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Vorlesung: Forschung zu Schule und Unterrichtsgestaltung


Thema: Entstehung des modernen Schulsystems in Deutschland

Goethe Zitat: Auszug aus Wilhelm Meister


„Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu
einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allem; nur die Fähigkeit dazu
wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.“ (Goethe 1795, S. 174)

Bedeutung:
Der Mensch ist nicht durch eine höhere Macht, durch eine bestimmte Laufbahn oder
Entwicklung bestimmt.
 Der Meister hat ein gewisses, allgemeines Potential bzw. Fähigkeit, aber dieses muss durch
üben und lernen erst entwickelt werden (Beispiel: Lehrplan)
Damals im 18. Jahrhundert, in der schönen Literatur, kam eine solche Idee gerade auf:
Von einem frei denkenden, geistig mündigen Menschen, der bildbar war
 Diese Vorstellung war v.a. für die Denker revolutionär.

Beispiele aus philosophischen Schriften dieser Zeit:


Marketing Beispiel (Werbeposter: „Ich kann die Zukunft nicht vorhersagen. Klar. Aber ich kann
mich darauf vorbereiten.“)  Rückbezug Zitat Goethe: Durch Vernunft gehen wir effektiv mit
den Zufälligkeiten des Lebens um. Wir können diese nicht bestimmen, wir können sie aber mit
unseren Fähigkeiten lenken.“  bis heute für unser Schulsystem relevant

Wichtigste Entwicklungen im späten 18. Und 19. Jahrhundert:


1. Herauslösung des Bildungsbegriffs aus dem religiösen Kontext
2. Verstaatlichung der Bildung ab ca. 1800 (Staat ersetzte Kirche immer mehr)

 Diese beiden werden im Folgenden diskutiert:

Zu 1.: Herauslösung des Bildungsbegriffs aus dem religiösen Kontext


Schritt 1: Drei Positionen über das Selbstlernen und Selbstdenken um 1800
Schritt 2: Erste Konsequenzen für die Theorie der Schule (Ebene der Planung)
Schritt 1:
Position 1: Selbstlernen und Selbstdenken sind möglich

Johann Gottfried Herder (1784): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(zentrale Frage: wie unterscheidet sich der Mensch von den Tieren?)
 Der Mensch ist lern- und denkfähig
 Mensch kann gehen und sprechen, hat Hände
 Der erste Freigelassene der Schöpfung
 Auszug:
„Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens
mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. […] Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er
stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er
soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu
leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf,
selbst Gewicht zu sein auf der Waage.“ (Herder, 1784/1989, S. 145-146)

Johann Gottlieb Fichte (1800): Die Bestimmung des Menschen


(zentral: Die Motivation bzw. der Antrieb menschlichen Handelns, denn nur durch Taten kann
der Mensch die Welt begreifen)
 Der Mensch bestimmt selbst sein handeln, und zwar um zu lernen
 „Der Grund, warum ich etwas außer mit annehme, liegt nicht außer mir, sondern in mir
selbst“  Die Menschen sollen die Welt entdecken

Zusammenfassung Position 1 = Der Mensch ist in der Lage Dinge selbst zu lernen und
eigene Ideen zu haben
Position 2: Selbstlernen und -denken erfordern Mut und Mühe
(eigene Gedanken kommen nicht einfach so, der Mensch muss sich darum bemühen)
 Immanuel Kant, Friedrich Schiller

Immanuel Kant (1784): Beitrag zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
 Aufklärung ist, wenn Menschen jederzeit selbst denken (Beantwortung der Frage: Was
ist Aufklärung? = wenn Menschen jederzeit selbst denken und sprechen dürfen)
 Man muss sich trauen, sich seine eigenen Gedanken zu machen
 Dies ist nicht einfach, erfordert u.a. die Redefreiheit (einer Gesellschaft) ( hierfür ist
es aber wichtig, dass die Menschen einer Gesellschaft gehorsam sind)
 Beispiel: Leistung eines Amtseides: nicht komplett frei, man ist pflichtgebunden (Ver-
gleich zu einer Gesellschaft)
 Auszug:
1: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. 2: Unmündigkeit ist das
Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. 3: Selbstverschuldet ist diese Un-
mündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des
Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. 4:Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Zu 1: seine Definition der Aufklärung, wichtige Begriffe: selbstverschuldet, Unmündigkeit


