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Vorwort
4
Antisemitismus als Herausforderung für die Demokratie
Anetta Kahane
Antiamerikanismus in Deutschland 15
Historische und aktuelle Feindbildkonstruktionen
Herbert Weber
Islamistischer Antisemitismus 24
Claudia Dantschke
2 Inhalt Impressum
Antisemitismus, Antizionismus und »verordneter Antifaschismus« in der DDR 39
Heike Radvan
Was tun gegen Antisemitismus in der Schule, im Sportverein oder in der Stadt? 103
»Projekte gegen Antisemitismus« – ein Modellprojekt der Amadeu Antonio Stiftung
Anhang
Adressen 111
Inhalt 3
Vorwort ihn nicht auch anzuwenden. Wann immer Dinge kom-
plex werden, wann immer sie mit Abstraktion, mit
Rationalität, mit Modernisierung, mit Transforma-
Antisemitismus als Herausfor- tion, Internationalität – oder wie man heute sagt – mit
Globalisierung zu tun haben, taucht der Antisemi-
derung für die Demokratie tismus irgendwann als Mittel der Abwehr auf.
Anetta Kahane Er ist eine Theorie mit langer Tradition, sowohl in den
christlichen als auch in den muslimisch geprägten
Es gibt wohl im Moment kaum ein umstritteneres Gesellschaften, die schon lange vor der Existenz
Thema als Antisemitismus und Antiamerikanismus. Israels bestand. Er ist die geniale Erfindung, um für
Der Umgang damit ist von vielen Unsicherheiten be- alles Böse, Dunkle, Mächtige, Feige, Unsittliche, Raf-
gleitet. Häufig auftauchende Fragen sind zum Bei- finierte, Diabolische und Undurchschaubare eine
spiel: Was ist berechtigte Kritik an der Politik der USA Gruppe von Menschen zu haben, der das alles zuge-
und Israels, was ist Antiamerikanismus oder gar Anti- schrieben werden kann – damit man selbst im Gegen-
semitismus? Wo sind Überschneidungsmengen zwi- satz dazu als licht, hell, edel, gut, rein, heldenhaft und
schen Antisemitismus und Antiamerikanismus? Wel- klar dastehen kann. Genial ist diese Phantasie im zyni-
che Funktionen hat der Antiamerikanismus heute und schen Sinne deshalb zu nennen, weil sie keiner Erklä-
in welchen Phänomenen zeigt er sich? Was bedeutet rungen bedarf; es war schon immer so, es hat sich
es, wenn Menschen, die für Frieden demonstrieren, eingeschliffen, und die Bilder sind tief eingegraben in
George W. Bush mit Hitler gleichsetzen oder wenn sie das kulturelle Gedächtnis vieler Generationen und
mit der Kritik am Krieg im Irak Erinnerungen an das darin fest verwurzelt. Diese Bilder erfuhren zwischen
eigene Leiden im Zweiten Weltkrieg verbinden, als die religiösen und säkularen Phasen gewisse Veränderun-
Alliierten deutsche Städte bombardierten? Was heißt gen, Abwandlungen, Zuspitzungen und biologistische
es, wenn vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrun- Schärfen, in deren Folge schließlich Auschwitz mög-
gen grundsätzlich daran gezweifelt wird, dass Ameri- lich wurde. Doch mit dem singulären Ereignis des
ka die Demokratie »exportieren« kann? In welcher industriellen Massenmordes trat keineswegs eine
Rolle wollen sich die Deutschen in ihrer Abgrenzung grundsätzliche Kehrtwende ein. Es gibt ihn, den Anti-
gegenüber den USA heute stattdessen in der Welt se- semitismus wegen Auschwitz und es gibt ihn auch in
hen? Warum ist die Idee des Antiimperialismus gerade neuem Gewand, in dem er nun Israel, den Staat ge-
jetzt so populär geworden? Welche Traditionen im wordenen Juden, zum Ziel der aggressiven Projek-
Denken und Handeln drücken sich hier aus? tionen macht. Diese Denkfigur zieht sich auch durch
den modernen Antisemitismus, der an einigen Stellen
Im vorliegenden Bulletin sollen diese Fragen aufgegrif- deutliche Überschneidungen mit dem Antiamerika-
fen werden. Mit Hintergrundinformationen über die nismus zeigt.
Entstehungsgeschichte, die Theorie, die Wirkung und
die Funktionen von Antisemitismus und Antiamerika- Das Problem beginnt oft schon mit dem Begriff des
nismus wird deutlich gemacht, wie sich Kritik und Antisemitismus. Die ewige Definitionshuberei mit all
Vorurteil voneinander unterscheiden. Das Heft ent- ihren vermeintlichen Einschränkungen stellt be-
hält darüber hinaus einige Artikel, die sich mit aktuel- sonders heute ein Schlachtfeld dar, auf dem, anstatt
len Formen des Antisemitismus und Antiamerika- sich der eindeutigen Bekämpfung des Antisemitismus
nismus beschäftigen. Dort, wo sich Antisemitismus zu widmen, die Relativierung tobt. Wann immer sich
und Antiamerikanismus jedoch zeigen, gibt es auch das Begriffskarussell koppelt an das Wort »Jude«, ist
die dringende Notwendigkeit, dagegen etwas zu tun. es schon Teil des Problems. Denn es gibt keine reale
Auch für Möglichkeiten der Intervention wird es in Grundlage für Antisemitismus. Das anzunehmen wäre
diesem Heft Anregungen geben. antisemitisch, denn nichts, was Juden tun oder lassen,
hat Einfluss auf antisemitische Einstellungen. Wenn
Fangen wir doch mit einer Frage an: Was ist der also z. B. eine Definition anfängt mit dem Satz: »Ob-
Unterschied zwischen einem Rad und dem Antisemi- wohl es nur so und so viel Juden gibt, ist der Antise-
tismus? Die Antwort: Beide sind Erfindungen. Und - mitismus so und so«, oder wenn gesagt wird: »Antise-
beide sind als solche genial und außerordentlich nütz- mitismus ist die Feinschaft gegenüber Jüdinnen und
lich. Ihre Formen sind so vielfältig wie der jeweilige Juden« – wird diese Verbindung hergestellt. Man kop-
Fortschritt des gesellschaftlichen und technischen pelt das eine mit dem anderen, und die Denkfigur, der
Vorankommens. Der Unterschied liegt allein in ihrem Jude sei selbst schuld, rollt bereits mit, egal wie gut
zivilisatorischen Wert. Wenn jemand dringend nach das darauf Folgende gemeint wird. Denn eines steht
der Lösung eines Problems sucht, sagt man oft, er sol- fest: Die Erfindung existiert vollkommen unabhängig
le doch nicht versuchen, das Rad neu zu erfinden und davon, ob es Juden gibt oder nicht, sie ist kein Pro-
meint damit, dass es für viele gesuchte Funktionen blem der Juden, sondern derer, die Antisemitismus
längst eine auf der Hand liegende Lösung gibt. Das produzieren. Es ist wichtig, hier klar zu unterschei-
gilt auch für gesellschaftliche Probleme: Gäbe es den den: Zwar trifft Antisemitismus die Juden, sie sind das
Antisemitismus nicht, man müsste ihn erfinden. Aber Ziel, doch nicht sie sind die Ursache dafür, nicht sie
es gibt ihn und somit keinen nennenswerten Grund, sind dafür verantwortlich. Und ebenso wenig ist es
4 Vorwort
Sache der Juden, den Antisemitismus zu messen, dafür den Welt können auch politische Konzepte oder Staa-
quasi öffentlich als Zeugen gerade zu stehen. Wann ten mit Antisemitismus in Verbindung gebracht wer-
immer jemand lieber den Vorsitzenden des Zentralrats den. Israel und die USA eigenen sich beispielsweise
der Juden zitiert, als selbst zum Antisemitismus Stel- hervorragend für die Verkörperung von Verschwör-
lung zu nehmen und sich so offen und klar zu soli- ung und Macht und Geld. Schon in der sozialistischen
darisieren, reiht er sich dadurch in diese problemati- Tradition hatte dieses Bild einen festen Platz. Sowohl
sche Tradition ein. Die jüdischen Organisationen als in der linken Bewegung als auch im real existierenden
Teil der Zivilgesellschaft sollen selbstverständlich ihre Sozialismus wurde diese Idee immer gepflegt und
Stimme erheben, doch die Frage ist, inwieweit die Ge- durchaus weiterentwickelt. So nannte man abfällig
sellschaft diese Themen mit gleicher Selbstverständ- auch »Kosmopolitismus« oder »Zionismus«, was
lichkeit aufgreift und eben nicht zulässt, dass es die jü- schlussendlich weitere Synonyme für Antisemitismus
dischen Repräsentanten oder Einzelpersonen allein waren.
sind, die sich zum Thema äußern. Mit dem komplizierteren Verhältnis der Menschen zu-
einander durch die Einführung des Geldes und der
Antisemitismus, ob als individuelle oder gesellschaftli- Geldwirtschaft stieg auch der Gebrauchswert des
che Realität, ist vor allem eines: Er ist Gewalt. Physi- Antisemitismus. Besonders in Ideologien, in denen es
sche und psychische Gewalt, Gewalt durch Worte, nur gute und nur schlechte Subjekte gibt, nistet sich
durch Gesten, durch noch viel subtilere Dinge wie leicht auch Antisemitisches ein – vor allem, wenn die-
Interpretationen, indirekte Aggressionen und Andeu- se Ideologien nach Symbolen für »das Geld« suchen.
tungen. Er ist kein schlichtes Vorurteil, das mehr oder Die »Wall Street« ist so ein Symbol, oder auch Begrif-
weniger leicht auszuräumen ist, sondern ein komple- fe wie »raffendes Kapital«. Heute kommt – auch in
xes und verzweigtes Denkmodell, dessen Wurzeln in der Tradition des Schwarz-Weiß-Denkens im Sozia-
alle Gesellschaftsschichten reichen und viele Lebens- lismus – zudem wieder der Begriff des Imperialismus
bereiche mit der immer gleichen Nahrung versorgen. zum Zuge. Während er früher nur in linken Kreisen
Er ist eben eine Gesellschaftstheorie oder, betrachtet zu hören war, hält er nun Einzug in die Medien und
man ihn auf der individuellen Ebene, eine Psychopa- die Alltagssprache. Er wird auf die USA und Israel an-
thologie. Der Antisemitismus, so sagte Theodor Ador- gewandt und ist längst kein Begriff der politischen
no, ist das Gerücht über die Juden. Gerüchte aus der oder historischen Wissenschaft mehr, sondern ein
Welt zu schaffen, das weiß jeder aus persönlicher Er- emotionaler Ausdruck von Urteilen und Ängsten, in-
fahrung, ist eine schwierige Sache. Wenn ein Gerücht dem diejenigen, die ihn so benutzen, sich beherrscht,
zu einer Stimmung anschwillt, dann wird es gefähr- dominiert und von dunklen Verschwörungen umzin-
lich. Es kann anschwellen zu einem Wahn, der alles in gelt fühlen.
