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Judenfeindschaft
in Geschichte und Gegenwart
Handbuch des Antisemitismus
Judenfeindschaft
in Geschichte und Gegenwart
Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung
der Technischen Universität Berlin
herausgegeben von Wolfgang Benz
in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann,
Johannes Heil, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa
Band 1
Länder und Regionen
Band 2
Personen
Band 3
Begriffe, Theorien, Ideologien
Band 4
Ereignisse, Dekrete, Kontroversen
Band 5
Organisationen, Institutionen, Bewegungen
Band 6
Publikationen
Band 7
Film, Theater, Literatur und Kunst
Handbuch des Antisemitismus
Judenfeindschaft
in Geschichte und Gegenwart
Band 3
De Gruyter Saur
ISBN 978-3-598-24074-4
e-ISBN 978-3-11-023379-7
© Copyright 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York.
Printed in Germany
www.degruyter.com
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Vorwort
Das Handbuch des Antisemitismus thematisiert im 3. Band in mehr als 150 Artikeln Be-
griffe, Theorien und Ausprägungen der Judenfeindschaft und der Ideologien, die für den
Zusammenhang wichtig sind. Den einzelnen Phänomenen des Judenhasses sind Lemma-
ta wie Antijudaismus, Antizionismus, Erlösungsantisemitismus, islamisierter Antisemi-
tismus, Judeophobie, Radauantisemitismus und Literarischer Antisemitismus, Rassenan-
tisemitismus, Sekundärer Antisemitismus, Linker Antisemitismus, Völkischer Antisemi-
tismus, Überfremdungsantisemitismus oder Moderner Antisemitismus gewidmet. Wie
notwendig begrifflich geschärfte Definitionen im historischen und gesellschaftlichen
Kontext sind, zeigen die alltäglichen Missverständnisse, wenn etwa der „Moderne Anti-
semitismus“, der als Rassenideologie im 19. Jahrhundert in Ablösung des religiösen An-
tijudaismus entstanden ist und vom NS-Regime im Völkermord an den Juden Europas
agiert wurde, mit aktuellen Erscheinungen der Judenfeindschaft wie dem Islamismus
verwechselt wird.
Einzelne Ereignisse wie die Massaker und Pogrome, deren Opfer Juden seit dem Mit-
telalter in aller Welt waren, z. B. in Auswirkung des Ritualmordvorwurfs, werden im
vierten Band des Handbuchs (Ereignisse, Dekrete, Kontroversen) behandelt. Im dritten
Band werden Voraussetzungen, Definitionen, grundsätzliche Entwicklungen in Artikeln
wie Friedhofsschändungen, Pogrom, Holocaust, Kennzeichnung und J-Stempel, Selekti-
on, Xenophobie erläutert. Dazu gehören auch spezielle Begriffe wie „curăţirea terenu-
lui“, die rumänische Doktrin der „Reinigung des Terrains“, die den Massenmorden in
Bessarabien und der Bukowina im Sommer 1941 voranging, oder der „Integralismo Lu-
sitano“, jener Ideologie in Portugal, die vor dem Ersten Weltkrieg Rassismus propa-
gierte, oder die „Limpieza de sangre“, ein Begriff, der im Spanien des 15. Jahrhunderts
entstand und dazu diente, Juden und Muslime wegen ihres „unreinen Blutes“ auszugren-
zen. Nicht immer fiel es dem Herausgeber und der Redaktion leicht zu entscheiden, wel-
cher Eintrag dem Band 3 wegen grundsätzlicher Bedeutung und welcher dem Band 4
wegen seiner speziellen Relevanz zuzuweisen war.
Pejorativa mit langer Tradition wie Bankjude, Drückeberger, Kriegsgewinnler, Korn-
jude, Schacherjude oder Wucherjude sind ebenso als Begriffe mit ihren Ursprüngen er-
klärt wie stereotype Vorwürfe und Zuschreibungen, die seit dem Mittelalter aus der
Mehrheitsgesellschaft gegen die jüdische Minderheit als Waffen verwendet werden:
Brunnenvergiftung, Gottesmord, Hostienfrevel, Rassenschande oder die Ritualmordbe-
schuldigung.
Für Konvertiten und Zwangsgetaufte, die als Juden zum Christentum übertraten, ohne
damit in der Regel dem Misstrauen und der Feindseligkeit der christlichen Gesellschaft
zu entgehen, gibt es eine Vielzahl regionaler Bezeichnungen; im Umkreis spanischer
und portugiesischer Herrschaft entwickelten sich unter dem Oberbegriff Conversos viele
Variationen wie Marranen, Meshumadim, Moriscos, Neofiti, Xuetas. Dazu gehörten
auch die Lançados an der Westküste Afrikas oder die Tangomaus auf den afrikanischen
Atlantikinseln. Anusim („Gezwungene“) hießen im rabbinischen Verständnis die Juden,
die durch Zwangstaufe Christen geworden waren. Als Neuchristen oder Kryptojuden
lebten sie seit dem 16. Jahrhundert stets unter dem Argwohn der Mehrheit, nicht anders
vi Vorwort
als die Dönme im Osmanischen Reich, die zum Islam übergetretenen Juden, die vor al-
lem im Raum Thessaloniki siedelten.
Klassische Begriffe der Judenfeindschaft sind die „Judensau“, das „Mauscheln“, der
Spottruf „Hepp Hepp“, die „Verjudung“ oder das „Weltjudentum“. Das Motiv der „Ju-
densau“ verbindet das Schwein als Sinnbild des Teufels in der christlichen Ikonographie
mit dem Wunsch, Juden, für die das Tier als unrein gilt, durch die Verbindung zu demü-
tigen. Seit dem Spätmittelalter erscheint die „Judensau“ als Skulptur oder im Bild in der
künstlerischen Ausstattung christlicher Gotteshäuser. Mit „Hepp Hepp“ wurden Juden
vom Mob am Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Straßen gehetzt. In den 1870er Jah-
ren entstand der Bäderantisemitismus, bei dem Gastwirte, Kurverwaltungen, Pastoren
und andere Notablen zusammenwirkten, um ihre Sommerfrischen – z.B. die Insel Bor-
kum – „judenfrei“ zu machen. Man war sich einig in der Ablehnung der „Itzigs“, übte
sich in Namens- und Talmudpolemik und konstruierte „jüdische“ Eigenschaften wie das
„Mauscheln“: Ursprünglich als abschätziger Name für Juden (nach der aschkenasisch-
jiddischen Aussprache für Moshe und dessen Diminutiv Mauschel) gebraucht, wurde
daraus ein Verb mit der doppelten Bedeutung: wie ein Jude verderbtes Deutsch sprechen
und wie ein Jude, nämlich betrügerisch, handeln.
Der Vorwurf, eine Gesellschaft oder die Wirtschaft, die Kultur, die Presse oder die
Politik seien „verjudet“, wurde im 19. Jahrhundert – im Kontext der „Judenfrage“ – kul-
tiviert und breitete sich aus wie die Vermutung, es existiere ein verschwörerisch gegen
die Mehrheit operierendes „Weltjudentum“, bis es den Zenit in der nationalsozialisti-
schen Propaganda erreichte, die mit diesem Vokabular den Völkermord vorbereitete.
Auf unterschiedliche Weise wurden Pläne zu Legenden. Ob der „Fugu-Plan“ über ein
jüdisches Siedlungsgebiet unter japanischer Oberhoheit je existiert hat, ist fraglich. Der
„Madagaskar-Plan“, nach dem 1940 die europäischen Juden auf die Insel vor Ostafrika
deportiert werden sollten, wurde im Auswärtigen Amt zusammen mit dem Reichssicher-
heitshauptamt eine Zeitlang diskutiert, er war realer als die Idee des US-Ministers Henry
Morgenthau jr., Deutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu entindustria-
lisieren. Entgegen verbreiteter Meinung gehörte der „Morgenthau-Plan“ nie zum Kon-
zept der amerikanischen Politik. Als angeblicher Beleg für die vermeintliche Macht des
internationalen Judentums spielt der „Morgenthau-Plan“ in der antisemitischen Literatur
jedoch eine beträchtliche Rolle. Noch mehr gilt das für das Pamphlet des jüdischen
Amerikaners Theodore N. Kaufman, der unter dem Titel „Germany must perish“ die
monströse Idee der Kastration aller Deutschen propagierte. Die Wahnidee eines Einzel-
nen war Goebbels ebenso willkommen, wie sie unter Rechtsradikalen heute immer noch
als „Beweis“ eines jüdischen und US-amerikanischen Vernichtungskampfes gegen
Deutschland dient.
Ausdrücke aus dem Wörterbuch des Unmenschen wie Arisierung und Arierparagraph,
Endlösung der Judenfrage und Sonderbehandlung, Eugenik und Euthanasie, Fremdvöl-
kisch, Judenrepublik und Judenpresse sind in diesem Band ebenso behandelt wie die äl-
teren Parolen des Judenhasses, etwa Goldene Internationale, Gründerschwindel, Żydo-
komuna.
Den Anstrengungen, Antisemitismus wissenschaftlich und theoretisch zu erklären,
sind mehrere große Artikel in diesem Band gewidmet, etwa Antisemitismusforschung
Vorwort vii
oder Theorien des Antisemitismus (in dem die Konzepte vom autoritären Charakter und
andere Ansätze der Frankfurter Schule sowie sozialwissenschaftliche und psychoanalyti-
sche Erklärungsversuche ebenso die Krisen- und die Kulturtheorie thematisiert sind).
Allen Autoren, der Redaktion unter Brigitte Mihok sowie Angelika Königseder für
die Schlusskorrektur und dem Verlag De Gruyter Saur gilt herzlicher Dank.
Inhalt
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Register der Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Register der Orte und Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Register der Organisationen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Register der Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Abwehr des Antisemitismus 1
liberalen Politikers Heinrich Rickert den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“
gründeten, der - von Juden unterstützt - fortan nicht nur in seinem Organ, den „Mittei-
lungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, über den Abwehrkampf be-
richtete, sondern ein breit gefächertes Engagement gegen den Antisemitismus entfalte-
te.
In Österreich engagierte sich vor allem der Rabbiner Joseph Samuel Bloch und die
von ihm maßgeblich mitbegründete „Österreichisch-Israelitische Union“ von 1886 in
der Bekämpfung des Antisemitismus. Bloch widerlegte die judenfeindlichen Anschul-
digungen in einer Reihe von Broschüren, gab zur Abwehr die „Österreichische Wo-
chenschrift“ heraus und ging auch juristisch gegen den Antisemitismus vor.
Zur größten und einflussreichsten Vereinigung der Juden in Deutschland wurde der
im März 1893 in Berlin gegründete „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens“. Sein Ziel bestand darin, eine Gegenöffentlichkeit gegen die antisemitische
Propaganda herzustellen, Klagen vor Gericht gegen antisemitische Verleumdungen
und Beleidigungen zu initiieren, an staatliche Behörden zu appellieren und eine um-
fangreiche publizistische Arbeit zu entfalten. Seit Juli 1895 gab der Centralverein eine
eigene Zeitschrift „Im deutschen Reich“ heraus.
In Frankreich wiederum trat die bereits 1860 gegründete „Alliance Israélite Univer-
selle“ mit ihrem Kampf gegen den Antisemitismus hervor, die ein umfangreiches För-
derprogramm zur Unterstützung und Ausbildung von Juden, insbesondere in Ost- und
Südosteuropa, initiierte. Auch in anderen europäischen Ländern suchten Juden den je-
weils spezifischen Konstellationen und Bedingungen entsprechend, gegen den Antise-
mitismus vorzugehen, und die jüdischen Zeitschriften setzten sich intensiv mit den
neuen Anfeindungen auseinander.
Aufgrund der Radikalisierung des deutschen Antisemitismus im und nach dem Er-
sten Weltkrieg intensivierte der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glau-
bens“ seine Tätigkeit. Mit den ersten politischen Erfolgen der nationalsozialistischen
Bewegung begann er eine breite Propaganda gegen den → Nationalsozialismus und
arbeitete intensiv vor allem mit sozialdemokratischen Organisationen zusammen. Zur
Bekämpfung des nationalsozialistischen Antisemitismus gründeten deutsche Juden
1929 das „Büro Wilhelmstrasse“, das die Abwehrmaßnahmen koordinierte und eine
große Zahl von Dokumenten des nationalsozialistischen Terrors sammelte.
Deutsche Juden engagierten sich seit 1933 in vielfältigen Aktionen gegen das Re-
gime, und sie waren in überproportional hohem Maße am Widerstand beteiligt. In er-
ster Linie gehörten die bereits in den Jahren zuvor in den Parteien oder Gewerkschaften
politisch aktiven Juden dazu. Nach dem 9. November 1938 und der Flucht- und Aus-
wanderungswelle von Juden musste die Beteiligung von Juden am Widerstand inner-
halb Deutschlands notwendigerweise zurückgehen. Dafür nahmen geflohene Juden in
nicht unerheblicher Zahl als Freiwillige an den Kämpfen der alliierten Armeen gegen
Hitlerdeutschland teil.
Nach dem Holocaust gehörte die Bekämpfung des → sekundären Antisemitismus
zu einer der zentralen Aufgaben sowohl des neugegründeten Staates Israel als auch der
jüdischen Gemeinden in der → Diaspora.
Ulrich Wyrwa
Ahasverus 3
Literatur
Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glau-
bens (C.V.) 1893-1938, München 2002.
Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus
in den letzten Jahren der Weimarer Republik, Hamburg 1968.
Arnold Paucker, Standhalten und Widerstehen. Der Widerstand deutscher und österreichi-
scher Juden gegen die nationalsozialistische Diktatur, Essen 1995.
Arnold Paucker, Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zu Abwehr,
Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhun-
derts, Teetz 2003.
Jehuda Reinharz (Hrsg.), Living with Antisemitism. Modern Jewish Responses, Hanover
1987.
Ismar Schorsch, Jewish Reactions to German Antisemitism 1870-1914, New York 1972.
Ulrich Wyrwa (Hrsg.), Einspruch und Abwehr. Die Reaktion des europäischen Judentums
auf die Entstehung des Antisemitismus (1879–1914), Frankfurt am Main, New York 2010.
Ahasverus
Ahasverus ist die im christlichen Mittelalter verbreitete, noch namenlose Gestalt eines
Mannes aus Jerusalem, der den Heiland auf seinem Weg nach Golgatha nicht ruhen
lässt und daraufhin von diesem zu ewiger Wanderschaft verdammt wird. Die an die
alttestamentliche Kainsgeschichte erinnernde Struktur der Legende, Blasphemie und
Verdammung, hat ihren geographischen und historischen Ursprung vermutlich in der
Nähe von Jerusalem wenige Jahrhunderte nach Christus. Deren konstitutive Elemente,
erniedrigende Behandlung Jesu’ und das Warten auf unbestimmte Zeit, deuten auf zwei
Quellen hin: die auf der Grundlage des → Neuen Testaments entstandene Legende von
Malchus (Joh. 18, 4-10), dem Diener des Hohenpriesters Hannas, der Christus bei des-
sen Verhör ins Gesicht geschlagen haben soll, sowie die Legende vom Jünger Johan-
nes, der von Christus mit ewigem Leben versehen wird (Joh. 21, 22). Diese Erzählun-
gen wachsen in der weiteren Überlieferung zusammen und bilden die Basis für ver-
schiedene Legendenvarianten (6. Jahrhundert: Geschichtensammlung „Leimonarion“
des Johannes Moschos, „Flores Historiarum“ des Roger of Wendower, 1228 sowie der
„Chronica Maiora“ des Matthäus Parisiensis, 1240).
Ihre fixierte Gestalt als jüdischer Schuster mit Namen Ahasverus erhält die Figur in
der Schrift „Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahas-
verus“ (1602), die den jüdischen Schuster als Zeugen christlichen Heilsgeschehens po-
pularisiert. Die „Kurtze Beschreibung“ erschien 1602 anonym „zu Leyden bei Chri-
stoff Creuzer“. Dem Erstdruck folgen über 20 Nachdrucke in leicht variierenden Fas-
sungen und mit unterschiedlichen Druckort- und Verlegerangaben.
Als Verfasser zeichnet ein „Studiosus“, der mit ziemlicher Gewissheit dem prote-
stantischen Umfeld der durch Martin Luther ausgelösten, 1602 aber weitgehend eta-
blierten Reformationsbewegung zuzurechnen ist. Dafür ist der zum Zeitpunkt des Er-
scheinens der „Kurtzen Beschreibung“ gerade verstorbene ehemalige Luther-Schüler
4 Ahasverus
und Erzbischof zu Schleswig, Paulus von Eitzen, ein Indiz, den der Ich-Erzähler zum
Zeugen und Gewährsmann seiner Erzählung erhebt.
Die „Kurtze Beschreibung“ steht einerseits in der Tradition der Inflation des Wun-
derbaren und des Übernatürlichen, wie sie die zunehmende Alphabetisierung und der
ständig wachsende Buchmarkt hervorbrachten, und gehorcht andererseits den Gesetzen
des sich im 16. Jahrhundert ausdifferenzierenden christlichen Judenhasses innerhalb
der protestantischen Theologie. Die Apologien der Juden, deren bekannteste aus der
Feder Martin Luthers stammt („Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei“, 1523), dien-
ten der Hinwendung zu den Juden als „Menschen“ mit dem Ziel der sogenannten Ju-
denbekehrung: Luthers dreißig Jahre später verfasste Schrift „Von den Juden und ihren
Lügen“ offenbart neben der Vergeblichkeit dieses Unterfangens auch das Eingeständ-
nis der → Judenmission als der eigentlichen Absicht der Apologien, auf welche die
„Kurtze Erzehlung“ mit Ahasverus als einem „Apostel der Reformation“ ebenfalls
zielt.
Dass die Erzählung als ein Produkt mit zunehmend antijüdischer Tendenz zu verste-
hen ist, zeigen der 1634 gedruckte „Wunderbarliche Bericht von einem Juden Ahasver-
us“ und die „Gründliche und Warhafftige Relation von einem Juden/auß Jerusalem“,
versehen mit einem Anhang „Erinnerung an den christlichen Leser von diesem Jüden“.
Als Verfasser zeichnet ein Chrysostomus Dudulaeus Westphalus, wohl in Anspielung
auf die Leiden Christi. Ebenfalls 1634 erscheint ein um einen zweiten Anhang, um den
Bericht von den zwölf jüdischen Stämmen erweiterter Druck (mit dem Titel „Bericht
von einem Juden“), der die Verbrechen und Strafen der jüdischen Stämme auflistet.
Der Jude mit Namen Ahasverus erhält sein Epitheton „ewig“ in einem Druck von
1694 mit dem Titel „Neue Zeitung von dem sogenannten Ewigen Jud“. Die Wortfolge
„der ewige Jude“ wird nun zu seinem Unter- oder Nebentitel, verdrängt den Namen
Ahasverus und wird sein Synonym. Im Englischen ist Ahasver „the Wandering Jew“,
im Französischen „le juif errant“, im Italienischen „L’ebreo errante“.
Am erfolgreichsten wurde die „Kurtze Beschreibung“, die durch zahlreiche Überset-
zungen weite Verbreitung in Europa fand. Eine Variante der Beschreibung, die „Gründ-
liche und Wahrhafftige Relation“ (1602), weist bereits darauf hin, dass die Menschen
„allesamt Pilgrame und Fremdlinge in diesem Land sind“ und gibt mithin den Weg frei
für die Verwendbarkeit der Figur des Ewigen Juden als Synekdoche, als pars pro toto
seines Volkes. Der protestantische Theologe Johann Jacob Schudt führt diese allegori-
sche Deutung fort, wenn er in den „Jüdischen Merckwürdigkeiten“ (1714-1718), ge-
nauer in dem Kapitel über den „in aller Welt vermeinten umherlaufenden Juden Ahas-
verus“, behauptet, der ewige Jude sei nicht eine einzelne Person, sondern „das gantze
Jüdische/nach der Creutzigung Christi in alle Welt zerstreuete/umherschweifende und/
nach Christi Zeugniß/biß an den jüngsten Tag bleibende Volk“. An Schudts, aber auch
an anderen ideologisch fragwürdigen Thematisierungen Ahasvers im 17. und 18. Jahr-
hundert lässt sich der Stand christlich-jüdischer Beziehungen ablesen. Denn das Attri-
but des „ewigen“ wird in der zeitgenössischen Rezeption nicht nur dahingehend ver-
standen, dass die Figur auf unabsehbare Zeit keinen Tod erleidet, sondern es dient zu-
nehmend als Indiz der Beharrung und Unwandelbarkeit, der „Art“ des Juden und ihrer
zeitlosen Gültigkeit.
Ahasverus 5
Traten in der „Kurzen Beschreibung“ sein Name, seine fixierte Gestalt als jüdischer
Schuster und seine Popularisierung als Zeuge des christlichen Heilsgeschehens erst-
mals zu einer Einheit zusammen, so fungiert er in seiner negativen Bezogenheit auf
das Heil als ein „Anti-Heiliger“, wird jedoch fortan aus dem engen Funktionszusam-
menhang der Anti-Heiligen-Legenden gelöst, und sein Schicksal wird zum Ende des
18. Jahrhunderts ein fruchtbares Motiv in Kunst und Literatur, vor allem in lyrischen
und epischen Fragmenten. In den Anfängen der Rezeption, etwa in Johann Wolfgang
von Goethes „Des ewigen Juden erster Fetzen“ (1774) und Christian Friedrich Daniel
Schubarts „Der ewige Jude“ (1783), überwiegt die Faszination an der Vorstellung des
Ewigen Juden als eines Weltchronisten, dessen Strafe sich auch in einem monströsen
Gedächtnis artikuliert. Romantiker wie William Wordsworth („Song. For the Wande-
rung Jew“, 1800) und Adelbert von Chamisso („Der neue Ahasverus“, 1832) poetisie-
ren den Untoten in der Ambivalenz von Segen und Fluch der Wanderschaft; vor allem
in der „Schwarzen Romantik“ überlagern sich in ihm die Schicksale auch anderer zur
Unsterblichkeit Verdammten. Charles R. Maturin etwa verknüpft ihn in dem Roman
„Melmoth the Wanderer“ (1820) mit dem Faust-Stoff. In der Begegnung mit anderen
historischen Gestalten erscheint der Ewige Jude bald darauf als lebendes Zeugnis der
Weltgeschichte (Eugene Sue, „Le juif errant“, 1844; Robert Hamerling, „Ahasverus in
Rom“, 1866). Auch wird sein Schicksal zu jüdischer Akkulturation in Beziehung ge-
setzt (Fritz Mauthner, „Der neue Ahasver“, 1882), seine Erlösbarkeit aus christlicher
Sicht diskutiert (Adolf von Wilbrandt, „Der Meister von Palmyra“, 1889) und seine
Gestalt zunehmend von jüdischer Seite als antisemitische Erfindung gebrandmarkt
(Lion Feuchtwanger, „Gespräche mit dem Ewigen Juden“, 1920; Gertrud Kolmar,
„Ewiger Jude“, 1933). Seine Figur wird in ein atheistisches Konzept eingebunden (et-
wa in Pär Lagerkvists Roman „Ahasverus Död“, 1960); Stefan Heym verwendet sie in
seinem Roman „Ahasver“ (1981) als satirischen Angriff auf marxistischen Dogmatis-
mus, und Jean d’Ormesson („Histoire du Juif errant“, 1990) schließlich ernennt den
Ewigen Juden zum Universalhistoriker, der Geschichte als Fiktion entlarvt.
Zum Stereotyp vereindeutigt erscheint er in der NS-Propaganda: In dem Film „Der
Ewige Jude“ (1940) bildet er ebenso wie in der gleichnamigen Münchner Ausstellung
von 1937 die Kontrastfigur zum „werteschaffenden Arier“, um als Projektionsfläche
alle Gegenbilder des → Nationalsozialismus einzufangen. Sowohl die Ausstellung als
auch der Film phantasieren die vermeintliche Herrschaft des Ewigen Juden in uner-
schöpflichen Maskierungen aus, um ihm die Macht der Vernichtung entgegenzusetzen.
In den Plakaten zur Ausstellung vom Ewigen Juden wird die Unendlichkeit einer Ju-
denfrage beschworen, im Film die angebliche Unveränderlichkeit der „rassischen Be-
sonderheiten“ sowie das Streben nach Weltherrschaft.
Mona Körte
Literatur
George K. Anderson, The Legend of the Wandering Jew, Providence 1965.
Avram Andrei Baleanu, Die Geburt des Ahasver, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische
Geschichte (1991), München 1990, S. 15-43.
Manfred Frank, Die unendliche Fahrt. Die Geschichte des Fliegenden Holländers und ver-
wandter Motive, Leipzig 1995.
6 Altes Testament
Galit Hasan-Rokem, Alan Dundes (Hrsg.), The Wandering Jew. Essays in the Interpretation
of a Christian Legend, Bloomington 1986.
Alice Killen, Evolution de la Légende du Juif errant, in: Revue de Litérature comparée 1925,
S. 5-36.
Mona Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phan-
tastik, Frankfurt am Main 2000.
Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus […]. Leyden:
1602, in: Mona Körte, Robert Stockhammer (Hrsg.), Ahasvers Spur. Dichtungen und Do-
kumente vom Ewigen Juden, Leipzig 1996, S. 9-13.
Leonhard Neubaur, Die Sage vom Ewigen Juden, Leipzig 1884.
Leonhard Neubaur, Zur Geschichte und Bibliographie des Volksbuchs von Ahasverus, in:
Zeitschrift für Bücherfreunde 5 (1914), S. 211-223.
Stefan Nied, ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen. Das Volksbuch von Ahasver, in:
Ursula Schulze (Hrsg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 2002,
S. 257-278.
Marie-France Rouart, Le mythe du juif errant dans l’Europe du XIXe siècle, Paris 1988.
Arno Schmidt, Das Volksbuch vom Ewigen Juden, Danzig 1927.
Johann Jacob Schudt, Von dem in aller Welt vermeynten umherlauffenden Juden Ahasverus,
in: Arno Schmidt, Jüdische Merckwürdigkeiten, Band 1, 5. Buch, Berlin, Leipzig 1714
[Reprint Berlin 1922], S. 488-512.
Alfred Soergel, Ahasver-Dichtungen seit Goethe, Leipzig 1905.
Werner Zirus, Der ewige Jude in der Dichtung, vornehmlich der englischen und deutschen,
Weimar 1928.
Altes Testament
Innerhalb des Alten Testaments finden sich judenfeindliche Einstellungen im Buch Es-
ter. Das Esterbuch (hebräische Fassung entstanden im 3. Jahrhundert v. Chr.), das kei-
nen historischen Vorgang wiedergibt, sondern die Erfahrung von Judenfeindschaft the-
matisiert, erzählt in einem kunstvoll gestalteten Rahmen die Rettung der Juden durch
die zur Königin aufgestiegene Jüdin Ester und ihren Onkel Mordechai vor einem auf
Betreiben des Großwesirs Haman verordneten Judenpogrom. In Ester 3,8 behauptet
der Agagiter Haman, dass die Juden zerstreut und abgesondert unter den Völkern in
allen Provinzen des Reiches lebten, dass sich ihre Gesetze von denen aller anderen
Völker unterschieden und dass sie die königlichen Gesetze nicht befolgten. In der er-
weiterten griechischen Fassung des Esterbuches (Entstehung des griech. Esterbuches
zwischen 114 und 78/77 v. Chr.) 3,13a-g finden sich dann weitere judenfeindliche Ein-
stellungen in einem auf Hamans Initiative verfassten Brief: Die Juden seien ein feind-
seliges Volk, durch ihre Gesetze zu jedem anderen Volk entgegengesetzt, angriffslustig
gegenüber allen Menschen und von alters her feindselig. Diese Attribute sollen der Le-
gitimation judenfeindlicher Handlungen und der Vernichtung des Judentums dienen.
Der außerbiblisch bekannte Vorwurf der Misanthropie findet sich damit ebenfalls im
Alten Testament. Als Anlass für Judenfeindschaft werden im Alten Testament Miss-
gunst und Rivalität gegenüber Juden (Ester 1,1m-r; 8,12c-o; 1 Makkabäer 5,2; 12,53;
Daniel 6,2ff.) sowie die Verweigerung der Proskynese durch Juden (Ester 3,1ff.; Daniel
3,1ff.) genannt. Über diese Motive hinaus werden judenfeindliche Handlungen letztur-
Altes Testament 7
sächlich als Reaktion auf das Bekenntnis Israels zum wahren Gott verstanden. Die
Auseinandersetzung mit den antiken judenfeindlichen Einstellungen findet sich jedoch
nicht in den Texten des Alten Testaments, sondern in der außerbiblischen Literatur (Jo-
sephus, Contra Apionem; Philo, In Flaccum und Legatio ad Gaium).
In der Geschichte des Christentums gab es immer wieder Versuche, das Alte Testa-
ment ganz abzuschaffen bzw. für bedeutungslos zu erklären. Bereits im 2. Jahrhundert
lehnte der von der Großkirche als Irrlehrer verurteilte Marcion das Alte Testament mas-
siv ab, da er Altes und Neues Testament in einem unvereinbaren Gegensatz sah. Diese
antibiblische und antijüdische Stoßrichtung hat dann der protestantische „Kirchenva-
ter“ des 19. Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher unter Berufung auf Marcion aufge-
griffen. Für Schleiermacher taugt das Alte Testament weder zur Bildung christlicher
Frömmigkeit, noch hat es irgendeine systematisch-theologische Relevanz. Als wirk-
mächtigster Theologe des 19. Jahrhunderts hat Schleiermacher damit den Grund für
die Vernachlässigung des Alten Testaments gelegt, welche dann auch Adolf von Har-
nack postulierte. Der einflussreichste protestantische Theologe der ersten beiden Jahr-
zehnte des 20. Jahrhunderts und Berater Kaiser Wilhelms II. scheute sich nicht, unter
Bezugnahme auf Marcion die Konservierung des Alten Testaments als kanonische Ur-
kunde des Protestantismus im 19. Jahrhundert als „Folge einer religiösen und kirchli-
chen Lähmung“ zu bezeichnen. 1933 forderte ein großer Teil der Deutschen Christen
die Befreiung „vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral“. Als „Juden-
buch“ war das Alte Testament für national gesinnte Christen untragbar geworden.
Obwohl die Kirche in ihrer Geschichte den Versuchen, das Alte Testament aus der
christlichen Bibel auszugliedern, immer widerstanden hat, verlor es in der christlichen
Betrachtung schon in der frühen Kirche seine eigenständige Bedeutung und Würde
und trat hinter das Neue Testament zurück. Das Alte Testament war nur in Hinblick auf
und für das Neue Testament von Bedeutung. Was man nicht mit der christlichen Lesart
für vereinbar hielt, wurde als jüdische Eigenart für unbedeutsam erklärt und mitunter
verurteilt. Die Bibel Israels wurde christlicherseits ausschließlich als Altes Testament
gelesen. Für Ambrosius (gest. 397), den Bischof von Mailand und „Wegbereiter abend-
ländischer Kirchenfreiheit“, bringt Jesus Christus das Neue Testament, womit dann
aber das bereits bestehende zum Alten wird, der den Juden zugeschriebene buchstäb-
liche Schriftsinn (Literalsinn) gestürzt und der den Christen zugeschriebene geistliche
Schriftsinn aufgerichtet wird.
Der ausschließlichen Benutzung des Alten Testaments in christlicher Leseweise kor-
respondiert in der Regel eine judenfeindliche Interpretation des ersten Teils der Bibel,
die wiederum von einer typologischen und allegorischen Auslegung getragen ist ( →
Exegese).
Die Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge ist bereits in den Anfängen christ-
licher Theologie durch die Unterordnung Israels und seine schlussendliche Ersetzung
durch die Kirche bestimmt, indem die Patriarchen Israels als Stammväter der Christen-
heit angeeignet werden. Tertullian (gest. 220) legt in seiner frühen Schrift „Adversus
Iudaeos“ eine durch „Ablösung“ und „Enterbung“ gekennzeichnete Geschichtskonzep-
tion vor, nach der laut göttlicher Erwählung das ältere Volk dem jüngeren Volk dienen
und das jüngere Volk das ältere übertreffen muss. Tertullian beruft sich dafür auf die
Geschichte von der Geburt Esaus und Jakobs (Genesis 25,23), nach der der Ältere dem
8 Ansiedlungsrayon
Jüngeren dienen wird. Die Juden seien in ihrer Abwendung von Gott zu Esau gewor-
den. Weil nun das jüngere Volk der Würdigung der göttlichen Gnade, von der Israel
wegen seines Götzendienstes ausgeschlossen ist, teilhaftig wurde, hat es somit das älte-
re übertroffen. Das jüdische Volk ist deshalb Tertullian zufolge dem der Christen unter-
worfen. Dieses christliche Bild zweier Völker, nach dem die Zwillinge Esau und Jakob
typologisch Judentum und Christentum darstellen, ist für das Verhältnis von Kirche
und Synagoge leitend geworden. Es findet sich pointiert in dem judenfeindlichen iko-
nographischen Gegenüber der allegorischen Personifikationen von Ecclesia und Syn-
agoga. Die Kirche hat die Synagoge besiegt und tritt ihr Erbe an.
Bereits im 2. Jahrhundert führen die Kirchenschriftsteller die dem antiken Judentum
fremde Unterscheidung zwischen Ritual- bzw. Zeremonial- und Moralgesetz ein (Ju-
stin, gest. 165; Irenäus, gest. 200; Tertullian). Danach bezeichnet das „Ritual-“ bzw.
„Zeremonialgesetz“ jenen Teil des (alttestamentlichen) Gesetzes, der vom Neuen Te-
stament als „überwunden“ gilt. Aus der Thora würden für Christen die ethischen Ge-
bote gelten, nicht aber die rituellen. Tatsächlich geht mit der Einführung dieser Unter-
scheidung eine Relativierung des sogenannten Ritual- bzw. Zeremonialgesetzes einher,
die zu einer Abwertung des Judentums führt und die daher als antijudaistisch motiviert
gelten kann.
Die christliche und darin in der Regel antijüdische Leseweise des Alten Testaments,
wie sie bis in das 20. Jahrhundert hinein praktiziert wurde, entspricht weder dem
Selbstverständnis der alttestamentlichen Texte, noch wird sie der Komplexität des Al-
ten Testaments gerecht. Die von der christlichen Theologie im ausgehenden 20. Jahr-
hundert weitgehend vollzogene Wiederentdeckung der theologischen Würde des Ju-
dentums als des Erstadressaten des Alten Testaments stellt deshalb heraus, dass die jü-
dische Leseweise des Alten Testaments textgemäßer ist als die christliche Leseweise,
die erst nachträglich ihre Sinnperspektive in die alttestamentlichen Texte einträgt.
Matthias Blum
Literatur
Matthias Blum, Von der frühen Enterbung Israels – Die Tora im Spiegel antijüdischer Aus-
legung der ersten christlichen Theologen, in: Bibel und Kirche 65 (2010), S. 33-39.
Anton Cuffari, Judenfeindschaft in Antike und Altem Testament. Terminologische, histori-
sche und theologische Untersuchungen, Hamburg 2007.
Erich Zenger, Theologische Auslegung des Alten/Ersten Testaments im Spannungsfeld von
Judentum und Christentum, in: Peter Hünermann, Thomas Söding (Hrsg.), Methodische
Erneuerung der Theologie. Konsequenzen der wiederentdeckten jüdisch-christlichen Ge-
meinsamkeiten, Freiburg, Basel, Wien 2003, S. 9-34.
Erich Zenger, Die Bibel Israels – Grundlage des christlich-jüdischen Dialogs, in: Kirche und
Israel 24 (2009), S. 25-38.
Ansiedlungsrayon
Der Ansiedlungsrayon (russisch „čerta postojannoj evrejskoj osedlosti“) war ein den
Juden von 1791 an in Etappen zugewiesenes Gebiet im Russischen Reich, das sich
über die westlichen und südwestlichen Gouvernements erstreckte. Außerhalb des An-
Ansiedlungsrayon 9
Die Reformen Alexanders II. hoben die Siedlungsvorschriften für jene Juden auf,
die der Obrigkeit als „nützlich“ galten. Das waren vor allem Kaufleute der Ersten Gil-
de, Zunfthandwerker, Absolventen höherer Bildungseinrichtungen sowie ihre Familien
und Bediensteten. Darüber hinaus durften Juden, die ihren Militärdienst abgeleistet hat-
ten, außerhalb des Ansiedlungsrayons siedeln.
Die Juden waren nicht die einzigen Untertanen, die im Russischen Reich keine Frei-
zügigkeit genossen. Während aber im Laufe des 19. Jahrhunderts diese Einschränkun-
gen gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen tendenziell gelockert wurden, wurde die
Gesetzgebung gegenüber den Juden verschärft. Trauriger Höhepunkt waren die Maige-
setze von 1882, welche u.a. die Vertreibung von fast 500.000 Juden aus den ländlichen
Gebieten des Ansiedlungsrayons zur Folge hatten. 1891 wurden mehrere 10.000 Juden
aus Moskau in den Ansiedlungsrayon vertrieben. Zudem war der Ansiedlungsrayon
seit 1881 Schauplatz von Pogromen. So wurde der Ansiedlungsrayon immer stärker
als Menetekel der antijüdischen Politik im Russischen Reich empfunden. Die Aufhe-
bung der Siedlungsbeschränkungen im Jahre 1915 war allerdings nicht dem Bemühen
um Emanzipation geschuldet, sondern dem Verlauf des Ersten Weltkriegs. Die zarische
Obrigkeit belegte ihre jüdischen Untertanen kollektiv mit dem Verdacht, den Truppen
der Mittelmächte als Spione zu dienen. Deshalb wurden die Juden gewaltsam aus dem
Ansiedlungsrayon vertrieben, der bis zu diesem Zeitpunkt gezwungenermaßen seit
Jahrhunderten ihr angestammtes Siedlungsgebiet war.
Anke Hilbrenner
Literatur
Simon Dubnow, Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, Bände 8 und 9, Berlin 1925-1929.
Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990.
John D. Klier, Russia Gathers Her Jews. The Origins of the „Jewish Question“ in Russia
1772-1825, DeKalb, Illinois 1986.
Antijudaismus
Der Begriff Antijudaismus wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der exege-
tischen Literatur geprägt und dient zur Kennzeichnung theologischer Ansätze insbe-
sondere der lukanischen Schriften. Begriffsgeschichtlich vollzog sich ein Wandel der
Funktion; im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs wird Antijudaismus in Unter-
scheidung vom → rassistischen Antisemitismus gebraucht, um eine religiös begründete
Judenfeindschaft von Christen zu bezeichnen. Objekte der Ablehnung sind zunächst
jüdische Glaubensinhalte und Glaubenspraktiken, in einem weiteren Schritt die Juden
selbst. In der Erforschung der Geschichte des Antijudaismus ist besonders umstritten,
ob seine Anfänge bereits in den neutestamentlichen Schriften liegen oder erst in deren
Rezeption begegnen und ob in der Konstruktion des Antijudaismus auf außerchristli-
che Motive zurückgegriffen wurde.
Das zentrale Anliegen des Antijudaismus ist es, den Nachweis zu führen, dass das
Judentum spätestens nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 keinerlei Anspruch
mehr auf die biblischen Traditionen hat, mithin im Sinne der christlichen Deutung der
Antijudaismus 11
Bibel keine biblische Religion mehr ist. Religionssoziologisch ist der Antijudaismus
begründet durch die Bemühungen einer Minorität – im ersten Jahrhundert dürften
christliche Gemeinden auch in Großstädten kaum mehr als 100 Mitglieder umfasst ha-
ben – , zu einer Selbstdefinition durch Abgrenzung zu gelangen. Die christologische
Lektüre und Aneignung der Heiligen Schriften Israels waren konstitutiv für die sich
entwickelnde Identität der christlichen Gruppen.
Neutestamentliche Schriften wie etwa der Galater- und Hebräerbrief belegen, dass
dieser Prozess sowohl innergemeindlich wie auch durch Konflikte nach außen verstärkt
wurde, zumal das Messiasbekenntnis keineswegs bedeutete, dass man zugleich auch
eine Trennung von den religiösen und sozialen Institutionen der Synagoge vollzog.
Unverkennbar gründet der Antijudaismus nicht in einer Distanz zum Judentum, son-
dern in einer theologischen und historischen Nähe zu ihm.
Während die tatsächliche Auseinandersetzung und Konkurrenz im Einzelfall histo-
risch schwierig zu verifizieren ist, ist die Wahrnehmung des Judentums und der Juden
als imaginierte Gegner bereits in christlichen Schriften des 2. Jahrhunderts belegt.
Christliche Autoren sahen sich offensichtlich durch die reine Existenz des Judentums
einem ständigen Legitimationsdruck für die eigene Praxis und Theologie ausgesetzt.
Die Lösung des Marcion (ca. 90/100-150/160), den christlichen Glauben ohne Bezug
zur Überlieferung des Judentums zu denken, wurde vom christlichen Mainstream nicht
übernommen, nicht zuletzt wegen der damit einhergehenden Enthistorisierung des
christlichen Glaubens. Träger des spätantiken Antijudaismus waren kirchliche Schrift-
steller, die in Predigten und Publikationen ein Bild des Judentums verbreiteten, nach
dem es weder einen wahren Glauben noch eine religiöse Praxis besaß. Im Verlauf der
ersten vier Jahrhunderte des Christentums entwickelte sich ein Arsenal antijüdischer
Polemik und Pejorative und ein System des Antijudaismus, das gleichsam reflexhaft
abgerufen werden konnte. Wichtigste Bestandteile waren die Behauptung des Unge-
horsams gegen Gott und der Verstockung bzw. Blindheit gegen den wahren christli-
chen Glauben, der Gesetzlosigkeit und der damit einhergehenden Unmoral, wobei es
darin die Variante einer Kultunfähigkeit der Juden gibt, nach der durch den Verlust des
Tempels die Vorschriften des Gesetzes nicht mehr erfüllt werden können und jeglicher
Versuch von Juden, ein gottesdienstliches Leben zu führen, gegen das Gesetz sei, der
Vorwurf Christus ermordet zu haben und die Anschuldigung der völligen Verfangen-
heit im Irrtum. Gerade bei Letzterem zeigt sich die Ambivalenz des Antijudaismus:
Nach seiner selbstbezüglichen Argumentation wüssten bzw. müssten die Juden um die
Wahrheit des christlichen Anspruchs wissen, da er sich klar in der Schrift belegt fände.
Konsequenterweise wurden Juden in einigen Epochen der Kirchengeschichte als Häre-
tiker behandelt und der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt. Ein gewichtiges Motiv
des Antijudaismus ist die Vorstellung, die Tempelzerstörung und das Exil seien Aus-
druck der Verwerfung der Juden durch Gott und seine Strafen für die Kreuzigung Jesu.
Ab dem 4. Jahrhundert wirken christliche Theologen darauf hin, dass es zwischen
ihrer Deutung und der realen Situation der Juden im Römischen Reich zu einer Anglei-
chung kommt, und zwar in Form eines geminderten Rechtsstatus. Hier wird das Kon-
zept der Imagination der Juden in die politische Wirklichkeit transferiert. Bezog sich
die imaginierte Darstellung und Wahrnehmung von Juden immer schon auf reale Ob-
jekte, so wird in diesem Schritt Realität nach dieser Imagination geformt. Ein für die
12 Antijudaismus
Theologen nicht unerhebliches Problem stellte die Existenz des Judentums nach Chri-
stus dar, weil kontrafaktisch sein von Gott gewollter Untergang behauptet wurde, der
aber eben nicht eintrat. Eine Lösung bot die Erklärung des Augustinus von Hippo
(354-430); nach ihm war das Verhältnis der Juden zu den Christen wie das von Bü-
chersklaven (capsarii) zu ihren Herren: Sie tragen die Bücher, die sie nicht verstehen.
Zugleich entwickelte er daraus die Lehre, dass man Juden weder verfolgen noch gar
töten dürfe, da man sonst in den Plan Gottes eingreifen würde.
Ob und inwiefern der kirchlich verkündete Antijudaismus auf die Praxis von Chri-
sten und deren religiösen und gesellschaftlichen Umgang mit Juden Auswirkungen
hatte, ist auf Grund der Quellenlage nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits finden
sich Belege für ritualisierte Gewalt und für faktische Gewaltakte, etwa Synagogen-
zerstörungen im Kontext pogromartiger Zusammenrottungen unter Führung von Bi-
schöfen oder Mönchen, andererseits gibt es bis ins Frühmittelalter hinein Quellen, die
beweisen, dass es zwischen Juden und Christen eine friedliche Konvivenz gab. Diese
stieß allerdings insbesondere dann auf vehemente Kritik kirchlicher Vertreter, wenn sie
die religiöse Praxis, wie etwa das gemeinsame Feiern religiöser Feste oder den Synago-
genbesuch, einschloss. Die überlieferten Predigten gegen diese Praxis und die häufigen
Verbote in kirchlichen Synodalakten, die auf eine völlige Separation drängten, zeigen,
dass dieses Problem lange Zeit virulent blieb. Es gab offensichtlich Christen, deren re-
ligiöse Praxis die des Judentums einschloss und die sich der kirchlichen Meinung ent-
zogen. Ob dafür, wie mehrfach in den spätantiken Texten behauptet, Juden als Verur-
sacher gelten dürfen, ist keineswegs als sicher anzusehen, da die gemeinsame Traditi-
on, das → Alte Testament, Grund für eine solche Praxis sein konnte. Da fast alle nam-
haften Theologen antijüdische Texte verfasst haben, wenn auch nicht alle explizit ge-
gen Juden gerichtete Adversus-Judaeos-Traktate schrieben, partizipierte deren Antiju-
daismus an der späteren Wertschätzung dieser Autoren und wurde in den
theologischen Kanon aufgenommen und somit tradiert. Dieser Umstand trug nicht nur
zu seinem Weiterleben bei, sondern ermöglichte auch eine stetige Reaktualisierung un-
ter Bezug auf die vorliegenden Texte, die neuen historischen Kontexten angepasst wer-
den konnten. Der Antijudaismus hatte damit einen weitgehend unhinterfragten Tradi-
tions- und Autoritätsanspruch.
Während das theologisch-literarische Inventar weitgehend mit der Spätantike abge-
schlossen war, ergab sich ab dem Mittelalter eine Veränderung hinsichtlich der Träger-
gruppe. Der Antijudaismus war nicht mehr allein auf klerikale Kreise beschränkt, son-
dern wurde im weiten Maße von allen Gläubigen geteilt. Dabei spielt die Dämonisie-
rung der Juden eine große Rolle, wie sich erstmals in aller Schärfe beim Vorwurf der
Pestverbreitung zeigte. Hier waren die Träger der Verleumdung nicht etwa höhere Kle-
riker oder Bischöfe, sondern einfache Priester und Gläubige, die das Motiv des Anti-
judaismus, die Juden als Agenten des Teufels, sehr real auffassten und in Gewaltexzes-
sen münden ließen. Die Entsymbolisierung, das heißt die Metaphorik der Spätantike
wörtlich zu nehmen, zeigt sich deutlich bei den sogenannten Ritualmorden ( → Ritual-
mordbeschuldigung). Von der Struktur her ist die Erfindung der Ritualmorde mit der
Begründung, die Juden bräuchten Christenblut, eine Kombination aus Motiven der an-
tiken Polemik und der Vulgarisierung des Eucharistie-Verständnisses. Letzteres wird
noch deutlicher bei dem sogenannten → Hostienfrevel, insbesondere wenn er mit ei-
Antijudaismus 13
nem Blutwunder einhergeht. Hier wird auf die Vorstellung rekurriert, dass die Juden
eigentlich um die Bedeutung der Eucharistie wüssten, aber nicht bereit seien, sie gläu-
big anzuerkennen. Die Verbreitung antijüdischer Topoi führte nicht nur zur Etablierung
des von ihnen geprägten Judenbildes, welches sich auch ikonographisch durchsetzte,
sondern zu einer sozialen Deklassierung aus einer sich christlich definierenden Gesell-
schaft, die als Umsetzung des Willens Gottes gedeutet und legitimiert wurde.
Der christliche Antijudaismus stellte Elemente für eine Ideologie bereit, die im Anti-
semitismus übernommen werden konnten. Spätestens mit dem 18. Jahrhundert entwi-
ckelte der Antijudaismus prärassistische Züge, da die traditionelle Vorstellung, die Tau-
fe sei für die Wahrnehmung ausschlaggebend, in Frage gestellt wurde, und man gegen
jede theologische Lehre behauptete, dass ein jüdischer Täufling auch nach der Taufe
Jude blieb. Nach der Französischen Revolution entwickelte sich im Katholizismus die
Vorstellung, dass Juden als Agenten der Moderne für die Zerstörung der christlichen
Werte verantwortlich seien. Damit wurde die Grenze zum Antisemitismus überschrit-
ten; seine namhafteste Ausprägung fand diese Form des Antisemitismus von Katholi-
ken in Frankreich, die den traditionellen Antijudaismus mit rassistischem Denken ver-
brämte. Erst nach dem → Holocaust und dem Prozess der Erkenntnis, dass der Anti-
judaismus, wenn nicht zu dem Antisemitismus, so doch wenigstens zur Teilnahmslo-
sigkeit der Christen während der Vernichtung beigetragen hat, setzte ein Umdenken in
den christlichen Kirchen ein, und es wurden Strategien zur theologischen und prakti-
schen Überwindung des Antijudaismus entwickelt.
Rainer Kampling
Literatur
Paula Fredriksen, Augustine and the Jews: a Christian defense of Jews and Judaism, New
York 2008.
Johannes Heil, „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ - Begriffe als Bedeutungsträger, in:
Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 92-114.
Rainer Kampling, Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdis-
ziplinären Fragestellung, in: Werner Bergmann, Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusfor-
schung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 67-83.
Rainer Kampling (Hrsg.). „Nun steht aber diese Sache im Evangelium ...“: zur Frage nach
den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn 20032.
Rainer Kampling, Im Angesicht Israels: Studien zum historischen und theologischen Verhält-
nis von Kirche und Israel, Stuttgart 2002.
Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (1.-11. Jh.), Frankfurt am
Main 19994.
Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und hi-
storisches Umfeld (11.-13. Jh.). Mit einer Ikonographie des Judentums bis zum 4. Lateran-
konzil, Frankfurt am Main 19973.
Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und hi-
storisches Umfeld (13.-20. Jh.), Frankfurt am Main 1994.
Heinz Schreckenberg, Christliche Adversus-Judaeos-Bilder. Das Alte und Neue Testament
im Spiegel der christlichen Kunst, Frankfurt am Main 1999.
14 Antike Judenfeindschaft
Antike Judenfeindschaft
Die Frage, ob es eine antike Judenfeindschaft gegeben hat, begegnet erst in der Rezep-
tion der Antisemitismusdebatten in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts.
Vor dieser Zeit ging man nicht davon aus, dass die wenigen Quellen, die zur Verfügung
stehen, generelle Ablehnung des Judentums oder Hass auf Juden zum Ausdruck brach-
ten. Die Vorstellung, es habe in der Antike so etwas gegeben wie einen Antisemitis-
mus, ist damit selber Produkt der Antisemitismusdebatte des 19. Jahrhunderts. Die Trä-
ger antisemitischer Vorstellungen im Bereich der Wissenschaften legitimierten damit
ihre eigene Position als eine in der Menschheits- und Kulturgeschichte angelegte.
Auch nach der Ausdifferenzierung der → Antisemitismusforschung bleibt die me-
thodische und hermeneutische Fragestellung in Bezug auf die Quellen maßgeblich: die
Leseweise bestimmt die Ergebnisse. Grob kann man derzeit zwei Forschungsrichtun-
gen unterscheiden: Die eine geht davon aus, dass es in der vorchristlichen Antike ge-
gen Juden ein virulentes Vorurteil gegeben hat, während die andere mögliche antijüdi-
sche Äußerungen in den breiteren antiken Kontext der Kritik an anderen Völkern und
Religionen einordnet. Der Testfall ist hier Tacitus (Historien 5, 1 – 10), wobei noch zu
klären wäre, ob hier Juden generell oder die Bewohner Judäas gemeint sind. Unbescha-
det dessen unterscheiden sich diese Äußerungen kaum von denen über andere Ethnien,
die in Konflikt mit Rom stehen. Auch die Judenpassage bei Tacitus ist zunächst nicht
Ausdruck einer Judenfeindschaft, sondern zu verorten in dem kolonialen System der
Verachtung nichtrömischer Völker. Die antiken Quellen weisen kein einheitliches Bild
der Wahrnehmung von Juden und Judentum auf. Neben positiven Äußerungen finden
sich auch negative, bisweilen beides bei ein und demselben Autor. So wie die Quellen-
lage beschaffen ist, wird man gegenüber generellen Aussagen zurückhaltend sein.
Selbst die Herkunft bestimmter antijüdischer Kolportationen aus Ägypten ist nicht
ganz unumstritten und ihr Alter fraglich.
Feststellbar ist ein gewisses Wachstum solcher Aussagen zur Zeit der Expansionspo-
litik und des Antihellenismus der Hasmonäer. Viele der Bemerkungen über Juden er-
scheinen wie zufällige Randnotizen, aus anderen Kontexten genommen oder auf Ver-
wechslung zurückzugehen, wenn etwa Klearchos von Soloi die Juden mit Indern ver-
wechselt. In keinem dieser Texte findet sich allerdings ein rassistisches Motiv. Bemer-
kenswerterweise gibt es selbst nach dem judäischen Krieg keine Vermehrung antijüdi-
scher Texte. Auffallend ist bei diesen Texten die geringe faktische Kenntnis des Juden-
tums und seiner religiösen Praxis; sie beschränkt sich, wenn überhaupt auf den Sabbat
und die Speisegesetze. Das Motiv, im Tempel zu Jerusalem werde ein Esel verehrt und
einmal jährlich ein Menschenopfer gebracht, ist ein Wandermotiv der gesamtantiken
religiösen Polemik, das sehr früh in modifizierter Form auf Christen übertragen wurde,
so dass es nicht als ein spezifisch antijüdisches Motiv gelten kann. Auch die immer
wiederkehrenden Verbote des Proselytenmachens in Rom entsprechen der jeweiligen
Ablehnung orientalischer Kulte, die den Isiskult nicht weniger als das Judentum trifft.
Die Schrift des Flavius Josephus, Contra Apionem, zeigt zwar, dass es Texte gegeben
hat, die die Geschichte und Religion des Judentums negativ darstellten. Allerdings er-
weisen die Widerlegungen des Josephus unschwer, dass es keine allgemein verbreite-
ten Aussagen waren, da er andere hellenistische Autoren, die sich positiv über Juden
geäußert haben, ins Feld führen kann. Die Annahme, Apion bezeuge einen weit ver-
Antike Judenfeindschaft 15
breiteten Antisemitismus, enträt jeder historischen Evidenz und ist auf das reine Ver-
muten beschränkt. Dagegen sprechen auch nicht die Konflikte in Alexandrien zwi-
schen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Hier geht es um eine in der Antike
nicht seltene Spannung, um die Vormachtstellung innerhalb der Polis unter besonderer
Berücksichtigung der Beteiligung an finanziellen Lasten. Gegen eine allgemeine oder
auch partielle antisemitische Haltung sprechen unter anderem die Zugeständnisse an
Juden im Römischen Reich, wie etwa das Recht den Sabbat zu halten, wie auch die
Befreiung vom Opfern bei öffentlichen Anlässen und die Anerkenntnis der Synagogen
als geschützte religiöse Gebäude. Neuere archäologische Funde widersprechen einer
möglichen Ghettobildung oder ihrer Ausgrenzung, sie belegen neben einem gewissen
Wohlstand bestimmter Gemeinden die Integration in die jeweilige soziale Gemein-
schaft der Polis.
Insofern man nicht judeozentrisch, sondern komparatistisch die Quellen analysiert
und nicht jede Äußerung gegen Juden und Judentum als Ausdruck eines Antisemitis-
mus versteht, sondern sie kontextualisiert, ist die Frage nach einer verbreiteten Juden-
feindschaft in der Antike neu zu stellen, nämlich welches erkenntnisleitende Interesse
zu dieser Behauptung führt.
Rainer Kampling
Literatur
Ernst Baltrusch, Die Juden und das Römische Reich. Geschichte einer konfliktreichen Bezie-
hung, Darmstadt 2002.
Ernst Baltrusch, Bewunderung, Duldung, Ablehnung. Das Urteil über die Juden in der grie-
chisch-römischen Literatur, in: Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 80 (1998), S. 403-421.
Bezalel Bar-Kochva, The image of the Jews in Greek literature: the Hellenistic Period, Ber-
keley 2010.
Shaye J. D. Cohen, „Those Who Say They are Jews and Are Not“. How Do You Know a
Jew in Antiquity When You See One? in: Shaye J. D. Cohen, Ernest S. Frerichs (Hrsg.),
Diasporas in Antiquity, Atlanta 1993, S. 1-45.
Miriam Eliav-Feldon u.a. (Hrsg.), The Origins of Racism in the West, Cambridge 2009.
Christine Gerber, Ein Bild des Judentums für Nichtjuden von Flavius Josephus. Untersu-
chungen zu seiner Schrift Contra Apionem, Leiden 1997.
Jonathan M. Hall, Ethnic identity in Greek antiquity, Cambridge 1997.
Benjamin H. Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton 2004.
Peter Schäfer, Judenhass und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike,
Berlin 2010.
Menahem Stern, Greek and Latin authors on Jews and Judaism. Edited, with introductions,
translations, and commentary, Jerusalem 1974-1984.
Zvi Yavetz, Judenfeindschaft in der Antike, München 1997.
Zvi Yavetz, Latin authors on Jews and Dacians, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte
47 (1998), S. 77-107.
Antisemitismusforschung
Die Antisemitismusforschung untersucht Kontinuitäten und Brüche, Ursachen und
Funktionen sowie politische, historische, soziale, religiöse und kulturelle Zusammen-
hänge des ältesten und folgenreichsten Vorurteils, der Feindschaft gegenüber Juden.
Sie ist keine eigene wissenschaftliche Fachrichtung, sondern interdisziplinär ausgerich-
tet. Nur durch die Verknüpfung der Fragestellungen und unterschiedlicher methodi-
scher Zugänge kann eine intensivere Annäherung an den komplexen Forschungsge-
genstand, der alle Formen des Antisemitismus von der antiken Judäophobie, dem
christlichen → Antijudaismus, dem → modernen Antisemitismus, der islamistischen
Judenfeindschaft bis zu → „sekundärem“ Antisemitismus und → Antizionismus um-
fasst, erreicht werden.
In den 1920er und frühen 1930er Jahren veröffentlichte organisationsgeschichtliche,
sozialpsychologische und gruppensoziologische Studien begründeten die moderne An-
tisemitismusforschung. Die → Shoah war seit den 1940er Jahren Anlass für den Be-
ginn der systematischeren Erforschung des Antisemitismus vor allem von in die Emi-
gration gezwungenen deutschsprachigen Wissenschaftlern (Ernst Simmel, Max Hork-
heimer, Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Eva Reichmann, Hannah Arendt). Eine
Institutionalisierung der Antisemitismusforschung war damit jedoch noch nicht ver-
bunden. Erst 1982 entstand an der Technischen Universität Berlin mit dem Zentrum
für Antisemitismusforschung die erste wissenschaftliche Einrichtung, die sich interdis-
ziplinär ausschließlich des Forschungsgegenstands annimmt. Wenig später wurden an
der Hebräischen Universität in Jerusalem das „Vidal Sassoon International Center for
the Study of Antisemitism“ und 1991 an der Universität Tel Aviv das „Stephen Roth
Institute for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism“ gegründet.
Naturgemäß ist Antisemitismusforschung nicht für alle Wissenschaftsdisziplinen
gleichermaßen relevant. Dennoch haben sie in unterschiedlicher Intensität an einem In-
strumentarium zur methodischen Erforschung des Antisemitismus gearbeitet. Als Bei-
spiele sind etwa die Literaturwissenschaften zu nennen, die neben ihren klassischen
Themen Judenbilder und Motivgeschichten durch ihre Techniken des Textverstehens
neue Zugänge schaffen, oder die Medienwissenschaft mit ihren quantitativen und qua-
litativ-diskursanalytischen Methoden, die Kunstgeschichte, die Musik- und Theater-
wissenschaft sowie ganz zentral die Islam- und Religionswissenschaften.
Dominiert wird die Antisemitismusforschung bisher von der Geschichtswissen-
schaft, die eine unüberschaubare Fülle an Publikationen zum Antisemitismus und im
weiteren Feld der Vorurteilsforschung hervorgebracht hat. Die Geschichtswissenschaft
untersucht die konkreten historischen Kontexte sowie die Zusammenhänge von Vorur-
teilen und Modernisierungskrisen. Sie ist meist empirisch ausgerichtet und bemüht sich
um eine möglichst detaillierte Rekonstruktion des Geschehenen. Insbesondere die Ho-
locaustforschung versuchte sich der zentralen Frage des Zusammenhangs von antise-
mitischer Ideologie und Gewaltbereitschaft anzunähern, zu nennen sind etwa Wolfgang
Benz, Christopher Browning, Philippe Burrin, Saul Friedländer oder Dieter Pohl.
Zentrale Bedeutung für die Antisemitismusforschung kommt auch den Sozialwis-
senschaften zu. So stammt die bis heute wichtigste interdisziplinäre Theorie zum Anti-
semitismus von der „Frankfurter Schule“. Unter Federführung von Max Horkheimer
und Theodor Adorno entwickelten Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialfor-
Antisemitismusforschung 17
schung mit anderen in die USA emigrierten Sozialwissenschaftlern in den 1940er Jah-
ren ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben zum Antisemitismus. Den Sozialwissen-
schaften steht eine breite methodische Vielfalt auf diesem Gebiet zur Verfügung: Allen
voran ist die Umfrageforschung zur Einstellung gegenüber Juden, zur nationalsoziali-
stischen Vergangenheit, zur Wiedergutmachung/Entschädigung und zu Israel unver-
zichtbar, aber auch Parteien- und Wahlforschung, die Biographieforschung, Interviews,
Medienanalyse oder sozialpsychologische Konzepte der Vorurteilsanalyse wie etwa die
Frustrations-Aggressions-Hypothese oder die psychoanalytischen Theorien von Sig-
mund Freud. Ernst Simmel beschäftigte sich mit den massenpsychologischen Dynami-
ken, Béla Grunberger verfolgte einen individualpsychologischen Ansatz. Für die Anti-
semitismusforschung waren beide Wege fruchtbar. Die methodische Vielfalt ermöglicht
die theoretische und praktische wissenschaftliche Annäherung an das komplexe Phäno-
men des Antisemitismus (die Sozialwissenschaften widmen sich aktuell verstärkt der
Erforschung von ethnischen Konflikten und Minderheitenproblemen). Ein Desiderat
bleiben Studien, die theoretische und empirische Ansätze sozialwissenschaftlicher An-
tisemitismusforschung integrieren.
Erkenntnisleitend sind vor allem jene Theorien, die eine klare Unterscheidung des
Antisemitismus von anderen Vorurteilen ermöglichen. Bereits die Vertreter der „Kriti-
schen Theorie“ („Frankfurter Schule“) begriffen Antisemitismus nicht nur als eine
Spielart von Rassismus oder Xenophobie, sondern betonten die Notwendigkeit einer
eigenen Analyse. Eine überzeugende Theorie, mit deren Hilfe Antisemitismus von →
Xenophobie abgegrenzt werden kann, entwickelte Klaus Holz mit seiner „Figur des
Dritten“, derzufolge Juden – anders als Fremde wie etwa die Franzosen – keine andere
Identität verkörpern, sondern die Negation von Identität.
Moderne Antisemitismusforschung kann sich wegen der vielfältigen Erscheinungs-
formen dieses Vorurteils also weder auf eine Fachdisziplin noch auf einzelne theoreti-
sche Konzepte oder Methoden beschränken. Nicht zufällig gelten die Theorien und
Studien als bahnbrechend für die Antisemitismusforschung, die eine Verbindung ver-
schiedener Zugänge verfolgen, wie die Theorie der „Frankfurter Schule“ und die For-
schungen von Reinhard Rürup und Shulamit Volkov, der mit „Antisemitism as a Cultu-
ral Code“ im Jahr 1978 eine bis heute als ideale Verbindung von Geschichts- und So-
zialwissenschaften angesehene Studie gelang. Sie analysiert Antisemitismus im Kaiser-
reich und in der Weimarer Republik mit den Methoden der Historikerin, intendiert al-
lerdings sozialwissenschaftliche Erklärungen. Ziel der Antisemitismusforschung muss
das ständige Bemühen um interdisziplinäre Zugänge sein, die Bereitschaft einer stärke-
ren Vernetzung, der Öffnung zu Kooperationen, die mehr als das bisher eher praktizier-
te „Nebeneinander“ ein „Miteinander“ zur Folge haben.
Weiterhin Aktualität beanspruchen kann die Bilanz, die Reinhard Rürup im Jahr
2004 zog: Die Forschung zum modernen Antisemitismus konzentriere sich zu stark auf
die Kontinuität desselben, auf einen gewissermaßen direkten Weg hin zum nationalso-
zialistischen Mord an den europäischen Juden. Vor dem Hintergrund des Menschheits-
verbrechens sei dies zwar verständlich, werde aber den Brüchen und der Dynamik in
der Entwicklung der antisemitischen Weltanschauung nicht gerecht. Gerade auch durch
das Fehlen komparatistischer Studien mit anderen europäischen Ländern könnten die
Spezifika des deutschen Antisemitismus nicht exakt benannt werden. Aufschluss wird
18 Antisemitismusforschung
man auf komparatistischem Weg auch zu Fragen nach dem Zusammenhang von Anti-
semitismus und Kollaborationsbereitschaft bei der Verfolgung und Ermordung der jü-
dischen Bevölkerung Europas und zum „sekundären“ Antisemitismus gewinnen.
Dass korrespondenztheoretische Überlegungen nach den Ursachen des Antisemitis-
mus überhaupt noch Aktualität beanspruchen dürfen, ist vor allem eine Folge des Nah-
ostkonflikts und des Antisemitismus in der islamischen Welt. Alle bislang vorliegen-
den sozialwissenschaftlichen Antisemitismustheorien sind vor dem Hintergrund des
christlichen bzw. modernen europäischen Antisemitismus entstanden. Gleichermaßen
verfügen wir auch noch kaum über empirische Studien zum Antisemitismus in der isla-
mischen Welt. Hier liegen die größten Herausforderungen für die Antisemitismusfor-
schung. Zwei große Themenschwerpunkte gilt es dabei zu analysieren: zum einen die
Entstehung, Geschichte, Verbreitung, Rezeption und Funktion des Antisemitismus in
den arabischen Staaten, im Iran sowie in der Türkei. Bislang ist diese Einschätzung
noch häufig das Resultat einer ideologischen Instrumentalisierung und weniger wissen-
schaftlicher Erkenntnis. Das Meinungsspektrum reicht vom behaupteten Fehlen des
Antisemitismus bis hin zu einem islamimmanenten antijüdischen Feindbild. Wie uner-
lässlich die Interdisziplinarität in der Antisemitismusforschung ist, wird hier ganz deut-
lich. Erste Forschungen sind Islamwissenschaftlern wie Michael Kiefer, Jochen Müller,
Götz Nordbruch und Stefan Wild zu danken. Wichtige Fragestellungen sind die folgen-
den: Handelt es sich bei der aktuellen Bezugnahme auf den Koran tatsächlich um ein
tradiertes religiöses Motiv für die Judenfeindschaft analog zum christlichen Antijudais-
mus oder gleicht der Antisemitismus in der islamischen Welt nicht viel stärker dem
modernen europäischen Antisemitismus, in dem in „den Juden“ bzw. im jüdischen
Staat die als krisenhaft erlebte Moderne personifiziert wird? Wie stark ist der Einfluss
antisemitischer Ideologien und Bewegungen aus Europa? Was ist die Funktion des An-
tisemitismus für die islamischen Gesellschaften und islamistische Organisationen wie
die Hamas? Wie hängen Antisemitismus und Nahost-Konflikt zusammen?
Ein komplexes Thema ist der Zusammenhang von realpolitischem Konflikt in Nah-
ost und Antisemitismus. Die Gefahr besteht, dass „den Juden“ – und ganz konkret dem
Staat Israel – die Schuld am Antisemitismus zugeschrieben wird. Die Verbreitung ab-
surder → Verschwörungstheorien und das eindeutige Erscheinungsbild des Antisemi-
tismus in all jenen Formen, die wir im modernen europäischen Antisemitismus kennen,
deuten weniger auf den Einfluss des realpolitischen Konflikts hin, als eher auf dessen
Instrumentalisierung, was direkt die Frage der Funktion des Antisemitismus aufwirft.
Juden und der Staat Israel verkörpern für die Fundamentalisten die moderne Welt mit
ihren Werten der Aufklärung, Pluralität, Demokratie, Freiheit. Die Islamisten beschwö-
ren dagegen das Ideal einer vormodernen heilen Welt und benutzen dieses Konstrukt
für aktuelle politische Motive. Der Islamwissenschaftler Götz Nordbruch etwa hält die
Erklärung der Popularität von Verschwörungstheorien wie den „Protokollen der Wei-
sen von Zion“ lediglich „als propagandistisches Mittel zur Kritik der israelischen Poli-
tik“ für verkürzt. Er betont die gemeinschaftsformierende Wirkung, die damit inten-
dierte Förderung eigener Identitätsbildung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Dies
stünde in keinem Bezug zu einer realen Konfrontation. In Untersuchungen zum Nah-
ostkonflikt muss auch die Kolonialgeschichte einbezogen werden und zwar nicht nur,
weil sie den Rahmen für den Import des Antisemitismus schuf und Juden als Interes-
Antisemitismusforschung 19
senvertreter des europäischen Kolonialismus rezipiert wurden, sondern weil das Gefühl
der Demütigung, der Unterdrückung, der Geringschätzung, des „kollektiven Zurück-
bleibens und Zukurzkommens“, wie Jochen Müller es auf den Punkt brachte, den kol-
lektiven Opferdiskurs prägt. Erst aus der Opposition gegen die Kolonialherrschaft er-
wuchs die Idee einer Gemeinschaftsbewegung, eines Kollektivs der Muslime. Dass
diese Gemeinschaftsideologie aber brüchig ist, von divergierenden realpolitischen In-
teressen massiv gestört wird und deshalb umso dringlicher nach der Funktion des Anti-
semitismus für die instabilen muslimischen Gesellschaften gefragt werden muss, bildet
für die Antisemitismusforschung eine große Herausforderung.
Ein wichtiger Punkt im Kontext des Antisemitismus in der islamischen Welt sind
dessen Ursachen und Verbreitung in der europäischen Migrationsgesellschaft. Ein drin-
gendes Desiderat ist der bislang kaum erforschte Zusammenhang zwischen Migrations-
hintergrund und antisemitischer Weltanschauung. Unter anderem gilt es die häufig ge-
äußerte Vermutung, dass vor allem muslimische Jugendliche Träger des „neuen“ Anti-
semitismus seien, durch Vergleichsstudien in komparatistischer europäischer Perspekti-
ve kritisch zu hinterfragen.
Ob sich der Antisemitismus dauerhaft auf Israel als „den Juden“ konzentriert und
damit die Ablösung des „sekundären Antisemitismus“ vom nationalsozialistischen
Völkermord verbunden ist, muss untersucht werden. Eine zentrale Herausforderung für
die Antisemitismusforschung ist die Analyse des Zusammenhangs zwischen antisemi-
tischen Einstellungen, gewalttätigen Ausschreitungen und dem politischen Konflikt in
Nahost. Die Frage lautet, ob der Diskurs durch den Konflikt geprägt ist oder der Kon-
flikt lediglich eine Projektionsfläche bietet, ein Ventil, das antisemitische Äußerungen,
die aus eigenen Schuldgefühlen bzw. traditionellem Antisemitismus rühren, unter dem
Deckmantel eines Engagements für geknechtete und leidende Palästinenser legitimiert.
Diese Veränderung im Diskurs ist vor allem bei der Linken auszumachen. Andreas
Zick spricht vom „Umweg Israel“, über den antisemitische Einstellungen alarmierend
Zuspruch fänden. Im Rahmen der Langzeituntersuchung „Gruppenbezogene Men-
schenfeindlichkeit“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
der Universität Bielefeld stimmten im Jahr 2008 49 Prozent der Befragten der Aussage
zu „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ und 40,5 Prozent be-
jahten das item „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip
auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht
haben“. Damit sind die Zustimmungswerte zu „transformiertem“ neueren Antisemitis-
mus deutlich höher als zu traditionellem. Natürlich ist Kritik an der Politik Israels auch
ohne Antisemitismus möglich. Die Tatsache, dass in der gleichen Umfrage aber ledig-
lich 8 Prozent der Befragten Kritik an Israel äußerten ohne gleichzeitig einer der Facet-
ten von Antisemitismus zuzustimmen, es also einen signifikanten Zusammenhang zwi-
schen einer negativen Grundeinstellung gegenüber Israel und anderen antisemitischen
Vorurteilen gibt, unterstreicht die These vom „Umweg Israel“. In der Analyse der Um-
frage warnt Zick davor, den Fokus auf Jugendliche, Muslime oder Rechtsextreme zu
verengen; die Mitte der Gesellschaft müsse ebenso in den Blick genommen werden.
Auch subtilere Erscheinungsformen des Antisemitismus müssen als Ausdrucksfor-
men und damit als Forschungsgegenstand ernst genommen werden, wenn z.B. antiras-
sistische Initiativen, die den Antisemitismus von rechts bekämpfen, Juden bzw. Israel
20 Antisemitismusforschung
Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Oft enthalten antisemitische Äu-
ßerungen die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete
Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘.
Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Hand-
lungsformen, er benutzt negative Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“
Antisemitismusforschung begreift den Antisemitismus als Paradigma und macht
sich dabei die gewonnenen Erkenntnisse bei der Erforschung anderer Vorurteile zunut-
ze. Schon wegen des signifikanten Zusammenhangs von Vorurteilen scheint das auch
für deren Bekämpfung sinnvoll. Gerade durch komparatistische Studien kann die For-
schung Fortschritte erzielen bei der Untersuchung der Entstehung von Feindbildern
und beim Zusammenhang von Ideologie und Gewalt, bei gesellschaftlichen Krisen so-
wie bei Migrationsprozessen. Neben der Grundlagenforschung zur Entstehungs- und
Entwicklungsgeschichte des europäischen und islamistischen Antisemitismus, zum na-
tionalsozialistischen Judenmord und zum Rechtsextremismus gehören ethnische Kon-
flikte, Genozide, Rassismus, Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten, ins-
besondere auch aktuell wirksame Feindbildstrukturen gegen Sinti und Roma sowie ge-
gen Muslime, zum Aufgabenfeld der Antisemitismusforschung.
Angelika Königseder
Literatur
Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford, The Au-
thoritarian Personality, New York 1950.
Wolfgang Benz, Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur
Vorurteilsforschung, Berlin 2002.
Werner Bergmann, Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften,
Berlin 2004.
Ernst Simmel (Hrsg.), Anti-Semitism – a social disease, New York 1946.
Antizionismus
Antizionismus bezeichnet die Ablehnung des → Zionismus und die Existenz des Staa-
tes Israel, nicht aber jede Kritik an der Politik dieses Staates. Er hat ideologisch unter-
schiedliche Wurzeln und ist nicht an eine bestimmte Partei oder Überzeugung gebun-
den. Viele, insbesondere Antizionisten der westlichen Welt, weisen den Vorwurf des
Antisemitismus zurück, den ihre Gegner erheben. Hingegen sehen sich islamistische,
doch auch viele neonazistische Antizionisten in ihrem Selbstverständnis als Antisemi-
ten im Sinne einer Gegnerschaft zu den Juden. Die wichtigsten Formen des Antizionis-
mus sind der in sich vielgestaltige jüdische Antizionismus (der nicht antisemitisch ist),
der rechtsradikale Antizionismus, der stalinistische und poststalinistische Antizionis-
mus sowie der islamistische Antizionismus.
Jüdischer Antizionismus
Gab es vor Auschwitz eine relevante innerjüdische Gegnerschaft zum Zionismus, die
liberal oder sozialistisch motiviert war, ist mit der Gründung des Staates Israel 1948
nur noch die religiös motivierte Gegnerschaft als politisch bedeutsam übrig geblieben.
Liberale Juden sahen sich als Bürger ihres Nationalstaates, viele Sozialisten und fast
22 Antizionismus
alle Kommunisten erstrebten die Assimilation der Juden an die universalen Werte einer
sozialistischen Weltgesellschaft. Für Teile des orthodoxen Judentums bedeutete und
bedeutet noch immer die Staatsgründung Israels einen Bruch mit dem Geist der Thora,
da nur Gott die Juden aus der → Diaspora erlösen könne. Hauptvertreter dieser Rich-
tung sind die „Satmar-Bewegung“ (benannt nach ihrem Ursprungsort Satu Mare/Szat-
márnémeti) und die „Neturei Karta“ (aramäisch: Wächter der Stadt). Hingegen leistete
die 1912 in Kattowitz/Katowice gegründete Partei „Agudat Jisrael“ [Union Israels], die
einen jüdischen Staat ursprünglich gleichfalls ablehnte, mit der Unterstützung der Ein-
wanderung von orthodoxen Juden in Palästina ihren Beitrag zur späteren Staatsgrün-
dung. Die grundsätzlich antizionistische Einstellung der Partei änderte sich jedoch
auch mit der Teilhabe am politischen System und der de-facto-Anerkennung Israels
nicht.
Ein kleiner Teil der israelischen und nicht-israelischen jüdischen Linken, in Israel
besonders die marxistische Gruppe „Matzpen“ [Kompass], lehnte die Existenz des
Staates ebenfalls ab und sah die Alternative in einer sozialistischen Nahost-Föderation.
Diese Strömung ist heute bedeutungslos geworden, obgleich unter westlichen Linken
noch immer vertreten. Als prominenteste linke Kritiker des Zionismus, die aber die
Existenz des Staates Israels nicht radikal verneinen, gelten heute der Sprachwissen-
schaftler Noam Chomsky und der Historiker Tony Judt, die beide aus dem Linkszionis-
mus kommen und einige Jahre in Israel lebten. In der Tradition Isaac Deutschers spre-
chen sie sich für einen radikalen Bruch Israels mit dem Zionismus aus, da der Staat nur
so als demokratisches und säkulares Gemeinwesen überleben könne.
Rechtsradikaler Antizionismus
Ein auf antisemitischer Grundhaltung beruhender Antizionismus ist ein Grundbestand-
teil rechtsradikaler Ideologie, zu der als weitere Komponenten Demokratiefeindschaft,
Antimarxismus und Rassismus gehören. Der rechtsradikale Antizionismus knüpft bei
z.T. taktisch motivierter Abschwächung an den Antisemitismus der Nationalsozialisten
wie auch an ältere antisemitische → Verschwörungs-„Theorien“ an. Gegenwärtig ste-
hen die Behauptung einer angeblichen jüdischen Steuerung der US-amerikanischen
Politik sowie der Vorwurf an die Juden, diese würden die Erinnerung an den Holocaust
(der ganz oder in seinen Ausmaßen geleugnet wird) für eigennützige Zwecke ausbeu-
ten. Der rechtsradikale Antizionismus ist vor allem unter rechtspopulistischen Politi-
kern westlicher Staaten (z.B. Jean-Marie le Pen in Frankreich) verbreitet. Sie beanspru-
chen in ihrer Argumentation mit der Aufdeckung von ihnen behaupteter „zionistischer“
Aktivitäten das demokratische System ihres Landes zu schützen und verbessern zu
wollen. Sie bestreiten die Verwandtschaft ihrer Argumentation zum neonazistischen
Antizionismus, übernehmen jedoch in moderaterer Sprache dessen verschwörungs-
theoretische Ideologie.
Stalinistischer und poststalinistischer Antizionismus
Die Bolschewiki lehnten vor und nach 1917 den Zionismus ab, doch bekämpfte die
Sowjetunion den Antisemitismus. Dieser blieb gleichwohl ein Problem in der Gesell-
schaft, was auch in den 1920er Jahren offen diskutiert wurde. Stalin setzte jedoch bei
der Ausschaltung seiner innerkommunistischen Gegner auf antisemitische Unterströ-
mungen. Nach 1945 setzte sich die Sowjetunion aber zunächst vehement für die Staats-
Antizionismus 23
gründung Israels ein, bezog jedoch eine israelfeindliche Position, nachdem 1949 deut-
lich wurde, dass Israel sich in keiner Weise politisch an die Sowjetunion binden wollte.
Seitdem und bis zu Stalins Tod wurden unter dem Deckmantel des Antizionismus Ju-
den in der Sowjetunion als Juden verfolgt. Nur eine kleine Anzahl von Stalin protegier-
ter „Schutzjuden“, darunter Ilja Ehrenburg, blieb davon ausgenommen. Das staatliche
Existenzrecht Israels wurde von der stalinistischen Sowjetunion und ihren Satelliten-
staaten jedoch offiziell nicht bestritten. Nach Stalins Tod schwächten sich die antizioni-
stischen und oft (inoffiziell) antisemitischen Kampagnen zwar ab, wurden aber erst mit
dem Machtantritt Michail Gorbatschows eingestellt.
Der stalinistische Antizionismus wurde auch auf die Tschechoslowakei übertragen.
Im November 1952 erklärte deren Präsident Klement Gottwald, zionistische Agenten
hätten versucht, die kommunistische Partei zu unterwandern. Im Ergebnis eines Schau-
prozesses wurden am 3. Dezember 1952 dreizehn ehemalige kommunistische Führer
der Tschechoslowakei, elf von ihnen Juden, darunter der frühere KP-Generalsekretär
Rudolf Slánský, hingerichtet.
In abgeschwächter Form wurde diese antizionistische Kampagne auch auf die DDR
ausgedehnt. Dort wurde mit Paul Merker jedoch ein nichtjüdischer SED-Politiker, der
sich für die Unterstützung Israels ausgesprochen hatte, als Prozionist angeklagt und für
vier Jahre eingesperrt. Es kam zu keinen Todesurteilen, doch verließen etwa 400 Juden
die DDR in Richtung Westen. Ohne Aufsehen wurden die Angeklagten in Prag und
Ostberlin zwischen 1956 und 1963 juristisch rehabilitiert, doch ihre Ankläger wie
Staatsanwalt Josef Urválek nie zur Verantwortung gezogen.
Im Zusammenhang mit einer innenpolitischen Krise, vor allem studentischen Unru-
hen, sowie mit dem israelischen Sieg im Junikrieg 1967 trieb die polnische KP-Füh-
rung im Frühjahr 1968 unter dem Deckmantel des Antizionismus einen Großteil der
noch verbliebenen jüdischen Intelligenz, etwa 15.000 Menschen, außer Landes. Trei-
bende Kraft der Kampagne war Innenminister Mieczysław Moczar. Der Exodus ließ
nur eine kleine Zahl von Juden in Polen zurück; die Schätzungen reichen von 5000 bis
15.000. Doch auch diese winzige Minderheit wurde Gegenstand antizionistischer, in
Wahrheit antisemitischer Vorurteile. Erst 1998 verurteilte der Sejm, das polnische Par-
lament, die Kampagne als antisemitisch, doch zog der Staat die damals Verantwortli-
chen nicht zur Rechenschaft.
Islamistischer Antizionismus
Der islamistische Antisemitismus entstand aus dem arabisch-nationalen Antizionismus,
der sich der jüdischen Landnahme in Palästina und ab 1948 der Existenz des Staates
Israel widersetzte. Mit dem Erstarken des politischen Islam seit den 1970er Jahren hat
er den nationalistischen Antizionismus unter Arabern und anderen Moslems als bestim-
mende Kraft abgelöst. Weit stärker als dieser knüpft er an antisemitische Verschwö-
rungstheorien und an nazistisches Gedankengut an. Trotz der Feindschaft vieler Neo-
nazis gegenüber Migranten aus islamischen Ländern gibt es eine begrenzte Koopera-
tion zwischen den beiden antizionistischen Hauptströmungen der Gegenwart. Der isla-
mistische Antizionismus beruft sich (oft missbräuchlich) auf den Islam, um seine Geg-
nerschaft nicht nur zum Staat Israel, sondern zu allen Juden in der Welt zu rechtferti-
24 Anusim
gen. Zur Vormacht des islamistischen Antisemitismus entwickelte sich die Islamische
Republik Iran.
Am 10. November 1975 verabschiedete die UN-Vollversammlung mit Stimmen-
mehrheit die UN-Resolution 3379, die den Zionismus als eine Form des Rassismus
verurteilte und alle Staaten aufrief, ihn zu bekämpfen. Erst 1991 nahm die UN-Vollver-
sammlung die Resolution zurück. Israel hatte diese Rücknahme zur Bedingung für
seine Teilnahme an der Madrider Friedenskonferenz im Oktober/November 1991 ge-
macht. Auf der Weltrassismuskonferenz im August/September 2001 in Durban schei-
terten die arabischen und islamischen Vertreter mit ihren Bemühungen, den Zionismus
als Rassismus zu verurteilen. Die verabschiedete Resolution erinnerte daran, dass der
Holocaust nie vergessen werden dürfe und erkannte das Recht der Palästinenser auf
Selbstbestimmung, doch auch das „Rückkehrrecht“ in ihre Heimat sowie das Recht al-
ler Staaten der Region, auch Israels, auf Sicherheit an. Eine Resolution von 3000 par-
allel tagenden Nichtregierungsorganisationen vom 3. September 2001 verurteilte Israel
als „Apartheidstaat“.
Mario Keßler
Literatur
Noam Chomsky, The Fateful Triangle. The United States, Israel and the Palestinians, Lon-
don 1983.
Isaac Deutscher, Der nichtjüdische Jude. Essays, Berlin 1988.
Georg Hermann Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-
1954, Berlin 2001.
Tony Judt, Israel, the Alternative, in: The New York Review of Books, 23. Oktober 2003.
Mario Keßler, Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Ent-
wicklungen bis 1967, Berlin 1995.
Beate Kosmala (Hrsg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und poli-
tisches Kalkül, Berlin 2000.
Walter Laqueur, A History of Zionism [1972], New York 2003.
Leonid Luks (Hrsg.), Der Spätstalinismus und die „jüdische Frage“. Zur antisemitischen
Wendung des Kommunismus, Köln 1998.
Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden Die tragische Geschichte des Jüdischen Anti-
faschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998.
Holger Michael, Zwischen Davidstern und Roter Fahne. Die Juden in Polen im XX. Jahrhun-
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Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Nathan Sznajder (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine glo-
bale Debatte, Frankfurt am Main 2004.
Matthias Vetter, Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Ju-
denfeindschaft 1917-1939, Berlin 1995.
Moshe Zuckermann (Hrsg.), Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Band 34: Antise-
mitismus-Antizionismus-Israelkritik, Gerlingen 2005.
Anusim
Aschkenasische und sephardische Juden nannten die unter Zwang zum Christentum
konvertierten ehemaligen Glaubensgenossen Anusim. Der Begriff leitet sich aus dem
Hebräischen ab und bedeutet „Gezwungene“. Er ist für die Sepharden Ausdruck des
Apokalyptik 25
gewaltigen Aderlasses, dem sie spätestens seit den Pogromen von 1391 in vielen Re-
gionen der christlichen Königreiche auf der Iberischen Halbinsel ausgeliefert waren.
Die Anusim wurden bis zum Ende der Inquisition in Spanien 1834 und seinen ehema-
ligen Kolonien 1819-1821 sowie in Portugal 1821 verfolgt.
Der Anusim ist eine rabbinische juristische Bezeichnung für einen zwangsgetauften
Juden, der das Judentum unter den repressiven Umständen weiter praktiziert. Doch gibt
es auch eine andere Interpretation, die Anusim als Bezeichnung für Merkmale eines
besonderen Synkretismus sehen wollen, womit eine gewisse Stringenz aus der Kontro-
verse zwischen Judenchristen und Christenjuden hergeleitet werden kann. In der nicht-
rabbinischen Literatur nennt man die Anusim → „Conversos“, „Neuchristen“ oder
„Marranen“.
Die Frage, inwieweit die matrilineare Weitergabe des Judentums unter den schwieri-
gen Bedingungen in den christlichen Königreichen aufrechterhalten werden konnte,
führte zu breiten theologischen und dogmatischen Auseinandersetzungen. Die Zwangs-
konversionen brachten die Rabbiner in eine neue Komplexität verschiedener Definitio-
nen, die sich vor allem mit der Frage nach der Abstammung beschäftigten. Der Wert
der christlichen Taufe wurde immer wieder von führenden Rabbinern in Frage gestellt,
womit hinsichtlich der Abstammung versucht wurde, ein „israelitisches Gemeinsames“
(Bruderschaft) zu formen. Ein Austritt aus dem Judentum wurde für die gezwungenen
Söhne und Töchter Israels, Anusim, genauso wenig möglich wie für die freiwillig
Übergetretenen: die Reshaim (Rebellen), die Meshumadim (Häretiker) sowie die Gue-
rim (Proselyten). Damit wollte man von Seiten des Rabbinertums den „entfremdeten
Gruppen“ die Möglichkeit zur Rückkehr in die Gemeinschaft erleichtern.
Während der Großteil der zum Christentum übergetretenen Juden sein neues Glau-
bensbekenntnis akzeptierte und streng nach den neuen katholischen Regeln lebte, ver-
suchte eine andere, zahlenmäßig geringere Gruppe, jüdisches Leben im Geheimen zu
praktizieren. Die religiösen und kulturellen Praktiken der Anusim wurden trotz meist
fehlender Möglichkeiten halachisch anerkannt.
Christian Cwik
Literatur
Bel Bravo, María Antonia, Sefarad: los judíos de España, Madrid 2001.
Kamen Henry, The Spanish Inquisition: A Historical Revision, Yale 1999.
Bernardini Paolo, Fiering Norman, The Jews and the Expansion of Europe to the West,
1400-1800, Rhode Island 2001.
Apokalyptik
Die christliche Apokalyptik speist sich größtenteils aus dem Buch der Offenbarung so-
wie aus den Heil verheißenden Prophezeiungen in den Passionsgeschichten der Evan-
gelien, die zeitbedingte judenfeindliche Bilder und Einstellungen enthalten. Wenn auch
die offizielle kirchliche Lehrmeinung Roms zum Jüngsten Gericht und Weltende nicht
immer judenfeindlich war (und heute nicht mehr ist), so weisen Teile christlicher Glau-
bensinhalte zur Endzeit in der Praxis nach wie vor judenfeindliche Einstellungen und
Traditionen auf. Wurden Juden, die die Gottheit Jesu in Abrede stellten, schon im Buch
der Offenbarung als „Synagoge Satans“ apostrophiert, so ist es kein Wunder, dass
26 Apokalyptik
christliche Ängste um die teuflische Natur der Juden als Gottesfeinde sich an einer
teuflischen Gestalt angeblich jüdischer Abstammung festhielten: am Antichristen, wo-
mit aus apokalyptischer Literatur eben Endzeiterwartungen präziser (judenfeindlicher)
Art hervorgingen. Apokalyptik richtet den Fokus auf die mysteriösen heilsgeschichtli-
chen Vorgänge am Ende der Zeit, die man jeweils in den Prophezeiungen der Heiligen
Schrift findet. Als Endzeiterwartung ist eine Identifizierung zeitgenössischer Vorgänge
oder Phänomene mit den (vermeintlich) in der Schrift vorausgesagten Vorboten, Ge-
schehnissen und Schrecken der Endzeit zu verstehen.
Die meisten der in letzter Zeit verfassten Arbeiten zur Antichrist-Legende haben
zwei Hauptpunkte entweder völlig übersehen oder zumindest nicht ausreichend beach-
tet: die Identität (aus vorreformatorischer christlicher Sicht gesehen) des Antichristen
mit dem jüdischen Messias sowie die auf einer religiös verbrämten Intimfeindschaft
basierende Inanspruchnahme der Juden durch christliche Endzeitnarrative, sowohl in
der Vergangenheit wie in der Gegenwart, etwa unter evangelikalen amerikanischen
Christen der Glaubensrichtung „pre-millennial dispensationalism“.
Die tiburtinische Sibylle (Ende des 4. Jahrhunderts) stammt aus einer Zeit grassie-
render Konflikte und Ressentiments zwischen Christen und Juden im christlichen rö-
mischen Spätreich. Mit diesem Text beginnt eine lange Tradition apokalyptischer Vor-
stellungen über den Antichristen als falschen Messias: ein jüdischer Prophet wird aus
dem Stamme Dan geboren, um als falscher Prophet und falscher Messias in einem wie-
der errichteten Jerusalem zu herrschen. Nachdem die Antichrist-Geschichte sich andere
apokalyptische Narrative einverleibt hat, wie etwa die alte Geschichte der von Alexan-
der dem Großen hinter den „Kaspischen Bergen“ eingemauerten Endzeitvölker „Gog
und Magog“, war kein zwingender Grund mehr vorhanden, solche Vorstellungen an
der Heiligen Schrift auszurichten, wurden sie doch von einer anderen prestigeträchti-
gen Tradition untermauert. Die „Syrische Legende von Alexander“ bietet das erste Bei-
spiel einer Fusion, die man durch das ganze Mittelalter hindurch finden kann, nämlich
der Alexanderlegende mit spätantiker Apokalyptik. Eine lateinische Fassung davon er-
schien schon im 10. Jahrhundert.
Die Tradition der tiburtinischen Sibylle war für mittelalterliche Vorstellungen des
Antichristen (außer bei hochgelehrten Klerikern, und manchmal auch bei ihnen) maß-
geblich. Hrabanus Maurus, Erzbischof von Mainz, hat diese Sichtweise für das 9. Jahr-
hundert zusammengefasst, indem er schrieb, dass die Juden vom „adventus“ ihres
Christen, den wir als Antichristen kennen, träumten. Die um 950 verfasste „Epistola de
Antichristi“ des Abtes Adso (910-992) antwortete auf eine verlorene Anfrage der frän-
kischen Königin Gerberga. Adsos Schreiben war im Grunde eine Kompilation meist
frühmittelalterlicher Zusammenfassungen bzw. Fassungen patristischer Aussagen zum
Antichristen. Adso hat trotz bedeutender Abweichungen von der patristischen Traditi-
on die römisch-christliche Antichristschau folgender Jahrhunderte nachhaltig beein-
flusst. Auch stand seit der späten Antike die Verbindung vom Antichristen mit den von
Alexander dem Großen eingeschlossenen „unreinen Völkern“ fest. Diese Elemente
führte Petrus Comestor um 1170 in seiner „Historia scholastica“ zusammen. Dabei ent-
stand ein exegetisches Dreieck, von dem jedes Element die anderen stärkt und autori-
siert: der (jüdische) Antichrist wird begleitet von den endzeitlichen „unreinen Völkern“
Gog und Magog, die von Alexander eingeschlossen wurden; diese sind nach Comestor
Apokalyptik 27
die zehn Stämme Israels. Eine deutschsprachige Sonderform der Zehn Stämme finden
wir seit etwa 1270 in der Wendung „rote Juden“ bezeugt, zuerst im „Jüngeren Titurel“.
In der Dichtung „Von Gottes Zukunft“ (ca. 1300) erscheint der Antichrist, um die Erde
zu erobern. Er schickt nach Gog, den Amazonen, Magog, und den roten Juden, „böse
Völker [...] die meiner Macht dienen müssen: das hat mir Gott gegeben“. Am Ende
dieses Passus steht, dass die Juden sich bekehren und Juden von Nicht-Juden nicht
mehr zu unterscheiden sein werden – also kommt hier die minimal-freundliche Stel-
lung des Neuen Testaments zur Geltung, was in solchen Texten nicht immer geschieht.
Die mittelhochdeutsche Fassung des „Passauer Anonymus“ (ca. 1330) treibt die Zu-
sammenstellung von Antichristen, roten Juden und dem jüdischen Messias noch ein
Stück weiter, denn der Autor stellt sogar eine apokalyptische jüdische „fünfte Ko-
lonne“ vor: „Nun wenend die juden vnd ettlich júdisch kristen, das selb volk syend
hailig lút vnd sechend gern, wenne sy komen, wann si kerend zehant in ir schar.“ Ende
des 14. Jahrhunderts fanden im niederdeutschen Sprachraum die „roten Juden“ auch
Eingang in eine sehr einflussreiche und weit verbreitete Bibelerzählung, der mittelnie-
derdeutschen „sielen trost“ (ca. 1370), die Urfassung vieler späteren „Seelentrost“-
Handschriften. In den etwas späteren Fassungen („Der Grosse Seelentrost“) ist der An-
tichrist eben auch der Messias der Juden. Im 15. Jahrhundert berichten Historienbibeln,
Antichristblockbücher, Seelentrostredaktionen, Nachschriften und Nachahmungen von
Hugo Ripelins „Compendium theologice veritatis“ diverse Florilegien und Bibelhar-
monien, Schauspielstücke, Chronisten, Pestbeschreibungen und Theologen von den
„roten Juden“, und zwar mit steigender „Endzeiterwartung“.
Obwohl die „roten Juden“ und ähnliche fiktive Konstrukte nach dem Ende des 16.
Jahrhunderts vollends aus der nunmehr eher gelehrten christlichen Apokalyptik ver-
schwinden, so ist letztere doch noch als judenfeindlich zu bezeichnen. Ob puritanischer
oder mormonischer Prägung, wird die Endzeit zumindest in englischsprachigen Kultu-
ren immer mit jüdischem Personal ausgestattet, das sich entweder zu bekehren oder zu
verderben hat. Gleiches gilt für heutige „pre-millennial dispensationalist“, Evangeli-
kale in den USA, deren vorläufige Israelfreundlichkeit („christlicher Zionismus“) eine
zutiefst judenfeindliche Endzeiterwartung kommender Blutbade im Megiddo-Gebiet
(„Armageddon“) birgt. Im historischen Luthertum wurde der Antichrist bekanntlich als
das Papsttum, nicht als „jüdisch“ identifiziert. Die Gleichsetzung von Antichrist und
jüdischer Messias, eine von vielen möglichen Identifizierungen im vormodernen Chri-
stentum, wich im historischen Luthertum der Vorstellung, die zuerst bei der Synode
von St. Basle (Reims) von 991 begegnet, dass das Papsttum mit dem Antichrist zu
identifizieren sei. Doch waren seit der → Reformation die Juden, nach dem Lukase-
vangelium (13, 34-35), dem Römerbrief (11, 23 und 26) und nach der Meinung Augu-
stins (Gottesstaat, XX,29), „noch“ dazu da, um bis zum Weltende von der Wahrheit
der christlichen Religion zu zeugen, um sich schließlich – jedenfalls einige – am Ende
zu bekehren.
Zeiten intensiver eschatologischer Spekulation und Erwartungen apokalyptischer
Art haben oft ein Klima des Judenhasses, des radikalen → Antijudaismus, ermöglicht.
In den Jahren 1009/1010 brach eine bislang kaum beachtete Welle von Judenverfol-
gungen in Europa aus, laut Richard Landes als Folge von Beschuldigungen, dass Juden
des Heiligen Landes an der Zerstörung der Jerusalemer Kirche des Heiligen Grabes
28 Arierparagraph
durch den Sultan Al-Hakim beteiligt gewesen waren. Matthias von Paris berichtet von
der antijüdischen Hetze, die 1241/1242 mit dem Einfall der Tataren nach Europa einher
ging: man verdächtigte die Juden, mit den Tataren paktiert zu haben; die Tataren wie-
derum standen im Verdacht, die Endzeitvölker Gog und Magog zu sein. Die endzeit-
liche Stimmung sowohl der Pestzeit allgemein (1347-1353) wie auch der Geisslerbe-
wegungen schürte Judenhass und Judenmord, obwohl diese aus vielfältigen Motivatio-
nen hervorgingen. Es ist zu erwägen, inwiefern apokalyptische Obsessionen sogar
handgreifliche Ausschreitungen gegen Juden – mitunter als Knechte und Diener des
gefürchteten Antichristen – ausgelöst haben oder in Zukunft auslösen könnten. Vor al-
lem im US-amerikanischen evangelikalen Fundamentalismus findet man heute eine
apokalyptische Theologie, die den Tod der Mehrheit aller Juden in einer blutigen End-
zeitschlacht nach Maßgabe der Offenbarung Johannes und des Buches Hesekiel vor-
aussieht.
Andrew Colin Gow
Literatur
Andrew Colin Gow, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age, 1200-1600, Leiden
1995.
František Graus, Pest-Geißler-Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen
1987.
Richard Landes, What Happens When Jesus Doesn't Come. Jewish and Christian Relations
in Apocalyptic Time, in: Jeffrey Kaplan (Hrsg.), Millenial Violence: Past, Present and Fu-
ture, London 2002, S. 243-274.
Richard Landes, The Massacres of 1010: On the Origins of Popular Anti-Jewish Violence in
Western Europe, in: Jeremy Cohen (Hrsg.), From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism
in Medieval Christian Thought, Wiesbaden 1996, S. 79-112.
Arierparagraph
Als eigentlicher „Arierparagraph“ wird der Paragraph 3 aus dem „Gesetz zur Wieder-
herstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 verstanden, das den öffentli-
chen Dienst „arisieren“ und politisch „Unzuverlässige“ aus ihm entfernen sollte: „Be-
amte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.“ Front-
kämpfer, Kriegsteilnehmer und Beamte, deren Väter oder Brüder im Ersten Weltkrieg
gefallen oder die bereits vor dem 1. August 1914 verbeamtet waren, waren aufgrund
von Ausnahmeregelungen zunächst nicht vom „Arierparagraphen“ betroffen.
War bis dahin unklar und umstritten, wie „Juden“ und „Nichtarier“ präzise definiert
werden sollten, legte die „Erste Durchführungsverordnung“ am 11. April 1933 fest,
wie die „nicht arische“ Abstammung juristisch zu fassen war: „Als nicht arisch gilt,
wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Dies
ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdi-
schen Religion angehört hat.“ Angesichts weiterhin konkurrierender Vorstellungen da-
von, wer als „Nichtarier“ zu gelten habe, stellte Reichsinnenminister Wilhelm Frick am
1. September 1933 klar, für die Feststellung der „nichtarischen“ Abstammung sei
„nicht die Religion maßgeblich, sondern entscheidend ist die Abstammung, die Rasse,
das Blut“.
Arierparagraph 29
Die Definition der „Ersten Durchführungsverordnung“ vom 11. April 1933 wurde
grundlegend für eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen, die einen „Arierparagra-
phen“ enthielten, etwa das „Gesetz über die Zulassung zur Patentanwaltschaft und
Rechtsanwaltschaft“ (22. April 1933), die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten
zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ (9. Mai 1933) oder das „Schriftleitergesetz“ (4.
Oktober 1933). Aber auch Organisationen wie Sportvereine oder Feuerwehren über-
nahmen ohne Zwang den „Arierparagraphen“ in ihre Satzungen. Das novellierte
„Reichsbeamtengesetz“ vom 30. Juni 1933 weitete zudem den „Arierparagraphen“ auf
Staatsdiener aus, die mit einer „Nichtarierin“ verheiratet waren.
Auch in den Kirchen gab es Bestrebungen, den „Arierparagraphen“ für Geistliche
und Kirchenbeamte zu übernehmen, etwa durch einen Beschluss der von „Deutschen
Christen“ dominierten Generalsynode der evangelischen Kirche der altpreußischen
Union vom 6. September 1933. Die Theologischen Fakultäten der Universitäten Erlan-
gen und Marburg, die um Gutachten zur Frage gebeten worden waren, bewerteten die
Legitimität rassistischer Klauseln innerhalb der Kirche kontrovers. Während das Mar-
burger Gutachten sie in jeglicher Form ablehnte, hielt das Erlanger Gutachten eine ent-
sprechende Zugangsbeschränkung grundsätzlich für möglich, weil es die völkische
Verbundenheit von Amtsträgern und Gemeinden befürwortete.
Aus Protest gegen den Beschluss der altpreußischen Synode gründete der Berliner
Pfarrer Martin Niemöller den Pfarrernotbund, eine Keimzelle der „Bekennenden Kir-
che“. Allerdings spielte der Widerspruch gegen die Übertragung des „Arierparagra-
phen“ in die evangelische Kirche in den weiteren kirchenpolitischen Auseinanderset-
zungen keine wesentliche Rolle mehr. Im Bereich der römisch-katholischen Kirche
gab es keine vergleichbaren legalistischen Maßnahmen, gleichwohl sind einzelne Fälle
belegt, in denen Bischöfe Geistliche mit jüdischen Vorfahren benachteiligten.
Am 28. Februar 1934 führte Reichswehrminister Werner von Blomberg den „Arier-
paragraphen“ für die Wehrmacht ein, den auch das „Gesetz zur Einführung der allge-
meinen Wehrpflicht“ vom 21. Mai 1935 bestätigte. Allerdings ließ die nachgeschobene
„Verordnung über die Zulassung von Nichtariern zum Wehrdienst“ vom 25. Juli Aus-
nahmen für Männer zu, die nicht mehr als zwei jüdische Großeltern hatten. „Volljuden“
waren jedoch vom Wehrdienst ausgeschlossen.
Die erste Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“ vom 14. November 1935 griff zwar
die Definition der „Ersten Durchführungsverordnung“ zum Berufsbeamtengesetz vom
11. April 1933 auf, machte aber aus deren Rechtsvermutung der „nichtarischen“ Ab-
stammung einen Rechtsbeweis: „Als volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres,
wenn er der jüdischen Religion angehört hatte.“ Diese erste Verordnung zum „Reichs-
bürgergesetz“ setzte zudem die letzten Ausnahmen des „Arierparagraphen“ für ehema-
lige jüdische Frontkämpfer außer Kraft, so dass die betroffenen jüdischen Beamten bis
zum Jahresende 1935 in den Zwangsruhestand versetzt wurden.
Der „Arierparagraph“ aus dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten-
tums“ vom 7. April 1933 legte erstmals einen juristisch verbindlichen Judenbegriff
fest, der auf rassistisch-biologistischen Annahmen beruhte. Er wurde damit zur Aus-
gangsbasis für die weitere Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der Juden im
„Dritten Reich“. Der Ausschluss von Juden und „Nichtariern“ aus dem Staatsdienst be-
wegte sich in der Tradition von Forderungen radikaler deutscher Antisemiten, die seit
30 Arisierung
dem Ende des 19. Jahrhunderts die Emanzipation rückgängig machen wollten. So ver-
langte etwa das „Tivoli-Programm“ der Konservativen Partei 1892 „für das christliche
Volk eine christliche Obrigkeit und christliche Lehrer für christliche Schüler“.
Zunächst hatte der „Arierparagraph“ vorrangig die Funktion, „Nichtarier“ aus ihrer
beruflichen und gesellschaftlichen Stellung in den Zwangsruhestand zu drängen. Zu-
nehmend, insbesondere aber nach der weitgehenden „Arisierung“ des Öffentlichen
Dienstes seit der ersten Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“, diente der „Arierpara-
graph“ dazu, die „arische Abstammung“ zu einem Zulassungskriterium zur Bekleidung
öffentlicher Ämter, zur akademischen Bildung, zu höheren Schulen und Berufsausbil-
dungen, zur vollen Teilhabe am öffentlichen Leben und an den bürgerlichen Rechten
überhaupt zu erheben. Mithin waren die als „Nichtarier“ klassifizierten Menschen von
vornherein ausgeschlossen, da der notwendige „Ariernachweis“ vier Großeltern nicht-
jüdischer Herkunft voraussetzte. Jedoch vollzog sich dieser Marginalisierungsprozess
unterschiedlich stark und schnell, je nachdem, wieviele nichtjüdische Großeltern die
Betroffenen belegen konnten.
Axel Töllner
Literatur
Thomas Breuer, Verordneter Wandel? Der Widerstreit zwischen nationalsozialistischem
Herrschaftsanspruch und traditionaler Lebenswelt im Erzbistum Bamberg, Paderborn
1992.
Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder „Die Verwaltung des Rassenwahns“ 1933-
1945, Paderborn u.a. 2002.
Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Band 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-
1939, München 1998.
Manfred Gailus (Hrsg.), Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im
„Dritten Reich“, Göttingen 2008.
Jeremy Noakes, Wohin gehören die „Judenmischlinge“? Zur Entstehung der ersten Durch-
führungsverordnung zu den Nürnberger Gesetzen, in: Ursula Büttner, Werner Johe, Ange-
lika Voss (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozia-
lismus, Band 2, Hamburg 1986, S. 69-89.
Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der ge-
setzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 19962.
Arisierung
Der Begriff „Arisierung“ entstammt dem Umfeld des → völkischen Antisemitismus,
der schon in den 1920er Jahren die Forderung nach einer „arischen Wirtschaftsord-
nung“ erhob und darunter die vollständige Verdrängung der Juden aus dem Wirt-
schaftsleben verstand. Mitte der 1930er Jahre tauchte das Wort „Arisierung“ im Behör-
denjargon auf und bezeichnete im weiteren Sinne den Prozess der wirtschaftlichen Ver-
drängung und Existenzvernichtung der Juden, im engeren Sinne den Eigentumstransfer
von „jüdischem“ in „arischen“ Besitz. Um die damit verbundenen materiellen Nutznie-
ßerschaften zu verschleiern, wurde in der offiziellen NS-Terminologie Ende der 1930er
Jahre der Begriff „Arisierung“ zunehmend durch „Entjudung“ ersetzt. Als einer der
größten Besitzwechsel der neueren deutschen Geschichte wurden bis 1939 auf dem
Arisierung 31
Gebiet des Deutschen Reiches allein 100.000 jüdische Unternehmen freiwillig oder ge-
zwungenermaßen liquidiert oder an „arische“ Erwerber verkauft.
Die „Arisierung“ vollzog sich nach 1933 jedoch nicht schlagartig, sondern als kom-
plexer politischer Prozess, der zunächst schleichend begann und 1938/39 seinen Höhe-
punkt erreichte. Wachsende Einflussnahmen und -möglichkeiten von Partei- und
Staatsinstitutionen einerseits und sich stetig verengende Handlungsspielräume der jüdi-
schen Eigentümer andererseits waren für den Gesamtprozess charakteristisch. Rück-
blickend lassen sich mindestens fünf Radikalisierungsstufen identifizieren: Während in
den ersten Jahren der NS-Herrschaft noch Unternehmensverkäufe zu halbwegs ange-
messenen Verkaufspreisen möglich waren, schalteten sich ab 1935/36 die Gauwirt-
schaftsberater der NSDAP als Genehmigungsinstanzen für Arisierungsverträge ein.
Fortan wurde den jüdischen Eigentümern lediglich Inventar und Warenlager, nicht aber
der eigentliche Firmenwert vergütet. Seit 1936/37 verschärfte das Deutsche Reich die
Devisenüberwachung und Devisengesetzgebung, so dass jüdischen Unternehmern
selbst bei vagem Kapitalfluchtverdacht die Verfügungsrechte über ihr Eigentum entzo-
gen werden konnten. 1937/38 kürzte das Reichswirtschaftsministerium die Importkon-
tingente jüdischer Unternehmen und definierte verbindlich den Terminus „jüdischer
Gewerbebetrieb“. Am 26. April 1938 leitete die „Verordnung über die Anmeldung des
Vermögens von Juden“ die vollständige „Ausschaltung“ der Juden aus der deutschen
Wirtschaft ein, die nach dem Novemberpogrom 1938 in eine gesetzlich festgeschriebe-
ne Zwangsarisierung aller jüdischen Unternehmen überführt wurde. Die unmittelbare
Verantwortung für die Durchführung der „Arisierungen“ lag in der Hand regionaler In-
stitutionen, während sich das Deutsche Reich in erster Linie darauf konzentrierte, die
Vermögenswerte von Juden durch Steuern, Zwangsabgaben und Sicherungsanordnun-
gen zu konfiszieren bzw. auf Sperrkonten sicherzustellen. Mit der → Deportation der
Juden aus Deutschland fiel ihr restliches Eigentum - darunter auch Immobilienbesitz -
endgültig in die Verfügungsgewalt des Staates, der mit der 11. Verordnung zum
Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 auch das Vermögen der emigrierten Ju-
den obligatorisch beschlagnahmte.
Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums war insgesamt nicht nur ein politischer, son-
dern auch ein gesellschaftlicher Prozess, an dem zahlreiche gesellschaftliche Akteure
und Profiteure beteiligt waren. Eine Vielzahl gesellschaftlicher (Ver-) Mittler, vor allem
Rechtsanwälte, Makler und Banken, bahnte Verkaufskontakte zwischen jüdischen Ei-
gentümern und „arischen“ Erwerbern an und machte die „Arisierung“ für sich zu einer
sprudelnden Einnahmequelle. Sachverständige der Industrie- und Handelskammern
(IHK) bewerteten Inventar und Warenlager der jüdischen Unternehmen und beteiligten
sich an der skandalösen Preisdrückerei gegen sie. Darüber hinaus waren bei vielen
IHK „Arisierungskommissionen“ eingerichtet, bestehend aus nichtjüdischen Unterneh-
mern, die auf das Schicksal ihrer jüdischen Konkurrenten Einfluss nehmen konnten.
Die Warenlager der liquidierten Betriebe wurden an die Unternehmen der zuständigen
Fachgruppe zum Spottpreis verramscht. Ende 1938 kulminierte die „Arisierung“ in ei-
nem regelrechten Bereicherungswettlauf „arischer“ Erwerber. Auch der einfache
„Volksgenosse“ profitierte von der „Arisierung“, als in den Kriegsjahren das Eigentum
deportierter und ermordeter Juden, vor allem Möbel und Einrichtungsgegenstände, aus
32 Asemitismus
Asemitismus
Asemitismus war eine vom katholischen Theologen Marian Morawski begründete
Doktrin für das Verhalten von Christen gegenüber Juden am Ende des 19. Jahrhun-
derts. Der häufig rezipierte Begriff zeigt die Versuche des polnischen Klerus, eine ka-
tholische Antwort auf gesellschaftliche und politische Fragen im Zeitalter des Antise-
mitismus zu geben.
Die päpstliche Enzyklika „rerum novarum“ aus dem Jahr 1891 warb für die offen-
sive Beteiligung der katholischen Kirche am politisch-gesellschaftlichen Leben. Im
österreichischen Galizien bildete der Katholikentag in Krakau 1893 den Auftakt für
den politischen Katholizismus. Es folgten Gründungen von Zeitungen, Vereinen, Be-
rufsverbänden und Parteien, die rund um die Wahlen zum österreichischen Reichsrat
1897 häufig mit antisemitischer Agitation Christen zu mobilisieren versuchten. Die
Wahlerfolge von Karl Lueger und seiner antisemitischen „Christlich-Sozialen Partei“
wurden als Erfolgsmodell wahrgenommen, ließen jedoch die Frage aufkommen, ob
Christen einer säkularen „Ideologie“ wie dem Antisemitismus anhängen dürften. Der
Wiener Pfarrer Josef Deckert hatte dies in seiner Broschüre „Kann ein Katholik Anti-
semit sein?“ (1893) für die christlich-soziale Variante bejaht und sogar als Christen-
pflicht bezeichnet.
Das war der Hintergrund, vor dem Morawski als Chefredakteur der Jesuitenzeit-
schrift „Przegląd Powszechny“ [Allgemeine Rundschau] 1896 den programmatischen
Artikel „Asemitismus“ verfasste, der auch als Broschüre veröffentlicht wurde. Asemi-
tismus sei der Königsweg zwischen → Philosemitismus und Antisemitismus. Im Duk-
tus des Theologen und Priesters erklärte der Geistliche, wie sich gute Christen gegen-
über Juden verhalten sollten. Seine Ausführungen gründeten auf einer historisch-theo-
logischen Deutung der christlich-jüdischen Beziehungen. Juden seien das Produkt ihrer
Asemitismus 33
Rasse unter dem Einfluss ihrer Geschichte. Mit dem Eintritt Jesu in die Geschichte hät-
ten die Juden ihren Status als auserwähltes Volk verloren. In der andauernden Verken-
nung des Messias hätten Juden schon immer Christen und deren Mission bekämpft. In
der Diaspora habe die mosaische Religion die Bibel durch den Talmud als Grundlage
ersetzt und sich damit von Gott entfernt. Nach Morawskis Darstellung waren damit
zwei homogene Gemeinschaften in der Welt, die sich in Bezug auf Moral, Interessen
und Ideale dichotomisch gegenüber standen. Die „materialistische Vertragsreligion“
des Judentums diente als Negativfolie für die christliche Gemeinschaft, die der Jesuit
und Ultramontane Morawski mit der katholischen Kirche in eins setzte. Die Beschnei-
dung des gesellschaftlichen Einflusses der Kirche und der weltlichen Macht des Pap-
stes durch → Reformation und französische Revolution seien das Werk von Juden und
folgten dem im Talmud verlangten Hass auf Christen.
Mit dem Verweis auf Antisemiten wie Gougenot des Mousseaux, Jakob Brafman
und August Rohling entfaltete Morawski → Verschwörungstheorien über Kahal und
Talmud, Liberalismus und Freimaurer. Der liberale Rechtsstaat zeichne für Markt- und
Geldwirtschaft, für die Gleichberechtigung aller Menschen ungeachtet von Stand und
Konfession sowie das Zurückdrängen der Religion in die Privatsphäre verantwortlich.
Nutznießer und Initiatoren dieses Angriffs auf die christliche Gemeinschaft seien die
Juden. In seinen Ausführungen band Morawski dieses antimoderne Narrativ an den ga-
lizischen Diskurs. Auf dem Dorf zerstörten jüdische Schankwirte und Wucherer Moral
und Lebensgrundlage der Bauern, in der Stadt jüdische Pornographie und Frauenhan-
del die christliche Sexualmoral. Die jüdische Bedrohung sei sowohl in den religiösen
Geboten wie in der gesellschaftlichen Position der Juden zu erkennen und verlange
nach einer christlichen „Selbstverteidigung“.
In diesem Sinne solle Asemitismus als Verteidigung der Christen gegen jüdische
Aggression verstanden werden. Die Emanzipation und Assimilation der Juden solle be-
endet und ihre Einflussmöglichkeiten auf die leicht zu manipulierenden Christen wei-
test möglich begrenzt werden. Morawski plädierte für eine vollständige Trennung der
Christen von den Juden im sozialen, wirtschaftlichen und beruflichen Leben. Eine ge-
setzliche Diskriminierung sah er nicht vor. Seine reaktionäre Utopie einer christlichen
Gemeinschaft unterschied sich damit vom antisemitischen Programm polnischer natio-
nalistischer Parteien, die vor allem nach einer starken christlich-polnischen Mittel-
schicht zur Stärkung der Nation strebten. Morawski kritisierte den modernen Antisemi-
tismus, den er als unchristlichen Hass und als Hetze bezeichnete, die zur Gewalt aufru-
fe. Dennoch war es ihm wichtig, seinerseits mit Asemitismus einen Begriff zu etablie-
ren, der im öffentlichen Diskurs eine prägnante Position der Kirche in der „jüdischen
Frage“ benannte. In diesem Bemühen wird die Öffnung klerikaler Kreise für die „Mas-
senpolitik“ am Ende des 19. Jahrhunderts sichtbar.
Der Begriff Asemitismus wurde mehrfach aufgegriffen, unterschiedlich verwendet
und zum Teil umgedeutet. In der demagogischen Schrift „Jüdische Geheimnisse“ des
Krakauer Geistlichen Mateusz Jeż, die im Vorfeld der galizischen Bauernunruhen 1898
zahlreich in Galizien zirkulierte, hieß es, dass Asemitismus noch weiter gehe als Anti-
semitismus. Ersterer bedeute nicht nur Kampf gegen die Juden und christliche Selbst-
verteidigung, sondern eine vollständige Isolierung von Juden, was gleichbedeutend sei
mit der Parole „Weg mit den Juden“. In den meisten Kontexten sollte der Begriff je-
34 Aufklärung
doch eine weniger radikale und „christliche“ Version des säkularen Antisemitismus be-
schreiben. Teilweise ist der Begriff auch als Analysekategorie feindlicher oder ambiva-
lenter Äußerungen von Geistlichen gegenüber Juden in der Habsburger Monarchie ver-
wendet worden.
Tim Buchen
Literatur
Mateusz Jeż, Tajemnice Żydowskie [Jüdische Geheimnisse], Kraków 1898.
Marian Morawski, Asemityzm. Kwestia żydowska wobec chrześciańskiej etyki [Asemitis-
mus. Die jüdische Frage im Angesicht der christlichen Ethik], Kraków 1896.
Szymon Rudnicki, Asemityzm, in: Słowo pojednania. Ksiega pamiątkowa z okazji siedemd-
ziesiatych urodzin Księdza Michała Czajkowskiego [Einigendes Wort. Festschrift aus An-
lass des siebzigsten Geburtstags von Pater Michał Czajkowski], Warszawa 2004, S. 656-
668.
Aufklärung
Die Aufklärungsphilosophie ist keine homogene Geistesströmung, vielmehr muss sie
als ein komplexes Gebilde aus Diskursen, Denkbildern und Theorien verstanden wer-
den. Trotz dieser Vielschichtigkeit lässt sich als ihre Grundtendenz die Forderung nach
einer mündigen, vernünftigen und sittlichen Gesellschaft erkennen. Bei der aufkläreri-
schen Suche nach einer idealen Gesellschaftsform handelte es sich weniger um eine
Konstruktion von Neuem, sondern vor allem um die Emanzipation von den bestehen-
den Strukturen und Denkansätzen. Die bisher ausgeschlossenen Gruppen wie die Juden
erfuhren in dieser vernunftgeleiteten Aufforderung zur Freiheit, Gleichheit und Brüder-
lichkeit Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die neu definiert und mit neuen,
meist säkularen Argumenten legitimiert wurden.
Den Aufklärungsphilosophen, die die christliche Offenbarungslehre verwarfen und
sich für eine auf Gesetzen der Natur und universeller Moral basierten Naturreligion
einsetzten, galt auch das Judentum als eine barbarische Religion, als moralisch ver-
kommen, starr und intolerant. Für Kant, Voltaire und die französischen Enzyklopädi-
sten besitzen die Juden keine allgemeine Menschheits- oder Weltreligion, da ihnen der
Jenseitsglaube fehle. Sie würden unterwürfig den geoffenbarten Gesetzen gehorchen
und seien dadurch unfähig, autonom zu denken und zu handeln. Genauer formuliert:
Das Judentum ist für die christlichen Aufklärer lediglich ein juridisches Wesen, das auf
ein Volk beschränkt bleibe und könne folglich – im Sinne von Naturreligion - keine
angeborene moralische Gesinnung bei den Juden auslösen, die das Gute aus freiem
Willen vollbringe. Aus diesem Grund müsse das Judentum den Gesetzen des Christen-
tums weichen oder, wie es bei Kant heißt, einer „Euthanasie“ unterzogen werden, die
„den Endpunkt des großen Dramas der religiösen Entwicklung“ ankündigen würde.
Kennzeichnend für diese von den christlichen Aufklärungsphilosophen propagierte
Kluft zwischen Judentum und Vernunftglaube ist die Tendenz, dass Juden nicht mehr
ausschließlich als Angehörige einer Religionsgemeinschaft betrachtet wurden, sondern
zunehmend als Nation, Volk, Staat oder „Rasse“. Die religionsgeschichtlich abgeleitete
Unmoral der Juden solle sich ihrer Ansicht nach sowohl in ihren leiblichen als auch in
ihren seelischen Charakterzügen offenbaren. Für Voltaire gehören die Juden einer
Aufklärung 35
„minderwertigen Menschenart“, einer „semitischen Rasse“ an, die vom Willen zur
Fortpflanzung und zum Geld bestimmt sei. Er schreibt ihnen Unwissenheit, barbari-
sche Sprache, Hass auf andere Völker, Grausamkeit, Aberglaube und verschiedene se-
xuelle Perversionen zu und charakterisiert sie als „das abscheulichste Volk der Erde“.
Für Kant sind die Juden eine „Nation von Betrügern“. Dies führt er auf eine Gemüts-
schwäche der Seele zurück, die er als ein spezifisch jüdisches Charaktermerkmal be-
greift. In den Darstellungen von Kants Schüler Fichte schließlich fungieren die Juden
als ein „Staat im Staate“, der „auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechts auf-
gebaut“ sei. Gleichzeitig spricht er von den Juden als „einem Volke“, das „sich zu dem
den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tödtenden Kleinhandel
verdammt hat und verdammt wird“.
Die so erwiesene Beständigkeit der jüdischen Eigenart oder des jüdischen Charak-
ters wurde durch die christlichen Aufklärer als Beleg für ihre Unwandelbarkeit in aller
Zukunft unterstellt. Dieses Argument implizierte auch direkt die Ablehnung der Juden-
bekehrung als Lösung des Judenproblems. Zu betonen bleibt, dass der aufgeklärte Wi-
derstand gegen die Aufnahme der Juden mit oder ohne Taufe zu dieser Zeit keine rassi-
stische Begründung hatte. Die Assimilierung der Juden wurde nicht als unmöglich oder
wegen der Schädlichkeit für den assimilierenden Volkskörper als unstatthaft angese-
hen. Bezweifelt wurde vielmehr die Fähigkeit der Juden, der Herausforderung der As-
similation zu entsprechen. Die Stimmen, die sich für eine „bürgerliche Verbesserung
der Juden“ (Christian Konrad Dohm) erhoben und zur öffentlichen Diskussion über die
jüdische Emanzipation ( → Emanzipation der Juden) aufforderten, stießen bei den Phi-
losophen der Aufklärung zunächst und zumeist auf ablehnende Haltung.
Die Juden trugen für die Aufklärungsphilosophen die Merkmale einer unmündigen,
durch Tradition, Sprache und Geistesgesinnung geprägten Gemeinschaft, die unfähig
und unwillig sei, die Ansprüche der Aufklärung zu realisieren. Das alte Vorurteil über
die sittliche Verkommenheit der Juden erschien nun im neuen Gewand der Kulturlosig-
keit. Der aufgeklärte Rationalismus schwächte zwar die Wirkungskraft des traditionel-
len → Antijudaismus, lieferte aber zugleich die anthropologische und kulturalistische
Sehweise, mit deren Hilfe die Aufklärungsphilosophen die gern akzeptierte Minder-
wertigkeit der Juden neu begründen konnten. Somit stellen sie mit ihrem Judenbild die
Grundzüge einer Rhetorik der modernen Judenfeindschaft bereit und markieren die
Übergangsphase, in der sich die säkularen Argumentationsmuster der Judenfeindschaft
aus den religiösen herauszuschälen begannen.
Andererseits zeigt das Beispiel der aufgeklärten Judenkritik, dass der → moderne
Antisemitismus nicht getrennt vom traditionellen Antijudaismus betrachtet werden
kann. Dieses Ineinandergreifen von religiös und säkular bedingter Judenfeindschaft
zeigt aber auch deutlich, dass die antijüdische Haltung vieler Philosophen der Aufklä-
rung lediglich aus dem Kontext ihrer Zeit zu interpretieren ist. Ohne die im 18. Jahrhun-
dert noch tief sitzende Angst vor der Unversöhnlichkeit und der Friedensunfähigkeit
dogmatischer Religionen ist ihre Kritik am Judentum nicht zu verstehen. Genau so we-
nig lassen sich die Begriffe wie „Euthanasie“, „Rasse“ oder „minderwertige Menschen-
art“, auf die die Aufklärer in ihren judenfeindlichen Ausführungen zurückgriffen, aus
der Erfahrung nach Auschwitz heraus interpretieren. Die Aufklärungsphilosophen kön-
nen nicht zu den geistigen Vorläufern des Massenmordes an den europäischen Juden
36 Autodafé
gemacht werden. Detlev Claussen hat Recht, wenn er konstatiert, dass „die Aufklärung
weder generell judenfeindlich noch generell judenfreundlich war; sie tritt im 18. Jahr-
hundert aus dem Manichäismus der alten Judendebatte heraus und eröffnet die Diskus-
sion.“
Agnieszka Pufelska
Literatur
Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung,
Köln 2000.
Detlev Claussen, Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Ge-
schichte, Darmstadt 1987.
Gudrun Hentges, Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und „Wilden“
in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach 1999.
Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band V: Die Aufklärung und ihre juden-
feindlichen Tendenzen, Worms 1983.
Barbara Suchy, Lexikographie und Juden im 18. Jahrhundert, Köln, Wien 1979.
Autodafé
Der Begriff stammt aus dem Portugiesischen und bedeutet wörtlich „Glaubensakt“.
Beim Autodafé verkündete das örtliche Inquisitionsgericht die Verurteilung eines der
Ketzerei verdächtigen Christen. Während der vorhergehenden Untersuchung der An-
schuldigungen durch das Inquisitionstribunal wurde in vielen Fällen den im Gefängnis
festgehaltenen Beschuldigten jeder Kontakt zur Außenwelt verwehrt. Auch blieben die
Zeugen der Anklage ungenannt, teilweise sogar deren Vorwürfe. Gerüchte wurden als
Beweise akzeptiert. Freisprüche waren selten, eher wurde das Verfahren ausgesetzt.
Scheiterte die Anklage doch, hielt man zur Verkündung kein Autodafé ab. Für bereu-
ende Angeklagte signalisierten die Autodafés die Rückkehr in die Kirche nach erfolg-
ter Bestrafung. Alle Verurteilten hatten ein Büßerhemd (sambenito) zu tragen. Die Stra-
fen reichten von Schlägen über Gefängnis, Verbannung auf Galeeren bis zur Verbren-
nung. Letztere hat das Bild der Nachwelt von den Autodafés geprägt (Bücherverbren-
nung im Mittelalter). War der Verurteilte flüchtig, wurde eine ihn repräsentierende Pup-
pe verbrannt. Das Vermögen der Verurteilten wurde zugunsten der → Inquisition kon-
fisziert. Die Vollstreckung der Todesurteile blieb Aufgabe der weltlichen Autorität.
Wer vor der Hinrichtung bereute, wurde mit der Garrote getötet, sonst lebend ver-
brannt.
Verbreitet waren Autodafés im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts. Es gab öffent-
liche und geschlossene Autodafés. Die öffentliche Urteilsverkündung und Vollstre-
ckung vor zahlreichem Publikum diente der Abschreckung potenzieller Ketzer; wer
dem Autodafé nicht zuschauen wollte, machte sich selbst verdächtig.
Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts gab es keine Festlegungen über den Ort des Au-
todafés. Erst danach bürgerte es sich ein, es am zentralen Platz (jedenfalls dann, wenn
Bäder-Antisemitismus 37
es Todesurteile gab) und mit großem dekorativen Aufwand abzuhalten. Bevorzugt hielt
man es an Festtagen ab, um einem großen Publikum die Möglichkeit zur Teilnahme zu
geben. Schon am Vorabend gab es Prozessionen, die zum Ritual des öffentlichen Auto-
dafés gehörten.
Das erste Autodafé in Spanien erfolgte im Februar 1481 in Sevilla wegen angebli-
chen Judaisierens, also der Ausübung des jüdischen Glaubens. Später stand die Verfol-
gung von Protestanten und vom Islam kommenden Konvertiten (moriscos) im Mittel-
punkt. Die Zahlen über die Opfer der Autodafés sind sehr unsicher. Die Schätzungen
reichen von 2000 bis 10.000 Todesurteilen. Die meisten Opfer gab es in den ersten
Jahrzehnten der Aktivität der Inquisition, später dominierten leichtere Strafen. Von den
zwischen 1540 und 1700 verhandelten etwa 45.000 Fällen endeten weniger als 2 Pro-
zent mit der Todesstrafe. Im 18. Jahrhundert ging die Zahl der Autodafés zurück und
nur noch selten wurden sie vor Zuschauern abgehalten. Die letzten Autodafés fanden
Anfang des 19. Jahrhunderts statt.
Bernd Rother
Literatur
Henry Kamen, The Spanish Inquisition. A Historical Revision, London 1997.
Consuelo Maqueda Abreu, El Auto de Fe, Madrid 1992.
Helen Rawlings, The Spanish Inquisition, Malden 2006.
Bäder-Antisemitismus
Seit den 1870er Jahren wuchs in Deutschland die Zahl der Kur- und Badeorte, die sich
als „judenfrei“ definierten, mit einem antisemitischen Image kokettierten und in ihren
Prospekten kundtaten, dass ihnen der Besuch „jüdischer“, „nichtchristlicher“, „semiti-
scher“, „israelitischer“ oder „mosaischer“ Gäste nicht genehm sei. Auch einzelne Ho-
tels und Pensionen machten in Anzeigen keinen Hehl daraus, dass sie auf jüdische Gä-
ste keinen Wert legten und priesen sich als „judenfreies“ oder gar „judenreines“ Haus
an. Das „Israelitische Familienblatt“ bezeichnete diese Entwicklung bereits vor dem
Ersten Weltkrieg als eine neue Variante des alltäglichen Antisemitismus, nämlich als
„Bäder-Antisemitismus“. Im Jahre 1905 stellte das Blatt resigniert fest: „Wir haben
uns längst mit der beschämenden Tatsache abgefunden, daß es zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts im Lande der Dichter und Denker eine stattliche Reihe von Bade- und Kur-
orten gibt, die den Grundsatz öffentlich verkünden, daß ihnen jüdischer Besuch nicht
willkommen ist.“
Kur- und Badeorte, die umgekehrt jüdische Gäste gerne aufnahmen, z.B. Binz auf
Rügen, Heringsdorf auf Usedom oder die Nordseeinsel Norderney, sahen sich in der
antisemitischen Presse als „Judenbäder“ tituliert und mit Spottversen an den Pranger
gestellt. Jedes Jahr zu Beginn der Badesaison veröffentlichten deutsch-jüdische Zei-
tungen umfangreiche Listen, auf denen antijüdische Erholungsorte sowie Hotels und
Pensionen aufgeführt waren, die sich in Werbeanzeigen oder auf Nachfrage den Be-
such jüdischer Gäste verbaten.
