbst in der Art des 'Makulaturprofessors' argumentieren möchte:
jeweils der ersten Szene jedes der fünf Akte, wobei der Autor von Mal zu Mal -
mit der Eskalation des Krieges - das Straßengeschehen mit seinen Stereotypen
immer surrealistischer unterwandert, indem er Larven und Lemuren auftauchen
läßt. Es entsteht auf diese Weise eine ähnliche Brechung - nur weniger heiter - ,
wie sie auch Holz intendiert, wenn er die Berliner Gegenwarts-Architektur als
Kathedrale, Pagode und Tempel drapiert. An direkten Angriffen auf die aktuelle
Literatur - für Holzens einleitende Szenenanmerkung verweise ich auf die Attacke
gegen Stefan George, dessen Blätter für die Kunst dem Karikaturisten des
Simplicissimus, Thomas Theodor Heine, in die Tasche geschoben werden - fehlt
es auch bei Kraus nicht; von zentraler Bedeutung sind innerhalb der
Weltuntergangstragödie die satirischen Ausfälle gegen Ludwig Ganghofer und
Hugo von Hofmannsthal.
Den Auseinanderfall der großen Fülle satirischer Einzelszenen vermeidet bei
beiden Satirikern ein ähnliches Verfahren. Bei Holz geschieht dies durch die
Hereinnahme des 'Autors' ins Stück, der sich in der geschilderten Weise aufspal-
tet, bei Kraus durch Dialog-Szenen zwischen 'Optimist' und 'Nörgler', die den ei-
gentlichen Handlungsszenen gegenüber eine Art Kommentar-Funktion überneh-
men: der Verfasser tritt mit ihnen quasi aus dem Fluß des Dramas heraus und
schafft sich eine Plattform, auf der es ihm möglich wird, abstrakte Sachverhalte
abstrakt anzusprechen, Daten und Fakten auszubreiten, die sich sonst der dramati-
schen Gestaltung entziehen müßten. In der Figur des 'Nörglers' meldet sich aber
auch hier der Autor selbst zu Wort, der Fackel-Kraus, der Sprache und Sprechende
der Zeit beim Wort nimmt. Der 'Optimist' liefert nur das Stichwort, die gängige
Argumentation, greift Phrasen auf, wie sie allgemein im Schwange sind, rekur-
riert auf Spielszenen, die eben abgelaufen sind; hier entzündet sich der kritische
Einwand des 'Nörglers'. - Für diesen Zusammenhang und das Auseinandertreten
von Spielhandlung und Kommentar ein Beispiel aus der zehnten Szene des zwei-
ten Akts:
(Ein Zug von Rekruten, die graue Bärte haben, geht vorbei.)
Der Optimist: Sehn Sie, die rücken ein.
Der Nörgler: Und dennoch sind sie nicht
Einrückende.
Der Optimist: Sondern?
Der Nörgler: Einrückend gemachte, wie sie mit Recht
heißen. Das Partizipium der Gegenwart
allein würde noch eine Willenstätigkeit
bekunden und darum muß schon ein Partizip
der Vergangenheit dabei sein. Es sind also
einrückend Gemachte. Bald werden sie
einrückend gemacht sein.
Der Optimist: Nun ja, sie müssen in den Krieg ziehen.
Verändenmgen des Dramas in der Satire 139
Die Wendung "einrückend gemacht" ist Kraus in der Zeitung aufgestoßen, hier
hat er sie für die Fackel aufgespießt Im Zusammenhang des Dramas entwickelt
sich die volle satirische Energie. Vom Part, den die Literatur beim Geschäft des
Einrückendmachens spielt, war in den Passagen vor dem Zitat die Rede -
- , danach wendet sich das längere Gespräch den Zusammenhängen von Krieg und
Geld, Krieg und Geschäft zu:
Der 'Nörgler' scheint dem 'Optimisten' nur zu dem Zweck ins Wort zu fallen, um
ihm bei der gängigen Redensart vor der zum Markt getragenen Haut - also 'Opfer
leisten' - beizuspringen. Doch: Indem er sie aufgreift, verweist der 'Nörgler' die
Redensart in einen ganz anderen Zusammenhang. Der "Markt", der da zur Sprache
kommt, will ganz real als Verweis auf die ökonomischen Bedingungen genom-
men werden, die in Wahrheit den Krieg regieren.
Klarstellungen dieser Art werden stets vom 'Nörgler' getroffen, sind also an
ihn als Figur gebunden. In den eigentlichen Spiel- oder Handlungsszenen muß
Kraus daher - analog zu Holz - als ein anderes Verfahren der Kritik das der
Selbstentlarvung wählen. Dafür gibt es eine Unsumme von Beispielen, ob es
sich nun um einen namenlosen 'Wiener' handelt, der von einer Bank herunter fol-
gende Ansprache hält:
14 A.a.O., s. 253ff.
140 Vminderungen des Dramas in der Satire
Der Abonnent: Ich bin überzeugt, daß durch den Ausbau des
Bündnisses -
Der Patriot: Ich zweifle nicht, daß dann der Abbau des
Hasses -
Der Abonnent Vermutlich würde durch die Vertiefung des
Bündnisses -
Der Patriot Ich glaube, daß dadurch eine Erhöhung der
Preise -
Der Abonnent Ohne Zweifel könnte der Abbau der Preise -
Der Patriot Mir scheint, daß dafür eine Erhöhung des
Hasses -
Der Abonnent Ich glaube aber, daß ein Ausbau der Preise -
Der Patriot Ich meine, daß dadurch eine Vertiefung des
Hasses _16
Ein Scheindialog, der bloßstellender nicht geführt werden könnte! Was sich da
jeweils mit "Ich bin überzeugt", "Ich zweifle nicht", "Ich glaube", "Ich meine"
usw. einleitet, führt nur ein leeres Tauschgeschäft von Worten, also Hülsen von
Argumenten, bares Geschwafel, eben Zeitungsabonnenten- und Patriotengewäsch
vor Augen: die Klimax, als die das Ganze sich darbietet, fällt folglich in sich
selbst zusammen. Die Figuren, die derlei Sätze von sich geben, sind 'verendete
Leitartikel', wie man mit dem Vorwort zu den Letzten Tagen sagen kann,
Schemen, Automaten, die nur noch Klischees reproduzieren, leer fortarbeiten.
Als "Schatten und Marionetten", als "Masken", "Larven und Lemuren" sind diese
Figuren - so Kraus, der damit seine satirische Absicht treffend selbst charakteri-
siert - kalt und nüchtern "auf die Formel ihrer tätigen Wesenslosigkeit ge-
bracht."17
"Tätige Wesenslosigkeit": - Das könnte sehr wohl auch von den dramatis
personae der Blechschmiede des Amo Holz gesagt sein, etwa all den Dichtem, die
15 A.a.O., S. 71.
16 A.a.O., S. 578.
17 A.a.O., S. 9.
Veriindenmgl21 des Dramas in der Satire 141
zu ihrem Vortrag an die Rampe drängen, nur um sich ihrer Vernichtung auszulie-
fern. Man vergleiche daraufhin gleich aus den ersten Passagen des Stücks noch
einmal die Auftritte der diversen 'Greise' als Verfasser von Veilchen und Meer-
rettich, Edelrost und Grünspan und Vom Tintenfaß ins Weltall, des Großstadt-
lyrikers, diverser 'Jünglinge' mit Publikationstiteln wie Lichte Momente,
Gesalbte Scheitel, Rote Reime, Granitne Stirnen, Nackte Nächte und Belauschte
Bäder oder des Reformdichters 'Mathias Weber' mit den einschlägigen Aburtei-
lungen des Herrn Mitte Dreißig - etwa
ab, werft mir ein paar Feigenkränze voll Worte zu, blast mir
Assoziationen ein, laßt mich Inkohärenzen lallen, laßt mich
In etwa diese Richtung geht - zwar nicht direkt auf Die Blechschmiede bezogen,
aber doch auf sie übertragbar - eine Äußerung, die Holz 1898 in einem Brief an
Franz Servaes trifft: Sie nennt als Ziel die "aufs Ganze gerichtete" Bestrebung,
"um mit unserm gemeinsamen Freund Nitschke zu reden, das Buch von
Übermorgen zu gebären.":1DEben deshalb kann und muß der Dichter auch seine
eigene Revolution der Lyrik, die sonst so hart gegen alle Anfeindungen vertei-
digte Mittelachsen-Lyrik in den Strudel der Satire miteinbeziehen:
Die Verblüffung, die Holz erzielt, indem er zuletzt auch noch quasi sich selbst
den Boden unter den Füßen wegzieht, ist allerdings mild - gemessen an der
Marke, die Kraus dem Entsetzen des Publikums setzt! Es ist gar nicht zu überse-
hen, daß ja bereits die programmatischen Äußerungen zum satirisch-kritischen
Dokumentarcharakter der Dichtung unter einer sehr viel größeren Anspannung
stehen. Anders als Holz, der im Druck von 1919 und in der Endfassung seiner
Blechschmiede ins Bild des "umgekippten, umgeschwippten, umgestürzten
WUNDERPAPIERKORBS" geht, "dessen fatale, spirale, infernale, weggewor-
fene, abgetane Schnipsel sich rätselhaft aufrichten, gespenstisch in Reih und
Glied treten und plötzlich, hastdunichtgesehn, dendeubelnochmal, heijeijeijei,
alle wieder urquick, urfidel und urlebendig werden, "22 und damit innerhalb seines
Schriftsteller-Schreibtischhorizonts bleibt, knüpft Kraus - nicht nur der losen
Anspielung nach, sondern wirklich im Kern der Bedeutung - an so schwergewich-
tige Bibelbilder wie die der Vertreibung des ersten Menschenpaares aus dem
Paradies oder der Aussendung der Apostel an, um seine literarische Mission zu
umreißen: "Mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie.
So ging ich hin und zitierte sie."23 Die ganze Unausweichlichkeit dieser
19 Otto Julius Bierbaum, Stilpe, Ein Roman aus der FroschperspeJaive, München 1%3, S. 17l.
20 Holz, Briefe, a.a.O., S. 122.
21 Holz, Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 501.
22
Holz, Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 6.
23 Kar! Kraus, Die Fackel, Nr. 368/9, S. 1.
Verändenmgen des Dramas in der Satire 143
Bestimmung tritt dann auch aus einer Fülle weiterer Äußerungen hervor, wobei
der Zusammenhang bald enger, bald weiter gezogen ist:
Mein Amt war nur ein Abklatsch eines Abklatsches. Ich habe
Geräusche übernommen und sagte sie jenen, die nicht mehr höften.
Ich habe Gesichte empfangen und zeigte sie jenen, die nicht mehr
sahen. Mein Amt war, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in
Druck und Klammem sich verzerren zu lassen, wissend, daß ihr
Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte. Nicht aus-
zusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzumachen, was scheint.
Zu zitieren und zu photographieren. 24
Alle diese Äußerungen finden sich in der Fackel: hier ist der Ort, an dem sich -
parallel zur praktischen, vor allem auf die Presse konzentrierten Kritik, aufs eng-
ste mit ihr verbunden - bei Karl Kraus eine Theorie der Satire entwickelt, die zen-
tral auf der Sprachkritik und den diversen Künsten des Zitierens basiert. Die er-
sten Hefte der Fackel datieren aufs Jahr 1899, liegen also zeitlich in etwa auf der
Höhe der Konzeptionsphase der Blechschmiede des Amo Holz, die ich mit dem
Brief an Georg Hirth, den Herausgeber der Jugend, aus dem Jahr 1897 belegt
habe. Nimmt man die Zeitschrift in dieser ihrer markanten Entwicklung und setzt
sie als Parameter für die Blechschmieden-Literatursatire und deren fortführende
Modifikationen, an denen der Autor bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und dar-
über hinaus gearbeitet hat, dann stellt man leicht fest, daß Holz trotz aller impo-
nierenden Auswalzungen innerhalb der ursprünglichen Witz- und Komik-
Konzeption verharrt ist und keine rechte Bindung an den immer beklemmenderen
historischen Prozeß gewonnen hat. In der auf den Weltkrieg hinauslaufenden
Menschheitstendenz liegt nun aber gerade das die Satire eskalierende Moment bei
Karl Kraus und der Entbindungsfaktor für den Schritt ins satirische Drama. Im
Sinn des Titels, den er ihm gegeben hat - Die letzten Tage der Menschheit - , fi-
xiert das Stück den Untergang der Welt in der Phrase, in der schwarzen Magie der
Zeitungslettern, die nicht mehr wissen, wovon sie reden, und beschwört das
'niedergeschriebene Schauspiel' - mit all den Mitteln gestisch-mimischer Verge-
genwärtigung, wie sie nur das Theater bietet - die apokalyptische Szene. Die fast
zwei Jahrzehnte lang an der Presse der Zeit geübte Kritik der Fackel geht dem
Drama voraus, das Drama geht aus ihr hervor. Wir finden deshalb im szenischen
Detail dieselben Fähigkeiten gewahrt, die sonst nur von der Glosse wahrgenom-
men werden können: einen Schnitt quer durch die Zeit zu legen und die sympto-
matische Betrachtungsweise gerade auch an scheinbar geringfügige Anlässe der
zeitgenössischen Alltagswirklichkeit zu binden. Aus der Beule auf die Pest, aus
dem Tropfen auf die Sintflut zu schließen: "Unter ironischem Aspekt", schreibt
Krut Krolop, "erscheint diese Fähigkeit ihrem Inhaber als 'Besitz der Midasgabe,
daß jede Stelle eines Journals ( ... ), die nur mein Finger berührt, vorher Blech
geworden ist'; unter tragischem Aspekt als Gefühl dessen, was Karl Kraus als
seine 'Schuld' empfunden hat die Schuld des Satirikers, der, wie es im Schluß-
monolog des 'Nörglers' in den Letzten Tagen der Menschheit heißt, 'Augen hatte,
die Welt so zu sehen und dessen Blick sie getroffen hat, daß sie wurde, wie ich
sie sah'; der alles aus der Perspektive einer schauerlichen Umkehrung von
Ursache und Wirkung erlebt und infolgedessen versucht ist, sein Werk nicht als
Echo des 'Grundtons dieser Zeit', sondern den Grundton dieser Zeit als das 'Echo
seines blutigen Wahnsinns', seiner antizipierenden Phantasie zu empfinden."2S
2S Dietrich Simon, Karl Kraus, Stimme gegen die Zeit, Kurt Krolop, Dichtung und Satire bei
Karl Kraus, Beiheft zur dreihändigen Karl-Kraus-Auswahl, Berlin oJ., S. 123.
"DEM BÜRGER FLIEGT VOM SPITZEN KOPF DER
HUT"
"Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat. Nichts konnte einfacher und
natürlicher sein":l das sind die ersten heiden Sätze in Heinrich Manns Professor
Unrat. Der Schluß des Romans greift auf sie zurück, "Ne Fuhre Unrat!", quäkt
ein Bierkutscher bei der Verhaftung des Helden und reckt hinterm Lederschurz den
bleichen Schlingelkopf heraus. "Unrat", heißt es jetzt, "warf sich herum, nach
dem Wort, das nun kein Siegeskranz mehr war, sondern wieder ein nachfliegendes
Stück Dreck".2 Daß Unrat wieder Unrat ist, ist die entscheidende ModifIkation:
damit das Ende des Romans auf den Anfang zurückfallen kann, mußte der Anfang
in Frage gestellt, kompliziert werden.
Wie mit der Handlung des Romans verhält es sich mit seinem eigentlichen
Thema, das der Untertitel fIxiert: Das Ende eines Tyrannen. - Gleich auf der er-
sten zur zweiten Druckseite, eingearbeitet in den ersten Umriß der Figur, unmit-
telbar anschließend an "Da er Raat hieß", heißt es: "Man brauchte nur auf dem
Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien: 'Riecht es hier nicht nach
Unrat?' oder: 'Oho! ich wittere Unrat!' Und sofort zuckte der Alte heftig mit der
Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen
Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu
und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in
den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. "3 Die folgenden Kapitel nehmen diese
Charakterisierung auf und führen sie fort, so daß es zu einer Art Verhaltensstudie
kommt: der Autor hält die verschiedenen Entwicklungsstadien des bedrohten
Tyrannen Unrat fest. So ist der "schwindelnden Panik des Tyrannen bald jede
Gewalttat recht",4 durch sprengt ihn die "Panik des bedrohten Tyrannen", die ihn
mit giftiger Angst um Straßenecken nach Schülern und Attentätern schielen
läßt,S schießt ihm die von "Angst durchjagte Tyrannenwut zu Kopf',6 packt ihn -
"Alleinherrscher im Kabuff"7 - der "Schwindel des bedrohten Tyrannen"8 oder
Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, Leipzig o. J. (H. M.
Gesammelte Romane und Novellen, Bd. 6), S. lf.
2 A.a.O., S. 279.
A.a.O., S. 2.
4
A.a.O., S. 58.
5 A.a.O., S. 96 u. ö.
6 A.a.O., S. 112.
7
A.a.O., S. 155.
A.a.O., S. 160.
146 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
A.a.O., S. 233.
10 A.a.O., S. 11.
11 A.a.O., S. 44.
12 A.a.O., S. 166.
13 A.a.O., S. 194ff.
14 A.a.O., S. 137f.
Satirischer Roman bei Heinrich Mann 147
zum Ball bei Konsul Breetpoot. "Unerkannt und drohend", heißt es, sieht er aus
dem Schatten heraus der "schönen" Welt zu und hat "das Ende von alledem in
seinem Geist, wie eine Bombe. nu Dazu paßt, daß auch das äußere Erschei-
nungsbild des Gymnasialprofessors - im Gegensatz etwa zu den Lehrerfiguren
Affenschmalz, Knüppeldick, Hungergurt, Knochenbruch, Zungenschlag und Flie-
gentod in Wedekinds Frühlings Erwachen - von Anfang an nicht ausschließlich
karikiert gezeichnet ist. Wo ihn der Spott der Schüler im Schulhof, trifft, macht
Unrat einen "eckigen Sprung".16 Er ist die "große schwarze Spinne"17 oder ein
nächtlich ins Haus stehender Vampir. Eine Fledermaus, lautet die betreffende
Szene, beschreibt Zacken über Unrats Hut; er schielt nach der Stadt hinauf und
sagt wohl: "Ich lege euch Bande noch mal hinein. "18
Dem Umsprung von Tyrann zu Anarchist folgt auch Unrats Charakterisierung
durch seine Sprache. Hat es in den ersten Kapiteln, also vor allem in der Kon-
frontation mit den Schülern, den Anschein, als laufe seine ganze Rede nur auf die
Selbstentlarvung des tückischen, in seinen Formeln verkrusteten Schuldespoten
hinaus, erweist sich umgekehrt, etwa in den Auseinandersetzungen mit den Stadt-
honoratioren, daß Unrats verschroben latinisierenden Perioden - durchwirkt mit
albernen kleinen Flickworten, Gewohnheiten seiner Homerstunde in Prima -
durchaus Momente von revoltierender Aufsässigkeit und couragiertem Widerstand
innewohnen, die die Sympathie des Lesers haben. Auf sein Verhältnis zur Schau-
spielerin Fröhlich angesprochen, antwortet er: "Herr Direktor, der Athenienser
Perikles hatte - traun fürwahr - die Aspasia zur Geliebten. "19 Oder er schwingt
sich - eben nachdem er erkannt hat, daß Lohmanns Kaste "eine zu brechende" ist
- auf zu: "Vorwärts nun also! Ich bin nicht gewillt, dies alles noch länger zu dul-
den! "20 In solchen Situationen gewinnt Unrat Züge eines echten Anarchisten, der
sich nicht nur übers Vorurteil kühn hinwegsetzt, sondern die gegebenen Ord-
nungen selbst in Frage stellt und sprengt.
Andererseits läßt Heinrich Mann keinen Zweifel, daß seinem Gymnasial-
professor alles Zeug zum wirklichen Antagonisten der herrschenden Verhältnisse
abgeht, daß er - auch in dieser Hinsicht - aus seinem Namen nicht herauskommt:
auf einen Zusammenbruch, der nicht darin besteht, daß einer aus der Schule
vertrieben wird, verfällt er nicht; jedes andersgeartete Verderben übersteigt seinen
engen Horizont So wird zum Ende des Roman hin deutlich, daß es sich bei der
Ablösung der Tyrannei durch die Anarchie, wie sie am Helden vorgeführt wird,
um keinen Ausbruch, keine Wandlung, sondern lediglich um die Identifikation
dessen, was Unrat repräsentiert, mit sich selbst handelt: indem der Tyrann zum
Anarchisten intro- bzw. extravertiert, transzendiert er auf sein eigentliches Prin-
15
A.a.O., S. 48.
16 A.a.O., S. 3.
17 A.a.O., S. 124.
18 A.a.O., S. 34.
19 A.a.O., S. 174.
20 A.a.O., S. 138.
148 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
zip. Anders gesagt: der Anarchist Unrat überschreitet nicht die Grenze, die vom
Tyrannen Unrat gesetzt ist, sondern er entdeckt nur eine andere Fonn der Herr-
schaft, als er sie bisher ausgeübt hat. die letzte Form des Despotismus, die ihm
verblieben ist. Verunsichert, in seiner Alltagswelt in Frage gestellt und in seiner
Machtausübung unterlaufen, von allen Seiten verspottet, erscheint ihm der
Untergang aller die einzige Alternative: deshalb reißt er die ganze Stadt in den
Strudel der Vernichtung mit, stellt sie bloß, ruiniert sie. Die Bombe platzt.
Die entscheidende Zurückführung des Anarchisten Unrat auf den Tyrannen
Unrat gibt Heinrich Mann im siebzehnten und letzten Kapitel des Buches: wie-
derum bedient er sich des Mediums Lohmann. In dessen Gespräch mit der Künst-
lerin Fröhlich kommt es zu folgender Charakterisierung: "Er ist ein Tyrann, der
lieber untergeht als eine Beschränkung duldet. Ein Spottruf - und der dringt noch
nachts durch die Purpurvorhänge seines Bettes und in seinen Traum - verursacht
ihm blaue Flecke auf der Haut, und er braucht, um sich davon zu heilen, ein
Blutbad. Er ist der Erfinder der Majestätsbeleidigung: er würde sie erfinden, wenn
es noch zu tun wäre. Es kann kein Mensch sich ihm mit so wahnsinniger
Selbstentäußerung hinwerfen, daß er ihn nicht als Empörer haßte. Der Menschen-
haß wird ihm zur zehrenden Qual. Daß die Lungen ringsumher einen Atem
einziehen und ausstoßen, den nicht er selber regelt, durchgällt ihn mit Rachsucht,
spannt seine Nerven bis zum Zerreißen. Es braucht nur noch einen Anstoß, eine
zufällige Widersetzlichkeit von Umständen - ein beschädigtes Hühnengrab und
alles, was damit zusammenhängt; es braucht nur noch die Überreizung seiner
Anlagen und Triebe, zum Beispiel durch eine Frau - und der Tyrann, von Panik
erfaßt, ruft den Pöbel in den Palast, führt ihn zum Mordbrennen an, verkündet die
Anarchie!"21 Damit schließt sich der Bogen; nachdem er seine Funktion erfüllt
hat, kann Unrat abtreten "ins Dunkel".22
Das analytische Moment, das ich - wie es ins Auge springt - herauszustellen
versucht habe, charakterisiert den Roman und prägt seine formale und inhaltliche
Struktur: rigoros stellt es die Erzählhandlung unter seinen Anspruch und bezieht
den Leser in die von ihm geleistete Anstrengung ein. Mit seiner Hilfe gelingt
Heinrich Mann die Organisation des Stoffs als politische Charakterstudie und -
darüber hinaus - als politische Gesellschaftsstudie der etablierten Herrschaft, die
Unrat, der ja expressis verbis wie kaum ein anderer an der Macht beteiligt und an
der Erhaltung des Bestehenden interessiert ist, repräsentiert. Fast alle Passagen,
die das Wechselverhältnis von bedrohter Tyrannei und ausbrechender Anarchie
ausführlicher entfalten, besonders die breit zitierte Zusammenfassung der Künst-
lerin Fröhlich gegenüber Lohmann, haben einen kritischen Überschuß über die
jeweilige Romansituation hinaus, an die sie geknüpft sind: statt sie steril in
Erzählung zu fesseln, gibt das Buch die Erkenntnis, die es abstrakt produziert,
auch abstrakt frei. Innerhalb des Romans kommt es zur zielgerichteten Auswei-
21 A.a.O., S. 265.
22 A.a.O., S. 279.
Satirischer Roman bei Heinrich Mann 149
tung des an Unrat getroffenen Befunds, wenn die Entgötterung des Helden als
"entgötterte Stadt"23 widerscheint oder nach der Verhaftung Unrats die Zurück-
bleibenden in Jubel gemten dürfen, weil- wie der Autor unterstreicht - "der Druck
ihres eigenen Lasters"24 von ihnen genommen ist. Umgekehrt garantiert der
wilhelminische Schulmeister als Held, daß sich die an ihm betriebene Analyse
nicht separiert und schlecht verallgemeinert, sondern stets phänotypisch zurück-
gebunden bleibt: daß man allerdings den Schulmeister gegen seinen Kaiser
austauschen könne, war schon dem zeitgenössischen Leser nicht verborgen ge-
blieben.
Bekanntlich setzt sich die Kritik des Wilhelminismus, wie sie Professor Unrat
anreißt, in dem Roman Der Untertan fort: Heinrich Manns Vorarbeiten dazu be-
ginnen 1906, schließen also - später freilich unterbrochen durch die Arbeit an
Zwischen den Rassen, Die kleine Stadt, Novellen, Essays und Schauspielen -
unmittelbar an die Veröffentlichung des Professoren-Romans von 1905 an. Beide
Romane sind denn auch an verschiedenen Punkten thematisch eng ineinander ver-
zahnt; auch strukturelle Entsprechungen sind zu konstatieren. Besonders die
Exposition des Untertan zeigt, daß Heinrich Mann zunächst an ein ähnlich analy-
tisches Vorgehen zum Zweck eines politischen Charaktergemäldes dachte, wie er
es im Unrat entworfen hatte, nur daß nun statt des Tyrannen Raat der Untertan
Heßling im Zentrum stehen sollte: wenn auf den ersten Druckseiten des Romans
Diederich Heßlings leidende Teilnahme an der Macht, seine sadomasochistische
Subordination unter die ihm übergeordnete Autorität umschlägt in die sieges-
trunkene Unterdrückung Schwächerer, ist dazu - analog dem Umschlag des
Tyrannen in den Anarchisten Unrat - der Grund gelegt; vergleichbar ist die Ten-
denz, der Erzählung kommentierende Passagen anzuheften und durch sie hindurch
die Satire ins Werk zu setzen.
Trotz ähnlicher Anlage und vergleichbarer Zielrichtung gibt jedoch Der
Untertan kein striktes Parallelstück zum Professor Unrat ab: schon der langwie-
rige Prozeß der Entstehung, der das Manuskript erst 1914 zum Abschluß kom-
men läßt, deutet aufs veränderte Konzept hin. Während Professor Unrat - als
Stoff aus einer Zeitungsnotiz gewonnen, die dem Autor 1904 in der Pause einer
Florentiner Goldoni-Aufführung unterkam - rasch konzipiert und eben als konse-
quent analytischer Roman in kürzester Zeit zu Ende geführt wurde, setzt die Ab-
sicht, die Der Untertan verfolgt - ablesbar am Untertitel Geschichte der öffentli-
chen Seele unter Wilhelm /l., an dem Heinrich Mann während der Niederschrift
festgehalten hat -, nicht nur weitgreifende Materialrecherchen vomus, die sich im
vollendeten Roman dann als Mosaik noch aktueller Zeitbezüge präsentieren, son-
dern stellt das zitatmäßige Einbeziehen der Wirklichkeit in den Roman selbst als
generelles poetologisches Problem; aus ihm erwachsen im wesentlichen die
Schwierigkeiten bei der Abfassung. "Eine ganz naheliegende Zeit", heißt es im
23 A.a.O., S. 204.
24 A.a.O., S. 278.
150 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
Brief an Rene Schickeie vom 18. 7. 1913. "wenigstens all ihr Politisch-Morali-
sches. in ein Buch zu bringen. das überschwemmt einen mit Stoff. Die Wirk-
lichkeit ist eine Stütze und eine Last."25 Für die deduktive oder dokumentarische
Intention. die der Briefauszug anvisiert und als tragendes Prinzip des Romans
unterstreicht. kann aus der parallelen Essayistik Heinrich Manns Zola-Aufsatz
von 1915 zur direkten Ergänzung beigezogen werden; dort heißt es (über die
Romane des Franzosen. aber - wie ich meine - übertragbar auf den Untertan und
das Neue. das mit ihm ins Werk kommt): "Da ließ er denn aus Dokumenten. die
ihm alles bmchten. Plan. Charaktere. Handlung. eine Wirklichkeit sich bilden
und vollenden ( ...) die Zeit nahm sie entgegen. sie bestätigte seine Wahrheit! "26
Die Litemtur über Heinrich Mann hat sich mit den zahlreichen. dem heutigen
Leser oft nicht mehr ohne weiteres dechiffrierbaren zeitgeschichtlichen Implika-
tionen des Untertan befaßt und sie ausreichend verifiziert: ich brauche deshalb im
einzelnen nicht darauf einzugehen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß
Heinrich Mann - neben der Charakteranalyse in der Art des Unrat - die Erzählung
seines Helden so vorantreibt. daß er sie in enger ParallelfUhrung zum verbürgten
Erscheinungsbild Wilhelms 11. entwickelt Nicht nur gehören die beiden Begeg-
nungen Heßlings mit seinem Kaiser - vorm Bmndenburger Tor und in Rom - zu
den Höhepunkten der Handlung, sondern die ganze Vita ist in ihren wesentlichen
Bestandteilen eine einzige Imitation. Die Verwandlung vollzieht sich am Ende
des zweiten Kapitels; dort heißt es von Diederich: "Die Korporation. der Waffen-
dienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht.