Gut und Böse teilt, einem topologischen Wahn. Wer
sich beispielsweise einem schwarzen Deutschen gegen- Unter dem Banner des Antizionismus und Antiimpe-
über aufgrund seiner Hautfarbe aggressiv oder herab- rialismus können Allianzen entstehen, von denen man
lassend verhält, ist ein Rassist; denn er tut gleiches vor Jahren nicht zu träumen wagte: Rechtsextreme
nicht bei einem Weißen. Er beleidigt sein Gegenüber, benutzen solche Slogans schon lange, ein Teil der
weil er unterstellt, dass die Hautfarbe den Menschen Linken sowieso, dazu kommen nun Islamisten, Glo-
definieren kann – in diesem Fall, weil er meint, dass balisierungskritiker und Friedensbewegte aus allen
Weiße mehr wert wären als Schwarze. Es ist die Haut- Schichten, die auch offene Formen von Antisemi-
farbe, auf das sich dieses Vorurteil bezieht, etwas tismus in ihren Reihen als eine Art Nebenwiderspruch
Sichtbares also. Bei Juden aber beruhen die Ressenti- durchaus in Kauf nehmen. Wer Zweifel äußert ob der
ments auf etwas Unsichtbarem, das sich auf unter- plötzlichen Anschlussfähigkeit zwischen beispiels-
stellte Eigenschaften bezieht und deshalb so gewalttä- weise Rechtsextremen und linken Gruppen, oder wer
tig, gefährlich, verletzend und unberechenbar ist. Da nach der Verhältnismäßigkeit der Israelkritik fragt,
der Antisemitismus von Anbeginn mit dem Konspira- dem wird entschlossen entgegengehalten, dass man
tiven und Dunklen handelt, ist er selbst konspirativ doch wohl Israel und die USA kritisieren dürfe, ohne
und dunkel: Er braucht nur Vermutungen, Indirektes, gleich als antisemitisch und antiamerikanisch ge-
heimliche Annahmen, Stimmungen, Gefühle und As- brandmarkt zu werden. Dabei hat bisher noch nie je-
soziationen. Reagiert aber jemand auf diese Form der mand verboten, die Politik anderer Staaten zu kritisie-
Gewalt, wie einst Ignatz Bubis bei der Rede von Mar- ren, und so enthält die Entgegnung selbst bereits ein
tin Walser, kann derjenige jederzeit ausgelacht, bemit- antisemitisches Klischee: nämlich, dass jemand tat-
leidet und damit wieder zum eigentlichen Problem er- sächlich einen Druck oder eine Macht ausüben kann,
klärt werden. Doch tritt der Antisemitismus offen und um solche Kritik mit Vorwürfen zu unterbinden. Wer
brutal zutage, dann gibt es oft eine heuchlerische Ver- das sein kann, wird gern mit dem Begriff der »ameri-
wunderung darüber, woher das wohl plötzlich kommt kanischen Ostküste« beschrieben, oder es sind die von
und, wenn man es nicht mehr herunterspielen kann, ihr »gesteuerten« Medien oder »jüdische Organisatio-
die These des Einzelfalls. nen«.
Die Objekte des Antisemitismus können auch ab- Die Unsicherheit vieler Menschen ist groß, sich bei
strakter sein und sich scheinbar gar nicht so direkt auf großen politischen Themen wie Irak, Nahost, Terro-
Juden beziehen. In Zeiten einer immer kleiner werden- rismus, Islamismus und den damit verbundenen Kon-
Vorwort 5
flikten zu orientieren. Gerade deshalb besteht die Ge- des Holocaust, eliminatorischer Hass auf Juden durch
fahr, bei der Einschätzung der Situation auf eigene islamistische Gruppierungen, Stereotype über Juden
oder vertraute Denk- und Weltbilder zurückzugreifen, und deren vermutete Macht oder eine vollkommen
die mit der wirklichen Situation, der Realität, meist unangemessene Fixierung auf Israel als größte Gefahr
wenig zu tun haben. Die Frage beispielsweise, ob sol- für den Weltfrieden – dies alles stellt eine Bedrohung
che Kritik an Israel antisemitisch sei, lässt sich, un- dar, die nicht nur Juden betrifft. Wenn die entstehen-
abhängig von der darin enthaltenen Unterstellung, re- de, wahnhafte Gefährlichkeit angeheizt wird, weil
lativ leicht beantworten. Im Spannungsfeld der schwie- sich Probleme nicht einfach lösen lassen, wenn die
rigen Situation und Lage Israels mitten in einer Probleme stattdessen an etwas anderem abreagiert
Region autokratisch geführter und meist heftig anti- werden sollen, dann kann es zu Pogrom und Vernich-
semitisch agierender Länder muss Israel zwischen tung kommen. Doch die historische Erfahrung sagt,
demokratischen Standards und Sicherheitsinteressen dass einmal in Schwung gekommen, das Rad viel wei-
eingezwängt handeln. In diesem Spannungsfeld soll es ter rollt. Besonders der muslimische Antisemitismus
Kritik und Selbstkritik geben. richtet seinen Hass auf die Ideale der Französischen
Das Dilemma scheint im Moment darin zu liegen, Revolution – unabhängig vom Verhalten und der
dass Israel ohne eine rechte Regierung kaum Chancen Existenz Israels. Der Antisemitismus, ob nun aus der
zum Überleben hat, mit dieser Regierung aber auch muslimischen oder christlichen Tradition, richtet sich
nicht. Dies zu sehen und zu beschreiben ist nicht de- immer gegen die Werte der Gleichheit vor dem Recht,
struktiv. Antisemitisch hingegen sind Urteile, die von Liberalität, Aufklärung, Emanzipation und Freiheit.
keinerlei Interesse an der Situation der Menschen zeu- Deshalb bedeutet der Kampf gegen den Antisemi-
gen, sondern nur einseitigen Hass vermitteln und tismus die Grundwerte der Demokratie zu verteidi-
dabei mit antisemitischen Stereotypen operieren. Das gen.
betrifft, und das gilt natürlich ebenso für Antiameri- Hannah Arendt sagte einmal voll ironischem Pessi-
kanismus, alle Vergleiche mit Nazis, KZ, Hitler, Ver- mismus: »Vor Antisemitismus ist man nur noch auf
nichtungskrieg, mit Holocaust, also mit allem, was dem Mond sicher«. Die Gefährdung der demokrati-
die Verbrechen des NS relativiert und nun den Juden schen Kultur durch das Gift von Antisemitismus und
ähnliches zuschreiben will. Antisemitisch ist es auch, Antiamerikanismus fordert eine genaue Auseinander-
direkt oder indirekt das Existenzrecht Israels zu be- setzung mit diesen Themen heraus. Gerade weil sie
streiten. Die Forderung, anstelle einer möglichen heute so heikel sind.
Zweistaatlichkeit solle es einen einzigen palästinensi-
schen Staat geben, in dem die israelischen Juden sich Bisher gibt es kaum Konzepte, wie man wirkungsvoll
unterzuordnen oder freundlicher gesagt zu integrieren Antisemitismus und Antiamerikanismus bekämpft. Ge-
hätten, gehört ebenso dazu wie die Forderung, die Ju- rade in Deutschland sollte man annehmen, dass Ent-
den sollten doch Israel aufgeben und nach Europa zu- wicklungsarbeit zu diesen Themen geleistet worden
rückkehren. Sondergesetze für Juden, ihre Jahrhun- sei. Doch die politische Bildung hat sich mit der Ver-
derte währende Ausgrenzung, haben auch in Bezug gangenheit auseinander gesetzt, wo es um Fragen des
auf Israel Spuren hinterlassen. Wird hier mit doppel- Antisemitismus ging. Das ist keinesfalls das Gleiche.
tem Maßstab gemessen, also Israel z.B. in der Frage Erst seit wenigen Jahren versucht die Bildungsarbeit,
der Einhaltung der Menschenrechte vollkommen an- sich auch mit aktuellen Formen des Antisemitismus
deren Kriterien unterworfen, als dies bei anderen auseinander zu setzen. Ein neuer, weiter gehender
Staaten der Fall ist, und das ständig und immerzu, so Anfang ist in einem Projekt des Bundesprogramms Ci-
ist das antisemitisch. Und schließlich ist es antisemi- vitas gemacht. Hier werden innovative Formen ent-
tisch, wenn Juden irgendwo in der Welt mit Israel wickelt, die sich nicht nur auf einen einzigen Lebens-
gleichgesetzt werden, wenn man sie verantwortlich bereich beziehen, die also komplexer in den Kommu-
macht, sie zur Rede stellt, sie angreift mit dem Ver- nen wirken sollen und die nicht allein auf Bildung
weis auf Israels Politik. Immer häufiger geschieht setzen. Die Amadeu Antonio Stiftung vermittelt hier
genau das. Damit sind die Juden längst nicht mehr, ihre Erfahrungen, die sie bei der Bekämpfung von
wie immer angestrebt, normale Bürger ihrer Länder, Rechtsextremismus sammeln konnte, führt Praxis-
sie werden durch die Identifikation mit Israel zu ergebnisse verschiedener engagierter Projekte zusam-
»Fremdkörpern«, also emotional ausgebürgert. Paart men und entwickelt mit allen Beteiligten gemeinsam
sich solches Agieren mit dem Bestreiten des Existenz- neue Ansätze. Allen, die sich an dieser wichtigen,
rechts Israels, wird so gleichzeitig das Existenzrecht schwierigen und sehr innovativen Arbeit mit ihren Ar-
des Judentums mit bestritten. Es ist eine Rückkehr zu tikeln, ihren Projekten und ihren Ideen beteiligen, sei
den klassischen Formen des primären Antisemitismus, an dieser Stelle gedankt, insbesondere den KollegIn-
der Juden direkt als solche identifiziert, aussondert nen der Task Force des American Jewish Committee
und angreift, unabhängig von ihrer persönlichen Hal- und des DGB Bildungswerks Thüringen. Manchmal
tung zu außenpolitischen Fragen. braucht man auch dafür das Rad nicht neu zu erfin-
den. Das Wissen und die Erfahrung aller an diesem
Antisemitismus ist kein Nebenwiderspruch. Wer ihn Heft Beteiligten werden helfen, ein wirkungsvolles
in seinen verschiedenen Formen und Ausprägungen Transportmittel guter, nützlicher und hilfreicher Pra-
duldet, nimmt sein Fortbestehen in Kauf. Ob nun Ver- xis gegen den Antisemitismus, die neue totalitäre Her-
schwörungstheorien, rechtsextreme Relativierungen ausforderung der Gegenwart zu machen.
