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Prof. Dr.

Markus Rieger-Ladich WS 2023/24


23.01.2024 HS 22

VL Grundfragen und Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft

Was gibt’s Neues?


o Aus gegebenem Anlass: Ordner mit Material zur Neuen Rechten bei ILIAS
Sie finden hier Texte zu den Hintergründen der Rede von Remigration (= Deporta-
tion), zur Neuen Rechten, zu Metapolitik, Hegemonie und „Selbstverharmlosung“
inkl. O-Tönen. Nun ergänzt um eine Tabelle der mbr berlin.

Rückfragen zur Klausur


o Hallo Herr Rieger-Ladich,
beim Lernen auf die Klausur ist meinen Kommiliton*innen und mir etwas zum
Thema des gesteuerten Narrativs, von dem J. Butler gesprochen hat, aufgefallen.
Wenn J. Butler meint, dass unsere Meinungen von einem Narrativ gesteuert wer-
den, wie kann es dann sein, dass die Stimme der Dominanzgesellschaft (Pro Israel)
so leise ist bzw. so wenig geteilt wird, wenn dieses scheinbar dominantere Denk-
kollektiv doch eigentlich in der Lage sein sollte, ihre Meinung lauter zu präsentie-
ren. Handelt es sich hier um ein Ausnahmephänomen, in dem die Dominanzgesell-
schaft es nicht geschafft hat ihre Meinung durchzusetzen? Ist es der Mehrheitsge-
sellschaft diesmal gelungen die Allgemeinheit eher für Palästina empfänglich zu
machen, lauter zu sein? Oder liegt es evtl. auch einfach an der Blase in der ich mich
persönlich bewege?
Mit freundlichen Grüßen
xx
Aktualisiertes Programm der Vorlesung
0 Vorbemerkung: Vorlesung als Format; Arbeitsweisen und Erwartungen
1 Helmuth Plessner über „Unmenschlichkeit“: Philosophische Anthropologie als An-
frage an unaufgeklärten Humanismus
2 Wozu braucht es eigentlich „Theorie“? oder: Per Leo ist auf Droge
3 Mini-Steckbrief der Disziplin Erziehungswissenschaft
4 Allgemeine Erziehungswissenschaft als Reflexionsinstanz
5 Bildung, Erziehung, Sozialisation als Grundbegriffe
6 „5 vor 12“ oder: Stichworte zur Geschichte unserer Disziplin
7 Bildung als Grundbegriff: Von Platon über Wilhelm von Humboldt zu aktuellen Bei-
trägen
8 Erziehung als Grundbegriff: Von Immanuel Kant zu Klaus Prange und zeitge-
nössischen Fragestellungen
9 Sozialisation als Grundbegriff: race, class, gender and so on…
10 Ein Resümee: Bildung, Erziehung und Sozialisation als begriffliche Instrumente für
Macht- und Gewaltanalysen des pädagogischen Feldes

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8 Erziehung: Von Immanuel Kant über Lutz Koch zu Klaus Prange

Um es ganz anschaulich zu formulieren: Mit jeder neuen Generation steht der Status quo
in Frage. Der Ist-Zustand, die Einrichtung der Welt werden neu befragt, geraten auf den
Prüfstand, stehen zur Verhandlung. Für die Erzieher erweist sich diese Situation als eine
gefährliche Gratwanderung, denn sie stehen – dies hatte in den späten 1950er Jahren Han-
nah Arendt in ihrer brillanten „Rede über Erziehung“ herausgearbeitet – beiden gegen-
über in der Pflicht: Erzieher*innen müssen Verantwortung übernehmen für die neue Ge-
neration, die zunächst auf Pflege und Sorge, Zuneigung und Unterstützung angewiesen ist.
Die Erwachsenen müssen jedoch auch Verantwortung übernehmen für den Zustand der
Welt und diese gegenüber dem „fortwährenden Ansturm des Neuen“ schützen. Erzie-
hung und Sozialisation ist nun gemeinsam, dass sie gleichsam erfunden wurden, um
dem fortwährenden Wechsel zu begegnen, um auf die Entwicklungstatsache zu reagie-
ren. Ewald Terhart hat diesen Sachverhalt in seinem Artikel „Reden über Erziehung“
(1992: 210) klar herausgestellt:

„Kinder werden nicht als fertige Erwachsene geboren. Die ‚Entwicklungstatsache’


(S. Bernfeld) gehört zu den grundlegenden und unabänderlichen, weil biologisch
bedingten Gegebenheiten menschlichen Lebens und menschlicher Sozialität. In je-
der gesellschaftlichen Formation werden Vorkehrungen getroffen, die die dadurch
bedingten Probleme bearbeiten. Der größere Teil dieser Vorkehrungen ist Soziali-
sation; ihr kleinerer, dafür aber bewusster, pädagogisch gerichteter Teil ist Erzie-
hung. Erziehung ist jedoch nicht einfach nur blinder Vollzug.“

Obwohl Terhart hier Gemeinsamkeiten zwischen Erziehung und Sozialisation heraus-


stellt, hält er auch zwei wichtige Unterscheidungsmerkmale fest. Sozialisation bezeich-
net er als den größeren Teil. Erziehung unterscheidet sich von Sozialisation nun zum ei-
nen dadurch, dass es sich hier um soziale Praktiken handelt, die in ein charakteristischen
Weise „gerichtet“ sind. Zum anderen kennzeichnet sie eine besondere Bewusstheit. Man
kann dies knapp so zusammenfassen: Für Erziehung ist Intentionalität kennzeichnend.
Die einzelnen Maßnahmen werden stets bewusst getroffen, es gibt in jedem Fall einen
Verantwortlichen, der Mittel einsetzt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Dieses
Fehlen von Intentionalität macht wiederum Sozialisation aus: Die Effekte von Sozialisa-
tion sind keineswegs weniger stark als jene der Erziehung – das werden Ihnen etwa El-
tern bestätigen, wenn diese die Macht der Medien beklagen, wenn sie den Einfluss
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bedauern, den die Gruppe der Gleichaltrigen – die „Peers“ – ausüben. Die Effekte der So-
zialisation können also durchaus genauso stark oder auch stärker sein als die intentiona-
len Bemühungen von Eltern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen – aber sie folgen eben nicht
einem Plan, sie gehen nicht auf intentionale Akteure zurück. Dazu später noch mehr.