Er versprach sich, zu Haus in Netzig seine wohlerworbenen Grundsätze zur Gel-
tung zu bringen und ein Bahnbrecher zu sein für den Geist der Zeit Um diesen
Vorsatz auch äußerlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am
Morgen darauf in die Mittelstraße zum Hoffriseur Haby und nahm eine
Veränderung an sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer
häufiger beobachtete. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen, um nach-
geahmt zu werden. Er ließ vennittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei
rechten Winkeln hinaufführen. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel
kaum wieder. Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die
Lippen herabzog, etwas katerhaft Drohendes. und die Spitzen des Bartes starrten
bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem
Gesicht der Macht" .27 Fortan blitzt es und tönt in Kaiserworten, wo immer
Diederich sich in Pose wirft.
Mit erhobener Stimme, den alten Sötbier im Auge, donnert Diederich. als er -
mit Schmiß und Doktor aus Berlin zurückgekehrt - die väterliche Fabrik in
Netzig übernimmt: "Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen.
Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen,
welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; die-
25 Zitiert nach Klaus Schröter: Heinrich Mann, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 73f.
26 Heinrich Mann: Geist und Tat, München 1963, S. 161.
27
Heinrich Mann: Der Untertan, Kurt Wolff Verlag, Leipzig-Wien 1918, S. 106.
Satirischer Roman bei Heinrich Mann 151
jenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere
ich." - Er versuchte, fügt der Autor illustrierend hinzu, "seine Augen blitzen zu
lassen, sein Schnurrbart sträubte sich noch höher."28 Von dieser Kopie des
Thronfolgers spannt sich der Zitatbogen über den ganzen Roman und begleitet
den Aufstieg zur Macht. Den Höhepunkt in dieser Hinsicht markiert die Rede, die
der Stadtverordnete' Generaldirektor Doktor Heßling anläßlich der Einweihung des
Kaiser-Wilhelm-Denkmals auf den letzten Seiten des Buches zu halten anhebt:
sie ist aus einer Vielzahl von Redezitaten des Kaisers so zusammenmontiert, daß
es geradezu zu einer Zitatenbündelung, einer Kaskade von Zitaten kommt. Unter
dem Beifall der Tribünen und dem beifälligen Nicken der Honoratioren deklamiert
Diederich etwa: "In staunender Weise ertüchtigt, voll hoher sittlicher Kraft zu
positiver Betätigung, und in unserer blanken Wehr der Schrecken aller Feinde, die
uns neidisch um drohen, so sind wir die Elite unter den Nationen und bezeichnen
eine zum ersten Male erreichte Höhe germanischer Herrenkultur, die bestimmt
niemals und von niemandem, er sei wer er sei, wird überboten werden können! "29
oder "Eine solche, nie dagewesene Blüte aber erreicht ein Herrenvolk nicht in
einem schlaffen, faulen Frieden: nein, sondern unser alter Alliierter hat es für
notwendig gehalten, das deutsche Gold im Feuer zu bewähren. Durch den
Schmelzofen von Jena und Tilsit haben wir hindurchgemußt, und schließlich ist
es uns doch gelungen, siegreich überall unsere Fahnen aufzupflanzen und auf dem
Schlachtfelde die deutsche Kaiserkrone zu schmieden! "30 und" Aus dem Lande des
Erbfeindes wälzt sich immer wieder die Schlammflut der Demokratie her, und nur
deutsche Mannhaftigkeit und deutscher Idealismus sind der Damm, der sich ihr
entgegenstellt. Die vaterlandslosen Feinde der göttlichen Weltordnung aber, die
unsere staatliche Ordnung untergraben wollen, die sind auszurotten bis auf den
letzten Stumpf, damit, wenn wir dereinst zum himmlischen Appell berufen
werden, daß dann ein jeder mit gutem Gewissen vor seinen Gott und seinen alten
Kaiser treten kann, und wenn er gefragt wird, ob er aus ganzem Herzen für des
Reiches Wohl mitgearbeitet habe, er an seine Brust schlagen und offen sagen
darf: Ja! "31
28 A.a.O., S. 111.
29
A.a.O., S. 501.
30 A.a.O., S. 504f.
31
A.a.O., S. 506. - Weiter dazu vgl.: Ulrich Weisstein, Satire und Parodie in Heinrich
Manns Roman 'Der Untertan', in: U. W., Links und links gesellt sich nicht,
Gesammelte Aufsätze zum Werk Heinrich Manns und Bertolt Brechts, New York, Bem,
FrankfuntM. 1986, S. 105ff.: "Die Satire (... ) setzt sich - ich brauche dies kaum zu
betonen - kritisch aggressiv mit den herrschenden Zuständen auseinander. Sie ist ein
Geschwister der Karikatur, jener visuellen Groteskkunst, die durch Vereinfachung,
Verzerrung und übersetzung ein in der Wirklichkeit beheimatetes Phänomen zwecks
Bloßstellung auf sein Wesentliches reduziert. ( ... ) Im Grunde ( ... ) persiflierte die
Wilhelminische Ära sich selbst in ihrem überheblichen und anmaßenden Sprach- und
Lebensstil. Man denke an die rhetorische Gymnastik des Kaisers 'von Gottes Gnaden'
( ... ). Vielfach verwendet wird das echte Zitat, das von den Figuren des Romans eindeutig
als solches gekennzeichnet und angeführt wird. ( ... ) Die häufig auftauchenden
152 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
unverfälschten Zitate werden ergänzt durch eine Reihe von Aussprüchen, die im Text
zwar auch mit Gänsefüßchen ausgestattet sind, aber, näher besehen, Varianten
darstellen, die eine Verschiebung ins Trivial-Kornische bewirken. ( ... ) Die beiden
obigen Formen des Zitats - das echte und das leicht verunstaltete - werden im 'Untertan'
zuweilen auch dadurch kornisch verfremdet, daß sie aus ihrem Zusammenhang gerissen
und von Heßling, dem kleinen Wilhelm in der Westentasche, auf seine eigene
bürgerliche Existenz und Tätigkeit bezogen werden.
Satirischer Roman bei Heinrich Mann 153
32 A.a.O., S. 348.
33 A.a.O., S. 386.
154 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
- Dagegen deutet sich im Untertan eine Gegenkraft an, die tätig die Auflösung
des Bestehenden betreibt und damit revolutionär ist. Gradlinig steuert die
Handlung des Romans dem Höhepunkt jener Rede zu, die Diederich Heßling zur
Einweihung des "erstklassigen" Kaiser-Wilhelm-Denkmals hält; noch einmal -
jetzt sozusagen öffentlich - wird die Verwandlung des Untertanen in seinen Kaiser
(und umgekehrt) vorgeführt Die Rede gipfelt im erwähnten Zitatenschwall und
zusätzlich in Versicherungen wie: "Darum kann es mit uns nie und nimmer das
Ende mit Schrecken nehmen, das dem Kaiserreich unseres Erbfeindes vorbehalten
war!" - "An dieser Stelle," fährt Heinrich Mann unmittelbar anschließend fort,
"blitzte es; zwischen dem Militärkordon und der Brandmauer, in der Gegend, wo
das Volk zu vermuten war, durchzuckte es grell die schwarze Wolke, und ein
Donnerschlag folgte, der entschieden zu weit ging."35 Was da wie eine zufällige
unliebsame Unterbrechung anmutet, entpuppt sich allerdings nur zu rasch als ein
"schwefelgelbes" Gewitter mit "eigroßen Regentropfen", das tatsächlich alle
Grenzen der Natur sprengt und so seine poetische Absicht offen vor sich herträgt
Festarrangement, Festredner und Rednerpult, Ordensverleihung, Oberpräsident
und Flügeladjudant, Frack, Dame und alles, was sonst im schwarzweißrot behan-
genen Gehege Rang und Namen hatte, gehen in einer einzigen Sintflut unter, die
sich zum "Umsturz der Macht" auswächst und von Diederich auch als solcher er-
fahren werden muß: "schwindelnd des Endes von allem gewärtig, die fliegenden
Trümmer des Umsturzes, samt dem Feuer von oben über seinem Haupt, erfaßt
sein Abschiedsblick dies Gefegtwerden von den Peitschen der Höhe unter
Strömen Feuers, diesen Kehraus, wie der einer betrunkenen Maskerade, Kehraus
von Edel und Unfrei, vornehmstem Rock und aus dem Schlummer erwachten
Bürger, einzigen Säulen, gottgesandten, idealen Gütern, Husaren, Ulanen,
Dragonern und Train! "36
Statt sich aufzulösen ins eigene Chaos, wie es im Unrat geschieht, gerät hier
die Welt um Diederich Heßling an ihre objektive Schranke: aus der Gegend, wo
das Volk zu vermuten ist, bricht der Orkan los. Zwar weist Heinrich Mann darauf
hin, daß es sich beim "Umsturz von Seiten der Natur um einen Versuch mit un-
zulänglichen Mitteln handelt, daß die apokalyptischen Reiter" nur ein Manöver
abhalten für den Jüngsten Tag,37 aber die Ironie dieser Sätze bezieht sich nur auf
die erzählerische Inszenierung, die notgedrungen die dokumentarische Grundkon-
stellation des Romans in Richtung aufs Visionär, dem Wirklichkeit noch nicht -
oder gerade erst in Zeichen - entspricht, übersteigt. An der tatsächlichen Relevanz
35 Heinrich Mann: Der Untertan, op. cit., S. 503. - Vgl. F.C. Delius, Der Held und sein
Wetter, Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen
Realismus, München 1971, S. 107: (Variante 2) Wetter - zur satirischen Denunziation
des Helden -"Beispielsweise der 'Untertan'. Diederich Heßling in Rom, wie närrisch
hinter seinem Kaiser her: Einige Sekunden lang sind heide 'ganz miteinander allein',
'unter einem knallblauen Himmel' - dann am Schluß das Gewitter, das den ganzen
wilhelminischen Klimbim kaputt macht."
36
A.a.O., S. 507f.
37 A.a.O., S. 510.
156 Satirischer Roman bei Heinrich Mann
38 A.a.O., S. 512.
IM BEZUGSFELD VON 'EIGEN' UND 'FREMD'
Solange sich die Begriffe nicht eindeutig von selbst erklären und uns eine sinnli-
che Anschauung jener Realitäten bieten, die sie bezeichnen, ist es sinnvoll, sich
mit ihrer wechselhaften, ja widerspruchsvollen Geschichte und konkret mit
BeispieInillen auseinanderzusetzen, um auf diesem Wege zu einer besseren
Einschätzung und zum Begreifen der Begriffe zu kommen, mit deren Hilfe sich
Realität besser verstehen läßt In diesem Sinne stellen die nachfolgenden, auf hi-
storisch eingeengtem Terrain angestellten Beobachtungen zumindest einen in-
struktiven Fall und vielleicht ein brauchbares Paradigma dar, das sich zu der
Frage, was denn 'Autorität' sei, sein könne oder gewesen sein könne, in einen in-
teressanten Bezug setzen läßt.
Bei dem Berliner Dadasophen Raoul Hausmann stößt man gelegentlich auf die
Kontrastbegriffe 'Eigen' und 'Fremd' im Sinne von 'Eigenbestimmung' und
'Fremdbestimmung' - etwa in folgender Formulierung: "DADA war für mich die
'offene Tür', um das 'eigene Ich-selbst' im Verhältnis zum 'Anderen', dem
'Fremden', die Forderungen des Besitzes, Eigentum, und der Gesellschaft neu zu
überdenken. / Für mich war die 'Gegenwart' entscheidend als Forderung der
neuen, aktuellen Zeit"l. Oder - mit anderen Worten und weniger direkt: "Die
Epoche, in der Dada auftauchte, war gegen die Vorherrschaft der 'ewigen und un-
wandelbaren' Ideale gerichtet, von viel tiefer liegenden Gemeinschaftskomplexen
her als einer bloß oberflächenhaften Skandalüberkompensation. Was tun', spricht
Zeus, 'die Welt ist weggegeben' - die Welt forderte ihre Rechte auf ihre eigene
Existenz, keine von Zeus bewilligte oder erborgte"2.
Otto Gross, auf den sich diese Zitate beziehen lassen, worauf Hausmann in
seiner fmgierten Begegnung mit Franz Kafka ausdrücklich hinweist, war bereits
tot, als die Berliner Dadaisten ihre Soireen gaben, auf Tournee gingen und ihre
Internationale Dada-Messe veranstalteten. In den ersten Monaten der Unruhen
nach dem Ersten Weltkrieg war er - rauschgiftsüchtig - elend vor Hunger auf der
Straße zu Tode gekommen. Trotzdem gehörte er - als eines der auslösenden
Momente, die das Spezifische ausmachten - mit zu Dada Berlin, gab maßgebliche
Anstöße und lieferte in seinen Schriften wichtige Aufschlüsse über die angespro-
chene Problematik.
Die sogenannte Gross-Affäre, die in die Jahre unmittelbar vor dem Ausbruch
des Krieges fallt, besaß einen hohen politisch-gesellschaftlichen Symptom wert
Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, hrsg. von Günter Kämpf und Kar! Riha,
SteinbachlGießen 1972, S. 152.
2 A.a.O., S. 12.
158 Im Bezugsfeld von 'Eigen' und 'Fremd'
Das Ausweisungsersuchen des Vaters, der sich neben seiner Amtsautorität auf
ein psychologisches Gutachten von C.G. Jung stützte, das den jungen, ebenfalls
von der Lehre Sigmund Freuds abgefallenen Kollegen als gefährlichen Psy-
chopathen charakterisierte, stellte eine ungehörige Beeinflussung der preußischen
Polizeibehörde dar; das eine Faktum gab wissenschaftlich-literarischen, das
andere innenpolitischen Zündstoff. Kein Wunder also, daß sich schließlich auch
die 'große Presse' des Skandalfalles annahm und sich seiner publizistischen
Brisanz bewußt wurde.
Zunächst aber bedurfte es der Ankurbelung dieses öffentlichen Interesses.
Franz Jung bewerkstelligte dies, indem er eine Nummer der Zeitschrift
Revolution, die Johannes R. Becher in München herausgab, mit "Zuschriften
und Beiträgen von Dichtem und Schriftstellern aus aller Welt für das Recht des
individuellen Erlebens gegen den gefährlichen Starrsinn väterlicher Autorität"4
füllte und tausend Sondernummern an diverse Grazer Adressen verschickte, um
den "Professor an seiner eigenen Basis anzugreifen und zu vernichten". Auch die
von Franz Pfemfert herausgegebene Aktion, in der Otto Gross bis dahin einige
seiner wenigen schriftstellerischen Arbeiten veröffentlicht hatte - so auch Protest
und Moral im Unbewußten, ein Artikel, der ins Zentrum der Problematik von
'Eigen' und 'Fremd' führte - , setzte sich für den Verfolgten ein; der Herausgeber
tat sogar ein übriges, indem er andere Zeitschriften ganz konkret um publizisti-
sche Unterstützung anging und diese einforderte, wenn sie ihm nicht prompt ge-
nug erfolgte. Dies war beispielsweise bei Erlch Mühsam der Fall, der zunächst
mit seiner Zeitschrift Kain nicht reagierte, um sich dann aber um so entschiede-
ner zu Wort zu melden. Hier seine Hauptinformation zur Sache:
So viel zur 'äußeren' Seite des Falles! Von unmittelbarer Wirkung auf die späte-
ren Berliner Dadaisten war die Person, waren die Schriften von Otto Gross - und
unter ihnen weniger die Buch-Veröffentlichung Überpsychopathische Minder-
wertigkeiten, als vielmehr die literarischen Aufsätze, die in kühnen Strichen die
Umrisse einer antifreudianischen Tiefenpsychologie entwarfen und vorführten, in
welcher Weise eine politische, politisch-revolutionäre Psychologie zu kon-
zipieren sei. Hier nahm Gross Stellung zu aktuellen Fragen, etwa Zum Problem
Parlamentarismus, wie es sich nach 1918/19 stellte. Aus seiner anarchistischen
Grundposition heraus sah er die parlamentarische Demokratie der Weimarer
Republik als nichts denn eine "Gewandtheitsprobe für die Reaktion" an, als einen
"Kompromiß", um den sich die "Elemente zweiten Ranges" scharen, nachdem die
"Springflutwelle" der Revolution verebbt war: ihnen werde das Spiel mit dem
"parlamentarischen Problem" zur Frage der Taktik, führe zur "Verschleierung vor
sich selbst wie vor anderen", berge "die gefährliche Täuschung des Einzelnen
über die eigene Natur und der Gesamtheit über den tiefen politischen und psy-
chologischen Sinn der großen Prinzipien"6. Wenn die Berliner Dadaisten gegen
den 'Geist von Weimar' zu Felde zogen, gründeten sie in solchen Anschauungen,
wie sie hier projiziert wurden. Ihre Wirksamkeit war nicht allein dadurch garan-
tiert, daß es sich um Sätze auf dem Papier handelte, sondern um Positionen, für
die, wie es schien, ein junges Leben riskiert und in die Waagschale geworfen
wurde. So jedenfalls sah es Franz Jung, als er den Tod des Otto Gross literarisch-
metaphorisch und politisch-gesellschaftlich wie folgt zu deuten suchte:
Erieh Mühsam. Bemerkungen, Der Fall Groß. in: Kain, 3. Jg., 1913/14, S. 153ff.
6
Ouo Gross, Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, hrsg. von Kurt Kreiler,
Frankfurt/Main 1980. S. 6Off.
Im Bezugsfeld von 'Eigen' und 'Fremd' 161
7
Jung, Der Weg nach unten, a.a.O., S.92.
8 Gross, Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, a.a.O., S. 13ff.
9 A.a.O., S. 32.
10 A.a.O., S. 42.
162 Im Bemgsfeld VOll 'Eigen' und 'Fremd'
Mit dem Genesis-Bericht und ganz speziell mit der 'Sündenfall'-Erzählung samt
Vertreibung aus dem Paradies, präzisiert der Autor, sei jene kulturelle Katastro-
phe markiert, "mit welcher der Vaterrechtsgedanke zum dominierenden Prinzip"
erhoben wurde: ein "Vorgang der Urzeit" also, der eine "Umwertung aller Werte"
zur Folge gehabt habe, durch welche "die Struktur der Gesellschaft sowohl als der
Charakter jedes einzelnen Menschen entscheidend umgeprägt und fortan der
gesamten Menschheit sozial und psychologisch bestimmte neue Richtlinien
aufgezwungen" worden seienll , und zugleich ein Vorgang, der noch heute jede
Kindheitsentwicldung konstituiere:
11 A.a.O., S. 45.
12 A.a.O., S. 66f.
13
A.a.O., S. 50.
14
A.a.O., S. 51.
Im Bezugsfeld von 'Eigen' und 'Fremd' 163
Unterricht in der Psychologie des Unbewußten - folgt man dem Gesagten - ist
somit unmittelbar gleichzusetzen mit der "Einführung in den Geist der Revo-
lution":
15
A.a.O., S. 52.
16 A.a.O., S. 55.
164 Im Bezugsfeld von 'Eigen' und 'Fremd'
Obwohl es Berührungspunkte gibt, ist das Ziel dieser Revolution nicht der
kommunistische Klassenkampf mit seinem Ansatz bei den ökonomischen
Ungleichheitsverhältnissen und ihrer Beseitigung, der gerade zu Beginn der zwan-
ziger Jahre zahlreiche Künstler und Schriftsteller in seinen Bann zog, sondern die
bislang immer wieder verhinderte, jetzt aber endlich anzustrebende "freie
Beziehung freier Individualitäten" - und dies gerade auch hinsichtlich der
"autoritativen Rechtsgebundenheit und des erstickenden Machtkampfes zwischen
den Geschlechtern in Ehe und Prostitution". Aus ihrer Forderung folgert deshalb
- mit der "Zertrümmerung der Vaterrechtsfamilie", deren Herrschaft ja nicht auf
das Bürgertum beschränkt ist, sondern ins Proletariat hinüberreicht und somit
klassenüberschreitend wirksam wird - zuallererst auch die "Befreiung der Frau aus
ihrer privaten Hörigkeit, der Abhängigkeit vom Mann als absoluter Grund-
bedingung jeglicher Befreiung überhaupt".18 Wo dies das Ziel "funktioneller
Geistesbildung" - sprich: Erziehung - werden kann, so skizziert in dem Aufsatz
Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs von 1919, dient es der
"Befreiung der Liebe von der Sabotage durch die latenten Autoritätsmotive" ,
durch "Unterwerfungsbereitschaft" wie den "Willen zur Macht":
Und damit wird ein Geschlecht erzogen werden, das, innerlich frei
vom latenten unwiderstehlichen Hang zur Autorität, die autoritäts-
lose Menschlichkeit der Zukunft der Realisierung nähern wird. 19
Damit ist wohl historisch eingeholt, was Otto Gross - als Verfasser dieser
Schriften (nach einer von Franz Jung geplanten Zusammenstellung, die aber
nicht zustandekam, erschien eine erste Auswahl 1980) - Ende der sechziger Jahre
und in die siebziger Jahre hinein, als sein Name wiederentdeckt wurde, für eine
aktuelle Rezeption interessant machte: es war also nicht nur, wie man zunächst
vermuten konnte, der Künstler- und Literaten-Zirkel der Expressionisten und
Dadaisten, dem er die Stichworte von 'Eigen' und 'Fremd' gegeben hatte, unter
denen sie sich aus dem Bann der akademischen Kunst- und epigonalen Lite-
raturtraditionen lösten, sondern es war auch - sehr viel allgemeiner und ganz
aktuell - die damals propagierte Parole der 'antiautoritären Erziehung', der er anti-
zipatorisch einen festen Um riß gab, und dies - aus seiner umfassenden Per-
spektive heraus - bereits damals eindeutig gebunden an die notwendige
Emanzipation der Frau sowohl in psychologischer wie in gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Hinsicht.
17 A.a.O., S. 65f.
18
A.a.O., S. 69.
19 A.a.O., S. 70.
Im Bezugsfeld von 'Eigen' und 'Fremd' 165
Der Begriff der 'Autorität' ist für Otto Gross, wie das Dargelegte deutlich
macht, eindeutig negativer Natur. Diese negative Einschätzung wurde, folgt man
den einschlägigen Dokumenten, zumindest von einem Teil der Zeitgenossen - der
jungen literarischen Avantgarde - geteilt und übernommen: die Berliner Dadaisten
lehnten sich heftig gegen die Autoritäten der Zeit auf und demontierten sie in ih-
ren Aktionen. Sie erklärten sich gegen den Besitz, gegen die herrschende Ethik
und Moral usw. - und setzten sich somit in direkte Verbindung mit den Ideen des
Otto Gross. Gerade in dieser engen Amalgamierung mit der protesthaften Kunst-
und Literaturbewegung der Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg haben
sie bis heute ihre Faszination behalten und wirken nach.
Wie aber steht es mit der Kritik der Kritik und der des Kritikers? Wo hätte sie
anzusetzen, was darf sie ins Spiel bringen? Sicher nicht die Forderung nach der
Restitution der tradierten, von Gross attackierten Werte, als seien sie zu Unrecht
angegriffen worden, aber doch wohl die Frage, in welcher Weise die extreme
Fixiertheit auf seinen Vater Otto Gross auch noch in seiner Ablösung und sei-
nem Protest auf ihn zurückgeworfen und ihn ihrerseits unter ihre Autorität - das
heißt: unter einen eigenen Zwang - gestellt hat, dem er sich nicht entziehen
konnte. Wurde diese Fixiertheit durch die Methode der Psychoanalyse, der Gross
wissenschaftlich verpflichtet war und die ja exakt mit den unbewußten Erfah-
rungen der Kindheit argumentiert, die im Erwachsenen-Status bewältigt werden
müssen, noch einmal verstärkt? Welche Rolle kommt der Droge zu, der er sich
auslieferte, wobei die folgende Deutung erlaubt ist: "Sie sollte das Gefühl der
autoritären Bedrückung lindern helfen, sie war ein Mittel, um den Pressionen der
'Sorge' nicht zu erliegen. Die Sucht bildete für Otto Gross eine Möglichkeit des
antiautoritären Protests ohne das Risiko der totalen Entfremdung - die verhaßte
väterliche Sorge, vom kindlich gebliebenen Wunsch des Sohnes als 'Liebe'
gedeutet, durfte nicht aufhören. So gestattete sich Otto eine Enthemmung, die der
Ideologie des Vaters nach ans Verbrechen grenzte, aber im Kreis der Familie als
Krankheit gedeutet werden konnte. Die Wirkung der Droge war zugleich die über-
steigerte Wirkung eines 'frühen' Gefühls - des Empfindens von 'Ohnmacht als
Stärke'. So besaß das 'Kokain' (oder Morphium) eine zweite wichtige Funktion:
es erlaubte und erzwang die IdentifIkation mit der ohnmächtigen, der 'verge-
waltigten' Mutter - und es ermöglichte zugleich durch das flüchtig hervorgerufene
Gefühl der Allmacht die Vision von ihrer Befreiung".20 - Löste sich Gross aus der
als Alpdruck empfundenen Autorität des Vaters, indem er sich unter die
'Autorität' des Rauschgifts begab, dem er erlag?
Und wie steht es mit dem 'revolutionären Denken' selbst und seinem
Anspruch, wie mit der konkreten Forderung nach 'Revolution' und den Vor-
stellungen, die sich mit ihr verbinden? Wohl durch Nietzsche beeinflußt,
entwickelte sich Gross zu keinem Kämpfer für das Prinzip der parlamentarischen
Demokratie, sondern er verband seine Hoffnung auf eine herrschaftslose Gesell-
20 Kurt Kreiler, Zum Fall Otto Gross, in: Gross, Von geschlechtlicher Not ...• a.a.O .• S. 154f.
166 Im Bemgsfeld von 'Eigen' und 'Fremd'
schaft mit dem Appell an eine zahlenmäßig "begrenzte Elite", der es gelingen
müßte, die neuen Ideen "aus eigener Initiative und schöpferisch zu erschauen",
um sie "den großen entrechteten Massen durch geistige Überwältigung und aus
der Kraft des Willens zur Gemeinsamkeit suggestiv übertragbar und durch
Verschränkung mit den Grundmotiven der eigenen fruchtbaren Realität zu eigen
zu machen". 21 Deutet sich hier - gegen die verworfene väterliche - eine andere,
neue Form der Autorität an, oder gehört auch dieser Entwurf nur in den großen
brodelnden Gärkessel jener Jahre, dem so mancherlei Utopien einer radikal verän-
derten Gesellschaft entstiegen, bis sich die braunen Horden des Nationalso-
zialismus ihrer annahmen und ihnen auf ihre Weise brutal den Garaus machten?
Schließlich: wie sind die großen, aus frühgeschichtlichen Schichten heraufge-
holten und in die Zukunft gerichteten Hoffnungen zu werten, die Gross gegen die
vaterfIxierte Autoritätsfamilie und Autoritätsgesellschaft ans Mutterrecht bindet?
Wird hier das 'Vater-Prinzip' als solches einfach außer Kraft gesetzt, erfüllen sich
hier alle utopischen Forderungen nach 'Freiheit' und 'Beziehung' ohne jede 'Auto-
ritäts'-Komplikation - oder treten andere, ebenso problematische Kräfte auf,
ihrerseits nicht weniger gefährlich als die der 'vatemxierten Autorität'? Keine
Antwort, aber doch einen interessanten Hinweis erhalten wir aus der Liebes- und
Analytiker-Beziehung von Otto Gross zu Sophie Benz, der er 1911 nach Aus-
bruch ihrer wohl irreversiblen Psychose durch die Weitergabe von Gift zum
Selbstmord verhalf. In seinem 1919 verfaßten Bericht konstatierte er extremen
Masochismus und die Tendenz zur Unterwerfung, aber er verstand es kaum, wie
der psychoanalytische Experte von heute anmerkt, "deren primäres Motiv in der
Kindheit zu erhellen": "Zwar geht er zurück bis zum Verhalten des Bruders der
kleinen Schwester gegenüber, aber er spricht nirgends von ihren Eltern. Der Ur-
sprung von Sophies Neurose mag Otto Gross selbst unheimlich gewesen sein.
