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H E G E L • G ESA M M E L T E W E R K E 3

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

GESAM M ELTE W ERKE

IN V ER B IN D U N G M IT DER

D EU TSCH EN FO RSCHU NG SG EM EINSCH AFT


H ERA U SG EG EBEN V O N DER

R H E IN IS C H -W E S T F Ä L IS C H E N AKADEMIE
DER WISSENSCHAFTEN

BAND 3

F E L IX M E I N E R VERLAG H A M B U R G
13270 tylbbt

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

FRÜHE EXZERPTE

U N TER M ITARBEIT VON


GISELA SCHÜLER
H ERA U SG EG EBEN V O N
F R IE D H E L M N I C O L I N

F E L IX M E I N E R VERLAG H A M B U R G
In Verbindung mit der Hegel-Kommission
der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften
und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum
Gedruckt mit Unterstützung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme


Hegel, Georg Wilhelm Friedrich:
Gesammelte Werke / Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
In Verbindung mit d. Dt. Forschungsgemeinschaft
hrsg. von d. Rhein.-Westfäl. Akad. d. Wiss. [In Verbindung mit
d. Hegel-Komm. d. Rhein.-Westfäl. Akad. d. Wiss. u. d. Hegel-Archiv
d. Ruhr-Univ. Bochum]. —Hamburg : Meiner.
NE: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: [Sammlung]
Bd. 3. Frühe Exzerpte/
unter Mitarbeit von Gisela Schüler
hrsg. von Friedhelm Nicolin. - 1991.
ISBN 3-7873-0269-7

© Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften


Düsseldorf 1991
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Rheingold Satz Hildegard Smets, Mainz; Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
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1327Ö $jr|{,.^

INHALTSVERZEICHNIS

EXZERPTE AUS DER GYMNASIALZEIT


1785-1788 ................................................................................................................. 1
Exzerpt 1: Erziehung. Plan der Normal-Schulen in Russland....................... 3
Exzerpt 2: Philosophie. Pädagogik................................................................. 6
Exzerpt 3: Excerpta e Praefatione Joh. Matth. Gesneri ... ad Livium ex
editione cum notis Jo. C le ric i...........................................................64
Exzerpt 4: Hahn des Sokrates.............................................................................. 74
Exzerpt 5: S to ik er..................................................................................................75
Exzerpt 6: Wahre Glückseligkeit ......................................................................76
Exzerpt 6a: [Ohne S tich w o rt].............................................................................. 98
Exzerpt 7: Weg zum Glücke in der grossen W e l t ...........................................99
Exzerpt 8: Seele....................................................................................................100
Exzerpt 9: Academie. Ueber academische Vorstellungs-Arten..................... 108
Exzerpt 10: Mönche ............................................................................................109
Exzerpt 11: L ehrart................................................................................................112
Exzerpt 12: Aegypten. Von der Gelehrsamkeit der A egypter......................... 113
Exzerpt 13: Philosophie. Allgemeine U e b ersich t.............................................115
Exzerpt 14: Rechtsgelehrsamkeit. Allgemeine Uebersicht.................................121
Exzerpt 15: Philosophie. Psychologie. Prüfung der Fähigkeiten..................... 126
Exzerpt 16 : Philosophie. Natürliche Theologie. Vorsehung.............................163
Exzerpt 17: Philosophie. Psychologie. W i t z .....................................................164
Exzerpt 18: [Ohne Stichwort] .............................................................................165
Exzerpt 19: [Ohne S tich w o rt]..............................................................................166
Exzerpt 20: Philosophie. Psychologie................................................................ 168
Exzerpt 21: [Ohne S tich w o rt]..............................................................................169
Exzerpt 22: Philosophie. Philosophische Geschichte. Ueber den Ruhm der
Aufklärung alter Länder, Persiens, A egyptens..............................175
Exzerpt 23: [Ohne S tich w o rt]............................................................................. 177
Exzerpt 24: [Ohne Stichwort] ............................................................................. 179
VI IN H A LT SV ER Z E IC H N IS