Erziehung als ambivalenter Begriff

Ich komme nun wieder auf Erziehungspraktiken zu sprechen. Das Bild, das ich bisher von
ihnen gezeichnet habe, ist vielleicht auch deshalb etwas unschön ausgefallen, weil ich es
mit dem Begriff der Bildung konfrontiert habe. Gleichwohl gibt es auch eine Reihe von
sehr verdienstvollen Versuchen, Erziehung in den Dienst gesellschaftlicher Emanzi-
pationsprozesse zu stellen. Der berühmteste Vertreter ist Immanuel Kant, der im Rah-
men seiner Lehrverpflichtungen an der Universität Königsberg eben auch eine Vorlesung
in Pädagogik anzubieten hatte. Kant, als einem der großen Philosophen der Aufklärung,
war sehr daran gelegen, bestehende Abhängigkeiten zu überwinden und dem Prinzip der
Freiheit und dem eigenständigen Vernunftgebrauch Geltung zu verschaffen. In seinem be-
rühmten Beitrag zu einem Wettbewerb, welcher der Klärung der Frage gewidmet war,
was Aufklärung sei, mit dem Titel „Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?“ von
1784 beantwortet er dies wie folgt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Diese Anstrengung – die selbstverschuldete Unmün-
digkeit hinter sich zu lassen – steht im Zentrum seiner philosophischen Arbeit. Und auch
die Erziehung kann einen Beitrag dazu leisten, dem eigenständigen Vernunftgebrauch Gel-
tung zu verschaffen, die Unabhängigkeit zu befördern und einer freiheitlichen Gesinnung
zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei stellt sich freilich ein Problem, das gleichsam zu ei-
nem Kardinalproblem der modernen Erziehungstheorie geworden ist. Es stellt sich
die Frage, ob in unfreien Sozialbeziehungen Freiheit angebahnt werden kann. Können
ausgeprägte Abhängigkeitsbeziehungen unabhängige Geister freisetzen? In der Formulie-
rung Kants lautet diese Frage wie folgt: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem
Zwange? Denn Zwang ist nötig!“

Ohne hier nun auf den Lösungsversuch Kants einzugehen – Disziplinierung, Kultivierung,
Zivilisierung und Moralisierung –, gilt es nochmals die Aporie, den zentralen Wider-
spruch der Erziehungstheorie herauszustellen, denn dieser ist von keinem so in aller
Deutlichkeit festgehalten worden wie von Kant: Um das eigene Handeln nach selbst be-
stimmten Vernunftgründen ausrichten zu können, um sich aus Abhängigkeiten befreien
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zu können und das eigene Urteilsvermögen zu schulen, muss das Kind erzogen werden.
Es muss also sozialen Praktiken – genauer: Erziehungsmaßnahmen – ausgesetzt werden,
die eben von Zwang geprägt sind. Es muss – anders formuliert – in Abhängigkeitsbezie-
hungen verstrickt werden, die doch einzig den Zweck verfolgen, seine spätere Unabhän-
gigkeit zu ermöglichen.

Klaus Prange hat diesen schmerzhaften Widerspruch schonungslos herausgestellt:

„Konkret: wenn die Menschen nicht erzogen werden, bleiben sie wild, dumm und
ohne Urteilskraft, können also nicht frei werden; aber indem sie erzogen werden
mit den Mitteln der Gewöhnung, der Einschränkung, der Belehrung, der vorge-
schriebenen Übung, kurz mit Mitteln des Zwangs, wird laufend gegen die Freiheits-
norm verstoßen. Mit Freiheit kommt man nicht in die Erziehung, sondern hebt sie
auf, und ohne Erziehung kommt man nicht zur Freiheit, sondern bleibt bei der an-
fänglichen Unfertigkeit (bestenfalls oder schlimmstenfalls bei der brutalen Frei-
heit des Despoten oder des Triebtäters oder eines Kerls wie Hitler)“ (Prange 2008:
Schlüsselwerke 221).

Hier wird nun die Ambivalenz nicht allein in der Rede von Bildung deutlich, sondern auch
in der Rede von Erziehung: Erziehung kann fraglos im Dienst der Freiheit stehen, sie
kann aber auch im Dienst der Unfreiheit stehen. Erziehung kann zur Beförderung von
Emanzipation eingesetzt werden, sie kann aber eben auch als Zwangsmittel eingesetzt
werden. Diese Pervertierung der Erziehung wurde im Nationalsozialismus systema-
tisch betrieben. Hier galt die Ausrichtung der Erziehung auf die NS-Ideologie nicht allein
als wichtiges Werkzeug der Gleichschaltung, sondern auch zur Formung eines „gesunden
Volkskörpers“ – wovon auch gegenwärtig wieder manche in Deutschland phantasieren.
Siehe hierzu die Debatte um „Remigration“! Erziehung wurde hier zur Zurichtung in ihrer
elementaren Form; sie verweist auch etymologisch eben sowohl auf Zucht und Zwang als
auch auf das Herausziehen.

Hoffnungsträger

Es gehört nun zu den Eigentümlichkeiten der Erziehung, dass als Gegenmittel zu ihrer
fürchterlichen Pervertierung – wiederum Erziehung aufgerufen wird! Erziehung kann da-
her auch zum eminenten Hoffnungsträger werden, um eine Ideologie, die von Menschen-
verachtung, Topoi der Ungleichheit und Rassismus geprägt ist, zu überwinden. Erziehung

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steht daher keineswegs per se im Dienst einer menschenverachtenden, zynischen Welt-
anschauung. Und so greift der Philosoph Theodor W. Adorno, einer der Begründer der
Kritischen Theorie, eben auf Erziehung zurück, um eine Antwort auf den Zivilisations-
bruch Auschwitz, auf die Shoah zu finden. Seine berühmte Radioansprache „Erziehung
nach Auschwitz“ aus dem Jahre 1966 beginnt wie folgt:

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erzie-
hung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begrün-
den zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute
so wenig sich abgegeben hat“ (Adorno 1969: 85).

Für Adorno kam es in Auschwitz, Birkenau und Sobibor zu einem unverzeihlichen Rück-
fall in die Barbarei. Alle zivilisatorischen Errungenschaften wurden hier preisgege-
ben. Und genau diese Überwindung der Barbarei ist nach Adorno die elementare, die
wichtigste Aufgabe der Erziehung. So hält er in der Anfangspassage seiner Rede fest: „Es
war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht“.

Erziehung steht daher in einem Spannungsfeld: sie kann von totalitären Regimen in Dienst
genommen werden; sie kann aber auch zur Beförderung der Emanzipation beitragen. Wo-
bei freilich auch die „gut gemeinten“ Versuche, mittels Erziehung eine „bessere“, eine „ge-
rechtere“ Gesellschaft herzustellen, nicht davor gefeit sind, gegenteilige Effekte zu erzeu-
gen.