38 Bäder-Antisemitismus
schaftliche Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden im Alltag immer stärker reduzier-
ten und den Juden lange vor 1933 das Stigma gesellschaftlicher Außenseiter aufpräg-
ten.
Als Indikator einer gesellschaftlich verwurzelten Judenfeindschaft war der Bäder-
Antisemitismus jedoch kein exklusiv deutsches, sondern vielmehr ein internationales
Phänomen, das in verschiedensten Ländern auftrat, wenngleich in unterschiedlicher
Form und Intensität. In Österreich lag die Zahl antijüdischer Erholungsorte mit rund 60
bis 70 doppelt so hoch wie im Deutschen Reich. Ähnliches gilt für viele Länder Mittel-
und Osteuropas, nicht aber für westeuropäische Länder wie Großbritannien oder die
Niederlande, wo der Bäder-Antisemitismus kaum ausgeprägt war. In den USA hinge-
gen, wo noch in den 1950er Jahren fast ein Viertel aller Hotels keine jüdischen Gäste
aufnahm, war der „Resort Antisemitism“ quantitativ sogar weiter als in Deutschland
verbreitet, doch fehlte ihm durchweg jene radikale ideologische Qualität, die der deut-
sche Bäder-Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatte.
Frank Bajohr
Literatur
Frank Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt am Main 2003³.
Jacob Borut, Antisemitism in Tourist Facilities in Weimar Germany, in: Yad Vashem Studies,
XXVIII (2000), S. 7-50.
Michael Wildt, „Der muß hinaus! Der muß hinaus!“. Antisemitismus in deutschen Nord-
und Ostseebädern 1920-1935, in: Mittelweg 36, 10 (2001), 4, S. 2-25.
Bankjuden
Im römischen und fränkischen Reich durften die Juden fast ohne Einschränkungen
Handel treiben. Doch als das Christentum an Macht und Einfluss in Europa gewann
und schließlich Staatsreligion im Heiligen Römischen Reich wurde, änderte sich diese
Situation grundlegend. Historische Entwicklungen in Europa seit dem Mittelalter
zwangen die Juden zunehmend zum Geldhandel, um ihren Lebensunterhalt zu erwer-
ben. Die Gründe dafür waren einerseits, dass diese pekuniäre Tätigkeit von der christli-
chen Kirche generell verpönt und von ihr schließlich untersagt wurde, und andererseits,
dass die Juden von fast allen „ehrlichen“ Berufen ausgeschlossen wurden.
Der Zins wurde schon seit der Antike als unfruchtbar betrachtet oder als Gewinn
ohne Arbeit abgestempelt, und auch die Thora untersagte den Juden das Zinsnehmen
unter Glaubensgenossen - doch nicht „Fremden“ gegenüber. Im Christentum gab es
schon seit dem 4. Jahrhundert (Synode von Elvira sowie Konzile von Arles und Nicäa)
ein Zinsverbot zunächst nur für Geistliche, aber diese Bestimmung wurde später auf
alle Christen ausgedehnt. Weil der Geldverleih gegen Zinsen als ein vermeintlich
schädlicher, doch aber nützlicher Teil des wirtschaftlichen Lebens anerkannt wurde,
überließ man ihn den Juden, da sie als Außenseiter in der christlich-europäischen Ge-
sellschaft nicht unter denselben moralischen Beschränkungen wie ihre christlichen
Nachbarn standen. Als Anhänger einer aus christlicher Perspektive „falschen“ Lehre,
die aus dem Gottesreich ausgeschlossen waren, überließ man den Juden diese Funktion
Bankjuden 41
(3. Laterankonzil, 1179). Die Duldung der Juden auf diesem Finanzsektor lag zum
größten Teil daran, dass man auf zinstragende Kredite nicht verzichten konnte.
Seit den Kreuzzügen waren die Juden zunehmend religiöser Verfolgung und Unter-
drückung ausgesetzt und wurden auch schrittweise aus „ehrlichen“ Berufszweigen ver-
drängt. Die Zünfte und daher die Berufe der Handwerker blieben ihnen verschlossen,
und da die Juden an den meisten Orten keine Landgüter besitzen durften, wurde der
Kleinhandel und der Geldverleih notwendigerweise ein Hauptgebiet ihrer Tätigkeit.
Als neue Verbindungen und Handelswege durch den Nahen Osten während der Kreuz-
züge entstanden, wurden die Juden im Warenhandel auch teilweise überflüssig. Sie ver-
loren dabei ihre günstige Vermittlerrolle und hingen mehr von der Willkür der Fürsten
ab, deren Gunst und Gnade sie oft mit großen Geldsummen erkaufen mussten, also mit
dem Geld, das sie gerade in der ihnen genehmigten finanziellen Funktion erworben
hatten. Dieser erkaufte Schutz brachte den Juden vorübergehende Sicherheit, und die
Landesherren profitierten davon.
Die erste wirkliche Konkurrenz im Bereich der Kreditvergabe kam aus Italien, wo
sich das moderne Bankwesen zuerst entfaltete und der Begriff „bancherii“ - nach den
Wechselbänken genannt - geprägt wurde. Im 13. Jahrhundert setzten sich die Lombar-
den in Norditalien durch, als sie sich auf Pfandverleih spezialisierten. Die Medici in
Florenz finanzierten die Päpste, und schließlich wurden die Fugger aus Augsburg im
16. Jahrhundert der Finanzier des Kaisers und die mächtigste Bankfamilie im deutsch-
sprachigen Raum.
Aber der 30jährige Krieg verheerte Europa und zerstörte nicht nur die sozio-politi-
sche Stabilität, sondern auch überregionale wirtschaftliche Verbindungen. In diesem
Zeitraum wandte sich der Kaiser in Wien den Juden zu, um seine Armeen im Krieg
gegen die Türken zu finanzieren, und erfand dabei den → „Hofjuden“. Im 17. und 18.
Jahrhundert fungierten Juden immer häufiger als Hoffaktoren besonders im Heiligen
Römischen Reich wegen der Vielzahl von regionalen Machtzentren. Eines der berühm-
testen Beispiele eines Hoffaktors war Joseph Süß Oppenheimer, der nach dem plötzli-
chen Tode seines Landes- und Schutzherren Herzog Karl Alexander aufgrund seiner
(vermeintlich) jüdischen „Kabale“ 1738 in Stuttgart hingerichtet wurde.
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Haus Rothschild zum Inbegriff des jü-
dischen Finanzwesens schlechthin, das die Macht und den Einfluss der früheren christ-
lichen Bankhäuser Europas bald überschattete. Die Verzweigung der Familie in den
wichtigsten europäischen Hauptstädten führte auch dazu, dass man erstmals von einer
jüdischen Weltverschwörung sprach. Als sich der Kapitalismus im Laufe des 19. Jahr-
hunderts entwickelte, sah man eine Gefahr in der Dominanz solcher jüdischen Finan-
ziers. In seinem Schauerroman „Biarritz“ (einer Quelle der „Protokolle der Weisen von
Zion“) schilderte Hermann Goedsche alias Sir John Redcliffe schon 1868 die vermeint-
lichen Bank- und Börsenaktionen der Juden, die das Geld als Waffe anwenden sollten:
„Alle Fürsten und Länder Europa’s sind heute verschuldet. Die Börse regelt diese
Schulden. Solche Geschäfte macht man aber nur mit mobilem Kapital, deshalb muß
alles mobile Kapital in den Händen Israels sein. [...] Indem wir die Börse beherrschen,
beherrschen wir das Vermögen der Staaten.“
In Krisenzeiten werden die Juden als Hintermänner und Drahtzieher vermutet, die
ihre eigenen Vorteile aus den wirtschaftlichen Umwälzungen ziehen. Das Bild der Ju-
42 Birobidschan
den als finanzielle Dämonen erhielt mit dem Börsenkrach von 1873 Nahrung. Man
suchte eifrig nach den Schuldigen, aber schonte das System der Börsenspekulation und
gab sich mit einem Sündenbock zufrieden, den Bank- oder Börsenjuden.
Besonders nach dem → Gründerkrach, der sich kurz nach der Emanzipation der Ju-
den im neuen Kaiserreich ereignete, sah man die Juden als eine sozio-ökonomische
Gefahr, als Anstifter und Nutznießer der Krise.
In der unmittelbaren Folgezeit verfasste Otto Glagau das Drama „Aktien“ (1873), in
dessen Vorwort er behauptete: „Die Gründer und Börsianer waren überwiegend, zu
mehr als 90 Prozent, Juden.“ Folglich konnten sie als die Schuldigen dieser Krise de-
nunziert werden. Ähnlich listete Emil Richter Banken und Börsenmakler in seiner
Schrift „Die Frankfurter Juden und die Aufsagung des Volkswohlstandes“ (1880) auf
und behauptete, „man kann also das Börsengeschäft als ein völlig jüdisches bezeich-
nen“. Ab 1875 folgten Artikelserien in der „Neuen Preußischen Kreuzzeitung“ sowie
in der katholischen „Germania“, welche den Juden die Schuld am Börsenkrach gaben.
In Beiträgen wie „Judenthum und Börse“ bezeichnete man die Juden „als Wucherer,
Börsenjobber, Gründer, kurz als Ausbeuter und Halsabschneider“. Schließlich erklärte
die Zeitung, „daß Haß gegen die Börse und Haß gegen das Judenthum sich decken“.
Am Tiefpunkt der aus dem Gründerkrach resultierenden „Großen Depression“ ließ
Wilhelm Marr in seiner Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“
(1879) einen Begriff wieder aufleben, den wohl zuerst Hartwig von Hundt-Radowsky
in seiner „Judenschule“ (1822/23) verbreitete, und er bemerkte, man teile „die Börsen-
leute in ‚weisse‘ und ‚schwarze‘ Juden“ ein, um Juden von „verjudeten“ Nichtjuden
abzugrenzen. Die Antisemiten stellten auch einem deutsch-„schaffenden“, industriell-
agrarischen ein jüdisch-„raffendes“ Kapital gegenüber. Gustav Böhmer unterschied in
seiner Schrift „Niederlage und Sieg der deutschen Gesinnung“ (1897) zwischen Baron
Maurice de Hirsch, „einem reichen Bankjuden“ sowie dem Typus der „internationalen
Börsen-Geldmacher“ bzw. „jüdischen grosskapitalistischen Ausbeuter“, auf der einen
Seite und Carl von Stumm-Halberg, „einem reichen deutschen Fabrikanten“ sowie
dem Typus „echt deutscher grosskapitalistischer nützlicher Kraftmenschen“, auf der
anderen. Damit hatten die Antisemiten den Gegensatz zwischen ehrlichen Deutschen
und dem schachernden jüdischen Schmarotzer festgeschrieben.
Matthew Lange
Literatur
Johannes Heil, Bernd Wacker (Hrsg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und
christlicher Tradition, München 1997.
Derek Penslar, Shylock’s Children. Economics and Jewish Identity in Modern Europe, Ber-
keley 2001.
Léon Poliakov, Jewish Bankers and the Holy See from the Thirteenth to the Seventeenth
Century, London 1977.
Birobidschan
Birobidschan ist eine Region im Fernen Osten der heutigen Russischen Föderation.
Am 8. Mai 1934 wurde dieses kaum erschlossene, unwirtliche Gebiet an der chinesi-
schen Grenze zur „Jüdischen Autonomen Provinz“ (JAP) der Sowjetunion erklärt, von
Birobidschan 43
prijatij i rabotnikami evrejskoj pecˇati 28. Maja 1934 g. [Ueber die Gründung der Jüdi-
schen Autonomen Provinz. Aus den Aufzeichnungen des Gesprächs des Vorsitzenden des
Zentralexekutivkomitees der SSSR, des Genossen Michail Ivanovic Kalinins, mit einer
Delegation von Arbeitern aus Moskauer Fabriken und Arbeitern der jüdischen Presse am
28. Mai 1934], Moskva 1935.
Antje Kuchenbecker, Zionismus ohne Zion. Birobidschan – Idee und Geschichte eines jüdi-
schen Staates in Sowjet/Fernost, Berlin 1999.
gischen Vorgänger entgegenwirken; deswegen sollte der Staat die „Hege und Pflege
der nordischen Rasse“ zu seiner Hauptaufgabe machen, indem er ihr einen gesicherten
„Platz auf der Scholle“ verschaffte. Das Bauerntum sollte deshalb zum „Eckstein“ des
Staates gemacht werden, weil ihm neben der Funktion der Ernährungssicherung vor
allem die Aufgabe zugewiesen war, „Bluterneuerungsquelle“ der nordischen Rasse zu
sein.
Der von Darré gegründete Apparat, der flächendeckend unter der Landbevölkerung
mit einer intensiven Propagandatätigkeit präsent war, vertrat vage Ideen einer Bele-
bung der bevölkerungspolitischen Bedeutung des Landvolkes, die als „Blutsquelle“
des gesamten deutschen Volkes gepriesen wurde, zusammen mit konkreten Verspre-
chungen, wie Einfrierung der Schulden, Festlegung von Erzeugerpreisen und Handels-
spannen. Diese Mischung von symbolischen, ideologischen und materiellen Vorstel-
lungen ist in die Politik des nationalsozialistischen Regimes eingeflossen. Die ländli-
che Massenbasis der NSDAP zeigte sich im Mai 1933, als Darré als „Reichsbauernfüh-
rer“ an die Spitze sowohl der Agrarverbände als auch der Genossenschaften und des
Kammerwesens aufstieg. Als er Ende Juni 1933 als Nachfolger des konservativen Al-
fred Hugenberg Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft geworden war,
machte er sich daran, seine rassenideologisch motivierten Pläne in die Agrarpolitik ein-
fließen zu lassen. Nach anfänglichen Erfolgen waren es persönliche Unzulänglichkei-
ten und vor allem die inneren Widersprüche in der gesamten Wirtschaftspolitik des Re-
gimes, die zum Scheitern der Blut- und Bodenideologie führten.
Gustavo Corni
Literatur
Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970.
Gustavo Corni, Horst Gies, Blut und Boden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hit-
lers, Idstein 1994.
Gustavo Corni, Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutsch-
land unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997.
Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Pader-
born 2002.
Blutschande → Rassenschande
Börsenjuden → Bankjuden
Bolschewismus
Als auf dem Brüssel-Londoner Kongress der „Russischen Sozialdemokratischen Ar-
beiterpartei“ 1903 die Spaltung in eine Mehrheits- und Minderheitsgruppe eintrat, er-
hielt die erste den Namen „Bolschewiki“ (von „bolsche“ = mehr), die letztere den
„Menschewiki“ (von „mensche“ = minder). So entstand der Begriff „Bolschewiki“, der
lediglich das Abstimmungsergebnis dieses Parteitages ausdrückt. Der Grund für die in-
nerparteiliche Spaltung bildete das differenzierte Verständnis der inhaltlichen und orga-
nisatorischen Ausrichtung einer sozialistischen Partei. Im Gegensatz zur gemäßigten
Minderheit, die auf eine Partei von Aktivisten und einen demokratisch reformierten So-
zialismus setzte, strebten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze einen Sozialismus
Bolschewismus 47
an, der sich in einer Revolution als Diktatur des Proletariats verwirklichen sollte. Zu
diesem Zweck wollte Lenin die sozialdemokratische Mitgliederpartei in eine straff or-
ganisierte Partei von Berufsrevolutionären umwandeln, die das Bewusstsein der revo-
lutionären Aufgabe, der geschichtlichen Sendung des Proletariats von außen in das
Proletariat hineintragen werde. Diese politische Ausrichtung bekam alsbald die Be-
zeichnung „Bolschewismus“.
Die Ereignisse 1905-1907 in Russland vertieften die innerparteiliche Kluft. 1912
konstituierte sich die bolschewistische Fraktion als eigenständige Partei und erstrebte
die Macht in dem wirtschaftlich und politisch instabilen Land. Die Machtergreifung
gelang ihr durch den Staatsstreich im Oktober 1917, als die militanten Truppen der
Bolschewiki unter der Führung von Trotzki den Regierungssitz im Petersburger Win-
terpalast einnahmen. Kurz danach proklamierte Lenin die Sozialistische Sowjetrepu-
blik, in der die politische Führung von Staat und Gesellschaft der neu konstituierten
„Kommunistischen Partei Russlands“ (Bolschewiki) – KPR (B) – vorbehalten blieb.
Den Zusatz (Bolschewiki) trug der Parteiname bis 1952. Der Begriff „Kommunismus“
sollte hingegen die Abspaltung vom Sozialismus und die Verwirklichung der von Karl
Marx propagierten Ordnung symbolisieren.
So sehr sich die Bolschewiki in ihrer Lehre auf Marx beriefen, so wenig konnten sie
seine Theorie für die eigene Ideologie ohne Verfälschungen instrumentalisieren. Denn
für Marx bleibt nicht die Arbeiterklasse, sondern das Kapital das revolutionäre Sub-
stanz-Subjekt der Geschichte; das künftige „Subjekt“, die Arbeiterklasse, sei in diese
Bewegung eingeschlossen und müsse sich aus ihr erst herausarbeiten. Die Eroberung
des Weltmarktes durch das Proletariat nennt Marx zwar Kommunismus, doch er sei
empirisch nur als „Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig“ möglich.
Diese gravierende Differenz zwischen Marx und dem Bolschewismus wurde durch die
Formel von einer schöpferischen Weiterentwicklung des Marxschen Denkens im Mar-
xismus-Leninismus überdeckt. Lenins These vom „Gesetz der Ungleichmäßigkeit der
ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus in der Epoche des Impe-
rialismus“ brachte den im Stalinismus kulminierenden legitimatorischen Effekt, dass
nun der Sieg der Revolution in einigen oder sogar in einem einzelnen Land möglich
sei.
Die willkürliche Verbindung von Marx und Bolschewismus machten sich aber nicht
nur die kommunistischen Parteien Leninscher Prägung zunutze, sondern auch ihre anti-
kommunistischen Gegner, denn spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurde dem Bol-
schewismus ein antisemitisches Vorzeichen angeheftet, so dass in der Folge die Begrif-
fe „Bolschewik“ und „Jude“ nahezu synonym verwendet wurden. Die Beteiligung
zahlreicher Kommunisten jüdischer Abstammung am Aufbau des Marxismus-Leninis-
mus in Russland half, den abstrakten Feind des Bolschewismus zu personifizieren und
die sowjetische Herrschaft auf das absichtsvolle Tun der Juden zu projizieren. Mit dem
Begriff des „jüdischen Bolschewismus“ wurde unterstellt, die Juden instrumentalisier-
ten den von Marx erfundenen Bolschewismus, um mit seiner Hilfe die Weltherrschaft
zu errichten. Er sei neben dem Kapitalismus eine „jüdische Methode“, die christliche
Zivilisation zu vernichten. Eine kollektive Identität der Juden wurde konstruiert, die
sich angeblich in einer Affinität zu revolutionären Gedanken äußerte. Zu betonen
48 Bolschewismus
bleibt, dass nicht der Bolschewismus das historische Subjekt in diesem Stereotyp ist,
sondern das „Weltjudentum“.
Nach der kommunistischen Machtetablierung in Russland nutzten die rechten Grup-
pierungen weltweit den Vorwurf des „jüdischen Bolschewismus“, um die Idee des
Kommunismus zu diskreditieren und linke Opposition als Juden und somit auch als
kommunistische Staatsfeinde zu diffamieren. Während des Zweiten Weltkrieges half
dieses Schlagwort, den antirussischen, antikommunistischen und antisemitischen Wi-
derstand zu mobilisieren und – wie im Fall der Nationalsozialisten – die eigene Ag-
gression als Verteidigung gegen Russland und „die Juden“ zu legitimieren.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint der Begriff des „Bolsche-
wismus“ lediglich in seiner antisemitischen Ausprägung Gebrauch zu finden. Auf den
Nexus von „Juden“ und „Bolschewismus“ wird gegenwärtig besonders in den ehema-
ligen Ostblockstaaten zurückgegriffen. Dort bedienen sich viele Gruppierungen des
rechten Randes dieses Feindbildes, um den Postkommunisten zu unterstellen, sie seien
immer noch Kommunisten, das heißt Juden, die bereits zur Zeit des Kommunismus an
der Macht standen und gegen das nationale Interesse handelten. Der Antisemitismus
bekommt so den Anschein patriotischer Pflicht und wird als Akt des politischen Wider-
standes gegen den (Post-)Kommunismus legitimiert.
In Deutschland entwickelte sich der Begriff des „Bolschewismus“ zu einem bevor-
zugten Legitimationsargument der Revisionisten, die bemüht sind, den Nationalsozia-
lismus einem angeblich von Juden beherrschten Bolschewismus gleichzusetzen. Dies
hilft ihnen dann, wie im „Historikerstreit“ in den 1980er Jahren, eine mittelbare Verant-
wortung der jüdischen Kommunisten für die Folgen der antisemitischen Vernichtungs-
politik der Nationalsozialisten zu suggerieren und auf diese Weise eine antisemitische
Entsorgung der deutschen Vergangenheit durch die Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben.
Antisemitismus wird somit zu einem Problem des Bolschewismus und nicht zum inte-
gralen Bestandteil der eigenen Geschichte und des nationalen Selbstverständnisses.
Der damalige Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann bediente sich in einer patrioti-
schen Rede im Oktober 2003 der antisemitischen Stereotype besonderer Affinität von
Juden zum Bolschewismus und schrieb ihnen eine maßgebliche Rolle bei der Etablie-
rung des kommunistischen Systems zu.
Agnieszka Pufelska
Literatur
Wilhelm Mautner, Der Bolschewismus – Voraussetzungen, Geschichte, Theorie zugleich
eine Untersuchung seines Verhältnisses zum Marxismus, Berlin u.a. 1922.
Agnieszka Pufelska, „Judäo-Kommune“ - ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstver-
ständnis im Schatten des Antisemitismus, Paderborn 2007.
Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Berlin 1932.
Fedor Stepun, Die Russische Intelligenz und der Bolschewismus, in: Der Bolschewismus –
eine Ringvorlesung im Rahmen des „Studium Universale“ an der Ludwig-Maximilians-
Universität, hrsg. vom Studentenwerk München, München 1956, S. 196-217.
Brunnenvergiftung 49
Brunnenvergiftung
Schon in der Antike begegnet der Vorwurf, dass Epidemien durch Brunnenvergiftung
verursacht seien. Im Hinblick auf die Juden als Brunnenvergifter ist dieser Vorwurf
1321 in Südfrankreich belegt. Juden sollten auf muslimische Initiative hin – so der Vor-
wurf – christliche Aussätzige angestiftet haben, ihre christlichen Mitbrüder durch ver-
giftetes Brunnenwasser zu ermorden. Dieses Vorhaben hätten die Juden durch Geld-
zahlungen und Giftlieferung unterstützt. Diese Theorie einer angeblichen Verschwö-
rung der Feinde des Christentums, der Muslime und Juden, trug wohl auch 1321/22
zur Vertreibung der Juden aus dem Königreich Frankreich bei. Mit dem Auftreten der
Pest im Frühjahr 1348 wurde nun den Juden direkt vorgeworfen, die Brunnen vergiftet
zu haben. Das Gerücht wurde in Savoyen durch erpresste Geständnisse offiziell bestä-
tigt. Die Prozessprotokolle wurden an Städte in der Schweiz und im Elsass weitergelei-
tet. Dabei wurde der Vorwurf erneut mit einer jüdischen Weltverschwörung in Verbin-
dung gebracht.
Anders als bei dem Vorwurf des → Hostienfrevels und des → Ritualmords trug
diesmal die Kirche nicht zur Verbreitung des Vorwurfs bei. Im Gegenteil: Papst Kle-
mens VI. warnte in einer Bulle vor der Beschuldigung der Brunnenvergiftung und wies
darauf hin, dass die Pest auch dort auftrete, wo keine Juden lebten. Doch waren im
Reichsgebiet auch Bischöfe an den Judenverfolgungen während der Pestpogrome be-
teiligt. Gegen die Meinung des Papstes wurden erzwungene Geständnisse gefolterter
Juden ins Feld geführt, so in Freiburg/Brsg., wo angeblich ein Jude gestand, dass er
aus Jerusalem ein besonderes Gift mitgebracht habe, das für Christen todbringend sei,
den Juden aber nicht schade.
Auch nach den Pestpogromen, die zahlreiche jüdische Gemeinden im Reich ver-
nichteten, trat noch im ausgehenden 14. Jahrhundert vereinzelt der Vorwurf der Brun-
nenvergiftung durch Juden auf, so 1379 in Schlettstadt und 1397 in Rappoltsweiler
und Türkheim. Dass nicht die Stadtmagistrate diesen Vorwurf als politischen Vorwand
für die Vernichtung der Judengemeinden nutzten, beweist 1349 das Verhalten des Ma-
gistrats von Straßburg und 1379 des Stadtrats von Zürich. In Straßburg drängten vor
allem der Straßburger Bischof, der elsässische Adel und die elsässischen Städte auf
„Abschaffung der Juden“. Der Rat setzte eine Untersuchungskommission ein, die bei
den Juden keine Schuld finden konnte. Erst als sich unter den Straßburgern Patriziern
eine Oppositionsgruppe bildete, die mit Unterstützung des Bischofs sowie des auswär-
tigen Adels und der Zünfte die Herrschaft ergriff, wurden die Juden ermordet. In Zü-
rich wurde 1379 eine Anklage gegen die Juden wegen Brunnenvergiftung erhoben.
Doch wurde diese Anklage nach einer Untersuchung durch den Stadtrat abgewiesen.
Im Spätmittelalter wurde der Vorwurf der Brunnenvergiftung gegen Randgruppen
verwendet, so gegen Bettler, vor allem gegen religiöse Randgruppen wie 1460 in Arras
gegen die Waldenser, dann aber verstärkt bei den Hexenverfolgungen.
Arno Herzig
Literatur
František Graus, Pest-Geißler-Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen
19943.
50 Christlicher Fundamentalismus
Christlicher Fundamentalismus
Unter christlichem Fundamentalismus ist eine Richtung innnerhalb und außerhalb der
Großkirchen zu verstehen, die behauptet, die wahren Werte des Christentums zu erhal-
ten, während sie dies den übrigen Christen abspricht. Bezugspunkte können dabei
Schriftverständnis, Tradition, Liturgie, Ethik (insbesondere Sexualethik) sein. Da sich
Träger des christlichen Fundamentalismus primär durch Abgrenzung gegenüber ande-
ren definieren, bedarf es oftmals keiner inhaltlichen Definition, sondern es wird als hin-
reichend angesehen, eine andere und bessere Glaubenspraxis zu behaupten. Gemein-
sam ist den verschiedenen Trägern des christlichen Fundamentalismus die Ablehnung
der „Moderne“; damit ist nicht ein historisch abgrenzbarer Zeitraum gemeint, sondern
„Moderne“ ist die Chiffre für die Zersetzung und Auflösung aller christlichen Werte
und mithin für den kollektiven Glaubensabfall bis auf eine kleine Gruppe.
Im christlichen Fundamentalismus spielt der religiöse → Antijudaismus eine wichti-
ge Rolle, da Juden und Judentum als das Nichtchristliche schlechthin betrachtet wer-
den; „der Jude“ ist weiterhin der Agent der antichristlichen Moderne. Durch diese Zu-
schreibung, der Jude als Feind, öffnet sich die Position des christlichen Fundamentalis-
mus dem rassistischen Antisemitismus. Dabei reicht die Spannbreite von der Rezeption
einzelner Elemente bis hin zu dem geschlossenen System des Antisemitismus. Im in-
nereuropäischen Vergleich fällt insbesondere Frankreich auf; pseudokatholische Fun-
damentalisten berufen sich hier auf antisemitische Programme des 19. Jahrhunderts
wie Augustin Barruel und Henri Roger Gougenot des Mousseaux.
Eine Begründung für die Judenfeindschaft dieser Gruppen ist ihr konservierender
Ansatz. Der durch die Jahrhunderte begegnende christliche Antijudaismus wird nicht
etwa verneint, sondern er wird affirmativ als Ausweis der Rechtgläubigkeit rezipiert
und modifiziert erneuert. Ihn zu hinterfragen gilt als Ausdruck dafür, sich der Moderne
zu unterwerfen und ihr Zugeständnisse zu machen. Dabei wird der Antijudaismus in
den Rang eines verbindlichen Glaubenszeugnisses vergangener Zeiten erhoben, ohne
eine historische Einordnung vorzunehmen. Das Reden von Gottesmördern, von jüdi-
schem Unglauben und jüdischer Christenfeindschaft wird legitimiert durch den Um-
stand, dass sie überkommene Rede ist. Antijudaistische und antisemitische Versatz-
stücke gelten als unverzichtbare Bestandteile eines erhaltenswerten Ganzen. Die Juden-
feindschaft erfüllt im Denken des christlichen Fundamentalismus eine wichtige Funk-
tion. Sie ermöglicht die Benennung eines Feindes, der Urheber des Übels ist und auch
bleibt, denn auch gegenwärtig können Erklärungen von Ereignissen mit Hilfe juden-
feindlicher Stereotypen geschehen. Zur Lösung kognitiver Dissonanz zwischen An-
spruch und Wirklichkeit trägt die Judenfeindschaft ebenfalls bei. Um diese zu überwin-
den, bedarf es Strategien nach innen und nach außen. Nach innen dient sie dazu, durch
Selbststigmatisierung als Opfer jüdischer Verschwörungen den geringen eigenen Er-
folg zu erklären, den man dadurch sogar als Erweis der eigenen „Wahrheit“ ausgeben
Conversos 51
kann. Die Binnengruppe erfährt damit eine Aufwertung, da sie nach eigenem Verständ-
nis der Bedrohung standhält, ihr widersteht und sie damit im Ansatz überwindet. Dabei
ist es unerheblich, dass es sich um ein Konstrukt handelt, da das Für-wahr-Halten der
Gefährdung Ausweis der Gruppenzugehörigkeit ist. Die mehr oder weniger explizite
Judenfeindschaft ist Ausweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Grup-
pe, die eben darüber Identifikation und Verständigung herstellt. Sie ist gleichsam Vor-
aussetzung, um im gemeinsam konstruierten Weltbild die „richtige“ Stelle einzuneh-
men. Die Rolle der Judenfeindschaft für das eigene Selbstverständnis erleichtert ebenso
die Abgrenzung zu anderen religiösen Gruppierungen. Dabei erfüllen öffentlich geäu-
ßerte judenfeindliche Tiraden eine gewichtige Funktion. So wird damit zunächst die
Außenwahrnehmung geweckt und zumindest temporär die Selbstisolation, wenn auch
negativ akzentuiert, durchbrochen. Paradoxerweise ist es die weitgehende kirchliche
und gesellschaftliche Ächtung der Judenfeindschaft, die sie für jene Bewegungen so
unverzichtbar macht. Denn durch die Kombination ihrer Positionen mit der Juden-
feindschaft ist ein deutliches Merkmal gewonnen, das signifikant von anderen Grup-
pierungen unterscheidet. Öffentliche Kritik kann systemimmanent als Bestätigung ge-
deutet werden. Damit dient sie zugleich der Gruppenidentität, die sich durch Selbstbe-
züglichkeit gegen die Außenwelt formiert.
Im dualistischen Weltbild als einem der Signifikanten des christlichen Fundamenta-
lismus ist die Judenfeindschaft ebenfalls unverzichtbar, um die Bösen zu benennen,
womit eben die Juden gemeint sind. Sie erweisen sich als die Widerständigsten gegen-
über der christlichen Wahrheit. Besonderen Zorn erregt dieses Verhalten bei apokalyp-
tischen christlichen Gruppen, da sie dadurch den ganzen Weltenplan gefährdet sehen
( → Apokalyptik).
Aufgrund der inneren Struktur des Systems des christlichen Fundamentalismus ist
die Judenfeindschaft nicht ein randständiges Phänomen, sondern konstitutiv für die ge-
samte Existenz der Trägergruppen, da sie aus ihrer judenfeindlichen Position und Welt-
anschauung heraus in nicht geringem Maße ihre Argumentation und Legitimation be-
ziehen.
Rainer Kampling
Literatur
Heiner Bielefeldt, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Politisierte Religion. Ursachen und Erschei-
nungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1998.
Erich Geldbach, Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster
2001.
Hermann Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen,
Freiburg/Br. 1991.
David A. Rausch, Fundamentalist-evangelicals and anti-semitism, Valley Forge 1993.
Regina Wamper, Das Kreuz mit der Nation: christlicher Antisemitismus in der Jungen Frei-
heit, Münster 2008.
Conversos
„Conversos“ [Konvertiten], „cristãos-novos“ [Neuchristen], „marranos“ [Marranen]
sind historische Fremdbezeichnungen für die spanisch-portugiesischen Zwangskonver-
52 Conversos
titen und ihre Nachkommen, deren Minderheit sowohl Ergebnis als auch Ziel besonde-
rer judenfeindlicher Maßnahmen und Vorstellungen waren.
Die fast durchgängige Verdrängung jüdischer Präsenz aus dem spätmittelalterlichen
Europa nahm im westlichen Mittelmeerraum allgemein nicht den Weg der Vertreibung,
sondern den der erzwungenen Integration. Seit der Gründung der Dominikanerschule
von Barcelona 1240 betrieben die Bettelorden in Spanien eine systematische Bekeh-
rungspolitik. Langfristiges Ergebnis waren, abgesehen von individuellen Übertritten,
vier durch Gewalt, Druck oder Drohung erzielte Serien von Massentaufen. Die erste
ging im Sommer 1391, während des kastilischen Interregnums, im Gefolge einer kleri-
kal geschürten Pogromwelle von Sevilla aus und erfasste insbesondere Kastilien und
Katalonien. Die zweite initiierte der Dominikanerprediger Vicente Ferrer in den Jahren
1408-1412 mit Unterstützung der Könige von Kastilien und Aragon. Deren Nachfolger
bewirkten mittels des Vertreibungsedikts von 1492 erneut zahlreiche Übertritte; insbe-
sondere aber nahm der portugiesische König 1497 eine eigenmächtige Kollektivtaufe
vor, deren Opfer nicht nur alle ansässigen, sondern auch die aus Spanien in sein Reich
geflüchteten Juden waren.
Die spanischen „conversos“ [Konvertiten] des 15. Jahrhunderts bildeten eine unein-
heitliche Gruppe von vermutlich 200.000 Personen, während die portugiesischen „cri-
stãos-novos“ [Neuchristen], etwa 60.000 Personen, schon wegen ihres rezenteren und
gleichzeitigen Religionswechsels gesellschaftlich klarer abgegrenzt waren. Sie waren
zu einer eigenen Kaufmannschaft zusammengeschlossen, unterlagen separaten Abga-
ben und verstanden sich auch selbst als „gente da nação“ [Leute der (jüdischen) Na-
tion]. Außerhalb der Pyrenäenhalbinsel gab es ab- und ausgegrenzte kleinere Konverti-
tengruppen in Gestalt der „Neofiti“ Kalabriens und der „Xuetas“ auf der Insel Mallor-
ca, hervorgegangen aus Massentaufen der Jahre 1290 bzw. 1435, sowie der „Néophy-
tes“ in der Provence.
Es ist schwierig aber unabdingbar, bei der historischen Beschreibung dieser Minder-
heiten zwischen externer Identitätszuweisung, sozialer und religiöser Selbstidentifika-
tion sowie tatsächlicher Religionspraxis zu unterscheiden. Mittelalterlich-rabbinischer
Tradition entstammt die religionsrechtliche Unterscheidung zwischen willentlichen
„Apostaten“ (Meshumadim) und „Gezwungenen“ ( → Anusim), die sich insgeheim
weiter als Juden verstanden und betätigten. Christlicher Wortgebrauch, geprägt von der
rückwirkenden Anerkennung der Zwangstaufe durch das Kirchenrecht, macht keine
Unterschiede zwischen wirklichen und vorgeblichen Konvertiten; das Schimpfwort
„marrano“ [Schwein] verwischt sie sogar absichtlich. Dieses Wort, das in Spanien seit
seiner Ersterwähnung 1380 als unflätig verboten war, ging im Ausland mit unklarer
Bedeutung in die Schriftsprache ein. Trotz mancher Versuche, „Conversos“ für die spa-
nischen Konvertiten zu reservieren, „Neuchristen“ für die portugiesischen, schließlich
„Marranen“ (oder neutraler „Krypto-Juden“) für die geheim-jüdische Untergruppe bei-
der, verschwimmen diese Begriffe sogar im wissenschaftlichen Gebrauch.
Die zwangsgetauften Juden und ihre Nachkommen waren Ziel widersprüchlicher ju-
denfeindlicher Maßnahmen, welche bald ihre Eingliederung, bald ihre Ausgrenzung
bezweckten. Nach ihrer Taufe wurde nicht allein die jüdische Praxis, sondern meist
auch die Ausreise, in Portugal anfangs sogar die Endogamie unter Strafe gestellt.
Conversos 53
Dass die „Conversos“, wiewohl weiterhin als Außenseiter empfunden, gleiche oder
überlegene soziale Machtpositionen erringen konnten, führte zu sozialen Konflikten.
Als religiöse Vorsichtsmaßnahmen verbrämte rechtliche Diskriminierungen schlossen
alle Konvertitennachkommen seit 1449 nach und nach von Machtpositionen aus. Die
Ideologie der → „limpieza de sangre“ [Reinheit des Blutes] bei judenfeindlichen Pole-
mikern seit Alonso de Espina (Fortalitium Fidei, 1460) gilt als Vorläuferin der moder-
nen Rassentheorien. Ihre Praxis reichte in Portugal bis 1773, in Spanien in Ausläufern
bis ins 19. Jahrhundert.
Feindschaft von Alt- gegen Neuchristen entlud sich in gewalttätigen Pogromen, die
in Spanien in den Ausschreitungen von Córdoba 1475, in Portugal im Massaker von
Lissabon 1506 gipfelten.
Im Gefolge dieser Spannungen entstand in Spanien 1480, in Portugal 1536 und in
Hispanoamerika 1569 die → Inquisition als eine zwar päpstlich ermächtigte, doch der
königlichen Regierung angehörige Institution. Ihrem juristischen Selbstverständnis
nach suchte sie allein die Minderheit der falschen Konvertiten zu identifizieren und zu
strafen; indes lenkte die öffentliche Verfolgung den Kollektivverdacht gegen die ge-
samte Gruppe. Ihr Schreckensregime vernichtete die geheim-jüdische Subkultur Spa-
niens während der Jahre 1480-1510 fast vollständig, während portugiesische „Judaisie-
rer“ noch über zwei Jahrhunderte im Visier beider Inquisitionen standen. Die Zahl der
insgesamt verfolgten Geheimjuden liegt in Portugal bei 40.000 und in Spanien zumin-
dest auf ähnlicher Höhe.
Das Beispiel der Vertreibung der „Moriscos“ (konvertierte Muslime) aus Spanien im
Jahr 1609 nährte Vertreibungspläne auch gegen die Neuchristen, welche eine portugie-
sische Bischofskonferenz 1629 am deutlichsten artikulierte. Dem standen Bemühungen
entgegen, durch Abbau der gesellschaftlichen Benachteiligung und Kontrolle der In-
quisition eine friedliche Eingliederung zu erreichen. Vorstöße in dieser Richtung unter-
nahm der spanische Minister Olivares 1627-1647 im Interesse der Kriegsfinanzierung
sowie Portugal 1644-1656 unter dem Einfluss der Jesuiten; doch wurde die Inquisition
erst in der Aufklärungszeit wirksam gebremst.
Insgesamt verschlossen sich sowohl Spanien als auch Portugal den Extremen von
Vertreibung oder Toleranz; vielmehr hielten beide dauerhaft an der spätmittelalterli-
chen Politik der Zwangsintegration fest. Politisch-sozialer Druck und die Aufnahmefä-
higkeit der iberischen Gesellschaften haben es vermocht, den größten Teil der Konver-
titennachkommen in einem generationenlangen Prozess vom Judentum zu lösen. Vor
allem im portugiesischen Fall störte jedoch die Verfolgung und Verdächtigung vorhan-
dene Integrationstendenzen und stellte verlorene jüdische Solidarität und Affinität wie-
der her. Mehrere Tausend Inquisitionsflüchtlinge eigneten sich im Ausland das Juden-
tum neu an und trugen mit ihrer besonderen interkulturellen Dynamik zu dessen Mo-
dernisierung bei; zugleich begünstigte die → Diaspora eine jüdische Identifikation bei
den zurückgebliebenen Verwandten.
Carsten L. Wilke
Literatur
David M. Gitlitz, Secrecy and deceit. The religion of the crypto-Jews, Albuquerque 1996.
Fritz Heymann, Tod oder Taufe. Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal im
Zeitalter der Inquisition [1940], Frankfurt am Main 1988.
54 Curăţirea terenului [Reinigung des Terrains]
Bug. Die Juden aus Bessarabien und der Bukowina sollten dort konzentriert werden,
bis ihre Evakuierung ostwärts möglich sei. Am 16. September begannen die Auflösung
der provisorischen Lager und der Abmarsch nach Transnistrien. 45.000 bis 60.000 Ju-
den kamen 1941 in Bessarabien und der Bukowina durch den Befehl zur „Reinigung
des Terrains“ um. Mitgewirkt hatten dabei auch Sonderkommandos der Einsatzgruppe
D unter Otto Ohlendorf, die durch die Nord-Bukowina, Bessarabien und die südliche
Ukraine zogen.
Auch in dem später Transnistrien genannten Besatzungsgebiet wurden die über
115.000 ukrainischen Juden von der Einsatzgruppe D und rumänischen Soldaten er-
mordet. Ab September wurden über 105.000 Juden aus der Bukowina und Bessarabien
nach Transnistrien deportiert. Etwa ein Drittel starb dort.
Als „Reinigung des Terrains“ galt auch der Plan, den der Direktor des Zentralinsti-
tuts für Statistik, Sabin Manuilă, am 15. Oktober 1941 General Antonescu vorlegte:
Um die Homogenisierung Rumäniens zu erreichen, sollten 3,5 Millionen Nichtrumä-
nen das Land verlassen. Bei Juden und Roma nannte er die Vertreibung zynisch „ein-
seitigen Transfer“, während Ungarn, Ukrainer, Polen, Bulgaren u.a. gegen auswärtige
rumänische Gruppen ausgetauscht werden sollten. 1942 wurden 25.000 Roma nach
Transnistrien deportiert, von denen zwischen 11.000 und 19.000 dort starben. Die Ver-
treibung der fast eine Million Ukrainer und Russen aus dem Norden Rumäniens sollte
1943 in Angriff genommen werden, durch die Entwicklung an der Ostfront blieb dieses
Vorhaben in den Anfängen stecken. Constantin Z. Vasiliu und Mihai Antonescu wur-
den wegen der Massenmorde von 1941 und anderer Verbrechen am 1. Juni 1946 hinge-
richtet.
Mariana Hausleitner
Literatur
Viorel Achim, The Romanian Population Exchange Project Elaborated by Sabin Manuila in
October 1941, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Triest XXVII
(2001), S. 593-617.
Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen
Sowjetunion 1941-1943, Hamburg 2003.
Wolfgang Benz, Brigitte Mihok (Hrsg.), Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Ju-
denmord in Rumänien und Transnistrien 1940-1944, Berlin 2009.
Comisia internaţională pentru studierea holocaustului în România: Raport final, Iaşi 2005.
Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaat-
lichen Anspruchs Großrumäniens 1918-1944, München 2001.
Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007.
Diaspora
Der aus dem Griechischen stammende Begriff Diaspora [Zerstreuung] bezeichnet ein
Gebiet, in dem die Anhänger einer Konfession oder Ethnie gegenüber einer anderen in
der Minderheit leben. Der Begriff ist eng mit der Geschichte des Judentums verknüpft
und bezeichnet das Leben von Juden außerhalb Palästinas/Israels. Ihre Lebensweise als
Minderheit mit eigenem Glauben und oft auch mit unterschiedlichem Rechtsstatus un-
ter Andersgläubigen ist charakteristisch für die jüdische Diaspora. Synonym verwendet
56 Diaspora
werden auch das hebräische „Galut“ und das aus dem Lateinischen stammende Wort
„Exil“. Unterschieden wird zwischen einem freiwilligen und einem zwangsweisen
Aufenthalt, wobei Diaspora häufig das freiwillige und „Galut“ oder „Exil“ das zwangs-
weise Leben außerhalb Palästinas/Israels meint. Diese Unterscheidung ist jedoch pro-
blematisch, da sich die Motivationen oftmals vermischen. So können zwangsweise ge-
wählte Orte zur lieb gewordenen Heimat oder selbst gewählte Ziele zum wenig einla-
denden Exil werden. In neuerer Zeit ist unter Diaspora generell die Situation anderer
religiöser oder ethnischer Gruppen zu verstehen, die nicht unter ihresgleichen und über
alle Kontinente verstreut leben.
Die jüdische Diaspora begann mit dem Untergang des Reiches Juda 586 v.Chr.. Ei-
nige Juden flohen nach Ägypten, die meisten jedoch wurden in babylonische Gefan-
genschaft verschleppt. Dort entstanden geschlossene Siedlungen, in denen es den Ju-
den möglich war, ihre Traditionen und ihren Glauben innerhalb einer andersgläubigen
Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Als Kyros II., Gründer des persischen Großreichs,
den Juden die Rückkehr nach Palästina gestattete, machten nur wenige davon Ge-
brauch. Die meisten blieben in Babylonien und legten dort die Grundlagen für blühen-
de jüdische Gemeinden. Da sie sich freiwillig der Staatsgewalt unterstellten, wurde ih-
nen oftmals das Recht zugestanden, ihre religiöse und kulturelle Identität zu bewahren.
In hellenistisch-römischer Zeit nahm die jüdische Bevölkerung auch in Ägypten stark
zu.
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch den römischen Feldherren Titus im
Jahre 70 n.Chr. wurde ein Großteil der Juden aus Palästina vertrieben. Daraufhin brei-
tete sich die Diaspora über Nordafrika nach Spanien aus, durch die Zunahme des Fern-
handels sogar bis nach Indien und China. Seit dem späten Mittelalter entstanden jüdi-
sche Siedlungen in Osteuropa. Die Gründe dafür lagen vor allem in der deutschen Ost-
siedlung und den Vertreibungen aus West- und Mitteleuropa. Bis 1500 bildete die se-
phardische Diaspora den Schwerpunkt, doch 1492 begann mit dem Alhambra-Edikt
die Vertreibung der Juden, die seit Jahrhunderten auf der Iberischen Halbinsel ansässig
und integriert waren; die Mehrheit von ihnen fand Zuflucht im Osmanischen Reich.
Trotz feindlicher Maßnahmen gegen Juden wie beispielsweise die Chmielnicki-Po-
grome Mitte des 17. Jahrhunderts, eines der blutigsten → Pogrome der ostjüdischen
Geschichte vor dem → Holocaust, entwickelte sich Osteuropa bis zum 19. Jahrhundert
zum jüdischen Siedlungsschwerpunkt. Ende des 19. Jahrhunderts jedoch verschob sich
das Zentrum der Diaspora in die Vereinigten Staaten von Amerika. Pogrome, Arbeits-
losigkeit und antijüdische Maßnahmen ließen Millionen Juden aus Osteuropa auf ein
besseres Leben in den USA hoffen.
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 veränderte sich die Diaspo-
rastruktur noch einmal, auch Südamerika wurde nun zum begehrten Ziel. Das europä-
ische Judentum wurde während des → Nationalsozialismus fast völlig vernichtet. Die
Erwartung, dass nach der Gründung des Staates Israel 1948 die Mehrheit des jüdischen
Volkes in die neue jüdische Heimat strömen würde, erfüllte sich nicht.
Carina Baganz
Literatur
Haim Hillel Ben-Sasson (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis
zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1992.
Displaced Persons (DPs) 57
Armin Eidherr, Gerhard Langer, Karl Müller (Hrsg.), Diaspora – Exil als Lebenserfahrung:
Jüdische Bilanzen und Perspektiven, Klagenfurt 2006.
aus. Dem vorausgegangen war der Kommentar „Judenfrage als Prüfstein“ von Wil-
helm E. Süßkind, in dem dieser auf eine Rede des amerikanischen Hochkommissars
John McCloy, dass der Umgang mit den Juden die „Feuerprobe der deutschen Demo-
kratie“ sei, Bezug nahm, auf den hin zahlreiche Zuschriften bei der Zeitung eingingen.
Die „Süddeutsche“ hatte durch den Abdruck des „Bleibtreu“-Briefes die Bandbreite
der geäußerten Reaktionen zeigen wollen. Daraufhin versammelten sich am 10. August
mehr als 1000 jüdische DPs, um in einem Demonstrationszug der Chefredaktion ein
Protestschreiben wegen des Propagierens von Antisemitismus zu überreichen. Auf
Transparenten forderten die aufgebrachten DPs den Entzug der Drucklizenz der „Süd-
deutschen Zeitung“ und rückten die Zeitung in die Nähe des „Stürmer“. Bereits kurz
nach Demonstrationsbeginn wollte die deutsche Polizei die Protestierenden auseinan-
dertreiben, worauf es zu gewalttätigen Randalen kam, in deren Folge drei jüdische De-
monstranten durch Schüsse und 38 Polizisten verletzt wurden. Erst das Eingreifen ame-
rikanischer Militärpolizei beendete die Auseinandersetzungen.
In Österreich wurden - wie nach dem Ersten Weltkrieg - die jüdischen Flüchtlinge
ebenfalls zum Aggressionsobjekt der Antisemiten. Als „erstes Opfer der Hitlerschen
Agression“ fühlten sich die Österreicher den jüdischen DPs gegenüber in keinerlei Ver-
antwortung und lehnten ihre Anwesenheit vehement ab. Sie boten sich geradezu ideal-
typisch als „Sündenböcke“ für die schwierige Nachkriegssituation an. In völliger Ver-
kennung der katastrophalen Lage der jüdischen DPs erregten ihre vermeintlich bessere
Versorgung durch Besatzungstruppen und jüdische Hilfsorganisationen, der Schwarz-
handel sowie die Aufhebung der Arbeitspflicht den Neid der Bevölkerung. Zwar be-
gegneten die Österreicher auch den nichtjüdischen DPs mit fremdenfeindlichen Res-
sentiments, aber die zentrale Rolle, die die jüdischen DPs in der negativen Berichter-
stattung von Presse und Politik spielten, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt mehr als zehn
Prozent der DP-Bevölkerung ausmachten, macht den Antisemitismus deutlich.
Unmut erregte auch die Verwendung von Hotels und Pensionen als DP-Lager. Im
August 1947 entlud sich die Frustration über die schleppende Entwicklung im Frem-
denverkehr im österreichischen Bad Ischl in einer Demonstration vor einem als DP-La-
ger genutzten Hotel. Konkreter Anlass war das Gerücht, dass keine Frischmilch mehr
an Frauen und Kinder ausgegeben würde. Fensterscheiben wurden eingeschlagen und
antisemitische Parolen gegrölt. Die amerikanischen Besatzer verurteilten die Rädels-
führer im September 1947 zu langjährigen Haftstrafen, was bei der Bevölkerung auf so
massiven Widerstand stieß, dass die Amerikaner die Strafen drastisch reduzierten und
einer Verlegung der DPs in ein neu eingerichtetes Lager in Ebelsberg bei Linz zu-
stimmten.
Angelika Königseder
Literatur
Angelika Königseder, Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displa-
ced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 20042.
Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen
Nachkrieg, Gerlingen 1991.
Heinz P. Wassermann (Hrsg.), Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positio-
nen und Perspektiven der Forschung, Innsbruck 2002.
Dönme 59
Dönme
Dönme [Konvertit] ist die türkische Bezeichnung jener Juden und ihrer Nachfahren,
die ihrem religiösen Anführer Sabbatai Zwi (1625-1676) folgend im 17. Jahrhundert
zum Islam konvertierten und vorwiegend in Thessaloniki wohnten. Als angeblich ge-
heim-jüdische Untergruppe („Krypto-Juden“) waren sie immer wieder Gegenstand von
→ Verschwörungstheorien. Während des 20. Jahrhunderts behaupteten religiöse Mus-
lime, dass „Krypto-Juden“ ein Komplott schmiedeten, um das Osmanische Reich
durch die säkulare Türkische Republik zu ersetzen. In jüngerer Zeit wiederum behaup-
ten säkulare Nationalisten, „Krypto-Juden“ würden sich verschwören, um eine Islami-
sche Republik in der Türkei zu etablieren.
Die thessalonikischen Dönme spielten zum ersten Mal in antisemitischen Verschwö-
rungstheorien des konservativen Muslims Dervish Vahdeti eine Rolle, die in seiner
Zeitschrift „Vulkan“ während der osmanischen Konstitutionellen Revolution von 1908
veröffentlicht wurden. Dervish Vahdeti hielt die Dönme für atheistische Juden, die
durch Freimaurerei und bestimmte Sufi-Orden Unmoral und Religionsfeindlichkeit im
Reich verbreitet hätten, durch „ausländisches jüdisches Kapital“ und die britische Ko-
lonialmacht unterstützt würden und als Teil der mächtigsten politischen Kraft, des „Ko-
mitees für Einheit und Fortschritt“ (KEF), den Sturz des letzten religiösen Sultans Ab-
dulhamid II. mit organisierten.
Dervish Vahdetis Verschwörungstheorien erhielten nach der Gründung der türki-
schen Republik 1923 erneut Auftrieb. Die Tatsache, dass der Gründer der Republik,
Mustafa Kemal Atatürk, aus Thessaloniki stammte, ein Mitglied des KEF war und den
säkularen Staat errichtet hatte, der die religiöse muslimische Führungsschicht entmach-
tete und religiöse Muslime unterdrückte, griffen muslimische Regimegegner auf und
behaupteten, er sei ein Dönme. Wäre Atatürk ein Dönme, sei die Republik, die er ge-
gründet hat, illegitim, da ein Jude niemals die gleichen Interessen haben könne wie ein
Muslim, da ein Jude nur dem Weltjudentum dienen könne.
Seit 2002 haben wiederum Säkularisten im Anschluss an den Aufstieg des religiösen
Muslims Tayyip Erdoğan und dessen „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“
(AKP) die von Dervish Vahdeti aufgestellten Theorien wiederbelebt. Säkulare Gegner
des gegenwärtigen Regimes behaupten, die religiösen Muslime, die die politischen
Führer der Türkei darstellen, seien in Wirklichkeit Juden, die Teil eines geheimen jüdi-
schen Komplotts seien, der durch Freimaurer und unterstützt durch jüdisches Kapital
zusammen mit der führenden imperialen Macht (den USA) daran arbeite, die säkulare
Republik aufzulösen und sie durch eine anti-säkulare Republik mit einem „Krypto-Ju-
den“ namens Erdoğan an der Spitze zu ersetzen.
Ergün Poyraz‘ „Moses‘ Kinder Tayyip und Emine“, das diese Theorien verficht,
war 2007 das meistverkaufte Buch in der Türkei; seine Fortsetzung „Moses‘ Rose“
(den Präsidenten der Türkei Abdullah Gül betreffend) das am zweithäufigsten ver-
kaufte Buch. Zusammen brachen sie die Verkaufsrekorde, die zuvor von zwei anderen
Publikationen gehalten wurden: Soner Yalçins‘ „Meister“ (2004), das 75 Mal neu auf-
gelegt wurde und den jüdischen Hintergrund der türkischen säkularen Elite behauptet,
sowie „Meister 2“ (2006), das detailliert die angeblichen jüdischen Ursprünge der füh-
renden Muslime des Landes beschreibt. Diese vier Bücher wiederholen die Themen,
die in Yalçin Küçüks‘ 800seitiger Schimpftirade „Der Monopolstaat“ (2003) ausge-
60 Dolchstoßlegende
führt wurden. Küçüks antisemitischem Szenario zufolge sei die Türkei eine durch Intri-
gen von „Krypto-Juden“ verwaltete Kolonie. Die USA benutzten demnach „Dönme-
Freimaurer-Agenten“, die in Dönme-Schulen ausgebildet und in die Türkei einge-
schleust werden, um die Türen für die Beherrschung durch Sufis, Islamisten und den
Unternehmenskapitalismus zu öffnen. Der Autor schlussfolgert, es gäbe „eine jüdische
Verschwörung“, da die Dönme „das Weltjudentum unterstützen und dessen politischer
Linie folgen“ würden.
Marc David Baer
Übersetzung aus dem Englischen von Marie-Christin Lux
Literatur
Marc David Baer, The Dönme: Jewish Converts, Muslim Revolutionaries, and Secular
Turks, Stanford 2009.
Dolchstoßlegende
Mit der Behauptung, ein „Dolchstoß in den Rücken der Front“, d.h. Verrat der Heimat
und Fehler der politischen Führung seien für die Niederlage im Herbst 1918 letztlich
verantwortlich gewesen, versuchten die militärische Führung und die extreme Rechte
nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ihre eigene Verantwortung für die Katastrophe
abzuwälzen: Linksparteien und Juden hätten den Defätismus in der Bevölkerung ge-
schürt, damit allmählich die Moral im Heer und in der Heimat untergraben und den
Siegeswillen maßgeblich geschwächt. Die Armeeführung versuchte damit erfolgreich,
die Ursachen der militärischen Niederlage zu verschleiern. Demnach waren dann nicht
ihre maßlosen Kriegsziele, nicht Fehler in der Kriegsführung, nicht die physische und
psychische Erschöpfung der Soldaten und die Überlegenheit der feindlichen Staaten
schuld an dem Desaster.
In Wirklichkeit hatten die Dauer des Krieges, ausbleibende Erfolge in der Kriegsfüh-
rung und Hunger die Bevölkerung demoralisiert und den immer wieder geforderten
Siegeswillen gebrochen. Die Lage an der Front hatte sich seit dem Eingreifen der Ame-
rikaner auf Seiten der Alliierten zunehmend verschlechtert. Als die gegnerischen Trup-
pen die deutsche Westfront im August 1918 durchbrochen hatten, forderte die Oberste
Heeresleitung (OHL) angesichts der aussichtslosen militärischen Lage die Reichsregie-
rung am 29. September 1918 ultimativ auf, die Forderung der USA nach einer Demo-
kratisierung des Deutschen Reiches zu erfüllen und die Ententemächte um einen Waf-
fenstillstand zu bitten.
Es war Absicht der OHL, den auf Demokratisierung drängenden Mehrheitsparteien
so die politische Schuld für ihr eigenes Scheitern zuzuschieben und ihnen damit die
Verantwortung für die unvermeidbare Kapitulation und deren Folgen aufzubürden.
Dementsprechend mussten im Auftrag der Reichsregierung Matthias Erzberger neben
zwei untergeordneten Offizieren und nicht die Repräsentanten der OHL Hindenburg
und Ludendorff am 11. November 1918 in Compiègne den Waffenstillstand unter-
zeichnen.
Die sogenannten Annexionisten, Parteien und Gruppierungen, die bis zuletzt weit-
reichende Eroberungen und eine deutsche Vormachtstellung in Europa gefordert hat-
ten, fanden als Hauptschuldige für die aussichtslose Lage die Sozialisten und das „Ju-
Dolchstoßlegende 61
dentum, auf das all der nur zu berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Vol-
kes abgelenkt werden muss“ (so Heinrich Claß, Vorsitzender des „Alldeutschen Ver-
bandes“ am 3. Oktober 1918). Diese antisemitische Ausrichtung gewisser Verfechter
der Dolchstoßlegende hatte ihre Wurzeln schon von Kriegsbeginn an in verleumderi-
schen Behauptungen, Juden würden sich vom Dienst an der Front drücken und er-
reichte einen Höhepunkt in der diskriminierenden, im Oktober 1916 vom Kriegsmini-
sterium veranlassten → „Judenzählung“ im Heer, mit der dasselbe belegt werden
sollte.
Erzberger, dem die Rechte auch noch fälschlicherweise und bösartig jüdische Her-
kunft unterstellte, und die verantwortlichen Politiker der eben erst ausgerufenen Repu-
blik wurden als „Novemberverbrecher“ und „Erfüllungspolitiker“ beschimpft, der
Staat, den sie in dieser schweren Zeit repräsentierten und als dessen Repräsentanten sie
den Versailler Vertrag unterzeichnen mussten, als „Judenrepublik“ verunglimpft.
Einen Höhepunkt im Kampf gegen die vermeintlich Schuldigen an der deutschen
Niederlage bildete der sogenannte Dolchstoßprozess. Er basierte auf einer Kontroverse
zwischen dem Herausgeber der nationalistischen „Süddeutschen Monatshefte“, Paul
Nikolaus Cossmann, der in zwei apologetischen Sonderheften „Der Dolchstoß“ und
„Die Auswirkung des Dolchstoßes“ namhafte Militärs als Autoren aufbot, und dem
Herausgeber der sozialdemokratischen „Münchner Post“, Martin Gruber, der mit einem
Artikel „Der Dolchstoßschwindel der vaterländischen Militärs“ gekontert hatte. Coss-
mann, mit großem Einfluss auf die rechtsgerichtete Presse, meinte durch ein Gerichts-
urteil feststellen lassen zu können, dass die Moral in der Heimat und an der Front durch
Kräfte der Linken, speziell der USPD, systematisch untergraben und damit die Nieder-
lage im Wesentlichen verursacht worden sei. Der Aufsehen erregende Prozess trug we-
sentlich zur Vergiftung des politischen Klimas in der Weimarer Republik bei und
schürte damit auch den Hass auf die angeblich an der Zersetzung des Siegeswillens des
deutschen Volkes schuldigen Juden. Tragisch dabei war, dass der Initiator des Prozes-
ses Cossmann selbst Jude war.
Die Nationalsozialisten nützten die weit verbreitete Auffassung vom „Dolchstoß in
den Rücken der Front“ für ihre Agitation gegen die Juden und behaupteten in ihrer
Propaganda, das nach Weltmacht strebende Judentum habe als Urheber der Revolution
die Niederlage Deutschlands gewollt und herbeigeführt.
Wolfram Selig
Literatur
Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen
Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003.
E. Beckmann, Der Dolchstoßprozeß, München 1925.
Der Dolchstoßprozeß in München, Oktober – November 1925, Eine Ehrenrettung des deut-
schen Volkes, München 1925.
Joachim Petzold, Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienste des deutschen
Imperialismus, Berlin (Ost) 1963.
Rainer Sammet, „Dolchstoß“, Deutschland und die Auseinandersetzung mit der Niederlage
im Ersten Weltkrieg (1918–1933), Berlin 2003.
Wolfram Selig, Paul Nikolaus Cossmann und die Süddeutschen Monatshefte von 1914-
1918. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Publizistik im Ersten Weltkrieg, Pader-
born 1967.
62 Einbürgerungsantisemitismus in der Schweiz
Mittellose Juden hatten kaum eine Chance, eingebürgert zu werden. Dieser Vorbehalt
galt aufgrund der armenrechtlichen Bedeutung des Gemeindebürgerrechts zwar ebenso
für Christen, doch mischten sich bei Juden auch antisemitische Stereotype in die ableh-
nenden Einbürgerungsentscheide.
Mit der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 erhielt der Bund die Kom-
petenz, gesamtschweizerische Rechtsvorschriften bezüglich der Einbürgerung zu erlas-
sen. Diese waren vorerst moderat. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg stieg nicht nur
die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz an (1850: 3 Prozent der
Gesamtbevölkerung, 1910: 14,7 Prozent), sondern auch die Zahl der Juden (1850:
3145 oder 0,13 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1910: 18 462 oder 0,49 Prozent). Der
Zuwachs des im internationalen Vergleich geringen Anteils der jüdischen Bevölkerung
erfolgte vor allem durch Zuwanderung in die Schweizer Städte zunächst aus dem
grenznahen Ausland, später aus Osteuropa. In derselben Zeit fand in Städten mit ho-
hem Ausländeranteil wie Zürich, Basel und Genf eine Liberalisierung der Einbürge-
rung statt. Dort stieg auch die Zahl der Einbürgerungen von Juden an.
Während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit rückten fremden-
feindliche sowie ethnisch-kulturell und teilweise rassistisch aufgeladene antisemitische
Vorurteile zu zentralen Kriterien des bürgerrechtlichen Ausschlusses auf. Seit 1900
hatte sich in der Schweiz eine „neue Rechte“ zu formieren begonnen, welche schon
bald die unterschiedlichen, aber oft wechselseitig aufeinander bezogenen „Diskurse
der Diskriminierung“ (Jakob Tanner) – den Antisemitismus und den Überfremdungs-
diskurs – miteinander verband. Unter dem Schlagwort der „Überfremdungsbekämp-
fung“ richteten sich in der Folge die zunehmenden Restriktionen vor allem gegen Ju-
den aus Osteuropa.
Bereits im Jahr 1910 kennzeichnete die Bundesverwaltung Einbürgerungsakten von
Juden mit einem → „J-Stempel“. Zwei Jahre später verschärfte die Kommission zur
Prüfung der Bürgerrechtsgesuche des Zürcher Stadtparlaments die Einbürgerungsbe-
dingungen für sogenannte Ostjuden. Bis ins Jahr 1920 folgten weitere Verschärfungen
im Zürcher Bürgerrecht, die einseitig gegen die ostjüdische Minderheit gerichtet wa-
ren. Im Jahr 1920 sprach der Stadtrat davon, dass aufgrund der politischen Entwicklun-
gen in Osteuropa möglicherweise „stärkere Wellen der Wanderung der Ostjuden in un-
ser Land schlagen“ werden, und schürte damit die antisemitisch motivierte Überfrem-
dungsangst. Gleichzeitig wurde er nicht müde, antiostjüdische Stereotype wie den ver-
meintlich „tiefe[n] Kulturstand“ zu bemühen, und betonte, dass die Juden aus Osteuro-
pa „in Sprache, Sitte, Lebensführung und gewissen Formen der Religionsausübung ihr
Fremdtum ablegen müssen, wenn sie einbürgerungsreif werden wollen“. Die Aufhe-
bung der Zürcher Sonderregelungen wurde durch eine Eingabe des Vorstandes der „Is-
raelischen Cultusgemeinde Zürich“ im Jahr 1936 erwirkt.
Während andere Städte wie etwa Basel auch zur Zeit des Ersten Weltkriegs Juden
aus Osteuropa einbürgerten, machte die diskriminierende Stadtzürcher Praxis in der
Zwischenkriegszeit auf Bundesebene Schule. In Bundesregierung und -verwaltung
wurde nun auf die ethnisch-kulturelle „Assimilation“ als Einbürgerungsbedingung ge-
setzt, wobei „Ostjuden“ zumeist als „nicht-assimilierbar“ galten. Im Jahr 1926 ordnete
Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, einen Einbürgerungsstopp für „Ostju-
den“ der ersten Generation und für die zweite Generation einen 15-jährigen Mindest-
64 Emanzipation der Juden
wohnsitz an. Schließlich wurde die Wohnsitzfrist für Juden aus dem Osten während
des Zweiten Weltkriegs auf zwanzig Jahre erhöht und festgelegt, dass pro Jahr höch-
stens zwölf „assimilierte“ Juden die Einbürgerungsbewilligung erhalten sollten.
Die antisemitische Abwehrpolitik traf auch jüdische Schweizerinnen, die einen aus-
ländischen Mann geheiratet und so das Schweizer Bürgerrecht verloren hatten. Wäh-
rend des Zweiten Weltkriegs wurde ihnen die Einreise in die Schweiz vielfach verwei-
gert, was nicht nur ein Gesuch auf Wiedereinbürgerung unmöglich machte, sondern
für manche den sicheren Tod bedeutete. Ebenso entzogen die Einbürgerungsbehörden
des Bundes in den 1940er Jahren in mehreren Fällen jüdischen Frauen das Schweizer
Bürgerrecht, nachdem sie durch Heirat Schweizerinnen geworden und in Verdacht ge-
raten waren, eine sogenannte Scheinehe zu führen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die meisten jüdischen Flüchtlinge die
Schweiz wieder verlassen. Trotz der Zuwanderung sephardischer Juden in die West-
schweiz nahm der Anteil der Juden an der schweizerischen Gesamtbevölkerung ab
(1920: 0,54 Prozent, 1950: 0,4 Prozent, 2000: 0,25 Prozent). Während der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Schweizer Juden zu einer „anerkannten und
integrierten Minderheit“ (Ralph Weingarten). Obwohl der Bund im Jahr 1952 die
Wohnsitzfrist für die Einbürgerung gesamtschweizerisch von sechs auf zwölf Jahre er-
höht hatte, besaßen immer mehr Juden das Schweizer Bürgerrecht (1910: 34 Prozent,
2000: 79 Prozent). Der ethnisch-kulturell, xenophob und rassistisch motivierte Einbür-
gerungsantisemitismus war in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber noch keineswegs
gebannt. So wurde etwa im Jahr 1951 in Basel die Familie von zwei aus Russland
stammenden jüdischen Brüdern von einem externen medizinischen Gutachter als „ab-
solut volksfremd“ bezeichnet. Die Einbürgerung der Brüder, einer von ihnen lebte seit
1913 in Basel, wurde von der Behörde abgelehnt.
Regula Argast
Literatur
Regula Argast, Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschließung und Integration in der
Schweiz 1848-1933, Göttingen 2007.
Aaron Kamis-Müller, Antisemitismus in der Schweiz 1900-1930, Zürich 1990.
Patrick Kury, Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz
1900-1945, Zürich 2003.
Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848-1960, Zürich 1998, S. 3-22.
Silke Redolfi, Nicole Schwalbach, Regina Wecker, Staatsbürgerrecht. Transnationale
Aspekte einer nationalen Institution, in: Gender in Trans-it. Transkulturelle und transnatio-
nale Perspektiven, Zürich 2009, S. 117-124.
Brigitte Studer, Gérald Arlettaz, Regula Argast, Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust,
Entzug von 1848 bis zur Gegenwart, unter Mitarbeit von Anina Gidkov, Erika Luce und
Nicole Schwalbach, Zürich 2008.
Nach der Niederlage Napoleons 1815 bei Waterloo kämpften die an der alten Ord-
nung orientierten, restaurierten Dynastien und eine neue liberale politische Klasse, die
für rechtsstaatliche Verhältnisse einschließlich der bürgerlichen Gleichstellung der Ju-
den eintrat, um die politische Hegemonie. Hinzu trat eine junge Generation von natio-
nalistischen Intellektuellen, die sich einen vehementen Judenhass zu eigen gemacht
hatte und von judenfeindlichen Philosophen wie Jakob Friedrich Fries oder Christian
Friedrich Rühs geprägt war.
Gegen die Aufrechterhaltung der emanzipatorischen Bestimmungen der vorausge-
gangenen Phase erhoben auf dem Wiener Kongress insbesondere freie Städte Ein-
spruch, und in zahlreichen Ländern Europas wurden die ersten emanzipatorischen Be-
stimmungen rückgängig gemacht oder auf dem Verwaltungsweg ausgehöhlt. Weite
Teile der christlichen Bevölkerung waren nicht bereit, Juden als gleichberechtigte Bür-
ger zu akzeptieren. Der Hass gegen Juden schlug in den süddeutschen Staaten in den
„Hepp-Hepp-Krawallen“ von 1819 in gewalttätige Ausschreitungen um.
Durch die Französische Julirevolution von 1830 erhielten die liberalen Bewegungen
wieder Auftrieb, und die Forderung nach bürgerlicher und politischer Gleichberechti-
gung der Juden bekam vor allem dadurch neue Schubkraft, weil sich mit dem Begriff
Emanzipation nunmehr ein wirkungsmächtiges politisches Schlagwort in Europa ver-
breitet hatte. Ausgetragen wurde der Kampf um Anerkennung in Deutschland in den
beiden kommenden Jahrzehnten etwa in der Streckfuß-Debatte, in der nun jüdische In-
tellektuelle den Widersachern der Juden öffentlich entgegentraten. Der liberale Auf-
bruch kam in einer Fülle von Flugschriften und Petitionen zugunsten der Emanzipation
der Juden zum Ausdruck, so dass die liberalen Befürworter der Emanzipation die öf-
fentliche Meinung dominierten. Gleichwohl hegten weite Teile der Beamtenschaft ve-
hemente Vorurteile gegenüber den Juden.
Die Revolution von 1848/49 führte zu einem grundlegenden Wandel im Selbstver-
ständnis der europäischen Juden, und in allen Ländern Europas, die von der revolutio-
nären Bewegung erfasst waren, gehörte die Emanzipation der Juden zu den zentralen
politischen Forderungen. Juden griffen nunmehr aktiv in das politische Geschehen ein,
übernahmen politische Ämter und wurden in die Parlamente gewählt. Unterstützung
fanden sie in den demokratischen und liberalen Parteien. Gleichzeitig aber kam es in
vielen Städten und Dörfern Zentraleuropas, vom Elsass über Baden, Württemberg,
Hessen, Westfalen, Franken und Oberschlesien bis hinein nach Böhmen und Ungarn,
sowie vereinzelt auch in italienischen Staaten zu antijüdischen Ausschreitungen.
Nach der Niederschlagung der Revolution wurde die Emanzipation in nahezu allen
Ländern, in denen 1848/49 die Gleichheit der Juden vor dem Gesetz erklärt worden
war und in denen Juden politische Rechte erlangt hatten, wieder rückgängig gemacht.
In Bayern erhob sich eine wesentlich von der katholischen Kirche getragene Petitions-
bewegung, die sich gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden richtete.
Obgleich die staatlichen Institutionen zumeist von konservativen Kräften beherrscht
waren, übten die liberalen Bewegungen die kulturelle Hegemonie aus. Zehn Jahre nach
der europäischen Reaktion kam es daher zu einem neuen liberalen Aufbruch, und das
politische Klima machte es nun möglich, dass in nahezu allen Ländern Europas die
politischen und bürgerlichen Rechte der Juden anerkannt wurden und auch in den Ver-
Endlösung der Judenfrage 67
fassungen der neuen Nationalstaaten wie Deutschland oder Italien die Emanzipation
garantiert wurde.
In den Ländern des deutschen Bundes traten in diesen vom liberalen Zeitgeist be-
stimmten Jahren prononcierte Judengegner hervor, unter ihnen vor allem Hermann Wa-
gener, der als Herausgeber der „Neuen Preußischen Zeitung“, des konservativen
„Staats- und Gesellschaftslexikons“ und der Wochenschrift „Berliner Revue“ entschei-
denden Einfluss auf die judenfeindlichen Einstellungen des deutschen Konservativis-
mus nahm. In den von Bruno Bauer im „Staats- und Gesellschaftslexikon“ publizierten
judenfeindlichen Artikeln sowie in der 1859 unter Mithilfe von Wagener unter dem
Pseudonym H. Naudh erschienenen und immer wieder neu aufgelegten Schrift „Die
Juden und der deutsche Staat“ sind alle zentralen Motive der Sprache des Antisemitis-
mus, wie sie sich seit den 1880er Jahren in Europa verbreiten sollte, bereits enthalten.
Noch aber bestimmten sie nicht die öffentliche Meinung und das kulturelle Klima.
Seinen Höhepunkt und Abschluss erlebte das Zeitalter der Emanzipation mit dem
Berliner Kongress 1878, auf dem das Prinzip der bürgerlichen und staatsbürgerlichen
Gleichheit der Juden zu einem Grundsatz der europäischen Diplomatie und zu einer
völkerrechtlichen Voraussetzung für die Anerkennung der Staaten wurde. Schon im
folgenden Jahr schlug das kulturelle Klima in Europa grundlegend um. Die Abschaf-
fung der Emanzipation wurde nun zu einem der zentralen Ziele der antisemitischen Be-
wegung, bis die rechtliche Gleichstellung seit den 1930er Jahren von Deutschland aus-
gehend in weiten Teilen Europas tatsächlich rückgängig gemacht wurde.
Ulrich Wyrwa
Literatur
Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer, Emanzipation und Akkulturation
1780-1871, München 1996.
Rainer Erb, Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand ge-
gen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860, Berlin 1989.
Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt
am Main 1999.
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ‚Judenfrage’ in der bürger-
lichen Gesellschaft, Göttingen 1975.
Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918, München 1994.
Ulrich Wyrwa, Die Emanzipation der Juden in Europa, in: Elke-Vera Kotowski, Julius H.
Schoeps, Hiltrud Wallenborn (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Band
2, Darmstadt 2001, S. 336-352.
listischen Ideologie immer als Ausgrenzung gedacht war und mit zunehmender Macht-
entfaltung des NS-Regimes radikalisiert wurde.
War die „Lösung der Judenfrage“ also genuin ein Postulat der Antisemiten und eine
Metapher nationalsozialistischer Propaganda mit noch unbestimmtem Inhalt, so wurde
der Begriff ab 1933 durch Maßnahmen der Entrechtung, Ausgrenzung, Diskriminie-
rung und Vertreibung (am deutlichsten durch die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 und
deren Folgebestimmungen) gefüllt und schließlich, in der Form „Endlösung der Juden-
frage“, verdichtet zum Synonym des beabsichtigten Massenmords an allen Juden im
deutschen Herrschaftsbereich. Nach dem Novemberpogrom 1938, der die Wegmarke
der nationalsozialistischen Judenpolitik bildet (als Punkt des Umschlags der Phase der
Drangsalierung und Demütigung zur Vertreibung und Vernichtung), erweitert sich im
amtlichen Sprachgebrauch der Begriff „Lösung der Judenfrage“ zur „Gesamtlösung“
beziehungsweise zur „endgültigen“ Lösung der Judenfrage. Der semantischen Radika-
lisierung entsprach aber nicht ein von Anfang an festgelegter Inhalt, der etwa dem Be-
griff → „Sonderbehandlung“ in seiner Eindeutigkeit entsprochen hätte.
Ein Schlüsseldokument zur Entwicklung des Sprachgebrauchs ist das „Bestellungs-
schreiben“, mit dem Göring als Reichsmarschall, Beauftragter für den Vierjahresplan
und Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung am 31. Juli 1941 den
Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, zu Planungen autorisierte: „In Er-
gänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24.1.39 übertragenen Aufgabe, die Judenfra-
ge in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entspre-
chend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erfor-
derlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu
treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa.
Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese
zu beteiligen. Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die
organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung
der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.“ (Nürnberger Dokument PS
710).
Hinsichtlich der verfolgten Ziele ist dieses Dokument seinem Wortlaut nach noch
keineswegs eindeutig; schon der Rückbezug auf den Erlass vom Januar 1939, mit dem
die Forcierung der jüdischen Auswanderung beabsichtigt gewesen war, könnte die Ver-
mutung stützen, die „Gesamtlösung“ hätte, in Erweiterung des Drucks zur individuel-
len Auswanderung, eine Umsiedlung durch Massendeportation mit anschließender
Neuansiedlung der Deportierten zum Ziele gehabt. Dass davon zu diesem Zeitpunkt
keine Rede mehr sein konnte, dass der Entschluss zum Völkermord bereits gefallen
war, ist längst unstrittig. Die Tatsache, dass die Mordkommandos der Einsatzgruppen
nach dem Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) im Baltikum, in der Ukraine,
in Weißrussland und Russland gut vorbereitet in Tätigkeit traten, ist ein unabweisbares
Indiz.
Belege für den bereits vollzogenen Bedeutungswandel des Begriffs „Endlösung“
finden sich auch in den Akten. So enthält ein Befehl des Reichssicherheitshauptamtes,
der am 20. Mai 1941 per Rundschreiben allen Staatspolizei(leit)-stellen und nachricht-
lich allen SD-Leitabschnitten übermittelt wurde, zweimal den ausdrücklichen Hinweis
„auf die zweifellos kommende Endlösung der Judenfrage“. Das konnte nur eine Steige-
Endlösung der Judenfrage 69
rung der bis dato praktizierten Judenpolitik bedeuten, und die Ankündigung ist auch
insofern höchst interessant, als der Anlass des Befehls darin bestand, dass deutsche Ju-
den, die in Belgien und Frankreich lebten, bei Behörden im Deutschen Reich Urkun-
den und Dokumente wie Führungszeugnisse, Reisepässe und so weiter anforderten, die
zur Auswanderung nach Übersee benötigt wurden. Die dem Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) nachgeordneten Dienststellen wurden angewiesen, solchen Bitten nicht zu
entsprechen. Und weiter hieß es in dem RSHA-Befehl generell: „Eine Einwanderung
von Juden in die von uns besetzten Gebiete ist im Hinblick auf die zweifellos kom-
mende Endlösung der Judenfrage zu verhindern.“
Wenn man mit großer Sicherheit davon ausgehen kann, dass der Terminus „Endlö-
sung“ spätestens ab dem Frühsommer 1941 nichts anderes mehr als Vernichtung be-
deutete, so ist zu fragen, wann der Bedeutungswandel einsetzt. Am 24. Juni 1940
schrieb Heydrich an den Außenminister Ribbentrop einen Brief, in dem er auf seine
Kompetenz für die „Durchführung der jüdischen Auswanderung aus dem gesamten
Reichsgebiet“ hinwies. Seit 1. Januar 1939 seien insgesamt 200.000 Juden aus dem
Reichsgebiet ausgewandert. Jedoch: „Das Gesamtproblem – es handelt sich bereits um
rund 3 Millionen Juden in den heute Deutscher Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten
– kann aber durch Auswanderung nicht mehr gelöst werden. Eine territoriale Endlö-
sung wird daher notwendig.“
Der Chef des Reichssicherheitshauptamts meinte mit „territorialer Endlösung“ das
„Madagaskar-Projekt“, das seit Frühjahr 1940 Gegenstand von Planungen war. Wenn
sich der → Madagaskar-Plan als Vernichtungsmodell charakterisieren lässt, in dem der
Terminus „Endlösung“ in seiner dann definitiven Bedeutung verwendet wird, so fehlt
ihm wegen des exotischen und irrealen Orts und der hypothetischen Planung die letzte
Beweiskraft für die Absicht des Völkermords vom Dezember 1940. Dokumente der SS
mit dem Titel „Die Judenfrage“ geben über die Intentionen und zugleich über die Di-
mension, in der geplant wurde, Aufschluss. Es handelt sich um Notizen und einen Ver-
merk aus Anlass eines Vortrags beim Reichsführer SS Himmler, der Zahlen über die
jüdischen Bevölkerungsbewegungen enthält. Intentional wird „die Judenfrage“ klar
und eindeutig in zwei Phasen unterteilt, nämlich in eine „Anfangslösung der Judenfra-
ge durch Auswanderung (durch Überführung der Initiative von den jüdisch-politischen
Organisationen zur Sicherheitspolizei und SD)“ und in „Die Endlösung der Judenfra-
ge“. Unter diesem Rubrum heißt es lakonisch: „Durch Umsiedlung der Juden aus dem
europäischen Wirtschaftsraum des deutschen Volkes in ein noch zu bestimmendes Ter-
ritorium. Im Rahmen dieses Projektes kommen rund 5,8 Millionen Juden in Betracht.“
Die Analyse von Texten aus dem 19. Jahrhundert zeigt, dass die Vernichtungsphan-
tasien dort durchaus schon vorhanden sind, allerdings verbergen sie sich in abstrakten
Wendungen („Unschädlichmachung“, „Entjudung“, „Entfernung“, „Ausmerzung“)
oder hinter Konnotationen und Assoziationen. „So etwas wie ein internierter Judenstaat
bedeutet daher Ausrottung der Juden durch die Juden", lautet ein Beispiel bei Eugen
Dühring. Heinrich Himmler, als Reichsführer SS verantwortlich für den Vollzug der
„Endlösung“, verzichtete schließlich in seiner Rede vor Generalen im Juni 1944 auf
alle Sprachregelungen, als er über den Auftrag, „die Judenfrage zu lösen“, sagte: „Es
ist gut, daß wir die Härte hatten, die Juden in unserem Bereich auszurotten.“
Wolfgang Benz
70 Entartete Kunst
Literatur
Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden,
Frankfurt am Main 1995.
Wolfgang Benz, Von der „Judenfrage“ zur „Endlösung“. Zur Geschichte mörderischer Be-
griffe, in: Wolfgang Benz, Feindbild und Vorurteil. Beiträge über Ausgrenzung und Verfol-
gung, München 1996, S. 89-114.
Endzeiterwartung → Apokalyptik
Entartete Kunst
Bereits in der „Antisemitischen Correspondenz“ vom 1. September 1888 findet sich
der Satz: „Die Entartung der Kunst ist aber der sichere Vorbote der sittlichen und wei-
terhin der leiblichen Entartung.“ Dass es dann ein Jude war, Max Nordau, der in sei-
nem 1892/93 erschienenen zweibändigen Werk „Entartung“ diesen Begriff dezidiert
auf die damalige Gegenwartskunst anwandte, ist ein Umstand, der von den Nationalso-
zialisten nicht reflektiert wurde. Sie verwendeten die Bezeichnung „entartete Kunst“
zunächst neben anderen wie „Verfallskunst“, „Systemkunst“ oder „jüdisch-bolschewi-
stische Kunst“. In diesem letzten Begriff wurden die beiden Hauptfeindbilder – Juden-
tum und Kommunismus – zusammengeführt. Dahinter stand die Theorie einer jüdisch-
kommunistischen Weltverschwörung mit dem Ziel der „Zersetzung“ der deutschen
Kultur. Im Bereich der bildenden Kunst kam dieser Vorstellung entgegen, dass einige
der für die Durchsetzung der Moderne wichtigsten Galeristen und Kunsthändler Juden
waren. Sie sollten – so die Theorie – in Verbindung mit den „Literaten“ die modernen
Künstler „gemacht“ und die Kritiker, Museumsdirektoren und Politiker manipuliert ha-
ben, um die „echte“ deutsche Kunst zu unterdrücken und ihre Wurzeln zu zerstören.
1933 war die Konsequenz der nationalsozialistischen Kunstpolitik noch nicht für
alle erkennbar. Einerseits wurden ab April auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederher-
stellung des Berufsbeamtentums“ Juden und Vertreter der modernen Kunst auch aus
den Kunsthochschulen und den Museen entlassen, und in mehreren Städten wurde der
Museumsbesitz an moderner Kunst in „Schandausstellungen“ angeprangert. Anderer-
seits wurde vor allem im Sommer des Jahres ein Streit um den Expressionismus noch
öffentlich ausgetragen. Auf breiter Front versuchten Künstler, Kunsthistoriker und
Kunstfreunde, die „deutsche, nordische“ Kunst des Expressionismus als vorbildlich für
eine neue, nationalsozialistische Kunst durchzusetzen. Das war möglich, weil es gerade
um diese Fragen innerhalb der Führung einen Machtkampf gab. Rosenberg hatte kein
Ministerium bekommen und konnte zwar propagandistisch, aber nicht administrativ
wirkungsvoll auftreten. Die Museen und Kunstschulen unterstanden dem Erziehungs-
minister Bernhard Rust, der die Entlassungen verfügte, aber in seinem Ministerium bis
1936 noch Beamte duldete, die oft das Schlimmste abzuwenden suchten. Propaganda-
minister Goebbels verstand sich als eigentlicher Kultusminister und sympathisierte in
den ersten Jahren noch mit den „nordischen“ Expressionisten.
Mit der Gründung der Reichskulturkammer im Herbst 1933 unter seiner Präsident-
schaft schuf sich Goebbels das entscheidende Instrument zur Kontrolle der Künste. Un-
ter dieser Dachorganisation befand sich auch die Reichskammer der bildenden Künste.
Da bestehende Verbände in corpore übernommen wurden, gehörten zunächst auch Ju-
Entartete Kunst 71
den noch zu den Mitgliedern. Bis 1936 war jedoch die „Entjudung“ der Reichskunst-
kammer weitgehend abgeschlossen.
Zu dieser Zeit kündigte Rust die Säuberung der Museen von „Verfallskunst“ an. Im
Interesse seiner Machtposition auf dem Kultursektor änderte Goebbels nun seine Stra-
tegie und wurde zum radikalsten Gegner der modernen Kunst. Auf seine Veranlassung
wurde im Juni 1937 in München neben der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ die
Ausstellung „Entartete Kunst“ veranstaltet, mit der sich dieser Begriff als beherrschend
durchsetzte. Das Ausstellungsgut hatte der Präsident der Reichskammer der bildenden
Künste Adolf Ziegler innerhalb kürzester Zeit aus öffentlichen Museen zusammenge-
tragen und damit in das Hoheitsgebiet Rusts übergegriffen. Fast 700 Kunstwerke wur-
den in engen, schlecht beleuchteten Räumen dicht gehängt und mit diffamierenden
Wandaufschriften denunziert, auch antisemitische Parolen wie „Jüdische Wüstensehn-
sucht macht sich Luft“ oder „Deutsche Bauern – jiddisch gesehen“ gehörten dazu. Der
Raum mit den Werken jüdischer Künstler war nur klein: hier waren Jankel Adler, Marc
Chagall, Hans Feibusch, Hanns Katz, Ludwig Meidner, Lasar Segall und Gert H. Woll-
heim vertreten. In der Ausstellung wurden Werke aller modernen Stilrichtungen ange-
prangert.
Noch während der Laufzeit der Ausstellung kam Goebbels den Absichten Rusts, die
Säuberung der Museen nun selbst vorzunehmen, auf der Grundlage eines „Führererlas-
ses“ zuvor und ließ durch Beschlagnahmekommissionen unter Adolf Ziegler die ge-
samten Bestände moderner Kunst aus den deutschen Museen entfernen und nach Ber-
lin bringen. Insgesamt betraf das rund 20.000 Kunstwerke. Mit dem „Gesetz über Ein-
ziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ wurde am 31. Mai 1938 die Grundlage für
die Verwertung der beschlagnahmten Werke gelegt. Etwa ein Viertel, das man für „un-
verwertbar“ hielt, wurde am 20. März 1939 vernichtet. Das „verwertbare“ Kunstgut
wurde im Schloss Schönhausen deponiert. In einer aufsehenerregenden Auktion wur-
den am 30. Juni 1939 von der Galerie Fischer in Luzern 125 Spitzenwerke feilgeboten.
Die weitaus meisten Werke wurden jedoch in aller Stille über vier Kunsthändler ver-
kauft oder gegen „gute deutsche Kunst“ getauscht. Dafür wurden auch wichtige Werke
aus der Ausstellung „Entartete Kunst“ abgezogen, die bis 1941 durch zahlreiche deut-
sche und österreichische Städte wanderte. Im Sommer 1941 wurde auch die „Verwer-
tungsaktion“ abgeschlossen. Von den Restbeständen ist das meiste bis heute verschol-
len. Werke Max Liebermanns, die nicht als „entartet“ galten, aber auch nicht mehr ge-
zeigt werden sollten, wurden teilweise von den Museen selbst veräußert.
1941 erschien das Buch „Judenkunst in Deutschland“ von Walter Hansen, der darin
noch einmal die vorgeblichen Zusammenhänge zwischen Judentum und „Entartung“
der Kunst ausbreitete und, indem er die „Judengenossen“ einbezog, die gesamte künst-
lerische Moderne diffamierte.
Soweit bekannt sind Künstler nicht wegen formaler Merkmale ihrer Kunst inhaftiert
worden, sondern aus rassischen und politischen Gründen. Noch bis in die letzten
Kriegsmonate wurden jüdische Künstler, wie zum Beispiel Otto Freundlich, in den be-
setzten Gebieten aufgegriffen und in Konzentrationslager verbracht, wo sie aus Er-
schöpfung starben oder ermordet wurden.
Andreas Hüneke
72 Entartete Musik
Literatur
Stephanie Barron (Hrsg.), „Entartete Kunst“. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-
Deutschland, München 1992.
Andreas Hüneke, Werke jüdischer Künstler in deutschen Kunstmuseen der 20er und 30er
Jahre des 20. Jahrhunderts, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft,
Band 6, Göttingen 2004, S. 79-86.
Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms
1995.
Entartete Musik
Auf eine persönliche Initiative des Weimarer Staatsrats und Intendanten Hans Severus
Ziegler ging die Ausstellung „Entartete Musik“ zurück, die am 24. Mai 1938 bei den
Düsseldorfer Reichsmusiktagen eröffnet wurde. Zieglers Antisemitismus war geprägt
durch seinen Lehrer, den Literaturhistoriker Adolf Bartels, durch Richard Wagners
Schrift „Das Judentum in der Musik“ sowie durch die ihm persönlich bekannten „Ras-
sentheoretiker“ Paul Schultze-Naumburg, Hans F.K. Günther und Richard Walther
Darré. Gemeinsam mit Eva Chamberlain, der Witwe Houston Stewart Chamberlains,
mit Winifred Wagner, dem Weimarer Theaterdirektor Carl von Schirach und Heinrich
Himmler hatte sich Ziegler dem Kampfbund für deutsche Kultur angeschlossen, der
1930 ein großes Treffen in Weimar durchführte.
1930, als in Thüringen die NSDAP an der Landesregierung beteiligt war, formu-
lierte Ziegler einen Erlass „Wider die Negerkultur, für deutsches Volkstum“, der sich
scharf gegen Jazz und Jazzverwandtes wandte. Ein Werk wie Ernst Kreneks Oper
„Jonny spielt auf“ (1927 in Leipzig uraufgeführt) verhelfe der „Negerkultur“ zum Sieg.
Bei seiner Düsseldorfer Ausstellung griff Ziegler auf diesen Erlass zurück und verwen-
dete den schwarzen Jazzmusiker Jonny als Symbol für „Entartung“; statt einer Nelke
trug er nun den Davidstern im Knopfloch, um deutlich als „Rassenmischling“ zu er-
scheinen. Wie schon die Münchner Ausstellung → „Entartete Kunst“ (1937) sollte
auch die Düsseldorfer Propagandaschau den angeblich verderblichen Einfluss „fremder
Rassen“ auf die deutsche Kultur anprangern. Unter der Überschrift „Jüdisches Theater
von einst im Jazz-Rhythmus“ sah man beispielsweise Abbildungen von Jazzbands und
Porträts jüdischer Operettenkomponisten. Auf anderen Tafeln wurden der preußische
Musikreferent Leo Kestenberg, der Musikkritiker Adolf Weißmann und der Dirigent
Otto Klemperer attackiert. Komponisten wie Arnold Schönberg, Kurt Weill und Franz
Schreker wurde „Entartung im Musikschaffen“ vorgeworfen. Da Ziegler die Dur-Moll-
Tonalität und den „germanischen Dreiklang“ für die Basis aller deutschen Musik hielt,
bezeichnete er auch nichtjüdische Tonsetzer wie Paul Hindemith, Igor Strawinsky, Her-
mann Reutter, Wilhelm Maler und Gerhard Frommel wegen ihrer dissonanten Werke
als entartet.
Mit solchen Versuchen, seine Forderung nach einem „rassereinen“ deutschen Mu-
sikleben durch stilistisch-ästhetische Argumente zu untermauern, musste Ziegler kläg-
lich scheitern. Fachleute konnten die Maßstäbe, mit denen er – beraten durch den Diri-
genten Paul Sixt – Komponisten und Interpreten als „entartet“ verurteilte, nur selten
nachvollziehen. Peter Raabe, der Präsident der Reichsmusikkammer, hatte deshalb
Erlösungsantisemitismus 73
schon vor der Eröffnung der Ausstellung in einem Schreiben an den Reichsminister für
Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels gegen dieses dilettantische Unter-
nehmen protestiert. Der Minister nahm Raabes Rücktrittsforderung nicht an und ver-
hinderte, dass Proteste an die Öffentlichkeit drangen. Er sorgte jedoch dafür, dass die
umstrittene Ausstellung vorzeitig geschlossen wurde und die Presse nur knapp berich-
tete.
Obwohl Zieglers Propagandaschau danach noch nach Weimar und Wien ging, war
sie insgesamt ein Fehlschlag. Als historischer Rückblick hatte sie keine neuen Verfol-
gungen auslösen wollen – so jedenfalls behauptete es ihr Initiator anlässlich der Eröff-
nung. Der Frankfurter Staatsrat Friedrich Krebs sorgte dafür, dass Hermann Reutter,
Wilhelm Maler und Gerhard Frommel in ihren Lehrämtern blieben. Paul Hindemith
jedoch entschloss sich nun, Deutschland endgültig zu verlassen. Zu den späteren Kon-
sequenzen der Ausstellung gehört das berüchtigte „Lexikon der Juden in der Musik“,
das die Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der ge-
samten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP ab 1940
in mehreren Auflagen herausbrachte. Gestützt darauf beschlagnahmte der Sonderstab
Musik des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg im besetzten Frankreich das Eigentum
jüdischer Musiker wie Wanda Landowska und Darius Milhaud.
1988, fünfzig Jahre nach den Reichsmusiktagen von 1938, entstand für die Düssel-
dorfer Tonhalle eine kritisch kommentierte Rekonstruktion von Zieglers Ausstellung,
die danach weltweit in über 50 Städten gezeigt wurde. Dadurch inspiriert startete die
englische Plattenfirma DECCA 1993 eine CD-Serie „Entartete Musik“ mit Neuaufnah-
men von Werken NS-verfolgter Komponisten wie Arnold Schönberg, Hanns Eisler,
Ernst Krenek, Erich Wolfgang Korngold, Berthold Goldschmidt, Walter Braunfels, Ka-
rol Rathaus, Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff. Die Erinnerung an die Diffamierun-
gen führte so schrittweise zu Wiederentdeckungen.
Albrecht Dümling
Literatur
Albrecht Dümling (Hrsg.), Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat. Do-
kumentation und Kommentar, Berlin, Neuss 2007.
Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982.
Entjudung → Verjudung
Erlösungsantisemitismus
Erlösungsantisemitismus ist ein vom Historiker Saul Friedländer geprägter Begriff zur
Kennzeichnung des rassistischen Antisemitismus Hitlers, der zur Staatsdoktrin des
Dritten Reiches wurde. Für Friedländer stellte der Erlösungsantisemitismus die radikal-
ste Form des Judenhasses dar, da der → Rassenantisemitismus mit einer religiösen
bzw. pseudoreligiösen Erlösungs- und Untergangsideologie eine unheilvolle Verbin-
dung eingegangen sei, was der Vernichtung der europäischen Juden ihr ideologisches
Fundament gegeben habe. Entscheidend sei die erlösende Dimension des Hitlerschen
Antisemitismus gewesen, die sozusagen der Destruktivität des Vernichtens eine positi-
74 Erlösungsantisemitismus
ve „Heils“-Bestimmung zuwies. Die Synthese aus mörderischer Wut und einem „idea-
listischen Ziel“ einte Hitler und den harten Kern seiner Mitstreiter und Anhänger.
Die geistigen Ursprünge des Erlösungsantisemitismus verortet Friedländer im späten
19. Jahrhundert. Der Ort, wo sich deutsches Christentum, Neuromantik, der mystische
Kult des heiligen „arischen“ Blutes und rechtskonservativer Nationalismus unheilvoll
vermengt hätten, sei der „Bayreuther Kreis“ gewesen. Die dort versammelte Anhänger-
schaft des deutschen Opernkomponisten Richard Wagner habe die ideologischen
Grundlagen dafür gelegt, dass sich der Antisemitismus mit der Idee der Erlösung der
„arischen“ christlichen Menschheit durch den Kampf gegen die Juden und den Sieg
über sie vermengt habe.
Friedländer nimmt ausdrücklich die Sehnsucht nach Erlösung, die zentrale Werkidee
Wagners, nicht in Haftung für die Entstehung des Erlösungsantisemitismus. Zwar habe
Wagner in seiner gleich zweifach publizierten Schrift „Das Judentum in der Musik“
den Untergang des Judentums proklamiert, doch habe er dabei wohl eher an die Ver-
nichtung des jüdischen Geistes gedacht. Das auf den „Meister“ zurückgehende, unheil-
volle Wirken des „Bayreuther Kreises“ um Houston Stewart Chamberlain, Hans von
Wolzogen und andere habe aber den geistigen Boden bereitet für die pseudoreligiöse
Grundierung eines rassistischen Antisemitismus sowie deren Vermischung mit einer
mythisch verbrämten Ideologie, die die Heiligkeit des „arischen“ Blutes propagiert ha-
be. Chamberlain, der die Erlösung des „arischen“ Christentums nur durch die Beseiti-
gung der Juden für möglich gehalten habe, habe sich dadurch als „Prophet des Erlö-
sungsantisemitismus“ exponiert.
Friedländer charakterisiert den Erlösungsantisemitismus als „allumfassendes Glau-
benssystem“. Hitlers Kampf gegen den „Weltfeind“, das Judentum, habe im Erlösungs-
antisemitismus eine apokalyptische Dimension angenommen: Die Erlösung des Vol-
kes, der „Rasse“ und des „Ariertums“ sei nur durch die Ausmerzung der Juden zu er-
langen. Hitler habe sich von Anfang an für den Messias gehalten, den die Vorsehung
dazu bestimmt habe, Deutschland in einen schicksalsentscheidenden Kampf zu führen.
Hitler habe seine antijüdische Mission also als „eine Art Kreuzzug zur Erlösung der
Welt durch die Beseitigung der Juden“ aufgefasst. Dieses „übergreifende metahistori-
sche Axiom“ habe entscheidend Hitlers Politik der Vernichtung bestimmt.
Der nationalsozialistische Kreuzzug gegen die Juden hatte nach Ansicht Friedlän-
ders auch herrschaftsstrategische Gründe: So hätte die Propaganda gegen „den Juden“
eine negative Mobilisierungsfunktion gehabt: „Für ein Regime, das auf fortwährende
Mobilisierung angewiesen war, diente der Jude gleichsam als treibende Kraft.“
Hitlers Erlösungsantisemitismus wurzelte nach Friedländer in der deutschen Ge-
schichte und der christlichen antijudaistischen Tradition, schöpfte aber auch aus dem
„mörderischen Potential der Moderne“. Hervorgegangen sei er aus der „Furcht vor ras-
sischer Entartung“ und dem religiösen Glauben an Erlösung. Für das Verständnis der
NS-Herrschaft und des → Holocaust weist Friedländer dem Erlösungsantisemitismus
eine zentrale Rolle zu: Für Hitlers antijüdische „Mission“ sei die pseudoreligiöse Di-
mension seiner Ideologie entscheidend gewesen. Den Mördern sei zwar kein „elimina-
torischer Antisemitismus“ zu eigen gewesen, wie ihn Daniel Goldhagen diagnostiziert
hat, sondern eher ein traditioneller religiöser und gesellschaftlicher Antisemitismus,
Eugenik 75
dieser habe aber für Hitlers Erlösungsantisemitismus einen fruchtbaren Boden darge-
stellt.
Vor allem habe das NS-Regime eine antijüdische „Kultur“ fabriziert, die es den
Deutschen erleichtert habe, an die von Hitler propagierte „Erlösung“ vom Juden zu
glauben. Hitlers „persönliche Kontrolle über die überwältigende Mehrheit der Deut-
schen“, so Friedländer, habe sich drei verschiedenen und übergeschichtlichen Erlö-
sungscredos verdankt: dem Glauben an die „Reinheit“ der Rassengemeinschaft, der
Überwältigung von sowjetischem Bolschewismus und angloamerikanischer „Plutokra-
tie“ und der Erlösung in einem „Tausendjährigen Reich“. In jedem dieser Glaubens-
sätze habe der Jude das Böse schlechthin repräsentiert. Dies habe es der NS-Propagan-
da leicht gemacht, Hitler als „göttlichen Führer“ darzustellen, der an allen drei Fronten
gegen denselben metahistorischen Feind kämpfe – den Juden.
Jan Schleusener
Literatur
Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. 2 Bände, München 1998 und 2006.
Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Ge-
schichte, Göttingen 2007.
Saul Friedländer, Jörn Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich. Ein Schloss Elmau-
Symposion, München 2000.
Paul Lawrence Rose, Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner, Prince-
ton 1990.
Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhel-
minischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Mün-
ster 1971.
Eugenik
Die Eugenik, verstanden als Erbgesundheitslehre mit bevölkerungspolitischem An-
spruch, verbreitete sich in Europa und Amerika im späten 19. und frühen 20. Jahrhun-
dert. Den Begriff prägte 1883 der britische Naturforscher Francis Galton. In Deutsch-
land führte der Mediziner und Anthropologe Alfred Julius Ploetz 1895 die Bezeich-
nung „Rassenhygiene“ als deutsches Pendant ein. Beide Begriffe standen für eine orga-
nisierte Bewegung, die das Fortpflanzungsverhalten von Bevölkerungen zu beeinflus-
sen suchte, um die kollektive Erbqualität zu steigern. In der nationalsozialistischen
Rassenpolitik fand die Eugenik ihren extremsten Ausdruck.
Ausgehend von einer Übertragung der Evolutionstheorie Charles Darwins auf
menschliche Gesellschaften und beeinflusst durch kulturpessimistische Strömungen
der Zeit warnten die Eugeniker vor der „Degeneration“ von Bevölkerungen, weil ihrer
Ansicht nach moderne Medizin, Hygiene und Sozialfürsorge die natürliche Auslese
ausschalteten. Eigenschaften wie die Fähigkeit zu Kulturleistungen, Intelligenz oder
die Neigung zu Kriminalität hielt man – weitgehend ohne empirische Belege – für ei-
nen Ausdruck menschlicher Erbanlagen, deren Qualität Gesellschaften und Regierun-
gen durch eugenisch orientierte Maßnahmen erhalten und steigern müssten. Dabei un-
terschied man zwischen einer positiven Eugenik und damit der Förderung erwünschter
Geburten und einer negativen oder präventiven, die „minderwertige“ Bevölkerungs-
76 Eugenik
gruppen in ihrer Fortpflanzung eindämmen oder hindern sollte. Insofern Urteile über
erwünschte Eigenschaften politisch-moralische waren, flossen wissenschaftlicher An-
spruch und ideologische Ausrichtung in der eugenischen Bewegung von Anfang an in-
einander.
Eugenische Ideen fanden Interesse im gesamten politischen Spektrum, auch unter
Sozialdemokraten und Kommunisten. Doch zog die Ansicht, gesellschaftliche Hierar-
chien seien Ausdruck der natürlichen biologischen Ordnung, Anhänger der Rechten
besonders an. So behaupteten in Deutschland viele Eugeniker, die Lage unterer Gesell-
schaftsschichten resultiere aus deren minderwertiger Erbsubstanz. Um die Erbqualität
der Bevölkerung zu verbessern, müsse man die Fortpflanzung in bürgerlich-akademi-
schen Schichten fördern und in ärmeren und randständigen Gesellschaftssegmenten
eindämmen. Völkisch-nationalistische Kreise hofften, die Rassenhygiene stärke den
„Volkskörper“ im Kampf gegen seine Feinde.
Die eugenische Bewegung war international vernetzt und fand Anhänger in den Ver-
einigten Staaten, in England, Skandinavien und anderen Ländern. Am folgenreichsten
war die Eugenik in Deutschland, wo die Nationalsozialisten ihre Grundannahmen früh
zum Teil ihrer Weltanschauung machten. Nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhun-
dert war Alfred Ploetz die zentrale Figur für die Verbreitung eugenischen Denkens in
Deutschland. Er gründete 1904 das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ als
wissenschaftliche Zeitschrift. 1905 entstand auf seine Initiative in Berlin die „Gesell-
schaft für Rassenhygiene“; in den folgenden Jahren formierten sich in München, Frei-
burg und Stuttgart weitere Ortsgruppen. Die Eugenik verstand sich als eine Wissen-
schaft, die zur Anwendung drängte. Ein beträchtlicher Teil der eugenischen Literatur
richtete sich an ein interessiertes Publikum jenseits enger Fachkreise – das gilt auch für
das zentrale Standardwerk der deutschen Eugenik, dem zuerst 1921 erschienenen Lehr-
buch „Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ von Erwin
Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz.
An deutschen Universitäten fasste die Rassenhygiene zwischen den Kriegen kaum
Fuß. Der 1923 in München mit Fritz Lenz besetzte Lehrstuhl blieb lange Zeit der ein-
zige in Deutschland. Der wichtigste Schritt zur Institutionalisierung war 1927 die
Gründung des Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Ber-
lin-Dahlem unter dem Dach der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Das Institut wurde ne-
ben der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, an der Ernst Rüdin
die Abteilung für Genealogie und Demographie leitete, zum Zentrum rassenhygieni-
scher Forschung in Deutschland. Erst nach der Machtübernahme der Nationalsoziali-
sten etablierte sich die Rassenhygiene auch an Universitäten. Ab 1936 wurde Rassen-
hygiene an einer zunehmenden Zahl deutscher Universitäten für Mediziner zum ver-
bindlichen Prüfungsfach. Bis 1944 entstanden an deutschen Universitäten 21 rassenhy-
gienische Lehrstühle und Institute.
Neben der anthropologischen Rassenlehre bildete die Eugenik einen Hauptstrom
des Biologismus, der soziale und historische Phänomene mit biologischen und medizi-
nischen Kategorien erklärte. Der anthropologische Rassismus ging davon aus, dass
sich die Menschheit aus verschiedenen Rassen zusammensetzte, die sich nicht allein in
körperlichen, sondern vor allem in geistigen Eigenschaften unterschieden und daher
unterschiedliche Kulturhöhen erreichen könnten. Dieser Sicht nach waren Rassen die
Eugenik 77
waren wissenschaftlich und publizistisch weiter tätig. Die Verbindung von Eugenik
und Antisemitismus fand indes mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen
Staates ein Ende.
Peter Widmann
Literatur
Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropolo-
gie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005.
Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism
1870-1945, Cambridge 1989.
Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik
und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1996.
Euthanasie
Unter dem euphemistischen Begriff Euthanasie, der „guter, richtiger, leichter Tod“ be-
deutet, ermordeten die Nationalsozialisten aus ideologischen und „rassehygienischen“
Gründen mindestens 200.000 Menschen. Für diese Gruppe war ebenso wie für die als
Verbrecher und „Asoziale“ bezeichneten Menschen kein Platz in der nationalsozialisti-
schen Gemeinschaft, die einen „gesunden Volkskörper“ ohne Missgebildete und Kran-
ke anstrebte. Bereits 1934 begann die Ausgrenzung und Verfolgung behinderter Men-
schen durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangsste-
rilisation dieser Gruppe legalisierte. Behinderte wurden als „lebensunwert“ definiert
und als erste Gruppe zur Ermordung bestimmt. Die Vorbereitungen dafür liefen ab
Sommer 1939. Die nationalsozialistische Politik und Propaganda verknüpfte Sozialdar-
winismus und → Eugenik, stigmatisierte „Ballastexistenzen“, „leere Menschenhülsen“
und „Defektmenschen“ als nicht zugehörig und suggerierte, man müsse sich dieser ent-
ledigen, da sie auf Kosten des gesunden Volkes lebten und dieses belasteten. In Schul-
büchern wurden Rechenbeispiele angeführt, die die Kosten eines Pflegeheims für
„Schwachsinnige“ im Vergleich zu den Kosten für den Bau von Eigenheimen für ge-
sunde Arbeiterfamilien gegenüberstellten.
Die Ermächtigung zum Mord hatte Hitler zunächst mündlich an seinen Leibarzt Karl
Brandt und den Chef seines Privatbüros, der „Kanzlei des Führers“, Philipp Bouhler
gegeben. Ab August 1939 bestand für Hebammen und Ärzte eine Meldepflicht von be-
hinderten Kindern, die (mit Ausnahme von leichten Fällen wie Klumpfuß, Hasen-
scharte und Wolfsrachen) in Kinderfachabteilungen von Heilanstalten aufgenommen
und durch Nahrungsentzug oder Injektionen getötet wurden. Nach dem Ersuchen eines
Ehepaares, das bei Hitler in einem Brief für ihr unheilbar krankes Kind den „Gnaden-
tod“ erbat, folgte im Oktober 1939 als „Rechtsgrundlage“ des Verfahrens ein Fünfzei-
ler auf dem Privatbriefkopf Hitlers. Das Dokument war auf den 1. September 1939,
den Beginn des Zweiten Weltkrieges, rückdatiert und befugte die beiden, bei „kritisch-
ster Beurteilung“ zur Gewährung des „Gnadentodes“. Hitler hatte sich zuvor geäußert,
es sei in Friedenszeiten ratsam abzuwarten und erst mit Kriegsbeginn, „wenn alle Welt
auf den Gang der Kampfhandlungen“ schaue und „der Wert des Menschenlebens ohne-
hin minder schwer“ wiege, die „Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskran-
ken“ anzugehen.
Euthanasie 79
Ein Runderlass vom 9. Oktober 1939 machte es Heil- und Pflegeanstalten zur
Pflicht, Patienten auf Meldebögen zu erfassen. Dabei wurden Angaben zur Krankheit
und Arbeitsfähigkeit abgefragt. Über Bedeutung und Konsequenz der Angaben wurden
die Anstalten nicht informiert. Aus einer eigens für die „Euthanasie-Aktion“ gegründe-
ten Verwaltungszentrale, deren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin der Aktion ihren
Tarnnamen (T4) gab, organisierten rund 300 Beamte und Angestellte die Mordaktion.
Die Dienststelle war in verschiedene Behörden unterteilt: Offiziell war die „Gemein-
nützige Stiftung für Anstaltspflege“ Arbeitgeber des T4-Personals. Die Reichsarbeits-
gemeinschaft „Heil- und Pflegeanstalten“ war mit der Erfassung der Opfer betraut. Die
„Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat) kümmerte sich um den Transport
der zu verlegenden Patienten. Die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstal-
ten“ (ZVSt) trieb die Kosten des Krankenmords ein.
Die von den Anstalten ausgefüllten Meldebögen wurden an die T4-Zentrale gesandt,
diese wiederum schickte sie an drei Gutachter, die sie bewerteten und durch ein „+“ für
Töten und ein „–“ für Weiterleben über das Schicksal der Patienten entschieden. Ein
persönlicher Kontakt zu den Opfern fand nicht statt. Insgesamt arbeitete eine rund 40
Mann starke ärztliche Gutachterkommission für die Aktion T4. Zwei Obergutachter
trafen die endgültige Entscheidung. Die Meldebögen der zur Ermordung bestimmten
Personen wurden der „Gekrat“ übergeben, die daraufhin Transportlisten erstellte.
Die zur Ermordung bestimmten Insassen wurden ab Januar 1940 von Grauen Bus-
sen der „Gekrat“ abgeholt und zunächst in Zwischenanstalten gebracht. Dies hatte zum
einen den Zweck der Verschleierung, zum anderen verhinderte der Aufenthalt Staus in
den Tötungsanstalten. Diese existierten in Brandenburg an der Havel, Bernburg, Gra-
feneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein/Pirna. Die Opfer wurden durch Giftgas
ermordet. Zur Vertuschung der Aktion wurden die Leichen sofort eingeäschert und von
eigenen Standesämtern falsche Sterbeurkunden angefertigt. In den „Trostbriefen“ an
die Angehörigen wurden ebenfalls falsche Angaben gemacht. Doch die oft unwahr-
scheinlichen Sterbegründe und der Dauerbetrieb der Krematorien erregte das Misstrau-
en der Angehörigen und der Öffentlichkeit.
Die Aktion T4 stieß auf öffentlichen Widerstand. Neben Eltern und Angehörigen
der Betroffenen sowie einigen Heimleitern und -mitarbeitern gab es einige wenige pro-
minente Kirchenvertreter, die öffentlich protestierten. Der Vormundschaftsrichter Lo-
thar Kreyssig wurde misstrauisch, als sich die Todesfälle unter seinen Mündeln nach
Verlegungen in andere Anstalten häuften. Er teilte seinen Verdacht über deren Ermor-
dung im Juli 1940 dem Reichsjustizminister mit und erhielt die Antwort, die Verant-
wortung für die Aktion läge bei der Kanzlei des Führers. Kreyssig untersagte den An-
stalten die Verlegung seiner Mündel und erstattete Anzeige wegen Mordes gegen den
Chef der Hitlerkanzlei, Philipp Bouhler. Der Richter wurde in den Ruhestand versetzt.
Am wirkungsvollsten war der Protest des Bischofs von Münster, Clemens August Graf
von Galen, der in zwei Predigten die Euthanasiemorde verurteilte. Er hatte schon seit
1934 Kritik an der NS-Rassenideologie geübt. Der „Löwe von Münster“ war so beliebt
und angesehen, dass das NS-Regime sich nicht traute, ihn zum Schweigen zu bringen.
Seine Predigten fanden weite Verbreitung. Nicht zuletzt dieser öffentliche Druck war
verantwortlich für die Einstellung der Aktion T4 im Sommer 1941. Die Tötung behin-
derter Säuglinge lief jedoch ebenso wie die dezentrale Ermordung von Kranken durch
80 Exegese
Exegese
Der Begriff der „Exegese“ bezieht sich in einem engeren Sprachgebrauch auf die me-
thodisch orientierte Auslegung biblischer Texte, während er in einem weiteren Ge-
brauch zur Bezeichnung der gesamten Bibelwissenschaft als solcher verwandt wird.
Bezeichnung methodisch orientierter Auslegung biblischer Texte
Der Diskurs des christlichen → Antijudaismus wirft ebenfalls die Frage der textgemä-
ßen Auslegung der Bibel und der entsprechenden exegetischen Methoden auf. Der Me-
thodendiskurs war von Anfang an, d.h. mit dem Entstehen des Christentums, trotz ei-
ner breiten exegetischen Hermeneutik der Kirchenschriftsteller und → Kirchenväter
auch antijüdisch konnotiert und präjudiziert, indem er die christlichen Lesarten der Bi-
bel in polemischer Abgrenzung zu jüdischer Schriftauslegung verabsolutierte. Christli-
cherseits wurde das → Alte Testament im Horizont der Offenbarung Jesu Christi gele-
Exegese 81
sen. Dass diese Lesart von jüdischer Seite nicht geteilt wurde und ein großer Teil der
Juden das Evangelium Jesu Christi nicht angenommen hat, widersprach der binnen-
christlichen Logik und wurde sowohl als gottgewollte Verstockung und böswillige
Weigerung der Juden erklärt als auch durch ihr vermeintlich falsches und einge-
schränktes Schriftverständnis respektive ihre methodischen Unzulänglichkeiten die
Schriftauslegung betreffend. Weil die Juden das Alte Testament scheinbar nur dem
buchstäblichen Sinn nach lasen, konnte sich ihnen die Offenbarung Jesu Christi gar
nicht erschließen. Sie waren deshalb nach christlicher Auffassung nicht einmal in der
Lage, ihre eigene Schrift richtig zu verstehen.
Gegenüber diesem den Juden unterstellten buchstäblichen Sinn (Literalsinn) ermög-
lichte erst der geistliche Schriftsinn, wie er christlicherseits praktiziert wurde, das rech-
te Schriftverständnis. Für Ambrosius (gest. 397), den Bischof von Mailand und „Weg-
bereiter abendländischer Kirchenfreiheit“, bringt Jesus Christus das Neue Testament,
womit dann aber das bereits bestehende zum Alten wird, der den Juden zugeschriebene
Literalsinn gestürzt und der den Christen zugeschriebene geistliche Schriftsinn aufge-
richtet wird. Diese Gegenüberstellung von Literalsinn und geistlichem Schriftsinn ist
jedoch antijüdisch motiviert und spiegelt nicht das exegetische Methodenrepertoire jü-
discher Schriftauslegung wider. Indem die Kirchenschriftsteller und Kirchenväter den
Juden ein ausschließlich buchstäbliches Schriftverständnis unterstellten, verunglimpf-
ten sie die jüdische Schriftauslegung als „töricht“ und warfen den Juden infolgedessen
„Schriftblindheit“ vor (Hieronymus, gest. 419/420; Origenes, gest. 253).
Demgegenüber wurde die christliche Lesart durch eine geistliche Schriftauslegung
angeregt, in deren Zentrum die allegorische bzw. typologische Methode stand. Danach
wollen die Schriften der Bibel neben der Beschreibung vermeintlich tatsächlicher Er-
eignisse noch etwas anderes sagen, was Origenes wörtlich „allagoreuein“ nennt. Orige-
nes beruft sich dabei ebenso wie später Ambrosius auf eine Stelle aus dem Brief an die
Galater des Apostels Paulus (Galater 4,21-24), der bereits eine Begebenheit aus dem
Alten Testament ausdrücklich als Allegorie charakterisiert. Die Allegorie bezieht sich
häufig auf die positiv konnotierte Kirche, die die negativ konnotierte Synagoge ersetzt
(Substitutionsthese), wobei die Zuordnung der Ausleger durch das geistliche Urteil be-
stimmt ist. Dem entspricht die Auslegungsweise der typologischen Methode, die die
alttestamentlichen Personen und Ereignisse als Vorbilder kommender und vollkomme-
nerer, auf Christus und seine Kirche verweisende Begebenheiten versteht, so dass die
alttestamentlichen Ereignisse darin wiederum überholt und aufgehoben werden.
Dass die von christlicher Seite aufgeworfene Gegenüberstellung von Literalsinn und
geistlichem Schriftsinn antijüdisch motiviert ist, zeigt sich auch darin, dass sie weder
jüdischem noch christlichem Schriftverständnis tatsächlich entspricht. Denn den jüdi-
schen Gelehrten war die allegorische Auslegung nicht erst durch den bedeutendsten
jüdischen Philosophen der Antike, Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.-50 n. Chr.),
präsent, auf den dann die christlichen Theologen bezeichnenderweise zurückgriffen,
auch die Kirchenschriftsteller wollten auf eine Auslegung secundum litteram nicht ver-
zichten, wenn diese im Horizont der Offenbarung Jesu Christi geschah. Im 12. Jahr-
hundert führte ein erneutes Interesse am litteralen Schriftsinn und an der Hebraica veri-
tas dazu, dass christliche Gelehrte in England und Frankreich in Fragen der Bibelüber-
setzung und Auslegung jüdische Gelehrte konsultierten. Rabbinische Lehren wurden
82 Exegese
ist jedoch zu entnehmen, dass „Gott sein Volk nicht verstoßen“, noch seine „Berufung“
Israels bereut hat (Römerbrief 11,1.29).
In der neutestamentlichen Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren die Annahme
eines frühjüdischen Pluralismus des Zweiten Tempels durchgesetzt. Damit ist das die
Einschätzung des Frühjudentums dominierende althergebrachte Pharisäerbild ebenso
kritisch zu revidieren wie die Annahme von den Pharisäern als Antipoden Jesu und
von der entsprechenden Überwindung des Judentums durch Jesus. Die Verwendung
rabbinischer Texte als scheinbar parallele Quellen zu neutestamentlichen Texten ist in
der neutestamentlichen Wissenschaft häufig von der Intention getragen gewesen, die
jüdische Religion als minderwertige (Gesetzes)religion zu diskreditieren, die von der
christlichen Religion deshalb zu Recht überwunden wurde. Grundsätzlich sollten diese
Texte jedoch nicht mehr im antijüdischen Duktus als Kontrastfolie zu neutestamentli-
chen Texten gelesen werden, sondern als jüdische Texte für sich selbst sprechen. Dane-
ben ist die Verwendung rabbinischer Texte und Targumim aufgrund ihrer generellen
Datierungsproblematik für die Interpretation neutestamentlicher Texte nur unter großer
Umsicht zulässig.
In der neutestamentlichen Bibelwissenschaft war die Rückfrage nach dem histori-
schen Jesus lange Zeit von dem theologischen Interesse bestimmt, christliche Identität
durch Abgrenzung vom Judentum zu begründen. Die Abgrenzung Jesu vom Judentum
und die antijüdischen Interpretationen neutestamentlicher Texte bedingten und befruch-
teten sich gegenseitig. Jesus wurde jedoch als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist
als Jude gestorben. Da er sein Judesein nie aufgegeben hat, kann er auch nicht als Stif-
ter des Christentums bezeichnet werden. Auch Paulus hat sein Judesein nie infrage ge-
stellt. Als Verkünder des Evangeliums von Jesus Christus war Paulus kein „Christ“; er
hatte keine Bekehrung, sondern eine Berufung und einen Wandel zu einem messias-
gläubigen Juden erfahren. Deshalb steht die „New Perspective on Paul“, welche den
Wandel in der jüngeren Paulusforschung anzeigt, auch für eine kritische Sichtung der
traditionellen Paulusdeutung und des lutherischen Auslegungsmodells der Rechtferti-
gungslehre vor dem Hintergrund ihrer antijüdischen Implikationen. Die Rechtferti-
gungslehre des Apostels wird nicht mehr länger als ein Angriff gegen ein vermeintlich
„werkgerechtes Judentum“ verstanden. Indem die neutestamentliche Wissenschaft dem
sich darin offenbarenden Paradigmenwechsel in der Paulusforschung Rechnung trägt,
kann sie einer antijüdischen Hermeneutik ebenso vorbeugen wie einer judenfeindlichen
Interpretation der Paulusbriefe und der paulinischen Theologie.
Weil christliche Identität vor dem Hintergrund christlicher und kirchlicher Schuld
gegenüber dem Judentum nicht mehr länger in Diskontinuität zum Judentum und auf
Kosten des Judentums entworfen wird, verliert die antijüdische Präjudizierung der bi-
blischen Hermeneutik ihre Selbstverständlichkeit.
Matthias Blum
Literatur
Gilbert Dahan, L’exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiéval, XIIe-XIVe siècle, Pa-
ris 1999.
Lutz Doering, Hans-Günther Waubke, Florian Wilk (Hrsg.), Judaistik und neutestamentliche
Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, Göttingen 2008.
84 Faschismus
Anneliese Felber, Zum Problem des Antijudaismus in der Patristik, in: Studia Patristica Vol.
XL, hrsg. von F. Young, M. Edwards, P. Parvis, Leuven, Paris, Dudley 2006, S. 197-201.
William Horbury, Jews and Christians in Contact and Controversy, Edinburgh 1998.
Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und hi-
storisches Umfeld (1. - 11. Jh.), 4. überarbeitete und ergänzte Auflage, Frankfurt am Main
1999.
Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1983³.
Faschismus
Im engeren und ursprünglichen Sinn bezeichnet der Begriff Faschismus die von Benito
Mussolini in Italien nach dem Ersten Weltkrieg begründete militante, autoritäre, anti-
demokratische Protestbewegung und das 1922 in Italien errichtete Herrschaftssystem.
Wegen des Modellcharakters (Einparteienherrschaft, Führerprinzip, Kontrolle des ge-
samten öffentlichen Lebens, Informationsmonopol) wurde der Begriff wenig differen-
ziert für Bewegungen und Systeme in anderen Ländern übernommen. Als radikalste
Ausprägung faschistischer Ideologie, gekennzeichnet durch eine korporatistische Ge-
sellschaftsordnung („Volksgemeinschaft“), außernormative Gewalt, Unterdrückung der
Arbeiterbewegung, rassistische Ausgrenzung von Minderheiten bis zum Genozid, Ex-
pansionsstreben („Lebensraum“) erhielt der → Nationalsozialismus 1933 in Deutsch-
land die Macht; der kommunistische Faschismusbegriff wird deshalb synonym und
vorrangig für den von Adolf Hitler geführten Staat und seine Gesellschaft angewendet.
Definition
Als Oberbegriff für die faschistischen Bewegungen und Regimes im 20. Jahrhundert,
als Symptom der Krise der Demokratie, ist die Bezeichnung bei entsprechender regio-
naler Differenzierung gültig zur Charakterisierung von Bewegungen, die in Ideologie,
Staats- und Gesellschaftsaufbau die Hauptelemente extremer Nationalismus, Rassis-
mus, antidemokratischer, antiliberaler und antimarxistischer Konsens als Diktatur (Ein-
parteienherrschaft, Führerprinzip) erstrebten bzw. verwirklichten. Im politischen Jargon
dient der Begriff Faschismus unreflektiert zur Bezeichnung rechtsextremer, diktatori-
scher, rassistischer Handlungen und Ziele. Der Sammelbegriff → Neofaschismus be-
zeichnet alle politischen Bestrebungen zur Wiederbelebung der Ideologie seit 1945, in
Italien als „Movimento Sociale Italiano“ (Regierungsbeteiligung 1994) organisiert, in
Deutschland (Neonazismus) wegen Apologie des NS-Staats und verfassungsfeindli-
cher Ziele kriminalisiert.
Die Geschichtswissenschaft unterscheidet in der Verwendung des Begriffs die histo-
risch-politische Evidenz des korporativ verfassten nationalistischen italienischen Staats
(1922-1943) und dessen Fortsetzung nach dem Sturz Mussolinis in der faschistischen
Republik von Salo (Repubblica Sociale Italiana) von den vergleichbaren Regimes und
Bewegungen in Spanien (Primo de Rivera, Franco), Portugal (Salazar), Ungarn (Szála-
si), Polen (Piłsudski), Österreich (Dollfuß, Schuschnigg). In Deutschland existierte als
eigenständige radikalisierte Form faschistischer Ideologie (Bewegungsphase 1919-
1933) und Herrschaft (Machtphase 1933-1945) der Nationalsozialismus, der sich nicht
zuletzt durch aggressiven Machtanspruch und die zum Völkermord exzedierte Rassen-
politik ( → Holocaust) vom italienischen Vorbild, den faschistischen Bewegungen an-
Faschismus 85
Faschistische Bewegungen
Der Terminus „fascio“ (Bund), abgeleitet von lateinisch „fasces“ und symbolisiert
durch das altrömische Rutenbündel, das den Liktoren als Zeichen der Herrschaft voran-
getragen wurde, war seit der Französischen Revolution in unterschiedliche politische
Zusammenhänge in Italien verwendet worden, von Jakobinern, von Anarchisten, So-
zialrevolutionären. Im Ersten Weltkrieg schlossen sich Sozialisten und Syndikalisten in
den „Fasci d’azione rivoluzionaria“, geführt von Benito Mussolini und Filippo Corri-
doni, gegen die Sozialistische Partei als Anhänger des Kriegseintritts auf der Seite der
Entente zusammen. Am 23. März 1919 gründete Mussolini die Bewegung „Fasci di
combattimento“, die sich unter dem Druck der Anhänger radikalisierte und von der So-
zialistischen Partei, als deren nationaler Flügel sie sich zunächst verstand, löste. Popu-
lismus und Appelle an Emotionen gingen der programmatischen Festlegung voraus,
Symbole und Inszenierungen („Marsch auf Rom“ 1922) sind wichtige Elemente der
Bewegung, die sich bald als „konservativ und subversiv“ definiert, vom „regime totali-
tario“ spricht und allmählich den Anspruch auf universale Geltung formuliert sowie
insbesondere nach Hitlers Machterhalt 1933 Vorbildfunktion reklamiert. Der Begriff
Austrofaschismus hat als Epochenbezeichnung und zur Betonung der nationalen Be-
sonderheit in Österreich für die Zeit 1934-1938 Berechtigung. Von den in die Illegalität
gedrängten österreichischen Sozialisten als Kampfbegriff verwendet, bürgerte sich die
Bezeichnung „Austrofaschismus“ ein, um die Eigenständigkeit des diktatorischen Re-
gimes in Österreich gegen das italienische Vorbild und gegen den deutschen National-
sozialismus abzugrenzen.
In Frankreich war die protofaschistische „Action Française“ schon 1898 als unmit-
telbarer Reflex auf die Dreyfus-Affäre als antiegalitäre und antiliberale und vor allem
antisemitische Bewegung entstanden, die, obwohl monarchistisch und reaktionär, doch
Elemente eines frühen Faschismus aufwies, als elitäre Gruppierung aber ohne Einfluss
und Wirkung blieb. Den Gesellschaften Deutschlands, Ungarns und Finnlands war die
Erfahrung des Bürgerkriegs am Ende des Ersten Weltkriegs gemeinsam, die Bürger
waren traumatisiert durch die Versuche, kommunistische Gesellschaftsmodelle durch-
zusetzen. Sie befanden sich in nationalen Identitätskrisen aus Enttäuschung über die
Friedensverträge, deren Revision mit Territorialforderungen und Statusansprüchen zur
Überwindung nationaler Demütigung propagiert wurde. (Deutsch-)Österreich geriet
nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie in eine ähnliche nationale Identitätskrise,
die nach Lösungen verlangte. Als revolutionäre Alternative zu den Vertretern reaktio-
närer nationalistischer Positionen, die als alte Eliten den Zustand vor 1914 restaurieren
wollten, präsentierten sich in vielen Staaten Europas in der Zwischenkriegszeit Bewe-
gungen, die unter dem Begriff Faschismus zu verorten sind. Die theoretischen Defizite
wurden durch Parolen, Aktionismus und Gewaltbereitschaft beim Streben zur Macht
ausgeglichen; als gemeinsame programmatische Komponenten wurden die Idee des
86 Faschismus
korporativen Staats vom italienischen Faschismus und die Rassenideologie vom deut-
schen Nationalsozialismus übernommen.
Der Austrofaschismus wurde von den paramilitärischen Verbänden der Heimwehren
getragen, die nach 1918 antidemokratisch, autoritär, antimarxistisch mit starken Bin-
dungen an den politischen Katholizismus ausgerichtet waren und einen Ständestaat
propagierten. An Mussolini orientiert und von ihm unterstützt, erstrebte die Bewegung
unter Starhemberg 1930 im Korneuburger Programm die berufsständische Gliederung
von Gesellschaft und Wirtschaft, das Führerprinzip als Regierungsform und die Absa-
ge an „westlichen Parlamentarismus und den Parteienstaat“. Wegen des Widerstands
von Sozialdemokratie und Gewerkschaften konnte aber kein entsprechendes Regime
etabliert werden. Der autoritäre Kurs des Bundeskanzlers Dollfuß ab 1932 fand seinen
Höhepunkt mit der Ausrufung des „Ständestaats“ 1934; das Ende der österreichischen
Version autoritär-faschistoider Herrschaft unter Anlehnung an den italienischen Fa-
schismus und Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus kam mit dem „Anschluss“
an das Deutsche Reich im März 1938.
Die Slowakei als Klientelstaat des Deutschen Reiches (1939-1945) war als totalitä-
res Regime organisiert mit der Hlinka-Garde als staatstragender faschistischer Bewe-
gung und dem katholischen Priester Josef Tiso an der Spitze, dem Vorsitzenden der
Volkspartei mit dem Titel „Führer“. Die Slowakei galt als Musterstaat für ein national-
sozialistisch dominiertes Europa. Ein anderes Regime, für das Faschismus als Ord-
nungsbegriff anzuwenden ist, war der „Unabhängige Staat Kroatien“, der 1941-1945
im Innern korporativ organisiert und von der „Ustascha-Bewegung“ (1929 von Ante
Pavelić gegründet) getragen in enger Anlehnung an Deutschland rassenpolitische Ma-
ximen gegen Serben, Juden, Roma anwendete. Wie in der Slowakei spielte der Katho-
lizismus eine wichtige Rolle.