Exzerpt 25: Philosophie. Philos. Geschichte. Mythen in der Philosophie und


R e lig io n .............................................................................................180
Exzerpt 26: [Ohne S tich w o rt].............................................................................181
Exzerpt 27: [Ohne S tich w o rt].............................................................................182
Exzerpt 28: Philosophie. Ueber F reih eit............................................................ 184
Exzerpt 29: Philosophie. Verhältniss der Metaphysik zur Religion . . . . 191

D EFIN ITIO N EN VON ALLERHAND GEGENSTÄNDEN


Ab 10. Juni 1785 ...................................................................................................... 201
Exzerpt 30: P hilosophien.............................. 203
Exzerpt 31: V eränderung....................................................................................204
Exzerpt 32: Logik ................................................................................................205
Exzerpt 33: Staaten................................................................................................205

EXZERPTE AUS DER BERNER ZEIT


1794-1796 ................................................................................................................... 207
Exzerpt 34: Aus: Allgemeine Literatur-Zeitung 1792 209
Exzerpt 35: Aus: Allgemeine Literatur-Zeitung 1792 211
Exzerpt 36: Aus: Neues theologisches Journal ................................................ 212
Exzerpt 37: Aus: Mosheim, Kirchengeschichte................................................ 215
Exzerpt 38: Aus: Förster, Ansichten vom N iederrhein.................................... 217
Exzerpt 39: Aus: Allgemeine Literatur-Zeitung 1796 219

EXZERPTE ZUM BERNER STAATSWESEN


Vermutlich 1795/1796 .............................................................................................. 221
Exzerpt 40: Aus: Du gouvernement de B e r n e ................................................ 223
Exzerpt 41: Aus: L’etat et les delices de la S u is s e ............................................225
Exzerpt 42: Aus: Seigneux, Systeme a b r e g e ....................................................228

N ICH T NÄHER D A T IE R B A R E S ................................................................. 235


Exzerpt 43: Aus: Rousseau a M. D’A lem bert....................................................237
Exzerpt 44: Aus: Homer, I l i a s ........................................................................... 239

NACHRICHTEN ÜBER VERSCHOLLENES . 241


IN H A LT SV ER Z E IC H N IS VII

A N H A N G ............................................................................................................... 247
Schrifttypen, Zeichen, Abkürzungen, S ig len .........................................................249
Editorischer Bericht....................................................................................................251
Personenverzeichnis................................................................................................... 314
EXZERPTE
AUS D E R GYMNASIALZEIT
1785-1788
Exzerpt 1 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT 3

E r z ie h u n g . P la n der N o r m a l - S c h u l e n in R ussla nd
1785. 22. April.
(Aus Schlözer’s Staats-Anzeigen VII, 25. 4.)

I. Jedes Gouvernement enthält eine Normal-Schule, nach der die andern in des-
5 selben Abtheilungen gebildet werden müssen, ist auch eine Pflanzschule der Lehrer.
II. Diese Normalschule steht, wie die von ihr abhängenden, unmittelbar unter der
Aufsicht des Schul-Directorii dieses Gouvernement.
III. Alle die besondern Schuldirectorien stehen unter einem allgemeinen Reichs-
Schul-Directorio, das nur aus wenigen Gliedern bestehen soll. An dieses werden alle
io Berichte eingesandt, es sieht darauf, dass man von den Anordnungen nie abgehe;
und in diesen Fällen macht es die nöthige Anordnung, und leistet Hülfe.
IV. In allen diesen Schulen wird eine völlige Gleichförmigkeit beobachtet, sowohl
in den Lehrgegenständen, als Methode des Unterrichts.
2 1785] Th: 1784 8 III.] Th: II.