6 Vorwort
Zur Genese von Anti- Arbeit und ihrem Alltag dem historischen und aktuel-
len Antisemitismus stellen wollen. Dafür ist eine Aus-
einandersetzung mit deutscher Vergangenheit unab-
semitismus und dingbar.
Antiamerikanismus
Traditionelle Judenfeindschaft
Moderner Antisemitismus in Bereits in den ersten drei Jahrhunderten entstand im
Deutschland Christentum die Ideologie des Antijudaismus. Bezug
nehmend auf die Schriften der Apostel fungierte in der
christlichen Theologie das Judentum frühzeitig als
Entstehungsgeschichte, Motive und Antithese zum christlichen Selbstbild. Der Historiker
Strukturen Christhard Hoffmann zeigt dabei die besonders wir-
kungsmächtige Tatsache auf, »dass das Christentum
Frank Gutermuth viele dogmatische Grundanschauungen im Hinblick
auf und in polemischer Abgrenzung zum Judentum
Aufklärung über Antisemitismus setzt eine grundsätz- bestimmte« und der Antijudaismus damit »zu einem
liche Verständigung darüber voraus, was unter dem essentiellen Bestandteil des christlichen Selbstver-
Begriff Antisemitismus zu verstehen ist. Die histori- ständnisses« wurde.(1) Eingebettet in einen dualen
sche Entwicklung des modernen Antisemitismus muss Schematismus, der nur zwischen »gut« und »böse«
dabei ebenso berücksichtigt werden wie die Analyse unterscheidet, wurde das Judentum grundlegend mit
der zentralen Inhalte, Motive und Grundstrukturen dem »Bösen« gleichgesetzt: Paradigmatisch stand es
dieser Ideologie. für »Sünde«, »Ketzerei« und »Abfall«, »Verderben«
Der Begriff Antisemitismus wurde 1879 in Deutsch- und »Heilsverlust« – alles, wovon ein Christ sich be-
land durch den judenfeindlichen Journalisten Wilhelm droht fühlen musste. Für die Erklärung kirchlicher
Marr geprägt. Er bezeichnet einen Welterklärungsver- Missstände wurde fortan auch »das Judentum« ver-
such, der nichts mit realen Juden und Jüdinnen zu tun antwortlich gemacht. In der Reformation wird dies
hat, sondern sich allein auf eine Konstruktion dessen am deutlichsten: Für Luther hatten »die Juden« die
bezieht, wer oder was »der Jude« sein soll – eine Kon- Funktion, »die Einbruchstelle des Teufels in die zeitge-
struktion, die sich im historischen Kontext verändert. nössische Kirche«(2) kenntlich zu machen – sie wurden
Im Folgenden soll in einem ideengeschichtlichen Ab- als Werkzeug des Teufels gesehen. Entsprechend wird
riss gezeigt werden, wie in Deutschland an Stereotype in den schriftlichen Quellen des Christentums, in den
und Zuschreibungen der traditionellen christlichen Evangelien und in den Werken der Kirchenväter der
Judenfeindschaft angeknüpft wurde und wie mit der Ort der Synagoge »in der Regel negativ bewertet und
Entstehung moderner bürgerlich-kapitalistischer Na- als Ort das Satans, des Teuflischen geschildert«.(3)
tionalstaaten zunehmend »die Juden« für alle als ne- Der theologische Konflikt zwischen den beiden Reli-
gativ empfundenen Erscheinungen verantwortlich ge- gionen fußt auf der Frage, ob Jesus der Messias, also
macht, als »Hort alles Bösen« phantasiert wurden.
Mit dem Antisemitismus hatten Gegner der bürger-
lichen Gleichstellung und Emanzipation der europäi-
schen Juden einen politischen Kampfbegriff für die
antijüdische Bewegung gefunden, der der zeitgenössi-
schen antisemitischen Welle in Mitteleuropa einen
programmatischen, ideologischen und »wissenschaft-
lichen« Anstrich geben sollte.
Historische und aktuelle »Die Amerikaner haben keine Kultur.« Das war eines
der ersten Vorurteile, die gegenüber den USA in Um-
Feinbildkonstruktionen lauf kamen, und es hält sich bis heute in Deutschland.
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf Ni-
Herbert Weber kolaus Lenau, den »Nationaldichter«, verwiesen, der
Mitte des 19. Jahrhunderts eine fehlende Tiefe in der
Antiamerikanismus in Deutschland zu diskutieren ist amerikanischen Kultur behauptete.(1) Dieses Stereotyp
kaum möglich, ohne sich über den Ursprung von posi- ist eng mit dem Kulturbegriff im historischen deut-
tiven wie negativen Amerikabildern, die hier immer schen Nationalbild verknüpft.
als USA-Bilder gemeint sind, klar zu sein. Sie sind Pro- Deutschland war zum Ende des 18. Jahrhunderts ein
jektionen einer deutschen Befindlichkeit und nehmen vielfach gespaltenes Konglomerat aus Ländern mit
amerikanische Realitäten nur bedingt war. Meist die- unterschiedlichsten Interessen, als sich im Zuge der
nen diese Projektionen, Mythen und Feindbilder einer Aufklärung die bisherigen religiösen und vor allem
persönlichen oder kollektiven Identitätssuche, die ein ständischen und feudalen Bindungen auflösten. Auf
Gegenbild des »Anderen« erzeugt, das »Eigene« also der Suche nach einer neuen kollektiven Identität spiel-
erst in Abgrenzung konstruiert und aufwertet. te die nationale Zugehörigkeit zunehmend eine Rolle.
Deshalb kann ein Artikel über den Antiamerika- Da eine politische nationale Einheit in Deutschland
nismus als negative sozialpsychologische Projektion fehlte, stellte eine neu entstandene nationale Bewe-
nicht ergründen, welchen Wirklichkeitsgehalt Ameri- gung Anfang des 19. Jahrhunderts eine gemeinsame
kabilder haben, sondern muss sich damit beschäfti- Identität durch den Rekurs auf die gemeinsame Spra-
gen, wie Selbst- und Fremdbilder in der deutschen che, Kultur und die Leistungen von Deutschen in der
Kultur und in verschiedenen politischen Strömungen Geschichte her. In der Romantik wurden deutsche
der deutschen Geschichte entstanden sind. Volksmärchen (Gebrüder Grimm) und Volkslieder
Im deutschen politischen Diskurs verweisen die Ame- (Johann Gottfried Herder) wiederentdeckt, der Refor-
rikabilder auf die jeweiligen ideologischen Lager. mator Martin Luther wurde gepriesen, das Mittelalter
Rechtsextreme Kreise konstatieren zumeist einen heraufbeschworen und die Germanenzeit mit Figuren
amerikanischen Kulturimperialismus und erstreben wie Hermann dem Cherusker als Ursprung der deut-
eine nationalistische Abgrenzung gegenüber dem an- schen Kultur verstanden.
geblich bedrohlichen westlich-liberalen Einfluss der Insbesondere während der französischen Besatzungs-
USA. Liberale Kräfte halten dagegen einen Angriff auf zeit unter Napoleon entwickelte sich ein deutscher Be-
die USA oft für einen Angriff auf die Moderne und die freiungsnationalismus begründet auf dem Fundament
Ideale der Aufklärung, für die Amerika als Metapher von Kultur, Geschichte und »geistiger Weltherrschaft
verwendet wird. Während viele gemäßigte Linke in des sittlich höchsten Volkes« (Fichte). (2)
Deutschland eine Kritik an der amerikanischen Regie- Die Vorstellung eines historisch »gewachsenen Volks-
rung für legitim und nur negative Pauschalierungen tums« mit spirituellem Ahnen- und Abstammungs-
gegenüber der amerikanischen Bevölkerung für anti- glauben stand im fundamentalen Gegensatz zum sehr
amerikanisch erachten, erscheint traditionellen Anti- rationalen, ideellen Gründungsprinzip der Ersten
kapitalisten eine Kritik an dem angeblichen Muster- Französischen Republik, »Freiheit, Gleichheit, Brü-
land von Kapitalismus und Imperialismus essenziell derlichkeit« – entsprechend wurden deren egalistische
notwendig, auch wenn hier Kapitalismuskritik natio- Prinzipien zum »undeutschen« Feindbild erhoben.
nalisiert und verkürzt wird. Schon früh richtete sich diese exklusive Nationalidee
Im Zuge der politischen Auseinandersetzung in gegen als nicht-deutsch definierte Gruppen, etwa Ju-
Deutschland wird die USA zur Metapher – im posi- den, Polen oder Franzosen. Die deutsche Kultur wur-
tiven wie im negativen Sinn. Egal, ob Amerika als de von Verfechtern dieser Theorie als »höherwertig«
zerstörerische Bedrohung oder als Heil bringendes angenommen und sollte »rein« bleiben, so dass an-
Paradies dargestellt wird: es sind zwei Seiten einer dere Völker oder Kulturen davon ausgeschlossen, un-
ideologischen Debatte. Die Amerikabegeisterung des ter Umständen sogar bekämpft werden sollten. Das
Amerikanismus ist genauso ideologisch bedingt wie Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution
die Amerikaverteufelung des Antiamerikanismus, machte dagegen keinen Unterschied zwischen Men-
weshalb positive Amerikabilder in dieser Betrachtung schen unterschiedlicher Herkunft. Im Bevölkerungs-
ebenfalls kurz berührt werden. Vorrangig geht es aber gemisch des demokratisch verfassten Einwanderungs-
um antiamerikanische Vorurteile. Viele von ihnen landes USA war an eine einheitliche, historisch ge-
weisen eine lange Tradition auf und kulminierten in wachsene Kultur noch viel weniger zu denken.