In Polen proklamierte nach einem antiparlamentarischen Staatsstreich 1926 Mar-
schall Piłsudski die „moralische Diktatur“. Ihr folgte 1930 eine absolute Diktatur, die
nach Piłsudskis Tod 1935 der nationalistischen und antikommunistischen Komponente
stark antisemitische Tendenzen gegen die große jüdische Minderheit im Lande hinzu-
fügte und im Verein mit der Kirche und den konservativen Eliten „den Juden“ die
Schuld für strukturelle ökonomische Probleme – Massenarbeitslosigkeit, Übervölke-
rung des ländlichen Raumes – und daraus resultierende soziale Unruhe zuwies. Ein
Boykott gegen Juden 1936 wurde von der Katholischen Kirche unterstützt. Die faschi-
stischen Elemente der polnischen Diktatur sind unverkennbar, ebenso aber auch die
Unterschiede zu anderen autoritären und totalitären Systemen der Zwischenkriegszeit.
In Rumänien hatte der Student Corneliu Zelea Codreanu 1927 die nationalistische,
antikommunistische und antisemitische Legion „Erzengel Michael“ (ab 1931 „Eiserne
Garde“) gegründet, die als faschistische Bewegung seit 1940 an der Diktatur des Gene-
rals Ion Antonescu entscheidend beteiligt war. In Ungarn konkurrierte die von Ferenc
Szálasi gegründete faschistische Pfeilkreuzler-Partei seit 1937 mit dem autoritären Re-
giment von Miklos Horthy, das durch Konzessionen, insbesondere durch antisemiti-
sche Gesetze den eigenen Kurs gegenüber den kriegerischen Faschisten stabilisierte.
Die deutsche Besetzung Ungarns brachte im Frühjahr 1944 die faschistische Bewe-
gung zur Macht, die sich insbesondere in der Judenpolitik willfährig gegenüber Berlin
zeigte. Wie die anderen faschistischen Bewegungen in Europa, die mit nationalsoziali-
Faschismus 87
stischer Unterstützung zur Macht gekommen waren, konnte sie sich auch in Ungarn als
Kollaborationsregime nur mit deutscher Hilfe halten.
Charakteristisch für die zur Regierung gelangten faschistischen Bewegungen war
das Bündnis mit konservativen Kräften in Staat und Gesellschaft, reaktionären (monar-
chistischen) Parteien, der Kirche, agrarischen oder wirtschaftlichen Interessengruppen.
In Spanien war 1933 von José Primo de Rivera die faschistische Bewegung „Falange
Española“ („Stoßtrupp“) gegründet worden, die nach dem für die Rechte siegreichen
Ende des Bürgerkriegs unter dem Diktator Francisco Franco 1936-1975 als nationale
Sammlungsbewegung fungierte und als Repräsentationsorgan eines Regimes diente,
das typologisch zum Faschismus gerechnet werden muss, obwohl es erfolgreich Eigen-
ständigkeit gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus wie dem italienischen Mu-
ster bewahrte und ideologisch vor allem die Züge einer konservativ-autoritären Dikta-
tur aufwies, die mit reaktionären und faschistischen Elementen amalgamiert war.
In ähnlicher Weise war Portugal unter der Salazar-Diktatur des „Estado Novo“ ohne
Parteien und ohne Parlament ein Staat mit faschistischen Kennzeichen wie striktem
Antikommunismus, Ablehnung von Demokratie und deren Trägern (Liberalismus, Ar-
beiterbewegung) bei stark ausgeprägtem nationalistischen Selbstverständnis. Antisemi-
tismus und Rassenideologie gehörten aber ebenso wie im Regime in Spanien nicht zu
den primären Merkmalen des Salazarismus. Eine eigene Variante bildete der Peronis-
mus in Argentinien.
Einige per se bedeutungslose faschistische Bewegungen in West- und Nordeuropa
wie der „Vlaamsch Nationaal Verbond“ in Belgien unter Staf de Clercq, die „Mussert-
Bewegung“ in den Niederlanden oder Vidkun Quislings Partei „Nasjonal Samling“ in
Norwegen erhielten während der nationalsozialistischen Okkupation Belgiens, der Nie-
derlande und Norwegens Bedeutung oder gar Funktion in Kollaborationsregimes. Die
Verwandtschaft der „Parti Populaire Français“ von Jacques Doriot in Frankreich mit
faschistischen Bewegungen trat am ausgeprägtesten in ihrem Antikommunismus in Er-
scheinung. Aus dem katholischen Milieu entwickelte sich in Belgien Leon Degrelles
Anfang 1936 gegründete „Rexisten-Partei“ als faschistische Bewegung der Wallonen.
In den Niederlanden sammelte Anton Adriaan Mussert in der „Nationaal-Socialistische
Beweging“ die Anhänger faschistischer Ideologie. Seine Gruppierung unterschied sich
von anderen Spielarten durch das weitgehende Fehlen von Antisemitismus, was die
flämischen Faschisten in Belgien vom „Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen“
(Verdinaso) unter der Führung von Joris van Severen in Gegensatz zu ihren holländi-
schen Gesinnungsgenossen brachte. Auch in Großbritannien entstanden in den 1920er
Jahren nach italienischem Vorbild mehrere faschistische Gruppierungen, an deren Spit-
ze 1932/33 Sir Oswald Mosley trat. Da die sozialen, ökonomischen und politischen
Voraussetzungen für eine faschistische Massenbewegung fehlten und wie in Frankreich
ein mehrheitlicher antifaschistischer Konsens herrschte, blieb die „Union of Fascists“
(ab 1936 mit dem Zusatz „and National Socialists“) in Großbritannien eine bedeu-
tungslose Splittergruppe, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammenbrach.
Faschismustheorien
Zur Erklärung und Einordnung des politischen Phänomens Faschismus, dem über die
Realität in Italien hinaus spätestens mit dem Machterhalt Adolf Hitlers in Deutschland
88 Faschismus
mus und die Verbrechen Hitlers seien als Reflex auf den → Bolschewismus und auf
Stalins Verbrechen zu interpretieren (was als Relativierung von Auschwitz und des Ge-
nozids an den Juden verstanden wurde), klärte noch einmal die Positionen, die im Zei-
chen der seit den 1950er Jahren von Konservativen propagierten Totalitarismustheorie
entstanden waren. Deren Betonung phänomenologischer Gemeinsamkeiten von faschi-
stischer und kommunistischer Herrschaft hatte im Kalten Krieg Konjunktur als Erklä-
rungsmodell. Die Studentenrevolution 1968 brachte die Renaissance theoretischer
Auseinandersetzung mit der Ideologie und Herrschaft des Faschismus.
Wolfgang Benz
Literatur
Otto Bauer, Herbert Marcuse, Arthur Rosenberg u.a., Faschismus und Kapitalismus. Theo-
rien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main,
Wien 1967.
Francis L. Carsten, Der Aufstieg des Faschismus in Europa, Frankfurt am Main 1968.
Renzo de Felice, Die Deutungen des Faschismus Göttingen 1980.
Hermann Graml, Angelika Königseder, Juliane Wetzel, Vorurteil und Rassenhaß. Antisemi-
tismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001.
Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1991.
Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschis-
mus, der Nationalsozialismus, München 1963.
Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien über den Faschismus, Königstein Ts. 19795.
Gerhard Schulz, Faschismus – Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontrover-
sen 1922-1972, Frankfurt am Main, Berlin 1974.
Emmerich Talos, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik,
Ökonomie und Kultur 1934-1938, Wien 2005.
Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion,
Darmstadt 19956.
Wolfgang Wippermann, Faschistische und neofaschistische Bewegungen. Probleme empiri-
scher Faschismusforschung, Darmstadt 1977.
Fremdvölkisch
Die Bezeichnung „fremdvölkisch“ wurde im rassenideologischen Sinne der National-
sozialisten für alle Angehörigen nicht deutscher bzw. artverwandter Völker benutzt. Er
bezeichnete alle in den besetzten Ostgebieten lebenden, aber nicht zur Eindeutschung
bestimmten Menschen, hauptsächlich Russen, Polen, Sinti und Roma. Himmler ver-
fasste 1940 eine Denkschrift, in der er die Fremdvölkischen als ein „führerloses Ar-
beitsvolk“ bezeichnete, das „zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderar-
beiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten),
stellen“ sollte. Ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 14. Januar 1941 legte
die Unterscheidung zwischen „germanischen“ und „fremdvölkischen“ ausländischen
Arbeitskräften fest und regelte eine getrennte Unterbringung. Bei „Arbeitsunlust“ wur-
den „germanische“ Arbeiter zu 21 Tagen Arbeitserziehungslager verurteilt, „fremdvöl-
90 Friedhofsschändungen
Friedhofsschändungen
Unter dem Begriff Friedhofsschändung versteht man die Zerstörung, Beschädigung,
Beschmutzung oder Profanierung von Grabstätten. Im juristischen Sprachgebrauch
handelt es sich um die „Störung der Totenruhe“, ein Delikt, das nach § 168 StGB mit
einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden kann. Die Bestattung von To-
ten ist die ethisch-religiöse Pflicht, dem Verstorbenen „die letzte Ruhe“ zu geben, der
Grabstein, dessen Inschriften in der Regel den Namen, Geburts- und Todestag preisge-
ben, zuweilen auch die Profession des Verstorbenen, soll als steinernes Zeugnis die Er-
innerung an den Toten wachhalten. Das Grab und der Grabstein sind für die Dauer der
Ruhezeit Eigentum der Hinterbliebenen oder der Trägerschaft des Friedhofes. Die mut-
willige Beschädigung von Grabsteinen ist nach § 304 StGB (Gemeinschädliche Sach-
beschädigung) strafbar. Der Tatbestand der „Störung der Totenruhe“ und die mutwilli-
ge Beschädigung von Grabmalen gelten ausnahmslos für alle Grabstätten, unabhängig
von der Religionszugehörigkeit des Bestatteten.
Die Einebnung jüdischer Gräber oder Friedhöfe sowie die Entfernung der Grabste-
len sind nach jüdischem Religionsgesetz nicht erlaubt. Umbettungen können nur in
Ausnahmefällen unter rabbinischer Aufsicht vorgenommen werden. Der Friedhof wird
nach jüdischem Verständnis für alle Zeit angelegt und darf nicht „abgeräumt“ werden.
So wurden die Friedhofsareale seit der Niederlassung von Juden im deutschen Raum
(9. Jahrhundert) den jüdischen Gemeinden auf immer überlassen. Unterstanden die Ju-
den ihren jeweiligen Schutz- bzw. Landesherren, war auch ihr Hab und Gut, somit auch
der ihnen zugewiesene Friedhof vor dem willkürlichen Zugriff Dritter geschützt. Nach
der rechtlichen Gleichstellung der Juden (1871) unterlagen jüdische Friedhöfe mit allen
Rechten und Pflichten (Leichenschau, Friedhofszwang, Sicherstellung der Totenruhe,
etc.) dem allgemeinen Bestattungsrecht und sind mit Ausnahme der Ruhezeiten der all-
gemeinen Bestattungsordnung unterworfen.
Mittelalter
Schändungen jüdischer Friedhöfe gab es bereits im Mittelalter. Dies zeigen päpstliche
Bullen, die im 12. Jahrhundert auf Vorkommnisse eingehen und in den sogenannten
Schutzbullen die Bestrafung der Täter androhen.
Nach der Vertreibung der Juden im 13. und 14. Jahrhundert ließen die Landesherren
oder auch der Klerus oftmals Friedhöfe einebnen und verwendeten die Grabsteine zum
Bau von sakralen oder säkularen Gebäuden. Annähernd 1500 Grabsteine des 1147 im
Würzburger Stadtteil Pleich angelegten jüdischen Friedhofs wurden von den Domini-
kanerinnen zum Bau der Klosterkirche im 14. Jahrhundert verwendet. Als nach der
Wiederansiedlung von Juden in Würzburg 1446 erneut ein Areal zur Bestattung ihrer
Friedhofsschändungen 91
Toten angekauft werden konnte, wurde dieser Friedhof 1576 auf Initiative des Fürstbi-
schofs eingeebnet und auf dem Gelände das Juliushospital errichtet. Proteste seitens
der Juden blieben erfolglos. Ähnliches geschah auch in Münster, als unter Verwendung
jüdischer Grabmale dort die Lambertikirche gebaut wurde. Landesherren und Klerus
schleiften meist die jüdischen Friedhöfe in Gänze, aber auch einzelne Personen profa-
nierten die jüdischen Begräbnisstätten, indem sie Gräber zerstörten, Grabmale stahlen,
ihr Vieh dort weiden ließen oder verendete Haustiere dort vergruben. Die christliche
Umwelt, die Juden als Gottesmörder, Antichristen, Ungläubige oder als die Inkarnation
des Teufels bezeichnete, betrachtete die jüdischen Friedhöfe als herrenloses Gut, die
Gräber als die ihrer Feinde, mit deren Zerstörung sie ihrer Verachtung Ausdruck verlie-
hen.
Neuzeit
Mitte des 19. Jahrhunderts, mit dem Beginn der öffentlichen und politischen Diskussi-
on über die Gleichberechtigung der Juden, aber vor allem mit ihrer rechtlichen Gleich-
stellung (1871), offenbarte sich der Judenhass immer deutlicher. Der christlich moti-
vierten Judenfeindschaft gesellte sich nun der rassisch begründete „Antisemitismus“
(Marr) hinzu. Die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden löste
Konkurrenzängste in der deutschen Gesellschaft aus, die vor allem in politischen De-
batten zum Ausdruck kamen. Mutwillige Zerstörungen jüdischer Grabstätten, das Ver-
unreinigen und Beschmieren von Grabsteinen (vorwiegend mit Exkrementen) wie auch
antisemitische Parolen (mit Farbe und Pinsel) griffen immer mehr um sich. Von 1892
bis 1899 sind 27 Übergriffe auf jüdische Grabstätten dokumentiert. So hinterließen
1898 unbekannte Täter in Düsseldorf 50 umgestürzte und zum Teil zerstörte Grabmale.
In Grabow (Posen) vermutete man als Anlass der Grabschändungen, bei denen zehn
Stelen umgestürzt und zertrümmert wurden, die antisemitische Sonntagspredigt eines
evangelischen Seelsorgers.
Während der Zeit der Weimarer Republik, als das religiöse Bekenntnis immer mehr
in den Hintergrund trat und die Juden Deutschlands sich in der Politik, Wirtschaft, Kul-
tur und Kunst engagierten, verzeichnete der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jü-
dischen Glaubens“ einen rapiden Anstieg von Friedhofsschändungen. Für den Zeit-
raum von 1923 bis 1931 dokumentierte der Centralverein 107 Ausschreitungen gegen
jüdische Grabstätten. In den (wenigen) Fällen der erfolgreichen Ermittlung gehörten
die Täter dem völkischen oder nationalsozialistischen Umfeld an.
Über das Ausmaß von Friedhofsschändungen während des Nationalsozialismus gibt
es bislang keine Untersuchungen. Die Regionalliteratur weist zwar auf Übergriffe sei-
tens der Mehrheitsbevölkerung hin, eine detaillierte Dokumentation liegt jedoch nicht
vor. Die Eliminierung (Einebnung, Zweckentfremdung) sämtlicher jüdischer Friedhöfe
auf dem Boden des Deutschen Reich wäre zwar von der nationalsozialistischen Ideo-
logie erwünscht gewesen, jedoch standen dem sowohl praktische als auch formaljuri-
stische Probleme entgegen. Nicht zuletzt verhinderten Kompetenzstreitigkeiten der Be-
hörden die Entwidmung der Friedhofsareale. Die praktischen Probleme lagen darin,
dass, solange noch Juden im Deutschen Reich lebten, diese, im Falle ihres Todes, auch
beerdigt werden mussten. Die Bestattung „jüdischer Mischlinge“, getaufter Juden oder
in → „Mischehe“ lebender jüdischer Ehepartner auf einem christlichen Friedhof war
92 Friedhofsschändungen
Nach 1945
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die noch etwa 2200 bestehenden jüdischen
Friedhöfe (1900 in den drei westlichen Besatzungszonen, ca. 300 auf dem Gebiet der
SBZ) von Schändungen nicht verschont. Für das zweite Halbjahr 1945 sind mindestens
zehn Schändungen jüdischer Friedhöfe in den drei westlichen Besatzungszonen doku-
mentiert. Die Zahlen der Übergriffe auf jüdische Grabstätten im Zeitraum von 1945 bis
1980 auf bundesrepublikanischem Boden schwanken zwischen 431 und 503.
Im Jahre 1965 wurden auf dem jüdischen Friedhof in Bamberg die Grabsteine mit
Parolen wie „Juden fahrt in die Hölle“, „Es lebe der Führer“, „Es lebe die SS -
6.000000 sind zu wenig“ beschmiert. Auf einer weiteren Stele klebte eine Fotografie
von Adolf Hitler mit der Aufschrift „Der Führer sagt, hier liegt ein Saujud“. Nachah-
mungstaten folgten in Neuss, Koblenz, Königswinter und Höchstadt/Aisch. Mit natio-
nalsozialistischen Symbolen (Hakenkreuze, SS-Runen) und Abbreviaturen (SS, SA,
HJ) wurden 1977 die Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Hannover beschmiert.
1990 fand man auf dem jüdischen Friedhof in Ihringen von den knapp über 200 Grab-
steinen 177 zerschlagen. Auf der Friedhofsmauer prangten die Aufschriften „Komm
Friedhofsschändungen 93
du Jude, wir fahren nach Dachau“, „Judenschweine vereket“ (sic!). Von 1945 bis 1989
gab es mindestens 1394 Übergriffe auf jüdische Friedhöfe in der BRD. Nach der Wie-
dervereinigung beider deutscher Staaten sind von 1990 bis 2002 615 Schändungen jü-
discher Friedhöfe in der Bundesrepublik dokumentiert.
Eine neue Methode von Übergriffen auf jüdische Friedhöfe setzte Ende der 1990er
Jahre ein, als im Oktober 1998 auf dem Westberliner jüdischen Friedhof am Scholz-
platz die Grabplatte des ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Berlins,
Heinz Galinski, durch einen Sprengstoffanschlag zerstört wurde. Im März 1999 fand
man auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee zwei nicht detonierte Sprengkörper, im Ja-
nuar 2001 beschädigte ein Molotowcocktail die Aussegnungshalle des Potsdamer jüdi-
schen Friedhofs und im März 2002 erfolgte ein weiterer Sprengstoffanschlag auf die
Westberliner jüdische Begräbnisstätte. Darüber hinaus komplementieren sich - nach
der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten - Antisemitismus und Fremdenfeind-
lichkeit auf jüdischen Friedhöfen. Die Grabsteine, Einfriedungsmauern und Ausseg-
nungshallen dienen nun als Plakatierungsfläche für Parolen wie „Ausländer raus“,
„Ausländerfreie Zone“ und ähnliche Forderungen.
Strafverfolgung
Standen jüdische Friedhöfe bis ins 18. Jahrhundert unter dem Schutz der jeweiligen
Landesherren, unterlag die Ahndung von Schändungen somit der Landespolizei. In der
Regel gingen die Behörden den Anzeigen von Übergriffen auf jüdische Begräbnisstät-
ten auch nach. So verurteilte 1773 die Kurfürstliche Hohe Landesregierung Mainz die
Eltern dreier jugendlicher Friedhofsschänder, das von den Knaben demolierte Leichen-
haus und etliche zerstörte Grabsteine auf eigene Kosten wiederherzustellen. Die Kna-
ben, die darüber hinaus eine Leiche ausgegraben und ihren Kopf vom Rumpf gerissen
hatten, mussten sich einer nicht näher angegebenen Zahl von Stockschlägen unterzie-
hen. Wiederholte Übergriffe auf den jüdischen Friedhof in Fürth während der Jahre
1836 bis 1856 nahm der Magistrat der Stadt zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass
„der jüdische Friedhof gleich den christlichen Beerdigungsplätzen unter obrigkeitli-
chen Schutz gestellt ist, und dass sohin das Eindringen in denselben, das Übersteigen
der Mauern, die Beschädigung der Grabsteine, kurz die Verübung jeder Art von Unord-
nung und Unsittlichkeit der Polizeistrafe unterliegt“. Trotz dieser öffentlichen Strafan-
drohung setzten sich die Übergriffe auf den Fürther Friedhof bis mindestens 1859 fort.
Die jeweils ermittelten Täter wurden zu mehrtägigen Arreststrafen verurteilt.
Den in Presseberichten dokumentierten Schändungen jüdischer Friedhöfe im ausge-
henden 19. Jahrhundert folgte nur selten der Hinweis einer Ahndung. In den wenigen
Fällen, in denen Täter ermittelt werden konnten, wurden sie zu Freiheitsstrafen verur-
teilt. Von den mindestens 107 dokumentierten Schändungen jüdischer Friedhöfe wäh-
rend der Zeit von 1923 bis 1931 wurden nur wenige Taten aufgeklärt. Als 1929 zwei
Friedhofsschänder in Gladbeck gestellt werden konnten, waren diese „wenige Tage zu-
vor aus der NSDAP ausgetreten, mit der Begründung, die Bewegung sei ihnen nicht
radikal genug“. Aber auch viele der nicht ermittelten Schändungen sind diesem Milieu
hinzuzurechnen, vor allem dann, wenn Täter Hakenkreuze oder Parolen wie „Juda ver-
recke“ und gelegentlich auch „Heil Hitler“ auf den Grabsteinen hinterließen.
94 Friedhofsschändungen
Von den 171 Übergriffen auf jüdische Friedhöfe in der Bundesrepublik im Zeitraum
von 1948 bis 1957 wurden 92 Täter ermittelt und somit 53 Prozent aller Fälle aufge-
klärt. Diese relativ hohe Aufklärungsquote wurde vom Bundeskriminalamt damit er-
klärt, dass sich die Suche nach den Tätern in diesen Fällen äußerst intensiv gestalte,
denn: „Bei den an jüdischen Gräbern begangenen Schändungen wird meist das politi-
sche und rassische Ressentiment im Hintergrund vermutet. […] Eine solche Vermutung
führt notwendig zu breiter und tiefer angelegten Ermittlungen. Bei den ähnlich gelager-
ten Fällen auf allgemeinen Friedhöfen ist ein solches die Allgemeinheit alarmierendes
Tatmotiv kaum zu vermuten.“ Diese intensive Ermittlungstätigkeit und recht hohe Auf-
klärungsquote von 53 Prozent mag sicherlich auch in der Beweislast eines „neuen de-
mokratischen Deutschlands“ begründet sein.
Dass es mitunter mehrere Jahre dauert, bis die Täter einer Friedhofsschändung ge-
funden werden, zeigt der spektakuläre Fall im niedersächsischen Salzgitter. Auf dem
„Ausländerfriedhof Jammertal“ in Salzgitter-Lebenstedt, der mit etwa 2000 Grabstellen
ehemaliger Zwangsarbeiter unterschiedlicher Konfession belegt ist, darunter 120 jüdi-
sche Gräber, fand man am 20. April 1957 78 jüdische Grabsteine umgeworfen und
zum Teil zerbrochen vor. Der fünf Meter hohe Obelisk, Mahnmal für die zu Tode ge-
kommenen Zwangsarbeiter aller Nationen, war vom Sockel gestürzt, und am Fuße ei-
nes Grabes lag eine Strohpuppe mit der Aufschrift: „Deutschland erwache, Israel ver-
recke.“ Für die Ermittlungsbehörden kamen drei Tätergruppen in Frage. Zum einen
vermuteten die Fahnder aufgrund der Formulierung „Israel verrecke“ arabische Studen-
ten als Täter, da - so die kriminalistische Annahme - sich die deutsche rechtsradikale
Seite eher des Terminus „Juda“ bedient hätte. Andererseits wies der Zeitpunkt des
Übergriffes, es war der 19./20. April (Geburtstag Adolf Hitlers), auch auf eine Tatbetei-
ligung rechtsradikaler Kreise hin. Schließlich konnte aber auch eine Provokation von
kommunistischer Seite nicht ausgeschlossen werden, die, so das Bundeskriminalamt,
das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland schmälern wolle. Obwohl eine Sonder-
kommission des Bundeskriminalamtes in die Untersuchungen eingeschaltet und für
Hinweise auf die Täter eine Belohnung von 15.000 DM ausgesetzt wurde, blieben die
Ermittlungen lange ohne Erfolg.
Die Schändung wurde erst vier Jahre später, als sich die Sicherheitsbehörden mit
den neonazistischen Aktivitäten eines 31-Jährigen befassten, im April 1961 aufgeklärt.
Drei der fünf Friedhofsschänder wurden festgenommen. Einer der Täter war ehemali-
ges Mitglied der 1952 verbotenen rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei, ein an-
derer gehörte der nationalistisch ausgerichteten Deutschen Reichspartei an und hatte
1956 als deren Mitglied für den Rat der Stadt Salzgitter kandidiert. Der Prozess gegen
die drei Angeklagten wurde 1962 vor dem Dritten Strafsenat des Bundesgerichtshofes
geführt. Den Angeklagten wurde neben der Schändung des „Ausländerfriedhofes Jam-
mertal“ Waffenbesitz, Verabredung zur Gründung einer geheimen, verbrecherischen
und auf Sprengstoffanschläge zielenden Organisation vorgeworfen. Im Zuge der Er-
mittlungen stellte sich heraus, dass der Haupttäter auch einen Sprengstoffanschlag auf
die Gedenkstätte Bergen-Belsen und Attentate auf eine Reihe führender Persönlichkei-
ten, insbesondere Juden und deutsche Politiker, geplant hatte. Der 31-jährige Hauptan-
geklagte erhielt sechs Jahre Zuchthaus, ein weiterer Angeklagter wurde zu zweieinhalb
Jahren Gefängnis und ein Dritter zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt.
Friedhofsschändungen 95
gen jüdischer Friedhöfe als antisemitische Aktion definiert. Allerdings weisen die Ver-
fassungsschutzberichte seit 1997 die Zahl der Friedhofsschändungen nicht mehr geson-
dert aus, sondern erfassen sie unter „Straftaten mit erwiesenem oder zu vermutendem
rechtsextremistischen Hintergrund, Kat. Sachbeschädigung“. Konkrete Zahlen zu ge-
schändeten Friedhöfen werden nicht mehr veröffentlicht. Lag die Ermittlungsquote En-
de der 1950er Jahre noch bei 53 Prozent, fiel sie in den 1980er Jahren auf 30-35 Pro-
zent. Nach Aussagen des Bundeskriminalamtes im Jahr 2000 werden etwa 15 Prozent
dieser Delikte aufgeklärt.
Marion Neiss
Literatur
Marion Neiss, „... was andere auch wollen, sich aber nicht trauen.“ Schändungen jüdischer
Friedhöfe, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Der Hass gegen die Juden: Dimensionen und For-
men des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 67-82.
Frühantisemitismus
Die Phase zwischen der primär religiös geprägten traditionellen Judenfeindschaft, die
oft mit dem Begriff → Antijudaismus belegt wird, und dem modernen, als postemanzi-
patorisches Phänomen verstandenen Antisemitismus, der sich Ende der 1870er Jahre
als politisch-ideologische Bewegung etablierte und den Charakter einer umfassenden
Weltanschauung annahm, wird auch als Frühantisemitismus bezeichnet, ein Begriff,
den Eleonore Sterling 1956 vermutlich als erste benutzt hat. Für diese Phase werden
auch die Begriffe Proto-Antisemitismus oder vormoderner Antisemitismus verwendet.
Der Beginn dieser „Frühgeschichte des Antisemitismus“ (Sterling) wird unterschied-
lich angesetzt. Eleonore Sterling und andere lassen den Frühantisemitismus bzw. den
politischen Antisemitismus mit 1815 beginnen, d.h. mit der → Germanomanie und der
politischen Romantik der Restaurationsphase. Michael Behnen hat 1976 in einem frü-
hen Aufsatz über „Probleme des Frühantisemitismus“ diesen auf die Jahre 1815-1848
begrenzt. Jacob Katz dagegen datiert eine mächtige antisemitische Gegenströmung be-
reits auf die Zeit des Toleranzpatents Joseph II. (1781) und dem Erscheinen von Chri-
stian Wilhelm Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781). In der
Tat setzte eine judenfeindliche Kritik an den emanzipatorischen Vorstößen Joseph II.
und Dohms bereits 1780 ein, die vor der Schädlichkeit der Juden für den christlichen
Staat warnten. Schon um die Wende zum 19. Jahrhundert meldeten sich Schriftsteller,
Philosophen, Theologen und Staatsbeamte wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich
Schleiermacher, Christian Ludwig Paalzow, Friedrich Buchholz, Karl Wilhelm Fried-
rich Grattenauer u.a. in großer Schärfe gegen eine → Emanzipation der Juden zu Wort,
gefolgt von einer weiteren Publikationswelle der „Germanomanen“, die Judenfeind-
schaft politisch für ihre patriotische Propaganda in den Dienst nahmen, und der „politi-
schen Romantiker“ ab 1815 (Ernst Moritz Arndt, Jakob Friedrich Fries, Ludwig Jahn,
Friedrich Rühs, Hartwig von Hundt-Radowsky, Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm
Schelling, Zacharias Werner, Friedrich Schlegel, Adam Müller, Achim von Arnim,
Clemens Brentano usw.). Wolf-Daniel Hartwich, der die Koexistenz starker Faszinati-
on und intensiver Ablehnung des Judentums seitens der Romantik betont, fasst die
Frühantisemitismus 97
Fugu-Plan
Der Begriff „Fugu-Plan“ bezeichnet das Vorhaben einer massenhaften Ansiedlung von
jüdischen Flüchtlingen innerhalb des japanischen Herrschaftsgebietes. Durch die Un-
terbringung von 30.000 bis 300.000 Personen – die Zahlen variieren je nach Entwurf –
in der Mandschurei oder der Umgebung von Shanghai sollte die als „einflussreich“,
„mächtig“ und „gefährlich“ angesehene Bevölkerungsgruppe der aus dem nationalso-
zialistischen Einflussbereich nach Fernost geflohenen Juden „domestiziert“ und im
Sinne Japans gelenkt werden, ohne sie zugleich innerhalb der eigenen Landesgrenzen
ansiedeln zu müssen. Mittels ihrer unterstellten „ökonomischen Begabung“ wäre ihnen
die Aufgabe zugekommen, die lokale Wirtschaft zu stärken und „Amerika zu einer Po-
litik des Wohlwollens“ gegenüber Japan zu veranlassen. Selbst der Präsident des „Jüdi-
schen Kongresses“ in den USA, Rabbi Stephen Wise (1874-1949), erhielt in den
1930er Jahren mehrere Anfragen, die ihn um Kapital zugunsten der geplanten Errich-
tung jüdischer Niederlassungen in China ersuchten.
Obgleich das zugrundeliegende Konzept des „Fugu-Plans“ sich anhand zahlreicher
Vorschläge und veröffentlichter Entwürfe nachweisen lässt, ist die Bezeichnung strittig,
denn den Terminus „Fugu-Plan“ (fugu keikaku) scheint es in dieser Form nie gegeben
zu haben. Zurückzuführen ist er lediglich auf ein gleichnamiges Buch von Marvin To-
kayer und Mary Swartz aus dem Jahre 1979 über die Geschichte des Umgangs mit jü-
100 Fugu-Plan
David G. Goodman, The Ambiguity of Philosemitism in Japan, in: Irene A. Diekmann, Elke
V. Kotowski (Hrsg.), Geliebter Feind - gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemi-
tismus in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2009, S. 311-330.
David G. Goodman, Masanori Miyazawa, Jews in the Japanese Mind. The History and Uses
of a Cultural Stereotype, New York, London, Toronto 1995.
Martin Kaneko, Die Judenpolitik der japanischen Kriegsregierung, Berlin 2008.
Heinz Eberhard Maul, Warum Japan keine Juden verfolgte. Die Judenpolitik des Kaiserrei-
ches Japan während der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), München 2007.
Marvin Tokayer, Mary Swartz, The Fugu Plan, New York 1979.
Fusgeyer
Zwischen 1881 und 1914 sind etwa 125.000 Juden aus Rumänien in die Vereinigten
Staaten, nach Süd- und Mittelamerika, Australien, England und Palästina emigriert. Al-
lein zwischen 1899 und 1914 haben 62.813 Juden Rumänien verlassen und erreichten
über Österreich und Deutschland die Häfen Hamburg, Bremen, Rotterdam und Liver-
pool, um von dort nach Kanada und Amerika auszuwandern. Unter diesen Flüchtlingen
befanden sich auch jene, die sich auf Jiddisch als „fusgeyers“ bezeichneten, da sie ihre
Auswanderung „zu Fuß“ bewältigen wollten. Ein Zeitzeuge beschrieb die organisierte
Flucht als eine „tieferschütternde Wanderung zu Fuss, so vieler Haufen Unglücklicher.
[...] Nur fliehen und fliehen heisst es, überall und in jeder Stadt der Moldau sind abzie-
hende und passirende Auswanderergruppen auf der Tagesordnung und man wähnt sich
in der Zeit der Völkerwanderung versetzt.“ Einige Tausend Menschen aus Iaşi, Bacău,
Bîrlad, Roman, Brăila, Galaţi gelangten nach wochen- oder monatelangen Fußmär-
schen von einem rumänischen Ort zum anderen bis zur österreichisch-ungarischen
Grenze. Hier durften sie nur passieren, wenn sie eine gültige Bahnfahrkarte besaßen:
Jüdische Organisationen veranstalteten Geldsammlungen und übernahmen die Trans-
portkosten bis Budapest, von da ging es „in Lastdampfern zusammengepfercht“ auf
der Donau bis nach Wien, danach weiter per Bahn über Nürnberg, Frankfurt am Main
bis zu den Seehäfen.
Die Massenauswanderung rumänischer Juden war Folge der sich stetig verschlech-
ternden rechtlichen und wirtschaftlichen Lage. Auslöser war die sogenannte Fremden-
klausel in der rumänischen Verfassung von 1866, wonach nur Personen christlicher Re-
ligionszugehörigkeit rumänische Staatsbürger werden konnten. Der Großteil der seit
Jahrhunderten in Rumänien lebenden Juden wurde zu Staatenlosen deklariert und ver-
lor politische wie bürgerliche Rechte. Daran änderte auch der Berliner Kongress 1878
nichts, der die Anerkennung der rumänischen Unabhängigkeit an die Änderung des
diskriminierenden Verfassungspassus koppelte. Die rumänische Regierung umging die
Auflagen des Berliner Kongresses, indem sie 1879 die Einbürgerung von Juden nur im
Einzelverfahren von beiden Kammern des Parlaments entscheiden ließ. Die meisten
Anträge wurden abgelehnt, nur wenige Juden konnten die rumänische Staatsbürger-
schaft erwerben.
Im Jahr 1899 lebten laut Volkszählung 266.719 Juden in Rumänien, von denen
4272 „naturalisiert“, die übrigen staatenlos waren. Für die Staatenlosen schränkten
zahlreiche Gesetze und Verordnungen ihre Existenzsicherung ein: Als Anwälte, Apo-
102 Geltungsjuden
theker oder Ärzte durften sie nicht in staatlichen Institutionen tätig sein, sie durften
keine Eisenbahnbeamte sein, sie wurden aus zahlreichen Erwerbszweigen ausgeschlos-
sen, so aus dem Handel mit Tabak, Salz und Alkohol, sie durften weder Grundbesitz
erwerben noch Landwirtschaft betreiben, noch Immobilien in den Dörfern besitzen.
Als 1884 ein Gesetz den Hausierhandel untersagte, wurden „mit einem Schlage 20.000
Juden brotlos“.
Seit 1879 nahm die Zahl von Vertriebenen, Ausgewiesenen und zur Ausreise Ge-
zwungenen Jahr um Jahr zu. Repressionen betrafen auch jüdische Intellektuelle, die
sich für die geregelte Emigration ihrer Glaubensgenossen einsetzten; sie wurden ver-
folgt, verhaftet oder ausgewiesen. Tausende mittelloser Juden, die „unter freiem Him-
mel in Hunger und Elend herumlagerten“, „Synagogenhöfe belagerten“ und auf den
Landstraßen umherirrten, machten die ausländische Presse auf die Lage der Juden auf-
merksam. Auch im britischen Parlament und im deutschen Reichstag debattierten Poli-
tiker über Lösungsvorschläge. 1902 richtete die amerikanische Regierung eine diplo-
matische Protestnote an die Garantiemächte des Berliner Vertrags und verlangte,
„Schritte zu unternehmen, um Rumänien zur Erfüllung seiner übernommenen Ver-
pflichtungen zu veranlassen“. An der Situation der Juden in Rumänien änderten diese
Debatten und Interventionen indes wenig.
Brigitte Mihok
Literatur
Simon Bernstein, Die Judenpolitik der rumänischen Regierung, Kopenhagen 1918.
Jill Culiner, Finding home. In the footsteps of the jewish fusgeyers, Toronto 2004.
S. Jericho Polonski, China auf der Balkanhalbinsel oder rumänische Judenfrage, Lemberg
1901.
Michael Traub, Jüdische Wanderungen, Berlin 1922.
Geltungsjuden
Die „Nürnberger Gesetze“ vom Herbst 1935, insbesondere das Reichsbürgergesetz
vom 15. September und die 1. Verordnung vom 14. November, führten eine genaue
Definition ein, wer im nationalsozialistischen Sinne „Jude“ war. Im Gegensatz zum →
Arierparagraphen enthielten die neuen Gesetze eine Abgrenzung zwischen Juden und
“Geltungsjuden“ sowie zu „jüdischen Mischlingen I. und II. Grades“. „Geltungsjuden“
waren demnach zum Stichtag der „Nürnberger Gesetze“ als „Halbjuden“ (zwei jüdi-
sche Großeltern machten eine Person zum „Mischling“ I. Grades) eingestuft, die 1.)
der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder in sie aufgenommen wurden; 2.)
mit einem Juden/einer Jüdin verheiratet waren oder danach eine solche/einen solchen
heirateten; 3.) aus der Ehe mit einem Juden stammten, die nach der Verordnung ge-
schlossen wurde; 4.) aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden stammten und
nach dem 31. Juli 1936 außerehelich geboren wurden. Jede dieser so definierten Perso-
nen galt den Nationalsozialisten als Jude. Die Bezeichnung „Geltungsjude“ kommt in
den „Nürnberger Gesetzen“ nicht vor, sie wurde aber später gebräuchlich und be-
schreibt jenen Teil der „Mischlinge“, die per Definition rechtlich als Juden galten.
Genozid 103
Kinder zum Beispiel aus der Ehe eines Geltungsjuden mit einer „deutschblütigen“
Frau wurden als „Mischlinge I. Grades“ eingestuft und konnten nur auf besonderen
Antrag eine andere „rassische Einordnung“ erreichen. Im Gegensatz zu den „Vollju-
den“ war die Haltung der nationalsozialistischen Führung den „Geltungsjuden“ gegen-
über anders. Während Anträge auf Einstufung in eine andere „rassische“ Kategorie bei
„Volljuden“ bis auf zwei Ausnahmen durchweg abgelehnt wurden, waren die „Gel-
tungsjuden“ an sich nur „Mischlinge I. Grades“, trugen also aus der Sicht Hitlers nur
die Hälfte jüdischen Blutes in sich. Sie wurden jedoch durch verschiedene, in der 1.
Verordnung der „Nürnberger Gesetze“ festgelegte Kriterien wie Juden angesehen. In
einigen Fällen hat Hitler daher „Geltungsjuden“ zu „Mischlingen I. Grades“ gemacht
(von 1938 bis 9. September 1942 erfolgten 339 Gleichstellungen). Er war also bei
„Geltungsjuden“ eher zu Kompromissen bereit.
Von diesen Ausnahmen abgesehen wurden „Geltungsjuden“ von der nationalsoziali-
stischen Gesetzgebung wie „Volljuden“ behandelt. Im Gegensatz zu den „Mischlin-
gen“ mussten sie den Judenstern tragen, den Namen Israel bzw. Sarah annehmen, die
Wohnungstüren mit einem Judenstern kennzeichnen, sie konnten nicht Reichsbürger
werden, hatten kein politisches Wahlrecht und durften nicht in der Wehrmacht dienen.
Häufig erhielten die „Geltungsjuden“ gemeinsam mit dem jüdischen Elternteil den Be-
fehl zur Deportation.
„Geltungsjuden“ wurden ab 1943 nach Theresienstadt deportiert. Einzelne Personen
wurden von dort in die Vernichtungslager geschickt. Eine gewisse Zahl von Befreiun-
gen genehmigte Hitler. Diese war jedoch im Verhältnis zur Gesamtzahl der „Geltungs-
juden“ (1935 ca. 8000) gering. Ab Januar 1945 wurden dann auch alle „Geltungsju-
den“, die bisher durch → Mischehen geschützt waren, nach Theresienstadt deportiert.
Ramona Ehret
Literatur
Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“ - Rassenpolitik und Verfolgungsverfahren 1933-1945,
Hamburg 2002².
John M. Steiner, Jobst Freiherr von Cornberg, Willkür in der Willkür. Befreiungen von den
antisemitischen Nürnberger Gesetzen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S.
143-187.
Genozid
Der Begriff Genozid ist ein Neologismus – zusammengesetzt aus dem griechischen
Wort genos (Gruppe, Stamm) und dem lateinischen caedere (töten) –, der 1944 von
dem polnisch-jüdischen Völkerrechtler Raphael Lemkin in seinem Buch „Axis Rule in
Occupied Europe“ geprägt worden ist. Er definiert Genozid als „the destruction of a
nation or an ethnic group“, eine Zerstörung, die sich gegen eine nationale Gruppe als
solche richtet. Lemkin analysiert am Beispiel der deutschen Okkupationspolitik in Po-
len die „techniques of genocide in various fields“. Entsprechend weit fasste er den Ge-
nozidbegriff, unter dem er nicht nur die sofortige Zerstörung einer nationalen Gruppe
verstanden wissen wollte, sondern alle koordinierten Maßnahmen, die den Fortbestand
einer Gruppe gefährden können: die Zerstörung ihrer Institutionen, ihrer Kultur, ihrer
104 Genozid
ökonomischen Basis, die Verhinderung von Fortpflanzung, die Zerstörung von persön-
licher Sicherheit, Gesundheit und Würde.
Lemkins Konzeptualisierung und seine Initiative, Genozid als völkerrechtlichen
Straftatbestand zu etablieren, haben wesentlich dazu beigetragen, dass bereits 1946 die
Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution zum Genozid und 1948
die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ verabschiedete.
Die Konvention definiert in Artikel II Handlungen als Völkermord, „die in der Absicht
begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu vernichten: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursa-
chung von schwerem körperlichem und seelischem Schaden an Mitgliedern der Grup-
pe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet
sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung
von Maßnahmen, die auf die Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe gerich-
tet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.
Die Kritik an dieser juristischen Definition betrifft verschiedene Punkte: die Ein-
grenzung der Opfergruppen (Ausschluss von politischen Gruppen, sozialen Klassen)
bzw. die Verwendung eines objektiven Gruppenbegriffs; die Problematik des Nachwei-
ses der „Absicht“ und „Planmäßigkeit“ bei der Zerstörung einer Gruppe, womit z.B.
die nicht-intentionale Vernichtung im Zuge des Kolonialismus ausgeblendet bleibt; der
Ausschluss von kulturellem Genozid und die zu weite Definition genozidaler Tatbe-
stände. Um diese Schwäche des Begriff zu beheben, haben Wissenschaftler umfassen-
dere („Democide“) oder parallele Begriffe („Ethnocide“, „Politicide“) eingeführt, um
möglichst viele Fälle von „mass killing“ zu erfassen.
Die Definition von Genozid wurde zunächst nur in der Rechtswissenschaft als men-
schen-, völker- und strafrechtliche Frage diskutiert, bevor sich die Sozialwissenschaf-
ten und die Geschichtswissenschaft seit den späten 1970er Jahren intensiver mit dem
Phänomen zu befassen begannen. In den Wissenschaften sind die Definition und die
Typologie des Begriffs umstritten und es existiert keine allgemein akzeptierte Theorie
des Genozids. Dies ist auch dadurch bedingt, dass schon bei der Einführung des Be-
griffs juristische, politische, wissenschaftliche und ethische Aspekte verknüpft wurden.
Somit muss der Begriff nach Birthe Kundrus und Henning Strotbek wohl zu viele An-
forderungen gleichzeitig erfüllen: er soll „sehr heterogene historische Phänomene auf
einen Nenner bringen“; er soll „systematische Vergleiche von Massenverbrechen er-
möglichen“; er soll eine Art „Frühwarnsystem“ zur Entdeckung drohender Genozide
bieten; er soll eine juristische Tatdefinition liefern, die eine Bestrafung erlaubt, und er
ist zugleich moralisch hoch aufgeladen als „crime of crimes“, was das Problem einer
Hierarchisierung von Gewaltopfern aufwirft, weshalb der Kampf um die Anerken-
nung/Nichtanerkennung als Völkermord (z.B. im Fall der Armenier) zu einem Politi-
kum werden kann.
In der wissenschaftliche Debatte werden vor allem der → Holocaust, dem einerseits
Modellcharakter, andererseits aber auch Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit zuge-
schrieben werden, der Fall der Armenier und die Massenmorde in Ruanda als eindeuti-
ge Fälle von Genozid klassifiziert, wohingegen die Klassifizierung einer Reihe anderer
Fälle nach wie vor mehr oder weniger umstritten ist: die Ermordung der Herero und
Nama in Deutsch-Südwestafrika, die stalinistischen Verbrechen, insbesondere die Hun-
Germanenkult 105
gerkatastrophe in der Ukraine (Holodomor), die Verbrechen der Roten Khmer in Kam-
bodscha sowie Fälle in Indonesien, Ost-Timor und Äquatorial-Guinea, die „ethnischen
Säuberungen“ im früheren Jugoslawien sowie der Fall Darfur (Sudan). Strittig ist auch,
ob die Ausrottung indigener Völker im Zuge der kolonialistischen Landnahme als in-
tentional und damit als Genozid zu werten ist und inwieweit Genozide ein modernes
oder ein universalhistorisches Phänomen sind. Um auch solche Fälle erfassen zu kön-
nen, haben Sozialwissenschaftler weitere Definitionen von Genozid als die der UN-
Konvention vorgeschlagen (z.B. Frank Chalk, Kurt Jonassohn: „Völkermord ist eine
Form der einseitigen Massentötung, bei der ein Staat oder eine andere Autorität beab-
sichtigt, eine Gruppe zu zerstören, nachdem diese Gruppe und deren Mitglieder durch
den Täter definiert wurden“) oder versuchen über Typologien die verschiedenen For-
men von Massenmord zu kategorisieren (Helen Fein unterscheidet: ideological genoci-
de, retributive genocide, developmental genocide und despotic genocide; andere Ty-
penvorschläge lauten kultureller Genozid, Genozid aus utilitaristischen Motiven, ande-
re stellen auf das Ausmaß der Vernichtung ab und unterscheiden totale und partielle
Genozide, Genozide im eigenen oder im fremden Land).
Schwierigkeiten bereitet auch die klare Abgrenzung des Genozids von anderen For-
men von Massenmorden wie Massakern, „ethnischen Säuberungen“, Terror- und Gue-
rillaaktionen, wie vor allem kompositorische Begriffsbildungen wie „genozidale Mas-
saker“ für strittige Fälle zeigen.
Trotz dieser konzeptuellen Probleme hat die vergleichende Genozidforschung seit
1990 wichtige Erkenntnisse über die Entstehung und den Verlauf von Völkermorden,
über die beteiligten Institutionen und Täter, über Handlungsdynamiken, über ideologi-
sche Motive und Legitimationsstrategien, über begünstigende Kontexte (wie Krieg)
und über die Folgen für die Opfer erarbeitet.
Werner Bergmann
Literatur
Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen,
München 2006.
Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord, Wien 2010.
Frank Chalk, Kurt Jonassohn (Hrsg.), The History and Sociology of Genocide. Analyses and
Case Studies, New Haven 1990.
Helen Fein, Genocide. A Sociological Perspective, London 1993.
Birthe Kundrus, Hanning Strotbek, „Genozid“. Grenzen und Möglichkeiten eines For-
schungsbegriffs – ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 397-423.
William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003.
Yves Ternon, Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg 1996.
Jacques Semelin, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und
Völkermorden, Hamburg 2007.
Germanenkult
Die Idealisierung der germanischen Geschichte nimmt ihren Anfang im 15. Jahrhun-
dert mit der Wiederentdeckung antiker Handschriften, vor allem der „Germania“ des
Tacitus. Sie lieferte die bis in das 20. Jahrhundert geläufigen Bilder des Germanen, die
106 Germanenkult
Germanische Herrenrasse
Die Bezeichnung „Germanische Herrenrasse“ ist ein Schlüsselbegriff des → modernen
Antisemitismus in Deutschland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum
Ende des Zweiten Weltkrieges. Die für die völkische Ideologie bestimmend werdende
Vorstellung von der rassischen Ungleichheit der Menschen und der Überlegenheit der
germanischen Rasse als „letzter rein erhaltener Zweig“ der (ursprünglich als Sprachfa-
milie, nicht als „Rasse“ verstandenen) Arier geht auf den französischen Rassentheoreti-
ker Joseph Arthur de Gobineau zurück. Nur die „Herrenrasse“ habe kulturschöpferi-
sche und zivilisatorische Fähigkeiten, auf ihre Initiativen gingen sämtliche Hochkultu-
ren zurück. Die Überlegenheit der Germanen legitimiere zugleich ihren Herrschaftsan-
spruch.
Die Unterscheidung zwischen „höheren“ und „niederen“ Rassen erhielt durch die
Lehren Darwins, der politischen Anthropologie und Rassenhygiene ihre scheinbar wis-
senschaftliche Legitimation, denn die „Tüchtigsten“ seien nur die Angehörigen der
arisch-germanischen Rasse. Die Rassenhygieniker lehnten Gobineaus Pessimismus
von der Degeneration durch Rassenmischung ab, für sie bestand die Möglichkeit und
Notwendigkeit, durch Selektion und Züchtung das Überleben des Tüchtigsten zu ge-
währleisten.
Teil der völkischen Ideologie war die (sprachwissenschaftliche Erkenntnisse ableh-
nende) Doktrin vom nordischen Ursprung der Arier, die den Beweis liefere für die
Minderwertigkeit anderer Rassen und erkläre, weshalb nur der „Arier … der geborene
Herr der Erde“ sein könne. Entsprechend dem Denkschema des → Germanenkultes
gewann die „germanische Herrenrasse“ als die kulturschöpfende, technisch begabte
und staatsbildende Kraft in der Geschichte ihre Kontur aus dem Negativbild der „jüdi-
schen Gegenrasse“ (die in der deutschen Rezeption Gobineaus an die Stelle der dort
genannten gelben und schwarzen Rasse trat). Den Juden sei es, wie den Germanen, ge-
lungen, ihre rassische Reinheit zu bewahren; sie seien im Gegensatz zu ihnen aber ma-
terialistisch, zerstörerisch und machten den Germanen die legitime Weltherrschaft strei-
tig. Den wichtigsten Beitrag zu dieser manichäischen Weltanschauung von einem die
Geschichte bestimmenden germanisch-jüdischen Rassenantagonismus, von einem
Kampf auf Leben und Tod, von Gut gegen Böse verfasste Houston Stewart Chamber-
lain mit seinem Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“.
Die Nationalsozialisten verknüpften diesen mehr geisteswissenschaftlich als natur-
wissenschaftlich argumentierenden Rassismus mit völkischem Okkultismus und ras-
senhygienischen Forderungen; nur durch die „Reinhaltung des Blutes“ könne die Herr-
schaft der arisch-germanischen Rasse gewahrt werden. Das „Gesetz zur Verhütung erb-
kranken Nachwuchses“, die „Nürnberger Gesetze“, das Euthanasie-Programm, Ver-
108 Germanomanie
nichtungskrieg und → Holocaust hießen die Etappen der praktischen Umsetzung des
proklamierten Ziels eines „germanischen Staates deutscher Nation“. Der neue → „Le-
bensraum“ für die „germanischen Herrenmenschen“ lag nach den Plänen der National-
sozialisten in den eroberten polnischen und sowjetischen Gebieten („Generalplan
Ost“).
Mario Wenzel
Literatur
Werner Bergmann, Ulrich Sieg (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009.
Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt am Main 1988.
George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1990.
Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse –
Religion, Darmstadt 2001.
Germanomanie
Der Begriff Germanomanie, der ab ca. 1808 als Reaktion auf den Siegeszug Napoleons
in kritischer wie affirmativer Absicht in Gebrauch kam, ist durch die gleichnamige
Schrift des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher (1767-1822) in die Geschichte des
Antisemitismus eingegangen. Hauptgegner der „Germanomanen“ war allerdings das
napoleonische Frankreich, das die Vertreter der politischen Romantik wie Ludwig
Tieck, Friedrich Wilhelm Schelling, Zacharias Werner, Ernst Moritz Arndt, Ludwig
Jahn sowie Friedrich Schlegel und Adam Müller (die sich beide aber später von der
Germanomanie abwandten und den „vermeintlich patriotischen Nationalhaß“ und die
„grassierende Vaterlandsretterei“ kritisierten) als „Erbfeind“ nicht nur von Deutschland
sondern von ganz Europa ablehnten. Nach Ascher wollten die Germanomanen die Idee
der Deutschheit als Gegengewicht zur „Gallomanie“ durchsetzen und so das „Joch der
gallischen Tyrannei“ abschütteln. Seiner Meinung nach weitete sich deren fanatische
Ablehnung über das Französische hinaus jedoch auf alles Fremdartige aus, das von
Deutschlands Boden entfernt werden müsse, womit die Ablehnung einiger Germano-
manen sich auch gegen die Juden richtete. Diesem frühen Antisemitismus schrieb
Ascher eine agitatorische Funktion zu: „Um das Feuer der Begeisterung zu erhalten,
muss Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Juden wollen unsere Germa-
nomanen das erste Bündel Reiser zur Verbreitung des Fanatismus hinlegen.“ Ascher
sah in der „Germanomanie“ eine fixe Idee und eine Gemütsäußerung, in der „die höch-
sten Interessen der menschlichen Natur, Religion, Vaterland, Recht“ im Gemüt der
Deutschen ein eigenes Gepräge annahmen. Dahinter vermutete er den Wunsch, die
konfessionell gespaltene Nation zu einigen: die „Deutschtümler“ wollten „Deutsch-
lands Völker zu einem Glauben, zu einer Sitte und zu einem Körper umschaffen“.
Fremde Sitten und Sprachen wurden abgewehrt und „deutsche Sitte und deutsche Ge-
mütlichkeit“ propagiert.
Ascher, der schon vor 1815 eine zentrale Gestalt im publizistischen Meinungsstreit
um die Emanzipation der Juden und die deutsch-nationalistische, antifranzösische und
antisemitische Volkstumsideologie gewesen war, nahm 1815 mit seiner Schrift „Die
Germanomanie“ den Kampf gegen die nationalistischen Judenfeinde erneut auf, indem
er sich gegen die „Germanomanen“, namentlich Arndt, Ludwig Jahn, Johann Gottlieb
Germanomanie 109
Fichte und vor allem Friedrich Rühs wandte, dessen judenfeindliche Schrift „Über die
Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht“ er einer kritischen Analyse unter-
zog. Ascher sah die größte Gefahr in der Identifizierung von „Christentum und
Deutschheit“, da dies Juden notwendig aus der Nation ausschloss. Weitere Kennzei-
chen der Germanomanen waren für ihn ihr Fanatismus, ihre Adelskritik, ein zur Ideali-
tät gesteigertes protestantisches deutsches Christentum, das sich frömmelnd einem my-
stischen Katholizismus annäherte, die Bevorzugung „germanischer Altertümer“ und
des Mittelalters gegenüber der klassischen Antike sowie die Ansicht, die Deutschen
bildeten so etwas wie ein abgeschlossenes Urvolk mit einer Ursprache. Ascher konsta-
tierte erleichtert, dass die Ideen der Germanomanen keinen Einfluss auf die deutschen
Regierungen hatten.
Mit seinem Buch machte sich Ascher die Angegriffenen zu Feinden und beim Wart-
burgfest am 18. Oktober 1817 wurde sein Buch zusammen mit Schriften der Bonapar-
tisten und der politischen Reaktion durch nationalistische Studenten verbrannt, beglei-
tet von dem Spruch „Wehe, über die Juden, so da festhalten an dem Judenthume und
wollen unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen“. Ascher kommen-
tierte diesen Vorgang 1818 in der Schrift „Die Wartburgfeier“ mit Blick auf Deutsch-
lands religiöse und politische Stimmung, in der er das Heraufkommen eines „protestan-
tischen Papsttums“ im Sinne einer „geschlossenen Kirche“ voraussah, in der ein bloßer
Glaube herrschen, Vernunft und Freiheit aber ausgeschlossen sein sollten. Dieser Glau-
be verbände sich mit der Idee des Deutschtums unter Ausschluss alles Fremden. In ei-
nem wahren nationalistischen „Paroxysmus“ hätten sich die Deutschtümler an die Spit-
ze aller Völker gestellt.
Neben dem Begriff der „Germanomanie“ waren zur Bezeichnung desselben Phäno-
mens verwandte Begriffe im Umlauf, wie „Deutschtümelei“, „altdeutsch“ und der von
Heinrich Heine 1840 in Bezug auf das Wartburgfest rückblickend gebrauchte Begriff
des (beschränkten) „Teutomanismus“, dessen „Liebe aber nichts anderes war als der
Hass des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand“.
Der Begriff „Germanomanie“ scheint in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in
Vergessenheit geraten zu sein. Der Soziologe Franz Oppenheimer machte sich auf dem
Zweiten Deutschen Soziologentag 1913 in seinem Referat „Die rassentheoretische Ge-
schichtsphilosophie“ über die → Rassentheorie Gobineaus lustig, der dem französi-
schen Adel Germanenblut, dem einfachen Volk Kelto-Romanenblut zugeschrieben
hatte. Er nannte Gobineau deshalb das erste „Opfer einer Geisteskrankheit, die kurz
vorher in dem Enthusiasmus der napoleonischen Zeit in Deutschland ausgebrochen
war, der Germanomanie“. Oppenheimer fuhr fort, dass er glaubte, diesen Begriff selbst
geprägt zu haben, bis er auf die Schrift Saul Aschers stieß.
Werner Bergmann
Literatur
Saul Ascher, Vier Flugschriften, hrsg. von Peter Hacks, Berlin 1991.
Christian Aspalter, Anton Tantner, Ironieverlust und verleugnete Rezeption: Kontroversen
um Romantik in Wiener Zeitschriften, in: Christian Aspalter u.a. (Hrsg.), Paradoxien der
Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert, Wien
2006, S. 47-120.
110 Gnosis
Walter Grab, Saul Ascher, Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Re-
stauration, in: Walter Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der
deutschen Jakobiner, Frankfurt am Main 1984, S. 461-493.
Karen Hagemann, „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht
zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002.
Franz Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Band 2: Politische Schriften, hrsg. von Julius H.
Schoeps u.a., Berlin 1996, S. 387-413.
Gnosis
Gnosis (griech.) bedeutet „Erkenntnis“ und bezeichnet eine vielgestaltige synkretisti-
sche Erlösungslehre der Spätantike, die nach dem Woher und Wohin der in Unkenntnis
verhafteten Lichtseele des Menschen fragt. Grundlegende innere Kenntnis gnostischer
Systeme vermittelten erstmals 1945 die Funde der Bibliothek von Nag Hammadi, die
den bis dahin allein aus den häresiologischen Kirchenväterschriften des 2.-4. Jahrhun-
derts rekonstruierten Wissensstand korrigierten. Heutiger Forschung nach haben wir es
mit einer eigenständigen, dualistisch ausgerichteten Religionsform der Zeitenwende im
hellenistisch-jüdisch-christlichen Kontext zu tun, die sich, aus unterschiedlichen Quel-
len genährt, in mehreren Entwicklungsstadien hin zu je eigenen „Systemen“ (Sethianis-
mus, Barbelo-Gnosis, Valentinian, Basilides, Marcion u.a.) ausbildete. Als eigene und
letzte Gestalt gilt der aus Persien stammende Manichäismus des 3./4. Jahrhunderts, mit
dem Mongoleneinfall im 15. Jahrhundert endend.
Wurzeln der Gnosis und ihrer unterschiedlichen Systeme liegen einerseits in Adap-
tionen aus der Philosophie des Neuplatonismus, andererseits aus Weisheitsspekulation
(Sophia als erste Schöpfung) und → Apokalyptik des antiken Judentums sowie in der
Auseinandersetzung mit dem kirchlich werdenden Christentum.
Als einer Erlösungslehre geht es den gnostischen Entwürfen um Schilderung des
Zustandekommens der jetzigen negativen Welt und des Heilsweges aus dieser als ei-
nem Erkenntnisprozess (literarisch: in Traktaktform, Weisheitssprüchen oder Offenba-
rungsreden). In denjenigen Konzeptionen von Kosmo- und Theogonie und Soteriolo-
gie, die explizit jüdischen (wie auch christlichen) Bezug aufweisen, konterkarieren die
jeweiligen Systeme die alttestamentlichen (wie auch neutestamentlichen) Quellen: Der
Schöpfergott Gen 1-2 etwa ist (im vorangegangenen Emanationsprozess einer viel um-
fangreicheren Kosmogonie) letztlich Ergebnis einer Missgeburt; das Alleinstellungs-
merkmal im monotheistischen Grundbekenntnis des Schema Israel oder des ersten Ge-
bots wird zur ignoranten Selbstüberschätzung eines arroganten Demiurgen der unteren,
gefallenen Welt. Die negativen Aspekte des „Sündenfalls“ sind dem Gnostiker umge-
kehrt positive Ansätze zum Erlösungsweg. Gestalten wie Abraham, Isaak, Jakob,
Mose, David, Salomo, die Propheten werden zu Vertretern eines Systems der Unwis-
senheit. Die Erlöser-/Messias-/Christusgestalten werden zu unhistorischen Heils- und
Offenbarungsmittlern, deren Erlösungsruf allein maßgeblich ist. Da der Gnostiker
grundsätzlich Wissender ist, können alle anderen Religionsformen nur partiell und da-
mit ungenügend oder gar nicht „wissen“ und „erkennen“, sind somit fehlgeleitete, ob-
solete Gebilde.
Goldene Internationale 111
Goldene Internationale
Der Begriff „Internationale“ wurde zunächst in Verbindung mit der „Internationalen
Arbeiterassociation“ (IAA) gebraucht, die 1864 in London gegründet wurde, um im
Marxschen Sinne die Arbeiter der Welt zu vereinigen und zu vertreten. Später wurde
diese Organisation als „Erste Internationale“ bezeichnet, auf der eine „Zweite“ (1889
in Paris gegründet), eine „Dritte“ (1919, Moskau) und eine „Vierte“ (1938, Paris) folg-
ten. Durch Analogiebildung wurde die Bezeichnung „Internationale“ Anfang der
1870er Jahre von Nationalisten auf andere überstaatliche, „vaterlandslose“ Organisatio-
nen übertragen, so dass der Begriff auf einer Farbenskala neben der ursprünglichen
„roten“ Internationale (Sozialismus) auch unter anderen auf eine „schwarze“ (römisch-
katholische Kirche) im Zuge des Kulturkampfes sowie auf eine „goldene“ Internatio-
nale („jüdischer“ Finanzkapitalismus) nach dem Börsenkrach von 1873 angewandt
wurde, um diese Kreise in die Nähe finsterer, weltverschwörerischer Motive zu rücken.
Wohl der erste Beleg einer „Goldenen Internationale“ ist in Ottomar Betas „Darwin,
Deutschland und die Juden oder der Juda-Jesuitismus“ (1875) zu finden. Doch erst der
Berliner Stadtrat und Generalsekretär der „Deutschkonservativen Partei“, Carl Wil-
manns, popularisierte die Vorstellung einer finanziellen jüdischen Weltverschwörung
in der von ihm verfassten Programmschrift der „Vereinigung der Steuer- und Wirt-
schaftsreformer“ unter dem Titel „Die ‚goldene‘ Internationale und die Notwendigkeit
einer socialen Reformpartei“ (1876). Darin wollte Wilmanns „die Herrschaft des Ju-
denthums“ bekämpfen; durch eine straffe syllogistische Argumentation erläuterte er
eine vorgebliche Verbindung zwischen dem Finanzkapitalismus und dem Judentum.
Wilmanns wies darauf hin, dass die Börsen und Banken sowohl die Sammel- und
Stützpunkte des Kapitals als auch der Mittelpunkt für die Organisation der Geldmächte
seien, und fügte hinzu, dass diese das jüdische Volk „bekanntlich“ dominiere. Folglich
schlossen die Juden „den festen Kern der immer mehr zur Herrschaft gelangenden
‚goldenen Internationale‘“ ein, welche die herrschenden Klassen entthronte und sie
durch eine pervertierte Klasse der Geldelite ersetzte, das dem alten Feudalsystem äh-
nelte: „So hat in der Gegenwart der capitalistische König der Juden mit seinen großen
und kleinen Baronen eine neue Lehnsherrschaft begründet, aber nicht auf dem mittel-
alterlichen Fundamente der ‚Treue und christlichen Liebe‘, sondern auf dem ‚der Ge-
winnsucht und des Egoismus‘.“ Die einzige Lösung der sozialen Frage liege daher nur
in der „Beseitigung des jetzigen Systems und seines Trägers“.
112 Goldene Internationale
Einige Jahre später veröffentlichte Alexander Pinkert unter dem Pseudonym Egon
Waldegg ein Büchlein, in dem er untersuchte, ob die antisemitische Agitation „Juden-
hetze oder Nothwehr?“ (1880) sei. Alle sozialen Probleme lägen nach seiner Meinung
in der „Ueberfluthung und Ueberwucherung Deutschlands mit den uns feindseligen jü-
dischen Elementen“. Daher appellierte Waldegg/Pinkert an „alle ehrlichen Industriellen
und Kaufleute“ um Solidarität mit einer der ersten antisemitischen politischen Parteien
–, seiner gerade gegründeten, doch kurzlebigen „Deutschen Reformpartei“ – um „in
jeder gesetzmäßigen Weise der ‚Goldenen Internationale‘ und deren auf Weltherrschaft
gerichteten Umsturzplänen entgegen zu treten“. Sonst wären die Deutschen in 40 Jah-
ren kaum mehr als „Sclaven des jüdischen Geldprotzenthums“. Kurz darauf meldete
sich Wilhelm Marr, der die Arbeiterbewegung als einen (abgelenkten) Handlanger für
„die goldene Internationale des auserwählten Volkes“ in seinem Heft „Wählet keinen
Juden!“ (1881) kritisierte. Und in einer 1882 gehaltenen Reichstagsrede mahnte Hof-
prediger Adolf Stoecker: „Die Juden gehen nie in einem Volk auf, unter dem sie woh-
nen, sie bleiben [...] exklusiv, in internationalem Zusammenhang miteinander in der
großen goldenen Internationale, welche mit ihren Netzen die Welt umspannen.“
Nach Stoecker blieb die „Goldene Internationale“ ein Bestandteil der christlichen
Wirtschaftskritik. Das „Kirchliche Handlexikon“ (1891) etwa betonte den „antichristli-
chen Charakter“ der „Goldenen Internationale“, einer „unter allen Kulturvölkern sich
verzweigende[n] Organisation der großen Geldmächte“, welche vorgeblich von den Ju-
den getragen und organisiert sei. Und in seiner programmatischen Schrift „Christliche
Ethik“ (1905) kritisierte Prof. Ludwig Lemme, ein evangelischer Theologe an der Uni-
versität Heidelberg, alle internationalen Verbindungen als „durchweg unsittlich in ih-
rem Kern“ und bemerkte: „Was man die goldene Internationale nennt, fasst die semi-
tisch gefärbte Charakterlosigkeit der Geldgier zusammen, die dem Gewinn zuliebe auf
den Nationalsinn verzichtet.“
Auch die Nationalsozialisten ließen das Motiv einer „goldenen Internationale“ wie-
der aufleben. Ihre frühen wirtschaftlichen Ansichten wurden von dem ökonomischen
Autodidakten Gottfried Feder und seinem „Manifest zur Brechung der Zinsknecht-
schaft des Geldes“ (1919) geprägt. Darin wetterte Feder gegen den Mammonismus,
der aus einem materiellen und einem immateriellen Element bestehe. Dieser sei „eine
Geistesverfassung, [...] die unersättliche Erwerbsgier, die rein aufs Diesseitige gerichte-
te Lebensauffassung, die zu einem erschreckenden Sinken aller sittlichen Begriffe
schon geführt hat und weiter führen muß“, also Semitismus, und jener umfasste „die
internationalen übergewaltigen Geldmächte, die über allem Selbstbestimmungsrecht
der Völker thronende überstaatliche Finanzgewalt, das internationale Großkapital, die
sog. goldene Internationale“. Auch der Wirtschaftsredakteur des „Völkischen Beobach-
ters“, Hans Buchner, folgte seinen Vorgängern und schrieb über „Die goldene Interna-
tionale“ (1928), um vorgeblich zu prüfen, ob die Vermutung einer finanziellen Weltver-
schwörung tatsächlich in jüdischen Händen liege. Hier berief er sich auf Werner Som-
barts „Modernen Kapitalismus“ (1901), denn darin schildere „eine allseits anerkannte
Autorität“ nicht nur „den Einfluß der Juden auf den Geldverkehr unserer Zeit und die
historische Entwicklung“, sondern auch „ihre besondere Eignung zum rein ausbeuteri-
schen Kapitalismus“. In der Tat, fuhr Buchner fort, könne die Beeinflussung des ge-
samten internationalen Wirtschafts- und Finanzwesens durch die Juden gar nicht scharf
Gottesmord 113
genug unterstrichen werden. Und in der bekannten Rede am 30. Januar 1939 spielte
Hitler noch mal auf die „Goldene Internationale“ an, indem er voraussagte: „Wenn es
dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die
Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht der
Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!“
Matthew Lange
Literatur
Christoph Cobet, Der Wortschatz des Antisemitismus in der Bismarckzeit, München 1973.
Peter Friedemann, Lucian Hölscher, „Internationale“, in: Geschichtliche Grundbegriffe,
Band 3, hrsg. von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, S. 327-397.
Gottesmord
Der Gottesmordvorwurf ist der schlimmste Vorwurf, der von christlicher Seite gegen-
über den Juden erhoben wurde. Dieser Vorwurf, der die Kreuzigung Jesu als Gottes-
mord versteht, geht einerseits davon aus, dass die Juden Jesus zu Tode gebracht haben
und andererseits, dass Jesus göttlichen Wesens sei. Historisch gesichert ist angesichts
der Quellenlage nach nur, dass Jesus unter Pontius Pilatus, dem Statthalter Roms im
damaligen Judäa (26-36 n. Chr.), gekreuzigt worden ist; eine indirekte Beteiligung jü-
discher Behörden an der Verurteilung Jesu ist historisch umstritten. Grundsätzlich ist in
Hinblick auf die Evangelien des → Neuen Testaments zu unterscheiden zwischen der
historischen Rückfrage hinsichtlich des Prozesses Jesu und der theologischen Frage
nach der Bedeutung des Todes Jesu. Dass die Evangelien tendenziell eine jüdische Mit-
beteiligung an der Verhaftung und Verurteilung Jesu darstellen, ist auf die theologische
Konstruktion historischer Ereignisse zurückzuführen. Die Vorstellung, der Prophet
Gottes werde abgelehnt oder sogar getötet, ist der nachexilischen Tradition im Juden-
tum geschuldet (ab 539 v. Chr.). Vor dem Hintergrund dieser Annahme, dass den wah-
ren Propheten Ablehnung und Tod auszeichnen, wurde dann der Tod Jesu als Prophe-
tenmord gedeutet und entsprechend narrativ in den Evangelien entfaltet. Das Neue Te-
stament bleibt darin der Logik der Hebräischen Bibel verpflichtet.
In der antiken Theologie begünstigte dann der damals so verstandene Geschichtsbe-
weis, dass Gott die Juden für die Kreuzigung Jesu mit der Zerstörung des Tempels und
der Stadt Jerusalems bestraft habe (70 n. Chr.), die Tradierung des antijüdischen Topos,
die Juden hätten Jesus Christus gekreuzigt, wobei man von einer kollektiven Schuld-
übernahme ausging. Verhängnisvoll wirkte sich in diesem Zusammenhang die Rezep-
tion des Verses „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ aus (Matthäus 27,25),
der als Selbstverfluchung des jüdischen Volkes ausgelegt und dementsprechend zur
Begründung der Kollektivschuld der Juden herangezogen wurde.
Die christologische Entwicklung ermöglichte es sodann, die Juden nicht nur als
„Christusmörder“, sondern auch als „Gottesmörder“ zu bezeichnen. Der Gottesmord-
vorwurf wurde erstmalig von Bischof Melito von Sardes im lydischen Kleinasien in
seiner Osterpredigt (ca. 170) „Peri pascha“ erhoben durch den Vorwurf gegen Israel, es
habe ein nie gehörtes, schreckliches Verbrechen begangen: „Der Herr ist geschändet
114 Gottesmord
worden! Gott ist ermordet worden. Der König Israels ist beseitigt worden von israeliti-
scher Hand.“
Der zunächst in der Tradierung dieses Motivs verwendete griechische Begriff
„Theoktonia“ warf das theologische Problem der potentiellen Leidensfähigkeit Gottes
auf, so dass ein weiterer Begriff in Anschlag gebracht wurde: „Kyrioktonoi“, „Mörder
des Herrn“. Bei Augustinus (354-430) findet sich dann die lateinische Übersetzung
„Deicidae“. Augustinus weist diesen Begriff jedoch zurück, da die Juden nicht gewusst
hätten, dass sie den Sohn Gottes töteten; denn wenn sie den Gottessohn erkannt hätten,
hätten sie ihn nicht gekreuzigt. Im Hochmittelalter wurde der „Gottesmord“ vor dem
Hintergrund „gewollter Unwissenheit“ diskutiert. Thomas von Aquin (1225-1274) be-
tont, dass die Unwissenheit der Juden sie nicht von ihrem Verbrechen entschuldige:
„Denn es war gewissermaßen eine gewollte Unwissenheit. Sie sahen nämlich offen-
sichtlich Zeichen Seiner Gottheit. Aber aus Hass und Neid gegenüber Christus miss-
deuteten sie diese und wollten Seinen Worten, durch die Er sich als Sohn Gottes be-
kannte, nicht glauben.“
Der für seine scharfe Polemik gegen die Juden bekannte Johannes Chrysostomos
(349-407) warnte judaisierende Christen vor der Zusammenkunft mit den angeblichen
Herrenmördern. Der Vorwurf des Herrenmordes legitimierte das verbrecherische Han-
deln gegen die Juden während des ersten Kreuzzugs (1096), die von den Kreuzfahrern
vor die Alternative „Taufe oder Tod“ gestellt wurden. Diese Alternative begründete
sich für die Kreuzfahrer darin, dass die Juden als Feinde der Christen den Tod verdien-
ten, da ihre Vorväter Christus getötet hätten – es sei denn, sie ließen sich taufen.
In den Legenden über → Hostienfrevel und → Ritualmord wird der antijüdische To-
pos von den Juden als Herrenmördern ebenfalls aufgegriffen. Der Gottessohn und sein
gemarterter Körper bieten eine Folie für die Widerspiegelung der vielschichtigen Vor-
würfe gegen die Juden. Als vermeintliche Ritualmörder vollziehen die Juden die Er-
mordung des Messias am Körper eines unschuldigen Christenjungen nach, während
sie als vermeintliche Hostienfrevler erneut den in der Eucharistie real präsenten Leib
des Herrn martern.
Als Mörder des Herrn, die sich mit ihrem Vorgehen gegen Jesus an Gott selbst ver-
griffen haben, war den Juden aus christlicher Perspektive nichts mehr heilig. Aufgrund
ihres vermeintlichen Verbrechens galten sie als sittlich verkommen, so dass ihre min-
derwertige Stellung in der christlichen Gesellschaft mehr als gerechtfertigt schien.
In der Erklärung über die Haltung der Katholischen Kirche zu den nichtchristlichen
Religionen, „Nostra aetate“, die das Zweite Vatikanische Konzil 1965 in Rom verab-
schiedete, findet sich ein eigener Artikel über das Verhältnis der Kirche zum Judentum.
Obwohl dieser Text von einer Hermeneutik der Anerkennung und Wertschätzung ge-
genüber dem Judentum bestimmt ist, wird der Gottesmordvorwurf als solcher nicht
problematisiert und nicht ausdrücklich zurückgewiesen.
Matthias Blum
Literatur
Jeremy Cohen, The Jews as the Killers of Christ in the Latin Tradition, from Augustine to
the Friars, in: Traditio 39 (1983), S. 1-27.
Frederick B. Davis, The Jews and Deicide: The Origin of an Archetype, Lanham 2003.
Gründerschwindel 115
Peter von der Osten-Sacken, Mordanklage und Todesurteil. Realität, Religion und Rhetorik
in der Predigt Melitos „Über das Passa“, in: Lutz Doering, Hans-Günther Waubke, Florian
Wilk (Hrsg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Bezie-
hungen, Göttingen 2008, S. 334-357.
Gründerkrach → Gründerschwindel
Gründerschwindel
Ausgehend von der Wiener Börse verbreitete sich 1873 eine weltweite Finanz- und
Börsenkrise. In Deutschland als „Gründerkrach“ bekannt, beendete sie die Hochkon-
junktur der Reichsgründungsphase. Die heutige Wirtschaftswissenschaft begreift die
Krise als Abbau von Überkapazitäten und Korrektur der ökonomischen Überhitzung
nach dem Zufluss französischer Kriegsentschädigungen ab 1871.
Grundlage der Entwicklung war eine Lockerung des preußischen Aktienrechts, die
zuvor das Gründen von Aktiengesellschaften erleichtert hatte. So wurden in den
„Gründerjahren“ vor 1873 zahlreiche Aktiengesellschaften und Banken mit unzurei-
chender Kapitaldeckung konzessioniert, die in spekulationsfreudigen Kreisen des
Adels und des Bürgertums viele Anleger gewannen, der Krise ab 1873 jedoch nicht
standhalten konnten. Die folgenden Kursstürze und Konkurswellen verursachten große
Verluste für die Anleger, die über die Risiken der neuen Wirtschaftsform nicht aufge-
klärt waren und über keinerlei Erklärung für die Krise verfügten, bis der Berliner Jour-
nalist Otto Glagau (1834-1892) in der auflagenstarken deutschen Illustrierten „Garten-
laube“ 1874 mit einer zwölfteiligen Artikelserie zum „Gründerschwindel“ ein antise-
mitisches Deutungsmuster anbot, das an ältere judenfeindliche Klischees anknüpfte.
Glagau erklärte die Juden zu den hauptsächlichen Nutznießern der gesellschaftlichen
und ökonomischen Modernisierung und den „Gründerkrach“ zu einem von Juden groß
angelegten und verübten Betrugsmanöver, dem „Gründerschwindel“. Demnach hätten
sich die Juden erst als Protagonisten des „Manchesterkapitalismus“ prägenden Einfluss
auf die liberalen Parteien verschafft, dann die spekulationsfreundliche liberale Wirt-
schaftsgesetzgebung ins Werk gesetzt. In der Folge seien neunzig Prozent aller „Grün-
der und Börsianer“ Juden gewesen, die sich zuerst in der Gründer-, und zum zweiten
Mal in der Pleitewelle systematisch bereichert hätten. Glagau konstruierte einen Ge-
gensatz zwischen „heimatlosem Capital“ und „deutscher Arbeit“ bzw. „Handwerk“
und prägte die Parole, „die sociale Frage“ sei „im wesentlichen Gründer- und Juden-
frage, alles übrige ist Schwindel“.
Seine Insinuationen kombinierte Glagau mit weiteren Vorwürfen. Mit ihrem Verhal-
ten hätten die Juden, „durchgehends reiche und wohlhabende Leute“, so Glagau, denen
„die schönsten Häuser und Villen in Berlin gehören“, nicht nur den deutschen Anle-
gern massiven Schaden zugefügt, sondern auch den Sozialdemokraten viele Anhänger
zugetrieben. Zudem hätten sie sich auch als „die wüthendsten Culturkämpfer“ gegen
die katholische Kirche hervorgetan, als Journalisten und Kulturschaffende die deutsche
Presse und das „deutsche Theater“ ruiniert und durch ihr Verhalten die ethischen Stan-
dards der christlich-deutschen Gesellschaft untergraben. Dabei würden die Juden, de-
ren Zahl, so Glagau, stetig wuchs, „vom getauften Minister bis zum polnischen
Schnorrer […] eine einzige Kette“ bilden und mit ihrer Pressemacht jede Kritik mit
116 Hepp-Hepp
moralischen Vorwürfen ersticken, so dass „ein fremder, an Zahl so kleiner Stamm die
große eigentliche Nation beherrscht“. Weder „falsche Toleranz und Sentimentalität“
noch „leidige Schwäche“ oder „Furcht“, so Glagaus Folgerung, sollen „uns Christen“
davon abhalten, gegen die „Anmaßungen der Judenschaft vorzugehen“. Dass der erste
und schärfste Kritiker der Gefahren der ökonomischen Entwicklung, der liberale
Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker (1829–1884), ein Jude war, tat Glagau mit der
Bemerkung ab, dieser hätte doch nur „zu Gunsten der Geld- und Börsenfürsten“ gehan-
delt.
Mit dem Deutungsmuster des „Gründerschwindels“, das neben modernitätsfeindli-
chen, antimaterialistischen und antikapitalistischen auch antiliberale und antisozialisti-
sche Ideologeme umfasst und einen verschwörungstheoretischen Einschlag besitzt,
gibt Glagau zentrale Topoi der späteren antisemitischen Agitation vor, wie sie bald von
Adolf Stoecker (1845-1909) und seiner „Christsozialen Partei“, von Heinrich von
Treitschke (1834–1896) im Berliner Antisemitismusstreit und in der Berliner Bewe-
gung aufgegriffen wurden; die „Germania“, das Zentralorgan des politischen Katholi-
zismus, übernahm Glagaus Behauptungen teilweise.
Vor diesem Hintergrund liegt die Bedeutung des „Gründerkrachs“ nicht auf wirt-
schaftsgeschichtlicher Ebene. Zwar offenbarte er Lücken liberaler Wirtschaftsgesetzge-
bung, die bald beseitigt wurden, doch geriet er nicht zum ökonomischen Kollaps, son-
dern mündete lediglich in eine Phase verlangsamten Wachstums, die bis 1896 anhielt
und als „große Depression“ in die Literatur einging. Dagegen beschädigte die antisemi-
tische Rede vom „Gründerschwindel“ mit ihrer Delegitimierung liberaler Wirtschafts-
politik auch das Ansehen und den Einfluss des politischen Liberalismus dauerhaft und
trug dazu bei, Grundmotive eines antimodernen, antikapitalistischen und antisozialisti-
schen Antisemitismus in weiten Kreisen des Bürgertums, selbst in liberalen und katho-
lischen, so fest zu verankern, dass der Boden für künftige antisemitische Agitation be-
reitet war.
Ralf Schäfer
Literatur
Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und
Politik in Europa, Berlin 1967.
Daniela Weiland, Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen An-
tisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004.
Hepp-Hepp
Hepp-Hepp ist ein antisemitischer Hetz- und Spottruf, der den Hepp-Hepp-Krawallen
von 1819 den Namen gegeben hat.
Die Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks ist bis heute nicht definitiv geklärt.
Wurde früher der Begriff „Hepp“ im Deutschen zumeist mit einem „p“ geschrieben,
hat sich nun die Schreibweise mit doppeltem „p“ durchgesetzt. Es ist für Würzburg be-
legt, dass der Begriff schon vor seinem „Siegeszug“ in den pogromartigen Ausschrei-
tungen, die 1819 neben Deutschland u.a. auch Dänemark, Österreich und Polen erfass-
ten, gegen Juden verwendet wurde. Zudem existieren Belege, dass der Begriff seit dem
Dreißigjährigen Krieg als judenfeindliche Parole gebräuchlich war.
Hepp-Hepp 117
Zeitgenössische Interpretationen des Begriffs gingen zumeist davon aus, dass sich
„Hep“ von „Hierosolyma est perdita“ [Jerusalem ist verloren] ableiten lasse. Rheini-
sche Kreuzfahrer hätten diesen Ausspruch schon bei den Kreuzzügen im Mittelalter ge-
rufen. Angeblich existiere auch eine jüdische „Antwort“ auf diesen Schlachtruf. Die
Juden hätten mit „Jep“ der Abkürzung für „Jesus est perditus“ [Jesus ist verloren] ge-
antwortet. Diese Deutung wird jedoch durch neuere Forschungen in Frage gestellt, da
der Ruf der Kreuzfahrer „Hierosolyma sunt perdita“ gelautet habe. Zudem ist zweifel-
haft, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts so viele auch ungebildete Menschen die Be-
deutung dieser lateinischen Parole aus dem Mittelalter noch gekannt haben sollen.
Weitere eher unwahrscheinliche, zeitgenössische Erklärungen wollten im Begriff
„Hep“, die Abkürzung von „Hebräer, Edelleute, Potentaten“ sehen, gegen die sich der
Unmut damals gerichtet habe. Jüdischerseits wollte man in den drei Anfangsbuchsta-
ben sogar die Namen der legendären Feinde des jüdischen Volkes „Haman, Esau und
Pharao“ erkennen.
Da im Hebräischen „Hab“ der Aufforderung „Gib!“ entspricht, meinten einzelne jü-
dische Zeitzeugen, im Schlachtruf „Hepp“ eine Anspielung auf dieses Wort zu erken-
nen. Diese Assoziation dürfte jedoch nichtjüdischen Tätern sicherlich fremd gewesen
sein.
Fundierter scheint die Interpretation des Schlacht- und Spottrufes als Abkürzung für
„Hebräer“ zu sein. Eine Verwendung von „Hepp“ als Abkürzung für diese Bezeich-
nung der Juden ist um 1819 mehrfach belegt. Ebenfalls eine gewisse Plausibilität hat
die These, dass der Begriff ein weiteres Bedeutungsfeld des Ausdrucks „Hep“ aus dem
Umgang mit Vieh, speziell mit Ziegen, darstellen könnte. Im Grimmschen Wörterbuch
von 1877 wird „Hepp“ als Lockruf der Hirten für die Ziegen beschrieben. Da Juden in
der damaligen antisemitischen Vorstellungswelt über einen Ziegenbart verfügten, ließ
sich damit eine Verbindung zum Hetz- und Spottruf herstellen. Zudem ist „Heppe“ die
mittel- und oberdeutsche Bezeichnung für „Ziege“. Im frühen 19. Jahrhundert war
„Hepp“ als Aufforderung für Zugtiere, sich in Bewegung zu setzen, allgemein ge-
bräuchlich, und noch heute wird der Begriff für Dressurakte im Zirkus zur Anfeuerung
bei der Demonstration von Kunststücken verwendet. Im Odenwald gab es eine soge-
nannte Judenpolka, bei der sich die Tänzer ein rhythmisches „Hepp“ zuriefen.
Im Umfeld der pogromartigen Ausschreitungen von 1819 waren die „Hepp-Hepp“-
Rufe der eindeutig erkennbare Schlachtruf, um die Menschen zu judenfeindlichen Pro-
testen zu mobilisieren. Die Behörden wussten, dass, wenn dieser Ruf ertönte, oder
wenn er in schriftlicher Form auftrat, Unruhen drohten. Sie waren deshalb an der Un-
terdrückung des Begriffs interessiert und versuchten auch seine Bedeutung zu ergrün-
den, um der Motivation der Täter auf die Spur zu kommen. Die Verwendung des Aus-
drucks wurde beispielsweise in Hamburg 1819 unter Strafe gestellt.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb das Losungswort bei antisemitischen
Ausschreitungen populär. Danach sollte der Ausdruck noch im Umfeld des Berliner
Antisemitismusstreits 1880/1881 sowie bei den Ritualmordbeschuldigungen von Xan-
ten und Konitz an der Wende zum 20. Jahrhundert Verwendung finden.
Daniel Gerson
118 Hofjuden
Literatur
Werner Bergmann, Rainer Erb, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand ge-
gen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860, Berlin 1989.
Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819, Berlin 1994.
Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und
Revolution (1815-1848/49), Frankfurt am Main 1993.
Hofjuden
Während die Juden bereits im Mittelalter als Hofagenten, Münzmeister, Kapitalbe-
schaffer und Lieferanten an Adels- und Fürstenhäusern beschäftigt waren, etablierten
sie sich im 17. und 18. Jahrhundert in den deutschsprachigen Ländern in neuer Weise.
Als Hofjuden oder auch Hoffaktoren waren sie eng an ihre jeweiligen Dienstherren ge-
bunden. Insbesondere durch die wichtige Rolle einiger jüdischer Heeres- und Kriegs-
lieferanten im Dreißigjährigen Krieg wurden sie zu einer Art Institution an den Höfen.
Ihre Aufgaben waren das Beschaffen von Waren, die Vermittlung von Krediten, die
Herstellung von Münzen ebenso wie diplomatische Dienste. Sie stellten ein Bindeglied
zwischen jüdischer Gemeinde und Herrscher dar. Dabei waren ihnen die Netzwerke
der Gemeinden und die weit verzweigten Familien nützlich. Die Stellung der Hofjuden
blieb jedoch äußerst unsicher, sie waren der Willkür und Gunst ihrer Dienstherren aus-
geliefert. Zwar erhielten sie mehr Rechte und Freiheiten als Juden damals zugebilligt
wurden, doch konnten ihnen diese jederzeit wieder entzogen werden. Nachfolger oder
Standesgenossen der Dienstherren mussten die Vergünstigungen nicht anerkennen oder
übernehmen. Für die Fürsten waren ihre Hofjuden zwar unentbehrlich, doch gesell-
schaftlich waren sie weder gleichberechtigt noch akzeptiert. August der Starke in War-
schau belustigte seine Hofgesellschaft durch einen makaberen Scherz, als er seinem
Hofjuden den Bart gewaltsam abschnitt.
Einer der bekanntesten Fälle ist der des Joseph (Jud) Süß Oppenheimer, Hofjude des
Herzogs Karl Alexander von Württemberg, der klug, berechnend und skrupellos in
eine hohe Vertrauensstellung beim Herzog gelangt war und sich dadurch viele Feinde
gemacht hatte. Unmittelbar nach dem plötzlichen Tod Karl Alexanders (1737) wurde
er verhaftet und wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und Aussaugen des Landes
angeklagt. Für seine Hinrichtung spielte die Zugehörigkeit zum Judentum die entschei-
dende Rolle, sein Leichnam wurde als der eines Juden zur Schau gestellt. Jud Süß wur-
de zum alleinigen Sündenbock, andere Beteiligte der Politik des Herzogs waren durch
ihre Familienzugehörigkeit geschützt und wurden nicht belangt. Die Hinrichtung als
Jude ist um so bemerkenswerter, als Jud Süß kein klassischer Hofjude war, er hatte sich
in das Hofleben komplett eingegliedert, hatte nicht als Jude gelebt, war ein Außenseiter
der jüdischen Gesellschaft, mit der er kaum verkehrte und hatte alle jüdischen Traditio-
nen abgelegt.
Der 1556 von Kurfürst Joachim II. Hektor am kurfürstlichen Hofe zu Berlin zum
Hoffaktor und Vorsteher aller märkischen Juden ernannte Lippold ben (Judel) Chlu-
chim war ein einflussreicher Hofjude bis zum plötzlichen Tod seines Herrn am 3. Janu-
ar 1571. Er wurde verhaftet, des Giftmordes, der Zauberei und anderer Vergehen be-
schuldigt und nach erfolterten Geständnissen zum Tode durch Rädern und Vierteilen
Holocaust 119
verurteilt. Nach seiner Ermordung folgte eine schwere Zeit für die märkischen Juden,
deren Vermögen eingezogen und deren Vertreibung von Kurfürst Johann Georg betrie-
ben wurde. In seinem Vorwort zu „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ (Leipzig
1911) schreibt Werner Sombart: „[…] daß ein ganz besonders geartetes Volk – ein Wü-
stenvolk und ein Wandervolk, ein heißes Volk – unter wesensverschiedenen Völkern,
naßkalte, schwerblütige, bodenständige Völker – verschlagen worden ist [...]. Wären
sie alle im Orient geblieben oder in andere heiße Länder verschlagen worden, so hätte
natürlich ihre Eigenart auch Eigenartiges gewirkt, aber die Wirkung wäre keine so dy-
namische geworden.“ Sombart überschätzte, wie andere Antisemiten in ihren Texten,
die Bedeutung und den Einfluss der Hofjuden. Sie bedienen damit das Stereotyp des
geldgierigen, einflussreichen Juden und der Verschwörungstheorie, das durch die
Münzmanipulation, die die Hofjuden für ihre Dienstherren vornehmen mussten und
die sie in die Missgunst der Bevölkerung brachte, gefestigt wurde. Auch Heinrich
Schnee, ein begeisterter Befürworter der „Nürnberger Rassegesetze“, der 1940 begann,
eine Geschichte der jüdischen Hoffaktoren zu schreiben und bei dem bereits 1934 anti-
semitische Äußerungen Niederschlag in seinen Schriften finden, misst den Hoffaktoren
eine deutlich zu mächtige Stellung bei. 1953 – 1967 beschreibt er in einem sechsbändi-
gen Werk die Hoffinanz und den modernen Staat, wobei das Stereotyp des kapitalisti-
schen Juden weiter verwendet wird.
Angelika Benz
Literatur
Mordechai Breuer, Die Hofjuden, in: Mordechai Breuer, Michael Graetz (Hrsg.), Deutsch-
Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band I, München 1996.
Holocaust
Der Begriff Holocaust, eine Transliteration aus dem Griechischen und ursprünglich ein
biblischer Terminus, bedeutet „Brandopfer“ und diente am frühesten im englischen
Sprachbereich auch als Metapher für den Judenmord. Die Bezeichnung gehört nicht
zum jüdischen Sprachgebrauch ( → Shoah), sie bürgerte sich ein über angelsächsische
Quellen ab 1978 durch die Rezeption des Spielberg-Films weltweit als Umschreibung
des nationalsozialistischen Genozids. „Holocaust“ wurde, ungeachtet seiner fehlenden
Authentizität, Präzision und der missverständlichen, ja falschen Bedeutung, zum inter-
national gebräuchlichen Terminus. Die Akzeptanz wurde in der Erinnerungskultur
durch Widmungen (U.S. Holocaust Memorial Museum) wie in der Wissenschaft durch
den Gebrauch als Synonym für den Völkermord an den Juden universal. Moralisch
und politisch nach dem Zusammenbruch des NS-Staats nicht mehr tragbare Umschrei-
bungen wie → „Endlösung“ für den Judenmord waren durch den abstrakten Begriff
Holocaust gut ersetzbar.
Das Wort bürgerte sich auch in Zusammensetzungen wie → „Holocaustleugnung“
oder „Holocaust Education“ („Holocaust-Erziehung“) ein. Analogiebildungen folgten
politischen Interessen von Rechtsextremen („Bomben-Holocaust“ für die Luftangriffe
auf Dresden), Abtreibungsgegnern („Babycaust“), Tierschützern („Holocaust auf Dei-
120 Holocaust
nem Teller“) usw. Solche Wortbildungen werden als Verhöhnung der Opfer des Geno-
zids zu Recht abgelehnt.
Historischer Sachverhalt
Es ist strittig, ob das NS-Regime von Anfang an den Völkermord beabsichtigte (die
Auswanderungspolitik spricht dagegen) oder einem Radikalisierungsprozess unterlag,
der durch den Krieg beschleunigt wurde. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als
Zentrale von Gestapo, Sicherheitsdienst und Kriminalpolizei war die Schaltstelle, von
der aus die Judenpolitik zunächst durch Deportation, dann als Völkermord organisiert
wurde. Die entscheidenden Männer waren Heinrich Himmler, der als Reichsführer SS
die oberste Instanz des Terrorapparates bildete, zu dem die Konzentrations- und Ver-
nichtungslager und die Einsatzgruppen als mobile Mordeinheiten gehörten und unter
ihm die SS-Offiziere im Generalsrang wie Reinhard Heydrich und sein Nachfolger
Ernst Kaltenbrunner an der Spitze des RSHA bzw. Heinrich Müller als Chef der Gesta-
po, die „Höheren SS- und Polizeiführer“ in den besetzten Gebieten und die Befehls-
empfänger wie Eichmann in der SS-Bürokratie oder die KZ-Kommandanten und ihre
Wachmannschaften.
Mit der deutschen Besetzung Polens begann dort im Herbst 1939 die Verfolgung der
Juden. Zwangsarbeit und Ausgangssperren waren erste offizielle Maßnahmen. Es folg-
ten der Ausschluss aus der Wirtschaft, die Sperrung der Bankkonten, willkürliche Ver-
haftungen. Im November 1939 wurden die Synagogen zerstört wie im Jahr zuvor in
der „Reichskristallnacht“ in Deutschland. Ebenfalls seit November 1939 waren alle Ju-
den gezwungen, ein Kennzeichen zu tragen, zunächst eine gelbe Armbinde, dann einen
Judenstern. Schon am 21. September 1939 hatte Heydrich in einer Anweisung an die
Führer der „Einsatzgruppen“ im besetzten Polen die Richtung angegeben: „Als erste
Vorausnahme für das Endziel gilt zunächst die Konzentrierung der Juden vom Lande
in die größeren Städte. Sie ist mit Beschleunigung durchzuführen [...]. Dabei ist zu be-
achten, dass nur solche Städte als Konzentrierungspunkte bestimmt werden, die entwe-
der Eisenbahn-Knotenpunkte sind oder zum mindesten an Eisenbahnstrecken liegen
[...]. In jeder jüdischen Gemeinde ist ein jüdischer Ältestenrat aufzustellen [...]. Er ist
im Sinne des Wortes voll verantwortlich zu machen für die exakte und termingemäße
Durchführung aller ergangenen oder noch ergehenden Weisungen.“
Ghettos wurden als Orte des Zwangsaufenthaltes zur Demütigung und Ausbeutung
der Juden unter deutscher Besatzung errichtet. Durch die Konzentrierung der jüdischen
Bevölkerung in größeren Städten dienten die Ghettos als Relaisstationen eines riesigen
Bevölkerungstransfers, der zu Beginn der Besatzungsherrschaft in Polen noch keine
klaren Konturen hatte. Das beweisen die Querelen zwischen dem Generalgouverneur
in Krakau und den Behörden in den „eingegliederten Gebieten“ Westpolens. Sie woll-
ten zwecks „Eindeutschung“ des Territoriums die Juden aus ihrem Gebiet so rasch als
möglich loswerden. Die Regierung des Generalgouvernements erstrebte als Fernziel
aber ebenfalls ein judenfreies Land.
Ab Anfang 1940 wurden die Ghettos gegen die Außenwelt abgeriegelt. Ab 1941
waren sie auch das Ziel von Deportationen aus Deutschland. Zu den Ghettos in War-
schau, Łódź (Litzmannstadt) und Krakau, Tschenstochau, Radom, Kielce und in vielen
anderen Orten auf polnischem Boden kamen ab Juni 1941 mit dem Russlandfeldzug
Holocaust 121
die Ghettos in Ostpolen, Litauen, Estland und Lettland, Weißrussland und der Ukraine
hinzu wie Wilna und Kaunas, Riga, Minsk und Lemberg u.a. Die Ghettos bildeten eine
Etappe in der Geschichte des Holocaust, sie waren bei allem Leid und Elend, bei allen
Tragödien, die sich dort abspielten, jedoch nicht die Hauptschauplätze des Völker-
mords. Die Ghettos waren in den Jahren 1940 bis 1943 Wartesäle zur Vernichtung,
Vorhöfe der Hölle, Zwischenstationen für die Lager, in die die Menschen dann zum
Zweck ihrer Ermordung deportiert wurden.
Mitte 1942 begann die „Aktion Reinhardt“. Sie hatte die Tötung der Juden zum Ziel,
die in den Ghettos auf polnischem Boden lebten und dort Zwangsarbeit für die deut-
sche Rüstungsindustrie leisteten. Drei Vernichtungslager, Belzec, Sobibor und Treblin-
ka, sind ausschließlich als Mordstätten errichtet worden, in ihnen endeten die meisten
Ghetto-Bewohner. In Białystok und in Warschau setzten sich verzweifelte Juden gegen
die Deportation zur Wehr, leisteten heroischen, aber aussichtslosen Widerstand gegen
die Deutschen, die schließlich schwere Waffen einsetzen mussten, um die Ghettos zu
räumen.
Unter der Bezeichnung „Endlösung der Judenfrage“ wurde ab Frühjahr 1941 die
Vernichtung der Juden im gesamten deutschen Herrschaftsgebiet geplant. Am
31.7.1941 beauftragte Reichsmarschall Göring den Chef des Reichssicherheitshaupt-
amtes, Heydrich, in einem „Bestellungsschreiben“, „einen Gesamtentwurf über die or-
ganisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der
angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen“.
Im Herbst 1941 begannen, systematisch vorbereitet und organisiert, die Deportatio-
nen der deutschen Juden. Probehalber waren bereits Anfang 1940 1000 Juden aus Stet-
tin in die Nähe von Lublin und Ende Oktober 1940 Juden aus Südwestdeutschland
nach Südfrankreich „evakuiert“ worden. Ziel der planmäßigen Deportationen ab
Herbst 1941 waren erst die Ghettos und später direkt die Vernichtungslager im Osten.
Mit der Deportation endete die bürgerliche Existenz, alle Vermögenswerte verfielen
dem Deutschen Reich. Einige Tage vor dem Abtransport ergingen detaillierte Anwei-
sungen. An Sammelplätzen in den Großstädten wurden die Transporte zusammenge-
stellt und auf zentral gelegenen Güterbahnhöfen abgefertigt. Jüdische Organisationen
mussten Hilfsdienste dabei leisten. Die Deportationen waren als Umsiedlungsmaßnah-
men getarnt, deshalb mussten die Deportierten Handwerkszeug und Baustoffe mitfüh-
ren. Die meisten Transporte verließen im Laufe des Jahres 1942 bis zum Frühjahr 1943
Deutschland.
Eine Gruppe deutscher Juden galt als privilegiert. Ihr Ziel war ab Juni 1942 das „Al-
tersghetto“ Theresienstadt in Nordböhmen, wo Weltkriegsteilnehmer, Alte und Kranke
unter schwer vorstellbaren elenden Bedingungen vegetierten. Ihnen hatte das Deutsche
Reich die letzten Vermögenswerte durch „Heimeinkaufsverträge“ abgejagt, die Woh-
nung, Ernährung und Pflege vorspiegelten. Tatsächlich war aber Theresienstadt für die
meisten auch nur eine Station auf dem Weg in die Mordlager. Vorausgegangen waren
ab November 1941 rund 75.000 Juden aus Böhmen und Mähren, die über Theresien-
stadt zu Vernichtungsstätten im Baltikum und in Polen deportiert worden waren. Ab
Oktober 1942 bildete ausschließlich Auschwitz das Ziel der Transporte aus Theresien-
stadt. Insgesamt wurden 42.345 Juden aus Deutschland, 15.324 aus Österreich, 4897
aus Holland, 466 aus Dänemark, 1270 aus Polen, 1074 aus Ungarn nach Theresienstadt
122 Holocaust
mando der SS damit beschäftigt, die Spuren zu beseitigen. Juden mussten, ehe sie zu-
letzt selbst erschossen wurden, die Leichen exhumieren und verbrennen.
Die Mordmethoden waren inzwischen verfeinert worden. Das Erschießen ging nicht
schnell genug und die Nerven der Mörder wurden dabei zu arg strapaziert. Auf der Su-
che nach effektiveren Mordwerkzeugen war man, auf die Erfahrungen und das Perso-
nal der Ermordung Behinderter und Geisteskranker in der → „Euthanasie“-Aktion
1939/1940 zurückgreifend, auf die Verwendung von Giftgas verfallen. Kohlenmon-
oxyd wurde bei den „Gaswagen“ verwendet, es handelte sich um umgebaute Lastkraft-
wagen, deren Auspuffgase in den mit Menschen vollgestopften hermetisch abgedichte-
ten Innenraum geleitet wurden. Nach kurzer Fahrt wurden die Leichen direkt ins Mas-
sengrab gekippt. Gaswagen wurden von den Einsatzgruppen in Weißrussland verwen-
det ebenso wie in Serbien; in Chelmno/Kulmhof im „Warthegau“ bildeten sie die Aus-
rüstung eines Vernichtungslagers.
Der Befehl Himmlers an den Kommandanten des KZ Auschwitz im Sommer 1941,
eine quasi industrielle Tötungsmethode zu finden, leitete die letzte Phase des Massen-
mordens ein. Im September 1941 fand in Auschwitz ein erster Versuch mit dem Gift
Zyklon B statt. Das an Kieselgur gebundene blausäurehaltige gasförmige Desinfekti-
onsmittel ließ sich leicht und für die Mörder gefahrlos transportieren und handhaben.
Ab Frühjahr 1942 wurde in Birkenau (Auschwitz II) in eigens errichteten (dann mehr-
fach umgebauten und vergrößerten) Gaskammern der geräuschlose und schnelle Mas-
senmord praktiziert. Aus ganz Europa kommend endeten die Eisenbahntransporte auf
der Rampe, wo die Arbeitsfähigen bei der Selektion zurückbehalten, alle anderen - in
der Regel 90% der Ankommenden - direkt in die Gaskammern getrieben wurden. Auch
in Auschwitz versuchte die SS Spuren zu beseitigen, sprengte im Herbst 1944 Gaskam-
mern und Krematorien.
torium sind fast drei Millionen Juden ermordet worden: in Chelmno (Ende 1941 bis
Mai 1942 und September 1942 bis März 1943) 152.000, in Belzec (März 1942 bis An-
fang 1943) 600.000, in Sobibór (Mai/Juni 1942, Oktober bis Dezember 1942, März bis
August 1943) 250.000, in Auschwitz-Birkenau (September 1941, Januar 1942 bis No-
vember 1944) 1.000.000, in Treblinka (Juli 1942 bis August 1943) 900.000 und in
Majdanek 60.000 bis 80.000.
Die Gesamtbilanz aufgrund neuester Forschungsergebnisse, basierend auf Quellen
und Berechnungen, kommt auf mindestens sechs Millionen Holocaust-Opfer in folgen-
den Ländern: Deutschland (165.000), Österreich (65.500), Luxemburg (1200), Frank-
reich (76.000 incl. jüdische Opfer fremder Nationalität), Belgien (28.500 incl. Opfer
fremder Nationalität), Niederlande (102.000), Dänemark (116), Norwegen (758), Ita-
lien (6500), Albanien (600), Griechenland (59.000), Bulgarien (11.300), Jugoslawien
(65.000), Ungarn (550.000), Tschechoslowakei (143.000), Rumänien (211.000), Polen
(2.700.000) Sowjetunion (2.100.000).
Das auf der Wannsee-Konferenz verkündete Ziel, die Vernichtung aller Juden Euro-
pas, wurde nicht erreicht. Aber sechs Millionen Opfer machen ebenso wie die ideologi-
schen Prämissen das Verbrechen singulär. Den Sinn des Holocaust zu entschlüsseln,
rationale Erklärungen für den Völkermord zu finden, bemüht sich inzwischen eine
zweite und dritte Generation. Motive und Funktion des Genozids im nationalsozialisti-
schen Herrschaftsgefüge, in der Expansionspolitik, im militärischen Verlauf des Zwei-
ten Weltkriegs werden von den Historikern kontrovers diskutiert. Vom nationalsoziali-
stischen Programm als der Intention ausgehend, die in zielgerichteter Umsetzung der
antisemitischen Ideologie von Anfang an die physische Vernichtung der Juden betrieb,
nennt man diese historisch argumentierende Richtung „Intentionalisten“. In ihren Er-
klärungsmodellen spielt Hitler naturgemäß eine wichtige Rolle. Aus Zwangsläufigkei-
ten der Herrschaftsstruktur, die schließlich zur „kumulativen Radikalisierung“ des gan-
zen NS-Systems führte (Hans Mommsen), interpretieren die „Funktionalisten“ den Ho-
locaust. Zur Begründung dienen ihnen systemimmanente Notwendigkeiten ebenso wie
die Möglichkeiten und Zufälle, wie sie sich aus der militärischen Lage ergaben, bzw.
die Reflexe darauf waren. Aus einer Täterlogik heraus, die in erster Linie Bevölke-
rungspolitik im Sinne hatte und bei ihren säkularen Umsiedlungsaktionen auch die Ju-
den vernichtete, sucht ein anderer Ansatz den Holocaust zu erklären. Raul Hilberg,
dem Historiker, der den Holocaust am genauesten und ausführlichsten beschrieben hat,
bleibt das Geschehen letztlich unerklärlich. Diese Feststellung ist ebenso unbefriedi-
gend wie jeder monokausale Erklärungsversuch und wie die theologischen, philosophi-
schen, psychologischen Theorien, die mit dem Anspruch ausschließlicher Gültigkeit
vorgetragen werden, um den Holocaust zu erklären. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass
im Holocaust der Antisemitismus als Ideologie in der Realität des Völkermords kulmi-
nierte.
Wolfgang Benz
Literatur
Wolfgang Benz, Der Holocaust, München 1995.
Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Na-
tionalsozialismus, München 1991.
Holocaustleugnung 125
Philippe Burrin, Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord, Frankfurt am
Main 1993.
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bände, Frankfurt am Main 1990.
Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die
Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981.
Kurt Pätzold, Erika Schwarz, Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Ja-
nuar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der Endlösung, Berlin 1992.
Ulrich Wyrwa, „Holocaust“. Notizen zur Begriffsgeschichte, in: Jahrbuch für Antisemitis-
musforschung 8 (1999), S. 300-311.
Holocaustleugnung
Generell werden unter dem Begriff der Holocaustleugnung neben dem gänzlichen Be-
streiten auch verschiedene Abstufungen der partiellen Leugnung und die Verharmlo-
sung des → Holocaust gefasst. Holocaustleugnung stellt einen zentralen Bestandteil
und zugleich die extreme Ausprägung des thematisch breit angelegten, geschichts(ver)
fälschenden → Revisionismus dar, der die NS-Geschichte unter Vortäuschung wissen-
schaftlicher Arbeitsweisen von Kompromittierendem zu reinigen sucht. Oft wird „Re-
visionismus“ jedoch verkürzt verstanden als teilweises und pseudowissenschaftliches
Bestreiten des Holocaust, während mit „Holocaustleugnung“ nur die wenig elaborierte
gänzliche Leugnung assoziiert wird. Obwohl ungefähr die Hälfte aller Opfer des Geno-
zids nicht durch Giftgas umkamen, wird in vielen Fällen in einer weiteren Verengung
des Begriffs mit „Holocaustleugnung“ (oder auch „Auschwitz-Leugnung“) vorrangig
das Bestreiten von Gaskammern zur Tötung von Menschen bezeichnet. Hierbei stehen
das Mordinstrument Giftgas und das Lager Auschwitz als zentraler Tatort jedoch in der
Regel symbolisch für den Holocaust insgesamt. Die als Kampfbegriff aus der rechtsex-
tremen Propaganda stammende Bezeichnung „Auschwitz-Lüge“, mit der das Phäno-
men der Holocaustleugnung zeitweilig missverständlich benannt wurde, wird mittler-
weile großteils gemieden.
Holocaustleugnung beinhaltet drei zentrale Komponenten, die einzeln oder in Kom-
bination in verschiedenen Ausprägungen auftreten. Die erste Komponente bezieht sich
auf die Zahl ermordeter Juden, die von der durch die historische Forschung ermittelten
Zahl von ungefähr sechs Millionen Menschen in der Regel auf wenige Hunderttausen-
de minimiert wird. Diese vergleichsweise wenigen Todesopfer seien - so die dominante
Argumentation - durch Epidemien, Kriegshandlungen, Partisanenbekämpfung oder
auch einzelne unautorisierte Gewaltexzesse lokaler Befehlshaber zu erklären. Die zwei-
te Komponente verneint, dass als Mordinstrument Giftgas und Gaskammern über-
haupt, beziehungsweise in nennenswertem Umfang, eingesetzt wurden. Jene hätten –
so eine gängige Argumentation – bei der Schädlingsbekämpfung und damit bei der
Vermeidung von Seuchen Verwendung gefunden, zahlreiche als Gaskammern ausge-
wiesene Gebäude hätten zudem anderweitigen Zwecken gedient oder seien technisch
und baulich nicht zur Tötung von Menschen geeignet gewesen. Und schließlich wird
in der dritten Komponente argumentiert, die deutsche Staats- und Parteiführung habe
weder die Absicht noch einen Plan für einen Völkermord an den europäischen Juden
gehabt und habe diesen folglich weder eingeleitet noch umgesetzt. Grundlage dieser
126 Holocaustleugnung
Argumentationslinie ist die Tatsache, dass ein schriftlicher Befehl Hitlers zum Genozid
nie aufgefunden werden konnte. Ein solcher Führerbefehl – so das geläufige Argument
– sei in einem hierarchischen Staat und angesichts des Unterfangens Völkermord aber
unabdingbar gewesen.
Das Phänomen der Holocaustleugnung ist weltweit verbreitet und besitzt national
unterschiedliche Wurzeln und Hintergründe, neben Deutschland und Österreich ent-
stand sie in jeweils verschiedenen Ausprägungen vor allem in Frankreich und den
USA. Artikulierten sich Holocaustleugner in der unmittelbaren Nachkriegszeit zugun-
sten anderer Themen der revisionistischen Geschichtsfälschung zunächst noch eher zu-
rückhaltend, begann 1973 mit der Veröffentlichung der in Form eines Erlebnisberichts
verfassten und zum Schlagwort avancierten Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“ von
Thies Christophersen eine neue Phase. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich die Holo-
caustleugnung rasch zum zentralen Anliegen des Revisionismus, und das Arsenal revi-
sionistischer Techniken der Geschichtsfälschung wurde, ebenso wie Form und Inhalt,
verfeinert und weiterentwickelt, bloße Behauptungen ins Argumentative überführt so-
wie Literatur und Quellen hinzugezogen. Zunehmend wurden nun historiografisch se-
riös anmutende dickleibige Bücher publiziert und Schritte zur Institutionalisierung ge-
tan. In ihren Argumentationen konzentrierten sich die Holocaustleugner mehrheitlich
auf tatsächliche oder vermeintliche Widersprüche in den Aussagen von Holocaust-
Überlebenden und Tätern und nutzten die mitunter äußerst spärliche und lückenhafte
Quellenlage sowie die sich daraus entsponnenen wissenschaftlichen Kontroversen, um
die eigene Meinung als nicht minder plausibel als andere zu präsentieren. Ab Ende der
1980er Jahre wurde schließlich damit begonnen, mittels vorgeblich naturwissenschaft-
lich-technischer „Gutachten“ den Gaskammern ihre Funktionsfähigkeit als Mordinstru-
mente abzusprechen. Hierbei kam vor allem zu pass, dass bereits die Nationalsoziali-
sten selbst den Holocaust verschleiert und viele Beweise für ihr Tun zerstört hatten.
Obgleich die Holocaustleugnung eine bedeutende Funktion in der rechtsextremen
Propaganda und in der Vernetzung von Rassisten, Nationalisten und Rechtsextremisten
weltweit einnimmt, ist sie nicht zwangsläufig rechtsextrem oder (neo)nazistisch zu
nennen. Wie der Revisionismus insgesamt ist sie primär antisemitisch, da ihre grund-
legende Argumentationsstruktur auf klassische antisemitische Ressentiments angewie-
sen ist. Ohne Verweis auf eine „jüdische Weltverschwörung“ und „geldgierige Juden“
könnte nicht argumentiert werden, dass der Holocaust ganz oder teilweise erfunden
worden sei, um Juden als Instrument zur Unterjochung und finanziellen Auspressung
Deutschlands zugunsten Israels zu dienen. Und es wäre auch nicht möglich zu behaup-
ten, dass in gigantischen Fälscherwerkstätten in großem Ausmaß Quellen zielgerichtet
gefälscht sowie Aussagen und Schuldeingeständnisse erpresst wurden. Dass Historiker
weltweit übereinstimmen, dass es den Holocaust gegeben hat, kann von Holocaust-
leugnern schließlich auch nur mit Verweis auf eine Verschwörung erklärt werden – ent-
weder mit einer geheimen Absprache aller Historiker oder aber mit ihrer systemati-
schen Beeinflussung, Täuschung oder Erpressung durch die vermeintlichen Profiteure
des in einem Buchtitel als „Jahrhundertbetrug“ bezeichneten Holocaust, „den Juden“.
Trotz des integrativen kleinsten gemeinsamen Nenners Antisemitismus lassen sich
die Unterschiede hinsichtlich der politischen und weltanschaulichen Interessen und
Ziele, der Traditionen und Vorgehensweisen der Akteure nur sehr bedingt unter einem
Hostienfrevel 127
Hostienfrevel
Hostienfrevellegenden und angebliche Hostienschändungsaffären gehören zu den be-
kannten Erscheinungsformen des → Antijudaismus im Mittelalter. Die Konstitution
der Hostienfrevellegende wird auf ein „Ereignis“ in Paris aus dem Jahr 1290 zurück-
geführt, dessen Erstüberlieferung bereits verschiedene Versionen enthält. Danach be-
schaffte sich ein Jude eine Hostie und marterte diese, indem er sie mittels spitzer Werk-
zeuge durchstach, in kochendes Wasser und ins Feuer warf. Die Oblate blutete darauf-
hin und ließ das Bild des Gekreuzigten sichtbar werden. Der entdeckte Frevel wurde
dem Pfarrer angezeigt, woraufhin der Jude verhört wurde. Er zeigte sich jedoch ver-
stockt. Während seine Angehörigen und andere Juden die Taufe erbaten, endete der
Jude als Hostienschänder auf dem Scheiterhaufen, weil er die Begnadigung zurück-
wies, die ihm im Falle der Bekehrung angeboten worden war. Am Ort des Judenhauses
wurde dann eine Kapelle errichtet, die von zahlreichen Pilgern aufgesucht wird, um die
128 Hostienfrevel
zur Schau gestellten Beweisstücke des wunderbaren Geschehens wie das heilige Blut
zu verehren.
Angeblich noch früher zu datierende Hostienschändungen wie die von Beelitz
(Mecklenburg, vor 1247) oder Heiligengrabe bei Pritzwalk (Priegnitz, um 1287) spie-
gelten jedoch zunächst nur Blutwunder wider, die dann später Juden angelastet und
entsprechend der Hostienfrevellegende angeglichen wurden.
Die Hostienfrevellegende steht in ihrer Ausrichtung als Bekehrungs- und Strafwun-
der in der Tradition der Hostienwunder. Hostienwunder treten vermehrt als legenden-
hafte Erzählungen seit dem 11. Jahrhundert auf, entweder als Verwandlungswunder
oder solche Wunder, die ohne Verwandlung die Macht des Sakraments beweisen wie
Licht- oder Bannungswunder. Blutwunder zeigen sich als Folge einer Hostienschän-
dung (durch Diebstahl oder Zweckentfremdung). Wird eine geweihte Hostie miss-
bräuchlich entwendet, verwandelt sich diese in vielfältiger Form, etwa in blutendes
Fleisch oder in das Abbild des Gekreuzigten. Verführte Christen finden daraufhin zum
Glauben zurück, während ruchlose Christen, die die Hostie aufgrund ihrer vermeintli-
chen magischen Kräfte als Liebeszauber oder zur Abwehr oder Anwendung von Scha-
denszauber einsetzten und darin zweckentfremdet schändeten, bestraft werden. Die Er-
zählungen von Hostiendiebstählen unter den Hostienwunderlegenden führen jedoch
bis zum Pariser Hostienfrevel 1290 schlechte Christen und nicht Juden als Diebe an.
Die Genese des Hostienfrevels, der die Juden belastet, ist durch ein eigenes Wunder-
motiv zu erklären: die seit der Spätantike bekannte Bildfrevellegende in Form der Kru-
zifixschändung. Dabei wird den Juden unterstellt, dass sie heilige Bilder und insbeson-
dere Kruzifixe misshandelten. Der fränkische Geschichtsschreiber Gregor von Tours
(gest. ca. 594) erzählt von einem Juden, der nach Einbruch in eine Kirche ein Christus-
gemälde mit seiner Waffe verletzt. Der anschließende Versuch, dieses Gemälde im ei-
genen Haus zu verbrennen, misslingt, stattdessen beginnt die dem Bild zugefügte Wun-
de zu bluten, was wiederum die Christen auf die Spur des Täters setzt, der für sein Ver-
gehen mit dem Tod bestraft wird. Andere Bildfrevellegenden erzählen, dass der in bö-
ser Absicht Christus beleidigende Jude durch das Wunder bekehrt wird und sich taufen
lässt.
In der Hostienfrevellegende wird jedoch das Bild vom „guten“ Juden, der nur an-
fänglich bösen Willens ist und schließlich doch die Taufe ersucht, durch das Bild vom
„bösen“ und verstockten Juden ersetzt, den auch das großartigste Wunder nicht mehr
bekehrt und der deshalb gerichtet werden muss. Die Pariser Erzählung bietet noch
Übergangselemente vom Bekehrungs- zum Strafwunder, insofern dem schuldigen Ju-
den die Möglichkeit der Bekehrung eingeräumt wird, seine Verstocktheit jedoch
schlussendlich die Todesstrafe bedingt. Der Pariser Typus wurde zur Vorlage für viele
Legenden über jüdische Hostienfrevel, die seinem Erzählschema folgten und darin ihre
Überlieferung derart typisierten, dass keinerlei individuelle Züge mehr zu erkennen
sind. Die Hostienschändungserzählungen können als typisches Beispiel einer „gentile
tale“ (Miri Rubin) verstanden werden: eine von Christen für Christen erzählte Ge-
schichte, die eine spezifische Funktion in der christlichen Gesellschaft hatte.
Die Vorstellung, dass sich eine geschändete Hostie tatsächlich in ein göttliches Kind
verwandeln könne, wurde durch ein ins Dingliche führendes Verständnis der euchari-
stischen Realpräsenz Christi, wie sie das Vierte Laterankonzil (1215) im Rahmen der
Hostienfrevel 129
Hostienfrevellegende → Hostienfrevel
Hostienschändung → Hostienfrevel
Inquisition in Spanien
Vorläufer der spanischen Inquisition war ein vom Papst 1232 im Königreich Aragón
errichtetes Tribunal, das die Albigenser verfolgen sollte. Offiziell blieb es bestehen,
verlor jedoch jegliche Bedeutung. Die Initiative zur Wiederbelebung der Inquisition
kam 1477 aus dem Königreich Kastilien, das zuvor diese Einrichtung nicht gekannt
hatte. Ausgelöst wurde sie durch die große Zahl von konvertierten Juden ( → Conver-
sos) und deren Nachfahren, die wiederum Ergebnis eines großflächigen Pogroms im
Jahr 1391 und nachfolgender antijüdischer Gesetze war. 1478 erlaubte Papst Sixtus IV.
die Einrichtung der Inquisition in Kastilien. Anders als außerhalb der Iberischen Halb-
insel stand fortan die spanische Inquisition unter der Kontrolle des Königshauses.
Päpstliche Versuche, Einfluss auf Personalauswahl und Funktionsweise zu erlangen,
blieben erfolglos. Den Großinquisitor bestimmte in der Praxis der König alleine, des-
sen Vorschlag der Papst formal bestätigte.
Inquisition in Spanien 131
Die ersten beiden Inquisitoren wurden 1480 ernannt. Sie waren für die Diözesen Se-
villa und Córdoba zuständig. Das erste → Autodafé fand 1481 statt. In den folgenden
Jahren wurden Tribunale in weiteren Regionen eingerichtet, was auf teils heftigen Wi-
derstand einflussreicher Conversos und lokaler Autoritäten, die ihre Vorrechte be-
schnitten sahen, stieß. Im Königreich Aragón wurde 1481 die Inquisition aus dem 13.
Jahrhundert wiederbelebt, aber auch hier unterstand sie nun dem König.
1483 wurde Torquemada zum ersten Großinquisitor (inquisidor general) der König-
reiche Aragón und Kastilien ernannt. Zu dieser Zeit war die Inquisition die einzige In-
stitution, die für alle Teile des spanischen Königreichs zuständig war. Später dehnte
der Großinquisitor seine Kompetenzen auch auf die Vizekönigreiche in Amerika aus.
Torquemada, der bis zu seinem Tod 1498 das Amt innehatte und zusammen mit den
Autodafés für die Nachwelt das Bild der Inquisition prägt, formulierte 1484 mit den
„Instrucciones“ einheitliche Vorschriften. 1488 richtete er einen obersten Rat der Inqui-
sition ein. Es entstand allmählich eine bürokratisch verfasste, nach Regeln funktionie-
rende Behörde zur Verteidigung der katholischen Lehre. Für die Berufung zum Inquisi-
tor waren juristische Kenntnisse wichtiger als die theologische Ausbildung. Auch Lai-
en übten das Amt aus, mussten sich aber dem Zölibat unterwerfen. Meist waren sie nur
wenige Jahre für die Inquisition tätig.
Neben den Inquisitoren, die über die Angeklagten richteten, gab es an den Tribuna-
len den Ankläger (procurador fiscal), der die Vorwürfe zusammenzutragen und zu un-
tersuchen hatte, sowie Fachleute für Kirchen- und Strafprozessrecht. Wichtig waren
auch die Schreiber, die die beschlagnahmten Güter des Angeklagten auflisteten und die
Aussagen protokollierten. Sie sorgten dafür, dass in den Archiven eine ungewöhnlich
dichte Überlieferung bewahrt wird. Die Inquisition finanzierte sich durch das konfis-
zierte Eigentum der Beschuldigten.
Das gesamte Verfahren vor den Inquisitionstribunalen unterlag der Geheimhaltung.
Insbesondere erfuhr der Angeklagte erst sehr spät, welches Delikt ihm vorgeworfen
wurde, und nie die Namen der gegen ihn aussagenden Zeugen. Die meisten Vorwürfe
beruhten nicht auf Ermittlungen der Inquisition, sondern auf Denunziationen. Wie da-
mals auch in normalen Strafverfahren üblich, setzte man die Folter ein, um Geständ-
nisse zu erlangen. Dies geschah jedoch viel seltener als landläufig vermutet, jedenfalls
nach Ende der harten Praxis der ersten Jahrzehnte.
Für die Urteilsfindung berieten sich die Inquisitoren mit einem Vertreter des Bi-
schofs und den Fachjuristen. Die Entscheidung musste einstimmig ausfallen. Freisprü-
che erfolgten sehr selten, es gab aber die Möglichkeit, das Verfahren zu suspendieren.
Schuldsprüche wurden in Autodafés verkündet. Die Strafen reichten vom Tragen eines
Büßerhemdes (sambenito) über Verbannung, Galeerendienst, körperliche Züchtigung
bis hin zur Todesstrafe, deren Vollzug aber staatlichen Autoritäten überlassen werden
musste. War der Angeklagte reuig, wurde er vor der Verbrennung mit der Garotte getö-
tet, sonst bei lebendigem Leib; bei Abwesenheit aufgrund von Flucht (oder Tod vor
Vollstreckung des Urteils) verbrannte man eine Puppe. Nachfahren von Verurteilten
durften keine öffentlichen Ämter bekleiden. Die Gesamtzahl der Todesurteile der In-
quisition ist unsicher, Schätzungen liegen zwischen 2.000 und 10.000 und damit erheb-
lich unter früheren Angaben.
132 Integralismo Lusitano
In den ersten Jahrzehnten konzentrierte sich die Inquisition auf die Verfolgung – an-
geblich oder tatsächlich – judaisierender Conversos. Sie ging dabei mit großer Brutali-
tät vor. Der Großteil der von der Inquisition bis zu ihrer definitiven Abschaffung 1834
verhängten Todesurteile fällt in diese Zeit. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
wandte sich die Inquisition gegen Lutheraner. Als auch diese Ketzerei weitgehend aus-
gelöscht war, traf es die Moriscos (konvertierte Muslime) oder deren Nachfahren. 1609
wurden sie des Landes verwiesen. Den weitaus höchsten Anteil unter den Angeklagten
der Inquisition stellten nun aber christliche Spanier, denen Verstöße gegen religiöse
Vorschriften oder (zahlenmäßig noch bedeutsamer) gegen Moral und Sitten vorgewor-
fen wurden. Alleine die Fälle von Bigamie waren mit 5 Prozent zwischen 1540 und
1614 ebenso häufig vertreten wie die des Judaisierens. Auch die Zensur von Drucker-
zeugnissen war nun ein wichtiges Betätigungsfeld der Inquisition. Angebliche Hexerei
hingegen wurde in Spanien kaum verfolgt. Im 18. Jahrhundert standen erneut Fälle
von Judaisieren sowie die Ideen der → Aufklärung im Fokus der Inquisition, die aber
zunehmend an Bedeutung verlor.
Bernd Rother
Literatur
Henry Kamen, The Spanish Inquisition. A Historical Revision, London 1997.
Benzion Netanyahu, The Origins of the Inquisition in 15th Century Spain, New York 2001.
Helen Rawlings, The Spanish Inquisition, Malden 2006.
Integralismo Lusitano
Nach der Ausrufung der Republik im Jahre 1910 forderte das reaktionäre Portugal aus
enttäuschten Monarchisten, Großgrundbesitzern, dem städtischen Bürgertum und Ver-
tretern der gewaltbereiten nationalen Rechten einen totalitären Ständestaat. Diese Krei-
se beriefen sich auf die „gottgewollte“ Wiedergeburt und Re-Portugalisierung des Lan-
des, in dem Juden, Freimaurer und Fremde keinen Platz haben sollten. Für sie beruhte
Portugals Größe ausschließlich auf der Reinheit der Rasse, sein Niedergang wäre allein
dem schändlichen Treiben der Fremden, vor allem aber den verhassten Juden und Frei-
maurern geschuldet.
Die Mehrzahl der Protagonisten der 1916 als „Integralismo Lusitano“ gegründeten
antiliberalen, monarchistischen, klerikalen, faschistischen Bewegung wollten jedoch
Portugal politisch nicht regenerieren. Es waren sentimentale Träumer, enttäuschte
Schriftsteller, eklektische Nachfahren romantischer und symbolistischer Dichtung, die
das „sangue espiritual da Raça“ [„geistiges Blut der Rasse“] feierten und den Kult der
Klassiker und den Mythos nationaler Größe pflegten. Sie flüchteten sich aus einer als
erniedrigend empfundenen Gegenwart in eine idealisierte Vergangenheit. Sie kämpften
mit Unterstützung der katholischen Kampftruppe „Centro católico“, der reaktionären
Führungselite und der Antisemiten für ein neues Staatsbild, das sich aus einem an die
zeitgenössischen sozialen Gegebenheiten angepassten mittelalterlichen Feudalismus
Islamisierter Antisemitismus 133
ableitete. In diesem Staat hatten die Juden wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich
keinen Platz.
Ihr Chefideologe und Vertreter eines „rassischen Nationalismus“ war der Schriftstel-
ler António Sardinha (1887-1925), der mit seinen (zeitweiligen) Mitstreitern Hipólito
Raposo, Afonso Lopes Vieira, Mário Sáa und Alberto Monsaraz einer traditionellen
und organischen sowie anti-parlamentarischen Monarchie erfolgreich das Wort redete.
Die Integralisten propagierten den „Kampf der Rassen“ (a luta das raças) und forderten
die Einrichtung eines „germanischen Rassegerichtshofs“ (Instituto genealógico e antro-
pológico). Sie kämpften für die Wiedereinführung der christlichen Monarchie, für die
Gleichsetzung von Rasse und Nation und für die Fortsetzung der „ethnisch-hygieni-
schen Säuberung“ der Inquisition. Sie beriefen sich auf den Sozialdarwinismus und die
französischen Antisemiten. Ihr Kampf galt nicht nur den kosmopolitischen Juden, die
sie als „angebliche Portugiesen“ (fingidos portugueses), Drogendealer und betrügeri-
sche Bankiers verleumdeten, sondern den „schweinischen Negern“ (porca infecção ni-
geroista) und den „Fremden“, die Portugal seit den „glorreichen Zeiten der Entdeckun-
gen“ zu überschwemmen drohten. Sie bekämpften die Aufklärung und denunzierten
die unter französischem Einfluss stehenden portugiesischen Intellektuellen als „vater-
landslose Snobs“. Für einen Integralisten wie Alfredo Pimenta (1882-1951) jedoch
zählte nur die Größe Portugals. Für ihn war alles wahr, was die Größe Portugals be-
wies, und alles Lüge, was sie verkleinerte.
Zu keinem Zeitpunkt erreichten die Integralisten die Organisationsstruktur und den
Einfluss der von ihnen bewunderten „Action Française“. Viele ihrer Ideen sind wenig
später erfolgreich in die Ständestaatsideologie des Diktators António de Oliveira Sala-
zar eingegangen und sind bis heute unter den Monarchisten und der reaktionären Rech-
ten populär.
Michael Studemund-Halévy
Literatur
Manuel Braga da Cruz, O Integralismo lusitano nas origens do Salazarismo, in: Análise So-
cial XVIII, 70 (1982), S. 143-147.
Irene Flunser Pimentel, Anti-Semitismo, Dicionário do Judaísmo Português, Barcarena
2009, S. 54-56.
Fernando Rosas, Vom Ständestaat zur Demokratie: Portugal im Zwanzigsten Jahrhundert,
München 1997.