(Der Verfasser begründet seinen briefförmigen Bericht mit der Absicht, schiefen Urteilen über das Projekt der
russischen Normalschulen entgegenzuwirken. Zu diesem Zwecke will er zuerst den Schulplan im allgemeinen
kurz darlegen:)
[83] I. Jedes G ou vernem en t erhält eine N orm alS chule. Diese ist sowol die Norm und das Mu­
ster aller übrigen in derselben Abteilung des Reichs befindlichen Schulen, [84] als auch eine Pflanz-
Schule für die Lerer, so in derselben gebildet, wenigstens geprüft werden müssen. Sie pflanzt zu Anfang
die nötigen hohem und niedern Schulen um sich her, u. versieht sie in der Folge mit tüchtigen und zu­
verlässigen Lerern.
II. Diese NormalSchule steht, so wie alle von ihr abhängende Schulen, unter der unmittelbaren Auf­
sicht eines blos für dies Gouvernement bestimmten SchulDirectorii. Dieses hat das Auge darauf, daß die
NormalSchule nicht ausarte, und daß alle übrige Schulen sich von der Einförmigkeit mit derselben, in
LerGegenständen und LerMethoden, in nichts entfernen.
III. Alle diese besondern S ch u lD irecto ria, wie auch die von ihnen abhängende Normal- und übrige
höhere und niedere Schulen, stehen wiederum unter einem allgemeinen R eich sS ch ulD irecto rio ,
welches nur aus sehr wenigen, aber der Sache gewachsenen Gliedern, bestehen soll. An dieses werden
alle Raporte eingesandt: es sieht darauf, daß man sich nirgends von den vorgeschriebenen Regeln und
Ordnungen entferne: und in vorkommenden Fällen macht es die nötige Anordnungen, und leistet die
benötigte Hilfe.
IV. In allen diesen Schulen wird eine v öllige G leichförm igk eit, sowol in Absicht der LerGegen-
stände, als Methoden des Unterrichts, beobachtet. Dies ist das einzige Mittel, es gleich in die Augen fallend
zu machen, ob eine Ausartung vorgegangen sei oder nicht. Die N o rm alS ch ule jed en G o u verne­
m ents, habe ich in dem mermals gedachten Memoire gesagt, leistet in den H änden des Schul-
D irecto rii denselben D ienst, als die in der Polizei n iederg elegten M odelle von Maas
4 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 1

V. In diesen öffentlichen National-Schulen wird nur dasjenige gelehrt, was jedem


Bürger des Staats ohne Absicht auf besondere Lebensart nützlich ist. Als eine natür­
liche Folge fliesst hieraus, dass für die, die sich auf ihre Bestimmungs-Wissenschaften
legen wollen, eigene Institute vorhanden seyen.
Dies ist das Wesentliche des von Ihro K. M. angenommenen Plans im Grossen, 5
und das Stück, welches eigentlich unmittelbar die Regierung angeht.
Was die Methoden anbetrifft:, so folgen wir hauptsächlich 2 Grundsätzen.
1) Der Unterricht muss so viel möglich tabellarisch seyn; diese Tabellen schreibt
der Lehrer abgekürzt an die Tafel, erklärt sie den Schülern und sucht sie ihnen geläufig
zu machen. Es dient die Begriffe in Ordnung, in Verbindung und zur Bestimmtheit io
und Deutlichkeit zu bringen, und durch eine solche wohl eingeprägte Tabelle
bekommen wir eine Uebersicht über das Ganze und die Verbindung aller dazu
gehörigen Wahrheiten.

und Gewicht, zu denen m an jed en A ugenblick zurück k o m m en , und jed e V erfälschung


