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WIDER
SPRUCHS
TOLERANZ
Ein Methodenhandbuch
zu antisemitismuskritischer
Bildungsarbeit
Vorwort
Das Unbehagen an der Ökonomie ist eine wesentliche, doch in der Bildungsar-
beit eher vernachlässigte Dimension des Antisemitismus. Was an einer komple-
xen und global verwobenen Gesellschaft nicht durchschaut wird, lässt sich mit
Antisemitismus auf eine Gruppe projizieren, die im Zuge dieser Projektion erst als
Gruppe hergestellt wird. Das vorliegende Arbeitsheft vermittelt theoretische
Grundlagen und methodische Zugänge, um zu verstehen, wie sehr Antisemitis-
mus in die Denkmuster, Überzeugungen und Strukturen der deutschen Gesell-
schaft vier Generationen nach dem NS eingewoben ist.
Das Innere dieser Provinz – Adorno spricht von der „angedrehten Provinzialisierung“ (ebd., S. 30) – kann
abgesichert werden, indem Fremde identifiziert werden, die das Eigene bedrohen. Die Positionen dieser
Fremdgemachten werden flexibel besetzt. Im Weltbild des Antisemitismus werden sie als Überlegene
imaginiert und mit dem Kapital identifiziert. Sie stehen für etwas Abstraktes, weshalb viel in sie hineinpro-
jiziert werden kann, das man mit sich selbst nicht verbinden will. Die unbeherrschbare Macht des
undurchschauten Kapitalismus findet in der projektiven Figur des Juden eine beherrschbare, ausgrenzbare
und letztlich tilgbare Konkretion. Zugleich bietet sich die Gelegenheit, den Kapitalismus von sich selbst
abzuspalten und nicht als eigenes Problem bearbeiten zu müssen.
Den Zusammenhang von Ökonomie und Antisemitismus zu durchdenken, gehört sicher zu den besonders
anspruchsvollen Elementen einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und zeichnet sie zugleich aus.
Dass es bei Antisemitismuskritik ganz wesentlich um eine gesellschaftliche Selbstreflexion geht, macht der
thematische Zuschnitt des vorliegenden Materials der KIgA deutlich. Es bildet einen Kontrapunkt zu der
verbreiteten Sehnsucht nach Selbstbestätigung. Von Publikationen wie der vorliegenden geht eine Beunru-
higung aus, denn sie zeigen, dass Demokratie nicht vor Antisemitismus schützt, schon gar nicht, wenn die
ökonomischen Grundlagen unreflektiert bleiben.
PRO F. D R. AS T RI D M E S S ERS C HM ID T
Erziehungswissenschaftlerin an der Bergischen Universität Wuppertal
Grußwort
Liebe Leser*innen,
Die Erfahrung lehrt uns, dass Menschen für Argumente kaum mehr zugänglich
sind, sobald sich antisemitische Vorurteile zu einer gefestigten Weltanschauung verdichtet haben. Umso
wichtiger ist es, die Antisemitismusprävention in den Schulen und in der pädagogischen Arbeit fest zu
verankern. Die Schule ist idealerweise der Ort, an dem junge Menschen als selbstbestimmte und lernfähige
Individuen ernst genommen und bereits erworbene Vorurteile und Ressentiments infrage gestellt werden.
Das vorliegende Methodenhandbuch trägt mit seinem Konzept der Widerspruchstoleranz dem Umstand
Rechnung, dass der Antisemitismus weniger eine Sache rationaler Überzeugungen, sondern eine „Verbin-
dung aus Weltanschauung und Leidenschaft“ (Samuel Salzborn) ist. Antisemit*innen leben zudem in
einem Zustand der Verunsicherung: Vermeintliche Unordnung irritiert sie, Ambivalenzen und Widersprüch-
lichkeiten können sie nur schwer ertragen. Um diese aufzulösen, projizieren Antisemit*innen ihre inneren
Konflikte sowie ihre Unruhe und Unsicherheiten auf Jüd*innen.
Umgekehrt haben wir gute Chancen Antisemitismus vorzubeugen, wenn wir Widersprüche, Ambivalenzen
und Uneindeutigkeiten als Voraussetzung und Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens begreifen
und diese im besten Fall produktiv nutzen können. Es ist der KIgA e. V. hoch anzurechnen, dass sie das
Potenzial der Widerspruchstoleranz für die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus in Berlin systema-
tisch aufgearbeitet und nutzbar gemacht hat.
Kürzlich hat der Berliner Senat ein „Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismus-Prävention“
beschlossen. Dieses räumt der Präventionsarbeit in den Schulen einen hohen Stellenwert ein. Als An-
sprechpartner für Antisemitismus setze ich mich für eine konsequente Umsetzung der geplanten Maßnah-
men ein. Ich bin überzeugt, dass das vorliegende Methodenhandbuch einen substanziellen Beitrag für
die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus leisten wird und ich freue mich, dass die dreiteilige Reihe
zur Widerspruchstoleranz nun vollständig vorliegt.
79 Das Projektteam
25 „Nur kommt hier eben niemand
auf diese absurde Idee.“
82 Impressum
Ein Gespräch über Ansätze,
Herausforderungen und
Spannungsfelder in der pädago-
gischen Konzeptentwicklung
Projektteam „Anders Denken“
32 Inhaltlich-konzeptionelle
Grundüberlegungen
Wir haben diesen dritten Band der Theorie-Praxis- Im hinteren Teil der Publikation finden Sie von uns
Handbuchreihe „Widerspruchstoleranz“ zu antisemitis- entwickelte pädagogische Methoden zu diesen Schwer-
muskritischer Bildungsarbeit mit einem lachenden punkten. Sie sind anhand der Zielgruppen unterteilt –
und einem weinenden Auge fertiggestellt. für die Arbeit mit Schüler*innen der Sekundarstufe I (ab
14 Jahren) und mit Schüler*innen der Sekundarstufe II
Lachend, weil wir auf fünf ereignisreiche Jahre zurück- (ab 16 Jahren). Den methodischen Beschreibungen
blicken, in denen wir uns intensiv mit unterschiedlichen vorangestellt haben wir jeweils eine kurze Einführung ins
Erscheinungsformen von Antisemitismus auseinan- Thema sowie eine Skizze unserer jeweiligen inhaltlich-
dergesetzt und pädagogische Konzepte zum Thema ent- konzeptionellen Grundüberlegungen. Anschließend
wickelt haben, für die wir viel positives Feedback erläutern wir Schritt für Schritt unsere Methoden. Alle für
erhielten. Was bedeutet, dass wir eines unserer Haupt- die praktische Anwendung notwendigen Materialien
ziele – die Unterstützung von pädagogischen Fachkräften inklusive Arbeitsblätter, Kopiervorlagen und Schaubilder
in der politischen Bildung gegen Antisemitismus durch stehen für Sie online in einem speziellen Download-
die Erarbeitung und Bereitstellung von ansprechenden bereich bereit: www.anders-denken.info/
Methoden – erreichen konnten. widerspruchstoleranz3-download
Lachend auch deshalb, weil wir zudem eine umfang- Der Titel der Reihe „Widerspruchstoleranz“ entstammt
reiche Online-Plattform aufgebaut haben. Unter der Vorurteilsforschung. Das dort oft auch als „Ambigui-
www.anders-denken.info finden Multiplikator*innen und tätstoleranz“ bezeichnete Konzept beschreibt das
andere Interessierte seit dem Sommer 2018 vertiefende Vermögen, Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten
Hintergrundinformationen zu Antisemitismus und wahrzunehmen und auszuhalten, ohne sie in einer
antisemitismuskritischer Bildungsarbeit sowie vielfältige vereindeutigenden Art und Weise auflösen zu müssen.
Bildungsmaterialien. Es umfasst auch die Fähigkeit, mit Ungewissheiten und
unterschiedlichen Rollenerwartungen sich selbst und
Weinend, weil mit diesem Band der Abschluss unseres anderen gegenüber umzugehen.
Modellprojektes unmittelbar bevorsteht. Ende 2019
endet auch unser Projekt „Anders Denken. Politische Gerade, wenn wir davon ausgehen, dass viele Menschen
Bildung gegen Antisemitismus“. Der nun vorliegende nicht antisemitisch denken wollen, müssen wir uns
dritte Teil der „Widerspruchstoleranz“ ist also gleichzeitig die Frage stellen, warum sie es teilweise dennoch tun.
der vorläufig abschließende. Und das führt zu den Funktionen von antisemitischen
Deutungen für das Individuum. Diese können viel-
Wie auch seine Vorgänger richtet sich dieses Handbuch fältig sein. Vorurteile und Ressentiments geben Orientie-
an Lehrkräfte und außerschulische Pädagog*innen. rung, weil sie komplexe Realitäten vereinfachen. Sie
Die thematischen Schwerpunkte bilden zum einen die ermöglichen die Konstruktion einer eigenen Identität
Frage „Was ist eigentlich Antisemitismus?“ und zum durch die Abgrenzung von einem ebenfalls konstruierten
anderen der Komplex der zuschreibenden Verknüpfung Anderen. Sie schaffen Selbstaufwertung durch die
von ,den Juden‘ mit Geld und der Finanzsphäre. Beide Abwertung dieses „Anderen“. Sie sind scheinbar vernünf-
Aspekte werden jeweils mit einem vertiefenden Hinter- tige Begründungen für den Anspruch auf und die
grundtext theoretisch grundiert. Dafür möchten wir uns Durchsetzung und Sicherung von Privilegien und Macht.
ganz herzlich bei unseren beiden Autoren Tom David
Uhlig und Dr. Wolfgang Geiger bedanken.
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Das Gegenteil von Widerspruchstoleranz, nämlich die Dieses Projekt wäre nicht möglich gewesen ohne die
Ambiguitätsintoleranz, kann eine Ursache für die Anfällig- tatkräftige Unterstützung von vielen Menschen, Projekten
keit gegenüber ausgrenzenden und autoritären Denk- und Förder*innen. Deshalb möchten wir uns an dieser
und Deutungsmustern sein. Sie äußert sich in der Bevor- Stelle ganz herzlich bedanken:
zugung einfacher Zuschreibungen, dem schnellen
Rückgriff auf Gut-Böse-Schemata sowie darin, die Welt • beim Programm „Demokratie leben!“ des
stereotypisierend wahrzunehmen und diese Stereotype Bundesministeriums für Familie, Senioren,
fortlaufend zu reproduzieren. Ungewissheit, Unklarheit, Frauen und Jugend
Komplexität und Mehrdeutigkeit werden als bedrohlich
empfunden und mit Angst, Verleugnung und Aggressivität • bei der Bundeszentrale für politische Bildung
beantwortet – Vereinfachung und Abwertung dienen als
(unbewusste) Strategien, um Dissonanzen zu entkommen • bei der Landesstelle für Gleichbehandlung –
und individuelle Wahrnehmungen nicht infrage stellen gegen Diskriminierung (LADS) der Senatsver-
zu müssen. waltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti-
diskriminierung des Landes Berlin
Deshalb erachten wir das Konzept der Stärkung von
Widerspruchstoleranz als sinnvoll für die antisemitismus- • bei unseren Kooperationsschulen, ihren Lehrkräften
kritische Bildungsarbeit. Das gilt auch für uns als und Schüler*innen
Multiplikator*innen. Denn Widerspruchstoleranz ist nicht
lediglich als eine Fähigkeit zu verstehen, die es anderen • bei unseren Kooperationspartner*innen bundesweit
zu vermitteln gilt. Vielmehr müssen sich auch
Pädagog*innen diese Kompetenz erarbeiten und sie • bei unserem Expert*innengremium der
kontinuierlich trainieren. Online-Plattform
Einleitung 7
RESSENTIMENT UND
DENKFORM
ZUR FUNKTIONSWEISE
UND GESCHICHTE DES
ANTISEMITISMUS
Tom David Uhlig
Im Juni 2019 trat der Direktor des Jüdischen Museums zufällig, sondern der Verworrenheit des Gegenstandes
Berlin, Peter Schäfer, von seinem Posten zurück, „um geschuldet. Die Vielstimmigkeit der Institutionen und
weiteren Schaden für das Museum abzuwenden“, wie Akteure sowie die Vielschichtigkeit der angeschnittenen
es in einer Pressemitteilung heißt. Schäfer stolperte Problemfelder in diesem Streit mündeten in einer
letztlich über einen Tweet, der über den Account des Eigendynamik des Skandals, der viele ratlos zurücklassen
Museums abgesetzt wurde und einen taz-Artikel zur dürfte. Während Antisemitismus in der Theorie spätes-
Lektüre empfahl. Der Text war eine Stellungnahme von tens seit den 1950er-Jahren recht genau durchdrungen
240 Akademiker*innen gegen die jüngste Verurteilung wurde, klafft zwischen diesem Wissen und dem Alltags-
der antiisraelischen Boykottkampagne „BDS“ durch verständnis des Problems eine breite Lücke. Im Folgen-
den Bundestag. Da die Empfehlung des Jüdischen den soll in aller Kürze der Versuch unternommen werden,
Museums nicht distanzierend erfolgte, regte sich in den kursorisch zu bestimmen, was Antisemitismus eigentlich
Sozialen Medien schnell massiver Protest. Der Zentral- ist, welche Funktionen er erfüllt, wie sich die Feindschaft
rat der Juden in Deutschland kommentierte: „Das gegen Jüd*innen im Laufe der Zeit gewandelt hat und
Maß ist voll. […] Das Jüdische Museum Berlin scheint wie sie heute auftritt.
gänzlich außer Kontrolle geraten zu sein. Unter diesen
Umständen muss man darüber nachdenken, ob die
Bezeichnung ‚jüdisch‘ noch angemessen ist“ (zit. n. Mehr als ein Vorurteil
Pilarczyk 2019). Zu verstehen ist diese bestimmte
Reaktion nur vor dem Hintergrund weiterer Kritiken an
der Leitung des Jüdischen Museums: So wurde etwa Stellt man Menschen auf der Straße die Frage, was
der iranische Kulturrat Seyed Ali Moujani von Schäfer im Antisemitismus eigentlich ist, wird häufig die Antwort
selben Jahr eingeladen. Bei dem Treffen konnte man „ein Vorurteil“ oder „eine Spielart des Rassismus“
sich nach Moujanis Angaben darauf einigen, dass Anti- erfolgen. Beide Begriffe – so weit verbreitet sie auch
semitismus nicht gleich Antizionismus sei und eine sind – verfehlen aber gewichtige Elemente des
Grenze zwischen dem Islam und dem „Islamischen Staat“ Problems. Ein Vorurteil ist ein Urteil, das man sich im
bewahrt werden müsse. Auch gab es eindeutige Kritik Laufe des Lebens angeeignet hat, das aber nicht
an der „Jerusalem-Ausstellung“, die im Jüdischen unbedingt zutreffend ist. Vorurteile können unbewusst
Museum seit 2017 zu sehen ist und von der die sein, der Begriff impliziert jedoch, dass sie sich durch ein
Sozialwissenschaftlerin Julia Bernstein schreibt, sie „richtiges Urteil“ aus der Welt schaffen lassen. Wer
bediene Narrative, „mit denen Antisemitismus in einmal mit ideologisch gefestigten Antisemit*innen disku-
Deutschland weiter befeuert wird“ (Bernstein 2019). tiert hat, weiß aber, dass die Sache nicht ganz so
Nach dem Rücktritt positionierten sich allerdings auch leicht ist. Antisemitismus lässt sich nicht damit aus der
rund 80 Museumsdirektor*innen hinter Schäfer, Welt schaffen, dass einem „falschen“ Bild ein „richtiges“
indem sie ihm ein positives Fach- und Charakterzeugnis gegenübergestellt wird. Im Gegenteil: Durch diese
ausstellten und seinen Abgang als „alarmierendes Bildungsarbeit auf verstandesmäßiger Ebene kann das
Zeichen für die Verhinderung von Debatten und für die Ressentiment sogar weiter gefestigt werden. In seinem
Unterbindung freier Diskussionen“ bezeichneten. Hanno Vortrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“
Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, (1962) erklärt Adorno beispielsweise, dass es in einer
erklärte im Deutschlandfunk: „Wir reden hier gar nicht Gesprächssituation oftmals wenig Sinn hat, dem Bild,
davon, dass das Museum sich mit Antisemiten gemein alle Juden seien reich, mit dem Einwand zu begegnen,
macht“ (Loewy 2019). Damit ist – ob intendiert oder man kenne aber Jüd*innen, die überhaupt nicht reich
nicht – ein wichtiger Punkt angesprochen: Es wurde in seien, oder zu versuchen, dieses Bild statistisch zu
der Öffentlichkeit eine Personalfrage, was doch eigentlich widerlegen. Solche nachvollziehbaren, aber oft frucht-
als inhaltliche Debatte geführt werden müsste. Statt den losen Argumentationsversuche scheitern, weil sie am
Kurs des Jüdischen Museums zu diskutieren, weil Wesen des Problems vorbeigehen. Antisemitismus
israelbezogener Antisemitismus hier wohl nicht wirklich funktioniert unabhängig vom tatsächlichen Verhalten
ernst genommen bzw. sogar kolportiert wurde, geht es von Jüd*innen, sie können es Antisemit*innen niemals
um die Besetzung von Posten. Möglicherweise ist dieses recht machen. So ist es denn auch unerheblich, ob es
Ausweichen der Diskussion, die Schäfer mit seiner Jüd*innen gibt, die reich sind oder nicht – den ideolo-
anfänglichen Dethematisierung von Antisemitismus und gisch gefestigten Sprecher*innen geht es um etwas ganz
schließlich seinem Rücktritt einleitete, auch nicht ganz anderes: Darum, mit dem Hass auf Jüd*innen etwas
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Juden‘, die sich nicht bekehren lassen wollen, wird der in den islamisch geprägten Ländern waren sie zwar
Tod Christus angelastet. Frühchristliche Polemiken den antijüdischen Ausschreitungen des Mobs weniger
gegen die Pharisäer wirken tatsächlich bis heute nach ausgeliefert, allerdings mussten sie zu diesem Zweck
und unterstellen ‚den Juden‘ Ungerechtigkeit oder eine häufig Sondersteuern entrichten und wurden damit zum
übertriebene Härte gegenüber der armen Bevölkerung. Objekt ökonomischer Kalkulation. Es gibt im Mittelalter
Der Antijudaismus hatte über den Aspekt einer Selbstver- keine wirklich einheitliche Politik gegenüber Jüd*innen.
sicherung qua Abgrenzung hinaus noch ganz andere Das einende Prinzip, mit dem diese lange Zeitspanne
alltagspraktische Funktionen: Er entwickelte sich zu wohl zusammengefasst werden kann, ist das der Willkür.
einer Art Theodizee, zur Antwort auf die Frage, warum Es gab kaum Sicherheiten, Absprachen und Gesetze
guten Menschen Schlechtes geschehe, wenn es doch konnten ebenso schnell erlassen wie verworfen werden:
einen gerechten Gott gebe. Unverstandene katastrophale Es drohten immer wieder Ghettoisierung, Pogrome
naturhafte Ereignisse wie Kindstod, Seuchen oder und Vertreibungen.