Auszuschließen ist, daß er die Rolle eines autoritär-omnipotenten Vaters im Le-
ben der Tochter nicht genauestens hätte analysieren können - darum darf vermutet
werden, daß seine Patientin Sophie Benz wohl weniger durch ihren Vater als
durch ihre Mutter belastet war. Gross hätte folglich zugeben müssen, daß eine
masochistische Tendenz auch in einer 'gleichgeschlechtlichen' (Eltern-Kind-)Be-
ziehung entstehen kann, und er hätte die Rolle der vergewaltigenden Mutter
theoretisch und emotional verarbeiten müssen".22
Trifft diese Kritik den Kern der Sache und bleibt ihr gegenüber nicht nur peri-
pher, dann relativiert sie in der Tat den biographischen und wissenschaftlichen
Ansatz der Schriften von Otto Gross und nimmt ihm etwas von der
Eindeutigkeit und Eindimensionalität seiner geschlechtsspezifischen
Erfahrungsschärfe. Neben die vater- träte also die muttergesteuerte
Autoritätsfamilie - und statt der rettenden Alternative im anderen - weiblichen -
21 A.a.O., S. 63.
22
Kreiler, Zum Fall 0110 Grass, in: Grass, Von geschlechtlicher Not ...• a.a.O .• S. 163. Vgl. E.
Hurwitz, 0110 Grass, Paradies-Suche zwischen Freud und Jung. FrankfurtJM. 1988.
Im Bezugsfeld VOll 'Eigen' Wld 'Fremd' 167
Geschlecht böte sich allein noch die Aussicht auf die allgemeine Paralyse des
Autoritätsbegriffs.
Wenn denn auf diese Weise die Hoffnungen, die Gross auf die Frauen- und
Muttergesellschaft setzt, schwinden, bleibt die Frage, ob sich das Nachdenken
und Mutmaßen über Autorität nicht doch auch wieder aus der Sexual-Fessel, in
die es Otto Gross gelegt hat, lösen und sich in anderer als der hier gezeigten
Weise besetzen läßt. Ein mögliches Stichwort, das zwischen den Geschlechtern
und zugleich zwischen den Generationen innerhalb der Familie zu vermitteln
vermöchte, wäre das der 'Partnerschaft', für das es freilich ohne 'Gleichbe-
rechtigung' und 'Demokratie' - Begriffe, mit denen unser Autor nicht allzuviel
anzufangen wußte, wie wir sahen - keinen Passierschein geben dürfte. Für die
hier einsetzende Diskussion wäre Otto Gross dann weniger durch seine konkreten
Vorschläge zur Veränderung der Gesellschaft, die trotz aller vorpreschenden
Radikalität doch nur ihrer Zeit verhaftet blieben, als vielmehr mit der Erkenntnis
beteiligt, daß aller Wechsel in den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht so sehr
über die materiellen Strukturen, sondern nur über das modifizierte Bewußtsein
und Unterbewußtsein zu erreichen ist.
Raoul Hausmann, Illustration zu Hurra! Hurra! Hurra!, 1921.
HURRA! HURRA! HURRA!
RAOUL HAUSMANNS POLITISCHE SATIREN
Als Richard Huelsenbeck 1917 von Zürich, wo er zu den engsten Aktivisten des
Cabaret Voltaire gehörte, wieder zurück nach Berlin wechselte und dabei die
Parole 'Dada' transferierte, die sich - wie Franz Jung anmerkt - "als sehr geeignet
erwies für unsere Provokationen" 1, griff er das liegengelassene Konzept des sati-
rischen Romans vom Doctor Billig am Ende auf und schwenkte in die Tonlage
des politischen Chansons ein, das hier schon aus den Vorkriegsjahren eine feste
literarische Tradition hatte. Für eine kurze Zeit ähnelten seine Verse denen Walter
Mehrings, der mit seinem Original-dada-Couplet berUn simultan selbst den
Anschluß an die neue 'Bewegung' suchte2 • Das fiktive Gespräch zwischen
Monteurdada (John Heartfield) und Dadasoph (Raoul Hausmann) unter dem Titel
Der Geist im Handumdrehen oder eine Dadalogie spielt - indirekt - auf diese
Materie wie folgt an:
Dadasoph: Ach guten Tag Monteur, gut, daß ich Dich treffe.
Knöpf mir mal das linke Ohr auf, ich muß bis heute Abend noch
was für Dada 3 dichten, hab' mir aber die Hand verstaucht und kann
nicht in meinen Kopf gelangen.
Monteurdada: Du bist ein häßlicher Mensch. Du verlangst von mir
Dinge, die Du selbst nicht machen willst. Ich werde Dich von
Grosz zeichnen lassen, damit Du siehst, wie häßlich du bist. Aber
streng 'mal Dein Gehirn für 5,75 Mark an, das kriegt kein
Baltikumsoldat, das ist zu viel - und dichte 'mal 'n politisches
Couplet.3
Bei dieser ironisch gestellten Aufforderung ist es jedoch geblieben, und der
Dadasoph ist ihr - trotz rasch erklärtem Einverständnis: "ich brauche bloß 'n
Bogen Papier" und "dann geht mein Nachttopfgehim los, wie'n Brummkreisel" -
nicht weiter gefolgt.
Statt die vorgegebene lyrische Form aufzugreifen und zu variieren, haben sich
Hausmanns Satiren konsequent aus seinen manifestösen Äußerungen heraus ent-
wickelt und sind eng mit den Zeitschriftenveröffentlichungen des Berliner
Dadaismus verknüpft, die bewußt den engen Rahmen des 'literarischen Kabaretts'
sprengten, zum 'Lärm in der Straße' tendierten und den öffentlichen Ort zu ihrem
1
Franz Jung, Der Weg Mch unten, Neuwied 1961, S. 110.
2 Dada-Almanach, hrsg. von R. Huelsenbeck, Berlin 1920, S. 45ff.
Raoul Hausmann, Texte bis 1933, hrsg. von M. Erlhoff, München 1982, Bd. 1: Bilanz der
Feierlichkeit, S. 102.
170 Raoul Hausmanns politische Satil'l2l
Ereignis erklärten. Hier setzte der Oberdada Johannes Baader mit seinen Aktionen
- der Unterbrechung des Hofpredigers Dryander im Berliner Dom und dem
Flugblattabwurf in der Weimarer Nationalversammlung - spektakuläre Marken,
die von keinem der anderen Berliner Dadaisten erreicht wurden; bereits für die
vordadaistische Zeit ist festgehalten, daß Baader während des Ersten Weltkriegs
vor der Front einer Landsturm-Kompanie nach dem Kaiser Wilhelm gerufen
habe, um ihm den Befehl Gottes auszurichten, "sofort Frieden zu schließen"4.
Die Verbindung zwischen Baader und Hausmann war besonders eng und mit-
unter - selbst für die nächsten Mitglieder des Club's Dada - undurchschaubar;
Jung bezeichnet den Oberdada geradezu als "Punching-Ball", den der Dadasoph
vor sich hergeschoben habes. Doch wie auch immer sein Anteil an den auffälli-
gen 'Happenings' dieses "scharfsinnigen und pseudologistischen Monomanen"6
anzusetzen sein mag, spätestens mit der dritten Nummer der Zeitschrift Der Dada,
für die er als verantwortlicher Schriftleiter zeichnete, gewinnen Hausmanns ei-
gene satirische Arbeiten einen festen Umriß: sie setzen sich in die Zeitschriften
Der blutige Ernst. Die Pleite und Der Gegner hinein fort und münden bekannt-
lich in die Buchpublikation Hurra! Hurra! Hurra!, die 1921 im Berliner Malik-
Verlag herauskam und eine Auswahl von 12 Satiren ausbietet.
Die folgenden Anmerkungen sind der Versuch, die satirischen Arbeiten Haus-
manns in ihrer Chronologie anzusprechen und auf ihre Entwicklungsgesetz-
lichkeit hin zu betrachten; dabei bildet die satirische Literatur der Epoche
insgesamt, für die hier stellvertretend Stemheims Komödien des bürgerlichen
Heldenlebens, Heinrich Manns Untertan und Karl Kraus' Weltuntergangsdrama
Die letzten Tage der Menschheit stehen mögen, den korrespondierenden wie
kontrastierenden Hintergrund.
In den frühesten Schriften Hausmanns handelt es sich zunächst um satirische
Implikate, also Einsprengsel, die der inhaltlichen Tendenz oder der rein sprachli-
chen Formulierung nach eine spezfische satirische Energie verraten. Dabei
scheint ein erster Schub durch den Einfluß markiert, den Otto Groß auf ihn aus-
übte, wenn er die Ablösung der gesellschaftlich-psychologischen Fremdbestim-
mung des einzelnen durch Eigenbestimmung forderte. Aus dieser Protesthaltung
heraus erklärt er sich 'gegen den Besitz' und fordert schlankweg "die sofortige
Zerstörung der bisherigen Gesellschaft"?; als ein Dokument der Zusammenarbeit
von Baader und Hausmann erscheinen dabei jene eingeschlossenen Verse, die auf
den eben zu Ende gegangenen Krieg und unmittelbar auf den Ausbruch der
Revolution Bezug nehmen:
Was
IST DENN GROSS GESCHEHEN
Man hat ein bißchen Kaiser und Könige gestürzt.
d. h. die sind von selbst gegangen.
WAS IST DENN GROSS GESCHEHEN?
Man hat die OffIziere auf Mannschaftslöhnung gesetzt
und sie mit der Führung der Geschäfte beauftragt
WAS IST DENN GROSS GESCHEHEN?
Man hat etwas Gehorsam verweigert und
etwas geschossen als Ersatz für den siegreichen
Einzug Unter den Linden.
ABER JETZT BEGINNT ETWAS GROS SES ZU GESCHEHEN:
Man militarisiert die geistigen Arbeiter
Sie erhalten rote Hirtenstäbe und KindersäbeI.8
Für die Koproduktion mit dem Oberdada, wenn nicht überhaupt dessen
Federführung bei diesen Zeilen, spricht der religiöse Einschlag und der überlegen-
verharmlosende Ton, der eine eigene satirische Distanz zu den aktuellen politi-
schen Ereignissen schafft. 9
"Ich verkünde die dadaistische Welt!" eröffnet das Pamphlet gegen die
Weimarische Lebensauffassung, erstveröffentlicht 1919 in der April-Nummer der
Zeitschrift Der Einzige. In ihm formuliert Hausmann eine Reihe von 'Verla-
chungen' , mit denen er sich vom politischen und literarischen Zeitgeist scharf
abzugrenzen sucht. Der Ausfall richtet sich beispielsweise gegen Fritz von
Unruh, der wie folgt attackiert wird: "Diese Herren Fritz von Geschlecht, die uns
ihre Unruhe ins Gesicht malen möchten, als dunklen Drang eines Gottes, an den
sie selbst nicht glauben, da sie nur ihren eigenen üblen Ego's Existenz beimes-
sen - diese Petarden der Besitzgier sind wahre Apachen von Karl May's Gnaden -
oh Shatterhand: oh Winnetou - aber nicht so real, wie dieser Sachse aus der
Moritzburg des deutschen Gehirns". Und er versucht generell den Nachkriegs-
expressionismus zu treffen, wie es schon das von Huelsenbeck organisierte
Dadaistische Manifest von 1918 getan hatte: "Diese Literatoren, Versemacher
leiden am Gallfluß ihrer traurigen Ernsthaftigkeit und bedecken schon wieder als
Aussatz die geistigen Beulen der Ebert-Scheidemann-Regierung, deren elende
Phonographenwalzenmelodie sie kakophonisch unterstützen, wie sie einstmals
für den preußischen Schutzmann begeistert grölten". Und 'Weimar' gilt als Indiz:
Ich bin nicht nur gegen den Geist des Potsdam - ich bin vor allem
gegen Weimar. Noch kläglichere Folgen als der alte Fritz zeitigten
A.a.O., S. 2Of.
Vgl. dazu Johannes Baader, OberdIJdIJ, hrsg. von H. Bergius, N. Miller und K. Riha, Lahn-
Gießen 1977, etwa S. 3Off.
172 Raoul HausmamIs politische Satiren
10 Hausmann, Texte bis 1933, Bd. 1: Bilanz der Feierlichkeit, a.a.O., S. 39ff.
11
Dada-Berlin, hrsg. von H. Bergius und K. Riha, Stuttgart 1977, S. 22ff.
12 Raoul Hausmann, Hurra! Hurra! Hurra!, Steinbach/Gießen 1970, S. 45ff. (Neudruck)
Raoul Hausmanns politische Satiren 173
Natürlich wurden diese Themata auch durch die enge Verbindung, die der
Berliner Dadaismus mit der dritten Nummer der Dada-Zeitschrift zum Malik-
Verlag einging, und durch die Programmatik der satirischen Zeitschriften mitbe-
stimmt, an denen Hausmann mitarbeitete. "Laßt uns das Leben sekündlich erfas-
sen", heißt es im ManifestPresentismus, mit der er dieser Tendenz das markante
Stichwort zu geben suchte. Zum unmittelbaren stilistischen Vergleich bietet sich
Karl Kraus an, der mit seiner seit der Jahrhundertwende erscheinenden Fackel
einen heftigen Kampf gegen die Tagespresse seiner Zeit eröffnet und in ihm die
Technik des sich selbst dekuvrierenden Zitats zur Methodik der Dokumentarsatire
ausgebaut hatte. Aus ihr heraus schuf er das Weltuntergangsdrama Die letzten
Tage der Menschheit, in dessen Vorwort es heißt: "Die unwahrscheinlichsten
Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grell-
sten Erfindungen sind Zitate. (...) Das Dokument ist Figur"13.
Statt die Dokumente selbst sprechen zu lassen, tendiert Hausmann jedoch zu
einer verstärkenden Ironie, mit der er sich hinter die von ihm beleuchteten
Ereignisse stellt und sie nur noch stärker aus sich heraus treibt. So eröffnet er
einzelne seiner satirischen Skizzen etwa mit Sätzen wie "Ein Schießgewehr ist
ein niedliches Ding. So der schöne blanke Lauf - und der hübsche Kolben und -
nebenbei, man kann auch ein Bajonett dran anbringen" oder "Was 'ne Prothese is,
weiß jedes Kind. Für den gemeinen Mann so notwendig heute wie früher Berliner
Weißbier. So 'n Proletenarm oder Bein wirkt erst vornehm, wenn 'ne Prothese
dransitzt" . Entsprechend lauten die Überschriften Ein Schießgewehr voll Näch-
stenliebe beziehungsweise Prothesenwirtschaftl4. Dabei ist festzuhalten, daß der
Versuch dahin geht, diese Ironie auch immer wieder zurückzunehmen, so daß der
Leser irritiert wird und sich nicht auf eine durchgehende 'Distanz' zu den
Sachverhalten einstellen kann.
Im Untertitel des Presentismus-Manifests formuliert Hausmann: Gegen den
Puffkeismus der deutschen Seele. Er apostrophiert damit eine von ihm selbst
kreierte Figur, die mehrere seiner satirischen Texte untereinander zu einer Art
Kette verbindet: sie setzt mit Puffke sehnt sich nach dem Mittelalter ein, setzt
sich über Puffke propagiert Proletkult und Puffke und die erotische Kultur fort
und endet mit Puffke beendet die Weltrevolution. Der sprechende Name lokali-
siert den 'Helden' in Berlin; die wechselnden Aktivitäten verweisen auf unter-
schiedliche Zeittrends, denen er folgt, und ergeben insgesamt das facettierte
Porträt des in verschiedene Richtungen zerfallenden bürgerlichen Zeiuypus.
Der Mittelalter-Puffte gehört in die Klasse der 'Schieber mit romantischer
Seele':
13 Kar! Kraus, Werke, Bd. 5: Die letzten Tage der Menschheit, hrsg. von Heinrich Fischer,
München 1957, S. 9.
14
Raoul Hausmann, Hurra! Hurra! Hurra!, Ber!in 1921, S. IOf., 2lf.
174 Raoul Hausmarms politische Satiren
( ... ) Puffke war, Puffke wollte - ja Puffke hatte eben so 'n unbän-
digen Drang nach rückwärts, nach der besseren alten Zeit im Leibe,
wollte sagen Seele, daß er einfach sich nach dem Mittelalter sehnen
mußte! Das war ganz elementar bei ihm. Ihm erschien einfach alles
Heutige schlecht. Wenn er bloß mal an die Preise für Butter dachte,
die man im Mittelalter zahlte, und wenn er daran dachte, was für
'ne Rolle er darin als Butterschieber hätte spielen können - nee, er
dachte das nicht ganz zu Ende! Der Unterschied lag nicht in der
Valuta, sondern ganz einfach im Gelde, er hatte es mal ausgerech-
net, daß er dazumal, um etwa 1374 ein Jahreseinkommen hätte ha-
ben müssen - na, sagen wir Rothschild mal Vanderbilt!! Ja, es war
wirklich vieles zu wünschen für Puffke. Er hätte der einzige mo-
deme Schieber sein mögen - aber eben im MittelalterPS
Mit einer leichten Verschiebung der Perspektive läßt sich diese Figur aber auch
als ein "Individualanarchist" betrachten, wie ihn "Stimer schildern wollte, aber
nicht konnte: weil's Puffke schon lebendig war, bei Gott er war's, war ein abso-
lutes, alleiniges Ich, ein Einziger!!"
Der Proletkunst-Pl4Jke sinniert über die Kunstsegnungen, die dem Proletariat
zu bescheren wären, analog zum eigenen Kunstbedürfnis als 'Flucht aus der
Wirklichkeit' und 'Seelentrost':
15
A.a.O., s. 31ff.
16 Hausmann, Texte bis 1933, Bd. 1: Bilanz der Feierlichkeit, a.a.O., S. 161ff.
Raoul Hausmanns politische Satiren 175
- liebt sie Puffke "21/2 Prozent inniger". Doch die Leidenschaften erfahren noch
eine Steigerung, als dieser auf einer Geschäftsreise nach Erfurt den "Grabstein des
Grafen von Gleichen mit den zwei Leichen, das heißt also seinen zwei Frauen"
erblickt und beschließt, sich ähnlich zu arrangieren:
Hier zeigt der Blick auf die Bolschewisten, daß diese "sowas" noch nicht haben;
dagegen macht das Beispiel unter den Butterschiebern Schule - und die
Zivilisation wird erneut um eine Kulturstufe gehoben!
Und schließlich: Puffke beendet die Weltrevolution. Gleich der Einleitungssatz
stellt die Verbindung zu den vorhergehenden Stücken her: "Puffke hatte nach der
erotischen Kulturstufe das Mittelalter und den Proletkult gründlich satt bekom-
men" - und zieht aufs Land, um seinen 'deutschen Acker' zu bestellen. Er entwik-
kelt eine eigene Düngemethode, die im Haus das Klosett erspart, und träumt
sich, da jener Wilhelm, "der in Amerongen saß", des englischen und jüdischen
Blutes wegen, das ihm Maurenbrechers Deutsche Zeitung nachweisen konnte,
nicht mehr in Frage kommt, selbst als "neuer deutscher Kaiser", um mit seiner
Art von Revolution dem "Wiederaufgang der abendländischen Kultur aus dem
Geiste der unendlichen Profitrate" zum Sieg zu verhelfen:
17 A.a.O., S. 176ff.
176 Raoul Hausmanns politische Satiren
Natürlich zielt der Autor auf die Interpolation der vier Satire-Stationen ab; der
Ablauf bezieht modeme Zeiterscheinungen wie 'Proletkult' und 'moralische
Emanzipation' mit ein und deklariert sie zu Formen derselben Reaktion, die am
liebsten ins 'Mittelalter' zurückmöchte und unter verschärften nationalen Vor-
zeichen den alten Kaiser wiederhaben möchte. Der Name Puffke genügt als
Klammer, er bindet die in unterschiedliche Richtungen strebenden Zeit-Tendenzen
zusammen und verquickt sie miteinander: die Figur selbst muß dazu gar nicht
weiter auf 'Hintergrund' angelegt beziehungsweise zum wirklichen Romanhelden
ausgebaut werden; insofern ist die Anlage in vier voneinander unabhängige
Satire-Artikel, die zwischen 'Erzählung' und 'Analyse' schwanken, formal ad-
äquat. Wie sich ein solches analytisches Konzept dann doch erzählerisch anrei-
chern und zum Roman ausbauen läßt, zeigt in der zeitgenössischen deutschen
Literatur Heinrich Manns Professor Unrat, der das Wechselverhältnis, den inneren
Zusammenhang von 'Despotismus' und 'Anarchie' zum Thema hat.
Zeitkritik an eine von ihrer Entwicklung her konzipierte Erzählfigur zu bin-
den, also analog zu Heinrich Manns Untertan vorzugehen und nicht nur den
'Phänotyp', sondern wirklich den 'Genotyp' der Epoche in den Griff zu bekom-
men, ist Absicht des Prosastücks Adolf Kutschenbauch, im Untertitel ausdrück-
lich als Eine bürgerliche Entwicklung ausgegeben. Daß der Vergleich mit dem
Verfasser des Unrat- und Untertan-Romans so fern nicht liegt, belegen Motiv-
übernahmen schon in den Puffkestücken, so etwa die Verbindung von 'Klassiker-
Lektüre' und 'Abort' in Puffke sehnt sich nach dem Mittelalter:
18
Raoul Hausmann, Texte bis 1933, hrsg. von M. Erlhoff, München 1982, Bd. 2: Sieg Triumph
Tabak mit Bohnen, S. 14ff.
Raoul Hausmanns politische Satiren 177
dort, wenigstens die bessern Sachen; deshalb lag immer ein Band
Goethe dort herum. 19
Kutschenbauchs Vater ist Sargfabrikant; den Sohn aber hat er zu Höherem be-
stimmt er soll, "alles im Vater verdrängte und unterdrückte Rittertum" glänzend
repräsentierend, Bankbeamter und Reserveleutnant werden. Zunächst jedoch ent-
puppt er sich als Daumenlutscher und Tierquäler von etwas "hinterhältiger
Feigheit"; auch hatte er, heißt es weiter, "Anlage zur Unaufrichtigkeit, wozu
Vater Kutschenbauchs unerbittliche Strenge und ein dem Publikum gegenüber
serviles Wesen, das im Familienkreis gerne martialisch sich gab, sein psycholo-
gisches Teil beitrug". Er wird "durch unablässiges Büffeln ( ...) ein halbes Jahr
lang so ungefahr der Zweitbeste der Klasse" und erfahrt nach prüder Erziehung
sexuelle Aufklärung während einer Reise nach Berlin im dortigen Dirnenmilieu;
doch war er zu feige, schiebt der Autor an dieser Stelle ein und stellt damit einen
Bezug zu sich selbst her, "um es einem seiner Mitschüler, einem nachmals be-
rühmten Philosophen und späteren Großdadaisten gleich zu tun, der von der
Tertia ab einfach aus jeder Schule, auch aus Privatanstalten hinausflog wegen
seines renitenten Betragens, Anstiftung der Mitschüler zur Onanie und wegen
versuchter Brandstiftung im Schulkeller"20.
Der "nunmehr männliche Kutschenbauch" verändert sich zu seinem Vorteil
und zeigt "eine lebhaftere Hinneigung zu Sport und körperlicher Betätigung": "Er
erhielt ein Fahrrad, das er viel benützte, im Winter wurde gerodelt und Skier ge-
laufen". Da er sich auch in der Heimatstadt "mit Mädchen hin und wieder ( ... )
körperlich in gewissen Übungen" vervollkommnet, bekommt er sogar "so etwas
wie Geist" und wird von einem "ganz eigentümlichen Forschungsdrang" überfal-
len:
(... ) trotzdem er kurz vor dem Abiturium stand, (etwas spät infolge
Nachsitzens in jüngeren Jahren) beschäftigte er sich fortab nurmehr
mit den Lehren des Platon, des Sokrates, Kant, Schopenhauer und
von seinem Unstern getrieben, mit dem Verderber der Jugend,
Nietzsche. Dies war ein wahres Unglück, denn die Bücher dieses
Mannes nach soviel Schwarm von Ideen und soviel trockener
Pedanterie unvorbereitet lesen, hieß sich einer Eisenbartkur unter-
ziehen, die dem armen deutschen Jüngling mißraten mußte, weil
seine organischen Minderwertigkeiten im Verein mit einer prüden
und lächerlichen Erziehung ihn hatten länger infantil sein lassen,
als dies für ihn wünschenswert war. / So warf er sich denn auf die
Lehre vom Herrenmenschen, ohne gewahr zu werden, daß er in ei-
ner Art grausamem Versteckspielen vor sich selbst aus seiner be-
19
Hausmann, Hurra! Hurra! Hurra!, a.a.O., S. 31.
20 A.a.O., S. 34ff.
178 Raoul Hausmanns politische Satiren
Jetzt hatte alles Hand und Fuß. Adolf trat in sein Regiment als
Freiwilliger ein, marschierte mit durch Belgien, machte 103 größe-
re Gefechte mit, brachte es bis zum Leutnant und dem E. K.,
wurde etwas verwundet, doch gerade nur soviel, daß er das Ende der
Kriegszeit in einem netten Amt (Reichswirtschaftsamt) abwarten
konnte. Dann kam noch einmal ein kleiner Sturz ins Dunkle, die
Revolution. Aber, da Gott gnädig ist, und unseren deutschen
Heldenjüngling liebte, so schuf er nach Hindenburg und der Armee
noch was viel besseres, erst Noske und die Einwohnerwehr, und
dann den Kapp. Das waren herrliche Zeiten. - Es weht die Fahne
schwarz-weiß-rot, die Fahne mir voran', 'Oh Deutschland hoch in
Ehren' und sofort.
Hier kippt die Darstellung ab; in einem abrupten satirischen Bruch lenkt
Hausmann auf die Sozialisationsgeschichte seines 'Helden' zurück und läßt ihn
"folgerichtig als Produkt seiner Erziehung" zu Tode kommen:
Er schoß ohne jeden Grund einige Frauen und Kinder tot, weil es
eben der Ordnung halber irgendwo Tote geben mußte. / Und dann
wurde er ein bißchen später, 2 Stunden darauf von der Menge, die
solche Schicksale, solche Entwicklungsnotwendigkeiten nicht psy-
choanalytisch aufzuklären sich viel Mühe nimmt, totgeschlagen.
Raoul Hausmanns politische Satiren 179
Friede seiner Asche. Hier stand er, er konnte nicht anders - Gott
helfe ihm!!!
21 A.a.O., S. 47.
180 Raoul Hausmanns politische Satiren
kunstwerk" bekennt, "welches erhaben ist über alle Plakate, ob sie für Sekt,
Dada oder Kommunistische Diktatur gemacht sind"22.
Betrachtet man die vorgestellten satirischen Texte Hausmanns rückblickend
noch einmal - und aus der Distanz heraus -, sticht ins Auge, wie gering der
Einfluß jener satirischen Energien ist, die der Dadasoph aus seinem engen
Konnex mit dem Oberdada Baader, auf den ich eingangs hingewiesen habe, hätte
ableiten können. Dessen Spezialität war es ja gerade, selbst in Erscheinung zu
treten und durch enthemmt-respektlose - heute würde man sagen: 'happeninghafte'
- Aktionen ein aus der Realität abgeleitetes Verwirrspiel zu treiben, um damit das
Publikum zu verblüffen und zu provozieren. Demgegenüber bleibt Hausmann
überraschend stark auf 'herkömmliche Textproduktion' fixiert und hält sich der
Tendenz nach innerhalb der Grenzen und Möglichkeiten jener Tradition deutscher
Satiren, die er aus dem neunzehnten Jahrhundert heraus anspielungsweise mit
Heinrich Heines Deutschland ein Wintermärchen und eben mit Grabbes Scherz,
Satire, Ironie und tiefere Bedeutung selbst belegt.
Freilich gibt es Ausnahmen! Bereits der einleitend zitierte Dialog zwischen
Dadasoph und Monteurdada bildet in gewisser Hinsicht ein Gegenstück zu den
nachfolgend herausgestellten Beispielen der dezidiert politischen Satire. Im fin-
gierten Wechselgespräch mit John Heartfield thematisiert Hausmann sich selbst
und sucht seine Wirkung weniger in der Ausrichtung auf ein klar umrissenes
Objekt seiner Kritik als vielmehr in der Irritation durch den Präsentationsakt als
solchen. Entsprechend lautet die Autor-Anmerkung im Auftakt des kleinen
Dramuletts:
Und der dann folgende Dialog hat in der Tat etwas von jener Paralogik, mit der
die Dadaisten bei ihren öffentlichen Auftritten Aufsehen erregten und Skandale
auslösten, indem sie das Publikum absurdistisch an die Materialhaftigkeit der
Darbietungen verwiesen oder in seinen Reaktionen einfach leerlaufen ließen.