des Pfundes und der Elle ohne M ühe entdecken kan.
V. In diesen öffentlichen NationalSchulen, wird nur dasjenige gelert und vorgetragen, was jedem
Bürger des Stats nötig und nützlich seyn kan, ohne Absicht auf die besondre Lebens Art und Geschäfte,
so er etwan erwälen möch-[85]te. Als eine natürliche Folge fließt hieraus, daß also für diejenigen, so sich
einem besondern Geschäfte, z. Ex. dem KriegsWesen, dem CivilDienste, den Wissenschaften, der Kirche
u. s. f., widmen wollen, besondre Institute, wenn sie noch nicht da sind, errichtet, diejenigen aber, so
schon vorhanden sind, z. Ex. die verschiedenen CadettenCorps, die Universität, die noch bisher in
den Klöstern, (eine der Aufklärung des PriesterStandes vielleicht wenig zuträgliche Stelle) befindlichen
Seminaria der Geistlichkeit u. s. f., auf den verhältnismäßigen Fuß gesetzt werden müssen: so daß sie künf­
tighin nicht mer, wie bisher unvermeidlich gewesen, gezwungen sind, auf Geratewol Schüler aufzunemen,
mit denen man von den ersten Elementen anfangen muß; sondern unter jungen Leuten, welche ihren
Cursus in den öffentlichen NationalSchulen (die ihnen vor- und in die Hände arbeiten müssen) schon
geendigt haben, diejenigen auswälen können, so zu dem Geschäfte, wozu sie bestimmt werden, Lust
und Geschicke haben.
Dies ist das wesentliche des von Ihro K. M. angenommenen Plans im Großen, und dasjenige Stück
desselben, welches eigentlich unmittelbar die Regirung angehet.
(Die zweite Frage, die der Autor behandeln möchte^ betrifft die individuelle Verfassung der Schulen. Er wendet
sich zunächst gegen bestimmte, im Publikum verbreitete Vorurteile über die Lehrmethoden.)
[88] Unsern Ideen nach, müssen die bei Vorwürfen dieser Art zu brauchende Methoden, von ganz
andrer Natur seyn. W ir folgen darinn hauptsächlich 2 G ru n dsätzen :
1) Der wissenschaftliche Unterricht muß, so viel es möglich ist, bei uns tabellarisch seyn. Diese Ta­
bellen schreibt der Lerer nach dem Maase, wie er im Unterricht fortschreitet, abgekürzt an die Tafel,
erklärt sie den Schülern, und sucht sie ihnen geläufig zu machen. W ir würden selbst nicht unzufrieden
seyn, wenn diese Geläufigkeit auch wirklich bis zum Auswendig lernen getrieben würde. - Was diese
tabellarische Ordnung im Unterricht für Nutzen schaffe, habe ich Verständigen nicht nötig anzuzeigen.
Ich weiß aus der Erfarung meiner jungen Jare, und jedermann wird es wissen, wie sehr sie dienet, die
Begriffe in Ordnung, in Verbindung, und zur Bestimmtheit und Deutlichkeit zu bringen, und wie sehr
eine wol eingeprägte Tabelle über eine Wissenschaft, uns in den Stand setzet, mit Einem Blick das Ganze,
und die Verbindung aller zu ihr gehörigen Warheiten, zu übersehen.
Exzerpt 1 N O R M A L -SC H U L E N IN R U SSLA N D 5

2) Der Unterricht in der Wissenschaft muss darin bestehen, dass der Lehrer vorher
Alles erklärt und dann examinirt.
Sprachen. Für die meisten ist die Erlernung derselben unnöthig, aber doch eine
Einrichtung zur Erlernung von 2 bis 3 Sprachen getroffen worden.
5 Bücher. Die M aterie muss für jeden Schüler passend seyn, und Lehrm ethode
muss nicht scientivisch oder gelehrt seyn.
Aepinus, russisch Kais, wirklicher Staatsrath.