Islamisierter Antisemitismus
Der Terminus „islamisierter Antisemitismus“ bezeichnet in islamisch geprägten Gesell-
schaften verbreitete Formen des modernen Antisemitismus, die im Zusammenhang mit
dem Palästinakonflikt unter Hinzuziehung islamischer Quellen (insbesondere Koran
und Hadith) einer umfassenden Islamisierung unterzogen wurden.
134 Islamisierter Antisemitismus
Der Begriff wendet sich explizit gegen das Konstrukt eines muslimischen oder isla-
mischen Antisemitismus, das seit dem Jahr 2002 in der öffentlichen Diskussion u.a.
vom Historiker Robert Wistrich, dem Orientalisten Hans-Peter Raddatz und dem Publi-
zisten Andrew G. Bostom behauptet wird. Diese gehen davon aus, dass es in der wech-
selvollen islamischen Geschichte einen durchgehenden und zum Teil militanten Anti-
semitismus gegeben habe. Der heute in islamischen Gesellschaften vorzufindende isla-
mische Antisemitismus sei daher als ein eigenständiges Phänomen zu betrachten, dass
in allen wichtigen Aspekten auf den Islam verweise. Dieser Auffassung kann in termi-
nologischer, historischer und strukturaler Hinsicht widersprochen werden.
Terminologie
Der Begriff Antisemitismus bezeichnet nach Helen Fein „eine anhaltende latente Struk-
tur feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei Individuen
als Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie Einbildung und in
Handlungen manifestieren (…), die dazu führen und/oder darauf abzielen, Juden als
Juden zu entfernen, zu verdrängen oder zu zerstören“. In der wissenschaftlichen For-
schung werden durchweg mehrere Phasen von Judenfeindschaft unterschieden. So dif-
ferenziert Wolfgang Benz zwischen christlichem → Antijudaismus, rassistischem Anti-
semitismus, → sekundärem Antisemitismus und israelbezogenem Antisemitismus. Der
Begriff Antisemitismus, eine Wortschöpfung von Wilhelm Marr (1879), verweist auf
eine moderne und rassistisch begründete Form der Judenfeindschaft, die in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Die Behauptung eines islamischen Antisemitis-
mus ignoriert die Entstehungsgeschichte des modernen Antisemitismus, entkleidet den
Begriff seines historischen und regionalen Kontextes und dehnt diesen ohne weitere
Differenzierungen auf alle Epochen der islamischen Geschichte aus.
Historische Gründe
In den vormodernen islamischen Gesellschaften existierte kein Antisemitismus, der der
angeführten Definition von Helen Fein entsprochen hätte. Die Stellung von Juden,
Christen und der anderen anerkannten Religionen war durch das Rechtsinstitut der
Dhimma hierarchisch geregelt, das den Dhimmis im gesellschaftlichen Gefüge die un-
teren Ränge zuwies. Die Juden waren somit marginalisiert, jedoch als Gruppe mit eige-
nen Rechten und Pflichten anerkannt. Die Dhimma und die damit einhergehenden gra-
vierenden Diskriminierungen (Kopfsteuer, Waffenverbot, Bekleidungsvorschriften),
die die Ahl al-Kitab (Leute des Buchs) zu erleiden hatten, wurden in den verschiedenen
Epochen islamischer Geschichte unterschiedlich streng gehandhabt. Es gab Phasen re-
lativer Toleranz, aber auch brutale Verfolgungen. Festzuhalten ist jedoch, dass die
Dhimma kein exklusiv antijüdisches Rechtsinstitut war, sondern alle anerkannten
nichtislamischen Bekenntnisse umfasste.
Der heute in islamisch geprägten Gesellschaften vorzufindende Antisemitismus, in
dessen Zentrum das Bild des nach der Weltherrschaft strebenden jüdischen Verschwö-
rers steht, ist von seinem Ursprung her ein europäisches Phänomen, das sich in drei
Phasen ausbreiten konnte.
Die erste Phase begann mit der Expansion des Osmanischen Reiches nach Europa,
in deren Verlauf griechisch-orthodoxe Christen unter islamische Herrschaft gerieten,
über die osmanische Behörden erstmals mit antijüdischen Stereotypen in Berührung
Islamisierter Antisemitismus 135
kamen. Ein herausragendes Ereignis ist in diesem Kontext die Damaskusaffäre des Jah-
res 1840, die erstmalig dazu führte, dass die osmanische Gerichtsbarkeit auf Grundlage
christlicher Anschuldigungen Juden als potentielle Ritualmörder verfolgte.
Den Beginn der zweiten Phase markiert die Revolution der Jungtürken 1908. Ihre
an europäischen Vorbildern orientierte Modernisierungspolitik führte dazu, dass der
bisher auf bestimmte christliche Bevölkerungsgruppen beschränkte Antisemitismus
sich auf Kreise der muslimischen Reformgegner ausdehnen konnte. Der als antiisla-
misch wahrgenommene Reformkurs wurde von Autoren, wie dem Journalisten Ebüzzi-
ya Tevfik, als das Werk jüdischer Konspirateure dargestellt. Bis in die 1920er Jahre
hinein blieb der Antisemitismus jedoch ein bedeutungsloses Randphänomen in der os-
manischen Gesellschaft.
Die dritte Phase beginnt mit dem Palästinakonflikt. Die wellenförmig verlaufende
Verbreitung antisemitischer Stereotype, zunächst im Kontext einer nationalistischen
(panarabischen) Propaganda, setzte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein. Die in
Artikeln, Büchern, Zeitschriften und Rundfunksendungen verbreiteten antisemitischen
Stereotype stammten größtenteils aus europäischen und amerikanischen Quellen. Von
herausragender Bedeutung waren die „Protokolle der Weisen von Zion“, die bereits im
Jahr 1926 ins Arabische übertragen worden waren und in großer Auflage seit den
1950er Jahren in der ganzen arabischen Welt verbreitet wurden. Nach dem Sechs-Ta-
ge-Krieg von 1967 wurde die panarabisch-nationalistische Ideologie sukzessive von ei-
ner islamistisch geprägten Weltsicht verdrängt. Ab den 1970er Jahren ist eine systema-
tische und massenwirksame Islamisierung der antijüdischen Feindbilder zu beobach-
ten, die heute die Programmatik zahlreicher islamistischer Organisationen prägt.
Grundlage hierfür war unter anderem die Schrift „Unser Kampf mit den Juden“, die
der Ägypter Sayyid Qutb in den 1950er Jahren verfasste. Qutb synthetisierte in dieser
Schrift die antijüdischen und antisemitischen Stereotype aus islamischen und europä-
ischen Quellen zu einer griffigen Version eines islamistischen Antisemitismus.
Ein weiteres Merkmal des modernen Antisemitismus ist nach Holz die „Figur des
Dritten“ als Element einer dreigliedrigen Struktur, in deren Zentrum die „Wir-Gruppe“
steht. Im antisemitischen Weltverständnis sind „Wir-Gruppen“ immer partikulare
Gruppen. Konzipiert werden sie in aller Regel als Volk bzw. Nation (Deutsche, Franzo-
sen), Rasse (Arier, Slawen) oder Religionsgemeinschaft (Muslime, Christen). Diese
„Wir-Gruppen“ sind stets binär geordnet. Dem deutschen Volk steht so das französi-
sche gegenüber, den Muslimen sind die Christen entgegengesetzt, usw. Durch dieses
Grundmuster kann zwischen innen und außen und zwischen Eigenem und Fremden
unterschieden werden. Im modernen Antisemitismus kommt nun ein Drittes hinzu, das
die Geschlossenheit der binären Struktur durchbricht: Die Juden erscheinen nicht in
gleicher Weise wie die Deutschen oder die Christen als Volk bzw. als Religionsgemein-
schaft, sondern als Inhaber einer unfassbaren, destruktiven, unendlich einflussreichen,
international verzweigten Macht, die nach der Weltherrschaft strebt und die Unter-
schiede zwischen allen Völkern, Rassen und Religionen auflösen will. Die „Figur des
Dritten“ wird auch im islamistischen Antisemitismus verwandt, um die Illegitimität Is-
raels zu beweisen. In der einschlägigen Propaganda tauchen Israel und die Israelis nie
als legitime „Wir-Gruppe“ auf. Das deutschsprachige Internetportal muslim-markt bei-
spielweise spricht auf seiner Homepage stets vom „Pseudostaat Israel“ oder vom „zio-
nistischen Gebilde“, das über keine klaren Grenzen und kein klar bestimmbares Staats-
volk verfügt. Ähnlich argumentierte auch das iranische Staatsoberhaupt, Ayatollah
Khomeini (Khamene’i), in einer Rede, die er anlässlich der internationalen Konferenz
zur Intifada der Palästinenser am 24. April 2001 in Teheran hielt. Darin stellt er die
Behauptung auf, dass man „eine große Zahl nicht-jüdischer Randalierer und Strolche
aus Osteuropa dazu gezwungen habe, nach Palästina zu emigrieren“. Auf diese Art
und Weise wird Israel zu einem „Pseudostaat“ stilisiert, der gänzlich durch Täuschung
und Fälschung zustande gekommen sei.
Michael Kiefer
Literatur
Wolfgang Benz, Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
Andrew G. Bostom, The Legacy of Islamic Antisemitism. From Sacres Texts to Solemn Hi-
story, New York 2008.
Helen Fein, The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Mo-
dern Antisemitism, New York 1987.
Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg
2001.
Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus, Hamburg 2005.
Mīṯāq al-ḥaraka al-muqāwama al-islāmīya. Ḥamās, in: aš-Šahīd Dr. ʿAbdallāh ʿAzzām, Ḥa-
mās. al-ǧuḏūr at-tārīḫīya wal-mīṯāq, Amman 1990.
Sayyid Quṭb, maʿrakatunā maʿa al-yahūd, Dschidda 1970. [Eine englische Teilübersetzung
in: Roland Nettler, Past Trials and Present Tribulations. A Muslim Fundamentalist's View
of the Jews, Oxford 1987].
Hans-Peter Raddatz, Allah und die Juden. Die islamische Renaissance des Antisemitismus,
Berlin 2007.
Robert Wistrich, Muslim Anti-Semitism: A Clear and Present Danger, New York 2002.
Islamismus 137
Islamismus
In der sehr kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskussion zum Themenfeld poli-
tischer Islam gibt es trotz langjähriger Bemühungen bislang keine allgemeingültige De-
finition des Begriffs Islamismus. Die gesellschaftlichen und politischen Phänomene,
die unter diesem Terminus subsumiert werden, sind ähnlich heterogen wie der Islam
selbst, der als Interpretationsreligion im jeweiligen regionalen und historischen Kon-
text zahlreiche Erscheinungsformen aufweist. Durchaus umstritten ist auch der Begriff
selbst. Manche halten ihn für ungeeignet, da der Begriff politischen Extremismus in
unzulässiger Weise mit dem Islam verbinde bzw. gleichsetze. In der wissenschaftlichen
Diskussion finden auch alternative Begriffskonzepte Verwendung. Zu nennen sind die
Termini „politischer Islam“, „islamischer Fundamentalismus“ und „Salafiya-Islam“.
Definition
Der Begriff Islamismus und die genannten Begriffskonzepte bezeichnen die umfassen-
de Ideologisierung des Islams. Diese konstruiert nach Mohammed Akroun den Islam
als die einzig wahre Religion, die dem ewigen Pakt Gottes mit den Menschen ent-
spricht. Der Islam enthalte das vollendete Recht für alle Gesellschaften und müsse zur
Regelung aller Angelegenheiten herangezogen werden. Dieser Grundsachverhalt findet
seinen Niederschlag in vier generellen Tendenzen:
Islam als alleiniges Orientierungssystem für alle privaten und gesellschaftlichen
Angelegenheiten
Es wird davon ausgegangen, dass der zur Ideologie transformierte Islam umfassende
Antworten auf Fragen des religiösen, privaten und gesellschaftlichen Lebens bereithält.
Dies bedeutet, dass der Islam zur Regelung aller politischen, juridischen, ethischen,
kulturellen und ökonomischen Angelegenheiten herangezogen werden muss.
Literalismus
Um Spaltungen und Schwächungen zu vermeiden, die in der Vergangenheit der Umma
(Gemeinschaft der Muslime) schweren Schaden zugefügt haben, müsse man wieder
zur ursprünglichen Botschaft des Korans zurückfinden. Dieser sei unantastbar und sola
scriptura zu lesen, da alle Aussagen bereits in einzigartiger Klarheit vorhanden wären.
Exklusivität
Die eigenen, aus der unmittelbaren Koranlektüre gewonnenen Prinzipien werden als
absolut und unhinterfragbar gesetzt. Eine Diskussion über die Prinzipien wird grund-
sätzlich abgelehnt. Positionen, die auf anderen religiösen Grundlagen beruhen – seien
es innerislamische oder außerislamische – sowie Positionen, die auf säkularen Weltan-
schauungen basieren, erzeugen Intoleranz und Ablehnung.
Antisemitismus
Ein weiteres, häufig vorzufindendes Merkmal islamistischer Ideologie ist eine ausge-
wiesene antisemitische Rhetorik und Weltsicht. Zentral ist hier die dem modernen An-
tisemitismus entnommene Figur des jüdischen Verschwörers, der mit Rückgriff auf
Narrative des Korans zum zentralen Widersacher der islamischen Umma erklärt wird
(→ Islamisierter Antisemitismus).
138 Islamismus
Entwicklung
Alle Formen des Islamismus sind in ihren zentralen Aspekten als ein Phänomen der
Moderne anzusehen. Die theoretischen Grundlagen eines modernen islamischen Dis-
kurses wurden bereits in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von Jamāl
ad-Dīn al Afġāni (1839-1897), Muhammad Abduh (1849-1905) und Rašīd Ridā
(1865-1935) gelegt. Gemeinsam war ihnen die Wahrnehmung, dass die kolonisierten
arabisch-islamischen Gesellschaften sich in einem überaus desolaten Zustand befan-
den. Verantwortlich hierfür war nach ihrer Analyse u.a. die gesellschaftliche Hegemo-
nie der überlieferten Orthodoxie, die seit Jahrhunderten wissenschaftlichen Fortschritt
und Modernität blockiere. Notwendig sei eine Neuauslegung der heiligen Texte, die
zeige, dass der Islam in der Moderne erfolgreich bestehen kann. Dieser Prozess wurde
jedoch nicht als ergebnisoffener Prozess gedacht. Vielmehr ging es darum, den „ur-
sprünglichen Islam“ zu erneuern, der zur Zeit der Prophetengefährten bestanden habe.
Die Reformbemühungen wurde bestimmt als ein panislamischer Diskurs um Authenti-
zität, der den Islam von allen Verunreinigungen zu befreien habe.
Bis in die 1920er Jahre hinein war der Diskurs der sogenannten Salafīya [ungefähr:
Anhänger der „Altvorderen“] ein Phänomen, das sich auf einen kleinen Kreis von
Rechtsgelehrten beschränkte. Zu einem massenwirksamen Diskurs wurde der
„Reformislam“ erst mit der von Ḥaṣṣan al Banna (1906-1949) im Jahr 1928 gegründe-
ten Muslimbrüderschaft, die als direkte Reaktion auf das Ende des Kalifats verstanden
werden kann, das Atatürk im Jahr 1924 herbeiführte. Die Muslimbrüderschaft vertrat
von Anfang an weitaus radikalere Positionen als die Akteure der Gelehrtendiskurse.
Die Muslimbruderschaft diskutierte nicht nur. Sie forderte mit einer präzisen und grif-
figen ausbuchstabierten Programmatik die Einführung einer umfassenden islamischen
Gesellschaftsordnung. Das ganze private und öffentliche Leben sollte sich ausschließ-
lich an islamischen Prinzipien orientieren.
Radikaler Islamismus
In den 1960er Jahren erscheint in den arabisch-islamischen Gesellschaften der radikale
Islamismus auf der politischen Bühne. Der wichtigste Theoretiker des radikalen Isla-
mismus ist der Ägypter Sayyid Qutb (1906-1966), der für eine revolutionäre Lesart des
Korans eintrat, die nach Gerda Bohmann direkt in das kollektive Handeln der „Brüder
im Glauben“ überführen sollte. Qutbs synthetisierte aus den von al-Banna formulierten
Zielen und der politischen Theorie Maudūdīs eine schlüssige revolutionäre Theorie, in
der die Souveränität Gottes absolut gesetzt war. Qutbs Koranverständnis konstatierte
eine direkte Verbindung zwischen Offenbarung und dem einzelnen Muslim. Dieser
müsse islamische Avantgarde sein, die sich auf die Zerstörung einer unislamischen,
korrupten und dekadenten Gesellschaft zu konzentrieren habe. Damit galt der Haupt-
kampf zunächst den „falschen Muslimen“. Doch Qutbs Feindbeschreibungen be-
schränkten sich nicht nur auf den inneren Feind – die falschen Muslime. Er war auch
der Wegbereiter eines neuen militanten Antisemitismus. In seinem Pamphlet „Unser
Kampf mit den Juden“, das in den 1950er Jahren erschien, verbindet er die antijüdi-
schen und antisemitischen Stereotype aus europäischen Quellen mit im Koran vorzu-
findenen judenfeindlichen Äußerungen zu einer griffigen und erfolgreichen Version ei-
Itzig 139
nes islamistischen Antisemitismus, der bis zum heutigen Tag als integraler Bestandteil
der islamistischen Ideologie zu betrachten ist.
Islamistische Bewegungen, die die genannten Merkmale aufweisen, gibt es heute in
allen islamisch geprägten Gesellschaften und in den westlichen Zuwanderungsgesell-
schaften, die über große muslimische Minderheiten verfügen. Die politischen und reli-
giösen Orientierungen und Zielsetzungen dieser Bewegungen sind vielfältig. In der
wissenschaftlichen Literatur wird zwischen den Hauptströmungen Klassischer Islamis-
mus und Jihadismus unterschieden. Zum klassischen Islamismus zählt z.B. die panara-
bische Muslimbruderschaft, die z.T. auf parlamentarischem Weg die Errichtung einer
islamischen Ordnung anstrebt. Weitaus gefährlicher sind international agierende jihadi-
stische Organisationen, deren terroristische Aktivitäten sich explizit auch gegen Juden
richten.
Michael Kiefer
Literatur
Mohammed Akroun, Pour une critique de la raison islamique, Paris 1984.
Gerda Bohmann, Radikaler Islamismus, in: Ulrich Wenzel, Bettina Bretzinger, Klaus Holz
(Hrsg.), Subjekte und Gesellschaft. Zur Konstitution von Sozialität, Weilerswist 2003, S.
323-342.
Gilles Keppel, Das Schwarzbuch des Dschihad, München 2002.
Olivier Roy, The Failure of the Political Islam, London 1994.
Itzig
„Itzig“ ist ein moderner jüdischer Familienname und männlicher Vorname, der seit An-
fang des 19. Jahrhunderts als Stigma und Waffe seinen festen Platz in der Geschichte
des Namensantisemitismus gefunden hat ( → Namens-Polemik). „Itzig“ ist ein Symbol
für „Jude“. Die etymologische Herleitung geht auf den hebräischen Namen Yitzchak
(er lacht) zurück. In den hebräischen, griechischen und lateinischen Bibelsprachen wird
er als Isaak tradiert – der Sohn Abrahams, einer der Stammväter des jüdischen Volkes.
Im Zeitalter der → Aufklärung und → Emanzipation nahmen die Familiennamen
der deutschen Juden feste Formen an. Staatliche Dekrete schrieben das vor. Schon vor-
her hatten vereinzelt privilegierte Stadtjuden die jüdische Tradition aufgebrochen und
ihren Söhnen beim Ritual der Beschneidung einen alten hebräischen Namen übertra-
gen, der in eine zeitgemäße, deutsche Form gepresst wurde. Aus Yitzchak wurde Itzig.
Ein klassisches Beispiel für diese Transformation ist Daniel Itzig (1723-1799), „Münz-
jude“ und „Hofbankier“ Friedrich des Großen, der Ahnherr einer angesehenen, weit
verzweigten Familie. Mit seinem Übertritt zum Christentum beflügelte er seine Nach-
fahren, sich mit einem Taufschein auf den schnellen Weg in die Assimilation zu ma-
chen. Rassenfanatiker lehnten später diese traditionelle Lösung der → „Judenfrage“
ab. Sie bestanden auf dem Grundsatz „Itzig bleibt Itzig!“ – „Jud bleibt Jud!“, in ande-
ren Variationen, „Jüd bleibt Jüd!“ – „Jid bleibt Jid!“ Solche Assoziationen und Aus-
sprüche haben sich im Bewusstsein von Juden und Nichtjuden eingeprägt. Antisemiten
gefiel es, mit diesen Namen Juden anzusprechen und anzugreifen.
Anfang des 19. Jahrhunderts führten staatliche Namensvorschriften zur schnellen
Verbreitung des Familiennamens. So wie andere „typisch“ jüdische Namen (Cohn, Isi-
140 Itzig
dor, Moses) bot er sich als Symbol für die Namensstigmatisierung an. Die antisemiti-
schen Stereotype erlebten ihre Blütezeit in den Anfangsjahren der nationalsozialisti-
schen Herrschaft, vor allem in den Hetzkampagnen des „Stürmers“. Itzig-Typen gehör-
ten zum Repertoire des → literarischen und publizistischen Antisemitismus. Wilhelm
Raabe stellte 1827 einen Itzig Freudenthal vor. Gustav Freytag entwarf in seinem Er-
folgsroman „Soll und Haben“ (1855) das Portrait des Veitel Itzig, das klassische Feind-
bild des habgierigen und rücksichtslosen jüdischen Geschäftmannes. Der Agitator
Christian Ernst baute in seine Schmähschrift „Der Mauschel-Christ“ (1880) ein Pam-
phlet über den „Mauschel-Itzig“ ein. Die Symbolfigur hat Auschwitz überlebt. In Ed-
gar Hilsenraths provozierendem und groteskem Buch „Der Nazi & der Friseur“ (1977)
heißen - nach einem Identitätswechsel - beide Protagonisten Itzig Finkelstein.
Der Name Itzig bot Anlass zu alltäglichen Spötteleien und Beleidigungen, die in
den deutschen Mundarten ihre besondere Artikulierung erfuhren. Sie lassen sich in ei-
ner Vielzahl von Spottliedern und –Versen, Schimpfworten und Schüttelreimen, Wit-
zen und Karikaturen nachweisen. Parodierende Töne klangen in den Aussprüchen an:
„Itzig–witzig“ oder „Itzig–spritzig“. In den vulgären, rassistischen Versionen lauteten
sie „Jude Itzig – Nase spitzig – Beine heckig – Augen eckig – Arschloch dreckig“.
Itzig reimte sich mit geizig. Zur Fastnachtszeit sammelten Kinder mit ihren Tüten Sü-
ßigkeiten and andere kleine Geschenke. In Südbaden riefen sie:
„Geizig, geizig, geizig, geizig!
Und willst du nicht mein Itzig sein,
gibst du mir was in die Tüte rein.“
Heiterkeit und Genugtuung lösten nach der NS-Machtübernahme Fastnachtsumzüge
aus, auf denen die Narren ihren Judenhass zur Schau stellten, als verkleidete Juden, mit
Parolen und Karikaturen. Im Februar 1938 marschierte in Singen eine Kolonne mit lan-
gen Judennasen aus Papier, Judenhüten und einem Koffer in der Hand, hinter dem
Banner „Auszug der Itzigs ins gelobte Land!“ Zum Alltag der frühen öffentlichen Dif-
famierung und Drohung gehörte die bekannte Parole auf Schaufenstern, Häuserwänden
und anderen öffentlichen Plätzen „Jude verrecke!“ Im März 1933 konnte man auf ei-
nem Bürgersteig in Göttingen lesen „Itzig verrecke!“ Jüdische Kinder wurden wieder-
holt von Gleichaltrigen beleidigt und tätlich angegriffen – in Schulen, auf Straßen und
Spielplätzen. Überlebende haben einen Spruch nicht vergessen, der oft mit bedrohli-
chen Gesten und vielen Stimmen verkündet wurde:
„Itzig, Itzig, Itzig! Mach dich nicht zu wichtig!
Jude, Jude fein, du bist ein altes Schwein!“
1936 erschien im Stürmer-Verlag ein „buntes Bilderbuch für Groß und Klein“ mit
dem Titel „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid“, ein
Meisterwerk antisemitischer Rhetorik and Graphik, das von der 18-jährigen Kunststu-
dentin Elvira Fuchs verfasst worden war. Die Auflagenhöhe überstieg 100.000. Unter
der Kapitelüberschrift „Jud bleibt Jud“ erfolgte der rassistische Angriff auf den Itzig
und seinen Versuch, sich hinter der Taufe zu verbergen.
„Der Jude Itzig denkt bei sich,
Ich hab’s, ich lasse taufen mich.
J-Stempel 141
J-Stempel
Der J-Stempel war ein in den Reisepässen „nichtarischer“ deutscher und ehemals öster-
reichischer Staatsbürger eingetragener Sichtvermerk, der auf Anregung der Schweiz
und auch Schwedens mit deutschem Runderlass vom 11. Oktober 1938 eingeführt wur-
de. Er gestattete den Grenzbeamten des Einreiselands, die „problematischen“ Reisen-
den zu erkennen und die Ausreise aus dem deutschen Rechtsbereich (inkl. Österreich)
nur zu gestatten, wenn bestimmte Bedingungen (insbesondere Weiterreisemöglichkei-
ten und Mittel für die Lebenskosten) vorhanden waren. Die Maßnahme wurde noch zu
einem Zeitpunkt eingeführt, da die Verfolgungspolitik des NS-Regimes vor allem Ver-
treibungspolitik war und das NS-Regime unter bestimmten Bedingungen an der Aus-
reise von Juden interessiert war. Die deutschen Behörden entsprachen aber den Wün-
142 J-Stempel
schen von Nachbarstaaten, um zu vermeiden, dass ein genereller Visumzwang für alle
Deutsche eingeführt würde, wie dies für den Verweigerungsfall angedroht wurde und
was eine unerwünschte Kettenreaktion hätte auslösen können.
Was nachträglich beinahe als Geheimaktion unter Polizeibeamten angesehen wurde,
war in der Zeit selbst eine durchaus bekannte Maßnahme. Im Herbst 1938 befasste sich
das „Israelitische Wochenblatt“ mehrmals mit der Neuregelung, auch der „Schweizeri-
sche Israelitische Gemeindebund“. Der sozialdemokratische Nationalrat und Bieler
Stadtpräsident Guido Müller kritisierte die Maßnahme im Parlament am 7. Dezember
1938 öffentlich: „Es wird vielleicht nicht mehr allzu lange dauern, bis man ihnen diese
Kennzeichnung auf den Leib brennt. Bereits ist die Rede, die Opfer des nazistischen
Rassenirrsinns zum mindesten durch einen gelben Fleck im Gesicht zu zeichnen und
so der Missachtung preiszugeben.“ Andererseits wurden die schweizerischen Sonder-
bedingungen für deutsche „Nichtarier“ selbst von Nationalrat Walther Bringolf aus-
drücklich gebilligt, als sie am 8. Mai 1939 in der Geschäftsprüfungskommission zur
Sprache kamen. Der in konkreten Notlagen für Flüchtlinge engagiert einstehende So-
zialdemokrat wies den Vorwurf zurück, die Eidgenössische Fremdenpolizei sei antise-
mitisch eingestellt. Bringolf bediente sich der, später auch von Bundesrat Eduard von
Steiger für seine Abwehrpolitik beanspruchten Denkfigur vom Konflikt zwischen
Pflicht und Herz und zwischen Landesinteresse und Menschlichkeit.
Die Einführung des J-Stempels wirft verschiedene Fragen auf: Wie viele Juden
konnten sich wegen dieser Maßnahme nicht ins Ausland retten? Wie hat sich diese
Maßnahme in andere antijüdische Zeichnungen eingereiht? Wie war die Verwendung
des „J“ im innerschweizerischen Gebrauch? Wie wurde die Maßnahme in der Ge-
schichtsschreibung beurteilt?
Die erste Frage muss gestellt werden, damit die Tragweite der Maßnahme wenig-
stens grundsätzlich erfasst wird, sie ist aber nicht beantwortbar. Es muss zwischen zwei
Wirkungen unterschieden werden, die beide die gleichen finalen Konsequenzen haben
konnten: Die Rückweisung an der Grenze durch das potenzielle Einwanderungsland
sowie in Anbetracht der erschwerenden Maßnahme der Verzicht darauf, den Auswan-
derungsversuch überhaupt zu unternehmen.
Die zweite Frage muss dahingehend beantwortet werden, dass der J-Stempel nur be-
dingt „erfunden“ wurde, weil es die im Praktischen nahe liegende Methode, auf amtli-
chen Papieren Juden mit einem „J“ leicht sichtbar zu machen, einfach gab. Dem äuße-
ren Zeichen ging selbstverständlich auf deutscher, aber auch auf schweizerischer Seite
die innere Kategorisierung in der Köpfen voraus mit der als relevant akzeptierten Un-
terscheidung von „Ariern“ und „Nichtariern“. Hingegen dürfte die Wegbereitungs-
these, die der Schweiz „das schreckliche Verdienst“ zuschrieb, den Nationalsozialisten
den Weg zu dieser amtlichen Kennzeichnung der Juden gebahnt zu haben, nicht zutref-
fen. Die Haltung der Schweiz könnte den im Dritten Reich systemimmanenten Diskri-
minierungsprozess etwas animiert haben, zumal die bilaterale Vereinbarung vom 29.
September 1938 gemäß schweizerischem Wunsch die Einführung der neuen Kenn-
zeichnung „möglichst beschleunigt“ vorsah, während die am 17. August 1938 grund-
sätzlich beschlossene Einführung inländischer Kennkarten und der zusätzlichen Vorna-
men (Israel und Sara) erst auf den kommenden Jahreswechsel vorgesehen war.
J-Stempel 143
Zur dritten Frage muss festgehalten werden, dass es dieses handschriftlich oder, was
von einem massenweisen Gebrauch zeugt, auch mit Stempel angebrachte Zeichen „J“
auf schweizerischen Formularen für Aufenthaltsanträge und Einbürgerungsgesuche be-
reits vor Oktober 1938 vereinzelt gab ( → Einbürgerungsantisemitismus). Der älteste
Beleg stammt aus dem Jahr 1916, eine Häufung ist für 1937 festzustellen. Die auf ein
Symbol reduzierte Kennzeichnung brachte nach der begrifflichen Kategorisierung eine
zusätzliche Diskriminierungsqualität: auf einen Blick wurde falsche Klarheit geschaf-
fen. Bemerkenswert ist, dass die Schweiz mit der Vereinbarung vom September 1938
grundsätzlich der Reziprozitätsklausel (J-Stempel auch in Schweizer Pässe) zustimmte
und damit die Bereitschaft zum Ausdruck brachte, die eigenen jüdischen Bürger der
Diskriminierung auszusetzen.
Die vierte Frage hat darum Gewicht bekommen, weil die Wieder-„Entdeckung“ des
J-Stempels in der Nachkriegszeit 1954 dazu führte, dass die Schweiz doch noch einen
umfassenden Bericht über ihre Flüchtlingspolitik der Jahre 1933-1945 in Auftrag gab;
1945 war ein entsprechendes Projekt unterdrückt worden. 1997 nahmen im Kontext
der Auseinandersetzung um die nachrichtenlosen Konten von Holocaust-Opfern und
um die schweizerischen Käufe von „Nazigold“ „gutbürgerliche“ Kreise eine für die Sa-
che nicht relevante Fehlinterpretation von 1954 zum Anlass, um sämtliche Mitverant-
wortung der Schweiz für die Einführung des J-Stempels zu bestreiten. Noch 2007 wur-
de die Mär von der „Geschichtsfälschung“ weiter kolportiert. Den anhaltenden Revisi-
onsversuchen ist aber entgegenzuhalten, dass der J-Stempel im historischen Bewusst-
sein umso stärker hervortrat, je stärker man ihn zum Verschwinden bringen wollte.
Der J-Stempel ist zu einem bekannten ikonographischen Symbol geworden, das
auch in vielen Schulbüchern zur Visualisierung der antisemitischen Politik verwendet
wird. Ruft man bei Bildagenturen ein Foto eines derartigen Dokuments auf, erhält man
in der Regel keinen Pass für den internationalen Verkehr, sondern eine Kennkarte für
den innerdeutschen Gebrauch. Seit 1960 zirkuliert auf diese Weise die am 21. März
1939 in Köln ausgestellte Karte von Edith „Sara“ Braun, Jahrgang 1922.
Die mit „J“ gestempelten Pässe haben heute den Status wertvoller und in Ausstel-
lungsvitrinen gezeigter Zeitdokumente. Ein Teil wurde von den überlebenden Inhabern
ihren Nachkommen weitergegeben. Einzelne Exemplare gelangten ausnahmsweise in
jüdischen Wohltätigkeitsbazaren in den weiteren Umlauf und wurden von Museen auf-
gekauft, eine größere Zahl liegt im Schweizerischen Bundesarchiv in den Beständen
des Justiz- und Polizeidepartements, das die Pässe einzog und austauschte, nachdem
deren Inhaber als deutsche Juden im Ausland durch die Verordnung vom 25. Novem-
ber 1941 staatenlos wurden und ein anderes Dokument erhielten.
Georg Kreis
Literatur
Max Keller, 1938-1945-1995-1997-1998. Das Ende der J-Stempel-Saga. Fallbeispiel von
Geschichtsprägung durch Medienmacht, Bern 1999.
Georg Kreis, Die Rückkehr des J-Stempels. Zur Geschichte einer schwierigen Vergangen-
heitsbewältigung, Zürich 2000.
Georg Kreis, Der Pass mit dem Judenstempel. Eine Familiengeschichte in einem Stück Welt-
geschichte 1925-1975, München 2001.
144 Judaslohn
Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, Bern 1957
(Neuauflage 1997).
Jid → Itzig
Jidden → Itzig
Jiddisch → Ostjuden
Jihadismus → Islamismus
Jud → Itzig
Judäo-Kommune → Żydokomuna
Judaslohn
Judaslohn hat zwei Bedeutungen, die jeweils an Elemente aus den neutestamentlichen
Erzählungen anknüpfen: einerseits an das Ende des Judas, die Strafe für den Verrat
(Selbstmord: Matthäus 27,5; schreckliches Ende: Apostelgeschichte 1,18-19), anderer-
seits an den Lohn für den Verrat, die 30 Silberlinge (Matthäus 26,15; vgl. Lukas 22,5).
Judaslohn kann demnach metaphorisch für die Folge einer Tat stehen, wobei das Spek-
trum von Reue bis zur Höllenstrafe reicht, oder für den Lohn eines Vergehens, insbe-
sondere des Verrats. Judaslohn hat in anderen europäischen Sprachen keine Entspre-
chung, d.h. der Name des Judas wird für das Gemeinte nicht genannt. Andere Sprachen
orientieren sich am Begriff „Blutgeld“ (Matthäus 27,6).
Wahrscheinlich ist Judaslohn zusammengezogen aus der Übersetzung von pretium
proditionis Judae [Lohn für den Verrat des Judas]. In einem der wohl ältesten deutsch-
sprachigen Zeugnisse für Judaslohn, im Prosa Lancelot um 1250, wird der Lohn des
Judas, sein schrecklicher Tod, einem Verräter angewünscht. Die ikonographische Ver-
bindung von Kreuzigung Jesu und Erhängung des Judas trug zu diesem Bedeutungs-
inhalt bei.
Der zweite metaphorische Gebrauch des Begriffs Judaslohn ist offensichtlich jünger.
Er findet sich etwa in frühneuzeitlichen Predigten, wobei beide Bedeutungen kombi-
niert werden, d.h. der Lohn für ein Vergehen ist der Tod des Judas. Dieses Motiv wurde
wiederum durch die ikonographische Typisierung des Judas, dessen Symbol der Geld-
beutel war, getragen. Dass der Judaslohn früh mit Juden konnotativ verbunden war,
legen Passionsgebete nahe, die die 30 Silberlinge zu den Marterwerkzeugen zählen,
wobei die Juden als die Kreuzigenden dargestellt wurden. Ein Hinweis dürfte die Son-
dersteuer für die römischen Osterspiele im 14. Jahrhundert sein, die unter Nennung des
Judaslohns auf eine Summe von X + 30 festgelegt wurde.
Vermehrt begegnet der Begriff außerhalb religiöser Kontexte ab dem späten 18., frü-
hen 19. Jahrhundert (Schiller, Wallenstein: Und schickte gern mit einer Handvoll Geld
/Uns heim in unsre Wälder. Nein! Wir haben/ Um Judas’ Lohn, um klingend Gold und
Silber,/ Den König auf der Walstatt nicht gelassen!). Die Rezeption in der politischen
Polemik operiert mit dem Instrument des Verdachts und benützt antisemitische Kli-
schees, wie etwa das der jüdischen Presse. Die Dreyfus-Affäre, die das Thema „Judas
und Verrat“ vollends antisemitisch instrumentalisiert, konnotiert auch Judaslohn in
Judendorf 145
gleicher Weise. Dieser Sprachgebrauch hat sich gegenwärtig im Jargon der Neonazis
erhalten.
Rainer Kampling
Literatur
Mirjam Kübler, Judas Iskariot: das abendländische Judasbild und seine antisemitische Instru-
mentalisierung im Nationalsozialismus, Waltrop 2007.
Hyam Maccoby, Judas Iscariot and the myth of Jewish evil, London 1992.
Lucia Travaini (Hrsg.), Valori e disvalori simbolici delle monete. I trenta denari di Giuda,
Rom 2009.
Judendorf
Bis zum Spätmittelalter waren die meisten Juden im deutschen Sprachraum in städti-
schen Gemeinden ansässig. Erst seit dem 16. Jahrhundert lebte die jüdische Bevölke-
rung mehrheitlich auf dem Lande, vor allem in Süd- und Westdeutschland. Eine Ursa-
che – wenngleich nicht die einzige – für diesen komplexen Migrationsprozess waren
die Vertreibungen aus den Städten. Viele Juden lebten zunächst verstreut auf dem
Land. Allmählich konzentrierte sich das jüdische Leben an einzelnen Orten, die sich
häufig in den Gebieten kleiner und kleinster Territorialherren befanden. Um 1900 be-
standen allein in Hessen, Franken, der Pfalz und Baden in mehreren hundert Dörfern
und Kleinstädten Synagogengemeinden. Christen und Juden bezeichneten solche Orte
zuweilen als „Judendörfer“. Der Terminus erschien 1969 im Titel der ersten grundle-
genden Studie zum Thema. Ihr Autor, der Ethnologe Utz Jeggle, wies allerdings auf
die mangelnde Präzision des Begriffes hin. In vielen der Gemeinden machte der Anteil
der Juden bis zu einem Drittel aus, in zwei Orten, Gailingen (Baden) und Rhina (Hes-
sen), zeitweise sogar über die Hälfte. Anders als die Bezeichnung nahelegt, handelte es
sich also stets um gemischt-konfessionelle Orte.
In diesen Ortschaften entwickelte sich zwischen den 1860er Jahren und 1933 ein für
Deutschland einmaliges Mit- und Nebeneinander von Juden und Nichtjuden. Antijüdi-
sche Angriffe, die ländliche Regionen vor und während der Emanzipationszeit immer
wieder erschüttert hatten, kamen nun seltener vor. Aus dem religiösen Zusammenleben
erwuchsen kaum Konflikte. Allerdings schlossen Angehörige der beiden Gruppen
kaum Ehen miteinander. Neben der engen wohnräumlichen Nachbarschaft war vor al-
lem das Vereinsleben ein Forum der Begegnung; zur Integration der männlichen Dorf-
bevölkerung jeglicher Konfession trugen besonders die Kriegervereine bei. Gemein-
sam bestimmten Christen und Juden seit der im 19. Jahrhundert erfolgten Gleichstel-
lung auch die Kommunalpolitik. In den Dörfern des Kaiserreichs bestand dabei aller-
dings nur in beschränktem Maße eine demokratische Öffentlichkeit. In den Rathäusern
gaben christliche und jüdische Honoratioren bzw. Angehörige der Oberschicht (alle-
samt männliche Dorfbewohner) den Ton an.
Mit der Zugehörigkeit zur jeweiligen Konfessionsgruppe war in der Regel eine be-
stimmte ökonomische Lebensform verbunden. Juden war in voremanzipatorischer Zeit
der Landerwerb verwehrt gewesen. Auch nach Aufhebung entsprechender Verbote
blieben sie mehrheitlich Händler. Christliche Landbewohner betätigten sich meist in
der Landwirtschaft oder als Handwerker. Der Viehhandel verband beide Gruppen –
146 Judendorf
und trennte sie in mentaler Hinsicht zusätzlich zur religiösen Differenz. Die erschöp-
fende Tätigkeit der Viehhändler, die häufig ein größeres Kundengebiet bereisten, galt
in der bäuerlichen Bevölkerung nicht als Arbeit, der Handel als überflüssig. Anderer-
seits begriffen die Landwirte sehr wohl, dass Hinweise, Kredite und Lieferungen der
Händler ihr Leben erleichtern konnten. Die Händler nahmen in Kauf, dass viele Bauern
nicht oder nur teilweise zahlungsfähig waren. Im 19. Jahrhundert war deshalb häufig
die „Viehverstellung“ Usus: Der Händler lieh dem Bauern ein Tier. Die bäuerliche Fa-
milie fütterte es und nutzte seine Leistung; es blieb aber im Besitz des Händlers, der
auch am Verkaufserlös beteiligt war.
Während der schweren Agrarkrise ab Ende der 1870er Jahre erfuhr der Zusammen-
hang zwischen Kapital und Landwirtschaft eine negative ideologische Aufladung. Eine
Kampagne gegen den Wucher erschütterte das Deutsche Reich. Einer ihrer Wortführer,
Otto Böckel, der sich insbesondere gegen jüdische Liegenschaftshändler richtete und
sie als „Güterschlächter“ verunglimpfte, zog 1887 für den Wahlkreis Marburg-Kirch-
hain in den Reichstag ein, als reichsweit erster unabhängiger antisemitischer Kandidat.
Antisemiten erreichten in den 1890er Jahren auch in anderen Landgegenden beträchtli-
che Stimmenanteile. Viele → Landjuden reagierten selbstbewusst. Es gelang ihnen, ei-
nige antisemitische Veranstaltungen zu stören. Nach 1900 verschwand dieser Antise-
mitismus zunächst von der politischen Bühne.
Das christlich-jüdische Verhältnis auf dem Land büßte nach 1918 an Stabilität ein.
Die jüdische Minderheit verlor durch den Wegzug vieler Angehöriger in die Städte de-
mographisch und politisch an Bedeutung. Zugleich war die alte autoritäre Dorfordnung
ins Wanken geraten, die den Status Quo zwischen beiden Gruppen bisher garantiert
hatte. Von der einsetzenden Demokratisierung profitierte auch die NSDAP, insbesonde-
re in protestantischen Regionen. Ihr gelang es schließlich auch, Teile der nichtjüdi-
schen Dorfelite für sich zu gewinnen.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann die Zerstörung der
jüdischen Lebenswelt auf dem Land. Vereine und Freiwillige Feuerwehren schlossen
ihre jüdischen Mitglieder aus. Einzelne Juden wurden Ziel brutaler Überfälle. Die er-
sten Toten waren zu beklagen. Trotz der NS-Propaganda hielten allerdings viele Land-
wirte jüdischen Viehhändlern zunächst die Treue. Spätestens mit den Pogromen 1938
brachen die christlich-jüdischen Beziehungen zusammen. Nach den Verhaftungen jüdi-
scher Männer und ihrer zumeist wochenlangen Internierung in Konzentrationslagern
waren Frauen und Kinder Angriffen oft tagelang schutzlos ausgeliefert. Die meisten
Landjuden versuchten nun, aus ihren Gemeinden zu entkommen und zu emigrieren.
Der Beginn der Deportationen ab 1940 markierte das Ende des „Judendorfs“.
Ulrich Baumann
Literatur
Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemein-
den 1862-1940, Hamburg 2000.
Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1999².
David Peal, Anti-Semitism and rural transformation in Kurhessen: the rise and fall of the
Böckel movement, Ann Arbour 1988.
Monika Richarz, Reinhard Rürup (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande, Tübingen 1997.
Judenfrage 147
Helmut Walser Smith, Alltag und politischer Antisemitismus in Baden 1890-1900, in: Zeit-
schrift für die Geschichte des Oberrheins, Band 141, 1993, S. 280-303.
Judenfrage
Die Formulierung „jüdische Frage“ findet sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts, um Pro-
bleme zu kennzeichnen, die sich für die Zeitgenossen aus der → Emanzipation der Ju-
den ergaben. In England wurde unter diesem Titel über die Naturalisierung und den
Landbesitz von Juden diskutiert („Reply to the Famous Jew Question“, 1753), und die
französische Nationalversammlung debattierte 1790 über die Rechtsstellung der Juden
(„la question sur les juifs“). Auch in den Emanzipationsdebatten vor und nach dem
Wiener Kongress wurde über die „jüdische Frage“ noch nicht in einem allgemeinen
und rein negativen Sinn gesprochen, vielmehr benutzten auch Befürworter der Emanzi-
pation diese Wendung. So veröffentlichte 1830 der Staatsrechtler Robert von Mohl
(1799-1875) einen historisch-kritischen Rückblick auf die Debatte eines „Judengeset-
zes“ in der württembergischen Ständeversammlung unter dem Titel „Schriften zur Ju-
denfrage im Jahre 1828“. 1838 tauchte „Die Jüdische Frage“ in zwei Aufsätzen erst-
mals explizit als antijüdisches Schlagwort auf, das seinen Durchbruch in der knappen
Fassung als „Judenfrage“ in den öffentlichen Kontroversen über den Status der Juden
in Preußen 1843/44 erlebte. Kritisiert wurde dabei der Status der Juden als korporative
Gruppe, die sich im Verlauf der Emanzipation eben nicht – wie erhofft – aufgelöst oder
zur reinen Konfession umgebildet hatte. In seiner einflussreichen religionsphilosophi-
schen Schrift „Die Judenfrage“ von 1843 (unter dem Titel „Die Juden-Frage“ bereits
1842 in den Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst publiziert) versuchte der Links-
hegelianer Bruno Bauer nachzuweisen, dass die Juden als Gruppe nicht emanzipiert
werden könnten, sondern dass auch die aufgeklärtesten Juden dem Wesen des Juden-
tums mit seinem Exklusivitäts- und Auserwähltheitsanspruch und dem Streben nach
„Alleinherrschaft“ verhaftet blieben und damit letztlich Krieg gegen die Menschheit
führten. Der einzelne Jude könnte nur in die Gesellschaft integriert werden, wenn er
zunächst zum Christentum konvertiere und dann in einem zweiten Schritt zusammen
mit den Alt-Christen die Religion zu Gunsten eines allgemeinen Menschentums in ei-
nem laizistischen Staat aufgäbe. Bauer spricht sich deshalb gegen die Gewährung bür-
gerlicher und politischer Rechte an Juden in einem christlichen Staat aus und wertet
das Judentum als Religion in theologischer Hinsicht ab. Diese mit antijüdischen Vorur-
teilen unterfütterte Schrift veranlasste Karl Marx 1844 zu seiner Replik „Zur Judenfra-
ge“, in der er die religionsphilosophische in eine sozioökonomische Frage umformu-
lierte. Auf der Ebene der politischen Emanzipation spricht Marx sich unzweideutig für
die Gleichstellung der Juden aus, doch auf einer zweiten utopischen Ebene der
menschlichen Emanzipation geht es ihm um die Überwindung der Entfremdung, die
eine Auflösung der Religionen einschließt. Marx griff im zweiten Teil seiner Schrift
dasjenige an, was er – hier Ludwig Feuerbach folgend – für den Geist des Judentums
hielt, dessen weltlichen Grund er im „praktischen Bedürfnis, im Eigennutz“ sah und es
damit zum Symbol für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft machte. Folgt Marx
hier gängigen antijüdischen Stereotypen, so sieht er den „Schacher“ jedoch in gleicher
Weise auch im Christentum gegeben. Ihm ging es in dieser Kritik der theologischen
148 Judenfrage
Fassung der „Judenfrage“ primär darum, dass die Emanzipation der Menschheit, ganz
gleich ob Christen oder Juden, nur gelingen könne, wenn sie sich vom Judentum, hier
als Chiffre für die antisozialen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, als die Macht
des Geldes und des Privateigentums verstanden, den Egoismus, emanzipierte. Eine
ähnliche Position wie Marx vertrat in der „Judenfrage“ auch Moses Hess, der den Ju-
den eine führende Rolle bei der Etablierung der entfremdenden Herrschaft des Geldes
zuwies, eine Rolle, die sie nur mit der Auflösung der Religion verlieren würde. In die-
sen Schriften diente das Judentum als Negativfolie für die Behandlung allgemeiner ge-
sellschaftstheoretischer Fragen. Doch wurde der Begriff Judenfrage damals auch von
jüdischen Autoren benutzt, die darunter Fragen der Rechtsgleichheit, Religionsfreiheit
usw. verstanden. Nach Jacob Toury entstand der Begriff als politisches Schlagwort also
im Übergang vom „alten“ zum „neuen Judentum“ und von der traditionalen Juden-
feindschaft zum → modernen Antisemitismus, indem er die Möglichkeit leugnete, die
Juden in die christliche Gesellschaft zu integrieren, und die Gefahr einer jüdischen Do-
minanz in Wirtschaft, Politik und Kultur beschwor.
In diesem Sinne propagierte Otto Glagau den Begriff in einer antisemitischen Arti-
kelserie (1874/75), indem er „die soziale Frage“ als „Judenfrage“ definierte und die
Juden für die Gründerkrise von 1873 ( → Gründerschwindel) verantwortlich machte.
Die katholische Zeitung „Germania“ folgte 1875 mit ihrer Artikelserie „Die Judenfra-
ge“. Mit der antisemitischen „Berliner Bewegung“ unter Führung des Hofpredigers
Adolf Stoecker wurde ab 1879 „die jüdische Frage“ zum öffentlichen Thema und gab
den Titel für Hunderte von Broschüren und Aufsätzen ab, in denen die „Judenfrage“
ganz verschieden definiert wurde. Dabei waren es nicht allein die radikalen Antisemi-
ten um Wilhelm Marr, Eugen Dühring und die Brüder Paul und Bernhard Förster, die
die „Judenfrage“ zu einem allumfassenden Gesellschaftsproblem erklärten. Auch
Stoecker wollte sie nicht als bloße Religions- und Rassenfrage fassen, sondern als eine
sozial-ethische, denn das Judentum „bringt soziale Übelstände mit sich“ (1885).
Eugen Dühring betonte in seinem Buch „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und
Culturfrage“ von 1881 (in späteren Auflagen ab 1901 abgewandelt in: „Die Judenfrage
als Frage des Rassencharakters und seiner Schädlichkeit für Existenz und Kultur der
Völker“) ebenfalls die sozial-ethische Schädlichkeit der Juden, sah aber die Judenfrage
als primär rassisch begründet. Der erste „Internationale Antijüdische Kongress“ fand in
seinem „Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judentum gefährdeten
christlichen Staaten“ zum Ausgleich der religiös-konservativen und der radikal-rassisti-
schen Strömung in der antisemitischen Bewegung 1882 folgende Kompromissformel:
„Die Judenfrage, obwohl in der Verschiedenheit des Stammes und des Glaubens be-
gründet, ist doch in ihrer Erscheinung keine bloße Rassen- oder Religionsfrage, son-
dern eine universelle Frage kulturhistorischen, politischen, wie sozialpolitischen und
sittlich-religiösen Charakters“. Der Begriff „Judenfrage“ setzte sich, wie auch die Um-
benennung des „Antisemiten-Katechismus“ von Theodor Fritsch in „Handbuch der Ju-
denfrage“ ab 1896 zeigt, als gebräuchliches Schlagwort durch, in dem die Antisemiten
die Existenz der Juden als ein die christlichen Nationalstaaten gefährdendes und in ir-
gendeiner Weise zu lösendes Problem definierten. Diese „Lösungen“ beschränkten sich
zumeist auf die Forderung nach einer Fremdengesetzgebung, Minderung der Staatsbür-
gerrechte oder der Ausweisung, konnten aber etwa bei Dühring oder in Fritschs Zeit-
Judenfrage 149
schrift „Hammer“ ab 1902 bis hin zur „Ausscheidung der jüdischen Rasse aus dem
Völkerleben“ radikalisiert werden.
Vom zeitgenössischen → Zionismus wurde eine, in der Diaspora-Situation der Ju-
den begründete, Judenfrage durchaus akzeptiert: „Die Judenfrage besteht. Es wäre
doch töricht, sie zu leugnen“, stellte Theodor Herzl apodiktisch fest. Er definierte sie
als „nationale Frage“ und sah – so der Titel seines Buches – den „Judenstaat“ als „Ver-
such einer modernen Lösung der Judenfrage“ (1896). Die Unabhängigkeitserklärung
des Staates Israel vom 14. Mai 1948 wandelt die Formulierung zur „Lösung des Pro-
blems des heimatlosen jüdischen Volkes“ ab.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde angesichts der ostjüdischen Massenwande-
rung von einer „Ostjudenfrage“ gesprochen, die ab 1915 in der Diskussion um eine
Grenzsperre auf die öffentliche Tagesordnung kam. Führende Mitglieder des „Alldeut-
schen Verbandes“ machten während des Ersten Weltkrieges von der „unverspäteten
Lösung der Judenfrage“ gar die Zukunft des deutschen Volkes abhängig und billigten
auch die „radikalsten Mittel“ (Heinrich Claß). Der Begriff „Judenfrage“ blieb in der
Weimarer Republik und im Dritten Reich ein zentrales politisches Schlagwort. Nach
Meinung der Nationalsozialisten bestand die „Judenfrage“ schon seit zweitausend Jah-
ren und wurde als „Rassenfrage“ verstanden, deren Lösung sie bis 1940 in der „mit
allen Mitteln zu fördernden“ Auswanderung der Juden aus Deutschland sahen. Die ri-
valisierenden NS-Führer gründeten „wissenschaftliche“ Institute, die sich mit der „Ju-
denfrage“ beschäftigen sollten. Im Auftrag von Joseph Goebbels wurde 1934 ein „In-
stitut zum Studium der Judenfrage“ in Berlin gegründet (1939 in „Antisemitische Ak-
tion“, 1942 in „Antijüdische Aktion“ umbenannt; ins Reichssicherheitshauptamt einge-
gliedert und unter Leitung Adolf Eichmanns in die Völkermordpolitik in Osteuropa in-
volviert), das eine „Bibliothek zur Judenfrage“ plante. Das „Reichsinstitut für die Ge-
schichte des neuen Deutschlands“ besaß eine von Wilhelm Grau geleitete
„Forschungsabteilung Judenfrage“. Dieser betreute in der „Historischen Zeitschrift“
eine eigene Sparte „Geschichte der Judenfrage“. Alfred Rosenberg, dessen 1924 ge-
gründete Zeitschrift „Der Weltkampf“ im Untertitel „Monatsschrift für Weltpolitik, völ-
kische Kultur und die Judenfrage aller Länder“ hieß, gelang es 1941 schließlich, in
Frankfurt ein eigenes „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ zu etablieren. Die Na-
tionalsozialisten ließen als Grundlage für ihre „Forschungen“ eine „Bibliographie zur
Geschichte der Judenfrage“ (bearbeitet von Volkmar Eichstaedt) erstellen, von der aber
1938 nur der erste Band (für den Zeitraum 1750-1848) erschienen ist.
Als der Krieg mit der Sowjetunion ab 1941 die Auswanderungslösung hinfällig
machte, ging man zur systematischen Vertreibung über, erwog „Insellösungen“ ( →
Madagaskar-Plan) oder Umsiedlungen in ein noch zu bestimmendes Territorium, wie
Heinrich Himmler es Ende 1940 in seinem Vortrag „Die Judenfrage“ ausführte und da-
bei an eine Zahl von 5,8 Millionen Juden dachte. Ab Sommer 1941 ging man zum
Massenmord über, um so die „Gesamtlösung“ oder → „Endlösung der Judenfrage“ in
Europa zu realisieren. Heinrich Himmler verkündete drei Jahre später, am 24. Mai
1944, in einer Rede vor höheren SS- und Polizeiführern bereits in der Vergangenheits-
form die Realisierung der „Endlösung“: „Eine andere Frage, die maßgeblich für die in-
nere Sicherheit des Reiches und Europas war, ist die Judenfrage gewesen. Sie wurde
nach Befehl und verstandesmäßiger Erkenntnis kompromisslos gelöst.“
150 Judenhaus
Nach 1945 wurde der Begriff „Judenfrage“ einige Jahre unkritisch in Umfragen,
Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Abhandlungen weiter verwendet. Der Bruder-
rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) veröffentlichte 1948 ein „Wort zur
Judenfrage“ und 1950 folgte auf der EKD-Synode in Berlin-Weißensee ein weiteres
„Wort zur Judenfrage“ (auch bekannt unter „Schuld an Israel“). In rechtsextremen
Schriften findet der Begriff bis heute Verwendung, z.B. bei Horst Mahler, der 2003 im
Rahmen seines „Deutschen Kollegs“ Manifeste zur „Judenfrage“ verbreitete, die in ih-
rem wahnhaften Charakter keine Facette des Antisemitismus auslassen.
Werner Bergmann
Literatur
Alex Bein, Die Judenfrage: Biografie eines Weltproblems, 2 Bände, Stuttgart 1980.
Julius Carlebach, Karl Marx and the Radical Critique of Judaism, London 1978.
Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands,
Stuttgart 1966.
Nathan Rothenstreich, For and against Emancipation. The Bruno Bauer Controversy, in: Leo
Baeck Institute Year Book IV (1959), S. 3-36.
Dieter Schiefelbein, Das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“. Vorgeschichte und Grün-
dung 1935-1939, Frankfurt am Main 1993.
Jacob Toury, „The Jewish Question“. A Semantic Approach, in: Leo Baeck Institute Year-
book XI (1966), S. 85-106.
Judenhaus
Die Juden in Deutschland lebten vor ihrer Emanzipation in Häusern und Gassen, Stadt-
vierteln und Dörfern, die den Zusatz- und Erkennungsnamen „Juden“ trugen. Diese
Markierung galt auch für ihre Schulen und Friedhöfe, Trachten und Kennzeichen, Be-
rufe und Gebräuche, schlechthin für alles, was die antisemitischen Feindbilder im Vi-
sier hatten. Die aufgeklärten Herrscher gewährten den degradierten Ghetto-Juden das
Privileg, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In der modernen, jüdisch-bürgerlichen
Lebenswelt der Assimilation und Akkulturation gab es keinen Platz für die alte „Ghet-
tokultur“ oder „Ghettomentalität“, nur eine blasse, unliebsame Erinnerung daran. Die
Judenfeinde hingegen sprachen ständig davon, Ghettos und gelbe Flecke ( → Kenn-
zeichnung) wieder einzuführen oder die → „Judenfrage“ durch Vertreibung zu lösen.
In ihrem Vokabular wurden die historischen Vorbilder in die Zeit des Dritten Reiches
tradiert.
Schon vor der Zertrümmerung der viel beschworenen deutsch-jüdischen „Lebensge-
meinschaft“ im Jahre 1933 hatten die Nationalsozialisten proklamiert, die „fremdrassi-
gen Volksfeinde“ aus der deutschen „Volksgemeinschaft“ und dann aus dem anvisier-
ten „Großgermanischen Weltreich“ zu entfernen. Diffamierung und Diskriminierung
leiteten die soziale Ausgrenzung in ein „mauerloses Ghetto“ ein, aus dem man sich nur
noch durch die Auswanderung befreien konnte. 1938 debattierten die Architekten der
→ Endlösung der Judenfrage den Plan einer Ghettoisierung. Er wurde aus „sicherheits-
polizeilichen Gründen“ verworfen. Geschlossene Judenviertel, so das Argument Rein-
hard Heydrichs – ließen sich nur schwer kontrollieren. Zudem würden sie Epidemien
und das „Verbrechertum“ verbreiten. Ausschlaggebend für das offizielle Ghettoisie-
Judenhaus 151
rungsverbot war noch ein anderer Grund: Deutschland sollte so schnell wie möglich
„judenfrei“ gemacht werden. Kostspielige Ghettomauern und innerstädtische Umsied-
lungen waren deshalb obsolet.
Nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges wurden im besetzten Polen Ghettos
errichtet, nicht nur um das Heer der → „Ostjuden“ einzufangen, die als große Gefahr
angesehen wurden, sondern auch, um die vertriebenen Juden und „Zigeuner“ aus
Deutschland aufzunehmen. In den Planungen tauchten die Begriffe „Reichsghetto“
und „Sonderghetto“ auf. Judenhäuser und Barackenlager waren die deutschen Vorstu-
fen der Zwangsghettoisierung. Sie fungierten als provisorische, zeitlich begrenzte Sam-
melstellen, in denen die Juden noch konzentriert und weiter isoliert, besser überwacht
und gewinnbringend zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Zugleich waren sie nach der
Auflösung der deutsch-jüdischen Wohngemeinschaft als Obdachlosen-Asyle unum-
gänglich geworden.
Nach dem Novemberpogrom von 1938 fiel die Entscheidung, die „Entjudung“ der
Wirtschaft, und damit auch des Wohnungsmarktes zum Abschluss zu bringen. Ge-
schäfte und Betriebe galten als vordringlich. Am Ende der „Gesamtarisierung“ stand
der jüdische Hausbesitz. Bis dahin wurde den Juden noch ein „Sonderwohnrecht“ ge-
währt. Auf amtlichen Vordrucken der Räumungs- und Arisierungsverfahren stand unter
dem Geschäftszeichen „Wohnung“ der Begriff „entsiedelter Jude“.
Die Richtlinien wurden in Gesetzesparagraphen und Ausführungsbestimmungen ge-
kleidet, von Juristen kommentiert und von Journalisten publiziert. In allen Städten und
Gemeinden arbeiteten die Behörden, vor allem die Wohnungsämter, zusammen mit In-
stanzen der Partei und Polizei, um deutsche Wohnungen zu „entjuden“ und jüdische
Wohnungen zu arisieren. Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden wurden verpflichtet, an
den Umzugs- und Umsiedlungsaktionen mitzuwirken. Im April 1939 wurde der Kündi-
gungsschutz für Juden aufgelockert. Die erste Kündigungswelle erfasste jüdische Mie-
ter in „arischen“ Wohnungen. Sie wurden in designierte Judenhäuser einquartiert, die
sich über Stadtgebiete und Straßen verteilten. Mit dieser Zerstreuung wurden Konzen-
tration und Ghettobildung vermieden. Bei den Planungen wurde auch nicht vergessen,
bestimmte Stadtteile, Wohnviertel und Straßenzüge auszuklammern, um sie als „juden-
frei“ deklarieren zu können. Die Erfolgsmeldungen wurden in der Presse bekannt ge-
geben. An „deutschblütige“ Mieter wurde appelliert, aus jüdischen Häusern auszuzie-
hen. Gelegentlich kam es vor, dass „freigemachte“ Häuser mit einem Schild markiert
wurden: „Dieses Haus ist judenrein“. Um alle Obdachlosen unterzubringen, wurden
Einrichtungen der jüdischen Gemeinden zu Judenhäusern deklariert: Kindergärten und
Schulen, Altersheime und Krankenhäuser, Betsäle und Leichenhallen.
Im September 1941 wurden die Juden verpflichtet, sich einen gelben Stern mit der
Aufschrift „Jude“ auf dem Kleidungsstück fest anzunähen. Die öffentliche Stigmatisie-
rung signalisierte den Beginn der planmäßigen Deportationen in den Osten. Ab März
1942 klebte ein Handteller großer Judenstern in schwarzem Druck auf weißem Papier
an den Türrahmen des Wohnungseingangs oder neben dem Namensschild des jüdi-
schen Bewohners. Nachbarn wussten schon lange, wo es Judenhäuser gab. Passanten
sahen nun, wo die „Sternträger“ wohnten. Die Deportationswellen leerten die Juden-
häuser. Am Ende gab es noch in einigen Orten ein paar Judenhäuser, gelegentlich auch
152 Judenhaus
Judenhut → Kennzeichnung
Judenkommune → Żydokomuna
Judenmission 153
Judenmission
Im Christentum wurde seit seiner Entstehung die Missionstätigkeit gegenüber Juden
und Ungläubigen als Pflicht und Aufgabe verstanden. Dabei galt für die Missionare
stets, dass Juden das Heil nur durch die christliche Taufe erlangen können und dafür
ihren jüdischen Glauben aufgeben müssten. Grundlage hierfür war die → Substituti-
onslehre, wonach das von Gott erwählte Volk Israel nicht mehr das Volk seines Bun-
des, sondern für alle Zeit von Gott verworfen und verflucht sei. Die Kreuzigung von
Christus, die als → Gottesmord den Juden angelastet wurde, habe dazu geführt, dass
Gottes Verheißung auf die Kirche als neues Volk Gottes übergegangen sei. Dieses Dog-
ma bestimmte das Verhältnis des Christentums zum Judentum seit Beginn der christli-
chen Kirche. Erst nach dem → Holocaust begann ein Umdenken (2. Vaticanum von
1965, Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche 1980) und die Substitutionsleh-
re wird heute in Deutschland auch innerhalb der Kirche als christlicher → Antijudais-
mus bezeichnet. Ob und in welcher Form die Judenmission fortgesetzt werden kann
und soll, wird seit 1945 kontrovers diskutiert.
Im Hochmittelalter wurden Juden vielfach unter Androhung der Tötung zwangsge-
tauft, um sie dem kirchlichen Herrschaftsanspruch zu unterwerfen. Der 1183 mit der
päpstlichen Inquisition beauftragte Dominikanerorden setzte sich sogar die Zwangsbe-
kehrung aller Juden zum Ziel. In den folgenden Jahrhunderten wurden nicht taufwillige
Juden aus verschiedenen Ländern vertrieben oder gar ganze Gemeinden ausgelöscht.
Die → Reformation schien mit ihrer ausschließlichen Orientierung auf die Bibel als
Wort Gottes zunächst die kirchliche Akzeptanz des Judentums zu ermöglichen. In sei-
nen frühen Schriften verurteilte Martin Luther die Zwangsmission (1523) ausdrücklich.
Juden sollten aus ihrer eigenen Bibel heraus überzeugt werden. Im 18. Jahrhundert
wurde die Judenmission verstärkt durch die Frömmigkeitsbewegung der Pietisten be-
trieben, die sich durch ihr missionarisches und soziales Engagement auszeichnete. Ih-
ren institutionellen und personellen Höhepunkt erreichte die Judenmission Mitte des
19. Jahrhunderts. 1822 wurde in Deutschland die erste „Gesellschaft zur Verbreitung
des Christentums unter den Juden“ in Berlin gegründet; sie operierte als freie Vereini-
gung weitgehend unabhängig von kirchlichen Leitungsgremien. Im Zuge der Kolonia-
lisierung entstanden überall Missionsgesellschaften, die ihre Vertreter in alle Erdteile
aussandten, wobei meist nicht zwischen Judenmission und Völkermission unterschie-
den wurde.
Nach dem Ersten Weltkrieg sahen sich die Judenmissionare in Deutschland mit
Gleichgültigkeit und dem fehlenden Engagement der evangelischen Kirche konfron-
tiert. Nur 30 bis 50 Taufen pro Jahr ließen sich nun noch auf ihre Bemühungen zurück-
führen, bei einer Gesamtzahl von wenigen hundert Übertritten. Die Mehrzahl der meist
bürgerlich-liberalen Juden, die zum Protestantismus übertraten, empfand die Judenmis-
sion als zu apodiktisch. Zudem erfolgte der Hauptanteil von Übertritten aufgrund
christlich-jüdischer → Mischehen, ganz ohne Einfluß der Judenmissionare.
Während die Judenmission Thema der praktischen Theologie, der konkreten Mis-
sionsarbeit war, kristallisierte sich an ihr aber auch eine viel größere Debatte: Sowie
sich das Konzept einer deutsch-christlichen Volksgemeinschaft etablierte, die sich im-
mer stärker über rassistische Kriterien zu definieren begann, kam die Frage nach dem
Platz getaufter Juden in der deutsch-christlichen Mehrheitsgesellschaft auf. Nur vor
154 Judenmission
dem Hintergrund dieses Zusammenhangs ist zu verstehen, warum die Debatte über die
Judenmission in der Weimarer Zeit – als die Akzeptanz der konkreten Missionarsarbeit
längst abgenommen hatte – überhaupt einen so großen Platz einnahm und warum sich
protestantische Universitätstheologen verschiedenster Richtungen mit der Thematik
auseinandersetzten.
Die Judenmissionare waren überzeugt, dass sie mit den „Waffen des Evangeliums“
einen wichtigen Beitrag gegen den als stark empfundenen Einfluss des Judentums in
Deutschland zu leisten hatten. Damit kaprizierte sich die Judenmission allerdings in
eine antisemitische Argumentation: Für die Judenmissionare waren diese geistigen und
politischen Strömungen, die zur Aufklärung und Liberalisierung führten, „Fremdkör-
per, von außen her hineinwuchernde Schädlinge“, deren „Lebenswurzeln“ aus dem Ju-
dentum erwachsen. Die (christliche) Menschheit habe also erst dann Ruhe, wenn die
Juden den christlichen Glauben angenommen hätten. Die Idee, Juden missionieren zu
müssen, speiste sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur aus einem religiösen
Motiv – dem Missionsbefehl –, sondern beinhaltete auch kulturpolitische und letztlich
rassistische Motive. Weder die jüdische Religion noch das, was abwertend als „jüdi-
scher Geist“ beschrieben wurde, hatte in dieser Vorstellung eine Daseinsberechtigung.
So bezeichnete der Missionsdirektor Otto von Harling, der seit 1923 die Berichte
über die Judenmission für das im Bertelsmann Verlag erschienene „Kirchliche Jahr-
buch“ verfasste, den vermeintlich übergroßen Einfluss von „volksfremden Juden“ in
der deutschen Gesellschaft als ein drängendes Problem. Es werde als „unliebsam emp-
funden“, dass ein nach „Rasse und Religion volksfremdes Element“ im Staats- und
Wirtschaftsleben sowie vor allem im Geistesleben eine Rolle spiele, die nicht im Ver-
hältnis zu seiner Zahl stünde und sich nicht durch „geistige Überlegenheit“ erklären
ließe. „Vollends aber wirkt es empörend und aufreizend, daß gerade Notzeiten und
Fäulniserscheinungen im Volksleben zur Verstärkung dieses Einflusses dienen.“
Verbreitet war auch in der Judenmission die Auffassung, dass Antisemitismus eine
sozusagen natürliche Reaktion jedes Volkes auf die Präsenz von Juden sei. In einer ver-
öffentlichten Predigt meinte Harling, dass Juden als „ein Fremdkörper im Volksleben
empfunden“ werden und dass dieser „Fremdkörper“ einen „Fieber im Volkskörper“ er-
zeuge, den man Antisemitismus nenne. „Das natürliche Herz wird den Abscheu vor
den Juden, die Judenfeindschaft kaum überwinden.“ Nur durch den Glauben könne
man dieses Gefühls Herr werden: „Wir müssen umlernen, wir müssen lernen, mit Jesu
Augen zu sehen; seine Liebe muß die Augensalbe werden, die uns den Blick schärft,
daß er nicht mehr durch Abscheu, Verachtung und Haß getrübt wird.“
Die Judenmission wollte dem gewalttätigen → völkischen Antisemitismus einen
„besseren“, einen christlichen Antisemitismus entgegensetzen. Gleichwohl vertraten
auch Missionstheologen wie etwa Julius Richter die Meinung, dass sich Juden kaum
assimilieren und in einen Nationalstaat – sei dies Deutschland oder Amerika – integrie-
ren könnten. Im Hinblick auf die USA schrieb er: „In dem werdenden Volkstum, aus
dem sich eine amerikanische Nation herausgestalten will, gibt es verschiedene Fremd-
körper, die sich besonders schwer assimilieren lassen: die Neger, die Iren – und die
Juden. Und die Juden haben dabei die unwiderstehliche Tendenz, immer wie das Fett
obenauf zu schwimmen.“
Judenmission 155
Wie sollte nun aber die Taufe aus Juden Christen machen, wenn Juden scheinbar
religiös und historisch begründet „andersartig“ waren und spezifische „Rassenmerk-
male“ aufwiesen? Die Judenmission glaubte, dass mit der Taufe der „innere Mensch“
oder, wie es anders häufig umschrieben wurde, der „jüdische Geist“ überwunden wer-
den könne, während die biologischen Merkmale bestehen blieben.
Während der NS-Zeit distanzierte sich die zunehmend völkisch geprägte Missions-
theologie, wie sie von Siegfried Knak, Bruno Gutmann und Christian Kreysser vertre-
ten wurde, von der Judenmission und widmete sich ausschließlich der sogenannten
Volks- und Heidenmission.
Ihre Zuspitzung erhielt diese Entwicklung im September 1935, als der „Deutsche
Evangelische Missions-Rat“ eine von dem Berliner Missionsdirektor Siegfried Knak
verfasste Stellungnahme zu Volksgemeinschaft und Rasse als offizielle Richtlinie aner-
kannte und diese an alle Missionsgesellschaften verschickte. Dieses antisemitische Do-
kument, das 1935 zuerst im Septemberheft der „Berliner Missionsberichte“ erschien,
ist unter dem Titel „Ein Wort der Mission zur Rassenfrage“ in die Geschichte der deut-
schen evangelischen Missionsbewegung eingegangen. Siegfried Knak wies in diesem
Schlüsseltext nicht nur darauf hin, dass die deutsche evangelische Mission „nicht
Gleichheit aller Rassen und Völker“ predige; er unterstellte auch dem Judentum einen
verderblichen Einfluss auf die „Völker, unter die es zerstreut ist“. Die Konsequenz, die
er aus dieser Erkenntnis zog, geht in ihrem offenen Antisemitismus allerdings noch
sehr viel weiter: „Es ist die gottgegebene Aufgabe der Obrigkeit, das Volksleben zu
schützen. [...] Der Staat darf, wo es nottut, harte Maßnahmen nicht scheuen. Dem Chri-
sten ist das Judenvolk nicht nur der Feind oder der Schädling seines Volkes, sondern
auch die große Warnung Gottes vor der Sünde Israels, das eigene Volk und Volkstum
an die Stelle zu setzen, die allein Gott gebührt.“
Ausdrücklich übergaben die zentralen Missionsinstitutionen damit die Verantwor-
tung für die „Judenfrage“ an den Staat: „Ein Jude wird durch Taufe und Glauben nicht
ein Deutscher, darum hat die Mission nichts mit der Frage zu tun, ob christliche Deut-
sche und christliche Juden untereinander heiraten sollen, sondern überläßt das dem
Staat.“
Um eine Schließung der „Berliner Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums
unter den Juden“ abzuwenden, versicherte der „Central-Ausschuß für die Innere Mis-
sion“ dem Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten, dass Juden nach der
Taufe immer noch dem „jüdischen Volk“ angehörten. Die Taufe, so wurde argumen-
tiert, sei ein religiöser Akt, der die staatlichen „Sondergesetze“ für Juden nicht in Frage
stellen wolle. Mit dieser Strategie verhinderte die Berliner Gesellschaft ihre Schlie-
ßung, bis sie 1941 als letzte Missionsgesellschaft ihre Arbeit beenden musste.
Tanja Hetzer
Literatur
Christopher M. Clark, The Politics of Conversion. Missionary Protestantism and the Jews in
Prussia 1728-1941, Oxford 1995.
Wolfgang Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Bei-
trag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln
2000.
156 Judenpresse
Judenpresse
Das Geraune über eine jüdisch beherrschte Presse, eine regelrechte „Judenpresse“, ge-
hört zum Standardrepertoire antisemitischer Mutmaßungen. Die Anhänger des Topos
entwerfen dabei ein Szenario, in dem sich die Juden der Presse zum eigenen Vorteil
und zum Nachteil der Mehrheitsgesellschaft bedienen, um schließlich ganz im Sinne
ihrer elitären Auserwähltheit zu wirken und in letzter Konsequenz die jüdische Welt-
herrschaft zu etablieren. Wie bei allen Konstanten des Antisemitismus entzieht sich
auch diese einer rationalen Analyse, sie gehört eher in den Bereich der Paranoia.
Heinrich von Treitschke verwendete in seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“ vor
dem schrillen Fortissimo „Die Juden sind unser Unglück“ einige Zeilen auf die Thema-
tik Judentum und Presse. Dabei gerierte sich der Gelehrte als pädagogisch-moralische
Instanz, die vom Katheder aus altväterlich Zeitkritik übt: „Der kleine Mann läßt sich
nicht mehr ausreden, daß die Juden die Zeitungen schreiben, darum will er ihnen nicht
mehr glauben.“ An dieser Konjunktur des Vorwurfs jüdisch dominierter Gazetten betei-
ligten sich im Kontext des Berliner Antisemitismusstreits 1879-1881 in ihrer politi-
schen Ausrichtung so unterschiedliche Blätter wie die Familienzeitschrift „Gartenlau-
be“, die konservative „Kreuzzeitung“ und das Zentrumsblatt „Germania“, die sich in
ganzen Artikelserien auf den Antisemitismus als kleinsten gemeinsamen Nenner wider
den Liberalismus einigen konnten; immer wieder tauchten in diesem Diskurs die Ter-
mini „Judenpresse“, „Semitenpresse“ u.ä. auf.
Demzufolge war es kein originäres nationalsozialistisches Argumentationsmuster,
als Joseph Goebbels vor 1933 in der Berliner Gauzeitung „Der Angriff“ das Schlag-
wort von der „Judenpresse“ bemühte. Wie fünfzig Jahre zuvor wusste jeder, wer damit
gemeint war. Es waren dies die in der Pressegeschichte so klangvollen Namen wie der
Mosse-Verlag, das Ullsteinhaus mit der seit 1704 bestehenden „Vossischen Zeitung“,
der „Morgenpost“ und der „BZ am Mittag“ sowie die 1856 von Leopold Sonnemann
gegründete „Frankfurter Zeitung“: die genannten Institutionen verwahrten sich stets
dagegen, als „jüdische Presse“ diffamiert zu werden, waren sie doch vielmehr allesamt
großstädtische Blätter, die von der Kolportage bis zum Feuilleton ein breites Spektrum
bedienten und denen gemein war, dass sie im Gegensatz zu den Presseerzeugnissen
des Hugenberg-Konzerns die radikalen Kräfte ihrer Zeit publizistisch bekämpften.
Exemplarisch für diese Gesinnung standen Georg Bernhard und Theodor Wolff, die
Chefredakteure der „Vossischen Zeitung“ und des „Berliner Tageblatts“. Bernhard or-
ganisierte im Februar 1933 den Kongress „Freies Wort“ und emigrierte im gleichen
Jahr nach Paris, wo er das „Pariser Tageblatt“ gründete. Wolff schrieb am Tag der
Reichstagswahl, dem 5. März 1933, seinen letzten Leitartikel für das „Berliner Tage-
Judenrepublik 157
blatt“, flüchtete ebenfalls 1933 und wurde zehn Jahre später in Nizza von den italieni-
schen Behörden der Gestapo ausgeliefert. Nach KZ-Aufenthalten starb er unterversorgt
im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.
Beide Namen wurden bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in den rituali-
sierten „Feuersprüchen“ genannt. So schrie der sechste Rufer in allen deutschen Uni-
versitätsstädten: „Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung,
für verantwortungsbewusste Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Hiermit über-
gebe ich den Flammen die Schriften von Theodor Wolff und Georg Bernhard.“
Ganz auf der Linie dieser Propaganda war die nationalsozialistische Wanderausstel-
lung „Der ewige Jude“ ab 1937 inszeniert. Den Besucher der Ausstellung erwartete
hier in einem speziellen Raum die Präsentation des jüdischen Einflusses auf das inter-
nationale Pressewesen anhand dreier Tafeln: Das erste Tafelbild wies anhand einer Kar-
te der USA mit Markierungen an der Ostküste auf die Ballungszentren jüdisch be-
herrschter US-Zeitungen hin. Gleiches behandelte die zweite Tafel für die britischen
Zeitungen. An der Hauptwand war schließlich Georg Bernhard zu sehen, der – einer
Spinne gleich – Fäden zu verschiedenen Journalisten in allen Herren Länder wob und
damit der Figur des „Ewigen Juden“ ein Gesicht geben sollte.
Der Beruf des Journalisten hatte freilich für viele Juden eine starke Anziehungskraft,
gab es doch für akademisch Ausgebildete in dieser Zunft keine Schranken und konnte
man auch als Jude zum Verleger oder Chefredakteur aufsteigen.
Heutzutage wird das Stereotyp weniger mit Verlagshäusern in Verbindung gebracht,
sondern „den Juden“ allgemein eine besondere Medienpräsenz vorgeworfen, nicht sel-
ten ist dabei zu vernehmen, die Juden würden dank eines – nicht näher spezifizierten –
verordneten Meinungskonformismus ihre nationalsozialistische Verfolgung medial
ausnutzen. Dass die traditionelle Vorurteilsstruktur noch nicht gänzlich verschwunden
ist und auch jenseits antisemitischer Kreise gebraucht wird, zeigte 1994 der damalige
DFB-Pressechef Wolfgang Niersbach. Anlässlich kritischer Pressestimmen bezüglich
der Terminierung eines Freundschaftsländerspieles der deutschen Nationalelf gegen
England am 20. April glaubte der Fußballfunktionär den wahren Grund der Kritik er-
kannt zu haben: „80 Prozent der amerikanischen Presse ist in jüdischer Hand.“ Die
„Hamburger Morgenpost“ bezeichnete seinerzeit diese Begründung als das, was sie zu
jeder Zeit war, „blanker Unsinn“.
Clemens Escher
Literatur
Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propa-
ganda, Berlin 2010.
Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879-1881. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag
des Zentrums für Antisemitismusforschung bearbeitet von Karsten Krieger, 2 Teile, Mün-
chen 2003.
Ernst Kahn, „Die Judenpresse“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 2 (1958), S. 13-18.
Judenrepublik
Für die völkisch-antisemitische Bewegung der Weimarer Republik wurden der Erste
Weltkrieg und seine Folgen nach 1918 zum zentralen Bezugspunkt ihrer Agitation. Ju-
158 Judenrepublik
Judensau
Mit einer mehr als tausendjährigen Tradition erweist sich der Begriff „Judensau“, auch
in Varianten wie „Saujude“ oder „Judenschwein“, als besonders zählebiger Bestandteil
im Kanon antijüdischer Beschimpfungen in Wort, Schrift und Bild. In mittelalterlichen
allegorischen Tugend- und Lasterkatalogen verkörperte das Schwein gula (Maßlosig-
keit, Völlerei) und luxuria (Ausschweifung, Zügellosigkeit) und stand hier für Unreine
und Sünder. Hrabanus Maurus (gest. 856) zog von den mit Schweinen identifizierten
Sündern Parallelen zu den Juden: Wie die einen nach Psalm 17,14 den Überschuss des-
sen, womit sie sich ihren Bauch vollgeschlagen hatten, ihren Kindern hinterlassen hät-
ten, so hätten die Juden Matthäus 27,25 zufolge ihren Kindern die Schuld am Tod Jesu
übertragen.
Spätestens seit dem frühen 13. Jahrhundert wurde das „Judensau“-Motiv aus der La-
sterallegorie gelöst und diente nun vollends als Schmähbild und zur Verunglimpfung
von Juden. Die Vorstellung von der „Judensau“ nahm immer obszönere Bild- und Text-
elemente auf, so konnten Exkremente und Milch des Schweins als geistige Quellen des
Judentums dargestellt und die intime Verbundenheit zwischen Schwein und Juden als
familiäre symbiotische Beziehung hervorgehoben werden. Den Spott und die Erniedri-
gung, die das Motiv der „Judensau“ erzeugt, potenziert noch die Tatsache, dass das
Schwein im Judentum als unreines Tier gilt, von dem sich Juden fernhalten sollen, vgl.
etwa Leviticus 11,7-8. Da das Schwein in der christlichen Ikonografie als Sinnbild für
den Teufel galt, umfasste die Vorstellung von der „Judensau“ im Spätmittelalter eine
Dämonisierung der Juden und brachte sie zugleich auf einen Begriff, der sich in drasti-
scher Weise in Bild und Wort veranschaulichen ließ. Dass Juden zu Recht mit dem
Teufel in Verbindung gebracht wurden, meinte man mit einem biblischen Beleg be-
gründen zu können: „Ihr [Juden] habt den Teufel zum Vater.“ (Johannes 8,44)
Martin Luthers Interpretation der „Judensau“-Plastik an der Wittenberger Schloss-
kirche zeigt Wechselwirkungen zwischen bildlichen und sprachlichen Interpretationen
des „Judensau“-Begriffs („Von den Jüden und jren Lügen“, 1543).
Als Weiterentwicklung der „Judensau“-Vorstellung erweist sich eine seit dem 17.
Jahrhundert im Volksglauben verbreitete Anschauung, die Juden körperliche Attribute
des Teufels wie etwa Schweinsohren zuschrieb. Die Dämonisierung von Juden mithilfe
des „Judensau“-Motivs konnte sich auch mit der Vorstellung verbinden, Juden seien
wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Teufel mit einem bestimmten Geruch behaftet,
dem sogenannten odor judaicus bzw. „Judengestank“. Die dem Schwein beigelegten
Eigenschaften wie Maßlosigkeit, (auch sexuelle) Ausschweifung, Fertilität und Potenz
sowie sein vermeintlicher Hang zum Schmutz bis hin zu seinem Geruch boten Ansatz-
punkte für eine Verunglimpfung von Juden, die auch ohne überkommene christliche
Begründungszusammenhänge bis heute an traditionelle Vorstellungen anknüpfen kann.
160 Judenschule
In der Gegenwart dient der „Judensau“-Begriff nach wie vor dazu, einzelne Juden
oder Juden generell zu diffamieren und zu dämonisieren. Dies zeigte sich etwa in dem
bekannten Spottvers über den Industriellen und liberalen Reichsaußenminister Walther
Rathenau: „Schlagt tot den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Die Viru-
lenz des „Judensau“-Motivs zeigte sich auch, als am 28. Oktober 1998 Unbekannte ein
Schwein über den Berliner Alexanderplatz trieben, das mit den Buchstaben BUBIS be-
malt war, kurz nachdem Ignatz Bubis an Martin Walsers Paulskirchenrede Kritik geübt
hatte. Schmierereien wie „Judensau“, „Saujude“, „Judenschwein“ gehören weiterhin
zum festen Repertoire von Schändungen jüdischer Friedhöfe ( → Friedhofsschändun-
gen). Auch einzelne Übergriffe gegen Juden sind nach wie vor begleitet von Schmä-
hungen wie „Judensau“ oder „Judenschwein“.
Axel Töllner
Literatur
Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen
und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991.
Hermann Rusam, „Judensau“-Darstellungen in der plastischen Kunst Bayerns. Ein Zeugnis
christlicher Judenfeindschaft, in: Begegnungen, Sonderheft März 2007.
Judenschule
Der Begriff Judenschule existiert seit dem Mittelalter und bezeichnet die Synagoge,
die anders als die Kirche in der christlichen Religion nicht nur ein Ort des Gebets und
Glaubens ist, sondern auch als Ort des gemeinsamen Lernens dient und oftmals die
jüdischen Schulen beherbergte. Die Männer sprechen beim orthodoxen Gottesdienst
die Gebete laut vor sich hin. Da sie dies nicht im Chor tun, entsteht ein Stimmengewirr.
Auch die Knaben, die die Thora durch lautes Rezipieren lernten, sorgten für einen ge-
wissen Lärmpegel. Dies, die Lautstärke, die für christliche Gottesdienste unüblich ist
und das Unverständnis gegenüber dieser ungeordneten Weise des Betens prägten den
pejorativ genutzten Ausspruch „Hier geht es zu wie in der Judenschule“, wenn ein Ort
durch Lärm und Unruhe auffällt.
Eines der umfangreichsten antisemitischen Werke, das die Vernichtung der Juden
fordert, das dreibändige Werk von Hartwig von Hundt-Radowsky, 1822/23 veröffent-
licht, trägt den Titel „Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein
vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden“. Der Begriff Judenschule wird
dort mit negativer Konnotation verwendet.
Angelika Benz
Judenwahlen 1912
Mit der Bezeichnung „Judenwahlen“ diskreditierten Vertreter des rechtskonservativen,
nationalistischen und antisemitischen Lagers die Wahl zum 13. Deutschen Reichstag
am 12. Januar 1912. Sowohl den Wahlkampf als auch die aus der Abstimmung hervor-
gegangene Sitzverteilung diffamierten sie als „jüdisch“ kontrolliert. Dem neu gewähl-
ten Reichstag sprachen sie ab, eine „deutsche“ Volksvertretung zu sein.
Judenwahlen 1912 161
Aus dem Urnengang ging die „Sozialdemokratische Partei“ (SPD) mit 34,8 Prozent
der Stimmen als deutlicher Sieger hervor. Ihre 110 Abgeordneten bildeten erstmals die
stärkste Fraktion im Reichstag. Auch die im Wahlbündnis mit der SPD angetretene
linksliberale „Fortschrittliche Volkspartei“ konnte Gewinne verzeichnen. Entscheidend
für den Wahlausgang war hauptsächlich die Ablehnung der aggressiven und latent mi-
litaristischen deutschen Außenpolitik sowie die den Staatshaushalt überfordernden Ko-
sten der auf Hochtouren laufenden Rüstungsproduktion. Das Gespenst eines kommen-
den Krieges, steigende Lebensmittelpreise, Stagnation der Löhne und Angst um Ar-
beitsplätze mobilisierten vor allem die Arbeiterschaft. Die Wahlbeteiligung war mit fast
85 Prozent so hoch wie bei keiner anderen Reichstagswahl zuvor.
Zu den Verlierern der Wahl gehörten Konservative, Freikonservative, die Nationalli-
beralen und die Zentrumspartei. Auch die kleineren Rechtsparteien mussten herbe Ver-
luste hinnehmen. Die Zahl der Parlamentarier, die sich offen als antisemitisch erklärten,
ging fast um die Hälfte zurück. Der Parteiantisemitismus versank in der Bedeutungslo-
sigkeit. Den antisemitischen Hetzreden im Reichstag schenkte die Öffentlichkeit seit
längerem bereits kaum mehr Beachtung. Der Schwerpunkt der antisemitischen Tätig-
keit hatte sich bereits vor der Wahl auf außerparlamentarisch agierende Verbände ver-
lagert. Allein zwischen 1910 und 1913 entstanden mehr als 20 deutschvölkische Orga-
nisationen, die alle von rassistischen und antisemitischen Vorstellungen geprägt waren.
Im Wahlkampf hatten sie gemeinsam mit den etablierten Nationalverbänden (All-
deutscher Verband, Bund der Landwirte, Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Ver-
band, Deutsche Kolonialgesellschaft, Reichsverband gegen die Sozialdemokratie,
Kyffhäuser-Verbände u.a.) vor einer „nationalen Dekomposition“ gewarnt und zum na-
tionalen Zusammenschluss gegen Sozialdemokratie und Juden aufgerufen. Als Be-
gründung führten sie die angeblich immense finanzielle Unterstützung der Sozialdemo-
kraten durch Juden an. Beide wurden als „rote und goldene Internationale“ ( → „Gol-
dene Internationale“) zu Feinden des deutschen Volkes stilisiert, ihnen schlug eine Wel-
le des Hasses entgegen. Allen voran schürte der radikalnationalistische „Alldeutsche
Verband“ Ängste vor den „jüdisch-sozialistischen Volksverführern“. Die Wahl von
1912 polarisierte die politischen Lager bereits im Vorfeld.
Das Ergebnis der Wahlen schien diese Ängste zu bestätigen. Ohne Sozialdemokra-
ten und Linksliberale war keine handlungsfähige Mehrheitsbildung im Reichstag mehr
möglich. Extreme Rechte fürchteten eine weitere Demokratisierung durch die Einfüh-
rung des Frauenwahlrechts und träumten vom Staatsstreich oder zumindest von Aus-
nahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie nach Bismarckschem Vorbild.
Nach den „Judenwahlen“ radikalisierten die nationalen Verbände ihre antisemitisch-
rassistische Agitation. Im Februar 1912 schlossen sich völkisch-nationale und rassi-
stisch-antisemitische Organisationen zum „Verband gegen die Überhebung des Juden-
tums“ zusammen. Er setzte sich die Aufgabe, über die „jüdische Gefahr“ aufzuklären
und die „jüdische Zersetzungsarbeit“ abzuwehren. Im März 1912 folgte die Gründung
des „Reichshammerbundes“ durch den antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch.
Ihm war die Koordination antisemitischer Aktionen und die antijüdische Infiltration
politischer Gruppierungen zugedacht. Wer mit Rücksicht auf seine Position im öffentli-
chen Leben anonym den Antisemitismus fördern wollte, konnte einer „Geheimorgani-
sation“ beitreten, dem „Germanenorden“.
162 Judeophobie in Russland
In den Monaten vor und erst recht während des Ersten Weltkrieges brachten die ra-
dikalnationalistischen Verbände die → „Judenfrage“ immer offener auf die politische
Agenda. Mit der sich abzeichnenden Kriegsniederlage rückte die letzte Vorkriegswahl
erneut in den Fokus der rechtsnationalen Politiker: Von dem durch die „Judenwahlen“
zustande gekommenen Reichstag könne kein „nationaler Patriotismus“ erwartet wer-
den, vielmehr seien diese Politiker nur zu einem „Judenfrieden“ fähig, dem sogenann-
ten Verzichtsfrieden. Eine solche kausale Verknüpfung führte geradewegs in die
→ Dolchstoßlegende und damit in die antidemokratische und antisemitische Propagan-
da rechtsnationaler Parteien und Verbände in der Weimarer Republik. Für das Scheitern
der ersehnten „deutschen Wiedergeburt“ auf den Schlachtfeldern Europas machten sie
Sozialdemokraten und vor allem Juden verantwortlich, da diese bei den Wahlen von
1912 die deutsche Politik zu ihren Gunsten entscheidend beeinflusst hätten.
Johannes Leicht
Literatur
Werner T. Angress, The Impact of the „Judenwahlen“ of 1912 on the Jewish Question. A
Synthesis, in: Leo Baeck Institute Year Book 28 (1983), S. 367-410.
Thomas Berg, Wahlen im Kaiserreich anno 1912 - Wahlkampf im Obrigkeitsstaat, in: Niko-
laus Jackob (Hrsg.), Wahlkämpfe in Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunika-
tion 1912-2005, Wiesbaden 2007, S. 59-71.
Jürgen Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912. Parteien und Ver-
bände in der Innenpolitik des Wilhelminischen Reiches, Düsseldorf 1964.
Judeophobie in Russland
Der Begriff Antisemitismus wurde kurz nach seiner Prägung im Jahr 1879 durch den
deutschen Publizisten Wilhelm Marr auch in Russland bekannt und hat sich im heuti-
gen Sprachgebrauch weitgehend durchgesetzt. Der zeitgenössische russische Begriff
für alle Formen von Feindseligkeit gegenüber den Juden war Judeophobie (judofobija).
Der Begriff geht auf den Wegbereiter des Zionismus Leo Pinsker und seine 1882 er-
schienene Schrift „Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem
russischen Juden“ zurück. Der jüdische Arzt Leo Pinsker, zunächst ein Anhänger der
jüdischen Assimilation, forderte unter dem Eindruck der Pogrome in Südrussland 1881
die Schaffung einer jüdischen Nationalität und eines jüdischen Staates. Nach seinen
Reisen durch Europa sah er die „Judeophobie“ als eine „Psychose“, eine seit zweitau-
send Jahren vererbte unheilbare Krankheit bei allen Völkern der Erde, die mit Juden in
Kontakt kamen. Nach dem Verlust der „staatlich-leiblichen Existenz“ erblicke die Welt
im Volk der Juden die unheimliche Gestalt eines Toten, der unter Lebenden wandele.
Diese jahrhundertelange Scheu der Völker vor dem Judengespenst sei die Quelle der
Judeophobie. Die Gespensterfurcht rufe den platonischen Hass hervor, der die ganze
jüdische Nation für die wirklichen oder angeblichen Vergehen ihrer einzelnen Mitglie-
der verantwortlich mache oder verleumde. Daraus folgte für Pinsker, dass das einzige
Mittel zur Gleichstellung der Juden als Nation die Autoemanzipation, die Staatsgrün-
dung sei.
Während der Begriff des Antisemitismus eine Missbildung war, zumal er die
Sprachfamilie der Semiten als Rasse verstand und dabei jedoch nur Juden meinte, be-
Judeophobie in Russland 163
schrieb der Begriff Judeophobie das Phänomen der Judenfeindschaft präziser: Er be-
nannte die Juden als Objekt der Angst. Der medizinisch-psychologische Begriff Phobie
(griech. phóbos - Furcht) verdeutlichte den psychologischen Aspekt der Feindschaft
als eine irrationale Angst vor Juden und dem Jüdischen.
In der neueren Forschung griff John D. Klier auf den Begriff der Judeophobie zu-
rück. Nach Klier war die russische Judeophobie eher eine moderne Ideologie, teilweise
entwickelt aus objektiven Verhältnissen im russischen Reich, teilweise übernommen
aus den Diskursen über Juden während der Aufklärungsepoche. Mitte des 19. Jahrhun-
derts entwickelte die Judeophobie phantastische, „okkulte“ Motive. Klier unterschied
ökonomische, politische, kulturelle, religiöse sowie rassistische Unterkategorien der
russischen Judeophobie.
Die enormen wirtschaftlichen Veränderungen in Russlands Agrarwirtschaft infolge
der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 durch Alexander II. begünstigten die Zu-
nahme der Judeophobie: Russische Intellektuelle sahen Bauern als rückständig und
abergläubisch, zu Anarchie und Gewalt neigend an, sie benötigten Schutz und Auf-
sicht, vor allem vor der „jüdischen Ausbeutung“. Es wurde befürchtet, dass der „argli-
stige Jude“ die rückständigen Bauern durch den Aufkauf der Ernte und des Viehs zu
Spottpreisen zu einer „neuen Leibeigenschaft“ verführe. Die Angst vor der jüdischen
Wirtschaftsmacht und vor jüdischer Ausbeutung wurde auch auf Handel, Bankge-
schäfte und Unternehmen übertragen.
Die Einführung der kapitalistischen Wirtschaft führte zu Desillusionierung und
Elend. Die Unzufriedenheit der Bauern und ihrer Verteidiger begünstigte eine revolu-
tionäre und regimekritische Bewegung, die im März 1881 in der Ermordung Alexander
II. gipfelte. Die Tat wurde von Teilen des Staatsapparates und der konservativen anti-
semitischen Presse „jüdischen Revolutionären“ zugeschrieben. Der Ermordung folgte
unmittelbar eine erste Welle antijüdischer Ausschreitungen und Pogrome in den südli-
chen Provinzen des Reiches. Schlüsselfiguren in der Regierung sahen darin eine Ant-
wort der Bauern auf die untragbare „jüdische Ausbeutung“ und legitimierten die „Mai-
gesetze“ von 1882, die jüdische Ansiedlung und wirtschaftliche Aktivität der Juden
auf dem Land einschränkten.
Obwohl nur einzelne Juden an der frühen revolutionären Bewegung von 1881 betei-
ligt waren, setzte man sie mit den zerstörerischen Kräften der Revolution gleich. Zum
Jahrhundertwechsel begannen Juden tatsächlich eine bedeutende Rolle in revolutionä-
ren Parteien, insbesondere in der sozialdemokratischen Bewegung, zu spielen – starke
Urbanisierung und ein hoher Alphabetisierungsgrad der jüdischen Minderheit waren
gute Voraussetzungen dafür. Die Regierung nutzte diese Tatsache, um die revolutionäre
Bewegung als eine „jüdische Verschwörung“ darzustellen. Auch rechtsextreme politi-
sche Parteien wie die „Union des russischen Volkes“ und auch die Armee galten als
besonders judenfeindlich. Juden wurden zu Befürwortern der Revolution von 1905 er-
klärt, die konterrevolutionäre Gewalt gegen sie fand oft unter der Parole „Schlag die
Jidden und rette Russland!“ statt. Die zweite Welle der Pogrome begann zu Ostern
1903 in Kischinew und dauerte bis 1906 an.
Kulturelle Judeophobie äußerte sich in der Angst vor jüdischer Dominanz im Bil-
dungsbereich, die sich in der Kampagne „Der Jude kommt“ niederschlug. Man forderte
Einschränkungen bei der Zulassung von Juden zur Bildung und setzte diese bei der
164 Jüdische Internationale
Zulassung zum Stand der Anwälte oder auch den → „numerus clausus“ von 1887 für
Sekundar- und Hochschulbildung durch.
Der größte Einfluss russischer Judeophobie auf den Antisemitismus war der Mythos
vom „jüdischen Kahal“ als → „Staat im Staate“: Obwohl die formale jüdische Gemein-
de 1844 vom russischen Staat abgeschafft wurde, trugen die Behauptungen von Jakov
Brafman, einem zum Christentum übergetretenen Juden, über eine „geheime, talmudi-
sche, kommunale Republik“, die alle Juden in Knechtschaft halte, dazu bei, dass das
Motiv einer internationalen jüdischen Verschwörung gegen die christlichen Staaten
verbreitet ( → Verschwörungstheorien) und auch im westlichen antisemitischen Dis-
kurs aufgenommen wurde. Den maßgeblichen Beitrag zur Verschwörungstheorie lei-
steten die von der russischen Geheimpolizei erfundenen „Protokolle der Weisen von
Zion“.
Die antijüdischen Vorurteile der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden von der Ju-
deophobie der Mehrheitsgesellschaft beeinflusst: Juden galten als Gottesmörder, die
Christen schaden und vom wahren Glauben abbringen wollten. Im 19. Jahrhundert
wurden Phantasien wie → Ritualmordbeschuldigungen und Talmudfeindlichkeit auf-
gegriffen. Rassistische Ideen fanden in Russland dagegen keine breite Akzeptanz: Mul-
tiethnische Traditionen der Gesellschaft und die Slawenfeindlichkeit der Rassentheo-
rien machten die Bevölkerung dafür wenig empfänglich.
Svetlana Burmistr
Literatur
Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom „Jüdischen Bolschewiken“. Zur Geschichte des russi-
schen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009.
John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question, 1855-1881, Cambridge 1995.
Heinz-Dietrich Löwe, The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and Anti-Semitism in Impe-
rial Russia 1772-1917, Chur 1993.
Leo Pinsker, Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem jüdischen
Juden, Berlin 1917.
Jüdische Internationale
Antisemitische → Verschwörungstheorien suggerieren das Streben der Juden bzw. des
Judentums nach Weltherrschaft. Diese Vorstellung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts
der französische Jesuit Augustin Barruel vertrat, hat sich im 19. Jahrhundert mit dem
Wandel vom → Antijudaismus zum rassistisch und sozialdarwinistisch argumentieren-
den Antisemitismus gefestigt. Fixe Vorstellungen von einer geheimen jüdischen Regie-
rung und ihrer getarnten Weltorganisation sowie vom → „Staat im Staate“ spielten eine
zentrale Rolle im → modernen Antisemitismus.
Der jüdische Rechtsanwalt Bruno Weil untersuchte in seiner Abwehrschrift „Die jü-
dische Internationale“ von 1924 den Begriff und zeigte die Absurdität des rassenmäßig
orientierten → völkischen Antisemitismus, der die jüdische Internationale als Argu-
ment im Kampf gegen deutsche Juden einsetzte und als Schlagwort in die Öffentlich-
keit trug. Jede Spielart der antisemitischen Doktrin gab dem Wort jedoch eine weitere
Bedeutung: Die jüdische Internationale des jüdischen Gottes und der jüdischen Reli-
gion, die die Herrschaft dieses Gottes auf der ganzen Welt zu errichten bestrebt sei; die
Jüdische Internationale 165
Literatur
Wolfgang Benz (Hrsg.), Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte,
München 1993.
Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Welt-
verschwörung, München 2007.
Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998.
Bruno Weil, Die jüdische Internationale, Berlin 1924.
Jüdischer Körper
Das Konzept eines spezifisch jüdischen Körpers ist ein antisemitisches Konstrukt, das
mit dem Übergang vom christlich geprägten → Antijudaismus zum rassischen Antise-
mitismus an Bedeutung gewann. Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, die bis
dorthin religiös begründet waren, wurden nunmehr vornehmlich im Körper lokalisiert
und zumeist auch als unwandelbar dargestellt. Gleichwohl lassen sich die Ursprünge
der Vorstellung eines jüdischen Körpertypus weit in die Vergangenheit zurückverfol-
gen.
Bereits während des Hellenismus wurden Differenzen zwischen Juden und Nichtju-
den an körperlichen Merkmalen, im konkreten Fall an der Beschneidung, festgemacht.
Wettkampfveranstaltungen, bei denen die Akteure nackt auftraten, machte die Unter-
scheidbarkeit sichtbar und ließen Juden Maßnahmen ergreifen, die zur Verlängerung
ihrer Vorhaut führten. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts wurde eine besondere Na-
senform zu einem jüdischen Merkmal. Als ein anderer Indikator eines eigenständigen
jüdischen Körpers galt die Menstruation männlicher Juden. Die Vorstellung davon kam
ebenfalls im Mittelalter auf.
Die eigentliche Hochphase der körperlichen Differenzierung zwischen Juden und
Nichtjuden zeigte sich seit dem späten 18. Jahrhundert mit dem Beginn der Anthropo-
logie. Im Zuge der Bemühungen, Menschen zu kategorisieren und sie verschiedenen
(Rassen-)Typen zuzuordnen, wurden auch Juden nach besonderen physischen Merk-
malen untersucht. Eine der ersten anthropologischen Klassifizierungen der Juden
stammt vom deutschen Zoologen Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840). Ihmzu-
folge waren Juden an ihrer Schädelform erkennbar. In späteren Jahrzehnten sollte die
Handhabung dieses Merkmals zu einem Problem werden, als bei Juden sowohl der
Langschädel als auch der Breitschädel gefunden wurden. Eine kraniometrische Klassi-
fizierung der Juden war sodann nicht mehr möglich.
Als weitere typisch jüdische Merkmale galten die Lippen, die Augen bzw. ein eigen-
artiger Blick, Plattfüße, die Beine und damit verbunden ein besonderer, hinkender
Gang (intermittierendes Hinken) oder auch eine geringe Körpergröße. Wesentlich war,
dass diese angeblichen jüdischen Eigenheiten nicht nur zur Unterscheidung von Nicht-
juden dienten, sondern auch mit bestimmten physiologischen Funktionen und medizi-
nischen Verfassungen in Zusammenhang gebracht wurden. Seit dem frühen 18. Jahr-
Jüdischer Körper 167
hundert wurde beispielsweise die Nase als die Ursache für eine eigenartige Sprech-
weise der Juden gesehen, was letztlich auch das sogenannte → Mauscheln physiolo-
gisch begründete. Der hinkende Gang wiederum konnte durch Diabetes oder Nerven-
krankheiten hervorgerufen werden, für die Juden im Vergleich zu nichtjüdischen Be-
völkerungsteilen sehr stark anfällig gewesen zu sein schienen. Der angeblich eigenarti-
ge, durchdringende Blick der Juden sollte von deren verkommener moralischer Gesin-
nung zeugen. Der jüdische Körper galt in dieser Hinsicht als anders und krank.
Juden zeichneten sich angeblich auch durch eine spezielle Anfälligkeit für Krankhei-
ten aus, deren Ursache oftmals in ihrer rassischen Konstitution, und damit im Körper,
vermutet wurde. Andere Erklärungen wiesen auf eine spezifisch jüdische Existenz-
weise hin, die vor allem unter den osteuropäischen Juden eine „natürliche“ körperliche
Entwicklung verhinderte. Eine religiös geprägte Lebensführung, die den Alltag dem
religiösen Studium unterordnete und physische Betätigung hintanstellte, soll als Grund
für körperliche Missbildungen wie auch geistige Überanstrengung gedient haben, wo-
bei Letztere wiederum zu Geisteskrankheiten führen konnte.
In einem engen Zusammenhang mit der Vorstellung einer spezifischen jüdischen
Krankheitsneigung stand das verbreitete Vorurteil des verweiblichten Juden. Da die für
Juden als typisch erachteten Krankheiten wie die Neurasthenie oder Hysterie über-
durchschnittlich häufig auch bei Frauen vorkämen, wurde auf eine Effeminierung der
Juden geschlossen. Weitere Indikatoren einer sogenannten Verweiblichung der (männ-
lichen) Juden waren ein geringer Brustumfang oder das intermittierende Hinken. Sie
schränkten die Militärtauglichkeit der Juden ein und nahmen ihnen damit die Möglich-
keit, ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Das Stereotyp des verweiblichten Ju-
den war einer der wesentlichen Gründe dafür, dass das Konzept des Muskeljuden bei
Juden auf große Resonanz stieß. Der → Muskeljude sollte nicht nur die Vorstellung,
dass Juden schwächlich und krank seien, widerlegen, sondern auch zeigen, dass Juden
ihren Körper durch Übungen formen konnten und dass er nicht rassisch bedingte, un-
veränderliche Eigenheiten aufwies.
Viele der Studien, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert über den vermeint-
lich spezifischen jüdischen Körper publiziert wurden, bildeten die Grundlage für ras-
senhygienische Publikationen und pseudowissenschaftliche Arbeiten, die nach dem Er-
sten Weltkrieg und während des Nationalsozialismus entstanden. Darin wurden Juden
als krank, gefährlich und degeneriert beschrieben. Was einst als streng wissenschaftlich
gegolten hat, wurde nunmehr zur Grundlage einer menschenverachtenden Ideologie.
Auch nach dem → Holocaust sind Untersuchungen über spezifische körperliche
Merkmale der Juden als Kollektiv nicht gänzlich in Verruf geraten. Gegenwärtig ist der
Fokus auf die genetische Konstitution der Juden gerichtet. Einigen vermeintlich positi-
ven Folgen dieses Vorgehens, die beispielsweise in der Bekämpfung von Krankheiten
wie Tay Sachs gesehen werden, die bei einem Teil der Juden häufiger als bei Nichtju-
den vorzukommen scheinen, stehen Arbeiten gegenüber, die auf genetische Unter-
schiede zwischen Juden und Nichtjuden verweisen und damit unwandelbare Unter-
schiede zwischen ihnen postulieren. Daran zeigt sich, dass kulturelle Perspektiven von
wissenschaftsmethodischen Paradigmenwechseln unbeeinflusst bleiben können.
Klaus Hödl
168 Jüdischer Selbsthass
Literatur
John M. Efron, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-De-Siècle
Europe, New Haven 1994.
Sander L. Gilman, The Jew’s Body, New York 1991.
Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und
Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997.
Daniel Wildmann, Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wieder-
gewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009.
Jüdischer Selbsthass
Obwohl der Begriff „Jüdischer Selbsthass“ erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts formu-
liert wurde, ist das Phänomen bereits seit dem Mittelalter existent. Es beschreibt eine
Form der Selbstverleugnung und -verachtung, die aus der Folge der Etikettierung als
Außenseiter und einem daraus resultierenden Makel erwächst.
„Warum hasst man sich selbst, wenn man doch schon von allen anderen gehasst
wird?“ Nicht allein seit den psychoanalytischen Studien Sigmund Freuds wird dieser
Frage nachgegangen, auch seine Zeitgenossen, so beispielsweise der Philosoph und
Kulturkritiker Theodor Lessing setzten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit dem
Phänomen der jüdischen Selbstverleugnung, des jüdischen Antisemitismus oder des jü-
dischen Selbsthasses auseinander. Die genannten Begriffe werden häufig synonym ver-
wendet, obwohl durchaus unterschiedliche Definitionsansätze diesen Erscheinungsfor-
men zugrunde gelegt werden. Religionsphilosophisch betrachtet, so eine These Theo-
dor Lessings, resultiere der jüdische Selbsthass aus den jahrhundertealten Leiden als
Strafe dafür, dass die Juden als Gottes auserwähltes Volk vom Christentum abgelehnt
würden. Aus Lessings kulturphilosophischer bzw. zivilisationskritischer Perspektive
definierte er den jüdischen Selbsthass als ein Symptom der Selbstentfremdung (des jü-
dischen Volkes) infolge der europäischen Aufklärung und der Entstehung der bürger-
lichen Gesellschaft. Weder eine rechtliche Gleichstellung noch eine vermeintliche
deutsch-jüdische Symbiose hätten zu einer Akzeptanz der Juden in der nichtjüdischen
Mehrheitsgesellschaft geführt. Vielmehr führte die Assimilationsbereitschaft zu einer
gesellschaftlichen Außenseiterrolle und zu einer psychopathologischen Selbstverach-
tung innerhalb der jüdischen Minorität, die sich zuweilen in einem jüdischen Antisemi-
tismus entlud. Man denke beispielsweise an die Frühschrift „Höre Israel“ (1896) von
Walther Rathenau. Sander L. Gilman beschreibt dieses Dilemma in seiner Studie „Jüdi-
scher Selbsthass“ sozialpsychologisch recht anschaulich: Je stärker die von einer Grup-
pe als Außenseiter Etikettierten bestrebt sind, sich der Gruppe – die sich und damit
implizit die Außenseiter erst als Außenseiter definiert – anzupassen, desto massiver
fühlt sich die Gruppe (Mehrheitsgesellschaft) darin bestätigt, dass die Außenseiter (die
Juden als Kollektiv) eben anders sind, und ihnen deshalb der Zugang zurecht verwehrt
wird. Fatal ist für den Außenseiter (als Individuum) jedoch, wenn er diese Zuschrei-
bung des Andersseins verinnerlicht und als einen Makel deutet. Der daraus resultieren-
de Konflikt führe zur Selbstleugnung und zum Selbsthass. Dieses Hassgefühl des Indi-
viduums übertrage sich zwangsläufig auf das Kollektiv, d.h. in diesem Fall auf alle Ju-
den mit ihrer (durch die Mehrheitsgesellschaft) definierten Stereotypisierung.
Kammerknechtschaft 169
Als Beispiele führte Lessing seinerzeit jüdische Intellektuelle an, u.a. den Publizi-
sten und Gründer der Wochenzeitschrift „Die Zukunft“ Maximilian Harden (1861-
1927), den Verfasser von „Geschlecht und Charakter“ Otto Weininger (1880-1903)
oder den zum Christentum konvertierten glühenden Antisemiten Arthur Trebitsch
(1880-1927). Aber auch Lessing zeigte sich keinesfalls immun gegen diesen „jüdi-
schen Selbsthass“. Er bediente sich wohlwissend antisemitisch aufgeladener Begriffe,
um seiner Kritik an der westlichen Zivilisation Ausdruck zu verleihen und scheute
auch nicht davor zurück, einflussreichen Zeitgenossen einen „jüdischen Geist“ zu atte-
stieren. In einem Brief Sigmund Freuds an Kurt Hiller bemerkt dieser bei seiner Refle-
xion über die Schriften Theodor Lessings, der als erster „Volksfeind“ 1933 im tschechi-
schen Exil ermordet wurde, abschließend: „Meinen Sie nicht, daß der Selbsthaß wie
bei Th. L. ein exquisit jüdisches Phänomen ist?“
Elke-Vera Kotowski
Literatur
Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Ju-
den, Frankfurt am Main 1993.
Theodor Lessing, Der Jüdische Selbsthaß, Berlin 1930/München 2004.
Kammerknechtschaft
Die Kammerknechtschaft war das im Spätmittelalter allgemein anerkannte Rechtsinsti-
tut, mit dem die Abhängigkeit der Juden des Heiligen Römischen Reiches von der
Kammer (Finanzbehörde) des Kaisers umschrieben wurde. Eingeführt wurde sie 1236
von Kaiser Friedrich II., um den Juden als Personen minderen Rechts den gleichen
Schutz zukommen zu lassen, wie ihn auch Christen genossen. Die Kammerknecht-
schaft bot zugleich die rechtliche Grundlage zur Einziehung von Judensteuern, sollte
aber keine weitere Rechtsminderung bewirken. Erst in der Zeit Rudolfs von Habsburg
entstand die Vorstellung, dass dem Kaiser kraft der Kammerknechtschaft das freie Ver-
fügungsrecht über Leib und Leben der Juden zustehe. Unter Friedrich III. wurde die
Kammerknechtschaft nur noch zur Begründung einer Reichsunmittelbarkeit der Juden
gegen Besteuerung in Anspruch genommen.
Voraussetzung für die Durchsetzung der Kammerknechtschaft war die seit dem
Hochmittelalter als ausschließlich in Anspruch genommene Kompetenz des Kaisers
bzw. des Papstes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Juden. Letzterer leitete sei-
nen Anspruch aus der „servitus perpetua iudaeorum” her, die – auf Grund der behaup-
teten und untilgbaren Schuld der Juden am Leiden und Sterben Christi – eine umfas-
sende Gebotsgewalt der Kirche über die Juden begründen sollte (so Papst Innozenz III.
1205, übernommen in das „Liber extra” von 1234). Das gleiche Prinzip wurde allge-
meiner schon in Frankreich durch König Ludwig dem Heiligen formuliert, wonach je-
der Schutzherr den ihm unterstellten Juden „tamquam proprium servum” behandeln
könne. Seit Henricus’ de Bracton „De legibus et consuetudinibus Regni Angliae” wur-
de dieser Grundsatz Teil des Common Law, mit der Maßgabe, dass Juden deshalb auch
kein Eigentum haben dürften (iudaeus vero nihil proprium habere potest). Im Heiligen
Römischen Reich wurde die Verfügungsgewalt des Königs über die Juden erstmals im
170 Kammerknechtschaft
rheinfränkischen Landfrieden von 1179 normiert, in dem die Juden der Kammer des
Kaisers zugeordnet wurden (iudei, qui ad fiscum imperatoris pertinent). Friedrich II.
erweiterte diesen Rechtsgedanken, auch in Abwehr päpstlicher Ansprüche, durch die
erstmals sogenannte kaiserliche Kammerknechtschaft (servitus camerae imperialis).
Zur Bekräftigung schrieb er im gleichen Jahr (1236) an Papst Gregor IX., dass die Ju-
den im Reich nach gemeinem Recht direkt seiner Gewalt unterstünden (iudeos autem
etsi tam in imperio quam in regno nobis communi iure immediate subiaceant). Faktisch
wurde so die theologisch begründete Judenknechtschaft zu einer im weltlichen Bereich
wirkenden Kammerknechtschaft erweitert, um aus ihr unterschiedliche Schutz- und
Herrschaftsrechte abzuleiten.
Als Kammerknechte des Kaisers waren die Juden nach Ansicht der Juristen von Un-
tertanenpflichten befreit, zugleich aber mit Schutzabgaben an die kaiserliche Kammer
belastet. Unter Berufung auf den 70 n. Chr. eingeführten „fiscus iudaicus” bildete die
Kammerknechtschaft die Rechtsgrundlage für die Einführung der Judensteuer (erst-
mals 1241), aus der sich im Laufe des Spätmittelalters der „Goldene Opferpfennig”
(seit Kaiser Ludwig dem Bayern) und die Kronsteuer (seit Kaiser Sigmund) entwickel-
ten.
Mit der seit dem Spätmittelalter üblich werdenden Weiterverleihung der kaiserlichen
bzw. königlichen Schutzrechte in Form von „Judenregalien” an andere Herrschaftsin-
haber, erstmals als Rechtsgrundsatz im Verhältnis zu den Kurfürsten in der Goldenen
Bulle von 1356 geregelt, weitete sich die normative Regelungskompetenz an alle
Schutzherren als Inhaber des Judenregals aus. Der juristische Ausbau der Landeshoheit
im Bereich des Heiligen Römischen Reichs seit dem 16. Jahrhundert hatte zur Folge,
dass die zersplitterten Judenschutzrechte auf die Landesherren übergingen; diese konn-
ten geltend machen, dass nur sie als Inhaber eines „territorium clausum” kraft ihres Ge-
waltmonopols zur Ausübung des Judenschutzes in der Lage seien. Die 1530 letztmals
genannte Kammerknechtschaft selbst hatte sich dadurch überholt, und der Rechtsge-
lehrte Christoph Besold konnte 1626 davon sprechen, dass die Juden nach einem älte-
ren Rechtsinstitut als kaiserliche Kammerknechte angesehen würden (veteri instituto
camerae imperialis servi habentur).
Friedrich Battenberg
Literatur
Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S.
545-599.
Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16.
und 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1981.
Guido Kisch, Forschungen zur Rechts- u. Sozialgeschichte der Juden, Sigmaringen 1978.
Walter Pakter, Medieval Canon Law and the Jews, Ebelsbach 1988.
Alfred Patschovsky, Das Rechtsverhältnis der Juden zum deutschen König, in: Zeitschrift für
Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 110 (1993) S. 331-371.
Dietmar Willoweit, Vom Königsschutz zur Kammerknechtschaft, in: Karlheinz Müller,
Klaus Wittstadt (Hrsg.), Geschichte und Kultur des Judentums, Würzburg 1988, S. 71-89.
Kapitalismuskritik 171
Kapitalismuskritik
Eine, wenn nicht die entscheidende, Ursache für die Entstehung des Antisemitismus
im 19. Jahrhundert lag in den tiefen sozialen und kulturellen Erschütterungen und den
fundamentalen alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Verunsicherungen, die mit der
Entstehung der kapitalistischen Marktwirtschaft einhergingen. Die sozialen Verwerfun-
gen und ökonomischen Umwälzungen der Industrialisierung, verbunden mit der Mone-
tarisierung des Alltagslebens, stellten die Menschen vor ungeahnte und gänzlich unbe-
kannte Anforderungen. Sie waren in ihrem sozialen Verhalten und ihrer Arbeitsethik
noch von den Normen der überlieferten Subsistenzökonomie der vorkapitalistischen
Gesellschaft geprägt, dem Prinzip der gerechten Nahrung und den Imperativen der mo-
ral economy, die in fundamentalem Widerspruch zu den moralischen Imperativen des
freien Marktes standen.
Der Antisemitismus und die antisemitische Kapitalismuskritik erlangten nicht zufäl-
lig in dem historischen Augenblick Einfluss auf das kulturelle Klima und die öffentli-
che Meinung, als mit den Bank- und Börsenzusammenbrüchen von 1873 die optimisti-
schen Zukunftsaussichten, die weite Teile der Gesellschaft zuvor bestimmt hatten, zu-
sammenstürzten. Nun griffen eher pessimistische Einstellungen um sich, insbesondere
unter Handwerksmeistern, der bäuerlichen Bevölkerung und Teilen des alten Stadtbür-
gertums. Vor allem diejenigen sozialen Klassen gaben den Juden die Schuld an ihren
sozialen Problemen, die von den sozioökonomischen Umwälzungen, die mit der neuen
Marktwirtschaft zusammenhingen, am stärksten betroffen waren. Juden waren für diese
nicht nur „Repräsentanten des Kapitals“, sondern „Personifikationen“ der unfassbaren
und zerstörerischen Macht des Kapitalismus (Moishe Postone).
Gustav Freytag hatte in seinem Roman „Soll und Haben“ Judenfiguren genutzt, um
die neuen, mit der Industrialisierung einhergehenden Formen des Handels zu beschrei-
ben und diese von der Lebensform des alten ehrbaren Kaufmanns abzugrenzen. Zum
zentralen Schlagwort der antisemitischen Bewegung wurde die immer wieder zitierte
Maxime von Otto Glagau, „die soziale Frage ist die Judenfrage“. Im Mittelpunkt der
antisemitischen Agitation stand der Kampf gegen die als jüdisch diffamierte Gewerbe-
freiheit, das Manchestertum. So trat die antisemitische „Deutsch-Soziale Reform Par-
tei“ für eine grundlegende Neuordnung der „Erwerbsverhältnisse“ ein und wollte damit
zur „Beseitigung der sozialen Nöte“ beitragen. Antisemiten wie Liebermann von Son-
nenberg richteten sich gegen die Gewerbefreiheit und die freie Marktwirtschaft. Zentra-
le Topoi der antisemitischen Rhetorik waren daher etwa der → „Bankjude“, „der Bör-
senjude“ oder der „Warenhausjude“; der allgegenwärtige Wuchervorwurf stellte dabei
eine Verbindung zu überlieferten Formen von Judenfeindschaft her.
Wie David Peal in seiner Studie über Otto Böckel und dessen antisemitische Agita-
tion unter hessischen Kleinbauern gezeigt hat, lag dem Erfolg von Böckel ein „clash of
economic mentalities“ zugrunde. Gerade die unter der Entwicklung der freien Markt-
wirtschaft leidende bäuerliche Bevölkerung hielt an den Werten der überlieferten „mo-
ral economy“ fest. Im Übergang von der Subsistenz- zur Marktwirtschaft führte die
Verschuldung der bäuerlichen Höfe zu gravierenden sozialen Problemen, aus denen an-
tisemitische Agitatoren wie Böckel mühelos Kapital schlagen konnten. Antisemiten
haben den Juden, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik
172 Kaufman-Plan
der Aufklärung“ schrieben, „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse [der Bour-
geoisie] aufgebürdet“.
Die antisemitischen Einstellungen des Mittelstandes resultierten aus dessen Unfähig-
keit, mit den Anforderungen, die die neue Marktordnung an sie stellte, fertig zu wer-
den. Die Arbeiterbewegung war auch deswegen in ihrer Kapitalismuskritik relativ frei
von antisemitischen Haltungen, weil sie für sich jenseits der vorindustriellen, traditio-
nellen Sozialmoral eine neue Zukunftsperspektive entworfen hatte. Eine vermeintlich
wissenschaftliche Reputation erhielt die antisemitische Kapitalismuskritik mit dem
1911 erschienenen Werk des Sozialwissenschaftlers Werner Sombart „Die Juden und
das Wirtschaftsleben“, in dem er die Juden als entscheidende Akteure für die Entste-
hung und Ausbreitung des Kapitalismus darstellte. Von antisemitischen Agitatoren
weidlich ausgeschlachtet, ging die Darstellung von Sombart auch in die antisemitische
Literatur der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein. Der antisemitische Passauer Schrift-
steller Franz Schrönghamer-Heimdahl etwa bezeichnete in seiner 1919 erschienenen
Schrift „Kapitalismus“ die Juden als Träger der kapitalistischen Idee. Mit dem Börsen-
zusammenbruch von 1929 verschärfte sich erneut die antisemitische Kapitalismuskri-
tik, und in der Agitation der nationalsozialistischen Bewegung wurde der Kampf gegen
das „jüdische Kapital“, als „raffendes Kapital“ dem „schaffenden Kapital“ gegenüber-
gestellt, erneut zu einem der zentralen Motive der Propaganda.
Ulrich Wyrwa
Literatur
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente, Amsterdam 1947.
Matthew Lange, Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism in German Culture
1850-1933, Frankfurt am Main u.a. 2007.
David Peal, Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen. The Rise and Fall of the
Böckel-Movement, New York 1985.
Moishe Postone, Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur 36 (1982), S. 13-25.
Kaufman-Plan
Unter dem Titel „Germany must perish“ erschien Anfang 1941 in New York eine Bro-
schüre, in der die Aufteilung Deutschlands an die Nachbarstaaten und die biologische
Ausrottung der Deutschen durch Sterilisierung propagiert wurde. Verfasser war Theo-
dore N. Kaufman, der das Büchlein auch selbst verlegte und vertrieb. Der nationalso-
zialistischen Propaganda war die Geschichte hochwillkommen, sie wurde im „Völki-
schen Beobachter“ (24. Juli 1941) in großer Aufmachung zu einem „ungeheuerlichen
jüdischen Vernichtungsprogramm“ hochstilisiert. Der Verfasser sei ein enger Mitarbei-
ter des US-Präsidenten Roosevelt, der die Hauptthesen des Buches persönlich inspiriert
und diktiert habe. Die ganze NS-Presse beschäftigte sich ausführlich mit dem Pamphlet
und brachte Auszüge, in denen „die letzten Ziele der jüdischen Politik gegenüber
Deutschland“ enthüllt wurden.
Das Reichspropagandaministerium publizierte im September 1941 eine Broschüre
in Millionenauflage, in der bewiesen werden sollte, dass Kaufman „kein namenloser
Einzelgänger, kein vom Weltjudentum abgelehnter Fanatiker, kein geisteskranker Son-
Kaufman-Plan 173
derling“ sei. Aber der angebliche Roosevelt-Intimus und „Präsident der amerikani-
schen Friedensliga“ war tatsächlich nichts anderes als ein unbekannter kleiner Mann,
der Theaterkarten verkaufte und ganz aus eigenem Antrieb handelte. Die amerikani-
sche Öffentlichkeit lehnte seine abstrusen Ideen entrüstet ab. So war es in einem Arti-
kel im US-Magazin „Time“ zu lesen, der einzigen größeren Würdigung, die der „Kauf-
man-Plan“ fand. Wolfgang Diewerge, der Beamte im Goebbels-Ministerium, der die
„Zusammenhänge“ erfunden hat, kannte diesen Artikel wohl, aber er verdrehte ihn ins
Gegenteil. Bewiesen werden musste ja, dass „die Juden“ die Vernichtung der Deut-
schen propagierten, dass man sich also in einer Situation der Notwehr befinde.
Dass Deutschland von Vernichtungsplänen bedroht sei, spielte in der Durchhaltepro-
paganda im Zweiten Weltkrieg eine große Rolle. Goebbels stellte am 27. Mai 1944 im
„Völkischen Beobachter“ „Beweise“ für den „Vernichtungswillen der Alliierten“ zu-
sammen und zitierte unter anderen eine Londoner Zeitung: „Wir sind dafür, jedes in
Deutschland lebende Lebewesen auszurotten: Mann, Frau, Kind, Vogel und Insekt.
Wir würden keinen Grashalm wachsen lassen.“
Benützten die NS-Propagandisten die Vernichtungsphantasien zur Stärkung des
Durchhaltewillens der Deutschen, so dienen sie Neonazis und Apologeten des NS-
Staats bis zum heutigen Tag dazu, um vom Holocaust abzulenken und die Schuld am
Völkermord den Opfern zuzuweisen. Für die Behauptung, das planmäßige Vernich-
tungsprogramm des NS-Regimes gegen die Juden sei ein Akt der Notwehr gewesen,
bildet der „Kaufman-Plan“ das wichtigste Indiz. Paul Rassinier, ein Goebbels-Epigone,
grub 1963 die Schrift Theodore N. Kaufmans wieder aus, um zu beweisen, dass „die
Juden“ an allem schuld sind, andere Rechtsradikale folgten ihm. Heinz Roth brachte
1970 den → Morgenthau-Plan und den Kaufman-Plan in einen inneren Zusammen-
hang mit der Wannseekonferenz, bei der am 20. Januar 1942 deutscherseits „keine
Ausrottung“, sondern „Auswanderung“ der Juden vorgesehen gewesen sei. Die Juden
seien also schlimmer als die Deutschen gewesen, legt der rechtsextreme Autor nahe. In
den 1980 veröffentlichten Erinnerungen Adolf Eichmanns wird dann auch die Juden-
vernichtung auf die „Provokation Kaufmans“ zurückgeführt.
Für die rechtsextremistische Propaganda ist der Kaufman-Plan ebenso wie das Kon-
strukt der „jüdischen Kriegserklärung“ an Deutschland 1933 offenbar unentbehrlich.
1977 erschien erstmals eine Übersetzung in deutscher Sprache in einem einschlägigen
Verlag, und im Frühjahr 1983 waren in der „Nationalzeitung“ unter der Überschrift
„Holocaust-Verbrechen gegen Deutschland – Die Pläne zur Ausrottung unseres Vol-
kes“ Auszüge aus dem Pamphlet zu lesen, garniert mit längst widerlegten Legenden
und Lügen über seine Entstehung, die im Goebbels-Ministerium erfunden worden wa-
ren.
Wolfgang Benz
Literatur
Wolfgang Benz, Judenvernichtung aus Notwehr? Die Legenden um Theodore N. Kaufman,
in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 615-630.
174 Kennzeichnung
Kennzeichnung
Eine sichtliche Unterscheidung zwischen Juden und Sarazenen (Muslimen) forderte
bereits 634 der Kalif des arabischen Großreiches, um eine „Vermischung und Ver-
wechslung der Ungläubigen mit den Gläubigen zu verhüten”. Dies betraf nicht nur die
Juden, sondern auch die Christen der islamischen Länder. Sollten Letztere durch eine
blaue Kopfbinde oder einen blauen Gürtel erkennbar sein, waren die Juden gezwun-
gen, diese Accessoires in gelber Farbe zu tragen. In den christlichen Ländern des
Abendlandes zwangen einzelne Verordnungen – z.B. 1067 in Prag – die Juden zum
Applizieren eines gelben Flickens auf die Kleidung; 30 Jahre später mussten die Juden
Regensburgs ein gelbes Band tragen.
Mit dem 4. Lateranischen Konzil 1215 forderte Papst Innozenz III. die sichtbare
Kennzeichnung der Juden, da es der Kirche ein Greuel war, dass „Beziehungen zwi-
schen Christen auf der einen und Jüdinnen [...] auf der anderen Seite – aber auch um-
gekehrt – stattgefunden [hatten]. Damit derart schreckliche Dinge in Zukunft nicht
durch einen Irrtum entschuldigt werden können, wurde beschlossen, dass von jetzt ab
die Juden beiderlei Geschlechts sich von den anderen Leuten durch ihre Kleidung un-
terscheiden müssen.” Die Art und Weise der Kennzeichnung überließ man den einzel-
nen Regenten der Länder. 1217 befahl Heinrich III. von England den männlichen Ju-
den das Tragen von zwei Flicken weißer Leinwand auf der Oberbekleidung. Sein
Nachfolger Eduard I. forderte 1275 die gleiche Kennzeichnung in gelber Farbe, präzi-
sierte die Größe des Abzeichens und weitete es auf Kinder und Frauen aus.