Dieser aktionistische Satire-Typus blieb unter den vom 'Dokument', von der
'Analyse' oder von der 'Personifikation' her festgelegten politischen Satiren erhal-
ten und drang sogar gelegentlich in diese vor, wie sich mit jener reklamehaften
Propagierung einer "allgemeinen Beköstigungsmaschine" veranschaulichen läßt,
die dem satirischen Ausfall gegen den "Arbeiterrat für Kunst und die Räte geisti-
ger Arbeiter unter der Führung Kurt Hillers" mit dem Titel Vom neuen freien
deutschen Reich eingeschlossen ist. Jedermann, heißt es, solle sein "gesamtes
22
Kurt Schwitters, Das literarische Werk, hrsg. von F. Lach, Bd. 5: Manifeste und kritische
Prosa, Köln 1981, S. 143f.
23 Hausmann, Texte bis 1933, Bd. 1: Bilanz der Feierlichkeit, a.a.O., S. 102.
Raoul Hausmanns politische Satiren 181
Einkommen" dem Staate übereignen und werde ab sofort "der Schwierigkeit des
eigenen Handelns völlig enthoben":
Die Maschine klingelt an der Wohnungstür und ist durch eine sinn-
reiche Konstruktion befähigt, auf der Grundlage optisch-chemischer
Reaktionen (Radium strahlen in Verbindung mit Photographie) das
Essen nach der Haarfarbe des Wohnungsinhabers an denselben ab-
zugeben wie folgt: Blonde erhalten täglich ein Huhn, Schwarz-
haarige eine halbe Ente, Rothaarige sind besonders zu behandeln.
Für dieLieferung von Kleidung ist eine Maschine hergestellt
worden, die Anzüge bei Männern nach der Nasenform, bei Fauen
nach der Gesäßbreite fertigt und austeilt. 24
Kein Zweifel: eine solche Passage ließe sich ohne weiteres aus dem essayisti-
schen Artikel, an den sie darstellungsmäßig gebunden ist, freisetzen und zum
Ausgangspunkt einer eigenen Aktion machen, die sich sehr direkt - etwa per
Aufruf, Flugblatt etc. - an das Publikum wenden könnte.
Ob und in welcher Weise Hausmann diese Problematik reflektiert hat, läßt
sich abschließend an einem Text zur Diskussion stellen, der wohl unmittelbar
nach Veröffentlichung des Malik-Bändchens entstanden sein dürfte; er greift die
Frage der Intensivierung, Sublimierung und Transformation der politischen
Satire ganz unmittelbar auf. Unter der Überschrift Es kam ein heller Morgen, 0
weh! und mit dem Untertitelhinweis Programm für eine Soiree des
Bildungsklubs Y-A gibt Hausmann Anweisungen für drei szenisch darzustellende
Pantomimen, deren erste noch relativ nah bei den zielgerichteten Attacken des
Hurra!-Bändchens liegt. Ein "von zwei Männern dargestellter Esel" erscheint "auf
der Bühne" und frißt "aus einer Badewanne mit Aufschrift 'Kultur, Kunst,
Wissenschaft' rhythmisch Papier und Steine auf einer Schnur aufgereiht (... ), die
er im gleichen Rhythmus hinten wieder fallen läßt":
Die zweite Programmnummer ist als Boxmatch ausgelegt und setzt sich wie
folgt ab:
Der Unparteiische erscheint und stellt die Boxer vor. Die Boxer tre-
ten an, stellen sich 5 Meter von einander entfernt auf, führen einige
24
A.a.O., s. 143ff.
25 Hausmann, Texte bis 1933, Bd. 2: Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, a.a.O., S. 36.
182 Raoul Hausmlllllls politische Satiren
Stöße in die Luft aus, womuf der links stehende umfällt und ausge-
zählt wird. Der Unparteische verkündet den Sieg des rechten.
Ich gehe davon aus, daß Hausmann in dieser pantomimischen Szenenfolge von
der karikaturistisch-zupackenden Satire zu komplexeren Formen überleiten wollte
und damit zwangsläufig die fortschreitende Distanz selbst thematisieren mußte.
Darin bestätigt mich eine progmmmatische Äußerung des Aufsatzes Neue Kunst
von 1921, nach welcher Satire, Groteske und Karikatur zu Erscheinungen einer
Umbruchssituation "zwischen zwei Welten" - "wenn wir mit der alten gebrochen
haben, und die neue noch nicht fonnen können" - erklärt werden, deren tieferer
Sinn im "Aufzeigen der Marionettenhaftigkeit, der Mechanisierung des Lebens"
zu suchen sei - mit dem Ziel, "durch die scheinbare und wirkliche Erstarrung hin-
durch uns ein anderes Leben erraten und fühlen zu lassen".26
26
Hausmann, Texte bis 1933, Bd. 1: Bilanz der FeierlichlcJ!it, a.a.O., S. 184.
NOTIZEN ZUR LEGENDE VOM TOTEN SOLDATEN
EIN PARADIGMA DER FRÜHEN LYRIK BRECHTS
Als Beispiel, Liederchronik deutscher Helden, hrsg. v. Adolf Böttger, Leipzig o. J. - Beispiele
dafür, daß Brecht - als Schüler - derlei patriotischen Phrasen, wie sie im folgenden als
AusgangspWlkt genommen werden, recht nah stand, gibt Dieter Schmidt, Baal und der junge
Brecht, Stuttgart 1966, S. 32 ff; darunter etwa Äußerungen wie: "Wir alle, alle Deutschen
fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt" oder - mit Bezug auf den Ausbruch des ersten
Weltkriegs - "Das ist so schön, daß alle Stimmen schweigen I Und still vor dieser einen
Stimme sind, I Die sich erhob mit Donnerklang im Reigen I Der Zeit, die sonst so größelos
verrirmt."
2 NeUl!r deutscher Balladenschatz, Berlin 1906, Achtes Sonderheft der Woche, S. XIll.
3 Wolfgang Kayser, Geschichte der deutschen Ballade, Berlin '1943, S. VIT.
184 Legende vom toten Soldaten
Jahrhunderts drehen sie dann zum dünnen Ende einer betont nationalen und völki-
schen und schließlich nationalsozialistischen Poesie. Drusus' unglücklicher Sturz
vom Pferd diente schon Karl Simrock zu nichts weiter als zur Paraphrase des
"Gott mit uns!" und Anbringung einer Warntafel wie: "Also wird Gott alle fäl-
len, / Die nach Deutschlands Freiheit stellen."4 Diesen "alten Gott, der die
Schlachten will"s, sieht Börries von Münchhausen kurz nach 1900 wieder mäch-
tig werden. Drei Schläge tut der Deutsche Schmied Conrad Ferdinand Meyers:
Hier wird, mit Arno Holz' parodistischer Literaturballade im Buch der Zeit zu re-
den, "Urdeutsch doziert" und "Gott erhalte" gebrüllt; den Ruin der Literatur, für
den solche Texte einstehen, faßt Holz ins Bild des nabelkauenden Eremiten.? - In
historischem Kolorit schafft sich aktuelle Emotion ihr schlecht versifiziertes
Pathos.
Der Sieg wird "vom Himmel gerissen; heiß, wild und wundervoll ist die
Schlacht im ersten Frühlingsgleißen. "8 Notdürftig kaschierte Propaganda be-
schwört tragisches Schicksal, politisches Denken schrumpft zu heroischem
Lebensgefühl zusammen: - genug, die Zitate sprechen für sich selbst!
Neuere Balladenanthologien, etwa die Deutschen Balladen Hans Fromms,9 sind
also im Recht, wenn sie dieses Kapitel deutscher Literatur überschlagen und statt
seiner für die Ballade der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder
weniger ausschließlich auf Theodor Fontane, Eduard Mörike, Detlev von
Liliencron und weniger verfängliche Stücke C. F. Meyers rekurrieren. Jedoch:
solche Auswahl verstellt die historischen Sachverhalte und gibt insofern ein ver-
zeichnetes und falsches Bild von der tatsächlichen Produktion und ihren
Gewichten; sie dokumentiert gegen den Strich. Läßt man aber die Unmasse
patriotischer Balladendichtung und ihr Anschwellen zum Ende des neunzehnten,
zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts außer acht, verliert sich auch der Punkt
aus dem Auge, gegen den eine Revolution der Ballade, wie sie eben Frank
4
Karl Sirnrock: Drusus Tod" zit. nach Balladenbuch, hrsg. v. Ferdinand Avenarius, erneuert v.
Hans Böhm, München, Brünn, Wien 1943, S. 292.
Börries von Münchhausen, Des deutschen Michels Tod, zit. nach Balladenbuch, a.a.O., S. 305.
Conrad Ferdinand Meyer, Das Lied vom deutschen Schmied, zit. nach Balladenbuch, a.a.O., S.
325.
Arno Holz, Werke, hrsg. v. Wilhelm Emrich, Neuwied, Berlin 1961 ff, Bd. 5, S. 117f.
Hans Fritz von ZwehI, Frühlingsschlacht , zit. nach Balladenbuch, a.a.O., S. 330.
Deutsche Balladen, hrsg. v. Hans Fromm, München 1965.
Legende vom toten Soldaten 185
Wedekind und Bertolt Brecht unternommen haben, ihr Recht und ihre spezifi-
schen kritischen Implikationen erhält. Dazu der folgende Versuch.
Vorweg ein Beispiel älterer Satire! "Der Kasus war folgender", heißt es im
Kontext eines Feuilletons Ferdinand Kürnbergers 1872, "Hieronymus Lorm hatte
weiland im Literaturblatt der 'Presse' einige Novitäten besprochen und zum
Schlusse seiner Kritik gesagt, es wäre jetzt noch ein Haufe neuester Lyrik abzu-
urteilen oder vielmehr abzuschlachten, aber er könne das ganze Geschäft in einer
kurzen Kollektivkritik erledigen (... ) so bringe er das, was er von Geist und
künstlerischer Besonnenheit bei ihnen gefunden, wie in einem Spiegel zur
Anschauung unter dem Schema der nachstehenden Ballade:
Indem er in vier Strophen fünf Mal das Pferd die Farbe wechseln läßt, gibt Lorm
ein "kleines Meisterstück parodistischer Satire" auf die vaterländische Dichtung
seiner Zeit; travestiert die vaterländische Heldenballade. Bezeichnend ist, daß der
Autor nicht aus den Texten herausspringt, auf die er anspielt, sondern sie mit ih-
ren Mitteln karikiert und ad absurdum führt: es entsteht dabei ein ausgesproche-
ner Groteskeffekt. - In die Groteske geht auch Frank Wedekind. Im Lied vom ar-
men Kind pervertiert der Heerzug zum Elendszug; es treten auf: das blinde Kind,
der taube Mann, das lahme Weib, der räudige Hund und schließlich "die Jungfrau
zart / Mit ihrem langen Knebelbart, / Die Jungfrau mit dem Knebelbart." 11
Für den Frühexpressionismus verweise ich auf Georg Heym und Gedichte wie
Robespierre oder Louis Capet, zu denen Kurt Mautz anmerkte: "Eine
Hinrichtung als Inhalt eines Sonetts bedeutet den offenen Affront nicht nur ge-
genüber dem gehobenen Stil der symbolischen Lyrik ( ... ), sondern aller konven-
tionellen Poesie. Insbesondere hat sich gegenüber dem Genre der traditionellen
historischen Ballade von Schiller über C. F. Meyer bis zu Börries von
Münchhausen herab das Verhältnis des dichterischen Subjekts zum historischen
Motiv und damit zur Geschichte selbst entscheidend verändert, nämlich ins
Gegenteil verkehrt." 12
Zusammen mit der Dreigroschenoper bildet die Hauspostille im dichterischen
Werk Bertolt Brechts einen markanten Einschnitt; mit letzterer schließt die frühe
Lyrik ab. Das am offensten politische Stück des Gedichtbandes, dem insofern
eine Sonderstellung zukommt, ist die unter die Kleinen Tagzeiten der
Abgestorbenen aufgenommene Legende - oder Ballade - vom toten Soldaten. Sie
ist - nach den Erinnerungen Hans Otto Münsterers13 - gegen Ende des Ersten
Weltkriegs, vielleicht sogar in jenem Augsburger Lazarett entstanden, in wel-
chem Brecht 1918 Dienst leistete. Tatsächlich lesen sich einzelne Strophen als
direkter Reflex auf Ort und Vorfälle, denen Brecht damals konfrontiert war; zum
Beispiel die fünfte Strophe:
- nur daß eben solcher Befund nicht an einem noch Lebenden, sondern an einem
Toten, der längst den Heldentod gestorben ist, nicht an einem Verwundeten, son-
dern an einem Verwesenden geübt wird. Im paradoxen Bild treibt Brecht das
Inhumane von Vorgängen, die er selbst beobachtet haben mag, heraus und stei-
gert es ins Unerträgliche: der 'vor der Zeit' gefallene Soldat wird aus dem Grab
gezerrt, nochmals k.v. geschrieben und - "Voran die Musik mit Tschindrara" -
abermals an die Front, in einen zweiten Heldentod beordert.
Ein solcher aus dem Leben des Autors gezogener Ansatz zur Interpretation hat
jedoch seine Grenze am Text selbst. Das Besondere von Motivik und Form erlaßt
man erst, wenn man auch Brechts Legende als literarischen Gegenentwurf - als
Satire - begreift; freilich geht Brecht darin ungleich weiter als etwa Lorm in sei-
ner Travestie. Nehmen wir das Motiv des "lebenden Toten"! In der Schauerballade
des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts vorgeprägt und dort
im Motivzusammenhang des Totentanzes oder Geisterritts endlos variiert, über-
nimmt es die Heldenballade, verengt es aber zur puren Formel; in solcher
Erstarrung dient es hauptsächlich zur Illustration heldischer Tugenden wie "Treue
über den Tod hinaus": Kriegsrnut und Schlachtenbegeisterung werden durch den
Tod nicht gebrochen, sondern leben - durch ihn illuminiert - im Toten weiter.
"Wo steht die Front und wo mein Bataillon?", heißt es in Münchhausens Frage
des Toten 15 Der Tote hat weiter teil am Kampf, mengt sich noch einmal ins
Getümmel; er sieht und triumphiert mit:
13
Hans Otto Münstererin Bert Brecht, ErinMrungen aus den Jahren 1917-1922. Zürich 1963_
14
Dieses und die folgenden Textzitate nach der Ausgabe der Gesaml7ll!lten Werke, FrankfurtlMain
1967, Bd_ 8, S. 256. - Im Vorwort zur Hauspostille. "Anleitung zum Gebrauch der einzelnen
Lektionen" notiert Brecht zur fünften Lektion, in der die Legeruk vom toten Soldaten enthalten
ist: "Es wird geben Tagzeiten des Andenkens und der frühen Geschehnisse. Die nachfolgenden
fünf Kapitel der fünften Lektion (Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen) sind für das
Andenken und die frühen Geschehnisse.... Das fünfte Kapitel vorn toten Soldaten ist zum
Gedächtnis des Infanteristen Christian Grumbeis, geboren den 11. April 1897 in Aichach,
gestorben in der Karwoche 1918 in Karasin (Südrußland)."
15 Börries von Münchhausen, Frage des Toten, zit. nach Balladenbuch, a.a.O., S. 333.
Legende vom toten Soldaten 187
Verherrlichung des Krieges und pathetische Apotheose seiner Opfer sind in sol-
chen und ähnlichen Versen unmittelbare Korrelate. Dieser doppelten Glorifi-
zierung und all ihrem formalen Aufwand schiebt Brecht schon mit der ersten
Strophe seiner Legende einen Riegel vor:
Mit Blick auf den Frieden, der ausbleibt, wird Heldentod hier zur Ver-
zweiflungstat; die Ernüchterung der Phrase - und daß der Krieg jetzt kein Krieg
des Soldaten mehr ist - wird in der Wendung "die Konsequenz ziehen" sichtbar.
Folgerichtig muß - mit dem Kontext des Gedichts, der weitergetriebenen
Groteske zu reden - jede Wiedererweckung, jede Wiederherstellung des Toten zu
neuem Einsatz, jedes Zurück in die Schlacht als Erpressung erscheinen. Die
zweite Strophe macht mit dem Kaiser den Urheber solcher Vergewaltigung nam-
haft. Subjekt der Macht und ihr Objekt, in der Heldenballade doch stets harmo-
nisch vermittelt, klaffen bei Brecht auseinander; der Charakter der Herrschaft ent-
larvt sich im 'Mitleid' des Kaisers, das sich als blankes Kalkül, als purer
Egoismus entpuppt:
In den folgenden Strophen kommt die Aktion nicht vom Kaiser selbst, sondern
wechselt auf jene über, die seine Herrschaft nach unten repräsentieren und sehr
wohl wissen, wie der stille Gedanke des Herrschers als Befehl zu interpretieren
16 s. Anmerkung 8.
188 Legende vom toten Soldaten
und in die Tat zu setzen ist. Die Schergen der Macht machen sich ans Werk:
"militärische ärztliche Kommission und geweihter Spaten" walten ihres Amtes.
Das ist der Sinn des moritatenhaften Bilderwechsels von den ersten beiden zur
dritten und vierten Strophe; die fünfte Strophe, wie gesagt, läßt sich als direkter
Reflex auf Brechts Augsburger Lazarett-Erlebnis lesen.
Kernstück der Legende ist der Aufmarsch des toten Soldaten und derer, die ihn
dazu treiben. Was hier die Folie betrifft, auf die Brecht seine Satire aufgetragen
hat, geht man am besten von einigen Detailbeobachtungen aus. "Die Sterne der
Heimat" in der sechsten und das Wiedersehn in der sechzehnten Strophe markie-
ren das Wortfeld soldatischer Marschlieder; die neunte Strophe greift -
"Klingkling bumbum tschingdada ... Voran der Schellenträger" zusammengefaßt
zu "Voran die Musik mit Tschindrara" - Detlev von Liliencrons Die Musik
kommt17 auf; ebenfalls auf Parade weist die aus dem niederen Militärjargon ent-
lehnte, im Textzusammenhang makaber wirkende Formulierung für Stechschritt:
"Schmeißt seine Beine vom Arsch".
Brecht stört die militärische Schaustellung, wenn er ihr einen Kriegstoten un-
terschiebt; ein längst Gestorbener wird gewaltsam zum Helden präpariert. Für
diese grause Gewaltsamkeit findet Brecht grellste Bilder:
Unzählbar die Balladen, in denen einer auf diese Weise ins Abenteuer und in den
Krieg reitet. Brecht gibt das Ende vom Abenteuer. 'Begeisterungstrunken' und
'siegestrunken' verkehren sich in "Wie ein besoffner Aff'. Oder aber "Wie im
Sturm die Flocke Schnee" zieht der Soldat nur taumelnd mit, und zwei Sanitäter
müssen ihm unter die Arme greifen: "Sonst flög er noch in den Dreck ihnen
hin". - Kein Aufschwung ins Abenteuer, keine Parade; ein Leidenszug bewegt
sich voran.
Die verschiedenen Stationen dieses Leidenszuges haben jedoch noch eine ande-
re Funktion als die, in der an einem Toten verübten Marter die Qual der Kreatur -
ins Unsinnige gesteigert - aufscheinen zu lassen. Es ist nicht zu übersehen, daß
17
Detlev von Liliencron: Gesammelte Werke, Berlin 1911, Bd. 2, S. 49f.
18
Comad Ferdinand Meyer: Gedichte, Leipzig 1922, S. 223.
Legende vom toten Soldaten 189
der tote Soldat mit der Entfaltung der Legende in den Hintergrund des Geschehens
rückt; auch poetologisch gesprochen wir er zum Nicht-Helden. - Wir dürfen hier
aufgreifen, was Brecht in seinem Aufsatz zur Weite und Vielfalt der realistischen
Schreibweise zu Shelleys Ballade Der Maskenzug der Anarchie, dem Vorbild sei-
ner eigenen, nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Großballade Freiheit und
Democracy angemerkt hat; bei Shelley heißt es:
Zu Brechts Übersetzung gleich auch sein Kommentar: "So verfolgen wir den Zug
der Anarchie auf London zu und sehen große symbolische Bilder und wissen bei
jeder Zeile, daß hier die Wirklichkeit zu Wort kommt. Hier wurde nicht nur der
Mord bei seinem richtigen Namen genannt, sondern, was sich Ruhe und Ordnung
nannte, wurde als Anarchie und Verbrechen entlarvt. "19
"Mit Gott für Kaiser und Vaterland": unterlegt man Brechts Legenden-Ballade
diese für die Wilhelminische Ära so symptomatische Formel, unter der dann auch
die dem nationalisierten Bürgertum konforme Literatur, darunter nicht zuletzt die
Balladenrenaissance des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, angetreten ist, dann
stehen, nachdem vom Kaiser bereits die Rede war, noch die beiden Restposten -
'Gott' und 'Vaterland' - aus; ihre Kritik gibt Brecht in den Strophen acht und elf:
Widerstand. An diesem Widerstand läßt Brecht jene Kräfte sich brechen, die mit
dem weihrauchfaßschwingenden 'Pfaffen' und den 'Farben Schwarz-Weiß-Rot' re-
präsentativ genannt sind: beide Male erscheinen sie als Kräfte der Vertuschung,
der Verheimlichung und Ablenkung, beide Mal enthüllt sie Brecht in ihrer pro-
pagandistischen Funktion. - Mit dem Totenhemd als nationaler Flagge bzw. der
nationalen Flagge als Totenhemd gibt Brecht ein großes symbolisches Bild im
oben bezeichneten Sinn.
Damit dringt Brecht ins ideologische Zentrum jener Literatur vor, deren Satire
er in seiner Legende gibt. Daß in den Schlußstrophen das gaffende Volk vor lau-
ter "Tschindra und Hurra" den Toten nicht mehr sieht, zeigt den Effekt der
Propaganda und weitet die Kritik an den bestimmenden Kräften der Zeit zu der des
Systems aus. Es bestätigt unseren Ansatz, wenn sich - in Strophe vierzehn - ein
unmittelbarer Reflex auf jenen Franzosenhaß findet, der ein stehendes Ferment
der deutschen Heldenballade ist. - In der letzten Strophe entläßt der Autor den to-
ten Soldaten in einen zweiten Heldentod. Das Gedicht schraubt sich auf seinen
Anfang zurück: der Tote bleibt das Opfer, das er ist; nur der Leser ist einen
Schritt weiter!
Kurt Tucholsky erklärte Brechts Hauspostille lesenswert allein schon der
Legende vom toten Soldaten willen: "Wer die nicht kennt, sollte schon um ih-
retwillen das Buch in die Hand nehmen."20 Das Urteil gilt noch heute. - Nicht zur
Sprache kam die formale Leistung Brechts. Die neue Bewegung der Form
entspricht jedoch nur der kritischen Bewegung insgesamt. Brecht schreibt dazu in
seinem Aufsatz Ober reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen: "In der
Ballade vom toten Soldaten gibt es in neunzehn Strophen neun verschiedene
Rhythmisierungen der zweiten Verszeile." Und weiter - in einer allgemeinen
Aussage über die frühe Lyrik: "Es handelte sich, wie man aus den Texten sehen
kann, nicht nur um ein 'Gegen-den-Strom-schwimmen' in formaler Hinsicht,
einen Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses, son-
dern immer doch schon um den Versuch, die Vorgänge zwischen den Menschen
als widerspruchsvolle, kampfdurchtobte, gewalttätige zu zeigen. "21 Der doppelte
Ansatz zu einer modemen deutschen Ballade von Frank Wedekind herauf - in
einen Impuls zusammengefaßt - ist damit präzis formuliert: ihn zu fixieren, er-
scheint die Legende vom toten Soldaten als instruktivstes Beispiel.
Die bisher geleistete Analyse - Brechts Text verstanden als Negation und
Verweigerung - reicht jedoch nicht aus. Neben den Aufweis der satirischen
Implikationen hat die Feststellung zu treten, in welche Affinitäten sich Brecht
mit der Legende vom toten Soldaten begibt, an welche kritischen Positionen der
Zeit er sich konkret anschließt, in welchen Verbindungen sein kritisches
Engagement steht. Dazu die beiden folgenden Exkurse:
Ungefähr parallel zur Entstehung von Brechts Legende oder Ballade arbeitet
Karl Kraus an der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit: auch eine
Abrechnung mit dem Ersten Weltkrieg. In den Gesprächen zwischen 'Optimist'
und 'Nörgler', jenen kommentierenden Szenen also, in denen die kritische
Position des Dramas am deutlichsten zutage tritt, heißt es u. a.: "Einst zog man
in den Krieg, jetzt wird man in den Krieg gezogen. "22 Oder es ist - den Wortlaut
des Stellungsbefehls, des Kriegsberichts zitierend - satirisch die Rede von
"einrückend Gemachten". Auch Kraus entzieht also der Helden-Poesie ihr ideolo-
gisches Fundament; das liegt mit in solcher sprachkritischen Einlassung. Brechts
toter Soldat ist ein "einrückend Gemachter" in exakt dieser sich selbst decouvrie-
renden Bedeutung. Immer wieder geht es Kraus um die Bloßstellung der patrioti-
schen Phrase, des patriotischen Pathos, der Kriegspropaganda. Zur Phrase vom
"Heldentod fürs Vaterland" merkt er beispielsweise an: "Jawohl, das Vaterland
faßt die Gelegenheit, fürs Vaterland zu sterben, als Strafe auf und als die schwer-
ste dazu. Der Staatsbürger empfmdet es als höchste Ehre";23 der Behauptung, daß
der Krieg all denen, die "ständig dem Tod ins Auge sehen müssen, einen see-
lischen Aufschwung" gebracht habe, antwortet Kraus mit dem Hinweis auf die
allgemeine Wehrpflicht (sprich: allgemeine Galgenpflicht), die dem mit
Todesstrafe droht, der nicht gewillt ist, dem Tod fürs Vaterland ins Auge zu
schauen. Resümee: "Ich beneide den Tod nicht darum, daß er sich jetzt von so
vielen armen Teufeln ins Auge blicken lassen muß. "24 Eine Gefallenen-Anzeige
wird zitiert: "Sein weiter kaufmännischer Blick ließ ihn früh die großen
Kampfesziele erkennen und freudig zog er hinaus pro gloria et patria";
Überschrift: Letzte Wahrheit über den Weltkrieg. 2S Ein Akt der Demaskierung;
der Sprache des Krieges wird die Larve abgerissen, in der auf den Kopf gestellten
Phrase, in der verfremdeten und verfremdenden Reproduktion zeigt sich die ver-
steckte, die abgeschirmte Wahrheit. Brecht tendiert - in der Satire - zu ähnlicher
Aufklärung, wobei freilich mitzunotieren ist, daß seine Methode der ErheBung
noch sozusagen 'poetisch' verfährt, während die Sprachkritik bei Karl Kraus un-
mittelbarer am blanken, direkt der Gebrauchssphäre entnommenen Sprachfakt
sich vollzieht Doch: so gut wie bei Karl Kraus kommt in Brechts Legende vom
toten Soldaten Wirklichkeit zu Wort, wird brutale Gewalt Gewalt, grausame
Vergewaltigung Vergewaltigung genannt, und zwar - wenn man die späte
Äußerung zu Shelleys Maskenzug der Anarchie auf den frühen Text zuruckproji-
zieren darf - in großen, symbolischen Bildern.
Vom Fackel-Kraus und Weltuntergangsdrama Die letzten Tage der Menschheit
schlägt der andere Hinweis die Brücke nach Berlin und dort zu Aktivitäten im
Umkreis des spezifischen Berliner Dadaismus, der von Anfang an eine starke po-
22 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, München 1964, S. 193.
23 A.a.O., 235.
24 A.a.O., S. 143f.
2S Karl Kraus: Die Fackel, Nr. 413-417, S. 83.