2) Der eigentliche Unterricht in der Wissenschaft, muß darinn bestehen, daß der Lerer erstlich jedes
Stück, so viel er vermag, richtig erklärt und deutlich macht; alsdenn aber durch geschicktes Fragen und
Examiniren, die Begriffe der Zuhörer über die vorgetragenen Sachen aufzuklären, zu berichtigen, und
sie zum eigenen Nachdenken zu gewönen sucht. ...
[89] Was die E lem en tarB ücher, besonders diejenigen, so einen wissenschaftlichen Gegenstand
haben, betrift: so ziehen wir sowol die Materie, als die Form derselben, in Betracht, und unsre Grundsätze
sind über beides die folgenden.
[90] In Absicht auf die M aterie, müssen diese Bücher nur das von einer Wissenschaft enthalten,
was jedem Gliede der menschlichen Gesellschaft nützlich seyn kan, ohne Rücksicht auf den besondern
Stand, oder Geschäfte, so es etwa künftig erwälen will. Daher muß alles dasjenige sorgfältig davon aus­
geschlossen werden, was nicht jedermann, sondern nur demjenigen nützlich seyn würde, der eine Wissen­
schaft aus dem Grunde lernen, und ein Gelerter in derselben werden wollte. ...
In Absicht auf die Form dieser Bücher, muß ebenfalls von keiner scientifischen und gelerten Me­
thode die Rede seyn: sondern man muß eine LerArt gebrauchen, wodurch die vorgetragenen Sachen
allgemein begreiflich gemacht werden können, qui met les choses ä la portee de tout le monde, wie man
im Französischen sagt. ...
Noch muß ich etwas wegen der frem den Sprachen gedenken. Diese sind in unsern Schulen kein
HauptVorwurf. Für L§ unserer Schüler (man weiß, daß unsre Schu-[91]len für die Nation im Ganzen,
le g r o s de la Nation, bestimmt sind) würde ihre Erlernung überflüssig und unnütz seyn. Es sollen indeß
auch diejenigen, so sich künftig diesem oder jenem besondern Geschäfte widmen wollen, den Vorberei-
tungsCursus in diesen Schulen machen, ehe sie in die besondern Einrichtungen aufgenommen werden.
Man muß ihnen also allerdings die Gelegenheit schaffen, den Grund in denen Sprachen, so ihnen künftig
zu ihrer Absicht nötig seyn werden, zu legen, und sie zu erlernen; und folglich müssen wir mit unsern
Schulen auch SprachC lassen für diejenigen, so ihrer bedürfen, verbinden. Diesen Vorwurf haben wir
bisher noch wenig berürt: meine Meinung aber ist von jeher, daß der Unterricht in Sprachen mer durch
Uebung, als durch Erlernung der Grammatik, geschehen müsse; eine Sache, die mir um desto einleuch­
tender ist, da man, wie Ewr. sich auch ohne Zweifel selbst erinnern, bei uns so häufige Beispiele siehet,
daß Kinder von 7 bis 8 Jaren, 2 auch 3 Sprachen geläufig reden und verstehen, ohne daß man jemals
daran gedacht hätte, sie darin unterrichten zu lassen, blos weil diese Sprachen in dem väterlichen Hause
täglich gebraucht werden. ...
[92] Mit der Versicherung meiner vollkommensten etc.
Aepinus.
(RußischKaiserl. wirkl. StatsRat.)
6 A U S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

P h i l o s o p h i e . P ä d a g o g ik .
Den 5. M ay 1785.
(Feders neuer Emil.)

1. Buch.
I. Capitel. 5
Eltern müssen diejenigen, denen sie die Erziehung ihrer Kinder anvertrauen, mit
möglichster Sorgfalt wählen: Einem würdigen Mann muss man nicht Vorschriften
vorschreiben. Es giebt hier eine gewisse Art, alles Nöthige zu sagen, ohne dass man
dadurch beleidigt. Dies wird durch ein Beispiel vorgestellt. Herr Feder beweist,
Kindern von 4 Jahren könne man schon Begriffe von Religion beibringen; diese io
Gottesfurcht ist weniger durchdacht, jener einfältige Dienst, jene redlichen Blicke
gen Himmel, jene ersten unausgebildeten Begriffe von dem, was der Mensch dem­
jenigen schuldig ist, der alles Schöne, alles Gute gemacht hat und erhält, sind Gott
6 diejenigen] Th: denjenigen