Hungersnöte wurden den vermeintlichen Machenschaften Die Rolle von Jüd*innen im europäischen Staats-
von Jüd*innen zugeschrieben. Beispielsweise konnten wesen veränderte sich grundlegend mit dem Aufkommen
die Menschen schwerlich begreifen, wie Brunnenwasser der modernen Nationalstaaten. Leitete sich das Recht
über Nacht ungenießbar werden kann, schließlich gab der Fürstentümer und Königshäuser noch von gottgege-
es keine naturwissenschaftlichen Begriffe zur Erklärung benen Traditionslinien ab, hatten die im ausgehenden
dieser Vorgänge. Um die leidvolle Welt vermeintlich 18. Jahrhundert entstandenen Nationen ein Legitimati-
verstehbar zu machen und gleichzeitig den Glauben an onsdefizit: Was, wenn nicht ein Wille höherer Ordnung
einen gerechten Gott intakt zu lassen, hat man auf den sollte die Nation davor bewahren, an ihren inneren
Teufelsglauben in unterschiedlichen Spielarten zurück- Widersprüchen auseinanderzubrechen? Die neuen
gegriffen, oftmals mit Jüd*innen als dessen vermeintliche Verfassungen, die den nationalen Zusammenhang stiften
Agent*innen. Der antijudaistische Hass, der im Übrigen sollten, konnten dessen Bestand nicht gewährleisten.
nicht nur in der christlichen Welt, sondern auch in der Denn das bürgerliche Versprechen von Freiheit und
islamischen virulent war (vgl. Bensoussan 2019), nahm Gleichheit kollidiert mit den materiellen Voraussetzungen
auch in der Reformation nicht ab. Während anfänglich einer Gesellschaft, in welcher sich als frei und gleich
viele Jüd*innen mit der Reformation Emanzipations- nur dünken kann, wer in relativer ökonomischer Unab-
hoffnungen verbanden, schrieb diese das alte Ressenti- hängigkeit Zugang zum Markt hat, weiß, männlich und
ment fort. So erklärte etwa Martin Luther in seiner christlich ist. Die Freiheit, welche die Emanzipation des
Hetzschrift „Von den Juden und ihren Luegen“ von 1543: Bürgertums versprach, war von Anfang an eine halbierte,
„Und es ist auch das vornehmste Stück, das sie von was die Bindekraft der neu gewonnenen Souveränität
ihrem Messias erwarten, er solle die ganze Welt durch ihr unterminierte. Dieser Doppelmoment, sich einerseits der
Schwert ermorden und umbringen. Wie sie denn im feudalen Fesseln zu entledigen, um andererseits neue
Anfang an uns Christen in aller Welt wohl erwiesen und Fesseln anzulegen, die bei einigen lockerer sitzen als bei
noch gerne täten, wenn sie es könnten“. Neben der anderen, ist konstitutiv für Nationalismus. Als legitimie-
Sündenbockfunktion ist hier die Verkehrung der Wirklich- rende und identitätsstiftende Ideologie kristallisierte
keit auffällig: Das Bestreben eine Religionsgemeinschaft sich neben der schwächelnden Kraft politischer Verfas-
auszulöschen, ist historisch dem Christentum zuzurech- sungen die angebliche ethnische Homogenität des Volkes
nen, welches in beinahe unablässiger, oft gewaltsamer heraus, häufig begründet über Legenden einer gemein-
Weise bemüht war, Jüd*innen zu missionieren. Es wurde samen Geschichte (vgl. Hobsbawm / Ranger 1984). Die
also der eigene Wille zur Auslöschung dem Anderen zu- völkische Einheit ist dabei stets vom Auseinanderfallen
geschrieben, der so als Verfolger – als Brunnenvergifter, bedroht und zur Selbstvergewisserung auf die Ausgren-
Ritualmörder und Wucherer – erscheint und damit seine zung des Anderen, des Nicht-Dazugehörigen angewiesen.
eigene Vernichtung legitimiert. Es werden also diejenigen Jüd*innen nehmen in dieser neuen Konstellation die
zum Aggressor erklärt, gegen welche sich die eigene Figur des „Dritten“ ein (vgl. Holz 2001) – sie lassen sich
Aggression richtet. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist auch keiner einzelnen Nation zuordnen, sondern leben „über-
heute noch typisch für das antisemitische Ressentiment. all“ und gefährden damit vermeintlich die fantasierte
Der mittelalterlichen Verfolgung konnten Jüd*innen innere Widerspruchsfreiheit.
oftmals nur entgehen, indem sie sich auf die Sicherheit Wurden im Mittelalter die Jüd*innen noch teil- und
beriefen, welche die autokratischen Herrscher ihnen zeitweise in der Mitte der Gesellschaft an fest zugewiese-
gewährten. Als sogenannte „Schutzjuden“ oder „Dhimmi“ nen Orten eingeschlossen, wurde ihr Ausschluss nun ein
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Die Niederlage im Ersten Weltkrieg entfesselte in plätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es
Deutschland eine neue Welle antisemitischer Agitation, gar nicht mehr gibt. [...] Dieser allgemeine Gefühlsman-
welche die Schuld für das Scheitern deutscher Erobe- gel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit,
rungsaspirationen abermals ‚den Juden‘ zuschrieb und so die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird,
die Kränkung von sich wies. Mit dem Aufkommen des ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer
nationalsozialistischen Deutschlands entwickelte sich tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen
der moderne Antisemitismus zu einem „Erlösungsantise- Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen
mitismus“ (Saul Friedländer), in der Vernichtung der und sich damit abzufinden.“ (Arendt 1986: 44f.)
Jüd*innen wurde eben jenes „Heil“ gesucht, das man Diese Apathie versuchten Alexander und Margarete
sich tagtäglich zum Gruß entgegengeschmetterte. Mitscherlich 1967 in dem psychoanalytisch-sozialpsy-
‚Den Juden‘ wurden weltumspannende Pläne angedichtet, chologischen Bestseller „Die Unfähigkeit zu trauern“ zu
die darauf abzielen sollten, Hand in Hand mit dem ergründen. Der Titel bezieht sich nicht, wie oftmals
Sozialismus das ‚deutsche Volk‘ auszulöschen. Auch hier angenommen, auf die Unfähigkeit, um die eigenen Opfer
geht der eigenen mörderischen Aggression also die zu trauern, sondern auf eine der Voraussetzungen dafür,
Projektion derselben voraus. Die verschwörungstheore- nämlich die Trauer um die eigenen Größenfantasien.
tisch und rassistisch aufgeladene Aktionsbereitschaft Trauer ist hier im psychoanalytischen Sinne als die
schlägt beispielsweise in folgendem Zitat Hitlers von Ablösung von einem geliebten Objekt zu verstehen, mit
1939 explizit durch: dem man sich identifizierte, in diesem Falle die Volksge-
„Wenn es dem internationalen Finanzjudentum meinschaft. Freud zufolge ist ab einem gewissen Grad
inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker der Abhängigkeit des Ichs von diesem geliebten Objekt
noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird der Weg zur Trauer versperrt. Stattdessen verfällt das Ich
das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und in eine melancholische Position, in der Selbstanklagen
damit der Sieg des Judentums sein, sondern die an die Stelle von Anklagen gegen das nunmehr verlorene
Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ (Rede vom Objekt treten: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer
30. Januar 1939) geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“
Projiziert wird hier zweierlei: Zum einen eigene (Freud 1917: 200). Allerdings richteten nach 1945 die
negative Aspekte wie die kapitalistische Produktionswei- Deutschen bekanntermaßen kaum Anklagen gegen
se und zum anderen das Begehren nach Weltherrschaft. sich selbst, sondern wehrten diese im Gegenteil ab, etwa
Diese beiden Selbstanteile kollidieren offenbar mit einem durch das Lamento über den Vorwurf einer Kollektiv-
Ideal, das sie nicht erlaubt, weshalb sie dem Anderen schuld, der in Wahrheit niemals von alliierter Seite
zugeschrieben werden. Die Vernichtung des Anderen wird erhoben wurde. Schnell etablierten sich Mythen der
so zu einem Akt der ‚Selbstreinigung‘. Besonders augen- Täter-Opfer-Umkehr und der Leugnung, denen zufolge
fällig wird dies etwa in der im Nationalsozialismus man eigentlich selbst am meisten unter Krieg und
gängigen Unterstellung, Jüd*innen hätten eine besonders Nationalsozialismus gelitten habe oder die deutschen
ausschweifende und moralisch verwerfliche Sexualität. Verbrechen so gar nicht stattgefunden hätten. Die
Die hier angerissene Psychodynamik führte mit einer Mitscherlichs identifizierten verschiedene Abwehrmecha-
Reihe anderer Faktoren wie der Indifferenz gegenüber nismen, die es den Deutschen erlaubten, trotz fehlender
dem Leid der Anderen und den materiellen Voraussetzun- Ablösung eben nicht in die Melancholie zu fallen: die
gen zu der millionenfachen Vernichtung von Leben, der Derealisierung, das Ungeschehenmachen durch mani-
„fabrikmäßig erfolgte[n] millionenfache[n] Stanzung von schen Wiederaufbau sowie die nachträgliche Leugnung
Lebensgeschichten in ein gleichförmiges tödliches mittels einer Identifikation mit den westalliierten
Schicksal“ (Diner 1995: 127). Sieger*innen, denen man nun im Kampf gegen den
Nach der Zerschlagung des Dritten Reiches trat Kommunismus beistehen wollte.
zum modernen ein sekundärer Antisemitismus hinzu, Die Abwehr der Schuld begleitet die Bundesrepu-
dessen Funktion es ist, eine nunmehr beschädigte blik seit ihrer Gründung: In jüngerer Geschichte fanden
nationale Identität zu restaurieren und der damit im etwa im Zuge der Diskussion um die Wehrmachtsausstel-
Zeichen der Schuldabwehr steht. Hannah Arendt be- lung, des sogenannten Historikerstreits und der Kranznie-
merkte auf ihrer Reise nach Deutschland 1949 eine derlegung Kohls und Reagans am Soldatenfriedhof von
unheimliche Gleichgültigkeit gegenüber den deutschen Bitburg wiederholt geschichtsrevisionistische Positionen
Verbrechen: „Inmitten der Ruinen schreiben die Deut- ungehindert Eingang in die öffentliche Diskussion. Heute
schen einander Ansichtskarten von Kirchen und Markt- gehören Guido Knopps Dokumentationen, welche die
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und damit zurück zum Ausgangsfall – darüber zu S. 27–73 Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als
sprechen, ob der ehemalige Leiter des Jüdischen negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien
Museums Berlin ein Antisemit sei oder nicht, gleichwohl im Vergleich. Frankfurt/M Volkov, Shulamit (2000): Antisemitis-
der Kurs, den das Museum unter seiner Leitung ein- mus als kultureller Code. München
geschlagen hat, kritisiert werden muss, und zwar auch
als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz,
TOM DAVID UHLIG
Antisemitismus zu verharmlosen, sobald er im
Tom David Uhlig ist Mitarbeiter der Bildungsstätte
gesellschaftskonformen Gewand der sogenannten
Anne Frank, für die er die Ausstellung „Das
„Israelkritik“ auftritt.
Gegenteil von gut. Antisemitismus in der deutschen
Linken seit 1968“ kuratierte. Zusammen mit
Eva Berendsen und Katharina Rhein gibt er 2019
LITERATUR
den Sammelband „Extrem unbrauchbar. Über
Adorno, Theodor W. (1962): Zur Bekämpfung des Antisemitis- Gleichsetzungen von links und rechts“ heraus
mus heute. In: Ders: Gesammelte Schriften. Bd. 20.1. (Verbrecher-Verlag).
Frankfurt/M, S. 360–383 Arendt, Hannah (1986): Besuch in
Deutschland [1949/50]. In: Dies.: Zur Zeit. Politische Essays.
München, S. 44–45 Bensoussan, Georges (2019): Die Juden
der arabischen Welt. Die verbotene Frage. Berlin Bernstein,
Julia (2019): „Einseitig und relativierend“. In: Jüdische
Allgemeine, 28.03.2019, https://www.juedische-allgemeine.de/
kultur/einseitig-und-relativierend/ [11.07.2019] Claussen,
Detlev (2000): Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter
veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Hannover Diner,
Dan (1995): Kreisläufe. Nationalismus und Gedächtnis. Berlin
Freud, Sigmund [1917]: Trauer und Melancholie. In: Studien-
ausgabe. Bd. 3. Frankfurt/M, S. 193–212 Heer, Hannes (2005):
Hitler war's! Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangen-
heit. Berlin Hobsbawm, Eric / R anger, Terence (Hrsg.) (1984):
The Invention of Tradition. Cambridge Holz, Klaus (2001):
Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltan-
schauung. Hamburg Loewy, Hanno (2002): There is no business
like Antisemitismus. In: Tagesspiegel, 10.06.2002, https://www.
tagesspiegel.de/kultur/there-is-no-business-like-antisemitis-
mus/319318.html [14.07.2019] Loewy, Hanno (2019):
„Museum hat sich nicht mit Antisemiten gemein gemacht“.
Hanno Loewy im Gespräch mit Benedikt Schulz. In: Deutschland-
funk, 30.06.2019, https://www.deutschlandfunk.de/kontroverse-
um-juedisches-museum-berlin-museum-hat-sich.694.
de.html?dram:article_id=452666 [11.7.2019] Mitscherlich,
Alexander / M itscherlich, Magarete (1967): Die Unfähigkeit
zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München
Pilarczyk, Hannah (2019): Scharfe Kritik an Jüdischem
Museum wegen „taz“-Link. In: Spiegel Online, 11.06.2019,
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/zentralrat-der-
juden-scharfe-kritik-an-juedischem-museum-wegen-taz-link-
a-1271877.html [11.07.2019] Pohl, Rolf (2006): Projektion
und Wahn. Adorno und die Sozialpsychologie des Antisemitis-
mus. In: Joachim Perels (Hrsg.): Leiden beredt werden lassen.
Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos. Hannover,
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Unter den Stereotypen von ‚Juden‘ steht eines über allen
anderen: das vom ‚reichen Juden‘. Aus dem damit Der Mythos vom kirchlichen Zinsverbot
verbundenen Vorurteil von einer besonderen jüdischen im Mittelalter
Affinität zum Geld entwickelte sich die Vision von der
„jüdischen Finanzherrschaft“. Dies alles wurzelt in der
Vorstellung vom mittelalterlichen Geldverleiher als Der Ursprung des Vorurteils liegt im Mythos vom
Wucherer, der im selben Maße, wie er zu Reichtum kam, kirchlichen Zinsverbot: Die katholische Kirche habe im
der christlichen Bevölkerung schadete und aus dem dann Mittelalter Christ*innen das Zinsnehmen verboten
der einflussreiche Bankier der Neuzeit wurde, der die und da Jüd*innen durch die Zünfte von den meisten
Finanzgeschäfte an der Börse manipuliert. Über bekann- Berufen in der christlichen Umwelt ausgeschlossen
te Figuren der Literatur und historische Persönlichkeiten – wurden, blieb ihnen de facto nur noch der Geldverleih.
Shakespeares Shylock, Joseph Süß Oppenheimer, die Daran schließt sich eine zweite Vorstellung an, wonach
Familie Rothschild u. a. – führte dies zu bis heute sie hohe Zinsen verlangen mussten für hohe Schutzgeld-
wirkmächtigen Verschwörungstheorien wie in den zahlungen an den Kaiser. Dies ist überall mehr oder
„Protokollen der Weisen von Zion“ (vgl. Benz 2007). weniger ausformuliert nachlesbar, im Internet, allgemei-
Dazu gehörte in der Ära um 1900, dass die Entstehung nen historischen Darstellungen und Schulbüchern (wenn
des Kapitalismus selbst, genauer: des „Finanzkapitalis- sich dies auch bei letzteren in jüngerer Zeit langsam
mus“, auch von etablierten Wissenschaftlern ‚den Juden‘ ändert). Symptomatisch ist eine im Suchranking
zugeschrieben wurde. Die Fundierung lieferte unter hochstehende Schulwebseite (vgl. Q10).
anderem der Soziologe Werner Sombart, der den Das „kanonische Zinsverbot“ quasi als Gesetz
(Finanz-)Kapitalismus zum „natürlichen Feld ihrer [= der durch die Kirche ist jedoch ein Mythos im Sinne der Defi-
Juden] Betätigung in dem Streben nach Geldbesitz“ nition in der „Dialektik der Aufklärung“: „falsche Klarheit“
dank ihrer „in besonders hohem Maße eigennützigen (Horkheimer / Adorno 1969: 4), d. h. nicht nur eine
Gesinnung“ und der „Skrupellosigkeit des jüdischen falsche Vorstellung, sondern diese erklärend, sogar
Wesens“ erklärte (Sombart 1919: 114). vermeintlich aufklärerisch, aber unter falschen Voraus-
Dieses Vorurteils-Modul ist universell einsetzbar setzungen. In diesem Fall transformiert sich das Wucher-
als Schuldzuweisung wie auch umgekehrt zur vermeintli- motiv vom Vorurteil der Anklage im Mittelalter zum
chen Erklärung für Antijudaismus /Antisemitismus: Vorurteil der Erklärung in der heutigen Zeit. Denn es gab
Schüler*innen erklärten mir die römische Eroberung gar kein absolutes Zinsverbot. Das diesbezüglich
Judäas in der Antike, den Hass auf ‚die Juden‘ im immer erwähnte IV. Lateranische Konzil 1215 sprach
Mittelalter und letztlich auch den Holocaust mit dersel- von „Einschränkungen“:
ben Begründung: „Weil die Juden reich waren“. Damit „Je mehr sich die christliche Religion in der
ist nicht gesagt, dass alle so denken, sondern dass eine Eintreibung der Wucherzinsen Einschränkungen auferlegt,
solche „Logik“ existiert und manche überzeugt. Und desto übermütiger wird darin der Unglaube der Juden, so
sie folgt letztlich dem weitverbreiteten Erklärungsmuster dass in kurzer Zeit das Vermögen der Christen erschöpft
für die mittelalterlichen Pogrome, das neben anderen sein wird. […] So bestimmen wir durch Konzildekret,
Motiven oft als das eigentlich relevante „die Verschul- dass, wenn weiterhin die Juden, unter welchem Vorwand
dung breiter Bevölkerungskreise“ bei jüdischen auch immer, von den Christen schwere und unangemes-
Geldverleiher*innen oder ähnlich formulierte „materielle sene Wucherzinsen erpressen, ihnen die Gemeinschaft
Beweggründe“ (beide Zitate Brockhaus 2004) anführt mit den Christen entzogen werden soll […].“ (Schoeps /
(vgl. Liepach / Geiger 2014: 37ff. und Geiger 2012: Wallenborn 2001: 115, vgl. auch Q1).