In Teilen Frankreichs trugen die Juden schon vor dem Jahr 1215 sichtbare Zeichen
an der Kleidung; seit 1219 war ihnen ein kreisrunder gelber oder rot-weißer Flicken
befohlen, der sowohl auf der Brust als auch auf dem Rücken der Kleidung zu befesti-
gen war. In den einzelnen Regionen der Iberischen Halbinsel waren unterschiedliche
Kennzeichen vorgeschrieben: Die Juden Spaniens hatten bis zu ihrer Vertreibung 1492
gelbe oder rote Flecke auf ihrer Kleidung oder Kopfbedeckung, in Portugal war ihnen
ein gelber Hut oder ein sechseckiger gelber Stern auf der Kleidung vorgeschrieben.
In Italien war die Kennzeichnungspflicht Mitte des 14. Jahrhunderts eingeführt wor-
den. Neben dem „gelben Fleck”, den die Männer tragen mussten, war den Frauen ge-
boten, an ihrem Schleier zwei Streifen blauer Leinwand zu befestigen. In einigen italie-
nischen Regionen war jüdischen Männern das Tragen eines gelben Baretts auferlegt,
die Frauen mussten gelbe Kopftücher tragen. Erst seit 1798 waren die italienischen Ju-
den vom Tragen dieser sichtbaren Zeichen befreit.
Auch Polen verhängte 1279 über die Juden das Gebot der Kennzeichnung, dem sich
auch die Juden Litauens 1386 – nach der Vereinigung der beiden Reiche – zu unterwer-
fen hatten. Hier waren gelbe Mützen – zuweilen auch grüne spitze Hüte – und rote Fli-
cken auf der Kleidung vorgeschrieben, letztere mussten auch die Juden Ungarns bis
1783 tragen.
Die Nichtbeachtung dieser Verordnungen wurde mit Geldstrafen geahndet, doch
konnte man sich auch von der Kennzeichnungspflicht loskaufen, wobei sich in beiden
Fällen die Kassen der Landesherren füllten.
In Österreich und Deutschland hatten einzelne Städte die Juden zum Tragen eines
Judenhutes gezwungen. 1290 trugen z.B. die Juden in Nürnberg den sogenannten Pi-
leum cornutum, einen roten Hut, dessen trichterförmige, nach oben ragende Spitze ku-
Kennzeichnung 175
gelig endete. Variationen eines solchen Modells hatten die Juden in Deutschland aus
eigenem Antrieb zwar schon vor dem 13. Jahrhundert getragen, er wurde aber zum
Kennzeichen seines Trägers. Fremde, einreisende Juden, mussten große weite Kappen
– den sogenannten Gugelhut – tragen, dessen Enden bis zum Rücken hinunterfielen.
Dieser wurde den einheimischen Freiburger Juden ab 1394, den Schaffhausener ab
1395 vorgeschrieben. Zum Tragen gelber Ringe auf der Vorderseite ihrer Kleidung wa-
ren die Juden Augsburgs seit 1434, die Bamberger seit 1451 verpflichtet. Die Applika-
tion eines gelben Ringes wurde auch in Würzburg, Köln, Mainz, Frankfurt und Erfurt
verfügt.
Mitte des 16. Jahrhunderts änderte sich die Kennzeichnungspflicht für Juden. Das
bereits seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich übliche Erkennungszeichen, ein safran-
gelber Ring oder runder Fleck auf der linken Seite der Oberbekleidung, wurde nun
auch in den deutschsprachigen Ländern gefordert. In Augsburg wurde der „gelbe
Fleck” zwar schon 1434 und in Bamberg 1451 vorgeschrieben, seine Verbreitung fand
er in den deutschen Städten mit jüdischer Bevölkerung, wie in Trier, Fürth und Frank-
furt am Main jedoch erst nach 1530. Die Wormser Juden waren darüber hinaus ge-
zwungen, ihr Wohnhaus als von Juden bewohnt zu markieren.
Diese Schmach, die die Juden wie ein Kainsmal vor sich her trugen, wurde von
christlicher Seite mit dem volkstümlichen Vers deutlich:
„Es ist, mein guter Freund, ein fast bekante Frage:
Warum der Jud das O an seinen Kleidern trage?
Es soll diss Schmerzens-0 ein stetes Merckmahl seyn,
Dass er mit Recht gehoer zur ew gen Hoellen-Pein.
Auch wenn mans pflegt vor Nichts in Ziffern hinzusetzen,
Dass unter Menschen er vor Nichts sich hat zu schaetzen,
Vielleicht auch, weil er nur vom Wucher sich ernehrt,
Dann durch diss Zeichen wird ein jede Zahl vermehrt.”
Auch von jüdischen Frauen wurde eine Kennzeichnung verlangt, die aber regional
variierte und anscheinend nicht streng beachtet wurde. So waren ab 1434 den Jüdinnen
von Augsburg spezielle Schleier vorgeschrieben, in Bamberg und Frankfurt mussten
an den Schleiern blaue Streifen vorhanden sein.
Erst 1790 entfiel die Kennzeichnungspflicht der Juden in Preußen, bereits 100 Jahre
früher hatte Österreich diese abgeschafft.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 war
es der SA-Führer und Stadtkommandant von Leslau (Włocławek), der am 24. Oktober
1939 den Juden der Stadt befahl, ein 15x15cm großes gelbes Dreieck auf dem Rücken
zu tragen. Bereits drei Wochen später ordnete Hans Frank an, dass alle Juden des Ge-
neralgouvernements vom 12. Lebensjahr an eine weiße Armbinde mit einem blauen
Davidstern tragen mussten.
Überlegungen, die Juden im sogenannten Altreich zu kennzeichnen, gab es bereits
1938. Vorschläge und Entwürfe über Art und Weise der Kennzeichnung wurden zwar
eingebracht, jedoch von Hitler abgelehnt. Federführend in der Forderung nach einer
Kennzeichnung der Juden waren Joseph Goebbels und Reinhard Heydrich. Mit der Po-
lizeiverordnung vom 19. September 1941 waren alle Juden mit Vollendung des sech-
sten Lebensjahres gezwungen, einen handtellergroßen schwarz ausgezogenen Sechs-
176 Kirchenväter
stern aus gelbem Stoff mit der Aufschrift Jude sichtbar auf der linken Brustseite zu
tragen. Diese Verordnung galt auch für das Protektorat Böhmen und Mähren. Die Ver-
teilung bzw. der Verkauf der Judensterne oblag der „Reichsvereinigung der Juden in
Deutschland” bzw. den Jüdischen Gemeinden in Wien und in Prag. Diese Institutionen
mussten die Stoffbahnen, auf denen die Sterne abgedruckt waren, ankaufen und mit
Gewinn an die jüdischen Träger verkaufen, um die Ausgaben der Organisation zu dek-
ken. Die Verordnung über die Kennzeichnungspflicht wurde im „Jüdischen Nachrich-
tenblatt” am 12. September 1941 veröffentlicht; neben dem Hinweis auf Verkaufsstel-
len und Ausgabezeitpunkt war der Preis von 0,10 RM pro Judenstern angegeben. Das
Kennzeichen war nur durch Vorlage von Bezugsausweisen zu erwerben und musste
durch den Empfänger quittiert werden.
Marion Neiss
Literatur
Jens J. Scheiner, Vom gelben Flicken zum Judenstern? Genese und Applikation von Juden-
abzeichen im Islam und christlichen Europa (849-1941), Frankfurt am Main 2004.
Kirchenväter
Der auf die Antike beschränkte Begriff des Kirchenvaters ist auf die Alte Kirche zu-
rückzuführen, die bis zum 4. Jahrhundert ausschließlich Bischöfen den Vatertitel zuer-
kannte und erst ab dem 5. Jahrhundert diesen Titel auch auf Priester und Diakone über-
trug. Als privilegierten Zeugen der lebendigen Tradition der Kirche kommt den Kir-
chenvätern eine besondere Bedeutung zu, während jene antiken christlichen Autoren,
die nicht alle klassischen Kirchenväter-Kriterien erfüllen, aber zur katholischen Kirche
gerechnet werden, „Kirchenschriftsteller“ genannt werden. Dem Begriff des Kirchen-
vaters entspricht der Begriff des Kirchenlehrers, ohne auf die Antike eingeschränkt zu
sein. Der Ehrentitel „Kirchenlehrer“, der zudem das Kriterium hervorragender wissen-
schaftlicher Leistung erfüllt, wurde durch Papst Bonifaz VIII. 1295 den lateinischen
Kirchenvätern Ambrosius (gest. 397), Hieronymus (gest. 419/20), Augustinus (gest.
430) und Gregor dem Großen (gest. 604) verliehen, später aber auch griechischen Vä-
tern wie Johannes Chrysostomos (gest. 407) zugesprochen (durch Papst Pius V. 1568).
Als herausragende Tradenten des Glaubens wurden u.a. ebenfalls die Kirchenväter Isi-
dor von Sevilla (gest. 635) 1722 und 1754 Leo der Große (gest. 461) zu Kirchenlehrern
erhoben.
Die Judenfeindschaft der Kirchenväter und Kirchenschriftsteller respektive ihre anti-
jüdischen Ausführungen lassen sich weder auf die Invektiven antiker antijüdischer Po-
lemik (die Juden als eine ursprünglich an Lepra erkrankte Gruppe, Verehrung eines
Eselskopfes im Tempel usw.) zurückführen, noch als ausschließlich apologetisches
Schrifttum exkulpieren.
Die frühen christlichen Gemeinden wurden in den ersten Jahrhunderten sowohl von
politischer als auch intellektueller Seite in ihrer Praxis und in ihrem Glauben kritisch
hinterfragt. Aufgrund der Nähe zur jüdischen Mutter- bzw. Schwesterreligion entstand
für die frühe Kirche zudem eine Konkurrenzsituation, die als bedrohlich angesehen
wurde. Denn mitunter ließen sich in der Kirche Getaufte auf die religiösen Praktiken
Kirchenväter 177
und Lebensweisen der Juden ein und suchten in den jüdischen Gemeinden und ihren
Synagogen Orientierung für ihre religiöse und soziale Existenz. Diese Bedrohung
durch eine judaisierende Praxis, aber auch die selbstverständliche Berufung der Juden
auf die Thora in Fragen der Praxis führten christlicherseits zu einer aggressiven pole-
mischen Abgrenzung gegen Juden und Judentum in Form von zunächst binnenge-
meindlich ausgerichteten Adversus-Judaeos-Texten. Das Judentum wurde dementspre-
chend als ethisch mindere Religion ausgewiesen, jüdische Traditionen und Bräuche
durchweg negativ gezeichnet und ein toratreues Leben verunglimpft. Diese massive
Polemik lässt sich jedoch nicht nur allein durch die als bedrohlich eingeschätzte Kon-
kurrenzsituation erklären, sondern ist ebenfalls einer innertheologischen Begründung
geschuldet, die meinte, die Kirche als einzigen legitimen Ort der von Gott gewollten
Praxis ausweisen und die Gesetzeserfüllung als mögliche Praxis des Willen Gottes zu-
rückweisen zu müssen. Die Verkündung und Erklärung der christlichen Botschaft ging
nur allzu oft mit der verbalen Destruktion des Judentums einher.
Die antijüdische christliche Polemik wurde auf vielfältigste Weise tradiert, insbeson-
dere hat sie Eingang gefunden in eine ganz speziell gegen die Juden gerichtete Litera-
turgattung mit entsprechend schneidender Schärfe, die Adversus-Judaeos-Schriften,
die in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts erstmalig verfasst wurden. Fiktive Dialoge mit
Juden sollten die Überlegenheit der christlichen Argumentation und des christlichen
Glaubens demonstrieren, wie dies erstmals Justin (gest. ca. 165) mit seinem Kunstdia-
log mit dem Juden Tryphon, der ältesten erhaltenen christlichen antijüdischen Apolo-
gie, versuchte.
Grundlegend wurde die Substitutionsthese ( → Substitutionslehre), nach der die Kir-
che Israel in heilsgeschichtlicher Perspektive ablöst und ersetzt und zum ausschließli-
chen Ort des Heils wird (Tertullian, gest. 220). Im Rahmen des ersten christlichen Ent-
wurfes einer umfassenden systematischen Theologie überhaupt machte Irenäus von
Lyon (gest. ca. 200) bereits im 2. Jahrhundert deutlich, dass die Juden als Mörder des
Herrn („interfectores Domini“) zwar erst die grundsätzliche Erlösung der Menschen er-
möglichten, aber dennoch verdammt seien. Denn ihre Untat und Verblendung bringe
nur den Christen das Heil, ihnen selbst jedoch die Verdammnis. Den Juden wurde ihre
„Schriftblindheit“ zum Verhängnis, da sie es ihnen verunmöglichte, Christus zu erken-
nen (Origenes, gest. 254; → Exegese). Als angebliche Christus- und somit Gottesmör-
der (erstmalig Melito von Sardes, gest. ca. 180) galten die Juden als von Gott verwor-
fen, deren soziale und rechtliche Ausgrenzung man deshalb spätestens seit dem 4. Jahr-
hundert zu Recht meinte betreiben zu müssen. In beispielloser Weise drängte Ambrosi-
us (gest. 397), Bischof von Mailand, Kaiser Theodosius, die von Christen zerstörte
Synagoge in Kallinikon (388) nicht wiederaufbauen zu lassen. Das Motiv der Verer-
bung der Schuld an der Kreuzigung Jesu (→ Gottesmord) führte dazu, dass jeder sich
nicht zum Christentum bekehrende Jude erneut der Kreuzigung bezichtigt und dafür
verantwortlich gemacht werden konnte (Hieronymus, gest. 419/20).
Verhängnisvoll wirkte sich in diesem Zusammenhang die Rezeption des Verses
„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Matthäus 27,25) aus, der als Selbst-
verfluchung des jüdischen Volkes ausgelegt und dementsprechend zur Begründung der
Kollektivschuld der Juden herangezogen wurde.
178 Kornjuden
Nach dem originären Verständnis von Augustinus (gest. 430) lebten die Juden in der
Zerstreuung zum Zeugnis für die Wahrheit des Christentums. In seinem Kampf gegen
judaisierende Christen (iudaizantes) verunglimpfte Johannes Chrysostomos (gest. 407)
die Juden in sehr aggressiver Polemik, um so die reale Attraktivität ihrer Religion zu
schmälern.
Für die christliche Judenfeindschaft der Kirchenväter und Kirchenschriftsteller wer-
den sowohl von theologischer als auch von kirchlicher Seite „umweltbedingte“ Gründe
angeführt. Dieser Entlastungsversuch übersieht jedoch, dass die polemische antijüdi-
sche Rhetorik über die verbale Ebene hinaus von erheblicher zerstörerischer Kraft ge-
wesen ist. Das geistliche Todesurteil war oftmals Anstoß und Animation, die physische
Existenz der Juden einzuengen und zu bedrohen bis hin zur tatsächlichen Vernichtung.
Matthias Blum
Literatur
Ora Limor, Guy G. Stroumsa (Hrsg.), Contra Iudaeos. Ancient and Medieval Polemics be-
tween Christians and Jews, Tübingen 1996.
Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und hi-
storisches Umfeld (1.-11. Jh.), Frankfurt am Main 1999 (4. überarbeitete Auflage).
Kornjuden
Der Begriff „Kornjude“ fand vom späten 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahr-
hunderts im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas erhebliche Verbreitung. Er be-
zeichnete auf rücksichtslosen Gewinn abzielende Getreidehändler, zumeist Großhänd-
ler, und hatte häufig einen pejorativen Beiklang, der deren gewinnsüchtige und angeb-
lich sozial mitleidslose Handlungsweise anprangerte. Als „Kornjuden“ galten Ge-
schäftsleute, die mit Getreide, dem vorrangigen Grundnahrungsmittel, „Wucher“ auf
Kosten der Nahrungsbedürfnisse der sogenannten kleinen Leute trieben. Insofern
knüpfte diese Wortschöpfung an die Mentalitäten der älteren antijüdischen Wucherrhe-
torik („Münz-Jude“, „Finanz-Jude“) an und übertrug deren ideologische Gehalte und
polemische Absichten auf das Feld der exportorientierten Agrarwirtschaft, besonders
des Getreidehandels, der im 18. und frühen 19. Jahrhundert den Status eines florieren-
den, einträglichen Leitsektors und bisweilen auch Spekulationsobjekts erlangte.
Johann Heinrich Zedlers verbreitetes Universallexikon definierte im Jahre 1737
„Korn-Juden“ als „gewinnsüchtige Vor- und Aufkäuffer des Getraides, die zu wohlfei-
len Zeiten das Getraide einsammlen und aufkauffen, und es hernach zur Zeit der Theu-
rung um einen unbilligen Preis mit einem unrechten Maase ohne Unterscheid wieder
verkauffen, und also hierdurch in dem Lande eine Theurung verursachen.“ Kornjuden
handelten demnach wider christliche Nächstenliebe und allgemeine Wohlfahrt. Ihr
Treiben sei „verbrecherisch“. Ihnen müsse das Gewerbe verboten werden, in schweren
Fällen sei ihr Vergehen mit Landesverweis oder Strafarbeit zu ahnden. Der prominente
Berliner Geistliche Johann Peter Süßmilch sprach seit 1758 wiederholt vom gewinn-
süchtigen „Korn-Juden“ als dem Verderber der arbeitenden Armen. Als Monarch, als
Kornjuden 179
todt“. Während der schweren Mangel- und Teuerungskrise 1816-1817 bestimmten Be-
griffe wie „Kornwucherer“, „Kornspekulanten“ oder „Kornjuden“ – hier synonym und
austauschbar – das journalistische Vokabular in der Presse. In Bayern, so der Volks-
kundler Adolf Spamer, habe das Volk fast in jedem Bauern nur noch einen „Wucherer“
oder „Kornjuden“, einen „Stiefbruder des Judas Ischarioth“ sehen wollen. Überhaupt
dürfte der antijüdische Schmähbegriff während dieses bewegten Jahrzehnts der Kriege,
der einschneidenden Reformen und Umbrüche, der zahlreichen Hungerjahre seinen
wirkungsgeschichtlichen Zenit erreicht haben. Nicht zuletzt befördert durch die inten-
sive frühantisemitische Debatte fand das Bild vom „Kornjuden“ wohl seine weiteste
öffentliche Verwendung als populäre Feindbildfigur im Kontext tiefgreifender kollekti-
ver Verstörungen und Ängste. Der „Korn-Jude“, so hieß es häufig in Presseberichten,
in Straßengerüchten und Wirtshausgesprächen, habe die Teuerung und den Hunger ge-
macht. Eher selten waren Stimmen wie jene in den „Berlinischen Nachrichten“ (29.
Juli 1817), die betonten, dass nicht allein die Juden Schuld an Kornmangel und Teue-
rung seien. Man wisse gut, dass auch adlige und bürgerliche Gutsbesitzer, die sich zum
christlichen Glauben bekennen und teilweise Staatsämter bekleiden, zur gegenwärtigen
Teuerung wesentlich beigetragen hätten. Aber der Begriff war geprägt und erwies sich
als populär. Zwei Jahre später ging mit den „Hepp-Hepp-Krawallen“ ( → Hepp-Hepp)
von 1819 eine nahezu flächendeckende antijüdische Gewaltwelle über die deutschen
Staaten hinweg. Gewiss spielte hierbei die politische Debatte über die → Emanzipation
der Juden eine zentrale Rolle, aber auch die Rede vom wucherischen „Korn-Juden“
dürfte einen nicht unerheblichen Beitrag zu diesem Flächenbrand geliefert haben.
Die fiktive Figur des „Korn-Juden“ bezeichnete nicht allein mit Getreide handelnde
Juden, sondern konnte einen Großteil aller auf privaten Gewinn orientierten Händler,
insbesondere exportorientierte Großhändler, einschließen. „Korn-Jude“ meinte dann
ganz allgemein den wucherischen, den „gewissenlosen“ Händler, der das unentbehrli-
che Grundnahrungsmittel Getreide, also „Brot“, ins Ausland ausführt – im Kontrast
zum redlichen, den Normen des Gemeinwohls verpflichteten und wahrhaft „christli-
chen“ Händler. In Preußen wurde der im 18. Jahrhundert weit verbreitete Terminus für
obrigkeitliche Zwecke politisch instrumentalisiert, um Protagonisten des Freihandels
durch Übertragung tief verwurzelter antijüdischer Ressentiments zu stigmatisieren.
Nach seinem Wirkungszenit im Umbruchjahrzehnt 1810-1820 büßte der Schmähbe-
griff vor dem Hintergrund handelspolitischer Liberalisierungen, wohlfeiler Zeiten im
Gefolge der Agrardepression und anderer säkularer Wandlungen an öffentlicher Gel-
tung und politischer Instrumentalisierbarkeit ein, ohne völlig aus dem öffentlichen Vo-
kabular zu verschwinden.
Manfred Gailus
Literatur
Manfred Gailus, Die Erfindung des „Korn-Juden“. Zur Geschichte eines antijüdischen
Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 3,
S. 597-622.
Kornspekulanten → Kornjuden
Kornwucherer → Kornjuden
Kriegs- und Krisengewinnler 181
Jacob Rosenthal, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg
und ihre Folgen, Frankfurt am Main 2007.
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Frankfurt am Main 1987.
Volker Ullrich, Fünfzehntes Bild: „Der Drückeberger“, in: Julius H. Schoeps, Joachim
Schlör (Hrsg.), Bilder der Judenfeindschaft, Augsburg 1999, S. 210-217.
Kriegsschuldlüge
Die Mehrheit der Deutschen war bei Kriegsbeginn 1914 der Überzeugung, dem Deut-
schen Reich sei der Krieg aufgezwungen worden. Diese Überzeugung wurde von der
Reichsregierung, der Heeresleitung und nahezu allen Parteien während des Krieges
durch massive Propaganda dem Volk immer wieder eingeimpft. Andere Meinungen
wurden von der strikten Zensur unterdrückt.
Nach dem verlorenen Krieg diktierten die alliierten Siegermächte die Friedensbedin-
gungen. Die Nationalversammlung war unter dem Druck eines Ultimatums gezwun-
gen, diesen in vollem Umfang zuzustimmen. Am 28. Juni 1919 unterzeichneten dar-
aufhin Außenminister Herrmann Müller (SPD) und Verkehrsminister Hans Bell (Zen-
trum) in Versailles für die Reichsregierung den allgemein als Diktat empfundenen Ver-
trag. Vor allem der sogenannte Kriegsschuldartikel 231, der als Grundlage für die enor-
men Reparationsforderungen der Siegermächte diente, stieß von der extremen Rechten
bis zur KPD auf einhellige Empörung. Er lautete: „Die alliierten und assoziierten Re-
gierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbün-
deten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten
und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ih-
nen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, er-
litten haben.“ Der Artikel 231 wurde in Deutschland allenthalben und vor allem auch
als moralische Verurteilung empfunden.
Die extreme Rechte schob die Schuld für die Annahme des „Schanddiktats“ den als-
bald als „Novemberverbrecher“ diffamierten Vertretern der neuen Republik in die
Schuhe. Das angeblich vom Krieg profitierende internationale Judentum und linke Va-
terlandsverräter seien die wahren Schuldigen am Krieg und auch verantwortlich für die
schändlichen Friedensbedingungen.
Im Kampf gegen die sogenannte Kriegsschuldlüge taten sich die nationalistischen
„Süddeutschen Monatshefte“ unter ihrem Herausgeber Paul Nikolaus Cossmann be-
sonders hervor. In einer Reihe von Sonderheften zur Kriegsschuld versuchten namhafte
Autoren, Militärs und Historiker, die These von der Alleinschuld Deutschlands umzu-
kehren und die Kriegsschuld der Siegermächte nachzuweisen. Im November 1918
hatte der Bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner einen Bericht des seinerzeitigen
bayerischen Legationsrats von Schoen unter dem Namen des ehemaligen bayerischen
Gesandten in Berlin Graf von Lerchenfeld verkürzt veröffentlicht, in der naiven Erwar-
tung, die Alliierten vom Gesinnungswandel der Deutschen überzeugen und so günsti-
gere Friedensbedingungen erreichen zu können. Im September 1919 publizierten nun
die „Süddeutschen Monatshefte“ dieses Dokument vollständig mit Hervorheben der
Auslassungen und suchten damit nachzuweisen, dass durch die Kürzungen Deutsch-
land entlastende Stellen ausgelassen worden seien. Die Eisnersche „Dokumentenfäl-
Kriegsschuldlüge 183
schung“ sei von den Alliierten in Versailles als stärkster Beweis für die Schuld
Deutschlands verwendet worden. Die Behauptung des Historikers Karl Alexander von
Müller in den Monatsheften, Eisner bzw. dessen Sekretär Felix Fechenbach, hätten
„eine bewusste und absichtliche Fälschung“ hergestellt, führte zum sogenannten
Kriegsschuldprozess, in dem namhafte Politiker, Militärs und Historiker als Sachver-
ständige auftraten. Selbst der Pazifist Ludwig Quidde, der mit Eisner zusammengear-
beitet hatte, nannte in dem Prozess die Publikation „eine Verfälschung des eigentlichen
Sinnes des Dokuments“. So hieß es dann auch im Urteil, „die Art wie Eisner die Be-
richte (…) veröffentlicht hat, ist (…) eine unrichtige Wiedergabe, die den Sinn der Ur-
kunde entstellt, ihn teilweise ins Gegenteil verkehrt“. Der aufsehenerregende Prozess
trug erheblich zur Verschärfung der Kriegsschulddebatte und Vergiftung des politi-
schen Klimas in der Weimarer Republik bei. Die Tatsache, dass Eisner und Fechenbach
Juden waren, benützten Antisemiten als „Beweise“ für ihre Behauptung, das internatio-
nale Judentum habe sich verschworen, Deutschland die Schuld am Krieg anzulasten.
Jahrzehntelang waren sich die Historiker, und nicht nur in Deutschland, einig gewe-
sen, dass, wie es Lloyd George formuliert hatte, die Staaten 1914 in den Krieg hinein-
geschlittert seien. Damit schien auch die im Versailler Vertrag dekretierte Alleinschuld
Deutschlands am Krieg widerlegt zu sein. Dieser Auffassung trat Anfang der 1960er
Jahre Fritz Fischer mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ entgegen. Bei seinen
Quellenstudien stieß er auf das „Septemberprogramm“ des Reichskanzlers Bethmann
Hollweg, in dem in den ersten Kriegswochen maßlose Kriegsziele formuliert worden
waren. Fischer nahm an, dass diese Ziele schon vor dem Krieg das Handeln der deut-
schen Politik bestimmt hatten. So diente ihm das Dokument zum Beweis für seine An-
sicht, die Reichsführung trage „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung
für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“. Im Laufe der Jahre verschärften Fischer
und einige seiner Schüler seine These mit der Feststellung, Deutschland habe ab 1912
planmäßig den Krieg vorbereitet und nach der Ermordung des österreichischen Thron-
folgers Franz-Ferdinand bewusst entfesselt. Damit provozierten sie einen langjährigen
heftigen Streit mit der damals vorwiegend konservativen Zunft der etablierten Histori-
ker.
Fischers Arbeiten regten ab den 1970er Jahren verstärkt Forschungen zu den Kriegs-
ursachen sowohl in Deutschland als auch in den seinerzeit feindlichen Ländern an.
Heute wird weitgehend eine erhebliche Schuld des Deutschen Reiches am Kriegsaus-
bruch 1914 anerkannt, im Gegensatz zu Fischer aber auch die gesamteuropäische
Mächtekonstellation in die Diskussion um die Kriegsschuldfrage einbezogen.
Wolfram Selig
Literatur
Karl D. Erdmann, Egmont Zechlin u.a., Krieg und Frieden. Politik und Geschichte – Europa
1914, Kiel 1985.
Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland
1914/18, Düsseldorf 1961.
Klaus Große Kracht, Kriegsschuldfrage und zeithistorische Forschung in Deutschland. Hi-
storiographische Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges in: Zeitgeschichte-online.de, Mai
2004.
184 Lançados
Lançados
Als „Lançados“ werden die lokalen afro-europäischen Händler des 16. bis 18. Jahrhun-
derts an der Westküste Afrikas bezeichnet, die aufgrund der vom 15. Jahrhundert aus-
gehenden portugiesischen Expansion in die neuen Peripherien des Kolonialreiches ver-
drängt wurden. Unter der Gruppe der Lançados finden sich von Anfang an sowohl se-
phardische Juden aus Portugal als auch jüdische Flüchtlinge aus den angrenzenden
christlich-iberischen Königreichen.
Das Königreich Portugal konsolidierte sich im 14. Jahrhundert als regionale Atlan-
tikmacht mit starkem Einfluss an der Straße von Gibraltar sowie konstanten Handels-
beziehungen bis nach Flandern und England. Die lange Präsenz von Juden beiderseits
der Straße von Gibraltar machte sie seit der Antike, den Byzantinern, Arabern sowie
den berberischen Almohaden und Almoraviden zu unentbehrlichen Fernhändlern zwi-
schen Europa und Afrika. Diese wichtige Position blieb den Juden auch nach der
christlichen Eroberung der muslimischen Territorien erhalten.
Die starke Orientierung in Richtung der neuen Märkte in Übersee als Folge der per-
manenten → Diaspora zwang die Sepharden zu Flexibilität. Innovationen beispiels-
weise im Bereich der Schiffstechnik oder der Kartographie wirkten sich ebenso auf die
Erschließung neuer Märkte aus. Hierfür wurden sephardische und neuchristliche Afri-
kaexperten als Avantgarde eingesetzt. Lançados drangen in neue Räume vor und
brachten dadurch neue Waren aus Afrika nach Europa. In den stark wachsenden iberi-
schen Hafenstädten bildete sich ein städtisches Bürgertum heraus, zu dem auch jüdi-
sche Familien zählten. Gegen sie richtete sich der Volkszorn verarmter christlicher Be-
völkerungsgruppen. 1391 begannen die Judenpogrome. Um Zwangskonversionen zu
entkommen, flüchteten viele Juden ins benachbarte Afrika. Von Marokko aus führten
die alten Handelsstraßen zur senegambischen Küste und bis in den Kongo und Angola.
Juden und später auch viele Neuchristen folgten diesen Routen in den Süden des Kon-
tinents.
Landjuden 185
Die Lançados pflegten Beziehungen mit den afrikanischen Königshäusern und besa-
ßen aufgrund ihrer familiären Bindungen sowie ihrer wirtschaftlichen und politischen
Kontakte nach Europa und den Atlantikinseln hohes Ansehen. Ihre Partner in den afri-
kanischen Häfen waren ebenfalls bereits atlantisch akkulturierte Allochthone, die als
→ Tangomaus die vorgelagerten afrikanischen Inseln und Inselgruppen wie São Tomé,
Príncipe, Annobón, Bioko, Luanda, Kapverden, Kanaren, Madeira, Porto Santo und
die Azoren bewohnten und mit Europa und der Neuen Welt Handel trieben.
Christian Cwik
Literatur
Antonio Carreira, Cabo Verde, Formacao e exstincao de uma socidade ecravocrata (1460-
1878), Praia 2000.
Malyn Newitt, A History of Portuguese Overseas Expansion, 1400-1668, New York 2005.
Michael Zeuske, Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks 1400-1940. Umrisse,
Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliographien, Münster u.a. 2006.
Landjuden
Das Phänomen der Landjuden ist überwiegend ein mitteleuropäisches. Die Majorität
der osteuropäischen Juden unterstand nach den Teilungen Polens (1772-1795) der Za-
renmacht und war durch zahlreiche Siedlungsbeschränkungen an Städte gebunden,
was zur Bildung der → Schtetl führte. Der für Mitteleuropa gängige Begriff der Land-
juden ist vor allem eine Zuschreibungskategorie, durch die der auf dem Land lebende
Teil der jüdischen Bevölkerung von der städtischen unterschieden werden sollte, und
so verweist er gemeinhin auf die jüdische Bevölkerung, die in Orten mit weniger als
5000 Einwohnern lebte. Diese Einteilung konnte umfassend, also erst mit dem Wegfall
der Siedlungsbeschränkungen im deutschen Raum, im Laufe des 19. Jahrhunderts ent-
worfen werden.
Besonders evident wird das Phänomen am Beispiel der deutschen Juden, deren Ge-
schichte sich lange Zeit in kleinen Dörfern und Landstädten abspielte. Als historische
Referenzrahmen werden einerseits die spätmittelalterliche Vertreibung der Juden aus
den Residenz- und Reichsstädten und andererseits die rechtliche Gleichstellung im 19.
Jahrhundert gesehen. Bis dahin siedelten ungefähr zwei Drittel aller deutschen Juden
in kleinen Dörfern und Gemeinden überwiegend entlang des Rheins, in Hessen, Fran-
ken, Baden, Schwaben und Württemberg.
Auf dem Land unterlagen Juden zahlreichen Beschränkungen. Zum einen waren sie
in der Wahl ihres Wohnortes nicht frei, da viele Landesteile und Städte ihnen das Nie-
derlassungsrecht versagten. Aufnahme gewährten ihnen gegen ein Schutzgeld vor al-
lem reichsritterschaftliche Dörfer und der Deutsche Ritterorden, wo sie durch zahlrei-
che Sonderabgaben die schmale wirtschaftliche Basis der jeweiligen Landesherren ver-
besserten. Die Ansiedlung kapitalkräftiger Juden wurde besonders begrüßt, mittellose
Juden hingegen verblieben rechtlos und konnten sich meist ihr Überleben nur durch
die Unterstützung der jüdischen Gemeinde sichern. Die punktuelle Zulassung führte zu
einer lokalen Konzentration von Juden in sogenannten → Judendörfern. Dort machten
Juden teils bis zur Hälfte der Einwohner aus, wie z.B. in den badischen Orten Gailin-
186 Landjuden
gen und Randegg oder im schwäbischen Ichenhausen, wo 1806 der jüdische Bevölke-
rungsanteil bei annähernd vierzig Prozent lag.
Zum anderen unterlag die jüdische Landbevölkerung wirtschaftlichen Beschränkun-
gen. Ihnen war der Erwerb von Boden und die Ausübung von Landwirtschaft verboten,
von den Zünften und damit Handwerksberufen blieben sie ausgeschlossen. Als Betäti-
gungsfelder auf dem Land verblieben ihnen neben vereinzelter Schankwirtschaft der
Handel mit Vieh und Agrarprodukten sowie das häufig damit verbundene Geld- und
Kreditgeschäft. Ein großes Einkommen konnte man damit nicht erzielen, so dass sich
noch bis ins 19. Jahrhundert die Masse der Dorfjuden vom mühsamen Klein- und Not-
handel ernährte.
Landjuden pflegten überwiegend eine orthodoxe Lebensweise, d.h. sie hielten sich
an die jüdischen Gesetze, die Speise- und Gebetsvorschriften. Zur Ausübung ihrer Re-
ligion besaß fast jede jüdische Landgemeinde ihre eigenen rituellen Einrichtungen, wie
eine Synagoge, eine Mikwe und eine Begräbnisstelle. Häufig waren Gebets-, Wohn-
und Geschäftsräume unter einem Dach vereinigt, nicht wenige befanden sich in Scheu-
nensynagogen, wie z.B. in Horb/Rexingen, über dem Kuhstall von jüdischen Vieh-
händlern. So bildeten sich auch in kleineren Ortschaften oft Kleinstgemeinden, auch
„Landghettos“ genannt. Berührungspunkte mit der christlichen Bevölkerung gab es
meist nur beim Handeln. Religiöse Unterschiede manifestierten sich in der christlichen
Judenfeindschaft. Vorwürfe des → Ritualmords, des → Gottesmords, des → Hostien-
frevels oder der → Brunnenvergiftung mündeten über Jahrhunderte hinweg in gewalt-
tätigen Übergriffen gegen einzelne Juden und Ausschreitungen gegen Juden als Grup-
pe. Auch der den Juden zugewiesene Geldhandel, der für Christen verboten war und
von ihnen als Wucher verdammt wurde ( → Wucherjuden), sorgte immer wieder für
Spannungen.
Durch die im 19. Jahrhundert fortschreitende Emanzipation erlangten Juden das
Recht auf Freizügigkeit, die bis dahin geltenden Wohn- und Berufsbeschränkungen fie-
len größtenteils weg. Mit dem Zugang zu Universitäten öffnete sich ihnen auch der
Weg zu akademischen Berufen, allerdings blieben ihnen höhere Positionen im Staats-
dienst noch versperrt. Viele Landjuden nutzten die neuen Möglichkeiten und siedelten
in die Städte über. Innerhalb von zwei Generationen wanderte die Mehrheit der Juden
in die größeren Städte ab, der Auflösungsprozess der Landjudengemeinden war damit
eingeleitet.
Begleitend dazu wandelte sich im 19. Jahrhundert aber auch die christliche Juden-
feindschaft in Antisemitismus. Vorurteile und feindliche Angriffe richteten sich fortan
nicht mehr nur gegen sie als religiöse, sondern nun auch als ethnisch-nationale oder
„rassische“ Minderheit. Symbolisch für Auswüchse des Judenhasses im 19. Jahrhundert
sind die Hepp-Hepp-Krawalle 1819 ( → Hepp-Hepp) , sie nahmen im unterfränkischen
Würzburg ihre Anfänge und breiteten sich bald über weite Teile des Landes aus. In den
hessischen Gemeinden wurden jüdische Nachbarn im Laufe agrarischer Unruhen von
1830 bis 1848, vereinzelt noch bis 1880, Opfer gewalttätiger Übergriffe der Christen.
Auch während der Märzrevolution 1848 kam es zu antijüdischen Ausschreitungen auf
dem Land.
Im Mittelpunkt der antisemitischen Übergriffe standen häufig jüdische Viehhändler,
die wie keine andere Berufsgruppe aufgrund ihrer Funktion als Kreditgeber in Zeiten
Landjuden 187
wirtschaftlicher Krisen für die Notlage der Bauern verantwortlich gemacht wurden.
Dies konnte sich im Zuge der Agrarreform Ende des 19. Jahrhunderts in antijüdischen
Aktionen ausdrücken, die sich gezielt gegen jüdische Geldverleiher richteten. Die hes-
sische „Böckel-Bewegung“ stellte den Höhepunkt des Agrarantisemitismus in dieser
Zeit dar. Der Reichstagsabgeordnete und selbsternannte „Bauernkönig“ Otto Böckel
gab Juden die alleinige Schuld an der Agrarkrise und forderte die Abschaffung des „jü-
dischen Zwischenhandels“ sowie die Einführung „judenfreier“ Viehmärkte. Der Ver-
such scheiterte am mangelnden Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung. Dennoch
prägten Böckels Zielsetzungen die Politik agrarischer Verbände, wie die des „Bundes
der Landwirte“, bis in die 1930er Jahre. Von jüdischer Seite führten die vermehrten
antisemitischen Agitationen 1890 zur Gründung des „Vereins zur Abwehr des Antise-
mitismus“.
Zur Zeit der Weimarer Republik fristeten Landjudengemeinden längst ein Schatten-
dasein neben den großen städtischen Gemeinden. Ein Beispiel für diesen dramatischen
Wandel ist Württemberg, dort lebten im Jahr 1832 noch 93 Prozent der Juden in Dör-
fern, einhundert Jahre später waren es nur noch 21 Prozent. Zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts konnte ein Großteil der Landjudengemeinden nur noch mit finanzieller Hilfe der
städtischen jüdischen Gemeinden und der Landesregierungen überleben.
Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und dem stetig anwachsenden Rückhalt der
NSDAP in der Bevölkerung nahmen antisemitische Übergriffe gegen die jüdische
Landbevölkerung zu. Verbale Beschimpfungen und Demütigungen tauchten nicht nur
in antisemitischen Hetzblättern wie „Der Stürmer” auf, sondern fanden zunehmend
auch auf der Straße Niederschlag. Viele Juden reagierten auf die Zunahme der antise-
mitischen Angriffe mit dem Wegzug in andere deutsche Gebiete oder ins Ausland.
Selbst in Mittelfranken, wo bis 1933 eine der letzten großen Landjudengemeinden be-
stand, verließen zwischen 1925 und 1933 bereits 15,3 Prozent der jüdischen Bevölke-
rung die Region.
Ab 1933 wurde Antisemitismus Bestandteil der Regierungspolitik, deren Ziel es zu-
nächst war, Juden sozial zu isolieren und durch wirtschaftliche Ausgrenzung zur Aus-
wanderung zu drängen. Dieser Prozess verlief reichseinheitlich asynchron und unkoor-
diniert, er teilte sich in spontane Terroraktionen „von unten“ und die durch Gesetzge-
bung und Verordnungen betriebene Ausgrenzungspolitik „von oben“. Zwar flachte die
Gewalt „von unten“ nach der Etablierung der Macht im Sommer 1933 in den meisten
Städten wieder ab, doch fanden auf dem Land noch weiterhin gewalttätige Übergriffe
gegen die jüdische Bevölkerung statt, wie z.B. in der fränkischen Kleinstadt Gunzen-
hausen. Von einer antisemitischen Brandrede des SA-Obersturmführers Kurt Bär auf-
gehetzt zogen dort am 25. März 1934 circa 1500 NSDAP-Mitglieder, SA-Männer und
Schaulustige zu den Häusern ihrer ungefähr 180 jüdischen Mitbürger, plünderten deren
Wohnungen und misshandelten die Männer. Die zusammengelaufene Volksmenge un-
terstützte die prügelnden SA-Männer mit Zurufen wie „Schlagt drauf, schlagt drauf!“
Zwei jüdische Männer kamen während der Ausschreitungen ums Leben. Antisemiti-
sche Gewalt war Ausdruck nationalsozialistischer Politik, der Pogrom von Gunzenhau-
sen zeigt, dass sie auch in der Bevölkerung aktiv unterstützt wurde.
Die wirtschaftliche Verdrängung vollzog sich zunächst durch eine massiv betriebene
Boykottpolitik. Einzelne Bürgermeister und NS-Bauernführer erließen bereits unmittel-
188 Landjuden
bar nach 1933 Handelsverbote oder verwehrten Juden den Zutritt zu den Märkten bzw.
zu ihren Ortschaften. Gerade in Mittelfranken, dem Gau des „Stürmer“-Herausgebers
Julius Streicher, stellten viele Gemeinden Schilder mit Aufschriften wie „Juden uner-
wünscht“ vor Ortseingängen auf und verwehrten Juden z.B. den Zutritt zu Märkten,
noch bevor die Reichsregierung einheitliche Regelungen dafür erließ. Zwar waren
Landjuden durch die Boykottpolitik in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht, konnten
aber als freie Gewerbetreibende – anders als jüdische Beamte, die bereits im April
1933 ein Berufsverbot erhielten – wenn auch nicht ohne Widerstände weiterhin ihre
Tätigkeit ausüben.
In Wirtschaftszweigen, wie dem Vieh- und Hopfenhandel, in denen Juden eine mo-
nopolartige Stellung einnahmen, stieß die rassistische Politik anfänglich an ihre Gren-
zen. Boykottaufrufe der Nationalsozialisten an die ländliche Bevölkerung zur wirt-
schaftlichen Vernichtung der Juden zeigten zunächst wenig Wirkung. Bauern weiger-
ten sich vielerorts, ihre Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Händlern einzustellen,
denn jüdische Viehhändler waren den Bauern durch die Gewährung von dringend be-
nötigten Krediten unersetzlich geworden. Als überwiegend mittelständische Händler
waren die jüdischen Viehhändler an überregionale Märkte angebunden und konnten
großzügigere Kredite als die meisten christlichen Händler gewähren, die vielerorts den
Viehhandel nur als Metzger und Gastwirte im Nebenerwerb betrieben. Exemplarisch
für diese Verflechtung und Dynamik steht die Äußerung eines Gemeinderatsmitglieds
von Gunzenhausen, der im Jahr 1934 erklärte, nachdem Versuche einen „judenfreien“
Viehmarkt einzuführen gescheitert waren: „Die Juden brauchen wir, weil ich heute
noch mein Vieh ohne Juden nicht an den Mann bringen kann. Die christlichen Händler
wollen nämlich das Vieh stets unter dem Preis kaufen, was bei den Juden nicht der Fall
ist.“ Auf den dennoch zunehmenden Druck reagierten jüdische Händler, indem sie ihre
Geschäfte mit Bauern aus dem öffentlichen Raum in eine Dunkelzone verlagerten und
den Handel des Nachts betrieben. Bauern liefen dabei Gefahr, in der Öffentlichkeit als
„Judenknechte“ angeklagt oder gar in „Schutzhaft“ genommen zu werden. Allerdings
nutzten auch viele Bauern die missliche Lage der Verfolgten aus, indem sie Verbind-
lichkeiten nicht mehr zurückzahlten.
Auch auf behördlicher Seite spitzte sich die Verfolgung ab 1935 weiter zu, indem
einzelne Bürgermeister, Landräte und NS-Kreisbauernführer jüdischen Landhändlern,
zumeist unter dem Vorwand der mangelnden persönlichen Zuverlässigkeit, die zur
Ausübung des Landhandels benötigten Gewerbelegitimationskarte verweigerten. Vor-
erst reichte die Tatsache Jude zu sein nicht aus, die Ausstellung der Handelserlaubnis
zu untersagen – dem stand die Handels- und Gewerbefreiheit der Reichsgewerbeord-
nung entgegen. Juden konnten noch gegen diese Praxis Klage erheben und häufig ga-
ben Gerichte und Behörden diesen statt. Die endgültige Ausschaltung von Juden aus
dem Landhandel erfolgte erst mit dem Reichsgesetz vom 6. Juli 1938, das den Juden
den Hausierhandel und die Ausübung eines Gewerbes außerhalb ihres Wohnortes ver-
sagte.
Ausmaß und Intensität antijüdischer Übergriffe waren in Dörfern und Kleinstädten
größer als in Großstädten. Beschimpfungen auf der Straße, eingeworfene Fenster, be-
schmierte Hauswände und Schandumzüge gehörten schon unmittelbar nach 1933 zum
Alltag der jüdischen Landbevölkerung. Ursachen hierfür dürften vor allem in der leich-
Landjuden 189
teren Erkennbarkeit und damit Angreifbarkeit der Verfolgten zu finden sein, wie auch
in der geringeren polizeilichen Präsenz und der damit einhergehenden Aussicht auf
Straffreiheit der Täter. Die Verfolgungserfahrung in der Provinz war eine persönliche,
Täter und Opfer kannten sich, häufig hatten sie gar eine gemeinsame soziale Vorge-
schichte. Aus Nachbarn, ehemaligen Kunden und Angestellten wurden Peiniger. Ein
gradueller Unterschied in der Gewalt lässt sich auch in protestantisch und katholisch
geprägten Regionen erkennen. In den protestantischen Gebieten hatten die Nationalso-
zialisten schon vor 1933 große Wahlerfolge erzielen können, wo sie eine gute Infra-
struktur lokaler Parteiorganisationen aufgebaut hatten. In katholischen Regionen hinge-
gen war die Partei weniger verankert, und dort genoss die jüdische Bevölkerung länger
Schutz vor individuellen Terroraktionen. Aufgrund der Schärfe der antisemitischen
Hetze in protestantischen Gegenden wanderten von dort auch vor den Novemberpogro-
men 1938 mehr Juden ins Ausland ab als aus katholischen. Die anfängliche größere
Sicherheit in den katholisch geprägten Gegenden sollte später fatale Auswirkungen ha-
ben. Als die Verfolgung sich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte, konnten
die Juden nicht mehr fliehen und wurden Opfer der Vernichtungspolitik.
Die Mehrheit des ländlichen Judentums hatte jedoch bereits vor den Novemberpo-
gromen ihre Heimatgemeinden verlassen, so hatten sich in Mittelfranken schon acht
von 22 jüdischen Landgemeinden und neun von 17 Kleinstadtgemeinden aufgelöst.
Die jüngere Generation suchte vor den antisemitischen Übergriffen Schutz in größeren
Städten oder im Ausland, zurückblieben vor allem ältere Juden, die noch an ihrer Hei-
mat hingen und auf bessere Zeiten hofften. Nach den reichsweit organisierten Aus-
schreitungen im November 1938 erlosch das jüdische Leben in deutschen Dörfern und
Kleinstädten. Nach 1945 lebten nur noch vereinzelt Juden in ihren ehemaligen Heimat-
dörfern, von Gemeinden konnte aber keine Rede mehr sein. Die Erinnerung an das jü-
dische Leben auf dem Land ist vielerorts entpersonalisiert und materialisiert. Erinnert
wird an steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens, wie jüdische Friedhöfe und Synagogen.
Stefanie Fischer
Literatur
Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemein-
den 1862-1940, Hamburg 2000.
Jacob Borut, „Bin ich doch ein Israelit, ehre ich auch den Bischof mit.“ Village and Small-
Town Jews within the Social Spheres of Western German Communities during the Weimar
Period, in: Wolfgang Benz, Arnold Paucker, Peter Pulzer (Hrsg.), Jüdisches Leben in der
Weimarer Republik, Tübingen 1998, S. 117-133.
Reinhard Rürup, Monika Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur
deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997.
Falk Wiesemann, Juden auf dem Lande. Die wirtschaftliche Ausgrenzung der jüdischen
Viehhändler in Bayern, in: Jürgen Reulecke, Detlev Peuckert (Hrsg.), Die Reihen fast ge-
schlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal
1981.
190 Lebensraum
Lebensraum
Friedrich Ratzel (1844-1904), einer der Begründer der Politischen Geographie und des
„Alldeutschen Verbandes“, führte um 1900 den ursprünglich aus der Biologie stam-
menden Terminus Lebensraum in den politisch-wissenschaftlichen Diskurs um den Er-
werb von Kolonien ein. Er proklamierte in einer Art von geographischem Darwinismus
einen ewigen Daseinskampf in Form eines „Kampfes um Raum“, denn „ein Volk …
muß sich ausbreiten, weil es wächst“.
Die imperialistische Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreiches, die in erster Linie
auf territoriale und wirtschaftliche Expansion in Afrika zielte, lehnten die Völkischen
unter dem Vorwurf eines „starken jüdischen Einflusses“ ab. Sie forderten dagegen mit
Verweis auf die „mittelalterliche deutsche Ostsiedlung“ eine kontinentale Expansions-
politik in Richtung Osten mit dem Ziel der „Neugründung deutscher Siedlungen“.
Diese Lebensraumideologie setzte sich (unterstützt durch Vorgeschichts- und „Ostfor-
schung“) nach dem Ersten Weltkrieg durch und radikalisierte sich durch ihre Verbin-
dung mit antislawischem und antisemitischem Gedankengut. Hintergrund bildeten die
Gebietsverluste des Deutschen Reiches durch die Bestimmungen des Versailler Vertra-
ges und die geheime Revisionspolitik der Weimarer Republik. Das publikumswirksa-
me Schlagwort für die Forderung nach Lebensraum lieferte der Schriftsteller Hans
Grimm mit seinem Roman „Volk ohne Raum“ (1926).
Bereits 1919 schrieb Rudolf Jung, ein sudetendeutscher Lehrmeister Hitlers, in „Der
nationale Sozialismus“: „Er baut das neue, wirkliche Deutsche Reich auf, dessen erste
Tat in der Lösung der Boden- und mit ihr der Heimstättenfrage bestehen muß, denn der
Deutsche soll wieder als Freier auf freiem Grund stehen! Hier regen sich die Zweifel.
Woher das Land nehmen, so hören wir fragen. Nun, soweit es möglich ist, wird es in-
nerhalb der heutigen Reichsgrenzen beschafft. Wird aber unserem Volke dort der Le-
bensraum zu eng, nun, dann wird es durch die Not getrieben, wieder dorthin fahren
müssen, wohin einst die Ahnen zogen: Gen Osten!“ Diese Vorstellung vom „Kampf
um Lebensraum im Osten“ war seit den frühen 1920er Jahren fester Bestandteil in Hit-
lers Weltanschauung und bildete neben → Rassismus und Antisemitismus die zweite
ideologische Säule der NS-Expansionspolitik.
Ihre praktische Umsetzung zur „Neubildung deutschen Bauerntums“ und Entwick-
lung „Deutscher Kultur“ in Polen und der Sowjetunion in Form umfangreicher Um-
siedlungen deutscher Minderheiten bedeutete für die nichtjüdische einheimische Be-
völkerung Vertreibung und Versklavung, für die Juden Deportation, Ghettoisierung
und Vernichtung. Diese mörderische Implikation fand ihren institutionellen Ausdruck
darin, dass die Planung und Organisation des neuen Lebensraums unter anderem dem
Apparat des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, übertragen wurde (Einsatzgruppen,
„Generalplan Ost“).
Die gedankliche Verbindung mit aggressivem Gebietsanspruch und → Genozid lässt
eine Verwendung des Lebensraum-Begriffs außerhalb des Faches Biologie nicht zu.
Mario Wenzel
Limpieza de sangre [Reinheit des Blutes] 191
Literatur
Horst Dreier, Wirtschaftsraum – Großraum – Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs,
in: Horst Dreier, Hans Forkel, Klaus Laubenthal (Hrsg.), Raum und Recht, Berlin 2002, S.
47-84.
Hermann Graml, Rassismus und Lebensraum. Völkermord im Zweiten Weltkrieg, in: Karl
Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945.
Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1993, S. 440-451.
Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“. Geographische Ostforschung im Natio-
nalsozialismus, Berlin, Hamburg 1990.
Wolfgang Wippermann, Der „Deutsche Drang nach Osten“. Ideologie und Wirklichkeit eines
politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981.
Heike Wolter, „Volk ohne Raum“ - Lebensraumvorstellungen im politischen, literarischen
und politischen Diskurs der Weimarer Republik, Münster u.a. 2003.
Hass gegen die Neofiti und ihre Nachfahren speiste sich nicht zuletzt aus Neid, da
diese ein hohes Maß an sozialer Mobilität an den Tag gelegt hatten.
In den iberischen Kolonialreichen entwickelte sich das ursprüngliche Konzept der
„Limpieza de sangre“ insofern weiter, als es im Lauf der Frühen Neuzeit auf Bevölke-
rungsgruppen wie Indigene, Afro-Amerikaner und die zahlreichen Mischformen bezo-
gen wurde, die keine rein europäische Abstammung nachweisen konnten. Da der
Nachweis der „Reinheit“ jedoch käuflich war, blieb die Vorstellung von einer ethnisch
homogenen weißen Oberschicht hier ebenso undurchführbar wie die der ursprüngli-
chen „Limpieza de sangre“ in Spanien, wo es adlige Familien mit Konversionshinter-
grund gab.
Stefan Rinke
Literatur
Marta Canessa de Sanguinetti, El bien nacer: Limpieza de oficios y limpieza de sangre - Rai-
ces ibéricas de un mal latinoamericano, Montevideo 2000.
Julio Caro Baroja, Los Judíos en la España Moderna y Contemporánea, 3 Bände, Madrid
1986.
Antonio Domínguez Ortiz, Los Judeoconversos en España y América, Madrid 1978.
Max Sebastián Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne: Die „Reinheit des Blutes“ im
Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006.
Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003.
Ernst Schulin, Die spanischen und portugiesischen Juden im 15. und 16. Jahrhundert. Eine
Minderheit zwischen Integrationszwang und Verdrängung, in: Bernd Martin, Ernst Schulin
(Hrsg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981.
Linker Antisemitismus
„Linker Antisemitismus ist unmöglich!“ Auf diese Formel brachte 1976 der Schriftstel-
ler Gerhard Zwerenz ein in linken Milieus gelegentlich bis heute verbreitetes Selbst-
bild. Nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz schien Judenhass generell tabu ge-
worden zu sein. Selbst Vorurteilsforscher und politisch engagierte Aktivisten glaubten
jahrelang, der Antisemitismus beschränke sich auf „ewig Gestrige“ im kleinen rechts-
radikalen politischen Spektrum.
Doch der Hass auf „die Juden“ ist das älteste Ressentiment der Menschheitsge-
schichte; es reicht tiefer als ein bloßes Vorurteil und macht vor keiner sozialen Gruppe
Halt. Einerseits zeigten sich Anhänger der Linksparteien sowohl in der Kaiserzeit als
auch in der Weimarer Republik deutlich weniger für antisemitische Ressentiments an-
fällig als die Vertreter konservativer und deutsch-nationaler Milieus; andererseits
machten auch linke Exponenten immer wieder Konzessionen an einen antijüdischen
Zeitgeist. Der linke Antisemitismus sucht sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts vom tra-
ditionellen Antisemitismus abzugrenzen. Seit der Staatsgründung Israels spielen seine
Protagonisten auf einer antizionistischen Klaviatur – nicht trotz, sondern wegen
Auschwitz: Ihre ressentimentgeladene Israelfeindschaft, die sich als vermeintlich harm-
lose „Israelkritik“ oder menschenrechtlich motivierte Palästina-Solidarität camoufliert,
hat dem → Antizionismus als Weltanschauung zeitweise die Note des „ehrbaren Anti-
Linker Antisemitismus 193
semitismus“ (Jean Améry) verliehen, ist aber in Teilen auch der politischen Linken
stets umstritten gewesen.
Nicht nur die deutsche Nachkriegslinke begriff die jüdisch-zionistische Staatsgrün-
dung – drei Jahre nach dem Ende des deutschen Vernichtungsantisemitismus – als ei-
nen kleinen, aber überfälligen Akt der „Wiedergutmachung“. Währenddessen rückte
die sowjetische Führung schon 1949 wieder von ihrer prozionistischen Ausrichtung ab
und entfachte eine antisemitische Kampagne. Ins Fadenkreuz gerieten vor allem Men-
schen jüdischer Herkunft. Die ostdeutsche SED schloss sich den stalinistischen Säube-
rungswellen an: Wen das Verdikt „Westemigrant“, „Trotzkist“ und/oder „Kosmopolit“
traf, geriet in den Strudel dubioser Schau- und Geheimprozesse. Erst im Zuge der Ent-
stalinisierung von 1956 nahmen die offenkundigsten Formen des antisemitischen
Spuks ein Ende.
Noch Mitte der 1960er Jahre hatte die große Mehrheit der westdeutschen Linken
mit Israel sympathisiert und seine freiheitlich-sozialistischen Strukturen mit z.T. stereo-
typer Bewunderung begleitet. Seit Ende der 1960er Jahre allerdings arbeitet sich der
linke Antisemitismus auch hierzulande am Staat Israel ab. Die Tatsache, dass der jüdi-
sche Staat im sogenannten Sechstagekrieg 1967 nicht untergegangen, sondern sich
wehrhaft behauptet hatte – dieser „Sündenfall“ war im Weltbild der neuen studentisch
geprägten Linken nicht vorgesehen: Während bürgerlich-konservative Kreise plötzlich
Israel-Sympathien zeigten, wechselten weite Teile der radikalen Linken die Fronten.
Binnen weniger Wochen nahmen sie den jüdischen Staat nur noch als „zionistisches
Staatsgebilde“ und als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr. Hinter der Kritik
am angeblich „aggressiven“ Präventivschlag verbargen sich zunehmend Zweifel am
Existenzrecht Israels. An die Spitze des antizionistischen Paradigmenwechsels setzten
sich Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). 1969 hatten
sich die israelkritischen Tendenzen in der Neuen Linken zu einem Antizionismus radi-
kalisiert, der alle Anzeichen eines ideologisch geschlossenen Weltbildes aufwies. Nur
notdürftig kaschiert durch „antiimperialistische“ Phrasen traten Fragmente eines reakti-
vierten Antisemitismus unter antizionistischen Vorzeichen zutage.
Anders als die SDS-ler mit ihren agitatorischen Sandkastenspielen schreckten die
Aktivisten der linksradikalen Stadtguerilla nicht vor antisemitisch motivierter Gewalt
zurück. Es waren linksdeutsche Antizionisten, die ausgerechnet am 9. November 1969
einen antijüdischen Anschlag organisierten – während einer Gedenkfeier zum 29. Jah-
restag des Novemberpogroms. Die Bombe, die sie im jüdischen Gemeindehaus West-
Berlins deponierten, zündete allerdings nicht.
Im Sommer 1976 brachte ein deutsch-palästinensisches Kommando ein französi-
sches Passagierflugzeug in seine Gewalt und dirigierte die Maschine nach Entebbe
(Uganda) um. Der Deutsche Wilfried Böse organisierte die räumliche Trennung der jü-
dischen von den nichtjüdischen Passagieren. Erst jetzt war der Schock über Affinitäten
zwischen rechts- und linksradikalen antijüdischen Ressentiments so nachhaltig, dass
sich das Ende des antizionistischen Meinungsmonopols in der Linken ankündigte.
Zum politischen Erbe des SDS und der 1968er gehörte im anschließenden „Roten
Jahrzehnt“ auch die Herausbildung jener zahllosen Palästinakomitees, die das antizio-
nistische Vermächtnis der Studentenbewegung zu ihrem Hauptanliegen erklärten. Zahl-
reiche Universitätsstädte wurden nun zu Zentren deutscher „Palästina-Solidarität“; dort
194 Linker Antisemitismus
machten sich Anhänger des neulinken Spektrums zum Sprachrohr der Palästinenser.
Unwidersprochen verbreiteten sie auch antisemitisches Gedankengut. Das Bonner Pa-
lästinakomitee suggerierte in seinen Statuten die ominöse Existenz eines „jüdischen
Kapitals“; andere agitierten gegen „US-Imperialismus und Weltzionismus“; die Lei-
tung des Kommunistischen Bundes rief auf zum Kampf gegen den „internationalen
Zionismus“ – eine nicht erst heute irritierend klingende Wortwahl.
Weite Teile der 1968er sind in den späten 1970er Jahren mit der grünalternativen
Bewegung verschmolzen und haben sich in diesem Prozess mehr und mehr von anti-
zionistischen Glaubenssätzen verabschiedet. Dennoch: Als die israelische Armee im
Sommer 1982 in den Libanon einmarschierte, wurde Israel in seltener Einmütigkeit
des „Völkermords“ an den Palästinensern bezichtigt. Nicht zuletzt linksalternative Pu-
blizisten erlagen der Faszination begrifflicher Tabubrüche; triumphierend witterten sie
die Gelegenheit, Antifaschismus und Antisemitismus miteinander zu versöhnen. In ei-
ner beispiellosen historisch-psychologischen Entlastungsoffensive bezeichneten sie die
Palästinenser als die „neuen Juden“ und setzten die israelischen Invasoren mit den Na-
zis gleich. Die gezielte Vermischung historischer Ebenen gipfelte im Vorwurf des „um-
gekehrte(n) Holocaust(s)“ und einer „Endlösung der Palästinenserfrage“.
Seit den späten 1980er Jahren befindet sich jener Radau-Antizionismus, der die
„vollständige Zerschlagung des zionistischen Staates“ propagierte, auf dem Rückzug.
Unter schmerzvollen kathartischen Zerreißproben setzte sich in Teilen der Linken die
Einsicht durch, dass der Kampf gegen Unrecht auch monströse Züge annehmen kann.
Gleichwohl gehört das antisemitische Ressentiment in der Linken keineswegs der Ver-
gangenheit an: Seit einigen Jahren mehren sich antiisraelische Boykottaufrufe globa-
lisierungskritischer, gewerkschaftlicher und kirchennaher Einrichtungen, die in linken
Traditionszusammenhängen stehen. Für Boykottaufrufe gegen die chinesische Regie-
rung wegen der Besetzung Tibets oder Maßnahmen gegen Regierungen anderer Länder
wegen vergleichbarer oder schlimmerer Menschenrechtsverletzungen interessieren sich
die Israel-Boykotteure indes nicht.
„Je ‚böser’ die Israelis gezeichnet werden, desto ‚besser’ können ‚wir’ uns fühlen –
dann war der Holocaust, wenn wir ihn schon nicht leugnen können, wenigstens nicht
einzigartig.“ In diesem massenhaft zirkulierenden Gedankenkonstrukt mutieren ausge-
rechnet die ehemaligen Opfer zu Tätern eines neuen Holocausts – und Deutsche, Euro-
päer etc. avancieren zu Guten. Es handelt sich hierbei um die nur notdürftig „israelkri-
tisch“ camouflierte Ausprägung jenes Antisemitismus, der seine Ressentiments in
scheinbar ehrbarer Gestalt – wahlweise im Namen der Vergangenheitsbewältigung, der
Menschenrechte oder des Antirassismus – transportiert und kommuniziert. Wenn linke
Deutsche und Europäer über Juden, Israel und Zionismus „aufklären“, reden sie auch
über sich selbst – viele ihrer Sprüche, Parolen und verschwörungstheoretischen Phan-
tasmen künden von Entlastungsbedürfnissen und Schuldabwehr-Projektionen.
Die Schlüsselfrage an den Antisemitismus in Teilen der Linken lautet nicht, ob „Is-
raelkritik“ „erlaubt“ ist – sondern, ob Kritiker ein faires, kritisch-differenzierendes oder
aber verzerrtes Israelbild zeichnen. Wer Israels Staat und Gesellschaft mit anderen und
strengeren Maßstäben als sonst international üblich misst, muss sich fragen lassen, ob
eine solche Position nicht von einem Antisemitismus in moralischer Tarnung geprägt
ist. Dieser Eindruck wird zur Gewissheit, wenn „Israelkritiker“ das Existenzrecht Is-
Literarischer Antisemitismus 195
raels als jüdischen und demokratischen Staat in Frage stellen (Delegitimierung), stets
„Israel“, der „zionistischen Lobby“ oder gar „den Juden“ die Schuld an der palästinen-
sischen Malaise geben (Dämonisierung) und umstrittene israelische Militäreinsätze mit
den Verbrechen der Nazis gleichsetzen (Aufrechnung und „Entsorgung“ der NS-Ver-
brechen).
Martin Kloke
Literatur
Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Ge-
fühls, Frankfurt am Main 1986 (Neuauflage 2005).
Matthias Brosch u.a. (Hrsg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland.
Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin 2007.
Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnis-
ses, Frankfurt am Main 1990 (erweiterte Neuauflage 1994).
Holger Knothe, Eine andere Welt ist möglich - ohne Antisemitismus? Antisemitismus und
Globalisierungskritik bei Attac, Bielefeld 2009.
Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis
des Kommunismus, Opladen 1983.
Literarischer Antisemitismus
Literarischer Antisemitismus ist als ein noch recht junger, literaturwissenschaftlicher
Begriff in der Erprobungsphase. Er begnügt sich keineswegs damit, auf literaturwissen-
schaftliche Positionen zu reagieren, in denen Fragen nach Antisemitismus in ästheti-
schen Formationen mit Verweis auf die Kunst als einem autonomen und gleichsam in-
teresselosen Raum obsolet sind. Als Forschungsfeld hat sich der literarische Antisemi-
tismus in Kooperation mit der historischen und soziologischen → Antisemitismusfor-
schung entwickelt, versteht sich also als Teil der interdisziplinären Antisemitismusfor-
schung und sieht sein Potential in der Erweiterung und Ergänzung bisheriger Metho-
den, Modelle und Theorien des Antisemitismus: Literarischer Antisemitismus
analysiert seinen Gegenstand unter explizitem Einbezug der Literarizität und Fiktiona-
lität der Einzeltexte, bezieht also poetologische Fragestellungen sowie Methoden des
Textverstehens mit ein und behandelt Literatur dezidiert nicht als historische Quelle
oder als Beleg eines von der klassischen Antisemitismusforschung vorgegebenen Be-
griffs des Antisemitismus. Dieser Zugriff spiegelt sich auch in der Begriffswahl, die
anders als der Terminus „Antisemitismus in der Literatur“ keine deskriptive Motivfor-
schung nahelegt, sondern die der Literatur eigenen Diskursivierungsweisen und Codie-
rungen jüdischer Figuren und ihre spezifische ästhetische und mediale Repräsentation
in den Mittelpunkt stellt.
Literarischer Antisemitismus versteht sich als ein analytischer Begriff, der Sicherun-
gen gegen Vorverurteilungen von literarischen Texten etwa durch einen einschlägigen
Autor und einen pauschalen Antisemitismusverdacht einbauen möchte. Er bietet eine
Alternative zum wenig diskursiven, lange Zeit unreflektierten Verfahren der Motivfor-
schung und der Motivgeschichte zum „Bild des Juden“ in der Literatur. Diese
wissenschaftliche Gattung führte lange Zeit ein beharrliches Dasein jenseits aller Mo-
den und Methoden und schien darin ihrem Untersuchungsobjekt Judenbild nahezu
196 Literarischer Antisemitismus
vollkommen zu entsprechen. Der Begriff des „Judenbildes“ impliziert nicht zufällig ei-
nen „visuellen Antisemitismus“ und lässt durch seinen vergleichenden Umgang mit
„Bildern“ in Texten die Literarizität der Texte außer Acht. Spätestens durch in der NS-
Zeit erschienene Studien, darunter vor allem Elisabeth Frenzels „Judengestalten auf
der deutschen Bühne“, ist die Gattung der Motivgeschichte selbst in den begründeten
Verdacht geraten, ideologiebildend zu wirken.
Wie schwer es wissenschaftliche Konkretisierungsversuche des Literarischen Anti-
semitismus bisher haben, wird an den verschiedenen Bemühungen deutlich, die für Li-
terarischen Antisemitismus signifikanten Stilmittel und „Sprachstrategien“ herauszuar-
beiten und „Kriterien dafür zu entwickeln, wann ein fiktionaler Text antisemitisch ge-
nannt werden kann“ (Gubser). Nicoline Hortzitz’ dezidiert sprachwissenschaftliches
Interesse liegt hierbei auf der Form des Aussagens, wobei sie von der Annahme aus-
geht, „daß die stilistische Form sozusagen die ‚Fortsetzung des Inhalts mit anderen
Mitteln’ ist, umgekehrt auch die formale Struktur das ‚ideologische’ Denken, die Welt-
sicht von Judenfeinden erschließt“. Neben der Verwendung des Kollektivsingulars,
von semantisch überflüssigen Wiederholungen, Tiermetaphern, Pleonasmen und Anto-
nymen, die dafür geeignet sind, komplexe Sachverhalte auf Schlagwörter zu reduzie-
ren, gilt ihr die Polarisierung als das sprachliche Strukturprinzip.
Martin Gubser hat ausgehend von Lektüren zu Gustav Freytag und Wilhelm Raabe
einen Sechs-Punkte-Katalog zur Ermittlung antisemitischer Tendenzen in der Literatur
entwickelt. Neben dem Merkmal der Verwendung von aus der Geschichte des Antise-
mitismus allseits bekannten Klischees zur Zeichnung der jüdischen Figur nennt Gubser
u.a. die von Erzähler wie nichtjüdischen Figuren gleichermaßen diffamierte „jiddelnde
Figurensprache“ sowie das Grundmuster von Kontrastfiguren. Die Übernahme dieses
Kataloges würde jedoch ebenso wie die von Hortzitz gezeigte Summe aller diskrimi-
nierenden Sprach- und Stilmittel die Komplexität eines Textes und Sinnzusammenhan-
ges reduzieren und die Interpretationswege verkürzen. Resultat wäre eine doppelte Ver-
eindeutigung durch die Fixierung auf einzelne Passagen und die nunmehr blinde An-
wendung des Kriterienkatalogs. Der Katalog ist nicht 1:1 auf andere Texte applizierbar
ohne werkspezifische Ambivalenzen und subtilere Eigentümlichkeiten einzuebnen,
auch wenn Gubser in seinem sechsten Katalogmerkmal, das durch das Gebot zu vor-
und umsichtiger Interpretation das erste sein müsste, eine Binnendifferenzierung ein-
führt: „Will ein Autor mit einem fiktionalen Text literarischen Antisemitismus aufzei-
gen, so muss er durch geeignete Distanzierungsmittel den Unterschied zum Aufweisen
hinreichend deutlich machen. Fehlen diese Hinweise, muss der Autor damit rechnen,
dass der Text als antisemitisch interpretiert und ihm die Verantwortung dafür angelastet
wird.“
Fraglos ist die Bestimmung eines Literarischen Antisemitismus ebenso wie die eines
spezifisch literarischen Wissens eng mit der kritischen Frage danach verknüpft, wer ei-
gentlich spricht. Ist es die Instanz des Autors, die eines (zu- oder unzuverlässigen) Er-
zählers oder handelt es sich um eine Figurenrede? Wie perspektiviert der Autor? Wie
werden Bedeutungszuschreibungen durch textuelle Strategien erzeugt oder demontiert,
wie verhalten sich Affirmation und Subversion zueinander? Gibt es eine Koexistenz
konfligierender Sinnangebote? Wie verhält es sich mit grammatischen Lieblingsfiguren
der Sprache des Vorurteils wie dem generalisierenden Kollektivsingular? – so lauten
Literarischer Antisemitismus 197
nur einige der dringlichsten Fragen im Hinblick auf die vielen möglichen Instanzen,
die durch einen Text hindurch sprechen können. Mit dieser sinnvollen Komplikation,
die zur Korrektur vorschneller Lektüreergebnisse und Interpretationen führt, betritt
man das schwierige Feld der Akteure literarischer Kommunikation (d.i. der Autor, der
Leser, der Text und seine Instanzen) und ihrer (möglichen) Verantwortung – Schwierig-
keiten, die hier zunächst vorläufig benannt und aufgeführt, jedoch nicht im Sinne einer
Auflösung beantwortet werden können. Ganz unberührt jedenfalls von dem durch Ro-
land Barthes verhängten Tod (und der späteren Wiederauferstehung) des Autors scheint
der Autor hier niemals fort zu sein. In ihrem Buch „Erzählte Juden“ problematisiert
Franka Marquardt zu Recht die der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusfor-
schung mangelnde systematische Reflexion über die in der neueren Literatur stattge-
habte Verabschiedung des Autorkonzepts, und diagnostiziert, dass „sich auch und ge-
rade in der Nähe zur Frage nach literarischem Antisemitismus die Vorstellung einer
‚auctoritas’ des ‚auctors’ und dessen ungebrochener ‚Herrschaft im eigenen Haus’ be-
sonders hartnäckig“ hält. Polemisch formuliert greift hier die aus dem späten 18. Jahr-
hundert stammende Vorstellung vom Dichter als „Schöpfer“, als souveränem Herrscher
über sein sprachliches und gedankliches Material, der – selbst unangreifbar – niemals
Opfer seines Textes sein kann, da er noch über sein Unbewusstes zu regieren versteht.
Tatsächlich führt die Debatte über Literarischen Antisemitismus, die Michel Foucaults
längst historisch gewordene Setzung der Verstricktheit des Autors in Diskurse, die ihm
weitgehend nicht transparent sein können und über die er dieser Logik gemäß auch
nicht gebieten kann, ernst nähme, in andere Bahnen. Zugleich aber würde die Annah-
me von der Ausgeliefertheit des Autors und der Unkontrollierbarkeit des Textes, der,
sobald er mit der aufzeichnenden Hand des Autors nicht mehr verbunden ist, ein Ei-
genleben zu führen beginnt, den Autor aus der Verantwortung entlassen.
Literarischer Antisemitismus führt also ins Zentrum der Frage nach den Akteuren
(Autor: Intentionalität, Leser: Pakt, Komplizenschaft) innerhalb der Literatur als Sy-
stem und bringt das in ihr Sagbare und Unsagbare immerzu ins Gespräch. Literarischer
Antisemitismus aktualisiert, wie insbesondere der Streit um Rainer Werner Fassbinders
Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (1976) zeigt, das schwierige Verhältnis von
Literatur und Ideologie, fragt nach den Modalitäten des Ästhetischen und taxiert den
Grad des individuellen und kollektiven Unbewussten. Ein älteres Beispiel hierfür ist
das in mehrfacher Hinsicht herausragende Werk Louis-Ferdinand Célines, dessen Ro-
man „Voyage au bout de la nuit“ ihm 1932 über Nacht den Ruhm eines Klassikers der
französischen Moderne bescherte. Angesichts seiner bald folgenden antikapitalisti-
schen, antikommunistischen und antisemitischen Pamphlete – darunter vor allem die
„Bagatelles pour un massacre“ (1937) und „L’école des cadavres“ (1938) – geriet die
literarische Kritik jedoch in argumentative Bedrängnis. Sie sah sich bei Céline, dessen
radikale Erzählverfahren ganze Autorengenerationen beeinflussten, vor die Aporie ge-
stellt, wie die literarisch virtuose mit der ideologischen Rede zu vereinbaren sei. Der
Zusammenhang von Literatur und Gewalt, für den auch die gewaltsame Sprache der
Abfassung von Texten ebenso wie die Frage nach der speziellen Dimension sprachli-
cher Verwundbarkeit zentral ist (Butler), erscheint hierbei auch im litera-
turvergleichenden Blick als ein für die Bestimmung des Literarischen Antisemitismus
wichtiger Bezugsrahmen, nicht zuletzt, um die Ebene von Apologie und Anklage, von
198 Literarischer Antisemitismus
Verwerfung und Rehabilitierung der Texte und/oder ihrer Autoren zu verlassen. Texte
sind keine geschlossenen Gebilde, sie bewegen sich stets innerhalb kultureller Forma-
tionen, die „regeln, in welcher Weise überhaupt über das Fremde gesprochen werden
kann, welche Topoi seine Beschreibung dominieren, welche Stereotypen produziert
werden“ (Münkler). Der Autor fungiert hierbei als ein Ordnender und sein Text als spe-
zifisch literarisches Kommunikationsmittel. Eine um umfassende Kontextualisierung
bemühte Textanalyse muss auf den Kontext Autor nicht verzichten.
Literarischer Antisemitismus gründet auf der Frage, ob Literatur mit dem ihr eigenen
rhetorischen Potential und ihren narrativen Strategien wie der Wiederholung, der Ironi-
sierung, der Figurenrede und semantischer Mehrdeutigkeit Stereotype bloß ausstellt
oder gar vorführt. Im Kern ist dies die Frage danach, ob sich Literatur in ihrer Funktion
als Ort der Aushandlung und Darstellung verschiedener, auch ungewohnter Konstella-
tionen und Sagbarkeiten innerhalb einer Gesellschaft damit begnügt, Stereotype bloß
abzubilden oder ob sie sich dezidiert als Widerstand gegen Ideologiebildung verstehen
lässt. Der Antisemitismusverdacht liegt immer dort nahe, wo es Texten nicht gelingt
(ganz gleich, ob intentional oder nicht), die aufgegriffenen Stereotype und Ideologeme
im Spiel poetischer Reflexion aufzulösen oder zumindest in der Schwebe zu halten.
Um in historischer Perspektive den jeweils unterschiedlichen diskursiven Raum zu ver-
messen, in dem sich literarischer Antisemitismus präsentiert, unterscheidet Bogdal un-
ter Einbezug einer differenzierten Gesamtanalyse drei Formen: den manifesten, auch
subjektiv intendierten Antisemitismus, den „fahrlässigen“ (unbewussten oder bewuss-
ten) Gebrauch von Stereotypen und das „bewusste, dekonstruierende“ und mithin ris-
kante Spiel mit dem antisemitischen Sprach- und Wissensrepertoire.
Dabei konzentriert sich literarischer Antisemitismus keineswegs nur auf die ‚trivia-
leren’, weniger dichten Gattungen der ‚schönen Literatur’, sondern untersucht auch ka-
nonische Texte verschiedener Literaturen. Einen unübertroffenen Modellfall in der Fra-
ge nach Fortschreibung oder Unterwanderung literarischer Stereotypen stellt William
Shakespeares „The Merchant of Venice“ dar, ein Text, der durch seine ambivalente An-
lage und seine gegenläufigen Stränge eine Art von Metaerzählung über Literarischen
Antisemitismus bildet. Shakespeares literarische Strategie gründet im Verzicht darauf,
seinem jüdischen Protagonisten einen eigentlichen Charakter zu attestieren. Sein Shy-
lock ist geradezu bestimmt durch Vorurteile, Angriffe und Repressionen und fungiert
gleichsam als angereichertes Zitat alter Wucherer-Stereotype, wodurch sein Name
längst ein Eigenleben als Chiffre führt. In der eigenwilligen Dynamik des Stückes mu-
tiert Shylock bewusst und radikal in das ihm aufgezwungene Feindbildschema hinein,
er selbst ist eine ‚aggressive Verkörperung’ (Lubrich) der auf ihn projizierten teufli-
schen Bilder und Handlungen. Lubrich und Schülting lesen Shylock als eine Figur, die
ganz und gar von den erlittenen Stigmatisierungen geprägt ist; Shylocks blutiger Han-
del ist die Folge endloser Kränkungen: „Die Identifikation mit dem überlieferten Kon-
strukt des blutrünstigen Juden wird zur Strategie seiner Vergeltung“ (Schülting). Über
Brüche innerhalb der Fokussierung, der Figurenrede, des Redens über den Anderen
lanciert Shakespeare Erkenntnisse darüber, wie der Antisemitismus seine Objekte ver-
ändert. Als Objekte rassistischer Diskriminierung entfalten sie ihre Kraft durch die end-
lose Wiederholung und Zitation der ihnen angehängten Attribuierungen. Zugleich lie-
fert das Stück durch seine lange und kontroverse Aufführungsgeschichte einen Beitrag
Literarischer Antisemitismus 199
zu der Frage nach dem Gewaltpotential von Kunst und Literatur, genauer zu der Frage,
wie Sprache und Sprechen Gewalt inszenieren, wie sehr deren rhetorische Strategien
Übergriffe, Verfolgung und Mord antizipieren und legitimieren können. Shakespeares
Stück „The Merchant of Venice“ setzt mit Blick auf die schwer entscheidbare Frage
nach dem bloßen Ausstellen eines Antisemitismus oder dem gezielten Vorführen seiner
Mechanismen eine hermeneutische Instabilität frei, wie die unendliche Geschichte der
Deutungen und Lesarten illustriert. Dies ist eine Geschichte, die noch verkompliziert
wird durch die Frage, inwiefern die jeweilige Inszenierung dieses Theatertextes seman-
tisch mehrdeutige Situationen und Aussagen ideologisch auffüllt oder durch sichtbare
Zeichen unterwandert.
Neben William Shakespeares „The Merchant of Venice“ stehen auch einzelne Texte
der Brüder Grimm, Theodor Fontanes, Wilhelm Raabes, Gustav Freytags, Thomas und
Heinrich Manns, Günter Grass’, Alfred Anderschs, Martin Walsers, Peter Schneiders
und Bernhard Schlinks im Mittelpunkt der Erforschung eines literarischen Antisemi-
tismus (Lorenz, Mueller). Einen neuralgischen Punkt innerhalb der Frage eines Litera-
rischen Antisemitismus vor und nach Auschwitz bildet die Auseinandersetzung um
Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ (2002). Eine negative Faszinationsgeschichte des
Kritikers Marcel Reich-Ranicki und seiner Deutungsmacht ist die Basis dieses Schlüs-
selromans. In der Skizzierung seines omnipotenten Großkritikers aktualisiert Walser
das im 19. Jahrhundert konturierte Denkbild des „Ewigen Juden“ als einem Totengrä-
ber der Kulturen. Neben Walsers „Tod eines Kritikers“ gerät auch Bernhard Schlinks
Erzählung „Die Beschneidung“ aus dem Erzählband „Liebesfluchten“ zunehmend un-
ter Ideologieverdacht. Vordergründig geht es um das Scheitern einer interkulturellen
Liebesbeziehung zwischen einem Deutschen und einer amerikanischen Jüdin, eigent-
lich aber um die Inszenierung von angeblichen Sprechverboten, mit denen der Deut-
sche angesichts der Interpretation von → Nationalsozialismus und → Holocaust von
Seiten der jüdischen Figuren belegt wird. Die Tatsache des Holocaust erlegt insbeson-
dere deutschen Autorinnen und Autoren ein besonderes Sensorium auf auch für die un-
gewollten Wirkungen, die ihre Texte mit Blick auf Judenfiguren auslösen können, –
aus diesem Dilemma kommen sie nicht heraus.
Ein theoretisches Konzept der literarischen Stereotypenforschung beispielsweise aus
dem Bereich der Interkulturellen Germanistik, die sich mit der Veränderung von
Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden befasst und ihre Unter-
suchungen komparatistisch auf das Problem des Transfers von Begriffen und Ideologe-
men ausdehnen könnte, steht noch aus (Krobb, Wirtz). Vielleicht ist ein solches Kon-
zept aus den bereits entwickelten Gründen aber gar nicht wünschenswert, da sich lite-
rarische Texte durch ihre Mehrdeutigkeit und ihre unabgeschlossenen Lesarten nicht
ohne weiteres zu einem Baustein innerhalb einer Theorie des Antisemitismus verabso-
lutieren lassen (Körte). Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass der Begriff als
solcher verworfen werden muss. Literarischer Antisemitismus lässt sich in seinen sub-
tilen Ausformungen allerdings nur von Werk zu Werk, als Ergebnis eines immer neuen
close reading unter Berücksichtigung aller textueller Komponenten, auch der Wider-
sprüchlichkeit von Sinnangeboten, bestimmen. Dies erfordert ein Forschen und Lesen,
das die Tradition und die Geschichte der jeweiligen Gattung und ihrer historischen
Semantik einbezieht, da sie über die ihr eigenen Codierungen ebenfalls versteckte Aus-
200 Madagaskar-Plan
sagen über ihren Gegenstand enthalten können. Die lange Zeit für die literarische Kom-
munikation unterschätzte und erst durch die Rezeptionsästhetik und Rezep-
tionsgeschichte zu einigem Recht gelangte Position von Leser und Leserin, durch die
sich ein Werk erst konstituiert, scheint hierbei weniger manipulierbar als angenommen.
Literarischer Antisemitismus als Lesart konzentriert sich deutlicher als anderswo auf
den Pakt zwischen Autor und Leser, einen Pakt, der darin voraussetzungsreich auf das
Verständnis von Übereinkünften und gesellschaftlichen Codierungen rekurriert.
Mona Körte
Literatur
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ren bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998.
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Ruth Klüger, Gibt es ein „Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur?, in: Dies.,
Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 1994, S. 9-38.
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Körte, Werner Bergmann, Berlin 2004, S. 353-375.
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Einführung in neue Theoriekonzepte, hrsg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten,
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Sabine Schülting, The Merchant of Venice. Shylock geht – und immer kehrt er wieder, in:
Interpretationen. Shakespeares Dramen, Stuttgart 2000, S.129-155.
Madagaskar-Plan
Das Verlangen nach möglichst umfassender Separation und Kontrolle der Juden ist
eine wiederkehrende antisemitische Idee. Allgemein wurde die „Absonderung des jüdi-
schen Volkes“ gefordert, immer wieder wurden explizite Territorien als Ziel einer
„Quarantäne“ vorgeschlagen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert mischten sich jahrhun-
dertealte judeophobe Imaginationen vom „ewig nomadisierenden Judenvolk“ unter
dem Einfluss der Theorien Darwins und Gobineaus zu neuartigen, pseudo-naturwissen-
Madagaskar-Plan 201
takte zu Alfred Rosenberg. Gleichwohl verbreitete der Verlag mit dem „Welt-Dienst“
internationale antisemitische Propaganda für seine „pan-arische Bewegung“, die immer
wieder Madagaskar zur Lösung der Judenfrage vorschlug. Diese unkontrollierte Um-
triebigkeit stieß bei der NSDAP auf Ablehnung und weckte das Misstrauen des SD
und der Gestapo. Adolf Eichmann wurde 1937 nach Nürnberg gesandt, um die aus die-
sem Zirkel versammelten Antisemiten aus aller Welt zu treffen. In Nürnberg propa-
gierte auch die „Antijüdische Weltliga“ aus der Zentrale des „Stürmer“ den Madagas-
kar-Gedanken. In der ersten Ausgabe des „Stürmer“ 1938 beherrschte eine Karikatur
mit der Schlagzeile „Madagaskar“ das Titelblatt. Im selben Jahr fand in Erfurt der
letzte internationale Antisemitenkongress des „Welt-Dienstes“ statt. Fleischhauer wur-
de entmachtet, betrieb aber unter dem Schlagwort „Voll-Zionismus“ weiterhin den Ma-
dagaskar-Gedanken. Unterstützung fand er in Großbritannien von Arnold Leese und
der „Imperial Fascist League“, in Frankreich von Jean Boissel. Aus der Sicht des NS-
Apparates blieben die „Voll-Zionisten“ trotz ihres antisemitischen Eifers nur obskure
Dilettanten.
Parallel zu dieser jahrzehntealten antisemitischen Propaganda avancierte Madagas-
kar in den 1930er Jahren als möglicher Siedlungsort für Europäer zum Objekt interna-
tionaler Politik. Polen versuchte seit 1935 im Windschatten der deutschen Außenpoli-
tik die Kolonialfrage neu aufzurollen und sich als mögliche Kolonialmacht zu etablie-
ren. Die Motive der Polen speisten sich aus Großmachtambitionen, einer angenomme-
nen Überbevölkerung ihres Landes und einem gleichzeitig hohen Anteil an nicht assi-
milierten Juden, die rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung stellten. Dabei war Ma-
dagaskar nicht das einzige Kolonialgebiet, auf das vor allem das polnische
Außenministerium unter Józef Beck sein Augenmerk richtete. Es gab Überlegungen zu
einer Vielzahl von Emigrationsgebieten für Juden und Polen mit stillschweigend er-
hoffter anschließender kolonialer Einflussnahme. Der „polnische Madagaskar-Plan“
entstand spontan als heftige Reaktion auf ein vermeintliches Entgegenkommen seitens
des französischen Kolonialministers Marius Moutet im Januar 1937. Die polnische Re-
gierung und einige Zeitungen hatten ein Interview Moutets, in dem er Kolonisations-
möglichkeiten auf Madagaskar vage angedeutet hatte, als ernsthaftes Angebot wahrge-
nommen. Sie meinten irrtümlich, Moutet habe damit auf Anregungen Becks geantwor-
tet. Die Formulierungen Moutets wurden in der publizistisch aufgewühlten Atmosphä-
re der polnischen Öffentlichkeit als Zusagen zur Hilfe bei der Expedierung des jüdi-
schen Bevölkerungsteils aus Polen missverstanden. Auf drängenden Wunsch durften
die Polen eine Kommission auf die Insel senden, die zu widersprüchlichen Ergebnissen
kam. Die optimistischste Prognose lag bei einigen zehntausend Siedlern. Eine Massen-
auswanderung oder einen nennenswerten Anteil der dreieinhalb Millionen polnischer
Juden auf der Insel anzusiedeln, hielt niemand für realistisch. Die gleichwohl im Januar
1938 vom Außenministerium formulierten polnischen Kolonisationsentwürfe waren
von taktischen Überlegungen durchzogen: Kernidee war die Vorstellung einer polni-
schen kolonialen Enklave, die als Nukleus für späteren Gebietserwerb dienen sollte.
Die in den Planungen oft vermessen wirkende Anspruchshaltung gegenüber der fran-
zösischen Kolonialmacht blieb unrealistisch. Die Regierung in Paris bewahrte ihre re-
servierte Haltung bis Kriegsbeginn. Allerdings bewegte das „polnische Madagaskar-
Projekt“ die internationale öffentliche Diskussion über mehrere Jahre. Es blieb ein
Madagaskar-Plan 203
konnte zwar die Urheberschaft des Madagaskar-Plans beanspruchen, mühte sich aber
vergeblich, eine Kooperation von Auswärtigem Amt, Reichssicherheitshauptamt, Vier-
jahresplan-Behörde, Propagandaministerium und Kanzlei des Führers anzuregen. Das
Reichssicherheitshauptamt, allen voran Eichmann, übernahm die Initiative. Vertretern
der jüdischen Organisationen in Prag, Wien und Berlin befahl er am 3. Juli, binnen
eines Tages für die Aussiedlung von vier Millionen Juden „die allgemeinen Gesichts-
punkte, die bei einem solchen Plan zu berücksichtigen wären, in einer kurzen Nieder-
schrift zusammenzufassen“. Er vermied es, Madagaskar beim Namen zu nennen, aber
die aktuellen Überlegungen waren bekannt.
Die meisten potentiellen Opfer lebten im besetzten Polen. Anfang Juli erfuhr Gene-
ralgouverneur Hans Frank durch Hitler von den Plänen. In Warschau notierte Adam
Czerniaków, der Judenälteste des Ghettos, am 1. Juli 1940 die Mitteilung der Gestapo,
„der Krieg sei in einem Monat zu Ende und wir würden nach Madagaskar ausreisen“.
Vertreter der in Deutschland lebenden Juden versuchten das Projekt abzuwehren und
wandten sich an Papst Pius XII. mit der Bitte, er möge sich für andere Territorien, bei-
spielsweise Alaska, einsetzen. Bemerkenswert ist, dass selbst in der Hochphase vom
Sommer 1940 keine öffentlichen Äußerungen Hitlers, Himmlers, Görings, Ribbentrops
oder Goebbels’ zum Madagaskar-Plan überliefert sind. Göring suchte sich allerdings
einzumischen und ließ im August eine „Raumplanerische Beurteilung von Madagas-
kar“ formulieren. Der Madagaskar-Plan des Reichssicherheitshauptamtes war Mitte
August ausgearbeitet, demnach sollten vier Millionen Menschen aus ganz Europa auf
die Insel „verfrachtet“ werden. Diese „territoriale Endlösung“ hätte angesichts der Na-
turbedingungen aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod der meisten Deportierten zur
Folge gehabt. Wie geplant vier Jahre lang täglich dreitausend Menschen über Tausende
von Kilometern zu transportieren, um sie dann auf einer für Europäer bekanntermaßen
kaum bewohnbaren und von Seuchen durchzogenen tropischen Insel ohne jede medizi-
nische, hygienische, infrastrukturelle und agrarische Vorbereitung abzuladen, dort ein
Ghetto zu bilden, in das täglich Tausende neuer Insassen strömen würden, hätte kata-
strophale Folgen gehabt.
Ende August 1940 zog Rademacher eine Bilanz, die zeigte, dass das Projekt ange-
sichts der Kriegssituation auf der Stelle trat. Der Gedanke an Madagaskar wurde auf
eine unbestimmbare „Nachkriegszeit“ verschoben. Bis Ende 1940 lassen sich zahlrei-
che Stimmen nachweisen, in denen Pläne und Gerüchte spekulativ widerhallen. Um
die Jahreswende 1940/1941 findet sich in den Aufzeichnungen der SS zur bevorstehen-
den → „Endlösung“ statt des bislang unter „Fernplan“ avisierten Madagaskar nun der
Hinweis auf ein „noch zu bestimmendes Territorium“. Der Madagaskar-Plan, der unter
der Aussicht des schnellen Sieges gegen Frankreich aufgekommen war und durch die
Pattsituation mit Großbritannien über den Sommer 1940 in der Schwebe blieb, war ir-
relevant geworden. Zwar taucht die Idee auch 1941 wiederholt auf, wird aber nicht
mehr als ernsthaftes Projekt behandelt. Rademacher ließ am 10. Februar 1942 wissen,
der Führer habe „entschieden, daß die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach
dem Osten abgeschoben werden sollen. Madagaskar braucht mithin nicht mehr für die
Endlösung vorgesehen zu werden.“ Der Krieg gegen die Sowjetunion und die genozi-
dale Endlösung der Judenfrage hatten die kurze Konjunktur der Madagaskar-Planun-
gen vom Sommer 1940 lange überholt. Unbeeindruckt vom Holocaust setzten aller-
Mauscheln 205
dings einige „Voll-Zionisten“ ihre Propaganda auch nach Kriegsende fort: „Madagas-
car is the only solution to the Jewish problem“, schrieb der Brite Arnold Leese im Au-
gust 1946 und in antisemitischen Zirkeln taucht die abstruse Idee gelegentlich auch
später noch auf.
Magnus Brechtken
Literatur
Magnus Brechtken, „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis
1885-1945, München 1998².
Christopher Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpoli-
tik 1939-1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, München 2003.
Hans Jansen, Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden
nach Madagaskar, München 1997.
Marranen → Conversos
Mauscheln
Die früheste bekannte Verwendung des Begriffes Mauscheln stammt aus dem Jahr
1622. Ein erster Lexikoneintrag zur Wortfamilie Mauschel/Mauscheln/Mauschelei er-
klärt Mauschel folgendermaßen: „Auch werden die Juden Spott-weise also genennet“
(Zedler 1793). Das Verb und die Substantivierung Mauscheln wird von der aschkenasi-
schen Aussprache des hebräischen Namens Mosche hergeleitet. Im Westjiddischen
wurde der Name Mausche ausgesprochen, aus dem Diminutiv Mauschel wurde mau-
scheln gebildet.
In der ersten Phase des Wortgebrauchs vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
werden Mausche und Mauschel als jüdische Personennamen verwendet und im nicht-
jüdischen Mehrheitssprachgebrauch als Appellativa für Juden, mit denen man im All-
tag zu tun hat, genutzt. Zeitgenössische Lexikoneinträge erklären Mauschel als ab-
schätzigen Namen für Juden und leiten davon das Verb mauscheln ab. So definiert
Campe 1809: „wie ein Mauschel oder Jude handeln, mehr oder weniger listig und
heimlich zu betrügen suchen; auch wol, jüdisch sprechen.“ Das Deutsche Wörterbuch
der Brüder Grimm erweitert 1885 diese Erklärung um eine etymologische Herleitung
aus der bayerischen Mundart: „mauscheln, verb. wie ein schacherjude verfahren; im
handeln: bair. täuscheln und mäuscheln, sich mit heimlichen und unerlaubten geschäft-
chen abgeben.“ Weitere Herkunftsvermutungen beziehen sich auf das im Rottwelschen
gebrauchte „Mauschel“, vereinzelt finden sich auch Herleitungen aus dem Hebräi-
schen.
In der zweiten Phase der Wortgeschichte, vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende
der nationalsozialistischen Herrschaft, gewinnt die Bedeutung „wie ein Jude reden“ an
Gewicht. In der jüdischen Emanzipation wird Mauscheln zu einem Schlüsselbegriff.
Wie Juden sprachen, galt als zentrales Merkmal, das über den Glauben hinausging und
weder durch Konversion noch durch die rechtliche Emanzipation getilgt werden konn-
te. Sprache, nach Leibniz bestimmendes Medium des Denkens, drückte in diesem Ver-
ständnis die unabänderliche Differenz von Juden aus, die sich in ihrer Unfähigkeit äu-
ßerte, deutsch oder eine andere als Kultursprache wertgeschätzte Sprache akzentfrei zu
206 Mischehen
Meshumadim → Conversos
Mischehen
Wollten Juden und Christen vor 1875 heiraten, musste sich der jüdische Partner taufen
lassen. Doch nach Einführung der Zivilehe war es ca. 120.000 Paaren möglich, bis
1935, dem Verbot der Mischehe in den „Nürnberger Gesetzen“, eine solche Verbin-
dung ohne Konfessionswechsel einzugehen. 53.000 dieser Eheschließungen fanden im
20. Jahrhundert statt, vor allem in Berlin, gefolgt von Hamburg und Frankfurt. Es hei-
Mischehen 207
rateten mehr jüdische Männer nichtjüdische Frauen als umgekehrt. Eine solche Verbin-
dung bedeutete für die Männer oftmals ein Eintrittsbillett in die Mehrheitsgesellschaft,
für die nichtjüdischen Frauen verband sich damit die Hoffnung auf gesellschaftlichen
Aufstieg. Von ihren Nachkommen gehörten über 90 Prozent christlichen Kirchen an,
dagegen nur 9,9 Prozent der „Halbjuden“ und 1,2 Prozent der „Vierteljuden“ einer Jü-
dischen Gemeinde. Deshalb betrachteten die Jüdischen Gemeinden die Entwicklung
mit großer Sorge. Auch in der Wissenschaft wird sie bis heute unterschiedlich einge-
schätzt: Während Paula E. Hyman davon ausgeht, die wachsende Tendenz, im Zuge
der Assimilation Mischehen zu schließen, hätte zum schrittweisen Verschwinden der
Minderheit geführt, weist Kerstin Meiring darauf hin, dass die jüdische Religion inner-
halb dieser Ehen durchaus weiter praktiziert wurde, und – bezogen auf das Gesamthei-
ratsverhalten der Juden – solche Verbindungen überdies ein Randphänomen geblieben
seien.
Die Nationalsozialisten bekämpften Mischehen heftig: Hitler beklagte in „Mein
Kampf“, diese „Blutsvergiftung“ könne nur nach Jahrhunderten oder gar nicht mehr
aus dem „Volkskörper“ entfernt werden, und die NSDAP-Fraktion forderte im Reichs-
tag den Straftatbestand „Rassenverrat“ für die „Vermischung“ Deutscher mit Juden
oder Farbigen. Anfang der 1930er Jahre gab es reichsweit ca. 35.000 solcher Verbin-
dungen. In den „Nürnberger Gesetzen“ vom September 1935 verbot der NS-Staat kate-
gorisch die Schließung weiterer Mischehen (und stellte die außereheliche Sexualität
„Deutschblütiger“ mit Juden als → „Rassenschande“ unter Strafe). Für bestehende
Ehen änderte sich jedoch noch nichts. Die jüdischen Mischehepartner unterlagen zu-
nächst allen Maßnahmen, die auch andere Juden betrafen. Erst nach dem Novemberpo-
grom stellten die NS-Machthaber im Dezember 1938 die in Mischehe lebenden Juden
besser als „volljüdische“ Paare und differenzierten zwischen „privilegierten“ und
„nichtprivilegierten“ Mischehen. Sie wollten damit Protesten „deutschblütiger“ Ver-
wandter begegnen. Als „privilegiert“ galten nun Paare (auch kinderlose), wenn die
Frau jüdisch war oder wenn christlich erzogene Kinder vorhanden waren. Diese Fami-
lien konnten in ihren Wohnungen verbleiben, das Vermögen auf den nichtjüdischen
Teil überschreiben, und später musste der jüdische Partner den „Judenstern“ nicht tra-
gen. „Nichtprivilegiert“ waren Ehen mit einem jüdischen Ehemann, die kinderlos wa-
ren, solche mit jüdisch erzogenen Kindern oder solche, deren nichtjüdischer Teil zum
Judentum konvertiert war. Sie mussten u.a. in „Judenhäuser“ ziehen, ihr Vermögen
wurde gesperrt, sie wurden bei Auswanderung als jüdische Paare behandelt. Den (we-
nigen) „deutschblütigen“ Frauen, die bei der Heirat zum Judentum konvertiert waren,
bot Göring an zu rekonvertieren, sich scheiden zu lassen und wieder in den „deutschen
Blutsverband“ zurückzukehren.
Hatten einige Ehepaare die Erfahrung gemacht, dass ihre familiäre Umgebung die
Verbindung nicht billigte, so verstärkte sich der Druck auf alle – meist auf den nicht-
jüdischen Partner – während der NS-Zeit: Parteifunktionäre, Arbeitgeber, Vermieter,
Polizei u.a. rieten im Interesse der Existenzsicherung und der nichtjüdischen Kinder –
jetzt „Mischlinge ersten Grades“ genannt – zur schnellen Scheidung. Dazu stellte das
neugeregelte Eherecht Möglichkeiten bereit. Die historische Forschung geht davon
aus, dass zwar die meisten dieser Ehen bestehen blieben. Ob sie jedoch ein „Bollwerk“
gegen die NS-Verfolgung (Ursula Büttner) oder eher ein Spiegelbild der Gesellschaft
208 Mischehen
(Beate Meyer) darstellten, zumal örtlich bis zu 20 Prozent durch äußeren Druck und
inneren Zerfall zerbrachen, blieb kontrovers. Immerhin überlebte ein Großteil der Ju-
den in Mischehen, obwohl die Besserstellung der Mischehen nie gesetzlich fixiert wur-
de und sie individuell jederzeit durch die Kriminalisierung des jüdischen Partners auf-
gehoben werden konnte.
Als im Oktober 1941 tausende Juden in Großdeportationen in die Ghettos ver-
schleppt wurden, blieben die in Mischehen lebenden geschützt. Die Richtlinien nah-
men sie explizit aus. Die Machthaber wollten im ersten Schritt die isolierte jüdische
Bevölkerung vernichten, wo kein Widerstand zu erwarten war.
Auf der Wannseekonferenz 1942 und mehreren Folgetreffen 1942/43 ging es dann
um die Koordinierung des Judenmords, die Zukunft der „Mischlinge“ und das künftige
Schicksal der Mischehen. Die Alternativen Zwangsscheidung oder Deportation des jü-
dischen Partners standen zur Debatte, ohne dass Einigung erzielt wurde. Eine Entschei-
dung wurde „bis Kriegsende“ ausgesetzt.
Führte allerdings der Tod des nichtjüdischen Ehepartners oder eine Scheidung zur
Auflösung der Mischehe, entfiel der Schutz, den diese bot. Ausnahmen wurden nur ge-
macht, wenn ein minderjähriges Kind zu versorgen war oder ein erwachsener Sohn
(mit besonderer Genehmigung) der Wehrmacht angehörte. Geschiedene oder verwit-
wete jüdische Ehepartner wurden in das Ghetto Theresienstadt deportiert, das oft genug
nur Durchgangsstation für ein Vernichtungslager war.
Viele in Mischehe lebende Juden genossen noch einen anderen fragilen Schutz: Sie
leisteten Zwangsarbeit in kriegswichtiger Produktion. Als die jüdischen Zwangsarbei-
ter Ende Februar/Anfang März 1943 durch ausländische ersetzt werden konnten, ver-
anlasste das Reichssicherheitshauptamt eine reichsweite Großrazzia, die „Fabrik-Ak-
tion“, und deportierte mehr als zehntausend Juden in Vernichtungslager. Ca. 2000 in
Mischehe lebende Juden und → „Geltungsjuden“ wurden inhaftiert und registriert, je-
doch nicht – wie ihre Arbeitskollegen – deportiert. Die Protestaktion ihrer nichtjüdi-
schen Ehefrauen vor dem Gebäude in der Rosenstraße, in dem sie ca. eine Woche inter-
niert waren, löste in den 1990er Jahren und nach Fertigstellung des Spielfilms „Rosen-
straße“ von Margarethe von Trotta (2003) eine Kontroverse über die Bedeutung dieses
Ereignisses aus: Während vor allem Wolfgang Benz und Wolf Gruner darauf hinwie-
sen, dass die Machthaber die Deportation der Juden aus Mischehen dezidiert nicht ge-
plant hatten, schrieb insbesondere Nathan Stoltzfus den Frauen das Verdienst zu, das
NS-Regime mit einer öffentlichen Aktion zum Einlenken gezwungen zu haben. Um-
stritten waren auch der Umfang der Protestaktion und ihre Bewertung. Während Ma-
rion Kaplan bereits früher dem Beharren auf einer einmal geschlossenen Mischehe eine
„form of defiance“ zuschrieb, erhöhte Stoltzfus dies zum „Widerstand des Herzens“.
Außerhalb Berlins wurden jüdische Mischehepartner im Rahmen der „Fabrik-Ak-
tion“ meist als „Schutzhäftlinge“ deportiert, während die Berliner in der Reichshaupt-
stadt bleiben konnten. Wenn sie allerdings wegen Verstoßes gegen antijüdische Maß-
nahmen oder anderer „Delikte“ kriminalisiert wurden, entfiel der Schutz der Mischehe.
Kurz vor Kriegsende erhielt ein Großteil der Berliner „nichtprivilegierten“ Mischehen
bzw. Geltungsjuden die Aufforderung, ins Sammellager Schulstraße zu ziehen, wo bald
ca. 300 Personen aus rheinischen und westfälischen Mischehen zu ihnen stießen, die
Moderner Antisemitismus 209
bei Vorrücken der alliierten Truppen umquartiert wurden. Im übrigen Reichsgebiet leb-
ten sie zumeist in „Judenhäusern“.
Ab Oktober 1944 mussten auch die nichtjüdischen Ehepartner Zwangsarbeit leisten.
In Lagern der Organisation Todt, städtischen Sammelunterkünften oder aber weiterhin
von ihren Privatwohnungen rückten sie in Kolonnen aus, um Trümmer zu beseitigen,
Behelfsheime zu bauen bzw. andere schwere, gesundheitsgefährdende oder gefährliche
Arbeiten auszuführen. Die Trennung vom jüdischen Ehepartner ängstigte die Dienst-
verpflichteten, fürchteten sie doch deren Abtransport während ihrer Abwesenheit.
Anfang 1945 entfiel der Schutz für noch existierende Mischehen. Zwischen Februar
und April wurden ca. 2000 jüdische Ehepartner mit einem Befehl zum „auswärtigen
Arbeitseinsatz“ nach Theresienstadt deportiert. Allerdings weigerten sich viele ange-
sichts der voranrückenden alliierten Truppen, dieser Aufforderung zu folgen. Sie ließen
sich krankschreiben, zurückstellen oder tauchten einfach unter und versteckten sich in
den Trümmerlandschaften der Großstädte. Bei Kriegsende existierten noch ca. 12.000
Mischehen in Deutschland.
Beate Meyer
Literatur
Ursula Büttner, Die Not der Juden teilen. Christlich-jüdische Familien im Dritten Reich. Bei-
spiel und Zeugnis des Schriftstellers Robert Brendel, Hamburg 1988.
Wolf Gruner, Widerstand in der Rosenstraße: Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der
„Mischehen“ 1943, Frankfurt 2005.
Paula E. Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Repre-
sentation of Women, Seattle, London 1995.
Marion Kaplan, Between Dignity and Despair. Jewish Life in Nazi Germany, New York
1998.
Kerstin Meiring, Die jüdisch-christliche Mischehe in Deutschland 1849-1933, Hamburg
1998.
Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945,
Hamburg 1999.
Nathan Stoltzfus, Widerstand des Herzens: Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosen-
straße, München 1999.
Yfaat Weiss, Deutsche, Juden und die Weder-Nochs: Neuerscheinungen zum Thema
deutsch-jüdische Mischehen, in: WerkstattGeschichte 27 (2000), S. 73-82.
Moderner Antisemitismus
Die Beifügung des Adjektivs „modern“ dient nicht der Unterscheidung eines antiken
von einem modernen Antisemitismus und auch nicht der Gegenüberstellung eines mo-
dernen und eines vormodernen Antisemitismus. Sie dient ebenso wenig der Bestim-
mung des Antisemitismus im Zeitalter der Moderne - zumal unter dieser Epochenbe-
zeichnung immer wieder andere Zeiträume gefasst werden – noch dazu, aktuelle, ge-
genwärtige Erscheinungen eines modernen im Sinne von „neuem“ Antisemitismus von
dessen vorherigen Formen zu unterscheiden. Mit der Wortverbindung „moderner Anti-
semitismus“ wird vielmehr die säkulare, politisch und sozial motivierte Judenfeind-
schaft, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden ist, von der überlieferten christlich-reli-
210 Moderner Antisemitismus
giösen Judenfeindschaft der vorausgegangenen Epochen abgegrenzt; sie ist damit nicht
frei von pleonastischen Zügen.
Bei dem im Jahr 1879 geprägten Begriff Antisemitismus handelt es sich um eine
sprachliche Neubildung, einen Neologismus, dem schon in zeitgenössischen Quellen
das Epitheton, das als Attribut gebrauchte Adjektiv „modern“ angefügt wurde. Antizi-
piert hatte diese semantische Verknüpfung bereits kurz vor der Prägung des Begriffs
Antisemitismus die protestantische „Schlesische Kirchen-Zeitung“, die 1878 notierte,
dass der Judenhass sich gegenwärtig in „modernisierter Form“ Luft mache. Im Juli
1882 hieß es in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ über die neuen Formen
von Judenhass: „Dieser modernste Antisemitismus ist von jüngstem Datum und zählt
kaum drei Jahre.“ 1889 tauchte diese Wortverbindung, ergänzt von einer weiteren attri-
butiven Beifügung im Titel der kleinen ironischen Broschüre des jüdischen Schriftstel-
lers Leonhard Freund „Hinaus! Ein Culturbild aus dem Centrum des modernen deut-
schen Antisemitismus“ auf.
Der österreichische Diplomat Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi, der 1901 eine er-
ste umfassende Studie über das Wesen des Antisemitismus, so der Titel, vorgelegt
hatte, benutzte hingegen einen weiten, alle Formen von Judenfeindschaft in allen Zei-
ten umfassenden Begriff von Antisemitismus. Ein Rezensent kritisierte daher, dass eine
detailliertere Geschichte des modernen Antisemitismus wünschenswert gewesen wäre.
Wie das umfangreiche Stichwort „Anti-Semitism“ der 1910 erschienenen elften Aufla-
ge der „Encyclopedia Britannica“ zeigt, war die Wortverbindung auch in den engli-
schen Sprachgebrauch eingegangen. Im selben Jahr bezeichnete Martin Philippson im
zweiten Band der „Neuesten Geschichte des jüdischen Volkes“ das öffentliche Auftre-
ten von Papst Pius IX. in den 1870er Jahren als die „Geburtsstunde des modernen Anti-
semitismus“. Das „Jüdischen Lexikon“ von 1927, das den Begriff Antisemitismus wie-
derum in einem weiten, alle Formen von Judenfeindschaft von der Antike bis zur Ge-
genwart umfassenden Sinne verwendete, bestimmte den modernen Antisemitismus als
politischen Antisemitismus, der ein „parteitaktisches Mittel aller reaktionären [...] Par-
teien Europas“ geworden sei.
Zu einer analytisch-wissenschaftlichen Kategorie wurde der Begriff „moderner An-
tisemitismus“ mit der Intensivierung der wissenschaftlichen Forschung über die Entste-
hung und Entwicklung des Antisemitismus, die vor allem in der Zeit nach dem Holo-
caust einsetzte. Einer der ersten, der diese semantische Verknüpfung als wissenschaftli-
chen Terminus aufgriff, war Alexander Bein mit seinem Aufsatz „Der Moderne Anti-
semitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage“ von 1958. Während Bein den Be-
griff Antisemitismus in einem weiten Sinne gebrauchte, hatte Hannah Arendt in ihrer
erstmals 1951 erschienenen Studie „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“
die Annahme eines „ewigen Antisemitismus“ entschieden zurückgewiesen. Die Wort-
verbindung „moderner Antisemitismus“ benutzte sie nur vereinzelt. Für Arendt hatte
der moderne Antisemitismus vor allem politische Grundlagen. Mitte der 1960er Jahre
betonte Margherita von Brentano in einem Essay, dass „moderner Antisemitismus von
vornherein totaler und destruktiver ist als der christlich begründete“ → Antijudaismus,
und Hans Rosenberg erklärte in seiner 1967 erschienenen einflussreichen Studie „Gro-
ße Depression und Bismarckzeit“ die Entstehung des „modernen Antisemitismus“ als
Reaktion auf den sozialen Aufstieg des Judentums, der unmittelbar mit dem Zeitalter
Moderner Antisemitismus 211
Zweitens wurden die Juden als schuldig für die mit der Französischen Revolution
einsetzende und sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkende Politisierung
der Gesellschaft betrachtet. Die Verunsicherungen und die Orientierungslosigkeit, die
damit insbesondere für weite Teile des Mittelstandes und der vom überlieferten Unter-
tanengeist geprägten Bevölkerungsschichten verbunden waren, verstärkten deren ju-
denfeindliche Dispositionen. Juden wurde die Verantwortung für die politischen Kon-
flikte und gesellschaftlichen Widersprüche aufgebürdet.
Paradoxerweise formierte sich der moderne Antisemitismus im Unterschied zum tra-
ditionellen, religiös begründeten Judenhass selbst als politische und soziale Bewegung.
Der moderne Antisemitismus kann damit als eine grundlegende Anti-Haltung bestimmt
werden, die sich gegen die gesellschaftlichen Veränderungen richtete und den Juden
die Schuld an allen Umwälzungen und der Misere der Gegenwart zuschrieb. Der Anti-
semitismus trat somit als Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Antikapitalismus,
Antisozialismus, Antiurbanismus oder Antifeminismus auf.
Die Anfänge des modernen Antisemitismus gehen auf die Zeit der → Emanzipation
der Juden und das frühe 19. Jahrhundert zurück, bis mit der Prägung des Begriffs im
Jahr 1879 die Entstehungsphase des Antisemitismus als soziale und politische Bewe-
gung einsetzte. Dieser Prozess nahm in Deutschland seinen Ausgang, griff auf die ver-
schiedenen Teile der Habsburgmonarchie über, formierte sich auch in Frankreich als
politische Bewegung und nahm in Russland und Rumänien besonders gewalttätige Ge-
stalt an. Mit dem Ersten Weltkrieg begann die Phase der Radikalisierung des Antisemi-
tismus, die zum nationalsozialistischen Antisemitismus und der Ermordung der euro-
päischen Juden führte. Nach dem → Holocaust nahm der moderne Antisemitismus die
Form eines → sekundären Antisemitismus an.
Systematisch lassen sich sechs Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus
unterscheiden.
Erstens kommt der Antisemitismus als öffentliche Sprache zum Ausdruck, der eine
eigene spezifische Rhetorik und historische Semantik entsprach. Nachdem der neue
Begriff 1879 geprägt worden war, verbreitete sich dieser Terminus sehr rasch in Euro-
pa. Die Feindseligkeit und Aggressivität gegenüber Juden wurde in einer spezifischen
Rhetorik artikuliert und in signifikanten sprachlichen Zeichen ausgedrückt. Die Spra-
che trug dazu bei, die Wahrnehmung der Judenfeinde zu formen, und sie prägte deren
antisemitische Weltanschauung.
Zweitens artikulierte sich der Antisemitismus als politische Bewegung. Auf dieser
Ebene handelt es sich um eine manifeste Form von Judenfeindschaft, die sich als poli-
tische Gesinnungsgemeinschaft formierte, eigene politische Parteien gründete, sich zur
Wahl zu den Parlamenten stellte, politische Netzwerke ausbildete und mit den Medien
politischer Öffentlichkeitsarbeit, mit Zeitschriften und Petitionen, in Wahlkämpfen und
öffentlichen Versammlungen, gegen Juden agitierte. Zugleich war der Antisemitismus
als politische Bewegung von heftigen internen Konflikten zwischen verschiedenen po-
litischen Linien wie konservativen und antikonservativen, fundamentalistischen und
nichtfundamentalistischen, christlich-sozialen und antichristlichen geprägt.
Drittens artikulierte sich der Antisemitismus als kulturelle Haltung, als Gesell-
schaftsstimmung, wie es der zeitgenössische Beobachter Friedrich Naumann formuliert
hat. Auf dieser Ebene ist die Artikulation antisemitischer Einstellungen und Haltungen
Moderner Antisemitismus 213
oft nur latent und diffus, häufig auch fließend oder widersprüchlich, so dass Juden in
unterschiedlichen Situationen verschieden begegnet wurde. In spezifischen konservati-
ven politischen Milieus aber fehlten diese Ambivalenzen, Antisemitismus als Haltung
fungierte in diesen Kreisen als „kultureller Code“ (Shulamit Volkov), mit dessen Hilfe
die Angehörigen dieser politischen Lager ihre Zusammengehörigkeit signalisierten.
Viertens trat der Antisemitismus auch als soziale Praxis in Erscheinung. Er äußerte
sich in den konkreten sozialen Beziehungen von Juden und Christen in der Arbeits-
welt, in der Zivilgesellschaft und den Institutionen des Staates. Im Mittelpunkt steht
dabei die Frage, wie christliche Bürger in diesen Lebensbereichen jüdischen Bürgern
begegnet sind, inwiefern Juden im Wirtschaftsleben als gleichberechtigte Partner ak-
zeptiert oder als Juden ausgeschlossen wurden, ob Juden in die Vereine und Verbände
der Zivilgesellschaft aufgenommen wurden und welchen Zugang sie zu staatlichen
Ämtern hatten.
Fünftens zeigte sich der Antisemitismus auch als kirchliches Bekenntnis. Die Entste-
hung des Antisemitismus ist ohne die Tradition der christlichen Judenfeindschaft nicht
zu verstehen. Das Neue des Antisemitismus bestand jedoch in der säkularen, nicht reli-
giös begründeten Feindschaft gegen die Juden, und bezeichnenderweise hatten die
christlichen Kirchen einen maßgeblichen Anteil an der Propagierung und Durchset-
zung dieser neuen, weltlichen Form von Judenfeindschaft. Sowohl protestantische als
auch katholische Geistliche haben nachdrücklich die neue Sprache des Antisemitismus
geprägt.
Sechstens artikulierte sich der Antisemitismus schließlich als physische Gewalt, so-
wohl in Form von individueller Gewalt als auch in Akten von kollektiver Gewalt gegen
Juden, es handelte sich um Gewalttätigkeiten, die spontan oder organisiert verübt wur-
den, und die entweder gegen einzelne Juden oder auf Einrichtungen der jüdischen
Gemeinden zielten. In den Gewaltakten gegen Juden kamen antisemitische Emotionen
ebenso zum Ausbruch wie eine sozialpsychisch verankerte judenfeindliche Aggressivi-
tät.
Im Mittelpunkt der verschiedenen Erscheinungsformen des modernen Antisemitis-
mus stand der Kampf gegen die Emanzipation der Juden. Der Antisemitismus richtete
sich in erster Linie gegen Integration der Juden in die Gesellschaft, und er verdichtete
alle Unterstellungen und Gerüchte zum Wahnbild einer allumfassenden Verschwörung.
Zur Legitimation der eigenen Haltungen und Einstellungen bedienten sich die Wortfüh-
rer des Antisemitismus aus dem Repertoire der überlieferten christlich-religiösen Ju-
denfeindschaft. Der traditionelle Antijudaismus diente dem modernen Antisemitismus
gleichsam als kultureller Rückhalt. Antisemiten holten sich aus diesem eine Bestäti-
gung für ihre Aversionen und Idiosynkrasien.
Im modernen Antisemitismus verbanden sich somit affektive und weltanschauliche
Motive, er war zugleich eine Haltung und eine Einstellung. Der Antisemitismus ist
nicht nur als eine Ideologie zu fassen, sondern zugleich als ein emotionales Verhalten.
Er äußerte sich in einer spezifischen Sprache und in konkreten Sprechakten ebenso wie
in der sozialen Praxis und in performativen Akten, er kam in offenen Handlungen
ebenso zum Ausdruck wie in nonverbalem Vorbehalten.
Ulrich Wyrwa
214 Morgenthau-Plan
Literatur
Alexander Bein, Der Moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage, in:
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 340-360.
Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988.
Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt
1983.
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerli-
chen Gesellschaft, Göttingen 1975.
Shulamit Volkov, Anti-Semitism, in: Neil J. Smelser, Paul B. Baltes (Hrsg.), International
Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Band 1, Amsterdam u.a. 2001,
S. 542-549.
Morgenthau-Plan
Im August 1944 veranlasste der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau jr.
die Ausarbeitung eines Planes zur Behandlung Deutschlands nach dessen Niederlage.
Morgenthau stand unter dem Eindruck, sowohl die in den USA für die Deutschland-
politik zuständigen Stellen als auch die maßgeblichen britischen Politiker verfolgten
eine zu wenig harte Linie. In der Denkschrift, die Morgenthau Anfang September 1944
vorlegte, wurde die Zerstückelung Deutschlands propagiert. Nach umfangreichen Ge-
bietsabtretungen sollten drei deutsche Staaten entstehen, die Wirtschaftsregionen an
Rhein und Ruhr sowie die Nordseeküste internationalisiert werden. Außer der völligen
Entwaffnung und Abrüstung Deutschlands und großen Reparationsleistungen (auch
durch Zwangsarbeit) sollten nach dem Morgenthau-Plan die Industriebetriebe völlig
demontiert, die Bergwerke stillgelegt und zerstört werden. Unter Kontrolle der gesam-
ten Wirtschaft auf 20 Jahre würde Deutschland ein Agrarstaat werden, der keine Mög-
lichkeit zu aggressiver Politik mehr haben würde.
Der Plan enthielt, in der jeweils radikalsten Form, alle Vorschläge und Maßnahmen,
die in der Kriegszieldebatte der Alliierten bis dahin schon einmal aufgetaucht waren.
Morgenthaus Vorschläge sollten die gemäßigten Deutschlandpläne des alliierten Ober-
kommandos unter Eisenhower, der interalliierten European Advisory Commission und
der Fachressorts in Washington und London korrigieren.
Morgenthau, mit dem US-Präsidenten Roosevelt befreundet, schien Erfolg zu haben,
als bei der britisch-amerikanischen Konferenz in Quebec am 15. September 1944 Pre-
mierminister Churchill und Präsident Roosevelt eine (schon abgemilderte) Version des
Morgenthau-Plans paraphierten. Cordell Hull, der amerikanische Außenminister, prote-
stierte ebenso wie sein britischer Kollege Anthony Eden aber bereits am folgenden Tag
gegen den Plan, der amerikanische Kriegsminister Stimson nannte das Programm „ein
Verbrechen gegen die Zivilisation“. Als der Morgenthau-Plan durch eine gezielte Indis-
kretion am 21. September 1944 in die Öffentlichkeit kam, war die Reaktion so negativ,
dass auch Präsident Roosevelt sich distanzierte. Der Morgenthau-Plan verschwand be-
reits Ende September 1944 in der Versenkung, ohne von den zuständigen Gremien je-
mals formell diskutiert worden zu sein.
Für die spätere Besatzungs- und Deutschlandpolitik blieb der Morgenthau-Plan ohne
jede Bedeutung. Aber Goebbels und Hitler hatten den „jüdischen Mordplan“ zur „Ver-
Muskeljude 215
Moriscos → Conversos
Muskeljude
„Der Muskeljude“ ist ein Begriff, den der Kulturkritiker Max Nordau am Zweiten Zio-
nistenkongress, der Ende August 1898 in Basel stattfand, geprägt hat. Er meinte da-
mals, dass die Zionisten danach „trachten [müssen], wieder ein Muskeljudenthum zu
schaffen“. Damit wollte er an eine glorreiche und heldenhafte Vergangenheit anschlie-
ßen, die er vor allem im jüdischen Aufstand unter der Führung von Bar Kochba gegen
die Herrschaft der Römer (132-135) sah, und zur Schaffung einer jüdischen Zukunft
motivieren, in der Juden sich stolz zu ihrem Judentum bekennen statt sich von ihm ab-
wenden würden. Gleichzeitig sollte dem judenfeindlichen Stereotyp des schwächlichen
Juden ein Kontrastbild entgegengesetzt werden.
Die Ausbildung von Muskeljuden war ein zionistisches Projekt, das auf unterschied-
liche, vor allem antisemitische, ästhetische und medizinisch-therapeutische Diskurse
reagierte. Zum ästhetischen Diskurs lässt sich festhalten, dass in Zentraleuropa seit
dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein Männlichkeitsideal dominant war, das sich an
griechisch-antiken Statuen orientierte und dabei die Proportionalität der Körperformen
betonte. Die äußerliche körperliche Erscheinung wurde in ein direktes Verhältnis zu
moralischen Eigenschaften gesetzt. Ein als schön geltender Körper reflektierte danach
eine integre Haltung. Nach verbreiteter Auffassung verstießen Juden gegen vorherr-
schende Schönheitsstandards. Bereits seit dem Mittelalter waren sie durch bestimmte
physische Merkmale, wie beispielsweise eine große Nase, stigmatisiert worden ( →
jüdischer Körper). Mit der Herausbildung der Anthropologie traten noch andere als ty-
pisch jüdisch erachtete Eigenheiten hinzu, die vorherrschende Schönheitsnormen ver-
letzten. Juden waren nach dieser Sichtweise hässlich und ermangelten in der Folge
auch positiv bewerteter geistig-moralischer Eigenschaften. Die Hervorbringung des
Muskeljuden sollte sodann einen Typus ohne die Juden zugeschriebenen physischen
Merkmale schaffen, der gleichzeitig auch anders als die zeitgenössischen Juden dachte
und fühlte, d.h. sich für die jüdisch-nationale Idee begeisterte und sich gegen Antisemi-
tismus aktiv zur Wehr setzte. Seinen exemplarischen visuellen Ausdruck erlangte der
Muskeljude in den Bildern von Ephraim Moses Lilien (1874-1925), der bisweilen als
erster zionistischer Künstler gilt.
Der medizinische Diskurs des 19. Jahrhunderts war eng mit einem Wertediskurs
über das Verhältnis von normal und abnormal verbunden. Das Abnormale galt als eine
216 Muskeljude
Devianz und zugleich auch als krank. Für typisch jüdisch erachtete Merkmale, die von
vorgegebenen Standards der Normalität abwichen, galten dabei ebenso als Indikatoren
von Krankheit. Im Kontext dieses medizinischen Diskurses wurde die Herausbildung
des Muskeljuden, der die vermeintlich jüdischen Eigenheiten ablegte, als Therapie ver-
standen. Er war die Antwort auf die Vorstellung eines pathologischen Judeseins.
Im Laufe des 19. Jahrhundert trat die Mitgestaltung der Juden an allgemeinen gesell-
schaftlichen und kulturellen Prozessen immer deutlicher zutage. Dabei legten sie viele
Merkmale ihrer religiösen Zugehörigkeit ab. Antisemitismus war sodann zumindest
partiell eine Reaktion auf das Verschwimmen der Unterschiede zwischen Juden und
Nichtjuden. Antisemiten griffen in einer Phase, in der sich traditionelle Distinktionen
verflüchtigten, auf vermeintlich unveränderbare körperliche Merkmale zurück, um Un-
terschiede wieder deutlich zu machen. Die erwähnten physischen Eigenheiten dienten
zur Kennzeichnung von Juden. Unter dieser Perspektive sollte der Muskeljude die
Sichtbarkeit des Juden als des „Anderen“ ermöglichen.
Die Propagierung des Muskeljuden war einerseits ein Hinweis auf die Integration
der Juden in zeitgenössische Diskurse. Alle nationalen Bewegungen Ausgang des 19.
Jahrhunderts waren eng mit der Idee einer Regeneration des (kollektiven wie auch in-
dividuellen) Körpers verknüpft, und in England gab es sogar eine „muscular Christia-
nity“-Bewegung. Das zionistische Projekt des Muskeljuden hatte demnach vielgestalti-
ge Vorbilder. Es berührte auch innerjüdische Unterscheidungen. Der Muskeljude wurde
nämlich als Gegentypus zum → Ostjuden statuiert, der als schwach und krank galt. Ge-
mäß seiner Skizzierung durch den Mediziner und Zionisten Max Mandelstamm er-
warte den in Russland, Rumänien und Österreich beheimateten Ostjuden „eine totale
körperliche, moralische und geistige Degeneration“. Der Muskeljude wurde als das
maskuline Gegenbild zu dem auch als verweiblicht geltenden Ostjuden verstanden.
Der Muskeljude sollte in der Lage sein, sich gegen antisemitische Angriffe zur Wehr
zu setzen. Beispielgebend dafür konnte das Verhalten jüdischer schlagender Studenten-
verbindungen gelten, die sich seit den 1880er Jahren erfolgreich mit antisemitische
Kommilitonen duellierten. Weitere Organisationen, die schon vor Nordaus Begriffsprä-
gung zur Herausbildung einer Art Muskeljuden beitrugen, bildeten die jüdischen Gym-
nastik- und Turnvereine. Sportorganisationen wie die vor allem in Wien und Berlin
prominente „Hakoah“ führten sodann Juden an den Freizeit- und Spitzensport heran.
Während im 19. Jahrhundert das Stereotyp, dass Juden zu körperlicher Ertüchtigung
unfähig seien, noch weit verbreitet war, stellten sie im frühen 20. Jahrhundert schon
viele international anerkannte Spitzensportler. Vor allem in Sportarten wie dem Boxen,
in denen Kraft erforderlich war, sollten sie sich auszeichnen.
Letztlich wurde der Muskeljude auch in der Popularkultur eine prägende Erschei-
nung. Ein paradigmatisches Beispiel dafür war der in Polen geborene Jude Sigmund
Breitbart, der auch als „jüdischer Supermann“, „polnischer Apollo“ oder „moderner
Samson“ bekannt war. Durch seine Auftritte, bei denen er seine außerordentliche Kraft
zur Schau stellte, begeisterte Breitbart in den 1920er Jahren Menschen in mehreren eu-
ropäischen Ländern. Er verkörperte in physischer Hinsicht die Widerlegung des Vorur-
teils vom schwachen, degenerierten (Ost-)Juden.
Mit den Darbietungen vor einem großen Publikum wurde eine Entwicklung einge-
leitet, die die körperliche Stärke immer mehr zugunsten des performativen Überra-
Namen-Polemik 217
schungsmomentes in den Hintergrund treten ließ. Statt um Kraft ging es dabei zuneh-
mend um Körperbeherrschung. Der Entfesselungskünstler Harry Houdini, ein in Un-
garn geborener Jude, der vor dem Ersten Weltkrieg in den USA mit seinen Auftritten
für Furore sorgte, kann als einer der Wegbereiter für diese Tendenz angesehen werden.
Als im Herbst 2008 der amerikanische Aktionskünstler David Blaine im New Yorker
Central Park sich 60 Stunden lang kopfüber aufhängen ließ, gab er an, er habe sich
Houdini zum Vorbild genommen.
Klaus Hödl
Literatur
Sander L. Gilman, Franz Kafka, London 2005.
Todd Samuel Presner, Muscular Judaism. The Jewish body and the politics of regeneration,
London, New York 2007.
Michael Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle: Cosmopolitanism and Nationalism
from Nordau to Jabotinsky, Berkeley 2001.
Muslimbruderschaft → Islamismus
Namen-Polemik
Die Effektivität und die Schärfe einer Waffe lassen sich nicht allein aus ihr selbst ablei-
ten. Besonders schneidend kann ein Aggressionswerkzeug erst dann sein, wenn es auf
ein weicheres oder mit Bruchstellen behaftetes Objekt trifft. Antisemitische Namen-Po-
lemik kann man also erst verstehen, wenn man das Phänomen Name und sein spezifi-
sches Verhältnis zunächst zum Menschen allgemein und dann besonders zu den Juden
klärt.