(Beim Exzerpieren der Kapitel I bis IV springt Hegel zwischen dem Text selbst und der Summarische« Vor­
stellung des Innhaltes am Schluß des zweiten Teils [219JJ] hin und her.)
[3] Erstes C apitel
Muster einer Instruction für den angehenden Hofmeister
[II 219] Eltern müssen diejenigen, denen sie die Erziehung ihrer Kinder an vertrauen, mit möglichster
Sorgfalt wählen; und daher auch Bedingungen machen, daß sie wählen können. Einem würdigen Manne
muß man dann nicht Vorschriften vorlegen, die Zweifel an seinen Einsichten oder an seiner Redlichkeit
verrathen, und in die Classe von Dienstboten, die wie Maschinen gebraucht werden, ihn herabsetzen.
Es giebt auch hier eine gewisse Art, alles nöthige zu sagen, ohne daß man dadurch beleidigt. Dieß wird
in einem Beyspiele vorgestellt. Gelegenheitlich wird bewiesen, daß die Grundlehren der natürlichen
Religion einem vierjährigen Kinde schon beygebracht werden können, und daß es unrecht seyn würde,
sol-[220]ches zu verabsäumen. Die Pflege der ersten vier Jahre wird einer verständigen Frauensperson,
da es hier auf mütterliche Geduld und Fürsorge, und gar nicht auf Gelehrsamkeit, ankömmt, schicklicher
anvertraut, als einem Lehrmeister.
[11] Ich erinnere mich noch der Gottesfurcht meiner ersten Jahre. Sie war weniger durchdacht, als
jetzo; aber ich weiß nicht, ob nun meine Anbetung in den Augen des Allerheiligsten würdiger geachtet
ist, als jener einfältige Dienst, jene redlichen Blicke gen Himmel, jene ersten unausgebildeten Begriffe
von dem, was der Mensch demjenigen schuldig ist, der alles Schöne, das wir vor uns sehen, der alles Gute,
das wir gemessen, gemacht hat und erhält; der gegen alle Menschen das auf eine vollkommnere Art
ist, was der beste Vater gegen sein Kind ist ? Oder ist es etwa schwer, durch Vergleichungsschlüsse, einem
Kinde von vier bis [12] fünf Jahren, nach und nach, fast eben so viel von Gott und seinen Eigenschaften
beyzubringen, als der Philosoph, bey seinen umständlichen Beweisen, kaum besser erkennet? ... [13] Das
ganze Leben des Menschen, scheinet mir nur durch die Religion einen wahren Werth zu bekommen.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 7

angenehmer. Religion, fährt er fort, ist unsere Würde, unser Trost, unsere Stütze im
Unglück, und unentbehrlich zum besten Genüsse des Lebens; ein Kind muss man
also an dieser Glückseligkeit Theil nehmen lassen, sobald es kann. Die Erziehung der
ersten Jugendjahre einem rechtschaffenen Frauenzimmer überlassen, hält Herr Feder
5 für besser, als einem Hofmeister, da es hier auf mütterliche Geduld und Fürsorge
ankommt, nicht auf Gelehrsamkeit.
II. Capitel.
Das Lernen muss anfangs ganz ohne Zwang nur Zeitvertreib und Spielwerk seyn.
Der Eifer zur Nachahmung, der in der Natur des Menschen liegt, thut hier am mei-
10 sten. Der grosse Kunstgriff der Erziehung ist: Alles zu thun, indem man nichts zu
thun scheinet; die Begierde, mit den Geschicklichkeiten des Lehrlings Aufsehen zu
machen, muss nicht in’s Spiel kommen.
III. Capitel.
Die Hauptursache, dass die jungen Herren nicht gerne lernen, ist das Schulhalten
15 der Informatoren, wobei Lehrer und Lernende verdriesslich werden. Das Aller-