übersteigerter Form im Dritten Reich. Sie haben ihre
Wurzeln ähnlich wie antisemitische Feindbilder in Nikolaus Lenaus Verdikt über die fehlende amerikani-
Selbstfindungsprozessen der deutschen Nation seit sche Kultur sagt deshalb einiges aus über seinen be-
dem 19. Jahrhundert. deutungsschweren deutschen Kulturanspruch. Die
Erfüllung eines »wahren« Ichs im tiefen Fühlen, das
Hizb ut-Tahrir
»Der große und der kleine Satan« Am Rande der Al-Quds-Demonstration, einem jähr-
lichen Islamisten-Treffen in Berlin, wo zur »Freiheit
für Palästina« aufgerufen wird, protestiert ein deut-
Ein weiteres Beispiel ist die Al-Nur-Moscheegemeinde scher Rechtsextremist gegen »Die Diktatur der Me-
in Berlin, die nach einer Polizei-Razzia am 20. März dien und der US-amerikanischen Ostküste«. Ostküs-
2003 auch bundesweit bekannt wurde. Sie lässt sich te präzisiert er noch mit dem Verweis auf das Simon-
inhaltlich im breiten Spektrum der arabischen Mus- Wiesenthal-Center. Später marschiert er mit dem
limbruderschaft einem eher saudi-arabisch orientier- Schild in der Demonstration mit. Bild: Weber
Anklam
Der »Kameradschaftsbund Anklam« trommelt am
1. März zahlreiche Anhänger von der Insel Usedom, aus
Ducherow, Ueckermünde und der Uckermark zu einer
Demonstration gegen den Irak-Krieg zusammen. Auf ei-
nem Plakat ist zu lesen: »Illuminaten stoppen« oder »Ter-
ror ist ein Meister aus USA und Israel« – die anachroni-
stische Drehung eines Celan-Zitats.
(Nordkurier, 3. 3. 03) Geschändeter jüdischer Friedhof Berlin Weissensee.
In der Nacht zum Tag der deutschen Einheit 1999
Dresden haben unbekannte Täter 103 Grabsteine auf dem jü-
Auf die Ankündigung der Stadt an die Betreiber des dischen Friedhof in Berlin-Weissensee zerstört. Ein
rechtsextremen Jugendklubs »Thor«, den Mietvertrag Steinmetz, der den Schaden kostenlos wieder in Ord-
Ende April 2003 aufzuheben, reagieren anscheinend nung brachte, erhielt kurz darauf Morddrohnungen.
rechtsextreme Internet-Nutzer am 6. März mit einer Ein- Sein Steinlager wurde zerstört. Daraufhin sammelte
tragung im Gästebuch des Klubs: »Unsere Antwort ist die Amadeu Antonio Stiftung Spenden, um den Scha-
Auschwitz«. (Antifa Dresden) den zu ersetzen.
Bild: R. Maro/version-foto
Greifswald
Am 8. März marschiert die »Friedensbewegung von NPD
und freien Kameradschaften« durch die Stadt. Die De-
monstranten brüllen lautstark rechtsextreme und antise- 2003 die Zahl der Straftaten mit antisemitischem
mitische Parolen. (Ostseezeitung, 12. 3. 03) Hintergrund bei 467, darunter 16 Gewaltdelikte.(13)
Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr des Vorjahres
Cottbus waren es 444 Straftaten, davon acht Gewaltdelikte.(14)
500 Cottbusser gehen am 10. März gegen den Krieg im Da zu diesen Zahlen in der Regel Nachmeldungen in
Irak auf die Straße – mit ihnen demonstrieren »Freie größerem Umfang hinzukommen bzw. (in 2002) be-
Kameradschaften« unter der Parole »Freiheit für alle Völ- reits hinzugekommen sind, können diese Zahlen je-
ker«. Bei weiteren Kundgebungen in anderen Orten in doch nicht direkt mit den Gesamtzahlen aus dem
der Lausitz nutzen Rechtsextreme mehrfach die Gele- Bundesverfassungsschutzbericht des Vorjahres vergli-
genheit, gegen die USA und Israel zu hetzen. (Lausitzer chen werden.
Rundschau, 11. 3. 03)
Am Beispiel der Friedhofsschändungen zeigt sich,
Berlin-Charlottenburg dass es im Vergleich zu den vorangegangenen
Vier junge, türkisch aussehende Männer schlagen am Jahrzehnten bereits in den 90er Jahren einen drasti-
23. März auf der Straße den 21-jährigen Rabbi-Studenten schen Anstieg auf durchschnittlich 40 Vorfälle pro
Mendel D. aus Detroit, der ihnen nach einem Hochzeits- Jahr gegeben hat. (15) Einschließlich der Gedenkstätten
besuch in der Jüdischen Gemeinde an der Fasanenstraße weist eine Statistik des BfV von 1991 bis 1999 sogar
begegnet. Danach gehen die vier Männer unbehelligt wei- einen jährlichen Schnitt von 56 Schändungen aus.(16)
ter, kein Passant versucht, die Angreifer aufzuhalten, auch Für die Jahre 2001 und 2002 beziffert das BfV die
in einer Bar gleich am Tatort will niemand etwas gesehen Zahl der »Störungen der Totenruhe und anderer For-
haben. Es ist bereits die zweite Strafanzeige, die der junge men der Schändung jüdischer Friedhöfe und Gedenk-
Amerikaner in Berlin erstattet. Dennoch will er sich nicht stätten« zwar »nur« auf jeweils 30. Diese Zahlen ver-
entmutigen lassen und weitere vier Monate in der Stadt wirren jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass allein
bleiben, sich nicht verstecken und öffentlich seine Kippa der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern
tragen. Mendel D. arbeitet in der jüdischen Organisation für das Jahr 2002 von 34 »Vorkommnissen« auf jüdi-
»Chabad Lubawitsch« an der Augsburger Straße in Char- schen Friedhöfen und Gedenkstätten – hauptsächlich
lottenburg. (Berliner Morgenpost, 25. 3. 03) in Form von volksverhetzenden Schmierereien – be-
richtet. Ungeachtet der widersprüchlichen Angaben
Gelsenkirchen der Verfassungsschutzämter registrieren die jüdischen
In der Nacht zum 30. März beschmieren unbekannte Tä- Gemeinden weitaus höhere Zahlen.(17)
ter das Mahnmal für die ehemalige jüdische Synagoge in
Gelsenkirchen-Buer mit dem schwarzen Schriftzug »Ar- Ein Vergleich der Berichte der Landesämter für Ver-
beit macht frei«. (www.juden.de, 31. 3. 03) fassungsschutz(18) aus dem letzten Jahr belegt, dass
Gotha
Auf dem Hauptfriedhof beschmieren Unbekannte nachts
den Obelisken, der im Gräberfeld des Alliiertenhains
steht, sowie das Sowjetische Ehrenmal mit Hakenkreuzen
und Davidstern. Für Unmut sorgt eine Äußerung des
Oberbürgermeisters, wonach die Schändung nicht publik
gemacht werden solle. Die Stadt erstattet jedoch Anzei-
ge. (Thüringer Landeszeitung, 8. 5. 03)
Bad-Kreuznach
Zwischen dem 5. und 12. Mai übersteigen Unbekannte
den Zaun zum jüdischen Friedhof und sprühen auf acht
der 13 Grabsteine mit schwarzem Lack Hakenkreuze, SS-
Aus dem Band »Deutschkunde – Karikaturen gegen Runen und antisemitische Parolen. Der materielle Scha-
rechte Gewalt«, fifty-fifty-Edition Düsseldorf, 2002, den beträgt rund 2000 Euro. (Main-Rheiner, 20. 5. 03)
Seite 39. Karikatur: Mette
Berlin
Ein 56-jähriger Mann aus Mitte wird am 11. Mai von einer
ßen – eine besonders abstoßende Form der Entwei- Gruppe ausländischer Jugendlicher in einem Bus angegrif-
hung der Grabstätten, die gleichzeitig jeglichen Zwei- fen, mit »Drecksjude« beschimpft und ins Gesicht getre-
fel an der Motivation der TäterInnen ausräumt.(19) ten, weil er einen Davidstern an einer Kette um den Hals
In Berlin ist neben der allgemeinen Zunahme der trägt. Der Mann wird im Krankenhaus behandelt. (Berli-
Straftaten mit antisemitischem Hintergrund ein An- ner Zeitung, 13. 5. 03)
stieg der antisemitisch motivierten Gewalttaten zu
verzeichnen, die vor allem im Westteil der Stadt be- Berlin-Mitte
gangen wurden. War es 2002 nur ein gewalttätiges Unbekannte Täter beschädigen das jüdische Mahnmal in
Delikt, so wurden 2001 drei und im Jahr 2003 bereits der Rosenstraße. Auf der Rückseite der mittleren Skulp-
Potsdam
Ein 17-jähriger alternativer Jugendlicher wird abends auf
der Ernst-Thälmann-Straße von fünf Rechtsradikalen ver-
folgt. Er wird umringt, mit antisemitischen und fremden-
feindlichen Äußerungen beschimpft und mit einem Mes-
ser bedroht. Es gelingt ihm wegzulaufen. (MAZ, 02. 07. 03)
Berlin-Tiergarten
Unbekannte bewerfen das jüdische Mahnmal an der Le-
vetzowstraße am 9. Juli mit Kleinpflastersteinen und be-
schädigen es. (Berliner Morgenpost 10. 7. 03)
Berlin-Treptow
Am Jugendklub Audio in Johannisthal werden am 14. Juli
Hakenkreuze, antisemitische Sprüche und Drohungen ge-
gen den dortigen Sozialarbeiter gesprüht. (Antifa Treptow)
Aus dem Band »Deutschkunde – Karikaturen gegen
rechte Gewalt«, fifty-fifty-Edition Düsseldorf, 2002,
Seite 39 Karikatur: Stuttmann
Ralf Fischer: Antisemitismus ist ja nicht aus der deut- Bulletin: Das ist natürlich die schlimmste Steigerung.
schen Gesellschaft verschwunden, er hat sich nach Wie erscheint Antisemitismus grundsätzlich in der
1945 nur neue Ausdrucksformen gesucht. rechtsextremen Jugendkultur?