192 Legende vom toten Soldaten
- zunächst als direkten Reflex auf Brechts Augsburger Lazarettdienst Ende des
Jahres 1918 gelesen. Davon ist kaum etwas zurückzunehmen. Dennoch färbt sich
der Sachverhalt in ganz bestimmter Weise ein, wenn man weiß, daß im selben
Jahr 1918 - nun seinerseits auf Lazarett-Erlebnisse zu Beginn des Jahres 1917 re-
kurrierend - George Grosz eine Zeichnung geschaffen hat, die fast exakt dieselbe
Szene gestaltet: "'KV'-Schreibung eines Soldatenkadavers vor militär- / isch ärzt-
licher Kommission". Mit dem Titel Le triomphe des sciences exactes, Die
Gesundbeter, German doctorsfighting the blockade wurde das Blatt zur Nummer
fünf der Juni 1920 im Malik-Verlag erschienenen Graphik-Mappe Gott mit uns,
ist jedoch schon früher publiziert worden, zum Beispiel Frühjahr 1919 in
Nummer drei der ebenfalls vom Malik-Verlag herausgegebenen Zeitschrift Die
Pleite, dort - bereits aktualisiert - "Den Ärzten von Stuttgart, Greifswald, Erfurt
und Leipzig gewidmet" und mit der Unterschrift: "4 1(2 Jahre haben sie dem Tod
seine Beute gesichert, jetzt, als die Menschen das Leben erhalten sollten, haben
sie gestreikt. Sie haben sich nicht geändert. Sie sind sich gleich geblieben. Sie
passen in die 'deutsche Revolution"'.26
Entscheidend ist nicht, ob Brecht beim Entwurf seiner Legende oder Ballade
diese und ähnliche Zeichnungen von Grosz kannte, sondern daß eine solche frap-
pierende Parallelität besteht. Immerhin: die direkte Kenntnis selbst zu so frühem
Zeitpunkt ist nicht ganz auszuschließen, hatte doch bereits 1916 in den Weißen
Blättern Theodor Däubler auf den Zeichner Grosz hingewiesen, waren 1917 die
Erste George Grosz-Mappe und die Kleine Grosz-Mappe sowie Einzel-
zeichnungen in Zeitschriften publik geworden; letztere unter anderem in der
Malik-Zeitschrift Neue Jugend, die ihrerseits 1917 in verschiedenen deutschen
Städten, darunter auch in München, wo sich ja Brecht Ende des Jahres 1917 auf-
hielt, Autorenabende veranstaltete, zu denen Wieland Herzfelde erinnert, "daß sie
mehr der Agitation gegen den Krieg dienten als der Propaganda für die
Zeitschrift."27 Caspar Neher, der neben Brechts Erstlingsdrama Baal auch die
Legende vom toten Soldaten illustrierte, könnte eine gewisse Vermittlerrolle ge-
spielt haben. - Für den Fall aber, daß ein solcher direkter Bezug ausscheidet, für
26 Die Pleite, hrsg. v. Wieland Herzfelde, Berlin 1919. - Siehe auch George Grosz, Frühe
Druckgraphik, Sammelwerke illustrierter Bücher, 1914-1923, Ausstellungskatalog Staatliche
Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin 21. Mai bis 27. Juni 1971.
27 Wieland Herzfelde, Wie ein Verlag entstand, In: Paul Raabe, Expressionismus, Aufzeichnungen
und Erinnerungen der Zeitgenossen, Olten und Freiburg im Breisgau 1965, S. 230.
194 Legen<le vom toten Soldaten
den Fall also, daß Brechts Text nicht geradezu als Übersetzung des Grosz'schen
Zeichenstifts ins Gedicht aufzufassen und dementsprechend als Bekenntnis zu
Grosz und zur kritisch-satirischen Berliner Avantgarde zu werten ist, bleibt doch,
daß Brecht mit der Legende vom toten Soldaten ein Engagement getroffen hat,
das zumindest im Nachhinein zu solcher Identifikation herausforderte und sie be-
stätigte. In Berlin, wohin Brecht 1924 übersiedelte, ist das Gedicht sicher erst in
den frühen zwanziger Jahren, mithin nach den einschlägigen Graphik-Veröffentli-
chungen von Grosz bekannt geworden; wie kein anderes Stück der frühen Lyrik
galt - Freunden wie Feinden - gerade die Legende als eindeutiges politisches Be-
kenntnis des Autors und klare Positionsbestimmung gegenüber den Berliner
Klassenkampffronten. Die Linie zu George Grosz - allerdings nicht zu den
Bildern, Zeichnungen und Graphiken, sondern zu dessen frühen Gedichten - zieht
Kurt Tucholsky in der oben aufgeführten Rezension. Direkt zur Legende merkt er
noch an: "Den Preußen hats ja mancher besorgt - so gegeben hats ihnen noch
keiner.... Das ist eine lyrische Leistung großen Stils, und wie man mir erzählt
hat, soll das Lied in den Kreisen junger Kommunisten beginnen, populär zu wer-
den." Der unmittelbar anschließende Absatz faßt die Anmerkungen zur H aus-
postille zu einem Gesamturteil zusammen, und hier heißt es: "Nur noch die
Jugendgedichte von George Grosz haben diesen Ton - sonst wohl nichts. 28 - Die
Feinde: schon 1923, zur Zeit des ersten Hitlerputschs, soll Brecht auf der Liste
der nach der Machtergreifung zu verhaftenden Personen an fünfter Stelle gestan-
den haben - hauptsächlich weil ihm vorgeworfen wurde, er habe die Ehre des
deutschen Soldaten in seiner Legende vom toten Soldaten in den Kot gezogen.
Als die Nazis nach ihrer Machtergreifung 1933 die Bücher ihrer ideologischen
Gegner den Flammen überlieferten, waren Brechts Bücher unter den ersten, die
ins Feuer geworfen wurden. Später wurde er seiner deutschen Staatsbürgerschaft
für verlustig erklärt, und zwar wieder als Verfasser der 'Legende vom toten
Soldaten· ... 29
28
Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, a.a.O., S. 1064f.
29
Martin Esslin, Brecht, Das Paradox des politischen Dichters, FrankfurtlMain, Bonn 1962, S.
99.
KURT TUCHOLSKY
Macht man sich die Mühe, die Gesammelten Werke Kurt Tucholskys erneut
durchzusehen, ist man nach wie vor überrascht durch die thematische Bandbreite
der Rezensionen, Essays, Aufsätze und Glossen. Anders als die engere
Literaturkritik seiner Zeit zeigt der Kritiker Tucholsky nicht nur ein differenzier-
tes literarisches Interesse, das die wichtigsten Lyrik- und Roman-Veröf-
fentlichungen jener Jahre so gut um faßt wie Trivialliterarisches und ständische
Leseusancen ala Kadettenliteratur und Ojfiziersbücher1, sondern gerade auch eine
ausgeprägte Aufmerksamkeit für Texte, die außerhalb der 'eigentlichen' oder
'schönen' Literatur liegen, wie man sagt. Daß es sich dabei um keinen Zufall,
vielmehr um die Konsequenz einer kritischen Grundhaltung handelt, die dann
zwangsläufig auf ihre Gegenstände stößt, belegen die Hauptkomplexe der hier be-
rührten Aktivitäten. Unmittelbar aus der Schreibsituation heraus und aus der
Rolle als zeitkritischer Schriftsteller erklärt sich der Blick auf Buchhandel und
Verlagswesen bis hin zum Buchhändler-Bärsenblatt oder zu den Verlags-
katalogen 2 • Ähnlich wie bei Karl Kraus wird auch bei Tucholsky die
schriftstellerische Energie entscheidend durch die aufwuchernde Zeitungs- und
Presseproduktion der Zeit gebunden - und in Fesseln geschlagen. Wir finden all-
gemeinere Perspektiven der Zeitungskritik unter Titeln wie Presse und Realität,
Der neue Zeitungsstil oder Weltbild, nach intensiver Zeitungslektüre und eine
Fötle speziellerer Ausführungen zu diversen redaktionellen Sparten der Zeitung
wie Handelsteil, Auslandsberichte, Leitartikel und Werbekunst oder: Der Text
unserer Anzeigen3 • Mit Arbeiten wie Zeitungsdeutsch und Briefstil geht
Tucholsky so gut in die Weiterung wie etwa mit Überlegungen zum Hori-
zontalen und vertikalen Journalismus, die eine gründliche Auseinandersetzung
mit dem Reisejoumalismus abgeben4 • Ein scharf umrissenes Terrain bilden die
kritisch-satirischen Kommentare zu Gesetzestexten, wobei ein besonderes
Augenmerk der offenen und versteckten Zensur, der Moral- und Wehrge-
setzgebung gilt; als Beispiel - und auch hier nur die Titelüberschriften - : Fort
mit dem Schundgesetz, § 297/Unzucht zwischen Männern, Der § 45 und Eine
Diese und ähnliche Texte zeigen Tucholsky als satirischen Textimitator und
Vexierbildner. Durch offensichtliche Übertreibungen, irritierende Umbesetzungen
und Disproportionen, Stilbrüche, deplazierte Einschübe, gegenläufige Formulie-
rungen u.ä.m. schafft er Distanz und offeriert dem Leser witzige Einblicke in die
Mechanik und Wirkabsicht der karikierten Vorlage. Der Autor greift dieses
imitierende Verfahren immer wieder auf, wendet es in die verschiedensten Rich-
tungen, variiert es und führt es fort, am instruktivsten vielleicht an läßlich der
fingierten Todesmeldung des im Exil lebenden Exkaisers Wilhelm 11., die mit
A.a.O., Bd. 2, S. 535f. (Fort mit dem Schundgesetz!), Bd. 3, S. 17ff. (§ 297 [Unzucht
zwischen Männernl, A. 7lf. (Der § 45), Bd. I, S. 972ff. (Eine neue Wehrpflicht?).
A.a.O., Bd. 2, S. 807ff. (Dienst unterricht für den Infanteristen).
A.a.O., Bd. 3, S. 166ff. (Das Nachschlagewerk als politische Waffe), Bd. I, S. 213f. (Das
Reimlexikon), S. 623f. (Ein Mädchentagebuch), Bd. 2, S. 1163f. (Taschen-Notizkalender), Bd.
3, S. 125ff. (Deu/schjür Amerikaner, Ein Sprachführer), Bd. I, S. 961ff. (Alte Schlager), Bd.
3, S. 552ff. (Gebrauchsanweisung), S. 774 (Die Reporlahsche), S. 494ff. (Kreuzworträtsel mit
Gewalt), S. 89lf. (Der Predigllext).
A.a.O., Bd. 2, S. 1001.
Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik 197
Guten Tag, wie fühlen Sie? / Heute ist ein wahrlich feiner Tag, ist
es nicht? / Sie sehen aus wie ihre eigene Großmutter, gnädige
Frau! / Darf ich Ihnen meinen lieben Mann vorstellen; nein, dieser
hier! / Ich bin sehr froh, Sie zu sehen; wie geht es ihrem Herrn
Stiefzwilling? / Werfen Sie das häßliche Kind weg, gnädige Frau;
ich mache Ihnen ein neues, ein viel schöneres. / Guten Morgen!
(sprich: Mahlzeit!) / Guten Tag! (sprich: Mahlzeit!) / Guten
Abend! (sprich: Mahlzeit!) / Danke, es geht uns gut - wir leben
von der Differenz. 10
Der Autor tritt nicht eigentlich erklärend in Erscheinung, aber er klärt auf, indem
er den Effekt der Vorlage potenziert, also unter das Vergrößerungsglas legt, und
durch die jeweiligen Schlußformulierungen - "( ... ) von keiner Ehe übertroffen",
"( ... ) wir leben von der Differenz" - unter eine Anspannung setzt, die auf
Entladung drängt. Der Leser ist aufgefordert, das überzogene Beispiel zu reflektie-
ren und in der grotesken Eskalation den 'wahren Kern' auszumachen. In beiden zi-
tierten Fällen geht die Bloßstellung über die vordergründige Komik weit hinaus
und läßt die bloßgestellten Absurditäten von Werbetexten und schulmäßiger
Fremdsprachenkonversation - instrumentell genutzt - hinter sich zurück.
Tucholsky hat sich jedoch in seinen Artikeln, Aufsätzen und Essays auch
immer wieder sehr direkt zu den 'aufgegriffenen Gegenständen' geäußert und
Rechenschaft abgelegt über seinen Zugriff. So stellt er etwa mit Blick auf die
zeitgenössische Reiseliteratur folgende Überlegungen an:
seiner Haut kann keiner - aus ihrer Klasse heraus können nur
wenige. ll
Und zum Handelsteil der Zeitung öffnet sich der Kritiker den Zugang - durchaus
aktuell, denkt man heutzutage an ähnliche Ereignisse, wie sie hier angesprochen
sind - durch Anmerkungen wie:
Man sieht: gleich im ersten Zugriff wird das Terrain, auf dem es zu agieren gilt,
abgesteckt, deutet sich an, in welche Richtung die konkrete Operation am Text-
und Sprachmaterial weiterschreiten wird. Die beiden gegebenen Belege lassen
sich so ineinsnehmen, daß es beide Mal primär auf die Interessenlage ankommt,
die sich in Szene setzt und behauptet. Es ist daher nur folgerichtig, wenn
Tucholsky in Fortführung seiner oben angerissenen Perspektive auf die Reisebe-
schreibungsliteratur, nachdem er sie durch Beispiele jenes 'horizontalen Journalis-
mus' komplettiert hat, der seine bourgeoise Klassenlage lediglich "lokal verän-
dert" und sonst ganz in seinen gewohnten Anschauungen stecken bleibt, zu einer
Erörterung kommt wie:
Die Lehre von Marx hat sicher viel Doktrinäres - als Gegengewicht
gegen diese verblasene Ideologie ist sie sehr gesund. Und sie ist
um so eher anzuwenden, als das Lebensgefühl immer mehr hinter
der Organisation und hinter der Zivilisation zurückweicht. Wenn
Franz Mehring in seiner Lessing-Legende Friedrich den Zweiten
rein ökonomisch auffaßt, so will uns das ebenso ungereimt er-
scheinen wie seine Bezeichnung Schopenhauers als eines 'Ren-
tenphilosophen'. An dieser Terminologie ist allerdings etwas
Wahres - aber der Gesichtswinkel ist zu klein, es langt nicht. (... )
Ganz anders aber liegt es bei den falschromantischen Beschrei-
bungen des heutigen Lebens zivilisierter Staaten. Da tut es immer
gut, die blumigen Adjektiva abzukratzen und nüchtern zu konsta-
tieren: Wochenlohn eines hiesigen Arbeiters soundsoviel Mark,
11
A.a.O., Bd. 2, S. 15.
12
A.a.O., Bd. 3, S. 219.
Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik 199
Um etwas ausführlicher auf ihn einzugehen, nehme ich mir einen Artikel zur
verhältnismäßig spröden und sperrigen Materie der Nachschlage- und Lexi-
konliteratur vor, überschrieben: Das Nachschlagewerk als politische Waffe. Es
handelt sich dabei um die Würdigung des Ende der zwanziger Jahre von
Maximilian Müller-Jabusch herausgegebenen Handbuchs des öffentlichen Le-
bens, programmatisch umrissen durch das Motto: "Das Handbuch des öffentli-
chen Lebens ist parteifrei. Es bringt Tatsachen und Ziffern, aber es vermeidet jede
Stellungnahme" Y Dazu Tucholsky gleich dichtauf: "Parteifreie politische
Nachschlagewerke gibt es nicht und kann es nicht geben. Bereits die Tatsache,
daß ein bestimmter Name überhaupt Aufnahme gefunden hat, entspricht in den
meisten Fällen einem politischen Weltbild, und das ist gut so und in Ordnung".
Aber: "Es ist wohl die hinterhältigste, die am meisten vergiftete Waffe: aus der
Statistik, aus den Ziffern, aus den sogenannten 'parteilosen' Nachschlagewerken
heraus zu schießen und sich solcher Bücher als Propagandamittel zu bedienen. Es
ist nicht ehrlich". Dies zur Klarstellung vorweg! Die eigentliche Besprechung
liefert dann ein gutes Modell dafür, in welcher Weise der Kritiker generell an der-
lei Literatur-Objekte herangeht und zu konkreten Operationen kommt; sie darf
also exemplarisch genommen werden!
Tucholsky spricht von drei Verletzungen der "angekündigten Neutralität"; sie
lassen sich - von der SignifIkanz dessen, was schwarz auf weiß gedruckt zu lesen
ist, zum Nicht-Gesagten hin - auf folgende Nenner bringen: 1. Unterschlagungen
von Fakten, 2. Unsachliche politische Einfärbungen und 3. Unbewiesene Be-
hauptungen und Ansichten.
13
A.a.O., Bd. 2, S. 18f.
14
Dieses und die nachfolgenden Zitate a.a.O., Bd. 3, S. I 66ff.
200 Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik
Gemeinplätze sind mitunter auch dazu da, daß man sie wirklich gemein - das
heißt: allgemein zugänglich - macht. Es ist jedenfalls eine falsche Scheu, das
Notwendige nicht zu sagen, nur weil man meint, es verstehe sich ohnedies von
selbst. In dieser Hinsicht ist Tucholskys Verweis auf die grundsätzlichen
Möglichkeiten der politischen Propaganda schon im Bereich der Fakten-
vermittlung gar nicht nachdrücklich genug zu unterstreichen. Man darf eben nicht
nur am gedruckten Buchstaben haften, sondern hat gerade dort, wo man auf
bewußte oder unbewußte Desinformation stößt, das Ausgesparte - den Leerfleck,
die Lücke - zu thematisieren. Daß dann die Sache von der Sprache doch nicht zu
trennen ist, belegt sich an der unterschlagenen Begriffs-Divergenz zwischen
'Wehrpflicht' hier und 'Dienstpflicht' dort, die einem unlauteren Verwechslungs-
spiel Tür und Tor öffnet.
graphische Teil des Handbuchs. Tucholsky streicht heraus, daß man etwa zu Vic-
tor Basch lesen könne, der französische Gelehrte und Politiker habe 1924 in
Berlin und Potsdam "für seinen Standpunkt zu werben" versucht, "fand aber nicht
die richtige Art": "Das darf diesem Pazifisten jeder sagen, jeder - nur nicht ein
Lexikon, von dem wir Tatsachen haben wollen und keine Ansichten". Ein wei-
teres Beispiel! Zu Frederic Francois-Marsal, der bei den Pariser Friedens-
verhandlungen als Finanzberater G. Clemenceaus agierte, finde man die Anmer-
kung, er sei nach seiner Laufbahn als Infanterieoffizier "mit Hilfe familiärer
Beziehungen" zum Bankdirektor aufgestiegen:
Allein schon dadurch, wie sie zur Sprache gebracht werden - das ist mit
Tucholsky zu monieren - , lassen sich Sachverhalte so drehen und wenden, daß
sie bald diese, bald jene Ansicht bieten: und oft genug ihr völliges Zerrbild.
Tucholsky stößt uns darauf, daß sich durch Weglassungen und Unter-
streichungen, Einschübe und Etikettierungen ein effektives Spiel der Licht- und
Schattenverteilung, der kontrastierenden Profilierungen und Beurteilungen, der
unterströmigen Diffamierung treiben läßt. So in Position gebracht, wie es hier
geschieht, verrichtet das Handbuch mit dem Hinweis 'eigentlich Sobelsohn'
15
Victor Guillaume Basch (1865-1944), Prof. der Ästhetik an der Sorbonne, Vorsitzender der
französischen Liga für Menschenrechte, trat nach dem Ersten Weltkrieg für die deutsch-
französische Verständigung ein; Frederic Francois-Marsal (1874-1958), im Ersten Weltkrieg und
bei den Pariser Friedensverllandlungen Finanzberater G. Oemenceaus, in den frühen zwanziger
Jahren Finanzminister; Georges Oemenceau (1841-1929) vertrat als französischer Politiker die
Interessen der Volksmassen und des sozialen Fortschritts, mehrmals Minister, übernahm in der
Krise von 1917 zum zweiten Mal die Regierung, Vorkämpfer für die Revision des Dreyfus-
Prozesses; Wilhelm Cuno (1876-1933) nach 1917 und 1926 im Direktorium der Hapag, bildete
November 1922 als Reichskanzler die sogenannte 'Regierung der Wirtschaft'; Kar! Radek (1885-
1939) begleitete 1917 Lenin nach Rußland, 1917/18 Mitglied der bolschewistischen Delegation
in Brest-Litowsk, wirkte nach 1918 am Aufbau der KPD mit, 1927 aus der Partei ausgestoßen;
Franz Seldte (1882-1947), Gründer und Bundesführer des 'Stahlhelm', agitierte 1929 mit
Hugenberg und Hitler gegen den Youngplan.
202 Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik
Durchweg handelt es sich also wn strikte Bewertungen und dezidierte Urteile, die
sich als objektive Tatsachen auszugeben suchen; es entstehen auf diese Weise fe-
ste Amalgame aus Sachverhalten und höheren Feststellungen jener Art, wie sie
Tucholsky ins Bild zu fassen versucht, wenn er sich anläßlich der inkriminierten
Handbuch-Tatbestände an die "größenwahnsinnigen Urteile kleiner Landge-
richtsdirektoren" erinnert fühlt, "die vor ihren Kammern die Weltgeschichte
antreten lassen und dann in Urteilsbegründungen 'feststellen', was gewesen ist".
Und die bildhafte Umschreibung ist in diesem Fall tatsächlich eine Hilfe, die
Enge des nationalen, nationalistischen Blickwinkels, auf die es ankommt, nicht
nur im Begriff zu fixieren, sondern wirklich plastisch werden zu lassen. Obwohl
von Frankreich expressis verbis gar nicht die Rede ist, zielen alle Ausdrücke wie
'erpreßt', 'Ausbeutung' etc. auf den Erbfeind jenseits des Rheins ab und entwerfen
das bekannte propagandistische Leitbild. "Poincare: 'Mitschuldig am Kriegsaus-
bruch'. Bumm. Das wird hier, auf Seite 810 entschieden, aber nicht belegt" 16.
Darauf eben kommt es dem Handbuch in den angesprochenen Fällen an, durch
'Entscheidungen' - flinke Behauptungen und Ansichten - den 'Belegen' zuvorzu-
kommen bzw. durch massive und massierte 'Entscheidungen' einen solchen
Druck zu erzeugen, daß sich die Frage nach dem 'Beleg', da sie der Leser gar nicht
mehr stellt, von selbst erledigt. Das illegale Vorgehen, um das es sich handelt,
wird von Tucholsky dadurch veranschaulicht, daß er - wie zitiert - geradezu von
der Verdrängung der Lexikon-Funktion durch die der Zeitung - durch den
"deutschnationalen Leitartikel" - spricht. In der konkreten politischen Gefahr von
rechts deutet sich somit eine allgemeine Gefährdung jener Bestimmung zur
Neutralität an, wie sie Tucholsky einleitend so nachhaltig für die Lexikon- und
Nachschlageliteratur reklamiert hatte.
Das Schlußwort des Aufsatzes enthält als Resümee die Feststellung, das vor-
liegende Handbuch des öffentlichen Lebens habe nicht die Berechtigung, für
Deutschland zu sprechen - "Es spricht für einen Teil Deutschlands. Nicht für sei-
nen besten" -, und das dem Leser der Kritik in die Hand gegebene Versprechen des
Autors: "Wir werden immer wieder aufzeigen, wie in Schulbüchern, in Atlanten,
in Nachschlagewerken, dort, wo man die Propaganda am wenigsten vermutet, wo
sie also um so tiefer trifft, Politik gemacht wird". Und es ehrt Tucholsky, daß er
dieser Verpflichtung auch tatsächlich nachgekommen ist: quer durch sein
Gesamtwerk lassen sich zu den hier angeschlagenen Themata zahlreiche
Querverbindungen entdecken, prompte Fortsetzungen der einmal aufgegriffenen
Materie, bewußte Weiterleitungen und Intensivierungen, Differenzierungen,
Ausfaltungen, Modifikationen - und auch Wiederholungen, der notwendigen
Eindringlichkeit halber. Fürs Nachschlagewerk als politische Waffe bietet sich
als direkte Nachfolge- und Korrespondenzlektüre der Artikel Verhetzte Kinder -
17
Tucholsky, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 1261f.
18 A.a.O., Bd. 3, S. 275.
Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik 205
Kein Zweifel: Tucholsky schließt hier - bis in den Gestus hinein - an eben jene
sprachkritischen Traditionen aus dem neunzehnten Jahrhundert an, auf die ich mit
Ferdinand Kürnberger und dem Wiener Feuilleton bereits hingewiesen habe.
Diesen Rückbezug teilt er mit Karl Kraus, der im übrigen freilich mit seiner nur
noch zitierenden Satire sehr charakteristische eigene Folgerungen zog.
Eine Art Summe der sprach- und stilkritischen Anstrengungen Tucholskys
stellt der Aufsatz Der neudeutsche Stil dar. Er zielt auf unterschiedliche aktuelle
Schreibgewohnheiten ab, die sich an unterschiedlichsten Orten breitmachen und
das Feld behaupten, speziell auf Entwicklungen, die aus der Kriegszeit datieren -
als die Schleichhändler, wie es heißt, miteins zu Philosophen avancierten: "und
es gibt heute in Deutschland kaum einen längeren Geschäftsbrief, worin nicht
eingestellt und trendiert und symptomatisiert wird"2O. Neben 'Einstellung' und
'Symptom' geht es um Modewörter wie 'Problem', 'gekonnt', 'Absenkung',
'Überbau' oder 'irgendwie', das überhaupt nichts heißt, das man einfach weglassen
könnte, "ohne daß sich der Sinn des Satzes ändert". Die "grauenhafte Unsitte"
wird attackiert, "sich mit Klammem (als könne mans vor Einfällen gar nicht
aushalten) und Gedankenstrichen dauernd selber - bevor es ein anderer tut - zu un-
terbrechen, und so (beiläufig) andere Leute zu kopieren und dem Leser - mag er
sich doch daran gewöhnen! - die größte Qual zu bereiten", die Aufplusterung der
einfachsten Gedanken "zu einer wunderkindhaften und gequollenen Form" und an-
deres "Modedeutsch der Wiener und Berliner Schmalzküche". Dabei ist festzuhal-
ten, daß Tucholsky nirgends der falschen Puristik einer rigiden Sprachreini-
gungsbewegung anhängt, daß er nicht schlecht normativ verfährt, irgendeinem
festgeschriebenen Kanon folgend, sondern aus der Kenntnis von Geschichte und
Gesellschaft seine Kritik stets so vorbringt, daß man - höchst konkret - weiß,
wessen Sprache als wessen Gesinnung verhandelt und vorgeladen wird. Nur fol-
gerichtig treten daher die Abwehrkräfte und die ganze Schärfe der Abgrenzung dort
in ihre Funktion, wo es dem Vorurteil erlaubt ist, als Gesetz und Vorschrift zu
agieren, wo Partei- und Gruppeninteressen sich allgemein geben dürfen und dabei
die Anschauungen der Gegenpartei oder Minderheit - nun nicht mehr nur verbal -
19
A.a.O., Bd. 3, S. 220.
20 Dieses und die folgenden Zitate a.a.O., Bd. 2, S. 40lff.
206 Tucho1sky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik
unterdrücken. Ich schließe daher mit zwei Passagen aus Tucholskys Gesetzes-
kommentaren. Die Behauptung, die "geschlechtlichen Beziehungen von Mann zu
Mann" führten zur "Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft", wird
wie folgt gekontert:
Dieser Satz ist falsch. I Den Verfassern fehlt jede Legitimation, für
das deutsche Volk zu sprechen - sie sprechen höchstens für einen
unaufgeklärten und ungebildeten Teil. ( ... ) Mir ist die sexuelle
Beziehung eines Mannes zu einem Manne schlecht vorstellbar -
aber niemals wagte ich, dieses mein Sentiment zur Grundlehre ei-
ner Sittenlehre zu machen. Mit demselben Recht könnte man ein
Gesetz gegen rothaarige Frauen entwerfen oder gegen Männer, die
stark schwitzen. So lange die Spielarten der Sexualität die
Gesellschaft nicht schädigen, solange hat sie kein Recht einzugrei-
fen. 21
Und zur Frage des 'unehelichen Geschlechtsverkehrs', die anläßlich der Straf-
gefangenengesetzgebung aufgeworfen wird, lesen wir:
Mit welchem Recht wird hier ein Sittenkodex statuiert? Mit dem
Recht des Pensionsberechtigten? Das verbitten wir uns. Wir verbit-
ten uns das im Namen jener gequälten Gefangenen, die nicht
warten können, bis Herr Gentz von den Idealen seiner Jugend und
seiner Klasse zur Wahrheit gefunden hat. Das ist unsre Tragik: daß
Leidende ganze Generationen hindurch abwarten müssen, bis neue
Geschlechter sich bis zur Erlösung fortentwickeln; bis dahin leiden
wir unter den alten. 22
Die gegebenen Hinweise reichen hin, in etwa einen Überblick über die
Gegenstandsbreite und das Leistungsvermögen der literarischen, literaturkriti-
schen, gebrauchsliteraturkritischen Journalistik Tucholskys zu liefern. Es galt zu
zeigen, daß sich mit der sprachkritischen Aufmerksamkeit - oder besser: in ihr -
ein fixer politisch engagierter Standpunkt artikuliert, der im Interesse der unteren
Klassen eingenommen wird, die sich selbst nicht artikulieren können und so zu
Opfern der Geschichte werden. Die aus der literarischen Praxis gewonnenen
Erkenntnisse stellen somit eine sie selbst überschreitende, also zum politischen
Handeln auffordernde Herausforderung dar. - Auffällig schließen mehrere der hier
beigezogenen Artikel Tucholskys mit einem ähnlich entschlossenen und enga-
gierten - appellativen - Bekenntnis, wie es für den Aufsatz Das Nachschlagewerk
als politische Waffe anzuzeigen war. So zum Beispiel:
Für Karl Kraus fließen alle satirischen Energien, die er in seiner von ihm allein
herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel erprobte, in dem Weltuntergangsdrarna
Die letzten Tage der Menschheit zusammen: ein großes apokalyptisches Pano-
rama entfaltet sich, das mit den Schauplätzen des Ersten Weltkriegs den Blick in
tausende chaotischer Abgründe eröffnet. Diese Apokalypse kennt nur Opfer - und
am Schluß den Aufstand des Weltalls gegen den wild gewordenen Planeten! -
Einen ähnlich zentralen Werk-Stellenwert behauptet für Kurt Tucholsky das von
John Heartfield montierte Bilderbuch Deutschland, Deutschland über alles aus
dem Jahre 1929. Hier wie dort wird das Dokument 'zur Figur', aber im Unter-
schied zu Kraus, der noch im Bann des Ersten Weltkriegs das beklemmende
Untergangsszenario bannt, mit ihm den Leser schockiert und lähmt, entwickelt
Tucholsky - am Vorabend der faschistischen Machtergreifung in Deutschland -
mit allen Symptomen der erneuten Gefahr auch alle Kräfte der Abwehr und
versucht, sie zu aktivieren. Die breit gestreute Aufmerksamkeit des Autors
wendet sich nun den Photographien zu, wie sie täglich die Presse durchziehen,
und gewinnt aus diesem optischen Gegenüber noch einmal eine eigene Schärfe.