85ff., 195ff.). Schon Reichtum allein ist nicht neutral Der Wortlaut belegt nicht das Zinsverbot, sondern
in diesem Kontext, sondern suggeriert unberechtigte im Gegenteil die christliche Zinspraxis, die nur „Ein-
Bereicherung. Deswegen bewirkt das „antikapitalistische“ schränkungen“ erfahren sollte. Und auch wenn der Text
Motiv einen politisch rechts wie links vorhandenen eine antijüdische Stoßrichtung hat, so werden auch in
Antisemitismus und seinerzeit war Sombart ja auch diesem Zusammenhang nur „unangemessene Zinsen“
ein Linker. verurteilt. Letztlich ging es nur um die Überschreitung
einer bestimmten Zinshöhe. Zuvor, verstärkt in der Ära
des II. und III. Lateranischen Konzils (1139, 1179),
hatte die katholische Kirche ihre diesbezügliche Haltung
„Geldjuden“ – Die Grundlagen eines universellen Vorurteils vom Mittelalter bis heute 17
tatsächlich verschärft, doch dann aufgrund der Wirkungs-
losigkeit 1215 wieder relativiert. Die Theologen geißelten Christ*innen, Jüd*innen und das Geld
die Praxis des Geldverleihs, aber „die Christenheit folgte
den kanonischen Geboten nicht. […] Wucher war
schlimmste Sünde, doch kein Verbrechen“ (Fried 2008: Aus den ältesten erhaltenen mittelalterlichen Quellen
143, 139). zum Thema erfahren wir, dass Christ*innen von Anfang
Anders als in unserer Vorstellung von der Macht der an Geld verliehen. Ca. 841–844 schrieb die fränkische
Kirche konnte sie auch gar kein weltliches Recht setzen. Gräfin Dhuoda in einem Testament an ihren Sohn,
Doch selbst innerkirchlich blieben die Zinsbeschränkun- „dass sie für viele Bedürfnisse nicht nur von Christen,
gen ohne durchschlagenden Erfolg. Als Strafe für Wucher sondern auch von Juden oft große Geldsummen geliehen“
konnte die Kirche mit Sanktionen vom Ausschluss von habe (Q2). Tatsächlich war der Geldverleih nicht „in
den Sakramenten bis zur Hölle nach dem Tod durch jüdischer Hand“, sondern christliche und jüdische
Verweigerung des christlichen Begräbnisses drohen (vgl. Geldverleiher*innen konkurrierten miteinander zu allen
Schima 2010: 246f., 255f.). Ob und wie die Kirche Zeiten. Das Kreditwesen entstand einerseits aus dem
gegen Wucher vorging, hing de facto vom jeweils Geldwechsel, andererseits aus dem Handel selbst, wenn
zuständigen Bischof ab. Einige Verfahren sind belegt, in Kund*innen nicht sofort bezahlten, sondern einen
der Breite aber geschah wenig. Zur Realität des Glau- Schuldschein mit späterem Fälligkeitsdatum, etwa auf
bens gehörte zudem, dass man Vergebung für seine der nächsten Messe, ausstellten. Für den Zahlungs-
Sünden erlangen konnte. In einigen nachgewiesenen aufschub verlangten die Händler*innen eine Gebühr nach
Fällen geschah dies durch eine großzügige Spende an die Höhe der Summe und der Laufzeit, also Zins. Die
Kirche selbst, also durch eine Art Ablass, durch den die Geldwechsler*innen wiederum wurden schnell zu
Kirche im Nachhinein am sündigen Wucher mitverdiente. Geldverleiher*innen, indem sie das gewünschte Geld
Noch in der Ära von Lateran II–IV vor und nach vorstreckten und die Kund*innen später mit Zinsauf-
1200 betrieben kirchliche Institutionen selbst Zinsge- schlag bezahlten. Das erlaubte den Kund*innen, mit dem
schäfte (vgl. Fried 2008: 152–155), unter anderem für auf der Messe erzielten Gewinn den Vorschuss zurück-
den Handel mit den Kreuzfahrerstaaten in der Levante, zuzahlen. Die Wechsler*innen wurden dann auch zu
zu einem in Italien üblichen Zinssatz von ca. 20 % (vgl. Bankkaufleuten für bargeldlose Zahlungen, wenn die
Spufford 2004: 34). Diese Doppelmoral steigerte sich Wechselscheine auf sie ausgestellt wurden.
im späten 13. Jahrhundert bis dahin, dass die päpstliche Beteiligt waren in der Anfangsphase lokale und bei
Kurie den italienischen Bankkaufleuten Privilegien erteilte Messen auch international tätige Kaufleute, die dann
und von ihnen verzinste Kredite auf ausstehende feste Niederlassungen errichteten. Die aus Italien
Einnahmen aufnahm, ja sogar die Kirchensteuer von stammenden frühen Bankkaufleute wurden Lombarden
ihnen abwickeln ließ (vgl. u. a. Gilomen 2018: 439f. genannt, nach der Region Lombardei, auch wenn sie aus
und Fried 2008: 143ff.). anderen Gebieten Nord- oder Mittelitaliens kamen. Aus
Versuche, das Zinsverbot in weltliches Recht der südfranzösischen Stadt Cahors kamen Cahorsen oder
umzusetzen, gab es sporadisch auch vonseiten einiger Caurssin, im Lateinischen Cadurcini, davon einge-
Fürsten, sie wurden angesichts der Notwendigkeit von deutscht Kawerzen oder Gawertschen, von denen sich
Krediten jedoch schnell wieder aufgegeben. Denn das dann im Frühneuhochdeutschen das Wort Kaudern für
Kreditwesen entstand nicht erst mit der Ablösung der Wuchern ableitete (vgl. Q5). Diese Begriffe lösten sich
Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft oder gar erst mit der Zeit von ihren Ursprüngen und bezeichneten
in der „kommerziellen Revolution“ des 14. Jahrhunderts. dann allgemein christliche Bankkaufleute aus der
Die Notwendigkeit von Kredit (Stundung der Zahlung) Fremde. Für Italien und Westeuropa ist das Kreditwesen
bestand schon und gerade in Zeiten des materiellen im Mittelalter weit besser erforscht (vgl. Heers 2010) als
Geldmangels (vgl. Kuske 1927: 2–5 und Q8). So kamen für den deutschen Sprachraum, doch auch hierzu gibt
dann auch aus dem Mittelmeerraum entsprechende es zumindest prägnante Einzelstudien (z. B. Burgard u. a.
Formen des Kreditwesens und bargeldlosen Zahlungsver- 1996 und Burgard 1997).
kehrs, weswegen die ganze Terminologie heute noch Ein Bericht aus dem 14. Jahrhundert über die
italienisch geprägt ist, vom Girokonto auf der Bank bis Geschichte der größten internationalen Messe im
zum Lombardsatz. Mittelalter, die in der ostfranzösischen Region Champag-
Das Zinsverbot war ein theologischer Wunsch, ne an wechselnden Orten fast das ganze Jahr über
doch keine Realität, noch nicht einmal innerhalb stattfand, belegt die Praxis der Zinsleihe durch die
der Kirche. Geldwechsler*innen und die vergeblichen Versuche der
18
Messeleitung, dem Wucher Einhalt zu gebieten (vgl. Q9). Gulden als Schuld verbrieften, aber nur 800 als Kredit
Dabei erfanden die Messestädte der Champagne damals gewährten (Q15). Später wurde dann jüdischen
selbst städtische Anleihen, die verzinslich gerade an die Pfandleiher*innen und Bankkaufleuten oft ein höheres
bekannten örtlichen Geldverleiher ausgegeben wurden Limit zugestanden als den christlichen. Doch waren
(vgl. Tracy 2003: 18). Auch aus italienischen Schuld- Christ*innen offenbar auch durch Einlagen an Kreditge-
briefen des 12. Jahrhunderts ist die Zinshöhe bekannt schäften jüdischer Bankkaufleute beteiligt, womit sie von
(vgl. Q9) und die Schuldenliste der Gräfin Johanna von einem höheren Zinssatz als dem ihnen rechtlich zuste-
Flandern 1221 verzeichnet vier christliche und einen henden profitierten und die jüdischen Akteur*innen als
jüdischen Gläubiger mit den entsprechenden Zinsen. bloß Vermittelnde somit nur minimal. So gab es 1633
Eine zur Bekämpfung des Wuchers angeordnete Untersu- durch den Kaiser ein „Verbot wucherischer Geldgeschäfte“
chung des französischen Königs Philipp IV. über Zins- explizit gegen solche Arrangements, wonach eine
praktiken italienischer Kaufleute im provenzalischen christliche Person „durch die Juden über 6 pro cento
Nîmes 1289 ergab, dass diese christlichen Kreditgeber ausleiht”, den damaligen Höchstsatz für
Zinssätze bei kürzeren Laufzeiten (z. B. 3 Monate) Christ*innen (Q5).
verlangten, die aufs Jahr umgerechnet über 100 %
ergäben (vgl. Geiger 2009: 16f.). Und dies, obwohl der
Vorgänger Philipp III. alle Wucher*innen, insbesondere
Lombarden und Cahorsen, aus dem Königreich aus- Historischer Horizont
weisen wollte (vgl. Gilomen 1990: 284), so wie die
späteren Könige die Jüd*innen. Philipp IV. beschloss
jedoch erst einmal, den Kaufleuten Zinsen in Höhe Die moraltheologische Ablehnung von Zinsgeschäften
von 20 % zu erlauben. beruhte auf dem Alten Testament (2. Mose 22, 24 und
In der nordeuropäischen Hanse war der Borgkauf, passim), wiederholt im Neuen (Lukas 6, 35). Als
der Kauf einer Ware bei späterer Zahlung, gegenüber mosaisches Gesetz in der Thora galt sie somit zuerst für
dem Beutkauf, der Verrechnung im Tausch Ware gegen Jüd*innen selbst. In der ursprünglichen Stammesgesell-
Ware, bis in die Frühe Neuzeit verrufen, doch auch hier schaft war es gemeinschaftsfeindlich, von der Not der
kam die konservative, dem Zunftgeist entsprechende Nächsten zu profitieren und ein Gebot der Nächstenliebe,
Moral der Hanse nicht gegen die Realität an. So sind im ihnen zu helfen. In der Diaspora beschränkte sich diese
Lübecker Schuldbuch des 14. Jahrhunderts umfang- Solidarität logischerweise auf die eigene Religionsge-
reiche Kreditgeschäfte verzeichnet, aus denen die meinschaft als Minderheit, was Jüd*innen dann von
einberechneten Zinsen zu erkennen sind (vgl. Koppe christlicher Seite zum Vorwurf gemacht wurde.
2009: 34–40 und Dollinger 1976: 267–271). Die Abneigung gegen Finanzgeschäfte war jedoch
Die Konkurrenz zwischen christlichen und jüdi- nur die zugespitzte Form einer transkuturell verbrei-
schen Bankkaufleuten führte zu einem Kampf um teten Abneigung gegen den Handel oder bestimmte
Privilegierung: „Wer die Konzession besaß, genoss das Formen des Handels, bei denen scheinbar Geld ohne
Monopol unter Ausschluss aller anderen, es seien Arbeit verdient wurde, sofern man darunter nur produkti-
Toscaner, Kawerzen oder Juden“ (Pirenne 2009: 133). ve Arbeit verstand (in der Landwirtschaft, im Handwerk
So bekamen jüdische Geldverleiher*innen 1266 in Köln usw.). Im antiken Rom stellte Cicero ein Ranking
den Zuschlag und die Cauvercini das Verbot (vgl. Q2). von Berufen nach ihrem Ansehen auf, in dem „Zöllner
Umgekehrt wurden 1290 alle in England lebenden und Wucherer“ besonders schlecht wegkamen. Die
Jüd*innen des Landes verwiesen (ebenso wie ein Jahr- Zöllner, von denen auch in der Bibel die Rede ist, waren
hundert später aus den königlichen Territorien Frank- Steuerpächter, die dem Staat Steuern vorschossen und
reichs), nachdem ihnen 1275 Wuchergeschäfte unter- sie dann mit Gewinn selbst eintrieben. „Für niedrig
sagt worden waren, die fortan exklusiv von Christ*innen müssen auch die Krämer gelten“, heißt es dann weiter,
betrieben wurden, darunter von königlichen Beamten, „die von den Großhändlern Waren kaufen, um sie sogleich
Bischöfen und anderen Kirchenleuten (vgl. Shatzmiller wieder zu verkaufen; denn sie können nichts gewinnen,
2007: 126). Andernorts gab es jedoch ein geregeltes wenn sie nicht die Käufer gehörig belügen“ (Cicero
Mit- oder Nebeneinander wie in Zürich, wo 1304 die 2017:1280 = 1. Buch, XLII. 150). Dies entspricht
Zinshöhe für „Juden und Caurssin“ festgelegt wurde (Q2). ziemlich genau dem Vorwurf, den man später dem
Im Reich galt ab 1530 ein Zinssatz von 5 % unter der jüdischen „Schacherer“ machte. Mit dem Wucher und
Verdammung „wucherlicher Contracte“, die z. B. 1000 dem Schacher sind damit schon die beiden typischen
„Geldjuden“ – Die Grundlagen eines universellen Vorurteils vom Mittelalter bis heute 19
Tätigkeiten benannt, auf denen sich später ein sozialer jedoch gleichermaßen auf. Es ging daher meistens
Antisemitismus konstruierte, bei Cicero wohlgemerkt weniger um die Person als um die Sache, den „verderb-
noch ohne diesen Bezug. lichen Wucher-Zins“. So gibt es schon 1516 von Hans
Auch die christliche Theologie stand dem Handel Baldung Grien eine zu dem Bild aus „De officiis“ quasi
generell kritisch bis ablehnend gegenüber, galt er doch spiegelverkehrte Illustration des Geldverleihers, der dort
als Quelle für die Todsünde der Avaritia, Habgier, auch ein Christ ist und auf der linken Seite sitzt. Die Online-
mit Bezügen zur Bibel (vgl. Le Goff 2005: 75ff. und ders. plattform Planet Wissen kommentiert: „Aber mit Geld
2008: 11ff.). Theologie und Realität klafften hier jedoch Geld zu verdienen – also Zinsen zu verlangen – war
weit auseinander, und zwar schon für die Kirche selbst. seitens der Kirche nicht erlaubt. Auf Umwegen geschah
Wucher als Problem lässt sich bis zu den ältesten das trotzdem […]“ (Q11; vgl. Q5). Die Partnerwebseite
Zeiten zurückverfolgen, im antiken Athen und in der Planet Schule reproduziert trotzdem im „Wissenspool“
Römischen Republik wurde die „Schuldknechtschaft“ weiter das alte Klischee vom christlichen Zinsverbot und
durch Limitierung des Zinsniveaus bekämpft, wobei sich jüdischen Geldverleih (vgl. Q12).
dies in der Praxis damals schon letztlich der staatlichen Etliche Publikationen warfen den Christ*innen vor,
Kontrolle entzog. Ciceros moralische Abhandlung selbst mit „dem Judenspieß“ zu laufen – eine sprachlich
„De officiis“ (Von den Pflichten) wurde im Mittelalter und unklare Redewendung, die jedoch meint, dass die
umso mehr seit dem Buchdruck eine Referenz erster Christ*innen den Jüd*innen in ihrem „schändlichen Tun“
Güte. Daraus hat sich eine hinzugefügte Illustration ver- ebenbürtig waren. Im Mittelalter wurde dafür schon der
selbstständigt, die als das bekannteste Bild eines Ausdruck judaizare (= judaisieren, sich wie Jüd*innen
jüdischen Geldverleihers in die ikonografische Geschichte verhalten) geschaffen, ursprünglich ein wertneutraler
eingegangen und heute omnipräsent im Web ist: Der Begriff, der dann spätestens mit Bernhard von Clairvaux
Geldverleiher sitzt rechts hinter seinem Tisch, während 1146 diese besondere Bedeutung bekam (vgl. Q1). In
ein Christ mit fordernder Geste vor ihm steht. Die der Hierarchie der Verurteilung lag damit zwar die
Illustration erschien jedoch nur in einer einzigen Ausgabe Ursünde des Wuchers immer noch bei den jüdischen
von „De officiis“, zusammen mit weiteren illustrierten Geldverleiher*innen, allerdings bezeugt die Propaganda
Texten von Cicero („Memorial der Tugend“), 1533 in gegen das „Judaisieren“ auch, dass es kein jüdisches
Augsburg. Während das Bild allein immer als Kritik am Monopol dafür gab.
jüdischen Geldverleiher interpretiert wird, lässt, wie Die berühmte Illustration aus dem Cicero-Buch
Schreckenberg (1996: 314) betont, die dazugehörige, in zeigt laut einer Handreichung der Bundeszentrale für
den Reproduktionen aber immer fehlende Überschrift politische Bildung für Lehrkräfte zum Antisemitismus
keine antijüdische Absicht erkennen: „den Ursprung eines Klischees, das bis in die Gegenwart
„Ich bitt euch jud leicht mir zur hand/ wirkt: Die Verknüpfung zwischen Juden und Geld. Dazu
bar gelt auff bürgen oder pfand; ist es wichtig zu wissen, dass Juden in die Rolle der
Was euch gebürt gebt mir verstand.“ (Q5) Geldleiher gedrängt wurden: Aus den meisten anderen
Die Aussage ist durchaus nüchtern gefasst, der letzte Berufsgruppen waren sie ausgeschlossen, während
Satz meint die Höhe des Zinses. Der weitere Text auf Christen einem Zinsverbot unterlagen, also selbst nicht
der Seite bringt gleichwohl die Verurteilung „wucherlicher als Kreditgeber auftreten konnten“ (Pilarek 2014: 3).
Missethat“ zum Ausdruck, bleibt aber ohne spezifisch Statt der wohl beabsichtigten Kritik des Klischees wird
antijüdische Stoßrichtung, wie sie bei anderen Spott- hier das Vorurteil inklusive falscher Begründung geradezu
bildern jener Zeit zu finden ist, z. B. auf dem ebenso mustergültig reproduziert und damit die „Verknüpfung
bekannten illustrierten Schmähgedicht „Der Jud“ aus zwischen Juden und Geld“ durch die Erklärung letztlich
Jost Ammans Ständebuch: untermauert. Welches Beispiel könnte drastischer die
„Bin nicht umb sonst ein Jud genannt/ tiefe Verankerung dieses Vorurteilskomplexes mit seiner
Ich leih nur halb Geld an ein Pfandt/ „falschen Klarheit“ veranschaulichen?
Löst mans nit zu gesetztem Ziel/ In der jüngsten Generation der Geschichtslehr-
So gilt es mir dennoch so viel/ […].“ (Q5) bücher gibt es immerhin Ansätze zur Differenzierung,
Damit war gemeint, dass nur die Hälfte des Pfandwerts wenn es etwa zum Zins heißt: „Dabei berechneten
geliehen und auf ein Verstreichen der Frist zur Auslösung christliche Geldverleiher oft mehr.“ (Das waren Zeiten 2
spekuliert wurde. In den zahlreichen Darstellungen 2014: 44). Doch bleibt dies hier symptomatisch
zu diesem Thema aus jener Zeit tauchen jüdische und widersprüchlich, da wiederum der alte Mythos vom
christliche Geldverleiher und betrügerische Händler Zinsverbot auf derselben Seite reproduziert wird.
20
und drängten ihre jüdischen Konkurrent*innen in
Der soziale Antijudaismus/Antisemitis- den Kleinhandel und die Pfandleihe ab. Auf die weitere
mus und seine „materiellen Gründe“ Entwicklung in der Neuzeit kann hier leider nicht
eingegangen werden.
In vielen Darstellungen erfüllt das „materielle Motiv“
Der Antijudaismus des Mittelalters und der Frühen für den Judenhass die Funktion, in einer sehr eingän-
Neuzeit war religiös begründet und ist damit vom Anti- gigen Logik nach vulgärmarxistischer Manier hinter den
semitismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu unter- Angstfantasien der Leute (Ritualmordlegende, Brunnen-
scheiden, da die Konversion zum Christentum möglich vergiftung etc.) die scheinbar „wahren Gründe“ für
und erwünscht war und in Konflikten auch erzwungen den Judenhass, nämlich die materiellen, zu identifizieren:
wurde (Taufe oder Tod). Dies trat drastisch in der „Das Geld war auch der Grund, weshalb die Juden
Fanatisierung des Ersten Kreuzzuges 1096 durch die getötet wurden.“ Diese Quintessenz aus dem Straßburger
Pogrome in Erscheinung. Die Kirche selbst hatte ein Pogrom 1349 durch einen Chronisten der Zeit, aber
ambivalentes Verhältnis zum Judentum, auf dem das keinen Zeitgenossen, Jakob Twinger von Königshofen
Christentum schließlich basiert, und schwenkte im (1346–1420), wird immer wieder als Quelle in Schul-
12. /13. Jahrhundert auf eine antijüdische Linie ein. Doch bücher aufgenommen (hier aus Mosaik F2 2012: 123)
Wünsche zur Kennzeichnung an der Kleidung, zur oder sinngemäß und suggestiv in den Darstellungs-
stärkeren Abgrenzung im Wohnbereich (Ghettoisierung) text eingebaut: „Geschäftsleute konnten so ihre jüdischen
oder die Ausweisung aus den Städten setzten sich Konkurrenten ausschalten und Schuldner kamen um
dauerhaft erst im 15. /16. Jahrhundert durch, wodurch die Rückzahlung ihrer Schulden herum“ (Horizonte 2
sich das jüdische Leben mehrheitlich auf das nur 2014: 102). Dies ist auch eine allgemein verbreitete
schlecht dokumentierte Landjudentum verlagerte. Interpretation und selbst Nachum T. Gidal zieht in
Bis dahin war das Mittelalter trotz der beiden seinem verdienstvollen Buch über die deutsch-jüdische
großen Pogrome 1096 und 1349 und auch weiterer Geschichte die Schlussfolgerung: „Dies berichtet Jakob
regionaler und lokaler Gewalttaten gleichwohl über weite Twinger von Könighoven in seiner Chronik. Ähnliches
Strecken durch ein friedliches oder zumindest gewalt- geschah in mehr als zweihundert Dörfern und Städten“
freies Zusammenleben gekennzeichnet (vgl. Toch 2003: (Gidal 1997: 51).