Namen sind Wörter, die eine Person bezeichnen, ohne dass ein analytischer Begriff
dazwischentritt. Meinen auf Menschen zielende Begriffe nur einen oder mehrere
Aspekte des Angesprochenen („Du Dieb!“ „Du Esel“), so fasst der Name immer die
Person als unzerspaltene Ganzheit. Der Name ist also wie ein leeres Gefäß, in das jedes
Individuum seine ganze, je eigene Biographie hinterlegt. Während man applizierte Be-
griffe als unzutreffend zurückweisen kann („Ich bin kein Dieb, weil Merkmale a, b, c
nicht vorliegen“), sind Namen nicht verteidigungsfähig. Sie wurzeln ausschließlich in
gesellschaftlichen Abmachungen und haben kein fundamentum in re. Mit dieser auf
die Gesamtperson, aufs Totale zielenden Kraft ist die tief dringende Schärfe der Na-
menattacke erklärt. Jedes Schulkind kennt sie, sei es nun Opfer, sei es Angreifer. Der
Name ist eine anthropologische Universalie. Die beschriebene Angreifbarkeit trägt also
jeder in sich.
Bibelständig haben die Juden bestimmte Grundstellungen eingenommen. In ihrem
gesamten Denken spielen Namen eine zentrale Rolle: Die Vorschriften über den Na-
men Gottes, die vielen „sprechenden“ Namen der Bibel, die Namengebung des ster-
benden Jakob (Gen. 49) u.a. zentrieren das Bewusstsein auf diesen elementaren Punkt.
Obwohl es nun schon im 1. Jahrhundert n.Chr. ein Judenproblem gab (als strikte Mo-
notheisten weigerten sie sich, dem römischen Kaiser zu opfern), gab es keine spezifi-
sche Namen-Polemik, schon gar nicht in den mittelalterlichen Zeiten ziemlich harmo-
nischen Zusammenlebens, auch nicht während der scharfen Konfrontation in Zeiten
218 Namen-Polemik
der Kreuzzüge und der Pest, nicht in den massiv judenfeindlichen Passionsspielen des
Spätmittelalters (da werden die jüdischen Sprach- und Bewegungsgewohnheiten atta-
ckiert), nicht in den ausgedehnten judenfeindlichen Schriften des sonst so gefürchteten
Namenpolemikers Luther.
Dass diese antisemitische Kampftechnik erst nach der Emanzipation auftaucht, ist
erstaunlich und doch leicht zu erklären: Bis dahin lebten die Juden als deutlich erkenn-
bare, abgeschiedene Gruppe neben, nicht in der Standesgesellschaft. Jedermann konnte
sie von weitem erkennen (besondere Kleidung, Haartracht, Wohnviertel, eigene Infra-
struktur, besonderes Essen, besondere Sprachen). Die plakativen Distinktiva ver-
schwanden, als man sich auf den Weg der Emanzipation machte. Unfortschaffbar haf-
tete an den Juden nur der gerade verpflichtend angenommene Familienname. Die mei-
sten Juden hatten ein Namenannahme-Dokument zu Hause, das – wie in Preußen seit
1812 – eigens auf den zwingenden Verbund von erworbener Staatsbürgerschaft und
neuem Namen aufmerksam machte. Damit war neben der anthropologisch universalen
Tatsache des Aufbaus eines jeden Individuums in seinem Namen eine staatspolitische
gestellt, die bei Namenattacken abermals empfindlich machen musste. Rechnet man
hinzu, dass seit der Emanzipation die alte, tief im Judentum wurzelnde Identität gelo-
ckert war und eine neue gesucht werden musste, dann sieht man die erhöhte Sensibili-
tät für das zentrale Identitätssymbol noch deutlicher.
In nahezu allen Staaten konnten die Juden ihren Namen frei wählen. Da viele aber
bei biblischen Namen blieben (Cohn, Moses) oder aus Begriffen neue formten, bei de-
nen dann der semantische Sinn noch deutlich hervorstach (Fliederbaum, Einstein), blie-
ben für Judenschnüffler bestimmte Erkennungskapazitäten. Sie waren sehr unsicher, da
es durchaus auch deutsche Familien mit solchen Namen gab, besonders seit Luthers
Hinwendung zum → Alten Testament (Jacoby, aber auch Israel). Es gab auch Deutsche
mit sogenannten „Ekelnamen“ (Hundgeburt, Niedergesäß). Antisemitische Geschichts-
klitterung streute aber das Gerücht, eigentlich hätten alle Juden Namen dieser Art, weil
sie ihnen von Staatskommissionen zudiktiert worden seien, schöne (Fliederbaum) für
viel Geld, grässliche für wenig (Sch(w)eißeimer). Mit diesen Namenpotenzialen konn-
te man Aggressionen gegen Juden richten, als die gesellschaftliche Akzeptanz der ver-
brieften staatspolitischen nicht folgte.
Als um 1800 der aufsteigende → Nationalismus und in der zweiten Jahrhundert-
hälfte der → Rassismus die alte religiös fundierte Judenfeindschaft ablöste, da stand
die Namen-Polemik plötzlich in geradezu erstaunlicher Parallele mit dem neuen Den-
ken. Sagte man jetzt, die Juden seien immer als ganze unverbesserlich und nichtswür-
dig, so ließ sich das besonders gut über genau die Kategorie propagieren, die eben den
ganzen Menschen meint. Und wenn der → moderne Antisemitismus davon ausging,
alle Juden seien Mimikri-Naturen, deren wahres Wesen entlarvt werden müsse, so
stimmte das genau mit den Unterstellungen überein, die Juden hätten entlarvende Na-
men, Ekelnamen nämlich, oder die anderen hätten alle gefälschte Namen, insbesondere
gekaufte, durch die man sie nicht mehr als Juden erkennen könne.
Aus diesen Vorgaben lassen sich die Techniken der Namensverfemung schlüssig ab-
leiten. Zunächst die Markierung jüdischer Namen: Man untersuchte etwa 2000 Namen-
änderungsanträge der Juden. Als am häufigsten abgewählt, also als am schärfsten mar-
kiert erwiesen sich 74. Die ersten 15 lauten (um zu zeigen, dass wirklich antisemitische
Namen-Polemik 219
Belastung die Reihenfolge steuert und nicht die schlichte Vorkommenshäufigkeit, ge-
ben die nachgestellten Ziffern den Rangplatz innerhalb des wirklichen Vorkommens
an): 1. Cohn (3.), 2. Levy (1.), 3. Moses (28.), 4. Itzig (190.-211.), 5. Salomon (16.), 6.
Schmul (414.-578.), 7. Abraham (56.), 8. Isaack (94.-104.), 9. Hirsch (13.), 10. Israel
(50.), 11. Rosenbaum (25.), 12. Cohen (52.), 13. Levysohn (88.-93.), 14. Rosenthal
(8.) und 15. Jacobsohn (28.-29.). Die ersten 15 der belasteten Vornamen waren Isidor,
Isaack, Abraham, Moses, David, Aron, Hirsch, Louis, Max, Moritz, Nathan, Pinkus,
Sally, Simon, Elias. Folgende Merkmale fungierten als Auslöser des antisemitischen
Syndroms: hebräische Provenienz, leichte semantische Durchschaubarkeit (Blu-
menthal), Ekelnamen, Tiernamen (häufiger bei Juden wegen der Tiervergleiche Jakobs
in Gen. 49), Zweitglied auf -stein, -thal, -berg (Rosenberg), jiddische Herkunft, lautli-
che Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Namen (Moses–Max oder Moser =
Gleichklangsnamen) u.ä. Die Wirkung solcher markierten Namen hat der Soziologe
Leo Löwenthal am prägnantesten beschrieben: „Die Besudelung der Juden erreicht
dann ihren Höhepunkt, wenn Juden, noch ehe man sagt, daß es sich um Juden handelt,
durch ihre jüdisch klingenden Namen charakterisiert werden. Jetzt ist die Beute
sichergestellt, und man braucht nur noch zum letzten tödlichen Schlag auszuholen. [...]
Der jüdische Name ist ein Etikett, welches die Natur des Trägers deutlich bezeichnet;
er ist ein Stigma, er nagelt den Juden fest, so daß er nicht mehr entweichen kann.“
Rechnet man hoch, so trugen in Deutschland nur 25 Prozent (also circa 150.000)
Juden einen solchen markierten Namen. Genau dieselben wurden aber auch von 1 Pro-
zent Deutschgebürtigen getragen (also 600.000). Wie lösten die radikalen Rechten
diese massiven Spannungen auf? Den Juden mit nicht markiertem Namen unterstellte
man, sie hätten den Namen einfach usurpiert oder gar gewechselt. In Wirklichkeit wa-
ren Namenwechsel ziemlich selten: Von den 56.000 Änderungen in Preußen (1812-
1932) betrafen nur 3259 sogenannte jüdische Namen, in welcher Ziffer noch die große
Menge der Deutschgebürtigen steckt, die die jüdische Aura ihres Namens nicht mehr
ertragen konnte. Die Techniken, jüdische Namen zu markieren, lassen sich gut aufzäh-
len: 1. Die ungeschminkt aggressive Attacke: „ ,shy;’Sprinze’ [von „Esperanza“] [...]
so kann kein Gummiabsatz heißen, der etwas auf sich hält, kein Klosettpapier, nein so
kann - jetzt weiß ich es ja - nur eine Jüdin heißen“ (Grazer Tagespost vom 26.8.1938).
2. Gesperrter Druck des markierten Vor- oder Familiennamens: „H i r s c h Meß“. 3.
Rufzeichen hinter einem Namen: „ein Dr. Adler!“. 4. Anführungsstriche bei der Natio-
nalitätenangabe: „der ‚Preuße’ Kupferstein“. 4. Gedankenstrich (oder Sprechpause)
vor dem Namen: „der – Baruch heißt“. 5. Gezielte Falschschreibungen: „Kohnfession“.
6. Reduktion des Namens auf den Begriffssinn: „Bügeleisen“, „Schuft“, „Wurm“. 7.
Falsche Plurale: „die Cöhne“ statt „die Cohns“ u.ä.
Den vielen Juden mit „unverdächtig“ deutschem Namen gab man einfach einen jü-
disch klingenden – zuerst augenzwinkernd, oft auch um angestellten Juden deutsches
Flair zu geben, dann aber in roher Manier und schließlich auf verwaltungstechnischem
Weg: Alle Juden mussten schließlich Israel oder Sara als Zwangsvornamen führen, und
ihre Pässe waren mit einem J gekennzeichnet als spätes Bekenntnis, dass sie eben von
den Deutschen gar nicht zu unterscheiden waren, die Distinktion hergestellt werden
musste. Dies war auch der Höhepunkt antisemitischer Namenverfemung, die mit Sti-
cheleien schon im 19. Jahrhundert begonnen und in Goebbels „Isidor“-Kampagne ge-
220 Nationalismus
Nationalismus
Die Beschäftigung mit Nationalismus muss nicht zwangsläufig in der → Antisemitis-
musforschung münden, wohingegen die Frage nach den Ursprüngen des → modernen
Antisemitismus eine Beschäftigung mit dem Phänomen des Nationalismus unabding-
bar macht. Mit dem Übergang von der ständischen zur modernen nationalstaatlich ver-
fassten Gesellschaft bildeten sich neuartige Vorstellungen, Beziehungen, Loyalitäten
und Handlungsformen heraus, die einen neuen, alle Lebensbereiche umfassenden Be-
zugsrahmen für die Individuen schufen. Dieser neue nationale Bezugsrahmen überla-
gerte und modifizierte denn auch die traditionellen Formen der Judenfeindschaft.
Nicht zuletzt unter dem Einfluss des sozialkonstruktivistischen Paradigmenwechsels
innerhalb der neueren Nationalismusforschung und der damit einhergehenden verän-
derten Fragestellungen und Methoden seit den 1980er Jahren nimmt auch das Interesse
an der Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Nationalismus und Antisemitismus
beständig zu. Entgegen dem auf die ältere deutsche Geschichtswissenschaft zurückge-
henden typologisierenden primordialistischen Verständnis von Nationen als quasi-na-
Nationalismus 221
türliche Ordnungen, ist eine Nation aus konstruktivistischer Perspektive als Ausdruck
einer ideellen „Weltanschauungsgemeinschaft“ im Weberschen Sinne zu verstehen. Je-
der „Geburt“ einer Nation geht demnach eine nationalistische Mythenbildung, die „Er-
findung“ der Nation im Geiste voraus. Nationalismus ist deshalb mehr als bloß über-
steigerter Patriotismus der jeweiligen Angehörigen einer bestimmten Nation, wie dies
der populäre Gebrauch des Begriffs heute nahezulegen versucht. Mit der Annahme der
„Erfindung“ oder „Konstruktion“ von Nationen soll keinesfalls deren materielle Reali-
tät und Wirkmächtigkeit in Frage gestellt werden; vielmehr soll sie dazu anregen, die
Elemente zu rekonstruieren, die eine „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson)
überhaupt erst zu einer Nation bzw. einem Nationalstaat gerinnen lassen.
Erkennt man diese konstruktivistische Prämisse an, so stellt sich als nächstes die
Frage, welche Bilder und Semantiken für die Konstruktion einer Nation jeweils viru-
lent geworden sind. Nicht zuletzt die deutsche Nationalismusforschung muss vor die-
sem Hintergrund einer kritischen Revision unterzogen werden, in deren Mittelpunkt
die Frage nach der Rolle einer national motivierten Judenfeindschaft bei der Erfindung
der deutschen Nation stehen muss. Dass es einen nationalen Antisemitismus gegeben
hat, steht heute außer Frage; über seinen Entstehungszeitraum und Wirkungszusam-
menhang, seine Tragweite und Verwurzelung in der Bevölkerung sowie über seine Be-
deutung für einen „Deutschen Sonderweg“ gehen die wissenschaftlichen Positionen al-
lerdings auseinander.
Für die Herausbildung der Nation als imaginierte Gemeinschaft im Prozess der kapi-
talistischen Säkularisierung war eine spezifische kognitive Struktur – horizontal-säku-
lar und historisch – maßgebend, die sich von der überkommenen Struktur religiöser
Gemeinschaften wesentlich unterschied. Im deutschsprachigen Mitteleuropa bildete
sich, in Reaktion auf die Französische Revolution und die napoleonische Okkupation
sowie als antirömischer Reflex der lutherischen Reformation, eine eigene Variante der
kulturellen Säkularisierung heraus, mit der ein vorpolitischer bzw. vorgeschichtlicher
Volksbegriff als tragende politische Idee etabliert wurde, der dann mit dem Konzept
der Nation identifiziert wurde. Erst durch dieses „völkische“ Element erhielt der deut-
sche Nationalismus eine „dezidierte Utopie“ (George L. Mosse). So mutierte nach
1800 die ursprünglich revolutionäre Emanzipationsbewegung des Dritten Standes zu
einer antiliberalen Gegenkraft mit einem neuen Integrationsmuster als Ordnungsmodell
– dem der homogenen Nation. Dieses Ordnungsmodell beruhte nicht zuletzt auf der
romantischen Lehre von organischer Volksart, sozialdarwinistischen und biologisti-
schen Theorien.
Wurde in der älteren Antisemitismusforschung die Entstehung des modernen Anti-
semitismus meist mit der Reichsgründung von 1871, also der Errichtung des ersten
deutschen Nationalstaats, angesetzt, belegen neuere Studien, dass eine national moti-
vierte Judenfeindschaft bereits in früheren Konzepten von Volk und Nation – so etwa
bei Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim und Clemens Brentano – manifest wurde.
In Abgrenzung zum französischen Nationskonzept, das auf den Fundamenten der →
Aufklärung und des Universalismus aufbaute, entwickelte sich ein genuin deutsches,
romantisch-völkisches Modell, das den Staat als lebenden Organismus bzw. Kollektiv-
subjekt vorstellte. Die wichtigsten Motive dieser zwischen 1790 und 1830 in Deutsch-
land dominierenden romantischen Geisteshaltung waren neben der Betonung des Indi-
222 Nationalismus
viduellen, Subjektiven, Irrationalen und Spontanen die Ästhetik und eine Tendenz zum
Exotischen, Vergangenen und Mystischen. Durch die integrationsstiftende Kraft der
gemeinsamen Kultur und Sprache sollten gesellschaftliche Widersprüche nivelliert und
die gottgewollte, natürliche Zusammengehörigkeit des ganzen deutschen „Volkes“
konstituiert werden. Die tiefgreifende Säkularisierung des Denkens, die Bedeutung
Herders und der Sprachwissenschaft für die Vorstellungen von Volk und Volkscharak-
ter schufen im Zusammenhang mit den Organismustheorien der Romantik die Voraus-
setzungen für eine neue Art der Judenfeindschaft: Juden wurden, aufgrund einer in der
hebräischen Sprache auszumachenden, unveränderlichen „Volksart“ zu „Semiten“ um-
gedeutet.
Trotz der Emanzipationsperspektive, die die deutsche Nationalbewegung in ihrer li-
beral-revolutionären Phase des frühen 19. Jahrhunderts den Juden eröffnete, kann die
von einigen Autoren vertretene Auffassung von einer prinzipiellen „Wahlverwandt-
schaft“ zwischen revolutionärem Nationalismus und Emanzipationsgedanken nicht
aufrechterhalten werden. Vielmehr macht der Umschlag der – zunächst unter emanzi-
patorischen Vorzeichen gestellten, nach den krisenhaften Umbrüchen der 1870er Jahre
aber in eine auf die Rücknahme der Emanzipation zielende – → „Judenfrage“ deutlich,
dass bereits zuvor eine „negative Korrelation“ (Reinhard Rürup) zwischen Revolution
und Emanzipation bestanden haben muss, die ein nationales Selbstbild begünstigte,
das sich in Abgrenzung zu einem antijüdischen Fremdbild konstituierte. Als sich im
frühen 19. Jahrhundert die Möglichkeit einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden ab-
zuzeichnen begann, bildete sich zugleich ein neues Schema der Judenfeindschaft her-
aus: Mit der als bedrohlich empfundenen Vorstellung, dass die Judenemanzipation zu
einer Auflösung der deutschen und jüdischen „Eigentümlichkeiten“ führen werde, ging
die Behauptung einer nationalen Sonderexistenz der Juden einher. Zielten die früheren
antijüdischen Vorstellungsmuster auf die, durch Taufe veränderbare, Stellung der Juden
zu ihrer Religion ab, rekurrierte das Neue nun auf die nationale Zugehörigkeit als un-
wandelbare Gegebenheit. „Der“ Jude als Antithese zum Christen oder zum aufgeklär-
ten Bürger wurde ergänzt und überlagert durch das „jüdische Wesen“ als vermeintli-
chen Gegenpol zum „deutschen Wesen“.
In den 1910er, 1920er und 1930er Jahren erlebte die romantisch begründete Volks-
idee durch die völkisch-deutschnationale Sammlungsbewegung eine Renaissance, wo-
bei die antisemitische Abgrenzung von „den“ Juden sich nun zunehmend auf rassisti-
sche Motive stützte.
Arnon Hampe
Literatur
Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch, Peter Berghoff (Hrsg.), Die Konstruktion der Nation ge-
gen die Juden, München 1999.
Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg
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Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und
Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.
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schen Wesens, in: Archiv Bibliographia Judaica 1 (1985), S. 29-55.
Nationalsozialismus 223
Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerli-
chen Gesellschaft, Göttingen 1975.
Hans-Joachim Salecker, Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz, Berlin u.a. 1999.
Eva-Maria Ziege, Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus,
Konstanz 2002.
Nationalsozialismus
Der Nationalsozialismus war die radikalste Erscheinungsform faschistischer Ideolo-
gien, charakterisiert in der Aufstiegs- und Bewegungsphase (1919-1933) wie als Herr-
schaftssystem (1933-1945) durch diktatorisches Führerprinzip, korporatistische Gesell-
schaftsordnung („Volksgemeinschaft“), Antikommunismus und Frontstellung gegen
die Arbeiterbewegung, völkische Identitätspostulate, rassistische Ausgrenzung von
Minderheiten bis zum → Genozid ( → Holocaust), Expansionsstreben ( → „Lebens-
raum“) sowie Einparteien-Herrschaft, Kontrolle allen öffentlichen Lebens, Informati-
ons- und Kulturmonopol sowie durch ein System außernormativer Gewalt (KZ-Sy-
stem) und Auflösung des staatlichen Herrschaftsapparates durch konkurrierende Ge-
walten (Dualismus von Partei und Staat) sowie führerunmittelbare Sonderbehörden.
Innerhalb der faschistischen Bewegungen Europas folgte der Nationalsozialismus
dem italienischen Vorbild, kompensierte die theoretischen und programmatischen Defi-
zite der Ideologie durch Propaganda, Aktionismus und Gewaltbereitschaft beim Stre-
ben zur Macht und radikalisierte sich nach der Etablierung als Herrschaftssystem. Zu
den Wesensmerkmalen gehört im Programm und in der Wirklichkeit der sozialdarwini-
stische Determinismus, der an die Stelle rechtsstaatlicher Ordnung das Prinzip des
Rechts des Stärkeren setzte.
Konstitutive Bedeutung für den Nationalsozialismus hatte der Antisemitismus, der
die Rassenkonstrukte des 19. Jahrhunderts übernahm, zunächst propagandistisch ein-
setzte, dann ab 1933 durch Diskriminierung und Ausgrenzung aus allen Lebensberei-
chen praktizierte und schließlich in die Absicht zur Vernichtung der Juden Europas
mündete. Im Holocaust kulminierte die Ideologie des Antisemitismus durch den Geno-
zid an sechs Millionen Juden, damit bleibt der Nationalsozialismus mit dem größten
staatlich organisierten Menschheitsverbrechen der Geschichte untrennbar verbunden.
Als politischer Terminus erscheint Nationalsozialismus erstmals 1904 bei der in der
österreich-ungarischen Monarchie im Sudetenland agierenden „Deutschen Arbeiterpar-
tei“, die sich 1918 den Namen „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei
(DNSAP) gab, u.a. zur Abgrenzung gegen tschechisches Volkstum. Programmatisch
signalisiert der Begriff „Nationaler Sozialismus“ den Anspruch, nationalstaatliche bzw.
nationalistische Ideologie (in extrem völkischer und antisemitischer Ausprägung) und
Sozialismus (unter Ablehnung aller internationalen Komponenten) zu vereinen. Sozia-
lismus war freilich kaum mehr als ein irrationaler Appell an das Arbeitermilieu, dem
damit ein „dritter Weg“ zwischen marxistischer Arbeiterbewegung und traditionellem
Nationalismus gewiesen werden sollte.
224 Nationalsozialismus
Ideologie
Das Programm der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) vom
24. Februar 1920 mischte populäre Phrasen und Forderungen, die 1926 für „unabän-
derlich“ erklärt wurden. Wichtige Punkte bildeten die Forderung nach einem Groß-
deutschland, dessen Volkstumsgrenzen mit den Reichsgrenzen übereinstimmen sollten,
die Aufhebung der Friedensverträge von 1919, die koloniale Erweiterung des deut-
schen Siedlungsgebietes, der Vorbehalt von Staatsbürgerschaft und Staatsämtern für
„Volksgenossen“, die nach rassistischen Gesichtspunkten („deutsches Blut“) definiert
wurden, und ein Einwanderungsverbot. Die vagen Forderungen nach Ersatz des Römi-
schen Rechts durch ein „Deutsches Gemeinrecht“, Hebung der Volksgesundheit, nach
„gesetzlichem Kampf gegen die bewußte politische Lüge und ihre Verbreitung durch
die Presse“, nach „positivem Christentum“ und Kampf gegen den „jüdisch-materialisti-
schen Geist“ entsprachen populären Bedürfnissen nach verbalem Radikalismus. Mit
den Programmpunkten, die die Abschaffung des „Arbeits- und mühelosen Einkom-
mens“, die „Brechung der Zinsknechtschaft“, die Einziehung von Kriegsgewinnen, die
Verstaatlichung aller Trusts, die „Schaffung eines gesunden Mittelstands“, die „soforti-
ge Kommunalisierung der Großwarenhäuser“, eine Bodenreform und den Kampf ge-
gen „gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber“ verhießen, wurde das populisti-
sche Verständnis eines deutschen „arteigenen“ Sozialismus‘ artikuliert, in der Praxis
aber nie eingelöst. Das Programm hatte deklamatorischen Charakter, eine Programm-
diskussion fand nicht statt, theoretische Schriften wie Alfred Rosenbergs „Mythus des
20. Jahrhunderts“ waren praktisch bedeutungslos, das Vakuum wurde durch Reden des
„Führers“ mit sinnstiftendem Charakter sowie durch Inszenierungen und Rituale
(Reichsparteitag und kanonisierte Feiern) gefüllt.
Rechtsphilosophische und staatsrechtliche Definitionsversuche (Carl Schmitt: Staat,
Bewegung, Volk, 1933) oder Rechtfertigungen (Ernst Forsthoff: Der totale Staat,
1933) im Sinn einer nationalsozialistischen Regimelehre konnten die Realität des NS
nicht erfassen. Spätere kritische Erklärungsmodelle aus dem Exil wie Ernst Fraenkels
Theorie vom „Doppelstaat“ (1940/41) und Franz Neumanns „Behemoth“ (1942) er-
kannten die Strukturen der NS-Herrschaft in der Koexistenz konkurrierender Systeme
von Maßnahmen- und Normenstaat (Fraenkel) bzw. in der Antinomie von Staat und
NSDAP mit der Tendenz der Zersetzung jeder formal oder funktional einheitlichen po-
litischen Gewalt als ständigen Veränderungsprozess, mündend in Anarchie (Neumann).
Modernisierung, gerichtet auf Infrastruktur und Kriegstechnologie und Formierung der
Gesellschaft in Zwangsinstitutionen (Deutsche Arbeitsfront, Reichsnährstand, Reichs-
kulturkammer etc.) waren ebenso Merkmale des Nationalsozialismus wie Agrarroman-
tik und verklärende Historisierung von Germanentum und „Deutscher Art“ als Gegen-
welten zur westlichen Demokratie.
Geschichte
Am 5. Januar 1919 gründeten der Eisenbahnschlosser Anton Drexler und der Sport-
journalist Karl Harrer in München die „Deutsche Arbeiterpartei“ (DAP) mit zunächst
etwa 20-40 Mitgliedern als antimarxistische, antisemitische und völkische Organisati-
on. Am 12. September 1919 besuchte Adolf Hitler im Auftrag des Münchner Reichs-
wehrgruppenkommandos eine Versammlung der Partei, trat ihr bald darauf bei und
Nationalsozialismus 225
Die Mordaktion im Sommer 1934 bildete auch staatsrechtlich eine Zäsur. Nicht nur
die revolutionäre Phase des NS war auf dramatische Weise beendet, die öffentliche Ak-
klamation zu Hitlers Vorgehen als „Staatsnotwehr“ bedeutete das Ende des Rechts-
staats in Deutschland und die Etablierung der unumschränkten Diktatur, die in der
durch das befristete „Ermächtigungsgesetz“ vom März 1933 nicht legitimierten Verei-
nigung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person des
„Führers“ und durch den Treueeid der Wehrmacht auch äußerlich zum Ausdruck kam.
Mit dem Niedergang des Führermythos im Zweiten Weltkrieg zerfiel auch das An-
sehen der NSDAP, deren Funktionäre wegen häufig bewiesener Unfähigkeit und Kor-
ruption in der Bevölkerung von Anfang an (als Bonzen oder „Goldfasane“ verspottet)
wenig Prestige genossen. Die Mitgliederzahl betrug nach der offiziellen Parteistatistik
am Stichtag 1. Januar 1935 2.493.890 Personen, 66 Prozent davon waren nach dem
30. Januar 1933 eingetreten. Nach der Aufhebung der am 1. Mai 1933 verfügten Auf-
nahmesperre stieg die Zahl der Parteigenossen ab 1937 auf zuletzt 8,5 Millionen. Das
Ende nationalsozialistischer Herrschaft wurde nicht durch den Widerstand herbeige-
führt, den zuerst Kommunisten und andere politische oppositionelle Richtungen im
Untergrund und im Exil leisteten. Als auch der Versuch des militärischen Widerstands,
durch ein Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 (Graf Stauffenberg) wenigstens ein spä-
tes Zeichen zu setzen, fehlgeschlagen war, konnte nur der militärische Sieg der Alliier-
ten des Zweiten Weltkriegs die nationalsozialistische Herrschaft beenden. Nach dem
Selbstmord des Diktators und der vollständigen Besetzung deutschen Territoriums er-
folgte am 8./9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation; das in vier Besatzungszo-
nen geteilte Gebiet regierten die Besatzungsmächte USA, UdSSR, Großbritannien und
Frankreich bis 1948/49 gemeinsam. Die Angehörigen der nationalsozialistischen Elite
standen 1945/46 in den Nürnberger Prozessen vor Gericht. Die NSDAP wurde mit al-
len Gliederungen und angeschlossenen Verbänden durch Gesetz des Alliierten Kon-
trollrats am 10. Oktober 1945 verboten.
Organisation
Die NSDAP war nach dem Führerprinzip vertikal gegliedert, die Funktionäre vom
Blockleiter über Ortsgruppen-, Kreis-, Gauleiter aufwärts über den Stellvertreter des
Führers zum Führer hießen Hoheitsträger und standen an der Spitze eines Hoheitsge-
biets (Block, Zelle, Ortsgruppe, Kreis, Gau, Reich). Zusammen bildeten sie das Korps
der Politischen Leiter, das nach militärischem Vorbild uniformiert (hellbraun) und in
Dienstränge eingeteilt war. Oberstes regionales Gliederungselement waren die Gaue,
deren Zahl von 32 (1936) infolge der Annexionen auf 41 im Jahre 1940 anstieg.
Die administrative Spitze der Partei, die mit Personalunionen den Staatsapparat voll-
kommen penetrierte, bestand aus Ressorts, die von „Reichsleitern“ geführt wurden.
Der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß gehörte nicht zu den Reichsleitern, er war
ihnen aber auch nicht übergeordnet, was wegen seiner Vollmacht, Hitler in Parteiange-
legenheiten ständig zu vertreten, zu Kompetenzkonflikten insbesondere mit dem
Reichsorganisationsleiter Robert Ley führte. Die Reichsleiter waren dem Führer unmit-
telbar verantwortlich, die Reichsleitung bildete kein Kollektivorgan. Der Organisati-
onsaufbau der Partei wiederholte sich auf den Ebenen Gau, Kreis und Ortsgruppe.
Nationalsozialismus 229
Bedeutung
Die Umsetzung der Ideologie durch rassistische Ausgrenzung von Minderheiten (Ju-
den, Sinti und Roma) begann unmittelbar nach dem Machterhalt. Unpopuläre Exzess-
taten und der Judenboykott (1. April 1933) wurden durch Gesetze und Verordnungen
(Berufsverbote, Verlust politischer Rechte, Diskriminierung) abgelöst. Die November-
pogrome („Reichskristallnacht“) um den 9. November 1938 leiteten die definitive Ver-
folgungsphase ein, die nach Ghettoisierung, → Kennzeichnung und Deportation der
Juden in den systematisch organisierten Völkermord ab Sommer 1941 mündete. Vor
dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, den die Regierung Hitler als Konsequenz
des expansionistischen Programms des Nationalsozialismus erstrebte, durch Aufrü-
stung vorbereitete und am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen einleitete,
wurde nationalsozialistische Ideologie als Herrschaftshandeln umgesetzt: der Ermor-
dung psychisch Kranker und Behinderter in den → „Euthanasie“-Aktionen folgte der
Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, als Kampf nicht nur gegen den → Bolsche-
wismus, sondern auch gegen slawische „Untermenschen“, die versklavt und ermordet
wurden. Zur Vernichtungsbilanz gehören außer sechs Millionen Juden aus ganz Europa
drei Millionen polnische Zivilisten und 3,3 Millionen Kriegsgefangene der Roten Ar-
mee, die im Gewahrsam der Wehrmacht zugrunde gingen oder ermordet wurden. Ins-
gesamt wurden mindestens 13 Millionen Menschen Opfer verbrecherischer Handlun-
gen. Mehr als 17 Millionen Militärangehörige und etwa 16 Millionen Zivilpersonen
nichtdeutscher Nationalität stehen 4,2 Millionen deutschen Angehörigen der Wehr-
macht und paramilitärischer Verbände (Waffen-SS, Reichsarbeitsdienst, Organisation
230 Neofaschismus
Todt, „Volkssturm“ usw.) gegenüber. Unter der deutschen Zivilbevölkerung waren über
500.000 Opfer des Luftkriegs zu beklagen. Zu den unmittelbaren Folgen nationalsozia-
listischer Herrschaft gehören die Zerstörungen weiter Teile Europas, erhebliche Territo-
rialverluste Deutschlands und der zwangsweise Bevölkerungstransfer von Millionen
Menschen (wie Polen, Juden) im NS-Herrschaftsgebiet, schließlich die Vertreibung der
Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten bzw. aus der Tschechoslowakei, Polen u.a.
Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa.
Wolfgang Benz
Literatur
Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozia-
lismus, Stuttgart, München 1997 (überarbeitete Neuauflage 2006).
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Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung,
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Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt am
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Richard Evans, Das Dritte Reich, 3 Bände, München 2004-2009.
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Negationismus → Holocaustleugnung
Neofaschismus
Mit der Gründung der „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) im Dezember 1946 war in
Italien bald nach Kriegsende eine neofaschistische Partei aktiv, die ab Ende der 1940er
Jahre regelmäßig einen Wähleranteil zwischen fünf und sechs Prozent der Stimmen
verbuchen konnte; im Süden des Landes stieg der Stimmenanteil auf teilweise bis zu
15 Prozent. Ideologisch stand die MSI in der Tradition der Repubblica Sociale Italiana
von Salò (1943-1945), die als Hitlers Marionettenregierung unter Mussolini eine we-
sentlich radikalere Politik verfolgte als sie während des faschistischen Regimes in Ita-
lien bis zum Sommer 1943 geherrscht hatte. Im neuen (Vasallen-)Staat war der Anti-
semitismus durch den unmittelbaren Einfluss der Deutschen zum Programm geworden,
und antisemitische Rassentheoretiker wie Giovanni Preziosi und Julius Evola fungier-
ten als Ideologiegeber. Im 18-Punkte-Manifest der „Faschistisch Republikanischen
Partei“, der „Carta von Verona“ vom 14. November 1943, waren Juden zu „Auslän-
dern“ und Feinden erklärt worden. Als Vordenker des radikalen Flügels der MSI um
Giorgio Almirante und Pino Rauti verkörperte Julius Evola die Kontinuität zur republi-
kanischen faschistischen Partei. Evolas Einfluss blieb nicht auf die italienische neofa-
Neofaschismus 231
schistische Partei beschränkt, er gilt bis heute in Teilen des internationalen Rechtsextre-
mismus und bei der „Neuen Rechten“ als Ideengeber.
Der Mythos des „braven Italieners“ hatte die Nachkriegsjahre dominiert, die neuen
politischen Eliten waren vom Antifaschismus geprägt. Nach Kriegsende war mit den
Faschisten der Repubblica di Salò abgerechnet worden („Epurazione“), sie wurden als
„Feinde“ geächtet, viele aber, die sich in den vorangegangenen 22 Jahren des → Fa-
schismus im Staatsapparat etabliert hatten, blieben. Folgerichtig war das Interesse an
der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit nur gering. Es entstand ein Staat, der sich
als Erbe des antifaschistischen Kampfes begriff und die Italiener in die Illusion ver-
setzte, mit dem Kapitel Mussolini, aber auch mit dem der Kollaboration abgeschlossen
zu haben. Die fehlende Auseinandersetzung mit der antisemitisch geprägten Repubbli-
ca Sociale Italiana hatte einen Bodensatz hinterlassen, der im Nachkriegsitalien latent
schwelte und jederzeit aktiviert werden konnte. Nachdem in Deutschland die Kölner
Synagoge im Dezember 1959 geschändet worden war und eine antisemitische
Schmierwelle folgte, kam es auch in Italien zu antisemitischen Übergriffen.
In vielen italienischen Städten tauchten neofaschistische bzw. neonazistische Sym-
bole und antisemitische Slogans auf. Bereits 1958 hatte in Rom eine antisemitische De-
monstration stattgefunden, 1960 war das jüdische Viertel der Hauptstadt Ziel aggressi-
ver Übergriffe. In Mailand erfolgten Anfang Januar 1960 antisemitische Übergriffe mit
deutlicher Anlehnung an nationalsozialistische Vorbilder. Zum Kreis der Täter gehör-
ten Studenten aus dem Umfeld der neofaschistischen Gruppe „Ordine Nuovo Euro-
peo“. An anderen Orten fanden sich antisemitische Schriftzüge in deutscher Sprache
wie „Raus Juden“. Der Eichmannprozess in Jerusalem 1960/61 löste erneut Schmiere-
reien an jüdischen Friedhöfen und Synagogen aus, die auf die NS-Judenverfolgung Be-
zug nahmen: „Juden in die Öfen“, „Hitler hatte recht“. In Rom wurde als einer der Tä-
ter der Neofaschist Stefano delle Chiaei identifiziert, in Mailand konnte man die Urhe-
ber im Umfeld der Organisation „Centro Ordine Nuovo“ ausmachen. Delle Chiaei war
Mitglied der MSI; er verließ 1960, wie andere radikale Vertreter, die Partei, weil sie zu
regierungsfreundlich war, und gründete eine eigene neofaschistische Gruppierung.
Delle Chiaei gehörte rechtsextremen Terrororganisationen an und war an einem rechts-
terroristischen Bombenanschlag 1969 in Mailand beteiligt. Die MSI distanzierte sich
öffentlich von diesen antisemitischen Anschlägen, aber in seinen Organen erschienen
regelmäßig Beiträge, die zeigen, dass es sich vielfach nur um Lippenbekenntnisse han-
delte. Die MSI-Jugendorganisation „Giovane Italia“ hatte während des Eichmannpro-
zesses antisemitische Flugblätter verteilt.
Bis Mitte der 1980er Jahre führte die MSI ein Außenseiterdasein im politischen
Spektrum Italiens. Dies änderte sich, als die Sozialisten 1985 aus pragmatischen und
wahlpolitischen Gründen Dialogbereitschaft signalisierten und die Partei damit vom
Geruch des Extremismus befreiten, obgleich sie keineswegs von ihrer neofaschisti-
schen Ideologie abgerückt war. Eine mögliche Beteiligung an der Regierungsverant-
wortung konnte allerdings erst nach einer völligen Umstrukturierung der Partei gelin-
gen. Die Erweiterung der MSI zu einer nationalen Allianz, der „Alleanza Nazionale“
(AN), sowie der Plan, die MSI auf einem Parteitag im Januar 1995 aufzulösen und
vollständig in der neuen Partei aufgehen zu lassen, hat sich als kluger Schachzug er-
wiesen. Gianfranco Fini, der von 1988 bis 1990 und dann wieder ab 1991 an der Spitze
232 Neofaschismus
der MSI stand, war es gelungen – zumindest nach außen – einen moderateren Kurs zu
fahren und mit der Umwandlung in eine rechtskonservative Partei die AN auch für ehe-
malige Anhänger der „Democrazia Cristiana“ wählbar zu machen. Noch Anfang der
1990er Jahre hatten, nach der Rückkehr Finis als Parteiführer, wieder traditionelle fa-
schistische Inhalte die Parteidoktrin bestimmt; ehemalige Vertreter des rechtsextremen
Flügels waren zur MSI zurückgekehrt. Mit dem Wandel in eine rechtskonservative Par-
tei setzte – zumindest nach außen – ein Prozess ein, in dessen Folge jegliche neofaschi-
stischen und antisemitischen Töne in der Partei unterbunden wurden.
Da insbesondere die Jugendorganisation der MSI, die „Fronte della Gioventù“, als
neofaschistisch unterwandert galt, ihre Mitglieder sich mit „deutschem Gruß“ grüßten
und ihr äußeres Erscheinungsbild häufig der internationalen Skinhead-Szene entsprach,
beschloss Fini Mitte der 1990er Jahre deren Auflösung bzw. eine Zusammenführung
der Jugendorganisationen der MSI zur „Azione Giovani“. Nach außen lehnten sie den
Antisemitismus ab, Verbindungen zur rechtsextremen Jugendszene und zu Skinhead-
Gruppen, die den Antisemitismus als einen ihren zentralen Ideologiebestandteile be-
greifen, lassen jedoch vermuten, dass es sich hier mehr um Lippenbekenntnisse als um
eine tatsächliche Distanzierung von antisemitischen Positionen handelt. So stellte die
Jugendorganisation etwa auf der Internetseite ihres sardischen Ablegers im Jahr 2000
eine Buchliste bereit, die Publikationen von NS-Autoren und Holocaustleugnern sowie
neofaschistische Kultbücher anbot. Links verwiesen auf Holocaustleugnerseiten und
Internetauftritte von neofaschistischen Skinhead-Gruppen. Angeboten wurden auch
Publikationen des ältesten neofaschistischen Verlages in Italien, „Edizioni di AR“ des
Gründers der neofaschistischen „Fronte Nazionale“ Franco Freda. Rechtsorientierte
Skinheads, in Italien als „Naziskin“ bezeichnet, stehen dem MSI keineswegs so fern,
wie Gianfranco Fini der Öffentlichkeit glauben machen will. Andere, wie der Neofa-
schist Pino Rauti haben in der MSI eine zentrale Rolle gespielt. Nach seinem Rücktritt
vom Parteivorsitz (1990-1991) gründete er eine neofaschistische Abspaltung der MSI
und tritt seit 2003 immer wieder mit neuen Gruppierungen und Wahlbündnissen in Er-
scheinung. Wie Rauti ist auch Roberto Fiore, Generalsekretär der neofaschistischen
Partei „Forza Nuova“ und Abgeordneter im EU-Parlament, Anhänger der Thesen von
Evola. Fiore und seine Partei vertreten rassistische und antisemitische Inhalte. Auf ei-
ner Demonstration im November 2006, an der sich ca. 500 Anhänger der Partei betei-
ligten, wurden Parolen wie „Juden raus“ und „Sieg Heil“ gerufen. „Die „Forza Nuova“
gewinnt zunehmend Einfluss auch unter den rechtsextremen Hooligans, den „Ultras“
in den Stadien.
Seit den 1990er Jahren haben sich die Inhalte neofaschistischer Parteien und Grup-
pierungen verändert. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden neue Bündnisse:
die Verbindung zu Rechtsextremen und Rechtspopulisten Osteuropas wie etwa mit der
antisemitisch rassistischen „Pamjat“ oder der ebenfalls extrem antisemitischen „Front
nacional-revoljucionnowo dejstvija“ [Front der nationalrevolutionären Tat] in Russ-
land.
Als sich 1991 im römischen Hotel „Parco dei Principi“ Neofaschisten und Neonazis
trafen, um die „Auschwitzlüge“ zu propagieren, handelte es sich noch um eine Aus-
nahme, ab Herbst 1992 aber begann sich die Situation zu verändern. Judenfeindliche
Schmierereien und Friedhofsschändungen sind auch in Italien inzwischen keine Selten-
Neofaschismus 233
heit. Symbole des Faschismus werden entgegen dem historischen Vorbild mit antisemi-
tischen Inhalten vermischt. In den meisten Fällen sind Reminiszenzen an den
Nationalsozialismus zu erkennen, wie etwa Hakenkreuzschmierereien oder Parolen in
deutscher Sprache („Juden raus“). Auch die regelmäßige Verwendung von Runen und
Keltenkreuzen verrät die subkulturelle Anlehnung an den Nationalsozialismus. In Ita-
lien sind solche Symbole eine neue Erscheinung, sie waren allenfalls während der Zeit
der Repubblica di Salò vereinzelt aufgetaucht, als deren Aktivisten ihre geistige Ver-
wandtschaft mit dem NS-Regime beweisen wollten.
Noch zu Beginn der 1980er Jahre konnte deutlich unterschieden werden zwischen
neofaschistischen Gruppierungen, denen antisemitische Vorurteile fernlagen und jenen,
die sich ihrer sehr wohl bedienten. Heute dagegen findet sich keine Gruppierung der
Ultrarechten mehr, die nicht den Antisemitismus in ihrer Weltanschauung integriert
hat. Antijüdische Vorurteile werden zum einigenden Faktor verschiedener Ausrichtun-
gen wie dem Neofaschismus, der rechten Skinheads bzw. der Neonazis und der Natio-
nalbolschewisten. Hierbei spielt mehr und mehr der → Revisionismus (negazionismo)
mit der Rezeption der Publikationen von Rassinier, Faurrison und Irving eine zentrale
Rolle und zwar in seiner gesamten Bandbreite von der Verharmlosung über die
Infragestellung bis hin zur Leugnung der Ermordung der europäischen Juden. 1985 er-
schienen erstmals in Italien revisionistische Bücher (Originalausgaben und Übersetzun-
gen), die „wissenschaftlich“ beweisen wollten, dass es keine Vernichtungslager gege-
ben habe bzw. die Zahl der Opfer deutlich niedriger zu beziffern sei.
Eine wichtige Komponente des Antisemitismus der italienischen Neofaschisten ist
der Kampf gegen den „Mondialismus“, also gegen Globalisierung und die „Einheits-
und Konsumgesellschaft“, die sich durch die Vermischung aller Rassen gebildet habe.
Beherrscht würde diese „Eine-Welt-Regierung“ von einer internationalen Finanz-
gewalt, geführt von Juden, Zionisten und Freimaurern, die die italienische Industrie
und den Medienmarkt unter Kontrolle hätten. Bis zu den Einschränkungen durch das
Antidiskriminierungsgesetz 1993 (Legge Mancino) bekämpften die neofaschistischen,
rechtsextremen Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielen diesen Mondialismus, in-
zwischen haben sich Einzelkämpfer mit ähnlichen Intentionen herauskristallisiert. Eine
europäische Sonderstellung nehmen die Herausgeber und Autoren ein, die sich um die
Periodika „Avanguardia“, „Orion“ und „Aurora“ gruppieren. Sie sehen in dem Zusam-
menschluss von Eurasia und Islam das einzige Mittel, den „Mondialismus“ zu bekämp-
fen, deshalb ist der einwandernde Moslem ein potenzieller und willkommener Revolu-
tionär. Die neofaschistische Zeitschrift „Construiamo l‘azione“, zu deren Theoretikern
Franco Freda gehört, hatte sich bereits Anfang 1980 zur Islamischen Revolution im
Iran bekannt. Freda propagiert gleichzeitig die Einheit der „Ultrarechten“ und der „Ul-
tralinken“, um die bürgerliche Gesellschaft zu bekämpfen. Seine erklärten Ziele waren
schon in den 1960er Jahren: „Wir haben nur mit dem jüdischen und verjudeten Europa
abzurechnen. Der palästinensische Terrorist ist unseren Racheträumen näher als der jü-
dische oder verjudete Engländer.“ Fredas Nachfolger als Leiter des rechtsextremen
Verlages „Edizioni di Ar“ Claudio Mutti ist zum Islam übergetreten und hatte 1979 die
„Europäisch-Islamische Gesellschaft“ gegründet. Schon Evola hatte dem Islam ein hö-
heres Niveau als den anderen monotheistischen Religionen zuerkannt. Die Vertreter
234 Neofaschismus
Neofiti → Conversos
Neonazismus → Rechtsextremismus
Néophytes → Conversos
Neuchristen → Conversos
Neues Testament 235
Neues Testament
Die 27 Schriften des Neuen Testaments wurden von verschiedenen Autoren in unter-
schiedlicher Absicht in der Zeit zwischen 50 und 130 n.Chr. verfasst. Daneben existie-
ren weitere Schriften, die nicht in den neutestamentlichen Kanon eingegangen sind,
aber für die Identitätsbildung des frühen Christentums bedeutsam sind. Das Christen-
tum beruft sich auf Jesus von Nazareth und Paulus, aber es begann nicht mit ihnen.
Weder Jesus noch Paulus wollten eine neue Religion gründen. Jesus war Jude und ist
als Jude gekreuzigt worden. Vor dem Hintergrund seiner jüdischen Tradition verkünde-
te er nicht nur den Anbruch der Herrschaft Gottes, sondern deren erfahrbare Wirksam-
keit und Durchsetzung. Die Jesusbewegung ist als eine von vielen Reformrichtungen
innerhalb des damaligen Judentums zu verstehen.
Auch Paulus war als Verkünder des Evangeliums von Jesus Christus kein „Christ“.
Paulus hat keine Bekehrung, sondern eine Berufung erfahren, die einen Wechsel von
einem pharisäisch bestimmten Juden zu einem messiasgläubigen Juden zur Folge hatte.
Von „Christentum“ als fester Größe lässt sich zu dieser Zeit noch nicht sprechen, wäh-
rend das Judentum der damaligen Zeit in keiner Weise eine Einheit bildete, das heißt
ein „normatives“ Judentum hat es nicht gegeben. Die ersten (Juden)christen waren
christusgläubige Juden, die an ein neues Handeln Gottes in und durch Jesus von Naza-
reth glaubten, der von den Römern als „Messias“ bzw. „Christus“ gekreuzigt wurde
und dessen Tod sie im Lichte der heiligen Schriften Israels deuteten. Im Neuen Testa-
ment taucht die Bezeichnung „Christen“ bzw. „Christianer“ (gr. „christianoi“) nur an
drei Stellen auf. In der Apostelgeschichte (11,26; 26,28) begegnet sie in Entsprechung
zu lateinischen Analogien als Fremd- und nicht als Selbstbezeichnung, da die „Chri-
stianer“ von Außenstehenden als eigene Richtung innerhalb des Judentums wahrge-
nommen wurden im Sinne einer „Partei der Christianer“. Mit dem ersten Petrusbrief
(4,16) wird dann deutlich, wie im martyrologischen Kontext gegen Ende des 1. Jahr-
hunderts eine Fremdbezeichnung zur Eigenbezeichnung wird. In den christusgläubigen
Gemeinschaften lebten jedoch nicht nur Juden, die ihren Messias gefunden hatten, son-
dern es kamen Menschen aus den Völkern hinzu, die an den Gott Israels sowie seinen
Messias Jesus glaubten. Ihr Zusammenleben gestaltete sich bis in das 2. Jahrhundert
hinein entweder nach jüdischen Bedingungen, d.h. unter Berücksichtigung der Mini-
malforderungen der Thora oder nach nichtjüdischen Bedingungen. Die Dominanz
nichtjüdischer Bedingungen vor dem Hintergrund der Zunahme der Messiasgläubigen
aus den Völkern in den Gemeinden schuf letztendlich die Voraussetzung für eine Posi-
tion, die zunächst als Gegenüber, schließlich jedoch als Gegensatz zum Judentum ver-
standen wurde und darin sodann eine judenfeindliche, abgrenzende Identitätsbildung
profilierte.
Die neutestamentlichen Schriften sind seit dem Beginn ihrer Tradierung und Rezep-
tion immer auch judenfeindlich verstanden und ausgelegt worden ( → Exegese, → Kir-
chenväter). Deshalb wäre es naheliegend, von einer dem Neuen Testament immanenten
theologischen Judenfeindschaft auszugehen. Andererseits scheint die Kontextualisie-
rung der neutestamentlichen Schriften das Neue Testament insofern zunächst als „jüdi-
sche Glaubensurkunde“ (Leo Baeck) auszuweisen, als dass die meisten Einzelschriften
von jüdischen Verfassern vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Symbolwelt geschrie-
ben worden sind. Vor einem solchen Hintergrund würde sich jedoch die Rückfrage
236 Neues Testament
nach judenfeindlichen Stellen im Neuen Testament erübrigen, weil sie damit anachro-
nistisch wäre. Tatsächlich ist jedoch das Neue Testament die kanonisierte Glaubensur-
kunde der christlichen Kirchen und nicht des Judentums. Und entsprechend werden die
neutestamentlichen Schriften zur frühchristlichen Literatur gerechnet, obwohl sie selbst
dieses Attribut noch nicht führen. Im Diskurs über judenfeindliche Stellen bzw. ver-
meintlich judenfeindliche Stellen im Neuen Testament ist deshalb zu unterscheiden
zwischen (a) der christlichen Lektüre neutestamentlicher Schriften als frühchristlicher
Literatur vor dem Hintergrund einer antijüdisch präjudizierten biblischen Hermeneutik
und (b) der Übersetzung und Interpretation derselben Einzelschriften vor dem Hinter-
grund ihrer historischen Eigenständigkeit.
Das Thema „Antijudaismus im Neuen Testament“ ist seit den 1960er Jahren als ei-
genständiges Forschungsgebiet etabliert worden, wobei sich der Anstoß zu dieser Aus-
einandersetzung jüdischem Engagement verdankt.
frühchristlichen Literatur“ von Walter Bauer (1958/1988) und das von Gerhard Kittel
begründete „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ (9 Bände: 1933-1973)
zeigen. Indem zentrale Überlegungen christlicher Theologie durch das negative Gegen-
über zur jüdischen Frömmigkeit formuliert werden, legt sich die Theologie selbst anti-
jüdisch aus und macht die Judenfeindschaft zu einem strukturellen Bestandteil ihrer
selbst.
In der christlichen Theologie stehen sich damit mutatis mutandis zwei Richtungen
gegenüber. Die eine, lange Zeit dominierende Richtung meint, dass der christliche →
Antijudaismus bereits theologisch essentiell im Hinblick auf das Neue Testament sei
und dass deshalb die urchristliche Judenpolemik eine wesentliche Bedeutung auch für
das jeweils gegenwärtige Christentum habe in dem Sinn einer Identitätsstiftung via ne-
gationis, während die andere Richtung diese Sichtweise vor dem Hintergrund einer
neuen christlichen Israeltheologie problematisiert und christliche Identität nicht mehr
von den simplifizierenden antijüdischen Antithesen wie „Christus oder Gesetz“ her zu
definieren versucht. Diese zweite Sichtweise fragt deshalb in ihrer kritischen Betrach-
tung des bereits auf das Neue Testament zurückgeführten christlichen Antijudaismus
nach einer textgemäßen Übersetzung und Interpretation der neutestamentlichen Einzel-
schriften vor dem Hintergrund ihrer historischen Eigenständigkeit.
Die Menge verlangte daraufhin, dass er Jesus kreuzigen lassen solle und entgegnete
auf den Ausspruch des Pilatus „Ich bin unschuldig an seinem Blut“ mit dem sogenann-
ten Blutruf: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Diese unterstellte Selbst-
verfluchung der Juden ist die von Christen, die zum Antisemitismus neigen, am häufig-
sten zitierte Bibelstelle. Alle Katastrophen, die seither über das jüdische Volk gekom-
men sind, seien, so viele Christen, nichts anderes als die Auswirkungen dieser Selbst-
verfluchung, die als kollektive Schuldübernahme verstanden wird. Auf diese Stelle
lässt sich die theologische Überzeugung zurückführen, „ganz Israel“ sei ein „Unheils-
kollektiv“; damit sei das Ende Israels, d.h. das Ende des Volkes Israel als Gottesvolk,
belegt. Die Darstellung dieser Szene in der Passionserzählung des Matthäusevange-
liums ist jedoch auf ihre theologische Konstruktion als „historisches Ereignis“ zurück-
zuführen und nicht als historisch konstatierende und informative Erzählung misszuver-
stehen. Historisch gesichert ist grundsätzlich der Quellenlage nach nur, dass Jesus unter
Pontius Pilatus, dem Statthalter Roms im damaligen Judäa (26-36 n. Chr.) gekreuzigt
worden ist; eine indirekte Beteiligung jüdischer Behörden an der Verurteilung Jesu ist
historisch umstritten. Der Tod Jesu wurde vor dem Hintergrund der Annahme, dass
den wahren Propheten Gottes Ablehnung und Tod auszeichnen, theologisch im Lichte
der heiligen Schriften Israels als Prophetenmord gedeutet und entsprechend narrativ im
Matthäusevangelium entfaltet.
Theologisch ist nun die Konsequenz der durch den sogenannten Blutruf angezeigten
Verantwortungsübernahme als Abgeltung durch die Zerstörung des Tempels und der
Stadt Jerusalem im Jahr 70 zu verstehen (Matthäus 21,41; 22,7; 23,35-38). Damit wird
gedeutet, was Matthäus und die Rezipienten seines Werkes erlebt haben: die Zerstö-
rung des Tempels und der Stadt als Gericht Gottes, als Strafe für die Ablehnung der
Boten zu Israel, zu Jerusalem sowie für die Ablehnung des letzten Boten Jesus. Somit
liegt keine Selbstverfluchung vor, keine Ätiologie für das Ende Israels — „ganz Israel“
ist keinesfalls verworfen.
Die scheinbare „Verteufelung“ der Juden wird auf den polemischen Spitzensatz im
Johannesevangelium „Ihr habt den Teufel zum Vater“ (8,44) zurückgeführt. Die Chri-
sten als Kinder Gottes werden „den Juden“ als Kinder des Teufels gegenübergestellt,
wobei Jesus die wahre Abrahamskindschaft seiner Gegner bestreitet (8,30-59). Im Jo-
hannesevangelium ist die pauschalisierende Rede von „den Juden“ Anlass für eine an-
tijüdische Rezeption, obwohl eine einheitliche Verwendung des Plurals „die Juden“ gar
nicht zu konstatieren ist. In der johanneischen Polemik spiegeln sich die Erfahrungen
der johanneischen Gemeinde wider, die den (potentiellen) Synagogenausschluss ihrer
Mitglieder (Johannes 9,22; 12,42; 16,2) zu bewältigen hatte. Der Ausschluss kann so-
zialgeschichtlich als Kristallisationspunkt wechselseitiger Ausgrenzungen und Verwer-
fungen angesehen werden. Von judenchristlicher Seite ergeht der Vorwurf an die phari-
säischen Juden, Gott nicht zu erkennen, weil sie ihn nicht in Jesus erkennen. Umge-
kehrt dürfte an die Judenchristen der Vorwurf ergangen sein, den Gott Israels zu ver-
leugnen, indem sie meinten, ihn in Jesus zu erkennen. Beide Seiten berufen sich also
auf den Gott Israels, entweder für den Glauben an Jesus oder für die Ablehnung Jesu.
Dementsprechend kann die johanneische Polemik als „Tragödie der Nähe“ (Stege-
mann) verstanden werden, während sich die johanneische Schrifthermeneutik in ihrer
christologischen Ausrichtung im Rahmen jüdischer Schriftauslegungen bewegt und
Neues Testament 239
deshalb auch nicht antijüdisch zu verstehen ist; aus Israel kommt das Heil (4,22): der
Sohn Gottes, der Messias und König Israels ist Jude (4,9).
Im ältesten Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher (50/51 n. Chr.) und äl-
testen Zeugnis des Neuen Testaments überhaupt finden sich jene Verse, die „vielleicht
die schärfste antijüdische Polemik (besser: innerjüdische Gruppenpolemik) des ganzen
Neuen Testaments“ (Schreckenberg) anzeigen. Die Verse sind integraler Bestandteil
des 1. Thessalonicherbriefes und nicht etwa ganz oder teilweise interpoliert worden.
Paulus wendet sich in diesem Gelegenheitsschreiben, das entsprechend adressaten-
orientiert und situationsbedingt zu lesen ist, an die Christen in Thessalonich, die in der
dortigen Judengemeinde auf Widerstand stießen und bedrängt wurden. Paulus meinte,
sie würden dasselbe erleben wie die Schwestern und Brüder in Judäa unter den dorti-
gen Juden. Er vergleicht sodann diese Erfahrung mit dem Verhalten jüdischer Parteien
in Jerusalem zu Jesus, den sie wie die Propheten töteten. „Ihr seid nämlich ähnlich ge-
worden den Gemeinden Gottes, die in Judäa in Jesus Christus sind, weil auch ihr von
euren eigenen Stammesgenossen dasselbe erlitten habt, wie diese unter den Juden, die
den Herrn Jesus und die Propheten getötet und uns verfolgt haben, und Gott nicht
wohlgefällig sind und allen Menschen feind sind, indem sie euch, um so ihre Sünden
ganz voll zu machen, hindern, zu den Völkern zu reden, damit die gerettet werden.“
(2,14b-16a) Vordergründig greift Paulus mit der Wendung „allen Menschen Feind“ ei-
nen Topos der paganen Judenfeindschaft auf. Da jedoch nicht expressis verbis von
„Misanthropie“ die Rede ist, bleibt die Frage offen, ob Paulus auf bekannte antijüdi-
sche Vorurteile zurückgreift oder nicht vielmehr ohne eine solche Anlehnung die den
Menschen feindliche Haltung der anvisierten Juden in der konkreten Hinderung der
Glaubensverkündigung an die Heiden moniert. Letzteres würde aber nicht auf eine ge-
sellschaftliche Diffamierung der Juden zielen, sondern auf die – deshalb menschen-
feindliche – Hinderung der heilbringenden Verkündigung.
Paulus folgt in seiner Aussage grundsätzlich der bekannten innerjüdischen Kritik an
der Verfolgung der Propheten und deutet die aktuelle Gemeindesituation auch entspre-
chend dieser theologischen Motivik. Die harsche Polemik verdankt sich dabei den
Auseinandersetzungen mit den Gegnern um die Öffnung gegenüber den Heiden und
um Paulus’ entsprechend angefragte Stellung als Völker-Apostel, der sich wiederum
ganz selbstverständlich in die Tradition der verfolgten Propheten stellt. Das in diesen
Versen Gesagte ist in seiner Verabsolutierung christliches Gemeingut geworden, ohne
dass man sich dafür jeweils immer auf 1 Thessalonicher 2,14-15 bezogen hat.
Dass Paulus in seinen Briefen immer wieder jüdisches Selbstverständnis in Frage
stellt, ist auf seine Berufung zum Apostel der Völker zurückzuführen und infolgedes-
sen seiner Sorge um Israel geschuldet, das nicht wie gewünscht auf seine Botschaft
sowie auf das Hinzukommen der Völker reagierte. Paulus stand vor der Herausforde-
rung, theologisch sinnvoll zu erklären, wie die Christusglaubenden aus den Völkern, d.
h. die Nichtjuden, Anteil am messianischen Heil Israels bekommen können. Paulus
geht es um ihr Recht, Mitglieder des Gottesvolkes werden zu können, ohne Juden wer-
den zu müssen.
Die paulinischen Briefe spiegeln dementsprechend auch jene Konflikte der frühen
Gemeinden wider, in denen es um die rechte Orientierung an der Tradition Israels ging.
Und entsprechend sind die antijüdisch verstehbaren Aussagen, respektive die Polemik
240 Neues Testament
gegen die Thoratreue im Galaterbrief des Paulus (56 n.Chr.), der nach Tertullian (gest.
220) der erste gegen das Judentum gerichtete Brief ist, situationsbedingt zu verstehen
und nicht grundsätzlicher Art. Vor dem Hintergrund eines aktuellen Konflikts mit ju-
denchristlichen Missionaren desavouierte Paulus im Galaterbrief zunächst die juden-
christliche Thoratreue, indem er sie gegen den Gottesglauben ausspielte. In seinem Rö-
merbrief (56 n.Chr.) stellt er dann jedoch deutlich heraus, dass die Thora als Gnadenga-
be Gottes gebührend anerkannt bleibt. Denn der nicht-christliche jüdische Gottesglau-
be hat ein ursprüngliches und eigenständiges Recht gegenüber dem den Verheißungen
an die Väter nachgeordneten Christusereignis, das heißt, der Christusglaube ist somit
nicht allein die rechte Art des Gottesglaubens (Römerbrief 9-11).
Diese Anerkenntnis bestimmte jedoch nicht die weitere Geschichte der Christen zu
den Juden, sondern ist vielmehr das Produkt einer kritischen Re-Lektüre des Neuen
Testaments nach dem → Holocaust. Die in den 1960er Jahren im angloamerikanischen
Sprachraum einsetzende und 1983 erstmals ausdrücklich so bezeichnete „New Per-
spective on Paul“ dekonstruiert die in der christlichen Theologie verbreiteten Stereo-
type vom Judentum als Religion der Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit und ver-
weist auf die grundsätzlich positive Beurteilung der Thora im Frühjudentum im Sinne
einer Lebensweisung innerhalb der Gottesbeziehung. Die paulinischen Aussagen zum
Gesetz sind dementsprechend in Hinblick auf ihre konkreten Gesprächssituationen zu
verstehen, die von der Frage nach dem Zusammenleben von Juden- und Heidenchri-
sten bestimmt werden. Paulus, der sein Selbstverständnis weiterhin innerhalb des Ju-
dentums auslotet, stellt nicht die Geltung der Thora an sich in Frage, sondern vielmehr
ihre situationsgerechte Auslegung zur Diskussion. Analog zu dieser „Neuen Perspekti-
ve“ auf Paulus wird nun ebenfalls die christlicherseits lange Zeit selbstverständlich
praktizierte Abgrenzung Jesu vom Judentum kritisch reflektiert, die das Christuskeryg-
ma bereits in der vorösterlichen Verkündigung Jesu ausmachte, indem sie Jesus im
Kontrast zum Judentum wahrzunehmen trachtete. Demgegenüber hebt die seit den
80er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem im angloamerikanischen Sprachraum her-
vorgetretene „third quest for the historical Jesus“ vielmehr seine Einordnung in das Ju-
dentum hervor und verweist auf die dementsprechend notwendige Wahrnehmung Jesu
im jüdischen Kontext. Jesus ist als eine Gestalt des Judentums zu sehen, die Jesusbe-
wegung als innerjüdische Erneuerungsbewegung.
Frühes Christentum
Die Verhältnisbestimmung von (Früh-)Judentum und sogenanntem Urchristentum hat
seit den 1980er Jahren eine Neuausrichtung erfahren. Judentum und Christentum wer-
den als Zwillingsgeschwister („Rebecca’s Children“) verstanden, als zwei Richtungen,
die sich jeweils als Ausformung des biblischen Glaubens vor dem Hintergrund der Zer-
störung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahr 70 in Interdependenz bildeten.
Dabei geht man von einer Wechselwirkung und einer Reziprozität beider Religionen
aus, wobei das jeweilige Verhältnis von Ort zu Ort und Theologe zu Theologe differie-
ren konnte. Die althergebrachte Sichtweise, die die Definition eines voll ausgeprägten
Judentums und Christentums aus der Perspektive des 4. bis 5. Jahrhunderts in die An-
fangszeit projiziert, ist somit kritisch zu hinterfragen und die christusgläubige religiöse
Erfahrung als eine mögliche jüdische Deutung nicht länger zu negieren. Dementspre-
Neues Testament 241
chend kann man die frühen Anfänge des Christentums als eine Ausprägung des dama-
ligen Reformjudentums verstehen. Gegenüber den zunächst innerjüdischen Trennungs-
prozessen lässt sich jedoch für die heidenchristlichen Theologen immer eindeutiger
eine Abgrenzung zum Judentum ausmachen, während andererseits nicht übersehen
werden darf, dass die Pharisäer nach 70 nur die hebräisch-aramäischen Traditionen der
Bibel und des Frühjudentums als normativ akzeptierten, nicht jedoch die von den frü-
hen Christen aktualisierten, griechisch-jüdischen Traditionen.
In den frühchristlichen Schriften aus dem 2. Jahrhundert, die sich nicht im Neuen
Testament finden, wird ansatzweise eine christliche Identität in Opposition zum Juden-
tum herausgebildet. Die älteste erhaltene Kirchenordnung (ca. 100 n.Chr.), die vermut-
lich in Syrien entstandene Didache (Lehre der Zwölf Apostel), mahnt eine gegenüber
dem Judentum ab- und ausgrenzende Fasten- und Gebetspraxis an. Die Fastentage der
Christen sollten nicht mit denen der Juden, die als „Heuchler“ bezeichnet werden, iden-
tisch sein; ebenso wenig sollten die Christen wie die „Heuchler“ beten. Ignatius von
Antiochien unterscheidet um 110 n.Chr. im Brief an die Magnesier vor dem Hinter-
grund der christlichen Ablösung vom Judentum zwischen einer christlichen und einer
jüdischen Lebensweise, indem er dazu auffordert, das zum Alten, d.h. zum Judentum
Gehörige abzutun. Dementsprechend findet sich die älteste Überlieferung des Begriffs
„Christentum“ (gr. christianismos) bei Ignatius als Gegenpol zu „Judentum“, da sich
die messiasgläubige Gemeinschaft antijüdisch versteht. Jüdische und christliche Identi-
tät schließen somit für Ignatius einander aus.
Im Gegensatz zu Paulus, für den das an der Thora orientierte Leben in seiner
Missionstätigkeit nie zur Debatte stand, deutet sich hier Anfang des 2. Jahrhunderts
eine, wenn auch noch nicht allgemeine Praxis, so doch antijüdische Tendenz an. Der
zwischen 130 und 132 n.Chr. geschriebene Barnabasbrief zeichnet sich durch eine
stark polemische Profilierung der eigenen christlichen Identität aus, indem er sich ge-
gen jene Christen wendet, die den Verbleib Israels im Bund Gottes voraussetzen und
von einer heilsgeschichtlichen Verbindung der Kirche mit Israel ausgehen. Für den
Verfasser des Barnabasbriefes hat jedoch Israel den Bund mit Gott verspielt und folg-
lich keine theologische Bedeutung mehr, während die Christen demgegenüber das
alleinige „Erbvolk“ der heiligen Schriften sind. Vor dem Hintergrund der statuierten
Verwerfung Israels als Gottes Bundesvolk und einer radikal israelkritischen Position
plädiert der Verfasser des Barnabasbriefes für eine eindeutige Trennung von Judentum
und Christentum. Die für den Barnabasbrief charakteristische radikale Enterbung und
Beerbung des Judentums hat auch das hohe Ansehen dieses Briefes, der mitunter zu
den kanonischen Schriften gezählt und damit im öffentlichen Gottesdienst gelesen wur-
de, in der Alten Kirche mitbegründet.
Für Justin (gest. ca. 165 n.Chr.), der seit Tertullian (gest. 220) „Philosoph und Mär-
tyrer“ genannt wird, sind die Juden Feinde Christi und der Christen. In der gegen die
Juden gerichteten Apologie unter dem Titel „Dialog mit dem Juden Thryphon“ vertritt
Justin die Annahme einer heilsgeschichtlichen Substitution, denn das „wahre, geistli-
che Israel“ sei nun die Kirche. Dass Justin die Juden nicht nur als Feinde Christi be-
zeichnet, sondern vor dem Hintergrund ihrer Ablehnung Christi auch „Feinde Gottes“
nennt, führte auch in der Folgezeit zu einer starken Ablehnung und Diffamierung alles
Jüdischen. Darüber hinaus zeichnete Justin die Juden dafür verantwortlich, dass die
242 Neues Testament
Christen im Römischen Reich verleumdet und verfolgt wurden. Melito (gest. ca. 180
n.Chr.), Bischof von Sardes in Lydien und führender Theologe Kleinasiens, bietet in
seiner Schrift „Über das Pascha“ (ca. 170 n.Chr.), der ältesten christlichen Osterpredigt,
eine antijüdische Auslegung, indem er nicht nur die theologische Eigenwertigkeit des
jüdischen Paschalammes gegenüber dem Tod Jesu als Paschalamm am Kreuz negiert,
sondern auch die Juden erstmalig als → „Gottesmörder“ bezeichnet.
Diese Charakterisierung der Juden als „Gottesmörder“, die Israel schmähende An-
klage und die Annahme einer Substitution der Juden als Volk Gottes durch die Christen
hat die grundsätzliche christliche Perspektive auf das Judentum in der Folgezeit mitbe-
stimmt. Melitos Osterpredigt zeigt exemplarisch, wie Verkündigung und Explikation
der christlichen Botschaft bereits vom Ansatz her eine – hier verbale – Destruktion des
Judentums entfalten. Seine Rhetorik ist nicht nur traditionsbildend geworden, sondern
hat auch Menschen dazu angeregt, der verbalen Destruktion in der Einschränkung der
leiblichen Existenz der Juden Folge zu leisten, das geistliche Todesurteil durch den ent-
sprechenden physischen Vollzug umzusetzen. Die diffamierende und pejorative Kon-
struktion der Juden in der christlichen Literarisierung hatte ebenfalls Auswirkungen
auf die gesellschaftliche Wirklichkeit.
Ausblick
Die historisch-kritische Exegese vermeintlich antijüdischer Texte und Verse des Neuen
Testaments zeigt, dass das Neue Testament keinesfalls in einem absoluten Sinn antijü-
disch zu verstehen ist, sondern dass antijüdisch verstehbare Texte vor dem Hintergrund
ihrer kontextuellen und situativen Polemik zu interpretieren sind. Die Einzelexegese
macht deutlich, dass eine antijüdische Interpretation einer neutestamentlichen Stelle –
zumal in verabsolutierender Perspektive – weder textgemäß ist, noch der historischen
Eigenständigkeit des Einzeltextes entspricht. Eine antijüdische Interpretation ist erst
durch die Rezeption bzw. Intention der Rezipienten grundgelegt und dann entspre-
chend tradiert worden. Die antijüdische Rezeption des Neuen Testaments bzw. seiner
Texte und Verse, die bis in das 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich war, ist von
einer im Kern antijüdisch bestimmten christlichen Identität geleitet, nach deren Selbst-
bewusstsein Judentum nur als asymmetrischer Gegenbegriff zum Christentum zu ver-
stehen ist. Dementsprechend war die biblische Hermeneutik antijüdisch präjudiziert.
Historisch-kritische Exegese kann zwar zeigen, dass ein antijüdisches Verständnis neu-
testamentlicher Texte nicht dem Textverständnis des Einzeltextes entspricht, aber sie
kann darin nicht von der grundsätzlichen Problematik der selbstverständlich geworde-
nen antijüdischen Rezeption entlasten, die die christliche Identitätsbildung wiederum
maßgeblich beeinflusst hat. Der Befund der historisch-kritischen Exegese provoziert
deshalb eine entsprechende theologische Reflexion des christlichen Antijudaismus, zu-
mal er diese selbst nur bedingt bieten kann.
Ist der Antijudaismus nicht mehr Ausdruck kirchlicher Konformität, wird die christ-
liche Identität nicht mehr in diffamierender und pejorativer Abgrenzung gegenüber
dem Judentum gewonnen, so bedarf es einer Neuorientierung und positiven Besetzung
dieser vormals durch den Antijudaismus bestimmten Leerstellen, für die nur bedingt
auf die kirchliche Tradition zurückgegriffen werden kann. Denn dem lange stattgehab-
ten christlichen Antijudaismus entspricht, dass sich eine positive Wahrnehmung Israels
Neues Testament 243
und des Judentums nicht auf die christliche Überlieferung beziehen kann, sondern dass
diese selbst erst situiert und etabliert werden muss. Damit stellt sich ebenfalls die Auf-
gabe der Neu-Entwicklung einer biblischen Theologie, die sich etwa bewusst ist, dass
vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situationsbindung der paulinischen Aussagen
ein diesen Aussagen gemeinhin zugeschriebener universaler anthropologisch-theologi-
scher Charakter nicht mehr unmittelbar gegeben ist.
Dass der Antijudaismus dem Neuen Testament nicht inhärent ist, eröffnet die Mög-
lichkeit der Entwicklung einer christlichen Israeltheologie, die sich auf das Neue Testa-
ment bezieht in dem Bewusstsein, als Kirche aus den Völkern nachträglich „Hinzuge-
kommene“ (Barnabasbrief) zu sein. Israel ist das ersterwählte Volk Gottes, zu dem das
Volk Gottes aus den Völkern nach christlichem Glauben hinzutritt. Die Kirche aus den
Völkern ist nicht mehr, wie der traditionelle Antijudaismus behauptet, das „wahre Is-
rael“, sondern vielmehr angesichts ihrer Schriftgrundlagen auf Israel als Wurzel ver-
wiesen. Die kritische Aufarbeitung und theologische Dekonstruktion des christlichen
Antijudaismus setzt darin die Anerkenntnis voraus, dass das erst nachträgliche Hinzu-
gekommen-Sein der Kirche aus den Völkern nicht mehr, wie noch dem Verfasser des
Barnabasbriefes, als Makel gilt.
Matthias Blum
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Nordische Rasse
Die Bezeichnung „Nordische Rasse“ wurde durch die Arbeiten des französischen An-
thropologen Joseph Deniker eingeführt. Deniker griff ein Konzept seines Kollegen Ge-
orges Vacher de Lapouge auf, der als Grundrasse der europäischen Völker eine lang-
schädelige, blonde Körperformgruppe identifiziert hatte. Deniker benannte diese Grup-
pe in seiner Rasseneinteilung „Les races et les peuples de la terre“ (1900) als „race
nordique“.
In Deutschland wurde die Bezeichnung insbesondere durch Hans F. K. Günther und
Ludwig Ferdinand Clauß bekannt. Insbesondere Günthers populärwissenschaftliche
„Rassenkunde des deutschen Volkes“ (1922) erzielte in den Zwischenkriegsjahren ho-
he Verkaufszahlen. Günther konstruierte auf der Grundlage eines starren, zoologischen
Rassenbegriffes eine Hierarchie der Menschenrassen, deren Spitze die „nordische
Rasse“ einnahm. Die charakterlichen Eigenschaften der „nordischen Rasse“, die sich
u.a. durch Willenskraft, Urteilsvermögen und ritterliche Gerechtigkeit auszeichne, prä-
destinierten den Menschen nordischer Rasse zum Schöpfertum in Technik, Wissen-
schaft und Kunst sowie zur politischen Herrschaft. Günthers Differenzierung und Cha-
rakterisierung von zunächst fünf, ab 1928 sieben menschlichen Rassen, erhielt bis
1945 ungeheure Verbreitung in populärwissenschaftlichen Schriften zur Rassenkunde.
Für Ludwig Ferdinand Clauß bestimmte weniger die Körperformgruppe als die „Ras-
senseele“ die Eigenschaften des Menschen. Aber auch Clauß betonte in seiner „Ras-
senseelenkunde“ den Idealcharakter der „nordischen Rasse“, die einen einzigartigen
Quell kriegerischen Heldentums und schöpferischer Kreativität darstelle. Der Gedanke
von der absoluten Höherwertigkeit der „nordischen Rasse“ verband sich bei den An-
hängern Günthers und Clauß‘ mit der Vorstellung von ihrem bevorstehenden Unter-
gang durch fortgesetzte Rassenmischung. Aus dieser Bestandsaufnahme entwickelte
sich das Programm einer gezielten rassenbiologischen „Aufnordung“, um den Bestand
Nordische Rasse 245
der Nordrasse und den auf diesen besonderen Erbanlagen beruhenden Herrschaftsan-
spruch des deutschen Volkes zu sichern ( → Nordischer Gedanke).
Den Verfallsprozess der „Nordischen Rasse“ führte Günther auf den Einfluss der Ju-
den zurück, die er, um die logische Inkonsequenz seines Schrittes zu verhüllen, unter
eine „vorderasiatische Rasse“ subsummierte. Für Günther beschleunigte ein jüdisch be-
stimmter „moderner Geist“ die innerliche Schwächung der nordischen Rasse. Der Auf-
stieg des Judentums, sein angebliches Streben nach wirtschaftlicher Ausbeutung und
weltweiter Herrschaft sei daher zugleich Folge und wichtigster Beschleuniger der Ent-
nordung und Entartung der abendländischen Kultur.
Außerhalb Deutschlands wurde das Konzept einer „nordischen Rasse“ vor allem
durch den amerikanischen Rassentheoretiker Madison Grant sowie Rassenforscher aus
den skandinavischen Ländern vertreten. Madison Grant hatte seine Theorien bereits
1916 in „The Passing of the Great Race“ veröffentlicht, auf das sich Hans F. K. Gün-
ther bei seinen Arbeiten bezog. Schon Grant sah die „nordische Rasse“ als wichtigstes
Movens der Weltgeschichte und charakterisierte sie als tatkräftige, aufrichtige und
männliche Rasse von Jägern, Eroberern und Abenteurern. Zugleich sei die „Great Ra-
ce“ durch Rassenmischung und zivilisatorische Einflüsse vom Untergang bedroht, mit
unabsehbaren Folgen für die amerikanische Gesellschaft. Die Vorstellung, dass sich
eine idealisierte „nordische Rasse“ noch am reinsten in den skandinavischen Ländern
erhalten habe, kam den Arbeiten der dortigen Rassenforschung entgegen. In Schweden
griffen frühe Forschungsarbeiten um den renommierten Eugeniker Herman Lundborg,
den späteren Direktor des schwedischen staatlichen rassenbiologischen Institutes, auf
die Vorstellungen einer nordischen Rasse zurück. In Norwegen wurde der Anthropolo-
ge Halfdan Bryn zum einflussreichsten Befürworter des Konzeptes. In seinem Werk
„Menneskerasene og deres utviklingshistorie“ [Die menschlichen Rassen und die Ge-
schichte ihrer Entwicklung] (1925) teilte er Günthers Begeisterung für die geschichtli-
che Bedeutung der nordischen Rasse. Daneben betrieb der umstrittene Rassenhygieni-
ker Jon Alfred Mjøen seit 1906 eigene rassenbiologische Forschungen. Er gab seit
1919 die Zeitschrift „Den Nordiske Race“ [Die nordische Rasse] heraus, in der interna-
tional bekannte Rassenforscher publizierten.
Der Glaube an die „nordische Rasse“ fand großen Widerhall in der NSDAP, insbe-
sondere der SS. Richard Walther Darré und Heinrich Himmler waren überzeugte An-
hänger Günthers‘ Ideen der Erhaltung und Steigerung des nordischen Blutanteils. Dar-
ré hatte bereits 1930 („Neuadel aus Blut und Boden“) die Vorstellung einer „Aufnor-
dung“ des deutschen Volkes auf rassistischer Grundlage aufgegriffen. Darauf aufbau-
end entwarfen Darré und Himmler für die SS das Konzept einer auf nordischer „Ras-
senauslese“ basierenden „Sippengemeinschaft“. Über die Funktionsträger und Organi-
sationen der SS erhielten die Vorstellungen einer „nordischen Rasse“ die zentrale Rolle
innerhalb der NS-Rassenpolitik, die zum Massenmord an Juden, Roma und Sinti
führte. Zeigte die aus der → Eugenik hervorgegangene „nordische Bewegung“ der
Zwischenkriegszeit noch eine gewisse Ambivalenz gegenüber der Position der Juden
in ihren Rassenlehren, wurden die Juden in den Arbeiten Alfred Rosenbergs zur finste-
ren „Gegenrasse“ stilisiert. Rosenberg konstruierte in „Der Mythus des 20. Jahrhun-
derts“ (1930) einen schicksalhaften Kampf zwischen der höherstehenden „nordischen
Rassenseele“ und der jüdischen Rasse, der er durch ihr „blutschänderisches Dasein“
246 Nordischer Gedanke
die Rolle der historischen Gegenkraft schlechthin zuschrieb. Mit der Radikalisierung
der rassistischen und antisemitischen Vorstellungen ging eine zunehmend uneindeutige
Begriffsverwendung einher. Gerade durch die diffusen begrifflichen Abgrenzungen,
z.B. zum „Germanischen“ oder zum „Volkstum“ wurde die „nordische Rasse“ zu ei-
nem zentralen und stark positiv besetzten Schlüsselwort in der NS-Propaganda.
Gewissen Widerhall finden Vorstellungen einer nordischen Rasse auch heute noch
in Teilen des neonazistischen Milieus. Auf der Grundlage der Rassenideologie Hans F.
K. Günthers argumentierte etwa der rechtsextremistische Aktivist Jürgen Rieger mit
Vorstellungen eines gemeinsamen nordischen „Rassenursprungs“. Ähnliche Verwen-
dung findet der Begriff auch im Neonazismus außerhalb Deutschlands, etwa in Grup-
pierungen aus dem „White-Power“ - Milieu Schwedens.
Christoph Leiska
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Nordischer Gedanke
Der „Nordische Gedanke“ bezeichnete eine vor allem in Teilen der deutschen völki-
schen Bewegung populäre Form des Rassengedankens. Er beruhte auf einer strikt hier-
archischen Einteilung menschlicher Rassen, verbunden mit der Überzeugung von der
absoluten Höherwertigkeit einer → „nordischen Rasse“, der die Rolle eines Idealtypus
unter allen in den indogermanischen Völkern vertretenen Rassen zugeschrieben wurde.
Angesichts eines durch voranschreitende Rassenmischung angeblich bevorstehenden
Unterganges der „nordischen Rasse“ beinhaltete der „Nordische Gedanke“ ein rassen-
hygienisches Programm der Steigerung der wertvollen Rassenanteile mit dem Ziel, das
drohende Ende der schöpferischen abendländischen Kultur abzuwenden. Mit dem Be-
griff verbanden sich zudem Ideen einer quasi „natürlichen“ politischen Allianz aller als
vorwiegend nordrassisch vorgestellten Völker. Die ideologischen Inhalte des „Nordi-
schen Gedankens“ wirkten u.a. über die SS in die Ideologie des Nationalsozialismus
hinein.
Nordischer Gedanke 247
Position hinsichtlich der Festlegung des Judentums als Rasse oder seiner Funktion in-
nerhalb der rassistischen Geschichtsphilosophie.
Der „Nordische Gedanke“ wurde seit Beginn der 1920er Jahre insbesondere im
Spektrum der völkischen Jugendverbände breit rezipiert und fand im 1926 gegründeten
„Nordischen Ring“ eine, wenn auch bewusst als lose Arbeitsgemeinschaft organisierte,
Dachorganisation. Ziel des „Nordischen Rings“ war einerseits der Zusammenschluss
aller nordisch Gesinnten innerhalb und außerhalb Deutschlands, andererseits eine um-
fassende Aufklärungsarbeit im Sinne des „nordischen Gedankens“ durch Vorträge und
Publikationen. Seit 1933 wurden diese Aufgaben bei der „Nordischen Gesellschaft“ in
Lübeck konzentriert, die im Zuge ihrer Gleichschaltung ihren ursprünglichen Charakter
einer unabhängigen bürgerlichen Kulturorganisation zur Pflege der kulturellen und
wirtschaftlichen Beziehungen in die Länder des Ostseeraumes vollständig eingebüßt
hatte. Unter nationalsozialistischer Leitung und der Schirmherrschaft Alfred Rosen-
bergs war sie eng an das Außenpolitische Amt der NSDAP angebunden. Konkurrieren-
de völkische Organisationen wurden aufgelöst oder gingen, wie der „Nordische Ring“,
in der „Nordischen Gesellschaft“ auf. Wichtigstes Publikationsorgan der Gesellschaft
wurde seit 1934 neben der eher landeskundlich orientierten Zeitschrift „Der Norden“
die von Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß herausgegebene Zeitschrift
„Die Rasse“, die sich Fragen der Rassenhygiene und der Verbreitung des Programmes
der „Aufnordnung“ widmete.
Die Vorstellung, dass sich die „Nordische Rasse“ am reinsten in Schweden und Nor-
wegen erhalten habe, führte zu einer starken Hinwendung auf die skandinavischen
Staaten. Sie profitierte von den intensiven Kontakten Hans F. K. Günthers in das Ras-
senforschungsmilieu der skandinavischen Länder, u.a. zu Herman Lundborg, dem Lei-
ter des schwedischen staatlichen rassebiologischen Instituts in Uppsala und zu den nor-
wegischen Forschern Halfdan Bryn und Jon Alfred Mjøen. Gleichwohl waren die Be-
mühungen der „Nordischen Gesellschaft“ um eine Verbreitung des „Nordischen Ge-
dankens“ in den Öffentlichkeiten der skandinavischen Ländern kaum erfolgreich. Den
nationalsozialistischen Nordenvorstellungen begegnete die Presse Nordeuropas über-
wiegend mit Ablehnung. Spätestens mit dem Überfall auf Dänemark und Norwegen
im April 1940 war die Illusion einer gleichberechtigten „nordischen Schicksalsgemein-
schaft“ nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Der „Nordische Gedanke“ bildete eine theoretische Grundlage für die nationalsozia-
listische Rassenpolitik. Alfred Rosenberg griff in seinem „Mythus des 20. Jahrhun-
derts“ (1930) das Ideologem der „nordischen Rassenseele“ auf und stellte ihm die „jü-
dische Rasse“ antithetisch gegenüber. Der arische Lichtmensch als Repräsentant „nor-
dischen Blutes“ befand sich für Rosenberg in einem Kampf auf Leben und Tod gegen
die Vergiftung durch die jüdische → „Rassenschande“. Ähnliche Elemente des „Nor-
dischen Gedankens“ finden sich, mit vielfachen Überschneidungen mit germanisch-
völkischen Ideen, bei Richard Walther Darré und Heinrich Himmler, die beide in der
bündischen Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit aktiv gewesen waren. Für Darré
und Himmler stellte die SS den wichtigsten Träger des rassenbiologischen Auslesepro-
zesses zur Stärkung des „nordischen Rassekerns“ dar. Über die zentralen Funktionsträ-
ger des Regimes und die SS wirkten Inhalte des „Nordischen Gedankens“ in den Na-
tionalsozialismus hinein. Gleichzeitig stand die rassenbiologische Überhöhung nordi-
Nueva Germania 249
Nueva Germania
Nueva Germania ist ein Distrikt mit 1200 Einwohnern in Zentralparaguay in der Pro-
vinz San Pedro. Die Kolonie wurde 1887 vom deutschen Gymnasiallehrer und Antise-
miten Bernhard Förster mit dem Ziel der rassischen, kulturellen und religiösen „Er-
neuerung“ des Deutschtums gegründet. Anregungen fand Förster in der zeitgenössi-
schen kolonialschwärmerischen Bewegung (z.B. bei Friedrich Fabri) ebenso wie im
Umfeld Richard Wagners, der in den „Regenerationsschriften“ seine Vorstellungen von
einer auf Vegetarismus begründeten Lebenserneuerung in Übersee beschrieb. Försters
Wahl fiel auf Südamerika, da es dort „Lärm, Luft und Laster der grossen Städte“, „Zei-
tungsunfug“, „das Romanunwesen“, „die Bierbank“ nicht gebe. Körperliche Arbeit,
naturgemäße Lebensweise, Vegetarismus und Naturheilkunde waren die Ideale. Förster
entwickelte ein antidemokratisches Konzept zur völkischen Lebensreform, dessen Ver-
wirklichung in Paraguay machbar schien. Das Land war nicht nur durch den verheeren-
den Triple-Allianz-Krieg extrem dünn besiedelt, sondern bot auch Einwanderern sehr
günstige Bedingungen. Aus wirtschaftlichen, rassischen und sozialdarwinistischen
Überlegungen wollte die Regierung besonders die europäische Einwanderung fördern.
Davon profitierte auch Förster, dem die Regierung 1887 Land in der Größe von 12
Quadratleguas (ca. 240 Quadratkilometer) gegen eine Sicherheit von 8000 Mark zur
Verfügung stellte. Förster musste dafür binnen zwei Jahren 140 Ackerbaufamilien an-
250 Numerus clausus
siedeln. Ab Ende Juli 1887 zogen die ersten Siedler nach Nueva Germania. Trotz enor-
men Werbeaufwands, organisiert durch Försters Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, war
es schwierig, Siedler zu finden. Die abgeschiedene Lage und damit schlechte Erreich-
barkeit des Areals war einer der Hauptgründe für das Scheitern der großen Pläne, eben-
so fehlte trotz Unterstützung der Familien Förster und Nietzsche und einiger weniger
ideologisch motivierter Financiers (u.a. der Bankier Kürbitz aus Naumburg, der Fabri-
kant Max Schubert aus Chemnitz oder der Chemiker Julius Cyriax in London) von Be-
ginn an Kapital. Bereits Anfang 1887 klaffte eine Finanzierungslücke von 25.000 bis
30.000 Mark für die Herstellung der Infrastruktur. Die Landwirtschaft kam nicht in
Gang, weil der Boden ungeeignet war, die Transportwege viel zu lang waren und die
Siedler kaum landwirtschaftliche Erfahrung hatten. Sie stammten vor allem aus der Ar-
beiterschicht und dem antisemitischen Kleinbürgertum. Der Alltag war zermürbend,
die Fluktuation enorm. Die Streitschrift eines Julius Klingbeil schadete dem ohnehin
nicht sehr guten Ruf der Kolonie in Deutschland weiter. Finanziell ruiniert starb Förster
1889. 1890 ging die Kolonie in den Besitz der Gläubigergesellschaft „Sociedad Colo-
nizadora Nueva Germania en el Paraguay“ über. Elisabeth Förster-Nietzsche reiste
1893 endgültig und auf dringenden Wunsch der Kolonisatoren ab. Noch 1901 zahlte
sie Schulden aus dieser Zeit zurück.
In einer kurzen Zeit des Aufschwungs durch die Entdeckung einer Methode zur Kul-
tivierung von Yerba-Mate Mitte der 1890er Jahre siedelte sich eine Gruppe Deutsch-
schweizer an. In den 1930er Jahren waren fast alle Einwohner Nachkommen dieser
beiden Siedlergruppen. Aber schon 1924 hatte die Kolonie so wenig Geld, dass sogar
die Schule geschlossen werden musste. Fast alle Kinder waren zu diesem Zeitpunkt
Analphabeten und sprachen ausschließlich deutsch. Nach 1930 verschlechterte sich die
Situation der Kolonisten in Nueva Germania durch die Entwertung des paraguayischen
Pesos und durch den von 1932 bis 1935 dauernden Chaco-Krieg weiter. Die Erhaltung
des Deutschtums war der einzige Stolz vieler Kolonisten. Heute, nach dem Zuzug von
guaraní- und spanischsprachigen Paraguayern, leben die Bewohner unabhängig von ih-
rer Herkunft ohne Vorurteile miteinander.
Daniela Kraus
Literatur
Daniela Kraus, Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antise-
mitische Utopie, Dissertation, Wien 1999.
Daniela Kraus, Bernhard Förster und seine Siedlung Nueva Germania in Paraguay, in: Jahr-
buch für Antisemitismusforschung 17 (2008), S. 171-194.
Numerus clausus
Bereits Ende der 1920 Jahre forderte der „Nationalsozialistische Deutsche Studenten-
bund“ (NSDStB) einen numerus clausus für jüdische Studierende. Vordergründig sollte
die Zahl der Studierenden verkleinert werden, um das Problem der überfüllten Univer-
sitäten zu lösen. Hinter dieser Forderung verbargen sich jedoch rassistische Ressenti-
ments. Die Ursache des studentischen Antisemitismus lag vor allem in der Angst vor
der jüdischen Konkurrenz auf dem akademischen Arbeitsmarkt.
Numerus clausus 251
Bis 1933 gab es anders als in den Ländern Ungarn, Rumänien und Polen für jüdi-
sche Studierende im Deutschen Reich keinen numerus clausus. Kurze Zeit nach der
Machtübernahme leiteten die Ministerien Maßnahmen gegen jüdische Studierende ein.
Die Grundlage für ihren Ausschluss von den Hochschulen bildete das „Gesetz gegen
die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933. Maßgeb-
lich war § 4 des Gesetzes, der beinhaltete, dass bei Neuaufnahmen darauf zu achten
sei, dass „die Zahl der Reichsdeutschen, die [...] nicht arischer Abstammung sind, unter
der Gesamtheit der Besucher jeder Schule und jeder Fakultät den Anteil der Nichtarier
an der reichsdeutschen Bevölkerung nicht übersteigt“. In der Durchführungsverord-
nung vom selben Tag und in mehreren Erlassen des preußischen Kultusministeriums
wurde festgelegt, dass die Zahl der „Nichtarier“ der immatrikulierten Studierenden an
keiner Fakultät über 5 Prozent, der Anteil der neu zu immatrikulierenden jüdischen
Studierenden unter 1,5 Prozent liegen müsse. Nicht unter dieses Gesetz fielen diejeni-
gen, deren Väter im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatten, darüber hinaus
ausländische Juden, „Halbjuden“ und „Vierteljuden“. Da sich ein großer Teil der
„nichtarischen“ Studierenden auf diese Ausnahmeregelungen berufen konnte, blieb die
Zahl derer, die es betraf, gering. Trotzdem nahm die Zahl der jüdischen Studierenden
nach 1933 stark ab. Waren es im Wintersemester 1932/33 noch 3336 deutsche Studie-
rende jüdischen Glaubens, sank die Zahl ein Jahr später an allen wissenschaftlichen
Hochschulen auf 812, im Wintersemester 1934/35 sogar auf 538.
Viele jüdische Studierende aus wohlhabenden Familien emigrierten unmittelbar
nach der Machtübernahme und studierten im Ausland. Diejenigen, die blieben, verlie-
ßen die Hochschulen oder verzichteten von vornherein auf ein Studium, da sie sich mit
einer stetig wachsenden Zahl von einschränkenden Verordnungen und Erlassen kon-
frontiert sahen; Stipendien oder Vergünstigungen wurden gestrichen, der Besuch der
Mensa verboten. In den folgenden Jahren wurden die jüdischen Studierenden nach und
nach aus dem Hochschulbetrieb gedrängt, indem ihnen die Möglichkeiten genommen
wurden, Prüfungen abzulegen und Abschlüsse zu erwerben. Das absolute Studienver-
bot für Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit kam am 11. November 1938. An die-
sem Tag erteilte Reichserziehungsminister Bernhard Rust den Rektoren der Hochschu-
len die telegrafische Anweisung, den „Volljuden“ die Teilnahme an Lehrveranstaltun-
gen und das Betreten der Hochschulen zu untersagen.
Nach 1938 verblieben nur noch die sogenannten Mischlinge an den Hochschulen,
die zunächst von den Zulassungsbeschränkungen des Überfüllungsgesetzes von 1933
verschont waren. Sie machten nun die gleichen Erfahrungen wie die jüdischen Studie-
renden zwischen 1933 und 1938; zahlreiche Erlasse und Verordnungen schränkten sie
immer weiter ein. Ab Januar 1940 mussten alle Anträge von „Mischlingen“ auf Zulas-
sung zum Studium dem Reichserziehungsministerium vorgelegt werden. Ab Oktober
1940 benötigten „Mischlinge 1. Grades“ nicht nur für die Immatrikulation, sondern
auch für die Fortsetzung des Studiums die Genehmigung des Ministeriums, ab Juni
1942 wurden sie nur noch unter bestimmten Voraussetzungen zum Studium zugelassen
und bedurften einer Stellungnahme der Parteikanzlei.
Ende 1942 wurden auch die Zulassungsbedingungen für „Mischlinge 2. Grades“
verschärft. Die Zahl der studierenden „Mischlinge“ sank stetig. Im Mai 1944 waren an
allen deutschen Hochschulen noch etwa 400 „Mischlinge“ eingeschrieben. „Mischlin-
252 Numerus nullus
ge 1. Grades“ waren ab Mai 1944 nur noch dann zum Hochschulstudium zugelassen,
wenn sie sich „jahrelang vor der Machtübernahme in Unkenntnis ihrer Mischlingsei-
genschaft als Nationalsozialisten bewährt“ hatten. Dies kam einem Studienverbot
gleich, da diese Voraussetzung zu diesem Zeitpunkt sicherlich auf kaum einen Studien-
bewerber mehr zutreffen konnte.
Carina Baganz
Literatur
Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995.
Joachim Scholtyseck, Christoph Studt (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten
Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand, Berlin 2008.
Numerus nullus
In der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 waren die polnischen Hochschulen Orte
antijüdischer Ausschreitungen, die in den 1930er Jahren an Intensität und Brutalität zu-
nahmen und mehrere Todesopfer verlangten. Die polnische Nationaldemokratie nutzte
die Hochschulen als „Versuchsgelände“ für ihre antisemitische Propaganda, die unter
der national orientierten akademischen Jugend auf fruchtbaren Boden fiel. Hintergrund
waren die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der ökonomischen
Krise, die allgemeine Zunahme von Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft und
im politischen Diskurs insbesondere nach dem Tod Józef Piłsudkis 1935 sowie nicht
zuletzt der Einfluss der antijüdischen Gesetzgebung im Deutschen Reich seit 1933.
Träger des sogenannten Radau-Antisemitismus waren vor allem Aktivisten nationa-
listischer Jugendorganisationen wie der „Allpolnischen Jugend“ (Młodzież Wszech-
polska), denen es zunehmend gelang, die studentischen Selbstverwaltungen zu domi-
nieren. Sie forderten die Begrenzung der Zahl jüdischer Studierender durch Einführung
eines speziellen → „numerus clausus“ sowie die räumliche Trennung von jüdischen
und nichtjüdischen Studierenden in den Hörsälen und Seminarräumen, die bereits seit
1933 an einzelnen Fakultäten üblich war. Seit den landesweiten antisemitischen Aus-
schreitungen an Hochschulen vom Herbst und Winter 1931 gehörte die Einführung ei-
nes „numerus nullus“, also ein absolutes Zulassungsverbot sowohl für Studierende als
auch Lehrende jüdischer Herkunft, zum Forderungskatalog der rechtsgerichteten aka-
demischen Jugend. Ihre Aktivitäten standen im Kontext weitergehender Forderungen
nach dem generellen Ausschluss von Juden aus politischer und gesellschaftlicher Ver-
antwortung.
Der Anteil jüdischer Studierender an den polnischen Hochschulen betrug vor allem
an vielen Medizinischen und Juristischen Fakultäten zwischen 20 und 40 Prozent –
deutlich mehr als der Anteil der Juden in der polnischen Bevölkerung, der sich auf
durchschnittlich 10 Prozent belief. Ein Gesetzentwurf, nach dem Angehörige nationa-
ler Minderheiten nur noch proportional zu ihrem Anteil in der Bevölkerung studieren
sollten und der ganz klar auf die Beschränkung des Hochschulzugangs jüdischer Stu-
dierender ausgerichtet war, die als einzige nationale Minderheit diese Quote überstie-
gen, war bereits im Jahr 1923 im Sejm diskutiert worden, scheiterte jedoch aufgrund
Numerus valachicus 253
Numerus valachicus
Nach der Einführung eines gegen Juden gerichteten → „Numerus clausus“ 1920 in Un-
garn übernahmen auch rumänische Rechtsradikale diese Forderung. Alexandru Vaida-
254 Numerus valachicus
Voievod, bis 1933 Ministerpräsident, griff sie 1935 unter dem Begriff „Numerus vala-
chicus“ auf.
Die meisten Juden Rumäniens waren bis 1923 staatenlos und konnten daher keine
öffentlichen Ämter bekleiden. Nach dem Ersten Weltkrieg erbte Rumänien vom Habs-
burger Reich und Russland Gebiete, durch die sich das Staatsgebiet verdoppelte und
Großrumänien 28 Prozent nationale Minderheiten erhielt. Die Pariser Friedenskonfe-
renz zwang mit einem Ultimatum die Regierung Rumäniens, die Rechte der Minder-
heiten zu garantieren. Regierungschef Vaida-Voevod unterschrieb den Vertrag im De-
zember 1919. In der Verfassung von 1923 wurde die Einbürgerung aller Juden veran-
kert: sie stellten in Großrumänien 4,5 Prozent der Einwohner.
Durch die Gleichberechtigung strömten seit 1920 zum ersten Mal immer mehr jüdi-
sche Studenten an die vier Universitäten, was zu einer breiten Gegenbewegung unter
den Rumänen führte. An die Universität in Cluj (Klausenburg, Kolozsvár) kamen zu-
sätzlich noch jüdische Medizinstudenten aus Ungarn, nachdem dort im September
1920 der gegen sie gerichtete „Numerus clausus“ eingeführt worden war. Die Hoch-
schullehrer Alexandru C. Cuza und Nicolae Paulescu gründeten Anfang 1922 die „Na-
tional-Christliche Union“ (Uniunea Naţional Creştină) und forderten ebenfalls einen
„Numerus clausus“. Um den Studenten Corneliu Codreanu bildete sich eine radikale
Jugendgruppe, die sich später „Bewegung von 22“ nannte. Die Bewegung bekam Auf-
trieb, als in Cluj der Akademische Senat im Dezember 1922 einen „Numerus clausus“
für Ausländer beschloss. In Iaşi verwehrten Studenten Juden den Eintritt in Universi-
tätsräume. Ende Januar 1923 wurde der Lehrbetrieb an der Universität Bukarest vor-
übergehend eingestellt. Am 4. März, als im Parlament die Einbürgerung aller Juden be-
schlossen werden sollte, gründete Cuza mit Codreanu die „Liga der National-Christli-
chen Verteidigung“ (Liga Apărării Naţional Creştine). Sie forderte einen „Numerus
clausus“ für Juden in allen staatlichen Institutionen sowie die Revision der Einbürge-
rungen. Sie griff nicht nur Juden an, sondern denunzierte auch Politiker, die ihrem Trei-
ben entgegentraten, als „Judenfreunde“. Als solcher wurde der Polizeichef von Iaşi
1924 von Codreanu erschossen. Ein Teil der jungen Mitglieder der „Liga“ spaltete sich
1927 ab und gründete die „Legion des Erzengel Michael“, die sich ab 1930 „Eiserne
Garde“ nannte.
Durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise übernahmen auch einige Politiker
der Nationalen Bauernpartei rechte Losungen: Alexandru Vaida-Voevod unterstützte
als Regierungschef der Nationalen Bauernpartei 1933 die Forderungen der „Garde“,
die Juden im Wirtschaftsleben zu marginalisieren. Seine Partei errang bei den Wahlen
am 20. Dezember 1933 nur mehr 13,9 Prozent der Wählerstimmen. Als die Regierung
der Nationalliberalen die „Garde“ verbot, erschossen Gardisten den Ministerpräsiden-
ten im Dezember 1933. Dennoch versuchte eine kleine Gruppe innerhalb der Bauern-
partei weiterhin, sich bei der rechten Jugendbewegung anzubiedern. Vaida-Voevod ent-
wickelte 1934 das System des „Numerus valachicus“ (die Rumänen nannten sich auch
Walachen): Demzufolge sollten die ethnischen Minderheiten an höheren Schulen, in
der Industrie und den freien Berufen nur im Verhältnis ihres Anteils an der Gesamtbe-
völkerung vertreten sein. Da ihn seine Partei deswegen ausschloss, gründete er im
April 1935 die „Rumänische Front“ (Frontul Românesc). Im November bildete sie zu-
sammen mit der „National-Christlichen Partei“ von Cuza und Octavian Goga einen
Opfer des Faschismus 255
rechten Block, der die drittgrößte Fraktion im Parlament wurde. 1936 übernahm ein
Kongress der akademischen Berufsverbände die Proporzforderung und begann unter
der Losung „Rumänisierung“ Juden aus den Verbänden der Rechtsanwälte, Ärzte,
Gymnasiallehrer etc. hinauszudrängen. Dadurch verbesserten sich die Berufsperspekti-
ven junger Rumänen aber nur im geringen Maß und viele radikalisierten sich.
Codreanu verlangte seit 1935 bereits den völligen Ausschluss der Juden aus höheren
Bildungseinrichtungen. An den Kommunalwahlen 1937 nahm die „Garde“ nicht teil,
die „Rumänische Front“ erhielt 10 Prozent der Stimmen. Bei den Parlamentswahlen
vom Dezember 1937 wurde die „Eiserne Garde“ mit 15 Prozent die drittstärkste Kraft.
Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, berief der König eine Regierung der klei-
nen „National-Christlichen-Partei“, die nur 9,1 Prozent der Stimmen erhalten hatte.
Diese von Cuza und Goga geführte Partei war nur 44 Tage an der Macht, doch die da-
mals verabschiedeten Gesetze zur Überprüfung der Staatsbürgerschaft blieben in Kraft.
Bis 1939 wurden 395.000 Juden Staatenlose, das war etwa die Hälfte der Juden Rumä-
niens. Diese Juden waren von staatlichen Bildungseinrichtungen ausgeschlossen.
Mariana Hausleitner
Literatur
Mariana Hausleitner, Antisemitismus in Rumänien vor 1945, in: Hermann Graml, Angelika
Königseder, Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den fa-
schistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S. 169-178.
Armin Heinen, Legiunea „Arhangelul Mihail“. O contribuţie la problema fascismului inter-
naţional, Bucureşti 1999.
Carol Iancu, Les Juifs en Roumanie (1919-1938). De l’émancipation à la marginalisation,
Paris 1996.
Irina Livezeanu, Cultural Politics in Greater Romania. Regionalism, Nation Building & Eth-
nic Struggle, 1918-1930, Ithaca, London 1995.
Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im ru-
mänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte
1878-1941, Wiesbaden 2005.
politisch organisierte KPD- und SPD-Mitglieder, als „Opfer des Faschismus“ aner-
kannte, aber im Gegensatz zur Realität der jeweils erlittenen NS-Verfolgung stand.
Den jüdischen Holocaust-Überlebenden, die jeglicher Habe, ihrer Familien und der jü-
dischen Gemeinschaft beraubt, sich mit den Roma und Sinti in weit elenderer Lage be-
fanden, blieb ohne OdF-Anerkennung nur die allgemeine Fürsorge. Von der dringend
benötigten erweiterten OdF-Versorgung ausgeschlossen wurden sie von den Sozialver-
waltungen eher geduldet und mit Almosen abgespeist, als dass sie auf Achtung und
Mitgefühl stießen.
In einer aufsehenerregenden, die jüdischen Überlebenden zutiefst beunruhigenden
öffentlichen Stellungnahme des Vorsitzenden des OdF-Hauptausschusses, des Berliner
KPD-Chefs Ottomar Geschke, über die zum Ehrentitel stilisierte Verfolgtenkategorie
„OdF“ wurde am 1. Juli 1945 in den legendär gewordenen Worten „aber sie haben
nicht gekämpft!“ der kategorische Ausschluss der jüdischen NS-Verfolgten von der be-
sonderen OdF-Fürsorge ideologisch zementiert. In einer Aufreihung von Opfergrup-
pen, die „alle geduldet und Schweres erlitten“ hätten, aber nicht als „Opfer des Faschis-
mus“ gelten könnten, wurden die jüdischen Opfer, wie auch die „Bibelforscher“ und
die „Arbeitsvertragssünder“, mit den deutschen Bombengeschädigten, Kriegsflüchtlin-
gen und Wehrmachtssoldaten gleichgesetzt.
Diese erneute Deklassierung und Ausgrenzung von Juden nur wenige Wochen nach
Kriegsende, die leitende Vertreter des OdF-Hauptausschusses in Presse und Rundfunk
im Sommer 1945 mehrfach wiederholten, rief den Protest aus Kreisen der sich grün-
denden jüdischen Gemeinden hervor, so dass im September 1945 auf Initiative der Ber-
liner Jüdischen Gemeinde und durch den politischen Druck der internationalen Öffent-
lichkeit und der Alliierten Stadtkommandantur Berlins, aber gegen den Widerstand
von Teilen der politischen Widerstandskämpfer in den OdF-Ausschüssen eine besonde-
re OdF-Abteilung „Opfer der Nürnberger Gesetzgebung“ (OdNG) für die jüdischen
„rassisch Verfolgten“ mit Sitz in der Jüdischen Gemeinde eingerichtet werden konnte.
Damit erhielten die jüdischen Opfer in Berlin erstmals nach Kriegsende offiziell die
Möglichkeit der Inanspruchnahme der OdF-Fürsorge.
Auf einer Konferenz der OdF-Ausschüsse Berlins und der SBZ am 27./28. Oktober
1945 in Leipzig offenbarte sich die zwiespältige Haltung vieler Delegierter gegenüber
den jüdischen Verfolgten. Die Redebeiträge zeugten von wenig Anteilnahme gegen-
über der jüdischen Leidensgeschichte, eher von politischem Kalkül und offener Ableh-
nung bei gleichzeitiger Einforderung eines aktuellen politischen Engagements, mitun-
ter in NS-Rhetorik wie die Drohung „wir werden in unseren Reihen diejenigen ausmer-
zen, die vergessen haben, daß sie die besten, energischsten und zielklarsten Kämpfer
und Arbeiter für das deutsche Volk sein müssen“ (Geschke). Selbst antisemitische Kli-
schees wurden verwendet: die finanzielle Unterstützung spiele „in diesen Kreisen eine
besondere Rolle, die oft nicht sehr glücklich ist“ (Jenny Matern). Erst die Reden der
beiden jüdischen Delegierten Julius Meyer, Leiter der OdNG-Abteilung, und Leon Lö-
wenkopf, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Dresden, brachten eine Wende in
die Debatte. Sie erinnerten mit Beispielen jüdischer Verfolgungserfahrung an die gänz-
lich andere Dimension der NS-Judenverfolgung und des → Holocaust sowie an das
Tabuthema der „Häftlingsselbstverwaltung“ in der SS-Lagerhierarchie und der Miss-
handlung jüdischer Häftlinge als unterster Häftlingsgruppe „auch von Leuten, die jetzt
Opfer des Faschismus 257
den roten Winkel tragen“, und verwiesen auf den von den Nationalsozialisten auch in
den Reihen der Häftlinge manchmal erfolgreich geschürten Antisemitismus sowie auf
die internationale Anerkennung der jüdischen Verfolgten, mit deren Verweigerung man
sich „zum Gespött der Welt“ mache. Im Ergebnis wurden Juden als „Opfer des Fa-
schismus“ anerkannt, doch die hierarchische Unterscheidung zur Kategorie der
„Kämpfer“ blieb bestehen.
Die Beibehaltung der zweiklassigen Kategorisierung manifestierte sich in verschie-
denen Ausweisen, kritisiert als „kleiner Stern“ für die „Opfer“ bzw. in einem Aufdruck
„Kämpfer“ auf der Vorderseite des roten OdF-Ausweises und war mit besonderen Zu-
wendungen für die „Kämpfer“, etwa einer pauschalen Eingliederungshilfe verknüpft.
Darüber hinaus begann man OdNG, die von der Hilfsorganisation „American Jewish
Joint Distribution Committee“ (Joint) unterstützt wurden, von der OdF-Betreuung aus-
zuschließen, sichtbar gekennzeichnet durch den gestempelten Aufdruck eines „J“ in ih-
rem OdF-Ausweis, der in fataler Weise der NS-Kennzeichnung der Dokumente von
Juden glich.
Kein halbes Jahr nach der Befreiung der letzten Konzentrationslager war hier eine
politische Grundsatzdebatte und Auseinandersetzung um die Zulassung von Juden ent-
brannt, die bereits in den ersten Kategorisierungsversuchen bestimmend gewesen war
und durchaus entlang der SS-Hierarchisierung der KZ-Häftlinge verlief. Letztlich be-
harrte hier eine Gruppe auf der Kontinuität einer Privilegierung in politisch-morali-
scher und finanzieller Hinsicht gegenüber weit umfassender verfolgten NS-Opfern.
Im Januar 1946 wurden die bis zur Staatsgründung der DDR geltenden Berliner
Richtlinien unter dem Titel „Wer ist Opfer des Faschismus?“ formuliert, im April mit
einigen Erweiterungen und Ausdifferenzierungen in überarbeiteter Form veröffentlicht
und im Mai unter erstmaliger Einbeziehung der Roma und Sinti als anerkannter OdNG,
gebunden an die dem Denkmuster des tradierten Zigeunerstereotyps entsprungene Auf-
lage eines festen Wohnsitzes, erweitert. Auch die Verwaltungen in der SBZ befolgten
weitgehend die Berliner Richtlinien. Im Mai 1946 waren in Berlin 10.000 jüdische
„Opfer“ und 4600 „Kämpfer“ als OdF registriert.
Seit der Leipziger OdF-Konferenz wandten sich die jüdischen Delegierten Meyer
und Löwenkopf vehement gegen die diskriminierende Einteilung in „Opfer“ und
„Kämpfer“, nicht zuletzt da sie eine Beförderung des Antisemitismus befürchteten und
selbst in den OdF-Reihen antisemitische Ressentiments feststellten. Auch in der im Fe-
bruar 1947 gegründeten „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) oszil-
lierte die Haltung gegenüber den Juden zwischen Solidarität und Vorbehalten. Die von
dem einzigen Verfechter einer Wiedergutmachung des NS-Unrechts an den Juden im
SED-Politbüro Paul Merker im Herbst 1947 einberufene Wiedergutmachungskommis-
sion verwendete deshalb den einheitlichen Begriff „Verfolgte des Naziregimes“ (VdN).
In den westlichen Besatzungszonen beendeten die alliierten Besatzungsmächte nach
ihrer anfänglichen regionalen Anwendung 1947 die Weiterführung der diskriminieren-
den Unterscheidung von „Kämpfern“ und „Opfern“.
Darüber hinaus erfolgten Aberkennungen des OdF-Status für jüdische NS-Verfolgte
oft aus Gründen mangelnder aktueller politischer Aktivität und teilweise in offen anti-
semitischer Argumentationsweise, so dass die jüdischen Gemeinden und ihr Dachver-
band wiederholt gegen Entscheidungen der OdF-Ausschüsse vorgehen und Korrektu-
258 Opfer des Faschismus
SS und das NS-Regime ab. Als drittes stellt sich die Frage der Privilegierung in der
Häftlingsgesellschaft der KZ-Lager, wie sie Primo Levi in ihrer Konsequenz benannte
und wie sie sich in der OdF-Differenzierung widerspiegelte. Primo Levi, jüdischer
Auschwitzüberlebender, schrieb einst über die Perspektive der „ ‚privilegierten’ Zeu-
gen“ in der öffentlichen Erzählung von den NS-Lagern, der ehemaligen Funktionshäft-
linge und „Prominenten“ der Lagergesellschaft, deren Distanz zu den einfachen Häft-
lingen kaum größer hätte sein können und die zwar über einen breiteren Beobachtungs-
horizont verfügten, der jedoch „durch das Privileg selbst schon wieder mehr oder we-
niger verfälscht“ war, und von deren Welt er, Levi, „damals nicht das geringste ahnte“.
Wer dagegen den „tiefsten Punkt des Abgrunds“ berührt habe, „der ist nicht mehr wie-
dergekommen, oder seine Beobachtungsgabe war durch Leid und das Nichtbegreifen
gelähmt“. Gerade die Wahrnehmung und Erzählung der ehemaligen privilegierten
Häftlinge, deren Situation am wenigsten repräsentativ gewesen war, wurde die am
stärksten rezipierte und formte die Legenden der KZ-Narration in den DDR-Mahn-
und Gedenkstätten.
Weitere Auswirkungen der hierarchischen OdF-Differenzierung, der Heroisierung
und Entkonkretisierung der „Kämpfer“ einerseits und dem Verschwinden und Verges-
sen der jüdischen „Opfer“ in ihrer Subsumierung unter Nationalitäten andererseits
zeigten sich in vielen Gedenkfeiern zum OdF-Tag und in den Präsentationen der KZ-
Gedenkstätten der DDR bis zur Umgestaltung einiger jüdischer Friedhöfe in Gedenk-
stätten für die „Opfer des Faschismus“. Jüdische Begräbnisstätten wurden durch Zen-
trierung der Anlagen auf einen OdF-Gedenkstein und teilweise Abräumung der alten
Grabsteine bzw. ihre ornamentale Neuaufstellung zu antifaschistischen Gedenkanlagen
stilisiert.
Die Juden in der DDR erlebten die weitgehende Ausgrenzung aus der Anerkennung
als antifaschistische „Kämpfer“ als dauerhaft diskriminierendes Moment, über das zu
sprechen in der DDR in einer Art Vorsicht gegenüber dem gesellschaftlichen Konsens
und dem starren Dogma des spezifischen antifaschistischen Selbstverständnisses der
DDR-Gesellschaft kaum möglich schien.
In ihrer Erklärung vom 12. April 1990 bat die erste frei gewählte Volkskammer um
Verzeihung für die „Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem
Lande“, ein Teil dessen war die OdF-Differenzierung gewesen.
Monika Schmidt
Literatur
Constantin Goschler, Paternalismus und Verweigerung – Die DDR und die Wiedergutma-
chung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusfor-
schung 2 (1993), S. 93-117.
Olaf Groehler, Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Ulrich Herbert, Olaf
Groehler, Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangen-
heit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, S. 41-66.
Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im „antifaschistischen Staat“: Vereinnahmung und Aus-
grenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945-1989), Berlin 2002.
Ralf Kessler, Hartmut Rüdiger Peter (Hrsg.), „An alle OdF-Betreuungsstellen Sachsen-An-
halts!“ Eine dokumentarische Fallstudie zum Umgang mit Opfern des Faschismus in der
SBZ/DDR 1945-1953, Frankfurt am Main u.a. 1996.
260 Ostjuden
Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945
bis 1949, Berlin 2003.
Ostjuden
Die Vorstellung eines eigenständigen osteuropäischen jüdischen Typus war ein Resul-
tat der Modernisierung der Juden in Zentral- und Westeuropa. Im Gefolge der jüdi-
schen Aufklärung (Haskalah), die im späten 18. Jahrhundert einsetzte, und den nach-
folgenden Emanzipationsbemühungen ( → Emanzipation der Juden) wurden Juden vor
allem in den deutschen Territorien einer kulturellen Kluft zwischen ihnen und den Ju-
den in Osteuropa gewahr, wo entsprechende Tendenzen zeitlich nachhinkten und viel
schwächer ausgeprägt waren. Diese Unterscheidung innerhalb des aschkenasischen Ju-
dentums hatte es in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten, als alle Juden gemäß der
religiösen Tradition gelebt hatten, nicht gegeben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wur-
de sie immer deutlicher wahrgenommen, und noch vor der Jahrhundertwende kam
auch der Begriff des Ostjuden auf. Vor dem Ersten Weltkrieg war er aber kaum ge-
bräuchlich.
Die Anfänge jüdischer Siedlungstätigkeit in Osteuropa lassen sich auf das 13. und
14. Jahrhundert datieren, als Anfeindungen in Zentraleuropa, die während der Kreuz-
züge und unter Einfluss der Pestepidemie von 1347-1353 verstärkt auftraten, viele Ju-
den aus dem Heiligen Römischen Reich nach neuen Heimstätten suchen ließen.
Gleichzeitig waren polnische Herrscher an Siedlern interessiert, um ihr stark entvölker-
tes Land wirtschaftlich zu entwickeln.
Das Ostjudentum umfasste im Großen und Ganzen Juden in Polen, Galizien, Russ-
land und Rumänien. Sie wurden weniger geographisch als an einer geistigen Verfas-
sung festgemacht. Nach dem Wiener Juden Nathan Birnbaum, der den Begriff des →
Zionismus prägte, stellt der Ostjude „eine in sich abgeschlossene Kulturpersönlichkeit“
dar. Für ihn war demnach eine kulturelle Haltung typisch, die verallgemeinernd als
eine starke Anhänglichkeit zum (meist religiösen) Judentum sowie eine tiefe Skepsis
gegenüber religiösen Neuerungen und säkularen Entwicklungen, die mit Abfall vom
Judentum und Assimilation gleichgesetzt wurden, umschrieben werden kann.
Die Ostjuden waren keine homogene Gruppe. Unter ihnen gab es Anhänger der
Haskalah (Maskilim), streng orthodoxe Juden (Mitnagdim), Angehörige der religiös-
mystischen Bewegung des Chassidismus (Chassidim), Zionisten, nationaljüdisch ge-
sinnte Juden, Sozialisten, Anarchisten und andere. Selbst Juden, die sich mit der domi-
nanten Kultur identifizierten und ihren Bezug zum Judentum ignorierten, wurden unter
ihnen immer zahlreicher.
Trotz ihrer internen Differenzierung zeichneten sich Ostjuden durch einige Merk-
male gegenüber den sogenannten Westjuden (oder gar außereuropäischen Juden) aus.
Dazu zählte vor allem die jiddische Sprache. Ungeachtet der Unterschiede zwischen
dem Nordjiddischen, das in Gebieten des heutigen Litauen und Weißrusslands gespro-
chen wurde, und dem Südjiddischen, das die Sprache der Juden in Galizien und der
Ukraine war, besaßen sie mit dem Jiddischen eine gemeinsame Muttersprache (Mame
Loschen). Das Hebräisch-Aramäische war demgegenüber die Heilige Sprache
(Loschn-kojdesch), das Idiom für die religiöse Sphäre. Jiddisch besteht aus mittel- und
Ostjuden 261
hen. Große Emigrationsbewegungen gab es aus Polen, Rumänien und Russland vor
allem nach Israel, in der jüngeren Vergangenheit auch nach Deutschland.
Klaus Hödl
Literatur
Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and Ger-
man Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison 1982.
Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 19995.
Monica Rüthers, Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert,
Köln 1996.
Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New
York, Oxford 1987.
Ostküste → Verschwörungstheorien
Pangermanismus
Pangermanismus ist ein im 19. Jahrhundert entstandenes politisches Schlagwort, das in
Anlehnung an den → Panslawismus zunächst ein gemeinsames Nationalbewusstsein
aller germanischen Völker, dann die Forderung der Zusammengehörigkeit aller deutsch
sprechenden Völker in einem Staat bezeichnete. Hintergrund waren die territoriale Zer-
splitterung und der sich entwickelnde → Nationalismus, der auf einen Zusammen-
schluss in einer politischen Einheit zielte. Doch gerade nach der Reichsgründung von
1871 wurden weiterhin pangermanische Ideen propagiert, da die kleindeutsche Lösung
vielen Nationalisten nicht genügte: Sie strebten die Einbeziehung Österreich-Ungarns
und anderer europäischer Gebiete mit deutschsprachigen Bevölkerungsteilen an. Auch
innerhalb Österreichs gab es eine pangermanische bzw. alldeutsche Bewegung, die auf
einen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich zielte, der 1938 unter den National-
sozialisten realisiert wurde.
Organisatorisch maßgebend in der Verbreitung pangermanischer Ziele und bei ihrer
politischen Umsetzung war der „Alldeutsche Verband“. Der 1890/91 aus Anlass des
Helgoland-Sansibar-Vertrages gegründete und 1939 aufgelöste „Alldeutsche Verband“
– bis 1893 „Allgemeiner Deutscher Verband“ – war einer der einflussreichsten Agita-
tionsverbände. Durch die hohe gesellschaftliche Stellung und den beruflichen Einfluss
seiner Mitglieder, die mehrheitlich dem Bildungs- und Besitzbürgertum entstammten,
wirkte er weit in die deutsche Gesellschaft hinein. Außerdem gehörten ihm andere Ver-
einigungen als korporative Mitglieder an, die über 150.000 Angehörige umfassten.
Dem „Alldeutschen Verband“ kam im kommunikativen Geflecht rechtsextremer Orga-
nisationen von 1890 bis weit ins 20. Jahrhundert hinein daher eine zentrale Rolle zu.
Der „Alldeutsche Verband“ bildete ein wichtiges Verbindungsstück zwischen dem
Nationalismus des Kaiserreiches, der „Völkischen Bewegung“ und den Nationalsozia-
listen. Er trug entscheidend zur Verbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz von Ex-
pansionsforderungen sowie antisemitischer, rassistischer und völkisch-nationalistischer
Anschauungen bei und prägte das nationalsozialistische Ideologiekonglomerat ent-
scheidend. Um den „Alldeutschen Verband“ bestand ein dichtes Netz institutioneller
und personeller Verflechtungen. Er war ein Prototyp für die enge Verbindung von Na-
Pangermanismus 263
reich“ auf, der nach 1927 an Bedeutung verlor und 1935 von der österreichischen Re-
gierung aufgelöst wurde.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwanden pangermanische Ideen im
deutschsprachigen Raum völlig aus der politischen Diskussion, die nunmehr von der
Frage der staatsrechtlich geteilten Nation geprägt war. In Österreich entwickelte sich
eine eigene Identität unabhängig von Deutschland.
Rainer Hering
Literatur
Roger Chickering, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German-
League 1886-1914, Boston 1984.
Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890-1939, Hamburg 2003.
Michel Korinman, Deutschland über alles. Le pangermanisme 1890-1945, Paris 1999.
Alfred Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Wiesbaden 1954.
Michael Peters, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914).
Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen
Deutschland, Frankfurt am Main u.a. 1996².
Panslawismus
Unter Panslawismus werden im weitesten Sinne Bestrebungen einer Annäherung der
slawischen Völker verstanden, in der Regel unter Führung Russlands. Der Panslawis-
mus im engeren Sinne entwickelte sich insbesondere in den 1870er Jahren im Zaren-
reich, als wichtigster Theoretiker gilt Nikolai Danilewski (1822-1885). Bis zum Ersten
Weltkrieg spielte der Panslawismus eine bedeutende Rolle in der russischen Öffentlich-
keit, etwas weniger in der Politik. Trotz mancher Vorbehalte gegen den russischen Füh-
rungsanspruch war der Panslawismus auch auf dem Balkan sowie bei Tschechen und
Slowaken ein wichtiges Phänomen, wogegen er in Polen wenig rezipiert wurde. Eine
bescheidene Renaissance erlebte der Panslawismus am Ende des Zweiten Weltkrieges,
als er von der Sowjetunion zur Rechtfertigung der eigenen Hegemoniebestrebungen in
Osteuropa herangezogen wurde, sowie im Zusammenhang mit der Mobilisierung der
russischen, weißrussischen und teilweise auch ukrainischen Öffentlichkeit für Serbien
während der jugoslawischen Auflösungskriege der 1990er Jahre.
Als Bewegung zur Einigung der Slawen zielte der „klassische“ russische Panslawis-
mus des späten 19. Jahrhunderts nicht in erster Linie gegen das Judentum, sondern ge-
gen die entwickelten Staaten und Gesellschaften West- und Mitteleuropas, gegen deren
politische und kulturelle Vorherrschaft man sich wehrte. Ein weiterer Gegner war das
Osmanische Reich, das die slawischen „Brudervölker“ auf dem Balkan brutal unter-
jocht habe. Da die meisten biologistischen Theorien den Slawen einen niederen Status
zuwiesen, vermieden die Panslawisten biologistische Zuschreibungen und definierten
kollektive Identitäten eher über Religion und Kultur. Anders als etwa christlich-ortho-
doxe Fundamentalisten gingen sie davon aus, dass andere Kulturen eine Existenzbe-
rechtigung hätten.
Dennoch blieben die Juden aus der slawischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die
Panslawisten träumten von einer organischen, slawisch-orthodoxen Bauerngemein-
schaft, in der andere Völker und Religionen bestenfalls Duldung beanspruchen konn-
Panslawismus 265
ten. Die Juden gerieten aufgrund der Teilnahme an der russischen revolutionären Be-
wegung seit den 1860er Jahren außerdem in den pauschalen Verdacht, die eigene
Emanzipation über eine Zerstörung der traditionellen bäuerlich-slawischen Grundlagen
erreichen zu wollen. Der Antimodernismus der russischen Panslawisten orientierte sich
auf diese Weise immer deutlicher in Richtung Antisemitismus. Von einem spezifisch
panslawistischen Beitrag zur Judenfeindschaft lässt sich aber dennoch nicht sprechen,
inhaltlich unterscheiden sich die Vorwürfe der Panslawisten nicht vom Antisemitismus
der übrigen russischen Konservativen und Nationalisten.
In Nikolai Danilewskis Hauptwerk „Russland und Europa“ (Rossija i Evropa, 1871)
stellten die Juden einen von zehn „kulturhistorischen Typen“ dar, denen der Autor eine
jeweils unveränderliche Essenz zuschrieb. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand
der vermeintlich expansive, gewalthafte romanisch-germanische bzw. europäische Ty-
pus, gegen den sich die Slawen durchsetzen müssten. Über die Juden äußerte sich Da-
nilewski ambivalent – einerseits bemühte er das alte christliche Stereotyp der Christus-
mörder, die in ihrem Egoismus außerstande gewesen seien, die christliche Botschaft zu
verstehen; auf der anderen Seite sah er sie als für die Slawen ungefährliches, weil im
religiösen Traditionalismus verharrendes und politisch unorganisiertes Phänomen.
Andere führende Panslawisten traten sehr viel deutlicher als Antisemiten in Erschei-
nung. Graf Nikolai Ignatjew (1832-1908) versuchte als Diplomat und zeitweiliges Re-
gierungsmitglied am intensivsten, den Panslawismus in praktische Politik zu überset-
zen. Hinter den liberalen Reformen der 1860er Jahre sah er eine katholisch-polnisch-
jüdische Verschwörung. Die Judenpogrome nach der Ermordung des Zaren Alexanders
II. 1881 interpretierte er als gerechtfertigten bäuerlichen Zorn gegen Ausbeuter; die fol-
gende jüdische Fluchtwelle förderte er durch den öffentlichen Hinweis, die Grenze des
Reiches nach Westen sei offen. Als Innenminister nahm er die → Pogrome zum An-
lass, im jüdischen → Ansiedlungsrayon des Reiches Freizügigkeit und ökonomische
Aktivitäten der Juden zu beschränken.
Der Publizist Iwan Aksakow (1823-1886) brachte vor allem den christlichen Anti-
semitismus ein. 1864 wunderte er sich in einem Zeitungsbeitrag darüber, wie die Juden
nach der Offenbarung der christlichen Wahrheit noch bei ihrer alten Religion bleiben
könnten. Wer die Überlegenheit des Christentums nicht einsehe, könne nur böswillig
sein. Gleichberechtigung könne daher nur über die Konversion zum Christentum er-
reicht werden. Aksakow verurteilte die Juden weniger für ihr Festhalten an alten reli-
giösen Irrtümern als dafür, dass sie versuchten, den Geltungsanspruch der orthodoxen
Kirche durch eine umfassende Säkularisierung der Gesellschaft zu untergraben.
Auf dem Balkan war der Panslawismus zunächst wenig mit antisemitischen Elemen-
ten belastet, denn die dortigen Nationalismen waren vor allem auf die Sezession vom
Osmanischen Reich und entsprechend antimuslimisch ausgerichtet. Außerdem war die
jüdische Präsenz in weiten Gebieten Südosteuropas gering. In der Zeit zwischen den
Weltkriegen schlug die Judenfeindschaft allerdings auch auf dem Balkan tiefere Wur-
zeln, was mit Kommunismusfurcht und Modernisierungsängsten zusammenhing, aber
auch mit dem Einfluss russischer Emigranten und anderer europäischer Antimoderni-
sten. Im Postkommunismus hat sich diese Tendenz insbesondere in Serbien und in der
bosnischen Serbenrepublik fortgesetzt – das von den Neo-Panslawisten in den 1990er
Jahren skizzierte russisch-serbische Sonderbündnis verstand sich als Widerstand gegen
266 Philosemitismus
Philosemitismus
Philosemitismus ist ebenso wie Antisemitismus eine Perspektive, aus der Juden in ir-
gendeiner Form radikal anders oder außergewöhnlich sind. In der Regel erfolgt die phi-
losemitische Stereotypisierung in einer einfachen Umkehr antisemitischer Vorurteile.