Anke Zeuner: Und viele subtile Formen des Antise- Ralf Fischer: Die Rechtsextremen verbrämen ihren
mitismus werden von der Öffentlichkeit gar nicht Antisemitismus nicht so sehr wie die Mehrheitsgesell-
wahrgenommen. schaft. Sie reden offener und agitieren sehr häufig ge-
zielt gegen »die Juden«. Sie beleidigen, bedrohen, ma-
Bulletin: Was wären hierfür Beispiele? chen klar, dass Juden in Deutschland nicht willkom-
men sind – so z. B. mit offener Agitation gegen die
Anke Zeuner: Etwa, wenn geschichtspolitische De- Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde. Der Spreng-
batten abgewehrt werden mit dem Argument, der Ho- stoff-Fund in München im September 2003 zeigte ja
locaust solle doch kein Thema mehr sein, er sei jetzt zuletzt, dass die Rechtsextremen nicht zurückschre-
schon so lange vorbei. cken, diesen Drohungen auch Taten folgen zu lassen.
Die Kameradschaft Süd wollte damit das jüdische Ge-
Ralf Fischer: Antisemitismus äußert sich z. B. auch meindezentrum in München angreifen – als Fanal –
auf der Ebene der Sticheleien, der ständigen Kontrol- am 9. November.
le, der Besserwisserei. Etwa, wenn Menschen argu-
mentieren, sie seien ja keine Antisemiten, sondern Anke Zeuner: In der rechtsextremen Jugendkultur
hätten nur ein Problem mit dem Auftreten der Juden gibt es eine klare antisemitische Symbolik, z. B. T-
in Deutschland und würden ihnen raten wollen, wenn Shirts mit durchgestrichenem Davidstern darauf,
sie anders auftreten würden, würde ihnen weniger Sticker mit der Aufschrift »Gegen Nasen«, die sich
Antisemitismus entgegenschlagen. auf das Klischeebild des jüdischen Äußeren beziehen.
Ralf Fischer: Die Folgen der derzeitigen Situation in
Bulletin: Dann spiegelt der Antisemitismus von Ju- Deutschland sind ja sehr deutlich. Die kulturellen Co-
gendlichen den in der Gesellschaft vorhandenen Anti- des der jüdischen Religion, wie z. B. der Davidstern
semitismus? und die Kippa, sind im Straßenbild kaum noch sicht-
bar – weil die Angehörigen der jüdischen Community
Ralf Fischer: Die Jugendlichen bekommen mit, dass ruhig und sicher leben wollen und das Gefühl haben,
die Älteren gegen Juden und gegen Israel eingestellt dass sie das nur können, wenn sie ihre Religionszuge-
sind und dafür ganz viele eingängige Argumente ha- hörigkeit nicht offen zeigen.
ben. Sie sind ja auch noch nicht in Political Correct-
ness-Diskursen gefangen und damit risikobereiter. Al- Bulletin: Haben sich antisemitische Äußerungen un-
so agieren sie offener und aggressiver antisemitisch ter Jugendlichen in letzter Zeit verstärkt?
und können sich dabei gesellschaftlich legitimiert füh-
len. Manche schimpfen »Du Jude«, andere sprechen Ralf Fischer: Die Jugendkultur reflektiert die gesell-
dem israelischen Staat das Existenzrecht ab, und das schaftliche Entwicklung, und insgesamt haben antise-
steigert sich bei manchen muslimischen und rechtsex- mitische Äußerungen seit der Wiedervereinigung zu-
genommen, seit dem 11. September 2001 und dem
Irak-Krieg 2003 auch verquickt mit Antiamerika-
nismus. Das findet natürlich auch Ausdruck in der Ju-
gendkultur, etwa auf den Transparenten, die Migran-
tenjugendliche auf den Friedensdemonstrationen ge-
gen den Irak-Krieg trugen. So z. B.: »Israel – kleiner
Satan. USA – großer Satan«.
gegen den Irak-Krieg an, was bei ihnen immer einen Bulletin: Was wären Beispiele für solche problemati-
antisemitischen Hintergrund hat. Das war etwa Mitte schen Chiffren?
der neunziger Jahre noch nicht der Fall. Im Straßen-
bild nehmen explizite rechtsextreme Schmierereien zu Ralf Fischer: Ein bekanntes Beispiel dafür ist die
wie »Juden raus«. Auch die rechtsextremen Zeit- Gleichsetzung des derzeitigen Präsidenten von Israel,
schriften publizieren mehr zum Thema. Ariel Sharon, mit dem »Führer« des Dritten Reiches,
Adolf Hitler. Ein Vergleich, der auch gern auf den der-
Bulletin: Wie ist das in anderen jugendlichen Subkul- zeitigen amerikanischen Präsidenten angewandt wird.
turen? Gibt es welche, in denen Antisemitismus ein In die gleiche Richtung geht der Versuch, Parallelen
besonders großes Thema ist? zwischen dem Staat Israel und NS-Deutschland zu
halluzinieren. Außerdem wird innerhalb der deut-
Ralf Fischer: Wie in der Gesellschaft kann man fast in schen Linken gern die Einmaligkeit der Verbrechen
jeder Subkultur antizionistische und/oder antisemiti- des Nationalsozialismus negiert, indem sie auf die
sche Vorurteile finden. Es gibt allerdings einige, in de- heutigen Verhältnisse projiziert werden – eine Taktik,
nen sie offen nach außen getragen werden, um eine um sich nicht wirklich mit der eigenen Geschichte
Wirkung zu erzielen. auseinander zu setzen und die eigenen Ressentiments
Etwa im HipHop: Es gibt viele Rapper, die sich mit weiter kultivieren zu können. Dann wird den anglo-
den Theorien der Illuminaten auseinander setzen. Die amerikanischen Interventionstruppen im Irak vorge-
vermitteln ein personalisiertes Verständnis von Gesell- worfen, der »deutschen Wehrmacht in nichts nachzu-
schaft: Einige wenige Menschen haben die Herrschaft stehen«, und nicht wenige wünschten der US-Armee
über die Welt unter sich aufgeteilt. Und das, so das ein »Stalingrad in Bagdad«.
Klischee, müssen ja zwangsläufig Juden sein. Aus-
Bulletin: Wenn es Antisemitismus überall gibt, ver-
steckt und offen, ist die Frage umso drängender: Was
tun?
Jeff Gedmin: Wissen Sie, für mich drückt sich darin Jeff Gedmin: Auf jeden Fall Arroganz und Oberfläch-
etwas aus. In Europa denken viele: die Amerikaner lichkeit.
sollen und müssen stark sein, in der Politik, auch in
der Wirtschaft. Aber kulturell sind wir die Nummer Bulletin: Gibt es eine spezifisch deutsche Form von
eins: Das alte Europa mit seiner Kunst, Musik, Litera- Antiamerikanismus?
tur, dass ja auch keine Todesstrafe hat... Vielleicht
übertreibe ich.
Jeff Gedmin: Schwer zu beurteilen. Antiamerika-
Bulletin: Also zeigt so ein oberflächliches Amerika- nismus gibt es überall, politischen wie kulturellen, in
Bild eine antiamerikanische Einstellung? der arabischen Welt, vor allem in Europa, auch bei
unseren Verbündeten in Großbritannien. Es ist mit Si-
Jeff Gedmin: Lesen Sie mal jede Woche den Spiegel, cherheit nicht nur ein Phänomen der Linken oder der
den stern, schalten sie jeden Abend die ARD ein, dann Rechten.
kommen sie auf die Idee, Amerika hat eine oberfläch- Allerdings hat Deutschland eine besondere Geschich-
liche oder überhaupt keine Kultur – nur Disneyland te. Deutschland ist ein Land mit einer langen Tradi-
und Burger King. Und das stimmt einfach nicht. Euro- tion, es hat Musik und Literatur. Dann kommen diese
pa hat eine tolle Kultur, aber wir auch! fürchterlichen zwölf Jahre von 1933 bis 1945. Und es
sind diese dummen, oberflächlichen und einfachen
Bulletin: Ist die Berichterstattung über Amerika zu Amerikaner, die befreien Deutschland. Und es sind
einseitig? auch die Amerikaner, die im Kalten Krieg West-
deutschland beschützen, die die deutsche Einheit be-
Jeff Gedmin: Dass positive Dinge über die Politik der fürworten, als die anderen Alliierten dagegen sind, die
USA berichtet werden, das gibt es fast gar nicht. Es im Kosovo-Krieg eingreifen, als die Europäer noch zö-
heißt immer: »Ich liebe Amerika, aber dieser George gern. Ich kann mir schon vorstellen, dass manche auf
W. Bush – ein Verbrecher.« Und die Hände beginnen die Idee kommen: Wir haben jetzt genug davon! Das
zu zittern. Ich habe das Gefühl, dass das vielleicht ist vielleicht zu simpel und auch unhöflich, aber es
nicht allein mit George W. Bush zu tun hat. gibt bei manchen einen Minderwertigkeitskomplex:
Nein, nicht schon wieder mit den USA.
Bulletin: Aber gibt es nicht auch viele Deutsche, die
eine gute Meinung von Amerika haben? Bulletin: Aber was ist mit der großen Begeisterung für
amerikanische Filme, Musik, für die NBA oder Coca-
Jeff Gedmin: Ja, aber es ist eine Minderheit. Seit dem Cola?
Krieg im Irak bekomme ich wöchentlich Hunderte
von Emails. Ungefähr zehn Prozent äußern sich posi- Jeff Gedmin: Die gibt es, aber was bedeutet sie wirk-
tiv. Sechzig Prozent sind sehr kritisch, aber anständig lich? In der arabischen Welt, etwa bei den Palästinen-
und fair. Dreißig Prozent sind absolut antiamerika- sern, sind amerikanische Filme und Turnschuhe sehr
nisch, absolut antisemitisch. populär, auch genau bei denen, die die Israelis und
Amerikaner umbringen. Begeisterung ist also kom-
Bulletin: Beides? plex und bedeutet nicht unbedingt, pro-amerikanisch
zu sein.
Jeff Gedmin: Ja, beides, dabei bin ich nicht jüdischen,
sondern katholischen Glaubens. Aber Amerika und Bulletin: Von politisch linker Seite – in Deutschland
Judentum, das wird hier zusammengedacht. Auch die wie in den USA – werden als Grund für den Irak-Krieg
Sprache in den Hassbriefen ist ähnlich. Dort steht: vor allem Kapital- und Machtinteressen angeführt. Ist
Jew-Fucker, Son of a whore. das ein antiamerikanisches Stereotyp: Die wollen nur
Macht und Geld?