55ff.), ganz anders als in der rückblickenden Wahrneh- Dabei bezog sich der besagte Chronist zwar auf
mung, die die jüdische Geschichte primär als Verfol- einen Augenzeugen des Straßburger Pogroms, den
gungsgeschichte sieht. Ein Problem ist auch, dass es Kleriker Fritsche (=Friedrich) Closener. Dieser stand
keine einheitliche „jüdische Geschichte“ gab, zu jedoch dem Bischof nahe, der die antijüdische Stimmung
unterschiedlich waren die Bedingungen von Ort zu Ort. maßgeblich mit angefacht hatte. So erhält die zweifellos
Zum Beispiel wohnten in Köln Christ*innen im „Juden- parteiische Zeugenaussage Closeners zu Unrecht eine
viertel“ (vgl. Q3), in Frankfurt am Main benutzten historische Bedeutung von beträchtlichem Ausmaß. Ein
jüdische und christliche Einwohner*innen gemeinsame anderer Zeitgenosse, Mathias von Neuenburg, berichtet
Badehäuser bis kurz vor der Errichtung des Ghettos auch, dass die aufständischen Straßburger*innen auf
1462 (vgl. Q4), während dies z. B. in Augsburg schon das Geld aus waren (Grandaur 1899: 173–177), sieht
lange vorher verboten war. aber nicht darin den Grund für das Verbrechen, sondern
An den Konflikten, die es auch in „ruhigen Zeiten“ in der Hysterie durch die Pest am ganzen Oberrhein.
gleichwohl gab, hatte das Geldleihproblem sicher seinen Detaillierte Untersuchungen belegen, dass die Straßbur-
Anteil, doch ist dessen Stellenwert zu überprüfen. ger Patrizierfamilien mindestens ebenso im Kredit-
„Die Juden […] durften somit kein ‚ehrliches‘ Gewerbe wesen tätig waren. Nicht umsonst durfte der Bürgermeis-
ausüben […], was ihnen häufig den Hass der übrigen ter „weder von Juden noch von Christen“ Geld leihen
städtischen Bevölkerung einbrachte”, so heißt es (Schulte/Wolfram 1888: 196). Vor dem Pogrom
exemplarisch auf Planet Schule (Q12). Hier wird das kamen die Geißler*innen in die Stadt, die sich als reuige
„Unehrliche” auf die Juden projiziert, wo es doch Sünder*innen selbst auspeitschten und den
allgegenwärtig war. Es ging daher um eine grundsätzliche Straßburger*innen ihr sündiges Leben und darunter
Konkurrenzsituation im Handel, wo Jüd*innen stets den Wucher vorwarfen, den Christ*innen wohlgemerkt.
um ihre Lizenzen kämpfen mussten. Im Spätmittelalter Einer der Straßburger Bankiers wurde von einem
dominierten dann christliche Handels- und Bankkauf- mystischen Anfall ergriffen, gab alles auf und lebte fortan
leute immer mehr im Fernhandel und Kapitalgeschäft in mönchischer Buße. In der Weltuntergangsstimmung,
„Geldjuden“ – Die Grundlagen eines universellen Vorurteils vom Mittelalter bis heute 21
die bereits vor der Pest existierte, aber durch diese haben. Und genau hierin wirkt die Macht des Vorurteils
immens gesteigert wurde, reicht die „Massenpsychose wider Willen, zu dem der Aspekt des Bestätigungsirrtums
[…] als gefährliches Ferment eines präexistierenden gehört, wonach nicht falsch sein könne, was viele
Judenhasses“ (Mentgen 1995: 364, 370) zur Erklärung schreiben.
aus und es braucht nicht auf „materielle Motive“ („Geld“) Ohne eine Auseinandersetzung mit der historischen
als „wahrem Grund“ zurückgegriffen werden. Die Grundlage ist daher das Syndrom des „Geldjuden“ nicht
Ablenkung von der Idee der Strafe Gottes für die eigenen aufzulösen. Dies gilt analog auch für die späteren
Sünden auf die vermeintlich wahren Schuldigen an historischen Epochen, auf die hier nicht weiter eingegan-
der Pest war für viele eine attraktivere Lösung als die von gen werden konnte. Es gibt auch Webseiten, die dies
den Geißler*innen propagierte Selbstreinigung, zumal unternehmen: Eine seriöse Informationsquelle ist das
das Verbrechen an der jüdischen Gemeinde voraussehbar Mittelalter-Lexikon (Q14); der Jüdisch-Historische Verein
straflos bleiben würde. Nicht unterschlagen werden soll Augsburg widerlegt den Geldmythos mit konkreten
hier gleichwohl, dass sich die Täter*innen wie andernorts Fakten aus Augsburg (Q13), ferner zu nennen ist der
auch im Zuge des Pogroms an jüdischem Vermögen Arbeitskreis Jüdische Geschichte im Verband der
bereicherten, doch war dies die Folge der Ereignisse und Geschichtslehrer Deutschlands mit kommentierten
nicht deren Grund (vgl. Geiger 2012: 91–104). Quellen, auf die schon verwiesen wurde. Näheres findet
sich in den Literaturangaben.
22
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Q14: Mittelalter-Lexikon > Bankwesen
https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Bankwesen
Q15: Reichspolizeiordnung 1530. In:
https://de.wikisource.org/wiki/Römischer_Keyserlicher_
Maiestat_Ordnung_vnd_Reformation_guter_Pollicey_im_
Heyligen_Römischen_Reich
24
„NUR KOMMT HIER
EBEN NIEMAND AUF DIESE
ABSURDE IDEE.“
EIN GESPRÄCH ÜBER ANSÄTZE,
HERAUSFORDERUNGEN
UND SPANNUNGSFELDER
IN DER PÄDAGOGISCHEN
KONZEPTENTWICKLUNG
Mit Ruth Fischer, Anne Goldenbogen, Jan Harig,
Malte Holler und Caterina Zwilling
Ein Blick zurück: Welche Ideen Forschung orientiert. Aber nicht nur – auch unsere
lagen dem Projekt zugrunde? praktische Erfahrung aus der Arbeit mit Jugendlichen
und Erwachsenen war entscheidend. Gerade das Thema
Verschwörungstheorien begegnete uns hier immer wieder.
ANNE: Das Projekt knüpft an das Vorgängermodell- Das ist irgendwie auch logisch: Antisemitismus selbst
projekt an, dessen Abschluss das erste Theorie-Praxis- funktioniert ja wie eine Verschwörungstheorie.
Handbuch zur antisemitismuskritischen Bildungsarbeit
mit dem Titel „Widerspruchstoleranz“ bildete. Unser Ziel
CATERINA : In der „Widerspruchstoleranz 3“
war damals, einen pädagogischen Ansatz zur kritischen
Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu finden, der erweitern wir das thematische Spektrum noch einmal:
über eine bloße Moralerziehung hinausgeht. Dabei sind Wir haben ein Einführungsmodul entwickelt, das
wir auf das Konzept der Widerspruchstoleranz gestoßen sich niedrigschwellig der großen Frage widmet: Was ist
und haben versucht, dieses unserer Bildungsarbeit als eigentlich Antisemitismus? Und wir erarbeiteten
roten Faden zugrunde zu legen. Methoden zu der antisemitischen Vorstellung einer
besonderen Verbindung von ,den Juden‘ mit Geld. Das ist
ein wichtiges Thema, weil dieses Bild gesellschaftlich
MALTE: Mit der Reihe „Widerspruchstoleranz“ und sehr weitverbreitet und tief verwurzelt ist. Das Phantas-
auch mit allen anderen Projektaktivitäten verfolgten wir ma von Macht und Reichtum ‚der Juden‘ ist ein zentraler
immer eine mehrfache Zielrichtung: Auf der einen Seite Baustein antisemitischer Verschwörungsideologien.
Methoden für die politische Bildungsarbeit mit jungen
Menschen zu entwickeln, auf der anderen Seite
MALTE: Ursprünglich hatten wir noch zwei
Multiplikator*innen zu unterstützen – letzteres beispiels-
weise mit der Tagungsreihe „Blickwinkel“, die wir im weitere Themen auf der Liste: Medienkritik, weil wir
vorherigen Modellprojekt mitentwickelt haben, und ganz festgestellt haben, dass der Umgang mit Medien und
aktuell mit unserer Onlineplattform „Anders Denken“, die Quellen, aus denen man seine Informationen zieht,
sich speziell an pädagogische Fachkräfte richtet. immer wichtiger wird. Und Rechtspopulismus, weil
das ein dringendes aktuelles Problemfeld ist.
Welches sind die neuen Themenfelder, JAN: Insbesondere zum Verhältnis von Rechts-
populismus und Antisemitismus und den darin enthalte-
zu denen ihr gearbeitet habt?
nen Ambivalenzen hätte ich gerne gearbeitet.
Rechtspopulistische Parteien stilisieren sich ja oft als
RUTH: In der „Widerspruchstoleranz 2“ stehen die Sicherheitsgarant für Jüd*innen, während sie zeitgleich
Themenfelder israelbezogener Antisemitismus, sekundär- offene Antisemit*innen in ihren Reihen dulden. Auch
er Antisemitismus und Verschwörungsideologien im die ganzen Lügenpresse- und Fakenews-Vorwürfe sind
Mittelpunkt. Die ersten beiden Artikulationsformen sind extrem anschlussfähig an antisemitisches Gedankengut.
auch die, die laut empirischer Vorurteilsforschung die Leider hat uns in diesem Projekt dafür schlussendlich
höchsten Zustimmungswerte erhalten. Bei der Themen- die Zeit gefehlt.
auswahl haben wir uns an diesen Erkenntnissen aus der
26
Worin bestehen für euch besondere gekommen, von heterogenen Lerngruppen auszugehen.
Wir wollen keine Fremdzuschreibungen vornehmen,
Herausforderungen hinsichtlich einer
indem wir sagen: So sieht unsere Zielgruppe aus,
pädagogischen Auseinandersetzung mit deshalb sind die so und so drauf und deswegen müssen
Antisemitismus? wir auf folgende Art und Weise arbeiten. Stattdessen
wollen wir Konzepte und Methoden entwickeln, die für
CATERINA : Als größte Herausforderung empfinde viele junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergrün-
ich die didaktische Reduktion. Und zwar, weil Antisemi- den und Selbstverortungen interessant sind. Gerade
tismus als Ideologie eine falsche, aber eben sehr auch mit Blick auf die Zukunft, wo sich Identitäten noch
einfache Welterklärung ist. Und wenn man die entkräften mehr mixen werden und die Hybridität zunehmen wird.
will, dann müsste man dem eigentlich eine Erklärung
darüber entgegenstellen, wie die Gesellschaft wirklich
funktioniert – in all ihrer Komplexität. Und das ist etwas, Ihr habt nicht nur mit Jugendlichen,
das nur schwer machbar ist, ob nun mit Jugendlichen
sondern auch für und mit
oder mit Erwachsenen.
Multiplikator*innen gearbeitet.
Worauf musstet ihr hier speziell achten?
JAN: Das Verständnis der meisten Menschen ist:
Antisemitismus ist, wenn man was gegen Jüd*innen
hat. Das ist natürlich nicht falsch, aber eben nur die RUTH: Wir haben uns gefragt: Was passiert mit
offensichtlichste Komponente. Die Weltanschauung, die unseren Methoden nach der Veröffentlichung? Haben
Unfähigkeit abstrakte Prozesse zu verstehen, die die Pädagog*innen das notwendige Hintergrundwissen,
Personifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die Suche um die Konzepte selbstständig umzusetzen? Bekommen
nach konkreten Schuldigen für die eigene Misere – wir vermittelt, worauf es bei den Methoden ankommt?
all das ist sehr schwierig in einer Workshop-Situation zu Wie wird im konkreten pädagogischen Setting mit
erarbeiten, insbesondere, wenn einem nur wenige schwierigen Situationen, antisemitischen Äußerungen
Stunden zur Verfügung stehen. oder chiffrierter Sprache umgegangen? Gelingt ein erfolg-
reicher Bildungsprozess oder kommt am Ende etwas
Negatives dabei raus? Das ist generell ein Dilemma
MALTE: Daher haben wir versucht, den Fokus
unserer Arbeit. Wir wissen nie genau, von wem und in
auch auf die Mechanismen und Funktionen des antisemi- welchen Kontexten unsere Materialien eingesetzt werden.
tischen Ressentiments zu legen. Worin besteht die Deswegen war es uns auch wichtig, Fortbildungen
Attraktivität für das Individuum, sich antisemitischer zu unseren Materialien anzubieten. So konnten wir selbst
Denkmuster zu bedienen? Was haben die Menschen Räume schaffen, um über Herausforderungen in
davon, antisemitisch zu denken und zu handeln? Das hat der Bildungspraxis zu sprechen und konkrete
sich mit der Zeit als Leitmotiv unserer pädagogischen Unterstützung anzubieten.
Zugänge entwickelt. Den Blick abzuwenden von ‚den
Juden‘ und ihn stattdessen auf die Gefühlsregungen von
CATERINA : Genau deshalb sind auch dezidierte
Antisemit*innen zu lenken. Das konnten wir nicht in
jedem Einzelfall umsetzen, aber das war unser Anspruch. Fortbildungsangebote für Multiplikator*innen so
wichtig. Also nicht nur Schulungen, in denen Methoden
für die Arbeit mit Jugendlichen vorgestellt werden,
ANNE: Auch die Frage danach, wie wir eigentlich
sondern Konzepte, die sich direkt an Multiplikator*innen
unsere Zielgruppe verstehen und definieren, war und als Teilnehmende richten und Zeit und Raum bieten, sich
ist eine Herausforderung. Und zwar vor dem Hintergrund und die eigenen Positionen zu reflektieren.
einer Debatte, die es im Bereich der Pädagogik zu
Antisemitismus schon seit vielen Jahren gibt. Welche
Rolle spielt die Migrationsgesellschaft im Zusammenhang
mit Antisemitismus? Und was leitet sich daraus ab,
wenn man sagt, es muss auch die Herkunft von Perso-
nen einbezogen werden? Wir sind für uns zu dem Punkt
„Nur kommt hier eben niemand auf diese absurde Idee“ – Ein Gespräch 27
Kommen wir konkret zu den in diesem Antisemitismus instrumentalisieren, um aus ihrer
Handbuch vorgestellten Methoden: Welche Opferrolle Kapital zu schlagen. Auch das mussten wir
mitdenken.
Diskussionen habt ihr rund um das
Grundlagenmodul zum Thema „Was ist
Antisemitismus?“ geführt?
Der zweite Schwerpunkt der neuen
Methoden liegt auf der falschen Verknüp-
JAN: Wir haben sehr lange über mögliche Zugänge
diskutiert. Unser Anspruch war es, einen Überblick über
fung von Jüd*innen mit Geld und der
das Phänomen Antisemitismus zu geben. Unklar war Finanzsphäre. Habt ihr hier schnell einen
zunächst, worauf wir den Fokus legen wollen und Zugang gefunden?
inwieweit man die lange Geschichte des Antisemitismus
kennen muss, um seine Verbreitung und Funktions- MALTE : Dieser Themenkomplex hat uns eine
weise zu verstehen. Da gab es durchaus unterschiedliche Menge Kopfschmerzen bereitet. Denn die Konstruktion
Positionen, denn ein historischer Zugang birgt immer einer Affinität von Jüd*innen zum Geld und zu der
auch die Gefahr, eine Geschichte des ewigen Antisemitis- Finanzsphäre ist ein Komplex, den man nur verstandes-
mus zu erzählen. Schlussendlich haben wir uns für mäßig und abstrakt fassen kann und der einem wenig
eine Annäherung über vier Leitfragen entschieden: Wie konkrete Zugriffe erlaubt. Grundsätzlich haben wir
funktionieren Gruppenkonstruktionen und Vorurteile? über zwei verschiedene Zugänge diskutiert: Arbeiten wir
Wie hat sich Antisemitismus im Laufe der Zeit transfor- mit konkreten Einzelmotiven, etwa dem Vorurteil
miert? Wie sieht Antisemitismus für die Betroffenen aus? ,Juden sind reich‘? Oder schauen wir uns die ambivalen-
Was haben Menschen davon, antisemitisch zu denken ten Verhältnisse in unserer kapitalistischen Gesellschaft
und zu handeln? an, etwa Arbeit und Reichtum und die damit verbunde-
nen Zuschreibungen?
RUTH: Im Rahmen des Moduls arbeiten wir mit
einem Comic-Kurzfilm, der eine kleine Zeitreise durch die JAN: Aus der kritischen Sozialpsychologie wissen
Geschichte unternimmt und aufzeigt, wo die Wurzeln der wir, dass Antisemitismus viel mit der Projektion von
Judenfeindschaft in Europa liegen. Da mussten wir verdrängten Wünschen und Gefühlen zu tun hat. Auch
natürlich bestimmen, welche historischen Epochen wir am Beispiel des vermeintlich harmlosen Vorurteils ,Juden
thematisieren wollen. Wir haben uns bewusst dafür sind reich‘ wird das schnell deutlich. Wir leben in einer
entschieden, die NS-Verbrechen nicht zum zentralen Gesellschaft, die materiell geprägt ist und in der ständi-
Thema zu machen, und zwar nicht nur, weil die Darstel- ger Konkurrenzdruck herrscht. Reichtum gilt eigentlich
lung in diesem Format unpassend gewesen wäre. als etwas sehr Erstrebenswertes. Doch das kapitalisti-
Unserer Erfahrung nach wird Antisemitismus in der Regel sche Glücksversprechen erfüllt sich für die Allerwenigs-
zuerst und oft auch ausschließlich mit dem National- ten. Die meisten strampeln sich ihr Leben lang ab
sozialismus assoziiert. Daher war es uns wichtig, zu und trotzdem bleibt es immer knapp. In der antisemiti-
verdeutlichen, dass Antisemitismus in Europa eine lange schen Projektion nun wird ,den Juden‘ zugeschrieben,
Tradition besitzt und sich bestimmte Bilder über Jahrhun- reich geworden zu sein ohne eigene Mühen. Und zwar
derte erhalten haben. durch Betrug an den rechtschaffenen Schuftenden. So
erklärt man sich selbst als schuldlos am eigenen
MALTE: Wir hatten darüber hinaus auch das Scheitern und lässt gleichzeitig die gesellschaftlichen Ver-
Anliegen sichtbar zu machen, dass Antisemitismus hältnisse – inklusive des kapitalistischen Glücksverspre-
konkrete Folgen hat. Wir wollten empathische Zugänge chens – unangetastet.
schaffen, mit denen wir die Konsequenzen von Antisemi-
tismus für die Betroffenen thematisieren, ohne dass es CATERINA : Am Ende mussten wir erkennen, dass
aber auf bloßes Mitleid hinausläuft. Denn auch bei der wir für 14-Jährige keinen adäquaten Ansatz finden, um
Thematisierung von Betroffenheit gibt es Fallstricke: diese psychologischen Prozesse zu vermitteln. Deshalb
,Opfer sein‘ wird im antisemitischen Weltbild als Vorwurf haben wir uns für ein anderes Vorgehen entschieden. Wir
gefasst. Da heißt es dann schnell, Jüd*innen würden konzentrieren uns auf das konkrete Vorurteil ,Juden sind
28
reich‘, versuchen dabei aber, es in seiner Vielschichtigkeit Euer Bildungsansatz ist die Stärkung der
zu analysieren. Und zwar auf der einen Seite als Vorurteil Widerspruchstoleranz. Konntet ihr dieses
und auf der anderen Seite als Teil einer antisemitischen
Ziel in allen Methoden umsetzen?
Verschwörungsideologie.
„Nur kommt hier eben niemand auf diese absurde Idee“ – Ein Gespräch 29
AUSEINANDERSETZEN
MIT DEN GRUNDLAGEN VON
ANTISEMITISMUS
30
Was ist Antisemitismus?