Der Begriff wurde parallel zum Begriff Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahr-
hundert geprägt und zunächst im Kaiserreich als antisemitisches Schlagwort gegenüber
politischen Gruppen verwendet, die sich gegen eine Diskriminierung der Juden wand-
ten. Erstmals belegt ist seine Verwendung bei Heinrich von Treitschke, der während
des Berliner Antisemitismusstreits der liberalen Fortschrittspartei 1880 „philosemiti-
schen Eifer“ unterstellte.
Der Begriff erschien zu dieser Zeit auch in sozialdemokratischen Publikationen zur
Charakterisierung von Unterstützern des Kapitalismus, der mit Judentum gleichgesetzt
wurde, sowie in evangelischen Kreisen, wo er verwendet wurde, um eine Position zu
beschreiben, die von Blindheit gegenüber den Juden geprägt sei und von der man sich
distanzierte, um sich selbst in einer vermeintlich neutralen Position – in der die negati-
ven Merkmale der Juden zur Kenntnis genommen wurden – zu verorten.
Hans-Joachim Schoeps hat eine umfassende Typologie des Philosemitismus vorge-
legt. Er unterscheidet zwischen christlich-missionarischem Philosemitismus, der das
Judentum als besonders lohnende Zielgruppe für christliche Missionierungsbestrebun-
gen sieht, biblisch-chiliastischem Philosemitismus, der das jüdische Volk als Protago-
nisten in einem biblischen Geschehen sieht, utilitaristischem Philosemitismus, bei dem
Juden gefördert und bevorzugt werden, weil man sich davon materielle Vorteile erhofft,
liberal-humanitärem Philosemitismus, der sich aus einer humanistisch-liberalen Grund-
haltung heraus für die Juden als Menschen einsetzt sowie religiösem Philosemitismus,
der sich von der jüdischen Religion fasziniert zeigt und letztlich zur Konversion zum
Judentum führt.
Philosemitismus 267
Pogrom
Der Begriff Pogrom (russ. Verwüstung, Zerstörung) ist historisch relativ jung. Es be-
zeichnete ursprünglich Ausschreitungen gegen nationale oder religiöse Minderheiten
in Russland und ging nach den antijüdischen Pogromwellen von 1881-1883 und 1903-
1906 in den internationalen Sprachgebrauch in diesem, auf antijüdische Ausschreitun-
gen bezogenen Sinn ein. Das Phänomen, das der Begriff beschreibt, ist wesentlich älter
und begleitete die Geschichte der Juden in Europa vom Ersten Kreuzzug 1096 bis zum
Pogrom von Kielce im Jahre 1946. Pogrome gegen Juden fanden vereinzelt auch in der
moslemischen Welt statt (im maurischen Spanien des 11. Jahrhunderts, über Bagdad
1291 und 1941 bis Tunesien 1945). Bisweilen werden auch antijüdische Ausschreitun-
gen in der Antike (etwa Alexandria 38 n.Chr.) als Pogrom bezeichnet.
Die Begriffsentwicklung ging im 20. Jahrhundert in zwei Richtungen. In der Sowjet-
union verlor der Begriff Pogrom seine antijüdische Konnotation und wurde für politi-
sche Unruhen mit reaktionärem Charakter sowie ab 1989 für Episoden interethnischer
Gewalt benutzt, während im Westen die antijüdische Tönung erhalten blieb und die
staatliche Planung oder Billigung betont wurde.
In Webster’s „Third New International Dictionary“ (1964) wird Pogrom definiert als
„an organized massacre and looting of helpless people, usually with the connivance of
officials, specifically, such a massacre of Jews“, während das „Oxford English Dictio-
nary“ (1933) ebenfalls von einem „organisierten Massaker“ spricht, das sich allerdings
nicht allein gegen Juden richten muss, sondern die „destruction or annihilation of any
body or class“ meint.
In deutschen Lexika wird Pogrom ganz allgemein als „Hetze mit Gewalttaten gegen
eine Gruppe der Bevölkerung“ definiert, im Nachsatz dann auf die Juden verwiesen.
In der Theorie ethnischer Konflikte ist heute die Einschränkung auf antijüdische Ge-
walt aufgegeben worden, und Pogrome werden als Angriffe von Seiten einer Mehrheit
auf Personen und Eigentum einer bestimmten ethnischen, rassischen oder kommunalen
Minderheit definiert. Die Gewalt kann sich dabei auf Plünderung, Sachbeschädigung
und Körperverletzung beschränken, aber auch hunderte oder tausende Opfer kosten.
Keine Einigkeit besteht darüber, ob der Staat oder seine Organe, wie Polizei und Mili-
tär, in einem signifikanten Ausmaß beteiligt sein müssen, um von einem Pogrom zu
sprechen, oder ob spontane oder organisierte Aktionen der Bevölkerung auch unter
diesen Begriff fallen. Anders als ursprünglich angenommen, sind die „klassischen“ rus-
sischen Pogromwellen nicht von Seiten des Staates initiiert oder unterstützt worden, so
dass das neue „pogrom paradigm in Russian history“ (John D. Klier) von einer mehr
oder weniger spontanen und konfusen Mobgewalt ausgeht. Einige Autoren, wie Paul
R. Brass, folgen dem älteren Begriffsverständnis und definieren die staatliche Beteili-
gung als das Unterscheidungsmerkmal zwischen Ausschreitung (riot) und Pogrom,
doch gestehen sie zu, dass die Grenzen zwischen beiden fließend seien. Die Rolle der
Staatsgewalt kann offenbar variieren: sie reicht von der schnellen Unterdrückung eines
Pogroms über einen ungenügenden oder verspäteten Einsatz der Kontrollorgane bis
hin zum Extremfall einer staatlichen Ermunterung und Lenkung. Die „Reichskristall-
nacht“ vom November 1938 stellt eine solche, von nationalsozialistischen Stellen an-
geordnete und organisierte Pogromwelle dar (im internen Sprachgebrauch charakteri-
stischerweise als „Judenaktion“ bezeichnet), an der sich im lokalen Rahmen Teile der
270 Radauantisemitismus
Radauantisemitismus
„Radauantisemitismus“ bezeichnet eine Erscheinungsform der Judenfeindschaft, die
sich durch eine besonders gehässige, dehumanisierende Wortwahl auszeichnet und
vielfach direkt oder indirekt zur Gewaltausübung aufruft bzw. diese praktiziert. Als Er-
scheinungsformen des „Radauantisemitismus“ gelten hetzerische (demagogische) Re-
den und Schriften, individuelle und kollektive physische Angriffe auf Juden und jüdi-
sche Geschäfte, Synagogen oder Friedhöfe, aber auch Phänomene wie der → Bäderan-
tisemitismus.
Da der Begriff „Radauantisemitismus“ den Begriff „Antisemitismus“ logisch und
sprachlich voraussetzt, konnte er erst nach 1879 entstehen. So wurde bald zwischen
einer „vernünftigen“ Richtung, die „sich Mäßigung und Zurückhaltung zur Aufgabe
gemacht“ und einem „extremen und gewalttätigen“ oder „radikalen Antisemitismus“
unterschieden. Bereits an den Versammlungen Adolf Stoeckers wurde kritisiert, dass
sie die „Pöbelinstinkte“ gegen Juden erregen würden. Insbesondere durch die Bericht-
erstattung über die Agitation Ernst Henricis wurde dann der Begriff „Radauantisemitis-
Radauantisemitismus 271
haupt“ führen solle. In der politischen Praxis der NSDAP konnte davon freilich keine
Rede sein, denn wie gegen die anderen zu Feinden erklärten Personengruppen setzte
die NSDAP, insbesondere die SA, auch gegenüber den Juden auf inszenierte, öffentlich
provozierte Gewalt. So ist eine Doppelstrategie erkennbar, sich vom „Radauantisemi-
tismus“ zwar einerseits verbal zu distanzieren, andererseits aber die eigene Judenfeind-
schaft ideologisch weiter zu radikalisieren und durch Gewaltaktionen zu festigen.
Seit 1933 stieg das Niveau der Gewaltsamkeit des Antisemitismus nochmals an, wa-
ren die radikalsten Judenfeinde nunmehr doch keine Oppositionsbewegung mehr, son-
dern im Besitz der unbeschränkten Staatsmacht. Zunehmend zeigte sich nun, dass „in-
tellektuelle“ bzw. „kulturelle“ und „gemäßigte“ Judenfeindschaft einerseits und „Ra-
dauantisemitismus“ andererseits keine Gegensätze, sondern die zwei Seiten ein und
derselben Medaille waren. So schuf der NS-Staat systematisch die Bedingungen dafür,
dass sich die propagandistisch verkündete „Volksgemeinschaft“ in gewalttätigen anti-
semitischen Ausschreitungen konstituierte, während gleichzeitig die formal rechtsför-
mige systematische Entrechtung der Juden immer weiter vorangetrieben und perfektio-
niert wurde. Spätestens mit dem Beginn des Völkermords seit Mitte 1941 wurde dann
die Trennung zwischen einem vermeintlich „gemäßigten“ und dem „Radauantisemitis-
mus“ endgültig obsolet.
Da sich der Begriff „Radauantisemitismus“ durch Unschärfe und Widersprüchlich-
keit auszeichnet, sollte er nicht unreflektiert verwendet werden. Als Quellenbegriff ist
er allgegenwärtig, als analytischer Begriff dagegen äußerst problematisch, da er be-
wusst oder unbewusst von der Annahme ausgeht, dass es eine „gemäßigte“ und „be-
rechtigte“, jedenfalls erträgliche Erscheinungsform der Judenfeindschaft gibt. Tatsäch-
lich ist es für den Antisemitismus aber wie für alle Formen gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit kennzeichnend, dass eine stets das Potential zur Entgrenzung bein-
haltende dialektische Verknüpfung von vermeintlicher Sachlichkeit und hasserfüllter
Emotionalität vorliegt.
Christoph Jahr
Literatur
Thomas Nipperdey, Reinhard Rürup, Antisemitismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hi-
storisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 1, Stuttgart, 1972, S. 129-153.
Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Re-
publik, Bonn 1999.
Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deut-
schen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
Rassenantisemitismus
Der am Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Rassenantisemitismus war das Ergebnis
der Verbindung moderner, scheinbar wissenschaftlich fundierter → Rassentheorien,
wie sie von Joseph Arthur Comte de Gobineau entwickelt und in dessen zwischen
1853 und 1855 veröffentlichtem vierbändigen „Essai sur l’inégalité des races humai-
nes“ propagiert wurden, und tradierter Judenfeindschaft, die sich zuvor auf soziale, re-
ligiöse oder wirtschaftliche Vorurteile beschränkt hatte.
Rassenschande 273
Gobineau und seine Epigonen gingen von drei primären „Urrassen“ aus, der weißen
– „arischen“, wahlweise auch → „nordischen“ bzw. „germanischen“ Rasse – der gel-
ben und der schwarze Rasse. Hierarchisch der gelben und schwarzen Rasse vorange-
stellt, schrieb er lediglich der weißen Rasse kulturschöpferische und zivilisatorische
Fähigkeiten zu, weshalb in der Konsequenz die Vermischung der Rassen eine Quali-
tätsminderung nach sich ziehe, womit grundsätzlich ein Rückschritt der gesamten zivi-
lisatorischen Menschheitsgeschichte einhergehe. Diese an die Rasse untrennbar gebun-
dene Prädestination von Kultur und Zivilisation griff der Rassenantisemitismus auf, in-
dem er die Geschichte der Juden und die ihnen zugeschriebenen charakterlichen Eigen-
schaften aus ihrer „Rasse“ heraus erklärte und den Juden damit ein spezifisches, ras-
sisch bedingtes Verhalten zugrunde legte. Der Rassenantisemitismus erklärt durch die-
sen biologischen Determinismus jede religiöse Konversion und gesellschaftliche
Assimilation der Juden von vornherein als unmöglich und apostrophiert eine „blutsbe-
dingte“ Minderwertigkeit des Jüdischen durch seine nicht zu ändernde Rassezugehö-
rigkeit. Die Rassenantisemiten forderten daher die Erhaltung und Pflege der „arischen
Rasse“, die durch strenge Ehegesetzgebungen, einem in der Gesellschaft verankerten
→ Arierparagraphen und Zuchtprojekte gewährleistet werden sollten. Ziel war eine
staatlich sanktionierte und gesteuerte Rassenpolitik, welche die Ergebnisse wissen-
schaftlicher Rassentheorien in konkrete politische Maßnahmen umsetzen und das ge-
samte gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben nach ihnen ausrichten
sollte. In letzter Konsequenz plädierten die Rassenantisemiten seines jüdischen Ur-
sprungs wegen für die Abschaffung des Christentums, in abgemilderter Form zumin-
dest für eine spezifisch deutsche, von jüdischen und teilweise auch von christlichen
Einflüssen befreite Rassereligion und versuchten den Nachweis zu erbringen, dass Je-
sus Arier war.
Mit Hilfe eines alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche durchdringenden Programms
zur Rassenerneuerung sollte ein Rassestaat errichtet werden und ein „neuer Mensch“
entstehen. Das Bekenntnis zum Rasseantisemitismus war konstitutiv für die völkische
Bewegung und bildet im → Nationalsozialismus auf Grund des ihm innewohnenden
Fatalismus das Fundament für die stetig zunehmende Radikalität und Aggressivität,
die schließlich in der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie mündete.
Gregor Hufenreuter
Literatur
Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedan-
ke. Wege ins Dritte Reich, Band 2, Stuttgart 1990.
Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhun-
dert, Hamburg 2004.
Rassenhygiene → Eugenik
Rassenschande
Die Entstehung des Begriffes „Rassenschande“ während des Kaiserreichs war in fol-
gende Diskussionszusammenhänge eingebettet: Zum einen ist sie in den Kontext des
sich seit dem 19. Jahrhundert herausbildenden wissenschaftlichen → Rassismus zu
274 Rassenschande
verorten. In diesem Zusammenhang bewegt sich die Entdeckung der jüdischen „Rasse“
sowie die Formulierung des rassenhygienischen Diktums, wonach die „Rassenmi-
schung“ zu einem fortwährenden Niedergang der Menschheit führte. Mit dieser (pseu-
do-)wissenschaftlichen Debatte ging die Popularisierung des völkisch geprägten Anti-
semitismus einher, der nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 eine
zunehmende Verbreitung erfuhr. Der sich während des Kaiserreichs als „kultureller
Code“ (Shulamith Volkov) etablierende Antisemitismus umfasste außerdem die folgen-
den Elemente: die Vorstellung von der „Unreinheit“ des jüdischen Körpers, die Sexua-
lisierung des jüdischen Mannes und vor allem die Polemik gegen den Juden als Staats-
bürger.
Diese Argumentationsmuster wurden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor al-
lem durch populäre wissenschaftliche und literarische Texte verbreitet. Exemplarisch
sei hier auf die Schriften Houston Stewart Chamberlains (u.a. Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts, München 1899) sowie auf Arthur Dinters antisemitischen Roman „Die
Sünde wider das Blut“ verwiesen. Erstmals 1918 erschienen, erreichte Dinters Roman
innerhalb kürzester Zeit eine Auflage von einer Viertelmillion. Der Held des Buches,
Hermann Kämpfer, wird zum wiederholten Male „Opfer“ von Frauen, die von einem
Juden „geschändet“ wurden: „Es ist ein bedeutungsvolles Rassegesetz, daß ein edelras-
siges Weibchen zur edlen Nachzucht für immer untauglich wird, wenn es nur ein ein-
ziges Mal von einem Männchen minderwertiger Rasse befruchtet wird.“
Nicht allein rassenantisemitische Argumente führten in der Weimarer Republik zu
einer Mobilisierung der Furcht vor einer „Schändung“ des deutschen Volkskörpers.
Während die Frage sogenannter Rassenmischehen in den Kolonien mit deren Verlust
im Ersten Weltkrieg an Bedeutung verlor, gewannen die Debatten über „Reinheit“ und
„Rassenmischung“ nach Besetzung des Rheinlandes durch die französischen Truppen
erneut an Dynamik. Die Polemik gegen die „Schwarze Schmach am Rhein“ - also ge-
gen die afrikanischen Soldaten der Besatzungsarmee - wurde von einem breiten Spek-
trum unterschiedlicher politischer Akteure aufgegriffen, die sich keineswegs aus-
schließlich am rechten Rand bewegten. Selbst der sozialdemokratische Reichspräsident
Friedrich Ebert polemisierte gegen die „Verwendung farbiger Truppen niederster Kul-
tur“. Bis zum Jahr 1933 bewegte sich die Ächtung außerehelicher wie ehelicher Bezie-
hungen zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen entlang rassistischer Kategorien
weitgehend auf einer phantasmagorischen Ebene, wenngleich beispielsweise die Part-
ner christlich-jüdischer Ehen im Alltag oftmals auf Widerstände gestoßen sein dürften.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhielt die „Rassenschande“-Ver-
folgung eine neue Qualität. Bereits vor dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ im Sep-
tember 1935, mit denen außereheliche Beziehungen und die Eheschließung zwischen
nicht-jüdischen und jüdischen Deutschen verboten und „Rassenschande“ als Straftatbe-
stand etabliert wurden, waren die betroffenen Personen Gegenstand offen ausgetrage-
ner antisemitischer Hetze. Flankiert von der SA, unter den Augen einer neugierigen
und manchmal auch euphorisierten Öffentlichkeit wurden Partner der geächteten Be-
ziehungen im Rahmen sogenannter Prangerumzüge durch die Städte geführt. Diese
lange Zeit von der historischen Forschung unterschätzte antisemitische Gewalt in den
Jahren 1933 bis 1935 war ein zentrales Vehikel der Etablierung der „Volksgemein-
schaft als Selbstermächtigung“ (Wildt). Vor allem aufgrund der voyeuristischen und
Rassenschande 275
Rassentheorien
Unter Rassentheorien versteht man veröffentlichte Formen der Bestimmung und Be-
schreibung von Rassen, ihren Eigenschaften, ihrem Verhältnis zueinander und ihrer
Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Solche Rassentheorien
sind fast immer interdisziplinär, indem sie naturwissenschaftlich-biologische und kul-
turgeschichtlich-soziologische Annahmen und Beobachtungen oft bis zur Unkenntlich-
keit miteinander verschmelzen. Sie wurden in systematischer Form seit dem 18. Jahr-
hundert publiziert und traten meist mit einem wissenschaftlichen Anspruch auf, auch
wenn nicht wenige ihrer Vertreter Autodidakten waren. Eine vollständige internationale
Bibliographie dieser Theorien (die es bislang leider nicht gibt) würde mehrere hundert
Titel umfassen. Die allermeisten wurden in der Zeit zwischen dem ausgehenden 18.
Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts publiziert und fanden in dieser Epoche
auch ihre größte Leser- und Anhängerschaft. Seit ihrer offiziellen Ächtung nach dem
Zweiten Weltkrieg gibt es explizite Rassentheorien nur noch vereinzelt. Von ihnen for-
mulierte Grundannahmen aber, etwa über das hierarchische Verhältnis zwischen den
Rassen, über die Eigenschaften und den Entwicklungsstand bestimmter Rassen oder
über den ewigen Kampf, den sie gegeneinander führen, sind tief ins Alltagsverständnis
eingedrungen und bis heute als oftmals naiv geglaubte Stereotypen präsent.
In diesen (populär)wissenschaftlichen Rassentheorien versuchten die modernen Ge-
sellschaften, vor dem Hintergrund ihrer eigenen universalistischen Gleichheitsansprü-
che die faktische Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen mit den Mitteln der Ver-
nunft und Rationalität zu rechtfertigen. Waren bis ins 19. Jahrhundert vor allem Depor-
tation und Versklavung der afrikanischen Bevölkerung und damit die Expansionspoli-
tik Europas Anlass ihrer wissenschaftlichen Legitimation, schob sich ab Mitte des 19.
Jahrhunderts mehr und mehr das Judentum und damit eine innereuropäische Bevölke-
rungsgruppe ins Zentrum dieser Begründungen angeblich notwendiger Aus- und Ab-
grenzung. Im Horizont der europaweiten Nationalisierungspolitiken, welche die politi-
schen Gemeinwesen mit der Kultur, Geschichte, Sprache und Abstammung ihrer Be-
völkerungen homogenisierend zur Deckung zu bringen suchten, wurde die jüdische
Emanzipation seit Mitte des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen wieder rückgängig ge-
macht bzw. die Integrationsfähigkeit der Juden von einem neuen, nationalistischen An-
tisemitismus systematisch in Frage gestellt.
Gerade in diesem Kontext kam den Rassentheorien die besondere Rolle zu, zunächst
die Nichtzugehörigkeit von Juden und wenig später auch die von ihnen angeblich aus-
gehende Gefahr für Nation, Gesellschaft und Kultur wissenschaftlich zu begründen. So
haben sowohl der Begriff des Semitischen als auch der Begriff Antisemitismus ihren
Ursprung in den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts. Während das Semitische als Ge-
genbegriff zum „Arischen“ im Kontext der philologischen Völkerkunde (Ernest Re-
nan) eingeführt wurde, war Antisemitismus zunächst ein verwissenschaftlichender Be-
griff zur Selbstbeschreibung einer neuen, als Welterklärung und Weltanschauung auf-
tretenden Form von Judenfeindschaft, wie sie 1879 von Wilhelm Marr gefordert und
rasch von anderen Antisemiten in einen rassentheoretischen Begründungshorizont ge-
stellt wurde.
In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelten die rassentheoretischen Annahmen
über das Judentum eine eigentümliche Ambivalenz: Zum einen gab es klassische Ras-
Rassentheorien 277
sentheorien, die den Juden bestimmte Eigenschaften, einen bestimmten, niederen Rang
auf der jetzt evolutionstheoretisch gedachten Entwicklungsskala der Völker zuwiesen
und immer wieder auf die biologischen Grenzen ihrer politischen und kulturellen Inte-
gration hinzuweisen suchten. Auf dieser Ebene unterschieden sie sich wenig von ande-
ren Rassentheorien. Zum anderen aber entwickelten die antijüdischen Rassentheorien
des frühen 20. Jahrhunderts eine zunehmende Tendenz zur Entkonkretisierung und Ab-
strahierung des Rassenfeindes gegen den sie sich richteten. Das Judentum war hier
nicht mehr nur eine (minderwertige) Rasse unter anderen, sondern es wurde zur Gegen-
rasse, zu einem fundamentalen Gegenprinzip des Eigenen stilisiert. Nicht nur, aber be-
sonders in Deutschland wurde „das Jüdische“ oder „das Semitische“ in diesen Kontex-
ten zu einem integralen Bestandteil der rassentheoretischen Selbstbeschreibung. Das
begann bereits vor dem Ersten Weltkrieg, als sich der Antisemitismus zu einer Art
„kulturellem Code“ (Shulamit Volkov) bürgerlicher Selbstverständigung entwickelte,
und setzte sich danach um so mehr fort, je populärer rassentheoretische Modelle der
Nations- und Gesellschaftsordnung wurden. In deren Rahmen war das Judentum zu-
nehmend nur noch als verzerrtes Stereotyp oder aber als denkbar abstrakte Gefahr prä-
sent, beide überdeterminiert von der Funktion, das rassentheoretische Selbstbild zu sta-
bilisieren und die politisch-praktische Ausrichtung einer rassisch reinen Nation zu be-
gründen.
Dieser rassentheoretische Mechanismus der Selbstbegründung und Selbstbehaup-
tung entkoppelte damit das Judentum von seinen realhistorischen Erscheinungsformen,
von den Juden als einer konkreten kulturellen Gemeinschaft und sozialen Gruppe. Er
emanzipierte – wie Hannah Arendt es einmal ausdrückte – das politische Denken von
Wirklichkeit und Erfahrung. Die Juden als Mitmenschen, Mitbürger, als Kultur- und
Religionsgemeinschaft, als Nachbarn, als partikulare Gruppe, oder auch nur als beson-
dere Andere kamen in diesem rassentheoretischen Welt-Panorama schon nicht mehr
vor. In ihrer wirklichen Präsenz stellten sie nurmehr ein störendes Element dar. Wo der
Antisemitismus diese Form einer rassentheoretischen Selbst- und Weltbegründung jen-
seits der eigentlich Betroffenen und ihrer Lebensform annahm, konnte er unter be-
stimmten Bedingungen dann auch ein „eliminatorisches“ Potential entwickeln.
Die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, zumal in Deutschland vorherrschende
Tendenz der dominanten Rassentheorie, in ihrer Verabsolutierung des biopolitischen
Gegensatzes zwischen dem Jüdischen und dem Arischen den Juden selber jede Partiku-
larität – und selbst noch eine rassische – abzusprechen, hatte entscheidende Konse-
quenzen auch für das antirassistische Denken der Zeit. So waren die Bemühungen jüdi-
scher Wissenschaftler, die Rassentheorie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, also
„die Juden der biologischen Logik zu entziehen, ohne den Rahmen der Biologie zu
verlassen“ (Veronika Lipphardt), im Horizont dieses neuen Weltanschauungsrassismus
zum Scheitern verurteilt. Denn längst hatte sich der rassentheoretische Antisemitismus
so weit abstrahiert, dass seine Behauptungen der Inferiorität der Juden und der grund-
sätzlichen Gefahr, die sie für die Welt darstellten, nicht mehr mit Naturgesetzen und
rassenbiologischem Wissen gerechtfertigt werden mussten, sondern mit diesen iden-
tisch waren. Erfolg hatten die jüdischen Rassenkundler daher nur bei der Bekämpfung
allzu banaler rassentheoretischer Stereotypen. Der rassentheoretischen Logik des ewi-
gen Überlebenskampfs zwischen dem Semitischen und dem Arischen, der aus Sicht
278 Rassismus
der meisten Rassentheoretiker nur praktisch zu lösen sei, hatte eine solche projüdische
Rassenkunde älteren Typs schon längst nichts mehr entgegenzusetzen. Insofern hatte
Victor Klemperer völlig Recht, als er bereits 1933 in seinen LTI-Notizen festhielt, dass
für die meisten Deutschen die Rassenlehre und der Antisemitismus dasselbe seien. Wer
in dieser Zeit überhaupt an Rassen, Rassenkampf und Rassengeschichte glaubte, hatte
kaum eine Möglichkeit, nicht auch Antisemit zu sein. Denn vom späten 19. bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts war der Antisemitismus nicht eine Folge oder ein Effekt,
sondern ein integraler Bestandteil des rassentheoretischen Wissens. Es war die Rassen-
theorie, die den Antisemitismus in dieser Zeit nötig hatte, nicht umgekehrt.
Nachdem der Nationalsozialismus die rassentheoretische Forderung nach einem
Verschwinden des Judentums zum Wohle des Rests der Welt zu einer politischen Ver-
nichtungspraxis gemacht hatte, steht daher jede Form von Rassentheorie mit einem ge-
wissen Recht unter dem Verdacht, nicht nur den allgemeinen Rassismus, sondern im-
mer auch den Antisemitismus zu fördern. Zugleich besteht aber die Gefahr, dass dieser
Zusammenhang den Blick verstellt für solche neueren Formen des Rassismus wie auch
des Antisemitismus, die schon längst nicht mehr rassentheoretisch argumentieren, son-
dern sich in einen kulturtheoretischen, sozialwissenschaftlichen oder bevölkerungs-
theoretischen Legitimationshorizont stellen. Denn auch wenn es heute kaum mehr de-
zidierte Rassentheorien gibt, sind die Selbst- und Fremdbestimmungsbedürfnisse, die
sie einmal bedienten, keineswegs verschwunden.
Christian Geulen
Literatur
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1950], München 1992.
Wolfgang Benz, Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur
Vorurteilsforschung, Berlin 2002.
Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg
2001.
Victor Klemperer, LTI: Notizbuch eines Philologen, 14. Aufl., Leipzig 1996.
Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Verer-
bung 1900-1935, Göttingen 2008.
Leon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus,
Neuaufl. Hamburg 1992.
Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000.
Rassismus
Rassismus gilt als diejenige Ideologie, die dem Antisemitismus am nächsten ist. Bis-
weilen wird sie sogar mit ihm gleichgesetzt. Besonders häufig wird angenommen, der
Antisemitismus sei eine besondere Form von Rassismus, die sich gegen die Juden
richte. Hier fungiert Rassismus also als eine Art Oberbegriff. Bei genauerem Hinsehen
erweisen sich diese Zuordnungen aber als höchst problematisch. Der sogenannte →
Rassenantisemitismus, wie er sich (gemeinsam mit dem Begriff Antisemitismus) im
späten 19. Jahrhundert herausbildete, hat ohne Frage eine Form antijüdischer Gewalt
hervorgebracht, die bis dahin unbekannt war und zur unmittelbaren Vorgeschichte des
→ Holocaust gehört. Eben deshalb aber ist es irreführend, ihn nachträglich als bloße
Rassismus 279
Variante eines allgemeinen Rassismus zu betrachten, dessen Opfer in diesem Fall die
Juden waren. Historisch wie ideologiekritisch muss vielmehr umgekehrt gefragt wer-
den, wie und warum der Antisemitismus sich ab einem bestimmten Punkt bevorzugt
rassentheoretischer Annahmen bediente und zu einer rassistischen Gewaltpraxis auf-
rief. Mit Blick auf das Verhältnis und die in der Tat enge Verschränkung von Antisemi-
tismus und Rassismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Rolle des Rassis-
mus das explanandum, nicht ein explanans.
Ein Grund dafür, dass dies oft umgekehrt gesehen wird, liegt darin, dass der Rassis-
mus in weiten Teilen des Alltagsverständnisses wie auch der Kultur- und Sozialwissen-
schaften als ein überhistorisches Übel gilt, als eine ideologische Ausgrenzungspraxis,
die auf fremdenfeindlichen Urinstinkten beruhe und nur durch konsequente Aufklä-
rung zu überwinden sei. Ausgerechnet die antirassistische Rhetorik bedient sich dabei
nicht selten einer selber rassistischen Wortwahl: So ist der Rassismus als „Kernübel
der Menschheit“, als „Plage“ und „Krankheit der Geschichte“ beschrieben worden,
ohne dass diese Kennzeichnungen mehr leisten als eine mimetische Wiederholung der
Ausgrenzungssemantik des Phänomens selbst. Zudem geht mit dieser Auffassung häu-
fig die Annahme einher, dass überall dort, wo der Rassismus ins Spiel kommt, er alle
anderen Handlungsmotive und -begründungen überformt oder verdrängt. In genau die-
sem Sinne hat der Begriff des Rassenantisemitismus eine ähnliche Funktion wie der
von Daniel Goldhagen geprägte Begriff des „eliminatorischen Antisemitismus“ – bei-
des sind Formeln für die Radikalität der nationalsozialistischen Judenvernichtung,
ohne aber die Ursachen und historischen Entstehungsbedingungen dieser Radikalität
ins Auge fassen zu können.
Will man bei solchen Formeln aber nicht stehen bleiben, sondern zu einem Ver-
ständnis der Wege vordringen, auf denen sich Rassismus und Antisemitismus seit dem
ausgehenden 19. Jahrhundert zu jenem Wahn verschränkten, den der → Nationalsozia-
lismus dann in eine bürokratisch-effiziente Vernichtungspraxis übersetzte, sollte man
sich zunächst von jenem Bild des Rassismus als einem überhistorischen Übel und als
Chiffre für jede besonders gewalttätige Form der Ausgrenzung von „Anderen“ verab-
schieden. Erst der Blick auf seine eigene Entwicklungsgeschichte eröffnet die Chance,
seine fatale Wahlverwandtschaft mit dem Antisemitismus zu verstehen und kritisch
deuten zu können.
Unter Rassismus lässt sich eine ideologische Praxis der Stabilisierung unklar gewor-
dener Zugehörigkeitsordnungen verstehen, die zunächst ein bestimmtes Wissen über
die Natur des Eigenen, der Anderen sowie der allgemeinen Rassenverhältnisse her-
stellt, um dann die soziale Wirklichkeit zum Zwecke der Weltverbesserung diesem
theoretischen Wissen praktisch anzugleichen. In dieser Form tauchte der Rassismus hi-
storisch zum ersten Mal dort auf, wo auch der Begriff der Rasse nicht mehr nur die
edle Abkunft von Individuen markierte, sondern die Besonderheit sozialer Gruppen
mit ihrer kollektiven Abstammung verknüpfte. Als im Jahr 1492 die Reconquista, die
Verdrängung der Mauren von der Iberischen Halbinsel für abgeschlossen erklärt wur-
de, erließen die neuen katholischen Machthaber zugleich ein Edikt zur Zwangsbekeh-
rung aller Juden im Lande. Damit reagierten sie auf den Umstand, dass viele Juden un-
ter dem jahrhundertelangen Druck der Reconquista sich formal hatten taufen lassen,
ohne ihren eigenen Glauben wirklich aufzugeben. Zur Herstellung eines wirklich und
280 Rassismus
homogen christlichen Spaniens musste nun entschieden werden, wer zur Bekehrung
gezwungen werden konnte und wer nicht. Dabei war die Taufe selbst und die Reinheit
des Glaubens kein Kriterium mehr und an seine Stelle trat die Reinheit der nachgewie-
sen nicht-jüdischen Abstammung ( → limpieza de sangre), die allein von der Zwangs-
bekehrung befreite. Den sozialen, politischen und religiösen Ordnungsmodellen trat so-
mit ein ganz neues Panorama der Abstammungsordnung zur Seite, in das auch schnell
die verbliebenen Gruppen von Muslimen eingereiht wurden und das oft quer zu den
hergebrachten Hierarchien lag. So konnten selbst Angehörige des christlich-spanischen
Adels in den Verdacht geraten, von ihrer Abstammung her zumindest teilweise der jü-
dischen „Rasse“ anzugehören.
Dieses neue rassentheoretische Ordnungs- und Beschreibungsmodell verbreitete
sich rasch in ganz Europa und erwies sich nicht zuletzt im Kontext der Expansion als
hilfreich, um die völlig unbekannten Sozialordnungen in Afrika und jenseits des Atlan-
tiks in ein verstehbares und das eigene Handeln legitimierendes Wahrnehmungssystem
zu pressen. Mit dem transatlantischen Sklavenhandel und der Sklaverei begann dann
ein bis ins 19. Jahrhundert existentes rassistisches Wirtschaftssystem. Erst im Laufe
des 18. Jahrhunderts begann die Wissenschaft, die Verwendungsweise des Rassenbe-
griffs wie auch rassistische Praktiken zu beeinflussen. Zum einen wurde Rasse als ein
naturwissenschaftliches Phänomen entdeckt, dessen Erscheinungsweisen bevorzugt
klimatheoretisch erklärt wurden, zum anderen entdeckte man den Kampf der Rassen
als geschichtliches Prinzip und Grundlage langfristiger Nationalentwicklungen.
Der bis dahin primär als je aktuelles Inklusions-/Exklusionskriterium fungierende
Rassenbegriff wurde nun zum Namen dauerhafter und strukturbildender Binnenkon-
flikte, deren Lösung umso heftiger gefordert wurde, je deterministischer sie gedacht
wurden. Einmal mehr sprang in diesem Kontext die Diaspora-Existenz der Juden als
ein Faktor ins Auge, der den rassischen Homogenisierungsansprüchen im Weg war.
Daher finden sich in fast allen rassentheoretischen Darstellungen ab der Mitte des 20.
Jahrhunderts ausführliche Sonderkapitel über die Juden, deren besondere Eigenschaf-
ten in biologisch-rassischer, kulturell-philologischer und psychologischer Hinsicht aus-
führlich beschrieben wurden. Doch erst als mit der Evolutionstheorie die Vorstellung
einer möglichen Veränderung der Arten aufkam und der Rassenkampf mehr und mehr
als ein alltäglicher Vorgang im Innern der Gesellschaft gedacht wurde, gingen diese
theoretischen Reflexionen und Klassifikationen in Aufrufe zu einer politischen Praxis
der Homogenisierung, Säuberung und Reinhaltung des „Volkskörpers“ von fremden
Elementen über.
Genau das ist der Kontext, in dem Rassismus und Antisemitismus fusionierten –
nicht weil sich die Juden als beliebige weitere oder besonders geeignete Gruppe für
eine rassistische Ausgrenzung anboten, sondern weil der Rassismus, im Horizont der
im weitesten Sinne evolutionsbiologischen Annahmen über die Natur und Entwick-
lungsweise von Rassen und Völkern, ein symmetrisches Modell der kollektiven Selbst-
und Fremdbeschreibung bereitstellte. Im Rahmen dieses Modells gab es gerade keine
von Natur aus gegebenen Überlegenheits- und Unterlegenheitsverhältnisse zwischen
den Völkern mehr, sondern diese Struktur war erst Resultat eines aktiv zu führenden
Kampfes um die Reinhaltung des Eigenen durch Ausschluss des Anderen. Die evolu-
tionistische Rassentheorie setzte (trotz vieler populärer Gegenbehauptungen) die im
Rassismus 281
Spiel des Überlebenskampfs befindlichen Rassen auf Augenhöhe. Damit war im Prin-
zip jede rassentheoretische Begründung der eigenen Überlegenheit gezwungen, zur
rassistischen Praxis der Reinhaltung und Stärkung des Eigenen und zum Kampf gegen
das Andere aufzurufen. Insofern es zur hergebrachten Tradition antijüdischer Ressenti-
ments gehörte, sich sowohl gegen die als „fremd“ markierte kulturelle Eigenart des Ju-
dentums als auch gegen seine seit Jahrhunderten etablierte Partizipation am Gemein-
wesen zu richten, übernahmen die Juden rasch und bevorzugt die Rolle einer solchen
symmetrischen „Gegenrasse“. Und das umso mehr, je intensiver die Rassentheorie und
die populären Rassenvorstellungen zur Bestimmung und ideologischen Grundlegung
der je eigenen nationalen Identität genutzt wurden.
Das war in vielen Gesellschaften der Fall, in denen die Juden eine erkennbare parti-
kulare Gruppe bildeten, besonders aber in Deutschland. Denn hier fiel die verspätete
und zugleich verordnete Nationalstaatsbildung mit dem Beginn der Popularisierung
evolutionistischer Rassentheorien zusammen, was diesen, vor dem gleichzeitigen Hin-
tergrund sozialer Desintegrationserfahrungen, rasch eine wichtige Rolle in der viel zi-
tierten „inneren Nationsbildung“ zuwies. Zugleich war die faktische Integration der Ju-
den im Deutschen Kaiserreich weitgehender als in manchen anderen westlichen Staa-
ten, was sich sowohl an der Zahl von → Mischehen und am sogenannten Assimilie-
rungsgrad zeigt, als auch daran, dass Staat und Gesellschaft dem praktischen und sicht-
baren Ausleben jüdischer Kultur einen relativ breiten Raum ließen. Eine solche Rolle
des „integrierten Anderen“ aber war in jenen symmetrischen Panoramen der rassisti-
schen Theorien vom andauernden Kampf um Selbsterhalt und Homogenität nicht vor-
gesehen. Entsprechend entwickelte sich der Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich
zu einer ungemein verbreiteten, geradezu modischen Formel kollektiver Selbstverstän-
digung, ohne aber unmittelbar in ausgrenzende Praktiken zu münden. Erst der Welt-
krieg, die deutsche Niederlage, die sich anschließenden revolutionären Unruhen und
der Verlust von Territorien und politischem Selbstwertgefühl führten zu einer Konstel-
lation, in der sich die rassistische Logik des Selbsterhalts durch Ausschluss des Frem-
den von einer bloß identitätsstiftenden Selbstbeschreibungsformel in ein Programm der
Selbstrettung und Selbsterneuerung durch die jetzt auch praktische Ab- und Loslösung
dieses besonderen Fremden verwandelte. Im Jahr 1933 wurde dieses Programm Staats-
doktrin.
Die Frage, ob hier nun der Antisemitismus oder der Rassismus das vorherrschende
ideologische Motiv war, führt an der eigentlichen Phänomenalität des historischen Vor-
gangs vorbei. Die Fusion beider Ideologien schuf eine neue. Und in Deutschland nahm
diese neue Ideologie eine Form an, die allen möglichen Varianten des rassentheoreti-
schen Denkens, zumal wenn es der kollektiven Selbstfindung diente, eine antisemiti-
sche Praxis als Konsequenz vorschrieb. Umgekehrt löste sich der Antisemitismus in
dieser Fusion von so gut wie allem, was noch mit der wirklichen Lebensform und tat-
sächlichen Existenzweise der Juden zu tun hatte. Er wurde stattdessen zu einem erfah-
rungsenthobenen Weltbild, das die Juden umso radikaler der Vernichtung aussetzte, je
mehr dieses Weltbild ein rassentheoretisch völlig abstrahiertes Judentum zum funda-
mentalen Gegenpol der eigenen rassenpolitischen Erneuerung stilisierte.
Gerade vor dem Hintergrund des Vernichtungswahns, den diese besondere Fusion
antisemitischer mit rassistischen Handlungslogiken hervorgebracht hat, erscheint es
282 Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945
Alte Bundesrepublik
In der historischen Entwicklung des Rechtsextremismus in der alten Bundesrepublik
lassen sich drei Phasen unterscheiden. Zwischen 1949 und der Mitte der 1960er Jahre
dominierten in den rechtsextremen Parteien frühere NS-Funktionsträger. Ihre Politik
war zunächst auf ihre eigene Rehabilitierung und Re-Integration gerichtet. Weiterge-
Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945 283
hende Ziele sind seit dieser Zeit die Wiederherstellung des Deutschen Reiches und die
Revision der politischen, rechtlichen und moralischen Verurteilung Nazi-Deutschlands.
Die zweite Phase (Mitte der 1960er bis zum Beginn der 1980er Jahre) wurde durch
die Gründung der NPD (1964) und die strategische Orientierung an der parlamentari-
schen Arena eingeleitet. Während der Großen Koalition von CDU und SPD 1966-
1969 erhielt die NPD als nationale Oppositionspartei eine breitere Zustimmung. Sie
konnte in sieben Landesparlamente einziehen. 1969 erzielte sie bei der Bundestags-
wahl 4,3 Prozent der Zweitstimmen und scheiterte damit an der Fünf-Prozent-Hürde.
Mit der Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition ab 1969 übernahm die
CDU die Funktion einer rechten Opposition, so dass die NPD drastisch an Aufmerk-
samkeit und Erfolg verlor.
Anfang der 1980er Jahre begann im Bewegungsspektrum des Rechtsextremismus
eine Militarisierung, eine offensive Nazifizierung und eine gezielte Instrumentalisie-
rung der Skandalisierungspraxis der etablierten Medien. Getragen wurde diese Ent-
wicklung von Aktivisten, die nach 1945 geboren waren. Im parteiförmigen Rechtsex-
tremismus formierte sich aus der Enttäuschung über die versprochene, aber ausgeblie-
bene geistig-moralische Wende der CDU/FDP-Regierung (seit 1983) die Partei „Die
Republikaner“ (REP). Mit ihrem ausländerfeindlichen Programm erzielte sie Ende der
1980er Jahre überraschende Wahlerfolge.
DDR
In der DDR waren chauvinistische, rassistische oder geschichtsrevisionistische Organi-
sationen verboten. Seit den 1980er Jahren bildeten sich Gruppen, die ideologisch an
den Nationalismus anschlossen und Vertragsarbeiter aus Afrika und Vietnam attackier-
ten. Diese Gruppen wurden vom Ministerium für Staatssicherheit beobachtet. Eine öf-
fentliche Thematisierung dieser Entwicklung wurde von staatlicher Seite bewusst ver-
mieden, um den offiziösen Antifaschismus nicht zu gefährden; einzelne Aktivisten hin-
gegen wurden in öffentlichkeitswirksam ausgerichteten und rechtsstaatlich fragwürdi-
gen Prozessen verurteilt.
Erweiterte Bundesrepublik
Nach der staatlichen Vereinigung von Ost- und Westdeutschland setzte eine rassistisch-
fremdenfeindliche Gewaltwelle ein, die sich gegen Asylbewerber und ansässige Mi-
granten richtete. Das Ausmaß an gewalttätigen Attacken ging Mitte der 1990er Jahre
nach erheblichen zivilgesellschaftlichen Protesten und Interventionen der Sicherheits-
behörden zurück, hält sich aber seitdem deutlich über dem Ausgangsniveau der 1980er
Jahre.
In der Zeit nach 1990 hat das jugendsubkulturelle und bewegungsförmige Spektrum
des Rechtsextremismus stark an Bedeutung gewonnen. Infolge einer verstärkten staat-
lichen Verbotspraxis in den 1990er Jahren haben sich viele lose Vereinigungen („Freie
Kräfte“) gebildet. 1998 gelang es der DVU in Sachsen-Anhalt für eine und 1999/2004
in Brandenburg für zwei Legislaturperioden Landtagsmandate zu erzielen. Seit 2009
ist die DVU im Niedergang begriffen. Seit 1996 arbeitet die NPD systematisch auf die
Führungsrolle im parteiförmigen Rechtsextremismus hin. Sie ist seitdem in wechseln-
dem Umfang Bündnisse mit den nichtorganisierten Kräften eingegangen. Erfolge bei
Landtagswahlen erzielte sie 2004 und 2009 in Sachsen und 2006 in Mecklenburg-Vor-
284 Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945
pommern. Während der Erfolg der REP mit dem Protest gegen Zuwanderung verbun-
den war, gehen die späteren Erfolge bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland auf die
Ablehnung der Sozialgesetzgebung zurück.
In ihrer Propaganda verfolgt die NPD seit 1996 eine Doppelstrategie. In der Wer-
bung um Wähler und um soziale Anerkennung ihrer Funktionäre setzt sie auf aktuelle
sozialpolitische Themen. Sie schürt Angst vor Modernisierung und Globalisierung, um
sich als Anwalt deutschnationaler Interessen zu empfehlen. In der internen Kommuni-
kation behält sie außerdem den für den deutschen Rechtsextremismus typischen Ge-
schichtsrevisionismus, die Reichsutopie und den völkischen Nationalismus bei.
Ein essentieller Bestandteil des Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945 ist
der völkische Nationalismus und der Antisemitismus geblieben. Er wird in einer stär-
ker kulturalisierten und einer stärker biologischen Variante vertreten, die verschiedent-
lich auch kombiniert werden. Diese Vorstellungswelt geht von einem homogenen Volk
aus. Dieses wird holistisch, also als ein Ganzes verstanden, das gegenüber Einzelperso-
nen, Familien und gesellschaftlichen Gruppen den höheren Rang hat. Die höchste Wür-
de wird dem Volk als solchem und ganzem, nicht dem einzelnen Individuum zugespro-
chen („Volksgemeinschaft“). Ein weiteres Ideologieelement ist historisch ausgerichtet
und besagt, das deutsche Volk sei seit Jahrhunderten und ohne eigenes Zutun das Opfer
einer Welt von Feinden. Aus diesen beiden Glaubenssetzungen wird eine vermeintliche
moralische Legitimität der völkischen Selbstbehauptung und eines Kampfes gegen die
angeblichen Volksfeinde hergeleitet. Dem korrespondiert die Kultur eines Heroismus,
der sich als Stilmerkmal in der rechtsextremen Publizistik und in Demonstrationsauf-
tritten findet.
Aus den Ganzheits- und Reinheitsidealen folgt die Frontstellung gegen solche Be-
völkerungsgruppen, die wegen ihrer Herkunft oder ihrer kulturellen Praxis als „fremd“
bezeichnet werden. Dazu werden stets die Juden gerechnet. Die im Vergleich mit dem
europäischen Ausland restriktiven und stetig verschärften Rechtsvorschriften der Bun-
desrepublik haben die Reduzierung eines offen propagierten Antisemitismus zur Folge.
In den Publikationen rechtsextremer Parteien ist Antisemitismus heute meist nur in An-
spielungen und der Verwendung von Schlüsselwörtern präsent, die den Adressaten-
gruppen geläufig sind. Antisemitismus ist damit in der öffentlichen Kommunikation
des Rechtsextremismus weniger sichtbar und in hohem Maße ein latentes Phänomen.
Heute konterkarieren Internetseiten, die nicht dem deutschen Strafrecht unterliegen,
die Verdrängung der antisemitischen Hetze aus der Öffentlichkeit.
Aus zwei Gründen waren die Erfolge des Rechtsextremismus in Deutschland gerin-
ger als in westeuropäischen Ländern. Erstens bezieht sich der deutsche Rechtsextremis-
mus stark auf die Ideologie des völkischen Nationalismus; auch seine aktuellen politi-
schen Botschaften sind an das aus dem 19. Jahrhundert stammende Volkskonzept rück-
gebunden. Dieses antiindividualistische und antiliberale Konzept ist mit den heutigen
Lebensbedingungen und den Erwartungen der Wähler schwer vereinbar. Zweitens ist
die politische Kultur Deutschlands seit Mitte der 1980er Jahre in hohem Maße von der
Rhetorik einer Verpflichtung zur Erinnerung an den historischen Nationalsozialismus
und seine Verbrechen geprägt. Die Maxime „Lernen aus der Geschichte“ prägt das kol-
lektive Selbstverständnis. Der rechtsextreme Geschichtsrevisionismus und die entspre-
Reformation 285
Reformation
Die rechtliche und soziale Situation der Juden im Zeitalter der Reformation unterlag
einerseits gewissen Veränderungen, stand andererseits in Kontinuität mit den für das
Spätmittelalter prägenden Verhältnissen. Während in verschiedenen europäischen Län-
dern, z.B. Frankreich, England, Schweden, Dänemark, den meisten Städten und Kanto-
nen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Spanien und Portugal und den mit diesen
Königreichen verbundenen Territorien (z.B. den Niederlanden, Sardinien und Sizilien)
um 1500 keine Existenzmöglichkeiten jüdischen Lebens gegeben waren, insbesondere
in Polen, Siebenbürgen, Ungarn, Böhmen und Mähren hingegen – ungeachtet gele-
gentlicher Verfolgungen, alltäglicher Repressionen und finanzieller Belastungen – wei-
terhin Juden lebten, waren die Bedingungen im Alten Reich dadurch gekennzeichnet,
dass die jeweiligen befristeten Judenduldungen mittels kostenpflichtiger → Schutzbrie-
fe aus der kaiserlichen in die territorialstaatlichen und städtischen Zuständigkeiten
übergegangen waren. Die jeweilige Handhabung des Judenschutzes in den einzelnen
Herrschaftsgebieten des Reiches unterlag einem erheblichen historischen Wandel, der
von unterschiedlichen Faktoren, etwa ökonomischen Interessen der Obrigkeiten, Stim-
mungen und auch sozial fundierten Befindlichkeiten der Bevölkerung, aber auch dem
Verhalten der geographischen Nachbarn und den allgemeinen politischen Rahmenbe-
dingungen bestimmt sein konnte.
Die verstärkt im Laufe des 16. Jahrhunderts aufkommenden Judenordnungen sollten
das alltägliche Leben der Juden in einer christlichen Umwelt zum Teil detailliert regeln
und trugen tendenziell zur Ghettoisierung und zur strikten Begrenzung lebensweltli-
cher Alltagskontakte zwischen Christen und Juden bei. Die seit der Eroberung Kon-
stantinopels durch die Osmanen (1453) stetig wachsenden Bedrohungsängste der ost-
vor allem aber der lateineuropäischen Gesellschaften, die nicht selten im Zeichen aku-
ter apokalyptischer Naherwartung standen, haben nicht unwesentlich dazu beigetragen,
286 Reformation
dass Intoleranz und Gewaltbereitschaft gegenüber den Juden im späteren 15. und im
16. Jahrhundert im Ganzen zunahmen. Die massiv antijüdischen Anklagen des Ritual-
mordes (→ Ritualmordbeschuldigung), des → Hostienfrevels und der → Brunnenver-
giftung hatten in der Zeit vor der Reformation Hochkonjunktur. Im Falle der spektaku-
lären, kurz vor der Reformation populär werdenden Massenwallfahrten ins mecklen-
burgische Sternberg, ins altmärkische Wilsnack und nach Regensburg standen ver-
meintliche Hostienschändungen und mirakelhafte Bestätigungen antijüdischer Über-
griffe (Hinrichtungen, → Pogrome, Austreibungen) im Hintergrund. Die Vorstellung,
dass die Juden mit dem Teufel im Bunde seien, in „parasitärer“ Weise, insbesondere
durch den Wucher, ihre „Wirtsvölker“ aussaugten, heimlich mit den Türken paktierten,
ihnen als Spione dienten und durch magische Praktiken unablässig darauf hinwirkten,
Christus und Maria zu schmähen, Proselyten zu machen und die christlichen Gemein-
wesen zu unterminieren, waren in der Zeit der Reformation allgemein und in allen Ge-
sellschaftsschichten verbreitet und haben als mentalitätsgeschichtlicher Hintergrund so-
wohl der Anhänger als auch der Gegner der Reformation zu gelten.
Für die im Zuge der Formierungsdebatten der reformatorischen Bewegung entste-
henden bzw. auftretenden religions- und kulturpolitischen Gruppen spielte die literari-
sche Kontroverse um den schwäbischen Juristen und Hebraisten Johannes Reuchlin
eine wichtige Rolle. Die meisten der späteren Anhänger Luthers und der Wittenberger
Theologie hatten in der Kontroverse zwischen Reuchlin und dem ungelehrten, die Ver-
nichtung jüdischen Schrifttums fordernden Konvertiten Johannes Pfefferkorn innerlich
auf Seiten des Apologen der im römischen Kaiserreich kodifizierten Bürgerrechte der
Juden gestanden und sein humanistisches Plädoyer zugunsten des Studiums außerbibli-
scher jüdischer Texte im Sinne des programmatischen „ad fontes“ (zurück zu den
Quellen) akzeptiert.
Freilich war die Parteinahme zugunsten Reuchlins, den die kabbalistische Literatur
vor allem auch deshalb interessierte, weil er hier Argumente für die von den Juden ge-
leugnete Gottessohnschaft Jesu zu finden meinte, weniger der Überzeugungskraft sei-
ner inhaltlichen Ausführungen als seinem Kampf für die alten Sprachen und gegen die
Borniertheit seiner Gegner, der „Dunkelmänner“ (viri obscuri), geschuldet. Dass Lu-
ther von den Humanisten als Genosse des geschmähten und zu Unrecht verfolgten
Reuchlin wahrgenommen wurde, bildete eine zentral wichtige Voraussetzung der an-
fänglichen Akzeptanz, den der Wittenberger Reformator im Kreis der Humanisten
fand. Die Stilisierung Reuchlins und der Humanisten zu Begründern neuzeitlicher Ju-
dentoleranz verkennt hingegen, dass die Taufe bzw. Bekehrung zu Christus als Messias
gemeinhin als unverrückbares Ziel auch des humanistischen Engagements in der
→ „Judenfrage“ galt, dass einzelne Gelehrte wie etwa Erasmus einen tiefverwurzelten
Judenhass repräsentierten und sogar mit in der „Natur“ der Juden angelegten Eigen-
schaften argumentieren konnten, wie sie etwa auch im Kontext der spanischen Recon-
quista zu belegen sind. Im Unterschied zum vorreformatorischen Judendiskurs rückte
für die Reformatoren die Frage nach dem in der mittelalterlichen Theologie noch un-
ausgeschöpften Potenzial der Bibel in Bezug auf einen Erweis der Messianität Jesu
und zur Ermöglichung einer neuen Phase der Missionierung der Juden in den Vorder-
grund.
Reformation 287
Im Gefolge von Luthers Schrift „Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“ (1523)
zeigten sich in der frühreformatorischen Bewegung Anzeichen einer beziehungsge-
schichtlichen „Wendezeit“ im Verhältnis zwischen Christen und Juden. Insbesondere
Luthers Behauptung, mangelnde Erfolge bei der Bekehrung der Juden seien der unzu-
reichenden, ja verfehlten Lehre der antichristlichen Papstkirche zuzuschreiben, fand
unter seinen Anhängern bereitwillige Aufnahme und stimulierte die Produktion einiger
Flugschriften, die Jesus als den von Israel erwarteten Messias zu erweisen suchten und
neue Gesprächsräume für eine reformatorische → Judenmission literarisch imaginier-
ten und insofern eröffneten. Luthers deutliche Absage an die traditionellen Anklage-
motive des Judenhasses – Brunnenvergiftung, Hostienschändung und Ritualmord –
fand unter seinen Anhängern breitere Zustimmung, so dass man bis in die frühen
1540er Jahre von einer eindeutigen, danach von einer vorherrschenden Distanz der ent-
stehenden reformatorischen Gesellschaften gegenüber diesen traditionellen, für die Ju-
den in der Regel lebensgefährlichen Momenten des → Antijudaismus ausgehen kann.
Die deutliche Absage an die Ritualmordlegende, die etwa Andreas Osiander 1529 in
einem Gutachten aussprach, lag auf der Linie der frühen Äußerungen Luthers. Dass
schon vor der Reformation stark verbreitete Schriften wie die „Epistola“ eines Rabbi
Samuel an einen Rabbi Isaak nun in der Volkssprache gedruckt wurden, bestätigt, dass
man die Kontinuitäten, die in der Judenfrage zwischen Spätmittelalter und Reformation
bestehen, nicht übersehen darf.
Wie die historischen Wirkungen von Luthers Appell, den Juden freundlich zu be-
gegnen, sie zu Handwerk, Handel und Bauernschaft zuzulassen, um ihren Zwang, als
Geldleiher ( → Wucherjude) tätig zu sein, zu beenden und sie durch die soziale Inte-
gration in das christliche Gemeinwesen zum Christentum „zu reizen“, im Detail einzu-
schätzen sind, ist schwer zu entscheiden. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass sich
die sogenannte Judenschutzpolitik der protestantisch werdenden Städte und Territorien
gegenüber der vorreformatorischen Zeit in nennenswertem Maße verändert hätte. Frei-
lich gibt es gewisse Anzeichen dafür, dass Luther infolge seiner Schrift von 1523 von
jüdischen Zeitgenossen als eine Art Hoffnungsträger gesehen wurde. Zeitweilig scheint
die von ihm ausgelöste reformatorische Bewegung auch auf die Intensivierung messia-
nischer Naherwartung in bestimmten jüdischen Milieus eingewirkt zu haben. Die 1523
in Form volkssprachlicher Flugschriften verbreitete alte Legende von den im Kaukasus
eingeschlossenen zehn Stämmen roter Juden, die am Ende der Zeiten Jerusalem befrei-
en und die Herrschaft Israels restituieren würden, dürfte nicht nur Juden in apokalypti-
sche Gespanntheit versetzt und für Messiasprätendenten wie David Re’ubeni einge-
nommen haben, sondern auch einzelne Christen und radikalreformatorische Randgrup-
pen stimuliert haben. Angesichts der im Einzelnen freilich nicht rekonstruierbaren Be-
teiligung jüdischer Rabbiner an der maßgeblich von Ludwig Hätzer und Hans Denck
verfassten Wormser Prophetenübersetzung, der gelegentlich in radikal-reformatorisch-
täuferischen Milieus begegnenden Distanzierung von trinitarischen und sühnopfertheo-
logischen Vorstellungen und der eigentümlichen Aufnahme kabbalistischer und mes-
sianischer Vorstellungen in der sektiererischen Kleinstgruppe um Augustin Bader wird
man im Ganzen berechtigt sein, zwischen den Radikalen der Reformation und einigen
Juden oder jüdischen Gruppen engere Verbindungen zu vermuten. In den Toleranzkon-
zepten und -appellen einiger Spiritualisten und Radikaler der Reformation wurde auch
288 Reformation
zugunsten einer allgemeinen Duldung der Juden argumentiert. Ob in der Absage der
etablierten Reformatoren an schwärmerische und „jüdische“ Lehren – etwa den Chi-
liasmus oder die in mährischen Täuferkreisen auftretende Sabbatheiligung (Sabbata-
rier) – zutreffende Bezugnahmen auf reale Interaktionen nachwirkten, dürfte fraglich
sein. Aus der Rechtfertigungstheologie Luthers entwickelte polemische Stereotypen jü-
discher „Werkgerechtigkeit“ brachten eine neuartige theologische Fokussierung schon
im → Neuen Testament grundgelegter Motive des Antijudaismus mit sich.
Stellen sich die Bewertungen und Haltungen gegenüber dem Judentum in der Früh-
phase der Reformation, d.h. bis ca. 1530, als vielstimmig, wohl gar diffus dar, so rück-
ten sie infolge des Aufbaus städtischer und territorialer reformatorischer Kirchentümer
seit dem vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in den Horizont gestaltender Verände-
rung und notwendiger Entscheidung. Denn die Papstkirche konnte man fortan nicht
mehr dafür verantwortlich machen, dass es nennenswerte Bekehrungserfolge an den
Juden nicht gab. Die Propaganda katholischer Kontroverstheologen, die Luther und
den Seinen anlasteten, dass die Judenheit durch sie in ihrem antichristlichen Treiben
noch bestärkt worden sei, trug mit dazu bei, einer repressiven protestantischen Juden-
politik den Weg zu bahnen. Luther war an dieser Entwicklung führend beteiligt; er
fühlte sich wegen seiner Schrift von 1523 persönlich dafür verantwortlich, dass die Ju-
den in ihrer Religion und damit – wie Luther gewiss war – in ihrer unablässig gegen
Christus und die Kirche gerichteten Blasphemie verharrten. Durch eine sehr erfolgrei-
che Schrift des Konvertiten Antonius Margaritha („Der gantz jüdisch glaub“, 1530)
konnte sich die reformatorische Öffentlichkeit in der Überzeugung bestätigt sehen, dass
alles Tun der Juden nur darauf ausgerichtet sei, Christen zu schaden und Christus zu
schmähen.
Die repressive Judenpolitik protestantischer Städte und Territorien, die in der Regel
an die bisherige Praxis erneut anknüpfte oder sie schlichtweg fortsetzte, war auch von
der Vorstellung bestimmt, dass es die Pflicht der politisch Verantwortlichen sei, den
Zorn Gottes über die Juden von den christlichen Gesellschaften abzuwenden. Indem
Luther Gerüchte jüdischer Proselytenmacherei aufnahm oder gar selbst aufbrachte, um
Durchzugs- und Bleiberechte von Juden in Kursachsen und darüber hinaus aufzuhe-
ben, setzte er sich an die Spitze einer dezidiert antijüdischen Politik, die in den späten
1530er und frühen 1540er Jahren deutlich an Boden gewann. Luthers obsessiver und
obszöner Judenhass, der sich insbesondere in seiner Schrift „Von den Juden und ihren
Lügen“ (1543) entlud und an menschenverachtender Gewaltbereitschaft hinter Ecks
die Ritualmordlegende verteidigender Schrift „Ains Judenbüchleins Verlegung“ (1540)
schwerlich zurückstand, erreichte zwar zeitweilig die Austreibung der Juden aus Kur-
sachsen und der Grafschaft Mansfeld, wurde aber weder im späteren 16. noch in den
folgenden Jahrhunderten die maßgebliche oder gar die einzige Position lutherischer
Theologie und Kirche zur Judenfrage. Vor dem Hintergrund endzeitlich zugespitzter
Bekehrungshoffnungen, die den Erwartungsdruck auf reformatorische Judenbekehrun-
gen in den 1520er Jahren gesteigert hatten, nahm sich die Rückkehr zur jahrhunderte-
alten „Normalität“ im Umgang mit den Juden, die seit den 1530er Jahren üblich wurde,
zwar als Wandel aus; faktisch aber bedeutete sie eine weitgehende Restauration der
vorreformatorischen Judenpolitik und des in ihr üblichen Changierens zwischen befri-
steter Duldung und Austreibung. Anklagen wegen Ritualmords, Hostienschändung
Reformation 289
Der Rekurs auf die Reformation und insbesondere Luthers späte judenfeindliche
Schriften im Kontext des völkisch-nationalsozialistischen Antisemitismus, der von ein-
zelnen deutschchristlichen Kirchenführern und Theologen initiiert bzw. mitgestaltet
wurde, entsprach keiner ungebrochen-kontinuierlichen Rezeptionsgeschichte, sondern
trat mit dem Anspruch auf, der jahrhundertelang unterdrückten Stimme des Reforma-
tors, eines „der größten Antisemiten aller Zeiten“, zum Durchbruch zu verhelfen. In
den deutschen evangelischen Kirchen der Nachkriegszeit wurde die Frage der christli-
chen Mitschuld am Holocaust und der reformationszeitlichen Wurzeln des modernen
Antisemitismus als integrales Moment ihres Selbstverständnisses thematisiert.
Thomas Kaufmann
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Johannes Wallmann, The Reception of Luther’s Writings on the Jews from the Reformation
to the End of the 19th Century, in: Lutheran Quarterly 1 (1987), S. 72-97.
Revisionismus
Unter „Revisionismus“ (von lat. revisere, erneut hinsehen) wird generell die Absicht
verstanden, als allgemein anerkannt und verbindlich geltende Erkenntnisse, Positionen
und Übereinkünfte in Frage zu stellen, neu zu bewerten und folglich zu verändern. Der
Revisionismus-Begriff wird in unterschiedlichen Kontexten sowie länderspezifisch mit
Revisionismus 291
unterschiedlichen Bedeutungen und Konnotationen sowohl als Selbst- als auch als
Fremdbezeichnung verwendet.
Eine der ersten Verwendungen des Begriffs findet sich in der innerparteilichen so-
zialdemokratischen Richtungsdiskussion Ende des 19. Jahrhunderts, als die Vertreter
einer radikalen Kritik an der marxistischen Theorie als Revisionisten bezeichnet wur-
den. Im Bereich des Völkerrechts bezieht er sich auf oftmals nationalistisch motivierte
Bestrebungen, rechtskräftige Verträge und vor allem Grenzverläufe abzuändern - be-
kanntestes Beispiel hierfür sind die Forderungen von deutscher Seite nach einer Revi-
sion des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg. Verbunden damit bildete sich
in den 1920er Jahren in den USA eine als revisionistisch bezeichnete historiografische
Traditionslinie heraus, die u.a. die von Regierungsstellen und in der Geschichtswissen-
schaft mehrheitlich postulierte Alleinschuld des Deutschen Reiches am Kriegsausbruch
strikt verneinte und stattdessen die anderen involvierten Mächte schwer belastete.
Auch wenn sich diese Minderheitenposition auf die Forschungsdiskussion anregend
und korrektiv auswirkte und sie als Teil der Geschichtswissenschaft gilt, wird ihr zu-
gleich aber auch vorgeworfen, mit ihrer Parteinahme politische und exkulpatorische
Absichten zu verfolgen. Im Weiteren verweist der Revisionismus-Begriff auch auf die
wissenschaftliche Methode der Revision, nach der sämtliche Grundannahmen, Theo-
rien und Forschungsergebnisse ständiger Überprüfung und Weiterentwicklung unterlie-
gen. Vor allem auf diese bestehende Forschungsparadigmen in Frage stellende Bedeu-
tungsdimension wurde zurückgegriffen, als in den 1970er Jahren verschiedentlich auch
die Vertreter der Strukturalismus-These zur Ingangsetzung des → Holocaust, die die
dominante Auffassung des auf Hitler zentrierten Intentionalismus kritisierten, als Revi-
sionisten bezeichnet wurden.
Seit den späten 1970er Jahren wird als Revisionismus aber überwiegend eine illegi-
time Form des Geschichtsrevisionismus verstanden, die zum Ziel hat, die Geschichts-
schreibung zur NS-Zeit und das daraus resultierende negative Geschichtsbild zu Gun-
sten des → Nationalsozialismus zu revidieren, indem dessen Führer entlastet, histori-
sche Ereignisse und die sie belegenden Quellen umgewertet, Verbrechen verharmlost,
beschönigt, relativiert, gerechtfertigt oder auch ganz oder teilweise bestritten werden.
Thematisch umfasst dieser Revisionismus, der als Extrempol die mittlerweile zum
Hauptgegenstand avancierte Beschäftigung mit dem Holocaust in Form der → Holo-
caustleugnung beinhaltet, auch sämtliche anderen Aspekte der NS-Zeit, darunter vor
allem die Schuldfrage des Zweiten Weltkriegs, Kriegsführung, Kriegsverbrechen,
Bombardierungen und Opferzahlen. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf der deutschen
Seite, sondern ebenso auf der der Alliierten.
Charakteristisch für diese Art Revisionismus ist die seit Mitte der 1970er Jahre deut-
lich verstärkte Vortäuschung von Wissenschaftlichkeit, etwa durch äußerlich-formale
Imitation historiografischer Werke, die Vorspiegelung akademischer Grade der Schrei-
ber oder den Aufbau von eigenen Institutionen, Zeitschriften oder die Abhaltung von
Kongressen. Zur Suggestion von Respektabilität stellen sich die Autoren mit ihrer
Selbstbezeichnung als „Revisionisten“ gezielt in die Tradition des als legitim anerkann-
ten Revisionismus und behaupten, wissenschaftlichen Grundsätzen und Gepflogenhei-
ten zu folgen. In vielen Fällen setzen Revisionisten mit oftmals berechtigten Ausgangs-
fragen gerade an den Stellen an, wo in der Tat Forschungslücken und Unklarheiten be-
292 Revisionismus
stehen, Fehler und Widersprüche in der Fachliteratur zutage treten und Kontroversen
existieren. Die revisionistischen Antworten hierauf zeichnen sich hingegen durch zahl-
reiche Techniken der Geschichtsfälschung aus, oft findet unverblümt antisemitische
Rhetorik Anwendung, werden Augenzeugenberichte pauschal als unglaubwürdig, er-
presst und/oder gefälscht diskreditiert, in ihrer Bedeutung heruntergespielt oder über-
bewertet, werden Quellen und Literatur selektiert, manipuliert und falsch zitiert oder
auch Dokumente und vermeintliche Gegenbeweise gefälscht.
Obgleich es in der Forschung große Vorbehalte gegen die Übernahme dieser auf Ir-
reführung angelegten Selbstbezeichnung gibt, wird der Begriff im deutschsprachigen
Raum mehrheitlich – zumeist jedoch mit Anführungszeichen – verwendet. Vor allem
in Frankreich ist stattdessen der Begriff „négationnisme“ (Negationismus) üblich, der
allgemein die Leugnung von Genoziden bezeichnet, aber wie „Holocaustleugnung“
nur einen Teilaspekt des Revisionismus umfasst. Gleichwohl wird der Revisionismus-
Begriff in vielen Fällen als Synonym für die pseudowissenschaftliche und oftmals auch
nur partielle Leugnung des Holocaust gebraucht – in Abgrenzung von der einfachen
und pauschalen Leugnung, die auf wissenschaftliche Verbrämung verzichtet.
Dieser weltweit verbreitete Revisionismus ist keine homogene Ideologie, sondern
subsumiert unterschiedliche Motivationslagen und sich mitunter in eklatanter Weise
widersprechende nationale Traditionsstränge des verfälschenden Umgangs mit der NS-
Zeit, die sich unmittelbar nach Kriegsende in Deutschland und Österreich, aber auch
vor allem in Frankreich und den USA herausbildeten. Die Hauptakteure besitzen in
den meisten Fällen einen akademischen Hintergrund, sind aber nur in Ausnahmefällen
studierte Historiker oder in benachbarten Disziplinen ausgebildet. Es handelt sich um
eine in jeder Hinsicht überaus heterogene Gruppe, die in erster Linie ihre antisemiti-
sche Einstellung eint und deren Vertreter in den meisten Fällen - aber nicht zwangsläu-
fig – auch eine rechtsextreme Motivation aufweisen. Ebenso ist der von ihnen propa-
gierte Revisionismus primär aufgrund seiner Konstruktion, die als tragende Pfeiler tra-
dierte antisemitische Ressentiments aufweist, als antisemitisch zu charakterisieren.
Ohne das besonders bei der Leugnung des Holocaust hervortretende Ressentiment ei-
ner → „jüdischen Weltverschwörung“, die systematisch Quellen fälsche, Aussagen er-
presse und durch marionettenhafte Historiker mittels Tabusetzungen und Einflussnah-
men die Geschichte zu Lasten Deutschlands und zugunsten „der Juden“ und Israels
(ver)fälsche, ist dieser Revisionismus nicht denkbar.
Zwischen einem solchen ideologischen Revisionismus und einer seriösen, wissen-
schaftlich fundierten Revision besteht eine Grauzone, die oftmals als Brücke zwischen
(rechts)konservativen und revisionistischen Geschichtsbildern fungiert und mit Hilfe
derer versucht wird, einschlägige Argumente in den Mainstream einzuführen. Als be-
kanntester Akteur in dieser Grauzone kann der einst anerkannte Historiker Ernst Nolte
gelten, der sich nicht nur revisionistischen Positionen mehr und mehr annäherte und
entsprechende Argumentationen übernahm, sondern sich auch lobend über scheinbare
wissenschaftliche Fertigkeiten von Revisionisten und Holocaustleugnern äußerte und
forderte, sie ernst zu nehmen und in den wissenschaftlichen Diskurs einzubeziehen.
Christian Mentel
Ritualmordbeschuldigung 293
Literatur
Brigitte Bailer-Galanda, „Revisionismus“ als zentrales Element der internationalen Vernet-
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des (Hrsg.), Das Netz des Hasses. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Propa-
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Wolfgang Benz, Abweichende Geschichtsinterpretation oder rechtsextremistische Ge-
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Alexander Ruoff, Verbiegen – Verdrängen – Beschweigen. Die Nationalgeschichte der „Jun-
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Pierre Vidal-Naquet, Die Schlächter der Erinnerung. Essays über den Revisionismus, Wien
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Ritualmordbeschuldigung
In der Ritualmordbeschuldigung wird den Juden vorgeworfen, dass sie, aus Hass gegen
Christus und die Christen, gemäß ihrer Lehre, unter Anleitung von Rabbinern, alljähr-
lich in der Osterzeit zur neuerlichen Verhöhnung der Passion Jesu ein unschuldiges
christliches Kind (meist einen Knaben) in ritueller Form ermorden (erste nachantike
Beschuldigung: 1144 in Norwich). Nach der Verkündung der Transsubstantiationslehre
durch das IV. Laterankonzil 1215 kam das Motiv der Blutentnahme hinzu.
Von England ausgehend, verbreitete sich die Ritualmordlegende über ganz Europa
(Schwerpunkte: England, Frankreich, Spanien, entlang von Rhein und Main, am Bo-
densee, im Alpenraum, ab dem 16. Jahrhundert in Polen). Unter dem Einfluss christli-
cher Missionare und antisemitischer Agitatoren wanderte die Beschuldigung ab dem
19. Jahrhundert in die Levante und löste regelmäßig Judenverfolgungen aus. Trotz der
Zurückweisung der Anklagen, Verbote und Proteste von Kaisern und einzelnen Päp-
sten wurden viele der angeblichen Mordopfer (in Europa lassen sich zwei Dutzend
Fälle nachweisen), teils mit Duldung der Kirche, teils volkskanonisiert als durch Wun-
der legitimierte Märtyrer verehrt.
Im Kern besagt die Legende: Ein Kind würde entführt oder gekauft, um ihm in lang-
wierigen Martern unter Schmerzen das Blut zu entziehen. Dieses Blut diene nach An-
sicht der Verfolger verschiedenen religiösen, magischen oder medizinischen Zwecken
und finde bei der Zubereitung der Mazzot Verwendung. Der mittelalterliche Aberglau-
ben berichtet davon, die Juden benötigten das Blut, um die Hörner zu beseitigen, mit
denen alle Judenkinder geboren werden, als Gegenmittel, um ihren ureigenen Judenge-
stank zu lindern, oder eine kleine Dosis Christenblut helfe als Medizin bei komplizier-
ten Geburten. Der Wahnglaube behauptet, dass Menschenblut der Gottheit angenehm
sei, vor allem, wenn es von einem unschuldigen Menschen stamme. Nach christlicher
Ansicht verliert ein getauftes Kind seine Unschuld allmählich, und deshalb machte die
Phantasie vorwiegend drei- bis zehnjährige Knaben zu Ritualmordopfern („innocens
virgo et martyr“). Bestärkt wurde diese Fiktion durch die Meinung, das Blut von Kna-
ben habe gegenüber Mädchenblut eine höhere Opferqualität. Verletzungen am Ge-
294 Ritualmordbeschuldigung
schlechtsteil der männlichen Opfer wurden als Anzeichen für eine Beschneidung ge-
deutet.
Im Inquisitionsprozess gegen die Juden von Trient (1475) folterten die Ankläger aus
ihren Opfern nicht nur ein „Mordgeständnis“ heraus, sondern bei den wiederholten ge-
waltsamen Vernehmungen erstellten sie das komplette Schema einer Ritualmordbe-
schuldigung. Durch Abschriften der Verhörprotokolle, im Druck, in Vers und Predigt,
im geistlichen und im weltlichen Spiel sowie als Illustration wurde die „jüdische Mis-
setat“ über ganz Europa verbreitet. Von nun an konnten in diesen Deutungsrahmen neu
produzierte Verdachtsmomente geschmeidig eingepasst werden.
Der → moderne Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, dessen Ideologie sich vom
christlich-theologischen Hintergrund löst, erfindet neue Behauptungen, die sich als Va-
riation des überkommenen Musters und so als neuerliche Bestätigung des Wahngebil-
des zu erkennen geben. Jetzt sind die Opfer primär nicht mehr Knaben und junge Män-
ner, sondern Christenmädchen und Jungfrauen. Die Anschuldigung lautet: sexuelle
Perversion, Blutschande und Schächtmord. In den mittelalterlichen Legenden waren
die Beschuldigten vor allem die Ältesten der Gemeinde und die Rabbiner. In der Neu-
zeit verdächtigte man zusätzlich den Religionslehrer, den Thora-Studenten, den Mohel
(Beschneider) oder den Schächter. Einst waren Beweise für rituellen Mord der von
Wunden übersäte Körper des Opfers, der Wohlgeruch, den seine Leiche verströmte,
der eigentümliche Lichtschein und die Mirakel, die von ihm ausgingen. In neuerer Zeit
gehörten zu den „typischen Merkmalen“ der Leiche die Blutleere des Körpers und der
„Schächtschnitt“.
Im Bestreben, ihre abstrusen Beschuldigungen plausibel zu halten, wurde von den
Judenfeinden jeder Einwand in eine Bestätigung umgedeutet. Wenn es sich um eine
verpflichtende Religionsvorschrift handelt, dann stellte sich die Frage, weshalb Ritual-
morde relativ selten, in manchen Weltgegenden gar nicht vorgekommen sind. Die anti-
semitische Antwort lautete: In einer geheimen Versammlung wählen die Vorsteher eine
Gemeinde aus, die stellvertretend für die gesamte Gemeinschaft das Ritual zu begehen
hat. Oder aber das Blut würde getrocknet aufbewahrt und in Flaschen an die Konsu-
menten versandt. Während der Damaskus-Affäre 1840 entstand die „Sektentheorie“,
die besagt, nicht alle Juden, sondern nur eine kleine, fanatische Elite ausgewählter
Männer seien in das talmudische Blutgeheimnis eingeweiht und begehe von Zeit zu
Zeit einen rituellen Mord. Ein kognitionstheoretischer Klassiker: Ein Verleumder, der
seine Behauptung nicht aufrecht erhalten kann, relativiert sie zur Ausnahme von der
Regel.
Rainer Erb
Literatur
Susanna Buttaroni, Stanislaw Musial (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Ge-
schichte, Wien u.a. 2003.
Jonathan Frankel, The Damascus Affair. „Ritual Murder“, Politics, and the Jews in 1840,
Cambridge 1997.
Helmut Walser Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer
deutschen Kleinstadt, Frankfurt am Main 2004.
Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen, Abläufe, Auswirkungen
(1475-1588), Hannover 1996.
Scholastik 295
Ritualmordlegende → Ritualmordbeschuldigung
Ritualmordvorwurf → Ritualmordbeschuldigung
Schacherjude → Wucherjude
Scholastik
Der Begriff „Scholastik“ (lat. schola, Schule) wird oft zur Charakterisierung mittelal-
terlicher Theologie und Philosophie gebraucht, bezeichnet aber streng genommen ei-
nen Prozess der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung, wie er spätestens seit
dem 12. Jahrhundert in allen wissenschaftlichen Disziplinen des Mittelalters, also auch
in der Medizin sowie im kanonischen und weltlichen Recht, zu beobachten ist. Er dient
daher in der Wissenschaftsgeschichte als Epochenbegriff und meint nicht nur eine be-
stimmte Methode oder Denkform. Gewöhnlich wird zwischen Vor- und Frühscholastik
(9.-11. Jahrhundert), Hochscholastik (12.-13. Jahrhundert) und Spät- bzw. Barockscho-
lastik (14.-16. Jahrhundert) unterschieden.
Dagegen ist die katholische Neuscholastik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als
ein bewusster Rückgriff auf mittelalterliche Autoren, insbesondere auf den als Kirchen-
lehrer verehrten Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), zu verstehen, um sich gegenüber
zeitgenössischen philosophischen und theologischen Konzepten abzugrenzen. Die
Scholastik des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist im Gegensatz dazu eng mit der
Entwicklung der städtischen Domschulen und Ordensstudien sowie der um 1200 ent-
stehenden Universitäten verbunden. Aus dem Bedürfnis, die zu vermittelnden Lehrin-
halte rational zu durchdenken, das vorhandene Wissen zu systematisieren und Wider-
sprüche in der überlieferten Tradition soweit wie möglich aufzulösen, entwickelte sich
eine neue Art wissenschaftlichen Arbeitens. Grundlage blieben zwar weiterhin – wie
schon in der herkömmlichen Schriftbetrachtung in den Klöstern – autoritative Texte
(Bibel, → Kirchenväter, Rechtssammlungen, antike Schriftsteller, insbesondere Aristo-
teles), die in Form von Glossen erklärt oder ausführlich kommentiert wurden; aber die
Scholastiker versuchten zugleich, den hinter dem Wortlaut (sensus) des Textes stehen-
den Sinn (sententia) zu erfassen. Sich ergebende Fragen (quaestiones) waren ausführ-
lich zu diskutieren und nach sorgfältiger Abwägung der Argumente für und wider zu
beantworten. Neben der Vorlesung (lectio) nahmen im akademischen Lehrbetrieb daher
öffentliche Disputationen einen breiten Raum ein.
Die konsequente Anwendung der Vernunft auf alle Wissensgebiete und Probleme,
auch auf Fragen des Glaubens, hatte einen starken Einfluss auf die christliche Theolo-
gie des lateinischen Westens, auch wenn die scholastische Theologie gerade in mona-
stisch geprägten Kreisen umstritten blieb. Der für die Scholastik typische Rationalisie-
rungsprozess wirkte sich aber auch auf das zeitgenössische Judentum aus. Für das 12.
Jahrhundert lassen sich beispielsweise erstaunliche Parallelen zwischen jüdischen und
christlichen Lernaktivitäten ausmachen, obgleich die wechselseitige Beeinflussung von
Juden und Christen unterschiedlich ausfiel. In Frankreich wurde an einigen jüdischen
Lehrhäusern ein Teil des Programms der Artistenfakultäten gelehrt und im 14. Jahrhun-
dert auch die scholastische Methode übernommen. Die mittelalterlichen Universitäten
blieben jüdischen Gelehrten jedoch weitgehend verschlossen: Zugang für Juden, ver-
bunden mit einem regulären Studium, gab es nördlich der Alpen faktisch gar nicht; an
296 Scholastik
daher meist in die Verteidigung gedrängt, konnten sich aber – wie beispielsweise 1263
in Barcelona – ihren christlichen Kontrahenten gegenüber behaupten. Als christliche
Diskutanten traten seit dem 13. Jahrhundert vor allem Mitglieder der neuen Bettelorden
auf, die eng mit dem städtischen Universitätsmilieu verbunden waren und zu entschie-
denen Vertretern der scholastischen Theologie wurden. Sie betrieben eine offensive →
Judenmission und trugen zur Verbreitung antijüdischer Vorurteile bei. Allerdings nah-
men auch sie in ihrer Einstellung zum Judentum keine einheitliche Haltung ein. Wäh-
rend Thomas von Aquin beispielsweise → Zwangstaufen und die Trennung jüdischer
Kinder von ihren Eltern aus theologischen Gründen strikt ablehnte, hielt sie der Fran-
ziskaner Johannes Duns Scotus (ca. 1265-1308) für erlaubt. Selbst innerhalb eines Or-
dens konnte es zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen kommen: Von der Tendenz,
den jüdischen Glauben zu häretisieren und zu dämonisieren reichte das Spektrum im
Dominikanerorden z.B. bis zu einer betont sachlichen Haltung und einem ausgeprägten
Interesse für jüdische Autoren, insbesondere für Moses Maimonides (ca. 1137-1204),
den Albertus Magnus und Thomas vielfach als Autorität anführen. Im Gegenzug ent-
wickelte sich in Italien und Spanien ein „jüdischer Thomismus“ bzw. eine „hebräische
Scholastik“, um mit der scholastischen Methode zu einer eigenständigen jüdischen
Antwort zu kommen. Obwohl sich in den Werken zahlreicher scholastischer Theologen
antijüdische Äußerungen nachweisen lassen, kann daher von einer generell judenfeind-
lichen Scholastik nicht die Rede sein, zumal es Ende des 13. Jahrhunderts zu einer wei-
teren Ausdifferenzierung der Scholastik in eine Vielzahl unterschiedlicher Schulen und
Schulmeinungen (Thomismus, Scotismus, Nominalismus etc.) kam.
Elias H. Füllenbach
Literatur
Anna Sapir Abulafia, Christians and Jews in the twelfth-century Renaissance, London, New
York 1995.
Marianne Awerbuch, Christlich-jüdische Begegnung im Zeitalter der Frühscholastik, Mün-
chen 1980.
Jeremy Cohen, Scholarship and Intolerance in the Medieval Academy: The Study and Eva-
luation of Judaism in European Christendom, in: American Historical Review 91 (1986),
S. 592-613.
Gilbert Dahan, Les intellectuels chrétiens et les juifs au Moyen Age, Paris 1990.
Rainer Christoph Schwinges, Zugang für alle? Jüdische Studenten und die mittelalterliche
Universität, in: Matthias Konradt, Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Juden in ihrer Um-
welt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009, S. 229-253.
Mauro Zonta, Hebrew Scholasticism in the Fifteenth Century. A History and Source Book,
Dordrecht 2006.
Schtetl
Schtetl ist die jiddische Bezeichnung für eine kleine Stadt mit einem relativ hohen jüdi-
schen Bevölkerungsanteil. Gleichzeitig steht es als Topos und Erinnerungsort symbo-
lisch für die typische Lebenswelt der osteuropäischen Juden vor ihrer Vernichtung.
Ein Schtetl konnte ein größeres Dorf oder eine kleinere Stadt sein und es verfügte
über die Infrastruktur des jüdischen Gemeindelebens: wenigstens eine Synagoge, ein
298 Schtetl
rituelles Bad (Mikwe), einen Friedhof, jüdische Schulen und die wichtigsten Institutio-
nen (wie z.B. die Gemeindeobrigkeit „Kahal“ oder die Beerdigungsbruderschaft), um
die elementaren religiösen Bedürfnisse der Gemeinde zu befriedigen. Juden, die in
kleineren Dörfern wohnten und nicht über diese Infrastruktur verfügten, waren Thema
zahlreicher Witze und Anekdoten. Auf der anderen Seite unterschied sich das Schtetl
von der Stadt durch die soziale Nähe und Kontrolle einer Gemeinde, in der jeder jeden
kannte und das Kollektiv den Einzelnen mit Spitznamen bedachte.
Reisebeschreibungen und Bildquellen lassen erkennen, dass die jüdischen Wohn-
quartiere im Schtetl beengt und die Häuser schadhaft waren. Zudem waren die Straßen
meist unbefestigt und sanitäre Ausstattung häufig nicht existent. Die meisten Häuser
waren aus Holz, auch wenn der reichste Mann im Schtetl durchaus ein Steinhaus am
Marktplatz haben konnte. Die Entstehung des Chassidismus im 18. Jahrhundert sorgte
für religiöse Trennlinien innerhalb der Schtetl, die ebenso bedeutend sein konnten wie
soziale Grenzen. Die Gemeindeoligarchie benachteiligte strukturell die Ärmsten, die
Ungebildeten und die Mädchen aus armen Familien, die durch die hohe Sozialkontrolle
(z.B. durch die Spitznamen) permanent an ihre niedrige gesellschaftliche Stellung erin-
nert wurden.
Schtetl waren häufig um einen zentralen Marktplatz herum erbaut. Während die Li-
teratur das Schtetl als jüdischen Mikrokosmos beschreibt, zeigt die historische Ana-
lyse, dass es nicht exklusiv jüdisch war. In den ostpolnischen Gebieten verfügte der
Marktplatz in der Regel über eine katholische Kirche. Vor allem an den Markttagen
strömten die Landbevölkerung (Ukrainer, Weißrussen, Litauer) und der polnische Adel
in die Kleinstadt. Auf dem Markt spielte sich ein Großteil der Kontakte zwischen jüdi-
scher und nicht-jüdischer Bevölkerung ab.
Einige Schtetl existierten bereits im 16. Jahrhundert. Der Aufstieg des Schtetl als
dominante Lebensform der osteuropäischen Juden datiert jedoch auf die Zeit nach der
polnisch-jüdischen Katastrophe der Kosakenaufstände von 1648. Nach den Teilungen
Polens (1772, 1793 und 1795) geriet die Mehrheit der Schtetl unter zarische Herr-
schaft, wo die Juden im → Ansiedlungsrayon einer restriktiven Gesetzgebung unter-
worfen waren. Durch diese Restriktionen sowie durch die → Pogrome geriet die
Schtetl-Bevölkerung im 19. Jahrhundert unter massiven Druck. Ein großer Teil über-
siedelte in die urbanen Zentren des Ansiedlungsrayons, andere flohen nach Westeuro-
pa, in die USA oder nach Palästina. Der Erste Weltkrieg führte die Schtetl-Bevölkerung
erneut in eine existentielle Krise. Der Ansiedlungsrayon wurde Schauplatz der Kriegs-
handlungen. Durch Krieg, Vertreibungen und Pogrome wurde tausende Bewohner der
Schtetl ermordet. Ein großer Teil der Schtetl wurde in der Sowjetunion Objekt kommu-
nistischer Modernisierungsprozesse. Die Schtetl wurden schließlich durch den → Ho-
locaust endgültig zerstört.
In der Erinnerung an den Holocaust wurde das Schtetl zu einem Topos, der eine ver-
lorene Welt symbolisierte, die brutal zerstört worden war. Es repräsentierte zudem eine
Art der Jüdischkeit, die in der modernen Welt keinen Platz mehr zu haben schien. Da-
mit knüpfte die kollektive Erinnerung nach dem Holocaust an die kulturelle Konstruk-
tion des Schtetl an, die bereits im 19. Jahrhundert begann. Der literarische Mythos des
Schtetl beschrieb eine exklusiv jüdische Gemeinschaft, in der ein traditionelles jüdi-
sches Leben die Herausforderungen der Moderne überdauerte. Die klassischen jiddi-
Schutzbriefe 299
schen Autoren (Sholem Aleichem, Mendele Moicher Sforim) zeichneten das Schtetl
als System aus Metaphern und Motiven, die es in einen jüdischen Geschichtsraum ver-
wandelten, der als solcher nie existiert hatte. Dennoch steht, wenn heute vom Schtetl
die Rede ist, meist diese Konstruktion und viel weniger das reale Schtetl zur Debatte.
Anke Hilbrenner
Literatur
Steven T. Katz (Hrsg.), The Shtetl. New Evaluations, New York 2007.
Schutzbriefe
Im 14. Jahrhundert ging das auf der → Kammerknechtschaft des Kaisers basierende
Judenregal an die Landesherren bzw. die Städte über. Neben dem Berg- und Zollregal
zählte es zu den ertragreichen Einkünften. Nach den Pestpogromen von 1348/49 gin-
gen die Städte, in denen sich Juden wieder ansiedelten, dazu über, die Rechte der ein-
zelnen Juden zu gewerblicher Betätigung in abgegrenzten topographischen und zeitli-
chen Rahmen gegen Zahlung einer bestimmten Summe festzuschreiben. Dies wurde in
sogenannten Schutzbriefen festgehalten. Die zeitliche Begrenzung ließ nach Ablauf
der Frist eine Kündigung zu. Der Schutzjudenstatus konnte aber auch durch neue ver-
tragliche Vereinbarungen verlängert werden. Die Juden erhielten dadurch den Status
minderberechtigter Einwohner der Stadt, waren damit aber auch gerichtsfähig. Vielfach
hatten sie als „Judenbürger“ einen Bürgereid abzulegen, der in das Bürger- oder Amts-
buch eingetragen wurde.
Der Schutzbrief bestimmte die Höhe der Geldsumme, die der Schutzbriefinhaber
jährlich an den Inhaber des Schutzregals entrichten musste. Die zeitliche Begrenzung
des Niederlassungsrechts schwankte zwischen zwei und sechs Jahren. Im Zuge einer
Verwaltungsvereinfachung gingen die Städte dazu über, den Judenschutz gegen Zah-
lung einer Kollektivsumme an die gesamte Judenschaft einer Stadt zu verleihen. Diese
Schutzbriefpraxis übernahmen in der Frühen Neuzeit auch die Landesherren für die Ju-
denschaften in ihren Territorien. Doch wurden an besondere jüdische Persönlichkeiten
auch weiterhin Einzelschutzbriefe verliehen. Aus den Bestimmungen der Kollektiv-
schutzverleihung gingen die „Judenordnungen“ hervor, die die Rechte der Juden stark
einschränkten und die Zahl der sich niederlassenden Juden beschränkte. Neben den
Zahlungen für den Schutz konnte der Stadt- bzw. Landesherr weitere außerordentliche
Abgaben von den Juden erheben, z.B. Heirats- oder Kriegsabgaben. In den geistlichen
Territorialstaaten kamen vielfach besondere Zahlungen beim Thronwechsel hinzu.
Auch der Kaiser konnte Sondersteuern von den Juden verlangen, z.B. eine Krö-
nungssteuer oder den „zehnten Pfennig“. Sie wurden von einem vom König ernannten
„Hochmeister“ für das ganze Reich eingetrieben.
Nach Verdrängung bzw. Vertreibung der Juden aus fast allen Reichsstädten und
zahlreichen Territorien im 15. und 16. Jahrhundert beschränkte sich der Judenschutz
häufig auf einzelne Adelssitze bzw. kleine Territorialstädte sowie die Reichsstadt
Frankfurt am Main. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg trat ein Wandel ein, als Bran-
denburg-Preußen wieder jüdische Niederlassungen zuließ. Das Generalreglement von
1750 regelte das Schutzrecht, indem es in ordentliche und außerordentliche Schutzju-
300 Sekundärer Antisemitismus
Sekundärer Antisemitismus
Schon 1946 hat Moses Moskovitz, ein amerikanisch-jüdischer Beobachter, neben dem
Fortleben älterer Motive in einem „Postwar Report“ eine neue Form des Antisemitis-
mus benannt: Solange den Deutschen der moralische Mut fehlt, die Konsequenzen der
nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden zu akzeptieren, werden sie versuchen,
den Ankläger zu verbannen und sie werden ihn als Störenfried denunzieren. Im Unter-
titel des Reports sprach er vom „enigma of the German irresponsibility“, erkannte also
gerade in der Abwehr jeder Verantwortung für das Geschehene eine typische und zu-
gleich rätselhafte Haltung der Deutschen.
Formen der Schuldabwehr und -umkehr, insbesondere die Verkehrung von Antise-
miten in Opfer und von Opfern des Antisemitismus in Täter, hat es schon vor 1945
gegeben, doch war die Situation nach dem → Holocaust insofern anders, als nun ein
monströses Verbrechen an den Juden geschehen war und sich die Frage nach den Tä-
tern und ihrer Schuld unabweisbar stellte. Die Vernichtung der Juden wird zum eigen-
ständigen Motiv für eine neue Erscheinungsform von Antisemitismus, dem „sekundä-
ren Antisemitismus“, den man auch als „Antisemitismus wegen Auschwitz“ bezeichnet
hat. Dem israelischen Psychoanalytiker Zwi Rex wird ein Satz zugeschrieben, der
diese Form sehr pointiert charakterisiert: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz
niemals verzeihen.“ Die Abwehr von Schuld wird seit 1945 zu einem Kernmotiv des
Antisemitismus vor allem in Deutschland und Österreich. Diese subtilere, indirekte
Form der Judenfeindschaft wird von ihren Vertretern selbst meist nicht als antisemi-
tisch motiviert verstanden.
In den frühen 1950er Jahren prägte Theodor W. Adorno für diese im berühmten
„Gruppenexperiment“ des „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ empirisch bestä-
tigte Einstellung zu Juden den Begriff des „Schuld- und Erinnerungsabwehr-Antisemi-
tismus“ bzw. 1959 den des „sekundären Antisemitismus“. Er meinte damit, dass Juden
als ein Kollektiv gesehen werden, das durch seine bloße Existenz die Erinnerung an
die NS-Verbrechen wachhält – genauer, die Erinnerung an den Antisemitismus und die
Schuld der Deutschen vor 1945. Die Juden werden zu „Störenfrieden der Erinnerung“
und damit selbst zu Produzenten des Antisemitismus gemacht, denn gäben die Juden
ihre Ansprüche an die Erinnerung der Verbrechen auf und versöhnten sich mit den
Deutschen, dann würde man auch seine negativen Einstellungen ihnen gegenüber auf-
geben.
Sekundärer Antisemitismus 301
Peter Schönbach hat in der empirischen Studie zu den „Reaktionen auf die antisemi-
tische Welle im Winter 1959/1960“ auf die psychologische Aporie der Antisemiten in
Deutschland nach dem Krieg hingewiesen, bei denen Rechtfertigungs- und Leug-
nungsreaktionen gleichermaßen vorhanden sind. Einerseits suchen antisemitisch Ein-
gestellte nach Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Anschauung, andererseits legen Be-
richte über die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden den Zusammenhang
ihrer Einstellung mit derartigen Verbrechen nahe, was sie über die Aktivierung von
Schuldabwehrmechanismen agieren müssen. Berichte über antisemitische Ereignisse
lösen so nach Schönbach zwei gegenläufige Reaktionen aus: eine Bestätigung des ei-
genen Antisemitismus (Umschau nach Gleichgesinnten) und zugleich eine Bagatelli-
sierung der Vorfälle, um die eigene Einstellung nicht in die öffentliche Kritik geraten
zu lassen. Schönbach verwendet den Begriff „Sekundärantisemitismus“ allerdings auch
noch in einem anderen Sinne: Er bezeichnet damit eine Trotzreaktion, in der die nach-
geborene Generation die „traditionellen antisemitischen Vorstellungen, seien es die eig-
nen oder die der Eltern, um ihrer Rechtfertigung willen am Leben erhält“. D.h., der
Jugendliche übernimmt die Vorurteile der Eltern, um sein Bild von ihnen rein zu erhal-
ten.
Von den frühen Diskussionen um deutsche Schuld an sind bis heute – nunmehr kei-
neswegs auf Deutschland begrenzt – bestimmte Muster der Abwehr zu erkennen, deren
Gewicht über den historischen Zeitraum hin variiert: 1) die Leugnung bzw. Relativie-
rung des Holocaust, oft verbunden mit der Abspaltung der Verantwortung und deren
Zuschreibung auf eng begrenzte Tätergruppen (Hitler, die SS, Kollaborateure) oder
den Hinweis auf andere → Genozide; 2) Formen der Aufrechnung: a) Juden wird eine
Mitschuld an Hass und Verfolgung gegeben; b) es wird ein umfassendes Opferkollek-
tiv gebildet durch Verweis auf die Leiden der Deutschen (oder anderer Völker); c) es
gibt eine indirekte Aufrechnung durch die Konstruktion der Juden als „Tätervolk“. So
kann der → Antizionismus als eine Form des „sekundären Antisemitismus“ bezeichnet
werden, wenn im antiimperialistischen Weltbild „Juden-Zionisten“ als Mitverschwörer
des „Weltimperialismus“ gelten; 3) Thematisierungsverweigerung: a) die Forderung
nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit; b) die Negierung der Existenz von
Antisemitismus; 4) die moralische Diskreditierung der Ansprüche von Opfern, indem
rein finanzielle oder machtpolitische Motive für das Wachhalten der Erinnerung an die
NS-Verbrechen oder die Kritik am aktuellen Antisemitismus unterstellt werden.
Der „sekundäre Antisemitismus“ kann wiederum einem historischen Formenwandel
unterliegen. Nach Ilka Quindeau hat der Schuldabwehrantisemitismus seit Mitte der
1990er Jahre eine andere Form angenommen. Hatte die Tätergeneration ihre Schuld
abgewehrt und verleugnet, auch indem Schuldgefühle an die nachfolgenden Generatio-
nen weitergegeben und die Schuldbearbeitung delegiert wurde, so würden diese Gene-
rationen die Schuld anerkennen und ihre nationale Identität in einem „selbstkritischen
Deutschland“ sehen, hätten zugleich aber dadurch auf Erlösung oder Entlastung ge-
hofft, die nicht eingetreten sei. Der sekundäre Antisemitismus beruhe damit heute nicht
mehr auf der Abwehr von Schuld und Erinnerung, sondern auf deren Anerkennung,
die nach Entlastung sucht und sie nicht findet. Er artikuliere sich in Reaktionsformen,
die trotz der differenten Motivbasis den Schuldabwehrmechanismen in einigen Punk-
ten ähneln: negative Reaktionen auf fehlende jüdische Versöhnungsbereitschaft, aller-
302 Selektion
gische Reaktionen, wenn Juden auf den fortdauernden Antisemitismus hinweisen oder
in der Suche nach „jüdischen Tätern“.
Werner Bergmann
Literatur
Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, in: Eine qualitative Analyse zum ‚Gruppenexperi-
ment’, in: Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften II, Gesammelte Schriften, Band
9.2, Frankfurt am Main 1975.
Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Theodor W. Adorno,
Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 105-133.
Werner Bergmann, „Störenfriede der Erinnerung“. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in
Deutschland, in: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literari-
scher Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart, Weimar 2007, S. 13-35.
Thomas Haury, ‚Das ist Völkermord!’ Das ‚antifaschistische Deutschland’ im Kampf gegen
den ‚imperialistischen Brückenkopf Israel’ und gegen die deutsche Vergangenheit, in: Ex-
klusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, hrsg. von Matthias Brosch, Mi-
chael Elm u.a., Berlin 2006, S. 285-300.
Moses Moskovitz, The Germans and the Jews: Postwar Report. The Enigma of German Irre-
sponsibility, in: Commentary, Vol. II, Nr. 1, July 1946, S. 7-14.
Ilka Quindeau, Schuldabwehr und nationale Identität. Psychologische Funktionen des Anti-
semitismus, in: Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, hrsg. von
Matthias Brosch, Michael Elm u.a., Berlin 2006, S. 157-164.
Peter Schönbach, Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959/1960, Frankfurt
am Main 1961.
Selektion
Entlehnt dem Vokabular der Abstammungslehre beschrieb der Begriff Selektion wäh-
rend des Dritten Reiches die teils nach Kriterien der NS-Ideologie, teils willkürlich
vollzogene Zuordnung von Menschen in die Kategorie „wert“ und „unwert“, wobei
letztere für die Betroffenen in der Regel das Todesurteil bedeutete. Mit Selektion in
Zusammenhang stehende oder selektionsähnliche Vorgänge waren bereits vor der Er-
mordung unliebsamer Gruppen immanenter Bestandteil der Stigmatisierung und Aus-
grenzung, wie die Trennung von „Juden“ und „Halbjuden“ auf der Basis der „Nürnber-
ger Gesetze“ und die Aussonderung von „erblich Kranken“ oder „Schwachsinnigen“
im Rahmen der Zwangssterilisierung und der → „Euthanasie“ belegen.
Im zeitgenössischen wie gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff in erster
Linie auf die Situation in Auschwitz-Birkenau bezogen, wo nach der Ankunft der Op-
fer an der berüchtigten Rampe eine Trennung in Arbeitsfähige und nicht Arbeitsfähige
vorgenommen wurde. Im Nationalsozialismus erfüllte der Begriff eine Doppelfunkti-
on: Zum einen umriss er die rassenpolitischen Zielvorstellungen des Staates, dessen
Bevölkerung einer ebenso radikalen wie permanenten „Ausmerze“ unterliegen sollte.
Zum anderen diente Selektion – wie → „Endlösung“, → „Sonderbehandlung“ oder
Umsiedlung – zur Verschleierung politischer und moralischer Verantwortlichkeiten im
Rahmen der Massenvernichtung. Offiziell wurde „selektiert“, nicht gemordet; die Täter
Shoah 303
Shoah
Die Bezeichnung von Verfolgungen mit einem einzelnen aussagekräftigen Begriff hat
in der jüdischen Tradition verschiedene Vorgänger. Die hebräischen Berichte zu den
Verfolgungen während des ersten Kreuzzuges 1096 sprechen von „Geserah“ (Verfol-
gung). Das Ende der mittelalterlichen Wiener Gemeinde 1421 wird entsprechend der
Formulierung der Überlieferung als „Wiener Geserah“ bezeichnet. In anderen Zusam-
menhängen heißt es traditionell „Churban“ (Zerstörung, Katastrophe) in Anlehnung an
die Zerstörung des Ersten Tempels („Churban Beit“). Dieser Begriff unterstreicht die
Wiederkehr von Verfolgungen und ihre religiöse Dimension. Der biblisch abgeleitete,
aber eher säkulare und auf die Einzigartigkeit des Geschehens verweisende Begriff
„Shoah“ (Schrei um Hilfe, Ex 2,23: der Söhne Israels; I Sam 5,12: der Philister; ferner
öfter in Propheten und Psalmen) spielt in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
jüdischen Memorialüberlieferung keine Rolle; er hat sich aber zunächst in Israel seit
den späten 1940er Jahren (Nennung in der Unabhängigkeitserklärung von 1948) als
Bezeichnung für die Judenverfolgung der Nationalsozialisten durchgesetzt. Zunächst
keine offizielle Bezeichnung, hat Shoah mit der Benennung des 1951 eingeführten Ge-
denktages an die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit als „Yom ha‘(siqaron le‘)Shoah“
(Shoah-Tag) am 27. Nissan jedes jüdischen Kalenderjahres an Verbindlichkeit gewon-
nen. Er ist mittlerweile, auch außerhalb jüdischer Gemeinden, weltweit zu einem gän-
gigen Begriff neben → Holocaust geworden.
Der „Yom ha’Shoah“ ist kein religiöser Gedenkfeiertag im eigentlichen Sinn, etwa
mit eigener Gebetsordnung, nimmt aber im gesellschaftlichen Leben in Israel wie auch
im Jahreskreis der jüdischen Gemeinden der → Diaspora einen zentralen Platz ein und
wird auf vielfältige Weise begangen. Dabei ist Shoah in Israel ein sich selbst erklären-
der, ansonsten aber, besonders im nicht-jüdischen Kontext, ein Begriff mit umschrei-
bender und gelegentlich auch verunklarender Tendenz. Für Deutschland füllen beide
Begriffe, Holocaust und Shoah, aber auch Auschwitz und alle daran geknüpften Be-
griffe, seit den späten 1970er Jahren eine Leerstelle aus: es ist im Deutschen kein eige-
ner Begriff entstanden, der den nationalsozialistischen zynischen Euphemismus →
„Endlösung der Judenfrage“ angemessen ersetzte. So wurden nach 1948 entweder di-
stanzierende Umschreibungen eingesetzt („Schicksal“, „Leid“, „Verfolgung“) oder –
wo die Ereignisse beim Namen genannt wurden – Reihungen vorgenommen: „[die Op-
fer wurden] ... ermordet ..., vergast, verbrannt, erschossen, zu Tode geprügelt oder [ha-
ben] die unmenschliche Behandlung im Konzentrationslager nicht überstanden“ (Theo-
dor Heuss, Unsere jüdischen Mitbürger). Mehr als 60 Jahre nach dem millionenfachen
Mord an den europäischen Juden erscheint es unwahrscheinlich, dass künftig ein dem
304 Sonderbehandlung
Sonderbehandlung
Als „verhehlender Euphemismus für Massenmord“ (Sternberger, Storz, Süskind) war
der Begriff eng mit der Vernichtung von Gegnern des Nationalsozialismus verbunden.
Ursprünglich wurde „Sonderbehandlung“ sowohl von Staats- und Parteiinstanzen wie
auch von den Betroffenen durchaus wörtlich als von üblichen Rechts- oder Verhaltens-
normen abweichende Behandlung verstanden, wobei deren reale Bedeutung aufgrund
der Nebelhaftigkeit des Kompositums zunächst unklar blieb. Prinzipiell durchaus posi-
tiv (im Sinne einer Vorzugsbehandlung) interpretierbar, implizierte der Begriff aller-
dings schon in der Anfangsphase der NS-Herrschaft eine extrem einseitige Sozialbezie-
hung, die auf der angenommenen, politisch oder rassisch hergeleiteten Ungleichheit
von Handelndem (dem Staat, der Partei und ihren Sachwaltern) und Behandeltem
(„Reichsfeinden“ und „Gegnern“ unterschiedlichster Art) basierte. Ihre erste Anwen-
dung im Sinne physischer Vernichtung fand die „Sonderbehandlung“ außerhalb tradi-
tioneller Bereiche staatlicher Machtausübung und Gewaltmonopolisierung, wobei dem
SS- und Polizeiapparat besondere Bedeutung zukam. Gehörte in den Konzentrationsla-
gern die als „Selbstmord“ oder „Fluchtversuch“ verschleierte Tötung von Gefangenen
frühzeitig zum Alltagsgeschehen, so wurde sie im September 1939 von Heydrich im
Interesse „der inneren Staatssicherung während des Krieges“ zur Standardmethode im
Umgang mit „volks- und reichsfeindlichen“ Bestrebungen erhoben. Die von Berliner
Zentralinstanzen erlassenen Rahmenrichtlinien zu Exekutionen in den Konzentrations-
lagern waren diffus genug, um sowohl den willkürlichen, der Eigeninitiative nachge-
ordneter Funktionsträger überlassenen Mord als auch systematische Liquidierungen in-
nerhalb und außerhalb der Konzentrationslager zu legitimieren. Derartige „Aktionen“
richteten sich gegen kranke, nicht arbeitsfähige oder aus anderen Gründen für lebens-
unwert befundene Häftlinge, sowjetische Kriegsgefangene, „Zigeuner“, „Asoziale“,
Homosexuelle und Juden.
Im Kontext des Judenmordes war der Begriff – anders als andere Tarnbezeichnun-
gen wie „Judenaktion“ oder „Umsiedlung“ – in doppeltem Sinn irreführend: er ver-
schleierte nicht nur den Massenmord, sondern gab ihm den Anschein des prozedural
Außergewöhnlichen noch dann, als die unterschiedslose Vernichtung von Männern,
Frauen und Kindern längst gängige Praxis war. In seiner Funktion als Geheimcode ver-
lor der Begriff im Laufe der Zeit an Bedeutung und musste durch andere Chiffren er-
setzt oder ergänzt werden. Dies lässt sich zum einen an seiner Übernahme in das büro-
kratische Vokabular staatlicher Instanzen wie des Außen- und Justizministeriums, zum
anderen an einer Weisung Himmlers vom Frühjahr 1943 ablesen, der zufolge in einem
Bericht des SS-Statistikers Korherr zur „Endlösung“ statt von „Sonderbehandlung der
Sozialdarwinismus 305
Juden“ davon gesprochen werden sollte, die Juden seien durch die Lager im Osten
„durchgeschleust“ worden. Wenngleich – statt für den öffentlichen Diskurs – als Mittel
interner Sprachregelung konzipiert, erfüllte „Sonderbehandlung“ eine legitimatorische
Schlüsselfunktion für die Täter, den in die Vernichtung involvierten Verwaltungsappa-
rat und für die deutsche Gesellschaft insgesamt: als terminologisches Konstrukt, mit
dem sich die mörderische Normalität als „besondere“, zeitlich wie konzeptionell be-
schränkte Maßnahme ausgeben ließ.
Jürgen Matthäus
Literatur
Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main
1993.
Dolf Sternberger, Gerhard Storz, W. E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen,
München 1962.
Sozialdarwinismus
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum und in
Deutschland entstandene Strömung der Sozialphilosophie gehört zu den ideenge-
schichtlichen Quellen nationalsozialistischer Weltanschauung. Die Sozialdarwinisten
wendeten die von Charles Robert Darwin 1859 in seinem Hauptwerk „On the Origin
of Species by Means of Natural Selection“ beschriebene Entwicklungstheorie der na-
türlichen Auslese in der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft an.
Darwins These von der Durchsetzung der jeweils am besten angepassten Art erfuhr
eine Umdeutung zum Überleben des Stärksten in der Gesellschaft bzw. der Höchstent-
wickelten. Durch den Einfluss der → Rassentheorien, die davon ausgingen, dass geisti-
ge und seelische Qualitäten von unterschiedlichem Erbgut verschiedener Rassen ab-
hängen, wurde der Gedanke der → Selektion zunehmend prägender: Durch medizini-
schen Fortschritt, Hygiene und Sozialversicherung, so die sozialdarwinistische These,
würden schwache und lebensuntüchtige Menschen am Leben gehalten. Weil diese sich
stärker vermehrten als Träger hochwertigen Erbgutes, degeneriere eine Nation oder
Rasse und könne sich im Kampf ums Dasein nicht mehr behaupten. Daraus ergebe sich
die Notwendigkeit zu „Rassenhygiene“ (Erbgesundheitslehre). Sie müsse die Fort-
pflanzung minderwertigen Erbgutes verhindern und die Vermehrung des hochwertigen
fördern. Sowohl sozialistische als auch bürgerliche und völkische Denker griffen den
Sozialdarwinismus in verschiedenen Variationen auf. In Deutschland verbreiteten ihn
u.a. der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) und – radikaler – der Germanist Alexan-
der Tille (1866-1912). Rassismus und Imperialismus fußten in ihren Rechtfertigungs-
theorien auf dem Sozialdarwinismus. Hitlers „Mein Kampf“ ist geprägt von einer vul-
gärdarwinistischen Sicht gesellschaftlicher Probleme. Nationalsozialistische Bevölke-
rungspolitiker setzten die Thesen des Sozialdarwinismus um: Sie förderten einerseits
erwünschte Geburten und betrieben andererseits die „Ausmerzung“ unerwünschten
Erbgutes durch Sterilisation, → „Euthanasie“ und → Genozid.
Peter Widmann
306 Sozialismus
Literatur
Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedan-
ke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart, New York 1990.
Hannsjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das im-
perialistische Denken, München 1973.
Sozialismus
Judenfeindliche Denkströmungen, obgleich dem Grundanliegen des Sozialismus wi-
dersprechend, sind mit dessen Beginn als politische Bewegung nachweisbar, ebenso
jedoch die Solidarität mit den verfolgten und diskriminierten Juden. Frühe Aussagen
von Marx lassen eine Ablehnung der Juden als gesellschaftliche Gruppe erkennen, die
nicht nur von seinen Gegnern als Antisemitismus gedeutet wurde. In seinem Aufsatz
„Zur Judenfrage“ betonte Marx 1844, der Kampf um die Herbeiführung bürgerlich-de-
mokratischer Verhältnisse verlange weder von Juden noch von Christen die Aufgabe
ihrer Religion. Das von seinem Widersacher Bruno Bauer auf theologischer Ebene be-
handelte Problem wollte Marx auf die weltliche Ebene verschieben und wählte als Ge-
genstand seiner Untersuchung nicht den „Sabbatsjuden“, sondern den „Alltagsjuden“.
Marx identifizierte den „weltlichen Grund“ des Judentums mit „praktischem Bedürf-
nis“ und „Eigennutz“, den „weltlichen Kultus“ des Juden mit „Schacher“, den „welt-
lichen Gott“ mit „Geld“. Er folgerte, dass „die Emanzipation vom Schacher und vom
Geld, also vom praktischen realen Judentum“ notwendigerweise „die Selbstemanzipa-
tion unserer Zeit“ sei. Marx ignorierte die Tatsache, dass ein Großteil der Juden keines-
wegs in der Zirkulationssphäre, etwa im Bankwesen, tätig war. Doch mischten sich
auch später Aversionen in seine beiläufigen Äußerungen über Juden. Dies zeigte sich
z.B. in einer – nichtöffentlichen – Bemerkung über Ferdinand Lassalle in einem Brief
an Engels. Am 30. Juni 1862 schrieb Marx, es sei ihm völlig klar geworden, dass Las-
salle, wie auch dessen „Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, – von den Negern
abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten angeschlossen hatten (wenn nicht
seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem nigger kreuzten).“
Lassalle selbst schrieb in einem Privatbrief, er hasse zwei Sorten von Menschen, Ju-
den und Literaten, und er „habe das Unglück, beides zu sein“. Antijüdische Stereotype
finden sich auch bei nichtjüdischen deutschen Sozialisten, so bei Johann Baptist
Schweitzer, Wilhelm Hasselmann, Franz Mehring, Wolfgang Heine bis hin zu Gustav
Noske, bei Letzterem sogar nach Auschwitz, womit er aber die absolute Ausnahme
darstellt. Eugen Dühring, der zeitweise als Sozialist auftrat, war zugleich ein rabiater
Antisemit, dem Friedrich Engels schließlich öffentlich entgegentrat.
Weit stärker als in Deutschland existierte im französischen Sozialismus ein Gedan-
kengut, das Judentum mit Kapitalismus gleichsetzte. Neben Pierre Leroux und Charles
Fourier war es besonders Pierre-Joseph Proudhon, der die Deportation der Juden nach
Asien verlangte. Solche Stimmen waren noch in den 1890er Jahren zu finden, so bei
den Blanquisten, bei Benoît Malon und dem Kreis um die „Revue Socialiste“. Für Al-
bert Regnard und Gustave Tridon waren die Juden die Feinde der arischen Rasse. Der
Antisemitismus unter französischen, belgischen und emigrierten russischen Sozialisten
und Anarchisten reichte bis zur Forderung nach Entzug der Staatsbürgerschaft (Ed-
Staat im Staate 307
mond Picard) und zur Rechtfertigung von Gewalt (Georges Duchêne). Michail Baku-
nin nannte die Juden „eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fres-
senden Parasiten“. Hingegen waren die Saint-Simonisten judenfreundlich eingestellt,
da sie Handel und Bankwesen, die auch sie mit dem Judentum identifizierten, als Weg-
bereiter des wirtschaftlichen Fortschritts ansahen.
Die Wende brachte ab 1894 der Dreyfus-Prozess. Besonders Jean Jaurès sah die ge-
fährliche Mischung aus Antisemitismus, Militarismus und Demokratiefeindschaft unter
der französischen Rechten. „Noch nie war die Republik in einer solchen Gefahr; lässt
man den Generalen freie Hand, so gibt es bald keine Sozialisten und Republikaner
mehr“, schrieb er. Der späte Friedrich Engels, August Bebel, Karl Kautsky und Eduard
Bernstein gehörten zu den prominenten Stimmen auf der Linken, die den Antisemitis-
mus als unvereinbar mit demokratischen und sozialistischen Werten bezeichneten.
Zwar gab es noch antisemitische Ressentiments, so auch unter britischen Sozialisten.
Doch die Pogromwellen im Russischen Zarenreich bewogen die Zweite Internationale,
die noch 1891 „anti- und philosemitische Bestrebungen“ abgelehnt hatte, auf ihrem
Amsterdamer Kongress 1904, den Judenhass zu verurteilen und zum Sturz des antise-
mitischen Zarenregimes aufzurufen. Fortan – und bis zum stalinistischen Antisemitis-
mus – waren judenfeindliche Auffassungen in allen Strömungen der Arbeiterbewegung
verpönt.
Mario Keßler
Literatur
Hans-Gerd Henke, Der „Jude“ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie,
Mainz 1994.
Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich. Die
Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des
Antisemitismus 1871-1914, Bonn 1978.
Karl Marx, Zur Judenfrage [1844], in: MEW, Band 1, S. 347-377.
Karl Marx, Brief an Friedrich Engels [1862], in: MEW, Band 30, S. 257-329.
Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1961.
Staat im Staate
Das politische Schlagwort vom „Staat im Staate“ („status in statu“), das sich auch in
anderen europäischen Sprachen findet, bezeichnet in kritischer Absicht Gruppen, die
sich tatsächlich oder angeblich gegenüber der Regierung eines Staates nicht oder nur
eingeschränkt loyal verhalten und nur ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Jacob Katz
hat die Begriffsgeschichte dieses „antisemitischen Slogans“ erforscht und lokalisiert
dessen Ursprung in der Entwicklung des Konzepts vom modernen Staat und der Vor-
stellung von der absoluten staatlichen Souveränität, die keine anderen zivilen oder
kirchlichen Gewalten neben sich dulden kann, wie es von den Staatstheoretikern Sa-
muel Pufendorf, Hugo Grotius und Jean Bodin entwickelt worden ist. Katz findet einen
frühen Beleg für diese Begriffsverwendung in der Schrift „Institutions politiques“ von
Baron de Bielfeld von 1760 und betont, dass es sich um einen „politischen Slogan“
308 Staat im Staate
handelt, der demjenigen, gegen den er sich wendet, vorwirft, durch seine Existenz mit
dem Wesen des Staates in Widerspruch zu stehen. Dieser Vorwurf hat sich historisch
gegen verschiedene Gruppen gerichtet, zuerst gegen die Hugenotten und ihre Sonder-
rechte nach dem Edikt von Nantes. Nachdem der Begriff in Gebrauch gekommen war,
hat sich der darin implizierte Vorwurf in mehreren europäischen Staaten Mitte des 18.
Jahrhunderts gegen die Jesuiten gerichtet, die angeblich einen getrennten „Staat im
Staate“ bilden wollten; etwa gleichzeitig waren auch die Freimaurer Ziel solcher An-
schuldigungen, die sich aber auch gegen die intermediären Körperschaften der alten
Ordnung richteten, wie die Kaufmanns- und Handwerkerzünfte und -gilden.
Der Begriff war schon ein halbes Jahrhundert in Gebrauch, bevor er 1779 erstmals
von dem französischen Judengegner François Hell in Bezug auf die Juden im Elsass
verwendet wurde („C´est une nation dans la nation; c´est dans un grand État un petit
État“), allerdings warf er ihnen nicht vor, staatliche Funktionen usurpieren zu wollen,
sondern, dass sie sich etwas aneigneten, was ihnen nicht gehörte. Hintergrund waren
gefälschte Bescheinigungen, mit denen elsässische Bauern versuchten, die Rückzah-
lung von Schulden an Juden zu vermeiden. Seit den 1780er Jahren wurde der Begriff
im Kontext der Emanzipationsdebatte verwendet, in der man den Juden vorwarf, sich
vom Rest der Menschheit abzusondern, an ihrer Religion festzuhalten und einem eige-
nen Rechtssystem zu unterliegen. Dabei tritt auch das Moment der geheimen Verbin-
dung der Juden untereinander auf: Ein anonymer Autor schrieb 1790 im „Journal von
und für Deutschland“, dass die Judenschaft das Ziel verfolge, „in dem Staat, wo sie
geduldet wird, einen heimlichen Staat unter sich zu bilden“. Es ist kein Zufall, dass
dieser Vorwurf erst in der Emanzipationsdebatte in Gebrauch kam, da die kommunalen
Institutionen der Juden im „ancien régime“ nichts Besonderes gewesen waren und zu-
dem auch ihre Parallele in christlichen Korporationen hatten (Kirche, Armee, Adel,
Zünfte). Erst mit dem Anspruch des modernen Staates auf völlige Souveränität und
durch die Abschaffung aller intermediären Instanzen wurde die jüdische Selbstverwal-
tung zum „Problem“.
In den Kanon antisemitischer Vorwürfe wurde die Formel vom „Staat im Staate“
durch Johann Gottlieb Fichte eingeführt, den spätere Antisemiten immer wieder zitier-
ten. In seiner 1793 anonym publizierten Schrift „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile
des Publikums über die französische Revolution“ spitzte er den Vorwurf, die Juden bil-
deten einen „Staat im Staat“ antisemitisch zu, da er diesem jüdischen „Staat“ eine
feindselige Absicht unterstellte: „Fast durch alle Länder Europas verbreitet sich ein
mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege
steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Juden-
thum. Ich glaube nicht, und ich hoffe es in der Folge darzuthun, dass derselbe dadurch,
dass es einen abgesonderten und so fest verketteten Staat bildet, sondern dadurch, dass
dieser Staat auf dem Haß des ganzen menschlichen Geschlechts aufgebaut ist, so fürch-
terlich werde.“ Dieser Text Fichtes ist Ausdruck der Befürchtung, dass die Juden durch
die → Emanzipation vom gesellschaftlichen Rand ins Zentrum rückten, ohne ihren
„esprit de corps“ aufzugeben, was sie in seinen Augen zu einer gefährlichen Sonder-
gruppe machte. Seit Fichte fehlt der Vorwurf des „Staates im Staate“ in kaum einer
öffentlichen Debatte über die → „Judenfrage“. Er findet sich im antisemitischen
Schriftenstreit von 1803-1804 (Friedrich Paalzow, Karl Wilhelm Friedrich Grattenau-
Stereotype 309
er), in Überlegungen von Regierungen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
und in Schriften der deutschtümelnden Nationalisten nach 1815, teils auch in der abge-
wandelten Fassung „Nation in der Nation“.
Obwohl die Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts sich immer stärker akkulturierten
und als „Nation“ immer mehr verschwanden, operierte auch der → moderne Antisemi-
tismus mit diesem Vorwurf. Wilhelm Marr schrieb in seinem „Judenspiegel“ 1862 da-
von, dass die Juden eine „Nationalität in der Nationalität, Staat im Staate, Gesellschaft
in der Gesellschaft“ konstituierten. Doch nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich,
Rumänien, Ungarn oder dem Zarenreich, hier ist vor allem das einflussreiche Buch
von Jakob Brafmann „Das Buch vom Kahal“ von 1869 zu nennen, das in einer deut-
schen Bearbeitung von Arno Franke 1930 unter dem Titel „Staat im Staate. Das Wesen
des jüdischen Geheimbundes auf Grund der Brafmannschen Kahal-Akten gemeinver-
ständlich dargestellt“ im Hammer Verlag erschien, wurde dieser Topos von führenden
Antisemiten wie Éduard Drumont, Adolf Stoecker, Victor Istóczy verwendet. Der To-
pos fand auch Eingang in Theodor Fritschs „Handbuch der Judenfrage“, in dem sich
das Fichte-Zitat und ein längerer Abschnitt über das Buch Brafmanns finden. In der
Ausgabe von 1944 gibt es eine Variante des Topos: statt von einer Gegenrasse möchte
der Autor in Bezug auf Juden von einem „Gegen- bzw. Unstaat“ sprechen. Während
der NS-Zeit erschien 1940 eine Broschüre von Kurt E. Wolff unter dem Titel „Staat im
Staate“, mit dem bezeichnenden Untertitel „Die Verleihung der Staatsbürgerrechte an
die Juden als Weltirrtum“, in dem die Juden nicht als Religionsgemeinschaft, sondern
als Volk definiert werden, dem man die Staatsbürgerrechte niemals hätte verleihen dür-
fen. Damit weist der Autor noch einmal auf den historischen Entstehungskontext der
Emanzipationsdebatten zurück, in denen der Begriff „Staat im Staat“ erstmals auf die
Juden bezogen wurde.
Werner Bergmann
Literatur
Jacob Katz, A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan, in: Jacob Katz,
Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 1982, S.
124-153.
Stereotype
Ein Stereotyp (griech. stereós: starr, fest, standhaft; typos: Gestalt) ist ursprünglich der
feststehende Schriftsatz im Buchdruck. In die Sozialwissenschaften führte Walter Lipp-
mann den Begriff 1922 ein und definierte ihn als „vorgefasste Meinung über soziale
Gruppen“. In Bezug auf Antisemitismus bezeichnet man Stereotype als vorurteilsbe-
haftete, generalisierende Attribute, die einer Gruppe (den Juden) zugeschrieben werden
und damit auch für einzelne Mitglieder dieser Gruppe gültig sind. Die Zuschreibung
erfolgt dabei – analog zur Einteilung in die Kategorie „Jude“ – entweder verbal oder
bildlich als Fremdzuschreibung (Heterostereotyp: „Die Juden sind...“), wobei selbst-
verständlich nicht ausgeschlossen ist, dass einzelne Stereotype, die in den allgemeinen
kulturellen Kontext einer Gesellschaft übergegangen sind, auch von Mitgliedern der
Gruppe selbst vertreten werden können (Autostereotyp: „Ich als Jude bin...“).
310 Substitutionslehre
Stereotype haben wertende Funktion und sind emotional aufgeladen. Wertung und
Aufladung sind meist sehr schlicht und vor allem negativ, können aber in seltenen Fäl-
len auch positiv sein. In der Sozialpsychologie wird davon ausgegangen, dass Stereo-
type Komplexität reduzieren und somit potentiell als soziale Ordnungsschemata dienen
(„der zerstreute Professor“, „der schmierige Autohändler“ usw. als eher harmlose Ste-
reotype). Sie lenken von der Wahrnehmung individueller Eigenschaften ab, indem ste-
reotype Gruppenzuschreibungen eins zu eins auf das Individuum übertragen werden.
Stereotype formen dabei die Erwartungshaltung gegenüber anderen und auch die Deu-
tung von deren Verhalten durch ihre Reduktion auf eines oder wenige (gemutmaßte)
Merkmale. Sie können somit problematisch und sogar hoch gefährlich für das Zusam-
menleben von Gruppen sein: Werden einer Gruppe negative Stereotype zugeschrieben,
erhöht dies notwendigerweise die Überlegenheit der eigenen Gruppe, was in der Regel
wiederum neue Vorurteile generiert. Stereotype können daher auch als sich selbst erfül-
lende Prophezeiungen oder Stigmata funktionieren, die von der Abgrenzung bis zur
Ausgrenzung und zum Völkermord führen können.
Stereotype sind sehr zählebig und oft über Jahrhunderte hinweg präsent, da sie als
Ausdruck der öffentlichen Meinung oder durch Erziehung (Elternhaus, Schule, soziale
Milieus) erlernt sind, d.h. unabhängig von eigenen Erfahrungen übernommene Einstel-
lungen abbilden. Daher zeigen auch vernünftige Argumente bzw. das Aufzeigen von
Widersprüchen kaum Wirkung: Z.B. muss die individuelle positive Erfahrung mit ei-
nem Juden keinesfalls als Widerspruch zum Weiterleben antisemitischer Stereotype be-
griffen werden, da diese eben erfahrungsunabhängig und nicht personengebunden
sind.
Bjoern Weigel
Literatur
Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, 2. überarbeitete Auflage, München
2004.
Hans Henning Hahn (Hrsg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereo-
typen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt am Main u.a. 2002.
Walter Lippmann, Public Opinion, zahlreiche Auflagen, zuerst 1922 (dt.: Die öffentliche
Meinung, Bochum 1990).
Lars-Eric Petersen, Bernd Six (Hrsg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung.
Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim 2008.
Isaiah Shachar, Studies in the emergence and dissemination of the modern Jewish stereotype
in Western Europe, Diss., London 1967.
Substitutionslehre
Die Substitutionslehre ist theologisch im System des → Antijudaismus zu verorten und
besagt, dass alle Vorzüge Israels, die ihm als Volk der Erwählung zukamen, an die Kir-
che übergegangen sind und das Judentum post Christum seine heilsgeschichtliche Rol-
le ausgespielt hat, da es sich dem Christus verweigerte. Seine theologiegeschichtlichen
Wurzeln hat diese Vorstellung in den innerjüdischen Diskursen des Zweiten Tempels,
bei denen es um die Frage ging, wer und mit welchem Recht sich als zu Israel gehörig
bezeichnen durfte. Im Christentum wird die Debatte dahingehend verändert, dass nicht
Substitutionslehre 311
die Kultpraxis oder die Auslegung der Thora für eine Bestimmung der Zugehörigkeit
maßgeblich ist, sondern der Glaube an Jesus von Nazareth als Christus, mit dem sich
alle Hoffnungen Israels erfüllt haben. Während das → Neue Testament den Ehrentitel
Israel ausschließlich auf Juden, ob nun messianische oder nichtmessianische verwen-
det, findet ab der Mitte des 2. Jahrhunderts ein Wechsel statt. Der Kernsatz dafür lautet:
„Das wahre, geistige Israel nämlich und die Nachkommen Judas, Jakobs, Isaaks und
Abrahams, [...] das sind wir, die wir durch diesen gekreuzigten Christus zu Gott ge-
führt wurden“ (Justin, Dialog mit dem Juden Trypho 11,5). Bei der Substitutionslehre
handelt es sich um eine vollkommene Expropriation von Juden und Judentum aus de-
ren eigener Geschichte. Der erste Schritt besteht darin, die genealogische Beziehung
der nachbiblischen Juden zu denen der Hl. Schrift zu negieren, so das Modell bei Euse-
bios, oder für unerheblich zu erklären, so das durchgängige Motiv. Für die Zugehörig-
keit zum Heilsvolk Israel ist die Abstammung irrelevant, da sich diese durch den Glau-
ben an Christus manifestiert. Das Gegensatzpaar von „Fleischlich“ und „Geistig“ wird
damit zum hermeneutischen Schlüssel. Explizit wird das in der Bestimmung der Abra-
hamskindschaft, die den Juden abgesprochen und den Christen zugesprochen wird.
Ähnlich verhält es sich, wenn die Juden als Nachfahren Esaus bezeichnet werden, wäh-
rend die Christen die Kinder Jakobs sind.