Bulletin: Haben Sie eine derart heftige Reaktion auf
den Irak-Krieg erwartet? Jeff Gedmin: Ja, das ist ein ganz altes Vorurteil. Die
Nazis und Mussolini haben auch davon gesprochen:
Jeff Gedmin: Was ich erwartet habe, war Kritik und Die amerikanische Bevölkerung als Mischung von
Auseinandersetzung. Was ich nicht erwartet habe, Schwarzen und Juden, und die Juden haben die
war die große Wut, mit der Amerika oder die Ameri- Macht, kontrollieren die Presse und die Banken. Im
kaner beschimpft werden. Mich hat enttäuscht, wie letzten Sommer sagte ein Geschäftsmann hier in
das Thema angesprochen wurde. Gerade die jüngeren Deutschland zu mir: »Jeff, es sind die Juden, nicht
Menschen in Deutschland, die diese Plakate getragen wahr?« Ich sagte: »Was meinen Sie?« »Richard Perle,
haben: »Amerikaner sind Kriegstreiber«, »Bagdad – Paul Wolfowitz, es ist diese jüdische Gruppe, die den
Dresden«, das hat nichts mit der Realität zu tun. Krieg will wegen Israel, wegen der Wirtschaft und na-
türlich wegen des Öls.« Dabei haben diese ganzen
Hardliner in der Bush-Administration immer einen
Bulletin: Wie weit geht berechtigte Kritik, wo schlägt Ich bin immer stolz darauf, Amerikaner zu sein, wenn
sie in Antiamerikanismus um? wir in dieser Welt etwas Gutes tun. In Bosnien zum
Beispiel, im Kosovo. Ich bin stolz darauf, dass wir das
Jeff Gedmin: Ich habe aufgehört, den Begriff Anti- Regime in Bagdad beseitigt haben, einen fürchter-
amerikanismus zu benutzen. Wenn ich das Wort in ei- lichen, gewaltbesessenen Diktator. Jetzt gibt es dort
ner Rede erwähne, ob in Bayern, Hamburg oder Er- neue Chancen. Vielleicht ist diese Hoffnung naiv und
furt, werden 95 Prozent der Zuhörer wütend und be- typisch amerikanisch. Ein etwas primitiver Sinn-
streiten, dass es Antiamerikanismus in Deutschland spruch besagt: »Amerikaner zu sein, heißt, an eine
gibt. Also, ich finde das wirklich hoffnungslos. besseres Morgen zu glauben.« Wie immer die Welt
Ich habe Freunde in Deutschland, die Bush nicht lei- aussieht, wie schwierig es im Moment ist und wie
den können, aber nicht antiamerikanisch sind. Wo schwierig es noch werden mag, es kann morgen besser
liegt genau die Grenze? In den meisten Fällen wird es werden, wir haben Möglichkeiten, wir können Ent-
Antiamerikanismus, wenn sich die Faktoren häufen, scheidungen treffen. Das muss nicht exklusiv ameri-
auch eine bestimmte Sprache und Gestik dazukommt. kanisch sein, aber wir haben auf jeden Fall diesen pa-
Wenn ein Gesprächspartner kaum gegen etwas Kon- thologischen Optimismus. Der hat natürlich auch
kretes argumentiert, sondern dagegen, wie »die Ame- Nachteile, für mich aber viele Vorteile. Wo Europäer
rikaner« oder »die Deutschen« angeblich sind. Meine sagen: Seid nicht naiv, die Welt ist komplex und kom-
Einschätzung beruht auf einer Fülle von Eindrücken, pliziert, sagen Amerikaner: Wenn es ein Problem gibt,
etwa, wie ein Mensch Dinge anspricht. Aber ich kann akzeptiere es nicht, sondern versuche, es zu lösen.
die Frage nicht vernünftig beantworten, wie würden Während ich in Salzburg Musik studierte, habe ich oft
Sie sie beantworten? Freunde in Ostberlin besucht. Die Situation, in der sie
lebten, wie ein Staat Menschen unterdrückt und wel-
Bulletin: Dass pauschale negative Zuschreibungen chen Freiheitsdrang diese Menschen hatten, das hat
antiamerikanisch sind, wie »die Amerikaner sind mich stark beeindruckt. Weil mir die Freiheit ganz be-
oberflächlich«. Differenzierung ist wichtig, die Ver- sonders wichtig ist, will ich, dass wir die Idee der De-
meidung von Pauschalurteilen. Es ist antiamerika- mokratie unterstützen. Und das verbindet uns doch,
nisch, wenn Menschen angegriffen werden, nur weil Europa und die USA, diese Interessen und Werte.
sie Amerikaner sind und damit einer Person über die
Nationalität ein Bild zugeschrieben wird, das Ableh-
nung und Hass auslöst.
Wenigen blieb es überlassen, vornehmlich ehemaligen Berlin 2003. An der Hauswand sind die Fahnen von
Emigranten wie Max Horkheimer oder Theodor W. Palästina und den sozialistischen Ländern Kuba und
Adorno, vor Simplifizierungen und Gleichsetzungen Nordkorea abgebildet. Der Spruch: »Verteidige dich
zu warnen. Bei der Eröffnung der deutsch-amerikani- gegen die US-Aggression.«
schen Freundschaftswoche am Frankfurter Römer-
berg im Mai 1967 benannte Horkheimer »das Furcht-
bare« des Vietnamkrieges, doch zugleich verwies er Horkheimer fügte erläuternd hinzu: Der Freiheit, wie
sowohl auf die lange Tradition Amerikas, welches sie die USA über Jahrhunderte repräsentiere, und die
»immer seine Arme geöffnet hat« für diejenigen »in Kritik erst ermögliche, sei »die Treue zu halten«, da
Europa, [die] ihrer freiheitlichen Gesinnung willen ansonsten eben jene angeklagte Gewalt »zum fremden
verfolgt waren« als auch auf das Nationalgefühl, das Sinn der eigenen Rede« werden könne.(19)
sich in Deutschland »mehr aufs Vaterland, in Amerika Das Ende der Studentenbewegung und ihr Zerfall in
mehr auf die »Constitution und die Bürgerrechte«(15) K-Gruppen markierte dann endgültig den Beginn ei-
beziehe. Der SDS sah sich daraufhin veranlasst, einen nes linken Amerikahasses und korrespondierte nicht
Brief an Max Horkheimer zu verfassen, in dem die- per Zufall mit einem rabiaten Antizionismus. Hork-
sem erläutert wurde, er habe mit seiner Stellungnah- heimer kritisierte 1967 den Umschlag der Linken vom
me »für den amerikanischen Krieg in Vietnam« Philosemitismus in den Antizionismus und notierte:
Handgreiflichkeiten gegen ihn selbst provoziert. Denn Ȇberall dort, wo der Anti-Amerikanismus sich fin-
ihre Analyse, »daß der Faschisierungsprozeß der ame- det, (macht) auch der Antisemitismus sich breit.«(20) Es
rikanischen Gesellschaft sich beschleunige (16) sei eine dauerte dann nur noch zwei Jahre bis pünktlich zum
unumstößliche Tatsache. 31. Jahrestag der so genannten »Reichskristallnacht«
In der daran anschließenden Auseinandersetzung zwi- in der Berliner jüdischen Gemeinde von Linken eine
schen Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Brandbombe deponiert wurde, da »aus den vom Fa-
Max Horkheimer verteidigte Marcuse das Vorgehen schismus vertriebenen Juden selbst Faschisten gewor-
der Studenten. Denn für Marcuse, dem Amerika nicht den sind«, die mit dem »amerikanischen Kapital« kol-
nur Zuflucht vor dem Nationalsozialismus geboten, laborieren würden. (21) Obwohl die Linke fast jeden ka-
sondern der auch große Hoffnungen in dieses Land pitalistischen Staat, manchen mehr, manchen weniger
gesetzt hatte, erschien der Vietnamkrieg als Verrat an als faschistisch bezeichnete ,(22) so erschienen doch seit
jenen Idealen, um deretwillen er im Zweiten Welt- Ende der sechzigerer Jahre die USA als besonders
krieg, nach langen Überlegungen, für den US-ameri- imperialistisch und damit in der Projektion als faschi-
kanischen Geheimdienst gearbeitet und dort die so ge- stisch,da das »amerikanische Versprechen« von Frei-
nannten »Feindanalysen« verfasst hatte. In seiner Ent- heit und Gleichheit anscheinend nicht mehr in seinem
täuschung über den Krieg der USA in Vietnam schrieb Ursprungsland zu finden war, sondern nun in den Be-
er in einem Brief an Theodor W. Adorno sogar: »Laß freiungsbewegungen der so genannten Dritten Welt.
mich meine Meinung so extrem wie möglich ausspre-
chen. Ich sehe im Amerika heute den historischen
Erben des Faschismus.«(17) Begeistert wurde von den Die Friedensbewegung und der
sozialistischen Studenten dieser Satz aufgegriffen,
während Marcuses Forderungen nach neuen »Imperi- »Holocaust« am deutschen Volk
alismusanalysen« ungehört verhallten. Ebenso wie
seine, von ihm in den Jahren 1934–38 entwickelten Die deutsche Friedensbewegung, die hauptsächlich die
Kategorien über den »total-autoritären Staat«, dem weltweite Abrüstung forderte und weniger an Imperi-
der »heroisch-völkische Realismus«, der »irrationalis- alismusanalysen interessiert war, stellte in den Mittel-
tische Naturalismus«, und die »›Urgegebenheit‹ des punkt ihrer Ausführungen »die konkrete Bedrohung
Volkes«(18) inhärent seien, die eben nicht auf die USA Deutschlands«, wobei es durchaus vorkommen konn-
der 60er Jahre übertragen werden konnten, die in der te, dass in einem Atemzug die Befürchtung geäußert
Studentenbewegung der Vergessenheit anheim fielen. wurde, durch die konfrontative Politik der Amerika-
In dem bereits oben erwähnten Briefwechsel analy- ner gegenüber der Sowjetunion sei vor allem Deutsch-
sierte dagegen Adorno, dass immer im »Protest gegen land bedroht, welches nichts als eine »amerikanische
die Amerikaner etwas Ideologisches« mitschwinge. Militärkolonie« sei, um unmittelbar daraufhin fortzu-
Besonders der so genannte »Ethnopluralismus« ist Insgesamt handelt es sich hier um eine mit der in der
grundlegendes ideologisches Konstrukt in den Euro- politischen Realität immer weiter voranschreitenden
pa-Konzepten des rechten Lagers: Man nimmt eine In- demokratischen europäischen Integration konkurrie-
kongruenz verschiedener menschlicher Kulturen an. rende völkisch-nationalistische, anti- bzw. postdemo-
Deshalb müsse versucht werden, eine Koexistenz der kratische Europakonzeption. Folgende zentrale Ideo-
Völker zu organisieren, innerhalb derer die unter- logeme lassen sich herausarbeiten:
schiedlichen Gemeinschaften nach ihrer jeweiligen 1. Eurozentrismus; europäische und nationale Iden-
ethnisch bedingten Eigenart abgeschottet voneinander tität gegen den Zerfall der okzidentalen Struktur, 2.