Der Begriff Antisemitismus wurde 1879 zur Selbstbe- Charakteristisch für den Antisemitismus seit dem
zeichnung von deutschen Antisemit*innen geprägt. Mit ausgehenden 19. Jahrhundert ist die Identifizierung ‚der
dieser wissenschaftlich anmutenden sprachlichen Neubil- Juden‘ mit bestimmten abgelehnten und unverstandenen
dung wollte man sich von religiös motivierten Formen der Momenten der Moderne. Auf die zunehmend abstrakten
Judenfeindschaft absetzen und die eigene Ideologie als gesellschaftlichen Funktionsmechanismen wird mit der
verstandesmäßig begründete Weltanschauung präsentie- Suche nach konkret Schuldigen reagiert, die man für die
ren. Die Wortprägung ist somit Zeichen einer veränderten vermeintlichen und tatsächlichen Zumutungen der
Auffassung von ‚den Juden‘, „die nun nicht mehr primär modernen Gesellschaft verantwortlich machen kann. ‚Die
über ihre Religion definiert werden, sondern als Volk, Juden‘ werden in der antisemitischen Vorstellung als
Nation oder Rasse“ (Bergmann 2001: 37). machtvolle und untereinander verschworene Gruppe
fantasiert, die für alle politischen, sozialen, ökonomi-
Sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch im schen und kulturellen Probleme verantwortlich sein soll.
Fachdiskurs wird der Terminus heute oft auf Formen der So nimmt der moderne Antisemitismus die Qualität
Judenfeindschaft ganz unterschiedlicher historischer einer Welterklärung an. Diese welterklärende Funktion ist
Epochen bezogen. Demgegenüber steht eine – vor allem eine Spezifik des Antisemitismus, die ihn von anderen
in der Geschichtswissenschaft verbreitete – Begriffsver- Vorurteilskomplexen unterscheidet.
wendung, die zwischen dem modernen Antisemitismus,
wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete, Antisemitismus muss jedoch nicht zwangsläufig als
und älteren Formen der Judenfeindschaft unterscheidet. geschlossenes Weltbild auftreten, sondern kann
Unbestritten ist, dass ohne eine Kenntnis der jahrhunder- sich auch in Form von Fragmenten eines solchen Welt-
tealten antijüdischen Tradition eine Analyse aktueller bildes oder als Ansammlung einzelner Vorurteile
antisemitischer Phänomene nicht gelingen kann. Denn manifestieren. Zu den Kontextfeldern, in denen Antisemi-
die unterschiedlichen Formen des Ressentiments haben tismus aktuell besonders oft in Erscheinung tritt, ge-
sich im Zeitablauf nicht gegenseitig abgelöst, sondern hören die Abwehr der Erinnerung an den Nationalsozia-
vielmehr überlagert und miteinander verwoben. Dabei lismus, Israel und der Nahostkonflikt sowie verkürzte
wurden überkommene Bilder aktualisiert und in neue Kapitalismuskritik und Verschwörungstheorien.
Kontexte integriert.
Antisemitismus ist eine Ideologie, deren Wurzeln weit in In dieser historischen Analyse legen wir das Augenmerk
die europäische Geschichte zurückreichen. Als soziale auf die verschiedenen Funktionen, die Judenfeindschaft
Praxis zielt Antisemitismus auf Ausgrenzung und Ver- in unterschiedlichen Epochen für die nicht-jüdische
folgung bis hin zum Mord ab. Im Holocaust fand er einen Mehrheitsgesellschaft hatte. So wird deutlich: Antisemi-
grausamen Kulminationspunkt. Auch heute ist Anti- tismus hat nichts mit dem Tun und Lassen von
semitismus – in zum Teil ‚klassischen‘, zum Teil aktuali- Jüd*innen zu tun. Um ihn zu verstehen, muss man den
sierten Erscheinungsformen – virulent und äußert sich Motiven derjenigen nachgehen, die antisemitisch denken
zunehmend auch wieder in Form offener Diskriminierung und handeln. Ein historischer Zugang bietet hier den
und Gewalt. Wir wollen didaktische Konzepte zur Ver- Vorteil, dass Absurdität und Funktionen antijüdischer
fügung stellen, die vor allem einen niedrigschwelligen Beschuldigungen durch die zeitliche Distanz leichter
Einstieg bieten, gleichzeitig aber auch ein grundlegendes erkennbar sind. Als Beispiel sei die judenfeindliche
kritisches Verständnis des Phänomens ermöglichen. Legende der „Brunnenvergiftung“ genannt, die (anstelle
Auch, wenn Antisemitismus mehr als ein bloßes der damals unbekannten bakteriellen Infektion) als
Vorurteil ist, erscheint es uns sinnvoll, mit einer jungen Erklärung für die Pest herhalten musste. Durch die
Zielgruppe auch auf der allgemeinen Ebene von Gruppen- Vorarbeit am historischen Beispiel wird es einfacher
konstruktion, Zuschreibung, Abwertung und Diskrimi- nachzuvollziehen, dass Antisemitismus auch heute die
nierung anzusetzen und dabei strukturelle Gemeinsam- Funktion einer (Schein-)Erklärung für unverstandene
keiten mit anderen Phänomenen gruppenbezogener und beängstigende Phänomene haben kann.
Menschenfeindlichkeit aufzuzeigen. In Bezug auf das Antisemitismuskritische Bildungsarbeit soll nicht
spezifische Thema Antisemitismus beleuchten wir zudem nur beim Erkennen des Phänomens unterstützen,
wichtige ideologische Erscheinungsformen sowie die sondern auch auf der Verhaltensebene wirken. Unsere
Auswirkungen von Diskriminierung und Übergriffen auf Methoden regen darum auch zur Auseinandersetzung mit
die Lebensrealitäten jüdischer Menschen. möglichen Reaktionen auf antisemitische Vorfälle an.
In der Vorstellung vieler Jugendlicher (und Erwach- Hier kann es nicht darum gehen, dass Jugendliche
sener) ist Antisemitismus auf die NS-Zeit beschränkt. unreflektiert die sozial erwünschten Antworten herunter-
Dabei wird nicht nur die aktuelle Verbreitung des beten: Es ist uns ein Anliegen, dass die Teilnehmenden
Phänomens ignoriert, sondern auch dessen lange die Folgen von Handlungen eigenständig analysieren
Geschichte. Die Vielschichtigkeit des modernen Antisemi- und so zu reflektierten Bewertungen gelangen.
tismus wird aber nur durchschaubar, wenn der Blick
auch auf die Fülle antijüdischer Bilder gelenkt wird, die
vergangenen Epochen entstammen und in transformierter
Form neuen Kontexten eingepasst wurden. Wir untersu-
chen deshalb auch die Verwurzelung des modernen
Antisemitismus in der christlichen Judenfeindschaft.
32
Methoden für die Arbeit mit Jugendlichen ab 14 Jahren
(Sekundarstufe I)
In der Methode „Bilder im Kopf“ setzen sich die TN Alle drei Methoden können direkt nacheinander mit einer
anhand einer Rätselgeschichte kritisch mit (unbewuss- Gesamtdauer von 235 Minuten durchgeführt werden. Sie
ten) Bildern und Vorannahmen auseinander. Durch die bieten eine niedrigschwellige und visuell ansprechende
gemeinsame Analyse einer fiktiven Beispielaussage Einführung in das Thema Antisemitismus.
werden Grundstrukturen und gesellschaftliche Auswir- Selbstverständlich können die Methoden bei Bedarf
kungen von Vorurteilen erfasst. Im Rahmen eines Gallery auch einzeln umgesetzt und in andere Bildungsformate
Walk mit Quizcharakter vertiefen die TN ihre Kenntnisse integriert werden. Die erste Methode „Bilder im Kopf“ ist
im Themenfeld. Die Übung „Paare finden“ widmet als Einführung in das Thema Vorurteile/Diskriminierung
sich spezifisch dem Gegenstand Antisemitismus: Die TN mit dem Schwerpunkt Antisemitismus vielseitig einsetz-
nehmen wahr, in welchen Formen Antisemitismus bar. Gleiches gilt für die dritte Methode „Antisemitismus –
auftreten kann, und reflektieren dessen Folgen für den Was tun?“, die man als handlungsorientiertes (Ab-
Lebensalltag jüdischer Menschen. schluss-)Modul ebenfalls in ganz unterschiedlichen Kon-
In der Methode „Woher kommt Judenfeindschaft?“ texten anwenden kann. Die Methode „Woher kommt
verfolgen die TN anhand eines Comic-Kurzfilms die Judenfeindschaft?“ lässt sich dank ihres historischen
Geschichte antijüdischer Vorurteile von der Antike bis Ansatzes als Einzelmodul beispielsweise auch gut in den
zum 19. Jahrhundert und erkennen dabei Kontinuitäten, Geschichtsunterricht integrieren.
Wandlungen und Brüche. Im Rahmen einer Gruppenar- Der Durchführungsmodus der verschiedenen
beit analysieren sie – aus historischer und aktueller Übungen sollte an die jeweilige Lerngruppe angepasst
Perspektive – Funktionen von Judenfeindschaft für die werden: So sollten diskussionsfreudige Gruppen den
nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. nötigen Raum zum Austausch erhalten, während in
Im Zentrum der Methode „Antisemitismus – anderen Fällen eine straffere Moderation sinnvoll sein
Was tun?“ steht die Frage nach möglichen Reaktions- kann. Zu einzelnen Methoden sind weitere didaktische
weisen auf antisemitische Vorfälle. Die TN unter- und technische Hinweise in der Anleitung zu finden.
suchen ein breites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten Die TN benötigen für die Durchführung keine
und bewerten einzelne Verhaltensweisen, indem sie spezifischen Vorkenntnisse. Die Teamenden hingegen
deren Auswirkungen aus unterschiedlichen sollten grundlegende Kenntnisse über jüdisches Leben
Perspektiven reflektieren. und Antisemitismus aus jeweils historischer und
aktueller Perspektive besitzen.
Alle mit
ORDNER D1
versehenen Arbeitsmaterialien
stehen zum Download
bereit unter:
www.anders-denken.info/
widerspruchstoleranz3-
download
MATERIAL
Download-Ordner D1, Beamer / Smartboard, Papier, Sie glaubt, darauf ein kleines Feuerwehrlogo
Schreibstifte und Filzmarker erkannt zu haben. Befragt wird auch ein Maler,
der während des Überfalls in der Nähe des Tatorts
ZEIT gearbeitet hatte. Dieser erklärt, dass ein aus
80 Min (15 Min / 15 Min / 20 Min / 30 Min) dem Bankgebäude stürmender, maskierter Mann
einen Farbeimer umgestoßen habe. Dabei sei die
LERNZIELE Hose des Flüchtigen mit Farbe bespritzt worden.
Die TN sind dafür sensibilisiert, dass unsere Wahrneh- Zudem – so sagt der Maler weiter aus – habe er
mungen häufig von unbewussten und vorgefassten auf der dunklen Hose des Mannes helle Reflektor-
Bildern geprägt sind. Sie verstehen den Zusammenhang Streifen erkannt.
von Gruppenkonstruktionen und Zuschreibungen. Sie
wissen, dass so entstehende Vorurteile negative Auswir- Die beiden Polizisten entscheiden sich dazu, der
kungen auf Betroffene haben. Sie kennen Beispiele örtlichen Feuerwehr einen Besuch abzustatten.
antisemitischer Diskriminierungen und reflektieren deren Ihre Vermutung: Beim Täter handelt es sich um
Folgen für den Alltag jüdischer Menschen. einen Feuerwehrmann. Bei einer Durchsuchung
der Umkleideräume der Angestellten werden in
zwei Spinden Feuerwehrhosen mit Farbflecken
gefunden. Die Kommissare lassen sich die beiden
Schritt 1:
Feuerwehrleute zeigen, denen die Spinde gehören.
Rätselübung
Sofort sind sie sich sicher, dass nur eine der bei-
den Personen überhaupt als Täter infrage kommt.
Übung (10 Min)
Die TN sitzen in einem Stuhlkreis. Die Teamenden lesen
Nach dem Vorlesen der Kriminalgeschichte erhalten die
nun die folgende Rätselgeschichte über einen Kriminalfall
TN zunächst einige Minuten Zeit, um sich individuell zu
vor (
ORDNER D1) . Im Anschluss daran sollen die TN
überlegen, welches Indiz den Täter überführt haben
erraten, woran die ermittelnden Kommissare erkennen,
könnte. Ihre ersten Überlegungen, Ideen oder Fragen
welche der beiden verdächtigten Personen der Täter ist.
dazu notieren sie mit einem Schreibstift auf Papier.
34
Lösung: Schritt 2:
Die Zeug*innen sprechen übereinstimmend von einem
Impuls mit Gruppendiskussion
männlichen Täter. Da es sich bei den zwei hauptverdäch-
tigen Feuerwehrleuten um einen Mann und eine Frau
handelt, kann der Täter überführt werden. Übung (15 Min)
Die TN sitzen im Stuhlkreis mit freiem Sichtfeld vor
einer (Lein-)Wand oder einem Smartboard, worauf
Auswertung (5 Min)
nacheinander verschiedene Bilder mit Aussagen projiziert
In einem Auswertungsgespräch werden der Kriminalfall
werden ( ORDNER D1) . Merke: Einige dieser Bilder
und seine Indizienkette noch einmal kurz zusammen-
bestehen aus einer Abfolge von mehreren Folien, sodass
gefasst. Sodann diskutieren die TN gemeinsam, warum
sie sich durch mehrmaliges Weiterklicken erst allmäh-
es ihnen eventuell schwergefallen ist, auf die richtige
lich vervollständigen.
Lösung zu kommen.
Erstes Bild
Im gemeinsamen Gespräch ist herauszustellen, dass viele
Das erste Bild (Folien 1–5) beinhaltet fiktive, provokato-
Menschen, wenn von „Feuerwehrleuten“ die Rede ist,
risch formulierte Aussagen, die ein Konglomerat von
automatisch an Männer denken. Dabei fällt unter den
unterschiedlichen Vorurteilen über „Jugendliche mit den
Tisch, dass bei den Feuerwehren in Deutschland auch
Geburtsjahren 2000 bis 2020“ darstellen. Dabei sind
Zehntausende von Frauen tätig sind. Wenn aber die
die Eigenschaften, die dieser Personengruppe zugeschrie-
mögliche Existenz einer Feuerwehrfrau gar nicht erst ins
ben werden, an Vorurteile angelehnt, wie sie beispiels-
Auge gefasst wird, dann ist auch das Rätsel nur schwer
weise in rassistischen, sozialdarwinistischen, sexisti-
zu lösen.
schen, homophoben oder anderen Zusammenhängen
geäußert werden.
Das Beispiel zeigt auf, dass pauschale Verallgemeinerun-
gen sowie bestimmte Bilder und Klischees in unserer
Sprache und in unserem Denken tief verankert sind. Allzu
oft lassen wir uns von vorgefertigten Annahmen leiten,
die sich unreflektiert in unserer Vorstellungswelt festge-
setzt haben. Dies gilt für scheinbar harmlose Klischees
ebenso wie für handfeste Vorurteile.
Fragen:
• Was sagt ihr dazu? Was denkt ihr, wenn ihr
so etwas lest?
• Was wird mit solchen Aussagen eigentlich ausgedrückt,
was haben sie gemein?
Zweites Bild
Für die Fortführung des gemeinsamen Gesprächs zeigen
die Teamenden das zweite Bild (Folien 6 und 7), welches
das entworfene Szenario erweitert. Wurden die Aussagen
im ersten Bild noch von einer einzelnen Person getätigt,
so erscheint im zweiten Bild nun eine größer werdende
Gruppe von Personen. An dieser Stelle sollte auch darauf eingegangen werden,
dass zwischen weitverbreiteten Vorurteilsstrukturen
gegen soziale Gruppen einerseits und Vorurteilen auf
individueller Ebene andererseits zu differenzieren ist.
Denn: Es ist eine Sache, wenn es ein paar Leute gibt, die
sagen, dass Einzelkinder verwöhnt sind oder die ältere
Dame von nebenan findet, dass die „Jugend von heute“
verzogen ist. Es ist eine andere Sache, wenn man immer
wieder und in allen möglichen Lebensbereichen von
massiven Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung
betroffen ist.
Hinweis
36
nie solche extremen Ausmaße annehmen wie in den Auswertung (10 Min)
fiktiven Aussagen. Die Diskussion sollte sich auf die Die Übung ist beendet, wenn alle TN wieder im Stuhl-
vorliegenden Aussagen konzentrieren, mit denen kreis sitzen. Die Teamenden sammeln die Aussagekarten
beispielhaft ein aggressives Vorurteilsgebilde nachge- zu einem Stapel zusammen. Im gemeinsamen Gespräch
zeichnet wird. Wichtig ist nicht nur, dass die Zuschrei- mit den TN werden nun die Aussagen und Bewertungen
bungen gegenüber Personen „mit den Geburtsjahren noch einmal nacheinander betrachtet und aufgelöst, ob
2000 bis 2020“ eine ungerechtfertigte Pauschalisie- und warum sie zutreffen oder nicht.
rung darstellen, sondern auch, dass die Zugehörigkeit
zur genannten Gruppe hier anhand eines unveränder- Im Fokus stehen dabei jene Aussagkarten, bei denen es
lichen (!) Merkmals definiert wird. besonders polarisierende Antworttendenzen oder viele
unzutreffende Bewertungen gab. Hier bitten die Teamen-
den zunächst einzelne TN, die mit ihrer Antwort richtig
Schritt 3: Gallery Walk lagen, ihre Wahl zu begründen. Deren Erklärungen
können die Teamenden dann gegebenenfalls ergänzen.
38
Woher kommt Judenfeindschaft? Auseinandersetzen mit
den Grundlagen von Antisemitismus
ab 14 Jahren
(Sekundarstufe I)
40
Übung (40 Min) • „sich die Welt erklären (scheinbar)“
Die TN werden in vier Gruppen eingeteilt. Für jede • „Gefühl eigener Machtlosigkeit überwinden“
Gruppe wird ein eigenes Arbeitsblatt in ausreichender • „eigene Vorrechte sichern“
Anzahl an Exemplaren ausgegeben ( ORDNER D1) . Die
• „die eigene Gruppe aufwerten“
Arbeitsblätter behandeln je eine der vier im Film • „Wut auf Mächtige an Schutzlosen auslassen“
thematisierten historischen Epochen. Auf ihnen finden • „Zusammengehörigkeitsgefühl stärken“
sich ein kurzer Hintergrundtext, der zentrale Informatio- • „einfache Antworten auf komplizierte Fragen“
nen aus dem Film nochmals knapp zusammenfasst, • „sich wirtschaftliche Vorteile verschaffen“
sowie eine Aussage, die auf mögliche Motivationslagen • „Machtposition der eigenen Gruppe stärken“
für antijüdische Positionen verweist. • „sich selbst als etwas Besseres fühlen“
In einer ersten Arbeitsphase (10 Min) lesen alle Aufgabe der TN ist es nun, zu vergleichen und zu
Gruppen zunächst ihre Texte aufmerksam durch und diskutieren, ob eine (oder mehrere) der auf den Karten
bearbeiten die auf dem Arbeitsblatt formulierte vorgegebenen Funktionen oder Motivationen mit den
Aufgabe: Gemeinsam sollen sie anhand ihres jeweiligen zuvor selbst gesammelten Ideen korrespondiert (oder
historischen Beispiels darüber nachdenken, welche korrespondieren).
Funktionen antisemitische Positionierungen für die
nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft erfüllen können. Ihre Arbeitsauftrag 2:
Ideen notieren sie mit Filzmarkern auf einer oder • Vergleicht eure Ergebnisse mit den Karten. Findet ihr
mehreren Moderationskarten. eure Überlegungen wieder? Welche weiteren Karten
passen zu eurem Beispiel, und warum?