Zu 2: Unmündigkeit liegt dann vor, wenn man nicht dazu im Stande ist, selbst ohne Anleitung
Gedanken zu machen
Zu 3: Problem: Menschen sind ab einem gewissen Alter in der Lage, eigene Gedanken zu
haben, meiden dies aber aus Bequemlichkeit.
Zu 4: „Sapere aude“ = „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ = Wahl-
spruch der Aufklärung

Friedrich Schiller (1795): Über die ästhetische Erziehung des Menschen (in einer Reihe
von Briefen)
 Diagnose des Problems ähnlich wie bei Kant (1784) (= Menschen sind fähig, selbst zu
denken aber oft zu faul)
 Auszug:
„Erkühne dich, weise zu sein, Energie des Muts gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl
die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegensetzen […] Der zahlreiche Teil der
Menschen wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem
neuen und härtern Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des
Denkens entgeht, läßt er andre gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen.“ (Schiller 1795/2004, S.
592)
 Der Mensch hat das Zeug dazu, neue Gedanken vorzubringen und sich damit gegen
etablierte Sichtweisen auszusprechen
Problem: Dies ist aber ein immer neuer und anstrengender Kampf
Pessimistisches Fazit: Menschen tendieren dazu, etablierte Ideen anzunehmen = eine ge-
wisse Trägheit

Neu bei Schiller ist seine Suche nach Lösungen:


 Suche nach erzieherischen Lösungen (Schule etc.)
 Er beginnt bei der französischen Revolution: Wenn Menschen die radikale Freiheit er-
leben, geht dies meist daneben: Es ist also falsch, Menschen von allen ihren Pflichten
zu befreien!
 Lösungsansatz: einen erzieherischen Weg zu einer besseren Gesellschaft beschrei-
ben  holistische Kunsterziehung als Vorschlag:
Balance erreichen zwischen Gesellschaftlichen Pflichten (=Vernunft) und freien Mög-
lichkeiten (=Fantasie/Kreativität)
Zusammenfassend: Menschen können sich frei durch Kreativität entfalten, aber sie achten auf
die Vernunft, damit sie sich bei ihrer freien Entfaltung nicht in Richtung Anarchie entwickeln

Wichtig für alle Denker der Zeit: Wie erreicht man eine friedliche, humanere Gesellschaft
durch erzieherische Maßnahmen?  Suche nach erzieherischen Lösungen

Position 3: Selbstdenken und -lernen bedürfen der Bildung als Erziehung dazu
 Pos. 3 hält die Lösungsvorschläge als Problem in der 2. Position
= Man müsse sich trauen eigene Gedanken zu haben, könne dies aber nicht allein bewerk-
stelligen

 Wilhelm Meister: Menschen haben allgemeine Fähigkeiten, müssen diese aber erst entwi-
ckelen  Bildung erforderlich!
Jean-Jacques Rousseau (1762)
 Erziehung und Bildung notwendig (der Mensch ist vollkommen auf die Erziehung durch
Umwelt angewiesen)
 Korrupte Gesellschaft, keine geeignete erzieherische Richtschnur
 Erforderlich: eine passende erzieherische Umwelt (wichtig: die richtige Umwelt + das
richtige Timing; das nennt er: negative Erziehung = Abschirmung der Kinder vor un-
günstigen oder schädlichen Einflüssen)
 Auszug:
„Pflanzen werden durch Zucht geformt, Menschen durch Erziehung. Wenn der Mensch groß und stark geboren
würde, wären seine Größe und Kraft nutzlos für ihn, bis er lernte, sie zu gebrauchen; sie würden ihm schaden,
indem sie andere davon abhielten, daran zu denken, ihm beizustehen [...]; und wenn er sich selbst überlassen
bliebe, würde er vor Armut sterben, bevor er seine Bedürfnisse kennengelernt hätte.“
 Vergleich der Menschen mit Kulturpflanzen

Immanuel Kant (1776-1787)