Was Erziehung in diesen Fällen so attraktiv macht, ist die Suggestion, dass über „geziel-
te Maßnahmen“ gewünschte Effekte zuverlässig erreicht werden. Nicht eben selten wer-
den in der Folge gesellschaftliche Problemlagen, die von anderen Funktionssystemen –
wie etwa dem der Politik – nicht zufriedenstellend bearbeitet werden können, an das Er-
ziehungssystem delegiert. Oder genauer: das Erziehungssystem selbst tritt an andere
Funktionssysteme heran und wirbt damit, deren Probleme erfolgreich bearbeiten zu kön-
nen. Jürgen Oelkers hat diese fatale Praxis treffend beschrieben:

„Die Erziehungsrhetorik knüpft an an Hoffnungen der Überwindung eines ‚irgend-


wie schlechten’ Zustandes, der in der eigenen Gegenwart vermutet wird. ‚Erzie-
hung’ verweist auf Verbesserung, aber zugleich auf eine mögliche, naheliegende
Praxis der Umkehr, die Übel beseitigt oder Rettung nahelegt.“

Jürgen Oelkers (1999): Die Mitte der Erziehung, 58

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Beispiele lassen sich leicht finden: in den 1970er Jahren entstand die Friedenspädagogik
als Reaktion auf die Spannungen zwischen dem westlichen und dem östlichen Militär-
bündnis und den sog. „Kalten Krieg“; in den 1980er Jahren wurde die Ökologische Krise
mit der Umwelterziehung gekontert; in den 1990er Jahren wurde aus der „Ausländerpä-
dagogik“ die „Interkulturelle Pädagogik“ (und aus dieser, als der Begriff der „Kultur“ in
die Kritik geriet, schließlich die Thematisierung von Differenz, Migration, Heterogenität
etc.). Derzeit wird intensiv der demographische Wandel diskutiert – und eines der nächs-
ten Themen lautet „Digitalisierung“. Und auch das wird zum Gegenstand gemacht, auch
hier suchen sie den Blick auf das Bildungssystem zu lenken; erneut scheint sich die Zu-
kunft der Gesellschaft an unserer Reaktion zu entscheiden. Außerdem ploppt die ökologi-
sche Krise, von der in den 1980ern schon die Rede war, nun wieder auf. Und das ungleich
dramatischer; wir reden, mit guten Gründen, von der Klimakrise und der Klimakatastro-
phe. Wieder erschallt der Ruf nach Bildung…

Mit diesen Beispielen sollte deutlich geworden sein, dass sich die öffentliche Rede über
Erziehung als ein Seismograph erweist. Sie zeigt die Konjunktur von Themen an, sie fun-
giert als „gesellschaftliches Frühwarnsystem“. Der Grund liegt auch darin, dass es der Er-
ziehungswissenschaft noch nicht gelungen ist, die Diskussion über die Fragen von Bil-
dung, Erziehung und Lernen erfolgreich zu monopolisieren. Ich hatte bereits darauf hin-
gewiesen, dass deren Vertreter*innen hier kaum einmal jenen Expertenstatus für sich re-
klamieren können, wie ihn der Spezialist für das Frühchambrium für sich in Anspruch
nimmt. Da die Hemmschwellen gegenüber der Reflexion von Erziehungsfragen hierzu-
lande recht gering sind, ist der öffentliche Chor, der sich zu Fragen von Bildung und Er-
ziehung äußert, überaus vielstimmig. Dieses Phänomen hatte ich in einer der ersten Sit-
zungen erläutert – denken Sie an „Onkel Heinz“ und „Tante Erna“.

Klaus Pranges Erziehungstheorie

Bei der Suche nach einem theoretisch anspruchsvollen Konzept, das die Rede von Erzie-
hung nicht in unzulässiger Weise „banalisiert“, landet man bei Klaus Prange und dessen
Konzept einer „Operativen Pädagogik“. Dieses Modell, seine „Theorie des Zeigens“, hat er
systematisch ausgearbeitet. Der Schlüsseltext erschien 2005 unter dem Titel „Die Zei-
gestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik“. Prange entfaltet hier sein
Programm und entwickelt einen spezifischen Begriff der Erziehung; und dieses interes-
sante intellektuelle Unternehmen will ich Ihnen nun etwas näher vorstellen.
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Mit Blick auf die prekäre Lage der Disziplin sucht Prange die Erziehungswissenschaft
dadurch zu stärken, dass er ihr wieder ein Fundament gibt. Die geringe Reputation näm-
lich ist, so Prange, weitgehend hausgemacht: Er schreibt: „Wer sein Kerngeschäft nicht
kultiviert, darf sich nicht wundern, wenn sich die Nachfrage an andere Adressen wendet.“
(14) Damit spielt er auf die Tatsache an, dass der Erziehungswissenschaft in öffentlichen
Debatten häufig nicht die Expertise zugesprochen wird, wenn es um die Diskussion von
Fragen der Bildung und Erziehung, des Lernens und der Sozialisation geht. Häufig genug
werden dann Vertreter*innen der Psychologie, der Hirnforschung, der Kriminologie etc.
auf die dicken Ledersofas gebeten, die in den Fernsehstudios aufgebaut sind.

Um diesem Missstand zu begegnen, sucht Prange ein „Fundament“ für die Erziehungswis-
senschaft einzuziehen. Anders formuliert: Um ein Theoriegebäude entwerfen zu können,
das Erziehung systematisch zu beobachten und zu begründen anleitet, ist der Rückgang
auf elementare Praktiken unumgänglich. Wir müssen jene Praktiken isolieren und her-
ausstellen, welche den einzelnen Funktionssystemen ihre Gepräge verleihen. Zu fragen ist
also, welche Tätigkeiten, welche Handlungen Pädagog*innen zu Pädagog*innen machen.
Unterstellt wird dabei, dass auch Physiker*innen oder Ärzt*innen über signifikante Tätig-
keiten zu identifizieren sind. Diese „signifikanten Tätigkeiten“ nennt Prange die „einhei-
mischen Operationen“. Wie dies geschehen kann, erläutert er am Beispiel der Ärzt*in. Des-
sen „spezifisches Tun“ besteht „darin, daß er – um Hilfe gerufen und um die Not zu wen-
den – einzugreifen hat. Dieses Eingreifen wird auch von Mediziner*innen als die „Urge-
bärde des handelnden und behandelnden Arztes“ beschrieben (S. 21).