Hinweis
42
Antisemitismus – Was tun? Auseinandersetzen mit
den Grundlagen von Antisemitismus
ab 14 Jahren
(Sekundarstufe I)
Die vier Plakate sind jeweils mit der folgenden Leitfrage Im Anschluss werden alle Plakate noch einmal gemein-
beschriftet: sam betrachtet, damit sich die TN mit allen darauf
• „Wie könnte man in dieser Situation reagieren?“ notierten Antworten vertraut machen und gegebenenfalls
Verständnisfragen klären können.
Die vier Fallbeispiele wählen die Teamenden im Vorfeld
aus und fixieren sie auf je einem Plakat. Für die Auswahl
Hinweis
steht ein Sample aus insgesamt sechs Beispielen mit
Situationen zur Verfügung, die einen antisemitischen Die Teamenden bewerten die von den TN genannten
Vorfall darstellen. Die Beispiele umfassen: Handlungsoptionen nicht. Menschenverachtende
• Mobbing in der Schule, Verhaltensweisen sollten als solche benannt werden;
• den Gebrauch von „Du Jude!“ als Schimpfwort, eine eingehende Beurteilung einzelner Reaktionsmög-
• abwertende Äußerungen von Familienmitgliedern, lichkeiten erfolgt jedoch erst in der anschließenden
• die Zerstörung von Stolpersteinen, Kleingruppenarbeit.
• die Vorführung eines hetzerischen Musikvideos,
• eine Verbalattacke im Bus.
Arbeitsauftrag 2:
• Wählt zwei der auf dem Plakat notierten Reaktionswei- Offene Diskussion (15 Min)
sen aus: Welches Verhalten findet ihr besonders In einem abschließenden moderierten Gespräch reflektie-
sinnvoll? Welches Verhalten findet ihr wenig hilfreich? ren die TN noch einmal allgemein Möglichkeiten für
Sammelt auf einem Blatt Papier Argumente, mit denen solidarisches Handeln, aber auch etwaige Schwierigkeiten.
ihr eure Auswahl begründet.
Denn nicht immer reagiert man auf konkrete Vorfälle
Neben den Arbeitsauftrag hängen die Teamenden menschenfeindlichen Charakters so, wie man es eigent-
außerdem die folgenden Hilfsfragen, an denen sich die lich möchte oder es rückwirkend für richtig befunden
TN bei der Bearbeitung der Aufgabe orientieren können hätte. Die TN können hier selbstkritisch bewerten und
ORDNER D1) .
( diskutieren, ob sie persönlich die Reaktionsweise, die sie
in der Übung als die überzeugendste gewählt haben,
Fragen: auch in ihrem eigenen Alltag zeigen würden. Vielleicht
• Welche Auswirkungen hat die gewählte Handlungs- kennen sie vergleichbare Situationen, in denen sie mit
weise auf mich? ihrem Verhalten nicht ganz zufrieden waren.
• Welche Auswirkungen hat die gewählte Handlungs-
weise auf Menschen, die von Antisemitismus
betroffen sind?
44
Im Gespräch sollten auch Ängste und andere Hemmnisse
thematisiert werden, die einem couragierten Verhalten
im Wege stehen können. Darüber hinaus geht es aber
auch darum gangbare Wege aufzuzeigen, um bei
diskriminierenden Vorfällen in einem solidarischen Sinne
handlungsfähig zu sein.
Hinweis
Eine feste Komponente des modernen Antisemitismus Im Antisemitismus werden ‚die Juden’ der Zirkulations-
ist die gedankliche Verbindung von Jüd*innen mit Geld sphäre des Kapitals zugeordnet, die einseitig kritisiert
und Handel. Im antisemitischen Weltbild gelten ‚die und verdammt wird. Sie verkörpern das Geld, die Börse,
Juden’ in der Regel als geschäftstüchtig, geldgierig und das Finanzkapital, also jene zentralen Vermittlungsinstan-
geizig, als egoistisch und hintertrieben, als schmarotzend zen des Kapitalismus, die nur abstrakt zu fassen, aber
und ausbeuterisch. Auch andersherum funktioniert überall wirksam sind. Darin liegt auch der enge Zusam-
die Assoziationskette, wenn bestimmte wirtschaftliche menhang von Verschwörungsideologien und Antisemitis-
Abläufe, Handlungen oder Strukturzusammenhänge mus begründet. Denn die antisemitische Fantasie
ihrem Wesen nach als ‚jüdisch‘ betrachtet werden. schreibt den Jüd*innen weltumspannende Macht zu,
Entscheidend ist, dass hier eine Verknüpfung stattfindet, die wie das Geld universal ist, also an keinen Staat
die negative Auswüchse oder Begleiterscheinungen und keinen Boden gebunden.
der kapitalistischen Wirtschaftsweise – etwa soziale Un-
gleichheit, Finanzkrisen oder die Globalisierung des Moralisch konnotiert repräsentiert die Zirkulationssphäre
Welthandels – mit dem Attribut des ‚Jüdischen‘ markiert das Missbilligte und Abstrakte im Kapitalismus, nämlich
oder auf das angebliche Handeln ‚der Juden‘ zurückführt. einen „heimatlosen“ Universalismus, einen Individualis-
mus und Egoismus, das bloße Geschäft. Dem „raffenden“
Die behauptete Affinität von Jüd*innen zu Geld und Finanzkapital wird das idealisierte Gegenbild eines
Handel wird oft mit Verweis auf die Geschichte produktiven „schaffenden“ Kapitals gegenübergestellt.
begründet. Da die jüdische Minderheit in Europa in Dieses fungiert als Inbegriff konkreter „ehrlicher“ Arbeit,
der Vergangenheit durch Berufsverbote und andere die nicht allein dem individuellen Nutzen, sondern auch
Diskriminierungen teilweise in Geldgeschäft und Handel der Allgemeinheit diene. Eine solche ideologische
abgedrängt war, hätten sich bei Jüd*innen angeblich Formation wirkt identitätsstiftend, weil sie eine Gemein-
bestimmte Einstellungen, Verhaltensmuster und schaft schafft, eine vorgeblich moralisch integre Wir-
Traditionen festgesetzt. Diese Argumentation beruht Gruppe. Daraus ergibt sich eine hohe Anschlussfähigkeit
selbst auf einer stereotypen Wahrnehmung von an Gruppenkonstruktionen wie Volk und Nation. Aus
Jüd*innen in Geschichte und Gegenwart, und zwar antisemitischer Sicht wirken die zur Fremdgruppe
auch dann, wenn sie als wohlwollende Erklärung und erklärten Jüd*innen als Gegenprinzip, das alles Gegebe-
nicht als Vorwurf gemeint ist. ne und vorgeblich Authentische zu zersetzen droht.
48
Jugendliche ab 16 Jahren
Bei den Methoden für die Zielgruppe der Jugendlichen ab
16 Jahren haben wir uns für einen anspruchsvolleren
Zugang entschieden: Sie setzen bei einer Analyse der
Funktionsmechanismen der kapitalistischen Wirtschafts-
weise an. Denn zu den Fundamenten des modernen
Antisemitismus gehört ein in zweierlei Hinsicht falsches
Ökonomieverständnis: Zum einen personalisiert das
antisemitische Weltbild abstrakte ökonomische Mecha-
nismen und personifiziert diese in der Figur ‚des Juden‘.
Zum anderen konstruiert es einen künstlichen Gegensatz
zwischen einer „schaffenden“ und einer „raffenden“ Seite
des Kapitals, zwischen Industrie- und Finanzkapital,
wobei Letzteres als jüdisch fantasiert wird.
Die Methode „Die Lombarden-Verschwörung“ beginnt Die drei Methoden können direkt nacheinander mit einer
mit einem aktivierenden Kurzvortrag zu Merkmalen und Gesamtdauer von rund 200 Minuten durchgeführt werden.
Funktionen von Verschwörungstheorien. In der folgenden Die Methode „Die Lombarden-Verschwörung“
Gruppenarbeit entwerfen die TN fantasievolle Theorien bietet einen spielerischen Einstieg in den Komplex
über das konspirative Wirken ‚der Lombarden‘. Sie Verschwörungstheorien. Auch, wenn Antisemitismus hier
erfahren dabei, dass Spekulationen über Geld und Macht nicht explizit thematisiert wird, legt die Methode doch
zu den Grundzutaten von Verschwörungsdenken gehören. wichtige Grundlagen für eine Bearbeitung des Themas.
Anhand der selbst entworfenen Beispiele analysieren Sie kann eigenständig durchgeführt werden und eröffnet
die TN gemeinsam verschiedene Argumentationsmuster, vielerlei Möglichkeiten für eine weiterführende Arbeit
die für Verschwörungstheorien charakteristisch sind. zu (antisemitischem) Verschwörungsdenken. Dafür
In der Methode „Reichtum und Macht? – Das eignen sich etwa auch die Methoden aus dem Kapitel
Gerücht über ‚die Juden‘“ reflektieren die TN im Zuge „Auseinandersetzen mit antisemitischen Verschwörungs-
einer gemeinsamen Bildanalyse das Verhältnis von ideologien“ der Broschüre Widerspruchstoleranz 2.
Geld und Macht und untersuchen die vielschichtigen Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer
Implikationen der antisemitischen Assoziierung von Bildungsarbeit (KIgA e. V. 2017).
Jüd*innen mit Geld. Anschließend setzen sie sich an Für die Bearbeitung der Methode „Reichtum und
Thementischen mit verschiedenen Argumentationsmus- Macht? – Das Gerücht über ‚die Juden‘“, die offen
tern auseinander, die häufig zur Begründung des antisemitische Vorurteile thematisiert, ist eine gezielte
Vorurteils „Juden sind reich“ herangezogen werden, Vorarbeit und die Bereitschaft zur kritischen Refle-
und erarbeiten in einem mehrschrittigen Verfahren xion vonseiten der TN nötig. Wir empfehlen, die Methode
Gegenargumente. in Kombination mit „Die Lombarden-Verschwörung“
Im Rahmen der Methode „Antisemitismus und durchzuführen. So wird vor der Konfrontation mit
Finanzkrise“ üben die TN durch eine gemeinsame antisemitischen Theoremen eine Sensibilisierung für
Bildanalyse das Erkennen und Analysieren antisemiti- kontrafaktische Argumentationsmuster erreicht.
scher Verschwörungstheoreme. In einer abschließenden Voraussetzungsreich ist auch die Methode „Anti-
Gesprächsrunde werden die Funktionen von antisemiti- semitismus und Finanzkrise“. Als Vertiefungsmodul
schem Verschwörungsdenken reflektiert. erfordert sie gründliche Vorarbeit und spezifische Sensibi-
litäten in Bezug auf den Themenkomplex Verschwö-
rungstheorien und Antisemitismus. Diese können zum
Beispiel durch die beiden anderen hier vorgestellten
Methoden erworben werden.
Da Fragmente antisemitischer Verschwörungs-
Alle mit
ORDNER E1
versehenen Arbeitsmaterialien
mythen erfahrungsgemäß auch einer jungen Zielgruppe
stehen zum Download bekannt sind und oft große Faszination ausüben, empfeh-
bereit unter: len wir den Teamenden, sich im Vorfeld mit gängigen
www.anders-denken.info/ antisemitischen Verschwörungstheorien auseinanderzu-
widerspruchstoleranz3- setzen (z. B. „Illuminaten“, „Bilderberger“, „Protokolle der
download Weisen von Zion“, „Rothschild-Verschwörung“). So
können sie kompetent auf Nachfragen der TN eingehen.
50
Die Lombarden-Verschwörung Auseinandersetzen mit
antisemitischer Wirtschaftskritik
ab 14 Jahren
(Sekundarstufe I)
MATERIAL den geprägt ist, die uns häufig auch emotional berühren
Download-Ordner E1, Beamer / Smartboard, oder moralisch empören. Obwohl wir manches von dem,
Tafel /Pinnwand, Flipchartpapier, Filzmarker, Scheren, was in der Welt geschieht, bedauern oder sogar verur-
Klebestifte teilen mögen, scheinen sich viele Geschehnisse unserer
unmittelbaren Einflussnahme zu entziehen. Dieser
ZEIT Umstand kann traurig machen, man kann sich hilflos
110 Min (15 Min / 95 Min) fühlen oder überfordert, verwirrt oder sogar verzweifelt.
LERNZIELE Fragen:
Die TN können erklären, worin die Attraktivität von • Sind euch derartige Meldungen vertraut? Was sagen
Verschwörungstheorien besteht. Sie erkennen die sie über den Zustand unserer Welt aus?
Zuschreibung von Geld und Macht als grundlegenden • Welche Gefühle wecken solche Meldungen in euch?
Baustein von verschwörungstheoretischem Denken. Sie
wissen um den selektiven Umgang mit Fakten in Folie 2
Verschwörungsideologien und können sich kritisch mit knüpft an die zuvor thematisierten möglichen Gefühlsre-
falschen Argumenten, Verallgemeinerungen und verein- gungen wie Empörung, Desorientierung oder Ohnmacht
seitigenden Darstellungen auseinandersetzen. an. Sie versammelt beispielhaft einige Fragen, die auf die
Komplexität der Welt und ihrer Probleme verweisen.
Folie 1
enthält eine Collage aus fingierten Schlagzeilen, wie sie
fast täglich in der Presse zu lesen sind. Die Collage
verweist auf Meldungen über Krieg und Gewalt, soziales
Elend, ökologische Katastrophen und Ähnliches. Sie dient
als Gesprächsanlass für den Austausch der TN über die Im weiteren Gespräch mit den TN zeigen die Teamenden
Schattenseiten des Weltgeschehens. auf, dass schon die Beantwortung einer der aufgeworfe-
nen Fragen mühevoll sein kann. Schließlich würde dies
Die Teamenden weisen die TN zunächst darauf hin, dass eine gründliche Beschäftigung mit oft komplizierten
uns solche Meldungen im Alltag immer wieder begegnen. Zusammenhängen und teils widersprüchlichen Argumen-
Im gemeinsamen Gespräch erkennen die TN, in welchem ten erfordern.
Maß unsere Welt von sozialen und politischen Missstän-
In einer Murmelphase sollen die TN nun gemeinsam mit 1 Angelehnt an eine Idee aus den Methoden „Küchenstudio“ des
der jeweils neben ihnen sitzenden Person mindestens DGB-Bildungswerks Thüringen e. V. (Baustein zur nicht-rassistischen
drei Gründe formulieren, warum Verschwörungstheorien Bildungsarbeit, www.baustein.dgb-bwt.de) und „Verschwörungs-
theorien selbst basteln“ von BildungsBausteine e. V. (in: Bundeszentrale
so attraktiv sein können. Dazu haben sie etwa drei für politische Bildung [Hrsg.], Gekonnt handeln 01: Kritische Ausein-
Minuten Zeit. andersetzung mit Antisemitismus. 11 Aktivitäten für die schulische und
außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung,
Bonn 2016).
52
Hinweis Während der Gruppenarbeitsphase haben die TN
außerdem die Möglichkeit, bei den Teamenden eine oder
Wegen der besonderen Griffigkeit des Ausdrucks und mehrere „Fantasiekarten“ zu ziehen, die den kreativen
aufgrund der Tatsache, dass es sich bei ‚den Lombar-
Prozess unterstützen (
ORDNER E1) .
den‘ – als Mitglieder einer Verschwörung – um eine rein
fiktive Gruppe handelt, haben wir uns an dieser Stelle
ausnahmsweise für die Verwendung der männlichen Hinweis
Begriffsform entschieden (statt „Lombard*innen- Die Option, von den Teamenden eine Fantasiekarte
Verschwörung“). zu ziehen, sollte nur dann genutzt werden, wenn es
einer Gruppe wirklich an eigenen Ideen mangelt. Fällt
Um den Teamenden die Einordnung zu erleichtern, die Bewältigung der Aufgabe allzu schwer, so bieten
warum hier ‚die Lombarden‘ als Gruppe in Erscheinung die Teamenden zunächst eine, bei Bedarf auch weitere
treten und in welchen Zusammenhang sie zum Thema Fantasiekarten an.
Antisemitismus gestellt werden können, gibt es in den
Anlagen entsprechende Hintergrundinformationen Achten Sie bei der Aufteilung der Arbeitsgruppen darauf,
ORDNER E1) .
( dass die einzelnen Gruppen nicht zu groß werden.
Ist die Anzahl der TN besonders hoch, werden einzelne
Achtung! Die hier behandelten Inhalte weisen eine hohe Themenbereiche einfach doppelt besetzt.
Anknüpfungsfähigkeit an antisemitische Deutungen auf.
Im schlimmsten Fall kann dies dazu führen, dass TN im
Präsentation (20 Min)
Laufe der Übung antisemitische Bezüge vornehmen.
Überlegen Sie sich bereits im Vorfeld gründlich, wie Sie Nach Abschluss der Gruppenarbeitsphase kommen die
damit umgehen wollen, sollte es dazu kommen! TN wieder im Stuhlkreis zusammen. Bevor die gegen-
seitige Vorstellung der Ergebnisse beginnt, bestimmt
zunächst jede Arbeitsgruppe zwei Personen, die ihre
Übung (40 min)
Verschwörungstheorie präsentieren und argumentativ
Die TN bilden vier Arbeitsgruppen, die jeweils eine der untermauern sollen.
konkurrierenden IVVT-Fraktionen repräsentieren. Jede
Gruppe erhält eine eigene Materialmappe mit Arbeitsauf- Die Teamenden rufen nun erneut das Szenario einer
trag, Fakten und Bildern (
ORDNER E1) . Konferenz des Internationalen Verbandes der
Verschwörungstheoretiker*innen (IVVT) in Erinnerung,
Die in den Mappen enthaltenen Materialien beziehen auf der vier Fraktionen über die wahren Hintergründe
sich auf die Themenfelder Geld und Banken (AG 1), einer angeblichen Lombarden-Verschwörung debattieren.
Süßwaren-Industrie (AG 2), Mode-Industrie (AG 3) und Wenn jetzt die verschiedenen Arbeitsgruppen nacheinan-
globale Verflechtungen (AG 4). Die auf einem Blatt der ihre Ergebnisse präsentieren, so geht es darum
jeweils zusammenhangslos aneinandergereihten Fakten herauszufinden, welcher Erklärungsansatz die übrigen
verweisen auf unterschiedlichste, aber überprüfbare an der Konferenz Teilnehmenden am meisten über-
Tatsachen, die alle irgendwie – und sei es nur dem zeugen kann.
Namen nach – mit der Lombardei in Zusammenhang
gebracht werden können. Die beiliegenden Bilder liefern Anschließend stellen die Delegierten der Gruppen
ebenfalls mögliche Anknüpfungspunkte. nacheinander ihre Plakate und Verschwörungstheorien
vor. Die übrigen TN bilden das Konferenzpublikum.
Der Arbeitsauftrag für die Gruppen lautet, sich auf
Grundlage ihrer Materialien eine spannende und Haben alle Fraktionen ihre jeweilige Verschwörungstheo-
glaubhafte Verschwörungstheorie auszudenken. Für ihre rie vorgetragen und mit Argumenten begründet, erfolgt
fantasievolle Argumentation nutzen sie die realen Fakten eine Abstimmung. Alle TN können per Handzeichen
und Bilder, um ihre Theorie über die geheime Herrschaft wählen, welche der Theorien am überzeugendsten war
der Lombarden zu „beweisen“. Jede Gruppe gestaltet und fortan vom IVVT vertreten werden soll. Die Wahl der
zu ihrer Verschwörungstheorie ein Plakat. eigenen Verschwörungstheorie ist nicht gestattet.
54
Zusammenführung (5 Min)
Abschließend rekapitulieren Teamende und TN gemein-
sam die Ergebnisse der vorangegangenen Arbeitsschritte
und halten fest: Verschwörungstheorien fantasieren
die Existenz einer kleinen, aber mächtigen und im
Geheimen agierenden Gruppe herbei, die für Böses
verantwortlich sein soll. Solche Theorien bilden nicht die
Realität ab, sondern basieren auf unlauteren Unterstel-
lungen und Vermutungen. Wenn sich derartige Fantasien
zudem gegen eine ohnehin schon stigmatisierte Gruppe
richten, dann können bereits bestehende Vorurteile
und sogar offene Anfeindungen eine vermeintliche Recht-
fertigung finden.