Gerade diese beiden Beispiele, die die jüdischen Diskurse völlig verkehren, verwei-
sen auf ein theologisches Dilemma der Substitutionslehre: Sie bedarf des Judentums
als Negativum, um durch Abgrenzung zu einer Eigendefinition zu kommen. Der Nach-
weis, Heilsgemeinschaft zu sein, wird nicht positiv, sondern negativ unter Verweis auf
das heilsferne Judentum geführt. Diese dialektische Funktion des Judentums für die
Konstruktion christlicher Identität führt insbesondere in der Spätantike zu einer fast
manisch zu nennenden Israelversessenheit christlicher Autoren, deren Konflikt zu Tage
liegt, nämlich die Fortexistenz des Judentums als Religion von nicht geringer Attrakti-
vität. Hier ist auch der tiefere Grund für die zum Teil hemmungslose Polemik gegen
Juden und ihre Praxis zu suchen. Denn die Substitutionslehre war als theologische
Aussage nur insofern überzeugend, wie sie sich in Ansätzen in der Wirklichkeit verifi-
zieren ließ. Die Polemik versuchte, die Realität im Sinne der eigenen Überzeugung
darzustellen.
Von zentraler Bedeutung für die Substitutionslehre war die Deutung und Lektüre
des → Alten Testaments. Gott hat darin uneigentlich gesprochen, und zwar in dem
Sinne, dass erst durch Christus die wahre Bedeutung erfasst werden konnte. Die Juden
haben weder in biblischer Zeit, sieht man einmal von denen ab, die wie etwa Abraham,
Jakob und Mose schon an Christus glaubten, mithin die Kirche bereits verkörperten,
noch gegenwärtig die Worte der Schrift verstanden. Durch die typologische Lektüre
konnte es gelingen, fast alle Aussagen des Alten Testaments auf Christus, die Kirche
und das Neue Testament zu beziehen. Wie das biblische Judentum selbst hatte auch
das Alte Testament keine Funktion in sich, sondern nur im Hinblick auf das Kom-
mende. Die Vorstellung des Ersatzes des Judentums durch die Kirche verbindet sich
hier mit dem der Inklusivität: Wenn ein Jude Anteil an Israel haben will, muss er sich
taufen lassen. Offensichtlich war den christlichen Autoren klar, dass sie mit diesem
Konstrukt Fragen der Theodizee berührten, da Gott hier als sich Offenbarender be-
hauptet wird, ohne dass er ein Gegenüber hat. Er redet nicht zu den Juden, sondern im
312 Talmud-Polemik
Vorgriff auf die Christen über sie hinweg. Die Begründung dafür wird im ständigen
Unglauben und Ungehorsam der Juden gesehen. Von der Verehrung des Golden Kalbes
bis zur Kreuzigung Christi sind sie sich darin treu geblieben. Den Bund, den Gott der-
einst mit Israel geschlossen hat, hatten sie weder verdient, noch haben sie sich an ihn
gehalten, wie die Verwerfung Jesu Christi zeigt. Die Quintessenz der Substitutionslehre
ist es, dass das Judentum als Religion jede Begründung verloren hat. Jede religiöse
Praxis ist demnach sinnlos und entweder Ausdruck von Blindheit, Verstockung oder
Heuchelei. Allerdings ergibt sich dadurch eine neue Verlegenheit, die immer dann viru-
lent wurde, wenn man versuchte, die Position des Judentums zu bestimmen. Da es
nicht einfach dem Paganismus zugeordnet werden konnte, wurde es als eine überflüssi-
ge, antiquierte Hybridform einer Religion angesehen.
Diese christliche Wahrnehmung des Judentums hielt bis zur Mitte des 20. Jahrhun-
derts an. War sie ursprünglich zur Selbstbehauptung einer religiösen Minorität entwi-
ckelt worden, wurde sie dann gesellschaftlich relevant, als es um die Schaffung eines
christlichen Gemeinwesens ging. Die Rechtsminderung der Juden in der spätantiken
Gesetzgebung ist ebenso eine mittelbare Folge der Substitutionslehre wie das mittelal-
terliche Institut der → Kammerknechtschaft, des Ausschlusses von Juden von städti-
schen und staatlichen Positionen bis hin zum kirchlichen Kampf gegen die Judeneman-
zipation. Wie selbstverständlich die Substitutionslehre zum Fundus der westlichen Kul-
tur gehört, kann man unschwer an der Transferierung ihrer Grundideen in die Kritik
der → Aufklärung am Judentum ablesen. Für die christliche Theologie hat sich die
Substitutionslehre insofern als destruktiv erwiesen, weil damit ein Modell geschaffen
wurde, das in je verschiedenen Kontexten erneut zum Tragen kam, wobei das Grund-
motiv dasselbige blieb, nämlich keinen positiven Erweis des Christlichen zu führen,
sondern einen der Abgrenzung von anderen, einhergehend mit deren Abwertung.
Rainer Kampling
Literatur
Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealis-
mus zum Judentum, München 2000.
Horst Gronke u.a. (Hrsg.), Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung,
Würzburg 2001.
Rainer Kampling, Erbstreit. Kirchenschriftsteller über das Erbe Abrahams. Ein Konflikt mit
dem rabbinischen Judentum?, in: Lutz Doering u.a. (Hrsg.), Judaistik und neutestamentli-
che Wissenschaft. Standorte - Grenzen - Beziehungen, Göttingen 2008, S. 358-371.
Rainer Kampling, „...fast niemand von den Unsrigen versteht das anders“ (Civ.D. 16,35).
Esau bei den lateinischen Kirchenschriftstellern, in: Gerhard Langer (Hrsg.), Esau, Bruder
und Feind, Göttingen 2009, S. 243-253.
Edward Kessler, An introduction to Jewish-Christian relations, Cambridge 2010.
Matthias Müller, Christliche Theologie im Angesicht des Judentums. Bausteine einer Phäno-
menologie des Wartens, Stuttgart 2009.
Talmud-Polemik
Als Talmud-Polemik bezeichnet man Äußerungen über den Babylonischen Talmud als
dem für die rabbinische Gelehrsamkeit repräsentativen Werk, die diesem, z.T. im Sinne
Talmud-Polemik 313
zu Pentateuch und Prophetenbüchern stünden und die Juden von der Hinwendung zum
Christentum abhalten würden. Im Streit um die Einziehung jüdischer Schriften zum
Zweck ihrer Prüfung sprach sich Johannes Reuchlin (1455-1522) aus juristischen
Gründen und wegen seiner Hochschätzung der hebräischen Sprache für die Rückgabe
der Schriften aus.
Die Reformation übernahm den mittelalterlichen → Antijudaismus einschließlich
der Ablehnung des Talmud. Obgleich Luther zu Beginn seiner Wirksamkeit noch auf
die Bekehrung der Juden gehofft hatte, forderte er 1543 in „Von den Juden und ihren
Lügen“, den Juden den Talmud zu entziehen und das Lehren der Rabbiner zu verbie-
ten. Die seit ca. 1440 an der Wittenberger Stadtkirche vorhandene Darstellung der →
„Judensau“ brachte Luther in „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“
(1544) mit dem Talmudstudium in Verbindung.
Neuzeitliche und moderne Talmud-Polemiken gehen vor allem auf das von Johann
Andreas Eisenmenger (1654-1704) verfasste Werk „Entdecktes Judenthum“ (Frankfurt
1700) zurück. Nach jahrelangem, unter dem Vorwand des Wunsches zum Übertritt er-
folgenden Studium bei Rabbinern stellte Eisenmenger in tendenziöser Weise rabbini-
sche Textpassagen im Original und in Übersetzung zusammen, die religiöse Irrtümer
sowie Feindschaft und Überlegenheitsbewusstsein von Juden gegenüber Christen bele-
gen sollen.
Auf Eisenmenger bezieht sich die antisemitische Schrift des katholischen Theologie-
professors August Rohling (1839-1931) „Der Talmudjude“ (Münster 1871). Im Unter-
schied zum „Entdeckten Judenthum“ enthält „Der Talmudjude“ entstellte und ge-
fälschte angebliche Zitate aus dem Talmud und dem Sohar, die u.a. Ritualmord, vor
allem aber verschwörerische Feindseligkeit der Juden gegenüber ihrer Umwelt belegen
sollen. In verleumderischer Absicht geht Rohling weit über Eisenmenger hinaus. „Der
Talmudjude“ wurde vor allem im → Nationalsozialismus zu einem Standardwerk des
Antisemitismus.
Susanne Plietzsch
Literatur
Jeremy Cohen, Living Letters of the Law: Ideas of the Jew in Medieval Christianity, Berke-
ley 1999.
Marc Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, München 2005.
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Tangomaus 315
Tangomaus
Als „Tangomaus“ werden afroeuropäische Händler des 16., 17. und 18. Jahrhunderts
auf den afrikanischen Atlantikinseln bezeichnet, die aufgrund der vom 15. Jahrhundert
ausgehenden portugiesischen und kastilischen Expansion in die neuen Peripherien der
beiden Kolonialreiche verdrängt wurden. Unter ihnen befanden sich von Anfang an se-
phardische Juden und Neuchristen ( → Conversos), die vor Verfolgung und Vertrei-
bung in den südlichen Atlantik geflohen waren.
Den Wettlauf um Afrika und seine vorgelagerten Inseln entschied das Königreich
Portugal mit Ausnahme der Kanaren im 15. Jahrhundert für sich. Sowohl Portugal als
auch Kastilien waren von Anbeginn bei der Kolonisierung auf fremde Hilfe angewie-
sen. Genuesische und sephardische Kapitäne, Seeleute und Händler wurden unter Ver-
trag genommen und mit den schwierigen Missionen auf den atlantischen Inseln beauf-
tragt. Die stetig steigende Bedrohung durch antijüdische Übergriffe ließ die Zahl der
Religionsübertritte in Kastilien in die Höhe schnellen. Die Konvertiten blieben jedoch
weiterhin über wirtschaftliche Netzwerke in familiärem und wirtschaftlichem Kontakt
mit ihren jüdischen Verwandten. An den portugiesischen Eroberungen der Madeira-In-
seln, der Kapverdischen Inseln, der Azoren, von Bioko, São Tomé, Principe, Annabón,
Luanda, Ascenção und Santa Helena nahmen Juden und Neuchristen bereits als Pio-
niere teil.
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts verschlechterte sich die Situation für Juden und Neu-
christen im Mutterland. Die Blutreinheitsgesetze von Toledo 1449 und die Gründung
der „Heiligen Inquisition“ 1478 in Kastilien und Aragon steigerte die Auswanderung
nach Afrika und auf die genannten Inseln. Der portugiesische König Manuel I. ent-
schied 1496 im Zuge der neuen Bindungen an Kastilien, die gemäßigte Judenpolitik
seines Vaters Johann II. zugunsten einer radikaleren Vorgangsweise aufzugeben. Ähn-
lich wie in Kastilien rund fünf Jahre zuvor beschloss die Krone die Vertreibung aller
taufunwilligen Juden aus Portugal.
Mittellose Neuchristen - darunter etwa 2000 Kinder - wurden 1497 nach São Tomé
deportiert. Andere erreichten über familiäre Beziehungen die Atlantischen Inseln, von
wo aus sie im Fernhandel mit Afrika, Asien und Amerika tätig waren.
Auf den Inseln, vor allem aber auf den Kapverden, São Tomé, Principe, Bioko, An-
nabón und Luanda entstand aufgrund der Kreolisierung mit den aus Afrika importier-
ten Sklaven eine neue allochthone Gruppe: die Tangomaus. Sie kontrollierten nicht nur
den Handel zwischen den Verkäufern an der afrikanischen Westküste, den → Lança-
dos, und ihren Inseln, sondern darüber hinaus auch den Warenverkehr mit Europa und
den Amerikas im Speziellen mit Brasilien, den Guyanas und dem karibischen Raum.
Noch heute finden sich Relikte jüdischer Kultur auf den Atlantikinseln, die den ho-
hen Anteil von Juden und Neuchristen unter den Tangomaus widerspiegeln. Darauf
verweisen ebenso Texte mehrerer sephardischer Rabbiner aus dem 16. und 17. Jahr-
hundert.
Christian Cwik
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316 Theorien des Antisemitismus
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finden“ (Bahr). Damit wird eine entscheidende, wenngleich noch nicht ausformulierte
Grundorientierung zentral: Eine Erklärung des Antisemitismus hat wenig oder nichts
mit den tatsächlichen Juden zu tun. Vielmehr müssen die Ursachen im Antisemitismus
respektiv den Antisemiten und ihrer Mehrheitsgesellschaft gesucht werden.
Im sozialdemokratischen Spektrum setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Auf-
fassung durch, der zufolge der Antisemitismus eine fehlgeleitete anti-kapitalistische
Reaktion auf die ökonomischen Verhältnisse sei. Zwar weist August Bebel die ihm bis
heute oft zugeschriebene Formel „der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen
Kerls“ ausdrücklich zurück, begreift den Antisemitismus aber wie Friedrich Engels als
eine Reaktion untergehender Gesellschaftsschichten gegen die kapitalistische Gesell-
schaft. Der Antisemitismus sei ein Nebenwiderspruch, der mit der bürgerlichen Gesell-
schaft verschwinden werde (Traverso).
Der endemische Antisemitismus führte zur Organisierung von Juden im 1893 ge-
gründeten „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Dessen konti-
nuierliche Aufklärungsarbeit schloss Analysen der Entstehung des Antisemitismus ein,
wie sie u.a. vom Landesrabbiner Rieger-Braunschweig zusammengefasst wurden. Der
Antisemitismus beeinflusste überdies die Neuformulierungen jüdischer Selbstbilder im
Kaiserreich wie in der Zwischenkriegszeit, so dass auch in diesen Diskursen – etwa bei
Theodor Herzl oder Leo Baeck – der Antisemitismus bearbeitet wird. Zu erinnern ist
auch an die Reflexionen von Constantin Brunner und Arnold Zweig.
Auch wenn die zuletzt genannten Schriften heute noch bekannt sind, fällt auf, dass
sie in der späteren → Antisemitismusforschung kaum eine Rolle spielen. Angesichts
der scharfen Analysen, wie sie z.B. Ludwig Bamberger anstellte, ist dies inhaltlich un-
begründet. Diese ältere Geschichte der Theorien des Antisemitismus wurde bislang
nicht aufgearbeitet.
Die bis heute prägende Phase der Theoriebildung begann nicht nur zeitlich parallel
zum Nationalsozialismus an der Macht, sondern hatte hierin auch ihre entscheidende
Ursache. Vor allem Exilanten und US-amerikanische Wissenschaftler stellten sich den
dadurch aufgeworfenen Fragen, was sich in vier Forschungsrichtungen niederschlug.
Erstens wurden schon früh umfassende Analysen des → Nationalsozialismus vorge-
legt, die zwar für die NS-Forschung zu beeindruckenden Klassikern wurden, in denen
dem Antisemitismus aber keine (Fraenkel) bzw. nur eine marginale Rolle (Neumann)
eingeräumt wird. Hannah Arendt, die sich früh mit dem Antisemitismus beschäftigte,
hat die von Franz Neumann eröffnete Forschungsperspektive wenige Jahre später wei-
terentwickelt und den Antisemitismus in den Mittelpunkt gerückt. Sie stellt den Anti-
semitismus, den Imperialismus und den → Rassismus als die Hauptursachen für den
Niedergang des demokratischen, die Menschenrechte wahrenden Nationalstaats dar, an
dessen Stelle die totale Herrschaft des Nationalsozialismus und des Stalinismus trete.
Die totale Herrschaft integriere Ideologie und Terror, was in die systematische Vernich-
tung der ‚minderwertigen Rasse’ bzw. der ehemals ‚herrschenden Klasse’ münde.
Zweitens kam eine (im weiteren Sinne) sozialwissenschaftliche Forschung in Gang,
die ebenso wie drittens psychoanalytische Theorien näher darzustellen sind. Schließ-
lich wird viertens die bis heute umfassendste und folgenreichste Theorie des Antisemi-
tismus von der Frankfurter Schule entworfen.
318 Theorien des Antisemitismus
Autoritarismus
Die Frankfurter Schule hat sich bereits am Ende der Weimarer Republik, dann im Exil
mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus auseinandergesetzt. Neben einer
Vielzahl von Aufsätzen und dem theoretischen Fragment „Elemente des Antisemitis-
mus“ (Horkheimer/Adorno) wurde das zentrale Konzept – der autoritäre Charakter –
zunächst im Gemeinschaftswerk „Autorität und Familie“ (Horkheimer) entwickelt und
mündete schließlich in ein großes Forschungsprojekt, das sich in den fünf Bänden der
„Studies in Prejudice“ niederschlug. Deren zentrales Werk – The Authoritarian Perso-
nality (Adorno et al.) – wurde flankiert von historischen Analysen (Massing), einer
Vorurteilstheorie (Bettelheim/Janowitz), einer psychoanalytischen (Ackermann/Jaho-
da) und einer ideologiekritischen (Lowenthal/Gutermann) Abhandlung.
Horkheimer ging schon in seiner ursprünglichen Konzeption kritischer Sozialfor-
schung davon aus, dass die Ökonomie und die Kultur der kapitalistischen Gesellschaft
zwar interdependent seien, aber nicht das eine aus dem anderen abgeleitet werden
könne. Vielmehr bedürfen Ökonomie wie Kultur der psychischen Vermittlung im ein-
zelnen Individuum, wodurch dieses in die Gesellschaft eingepasst wird. Der autoritäre
Charakter ist eine spezifische Gestalt dieser Vermittlung. Im Kern besagt dieser Be-
griff, dass sich im Individuum eine Ambivalenz zwischen Unterwerfung und Rebellion
verfestigt hat. Sie hilft die Gesellschaft zu stabilisieren, indem sie das Individuum dazu
motiviert, sich einerseits mit den gesellschaftlich anerkannten Autoritäten zu identifi-
zieren, während andererseits die rebellischen Impulse an Fremdgruppen ausagiert wer-
den können. Der autoritäre Charakter ist wesentlich ein rebellisch-konformistischer
oder, wie Erich Fromm schrieb, ein sadomasochistischer Charakter, der die Lust am
Gehorchen mit der Aggression gegen den Wehrlosen verbindet. Die Genese dieser
Charakterstruktur wird durch eine spezifische Lösung des Ödipuskomplexes erklärt,
die ihrerseits durch die kapitalistische Sozialstruktur verursacht wird. Im Ergebnis kann
das Ich nicht rational zwischen Realität, Über-Ich und Es vermitteln und tendiert, um
diese Schwäche zu kompensieren, einerseits zur Identifikation mit starken äußeren Au-
toritäten, andererseits zu pathischen, d.h. der rationalen Ich-Kontrolle entzogenen Pro-
jektionen. Für beide Bedürfnisse bietet die Kultur passende Ideologien an. Das konfor-
mistische Bedürfnis nach Identifikation wird durch das Angebot eines starken „Wir“,
namentlich durch die Zugehörigkeit zu einer „starken Nation“, beantwortet. Die nicht
integrierten, rebellischen Regungen, Aggressionen, Angst- und Schuldgefühle dagegen
werden als scheinbar nicht zum Subjekt gehörende nach außen projiziert. Der Autoritä-
re sucht Schuldige, anhand derer er verurteilen und verfolgen kann, was in ihm ver-
drängt werden muss. Die Kultur prädestiniert, wer als Objekt für Projektionen in Frage
kommt.
Der Zusammenhang zwischen antisemitischen und ethnozentrischen → Vorurteilen
und autoritären Neigungen wird in psychoanalytisch grundierten Interpretationen von
Interviews und mit Hilfe standardisierter Befragungen ausgewiesen. Von besonderer
Bedeutung ist die Konstruktion der „F-Skala“. „F“ steht für → „Faschismus“. Die
Items dieser Skala erfassen autoritäre Einstellungen ohne direkten Bezug zu antisemiti-
schen und ethnozentrischen Vorurteilen. Diese werden in eigenständigen Skalen er-
fasst, so dass die hohe Korrelation zwischen den Skalen den Zusammenhang von auto-
ritären Einstellungen und Vorurteilen ausweist.
Theorien des Antisemitismus 319
Psychoanalyse
Die psychologische Forschung hat bereits früh zwei wichtige Theoreme formuliert: Er-
stens nimmt der psychische Mechanismus der Projektion eine zentrale Stellung ein.
Dem Individuum gefährlich oder unerträglich erscheinende Regungen und Frustratio-
nen werden auf die Juden projiziert, so dass psychische Ambivalenzen aufgespalten
und die negativen Anteile zu etwas Fremdem erklärt und veräußert verfolgt werden
können (Dollard u.a.). Hierfür bedarf es zweitens einer Projektionsfläche, sprich kultu-
rell prädestinierter Sündenböcke. Diese werden durch die Konstruktion von Wir-Grup-
pen versus Fremdgruppen, also z.B. Christen versus Juden, formiert. Im Anschluss an
diese Theoreme entwickelte sich eine weiträumige sozialpsychologische Forschung,
die Vorurteile im Rahmen von Gruppenkonstruktionen und -beziehungen analysierte,
zu Theorien des Antisemitismus im engeren Wortsinn aber führte sie nicht (Bergmann
1988). Die beiden genannten Theoreme aber werden weithin anerkannt und finden in-
zwischen in vielen Disziplinen Verwendung.
Im Unterschied hierzu wurden im Rahmen der Psychoanalyse nicht nur klinische
Untersuchungen, sondern auch eine beträchtliche Vielfalt an weiträumigen Theorien
entwickelt, die in der Regel individual-, gruppen- und kulturtheoretische Argumenta-
tionen verknüpfen. Sigmund Freud selbst machte mit „Der Mann Moses und die mono-
theistische Religion“ den Anfang. Freuds Deutungen sind bis heute grundlegend und
320 Theorien des Antisemitismus
werden vielfach variiert. Das ursprünglichste Motiv ist der Vatermord durch die Urhor-
de, der nach Freud am Anfang der Kulturgeschichte steht. Dieses ungeheuerliche Ver-
brechen muss verdrängt werden, lebt aber als unbewusstes Schuldgefühl fort. Die Eta-
blierung des Monotheismus im Judentum interpretiert Freud als „Wiedereinsetzung des
Urvaters“, mithin als „Vorläufer der Wiederkehr des verdrängten Inhalts“, sprich des
Vatermordes. Die weitere Entwicklung des jüdischen Monotheismus führte zu einer
Konstruktion, die den verdrängten Vatermord sühnen sollte: Der Tod des Gottessohnes
war das Evangelium, das die Botschaft von der Befreiung aller Schuld verkündete. Die
Kehrseite des Evangeliums aber ist das Bewusstsein einer fundamentalen menschli-
chen Schuld. Die Abwehr dieses Schuldgefühls führt in den Christenhass, der aber den
Christen nicht erlaubt sein kann. Deshalb verschieben sie den Hass auf das Christen-
tum auf dessen Quelle, den jüdischen Monotheismus. „Ihr Judenhass ist im Grunde
Christenhass“ (Freud).
Auch wenn die kulturhistorische Annahme Freuds (Vatermord in der Urhorde) von
manchem Analytiker nicht geteilt wird, bleibt doch Freuds Grundkonstruktion bis
heute prägend (Beland). Typischerweise variieren psychoanalytische Theorien die
These eines verdrängten und projizierten Schuldgefühls, das aus dem Vatermord ent-
springt. Rudolph M. Loewenstein z.B. bestreitet zwar den tatsächlichen Vatermord,
setzt an dessen Stelle aber die kindlichen Wünsche nach dem Tod des Vaters im ödipa-
len Konflikt. Der Vorwurf an die Juden, sie hätten Gott getötet, projiziert diesen ver-
drängten Wunsch und löst die psychische Ambivalenz. Auch Bèla Grunberger und
Pierre Dessuant argumentieren vergleichbar. Wenn der ödipale Konflikt nicht gelöst
werden kann, bleibt das Individuum narzisstisch und mit einer archaischen Aggressivi-
tät ausgestattet. Letztere richtet er gegen die väterliche Ordnung, die seinem Narziss-
mus widerstreitet. Dementsprechend versteht Grunberger das Christentum als Religion,
die dem Narzissmus entspricht, eine Religion des Sohnes, der das väterliche Gesetz
aufkündigt, das gleichbedeutend mit dem Judentum ist. Eine weitere Variante hat Jean-
nine Chasseguet-Smirgels vorgelegt. Sie sieht die jüdische Religion in Übereinstim-
mung mit dem bewältigten Ödipuskomplex, d.h. einer gelungenen Integration von
Realitätsprinzip und Narzissmus, während das Christentum einem nicht realitätsge-
rechten Narzissmus entspreche, der den Antisemitismus motiviere. Auch nicht-psycho-
analytische Kulturtheorien führen den Antisemitismus auf die Genealogie und Diffe-
renz der monotheistischen Religionen zurück (von Braun, Heinsohn).
Angesichts der Kritik der Psychoanalyse, die sich insbesondere auf die Theoreme
des Vatermordes durch die Urhorde und auf den Ödipuskomplex bezieht, ist an die Ar-
beiten von Otto Fenichel zu erinnern. Fenichel rückt an die Stelle der Freudschen Kul-
turtheorie eine Klassentheorie. Sowohl die Angst der Herrschenden als auch die er-
zwungenen Versagungen der Beherrschten sind bei Fenichel der Rohstoff der antisemi-
tischen Projektionen. Daher rühre der rebellische und antikapitalistische Zug im Anti-
semitismus.
Fenichel vertritt überdies in einer methodologisch grundlegenden Frage eine sehr
klare und dem interdisziplinären Zusammenwirken in der Antisemitismusforschung
förderliche Auffassung: Es könne „streng genommen nur eine Psychoanalyse des Anti-
semiten, nicht aber des Antisemitismus geben“. Dementsprechend akzeptiert Fenichel
Freuds Kultur- und Geschichtstheorie ebenso wenig wie Adorno, der sie als „Psycho-
Theorien des Antisemitismus 321
logismus“ kritisierte, weil sie nicht zwischen psychischen und sozialen Prozessen diffe-
renziere. Deshalb ist auch die Bestimmung des Antisemitismus als psychischer Krank-
heit – sei es als „Vorurteilskrankheit“ (Alexander Mitscherlich), „Massenpsychose“
(Ernst Simmel) oder „Männerkrankheit“ (Margarete Mitscherlich-Nielsen) – unzurei-
chend, da psychisch krank nur Antisemiten sein können, und irreführend, da die so-
ziale Dimension des Antisemitismus nicht als ein Krankheitsbild bestimmt werden
kann.
Die psychoanalytischen Theorien haben eine Einsicht unabweisbar werden lassen:
Der Antisemitismus ist (auch) durch Ambivalenzkonflikte der Antisemiten konstituiert,
die diesen unbewusst bleiben müssen und die durch Abspaltung und Projektion Eige-
nes zu Fremdem werden lassen. Das Fremde ist konstituiert als Eigenes. Die psycho-
logischen und psychoanalytischen Theorien haben gemeinsam, den Antisemitismus als
Reaktionsbildung auf psychische Krisen und Konflikte zu verstehen. Sie sind deshalb
typischerweise kausal, insofern sie psychische Triebkräfte namhaft machen, und funk-
tional, insofern sie die Projektion auf den ‚jüdischen Sündenbock’ als Konfliktlösung
oder –verschiebung deuten. Dieses Theorem wird – von psychischen auf soziale Refe-
renzen umgestellt – auch in historischen und sozialwissenschaftlichen Theorien weit-
hin verwendet, so dass man hierin ein Grundtheorem der bisherigen Studien sehen
kann: Die Projektion von Eigenem, die es zu Fremdem macht, und die soziale Kon-
struktion des antisemitischen Judenbildes, das das Selbstbild stabilisiert, bieten eine
Deutung und Lösung psychischer resp. sozialer Krisen und Konflikte an.
greift. Schon die zeitliche Zuordnung aber misslingt. Abgesehen davon kann man ei-
nen Primat der Ökonomie bezweifeln, aus dem sich kulturelle Phänomene schlicht ab-
leiten ließen.
Anders gelagert sind Theorien, die Vorurteile in der Interaktion zwischen Mehrheits-
gesellschaft und Minderheit verorten. Dieser Ansatz wurde vor allem in den USA für
xenophobe Vorurteile über Afroamerikaner entwickelt. In der Antisemitismusfor-
schung blieb dieser Ansatz marginal (Silbermann/Sallen). Denn er tendiert dazu, tat-
sächliche Konflikte zwischen Mehrheit und Minderheit und Eigenheiten der Minder-
heit als Ausgangspunkte für die Vorurteilsbildung und -validierung anzunehmen, so
dass das antijüdische Vorurteil einen realistischen Kern zu haben scheint. Argumente
dieser Art werden z.B. von Parsons und Arendt in komplexere Überlegungen eingear-
beitet. Der Antisemitismus aber ist zutreffender als „Gedankenarbeit am Unwirklichen“
(Erb) bestimmt, denn als Konsequenz realistischer Erfahrungen mit Juden.
Die Bilanz für gesellschaftsgeschichtliche Ansätze, die Antisemitismus krisen- und
konflikttheoretisch fassen, ist also zwiespältig. Einerseits wird man einen Zusammen-
hang zwischen Antisemitismus, Krisen und Konflikten nicht verneinen wollen und ver-
zichtet kaum eine Theorie auf diese Annahme. Andererseits bleiben die gesellschafts-
theoretischen Annahmen, worin genau die Krisenhaftigkeit der modernen Vergesell-
schaftung liegt, meist vage und schwanken zwischen Modernisierungs-, Wirtschafts-,
Orientierungs- und Identitätskrisen, zwischen Begriffen der Anomie, des Klassenkon-
fliktes und der ökonomischen Reproduktionszyklen. Zu dieser Unschärfe trägt wesent-
lich bei, dass zwischen Krisen und Krisendeutungen nicht unterschieden wird. So we-
nig es möglich scheint, Antisemitismus aus (dieser oder jener) Krise monokausal zu
erklären, so evident ist es, dass der Antisemitismus eine Krisen- und Konfliktdeutung
ist. Die Antisemiten wähnen sich in Krisenzeiten und reagieren hierauf mit kulturellen
Mitteln, sprich mit Krisendeutungen. Von hier aus nehmen kulturwissenschaftliche
Analysen ihren Ausgang. Spezifische Ursachen für Antisemitismus scheinen weniger
sozioökonomische Krisen als kulturelle Deutungs-, Orientierungs- und Identitätskrisen
zu sein.
Als Disziplin hat namentlich die Soziologie trotz der Arbeiten um 1950 den Antise-
mitismus so gut wie ganz aus dem Blick verloren (Bergmann 2004). Diese Disziplin
verengte sich auf theorieferne, insbesondere demoskopische Stereotypenforschung,
während sie weiterhin wesentliche Beiträge zur Nationalismus- und allgemeinen Vorur-
teilstheorie lieferte. Angesichts dieser schwachen Bilanz verdienen zwei Autoren be-
sondere Erwähnung: Moishe Postone, der den Antisemitismus aus der Marxschen
Werttheorie ableitet, und Zygmunt Bauman, der den Antisemitismus in den Grundla-
gen der modernen Gesellschaft konstituiert sieht. Die Moderne sei durch die zwang-
hafte Herstellung von Ordnung und die Bekämpfung von Chaos gekennzeichnet, was
der Inklusion von Freunden und der Exklusion von Feinden entspreche. Beide sind ein-
deutig positioniert, während der Fremde, d.h. bei Bauman der Jude, ein Dritter zu die-
ser Unterscheidung ist, der damit gerade der Eindeutigkeit der dualen Unterscheidung
widerstreitet (Holz).
Ganz anders als die sozial- ist die geschichtswissenschaftliche Bilanz. Die Ge-
schichte ist seit langem die dominierende Disziplin der Antisemitismusforschung. Erste
zusammenfassende Darstellungen wurden schon früh vorgelegt und erörterten vor al-
Theorien des Antisemitismus 323
Kulturwissenschaft
Kulturwissenschaftliche Ansätze, die zunächst als ideen- und geistesgeschichtliche
Studien bezeichnet wurden, sind nicht scharf von den bisher dargestellten Theorien ab-
zugrenzen. Zunächst dominierte die Frage nach den Bedingungen des nationalsoziali-
stischen Judenmordes. Erste Gesamtdarstellungen zeichneten die antisemitische Vorge-
schichte des Holocaust nach, galten aber insbesondere auch dessen Darstellung und
verzichteten auf ausführliche Erörterungen der Bedeutung des Antisemitismus als Ur-
sache des Holocausts. Neben Arendts Theorie sticht deshalb Eva Reichmanns Deutung
hervor, weil dort bereits eine Vielzahl später immer wieder genannter Argumente dar-
gelegt wird, die von der Verunsicherung traditioneller Werte, antidemokratischen, anti-
westlichen und nationalistischen Orientierungen über spezifische Gruppenkonflikte bis
zur verspäteten Industrialisierung Deutschlands reichen.
324 Theorien des Antisemitismus
Mit diesen frühen Arbeiten war die Diskussion eröffnet, ob und welches Kausal-
oder Bedingungsverhältnis vom Antisemitismus (als Vorurteil oder Weltanschauung)
zur Judenvernichtung führt. Reichmann sah kein Kausalverhältnis, während Margheri-
ta von Brentano den Antisemitismus als potentielle Endlösung bezeichnete. Während
den Theorien der sog. Funktionalisten die in der Ideologie wurzelnde Stoßkraft und
Dynamik aus dem Blickfeld rückte, haben deren Widerpart, die sog. Intentionalisten,
die Frage auf Hitlers Person und seine Rolle als Diktator verengt (Jäckel/Rohwer). Ge-
meinsam ist diesen Theorien, dem Antisemitismus als kulturellem Deutungs-, Orientie-
rungs- und Identitätskonstrukt zu geringe Beachtung zu schenken. Auf dieses Defizit
hat Daniel J. Goldhagen hingewiesen. Seine Gegen-These, ein spezifisch deutscher,
eliminatorischer Antisemitismus sei die zentrale Ursache der Judenvernichtung, wird
allerdings weithin bestritten. Inzwischen scheinen die angesprochenen Kontroversen
bzgl. der Erklärungskraft des Antisemitismus für die Judenvernichtung veraltet zu sein.
Bei allen Unterschieden zeichnet sich als neue dominante Orientierung ab, dass neben
gesellschaftsgeschichtliche und psychologische Erklärungen eine kulturwissenschaftli-
che Analyse des Antisemitismus zu stellen ist (Friedländer, Kershaw, Wildt).
Stärker in Richtung einer allgemeinen kulturwissenschaftlich basierten Theorie des
Antisemitismus wirkende Impulse kamen aus der soziologischen Vorurteilsforschung,
die in ihren Anfängen erhebliche theoretische Anstrengungen unternahm (Allport). Pe-
ter Heintz bietet eine bis heute interessante Zusammenfassung. In den letzten beiden
Jahrzehnten entwickelte sich eine einflussreiche Strömung, die den Antisemitismus als
„das exemplarische Phänomen für die Erforschung von Gruppenkonflikten und sozia-
len Vorurteilen“ betrachtet (Benz/Königseder, Fein). Dies ruft ältere Ansätze wieder
wach und wirkt der theoretischen wie methodischen Verflachung entgegen, da die An-
tisemitismusforschung für die allgemeine Theorie von Vorurteilen und umgekehrt
fruchtbar gemacht wird. Von dieser Forschungsrichtung sind insbesondere theoretisch
konzipierte, komparatistische Studien zu erhoffen, die die Vorurteile gegenüber ver-
schiedenen „Fremdgruppen“, etwa „Juden“, „Zigeunern“ und „Negern“, systematisch
vergleichend bestimmen.
Zwar kann man forschend auf einzelne Vorurteile fokussieren, der Antisemitismus
aber lässt sich offensichtlich nicht auf einige wenige Vorurteile im Sinne einzelner Prä-
dikationen wie „Der Jude ist geldgierig“ reduzieren. Die Konstruktion eines „raffenden
Kapitals“, die antisemitische Erklärung des Kapitalismus und dessen angeblich verhee-
rende moralische Auswirkungen auf die Wir-Gruppe werden in dieser schlichten Prädi-
kation nicht adäquat zusammengefasst. Dementsprechend wird der Vorurteilsbegriff
meist in einem weiteren Wortsinn verwendet und selten so definiert, dass er potenziell
konkurrierende Begriffe wie Semantik, Ideologie und Weltanschauung ausgrenzt.
Diese Begriffe bezeichnen eher das Kontinuum vom einzelnen Vorurteil bis zur umfas-
send ausgearbeiteten Weltanschauung denn trennscharfe Theorieschulen. Das gilt auch
für Diskursanalysen (Wodak u.a., Jäger/Jäger).
Ein Teil der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung hebt die weltanschaulichen
Züge des Antisemitismus in den Vordergrund. So haben schon Horkheimer und Ador-
no von einem „ticket-Denken“ geschrieben, in dem nicht einzelne Vorurteile ersonnen,
sondern en bloc übernommen werden. Ähnlich sieht dies Shulamit Volkov. Sie legt
dar, dass der Antisemitismus als „kultureller Code“ auf eine Vielzahl von Einstellungen
Theorien des Antisemitismus 325
Ausblick
Die Komplexität des Antisemitismus ist unübersehbar. Sie begründet die Notwendig-
keit einer multikausalen und eine Vielzahl von Disziplinen und Methoden integrieren-
den Theoriebildung. Die vorliegenden Theorien aber stehen recht unvermittelt neben-
einander. Das ist nicht zuletzt eine Folge der selten reflektierten Probleme interdiszipli-
närer Theoriebildung. Um so dringlicher ist es, tiefenscharfe Vergleiche auszuarbeiten,
wie dies jüngst Samuel Salzborn getan hat. Seine Studie ist einerseits metatheoretisch
angelegt und setzt andererseits die Ergebnisse des Vergleichs von Antisemitismustheo-
rien einer empirischen Überprüfung aus.
326 Theorien des Antisemitismus
Insgesamt aber war die Forschung in den letzten Jahrzehnten zurückhaltend in der
Ausarbeitung ‚großer Theorien’ und zielte stattdessen auf die Verbreiterung und Vertie-
fung unseres Kenntnisstandes im Einzelnen ab. Dadurch hat sich das Wissen über An-
tisemitismus qualitativ sehr verbessert. Für Theorien im engeren Sinne aber muss kon-
statiert werden, dass zwar auch spezielle Studien theoretische Annahmen ausweisen,
dies aber nicht zu ausgearbeiteten und trennscharfen Theorien führt. Dementsprechend
stellt sich das gesamte Forschungsfeld in theoretischer Hinsicht disparat dar und kann
nicht in einige gut unterscheidbare Theorieschulen geordnet werden.
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assimilierbar“ betrachtet.
Mit dem „Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern“ (ANAG), das
am 1. Januar 1934 in Kraft trat, erhielten die Behördenvertreter schließlich die rechtli-
che Grundlage für die Überfremdungsbekämpfung. Das Gesetz bildete zugleich auch
die Rechtsbasis für die Flüchtlingspolitik. Während der Überfremdungsdiskurs die
Niederlassungs- und Einbürgerungspolitik vor 1933 bestimmt hatte, prägte dieser nach
1933 und 1939 auch die antisemitisch ausgerichtete Flüchtlingspolitik der Schweiz.
Denn nach dem Machterhalt der Nationalsozialisten und nach dem Ausbruch des Zwei-
ten Weltkriegs blieb die „Überfremdungsbekämpfung“ weiterhin die oberste Maxime
der Fremdenpolizei. Heinrich Rothmund hoffte gar, damit einen Beitrag gegen die ver-
meintliche „Verjudung der Schweiz“ leisten zu können. Konsequenterweise verstand
sich die Schweiz denn auch nicht als Flucht-, sondern als Durchgangsland und ver-
pflichtete Flüchtlinge zur Weiterwanderung. Die Ablehnung von Gesuchen zur Ein-
reise in die Schweiz oder von Gesuchen zur Verlängerung befristeter Aufenthalts-, so-
genannter Toleranzbewilligungen erfolgte in aller Regel mit der Begründung der
„Überfremdung“. Auch dass die Schweizer Behörden im Jahr 1938 auf die Einführung
des → „J-Stempels“ drängten und die Grenzen für Flüchtlinge „nur aus Rassengrün-
den“ im August 1942 geschlossen wurden, muss vor dem Hintergrund der schweizeri-
schen Überfremdungsbekämpfung gelesen werden. Durch den Krieg verlagerten sich
die Maximen der „Überfremdungsbekämpfung“, die sich bisher vor allem gegen Zu-
wanderer gerichtet hatten, auf Flüchtlinge.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs forderten die Behörden die jüdischen
Flüchtlinge auf, die Schweiz so rasch als möglich wieder zu verlassen. Die Überfrem-
dungsbekämpfung der Zeit von 1918 bis 1945 stieß bis gegen Ende des 20. Jahrhun-
derts kaum auf Kritik. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff „Überfremdung“ an-
tisemitische Praktiken neutralisierte. Hinter der Etikette „Überfremdung“ verbarg sich
jedoch eine Abwehrpolitik, die sich vor allem gegen jüdische Immigranten und Flücht-
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Verjudung
„Verjudung“ und „Entjudung“ gehören zu den zentralen Begriffen judenfeindlichen
Vokabulars. „Verjudung“ ist eine der geläufigsten Unterstellungen und ein Basisargu-
ment der Judenfeindschaft, „Entjudung“ steht als Komplementärbegriff für die Aus-
grenzung von Juden und jüdischen Einflüssen bis hin zum Völkermord. Beide Begriffe
sind Schöpfungen des 19. Jahrhunderts und stehen in engem Zusammenhang mit der
→ „Judenfrage“.
Nicht erst in der NS-Zeit bezeichnete der Begriff „Verjudung“ mehr als nur die ge-
mutmaßte überproportionale Präsenz von Juden in der Bevölkerung, auf wichtigen Po-
sten in Wirtschaft, Kultur, Politik und auf anderen Feldern des gesellschaftlichen Le-
bens. „Verjudung“ bzw. das Adjektiv „verjudet“ bezeichneten auch eine geistige Infil-
tration der Nichtjuden, eine schleichende Transformation der nichtjüdischen Mehr-
heitsgesellschaft hin zu ihrer Beeinflussung und Beherrschung durch „die Juden“. Da-
mit einhergehend konnte alles mögliche „verjudet“ werden oder sein: Die Musik, die
Presse, das Theater, das Finanzwesen, einzelne Berufe und mit dem Aufkommen des
→ Rassenantisemitismus auch das Blut und die Völker.
Die „Verjudung“ stand – und dies ebenfalls von den 1840er-Jahren an – für Degene-
ration und Verfall: Wo immer konstatiert wurde, dass etwas „verjudet“ sei, war es im
Verfall begriffen bzw. dem „eigentlichen“ (deutschen/europäischen/christlichen) Wesen
fremd geworden. Bereits 1844 schrieb Paul de Lagarde in seinem „Programm für die
konservative Partei Preußens“ von einer schnell voranschreitenden „Verwesung“, die
durch „Verjudung“ entstanden sei. Demgegenüber setzte er das „edle Leben“, was all
diejenigen erkannt hätten, „welche von der Krankheit [Verjudung] nicht mit erfaßt
sind“. Die Diffamierung als „vejudet“ generierte zahlreiche antisemitische → Stereo-
type. Gerade das Unspezifische, die nicht themen- oder kategorienbezogene Verwend-
barkeit des Begriffs, machte ihn für jegliche antisemitische Agitation brauchbar und
trug entscheidend zu seiner Verbreitung bei. Noch heute ist „Verjudung“ einer der
meistgebrauchten Termini antisemitischen Vokabulars, wovon u.a. zahllose antisemiti-
sche Internetseiten zeugen.
Während der Begriff „Verjudung“ bis heute kaum einen Bedeutungswandel erfuhr,
veränderte sich der zur „Therapie“ vorgeschlagene Begriff „Entjudung“ bis hin zu sei-
ner denkbar radikalsten Bedeutung: dem Völkermord. „Entjudung“ blieb dabei immer
die Konsequenz aus der festgestellten „Verjudung“. So schrieb Eugen Dühring 1881:
„Verjudung der Völker und aller Verhältnisse ist Thatsache, Entjudung die Aufgabe.“
Unter „Entjudung“ – erstmals als „sich entjuden“ 1838 nachgewiesen – wurde zu-
nächst sowohl die geistige Trennung von jüdischen Einflüssen als auch die räumliche
Trennung von Juden und Nichtjuden verstanden. Dies bezog sich jedoch durchaus
auch auf die Konversion der Juden zum Christentum und ihre vollständige Assimila-
tion an die Mehrheitsgesellschaft. Sogar den Juden selbst wurde empfohlen, „sich zu
entjuden“, um vollwertige Bürger zu werden.
Mit der Verbreitung des Rassenantisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhun-
derts bezeichneten Autoren wie Wilhelm Marr „Entjudung“ als eine von der Mehr-
heitsgesellschaft zu bewerkstelligende Aufgabe, die sich von Juden und jüdischen Ein-
flüssen frei machen müsse.
332 Vernichtungslager
Vernichtungslager
Die von den Nationalsozialisten im besetzten Polen eingerichteten Vernichtungslager
hatten ausschließlich den Zweck, Juden aus den besetzten Ländern Europas unmittel-
bar nach ihrer Deportation zu ermorden. Typologisch glichen sie eher den Mordfeldern
in der Sowjetunion wie Babi Jar bei Kiew oder Ponary bei Vilnius, auf denen die Ein-
satzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Herbst 1941 zehntausende Juden in
kürzester Zeit exekutierten, als den NS-Konzentrationslagern. Ihr Zweck war zu kei-
nem Zeitpunkt Aufenthalt, weshalb der Begriff „Lager“ ein Euphemismus ist.
Die Einrichtung von Vernichtungslagern war der letzte Schritt bei dem Bemühen,
den Völkermord an den europäischen Juden zu perfektionieren. Basierend auf den Er-
fahrungen, die die Täter bei der „Aktion T 4“ – der Ermordung Kranker und Behinder-
ter – in den sechs „Euthanasie“-Anstalten im Deutschen Reich gesammelt hatten, sollte
der Tötungsvorgang effizienter und für die Täter weniger belastend ablaufen ( → Eu-
thanasie).
Im wartheländischen Chełmno (Kulmhof) nordwestlich von Łódź („Litzmannstadt“)
entstand im Dezember 1941 das erste Vernichtungslager, in dem das „Sonderkomman-
do Lange“ mit Hilfe von Gaswagen von November 1941 bis März 1943 und im Juni/
Juli 1944 mehr als 150.000 Menschen – die meisten von ihnen Juden aus dem Ghetto
Litzmannstadt/Łódź und dem Reichsgau Wartheland, aber auch Sinti und Roma aus
dem Burgenland – tötete. Das Lager bestand aus einem Gutshaus („Schloss“), in dem
Vernichtungslager 333
sich die Deportierten entkleiden mussten und in die Gaswagen getrieben wurden, die
dann zum einige Kilometer entfernten „Waldlager“ fuhren, um dort die Erstickten in
Massengräbern notdürftig zu verscharren.
In den drei Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, Bełżec, Sobibór und Tre-
blinka, mit deren Errichtung Heinrich Himmler den SS- und Polizeiführer im Distrikt
Lublin, Odilo Globocnik, im Herbst 1941 im abgelegenen Ostpolen beauftragt hatte,
wurde hingegen in stationären Gaskammern gemordet. Die Opfer mussten sich unmit-
telbar nach ihrer Ankunft unter Vortäuschung hygienischer Maßnahmen entkleiden
und wurden dann in die Gaskammern getrieben. Sie starben durch das eingeleitete
Kohlenmonoxyd, das durch Motoren aus sowjetischen Beutepanzern erzeugt wurde.
Bełżec war von März bis Dezember 1942, Sobibór von März/April 1942 bis November
1943 und Treblinka von Juli 1942 bis August 1943 als Mordstätte in Betrieb.
Die Führungsaufgaben übernahm das Personal, das bereits bei der „Aktion T 4“ Er-
fahrung gesammelt hatte, für Bauarbeiten, Bewachung, bei der Räumung der Ghettos
und der Ankunft an den Bahnhöfen wurden „Trawnikis“ – sowjetische Kriegsgefange-
ne, die sich, um ihr Leben zu retten, in die Dienste der Deutschen begeben hatten –
eingesetzt. Jüdische „Sonderkommandos“, die aus den Transporten rekrutiert wurden,
mussten die Kleidung, das mitgeführte Gepäck und die Wertgegenstände der Ermorde-
ten sortieren, die Züge reinigen, Massengräber ausheben, die Leichen der Getöteten
von den Gaskammern in die Gräber transportieren und sie ab Sommer 1942 exhumie-
ren und verbrennen. Nur wenige Überlebende konnten Zeugnis ablegen von dem Grau-
en, dessen Beobachter sie unfreiwillig geworden waren. Ihnen war die Flucht nach
dem Häftlingsaufstand in Treblinka am 2. August 1943 und in Sobibór am 14. Oktober
1943 gelungen.
Nach Beendigung der Mordaktionen ließen die Täter die Lager abbauen und ver-
suchten, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. In den drei Lagern der „Aktion
Reinhardt“ waren in einem Zeitraum von 21 Monaten 1,75 bis 2 Millionen Juden getö-
tet worden.
Zwei der von den Nationalsozialisten eingerichteten Konzentrationslager dienten
gleichzeitig als Vernichtungslager: Auschwitz-Birkenau, das zur Metapher für die →
Shoah wurde, und Lublin-Majdanek. In Auschwitz-Birkenau wurden etwa 900.000 Ju-
den unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern durch eingeleitetes Zyklon B
erstickt. Wie effizient die Mordmaschinerie funktionierte, zeigte sich noch im Sommer
1944: Zwischen 15. Mai und 9. Juli wurden etwa 438.000 Juden aus Ungarn in das
letzte noch bestehende Vernichtungslager nach Birkenau deportiert. 100.000 als ar-
beitsfähig Selektierte wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschickt, die
Übrigen getötet. In den Gaskammern in Lublin-Majdanek, die von September 1942 bis
September 1943 zur Tötung von Häftlingen betrieben wurden, verwendeten die Täter
Kohlenmonoxyd und Zyklon B. Insgesamt kamen im Konzentrations- und Vernich-
tungslager Lublin-Majdanek etwa 78.000 Menschen ums Leben.
Obwohl auch nach der Errichtung der Vernichtungslager weiterhin Erschießungs-
kommandos im Einsatz waren, versinnbildlichen sie mit ihrer Effizienz bei Deportati-
on, Beraubung, Tötung und Verwertung der letzten Habe der Opfer die letzte Phase der
Ermordung der europäischen Juden.
Angelika Königseder
334 Verschwörungstheorien
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Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien haben eine jahrhundertealte Geschichte. Sie bieten einfache,
monokausale Erklärungen für komplizierte Sachverhalte und Ereignisse, die schwer
fassbar oder erklärbar sind – Naturkatastrophen, Terroranschläge bzw. politische oder
wirtschaftliche Entwicklungen wie sie etwa aus dem komplexen Geflecht der globa-
lisierten Wirtschafts- und Finanzmärkte entstehen. Es handelt sich nicht um eine Theo-
rie im eigentlichen Sinne, sondern um imaginierte Modelle, die Zusammenhänge be-
schreiben, deren Wahrheitsgehalt gering bzw. gänzlich konstruiert ist.
Verschwörungstheoretiker unterstellen, dass Einzelne oder Gruppen im Geheimen
versuchen, mit ihrem Vorgehen die Welt, einzelne Länder und Regierungen oder be-
stimmte gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bereiche der Gesellschaft zu be-
herrschen. Grundlagen solcher Konspirationstheorien sind vereinfachte Welt- und Ge-
schichtsbilder, die auf verallgemeinernden Unterstellungen basieren. Damit wird sug-
geriert, dass alles, was in einer Gesellschaft passiert, immer Ergebnis eines Planes
mächtiger Individuen oder Gruppen ist und die Komplexität gesellschaftlicher, wirt-
schaftlicher oder sozialer Entwicklungen negiert, die das Ergebnis einer Vielzahl von
ineinander wirkenden Mechanismen sind. Wer Verschwörungsmythen zu widerlegen
versucht bzw. Erklärungen anbietet, warum die angebotene Theorie jeglicher Wahrheit
entbehrt, gilt entweder als getäuscht, erpresst oder gar als Mitwisser der Verschwö-
rung.
Verbreitungsmechanismen sind Gerüchte und Legenden, die heute durch die neuen
Medien wie das Internet einen noch nie dagewesenen Verbreitungsgrad erreichen. Zum
Handwerk der Verschwörungstheoretiker gehören fingierte Dokumente, nicht nach-
prüfbare Quellen und die Konstruktion irrealer Zusammenhänge. Sie versuchen den
Anschein zu vermitteln, als wären ihre Theorien das Ergebnis ernsthafter Forschung
und Quellenrecherche. Zudem spielen die Produzenten solcher Theorien mit der Un-
wissenheit ihrer Rezipienten, indem sie sich ständig gegenseitig zitieren und durch Zir-
kelschluss den Anschein der Seriosität vermitteln. Im Zentrum der Verschwörungstheo-
rien standen in der frühen Neuzeit „Hexen“ und Jesuiten, später neben Geheimdiensten
und Geheimbünden, Freimaurer und Juden, heute häufig Israelis bzw. der Staat Israel.
Verschwörungsmythen werden häufig dann kolportiert, wenn prominente Persön-
lichkeiten auf vermeintlich ungeklärte Weise ums Leben kommen. So ranken sich ent-
sprechende Gerüchte um den Mord an Beatles-Star John Lennon, den Unfall des FDP-
Politikers Jürgen Möllemann ebenso wie den des ehemaligen Vorsitzenden der Frei-
heitlichen Partei Österreichs Jörg Haider. Auch hinter dem Attentat auf US-Präsidenten
Verschwörungstheorien 335
John F. Kennedy 1963 in Dallas/Texas vermuten manche bis heute ein Komplott. Trotz
umfangreicher Untersuchungen und einer stringenten Beweisführung, die zu dem Er-
gebnis kam, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, kursieren bis heute viele Theo-
rien, die entweder eine konspirative Tat von Militärs und Industrie vermuten oder den
CIA bzw. wahlweise die Mafia für den Mord verantwortlich machen. Sektiererische
Kreise vermuten gar „die Juden“ hinter dem Mordanschlag auf den jungen Präsidenten,
da unmittelbar nach seinem Tod der Druck auf Israel, sein Atomprogramm einzustel-
len, deutlich nachgelassen habe. Sie unterstellen, dass Israel – wäre Kennedy am Leben
geblieben – keine Atomwaffen hätte bauen können.
Verschwörungstheorien haben nicht immer, aber häufig eine antisemitische Konno-
tation, weil Juden im Verlauf der Jahrhunderte zum klassischen Sündenbock wurden
und weil ein mannigfaches Repertoire von Stereotypen existiert, aus dem sich nur allzu
leicht Begründungen für schwer erklärbare Ereignisse und Entwicklungen konstruieren
lassen. Grundlage solcher Theorien ist die Annahme, es gebe ein Weltjudentum, das in
allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen im Geheimen ver-
suchen würde, durch Verschwörungen die Macht zu erlangen und damit die Welt zu
regieren. Solche Ideologiekonstrukte haben eine lange Tradition. Sie schöpfen aus dem
Fundus des → Antijudaismus ebenso wie aus dem Kanon des → modernen Antisemi-
tismus. Als „Verschwörer“ gelten die Juden bereits seit den Kreuzzügen, weil sie mit
dem äußeren Feind und falls es einen solchen nicht gibt, mit dem „Antichrist“ verbün-
det seien, sich also einem teuflischen Bündnis verschrieben hätten und später dann als
„Ritualmörder“ oder „Hostienschänder“ gegen die Christenheit agierten ( → Ritual-
mordbeschuldigung, → Hostienfrevel). Solche Zuschreibungen sind bis heute nicht
gänzlich verschwunden, werden aber überlagert durch die klassischen Motive des Ju-
den als „Wucherer“, der in der neuen, zeitgerecht angepassten Version zum Medienun-
ternehmer und politischen Akteur mutiert ist, um vermeintlich die Gesellschaft in gro-
ßem Stil zu unterwandern und sich die Weltmacht zu sichern.
Es gibt wohl kaum einen politischen radikalen Umbruch im Laufe der Geschichte,
hinter der nicht irgendwelche Kreise eine jüdische Verschwörung konstruierten, sei es
die Französische Revolution, der Liberalismus, der Kommunismus, die bolschewisti-
sche Revolution in Russland oder die sozialistische Erhebung in Deutschland 1918/19.
Dies gilt ebenso für Epidemien wie die Pest, die Vogel- und zuletzt die Schweinegrip-
pe. Solche Zuschreibungen hatten für die jüdische Bevölkerung häufig fatale Folgen.
Während die Pest Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa wütete, kamen schnell Ge-
rüchte auf, „die Juden“ hätten die Brunnen vergiftet und die Seuche ausgelöst, um die
nicht-jüdische Bevölkerung auszurotten ( → Brunnenvergiftung). Der aufgehetzte
Mob wütete gegen die jüdische Bevölkerung. Die Pogrome löschten einige der bedeu-
tendsten jüdischen Gemeinden in Frankreich und Deutschland aus.
Antisemitische Verschwörungsmythen waren wesentlicher Bestandteil der Rassen-
politik der Nationalsozialisten, die in der Vernichtung der europäischen Juden endete.
Zu den propagandistischen Kernthemen gehörten das vermeintlich judeo-bolschewisti-
sche Komplott ebenso wie die Unterstellung, „die Juden“ hätten Deutschland den
Krieg erklärt oder die bösartigen Stürmer-Karikaturen des „Börsenjuden“, aber auch
die visuelle Indoktrination durch Filme wie „Der ewige Jude“, in dem Ratten sich als
„jüdisches Ungeziefer“ über die ganze Welt verteilen oder „Die Rothschilds“, in dem
336 Verschwörungstheorien
die als widerliche Fratzen dargestellten Mitglieder der Familie Rothschild die Finanz-
märkte weltweit beherrschen.
Der Name der Familie Rothschild erfüllt bis heute die Funktion, eine vermeintliche
jüdische Allmacht über das weltweite Finanzwesen zu konstruieren. Das Internet bietet
gerade im Zeichen der aktuellen Wirtschaftskrise eine ideale Verbreitungsplattform,
um solchen antisemitischen Phantasien freien Lauf zu lassen. Selbst im Zusammen-
hang mit den sich um die Anschläge des 11. September 2001 rankenden Verschwö-
rungstheorien werden „die Rothschilds“ von rechtsextremen Kreisen als geheime
Macht genannt. Israel hätte die Anschläge mit seinen Komplizen Amerika und Groß-
britannien auf Befehl der Rothschilds „orchestriert“, um mit den strengen Sicherheits-
maßnahmen als Reaktion auf den Terrorangriff die Freiheit der Menschen einzuschrän-
ken. Die wirre Behauptung, die angeblich 4000 jüdischen Angestellten, die im World
Trade Center arbeiteten, wären an jenem Tag nicht zur Arbeit erschienen, weil sie der
amerikanische oder israelische Geheimdienst gewarnt hätte, verbreitete sich bereits am
nächsten Tag auf arabischen Internetseiten wie ein Lauffeuer und findet sich bis heute
auf Webseiten verschiedenster extremer Gruppierungen. Nach den Anschlägen in Lon-
don im Juli 2005 verbreiteten sich im Internet rasch Gerüchte, die insinuierten, die ei-
gentlich Verantwortlichen seien Juden oder der israelische Geheimdienst.
Vor dem Hintergrund solcher abstrusen Ideen ist es nur folgerichtig, dass der „Krieg
gegen den Terror“, den Präsident George W. Bush als Reaktion auf die Anschläge aus-
rief und der im Irak 2003 begann, von antisemitischen Verschwörungstheoretikern als
israelische Initiative phantasiert wird. Als Code verwenden sie häufig das Akronym
„USrael“, mit dem sie zum Ausdruck bringen wollen, dass eigentlich Israel die USA
führt bzw., dass „die Juden“, die in den USA leben, die amerikanische Politik im Sinne
Israels beeinflussen. Letztlich – so die Hirngespinste – würde „USrael“ auch alles dar-
an setzen, die Erdölvorräte in der Welt unter sich aufzuteilen um damit vor allem Euro-
pa zu schaden. Insbesondere der Krieg gegen den Irak wird als Ergebnis einer Ver-
schwörung zwischen den USA und Israel kolportiert. USrael wird häufig synonym für
den Begriff „Ostküste“ verwendet und steht damit auch für antisemitische Verschwö-
rungstheorien, die „den Juden“, die an der amerikanischen Ostküste leben, Macht über
welt- und finanzpolitische Entwicklungen zuschreiben.
Bereits ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren verschwörungstheoreti-
sche Legenden zum Kulminationspunkt einer antisemitischen Stimmung in Osteuropa
geworden. In der polnischen Stadt Kielce kam es im Sommer 1946 zu einem Pogrom
gegen die wenigen überlebenden Juden, die eines Ritualmordes beschuldigt wurden.
In der Sowjetunion spitzte sich der stalinistische Antisemitismus 1953 zu, als neun
Kreml-Ärzte, darunter sechs Juden, einer „Ärzte-Verschwörung“ angeklagt wurden. Ih-
nen wurde vorgeworfen, im Auftrag westlicher Geheimdienste und einer amerika-
nisch-jüdischen Hilfsorganisation führende Militärs ermordet und auf prominente Poli-
tiker Anschläge verübt zu haben.
Jüngste antisemitische Verschwörungstheorien bezichtigen Juden nicht nur des ille-
galen Organhandels – so wurde etwa in einer skandinavischen Zeitung behauptet, Is-
raelis töteten Palästinenser, um sie als Organspender zu missbrauchen –, sondern auch
als Verursacher des Flugzeugabsturzes von Polens Präsident Lech Kaczynski in Smo-
lensk im April 2010. Evangelikale Sektierer machen auf ihrer Internetplattform „die
Verschwörungstheorien 337
Juden“ für das Unglück verantwortlich, weil sie den Präsidenten angeblich dafür be-
strafen wollten, dass sich in den Reihen seiner Partei Antisemiten befänden.
Mit den Möglichkeiten des Internets gelingt es politischen oder religiösen Sektierern
und radikalen Gruppen, Verschwörungstheorien breit zu streuen und uninformierte Re-
zipienten zu beeinflussen. So fanden sich die Gerüchte über die angeblich jüdische Ur-
heberschaft der Schweinegrippe auf islamistischen Seiten und in Karikaturen arabi-
scher Medien, die Unterstellung, „die Juden“ hätten durch die Probezündung von bio-
logischen Waffen im Indischen Ozean den Tsunami vor der Insel Sumatra 2004 ausge-
löst, in radikal islamistischen, aber auch in rechtsextremen Kreisen. Die Unterstellung,
„die Juden“ hätten den → Holocaust nur erfunden, um Deutschland finanziell unter
Druck zu setzen oder andere Länder für eine pro-israelische Haltung zu gewinnen, fin-
det sich ebenso in beiden extremistischen Lagern. Dass die Deutschen systematisch
mit Chemikalien vergiftet würden, die von israelischen Flugzeugen versprüht würden,
scheint eine verschwörerische Legende besonders unter rechtsextremen Sektierern zu
sein.
Antisemitische Übergriffe, Schändungen jüdischer Friedhöfe ( → Friedhofsschän-
dungen) und verbale Attacken in Form von Leserbriefen und Emails an jüdische Insti-
tutionen beweisen, dass antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet sind. Bis
heute dient den Verfassern solcher verworrenen Unterstellungen das mehr als einhun-
dert Jahre alte antisemitische Konstrukt der „Protokolle der Weisen von Zion“ aus dem
zaristischen Russland als sinnstiftende Textgrundlage, aus der sie ihre Agitation glau-
ben rechtfertigen zu können.
Welche Ingredienzen die Erfinder solcher abstrusen Legenden zusammenmischen
und wie sich Verschwörungstheorien ad absurdum führen lassen, haben Informatikstu-
denten mit der von ihnen 1994 ins World Wide Web gestellten „Bielefeld-Verschwö-
rung“ gezeigt. Diese Satire unterstellt, es gebe die Stadt Bielefeld nicht und alle Hin-
weise auf ihre Existenz seien Teil einer großen Verschwörungstheorie, die die üblichen
Verdächtigen als Urheber nennt – den CIA, die Mossad. So sei auch das KFZ-Kenn-
zeichen „BI“ eine Fälschung, da die Stadt nicht existiere. Die „Bielefeld-Theorie“, die
als humoristische Einlage im Internet kursiert, entlarvt auf eindrückliche Weise die Ab-
surdität von Verschwörungstheorien.
Juliane Wetzel
Literatur
Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Welt-
verschwörung, München 2007.
Ute Caumanns, Mathias Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Kon-
stanten – historische Varianten, Osnabrück 2001.
Tobias Jaecker, Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Va-
rianten eines alten Deutungsmusters, Münster 2004.
Völkermord → Genozid
338 Völkische Weltanschauung
Völkische Weltanschauung
Nachdem der völkische Sprachideologe Hermann von Pfister-Schwaighusen (1836-
1916) um die Mitte der 1870er Jahre das lateinisch-stämmige „national“ mit „völkisch“
zu verdeutschen vorgeschlagen hatte, fand das Wort in der Folgezeit zunächst im all-
deutschen Umfeld Österreichs rasche Verbreitung. Von dort gelangte es an der Jahrhun-
dertwende in das Deutsche Reich und wurde zum politischen Schlagwort für einen hy-
briden, integralen → Nationalismus. Nach dem Ersten Weltkrieg diente das Adjektiv
zunächst als „programmatische[s] Schlagwort zahlloser politischer Kräfte, kulturkriti-
scher Theorien und literarischer Richtungen“, um nach 1933 zum „meistgebrauchte[n]
Begriff zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Weltanschauung“ zu avancieren
(Martin Broszat). Aus dieser Vereinnahmung des Begriffs durch den → Nationalsozia-
lismus resultiert ein in der Gegenwart fortbestehender Sprachgebrauch, in dem – ideo-
logiekritisch mit einigem Recht –„völkisch“ und „nationalsozialistisch“ als Komple-
mentärbegriffe verwendet werden. Dem synonymen Gebrauch korrespondiert heute
eine den 1920er Jahren vergleichbare ebenso weitgefasste wie vage Verwendung von
„völkisch“.
Die völkische Weltanschauung konnte nie als systematische und für die Bewegung
allgemein verbindliche Ideologie formuliert werden. Dies liegt vor allem in der Struk-
tur der völkischen Bewegung begründet. Es existieren zwar ein gemeinsamer „Gesin-
nungskern“ (Dieter Breuer) und charakteristische Grundüberzeugungen, die von den
Anhängern der völkischen Bewegung geteilt wurden, wobei jedoch Abweichungen in
Hinblick auf die Gewichtung und Auslegung der verschiedenen Ideologeme in den ein-
zelnen Segmenten der völkischen Bewegung, bei ihren Ideologen, Organisationen und
deren Klientel bestehen. Insofern müssen die völkische Bewegung als ein loses Netz-
werk und die ihr zugerechneten bzw. sich ihr zuzählenden unterschiedlich organisierten
Vereinigungen bei der Betrachtung der vor 1914 bereits vollständig formulierten kom-
plexen völkischen Ideologie Berücksichtigung finden.
Dem Charakter einer heterogenen radikalnationalistisch-reformistischen Such- und
Sammelbewegung korrespondiert die synkretistische völkische Ideologie, die Züge ei-
ner Ersatzreligion trägt. Sie lehnt liberale und kosmopolitische Werte ab und strebt auf
rassenideologischer Grundlage nach der Schaffung einer ständisch organisierten und
religiös fundierten Gesellschaft („Volksgemeinschaft“) mit germanenideologischem
Wertesystem. Ihr Ziel ist ein Rassestaat mitteleuropäischen bzw. ein Staatenbund pan-
germanischen Zuschnitts.
Das Adjektiv „völkisch“ ist in Bezug auf die völkische Ideologie und Bewegung
grundsätzlich durch die Kategorie „Rasse“ definiert. Das Fundament der völkischen
Weltanschauung bildet die völkische Rassenideologie. Ihren Dogmen unterliegen sämt-
liche Ideologeme von der Germanen- über die Volkstums- und Heimatideologie bis hin
zum Antisemitismus und zu den Religionsentwürfen, wobei sich das Rassenkonzept
zwischen kulturell begründeten, spiritualistischen und – im Kern der Bewegung – bio-
logistischen Auffassungen bewegte. Eine Reihe völkischer Organisationen forderte
von ihren Mitgliedern das „Blutsbekenntnis“, einzelne führten zudem eine sogenannte
Ahnenprobe durch. Rasse galt im völkischen Denken als bestimmende Größe für das
Schicksal eines Volkes und seiner Individuen. Mit dem religiös überhöhten Rassendog-
Völkische Weltanschauung 339
ma ließen sich nach völkischer Auffassung Vergangenheit und Gegenwart ebenso er-
klären wie die Zukunft bestimmen.
Die völkische Rassenideologie fußt neben → Sozialdarwinismus und → Eugenik/
Rassenhygiene vor allem auf der von Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) in sei-
nem vierbändigen „Essai sur l’inégalité des races humaines“ (1853/55, dt. 1898-1901)
entwickelten Gedankenwelt. Sie geht von der Annahme aus, dass die Arier die höchste
aller Menschenrassen darstellen und dass unter den Ariern wiederum die germanische
bzw. → nordische Rasse (und deren indogermanische Vorfahren) als die am höchsten
entwickelte Rasse zu gelten habe. Die aus dieser Überzeugung abgeleitete, ältere Tradi-
tionen integrierende und eine Abstammungsgemeinschaft konstituierende völkische
Germanenideologie hat als ein Eckpfeiler der völkischen Weltanschauung zu gelten.
Sie begründet zum einen – unter Rückgriff auf das zeitgenössisch verbreitete Ideolo-
gem vom „auserwählten Volk“ – die Prädestination und Superiorität des Germanen mit
dem Deutschen als dem unmittelbaren Nachfahren. Sie bildet zum anderen die Grund-
lage für eine scheinbar geschichtlich legitimierbare Lebenswelt mit rassespezifischem
(„arteigenem“) Wertesystem und Verhaltensnormen, wie sie z.B. in den Vorstellungen
männerdominanter Geschlechterbeziehungen und in einem entschieden antiemanzipa-
torischen, auf Reproduktions-, Mutter- und Ehefrauenfunktionen konzentrierten Frau-
enbild Ausdruck finden.
Dem Selbstverständnis einer rassebedingten Überlegenheit entspricht in der duali-
stisch angelegten völkischen Ideologie eine den völkischen Militarismus und Bellizis-
mus mitbegründende Bedrohung durch andere, als minderwertig klassifizierte Rassen.
Hieraus resultieren in rassenideologischer Überformung bestehender Ressentiments in
der deutschen Gesellschaft die in allen völkischen Teilbewegungen latenten, graduell
jedoch unterschiedlich aggressiv ausgebildeten Antizismen, vor allem der fundamen-
tale Antisemitismus, des weiteren Antislawismus (der verbunden mit dem Antisemitis-
mus den Antibolschewismus nach dem Ersten Weltkrieg einschließt), Antiromanismus
(in den Ausprägungen des Antikatholizismus, Antiklerikalismus und Antijesuitismus)
– sowie die entschiedene Ablehnung jeglicher Form und Ausprägung von Internationa-
lismus (wie z.B. der Sozialdemokratie, des Pazifismus, der Freimaurerei, der Frauenbe-
wegung).
Neben der äußeren konstruierte die völkische Ideologie eine innere, teils selbstver-
schuldete, teils durch Fremdeinflüsse bedingte Bedrohung, die einen mit dem Schlag-
wort „Arierdämmerung“ (Otto Ammon) belegten und in pessimistischen Untergangs-
visionen mündenden degenerativen, in der Gegenwart vermeintlich beschleunigten
Prozess der „Germanen-Deutschen“ postulierte. Daraus resultierte unter dem Schlag-
wort „deutsche Wiedergeburt“ ein umfangreiches, sich über alle Bereiche von Staat,
Gesellschaft und deren Individuen erstreckendes und in hohem Maße auf Erziehung
setzendes Regenerations- und im besonderen (Rassen-) Erneuerungsprogramm, das
gleichermaßen von den Theoremen der positiven und negativen Eugenik/Rassenhy-
giene sowie insbesondere von lebensreformerischen Vorstellungen beeinflusst ist. Das
Ideal war der zum „Rasseadel“ stilisierte deutschvölkische („germanische“, „nordi-
sche“) – hochgewachsene, dolichocephale („langschädelige“), blonde und blauäugige
– „neue Mensch“.
340 Völkische Weltanschauung
Die Betonung einer natürlichen, vor allem körperorientierten Lebensweise und der
Natur („Heimat“) führte in der völkischen Ideologie zu einem ebenso entschiedenen
Antiurbanismus wie zur Übernahme in der → Blut- und Bodenideologie rassisch ge-
wendeter agrarromantischer Überzeugungen, die in – jedoch nicht vollständiger – Ab-
kehr von der industriekapitalistischen Wirtschaftsverfassung mit Hilfe der Germanen-
ideologie eine Hinwendung zu agrarisch dominierten Gesellschaftsstrukturen anstreb-
ten und die mit Hilfe der vielgestaltigen Publizistik, namentlich der massenhaften völ-
kischen Zeitschriften-, Flugblatt-, Pamphlete-, Literatur- und Kunstproduktion propa-
giert wurden. Sie schlugen sich ferner außer in Forderungen nach vornehmlich land-
wirtschaftlich nutzbarem Lebensraum (besonders in Ostmittel- und Osteuropa, seltener
in außereuropäischen Kolonien) in spezifischen Gartenstadt-Konzepten und vor allem
in der völkischen Siedlungsbewegung nieder. Diese war ebenfalls von (lebens-)refor-
merischen Vorbildern inspiriert und trachtete danach, von der völkischen Mehrheit ab-
gelehnte, rassezüchterische Utopien – etwa in den Siedlungen Heimland (nahe Rheins-
berg), Klingberg (unweit von Scharbeutz) und Donnershag (bei Sontra) – zumindest
ansatzweise zu realisieren.
Im Zentrum der völkischen Ideologie steht unter Berufung auf Paul de Lagarde
(1827-1891) und Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) die antisemitisch, antika-
tholisch, und – von einem radikalen Flügel der Teilbewegung – dezidiert antichristlich
unterlegte Forderung nach einer „arteigenen“, d.h. einer Rasse und Volk wesensgemä-
ßen Religion. Religion hat insofern als „archimedischer Punkt“ der völkischen Ideolo-
gie zu gelten, als sie (eingebettet in den zeitgenössischen Religionsdiskurs) zum Teil
unter Rückgriff auf esoterische Elemente einem ideologischen Überbau gleich die
Rechtfertigung für das rassistische völkische Weltanschauungsgebäude lieferte, die
durch die postulierte rassische Überlegenheit manifeste göttliche Auserwähltheit der
Germanen-Deutschen feststellte und deren daraus abgeleitete globalen Führungs- und
Herrschaftsansprüche legitimierte. Religion und insbesondere Religiosität bildeten in-
sofern die entscheidenden Antriebskräfte für das völkische Denken und Handeln und
namentlich für den völkischen Radikalismus. Wie die im Erscheinungsbild diffuse völ-
kische Sammelbewegung selbst waren auch die Vorstellungen von der Gestalt der „art-
eigenen“ Religion sehr verschieden. Der dezidierten Ablehnung des Christentums
durch „deutschgläubiges“ und germanisches Neuheidentum, die vornehmlich unter Be-
rufung auf die taciteische Germania, die mittelalterliche isländische Edda- und Saga-
dichtungen sowie verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg auf archäologische Funde und
deren ideologische Deutung vermeintliche germanische Glaubensauffassungen wieder-
zubeleben suchten, und Bestrebungen (etwa seitens der esoterischen Ariosophie), Chri-
stentum und (indo-)germanische Glaubenswelt miteinander zu verschmelzen, stand
eine völkische Mehrheit gegenüber, die unter dem Schlagwort „Deutschchristentum“
(Adolf Bartels) ausgehend vom lutherischen Protestantismus ein von seinen alttesta-
mentlich-jüdischen und paulinischen Fundamenten gelöstes, arisiertes und germani-
siertes Christentum konstruierte.
Uwe Puschner
Literatur
Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darm-
stadt 2008.
Völkischer Antisemitismus 341
Völkischer Antisemitismus
Der völkische Antisemitismus bildete einen zentralen weltanschaulichen Bestandteil
der völkischen Bewegung, in der ab Mitte der 1890er Jahre alldeutsche, nationalisti-
sche und teilweise lebensreformerische Strömungen zusammenflossen. Beherrschendes
und integrales Element dieser heterogenen Bewegung war das Dogma der völkischen
Rassenideologie, dem der Antisemitismus zwar untergeordnet blieb, der jedoch in den
Programmen völkischer Organisationen an oberster Stelle rangierte, weshalb es in der
wilhelminischen Ära häufig zur Gleichsetzung der Völkischen mit den parteipolitisch
organisierten Antisemiten kam. Wenngleich sich die Völkischen durchweg zum Anti-
semitismus bekannten, standen sie dem organisierten Antisemitismus des ausgehenden
19. Jahrhunderts kritisch und zumeist ablehnend gegenüber, gingen sie doch davon
aus, dass die häufigen Zerwürfnisse, die andauernde Fragmentierung der antisemiti-
schen Parteienlandschaft und der → Radauantisemitismus einiger Politiker ursächlich
für die fehlende Durchsetzung des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft gewe-
sen seien und damit der antisemitischen Bewegung als Ganzes geschadet haben.
Anders als die parteipolitisch organisierten Antisemiten begriffen die Völkischen
den Antisemitismus nur als ein – wenn auch wichtiges – Element einer umfassenden
nationalen Weltanschauung und Politik. Aus dem Selbstverständnis einer außerparla-
mentarischen Avantgarde heraus lehnten sie daher die Bildung einer rein antisemiti-
schen Partei ab und propagierten die Infiltration aller gesellschaftlichen Schichten, po-
342 Völkischer Antisemitismus
Vorurteile
Vorurteile werden in den Sozialwissenschaften definiert als stabile und konsistent ne-
gative Einstellungen gegenüber einer sozialen Gruppe und ihren Mitgliedern. Alle Vor-
urteilstheorien nehmen an, dass die Einstellung einer Gruppe gegenüber mit den Attri-
buten verbunden ist, die man als positiv oder negativ an ihr wahrnimmt. Es besteht
allerdings Uneinigkeit über die Richtung der Kausalität: Die Einstellung einer Person
zu einer Gruppe kann von den Eigenschaften bestimmt sein, die sie den Menschen ei-
ner Gruppe zuschreibt, umgekehrt können sich die Stereotypen ändern, wenn die ge-
samte Einstellung sich ändert.
Man unterscheidet in der Vorurteilsforschung zumeist drei Dimensionen des Vorur-
teils: die kognitive Dimension (negative Stereotypen), eine emotionale (Antipathie)
und eine konative, d.h. eine die Verhaltenstendenz betreffende Dimension (Diskrimi-
nierungsbereitschaft). Vorurteile sind zwar individuelle Einstellungen, Affekte und Ver-
haltenstendenzen, sie sind jedoch gleichzeitig soziale Tatsachen: Ein Individuum er-
wirbt und äußert sie gegenüber anderen Gruppen, weil und indem er einer Gruppe an-
gehört.
Die Definition des Vorurteils als eines negativen Urteils über alle oder die Mehrzahl
der Mitglieder einer Gruppe vermeidet die in der Wortbedeutung (lat. praeiudicium,
„vorläufige“ oder „voreilige Entscheidung“, „maßgebendes Beispiel“) steckende An-
nahme, es handele sich bei Vorurteilen um vorschnelle Urteile, die auf einer mangel-
haften Informationsbasis basierten. Es zeigt sich jedoch, dass Vorurteile auch bei ge-
nauer Kenntnis der Vorurteilsobjekte weiter bestehen und dass sie durch zusätzliche In-
formationen zumeist nicht zu ändern sind. Außerdem wäre bei dieser Definition offen,
wie und ob sich Vorurteile von bloß falschen Urteilen unterscheiden. Dieser Einwand
344 Vorurteile
trifft auch die Definitionen, die Vorurteile als Resultate eines falschen Denkprozesses
verstehen, vornehmlich als eine zu starke Verallgemeinerung einzelner Erfahrungen.
Generalisierungen sind in fast allen Urteilsprozessen unumgänglich, sobald Aussagen
über einen Einzelfall hinausgehen sollen. Auch hier bestehen zwischen Vorurteilen und
„normalen“ Urteilen keine oder allenfalls graduelle Unterschiede. In anderen Definitio-
nen wird das Moment der Starrheit als Kennzeichen für den Vorurteilscharakter ange-
führt: Vorurteile sind Urteile, die auch durch widersprechende Informationen nicht re-
vidiert werden, mithin dogmatische Urteile. Doch auch hier ergeben sich Probleme:
keineswegs alle starren Positionen werden, etwa in der kirchlichen Dogmatik, als vor-
urteilsbehaftet angesehen, zum anderen ergibt sich für die Zeitgenossen oft das Pro-
blem der Unentscheidbarkeit, da vor allem miteinander im Streit liegende Gruppen die
Realität jeweils anders sehen. Da Vorurteile eng mit Gruppenkonflikten verbunden
sind, gibt es keine dritte „objektive“ Partei, so dass der Wahrheitsgehalt der Urteile um-
stritten bleibt. Wenn also weder Irrtümlichkeit, geringe Informationsbasis, Übergenera-
lisierung noch Starrheit ausreichen, um Vorurteile von anderen abzugrenzen, was ist
dann das Abgrenzungskriterium? Tatsächlich nimmt auch die Vorurteilsforschung im-
mer die Vorurteilshaftigkeit bestimmter Urteile an, ohne jeweils deren Realitätsgehalt
oder die Sachangemessenheit überhaupt zu prüfen.
Der Vorurteilsbegriff wird wesentlich durch seinen normativen, moralischen Gehalt
bestimmt. Demnach weichen Vorurteile von anderen Urteilen nicht durch spezifische
innere Qualitäten oder einen defekten Entstehungsprozess ab, sondern durch ihre so-
ziale Unerwünschtheit. Als Vorurteile erscheinen demnach nur soziale Urteile, die ge-
gen spezifisch humane Werte verstoßen: gegen die Normen der Rationalität, der Ge-
rechtigkeit (Gleichheit) und der Mitmenschlichkeit. Erhebt man die Forderung nach
Rationalität, erscheint das Vorurteil als Fehler in der Realitätsprüfung, etwa durch man-
gelhafte Informationsverarbeitung, durch Unkenntnis über bestimmte Zusammenhän-
ge, durch Abwehr widersprechender Argumente oder Übergeneralisierung; fordert man
Gerechtigkeit, als ungleiche Bewertung und Behandlung von Menschen; und unter
dem Aspekt der Mitmenschlichkeit als Intoleranz und Ablehnung des Anderen als ei-
nes Mitmenschen und Individuums.
Aufgrund seines normativen Gehalts ist der Vorurteilsbegriff also nicht absolut, son-
dern nur relativ auf ein bestehendes Wertsystem hin zu definieren, nämlich als Abwei-
chung von den Wissens- und Moralstandards einer Gesellschaft. Der Bestand an Vorur-
teilen ist also historisch und für jede soziale Gruppe verschieden: Was heute in der öf-
fentlichen Meinung und im Justizwesen als Vorurteil gilt (Hexenglaube, Gottesmord-
Vorwurf an die Juden), hat einmal zum normalen Wissensbestand von Kirchen und Öf-
fentlichkeit gehört.
Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung beginnt in den 1920er Jahren mit der Eta-
blierung der neuen Disziplinen Soziologie und Psychologie. Hier lassen sich grob drei
Theoriestränge unterscheiden:
1. Psychodynamische oder persönlichkeitstheoretische Ansätze, zu denen etwa die
Psychoanalyse, die Theorie der autoritären Persönlichkeit, die Frustrations-Aggres-
sions-Hypothese zählen, die die Ausbildung von Vorurteilen auf psychische Konflikte,
Frustrationen, eine autoritäre Erziehung oder andere Defizite in der Ausbildung der
Persönlichkeit zurückführen. Diese Theorien haben als zentrale psychische Mechanis-
Vorurteile 345
anderen. Diese im Vergleich gewonnenen Fremdbilder müssen nicht bei jedem Kontakt
neu entwickelt werden, sondern werden als „Gruppenkonzept“ oder „Schema“ gespei-
chert. Die menschliche Wahrnehmung besitzt auch bei normalem Funktionieren eine
gewisse Tendenz zur Stereotypie und Vorurteilsbildung.
Werner Bergmann
Literatur
Bernd Estel, Soziale Vorurteile und soziale Urteile, Opladen 1983.
John Harding u.a., Prejudice and Ethnic Relations, in: Handbook of Social Psychology, Vol.
V, hrsg. von G. Lindzey, E. Aronson, Reading, Mass. 1969².
Anton Pelinka, Karin Bischof, Karin Stögner (Hrsg.), Handbook of Prejudice, Amherst,
New York 2009.
Lars-Eric Petersen, Bernd Six, Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung: Theorien,
Befunde und Interventionen, Weinheim 2008.
Henri Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil: Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen,
Bern 1982.
Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse, Münster 1997.
Wirtschaftsantisemitismus
Juden hatten seit dem 12. Jahrhundert in weiten Teilen des christlichen Abendlandes
eine gewisse ökonomische Sonderstellung. Diese war freilich nicht selbst gewählt, son-
dern Folge kirchlicher Ausgrenzungspolitik, durch die Juden in jene Betätigungsfelder
gedrängt wurden, die – seinerzeit eher marginal – heutzutage als tertiärer Sektor zentra-
ler Wertschöpfungsbereich der Wirtschaft sind. Neid, Missgunst und Ressentiments
brachen sich insbesondere nach der Gründerkrise (1873) verstärkt Bahn und bildeten
in seiner Formationsphase einen Kernbereich des sich ausbildenden Antisemitismus.
Heinrich von Treitschke brachte dies in seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“ 1879 auf
den Punkt, als er das Bild von strebsamen, Hosen verkaufenden Jünglingen beschwor,
deren Kinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen würden. Schon
jetzt, so Treitschke, säße der Jude in tausend deutschen Dörfern und kaufe seine Nach-
barn wuchernd aus. Die Diffamierung vorgeblich jüdischer Geschäftsmethoden nahm
auch in dem 1907 erstmals veröffentlichten „Handbuch der Judenfrage“ relativ breiten
Raum ein. 1913 veröffentlichte dessen Autor Theodor Fritsch überdies unter einem
Pseudonym eine ebenso umfangreiche wie hanebüchene Abhandlung über die „Juden
im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges“.
Besonderen Auftrieb erhielt der Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg. Juden
wurde nicht nur die Schuld am verlorenen Krieg, sondern auch an der Inflation zuge-
schrieben. So nahm Gottfried Feder 1920 in das Parteiprogramm der NSDAP auch das
Wirtschaftsantisemitismus 347
so wie jene, die sich gegen eine Rückkehr entschieden hatten und „nur“ eine angemes-
sene Kompensationszahlung verlangten, allzu oft in jahrelange Rückerstattungsverfah-
ren verwickelt. Während sich die Rückerstattung in der BRD bis weit in die 1970er
Jahre erstreckte, ist sie in den neuen Bundesländern – zwanzig Jahre nach dem Fall der
Mauer – noch immer nicht abgeschlossen. Die Länge der Wiedergutmachungsverfah-
ren und die Höhe der dabei geleisteten Zahlungen boten wieder Stoff für die Mär von
der Gier der Juden. Unter dem Mantel einer allgemeinen → Kapitalismuskritik wird
seit einigen Jahren von rechtsradikaler Seite überdies das Schlagwort der Brechung der
Zinsknechtschaft wieder verstärkt verwendet.
Christoph Kreutzmüller
Literatur
Frank Bajohr, Arisierung in Hamburg, Hamburg 1997.
Benno Nietzel, Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der deutschen Juden 1933-
1945. Ein Literatur- und Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S.
561-613.
Alfred Wiener, Wirtschaftsboykott, Amsterdam 1934.
Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deut-
schen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
Wucherer → Wucherjude
Wucherjude
Von Judas Ischariot, der für dreißig Silberlinge den Herrn verriet, über die Figur des
Shylock bis zu den Rothschilds ist kaum ein Stereotyp in der Geschichte des christli-
chen Abendlandes derart virulent wie das des geldgierigen Juden. Die ökonomische
Spezialisierung der Juden im mittelalterlichen Europa auf den Geldverleih hatte zwei-
erlei Gründe: Einerseits war den Juden der Zugang in die sich als christliche Bruder-
schaften verstehenden Zünfte versperrt und ihre Handelstätigkeit wurde daher immer
mehr eingeschränkt, andererseits war das Zinsnehmen den Christen aus religiösen
Gründen verboten.
Die kirchliche Verbotspolitik konnte sich sowohl auf die griechische Moralphiloso-
phie als auch auf die Heilige Schrift stützen (Exodus 22,25; Levitikus 25,35-37; Buch
der Psalmen 14,4-5; Ezechiel 22,10-12). Dabei galt alles als Wucher (usura), was der
Kreditnehmer über den ausgeliehenen Betrag hinaus zurückzahlen musste. Höllenqua-
len oder zumindest das Fegefeuer sollten nach den Kirchenvätern den erwarten, der
sich über die göttliche Ordnung gestellt und Geld, das als unfruchtbar galt, mit Zinsen
verliehen hatte. Denn wie Thomas von Aquin feststellte, „nummus non parit nummos“
[Münzen zeugen keine Münzen].
Da für die seit dem vierten Laterankonzil 1215 sozial ausgegrenzten Juden das rigo-
rose Wucherverbot der Kirche nicht galt, waren sie es, die den ebenso verfemten wie
unentbehrlichen Beruf des Geldverleihers übernahmen. Sie gewährten nun den Kredit,
ohne den die Wirtschaft seit dem Hochmittelalter nicht mehr funktionieren konnte. Ein
Monopol, das die Juden freilich nur gegen hohe Abgaben, Zwangsdarlehen und
Schutzgelder an Könige, Städte und Fürsten ausüben durften.
Xenophobie 349
Anders als eben jene, die das Finanzsystem erst ermöglichten und von ihm am mei-
sten profitierten, bekamen die Juden schon bald die Schattenseiten dieses Berufs zu
spüren: Jetzt galten sie als „reiche Wucherer“, als „Schacherjuden“, die aus dem Elend
anderer (Ernteausfälle, Krankenbehandlung) dubiosen Gewinn erzielten. Die Gefahr
der Gläubiger, von den Schuldnern vertrieben oder erschlagen zu werden, stieg dabei
proportional mit der Höhe des gewährten Kredits.
Zur Mitte des 14. Jahrhunderts ist eine Trendwende im Kreditwesen zu verzeichnen,
die mit einer Lockerung des kirchlichen Zinsverbotes einherging. Stück für Stück wur-
den die Juden von ihren christlichen Konkurrenten – zumeist städtische Unternehmer
und Handelsgesellschaften – auf die Geldleihe für die Ärmsten abgedrängt. Das Vorur-
teil des „reichen Juden“, der „mauschelnd“, „schachernd“ und „wuchernd“ sich seinen
Gewinn ohne körperliche Anstrengung ergaunerte, blieb bis in die Neuzeit dennoch
bestehen.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Feindbild in neurotischer Fixierung auf das
Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“ zum Konstrukt eines angeblich inter-
national operierenden Finanzjudentums, der sogenannten → Goldenen Internationale,
weiterentwickelt.
Clemens Escher
Literatur
Jacques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen, Stuttgart 1988.
František Graus, Pest-Geißler-Judenmorde, Göttingen 1994, S. 352-370.
Johannes Heil, Bernd Wacker (Hrsg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und
christlicher Tradition, München 1997.
Freddy Raphael, Sechstes Bild: „Der Wucherer“, in: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör
(Hrsg.), Bilder der Judenfeindschaft, Augsburg 1999, S. 103-118.
Xenophobie
Das aus dem Griechischen stammende Wort Xenophobie setzt sich aus xénos [Fremder
oder Gast] und phóbos [Furcht oder Angst] zusammen und bedeutet Fremdenangst
bzw. Furcht vor dem Fremden. Unter Xenophobie ist eine ablehnende Einstellung ge-
genüber anderen Menschen oder Gruppen zu verstehen, die aufgrund ihrer fremden
Herkunft, ihrer Kultur oder Sprache als andersartig angesehen werden. Sie macht sich
auf verschiedene Art und Weise bemerkbar, beispielsweise durch Kontaktvermeidung,
Geringschätzung oder Spott. Xenophobie wird häufig mit Fremdenfeindlichkeit gleich-
gesetzt, was jedoch falsch ist, da „Furcht“ eine andere Bedeutung hat als „Feindlich-
keit“. Die Furcht vor dem Fremden kann die Fremdenfeindlichkeit lediglich auslösen,
ist mit dieser aber nicht gleichzusetzen. Somit ist Xenophobie eine Vorstufe zur Frem-
denfeindlichkeit bzw. kann zur Fremdenfeindlichkeit führen.
Obwohl es bereits in der Antike, beispielsweise bei Platon, Reflexionen über Frem-
de und den Umgang mit ihnen gab, Vorurteile gegen die „Barbaren“ geläufig und
Fremde ohne Bürgerrechte Realität waren, war die Wortkombination „Xenophobie“
zur damaligen Zeit unbekannt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wird diese zum Begriff
der soziologischen und psychologischen Gesellschaftsbeobachtung. Erstmals erwähnt
wurde „Xenophobie“ 1901 in Anatoles Frances Roman „Monsieur Bergeret à Paris“,
350 Zionismus
1906 fand der Begriff Eingang in das französische Wörterbuch „Nouveau Larousse il-
lustré“.
Inwieweit es sich bei der Xenophobie um eine biologische Bestimmungsgröße,
durch Eingliederung in die Gesellschaft erworbenes Verhalten oder um freie Entschei-
dung handelt, ist umstritten. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich häufig die
Aussage, Xenophobie sei der Ausdruck einer natürlichen Veranlagung und biologisch
vorgegeben, somit nichts Erworbenes oder Veränderbares. Als Beispiele dafür werden
die Fremdenfurcht des Kleinkindes, das „Fremdeln“, oder aggressives Verhalten bzw.
Verbünden gegen Eindringlinge oder Außenseiter im Tierreich genannt. Die Annahme,
dass dieses Verhalten allgemein gültig und die Ursache für die Ablehnung und die
Angst vor Fremden sei, wird von Biologen oder Anthropologen jedoch nicht bestätigt.
Trotzdem wird der biologische Ansatz immer wieder herangezogen bzw. als Ausrede
benutzt. So wird Fremdenangst beispielsweise als ein universales, tief in der Psyche
verwurzeltes Phänomen bezeichnet, das den Menschen während der längsten Zeit der
Geschichte gute Dienste leistete und ihn sogar vor Krankheiten schützte.
Die in allen Kulturen vorhandene Verunsicherung durch Fremde, durch Menschen
anderer Hautfarbe oder Religion, kann verschiedene Auswirkungen haben. Einerseits
kann das Unbekannte anziehend wirken, kann als „Exotik“ neugierig machen, anderer-
seits können durch das Fremde auch Vorbehalte ausgelöst werden, die sich in Ängste
umwandeln und somit zur Xenophobie werden. Bereits bei der Xenophobie besteht die
Bereitschaft zu aktivem politischem Verhalten, das jedoch nicht zwangsläufig in einer
direkten Bedrohung der oder des Fremden mündet.
Carina Baganz
Literatur
Christian Geulen, Antisemitismus – Rassismus – Xenophobie: Zur Unterscheidung moder-
ner Anfeindungsformen, in: Dan Diner (Hrsg.), Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5
(2006), S. 257-278.
Peter Glanninger, Rassismus und Rechtsextremismus. Rassistische Argumentationsmuster
und ihre historischen Entwicklungslinien, Frankfurt am Main 2009.
Corinna Kleinert, Fremdenfeindlichkeit. Einstellungen junger Deutscher zu Migranten,
Wiesbaden 2004.
Xuetas → Conversos
Zionismus
Unter Zionismus, einer Wortschöpfung von Nathan Birnbaum 1890, versteht man ganz
allgemein die im 19. Jahrhundert entwickelte jüdische Nationalbewegung, die sich al-
lerdings von der messianischen Erwartung auf ein erneutes Zusammenführen des jüdi-
schen Volkes in Erez Israel (hebräisch Land Israel) hermeneutisch nicht trennen lässt,
denn der Wunsch am Ende des Pessach-Seders „Nächstes Jahr in Jerusalem“ hat zu-
tiefst eschatologischen Charakter, auch wenn es immer wieder zu kleineren Immigra-
tionswellen kam. Realpolitisch wirksam wurde der Zionismus aber erst im Zusammen-
treffen mit dem Antisemitismus.
Zionismus 351
Kongresses, nämlich 1897 nach Basel, dem weitere folgen sollten. Zwar gab es auch
schon 1882 eine von Leon Pinsker initiierte Konferenz in Kattowitz, doch war diese
innerjüdisch angelegt, während Herzl bewusst nach außen wirken wollte. Die Koloni-
sten waren in Palästina, aber die Zionisten in Europa machten deutlich, dass sie der
Bedrohung aus der Zuschreibung des Fremdseins durch den Antisemitismus nicht mit
dem weiteren Aufgeben von Präsenz, was eine noch stärkere Assimilation inkludiert
hätte, begegnen wollten, sondern mit der eigenen Inanspruchnahme des Kodex der Na-
tionalbewegungen. Der Antisemitismus stellte die Juden außerhalb des nationalen me-
taphysischen Raumes, der Weg nach Basel war daher notwendig und symbolisch.
Erik Petry
Literatur
Micha Brumlik, Kritik des Zionismus, Hamburg 2007.
Yotam Hotam, Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und natio-
naljüdisches Denken, Göttingen 2010.
Gideon Shimoni, The Zionist Ideology, Brandeis University Press Hanover 1995.
Zwangsbekehrung → Zwangstaufe
Zwangstaufe
Die Diskriminierung und Verfolgung von Juden erfolgt im Römischen Reich seit des-
sen Christianisierung vor allem als Bekehrungszwang, der dann im Frühmittelalter
durch Vertreibungsandrohungen und –aktionen untermauert wird. Zwangstaufen, die
dem Wortlaut nach nicht freiwillig, sondern auf starken äußeren Druck zustande kom-
men, lassen sich vereinzelt bereits für das 4. bis 7. Jahrhundert nachweisen, als schein-
bare „Massenbekehrungen“ sind sie aus der Zeit der Kreuzzüge bekannt.
Unter dem christlichen Kaiser Iustinian (527-565) wurden die Juden von Boreion in
der libyschen Pentapolis (Nordafrika) zur Taufe genötigt, während ihre Synagoge zur
Kirche umgeweiht wurde. Obwohl das Römische Recht des „Codex Iustinianus“ von
534 in seinen Rechtsminderungen bereits eine Abwertung des gesellschaftlichen Status
der Juden bedeutete, stellten diese Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber den Juden
vor dem Hintergrund der Rückeroberung Nordafrikas selbst noch die Grundsätze des
mit Einschränkungen versehenen Römischen Rechts infrage. Auch die Zwangsbekeh-
rung der Juden von Menorca um 418 geht mit der Zerstörung der Synagoge und dem
Bau einer Kirche einher. 721/22 ordnete Kaiser Leo III. (716-749) ebenfalls die
Zwangstaufe von Juden an.
Gegen einen Taufzwang sprach sich Papst Gregor der Große (590-604) aus, obwohl
er die Mission von Juden förderte. Denn die durch Zwang erreichte Taufe führe nur
dazu, dass der Getaufte zu seinem alten Glauben zurückkehre. Gegenüber dieser gemä-
ßigten Position ist das vor dem Hintergrund der scharfen Judengesetzgebung der west-
gotischen Könige im 7. Jahrhundert um 615 zu datierende Zwangsbekehrungsdekret
gegen alle Juden des Reiches von König Sisebut (612-621) hervorzuheben. Damit war
in der Folgezeit den gegen ihren Willen getauften Juden der Verbleib in der dortigen
Christenheit vorgeschrieben, sei es aufgrund der als unrevidierbar angesehenen Tauf-
wirkung, sei es aufgrund der notwendigen Aufrechterhaltung der Rechtgläubigkeit der
Zwangstaufe 353
getauften Juden als religionspolitisches Korrelat des Übertritts der westgotischen Köni-
ge vom Arianismus zum Katholizismus. Allerdings ist diese von den Westgotenköni-
gen des 7. Jahrhunderts teilweise vertretene Politik des Bekehrungszwangs als weitge-
hend gescheitert anzusehen, weil die Zwangskonvertierten zum Judentum zurückkehr-
ten bzw. ihre Nachkommen sich der Taufe entziehen und weiterhin jüdische Riten
praktizieren konnten. Auch für das merowingische Frankenreich des ausgehenden 6.
und des 7. Jahrhunderts sind Zwangsbekehrungen und Übergriffe auf Synagogen be-
kannt wie die Zwangstaufe der Juden von Clermont durch Bischof Avitus um 576 oder
die Zwangstaufe der Juden durch König Chilperich von Neustrien (561-584) um 582
nach der Übernahme von Paris als neuer Hauptstadt seines Reiches. Ebenso soll es in
Norditalien im 7. Jahrhundert vor dem Hintergrund der endgültigen Katholisierung der
Langobarden zu einer gewaltsamen Taufe der Juden gekommen sein.
Die beiden seit dem Frühmittelalter geltenden Positionen der gregorianischen Tauf-
freiheit und der spanischen Zwangstaufe hat der Kirchenlehrer Thomas von Aquin
(gest. 1274) in seiner „Summe der Theologie“ aufgegriffen: Juden, die den Glauben
nicht angenommen hätten, seien keinesfalls zum Glauben zu nötigen. Hätten sie aber
den Glauben angenommen, müssten sie gezwungen werden, an dem Glauben festzu-
halten. Dieser zweite Grundsatz konnte etwa in Hinblick auf die Kinder von rückfälli-
gen getauften Juden Anwendung finden, wie Canon 60 des 4. westgotischen Konzils
von Toledo (633) zeigt, nach dessen Wortlaut jüdische Kinder von ihren Eltern zu tren-
nen und christlich zu erziehen seien. Dieser Rechtssatz wurde vom Konzil von Meaux/
Paris um 845/46 aufgegriffen und in der Folgezeit grundsätzlich in die Tat umgesetzt.
Wie die Judenprivilegien Kaiser Heinrichs IV. (gest. 1106) von 1090 für Speyer und
Worms, die den Strafbestand aufführen, dass Söhne und Töchter von Juden entführt
und gegen ihren Willen getauft werden, zeigen, wurde die erzwungene Taufe jüdischer
Kinder verboten. Trotz des Taufverbots wurden Zwangstaufen jüdischer Kinder weiter-
hin praktiziert, Streitfälle um christliche Taufen jüdischer Kinder sind noch bis zu Pius
IX. (1792-1878) und zur Verfolgung durch die Nationalsozialisten belegt.
Die Zwangsbekehrungen erfolgten mitunter unter der Alternative „Taufe oder Ver-
treibung“ und „Taufe oder Tod“. Die Anordnung des Westgotenkönigs Sisebut (612-
621), dass Juden in „Mischehen“, die die Taufe verweigerten, von ihrer christlichen
Frau zu trennen und zu verbannen seien, kann bereits als ein früher Fall von Zwangs-
taufe vor dem Hintergrund der Alternative „Taufe oder Vertreibung“ angesehen wer-
den. Nach Gregor von Tours setzte Bischof Avitus den Juden von Clermont um 576
eine dreitägige Frist für die Entscheidung zur Taufe oder zur Verbannung. Diese soge-
nannte Freistellung der Wahl zwischen Taufe und Verbannung sollten bisherigen
Zwangsbekehrungen vorbeugen, die im Grunde nur kurzfristig „erfolgreich“ und zu-
dem kirchenrechtlich umstritten waren. Die Alternative zwischen Taufe und Auswan-
derung sollte somit die Freiwilligkeit der Bekehrung herausstellen. Und bereits in früh-
ottonischer Zeit, in der die Judengemeinden im ostfränkischen Reich erst in wenigen
Städten situiert waren, sollte König Heinrich I. (gest. 936) aufgrund von Vorfällen in
Jerusalem alle Juden vertreiben, die sich nicht taufen lassen wollten. Die spanischen
Juden, deren bedeutende Geschichte im Okzident vielfach hervorgehoben ist, wurden
auf Betreiben der → Inquisition durch das spanische Königspaar Ferdinand und Isabel-
la 1492 aufgefordert, ihren Herrschaftsbereich innerhalb von sechs Monaten zu verlas-
354 Zwangstaufe
sen oder aber sich taufen zu lassen. Als Grund dieser Anordnung wird jedoch nicht
Judenfeindschaft, sondern Absicherung der führenden → Conversos gegenüber Ver-
dächtigungen einer nur äußerlichen Christlichkeit und eines tatsächlich geheimen Ju-
dentums genannt.
Im Vorfeld des ersten Kreuzzuges erlitten die jüdischen Gemeinden an Rhein und
Mosel sowie in Regensburg und Prag im Jahr 1096 Verfolgungen in einem bis dahin
ungekannten Ausmaß. Im Unterschied zu früheren Ereignissen, in denen den Juden
Taufe oder Vertreibung angedroht wurde, wurden sie nun von den Kreuzfahrern vor
die Alternative „Taufe oder Tod“ gestellt. Diese Alternative begründete sich für die
Kreuzfahrer darin, dass die Juden als Feinde der Christen den Tod verdienten, da ihre
Vorväter Christus getötet hätten ( → Gottesmord) – es sei denn, sie ließen sich taufen.
Die darin scheinbar legitimierte Zwangstaufe wurde somit als rechtmäßig angesehen,
obwohl sie dem Kirchenrecht und den Privilegien Kaiser Heinrichs IV. widersprach.
Von jüdischer Seite wurde auf diese Androhung von Taufe oder Tod auch mit dem
Märtyrertod reagiert, d.h. mit der Bereitschaft zur Selbstopferung als Akt der „Heili-
gung des göttlichen Namens“ („Kiddusch haShem“), der den Selbstmord, die Tötung
anderer sowie die „Opferung“ der Kinder beinhaltete. Die „Opferung“ der Kinder
führte in der christlichen Wahrnehmung zu der Vorstellung, dass Juden ihre Kinder aus
religiösen Gründen getötet hätten und mag darin einen Grund für die → Ritualmordbe-
schuldigung gelegt haben, dass die feindlichen Juden folglich umso mehr bereit gewe-
sen seien, christliche Kinder zu rituellen Zwecken zu töten.
Die Zwangstaufe wird in hebräischen Berichten über die Judenverfolgungen wäh-
rend des ersten Kreuzzugs als „Beschmutzung“, Taufwasser und taufen als „Gestank“
und „verstänkern“ bezeichnet. Das nach christlicher Bedeutung lebensspendende Tauf-
wasser wird in der jüdischen Perspektive zum beschmutzenden Wasser, zur Todesquel-
le. Indem Heinrich IV. 1097 den 1096 getauften Juden die Rückkehr zum Judentum
gestattete, hielt er sich an die eigenen Verpflichtungen des Speyerer und Wormser Ju-
denprivilegs von 1090. Mit der Ausbreitung der Pest im 14. Jahrhundert kam es zu
Massakern an den Juden, die die formal religiöse Begründung der Feindschaft der Ju-
den gegen die christliche Religion gar nicht mehr anführten, sondern vom Vorwurf des
Menschenhasses und der Rachsucht getragen waren, so dass hier die Taufe keine Alter-
native und Möglichkeit zur Rettung des Lebens mehr bot.
Im Hochmittelalter waren sich viele Päpste ihrer Schutzpflicht gegenüber den Juden
bewusst wie seinerzeit ihr Vorgänger Gregor der Große. Der Schutz der jüdischen Reli-
gion vor Zwang, insbesondere vor Taufzwang, wurde von päpstlicher Seite in der erst-
mals 1120 durch Papst Calixt II. (gest. 1124) verkündeten und von den nachfolgenden
Päpsten jeweils erneuerten „Sicut-Judaeis-Bulle“ garantiert – trotz entsprechender juri-
stischer Aushöhlung seit Papst Innozenz III. (1198-1216). So unterschied Innozenz III.
zwischen bedingtem und absolutem Zwang. Wer sich aufgrund von Schrecken und
Drohungen sowie aus Furcht vor Schaden taufen lässt, ist zur Beachtung des christli-
chen Glaubens zu zwingen. Wer jedoch nicht zustimmt und widerspricht, gilt als nicht
getauft.
Vor dem Hintergrund der → Judenmission durch den gebildeten Klerus im Spätmit-
telalter stellt sich schlussendlich die Frage, ob nicht im Laufe des Mittelalters viele Ju-
den zur Taufe genötigt wurden und im Anschluss daran gezwungen waren, dem äuße-
Żydokomuna [Judäo-Kommune] 355
ren Anschein nach in der Kirche zu verbleiben. Jüdische Straftäter waren im Mittelalter
ebenfalls der Zwangstaufe ausgesetzt, wenn sie vor die Wahl zwischen Taufe und Mil-
derung der Todesart oder dem Erdulden einer besonders grausamen Todesart gestellt
wurden. Die Überlegungen zur Zwangstaufe und Zwangspredigten dauerten noch in
der frühen Neuzeit an, obwohl päpstliche Dekrete und kaiserliche Bestimmungen an
sich jegliche Form des Bekehrungszwanges ablehnten.
Da die Taufe in der Neuzeit für lange Zeit das „Entrée-Billet“ der Juden in erstrebte
Berufe oder die christliche Gesellschaft war, ist hier ebenfalls von einem „Taufzwang“,
wenn auch von einem indirekten, zu sprechen, der zwar nicht unmittelbar Vertreibung
oder Tod, wohl aber die dauerhafte bürgerliche Deklassierung als Alternative zur Taufe
androhte. Grundsätzlich hat dieser pragmatische Aspekt bei jüdischen Konversionen,
d.h. Anpassung und Verbesserung der sozialen Lage durch Taufe, seit dem 4. Jahrhun-
dert eine Rolle gespielt.
Matthias Blum
Literatur
Manfred Agethen, Bekehrungsversuche an Juden und Judentaufen in der frühen Neuzeit, in:
Aschkenas 1 (1991), S. 65-94.
Bernhard Blumenkranz, Juifs et Chrétiens dans le monde occidental, Paris 1960.
Alexander Pierre Bronisch, Die Judengesetzgebung im katholischen Westgotenreich von To-
ledo, Hannover 2005.
Peter Browe, Die Judenmission im Mittelalter und die Päpste, Rom 1942.
Dietrich Claude, Gregor von Tours und die Juden, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S.
137-147.
Eva Haverkamp (Hrsg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Er-
sten Kreuzzugs (Monumenta Germaniae Historica; Bd. 1, Hebräische Texte aus dem mit-
telalterlichen Deutschland), Hannover 2005.
Aviad M. Kleinberg, Depriving Parents of the Consolation of Children: Two Legal Consilia
on the Baptism of Jewish Children, in: Yitzhak Hen (Hrsg.), De Sion exibit lex et verbum
domini de Hierusalem: Essays on Medieval law, Liturgy, and Literature in Honour of Am-
non Linder, Turnhout 2001, S. 129-144.
Friedrich Lotter, Die Zwangsbekehrung der Juden von Menorca, in: Historische Zeitschrift
242 (1986), S. 291-334.
Friedrich Lotter, „Tod oder Taufe“. Das Problem der Zwangstaufen während des Ersten
Kreuzzugs, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge,
Sigmaringen 1999, S. 107-152.
Friedrich Lotter, Die Voraussetzungen christlich-jüdischer Koexistenz und deren Infragestel-
lung durch Zwangsbekehrung und Vertreibung in Spätantike und Mittelalter, in: Aschke-
nas 16 (2006), S. 291-365.
Günter Stemberger, Zwangstaufen von Juden im 4.-7. Jahrhundert – Mythos oder Wirklich-
keit?, in: Clemens Thoma, Günter Stemberger, Johann Maier (Hrsg.), Judentum: Ausblicke
und Einsichten, Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1993, S. 81-114.
Żydokomuna [Judäo-Kommune]
Der Begriff der „Żydokomuna“, übersetzt „Judäo-Kommune“, beschreibt ein Feind-
bild, das den Juden ein besonders enges Verhältnis zum Kommunismus unterstellt.
356 Żydokomuna [Judäo-Kommune]
Diese konstruierte Verbindung zwischen Judentum und Kommunismus stellt keine Be-
sonderheit des polnischen Antisemitismus dar, sondern gehört zu den allgemeinen anti-
semitischen Denkmustern. Vor dem Hintergrund der speziellen Bedingungen des Na-
tionsbildungsprozesses in Polen, das erst 1918 nach mehr als einem Jahrhundert der
Teilung zwischen den Nachbarmächten Russland, Preußen und Österreich die staatli-
che Unabhängigkeit erhielt, entwickelte die Vorstellung aber hier eine besondere Wirk-
mächtigkeit. Die Ursprünge des Denkmusters reichen bis in die polnische Teilungszeit,
als nicht nur die Teilungsmächte, sondern auch die in Polen lebende jüdische Bevölke-
rung als der nationalen Wiederentstehung Polens feindlich gegenüberstehende Akteure
identifiziert wurden. Dies führte zunehmend zu einer vermuteten Zusammenarbeit zwi-
schen den „Gegnern Polens“. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde dieses bereits
bestehende Bild um die Vorstellung von den Juden als Trägern des Sozialismus erwei-
tert. Ziel der Unabhängigkeitsbewegung war ein ethnisch-homogenes und national-ka-
tholisches Polen, das als unvereinbar mit der Existenz einer kommunistischen Bewe-
gung sowie einer jüdischen Minderheit gesehen wurde.
Der Begriff der „Żydokomuna“ im politischen Diskurs lässt sich erstmals in der Zeit
des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 nachweisen, der als Machtkampf zwi-
schen der „kommunistischen Herrschaftsordnung“ und der westlich orientierten
„christlichen Zivilisation“ interpretiert wurde. In diesem Zusammenhang wurden Juden
pauschal der Unterstützung für die Bolschewisten angeklagt. Antisemitismus bekam
den Nimbus einer patriotischen Pflicht zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit und
des Christentums.
In den politischen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit blieb das Bild der
„jüdischen Bolschewisten“ als Feindbild der Nationalisten ständig präsent. Während
des Zweiten Weltkriegs verschärfte sich die Überzeugung einer jüdischen Kollaborati-
on mit der sowjetischen Besatzungsmacht im östlichen Polen. Hintergrund war, dass
viele Juden in den sowjetisch besetzten Gebieten – ebenso wie andere dort lebende
und unter polnischer Herrschaft diskriminierte Minderheiten – Hoffnungen in mehr ge-
sellschaftliche Partizipation unter den neuen Machthabern setzten, die ihnen Anerken-
nung und Gleichberechtigung versprachen. Sie wurden in der ersten Zeit bevorzugt
beim Aufbau des neuen Herrschaftsapparats eingesetzt. Diese Fälle von jüdischer Zu-
sammenarbeit mit den Sowjets, die sich mühelos in das vorhandene Denkschema der
„Judäo-Kommune“ einpassen ließen, wurden zum Mythos des kollektiven Verrats der
Juden an den Polen überhöht und dienen bis heute zur Entschuldung für antisemitische
Ausschreitungen von polnischer Seite während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Di-
rekt nach dem deutschen Einmarsch in die sowjetisch besetzten Gebiete im Jahr 1941
verübten Polen, angeheizt von deutscher Seite, in über 50 Orten Pogrome an der jüdi-
schen Bevölkerung, von denen der Pogrom von Jedwabne vom 10. Juli 1941 am be-
kanntesten geworden ist. Während der gesamten Kriegszeit pflegten nationalistische
Kreise der polnischen Widerstandsbewegung das Bild des Juden als „Handlanger
Moskaus“. Die aus der Teilungszeit stammende „Ideologie der drei Fronten“ (gegen
die Deutschen im Westen, die Russen im Osten und die Juden im Inneren des Landes)
wurde aktualisiert und damit der Kampf eines jeden Polen gegen alle drei Feinde zur
moralischen Pflicht; Antisemitismus wurde so zum ideologischen Bestandteil des Un-
abhängigkeitskampfes. Gleichgültigkeit, Verdrängung und zum Teil auch Mithilfe der
Żydokomuna [Judäo-Kommune] 357
polnischen Bevölkerung am deutschen Judenmord waren die Folge. Das Feindbild der
Judäo-Kommune sorgte dafür, dass sich diejenigen des Verdachts kommunistischer
Sympathien oder landesverräterischer Absichten ausgesetzt sehen mussten, die sich für
die Rettung von Juden einsetzten.
Nach dem Krieg wurden die Juden in den Augen der polnischen Bevölkerung zu
Symbolen des als fremd und aufgezwungen empfundenen sozialistischen Systems. Das
Bild der „Judäo-Kommune“ diente zur Mobilisierung des antikommunistischen Wider-
stands, zur Legitimierung von antisemitischen Ausschreitungen und als Feinddefinition
für den gesamten moskautreuen Machtapparat. Nach bewährten antisemitischen Deu-
tungsmustern unterstrich die Gleichsetzung mit „den“ Juden die Fremdheit und Feind-
lichkeit der neuen Machthaber.
Tatsächlich war jedoch ein Großteil der überlebenden Juden aufgrund der erlittenen
Verfolgung, der kommunistischen Machtübernahme und der aktuellen judenfeindli-
chen Atmosphäre in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus Polen emigriert oder strebte
die Emigration an. Wer im Lande blieb, sah im neuen System eine Chance auf Assimi-
lation, Sicherheit und die Verwirklichung politischer Ideale. Viele der im Lande ver-
bliebenen Juden engagierten sich daher in der Staats- und Parteiführung, im Sicher-
heitsapparat und in der neu aufzubauenden Verwaltung des Landes. Die Prominenz
einzelner Juden im neuen Staats- und Sicherheitsapparat schien das bereits bestehende
Bild vom „jüdischen Kommunisten“ zu bestätigen. Zur Begründung von antijüdischer
Gewalt und Pogromen in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde auch auf altherge-
brachte Elemente des Antisemitismus, wie etwa → Ritualmordbeschuldigungen, zu-
rückgegriffen.
Nach 1945 erfuhr das Feindbild der „Żydokomuna“ in abgewandelter Form eine er-
neute Anwendung, als die kommunistische Partei entdeckte, dass sich die Idee eines
Zusammenhangs von Judentum und Kommunismus in innerparteilichen Auseinander-
setzungen universell einsetzen ließ. Die Juden standen in diesem Kontext nicht mehr
für den Kommunismus schlechthin, sondern wurden für negative Entwicklungen, wie
etwa den Stalinismus, verantwortlich gemacht. In den Konflikten um einen eigenstän-
digen „polnischen Weg zum Sozialismus“ versuchten sich die „Heimatkommunisten“
auf Kosten von Juden als nationale Kraft im Lande darzustellen. Übereinstimmend mit
althergebrachten antisemitischen Vorstellungen waren es angeblich die Juden, die den
nationalpolnischen Weg unterliefen, indem sie von innen gegen polnische Interessen
agierten. Antisemitische Argumentationen begleiteten die Machtkämpfe und „Säube-
rungsaktionen“ innerhalb der polnischen kommunistischen Partei in den Jahren 1948,
1956 und 1968. Auch in den politischen Krisen der 1980er Jahre wurde das Feindbild
verwendet; so versuchte man, die Glaubwürdigkeit von Oppositionsführern der „Soli-
darność“ mit Hinweisen auf eine angebliche jüdische Herkunft zu diskreditieren.
Gleichzeitig galt in einigen Oppositionskreisen der Kommunismus als eine „jüdische
Schöpfung“; so konnte die nichtjüdische polnische Bevölkerung von jeglicher Verant-
wortung für das Regime freigesprochen werden. Nach dem politischen Umbruch 1989
sank die politische Bedeutung des Feindbilds der Judäo-Kommune. Allerdings benutz-
ten es national-katholische Kreise weiterhin zur Diffamierung von postkommunisti-
schen Politikern. Auch in Kampagnen gegen den EU-Beitritt wurde auf das Denkmu-
358 Żydokomuna [Judäo-Kommune]
ster der von Juden unter dem Deckmantel des Internationalismus angestrebten Unter-
werfung Polens zurückgegriffen.
Die Vorstellung von der „Judäo-Kommune“ liefert ein universelles Erklärungsmu-
ster für wechselnde und widersprüchliche historische Phänomene. Durch die konkrete
Zuweisung von Verantwortung und die Vorstellung einer gezielten und im Geheimen
vollzogenen Steuerung komplexer gesellschaftlicher Prozesse kann eine Illusion von
Kontinuität und Orientierung geschaffen werden. Dabei wurde das Feindbild regelmä-
ßig unter Erhalt früherer judenfeindlicher Implikationen aktuellen Bedürfnissen ange-
passt, was der jeweiligen Feinddefinition historisches Gewicht und scheinbare Glaub-
würdigkeit verlieh.
Andrea Rudorff
Literatur
David Blatman, Polish Antisemitism and „Judeo-Communism“: Historiography and Memo-
ry, in: East European Jewish Affairs 27 (1997), 1, S. 23-43.
André Gerrits, Antisemitism and Anti-Communism: The Myth of „Judeo-Communism“ in
Eastern Europe, in: East European Jewish Affairs 25 (1995), 1, S. 49-72.
Krystyna Kersten, Polacy–Żydzi-komunizm. Anatomia półprawd 1939-1968 [Polen-Juden-
Kommunismus. Eine Anatomie der Halbwahrheiten 1939-1968], Warszawa 1992.
Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ – ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbst-
verständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948, Paderborn 2007.
Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Ber-
lin 2004.
359
Autorenverzeichnis
Argast, Regula – Historikerin, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsge-
schichte, Universität Zürich, Schweiz
Baer, Marc David – Historiker, Department of History, University of California, Ir-
vine/California, USA
Baganz, Carina – Historikerin, Zentrum für Antisemitismusforschung der Techni-
schen Universität Berlin
Bajohr, Frank – Historiker, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH),
Universität Hamburg
Battenberg, Friedrich – Historiker, Direktor des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt
Baumann, Ulrich – Historiker, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas,
Berlin
Benz, Angelika – Historikerin, Doktorandin an der Humboldt Universität zu Berlin
Benz, Wolfgang – Historiker, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der
Technischen Universität Berlin
Bergmann, Werner – Soziologe, Zentrum für Antisemitismusforschung der Techni-
schen Universität Berlin
Bering, Dietz – Sprachwissenschaftler, Institut für Deutsche Sprache und Literatur,
Universität zu Köln
Bistrovic, Miriam – Historikerin, Berlin
Blum, Matthias - Erziehungswissenschaftler und Theologe, Seminar für Katholische
Theologie der Freien Universität Berlin
Brechtken, Magnus – Historiker, Department of German Studies, University of Not-
tingham, England
Buchen, Tim – Historiker, Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung der
Technischen Universität Berlin
Buchenau, Klaus – Historiker, Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität München
Burmistr, Svetlana – Historikerin, Doktorantin am Zentrum für Antisemitismusfor-
schung der Technischen Universität Berlin
Corni, Gustavo – Historiker, Facoltà di Sociologia, Trento, Italien
Curio, Claudia – Historikerin, Utrecht, Niederlande
Cwik, Christian – Historiker, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Abteilung
für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Köln
Dümling, Albrecht – Musikwissenschaftler, Förderverein musica reanimata, Berlin
Ehret, Ramona – PR-Beraterin, Technische Universität Berlin
Enzenbach, Isabel – Historikerin, Berlin
360 Autorenverzeichnis
Grunberger, Béla 17, 320 Herzl, Theodor 149, 206, 317, 351, 352
Gruner, Wolf 208 Hess, Moses 148, 351
Gubser, Martin 196 Heß, Rudolf 228
Gül, Abdullah 59 Heuss, Theodor 303
Günther, Hans Friedrich Karl 72, 244, Heydrich, Reinhard 68, 69, 120, 121,
245, 246, 247, 248 122, 150, 175, 203, 304
Gutmann, Bruno 155 Heym, Stefan 5
Hierl, Konstantin 229
H Hieronymus 81, 176, 177
Habsburg, Rudolf von 169 Hilberg, Raul 1, 124
Haeckel, Ernst 305 Hilferding, Rudolf 88
Hätzer, Ludwig 287 Hiller, Kurt 169
Haider, Jörg 334 Hilsenrath, Edgar 140
Haman 6, 117 Himmler, Heinrich 69, 72, 89, 120, 122,
123, 149, 190, 203, 204, 227, 245, 248,
Hamerling, Robert 5
304, 333
Hannas 3
Hindenburg, Paul von 60
Hansen, Georg 45
Hindemith, Paul 72, 73
Hansen, Walter 71 Hirsch, Maurice de 42
Harden, Maximilian 169 Hitler, Adolf 2, 45, 58, 73, 74, 75, 77,
Harling, Otto von 154 78, 79, 84, 85, 87, 89, 92, 93, 94, 103,
Harnack, Adolf von 7 113, 122, 124, 126, 165, 175, 190, 201,
Harrer, Karl 224, 225 203, 204, 207, 214, 224, 225, 226, 227,
228, 229, 230, 231, 271, 291, 301, 305,
Hartwich, Wolf-Daniel 96 324, 347
Hasselmann, Wilhelm 306 Hohmann, Martin 48
Hauffe, Arthur 54 Holz, Klaus 17, 135, 136, 322, 325
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 97 Honecker, Erich 258
Heidegger, Martin 111 Horkheimer, Max 16, 88, 171, 318, 324
Heine, Heinrich 109, 206, 216 Horthy, Miklós 86
Heine, Wolfgang 306 Hortzitz, Nicoline 196
Heinrich I. 353 Houdini, Harry 217
Heinrich III. 174 Hrabanus Maurus 26, 159
Heinrich IV. 354 Hugenberg, Alfred 46, 156
Heintz, Peter 324 Hull, Cordell 214
Heise, Karl 158 Hundt-Radowsky, Hartwig von 42, 96,
Hell, François 308 160
Heller, Hermann 88 Hunke, Heinrich 332
Henrici, Carl Ernst Julius 270, 271 Hyman, Paula E. 207
368 Register der Personen
Marx, Karl 47, 111, 147, 148, 306, 316, Moses Maimonides 297
319, 322 Moskovitz, Moses 300
Matern, Jenny 256 Mosley, Oswald 87
Matthaeus Parisiensis 3, 28 Mosse, George L. 221, 321, 325
Maturin, Charles R. 5 Mordechai 6
Maudūdī, Sayyid Abul Ala 138 Moutet, Marius 202
Mauthner, Fritz 5, 206 Müller, Adam 96, 108
McCloy, John 58 Mueller, Agnes C. 199
McNarney, Joseph 57 Müller, Guido 142
Medici 41 Müller, Heinrich 120
Mehring, Franz 306 Müller, Herrmann 182
Meidner, Ludwig 71 Müller, Karl Alexander von 183
Meiners, Christoph 98 Müller, Jochen 18, 19
Meiring, Kerstin 207 Münchmeyer, Ludwig 39
Melito von Sardes 113, 177, 242 Münkler, Marina 198
Mendelssohn, Moses 1, 316 Münster, Sebastian 289
Mengele, Josef 77 Mussert, Anton Adriaan 87
Merker, Paul 23, 257 Mussolini, Alessandra 234
Meyer, Beate 208 Mussolini, Benito 84, 85, 86, 206, 225,
230, 231, 234
Meyer, Julius 256, 257
Mutti, Claudio 233
Michaelis, Johann David 65
Milhaud, Darius 73
N
Mirandola, Giovanni Pico della 289
Napoleon Bonaparte 65, 66, 108, 181
Mitscherlich, Alexander 321
Naumann, Friedrich 212
Mitscherlich-Nielsen, Margarete 321
Neumann, Franz 88, 224, 317
Mjøen, Jon Alfred 245
Niemöller, Martin 29
Moczar, Mieczyslaw 23
Niersbach, Wolfgang 157
Möllemann, Jürgen 334
Nolte, Ernst 88, 292
Möser, Justus 179 Nordau, Max 70, 215, 216
Mohl, Robert von 147 Nordbruch, Götz 18
Mommsen, Hans 124 Noske, Gustav 306
Monsaraz, Alberto 133
Morawski, Marian 32, 33 O
Morgenthau jr., Henry 173, 214, 215 Ohlendorf, Otto 55
Moschos, Johannes 3 Oppenheimer, Franz 109
Mose 110, 140, 218, 219, 306, 311, 319 Oppenheimer, Josef Süß 41, 118
Register der Personen 371
O Potsdam 93
Oberschlesien 66 Prag 23, 174, 176, 204, 354
Odenwald 117 Preußen 39, 65, 92, 147, 175, 179, 180,
218, 219, 225, 299, 331, 356
Odessa 9
Priegnitz 128
Österreich 2, 40, 57, 58, 71, 84, 85, 86,
101, 116, 121, 124, 126, 127, 141, 174, Príncipe 185, 315
175, 201, 210, 216, 262, 263, 264, 292, Pritzwalk 128
300, 334, 338, 347, 356 Provence 52
Österreich-Ungarn 101, 262, 263
Oldenburg 226 Q
Osmanisches Reich 56, 134, 265 Quebec 214
Osteuropa 2, 40, 56, 63, 136, 149, 230,
232, 260, 261, 264, 329, 336, 340, 351, R
Ostpolen 80, 121, 333 Radom 120
Ost-Timor 105 Randegg 186
Rappoltsweiler 49
P Regensburg 174, 286, 354
Palästina 22, 23, 55, 56, 101, 133, 135, Reims 27
136, 192, 193, 201, 298, 351, 352 Rheinsberg 340
Paraguay 249, 250 Rhina 145
Paris 28, 82, 111, 127, 128, 129, 156, Riga 121
201, 202, 254, 261, 296, 313, 349, 353
Rom 5, 14, 25, 65, 85, 113, 114, 225,
Persien 110 231, 234, 238, 313, 351
Petersburg 47 Roman 101
Pfalz 145 Rotterdam 101
Pirna 79 Ruanda 104
Podolien 9 Rügen 37
Polen 9, 23, 55, 80, 84, 86, 89, 103, Rumänien 54, 55, 85, 86, 101, 102, 124,
116, 120, 121, 122, 124, 141, 151, 174, 201, 212, 216, 251, 254, 255, 260, 262,
175, 185, 190, 201, 202, 203, 204, 216, 309
229, 230, 251, 253, 260, 262, 264, 285, Russisches Reich 8, 9, 10, 163
293, 298, 332, 333, 336, 356, 357, 358
Russland 9, 44, 47, 48, 64, 68, 162, 163,
Poltawa 9 164, 201, 212, 216, 232, 254, 260, 262,
Ponary 332 264, 265, 269, 335, 337, 351, 356
Porto Santo 185
Portugal 25, 52, 53, 84, 87, 132, 133, S
174, 184, 285, 315 Saarbrücken 158
Posen (Poznań) 91, 253 Sachsen 226, 283
380 Register der Orte und Regionen
Register der
Organisationen und Institutionen
A C
Action Française 85, 133 Central-Ausschuß für die Innere Mis-
sion 155
Agudat Jisrael 22
Central-Verein deutscher Staatsbürger jü-
Alldeutscher Verband 61, 149, 158, 161, dischen Glaubens (auch Centralver-
190, 262, 263 ein) 2, 39, 91, 271, 317
Alleanza Nazionale 231 Centro católico 132
Allgemeiner Deutscher Verband 262 Centro Ordine Nuovo 231
Christlich Demokratische Union
Alliance Israélite Universelle 2, 165
(CDU) 283
Allpolnische Jugend 252 Christlich-soziale Partei 32
Alternativa Sociale 234
American Jewish Joint Distribution Com- D
mittee 257 Democrazia Cristiana 232
Antijüdische Aktion 149 Deutschbund 342, 343
Deutsche Arbeiterpartei (DAP) 223, 224
Antijüdische Weltliga 202
Deutsche Arbeitsfront (DAF) 229
Antisemitische Aktion 149
Deutsche Christen 7, 29
Azione Giovani 232
Deutsche Forschungsanstalt für Psychia-
trie 76
Deutsche Kolonialgesellschaft 161
B Deutsche Nationalsozialistische Arbeiter-
partei (DNSAP) 223
Bayreuther Kreis 74
Deutsche Reformpartei 112
Bekennende Kirche 29
Deutsche Reichspartei 94
Berliner Bewegung 116, 148 Deutsche Werkgemeinschaft 225
Berliner Gesellschaft zur Verbreitung des Deutscher Evangelischer Missions-
Christentums unter den Juden 155 Rat 155
Bewegung von 22 254 Deutscher Fußballbund (DFB) 157
Böckel-Bewegung 187 Deutscher Kampfbund 225
Deutsch-Israelitischer Gemeindebund 1
Britons 201
Deutscher Kulturbund 343
Bureau for Jewish Affairs 100
Deutscher Orden 343
Bund der Artamanen 45 Deutscher Turnerbund 343
Bund der Landwirte 45, 161, 187 Deutschkonservative Partei 111
384 Register der Organisationen und Institutionen
C K
Construiamo lazione 233 Kirchliches Handlexikon 112
Kirchliches Jahrbuch 154
D
Deutsche Schriften 165 M
Difesa della razza 234 Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr
des Antisemitismus 2
E Morgenpost 156
Encyclopedia Britannica 210 Münchner Post 61
Epistola de Antichristi 26, 287
N
F National-Zeitung 173
Frankfurter Zeitung 156 Neue Preußische Zeitung (auch Kreuz-
Zeitung) 42, 67, 156
G Neueste Geschichte des jüdischen Vol-
Die Gartenlaube 115, 156 kes 210
Germania 42, 116, 148, 156 Der Norden 248
Grazer Tagespost 219 Den Nordiske Race 245
388 Register der Publikationen