 ALLES muss in der Erziehung bedacht werden (= Er unterteilt in: physische (körperli-
che und seelische Entwicklung) und praktische (alles was die Zivilisation den Men-
schen bietet; Weltwissen etc.) Erziehung)
 Zwang ist unentbehrlich, aber problematisch (Zwang in der Erziehung: ohne Zwang
kann er sich keine Erziehung vorstellen, aber er sieht auch ein, dass Zwang problema-
tisch ist, denn Menschen sollen auch ihre eigenen Gedanken haben)
 Nach wie vor geht es langfristig um frei denkende Menschen (Gesellschaft ist kein gu-
tes Vorbild für junge Menschen; kritisiert auch die Schulen  nur Dressur)
 Auszug:
„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist
zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.
Daher macht auch Mangel an Disciplin und Unterweisung bey einigen Menschen sie wieder zu schlechten Erzie-
hern ihrer Zöglinge. Wenn einmal ein Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, so würde man doch
sehen, was aus dem Menschen werden könne. Da die Erziehung aber, theils den Menschen einiges lehrt, theils
einiges auch nur bey ihm entwickelt: so kann man nicht wissen, wie weit bey ihm die Naturanlagen gehen.“ (Rink,
1803, S. 9)

 Kinder können sich nur entwickeln, wenn die Lehrer die passende Umwelt verkörpern;
große Herausforderung, denn Gesellschaft verkörpert nicht das, was man sich für die nächste
Generation wünscht.
Wichtig: Der Sollwert für das Schulsystem wurde hier im Zitat erkannt
 Die beiden letzten Sätze sprechen Frage an, mit denen sich Forscher beschäftigen: Wie
wird ein Mensch durch die Umwelt und durch seine Anlage bestimmt? = Anlage-Umwelt-De-
batte
Erste Konsequenzen für die Theorie und Schule:
Wichtig: Man muss bei den Schulen anfangen!

 Frage: Welches Schulsystem erzieht selbstlernende, selbstdenkende Men-


schen?
(Negative Schulsysteme produzieren negativ denkende Menschen)

 Wilhelm von Humboldt (1792/1809)


- Gründer der Humboldt Universität
- Vorschläge für die Schulreform in Preußen im frühen 18. Jahrhundert
- die allgemeine Menschenbildung (er plädierte für eine allg. Menschenbildung)
vs. die spezielle Menschenbildung (Ausbildung etc.; bringt Menschen Fertigkei-
ten in bestimmten Domänen bei; setzt immer erst auf eine gelungene allgemeine
Menschenbildung ein!)  Timing wichtig: wann setzt welche Menschenbildung ein:
allgemeine erfolgt zuerst!)  die allg. Menschenbildung muss jedem Menschen
kostenlos zur Verfügung stehen!  weitere Grundvoraussetzung dafür: die Bil-
dungsinhalte müssen von Bürgern einer mündigen Gesellschaft kommen, die die
Redefreiheit haben, nicht von einem einzelnen Menschen!
 die Meinungsfreiheit muss es also zuerst geben, bevor man über die allg. Men-
schenbildung nachdenkt
 Bildungsinhalte einer freien Nation (nicht vom Adel oder vom Alleinherr-
scher)
 Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809)
 Auszug:
„Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese an-
nimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken […] Die Organisation der Schulen bekümmert sich
daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte“ (von Humboldt, 1809/2023)

Wichtig ist hier, dass alle Menschen den Zugang zu Bildung haben, nicht nur eine Kaste oder
Schicht!

 Vorschlag Wilhelms von Humboldt für ein allg. Schul-und Bildungssystem (Humboldt 1809)
- Drei Stufen eines Schul- und Bildungsystems für die allg. Menschenbildung:
 Stufe 1: Elementarunterricht (Kinder müssen erst lernen, wie sie der Lehrperson
folgen)
 Stufe 2: Schulunterricht (SuS lernen die Sprache, die Stofffächer und das Lernen
selbst = lernen, wie sie lernen)
 Stufe 3: Universitätsunterricht (Hervorbringung eigenständiger Ideen und die
Teilhabe als eigenständiger Mensch, mit einigen Freiheiten)
 Vorstellung von Humboldt ist für das Studium heute noch relevant

 Humboldt: Herkunft sollte nicht bestimmen, ob Menschen ihre Fähigkeiten entfalten dürfen

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