56
wohlmeinend hält, bleiben sie nicht folgenlos. Denn und Geld häufig miteinander verflochten sind und die
jedes Vorurteil schreibt Menschen auf eine bestimmte antisemitische Behauptung „Jüd*innen sind reich“
Rolle fest und nimmt ihnen dadurch die Möglichkeit zur nicht nur als alleinstehendes Vorurteil existiert, sondern
freien Entfaltung. Auch hinter vermeintlich gutartigen auch Baustein einer antisemitischen Verschwörungs-
Vorurteilen verbergen sich oft negative Zuschreibungen. theorie sein kann.
58
Zusammenführung (5 Min)
In einem abschließenden Gespräch tragen Teamende
und TN die Ergebnisse von Bildanalyse und Argumenta-
tionsübung zusammen. Gemeinsam halten sie fest,
dass Vorstellungen über eine angebliche Verbindung von
Jüd*innen mit Geld, Reichtum und Macht weitverbreitet
sind, aber auf purer Fantasie beruhen. Zur Begründung
solcher Vorurteile werden häufig „Argumente“ herangezo-
gen, die auf den ersten Blick sogar plausibel erscheinen
können. Bei näherem Hinsehen lässt sich aber feststellen,
dass sie auf falschen Folgerungen, unzulässigen Verallge-
meinerungen sowie vereinseitigenden oder kontrafakti-
schen Behauptungen basieren.
Hinweis
60
Sollten die Licht- und Sichtverhältnisse im Raum für • Was wird durch den Schriftzug „Rothschildbank“
das gemeinsame Betrachten der projizierten Abbildung unterstellt?
unvorteilhaft sein, so können Sie die Grafik auch • Was will der Zeichner mit dieser Grafik ausdrücken?
mehrfach ausdrucken und direkt an die TN ausgeben.
Sammeln Sie die Bilder nach der Übung wieder ein! Im dritten Schritt der Bildbetrachtung (Einordnung)
arbeiten die TN den antisemitischen Gehalt der Grafik
Die ausführliche Analyse der Grafik folgt einem Drei- heraus. Die Anspielung auf ein von einer jüdischen
schritt aus Beschreibung, Deutung und Einordnung des Familie gegründetes Bankhaus bedient die Fantasie von
Dargestellten anhand von Leitfragen. angeblicher ‚jüdischer‘ Geldgier und rücksichtslosen ‚jüdi-
schen‘ Machenschaften. Durch die damit verbundene
Im ersten Schritt (Beschreibung) geben die TN zunächst Zuschreibung nahezu grenzenloser Macht erscheinen
die einzelnen Bildelemente wieder. Dabei beschränken Jüd*innen als diejenigen, die eigentlich hinter aktuellen
sie sich auf eine möglichst sachliche Schilderung Krisenerscheinungen stehen und mit bösen Absichten im
und nehmen noch keine weitere Interpretation vor. Zu Geheimen die Strippen ziehen. Mit der Realität hat eine
sehen ist eine Karte der Europäischen Union. Links solche Vorstellung nicht das Geringste zu tun: Es handelt
davon befindet sich eine gelbe, kreisförmige Figur mit sich um eine antisemitische Verschwörungsfantasie.
spitzen Zähnen, die an das Spiel „Pac-Man“ erinnert.
Durch die Dopplung der Zahnreihe wird eine Schnapp- Fragen:
bewegung suggeriert. Auf der kreisförmigen Figur sind ein • Durch welche Symbolik werden Jüd*innen hier
Euro-Zeichen und Sterne abgebildet, wodurch sie auch dargestellt?
als symbolische Darstellung einer Euromünze betrachtet • Warum lässt sich die Grafik als judenfeindlich
werden kann. Hinter der Figur befindet sich ein gelber charakterisieren?
Schweif, in dem weitere Euro-Zeichen sowie der Schrift- • Inwiefern kann diese Darstellung als Ausdruck
zug „Rothschildbank“ zu erkennen sind. einer Verschwörungstheorie gedeutet werden?
Zusammenführung (5 Min)
Die Teamenden fassen die zentralen Ergebnisse und
Erkenntnisse nochmals kursorisch zusammen. Dabei
heben sie erneut hervor, dass die Vorstellung einer beson-
deren Affinität von Jüd*innen zu Geld ein zwar weit-
verbreitetes, aber haltloses antisemitisches Vorurteil ist.
Wer jedoch an die falsche Gleichsetzung von Jüd*innen
und Geld glaubt, ist auch empfänglich für abenteuerliche
Fantasien über ‚jüdische‘ Macht. Denn tatsächlich
beeinflussen ja das Geld oder wirtschaftliche Interessen
und Profitbestrebungen viele Bereiche unseres Lebens –
aber eben nicht ‚die Juden‘.
62
Methoden für die Arbeit mit Jugendlichen ab 16 Jahren
(Sekundarstufe II)
Im Mittelpunkt der Methode „Die verbrannte Leiche Die vorliegenden Methoden können mit einer Gesamt-
von Ocarina Island“ steht die Frage nach dem Entschei- dauer von 270 Minuten hintereinander durchgeführt
dungsspielraum des Einzelnen im kapitalistischen werden.
Wirtschaftssystem. Anhand eines fiktiven Kriminalfalls, Die Methoden „Die verbrannte Leiche von Ocarina
den die TN selbstständig lösen, wird die für unsere Island“ und „Fabriken, Banken, Börsen – Wie unsere
Produktionsweise typische Kluft zwischen moralischen Wirtschaft funktioniert“, in denen Antisemitismus (noch)
Ansprüchen und ökonomischen Zwängen verdeutlicht. Im nicht explizit thematisiert wird, können problemlos
Abschlussgespräch übertragen die TN die am Beispiel auch einzeln eingesetzt werden, zum Beispiel im
der Kriminalgeschichte gewonnenen Einsichten auf Ethik- oder Wirtschaftsunterricht. Die Methode „Antise-
unsere Gesellschaft und erkennen die Unzulänglichkeit mitische Wirtschaftskritik“ verlangt dagegen eine
einseitig personalisierender Schuldzuschreibungen in umsichtige Vorbereitung. Wir empfehlen sie in Kombina-
der Wirtschaftskritik. tion mit den ersten beiden Methoden durchzuführen,
In der Methode „Fabriken, Banken, Börsen – da diese unverzichtbare Grundlagen für die Kritik an
Wie unsere Wirtschaft funktioniert“ erarbeiten sich die einer antisemitischen Deutung wirtschaftlicher Zusam-
TN durch das gemeinsame Erstellen eines Produktions- menhänge liefern.
kreislaufes einen Überblick über grundlegende Zusam- Die Teamenden sollten über ökonomische Grund-
menhänge unseres Wirtschaftssystems. Dabei begreifen kenntnisse verfügen und mit den elementaren Funktions-
sie die Finanzsphäre als integralen Bestandteil der weisen des Banken- und Börsensektors vertraut sein.
modernen (kapitalistischen) Ökonomie. Im Rahmen der So können sie auf Nachfragen der TN zu den – in den
Analyse zweier Bilder erfassen die TN, dass eine vorliegenden Materialien vereinfacht dargestellten – wirt-
einseitige Dämonisierung der Finanzsphäre Ausdruck schaftlichen Prozessen adäquat antworten. Angesichts
eines Fehlverständnisses der kapitalistischen Wirtschafts- ihrer komplexen Thematik sind die Methoden für
weise ist. leistungsstärkere Lerngruppen geeignet. Sie können auch
In der Methode „Antisemitische Wirtschafts- in der Erwachsenenbildung sinnvoll eingesetzt werden.
kritik“ setzen sich die TN im Rahmen einer Textarbeit
zum historischen Beispiel der Gründerkrise mit
antisemitischen Fehldeutungen von Wirtschaftskrisen
auseinander. Anhand der Analyse einer antisemi-
tischen Illustration aus der NS-Zeit begreifen sie, dass
die Personalisierung ökonomischer Prozesse sowie
die einseitige Dämonisierung der Finanzsphäre typische Alle mit
ORDNER E2
versehenen Arbeitsmaterialien
Bestandteile einer antisemitischen Weltdeutung sind.
stehen zum Download
Abschließend diskutieren sie auf der Grundlage eines bereit unter:
Zitate-Barometers ihre persönlichen Haltungen zu
www.anders-denken.info/
möglichen (nicht-antisemitischen) Kritikpunkten an
widerspruchstoleranz3-
der kapitalistischen Wirtschaftsweise. download
MATERIAL
Download-Ordner E2, Flipchartpapier, Filzmarker, Als nach einem Mordanschlag ein verbrannter
Ampelkarten Leichnam entdeckt wird, ist zunächst unklar, ob
es sich um Martin oder Lena handelt. Wer ist das
ZEIT Opfer? Wer hat die Mordtat begangen, und warum?
85 Min
Im Anschluss an die gemeinsame Lektüre weisen die
LERNZIELE
Teamenden darauf hin, dass die ermittelnde Polizei
Die TN wissen, dass ökonomisches Handeln nicht bereits Zeug*innen befragt und deren Aussagen protokol-
primär durch Charaktereigenschaften Einzelner, sondern liert habe. Die Polizeiprotokolle, mit deren Hilfe der
durch gesellschaftliche Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten Fall gelöst werden kann, sollen nun in Gruppenarbeit
und Zwänge bedingt ist. Sie sind sich bewusst, dass alle aufmerksam gelesen und ausgewertet werden.
Akteur*innen den Bedingungen von Konkurrenz und
Profitorientierung unterliegen und diese oftmals in Wider- Hierfür bilden die TN zunächst mehrere, möglichst gleich
spruch zum Anspruch sozialer Gerechtigkeit stehen. große Arbeitsgruppen (jeweils max. sechs Personen).
Sie verstehen, dass eine personalisierende Kritik an den Jede Gruppe erhält einen Satz Polizeiprotokolle mit
gesellschaftlichen Verhältnissen zu kurz greift.
Arbeitsauftrag ( ORDNER E2) , einen Bogen Flipchart-
papier und einen Filzmarker. Aufgabe ist es, auf Grund-
lage der polizeilichen Aussagenprotokolle herauszufinden,
Gruppenarbeit wie der Fall zu lösen ist. Ihre Ergebnisse halten sie
auf dem Plakat fest, indem sie dort Opfer, Täter*in und
Übung (45 Min) mögliche Tatmotive benennen.
64
Falls keine der Gruppen Martin und Lena als ein und
dieselbe Person bzw. als Opfer erkannt hat, wird diese
Doppelidentität durch gezieltes Nachfragen enttarnt.
Fragen:
• Ist euch bei Martin und Lena etwas aufgefallen?
• Warum waren Sachen von beiden in einem Zimmer?
• Warum waren Martin und Lena nie gleichzeitig
an einem Ort?
Hinweis
Doppelfigur Martin/Lena zu. Gemeinsam analysieren sie, Auswertung und Zusammenführung der Übung beson-
was die beiden Seiten der Figur eigentlich repräsen- dere Bedeutung zukommen, weil erst darin die eigent-
tieren: Während Martin für das Menschliche und Solida- lichen Lernziele deutlich werden. Deshalb empfiehlt
rische steht, verkörpert Lena das Egoistische und es sich, bereits im Verlauf der Auswertung wesentliche
Ökonomisch-Rationale. Die zwei Facetten verweisen Ergebnisse und Erkenntnisse stichpunktartig an Tafel
auf die Unvereinbarkeit von moralischem Verhalten und oder Flipchart festzuhalten.
marktwirtschaftlichen Zwängen. Es wird darin deutlich,
dass individuelles Handeln in kapitalistischen Wirt- Zusammenführung (5 Min)
schaftsprozessen nicht allein vom persönlichen Wollen
Die Teamenden tragen die Ergebnisse der Auswertung
bestimmt wird, sondern zugleich wirkmächtigen Gesetz-
noch einmal systematisch zusammen, indem sie
mäßigkeiten wie dem Konkurrenzprinzip unterworfen ist.
insbesondere das Problem einseitiger Personalisierung
herausarbeiten. Dabei stellen sie dar, dass ökonomisches
Fragen:
Handeln nicht in erster Linie durch Charaktereigen-
• Warum hat sich Martin ein anderes Ich ausgedacht?
schaften Einzelner (z. B. „böser Manager“), sondern vor
• Wofür steht Martin? („Gerechtigkeitsprinzip“)
allem durch gesellschaftliche Prinzipien (z. B. Konkur-
• Wofür steht Lena? („Ökonomische Gesetzmäßigkeiten
renz) bedingt ist. So zeigt auch die Figur Martin / Lena in
und Zwänge“)
der Kriminalgeschichte: Wer seine wirtschaftliche
• Kennt ihr das aus dem eigenen Alltag: eher an euch
Existenz sichern und ein Unternehmen langfristig halten
selbst zu denken als an andere? Habt ihr schon mal
möchte, muss sich ökonomischen Gesetzmäßigkeiten
lieber euch selbst etwas Gutes getan, statt mit
fügen und gewisse Anforderungen erfüllen (z. B.
Freund*innen zu teilen?
Profitorientierung). Weil diese Prinzipien den Handlungs-
rahmen aller Akteur*innen bestimmen, greift eine
Als Nächstes befassen sich Teamende und TN mit der
personalisierende Kritik zu kurz.
Figur Thomas, also dem Täter: Er wollte Lena ermorden,
weil er in ihr die eigentliche Ursache für seinen berufli-
Auch wenn Moral und ethisches Verhalten keines-
chen Abstieg und die Verschlechterung seiner sozialen
wegs bedeutungslos sind, so stehen die Funktions-
Lage sah. In der gemeinsamen Analyse arbeiten die TN
mechanismen und Zwänge der kapitalistischen
heraus, dass Thomas – gemäß den kapitalistischen
Wirtschaft doch in einem Widerspruch zum Wunsch
Prinzipien – wohl in jedem Fall finanzielle Einbußen hätte
nach sozialer Gerechtigkeit.
hinnehmen müssen oder dem wirtschaftlichen Ruin des
Hotels zum Opfer gefallen wäre. Für seine Situation
macht er jedoch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse
und wirtschaftliche Funktionsmechanismen verantwort-
lich. Stattdessen greift er Lena als Person an. Thomas
deutet also ökonomische Prozesse primär als ein Resultat
von Charaktereigenschaften.
66
Fabriken, Banken, Börsen – Auseinandersetzen mit
antisemitischer Wirtschaftskritik
ab 16 Jahren
(Sekundarstufe II)
Wie unsere Wirtschaft funktioniert
Übung (25 Min) Haben alle Gruppen ihre Begriffe untergebracht, ist der
Die TN sitzen im Stuhlkreis mit freiem Sichtfeld auf Produktionskreislauf geschlossen und das Schaubild 1
eine Tafel oder große Pinnwand. Die Teamenden teilen vollendet.
zwölf laminierte Blätter aus, die jeweils beidseitig
farbig bedruckt sind: Auf der Vorderseite steht ein Begriff
mit Bild, auf der Rückseite eine kurze Erklärung. Je
zwei bis drei TN teilen sich ein Blatt. Diese Begriffsblätter
bilden die Grundlage für den nun gemeinsam zu
erstellenden Produktionskreislauf (Schaubild 1)
ORDNER E2) .
(
68
Auswertung (10 Min) Kredite abgeschrieben werden müssten. Des Weiteren
Ist die Ergänzung des Produktionskreislaufs um Bank und ist die Bank im Wesentlichen ein Unternehmen wie
Kreditverkehr abgeschlossen und damit das Schaubild 1 jedes andere auch. Um langfristig überleben zu können,
vervollständigt, wenden sich Teamende und TN den muss es Profite erzielen – einerseits, um seine Aus-
wechselseitigen Abhängigkeiten der Produktions- und gaben zu decken (Lohn- und Materialkosten), anderer-
Finanzsphäre zu. Um die gegenseitige Angewiesenheit seits, um einen Gewinn zu erzielen, der das Weiter-
beider Sphären aufeinander zu verdeutlichen, diskutieren bestehen sichert und die Existenz des Unternehmens
die TN hierbei, welche Folgen es haben könnte, wenn überhaupt legitimiert.
einzelne der aufgezeigten Verbindungen ausblieben.
Frage:
In einer ersten Gesprächsrunde überlegen die TN, zu • Was bedeutet es für die Bank, wenn Kredite nicht
welchen Konsequenzen der Wegfall von Banken und mehr zurückgezahlt werden könnten bzw. die Bank
Investitionskrediten für ein Unternehmen führen würde. keine Zinsen für die Kredite bekäme?
Dabei arbeiten sie heraus: Unternehmer*innen hätten
kaum noch Zugriff auf Fremdkapital. Dies könnte für Zusammenführung (5 Min)
einen Großteil der Unternehmen gravierende Folgen Mit Blick auf die diskutierten Beispiele fassen die
haben. Besonders kostenintensive Vorhaben könnten Teamenden nochmals zusammen, dass zwischen
nicht finanziert werden (z. B. der Ausbau eines Schienen- Produktions- und Finanzsphäre Abhängigkeiten und
netzes bei Eisenbahngesellschaften, die Erforschung Wechselwirkungen bestehen, also beide aufeinander
neuer Medikamente bei Pharmaunternehmen oder die angewiesen sind. Darüber hinaus gibt es aber auch
Expansion in neue Märkte). Auch wäre die Aufrechter- strukturelle Gemeinsamkeiten, denn in beiden Sphären
haltung der bestehenden Produktion möglicherweise handeln Akteur*innen profitorientiert und spekulieren
nicht mehr zu gewährleisten (z. B. wenn das Unterneh- auf Gewinne (was zugleich mit gewissen Risiken
men nicht über ausreichendes Eigenkapital verfügt, verbunden ist). So ist der Zweck von Unternehmen nicht
um Arbeiter, Maschinen und Rohstoffe einzukaufen). das Wohl der Menschheit, sondern Produkte mit
Profit zu verkaufen. Der Zweck von Banken ist nicht,
Frage: bedürftige Unternehmen mit Kapital zu versorgen,
• Welche Konsequenzen hätte es für ein Unternehmen, sondern Gewinne zu erzielen. Weil alle Beteiligten den
wenn es keine Banken mehr gäbe oder Investitions- Bedingungen der Konkurrenz unterliegen, müssen
kredite ausblieben? sie sich entsprechend anpassen, um ihr ökonomisches
Überleben sicherzustellen.
In der zweiten Gesprächsrunde denken die TN darüber
nach, welche Folgen für die Bank der Wegfall von Vor dem Hintergrund von wechselseitiger Abhängigkeit
Spareinlagen hätte. Im Zuge des Gedankenspiels wird und Strukturanalogien ist es zu kurz gegriffen, zwischen
deutlich: Banken sind maßgeblich auch auf die Spar- einer den Menschen dienlichen Produktion und einer
bucheinlagen ihrer Kund*innen angewiesen. Wenn diese nur am Profit orientierten Kreditwirtschaft zu unterschei-
Einlagen in größerem Umfang abgezogen würden, hätte den. Trotzdem wird Kritik an den ökonomischen Verhält-
die Bank nicht nur weniger Geld für die Kreditvergabe nissen häufig so formuliert, dass sie sich einseitig gegen
zur Verfügung, sondern könnte – je nachdem, wie viele das Geld- und Bankensystem, also die Finanzsphäre
Kredite die Bank durch die Spareinlagen finanziert hat – richtet. Exemplarisch soll das in der folgenden Analyse
auch in ihrer Existenz bedroht sein. einer Bilddarstellung aufgezeigt werden.