Auf der Suche nach einer vergleichbaren „Urgebärde“ stößt Prange im Bereich der Päda-
gogik auf das Zeigen. In der Folge sucht er die Erziehungswissenschaft gleichsam „von
unten her“ aufzubauen. Das Programm, das sich daraus ergibt, beschreibt er wie folgt:

„In der ersten Hinsicht geht es um die einheimischen, die Erziehung fundierenden
Operationen, in der zweiten darum, Zug um Zug die konkreten Gestalten und Ein-
richtungen der Erziehung, ihre Zielsetzungen und faktischen Bedingtheiten von
dem her zu verstehen, was sie als pädagogische ausweist und von anderen sozialen
Praxen unterscheidet“ (Prange 2005, S. 23).

Es geht dabei immer auch um (begriffs-)strategische Entscheidung:

„Den Annahmen liegt die Entscheidung zu Grunde (...), das Zeigen als die Grund-
operation des Erziehens zu bestimmen, und die Aufgabe besteht darin, diese

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Annahme dadurch zu stützen und zu bewähren, dass ohne sie nicht verstanden
werden kann, was sich als Erziehung zeigt. Wenn es das Zeigen nicht gibt, dann
auch keine Erziehung; da es aber ersichtlich das gibt, was wir Erziehung nennen,
gibt es auch das Zeigen in Hinsicht auf Lernen.“ (25)

Es muss Prange im Folgenden also darum gehen, etwas zu demonstrieren, was vernünf-
tigerweise nicht bestritten werden kann. Soviel zur Methode, die von der Systemtheorie
inspiriert ist sowie von der sog. „Erlanger Schule“ in der Philosophie. Glücklicherweise
taucht das Zeigen in Pranges Entwurf gleich zwei Mal auf: Zum einen als Gegenstand sei-
ner Theorie; zum anderen aber auch auf der Ebene des Textes selbst. Prange „zeigt“ sei-
nen Entwurf auf fast schon mustergültige Weise. Insbesondere in seinem Text „Zeigen –
Lernen – Erziehen“, der 2011 erschienen ist. Prange stellt hier seinen Ansatz in einem
Dreischritt vor. Zunächst klärt er die Beziehung zwischen Erziehen und Lernen, dann die
soziale Dimension, bevor er auf den zeitlichen Modus eingeht. Sprachlich ist dies sehr klar
gefasst.

„Erstens: Das Erziehen ist scharf vom Lernen zu unterscheiden. Es sind zwei Ope-
rationen, mit denen wir es bei dem zu tun haben, was wir üblicherweise „Erzie-
hung“ nennen. Das Erziehen ist nur die eine Seite der Erziehung: die andere ist das
Lernen. [...] Erziehung umfasst beides: die Operationen des Erziehens und die Ope-
rationen des Lernens. [...] Diese Differenz von Erziehen und Lernen nenne ich die
pädagogische Differenz. Sie ist der Grundsachverhalt, mit dem wir es zu tun haben,
wenn wir Kindern etwas beibringen wollen, wenn wir sie ermahnen [...]. Wenn ich
also im Folgenden von „Erziehung“ spreche, meine ich die Beziehung von Lernen
und Erziehen, und indem ich das Erziehen als Zeigen bestimme, lässt sich auch sa-
gen: Erziehung ist die Einheit der Differenz von Zeigen und Lernen; genauer: die
Einigung zweier voneinander zu unterscheidenden Operationen.“

Dies ist zunächst womöglich etwas verwirrend, da Sie umgangssprachlich vielleicht kei-
nen bedeutsamen Unterschied zwischen dem Substantiv „Erziehung“ und dem Verb „er-
ziehen“ machen. Für Prange ist diese Differenz wichtig; nur so kann er Erziehen und Ler-
nen aufeinander beziehen. Das Beziehungsgefüge, das auf diese Weise zwischen Erziehen
und Lernen aufgespannt wird, nennt Prange „Erziehung“. Nun zum zweiten Schritt: Wie
unterscheiden sich die beiden Operationen? Prange erklärt auch dies hinreichend präzise:

„Die zweite Voraussetzung, die ich mache: Erziehen ist ein Fall von Kommunika-
tion, Lernen dagegen ist individuell und unvertretbar. Man kann nicht lernen
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lassen [...]. Daraus ergibt sich: Erziehung ist die soziale, zeitliche und thematische
Koordination von Kommunikation und individuellen Prozessen.“ (Prange 2011, S.
23).

Dies mag Sie an die Gegenüberstellung von Bildung und Erziehung erinnern: Bildung ist
reflexiv – und dies trifft auch für das Lernen zu. In beiden Fällen gibt es eine konstitutive
Unersetzlichkeit; das Prinzip der Stellvertretung ist außer Kraft gesetzt. Deutlich wird die
besondere Herausforderung, die damit verknüpft ist. Es gilt eine anspruchsvolle Koordi-
nationsleistung zu übernehmen: Individuelle Prozesse können nicht übernommen wer-
den, sie entziehen sich der präzise kalkulierten „Planbarkeit“; und doch sind sie unver-
zichtbar. Der Keim des Scheiterns – erinnern Sie sich an den Steckbrief der Disziplin, den
ich zu Beginn dieser VL skizziert habe – kehrt hier wider. Damit zur dritten Voraussetzung:

„Daraus ergibt sich der dritte und letzte Punkt: Handeln erfordert wie jedes Tun
und jede Operation Zeit, um die Themen, um die es in der Kommunikation geht, zu
gliedern, oder [...] um sie zu artikulieren.

Prange erläutert daraufhin, was mit „Artikulation“ gemeint ist: „Artikulation ist Gliede-
rung und Organisation der Zeit, um Themen und Personen so zusammenzuführen und
aufeinander zu beziehen, dass wir ihnen etwas zeigen können.“ Artikulation ist also keine
Kleinigkeit und stellt stets eine besondere Herausforderung dar. Dies räumt Prange denn
auch bereitwillig ein. Auch hier ist – wie in allen Fällen der Kommunikation – mit „Kata-
strophen“ zu rechnen. Das falsche Wort zur falschen Zeit...