und somit scheinbar »gleichberechtigt« leben. Dieses Antiamerikanismus und Anti-Verwestlichung, 3. Be-
»Grundrecht auf Verschiedenheit« zielt auf eine Viel- freiungsnationalismus und Ethnopluralismus, 4. Geo-
falt einheitlicher Kulturen mit dem grundlegenden politik, Orientierung an einem zentraleuropäischen
Zweck, dass die »eigene« nicht »rassisch durch- Machtkern.
mischt« wird.(21) Multikulturelle Gesellschaften, die
als multirassisch gelten und jede »Gleichheitsideolo-
gie« stoßen mithin auf Ablehnung. Das »Grundrecht
auf Verschiedenheit« ist realiter eine »Pflicht« zur
Unterschiedlichkeit, aus der eine Ungleichheit und ei-
ne Verhinderung von Migrationsbewegungen, vor al-
lem Einwanderung, resultiert. Die biologistische Be-
gründung wird überaus deutlich. Nämlich: Blut und
Boden gehören zusammen.(22) Eine Funktion des Anti-
amerikanismus besteht also darin, indirekt gegen die
vermeintliche Überfremdung in Deutschland anzuge-
hen, da die USA als Musterbeispiel für ein Einwande-
rungsland und eine multikulturelle Gesellschaft, in der
»sogar Juden« einflussreiche Positionen bekleiden
können, gelten.
Bulletin: Wie ist die politische Bildung bisher mit dem Kirsten Döhring: In unserem Projekt liegt der
Problem Antisemitismus umgegangen? Schwerpunkt auf der – mehr oder weniger direkten –
Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, und
Barbara Schäuble: Eigentlich gar nicht. Nachdem zwar mit seinen Mechanismen und Ursachen sowie
wir endlich selbst den dringenden Handlungsbedarf der Funktion, die er in unserer Gesellschaft hat. Unser
AnsprechpartnerInnen
bei dem DGB Bildungswerk:
Telefon 0361. 21 72 70
bausteine@dgb-bwt.de
94 perogprb
Sanem Kleff ist stellvertretende Vorsitzende der Ge-
werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin
Große Politik
und Vorsitzende des GEW-Bundesausschusses für im Klassenzimmer
multikulturelle Angelegenheiten. Außerdem leitet die
Hauptschullehrerin das Projekt »Schule ohne Ras-
sismus – Schule mit Courage«. Zur pädagogischen Auseinandersetzung
mit Antisemitismus unter Jugendlichen in
Hans-Heinrich Knebel ist Lehrer für Sport, Geogra- multikulturellen Lerngruppen
phie und Sozialkunde, derzeit an einer Erzieherfach-
schule im Osten Berlins. Er engagiert sich im Projekt Sabine Diederich, Bernd Fechler und
»Standpunkte – Berliner Pädagogen gegen Rechtsex- Holger Oppenhäuser
tremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt« und
bietet Anti-Gewalt-Trainings und Schülerprojekte zur
»Rettung von Juden in Berlin 1933-1945 – Vorbild- »Du Jude« bzw. türkisch »Yahudi« lautet eine belieb-
wirkung der Retter« an. te Beschimpfung während eines Bildungsurlaubes mit
Azubis einer gemeinnützigen Ausbildungswerkstatt,
Chana Steinwurz ist Sonderschulpädagogin mit dem vorwiegend mit türkischen, arabischen und russischen
Schwerpunkt Hörgeschädigtenpädagogik und arbeitet Migrationshintergründen. In der allmorgendlichen
an der Ernst-Adolf-Eschke-Schule für Gehörlose im »›Gibt’s was’-Runde« spricht ein Teamer dies an: »Ich
Westen Berlins. Auch sie ist eine Pädagogin des Pro- kenne das als Schimpfwort von deutschen Neonazis –
jektes »Standpunkte – Berliner Pädagogen gegen wie meint ihr das?«. Sichtlich getroffen sagen die Ju-
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Ge- gendlichen zunächst, das sei nur ein »Spaß«, und auf
walt«, in dessen Rahmen sie Workshops für Lehrerin- Nachfrage, sie benutzten das Wort im Sinne von
nen und Lehrer zum Umgang mit Rassismus anbietet. »Geier, weil die Juden ja auch Geier sind«. In der an-
Außerdem ist sie als Mediatorin tätig und engagiert schließenden Diskussion thematisieren wir Vorurteile,
sich beim Demokratieerziehungsprogramm »Hands insbesondere die historischen Wurzeln des Bildes vom
across the Campus«. »Wucher-Juden«. Bei den Jugendlichen entwickelt
sich daraus eine Diskussion über Kurden in der Tür-
kei und aus der Gruppe kommt das Angebot: »Wir
Das Projekt »Standpunkte« ist ein Kooperations- lassen das Wort, wenn es euch stört.«
projekt zwischen dem Lisum und der RAA Berlin
und hat das Ziel, durch Fortbildung und Entwik- Auf einem anderen Bildungsurlaub in ähnlicher Kon-
klung die Rolle der Lehrkräfte in der Auseinander- stellation erklärt ein marokkanischer Jugendlicher
setzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und nach einer Einheit zum Thema Zukunft: »Ich hab’
Antisemitismus zu stärken. Durch Selbstorganisa- doch was, was mir Sorgen macht, nämlich die Juden.
tion, Entwicklung und Förderung von Projekten Aber das darf ich ja hier nicht sagen, sonst gelte ich
sowie Formen der bezirklichen Vernetzung bildet als Rassist.« Auf die Rückfrage, ob es denn rassistisch
»Standpunkte« über die Lehrerfortbildung hinaus sei, meint er »Ich weiß es nicht«. Nachdem er später
eine Brücke zwischen Schule und Kommune und von unserer Arbeit in der Jugendbegegnungsstätte An-
leistet einen Beitrag zu einer nachhaltigen Beitrag ne Frank hört, sagt er »Anne Frank ist lange her, heu-
zur Stärkung der Zivilgesellschaft. te geht der Rassismus gegen uns. Macht doch dazu
mal was.«
perogprb 95
leitung reagieren alarmiert. Der Konflikt eskaliert. Die pädagogische Ansätze und Zielsetzungen, die in
Eltern fühlen sich und ihre Kinder vorschnell »als Deutschland nach 1945 mit Blick auf einen homogen
rechtsradikal gebrandmarkt« und drohen mit gericht- deutschen Adressatenkreis formuliert worden waren,
lichen Schritten. müssen angesichts multikulturell zusammengesetzter
Lerngruppen erweitert bzw. ganz reformuliert wer-
»Unsere Lehrer haben einfach keine Argumente. Wir den.
lesen viele Bücher von dort, aus Afghanistan, aus dem Auf diese neue Herausforderung einer »Erziehung
Iran. Und wenn ich denen sage, was wir aus dem nach Auschwitz« in der multikulturellen Gesellschaft(1)
Internet über Juden und Amerika wissen, dann flip- versuchen wir in der Jugendbegegnungsstätte Anne
pen die aus.« Vier afghanische Jugendliche, die als Frank Antworten zu finden. Dabei werden wir immer
Flüchtlinge vor zwei Jahren nach Deutschland gekom- öfter von Schulen und außerschulischen Einrichtun-
men sind und in der Schule schnell Anschluss gefun- gen für Fortbildungen oder Beratungen angefragt, die
den haben, haben von ihren Lehrern »Sprechverbot« schwierige Unterrichtssituationen und Konflikte zum
erteilt bekommen. Bei einem ersten klärenden Ge- Inhalt haben, in denen sich Lehrkräfte und Pädago-
spräch betonen die Jugendlichen ihre Skepsis gegenü- gInnen überfordert fühlen.
ber dem, was in Deutschland zum Thema NS-Zeit Besonders irritiert und ratlos zeigen sich viele gegenü-
und Holocaust vermittelt wird. »Die haben ihre Be- ber den antisemitischen Äußerungen junger Migran-
weise, wir haben unsere Beweise. Da müssen die erst ten und Migrantinnen. Auch wir stoßen bei unseren
mal kommen.« Projekttagen, die wir zum Thema Rassismus und
Rechtsextremismus für Schulklassen und Jugendgrup-
pen anbieten (2), immer öfter auf dieses Thema und da-
»Erziehung nach Auschwitz« mit nicht selten an unsere Grenzen.
Wie dem aktuellen Antisemitismus unter Jugendlichen
in der Einwanderungsgesellschaft und Erwachsenen pädagogisch begegnet werden kann
– sowohl als explizites Thema von Unterrichtsein-
Ausläufer der aktuellen, weltweit anwachsenden anti- heiten und Projekttagen als auch in der spontanen
semitischen Welle sind längst auch in deutschen Bil- Reaktion dann, wenn »die Juden« in politischen Dis-
dungseinrichtungen zu registrieren. Sie artikulieren kussionen zum Thema werden – ist für uns Gegen-
sich vor allem in antiisraelischen Stellungnahmen von stand intensiver und praktischer Suchbewegungen.
SchülerInnen und LehrerInnen zum Nahostkonflikt Aus diesen Diskussionen möchten wir im Folgenden
und in Verschwörungstheorien zu den Terroranschlä- einige Überlegungen skizzieren. Sie sind als Zwischen-
gen vom 11. September 2001. Hinzu kommen die ergebnisse eines längst nicht abgeschlossenen Verstän-
unterschiedlichsten Bezugnahmen auf den Holocaust, digungsprozesses zu lesen. (3)
wie sie sich in der Rezeptionsgeschichte nach 1945 als
Leugnungs-, Relativierungs- oder Schuldabwehrdis- 1. Antisemitismus junger MigrantInnen
kurse herausgebildet haben. Die Komplexität dieser im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse
Situation ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass päda-
gogische Konzepte gegen Antisemitismus in einer Ge- Wer sich auf die zweifellos problematischen Aussagen
sellschaft gefunden werden müssen, die in der Täter- von jugendlichen Migranten und Migrantinnen kon-
nachfolge von Auschwitz steht und gleichzeitig zu zentriert, läuft Gefahr, Erkenntnisse über ihre Lebens-
einer Einwanderungsgesellschaft geworden ist. Viele und Lernsituation auszublenden, die sich gerade erst
mühevoll in der Diskussion durchzusetzen beginnen.