Frage:
Bildanalyse (10 Min)
• Welche Folgen hat es für die Bank, wenn es die
Sparbucheinlagen nicht mehr gäbe? Die TN sitzen mit freier Sicht auf (Lein-)Wand oder
Smartboard, worauf die Teamenden ein Bild projizieren,
Die dritte und letzte Runde des Gesprächs behandelt die das die Abhängigkeit einer Person von Banken und
Frage nach den Folgen für die Bank, wenn Kreditrück- Zinsen unterstellt (
ORDNER E2) . Die gemeinsame Bild-
zahlungen oder Zinseinnahmen ausblieben. Hierbei analyse wird in einem moderierten Gespräch vorge-
erschließen sich die TN: Dieses Szenario würde die Bank nommen und folgt einem Dreischritt aus Beschreibung,
vor existentielle Probleme stellen, da entsprechende Deutung und Einordnung des Dargestellten anhand
von Leitfragen.
70
Schritt 3: Input zu Börse und Kursbildung Dabei gehen sie etappenweise vor: Sie platzieren
(mit Bildanalyse) zunächst die Begriffe „Unternehmer*innen“ und „Bank“;
mit farbigen Pfeilen machen sie deren Geschäftsbezie-
hung (Aktien gegen Kapital) deutlich. Als Nächstes
Geleitetes Gespräch (20 Min) platzieren sie die Begriffe „Privatperson“ sowie „andere
Für ein tiefergehendes Verständnis der Mechanismen Unternehmen“ und illustrieren deren Handel mit der
der Finanzmärkte lernen die TN in einem letzten Bank (Aktien gegen Gewinnbeteiligung). Abschließend
Schritt die zentrale Bedeutung der Börse für die kapitalis- platzieren sie den Begriff „Börse“, an der die Aktien
tische Wirtschaft sowie die Grundlagen der Aktien- gehandelt werden können.
kursbildung kennen.
Frage:
• Welche weiteren Möglichkeiten außer der Bank gibt
es für Unternehmer*innen, an Kapital zu gelangen? Sind die groben Abläufe des Aktienhandels in Form des
• Was wisst ihr über die Börse und ihre Funktion? Schaubilds 2 nachvollziehbar aufgezeigt, richtet sich
die Aufmerksamkeit auf die Kursbildung an der Börse,
Nachdem die TN erstes Vorwissen zusammengetragen um die Mechanismen von Kursschwankungen verständ-
haben, geben die Teamenden einen kurzen orientieren- lich zu machen. Dazu zeigen die Teamenden eine
den Überblick zu Geschichte und Funktion der Börse, digitale Präsentation (
ORDNER E2) , die sie an (Lein-)
der in etwa diesem Muster folgen kann: Wand oder Smartboard projizieren.
„1602 erfolgte die Gründung einer ‚Ostindischen Handels- Anhand dieser erläutern die Teamenden, dass die
Kompanie‘. Holländische Kaufleute suchten damals Unternehmensanteile (Aktien) an der Börse gehandelt
Investor*innen, die ihre riskanten Handelsreisen finanzie- werden. Dort treffen sich zwei Parteien: Den
ren sollten. Investierende konnten Anteile am Unter- Käufer*innen, die von steigenden Gewinnen des Unter-
nehmen kaufen und wurden an den Gewinnen beteiligt. nehmens ausgehen, stehen Verkäufer*innen gegenüber,
Die erste Aktie war geboren. Auch heute bietet die die pessimistischer gestimmt sind. Je nachdem, welche
Börse einen Rahmen für Unternehmer*innen, die Gelder der beiden Parteien stärker vertreten ist, steigt oder
für ihre kostenintensiven Vorhaben einsammeln wollen. fällt der Kurs. Dem Kurs einer Aktie ist prinzipiell keine
Dafür geben sie bei ihrem Börsengang über Banken Grenze gesetzt. Welche irrationalen Entwicklungen
Aktien aus, die Anteile am Unternehmen darstellen. Aktienkurse nehmen können, zeigen immer wieder auf-
Unterschiedlichste Investor*innen aus aller Welt werden tretende Spekulationsblasen, in denen Aktien inner-
Teilhabende am Unternehmen und haben damit An- halb kürzester Zeit in ungeahnte Höhen schießen, um
spruch auf Gewinnbeteiligungen oder die Hoffnung auf relativ schnell wieder zusammenzubrechen.
steigende Kurse. Eine Garantie gibt es dafür aller-
dings nicht.“
Hinweis
72
Fragen:
Hinweis
• Welche Botschaft vermittelt das Bild?
Gegenstand der Bildanalyse ist ein Ausschnitt aus dem • Wie werden der Finanzkapitalismus bzw. die
Cover des Magazins „Wirtschaftspolitik“ der Dienstleis- Finanzsphäre hier beschrieben, wenn sie durch den
tungsgewerkschaft ver.di (Oktober 2007). Weitere Heuschreckenschwarm symbolisiert werden?
Hintergrundinformationen zur sogenannten „Heuschre- • Für welche Akteur*innen könnten die Heuschrecken
cken-Debatte“ finden Teamende in einer Anlage stehen und warum?
ORDNER E2) .
( • Wenn mit den Heuschrecken Finanzinvestor*innen
gemeint sind, welche Eigenschaften werden ihnen
Im ersten Schritt (Beschreibung) nennen die TN die durch diese Bebilderung zugesprochen?
einzelnen Bildelemente, ohne diese schon ausführlicher • Wie bewertet ihr die Aussage der Abbildung? Ist so
zu interpretieren. Sie erkennen einen heranfliegenden eine Darstellung hinsichtlich der zuvor erarbeiteten
Schwarm Heuschrecken und den darüber stehenden Verknüpfung von Produktions- und Finanzsphäre
Schriftzug „Finanzkapitalismus – Geldgier in Reinkultur!“. richtig und haltbar?
Im Zuge dessen sollte auf den Begriff Finanzkapitalismus
eingegangen werden, der einen übermäßigen Einfluss
Zusammenführung (5 Min)
der Finanzsphäre postuliert.
Die Teamenden bündeln noch einmal wichtige Erkennt-
Frage: nisse aus der Übung. Sie halten fest, dass zwischen
• Wer möchte das Bild beschreiben? Was ist darauf Produktions- und Finanzsphäre vielfältige Beziehungen,
zu erkennen? Abhängigkeiten und Wechselwirkungen bestehen.
• Was könnte der Begriff „Finanzkapitalismus“ bedeuten? Deshalb stellen sie keinen Antagonismus dar, sondern
beide sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Im
Im zweiten Schritt (Deutung) stellen die TN fest, dass die kapitalistischen Wirtschaftssystem erfüllen Banken und
Heuschrecken den Finanzkapitalismus symbolisieren Börsen notwendige Funktionen.
sollen und dieser mit rücksichtsloser Geldgier gleichge-
setzt wird. Weil große Heuschreckenschwärme immer Aus diesem Grund ist die Unterscheidung zwischen
wieder Ernten und damit die Lebensgrundlage von einem produktiven Kapital, das als „gut“ und „nützlich“
Menschen vernichten, gelten sie weithin als Symbol einer erscheint, und einem spekulativen Kapital, das „schlecht“
Plage. Die Darstellung des gewaltigen Schwarms und „ausbeuterisch“ wirkt, abzulehnen. Die einseitige
verweist also auf ein äußerst bedrohliches Szenario. Dämonisierung der Finanzsphäre übergeht die Tatsache,
dass das grundlegende Prinzip des Kapitalismus (auch in
Fragen: der Produktion) eben darin besteht, möglichst maximale
• Was sollen die Heuschrecken symbolisieren? Gewinne zu erzielen.
• Was wisst ihr über Heuschrecken? Welche Eigenschaf-
ten haben sie und wofür stehen sie im Allgemeinen? Wer allein einzelne Akteur*innen für – zweifellos
vorhandene – negative Auswüchse des Kapitalismus
Im dritten Schritt (Einordnung) interpretieren die TN verantwortlich macht, übersieht, dass alle Beteiligten den
die Abbildung vor dem Hintergrund der zuvor erarbeite- Bedingungen des Marktes und der Konkurrenz unterlie-
ten Inhalte. Sie stellen fest, dass dem Finanzkapital gen. Natürlich kann man das Verhalten Einzelner,
durch dessen Darstellung als Heuschreckenschwarm ein ungleiche Reichtumsverteilung und damit verbundene
parasitäres Dasein unterstellt wird. Setzt man die Machtstrukturen kritisieren oder aus ethischen Gründen
Heuschrecken mit Finanzinvestor*innen gleich, so verurteilen. Eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhält-
erscheinen diese als raffgierige Schädlinge, die nicht an nissen sollte sich jedoch nicht an vermeintlichen
den Menschen, sondern nur am Profit interessiert Charaktereigenschaften wie Geldgier, sondern an
sind. Wie ein bedrohlicher Schwarm scheinen sie über sachlichen Zusammenhängen orientieren und sich
produktive Unternehmen und Märkte rücksichtslos objektiver Interessenlagen bewusst sein.
herzufallen und diese kahl zu fressen, um dann weiterzu-
ziehen. In der tiefergehenden Bildsprache erscheint also
die Finanzsphäre als Ungeziefer, das sich durch die
Wirtschaft/Produktion ernährt und sie dabei vernichtet.
74
Reichsgründung, die durch Entschädigungszahlungen Hinweis
aus Frankreich zusätzlich befördert wurde, hatte einen
enormen wirtschaftlichen Aufschwung hervorgebracht. Bei der Auswertung des Textes „Die Gründerkrise“ ist
Es entstand ein Überangebot an Waren, dem keine es wichtig, die sachlich und historisch falsche Verknüp-
ausreichende Nachfrage gegenüberstand. Breite Teile der fung von ‚den Juden‘ mit dem Geld- und Kreditwesen
Bevölkerung verfielen einem Spekulationsfieber, das zu sorgfältig herauszuarbeiten. Die Teamenden sollten sich
einer maßlosen Überbewertung der Aktienkurse führte. darüber im Klaren sein, dass sie es hier zunächst mit
Fallende Kurse waren daher nur eine Frage der Zeit. Die einem Vorurteil zu tun haben, das allzu oft leichtfertig
Industrialisierung hatte zu einer Veränderung der bis- „historisch begründet“ wird und dadurch auch plausibel
herigen Gesellschaftsordnung geführt (z. B. Auflösung der erscheint. Eine kritische Betrachtung dieser stereotypen
Zünfte). Armut und Landflucht waren einige der negati- gedanklichen Verbindung bietet der Beitrag „Geldjuden“
ven Konsequenzen. von Wolfgang Geiger in diesem Band, der den Teamen-
den zur Vorbereitung empfohlen wird.
Fragen:
• Wie ist es zum Gründerboom gekommen?
• Was hat die Krise ausgelöst? Schritt 2: Bildanalyse
• Welche Auswirkungen hatte die Industrialisierung auf
die Gesellschaft? Bildanalyse (20 Min)
Die TN sitzen mit freier Sicht auf (Lein-)Wand oder
Die zweite Gesprächsrunde widmet sich dem verkürzten
Smartboard, worauf ein Bild projiziert werden kann. Die
Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge und
anschließende Bildanalyse nehmen alle gemeinsam in
der Sündenbockfunktion von Jüd*innen: Die Börse
einem moderierten Gespräch vor.
erschien den erfolglos Spekulierenden, aber auch vielen
anderen Menschen als ursächlich für die Krise der
Zunächst jedoch kündigen die Teamenden einleitend die
Realwirtschaft und damit auch für ihre eigene missliche
bevorstehende Arbeit mit einer antisemitischen Bild-
Lage. Aus Unverständnis gegenüber den Mechanismen
darstellung an. Sie erklären, dass die Illustration einem
der Börse begannen viele nach konkreten Schuldigen zu
Unterrichtsmaterial aus der NS-Zeit entnommen und
suchen. Das fehlende Verständnis der ökonomischen
als Propaganda zu betrachten ist. Weil das Bild mit
Prozesse im Allgemeinen und der Börse im Besonderen
entwürdigenden rassistischen Darstellungen arbeitet, ist
beförderte eine personalisierende Sichtweise. Aus der
das Gesicht einer Figur unkenntlich gemacht worden.
Sicht der christlichen Mehrheit bot es sich an, eine
(religiöse) Minderheit wie die Jüd*innen verantwortlich
Erst danach werfen die Teamenden das Bild ( ORDNER
zu machen, weil dies für sie selbst als Angehörige
E2) an die Wand. Die ausführliche Analyse folgt einem
der Mehrheitsgesellschaft zugleich eine entlastende
Dreischritt aus Beschreibung, Deutung und Einordnung
Funktion hatte.
des Dargestellten anhand von Leitfragen.
Fragen:
• Welches Bild von der Börse hatten diejenigen, die sich
betrogen fühlten?
• Warum wurden Jüd*innen bzw. Menschen, die als
‚jüdisch‘ bezeichnet wurden, für die Krise verantwort-
lich gemacht?
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Die hier zu analysierende Illustration „Der Deutsche eine vorbereitete Aussagekarte ( ORDNER E2) zugewie-
schafft, der Jude rafft“ ist einem Unterrichtsmaterial sen, deren Inhalt sie kurz gemeinsam diskutieren und zu
aus der NS-Zeit entnommen (Alfred Vogel: Erblehre, der sie sich dann positionieren soll.
Abstammungs- und Rassenkunde in bildlicher Darstel-
lung. 2. Aufl. Stuttgart 1939). Die bildliche Darstellung Die Teamenden bereiten unterdessen eine Barometer-
der Figur ‚des Juden‘ weist zahlreiche, für antisemiti- skala in Form einer langen Linie vor. Diese kleben
sche Bildwelten typische Merkmale auf. Insbesondere sie entweder mit Krepp-Klebeband in die Mitte des Stuhl-
die Physiognomie der Figur ist durch rassistische kreises auf den Boden oder ziehen sie mit Kreide quer
Attribute gekennzeichnet, wie sie etwa aus den propa- über die gesamte Breite der aufgeklappten Tafel. Beide
gandistischen Darstellungen der NS-Zeitschrift „Der Enden der Skala kennzeichnen die Teamenden mit einer
Stürmer“ bekannt sind. Weil die rassenantisemitische Positionskarte für Zustimmung („Stimme zu“)
Komponente für die Bildanalyse an dieser Stelle nicht und Ablehnung („Stimme nicht zu“).
tragend ist, wurde die Gesichtspartie in der zu verwen-
denden Vorlage unkenntlich gemacht. Aufgabe der TN ist es nun, nacheinander ihre Aussagen
auf dem Barometer einzuordnen, je nachdem, zu
Haben Sie im Vorfeld dieser Übung bereits mit der zur welchem Ergebnis ihre Kleingruppe gekommen ist.
Grundlegung empfohlenen Methode „Fabriken, Banken,
Börsen – Wie unsere Wirtschaft funktioniert“ gear- Das Maß der Zustimmung oder Ablehnung können sie
beitet, so können Sie im Anschluss an die Bildanalyse durch die Position ihrer Aussage auf der Skala bestim-
noch einmal auf die dort analysierte Abbildung mit den men. Ihre Entscheidung sollen die TN kurz begründen
Heuschrecken ( ORDNER E2) zurückkommen. Im und auch eventuelle Meinungsunterschiede innerhalb der
Vergleich der beiden Darstellungen lassen sich gewisse Gruppe zu Sprache bringen. Nach jeder Positionierung
strukturelle Ähnlichkeiten, aber auch erhebliche und Begründung erhalten die übrigen TN Gelegenheit zu
Unterschiede herausarbeiten: Beide gehen davon aus, Nachfragen und Diskussionsbeiträgen.
dass es eine an dem Profit orientierte Finanzsphäre und
eine an den Menschen orientierte Produktion gibt. Aussagen:
Beide unterstellen, dass die Finanzsphäre der Produk- • „Der Kapitalismus bietet uns jede Menge Vorteile. Es
tion als parasitär, ausbeuterisch und bedrohlich kann nicht allen Menschen gleich gut gehen.“
gegenübersteht. Auch das Heuschreckenbild stellt zwar • „Viele große Firmen nutzen Tricks, damit sie weniger
die Finanzsphäre und ihre Akteur*innen als Schäd- Steuern zahlen müssen. Sie bereichern sich damit auf
linge dar – was als höchst problematisch zu kritisieren Kosten der Allgemeinheit.“
ist. Anders als die NS-Darstellung personifiziert es • „Die 42 reichsten Menschen der Welt besitzen gleich
die behauptete Bedrohung jedoch nicht in der Figur viel wie die 3,7 Milliarden Ärmsten. So eine Ungerech-
‚des Juden‘. Beachten Sie, dass ein Vergleich der tigkeit sollte es nicht geben.“
beiden Bilder nicht darauf hinauslaufen sollte, sie als • „Lebensmittel müssen möglichst billig sein, damit auch
Ganzes gleichzusetzten, sondern strukturelle Gemein- arme Menschen sie sich leisten können. Wie sie
samkeiten der ihnen zugrunde liegenden Denk- produziert werden ist zweitrangig.“
muster herauszuarbeiten. Ziel wäre es, das spezifische • „Wir Konsument*innen haben eh keinen Einfluss
Wesen des Antisemitismus besser verstehen und darauf, wie unsere Kleidung hergestellt wird.“
klarer abgrenzen zu können. Es ist es nicht haltbar, • „Wenn man sich genug anstrengt, dann kann man
Jüd*innen generell mit der Finanzsphäre in Ver- auch erfolgreich sein.“
bindung zu bringen. • „Menschen sind im Kapitalismus egal. Für unser
Wirtschaftssystem zählen nur Profite.“
• „Wir zerstören systematisch unsere Umwelt. Wenn die
Schritt 3: Aussagen-Barometer Menschheit eine Zukunft haben will, dann muss sich
unser Wirtschaftssystem radikal ändern.“
Hinweis
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DAS PROJEKTTEAM
Anne Goldenbogen Jan Harig Malte Holler
Anne Goldenbogen ist Diplom- Jan Harig ist Sozialwissenschaftler Malte Holler ist Historiker und
Politikwissenschaftlerin, selbststän- (B. A. Sozialwissenschaften; M. A. politischer Bildner. Als Rechercheur,
dige Texterin und Konzepterin im Gender Studies) und arbeitet bereits Projektentwickler und Ausstellungs-
Bereich der politischen Kommunika- seit seinem Studium in der außer- macher arbeitet er seit vielen Jahren
tion. Sie ist außerdem politische schulischen Jugend- und Erwachse- zu Themen deutsch-jüdischer
Bildnerin und besitzt langjährige nenbildung. Nebenbei ist er im Geschichte, der Holocaustforschung
Erfahrung bei der Konzeption und Berliner Nachtleben tätig. Bei der und der Antisemitismuskritik. In
Umsetzung von Bildungsprojekten KIgA engagiert er sich seit 2013. der politischen Bildung war er seit
zur kritischen Auseinandersetzung 2005 überwiegend für die KIgA tätig.
mit Antisemitismus.
80
Ruth Fischer Caterina Zwilling
Das Projektteam 81
Impressum
Herausgeber Gestaltung
Kreuzberger Initiative gegen agnes stein berlin
Antisemitismus (KIgA e. V.) www.agnes-stein.de
Kottbusser Damm 94, 10967 Berlin
www.kiga-berlin.org Druck
Spree Druck Berlin GmbH
V. i. S. d. P. www.spreedruck.de
Aycan Demirel
Bildnachweis
Pädagogische Entwicklung, S. 2 Friederike von Heyden,
Konzept, Text und Redaktion Bergische Universität Wuppertal
Modellprojekt „Anders Denken. S. 4 Lorenz Korgel, privat
Politische Bildung gegen S. 80, 81 KIgA e. V. / Birte Zellentin
Antisemitismus“
Die Comic-Zeichnungen und der
Team Kurzfilm „Woher kommt Judenfeind-
Anne Goldenbogen, Jan Harig, schaft?“ in den pädagogischen
Malte Holler, Ruth Fischer, Materialien entstanden in Zusam-
Caterina Zwilling menarbeit mit 123comics.
www.123comics.net
Kontakt
anders.denken@kiga-berlin.org
Lektorat
ISBN 978-3-947155-07-1
Claudia Boujeddayn
www.textur-lektorat.com © KIgA e. V., September 2019
ISBN 978-3-947155-07-1