Galt es zuvor, Gedrucktes lesen zu lernen, und zwar an allen Produktionen des
Tages, so gilt es nun, Bilder lesen zu lernen, wie sie die Kameras der Photo-
reporter beibringen - und eben sie zeigt gleich eine der ersten Abbildungen dieses
Buches scharenweise mit gezückten Kameras in voller Aktion.
Nun wird freilich die öffentliche Diskussion über dieses Lesen gerade dort ge-
stört, wo zwar das gesellschaftlich Typische, ja Verräterische an solchen Bildern
voll in Erscheinung tritt, wenn man nur als Betrachter ganz in sie "hinein-
gekrochen" ist und sie "zum Sprechen" gebracht hat, der urheberrechtliche Schutz
des Privaten Veröffentlichungen darüber aber verhindert: eben das ist der Punkt,
auf den der Autor mit Vorrede oder: Die Unmöglichkeit. eine Photographie zu
23
A.a.O., Bd. 3, S. 195 (pas BuchhändJer-Börsenblatt).
24 A.a.O., Bd. 3, S. 220 (Handelsteil).
208 Tucholsky - zur Gegenstandsbr::ite seiner Kritik
I 1 1 h
lohn Heartfield, Tiere sehen Dich an, Illustration zu Kurt Tucholsky's
Deutschland Deutschland über alles, 1929.
Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik 209
textieren gleich einleitend sehr entschieden hinweist2s . Das ist eine ernstzu
nehmende Schwierigkeit, kann sie doch zu gerichtlichen Einsprüchen und
dergleichen führen; sie läßt sich jedoch steuern: und eben dies will Tucholsky
mit jeder Bildunterschrift und jedem Bildkommentar seines Buches unter Beweis
stellen. So sind ihm etwa in Marschkolonne über eine Rheinbrücke ziehende
Militärs nicht einfach schlicht 'Soldaten', sondern sehr viel präziser "verkleidete
Bergarbeiter, Handwerker, Rohrleger, kaufmännische Angestellte"26, hält aber
umgekehrt fest, daß z.B. dem Kriegsgeneral Ludendorff der angelegte Nachkriegs-
Zivildress ganz und gar nicht zu Gesichte stehen kann: "Zivil tötet. ( ... ) Er
fühlts, daß ihm das Zivil nicht steht. Es steht ihm wirklich nicht. Ich habe ihn
darin gesehen, damals, als er vor dem Untersuchungsausschuß stotterte. Er hatte
etwas von einem strengen Lehrer im Dampfbad. Die Autorität war dahin"27.
Die Mittel, solche und ähnliche Bilder tatsächlich zum Sprechen zu bringen,
sind zahlreich. So streicht Tucholsky etwa den ganz offensichtlichen Kontrast
zwischen Bild und Kommentar heraus, wenn er auf zwei Männer hin, die relativ
gelassen durch die zersprungenen Glasscheiben eines Fensters ins Freie schauen,
in reißerischer Pressemanier formuliert: "Die Scheiben sind zerschossen, die
Aktentische leer, der Materialschaden ist höchstwahrscheinlich unermeßlich. /
Und nun sehe man sich die Gesichter dieser Menschen an! Brutalität und Roheit
steht in ihnen geschrieben; wird vielleicht jemand ableugnen wollen, daß diese
beiden die rohe, vernunftlose Gewalt darstellen? "28 Oder er unterstreicht - gerade
umgekehrt - die unfreiwillige Richtigkeit der Bildlegende in der Presse. So mit
Bezug auf ein Photo, das zwei Soldaten hinter einem Maschinengewehr unter
einem Tarnnetz zeigt und dieses als "neuesten Schutz bei der deutschen Reichs-
wehr" bezeichnet, der die Maschinengewehrabteilungen "fast unsichtbar" macht;
dazu Tucholsky: "Dieses Netz ist kein Netz. Es ist eine Allegorie"29. Oder - der
Umschlag von Spaß zu Ernst durch einen überraschenden Wechsel der Betrachter-
Perspektive: da machen sich ein paar Männer in weißen Kitteln auf der Leipziger
Messe den Werbe-Jux und laufen mit vorgebundenen Staubschutzmasken durch
die Menge. Tucholsky kommentiert: "Eines Tages wird es Ernst sein. Und dann
wird dieses Rüsselgesicht alltäglich sein, und niemand wird mehr darüber lachen,
und viele werden weinen. Aber das kann man nicht verhindern, nicht wahr - das
Hütehaus macht Strohhuttage, der kanadische Obstfarmer propagiert seine Pfir-
siche, und die Rüstungsindustrie braucht den Krieg"30.
Man sieht: das Instrumentarium der Bild-Kritik - gerade nur angedeutet - ist
ähnlich differenziert wie den literarischen Gegenständen gegenüber, nur daß sich
2S Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles, Ein Bilderbuch von K. T. und vielen
Fotografen, Montiert von lohn Heartfield, Berlin 1929, S. 1Off.
26 A.a.O., S. 13.
27 A.a.O., S. 16.
28 A.a.O., S. 36.
29 A.a.O., S. 43.
30 A.a.O., S. 89.
210 Tucholsky - zur Gegenstandsbreite seiner Kritik
Tucholsky hier auf keine Traditionen berufen kann, sondern ganz aus eigenen
Kräften heraus argumentieren muß. Die beim Betrachter zu erzielende Wirkung
läßt sich als eine Art Umkehrverfahren beschreiben, durch welches die suggestive
Blickperspektive des Fotos verkehrt, ab- und umgewertet bzw. entscheidend wei-
tergelenkt wird, so daß Hintergründe transparent werden und eigene Standpunkte
eingenommen werden können. Dies ist exemplarisch bei einem 'erotischen' Foto
der Fall, das von unten her durch eine Glasplatte einer rechtssportiven Frau unter
die barfüßernen Fußsohlen und den Sportdress schaut. 'Von unten' - das weckt
dem proletarischen Betrachter natürlich noch ganz andere Assoziationen, und so
lautet denn hier der entsprechende Vexierbild-Kommentar: "Dieses Bild ist dem
'Deutschen Frauenkamptbund' und den ihm angeschlossenen Unsittlichkeits-
schnüfflern in Züchten gewidmet / So sieht diese Schmutzsonderklasse die Welt.
So sieht mancher Pfaffe die Welt. Immer mit einem roten Kopf und von unten. /
Wir lachen darüber. Und sehen unsere Welt von oben"31.
31 A.a.O., S. 191.
"ICH HÄTI GEKÜSST DIE SPUR VON DEINEM
TRITT"
W DEN GESANGSPARODIEN UND
MUSIKCLOWNERIEN KARL VALENTINS
Regelrechten Musikunterricht nahm er nur zur Erlernung des Zither- und Mando-
linenspiels; als Autodidakt beherrschte er aber Trompete, Posaune, Tuba, Wald-
horn, Klarinette, Pikkoloflöte, Fagott, Ziehharmonika, Gitarre und Violine. Un-
ter seinem bürgerlichen Namen Valentin Ludwig Fey startete Karl Valentin
(1882-1948) vor dem Ersten Weltkrieg als Musikclown - mit Hilfe eines von
ihm selbst konstruierten Orchestrions, das ihm die gleichzeitige Betätigung von
etwa zwanzig Musikinstrumenten erlaubte. Er blieb aber erfolglos. Nachdem er
mit dem aufwendigen Automaten gescheitert war, kam er als Coupletsänger in
diversen Münchener Lokalen und Unterhaltungsetablissements zu ersten Erfol-
gen, wobei er sich auf den komischen Effekt seiner hageren Gestalt kaprizierte.
Hier lernte er auch seine spätere Partnerin - Liesl Karlstadt (1892-1960) - kennen,
auf die die dialogische Struktur der meisten seiner sketch artigen Szenen und
Kurzdramen zugeschnitten ist; das erste, 1913 aufgerührte Stück, in dem das Paar
gemeinsam agierte, hieß Alpensängerterzett und stellte eine Persiflage jenes
Volkssängermilieus dar, das beide aus nächster Nähe kannten: "Alle Schwächen
jener mediokren und betont bajuwarischen Gesangsnummern" wurden "in parodi-
stischer Form bloßgelegt"l. Musikclownerien und Gesangsparodien stehen aber
nicht nur am Anfang der Komiker-Karriere Karl Valentins, sondern durchziehen -
immer wieder aufgenommen, bald als Solonummer freigestellt, bald dramatisch
integriert - sein ganzes Schaffen. Stellt man sie sich einmal zusammen, sind die
einschlägigen Nummern voll überraschender Wendungen, deren Techniken und
Effekte nicht nur als Witz und Nonsense, Blödelei und Klamauk, sondern vor al-
lem auch deshalb frappieren, weil sie an Tendenzen heranreichen, die wir sonst
nur in der ausgesprochen 'modemen', in der avantgardistischen Literatur der Zeit
ausgeprägt finden. Deren Spannbreite läßt sich durch das Interesse, das der junge
Bertolt Brecht an dem 'Münchener Original' genommen hat, wie durch das iso-
lierte und deshalb instruktive Faktum belegen, daß sich unter den wenigen Bü-
chern, die Valentin besaß, ausgerechnet ein Bändchen mit Texten und Gedichten
von Kurt Schwitters (1887-1948) fand 2, mit dessen Hilfe sich eine verdeckte Ver-
bindungslinie zur Dada- und Merzkunst ziehen läßt. Es ist deshalb legitim, eine
solche Nachbarschaft auch offen anzusprechen, auch wenn ihr der Künstler seiner
Gestatten Sie, daß ich eine Ballade von Loewe zum Vortrag
bringe: Die Uhr von Loewe. Ich setze voraus, daß ich mich dabei
selbst begleite - mit der Gitarre. Die Uhr von Loewe!
Sehen Sie, weil wir eben von einer Uhr sprechen, mein Urgroß-
vater, der lebt nämlich noch und dem wurde vor kurzer Zeit seine
Uhr gestohlen - und seit dieser Zeit fühlt er sich wieder bedeutend
jünger. Denn jetzt ist er wieder nur mehr 'Großvater'. Also zur
Sache: Die Uhr von Loewe!
Ich ... Ich habe auch einmal mit einem Uhrmacher einen Streit
gehabt wegen einer Taschenuhr. Ich hab die Uhr bei ihm gekauft
und - zu Hause angekommen - habe ich bemerkt, daß auf dieser
Zitiert in der Abschrift der Schallplattenversion nach: Karl Valentin u. Liesl Karlstadt,
Alles von Karl Valentin und Liesl Karlstadt, Emi/Odeon C 148-29788/89, S. I. - Die
stärker variierende Druckfassung: Karl Valentin, Sturzflüge im Zuschauerraum, München
1969, S. 42f.
"Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt" - zu Karl Valentin 213
... gemeiner Kerl, dieser Uhrmacher, weil er mir das nicht gleich
gesagt hat von dem Sprungdeckel. Dann habe ich mir bei ihm statt
der Taschenuhr eine altmodische Wanduhr gekauft, mit Blei-
gewichten und langen Messingketten, habe mir mit einem Ham-
mer einen kleinen Nagel in die Brust geschlagen und die Uhr
hingehängt. Aber es war entsetzlich! Unterm Gehen sind mir im-
mer die beiden Gewichte zwischen die Füße gekommen und der
Nagel hat mir wehgetan. Die Uhr von Loewe!
Leider kann ich Ihnen die Ballade nicht mehr ganz vorsingen, weil
auf der Schallplatte dafür kein Platz mehr vorhanden ist. Schade,
eine Schallplatte müßte eigentlich einen Meter Durchmesser ha-
ben. Entschuldigen Sie also vielleicht vielmals den plötzlichen
Schluß.
Karl Valentins
Tingel-Tangel
im Xellersa.a.l des Rotel Wa.gner (Sonnenstr.)
B.glnn täglloh ....n ... punkt 8 Uhr
Programm:
\.
3. Konzert.äng.rln
4. Jluaik
6. Salon komiker
6. Jlusik
7. Orlglnal-Mlmlker
6. .l(llJik
9. Llohtbllder-Reklame
10. 10 lfiDuttD Pause
das auf diese Weise in seiner sentimentalen Einheit gestört wird. Dabei ist die
Reihenfolge der Irritationen etwa wie folgt. Zwei Selbstverständlichkeiten - daß
der Vortragende sich selbst auf der Gitarre begleitet, was aus dem Auftritt mit
Instrument ersichtlich ist, und daß Carl Loewe kein Uhrmacher, sondern eben der
Komponist der Ballade Die Uhr sei - werden vorausgeschickt. Auf den Hinweis,
so ein 'starkes' Stück Poesie habe eigentlich ein gewichtigeres musikalisches Ge-
leit als das der Gitarre verdient, folgt eine längere Erinnerung an das Erlernen die-
ses Saiteninstruments, das eigentlich - mangels Saiten - gar keines war, allen-
falls ein Art Schattenspiel. Alle diese Abweichungen - und so auch der Kalauer
mit dem 'Uhr'-Großvater - haben aber nur vorbereitenden Charakter. Mit seiner
Hauptauslassung zielt Valentin darauf ab, "auch" er habe einmal Streit mit einem
Uhrmacher wegen einer Taschenuhr gehabt. Mit ihr bringt er die Vorlage auf ein
ganz falsches Geleis und entspricht ihr doch auf fatale Weise exakt, denn natür-
lich ist die schmerzhafte Prozedur mit der "altmodischen Wanduhr", die einen Na-
gel in der Brust notwendig macht, um mitgeführt werden zu können, eine bissige
Replik auf Loewes "Ich trage, wo ich gehe,! stets eine Uhr bei mir" und auf das
elegische Innewerden, dem Ablauf der Zeit verfallen zu sein, dem der Dichter im
Uhr-Symbol Gestalt gibt. Eine Art generelle Zeit-Negierung ist es ja, wenn das
Lied, das es vorzutragen gilt, überhaupt nicht von der Stelle kommt und - als Sa-
tire auf einen Schlager, der Die Uhr ja war, besonders plausibel- bei den ersten,
in diesem Genre meist einprägsamsten Zeilen hängen bleibt. Die umständliche
Entschuldigung für den "plötzlichen Schluß" platzt deshalb mitten in die kaum
entfaltete Einleitung des Erzählpoems hinein und verweist den Zuhörer auf die
zunächst als Störung empfundenen, in sich wenig zusammenhängenden Ausblen-
dungen als eigentlichen erzählerischen Vorgang. Loewes Ballade bleibt bei dieser
Attacke voll auf der Strecke.
Wie bei der Uhr von Loewe ist der szenische Ausgangspunkt mit der Nachah-
mung einer gesanglichen Vortrags situation gegeben; der Sänger nennt den Titel
des Liedes, das er darbieten möchte. Aber: noch bevor er in dieser Rolle mit dem
Gesang anheben kann, muß Valentin im Publikum eine Dame mit Hund entdek-
ken; er fordert sie auf: "Tun's den Hund 'naus!" Drohendes Unheil ahnend,
schließt er gleich an: "Net, daß er mir da was drein macht!", "Wär' schad' um das
schöne Lied!" Doch genau so kommt es. Der Künstler hat in seinem Vortrag
kaum die ersten Zeilen hinter sich gebracht, als ein erstes kräftiges Hundebellen
ausbricht und die angeschlagene besinnliche Vortragsstimmung destruiert. Die
Fortführung des Liedes ist dann - der Hauptsache nach - nur mehr ein unwirsches
und verzweifeltes Ankämpfen gegen die anhaltende Störung, immer wieder aus-
brechend in Ausrufe wie: "Es ist ja furchtbar!", "Das ist ja entsetzlich!" Anders
aber als bei der Persiflage der Loewe-Ballade wird hier keine fixe und allseits be-
kannte literarische Vorlage hergenommen, sondern allenfalls eine bestimmte, er-
folgsträchtige Lied- und Lyrik-Richtung parodistisch angegangen. Das Lob des
Sonntags soll gesungen werden:
Weitergeführt, bleibt jedoch der Text bei einer solchen einfachen Form nachah-
mender Parodie nicht stehen, sondern wechselt in die wirklich groteske Verspot-
tung über und tritt auf spezifische Weise in den Bereich des Alogischen und Ab-
surden ein. Der "Sonntag hell und klar" endet nämlich für den Sänger mit dem
Einbruch des Abends, wobei die Vorstellung von 'Sonntag' auf 'Tageszeit, wäh-
"Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt" - zu Karl Valentin 217
rend der die Sonne scheint' - ein Wortspiel, wie so oft bei Valentin - einge-
schränkt wird:
V: Ja, 'n Text. Ja, nach 'n Text können S' nicht spielen. Den
Text brauch ich. Ich hab' aber keinen Text. Müssen wir: La
1a la ...
(singt)
So oft der Frühling durch das offne Fester am
Sonntagmorgen uns hat angelacht, da zogen wir ...
... von deinem Blicke gern
(singt)
Die Liebe, die Liebe, ist eine Himmelsrnacht.
"Ich gestatte mir, Ihnen ein Lied zum Vortrag zu bringen", auch hier! Der Vor-
tragskünstler hat aber, wie er im Gespräch mit seinem Klavier-Begleiter fest-
stellt, zur beliebten Operettenarie, zu der er eben ansetzt, den Text nicht parat. Er
versucht deshalb, sich zunächst mit "la, la, la" zu behelfen, greift dann aber -
"das harmoniert ganz gut z'sam" - zu einem Ersatztext und findet erst ganz zum
Schluß, nachdem das vermißte Notenblatt nun doch gefunden ist, mit dem letzten
Vers ins vertraute Gesangsstück Wer uns getraut aus dem Zigeunerbaron:
Den Haupteffekt des Musiksketchs macht zweifellos das breit ausgespielte Mit-
telstück, das besonders deshalb zum Lachen reizt, weil zugrundegelegte Melodie
und aufgesetzter Text - mit dem nicht unpassenden Titel Vom verlorenen Glück-
partout nicht zusammenpassen wollen. Karl Valentin ist deshalb gezwungen, die-
sen Textersatz ins Prokrustesbett der Operettenmusik zu zwängen, an der er eben
festhä1t; er zerstört dabei Strophe, Reim, Vers, Satz- und Wortlaut des Verlore-
nen Glücks und paßt das auf diese Weise gewonnene Sprachmaterial rigoros dem
Takt und Rhythmus von Wer uns getraut an. Das läßt sich graphisch, wie folgt,
veranschaulichen:
Konkretisiert sieht das dann - etwa auf die komprimierende Wortkunst August
Stramms (1874-1915) abhebend - so aus:
Als habe er Kurt Schwitters' poetische Bemühung ums Alphabet von hinten im
Auge gehabt, schließt sich in der folgenden Strophe ein nun vom Kopf wieder
auf die Füße gestelltes 'Alphabet von vorn' an:
A-b-c-d~-f-g-h
I-k-I-m-n-o-p
Q-r-s-t-u-v-w-x
Ypsilon-z-f-f-f (drei PfIffe).
Und in der nächsten Strophe wieder wird auf Christian Morgensterns (1871-1914)
Großes Lalula angespielt, ein Stück also, das einen wichtigen Vorläufer aller ex-
perimentellen Poesie bis heute abgibt:
La la la la la la la la
La la la la la la li
Li li li li li li li li
Li li li li li li la.
Verblüffend fährt aber Valentin nun nicht in dieser imitierenden Verspottung mo-
dem-modernistischer Poesie fort, sondern wechselt in die eigene, aus den frühen
Musikclownerien heraus entwickelte und unverkennbar durch ihn geprägte - blö-
delianisehe, nonsensikalische - Tonart über, die sich ihre satirischen Gegenstände
gewiß nicht in der zeitgenössischen expressionistischen Literatur suchen mußte,
sondern überall in der Sprache vorfand, und besonders dort, wo sie sich trivial
und alltäglich präsentierte. Indem er jedoch auch diese und gerade diese Verse un-
ter Expressionistischer Gesang laufen läßt, deutet Valentin ein anderes als nur
spitz-parodistisches Verhältnis zur aktuellen Literaturmoderne an. Dafür - aus den
nachfolgenden insgesamt zwölf nur die beiden unmittelbar anschließenden Stro-
phen als Beispiel:
Es folgen - ganz ähnlich organisiert - noch zwei weitere Strophen. Hier und dort
dringen Cross-Setzungen sogar in die Binnenstruktur der Montageelemente ein
und verrätsein den sprachlichen Bezug; dabei können einfach Sinn-Löcher oder,
wie "disziplit" zeigt, auch neue, bislang nicht gehörte und deshalb fremdartige
Worte entstehen. - Noch radikaler in die Spracherfindung geht dann allerdings erst
das Chinesische Couplet. eine Vortragsnummer Liesl Karlstadts; und hier alle
drei Strophen im Zitat:
Chinesisches Couplet
1
Mantsche Mantsche Pantsche Hon kon Tsching Tschang
Kaifu schin sie Pering gigi wai hai wai
Titschi tatschi makka zippi zippi zappi
Zu den Tennini vgl. Karl Riha, Cross·reading und Cross-talking, Zitat-Collagen als
poetische und satirische Technik, Stuttgart 1971.
222 "Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt" - zu Karl Valentin
2
Ni widi tschen lali gan demi detti
La bade schon wette wett wum wum
Goll wudi bum bim wuschi wuschi sitz wetz
Sussi sussi sussi witschi schrumm
So von om runte, giglgilgoggi
Da legst di nieder plim plam plum.
Tutti tutti grossi, heiße Suppi blosi
Rahm 0 schlecken un on inten rum
Anni wiedi wen well tarn di diti tarn tarn
Schlucki schlucki wust gudi dudi gut.
Bier harn mi nimi, sauf ma halt a Wassi
Magi der is lari nachher wirst kaput
Niki nischi waschi schliffi schnack
Wauh, wauh, wauh.
Refrain: Ziggi zarn ziggi zam Tschin Tschin wuggi gu
Wassi Wassi tscheng patschi zsching wuh-hu wu.
3
Snekrededeng widi putzpomade Sachti
Boane wecke, tutti frutti wasch, wasch, wasch
Poopi nanni quaste Millen dunsen,
Haferl gocken, Schneckt betzi Gwasch
Ka ko ki ka Kika Keki Wanzi
Magi, Magi, Magi, Magi, Magi, Magi mag i net
Humi wepsi bieni, um halb elfi gimmi
Heidi bobi tschingreding ins bet.
Tsching Tschang Tsching Tschang gibidani busi
Meini lippi xaxixaxixaxixaxixax
"Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt" - zu Karl Valentin 223
Freilich ist man an Kinderlieder - "Tri Chinisi mit die Kintribiß" - oder als kon-
kretes literarisches Vorbild an den Gesang der Wilden - "Spißi, spaßi Kasperladi /
Ricki, hacki Karbonadi" etc.8 - in einem der Kasperstücke des Münchener Grafen
Pocci (1807-1876) erinnert, ein populäres, letztlich ja bis in die Kinderbücher
vorgedrungenes Stück Lautpoesie bereits des neunzehnten Jahrhunderts. Valentin
bleibt mit einzelnen Versen ähnlich 'verständlich' wie Pocci, weil durch die un-
vertraute Schreib- und Sprechweise in Bruchstücken das gewohnte Bayrisch
durchschimmert: mit der Abfolge von "Kim i, kumm i" (komm ich, so komme
ich) in der ersten, "Da legst di nieder ... / Tutti tutti grossi" (Da legst du dich
lang hin ... / Alle Brüste so groß) in der zweiten und "gibidani busi" (küsse ich
dich) in der dritten Strophe ergibt sich sogar so etwas wie eine spezifisch-bayri-
sche Folklore-Assoziation. Der Zuhörer will aber gar nicht das Maskerade-
Chinesisch bis ins letzte zurückübersetzt haben ins Heimatidiom, sondern läßt es
sich mit Andeutungen genug sein und gibt sich im übrigen spielerisch dem ab-
strakten Sing-Sang hin, erheitert gerade dadurch, daß sich hier Buchstaben in No-
ten ummünzen und Worte in Musik verwandeln. Als volkstümliche Kontrafaktur
sicher ein gebrochenes Verhältnis zur dadaistischen Lautpoesie dokumentierend,
liegt deshalb das Chinesische Couplet aus Bayern doch ganz grad auf einer Linie
mit dieser umstürzlerischen Dada-Erfindung, die im Schweizer Exil während des
Ersten Weltkriegs gewonnene Erfahrung der Initiatoren des Züricher Cabaret Vol-
taire in die zwanziger und frühen dreißiger Jahre hinein bestätigend, daß der "Ver-
such, das Publikum von der Kabarettbühne herunter zu unterhalten", "in ebenso
anregender wie instruktiver Weise zum ununterbrochen Lebendigen, Neuen, Nai-
ven" führe9 •
Unter Ritler, im Bannbereich des 'Dritten Reichs', ging Valentin dieser Spiel-
raum - der ganzen Breite des Wortes nach - verloren. Das zeigt unter anderem
1942 ein Versuch im politischen Gedicht wie Wenn ich einmal der Herrgott wär
nach der MelüdieDa streiten sich die Leut herum. Auch wenn sich ein unausrott-
barer Hang zur Kombinatorik behauptet - es werden ja die Eingangszeilen eines
beliebten Trinklieds des neunzehnten Jahrhunderts mit der Musik des wohl be-
rühmtesten Couplets von Ferdinand Raimund, dem sogenannten Hobellied aus
Franz von Pocci, Kasperl unter den Wilden, zit. nach: Kasperletheater für Erwachsene,
hg. v. Norbert Miller u. Karl Riha, Frankfurt/Main 1978, S. 263.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, S. 75.
224 "Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt" - zu Karl Valentin
10
Valentin, Sturzflüge im Zuschauerraum, a.a.O., S. 103f.
GOETHE ALS DADAIST
ANMERKUNGEN W SCHWITIERS' BALLADE DIE NIXE
Das Gedicht ist - seiner Entstehung nach - auf den 20. August 1942 datiert; nach
der französischen Übersetzung, die 1957/58 in der Zeitschrift Phantomas er-
schien, erfolgte der Erstdruck erst 1966/67 im Heft 18 der österreichischen
Literaturzeitschrift manuskripte. Kurt Schwitters (1887-1948) lebte zum Zeit-
punkt der Abfassung schon das dritte Jahr im englischen Exil, in das er aus
Norwegen vor den deutschen Truppen geflüchtet war: nach anderthalbjähriger
Internierung ließ er sich Ende 1941 in London nieder. "Ich bin frei, wie ein
Vogel im Wasser", schrieb er zu diesem Zeitpunkt an einen Bekannten, den er
mit "Lieber, herziger Herr Herz" anredet, "und möchte gern singen"; er offeriert
Texte für ein potentielles Kabarett. Eben im Herbst 1942 unternahm er zu Land-
schaftsmalereien, mit denen er seinen Unterhalt zu bestreiten hoffte, einen ersten
Ausflug in den Lake District, "eine romantische Landschaft mit Seen und
Flüssen, (... ) schon damals ein beliebtes Ausflugsgebiet", wohin er 1945 - zu-
sammen mit seiner englischen Freundin Edith Thomas (genannt 'Wantee'), die er
bereits 1941 kennengelernt hatte - endgültig übersiedelte. An seine Frau Helma
schreibt er über seinen ersten Besuch: "14 Tage bin ich gewandert und habe
Motive gesucht, nun beginne ich zu malen. Es sind herrliche Landschaften, be-
sonders in der beginnenden Herbstfärbung. (...) Es ist naß überall, und ich laufe
in meinen Stiefeln, mit Regenmantel und wasserdichtem Hut".2
Diese biographischen Daten sind dem Text freilich nicht inhärent; sie treten
von außen hinzu und legen ihn fest. Erkennbar aber ist die inhaltliche und
formale Anlehnung an Goethes klassische Ballade Der Fischer, jedenfalls im
Hauptmotiv der Wassernixe und ihres 'Menschenraubes':
Kurt Schwitters, Das literarische Werk, hrsg. von Friedhelm Lach, Bd. 1: Lyrik, Köln
1973, S. 58f.