Das Urteil über auffälliges Verhalten sozialer wie eth-
nischer Minderheiten stützt sich im Alltag allzu häufig
noch auf einen Begriff »gesellschaftlicher Norma-
lität«, der die komplexen Macht- und Herrschaftsver-
hältnisse, in die unsere Gesellschaft eingebettet ist,
auszublenden droht. Dabei verläuft das Verhältnis
von »Etablierten und Außenseitern« (4) auch in pluralis-
tischen Gesellschaften wie der unseren immer noch
entlang der Linien von wirtschaftlicher Ungleichver-
teilung, Geschlecht und vermeintlicher Abstam-
mungskollektive. Solche ökonomischen, rechtlichen
und politischen Formen »struktureller Gewalt« (Jo-
hann Galtung) bestimmen die Art und Weise, wie Pri-
vilegien in der Gesellschaft verteilt werden und wie
die Auseinandersetzung über diese Privilegien geführt
Graffiti in Berlin-Kreuzberg. Geschickt lässt es offen, wird.
ob Imperialismus in Palästina oder Irak gemeint ist. Ein Ausdruck dieser »Dominanzgesellschaft« (5) sind
Es kann von linken, rechten oder islamistischen Anti- zum einen kulturalisierende (6) Diskurse über Migran-
zionisten oder Antiamerikanern stammen. ten und Migrantinnen, z. B. solche über »rückständi-
Bild: Weber ge Machokulturen«, die zugleich über hiesige Formen
Die Grundannahme, dass ein positives Beispiel immer Bulletin: Nun haben Sie ja bisher in Bezug auf gegen-
zur Nachahmung anleitet, ist in der Tat nicht unpro- wartsbezogene Bildungsziele nur von Rassismus ge-
blematisch. Die Erfahrungen belegen immer wieder, sprochen. Eine Auseinandersetzung mit aktuellem
dass solche Methoden auch kontraproduktiv wirken Antisemitismus findet demnach also in der historisch-
können. Das zeigt sich bei der Beschäftigung mit politischen Bildung eher selten statt?
Widerstandskämpfern oder mit den Helfern, wenn
zum Beispiel ein Oskar Schindler als positives Beispiel Das ist richtig. Es ist ja eine ganz neue Entwicklung
für das eigene Verhalten dargestellt wird. Der Schind- des letzten Jahres oder vielleicht der letzten zwei Jah-
ler-Film wird ja in den Schulen viel benutzt. Diese Per- re, dass aktueller Antisemitismus in der Bildungsar-
sönlichkeiten und ihre Handlungsmöglichkeiten ha- beit überhaupt als Thema wahrgenommen wird. In
ben aber nichts mit dem Alltag der Schülerinnen und der Vergangenheit tauchte das Problem zwar manch-
Schüler zu tun. Sie sind zu weit weg von den eigenen mal im Zusammenhang mit Jugendlichen auf, die
Verhaltensweisen, ihr Handeln wird als unerreichbar nicht aus deutschen Familien stammen und die sich im
wahrgenommen und wirkt dann eher abschreckend. Hinblick auf Juden auf eine weniger vorsichtige Art
äußern. Hier wurden auch gegenüber jüdischen Mit-
Bulletin: Gilt das für alle Helfer? schülern klassische antisemitische Stereotype verwen-
det, die Mehrheitsdeutsche einfach nicht so schnell
Wir versuchen in unserem eigenen Konzept, stattdes- aussprechen. Aber obwohl sich schon seit Längerem
sen »kleine Helfer« vorzustellen oder vielleicht auch gezeigt hat, dass viele Lehrkräfte nicht wissen, wie sie
nur Menschen, die nicht aktiv mitgemacht haben. Al- auf solche Äußerungen reagieren sollen, wurde dieses
so Menschen, die Verhaltensweisen an den Tag gelegt Problem von der Pädagogik nie systematisch angegan-
haben, die sich für durchschnittliche Leute im Bereich gen.
des Machbaren bewegen. Dieser Ansatz wird auch
von anderen in letzter Zeit immer mehr benutzt. Sol- Bulletin: Haben Sie solche Erfahrungen auch im Rah-
che Geschichten sind dann tatsächlich für Jugendliche men Ihrer Beratungstätigkeit gemacht?
relevanter, weil man daran die Frage diskutieren kann,
ob man sich auch selbst vorstellen könnte, sich so zu Beratungsanfragen von Lehrkräften oder Schülern,
verhalten. Dann kommt man sehr schnell zu den eige- die solche Probleme in ihren Klassen haben, hatten
nen Erfahrungen. Wir suchen also eher nach alltäg- wir im Fritz Bauer Institut schon vor zehn Jahren. Wir
licheren Situationen. Die Lerngruppen ziehen dann haben das damals in den Beratungssituationen eher si-
von alleine schnell den Bogen zur Gegenwart. tuativ gehandhabt. Bei einer Schule zum Beispiel, an
Das Projekt wird gefördert im Rahmen des Bundes- Studierende vor der Humbold-Universität im Mai
programms »CIVITAS – initiativ gegen Rechtsextre- 2002 anläßlich des Bush-Besuches in Berlin.
mismus in den neuen Bundesländern«. Quelle: Krasse Zeiten
■ Jugendbegegnungsstätte Anne Frank Tobias Ebbrecht ist Filmwissenschaftler und lebt als freier Au-
tor in Berlin.
Anhang 109
Ausgewählte Literatur Thomas Uwer, Arn von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike: Ame-
rika, dich hasst sich’s besser, Hamburg 2003
Jan C. Behrends u.a. (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. In der Schreiftenreihe Bulletin des Zentrum Demokratische Kultur
Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutsch- erschienen in den Jahren 2002/2003 im Ernst Klett Schulbuchver-
land, Berlin 2003 lag Leipzig folgende Bände, die für jeweils 4 € über die Homepage
des ZDK (www.zdk-berlin.de) bei »Bulletin« oder über die Inter-
Werner Bergmann, Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepu- net-Seiten des Klett-Verlages (unter »Zusatzmaterialien«) bestellt
blik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung 1946 – werden können:
1989, Leske und Budrich 1991
Bulletin 1/2002
Werner Bergmann, Rainer Erb: Antisemitismus in der politischen Rechtsextremismus heute. Eine Einführung in Denkwelten, Er-
Kultur nach 1945. Opladen 1990 scheinungsformen und Gegenstrategien
Informationen über rechtsextreme Alltagskultur, die sich in Klei-
Henryk M. Broder: Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der dung, Musik, Symbolen und im Internet äußert. Außerdem werden
Terror, Berlin-Verlag, Berlin 2002 wesentliche Strategien der extremen Rechten, Organisationsstruk-
tur und –geschichte sowie Gegenstrategien dargestellt.
Micha Brumlik u.a. (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland seit ISBN: 3-12-060201-9
1945, Frankfurt am Main 1988
Bulletin 2/2002
Helmuth Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland, » ... dann hab’ ich mir das Hitlerbärtchen abrasiert.«
Frankfurt am Main 1995, 2. Auflage EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene
Beschreibung des Projekts EXIT und des Projekts EXIT-Elternini-
Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion tiative (Unterstützung für Eltern rechtsextrem-orientierter Jugend-
eines beständiger Gefühls, Frankfurt/Main 1986 licher). Außerdem geben Aussteiger und Aussteigerinnen einen
persönlichen Einblick aus erster Hand über ihre Erfahrungen in
Detlev Claussen: Die Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaft- der Szene. Diese Berichte eignen sich als Material im Unterricht.
liche Genese des modernen Antisemitismus. Frankfurt/Main 1987 ISBN: 3-12-060202-7
110 Anhang
Adressen Opferperspektive e.V.
Beratung von Opfern rechtsextremer Gewalt
Lindenstraße 47
14467 Potsdam
Telefon: 0171. 193 56 69
Adressen, Projekte und Fax : 01212. 5-11559889
Ansprechpartner im ZDK: info@opferperspektive.de
www.opferperspektive.de
Zentrum Demokratische Kultur
Rechtsextremismus, Jugendgewalt, Neue Medien Amadeu Antonio Stiftung
Chausseestraße 29 Linienstraße 139
10115 Berlin 10115 Berlin
(U-Bhf. Zinnowitzer Straße) Telefon: 030. 24 08 86 10
Telefon: 030. 240 45-320 Fax: 030. 24 08 86 22
Fax: 030. 240 45-309 info@amadeu-antonio-stiftung
Email: info@zdk-berlin.de www.amadeu-antonio-stiftung.de,
Internet: www.zdk-berlin.de www.mut-gegen-rechte-Gewalt.de
Ansprechpartner: Cordula Mäbert
AG Netzwerke gegen Rechtsextremismus
Gesellschaft für Demokratische Kultur GmbH c/o Stiftung Demokratische Jugend
Chausseestraße 29 Grünberger Straße 54
10115 Berlin 10245 Berlin
Telefon: 030. 240 45-320 Telefon: 030. 29 04 40 84
Fax: 030. 240 45-309 info@ag-netzwerke.de
Geschäftsführer: Bernd Wagner www.ag-netzwerke.de
Anhang 111
Informations- und Dokumentationszentrum
für Antirassismusarbeit (IDA) e.V.
Volmerswerther Straße 20
40221 Düsseldorf
Telefon: 0211. 159 25 55
Fax: 0211. 159 25-69
info@idaev.de
www.idaev.de
Miphgasch/Begegnung e.V.
Samariterstraße 27
10247 Berlin
Telefon: 030. 47 47 48 05
Fax: 030. 47 47 48 06
miphgasch@gmx.de
www.miphgasch.de
Projekt »Standpunkte«
c/o Berliner Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM)
Beuthstraße 6-8
10117 Berlin
Telefon: 030. 901 71-0
Tacheles Reden! –
Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus e.V.
Lausitzer Straße 10
10999 Berlin
Telefon: 030. 69 51 68 15
Fax: 030. 69 51 68 17
info@tacheles-reden.de
www.tacheles-reden.de
112 Anhang