Prange fasst seinen Ansatz ein weiteres Mal zusammen und erläutert, dass die Artikula-
tion jene Operation ist, die der Erziehungswissenschaft ein Fundament verschafft:

„Ohne dass (1) eine soziale Beziehung benutzt oder gestiftet wird, kann (2) auch
nichts gezeigt werden, und ohne dass (3) beobachtet und geprüft wird, was davon
gelernt ist, kann man nicht wissen, ob es sich um eine gelungene oder missratene
Zeigeoperation gehandelt hat. Insgesamt stellen diese drei Schritte das Minimum
dar, das zur Artikulation des Zeigens in pädagogischer Absicht gehört. Kurz: Ohne
artikuliertes Zeigen keine Erziehung.“ (Prange 2011, S. 27)

Und nun sollten Sie sich fragen, ob Pranges Ausführungen geeignet sind, dem Begriff der
„Erziehung“ schärfere Konturen zu verleihen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass das
Ausgangsproblem, auf das Prange mit seinem Konzept einer „Operativen Pädagogik“ zu
antworten versucht, kein geringes war: Es ging darum, der Erziehungswissenschaft, die

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ihren Schlüsselbegriff nicht befriedigend geklärt hatte, wieder ein „Fundament“ zu ver-
schaffen; und eben dies dadurch, dass sie im Rückgang auf ihre „elementaren Operatio-
nen“ neu vermessen wird.

Ich hatte zu Beginn dieser VL erläutert, dass ich Ihnen Bildungs- und Erziehungstheorien
unter einer bestimmten Perspektive vorstellen werde: Mich interessiert, inwiefern sie
sensibel für die unterschiedlichen Modi ihrer Instrumentalisierung sind. Ein Anlass für
diese besondere Aktzentsetzung innerhalb meiner systematischen Rekonstruktion sind
die massenhafte Fälle sexualisierter Gewalt, zu denen es an renommierten Internaten (lei-
der: nicht allein) in Deutschland gekommen ist. Der wahrscheinlich schlimmste (und am
meisten verstörende) Fall ist die Odenwald-Schule, eines der deutschen Vorzeige-Inter-
nate. Ich werde diese Vorfälle im nächsten Semester zum Gegenstand machen. Zunächst
aber will ich vor diesem Hintergrund noch Klaus Pranges Modell befragen: Was lässt sich
über das Verhältnis von Erziehung und Macht lernen, wenn man sich über die Operation
des Zeigens den Erziehungspraktiken nähert? Vollzieht sich das Zeigen als eine „neutrale
Operation“ jenseits der Machtverhältnisse, welche die soziale Welt prägen? Sind Erzie-
hungspraktiken verstrickt in Machtbeziehungen? Oder müssen wir doch damit rechnen,
dass die Erziehung involviert ist in Praktiken der Machtausübung? Womöglich gar in For-
men der Gewaltausübung?

Prange kam erst spät auf die Machtproblematik zu sprechen. In mehreren Rezensionen
erziehungswissenschaftlicher Fachzeitschriften war dies schon moniert worden; hier
wurde die Vermutung geäußert, dass in der Operativen Pädagogik eine eigentümliche
Blindheit für Machtphänomene herrsche. Daher war es denn auch überraschend, als in
einem Buch, das auf eine Tagung zur „Politik des Zeigens“ zurückgeht, ein Beitrag von
Prange mit dem Titel: „Machtverhältnisse in pädagogischen Inszenierungen“ erschien.

Bevor Prange seine theoriestrategischen Entscheidungen rekonstruiert, hält er fest:


„Überall, wo erzogen wird, wird auch etwas gezeigt. Und wer etwas zeigt, kommt an dem
Phänomen der Macht nicht vorbei und nicht daran, dass pädagogische Inszenierungen
immer auch machtbestimmt sind.“ (Prange 2010, 61). Prange hatte keine Hemmungen,
gegen den „guten Ton“ des pädagogischen Diskurses zu verstoßen, hatte immer wieder
die Harmonieversessenheit unter Pädagog*innen gegeißelt. Er widersprach also den ge-
heimen Sehnsüchten, die in unserer Disziplin zirkulieren, dass wir Bildung und Erziehung
jenseits von Macht, Herrschaft und Gewalt kultivieren könnten.

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Nach Prange gehört es zu den Herausforderungen der Disziplin, diese latente Machtblind-
heit endlich zu überwinden. Sie erinnern sich vielleicht, was Prange zu Beginn der „Ope-
rativen Pädagogik“ etwas spitz bemerkt hatte: unsere Hausaufgaben sollten wir selbst er-
ledigen; andernfalls richtet sich das Interesse der Öffentlichkeit an andere Disziplinen,
wenn es um die Aufklärung des pädagogischen Feldes geht. Wenn wir dies nicht tun, so
bleibt dies nicht ohne Folgen. Und er schreibt: „Heute ist es den Historikern und Soziolo-
gen vorbehalten, auf das Phänomen der Macht in der Erziehung hinzuweisen […].“ (ebd.)

Ich teile diese Einschätzung nicht; in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist innerhalb der
Erziehungswissenschaft eine große Zahl machtkritischer Studien vorgelegt worden. Ar-
beiten, die den Anschluss an französische Sozialtheoretiker wie Michel Foucault und
Pierre Bourdieu suchen. Aber ich will das heute nicht weiter vertiefen. Stattdessen fragen:
Weshalb erscheint nun auch Prange, der in der Vergangenheit kaum einmal die Auseinan-
dersetzung mit Machttheorien gesucht hat, dies so dringlich? Wieso erscheint sie insbe-
sondere für eine Theorie des Zeigens so zwingend, so unerlässlich?

Nun, die Erklärung ist relativ schlicht und nicht sonderlich spektakulär: Zeigen vollzieht
sich nie auf „neutralem Gelände“, geschieht nie in einer „vordiskursiven Zone“. Zeigen ist
eine eminent „soziale Praxis“ – und damit per se kontaminiert:

„Die Erziehung ist keine reine Kategorie; man kann sie nicht in einer Weise abson-
dern und von den übrigen Lebensverhältnissen getrennt führen, wie etwa Straf-
prozesse und medizinische Eingriffe. Sie ist vielmehr eingelagert in Situationen,
Kontexte und Lagen, die mitbestimmen, wie das Zeigen zur Geltung gebracht wird.
Erst dadurch wird auch sichtbar, was die Erziehung mit Macht und Machtverhält-
nissen zu tun hat.“ (67)

Die Gesten des Zeigens immer „eingelagert“: sie werden gerahmt von „Situationen, Kon-
texten und Lagen“; und da diese sozialen Settings meist auch von Asymmetrien, von Ab-
hängigkeitsbeziehungen, von Macht und Zwang (bisweilen auch von Gewalt) geprägt
sind, gilt dies auch für die Praktiken des Zeigens – und damit für die Erziehung selbst.
Interpretiert man Macht im Rückgriff auf eine klassische Wendung Max Webers als „jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen, gleichviel wo- rauf diese Chance beruht“ (1972, 28), dann muss man keine
großen kognitiven Anstrengungen unternehmen, um hier Strukturmuster zu erkennen,
welche etwa das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern prägen. Deren Verhältnis ist

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ebenfalls asymmetrisch: es stehen sich „groß und klein, schwach und stark, alt und jung“
einander gegenüber (Prange 2010, 67).