2
Kurt Schwitters, Wir spielen, bis uns der Tod abholt, Briefe aus fünf Jahrzehnten, hrsg.
von Ernst Nündel, FrankfurtIM., Berlin, Wien 1974, S. 171.
Goethe als Dadaist 227
Der Angler hat sich bei Schwitters allerdings in einen einfachen Spaziergänger
verwandelt; damit entfällt das Rachemotiv, das bei Goethe die balladeske
Handlung in Gang setzt: das "feuchte Weib" rächt ja jene Fischlein-Brut, die der
Frevler "mit Menschenwitz und Menschenlist" hinauf in die Todesglut zu ziehen
sucht. Das Auftauchen des blonden, nackten Frauenzimmers ist also reichlich
zufällig, wenn man davon absieht, daß es - sprachlich konsequent - um die
Inkarnation jenes Glanzes geht, den "jener Mann" auf des "Flusses Busen" - eine
Parallelbildung zu 'Meerbusen' - entbrennen sieht. Natürlich bleibt dann auch die
ganze naturmagische Überformung, die der Balladenhandlung bei Goethe erst
ihren ganzen Sinn gibt, bei Schwitters ganz ohne Entsprechung: das Wasser, in
dem sich Sonne und Mond spiegeln und "wellenatmend" ihr Gesicht doppelt
schöner herkehren. Vorbereitung der eigentümlichen Lockung, die das "feucht-
verklärte Blau" auf den Fischer ausübt, der sich - ein moderner Narziß - in ihm
spiegelt, reduziert sich auf "verwunschne Wellenfetzen". Und auch in der Schluß-
pointe weicht Schwitters markant von Goethe ab: statt ihn ans Element
hinzugeben und verschwinden zu lassen, läßt er den Helden in der Umarmungs-
pose erstarren und setzt ihn als warnendes Exempel fürs nachfolgende Opfer, das
sich vom Nixenvamp bestricken lassen wird.
Trotzdem handelt es sich um keine Satire auf Goethe, keine Parodie der
Fischer-Ballade, jedenfalls nicht im Sinn jener gezielten Kontrafakturen, wie sie
im Jungen Deutschland und in der Vormärz-Literatur der politischen und
ästhetischen Kritik am Klassiker entwuchsen und eine eigene Kontinuität
behielten, die bis in unsere unmittelbare literarische Gegenwart reicht4. Wir
haben es vielmehr mit einer durch ihre Absurdität relativ freien Analogie zu tun,
für die allenfalls jener Ulk ein historisches Beispiel bildet, der aus der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts herauf etwa in den Fliegenden Blättern mit Goethe und
Schiller getrieben wurde. Wortkomik - zum Beispiel "Schwanzes Silberlende" in
Strophe fünf, Ersatzfunktion für die fehlenden Beine der Nixe - ,Reimkomik-
zum Beispiel die falsche Flektion von 'gehen' zu "gung", um den Gleichklang
mit "Niederung" herzustellen, in der ersten Strophe - ,Bildkomik - zum Beispiel
der ums Abstraktum "der Nixe Charme" gebogene Arm des armen Mannes in der
letzten Strophe - und Sinnkomik - zum Beispiel die gegenständlich genommene
Redewendung 'Liebe schenken' im Übergang von der siebten zur achten Strophe -
3
Johann Wolfgang Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. I, München 1974, S. 153f.
4
Vgl. den vorstehend abgedruckten Beitrag: Durch diese hohle Gasse muß er kommen, Zur
deutschen Klassiker-Parodie, auch: Faust-Parodien, hrsg. von Waltraud Wende-Hohenberger und
Karl Riha, Frankfurt/Main 1989.
228 Goethe als Dadaist
rechtfertigen und stützen einen solchen Verweis. Im übrigen aber erhält die
Ballade erst im Gesamtzusammenhang der literarischen Werke von Kurt
Schwitters und innerhalb der Bewegungen der Modeme, denen er angehört und die
er wesentlich mitbestimmt hat, ihren richtigen Stellenwert.
Neben dem Broterwerb durch Porträts und Landschaften rekurrierte Schwitters
in seinem englischen Exil entschieden auf seine abstrakte Malerei vor dem
Zweiten Weltkrieg; ähnlich suchte er als Dichter den Rückbezug auf jene
poetischen Neufindungen, die ihn zunächst ins Zentrum des Sturm-Expres-
sionismus gehoben und dann zum Parteigänger der Dadaisten gemacht hatten. -
In einem Akt der Demontage ist die Bezeichnung Merz, die Kurt Schwitters für
seine Kunst- und Literaturaktivitäten wählte, aus dem Wort und gegen das Wort
'Kommerz' gebildet: die Art und Weise der Begriffsbildung ist dabei nicht
weniger charakteristisch als die von Dada. Merz ist Dada und Antidada zugleich.
Wie das? In Loslösung von Herwarth Waldens expressionistischem Sturm-Kreis
um die gleichnamige Zeitschrift, für die August Stramms komprimierte
'Wortkunst' zum poetischen Erkennungszeichen wurde, tendierte Schwitters zu
Experimenten, die ihn in engste Nähe zu den Berliner Dadaisten brachten.
Klassisch geworden ist seine Vorstellung, mit der er sich um Aufnahme in den
'Club Dada' bewarb: "Ich bin Maler, ich nagle meine Bilder". "Das war neu und
sympathisch", berichtet der 'Dadasoph' Raoul Hausmann: "Es kam heraus, daß
der Mann auch Gedichte machte. Er sagte einige. Sie schienen mir noch unter
dem Einfluß von Stramm zu stehen, doch eins erschien mir neu und gut".5 Aber
der Zentralrat und besonders Richard Huelsenbeck konnten sich zu keiner Auf-
nahme in den Club entschließen. Und dies sei gut gewesen, glossiert Hausmann
in seinen späteren Erinnerungen, die 1972 unter dem Titel Am Anfang war Dada
herauskamen, denn so habe Schwitters eine größere Unabhängigkeit bewahrt, um
seine eigene Form von Dada - eben Merz - zu finden und auszuformen.
Nach dem Zerfall der Berliner Dada-Bewegung kam es zu einer engen
Zusammenarbeit zwischen Schwitters und Hausmann: der Anfang einer langen
Freundschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal aufgenommen wurde
und zu dem gemeinsamen Zeitschriften-Projekt Pin führte. Beide unternahmen
September 1921 unterm Titel MERZ und AntiDADA eine gemeinsame Tournee
nach Prag, deren Programm sie bei Hannah Höch zusammenstellten; Hausmann
schreibt: "Schwitters zeigte mir, was er sprechen sollte, unter anderem 'Das
Alphabet von hinten gelesen', ein erster Schritt zu einem Lautgedicht. Ich zeigte
ihm meine Plakatgedichte von 1918, die ihm gänzlich neu waren. Sie erstaunten
ihn, hatten ihn aber noch nicht gebissen, er hatte noch nicht angebissen". Die
Aufführung selbst stach von der tumultuösen Matinee im Februar 1920 - mit
Huelsenbeck, Hausmann und Baader, der kurz vor Veranstaltungsbeginn mit der
Kasse das Weite gesucht und seine Mitstreiter in dadaistischer Ratlosigkeit
Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, hrsg. von G. Kämpf und K. Riha, Steinbach/Gießen
1972, S. 63.
Goethe als Dadaist 229
zurückgelassen hatte - nicht unwesentlich ab: "Auf dem niedrigen Podium des
Saales der Produktenbörse erschienen zwei einfache Männer, die mit klaren
Stimmen anfingen, die 'Revolution in Revon' von Schwitters abwechselnd zu
rezitieren. Den ersten Satz, 'Mamma, da s-teht ein Mann', Schwitters, den
zweiten Satz, 'Mama, da s-teht ein Mann', Hausmann; so bis zum Ende. Großer
Beifall. Ebenso wurde verfahren mit dem Gedicht 'Zigarren' von Schwitters; der
Wechsel der beiden Stimmen machte die Wiederholung desselben Wortes in
verschieden starker Betonung sehr reich. Darauf Hausmanns 'Seelenautomobile' ,
Lautgedichte, darunter das später so bekannt gewordene Jmsbwtözäu etc. Daß
Schwitters 'Anna Blume' sprach, war nur natürlich. Und das 'Alphabet von
rückwärts gelesen'. Kurz, ein ganzer Erfolg. ! Nein, kein Skandal, ein Erfolg.
Ein großer Erfolg.! MERZ plus AntiDADA. 1. September 1921. In Prag".6
Diese Lesung, die das Publikum durch "Neuheit und Vollkommenheit" über-
raschte und auf seine Seite zog, zeitigte bei Schwitters seltsame Nachwirkungen,
wie wir aus dem anekdotischen Bericht Hausmanns wissen; bei einem Abstecher
in die Sächsische Schweiz, heißt es, sei es zur Initialzündung in puncto Lautge-
dicht gekommen: "Dies war der Ausgangspunkt für seine 'Ursonate'" . - Eben
diese Urlautsonate gilt zu Recht nicht nur als eines der zentralen Stücke
Schwitters'scher Merz-Dichtung, sondern insgesamt der dadaistischen Lautpoesie!
Hausmann und Schwitters trafen sich aber auch in der Wertschätzung des
Nonsensicalischen, Absurden und Banalen. Entsprechungen in der literarischen
Produktion bieten einerseits das reduktionistische, die Grenzen zwischen 'Text'
und 'Bild' verwischende i-Gedicht, zu dem es heißt: "Dieses i ist der mittlere
Vokal im deutschen Alphabet. Das Kind lernt ihn in der Schule als ersten
Buchstaben. Der Klassenchor singt: Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf. i ist der
erste Buchstabe, i ist der einfachste Buchstabe, i ist der einfältigste Buchstabe.!
Ich habe diesen Buchstaben zur Bezeichnung einer speziellen Gattung von
Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint, wie der
einfältigste Buchstabe i. ( ...)! Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden
Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem
Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht".7
Neben der i-Kunst als radikaler und konsequenter Reduktion des künstlerischen
Materials auf Minimalstrukturen, auf Minimalausschnitte vorgefundener
sprachlicher und bildlicher Wirklichkeit stehen die Texte, die direkt aus der
programmatischen Verlautbarung heraus Banalitäten genannt werden. Dabei han-
delt es sich um Zitate, Sprachfundstücke - schon Christof Spengemann wies
darauf hin, daß der Name 'Anna Blume' durch eine anonyme Straßenkritzelei "an
einer Planke"8 angeregt worden sei - und/oder Imitationen alltagssprachlicher
6
Hausmann, Am Anfang war Dada, a.a.O., S. 66.
7 Schwitters, Das literarische Werk, a.a.O., Bd. 5, Köln 1981, S. 120.
8
Christof Spengemann, Die Wahrheit über Anna Blume, hrsg. von Karl Riha, Hannover 1985,
S.16.
230 Goethe als Dadaist
9 Zit. nach: Hans Richter, Dada - Kunst undAntikunst, Köln 1973, S. 151.
10 Schwiners, Wir spiele", bis uns der Tod abholt, a.a.O., S. 21lf.
R ,\\ o
\X ' ELHITLER
So bereits zeitlich fast parallel zum Erstdruck des Kinderbuches unter dem Titel Der
Struwwelpeter als Radikaler in: Fliegende Blätter, Bd. 6, Nr. 137, S. 129ff.: "Dem
selbstdenkenden und wohlgesinnten Freund der Menschheit kann es lange kein Geheimniß mehr
sein, wie das im deutschen Vaterlande umherspukende Gespenst des Radicalismus, sammt
seinen Stammverwandten: Indifferentismus, Atheismus, Kosmopolitismus, Kommunismus,
und wie die übrigen Ismi heißen, sich neuerdings in allerlei Gestalten und Hüllen zu verkleiden
trachtet, um die scharfen Augen treuer Wächter des Bestehenden zu täuschen und sich in alle
Kreise des öffentlichen Lebens einzuschleichen. (... )" - Vgl. auch: Der politische Struwwelpeter
von Henry Ritter, Düsseldorf 1849, Neuausgabe hrsg. von Karl Riha, Köln 1984.
234 Struwwelhitler
preußischen Adlerz. Innerhalb weniger Monate konnten von diesem Buch mehrere
tausend Exemplare vertrieben werden; es weicht im übrigen von der Erzählweise
der Hoffmann'schen Bildergeschichten ab und setzt an ihre Stelle nach der
Buchstabenfolge des Alphabets - nach welcher Wilhelm 11. unter 'G' für
'Germany' läuft - eine Reihe politischer Personenkarikaturen, die bald enger an
der Vorlage bleiben und bald sich von ihr lösen.
Herausgefordert durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nahmen 1914
Georg Morrow und E.V. Lucas dieses satirische Beispiel auf. Ihr Swollen-Headed
William, Painful Stories and Funnie Pictures after German (Schwellkopf Wil-
helm. schmerzliche Geschichten und lustige Bilder nach dem Deutschen) zeigt
auf der Titelseite die angegriffene Kaiserfigur in der bekannten Struwwelpeter-
Aufmachung, die allerdings wie folgt modifiziert wird: die Hände verunzieren
keine auswuchernden Fingernägel, sondern sind mit Blut verschmiert; der Kopf
ist zu einem dicken, bimenfÖfmigen Ballon aufgedunsen, auf dem der Kaiserhelm
schief wie eine Narrenkappe sitzt; den Sockel schmücken anstelle von Kamm
und Schere eine feuerspeiende Kanone und ein Panzerschiff mit starrenden
Geschützen3 • Alle Einzelgeschichten des Bandes beziehen sich auf diesen 'Hel-
den' und demonstrieren seine Untaten mit jenen harten Strafen, die aus dem Ori-
ginal bekannt sind. So wird er als 'böser Friederich', der mit dem Säbel sogar die
eigene 'Mutter Germania' anfällt, von einem Hund ins Bein gebissen und muß
bei bitterer Medizin das Bett hüten. Im unvorsichtigen Umgang mit Streich-
hölzern setzt er sich selbst in Brand oder wird vom 'großen Nikolas', der hier als
personifiziertes 'Verhängnis' auftritt, ins schwarze Tintenfaß getunkt. Der Hase,
den er jagen möchte, legt auf ihn die Flinte an; weil er sich nicht an den Frie-
denstisch setzen möchte, magert er wie der 'Suppenkaspar' von Tag zu Tag ab,
bis er zuletzt nur noch ein Fädchen ist; als 'Hans-Guck-in-die-Luft' stolpert er
über eine englische Dogge, die ihm den Weg versperrt, und fällt - die Kaiserkrone
keck auf dem Haupt und eine Aktentasche mit der Aufschrift 'Deutsches Reich'
unterm Arm - in einen Fluß, auf dessen Wellen der Schriftzug 'Republicanism'
('Republikanismus') erscheint.
Umgehend versuchte man 1915 im kriegführenden deutschen Kaiserreich, die
englische Satire-Unternehmung durch die Ausgabe eines Kriegs-Struwwelpeter -
Lustige Bilder und Verse zu kontern; als Verfasser zeichnete Karl Ewald
Olszewski4 • Zur Verspottung der Entente-Mächte des englisch-französischen Mi-
litärbündnisses formte er die Titelfigur zum 'Bombenpeter' um, der sich mit Haut
2
The Politieal Struwwelpeter by Harold Begbie, illustrated by F. Carruthers Gould, London
1899; The Struwwelpeter Alphabet by Harold Begbie, illustrated by F. Carruthers Gould,
London 1900.
Swollen-Headed William, Painful Stories and Funny Pietures After the German! Text adapted
by E.V. Lucas, Drawings adapted by G. Morrow, New York (1914).
4
Der Kriegs-Struwwelpeter von Karl Ewald Olszewski, München 1915. - Als militärischer
Vorläufer zu nennen: Der Militär-Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder
von undfür Militärs von 10 bis 100 Jahren, Berlin (1877), Reprint-Ausgabe 1977.
Struwwelhitler 235
und Haar dem russischen Zaren verschrieben hat; und nun erscheint hier der
deutsche Kaiser in der Aufmachung des strafenden 'großen Nikolas'.
Mit ihrer Propagandarede vom 'Dritten Reich', mit der sie die von ihnen er-
richtete Willkürherrschaft in einen fixen - heilsgeschichtlichen - Zusammenhang
zu bringen suchten, knüpften die Nationalsozialisten direkt an das deutsche
Kaiserreich an. Adolf Hitler nahm die imperialistischen Ansprüche Wilhelms 11.
auf und verschärfte sie noch. So hatte es seinen guten Sinn, wenn man in der
englischen Publizistik während des Zweiten Weltkriegs auf das populäre deutsche
Kinderbuch und bewährte Satiremuster zurückgriff - und nun den 'Führer' in die
Position der Struwwelpeter-Schreckfigur brachtes. Das Struwwelhitler-Heft von
1941 hatte hier sogar einen unmittelbaren Vorläufer: bereits 1940 war in England
eine gegen das national-sozialistische Deutschland gerichtete Struwwelpeter-
Parodie von Oistros - unter dem Titel Truffle Eater, Pretty Stories and Funny
Pictures (Trüffel-Esser, hübsche Geschichten und komische Bilder) herausge-
kommen. Die Frontseite unserer Broschüre präsentiert die bekannte Führer-
Verführer-Physiognomie mit Schnurrbart und in die Stirn gekämmtem Haar: die
ausgewachsenen Fingernägel zieren bzw. verunzieren kleine Hakenkreuze.
Braunhemd mit Schulterriemen und Koppel, Reiterhose und Stiefel werden im
Begleittext mit der Aufmachung Mussolinis verglichen, und zum Schutzpatron
des 'nationalen Sozialisten' steigt 'unele' (Onkel) Lenin auf. Hitler erscheint im
lnnern des Heftes auch als 'Adolf Head-in-Air' ('Adolf Guck-in-die-Luft'), den
Blick über die zum faschistischen Gruß erhobene Rechte hinaus fest auf das
Wolkenbild Napoleons fixiert, dem der Karikaturist gleich auch einen Schnurr-
bart verpaßt hat. Göring wird mit Ausschreitungen gegen die Juden vorgeführt;
und der gemeine deutsche Volks- und Parteigenosse - nach Wilhelm Buschs
Lausbubenpaar Max und Moritz entworfen, aber aus dem Knaben- ins Studen-
tenalter erhoben - macht sich ans Bücherverbrennen ...
In gewollt satirischer Anspielung auf den Frankfurter Doktor Hoffmann, der
das Kinderbuch schuf, ist auf dem Umschlag unseres Struwwelhitler ein 'Doktor
Schrecklichkeit' als Verfasser ausgewiesen. Als die wirklichen Autoren dieser
"Parodie auf den Originalstruwwelpeter" sind jedoch in einer kurzen, vorgeschal-
teten editorischen Notiz Robert und Philip Spence genannt, und dort mit dem zu-
sätzlichen Hinweis darauf, daß der Erlös der Schrift der Unterstützung der engli-
schen Truppen im Krieg gegen Hitler-Deutschland durch eine Hilfsorganisation
des Daily Sketch (diese Zeitung besorgte auch den Druck des Heftes) dienen
sollte. Hitler erscheint - in der Folge der Kapitel - an erster Stelle, als zeitge-
schichtlich aktualisierter 'böser Friederich'. Auch sonst sind die Autoren um eine
genaue und bezeichnende Ableitung aus der Vorlage bemüht, wenn sie Mussolini
und Göring, Goebbels und Heß in die entsprechende Position bringen; da sie sich
S Struwwelhitler, Eine englische Struwwelpeter-Parodie aus dem Jahre 1941 von Robert und
Philip Spence, aus dem Englischen in freier Übertragung von Wolf Dieter Bach und mit einer
Übersetzung von Dieter H. Stündel, hrsg. von Karl Riha, Köln 1984.
236 Struwwe1hitler
zudem recht genau an den Stand der Kriegsereignisse halten und so eine Menge
aktueller Daten einfließen lassen, empfiehlt es sich, auf die einzelnen Geschich-
ten etwas detaillierter einzugehen.
Das Widmungsgedicht des Original-Struwwelpeter stellt den Kindern - wenn
sie "artig" sind, ihre Suppe essen, ohne zu lärmen, "still" sind bei den "Sie-
bensachen", sich beim Spazierengehen von Mama "führen" lassen etc. - das
"schöne Kinderbuch" als Weihnachtsgeschenk in Aussicht In der dazugehörigen
Illustration werden diese Erziehungssätze vor Augen geführt, und obendrüber
zeigt sich schon das Christkind mit dem aufgeschlagenen Bilderbuch; ein Engel
zur Rechten, ein anderer zur Linken lassen einen bunten Regen an Kinderspiel-
sachen auf die Erde niedergehen, darunter für die Mädchen Puppe, Kamm und
Schirm, für die Knaben aber Trommel, Säbel und Schießgewehr. In der
englischen Struwwelhitler-Fassung rücken an die Stelle der manierlichen Kinder
deutsche Soldaten, die angriffslustig ihre Waffen gezückt haben, und in der Mitte
- vor dem Tisch - den 'Führer' in Rednerpose mit aufgezogener Faust. Über
Marionettendrähte sind sie alle in die Hand eines dickleibigen Industriellen
gegeben, der auf Geldsäcken hockt, im Hintergrund die rauchenden Schlote seiner
Fabriken. Statt einfachen Kriegsspielzeugs schütten seine Helfer und Helfers-
helfer Bomben, Minen, Flugzeuge und U-Boote vom Himmel herunter. Diese
satirische Beweisführung spielt darauf an, daß Hiller schon im Verlauf der
sogenannten Machtergreifung eine wesentliche Unterstützung durch die deutsche
Großindustrie erfahren hatte; so war es beispielsweise am 20. Februar 1933 zu
einem Treffen mit dem Präsidenten des Reichsverbandes der Deutschen Industrie,
Gustav Krupp von Bohlen, und anderen Industrieführern gekommen, die Beträge
in Millionenhöhe für die Finanzierung des Wahlkampfes vom 5. März - nach
dem Willen der Nationalsozialisten die letzte Wahl innerhalb der nächsten zehn
Jahre, "voraussichtlich aber in hundert Jahren" (Göring) - spendeten.
Daß Hitler als vogel- und katzentötender 'eruel Adolf ('Grausamer Adolf) -
also in der Rolle des 'bösen Friederich' - erscheint, ist insofern nicht ohne satiri-
sche Ironie, als sich der 'Führer' - der systematisch den Krieg betrieb und für die
Massenverfolgungen, die KZ-Morde verantwortlich war - , dem Bild nach, das er
in der Öffentlichkeit von sich selbst zu projizieren suchte, als biederer Tierfreund
gab. Fotos, die in Illustrierten und eigenen Führer-Bildbänden verbreitet wurden,
zeigen ihn mit seinem Schäferhund, und noch im Berliner Kommandobunker der
letzten Kriegs- und Lebenstage hatte er als engsten privaten Vertrauten - neben
Eva Braun - den Schäferhund um sich; an ihm erprobte er das Gift, das er dann
selbst nahm. Die englische Parodie bezieht sich auf die Säuberungsmaßnahmen
in den eigenen Reihen der Nationalsozialisten, die Hinrichtung des engen
Freundes und alten Kampfgenossen, des SA-Stabschefs Ernst Röhm und anderer
SA-Führer im Juni/Juli 1934, nimmt auf die zahlreichen Vertragsbrüche Bezug,
die jeweils den Auftakt für sich verschärfende militärische Unternehmungen bil-
deten: den Bruch des Locarno-Vertrags und die Besetzung der Rheinlande, 1936,
die Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes und den Einmarsch in
Struwwe1hitler 237
Polen, 1939, die Mißachtung der Neutralität der Anrainerstaaten im Krieg gegen
Frankreich und England, 1940, und den Überfall auf die UdSSR unter Miß-
achtung der bestehenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffs-, Grenz- und Freund-
schaftsverträge, 1941. Die narrative Logik der Bildergeschichte setzt auf den
Widerstand des deutschen Volkes, das seit den ersten Kriegstagen mit strengen
Rationierungsmaßnahmen überzogen worden war; deshalb heißt der Dackel, der
den 'grausamen Adolf ins Bein beißt, bedeutsam 'Fritz'. Zu offenem Widerstand
gegen Hitler sollte es freilich - mit dem gescheiterten Anschlag des Grafen
Stauffenberg - erst im Jahre 1944, also außerhalb des zeitlichen Rahmens unserer
Publikation, kommen. An 'Adolfs' Krankenbett setzt sich - mit "bitt'rer Arzenei"
und der noch bitt'reren Prophezeiung, daß es mit ihm bald sein Ende haben werde
- 'Uncle Sam', zum Zeichen dafür, daß die Vereinigten Staaten von Amerika im
August des Jahres 1941 ihre Neutralität aufgaben und offen in den Krieg gegen
Nazi-Deutschland eintraten.
In der Gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzeug ist 'Paulinchen' dem
Namen nach gegen das aus Goethes Faust abgeleitete 'Gretchen' ausgetauscht, in
der Illustration eine Mischung aus Biedermeier- und BDM-Maid mit blondem
Zopf und Hakenkreuzbinde. Statt mit Streichhölzern vollzieht sich das brisante
Spiel mit einer kleinen Kommoden-Dekor-Kanone, die in den Händen des
Mädchens rohrkrepiert; die beiden wehklagenden Katzen mit ihrem "Miau! Mio!"
sind durch die Fahnen-Kennzeichen als der englische und amerikanische Kriegs-
gegner ausgewiesen.
Stalin - als strafender 'Nikolas', der die bösen Buben in sein großes Tintenfaß
tunkt, das nun jedoch nicht mit schwarzer, sondern mit roter Tinte gefüllt ist - ,
das scheint an eine feste Tradition der politischen Struwwelpeter-Umdichtungen
schon des neunzehnten Jahrhunderts anzuknüpfen: denn auch dort war es ja häufig
der russische Zar, der als Muster besonders krasser Strafen hergenommen wurde -
und als solches freilich auch bloßgestellt, attackiert werden sollte. Der Fall ist
jedoch hier komplizierter! Zunächst wird auf die Verträge angespielt, die der
Außenminister Joachim von Ribbentrop im Auftrag Hitlers mit der Sowjetunion
von 1939 bis 1940 - während er bereits mit Frankreich und England im Krieg lag
- abschließen ließ, nach dem Nichtangriffspakt und Grenzvertrag von 1939 noch
den Wirtschaftsvertrag vom Februar 1940, doch schon in der Absicht, gegen
diese Abmachungen zu verstoßen und sie zu zerreißen. Im Juni 1941 erfolgte je-
denfalls der Angriff auf die Sowjetunion, der die deutschen Truppen - mit raschen
Anfangserfolgen - bis zum November des Jahres vor die Tore Moskaus brachte;
eine erste Gegenoffensive der Russen, die sich zum 'großen vaterländischen
Krieg' zusammenschlossen, startete erst im Dezember. Unser - im selben Jahr er-
schienenes - Buch konnte sich also noch auf keine realen militärischen Abwehr-
erfolge und Strafmaßnahmen gegen die Ritler-Truppen berufen, konnte allenfalls
auf sie setzen, und doch mischte sich in diese Hoffnung auch schon die Furcht,
der siegreiche Stalin werde das niedergeschlagene Deutschland bolschewistisch
einfärben. Diese Doppelperspektive, die einerseits auf die Anti-Ritler-Allianz von
238 Struwwelhitler
West und Ost und andererseits auf die Fronten des 'kalten Krieges' vorausweist,
die sich im 'heißen Krieg' schon andeuteten, kennzeichnen die 'Nikolas'-'Stalin'-
Figur.