Ohnmachtserfahrungen

Obwohl die Eltern eine Schutzfunktion übernehmen und ihnen damit eine besondere Ver-
antwortung zukommt, stehen sie doch stets in der Gefahr, diese „Schutzfunktion“ zu miss-
brauchen. Freilich: Kinder sind ihren Eltern nicht vollständig ausgeliefert; und auch das
Lernen, das nicht stellvertretend praktiziert werden kann (genauso wenig wie die Bil-
dung), kann sich nur vollziehen unter Mitwirkung der Kinder. So sehr die Kinder ihren El-
tern unterworfen sind, erzwingen können diese das Lernen ihres Nachwuchses nicht: „Ein
gewisses Maß an Zustimmung und Lernbereitschaft muss von der Seite der Machtunter-
worfenen hinzutreten.“ (68) Erfahrungen der Ohnmacht, wie sie von Lehrer:innen be-
schrieben werden, aber auch von Eltern, haben hier ihren Grund: Es gibt beim Lernen
keine Stellvertreter:innenschaft; es kann nur „angeregt“ werden, es kann nur „provoziert“
werden; es kann nicht systematisch erzeugt werden. Hier existieren keinerlei Kausalbe-
ziehungen.

Man könnte nun sagen, dass die Anfälligkeit für die Versuchung der Macht mitunter auch
aus der Erfahrung der Ohnmacht geboren wird: Stellt man in Rechnung, dass Erziehung
aus dem Zusammenspiel von Erziehen und Lernen hervorgeht, und weiterhin, dass das
Lernen nur „angesonnen“ werden kann, es letztlich aber von dem lernenden Subjekt selbst
vollzogen werden muss, ist es nicht verwunderlich, dass dies Überlegungen dazu provo-
ziert, wie denn die Wahrscheinlichkeit der Annahme wirksam gesteigert werden kann.
Anders formuliert: Wie können die Praktiken des Zeigens so „gerahmt“ werden, so „ange-
legt“ und „gehandhabt“ werden, dass sie nicht ins Leere laufen, dass sie nicht folgenlos
bleiben“? Kann also die Annahmewahrscheinlichkeit gesteigert werden? Können „unter-
stützende Maßnahmen“ ergriffen werden, die hier eine Absicherung leisten?

Von hier aus ist es kein weiter Weg mehr zum Internat. Und zu Ohnmachtserfahrungen
sowie den Hoffnungen auf pädagogische Arrangements, die größere „Durchgriffsmöglich-
keiten“ versprechen. Sie ahnen vielleicht schon, dass dies überaus ambivalent ist, dass
hier der Weg zu Übergriffen nicht mehr weit ist. Und damit zum Schluss der Vorlesung
zum komplizierten Zusammenspiel von Bildung, Erziehung und Sozialisation.

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Grenzen der Steuerbarkeit

Ohnmachtserfahrungen verweisen nicht nur auf die begrenzte Steuerbarkeit von Erzie-
hungsprozessen hin. Diese sind zwar von asymmetrischen Sozialbeziehungen gerahmt,
das hatte ich letzte Woche erläutert, aber gleichwohl kommt es auch immer wieder zu
Erfahrungen, die von Eltern oder Lehrer:innen damit kommentiert werden, dass sie „mit
ihrem Latein am Ende“ seien, dass sie überfordert sind, dass auf Unterstützung Dritter
hoffen.

Ohnmachtserfahrungen können aber auch auf als Indikator dafür gelten, dass Erziehungs-
berechtigte gewärtigen müssen, dass ihre gezielten Maßnahmen – denken Sie daran, dass
Intentionalität für erzieherische Praktiken typisch ist – nicht jene Ergebnisse zeitigen, die
sie sich erhofft hatten. Um ein einfaches Beispiel zu nehmen, das Sie wohl aus zahllosen
Romanen und Kinofilmen kennen: Die Anziehungskräfte von den Peers sind ungleich stär-
ker als alle Interventionen der Eltern. Es kann sich dabei um popkulturelle Szenen han-
deln – Punks, Hools, HipHop-Fans, Skater etc. –, um politische Kreise – von der Antifa über
Flinta-Gruppen, Burschenschaften bis hin zur Identitären Bewegung – oder etwa um
Gruppen, die sich über gemeinsamen Drogenkonsum konstituieren (Alkohol, Tabletten,
Chriystal Meth etc.). In all‘ diesen Fällen können die sozialisatorischen Effekte ungleich
stärker als alle Versuche der Eltern und/oder pädagogischer Fachkräfte sein, diese auf die
Werte des Elternhauses oder pädagogischer Einrichtungen zu verpflichten. Um nur ein
Beispiel zu nennen: In der 4. Staffel der fantastischen HBO-Serie „The Wire“ wechselt ein
Polizist vom Drogendezernat in West-Baltimore an die Schule. Der harten, frustrierenden
Polizeialltags überdrüssig, wird er Teil des Lehrer:innenkollegiums und kämpft nun um
jene Kinder und Jugendlichen, die in der Drogenszene der USA die „Corner-Boys“ genannt
werden. Sie stehen an Häuserecken und halten nach Kundschaft Aussicht. Sie gehen auf
die langsamer fahrenden Autos zu, bieten der Kundschaft den Stoff an und laufen zu den
Verstecken, wo dieser deponiert ist. Auch wenn sie zunächst nur auf der untersteten Stufe
der Drogengangs stehen, ist die Hoffnung, es hier nach ganz oben zu schaffen und – nach
einer langen Zeit der Bewährung – am Umsatz entsprechend beteiligt zu werden, ungleich
attraktiver, als die Schulbank zu drücken, regelmäßig die Hausaufgaben zu machen, sich
gewissenhaft auf die nächste Klausur vorzubereiten, dem nächsten Zeugnis entgegenzu-
blicken, den Sprung auf eine weiterführende Schule zu schaffen, um dann – viele Jahre
später, wenn es gut läuft – vielleicht eine Lehrstelle zu ergattern. Oder, für die meisten
derer, die in prekären Verhältnissen aufwachen, ist das keine ernsthafte Option, vielleicht

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sogar den Sprung auf ein College zu schaffen. „Presz“, so der Spitzname des Cops, der in
„The Wire“ an die Schule, muss schon bald feststellen, dass er nun auch hier scheitert. Im
Kampf um die „Corner-Boys“ war er als Polizist wenig erfolgreich; und auch als Lehrer ist
dies nicht besser.