Die Geschichte vom wilden Jäger hatte sich Heinrich Hoffmann ausgedacht,
um den kindlichen Leser vom Überangebot drakonischer Strafen bei Ungehorsam
auch einmal zu entlasten. Der Hase, der dem Jäger das Gewehr klaut und ihn da-
mit in größte Nöte bringt, erlaubt einen punktuellen Triumph über die sonst so
mächtige Erwachsenenwelt. Robert und Philip Spence haben dem Jäger die
Gestalt Mussolinis, des italienischen Duce, gegeben und den Hasen durch einen
Geißbock in griechischer Nationaltracht ersetzt: der stiehlt ihm die Flinte, wäh-
rend er meint, unter der Siesta-Sonne, die ein Hakenkreuz ziert, seinen Mit-
tagsschlaf halten zu können. Diese Darstellung bezieht sich auf den italienischen
Griechenland-Feldzug in den Jahren 1940/41, der mit einer erfolgreichen Gegen-
offensive abschloß, den Briten Stützpunkte auf Kreta sicherte und zur Landung
britischer Streitkräfte in Piräus und Volos führte. Der Hilferuf Mussolinis -
"Help! Führer! Help! The Greeks! The Greeks!" ("Hilfe! Führer! Hilfe! Die
Griechen! Die Griechen!") - sollte jedoch von April 1941 an eine überraschende
Nuancierung erfahren. Nach dem Vorstoß deutscher Truppen über das Pindos-
Gebirge ergab sich die griechische Regierung, und die britischen Truppen mußten
das besetzte Terrain noch einmal räumen, ehe es unter dem Druck einer erstarkten
Befreiungsbewegung zur Räumung Griechenlands vom deutschen und italieni-
schen Militär kam.
Die Geschichte vom bestraften 'Daumenlutscher' gilt dem Reichspropagan-
daleiter der NSDAP und Reichsminister für Volksaufldärung und Propaganda
Goebbels, in welcher Funktion er die Gleichschaltung aller Massenmedien im
'Dritten Reich' und die publizistische Organisation des Führerkults betrieb. Unser
englisches Satiriker-Karikaturisten-Gespann packt ihn bei seinen demagogischen
Talenten, die - bis hin zur Einschwörung auf den "totalen Krieg" - in seinen
Massenansprachen während des Krieges, denen er durch Rundfunkübertragungen
eine das ganze Volk erfassende Verbreitung sicherte, noch einmal ihre ganze
verderbliche Wirkung erzielten. Auf daß er keine Feder mehr zu rühren vermag -
weder für den Angriff, dessen Herausgeber er von 1927 bis 1934 war, noch für
den Völkischen Beobachter - , stutzt ihm für seine politischen Lügenmärchen der
leibhaftige Satan selbst die Daumen beider Hände.
Die beiden folgenden Geschichten haben den Reichsmarschall Hermann
Göring zu ihrem Helden; sie sprechen ihn zum einen in seiner Funktion als
Rohstoff- und Devisenkommissar, als Beauftragten des Vierjahresplans, als wel-
cher er für die wirtschaftliche Seite der Rüstung verantwortlich war, und zum an-
deren als Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe an. Die
Geschichte vom Suppenkaspar wird dahingehend verändert, daß der Rüstungs-
aufwand für Kanonen zwangsläufig auf die Ernährungslage der deutschen
Bevölkerung durchschlagen muß; Göring - bekanntlich ein Mann von großer
Leibesfülle - magert mit jeder Entscheidung, die er für die Waffen trifft, mehr und
Struwwelhitler 239
mehr ab, bis er zum Schluß papierdünn wie eine Lebensmittelmarke ist. - Nach
anfänglicher Überlegenheit der deutschen Luftwaffe in den sogenannten 'Blitz-
krieg'-Aktionen kam es 1940/41 in der Luftschlacht um England' zu entschei-
denden Verlusten, die in der Folgezeit nicht mehr ausgeglichen werden konnten
und den Raum öffneten für die Bombardierung deutscher Städte durch die
Alliierten ab 1942. Natürlich bietet sich für diesen Vorgang, der den Reichs-
marschall und Reichsluftfahrtminister aus tolldreisten Allmachtsträumen in die
Tiefe der drohenden Niederlage stürzte, die Geschichte vom 'fliegenden Robert' als
Spott-Vorlage an.
In der Geschichte vom 'Zappelphilipp' sieht man den kleingeschrumpften
'Führer' mit 'Britannica' und 'Uncle Sam' - als den beiden Sinnbild-Figuren für
Großbritannien und die Vereinigten Staaten - am runden Familientisch sitzen.
Wie beim 'Zappelphilipp' der Original-Bilderfolge gehen auch hier alle gutge-
meinten Ermahnungen ins Leere, kommt es zum bekannten Unglück mit umge-
kipptem Stuhl und abgeräumter Tafel. In den Schmuckgirlanden verwandeln sich
auf Seiten des Zapplers die aufgehängten Speisen und Getränke in Waffen,
Bomben, Granaten und - zu guter Letzt - in die Rute. Wider Willen gestraft sind
aber in diesem Fall - durch den eigenen Rüstungsaufwand, den sie zur Nieder-
ringung des Kriegsgegners betreiben müssen - auch die allegorisch als solche
gekennzeichneten Eltern, die auf diese Weise um ihr Dinner kommen und
stumm-entsetzt auf die leergefegte Tischplatte starren.
Auch Mussolini wird noch einmal - und nun als 'Hans-Guck-in-die Luft' - vor
die Schranke der Karikatur zitiert. Mit erhobener Rechter, die Augen starr gen
Himmel gerichtet, rennt ihm eine 'englische' Dogge in den übergroßen
Ausfallschritt und bringt ihn kläglich zu Fall. Trotzdem schreit er "Sieg!" und
macht sich auf den Weg zurück nach Rom, um sich dort im Triumphzug cäsa-
risch empfangen zu lassen. Mit der Wiederholung des himmelfliegenden
Kopfschwungs und des stolzen Stechschritts trifft ihn jedoch doppeltes Pech: ver-
liebt in die eigene Pose, schreitet er über die Kaimauer hinaus und stürzt ins
Wasser, das der Zeichner per Schriftzug als 'Mare Nostrum' ('unser Meer') ausge-
wiesen hat. Über diesen Sturz in Verwirrung geraten, vollzieht die italienische
Kriegsflotte - in Stellvertretung der 'drei Fischlein' bei Heinrich Hoffmann - eine
prompte Kehrtwendung und sucht das Weite.
Die letzte, abschließende Geschichte, noch einmal organisiert nach dem
Muster des 'fliegenden Robert', das eigentlich schon an den 'fliegenden Hermann'
vergeben ist, gilt einem tagesaktuellen Ereignis: dem überraschend auf eigene
Faust unternommenen England-Flug von Rudolf Heß, seinem Fallschirm-
absprung in Schottland am 10. Mai 1941. In Verkennung der realen politischen
Situation und in völlig überzogener Einschätzung seiner eigenen Möglichkeiten
war es die Absicht dieses Ritler-Altvertrauten, der schon beim Putschversuch von
1923 dabeigewesen war, während Ritlers Landsberger Haft an der Abfassung von
Mein Kampf mitgearbeitet hatte und nach 1933 zum Reichsminister und
Stellvertreter des 'Führers' aufgestiegen war, den 'verkehrten Krieg' gegen Eng-
240 Struwwe1hitler
land mit einem Schlag zu beenden und den eben noch attackierten Feind in ein
gegen die UdSSR gerichtetes Bündnis herüberzuziehen. Selbstverständlich fand er
mit diesen wirren Plänen keinerlei Gehör, wurde festgenommen und bis zum
Kriegsende festgehalten, um dann in den Nürnberger Prozessen zu lebensläng-
licher Haft verurteilt zu werden.
So viel zu den einzelnen Stationen des Struwwelhitler, die einen knappen
Bogen über die Geschichte des Nationalsozialismus und die Kriegsereignisse bis
ins Jahr 1941 schlagen. Natürlich kann man sich - etwa mit Anthony Rhodes,
der 1975 ein Buch über Propaganda. The Art 0/ Persuasion: World War II ge-
schrieben hat - fragen, ob denn nicht das wahre Wesen der Nazi-Herrschaft und die
brutale Wirklichkeit des Krieges, aufgetragen auf den Untergrund eines
Kinderbuches, verharmlost würden? Das schmale Buch ist jedoch nur zum einen
das Zeugnis einer Verspottung des Kriegsgegners, in die sich mit der bevorste-
henden Kriegswende eine entlastende Heiterkeit mischen konnte; sie ist zum an-
deren auch ein Dokument eben dafür, daß man sich an den Zeugnissen deutscher
Kunst und Literatur, die tief in das eigene nationale Bewußtsein eingedrungen
waren, das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Barbarei und die dreiste
Anmaßung ihres Anspruchs auf Weltherrschaft vor Augen zu führen suchte.
Zwischen Goethes Faust und Hoffmanns Struwwelpeter war unter dieser Per-
spektive kein genereller Unterschied zu machen: auf ihre je eigene Weise waren
beide im angesprochenen Sinne repräsentativ. Hier setzte im übrigen auch die
gegen das 'Dritte Reich' entfachte Anti-Propaganda ein, die von alliierten
Flugzeugen per Flugblatt ins Land geschmuggelt wurde, um den verblendeten
'Volksgenossen' die Augen zu öffnen. Zu 'Mahnrufen' nutzte man deutsche
Dichter wie Hölderlin, Nietzsche und George, und in der Aufmachung kopierte
man nicht nur den Völkischen Beobachter, sondern auch deutsche Satire-
Zeitschriften wie den Kladderadatsch und den Simplicissimus, die damit etwas
von jener satirischen Kraft wiedererhielten, die sie - vor ihrer Gleichschaltung
und Anpassung an die Hetze der Nazi-Presse - ursprünglich besessen hatten. Und:
eine ganz ähnliche Verbindungslinie läßt sich zur deutschen Exilliteratur ziehen!
War es ihnen gelungen, den Fängen der Nationalsozialisten zu entkommen, sa-
hen sich jene Autoren, die fortan den Weiterbestand der deutschen Literatur im
Ausland zu gewährleisten suchten, einer durchaus zwiespältigen Einschätzung
gegenüber: sie galten einerseits als Vertreter einer deutschen Kultur, die sich un-
ter Berufung auf große Namen wie Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Mozart gegen
die Nazis gestellt und von ihnen losgesagt hatten, und waren doch andererseits in
der ihnen aufgezwungenen Existenz in der Fremde wie in den Nachrichten, die
über Deutschland umliefen, den Folgen nazistischer Kulturbarbarei täglich ausge-
setzt und wurden auf sie hin zur Rede gestellt. Dem konnten und wollten sie sich
in den literarischen Arbeiten ihrer Exilzeit nicht entziehen: und gerade Satire und
Karikatur erwiesen sich dabei, wie immer zur Ohnmacht sie verurteilt waren, als
das geeignete künstlerische Ausdrucksmittel.
Struwwelhitler 241
6
Der Struwwelpeter neu frisiert oder lästige Geschichten und dolle Bilder für Bürger bis 100
Jahre, nach Dr. Heinrich Hoffmann von Eckart Hachfeld und Rainer Hachfeld, München, Bem,
Wien 1969; Der Anti-Struwwelpeter, Text und Illustrationen von Friedrich Kar! Waechter,
Frankfurt/Main 1970.
,
Seht einmal, da steht er,
pfui, der Struwwelpeter!
Mag nicht stumm parieren,
wagt, zu diskutieren.
nationales Ideal,
Bürstenschnitt und Kapital,
dos zieht in den Schmulz er:
Gorstger Revoluzzerl
So ist das mit diesen Büchern, die zwischen zwei festen Deckeln, wie sich das
gehört, zwar erst zur Buchmesse präsentiert werden, aber möglichst vor ihrem
ordentlichen Erscheinen doch schon besprochen sein wollen: man bekommt di-
rekt vom Verlag einen dicken Packen Korrekturfahnen (mit den neuerdings im-
mer hieroglyphischeren Wegmarken des Setzers oder Druckers, hier zum Bei-
spiel: "Al SPALTE: 1 MAS JUL 15 MIT 14.05 FILE: AM31 A:1-11 PTGI-
11a Aber nein-ms 126) - bzw. mit zahlreichen handschriftlichen Eintragungen in
Bleistift und rotem Kugelschreiber wie 'sic', 'deleatur' oder 'ab hier Neusatz') und
muß sehen, wie man sich zurechtfindet! Da kann es schon passieren, daß sich die
Zusammenhänge etwas verwirren - und beispielsweise das Nachwort nach oben
zu liegen kommt und damit in die Funktion eines Vorworts gerät! - Doch ich
sage mir: gut so - schiebe das gebundene Exemplar des Buches, das mir der
Verlag längst hinterher gesandt hat, beiseite und halte mich, weil sie mir zu Titel
und Intention der Publikation in besonderer Weise zu passen scheint, an diese
dem fertigen Buch vorauslaufende Loseblattsammlung· .
Als Nachwort-Schreiber in der Verwirr-Position eines Vorworts verrät mir
Henscheid, was es mit diesem Buch auf sich hat: es startete mit gleichem Titel -
Sude/blätter - zunächst als eine Artikel-Serie in der Wochenzeitung Die Zeit,
brachte es dort aber nur auf neunzehn Folgen, weil sich die 'Gräfm' oder sonstwer
in der Redaktion dagegenstellte, doch 'aufgeschoben' ist bekanntlich nicht
'aufgehoben'! Einmal am 'Sudeln', blieb der Autor fest an der Feder und kontinu-
ierte die als aktuelle Satire konzipierte Zeitschriften-Sparte auf die eigene Buch-
ambition hin: nur ein Fünftel des jetzt vorliegenden Opus sei in der Zeit
vorveröffentlicht worden, heißt es hierzu, die restlichen vier Fünftel seien ganz
neu - und noch dazu in der Konzeption leicht abgewandelt, von allen journali-
stisch-strategischen, auch formal-taktischen Geboten, welche die Zeitung setzte,
befreit und daher eher ins Tagebuchartige, "wenn man will Privatistische" tendie-
rend! Ich atme erleichtert auf: also keine langweilige Wiederholungslektüre - und
nichts unterm Etikett Buchveröffentlichungen unserer Mitarbeiter, unter dem das
Hamburger Periodikum in gelegentlich eingestreuten Mitteilungen dezent auf
Publikationen der engeren Beiträger hinzuweisen pflegt.
Brisanz witternd, nehme ich mir das besagte erste Fünftel des Packens vor -
und schiebe es mir, wie sich das für Zeitungsmäßiges gehört, flugs neben die
So der damalige Rezensenteneinfall - und deshalb auch hier! Das Sudelbläller-Buch erschien
1987 im Züricher Haffmans-Verlag.
244 Edchard Henscheids Sudelblälter
Kaffeetasse und das halbe Brötchen auf den Frühstückstisch. "Wahrhaft gut ist
man nur aus Bosheit" (Walter Serner), "Satire wohnt in meiner Feder, nicht auf
meiner Zunge, nie in meinem Herzen" (Jean Paul) und "0 Gott, ich sehe je Hin-
ger, immer weniger!" (Benn an Oelze), kommt es mir mottihaft entgegen: eine
rechte Würze der frühen Morgenstunde! Folgt das Inhaltsverzeichnis: 'Frühjahr,
Sommer, Herbst, Winter' und nochmals 'Frühjahr' - eine Jahreszeiten-Uhr also,
Hinweis darauf, daß ich chronologisch angeordnete Eintragungen zu erwarten
habe - oder? Noch einmal Kleingedrucktes, noch einmal ein paar aufschlußreiche
Motti, mutmaße ich, ehe ich zum zweiten Mal ins Brötchen beiße, aber nichts da
- der Verlag meldet sich zu Wort und offeriert im rechten Augenblick (ehe ich in
Gefahr komme, mir selbst mein eigenes Urteil zu bilden) Auszüge aus Bespre-
chungen zu früheren Henscheid-Publikationen: "Eine Tarantella an Wahnwitz und
Bedeutung" (Bayrischer Rundfunk), "Hinreißende Worte, Worte erster Sahne"
(Konkret, Hamburg), "Ein legitimer Erbe der Frankfurter Schule. Der neben
Robert Gernhardt bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller der Gegenwart"
(Merkur). - Ich frage mich: nehm ich Marmelade oder noch etwas Käse?
Da fährt mir ein Windstoß durchs Fenster - und bringt mir meine Fahnen ent-
setzlich durcheinander! Ich greife mir aus dem Luftgewirbei ein zufälliges Blatt
heraus - und siehe da: Henscheid geht mir mit ein paar Einlassungen zur ihn
selbst betreffenden Literaturkritik nützlich zur Hand. Er setzt sich beispielsweise
mit Jörg Drews von der Süddeutschen auseinander und müht sich, ihm deutlich
zu machen, daß er trotz seines wiederholten Lobs (bis hin zu den so deklarierten
"hirnrissigen Witzeleien") offensichtlich gar nicht in seine Bücher hineingeschaut
habe; für den Fall, daß er ihn noch einmal bei solcher "Vorspiegelung falscher
Leseanstrengungen" erwische, werde es "leibliche Prügel" setzen! - Das hilft mir
weiter, und ich versuche, mich nun tatsächlich in dieses Buch hineinzulesen: ich
ordne die verstreuten Seiten mit Hilfe bzw. trotz der Hieroglyphen des Setzers
und bringe sie in eine akzeptable Reihenfolge ...
"Achtung, Achtung!" - so der wirkliche Auftakt: "Hiermit teile ich mit und
mache bekannt, daß die sog. Postmoderne Ende 1985 definitiv verstorben und ab
1986 durch den oder die oder das sog. Posthistoire, gespr. Postistoah, abgelöst
und deshalb ab sofort beim unseligen Namen zu nennen verboten ist, nämlich
abwinkende Gesten und verächtlichmachendes Gelächter nach sich zieht. Das gilt
bis Silvester 1986. Dann aber ist auch das oder der Posthistoire wieder weg vom
Fenster und es kommt was ganz Neues. Ich aber sage Euch rechtzeitig Bescheid,
was". Pause, zweite Notiz: "'Nun fängt alles wieder von vorne an', schrie Sue
Ellen arn 14.1.86 in der schätzungsweise 943. Folge von 'Dallas' J. R. an. End-
lich hat sie die abgründige Drehbuch-Dramaturgie durchschaut. Macht aber weiter
mit".
Ich blättere weiter - blättere fort: der zweiten folgt eine dritte Tasse Kaffee,
dem ersten das zweite Frühstück! Dem Start entsprechend, reihen sich die Ein-
tragungen in dichter Folge: über einundeinviertel Jahr hinweg dokumentiert und
diskutiert Henscheid die Schlagwörter des Tages, die Stichdaten der politischen
Eckhard Henscheids SudelbläJrer 245
Szene (z.B. Bundestagswahlen mit einem mehr als leicht alkoholisierten CSU-
Vorsitzenden), des Sports (z.B. mit dem Ausscheiden der deutschen Tennis-
Davis-Pokal-Mannschaft), der Kultur und Literatur etc., reflektiert er den tägli-
chen Medienkonsum, die offensichtlich regelmäßige Lektüre der F AZ und T AZ,
der FR, der BILDZEITUNG, der SÜDDEUTSCHEN, KONKRETS und selbst
der Programm-Zeitschriften von Funk und Fernsehen, TV SEHEN UND
HÖREN etwa, und natürlich den direkten Gebrauch der 'Glotze'. Dabei geht es
dem Autor, wie zu erwarten, weniger um das Faktische als solches (was wäre das
überhaupt?), sondern um die sprachliche Erscheinung der Ereignisse und deren
Signifikanz. Die meisten Notizen haben deshalb einen markanten sprachkriti-
schen Einsatz, präsentieren Sprachfundstücke und decouvrieren sie. Ich gebe -
willkürlich herausgegriffen - einige Beispiele:
Für einen kurzen Augenblick unterbreche ich meine Lektüre, weil mich ein
'natürliches Bedürfnis' anwandelt; ich stapfe zum wohlbekannten Örtchen, nicht
ohne mir die eine oder andere wahllos herausgegriffene Fahnenseite unter den
Arm geklemmt zu haben und nun hockenderweise fortzufahren in meinen Stu-
dien:
Dieses und Ähnliches hat man in der Flut der Nachrichtungen und Meldungen,
denen man sich täglich ausgesetzt sieht, auch einmal vor Augen, im Ohr und im
Kopf gehabt, hat es aber nicht eigentlich in seiner ganzen Logik und Paralogik
246 Eddwd Henscheids Swdelblälter
zur Kenntnis genommen, und SO ist es gut, daß Henscheid die Kladde gezückt
und in ihr alles getreulich vennerkt hat, was der Tag so freiwillig-unfreiwillig an
Zeitsigniftkanz ausbietet Das Zitier- und Kommentierverfahren ähnelt dem des
Karl Kraus; es ist daher auch· gar kein Zufall, daß der Autor immer wieder auf
diesen Wiener Kritiker, der sich um die lahrhundertwende mit der Fackel sein ei-
genes kritisches Zeitschriftenorgan schuf, zu sprechen kommt und ihn zur Cha-
rakterisierung seiner eigenen Anstrengungen bemüht Was als 'grellste Erfmdung'
anmute, sei in Wirklichkeit doch nur 'Zitat', ruft er uns das Vorwort der Letzten
Tage der Menschheit in Erinnerung - oder bekennt (ohne den Altmeister
ausdrücklich beim Namen zu nennen): "Dochdoch, es ist schon so, das Leben
von unsereinem und Konsorten besteht heute zu 33 Prozent darin, den sich täg-
lich offenbarenden und überbordenden Unrat und Unflat der Hirne zu sammeln,
um ihn für ewig zu bewahren". Unmittelbarer Anlaß, sich dieser negativen
Sisyphus-Arbeit des an die Schlechtigkeit der Zeit gefesselten Satirikers wieder
einmal besonders intensiv bewußt zu werden, ist im konkret angesprochenen Fall
ein Plakat des S. Fischer Verlags mit einem gefällig ökologisch orientierten,
heideggerisch-tineffIanischen Gedicht Reiner Kunzes als Aufmacher, das während
der Frankfurter Buchmesse von 1986 in den U-Bahn-Schächten der Stadt "inmit-
ten des üblichen Kulturannoncierungs-Drecks" in Henscheids Auge fIel. Die
ganze, so stilvoll gewonnene Zelebriertheit des ins Plakat gesetzten Edellyrikers
nutzt nichts, wenn man ihn, wie es hier geschieht, bei seiner Vennarktung
erwischt! Und: - bei der Schlachtung dieser einen 'heiligen Kuh' der deutschen
Gegenwartsliteratur bleibt es nicht; auch literarisches 'Kleinvieh' wie Ulla Hahn
und selbst eine 'alte Schnepfe' wie Luise Rinser (letztere mit einer Heftigkeit und
Ausdauer attackiert, die mir ihrerseits schon wieder etwas schleierhaft erscheint)
werden nicht verschmäht. Das gäbe, denke ich mir, ein pralles Register; ich
schlage in der ausgedruckten Buchausgabe nach, tatsächlich: von Adenauer bis
Zwerenz reicht die Namenskette über volle dreizehn Druckseiten!
Doch halt! 'Heilige Kühe', 'Huhn', 'Schnepfe' - bei diesen üppigen Metaphern
überrasche ich mich, während ich mir eine magere Bulette in die Pfanne werfe.
Es ist 'hoher Mittag', ich bin hungrig geworden: rechtzeitig kommt mir auf mei-
ner Anrichte noch einmal das Nachwort unter, mit dem ich meine Lektüre gestar-
tet hatte. Gerade eben - die Bulette brutzelt still vor sich hin - wollte ich neben
Karl Kraus auf Georg Christoph Lichtenberg zu sprechen kommen, von dessen
Sudelheften der Titel hergenommen ist, weshalb er denn auch des öfteren
apostrophiert wird, da muß ich lesen, daß ich mich auf ganz falscher Fährte be-
finde: auf das Verdikt, er vergreife sich hier an Lichtenberg, beabsichtige 'Satire'
im Sinne von Karl Kraus, Kurt Tucholsky oder wem sonst immer, droht der
Autor, reagiere er geradezu "intolerant" und "ideosynkratisch". "Nix Satire, nix
Polemik, nix Nonsense, nix Parodie, nix Ideologiekritik, nix Provokation",
wehrt er brüsk ab, sondern: "kleine privatistische Plaudereien eines alten Cau-
seurs für seine älteren Freunde draußen im Reich, piccolo pikante Petitessen für
Eckhard Hc:nscheids SudelbliiJter 247
zaglos Wohlmeinende ... " - und der Korrektor schreibt, des Italienischen wohl
unmächtig, ein vorsorgliches 'sic' mit Fmgezeichen an den Rand der Fahne.
Das 'Sudeln', schlage ich bei Lichtenberg nach, sei als "Schmierbuch-Methode
bestens zu empfehlen. Keine Wendung, kein Ausdruck darf unnotiert bleiben:
"Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der Pfennig-Wahrheiten". Das
scheint den Nagel auf den Kopf zu treffen, macht es dem Rezensenten aber nicht
leichter, sondern schwieriger! Liege ich einer Finte Henscheids auf, frage ich
mich - oder einer wohl begründeten Vorsicht des Autors, der bei aller Courage der
spitzen Feder doch weiß, daß es vom "Mosern" in der Gegenwart (dieser Aus-
druck fällt tatsächlich häufiger, deshalb spieße ich ihn hier auf) doch ein weiter
Weg zurück zum scharfen Witz ist, wie ihn das achtzehnte Jahrhundert als ein
eigenes Erkenntnismittel entwickelte, und daß man - trotz aller Dokumentarsatire
und aller satirischen Zitate - nicht spontan auf die Idee käme, auch für Henscheid
den Titel der Fackel ins Bild der apokalyptischen 'Neuen Zeitung' zu wenden, wie
es Walter Benjamin für Karl Kraus tat, dem sich in der Tat eine beliebige
Gefallenen-Annonce zum Dokument der Letzten Wahrheit über den Weltkrieg
und eine Heirats-Anzeige zum Beleg der unmenschlichen Kapitalwirtschaft und
einer mit ihr korrespondierenden verlogenen Moral auswuchs! Bei aller angestreb-
ten stilistischen Verwandtschaft mit Kraus und Lichtenberg, geht es mir durch
den Kopf, steckt in unserem Autor doch auch etwas von einer quasseligen
Klatschtante ... - und damit bin ich beim Geschirrspülen, beim selbstgebrauten
Mokka, einer halben Stunde Siesta; früher hätte ich noch eine Zigarette oben-
drauf gesetzt!
Für den Nachmittag habe ich mir vorgenommen, dem eigentlichen literari-
schen Reiz der Publikation nachzugehen. Der Eindruck des Spontanen, Ungeord-
neten, Sprunghaften etc. verdankt sich ja nicht nur meinem unpfleglichen
Umgang mit den Korrekturfahnen oder dem Windstoß, der durchs Fenster weht,
sondern ist integraler Bestandteil der intendierten Schreibe: die Notizhaftigkeit ist
ein bewußt eingesetztes und kontrolliert genutztes Strukturelement, die kleinen
Bausteine schießen zu immer neuen kaleidoskopischen Figuren zusammen - das
überrascht und hält den Leser munter! Mit von der Partie ist das Spiel mit fIkti-
ven - noch ungeschriebenen oder fallen gelassenen - Werken, die in Bruchstücken,
Resten, lediglich Entwürfen mitgeteilt werden, so etwa: Aus meinen gescheiter-
ten Aphorismen oder Aus meinen als unhaltbar aufgegebenen expressionistischen
Arbeiten u.ä.m. Sozusagen eine Entlastung von der harten Arbeit des Spott-
vogels, Satire-Schreibers, Schandmauls etc. stellen hingegen jene Passagen dar,
in denen Henscheid sozusagen seine Nutzanwendung aus den avantgardistischen
Tendenzen der neueren Literatur zieht und zu Stilübungen in dieser Richtung
tendiert; so der Fall bei folgendem Dialog in der Manier der experimentellen, aber
noch einmal in sich selbst verfremdeten Lautpoesie: "Oim?" I "Oimoim." I
"Houdl-hadd da molle freggl nou hoddlzwick gautschn!" I "Oim? oioi. Houdl
queckl, houdl-zurrdl, houdl-Rembmndt oioioi. E ou? A houdl hudd? Aooih??" I
"Oim. Oimoim."
248 Eckhard Hc:nscheids SudelbläJler
schönen Grunde"! Aber das ist - zur geflissentlichen Variation - ein Einfall fürs
nächste Mal!
Bleibt zum Schluß gerade noch das kleine Zettelehen. das mir vor die Füße
flattert; auf ihm habe ich mir die Titel notiert. die Henscheid der Sparte Weitere
Bacher, die FR-Leser interessieren könnten vorschlägt. Dies sind: Emil Zopfli,
Müsli, Beat Oehrli, Schratt und Schrott und Urs Niederhirnli, Jaeggis Wanderung
von Oerlikon nach Bitterli. - Jetzt aber ab in die Heia, die Decke übers Ohr gezo-
gen - und für diesmal: Gute Nacht!
REGISTER