Eine neue Gattung: Autosoziobiografien

Wer nun die sozialisatorische Kraft, die von gesellschaftlichen Milieus ausgeht, von sozi-
alen Klassen und patriarchalen Strukturen, studieren will, dem/der sei eine neue literari-
sche Gattung empfohlen. In Autosoziobiografien – so der etwas sperrige Name, der sich
dafür in der Literaturwissenschaft eingebürgert hat – erzählen Bildungsaufsteiger:innen
von ihrer Biografie. Und blicken zurück. Aber sie tun dies anders als die Angehörigen des
Bürgertums, die sich im Medium der Autobiografie selbst feiern. Inszenieren in der Auto-
biografie jene, die zu den privilegierten Kreisen gezählt werden müssen, sich selbst, sind
die Erzählungen, welche die autobiografischen Bücher prägen, anders temperiert. Hier
ergreifen jene das Wort, die aus prekären Milieus stammen, die in Familien aufgewachsen
sind, die von Armut und häufig auch von Gewalt und Drogenkonsum geprägt ist.

Ich stelle Ihnen diese hochinteressante Gattung, die ich mit einigen Kolleg:innen in Tübin-
gen und an anderen Universitäten gemeinsam erforsche, in der letzten Sitzung, also nach
der Klausur, vor. Ich zeige Ihnen dann Tagungsprogramme, stelle Ihnen einige Bücher und
Namen vor. Heute will ich nur auf ein Buch eingehen, um Ihnen zu zeigen, wie stark die
sozialisatorischen Effekte einer sozialen Klasse sein können. Und dass diese mit bestimm-
ten Geschlechterbildern einher gehen. Wenn Sie also – wie Darren McGarvey, einen Rap-
per aus dem Süden von Glasgow – auf den Straßen von Pollok aufwachen, dann werden
sie schon früh mit Gewalt konfrontiert – mit häuslicher Gewalt, aber auch mit Gewalt un-
ter Gleichaltrigen. In „Poverty Safari“ zeigt er, was es heißt, auf den Straßen im Süden von
Glasgow ein richtiger „Junge“ bzw. ein „Mann“ zu sein. Präziser wäre es noch: Sie werden
nicht damit konfrontiert, sondern sie wachen in eine Kultur männlicher Dominanz auf, die
alternativ los ist. Zu einer Konfrontation kommt es nicht, weil alle Jungs nach dem selben
Skript zu leben scheinen. Genauer – alle Jungs aus Ihrer „Hood“; alle, die mit Ihnen die
selbe Schule besuchen.

Ich zeige Ihnen nun eine Passage und interpretiere diese abschließend. Zunächst ist der
Ausschnitt ganz harmlos. Darren fährt mit seinen Peers zu einem Fußballspiel; die Szene

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spielt also in einem Bus. Zu einer Herausforderung der besonderen Art wird diese Bus-
fahrt deshalb, weil Darren, der zu diesem Zeitpunkt etwa 12-14 Jahre alt sein mag, auf die
neue Frisur einer Mitschülern zu sprechen kommen will. Das müsste – in bürgerlichen
Kreisen – nicht unbedingt zu besonderen Problemen führen. Aber hier, mit seinen Kum-
pels, auf der Fahrt zu einem Fußballspiel, wird das zu einer heiklen Gratwanderung. Ich
zitiere – und füge die Interpretation an, die ich zusammen mit meiner Mitarbeiterin Flora
Petrik, entwickelt habe.

Doing Masculinity: Männlichkeit muss immer wieder neu „performt“ werden

E INE F AHRT IM S CHULBUS


Dass das Agieren in der „männlichen Arena“ (47) nicht nur von ihm als Belastung empfunden
wird, sondern auch seine Mitschüler das imaginierte Bild hegemonialer Männlichkeit als Stressfak-
tor erleben, illustriert die Erinnerung an eine Fahrt mit dem Schulbus. Bedeutsamer als die Frage,
was sich seinerzeit tatsächlich zugetragen hat, ist die Erinnerung daran – also die Geschichte, die
McGarvey erzählt. Sie verschafft einen Einblick in die Subjektivierungspraktiken, die an der Aus-
bildung männlicher Identität beteiligt sind. Der Auslöser ist nur vordergründig harmlos: Der Er-
zähler will seine Peers auf die neue Frisur eines Mädchens hinweisen, das von ihm offenkundig
geschätzt wird. McGarvey weiß um die sprachlichen Codes, die in seiner Szene gepflegt werden, er
weiß überdies, wie leicht man sich angreifbar macht, wenn man das Gespräch auf einen Bereich
verlagert, der jenseits der eng umgrenzten Zone von Männlichkeit angesiedelt ist, und er weiß
schließlich auch um die Unsicherheit, sich auf diesem wenig vertrauten Terrain zu bewegen. Daher
verbietet es sich, die ästhetischen Qualitäten der Frisur einer attraktiven Mitschülerin zum Gegen-
stand zu machen, ohne gleichzeitig eine gewisse Form der Distanzierung und der Absicherung
vorzunehmen. So wird es zu einer Herausforderung, die Wertschätzung in einer sozial akzeptablen
Form zum Ausdruck zu bringen:

Die Sache verlangte sorgfältigste Überlegungen vorab. Ich konnte nicht einfach mit dem Wort ‚schön‘ heraus-
platzen. Ohne die übliche sprachliche Verklausulierung oder sonst eine Form des Puffers wäre das Wort ‚schön‘
für die Jungs zu schrill gewesen. Neue Wörter und Ideen erschreckten sie, provozierten unberechenbare Reakti-
onen, je nachdem wo man selbst stand und wie groß die Gruppe war. Ich wusste intuitiv, dass die Verwendung
des Wortes ein Risiko bedeutete. Deshalb schwächte ich es mit einem derberen Wort ab, um den Schlag zu
mildern. (48)

Als er sich für eine Variante entscheidet – sie lautet: „Hey, habt ihr Nicolas neue Haare gesehen?
Scheiße, sind die schön.“ (ebd.) –, ist es aufschlussreich zu sehen, wie er (im Nachhinein) die Re-
aktionen der anderen Jungs interpretiert: „In einer solchen Situation wusste niemand, wie er rea-
gieren sollte. Jeder hatte ein Gefühl dafür, wie er aus sich heraus reagieren würde, aber nicht den
Mumm, es auch zu tun, weil seine Reaktion ja von der Meute abgelehnt werden könnte.“ (ebd.)
Hier wird deutlich, dass doing masculinity für jeden seiner Kumpels eine Herausforderung darstellt.
Werden die Routinen unterbrochen, über die Männlichkeit im Alltag reproduziert wird, muss im-
provisiert werden. Dabei zeigt sich, dass die meisten der beteiligten Akteure überfordert sind, so-
bald sie sich mit einer neuen Situation konfrontiert sehen: Sie können nicht den eigenen Impulsen
vertrauen, müssen sie abstimmen mit den anderen – freilich so, dass diese Abstimmung nicht als
solche zu erkennen ist. Jeder will, vor den Augen aller anderen, seine Männlichkeit ‚unter Beweis‘
stellen, indem er eine ‚angemessene Reaktion‘ zeigt. Nur ist augenscheinlich unklar, was hier als
angemessen erscheint. Wie lässt sich das ästhetische Urteil über die Frisur eines Mädchens

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kommentieren, ohne gegen die Codes von Männlichkeit und Coolness zu verstoßen? Ohne die
street credibility einzubüßen? Wie lassen sich die sozialen Mikropraktiken, über die männliche Iden-
tität aufgeführt werden (ebd.), weiterführen, wenn sie einmal ins Stocken geraten sind und der
Faden zu reißen droht? Vor dieser Herausforderung stehen sie alle – und damit wird zugleich deut-
lich, welch hohes Risiko Darren McGarvey eingeht, indem er seine Kumpels mit einer ungewöhn-
lichen Beobachtung konfrontiert.
Doing masculinity lässt sich hier, in dieser Anekdote, wie unter einem Brennglas beobachten. Sie
beschreibt eine Herausforderung, die mehrere Dimensionen aufweist: Zunächst müssen die sozia-
len Praktiken weitergeführt werden – allein schon deshalb, weil eine Frage aufgeworfen wurde und
beantwortet werden muss. Brisant ist die Frage deshalb, weil sie ein ästhetisches Urteil mit der
wertschätzenden Aussage über ein Mädchen kombiniert. Im Rückgriff auf bewährte Routinen lässt
sich diese schlechterdings nicht beantworten. Sie verlangt eine Positionierung. Und genau darin
besteht die nächste Herausforderung: Wie lässt sich darauf reagieren, ohne den eigenen Ruf zu
riskieren, sich zu diskreditieren, ohne von den eigenen Kumpels coram publico als ‚schwul‘ tituliert
zu werden, weil man sich an der Erörterung ästhetischer Fragen beteiligt? Ist es daher eher ratsam,
jenen, der die Frage aufgeworfen hat, bloßzustellen und die Beantwortung der Frage zu verweigern?
Oder sollte diese doch beantwortet werden? Und wenn ja: Auf welche Weise und mit welchem
Ergebnis? Bei der Abwägung der Optionen erscheint es überdies geboten, die gruppeninterne Hie-
rarchie zu berücksichtigen: Wo steht der Fragesteller im Ranking der Gruppe? Wo stehen jene, die
zur Beantwortung ansetzen? Und, nicht weniger wichtig: wie ist die sprachliche Form zu bewerten,
in der die Frage formuliert wurde? Erlaubt sie einen ironischen Anschluss, der die Gefahr des
Gesichtsverlustes auf ein erträgliches Maß minimiert?
Männlichkeit, das zeigt sich hier, ist durchaus keine feststehende Eigenschaft; sie ist weder ge-
netisch noch über einstudierte soziale Praktiken (vollkommen) abgesichert. Sie muss immer wieder
neu erzeugt werden, sie gleicht einem fragilen Gebilde, das über eine gemeinsame Performance
hervorgebracht wird. In den meisten Fällen geschieht dies routiniert und relativ verlässlich: Alle
kennen die Codes, die Stimuli sind wenig überraschend und die Reaktionen aufeinander abge-
stimmt. Aber immer wieder einmal kommt es zu einer Unterbrechung – und dann wird, für kurze
Zeit, der Blick frei auf die Unsicherheiten, die hier herrschen, und die beträchtliche Abstimmungs-
arbeit, die fortwährend geleistet wird:

Obwohl jede mögliche Reaktion im Bus verwurzelt war in dem Wunsch, als harter Kerl zu erscheinen, hatten sie
alle eine Heidenangst, in diesem Augenblick ihre wahren Gedanken oder Gefühle zu zeigen. Sie hatten sogar Angst,
beim Nachdenken über ihre Gefühle und Gedanken ertappt zu werden, und diese Angst, die ihnen überallhin
folgte, war der Motor eines Großteils ihres Verhaltens in der Schule – und außerhalb. (49)

Nach einer kurzen Pause wagt sich einer aus der Deckung, stellt die Rückfrage „Schön?“ und fügt
hinzu: „Ha, ha, ha. Er hat grad ‚schön‘ gesagt. Ha, ha, ha, Kumpel, du bist schwul.“ (50) Die ande-
ren stimmen erleichtert in das Lachen ein, aber – es ist kein sonderlich verletzendes Lachen.
McGarvey spürt sofort, dass sein sprachliches Manöver geglückt ist. Eine Sanktionierung war un-
erlässlich; aber sie lässt ein gewisses Wohlwollen erkennen, vielleicht sogar Nachsicht. Die Hürde
ist genommen, die kollektive Abstimmung der Praktiken wieder hergestellt. McGarvey hat sich mit
seinem Statement auf eigenwillige Weise positioniert; ihm bleibt der Gesichtsverlust erspart und er
Teil der Gruppe:

Zu meiner Überraschung war das daraufhin ausbrechende Gelächter für mich eine willkommene Befreiung. Es
ist nie lustig, ausgelacht zu werden, wenn man nicht komisch sein wollte, aber mein Stolz war nicht der einzige
Ball, der hier im Spiel war. Das kollektive Lachen der Jungs war zwar demütigend, aber auch ein Signal dafür,
dass sie wieder so waren wie vorher, bevor ich sie aus der Fassung gebracht hatte. (ebd.)

Quellenangabe: Markus Rieger-Ladich/Flora Petrik (2022): Ein Rapper von Glasgows south side: Darren
McGarvey ü ber Mä nnlichkeit. In: Schuhen, G./Schrö er, M./Henk, L. (Hrsg.): Prekä re Mä nnlichkeiten: Klas-
senkä mpfe, soziale Ungleichheit und Abstiegsnarrative, Bielefeld: transcript 2022, S. 67-92.

Und nun: Toi, toi, toi für die Klausur und bis nächste Woche! MRL

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