Sie ist unsere Würde, unser Trost, unsere Stütze im Unglücke, und unentbehrlich zum besten Genüsse
des Glückes. Ich muß mein Kind an dieser Glückseligkeit Theil nehmen lassen, so bald es kann.
[17] Z w eytes C apitel
Unterredung mit einer Mamsell
[II 220] Das Lernen muß anfänglich nur Spiel und Zeitvertreib seyn. Auch muß die Begierde mit en
Geschicklichkeiten seiner Lehrlinge frühe Aufsehen zu machen, nicht mit ins Spiel kommen.
[20] So bald das Kind anfängt, seine Seelenkräfte zu äusern, so ist es natürlich, daß es anfange zu lernen.
Aber das Mühsame, das Eckelhafte, der Zwang muß hierbey so lange, so lange vermieden werden, als es
möglich ist. Und gewiß, wenn man, wie es [21] gar wohl angeht, in den ersten Jahren es so weit gebracht
hat, daß das Kind ohne Zwang und spielend lernte: so wird bey mehrern Jahren kaum ein Zwang mehr
nöthig seyn. Die Erfahrung mit Emilen bestättiget diese Grundsätze. Er gab mir selbst die erste Gelegen­
heit, ihn etwas lernen zu lassen. Der Trieb der Nachahmung, welcher in der Natur des Menschen liegt,
und sich bey Kindern am stärksten äusert, machte, daß er bald die Handlungen nachthun wollte, die seine
Schwestern Vornahmen, wenn sie lernten. (Es folgen Beispiele.) Eben deswegen, weil ich weiter nichts
that, eben weil ich nicht das Ansehen hatte, wenigstens Anfangs nicht, ihn etwas lehren zu wol-[22]len,
lernte er begieriger. Eben weil ich es nicht verlangte, als wann er es selbst wollte: eben darum war der
Erfolg so glücklich, so sehr über meine eigene Erwartung.
Sehen Sie, mein Herr, dies ist der grosse Kunstgriff der Unterweisung, ich sage mehr - der Erziehung.
Alles zu thun, indem m an nichts zu thu n scheinet. ...
[25] D rittes C apitel
Nöthigste Sorgen eines Hofmeisters
Das Schulhalten der Informatoren ist also Ursache, daß die jungen Herrn nicht gerne lernen, und
folglich meistens nichts rechtes lernen. Hiezu kommen noch andere Ursachen. Man hält mit den Kindern
8 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

schlimmste ist nun, dass man, wenn die Lehrstunden vorbei sind, die Kinder hin­
laufen lässt, wohin sie wollen, und gar wohl mit dem Gesinde umgehen lässt; dies ist
die Quelle der Unarten der Kinder. Wenn man anfängt, sich deutliche Begriffe zu
sammeln, so sammelt man sich Grundsätze auf sein ganzes Leben; der moralische
Charakter bekommt hier seine Gestalt. Geschieht dies in der Gesindestube, in der 5
Küche, im Stall, so wären solche Junker als Reitknechte oder Lakeien vielleicht noch
erträglich. Dem Kinde zur Gesellschaft, zum Zeitvertreib, und unmittelbar zur Ver­
anstaltung alles dessen, was dessen Bildung erfordert, zur Verhinderung aller schäd­
lichen Eindrücke ist er berufen. Beliebt muss man sich bei Kindern zu machen suchen,
und diess geschieht, wenn man immer fertig und willig ist, ihr gegenwärtiges un- io
schuldiges Vergnügen zu befördern, das, wenn man ernstlich will, nicht schwer ist;
man muss aber in dieser Gefälligkeit nicht so weit gehen, dass man ihnen bei ihren
thörichten Begierden zu willig, und gar selbst unschickliche Dinge angiebt. Man muss
Kindern nie unverdiente Vorwürfe machen, denn die Absicht, nicht die Handlung

ordentliche Lehrstunden. Das ist schon schlimm genug. Lehrer und Lernende werden dabey verdrießlich
über einander. Noch schlimmer. Wenn denn die Lehrstunden vorbey sind; läßt man die Kinder hin wohin
sie wollen. Dies ist das allerschlimmste. Man läßt ihnen auf einmal [26] zu viel Freyheit, da man ihnen zuvor
zu viel Zwang anthat. Kann es anders seyn, als daß die Schulstunden ihnen die verdrüßlichsten werden ?
Man lässet sie wohl gar zum Gesinde laufen. Eltern, hier ist die Quelle der Unarten eurer Kinder! ...
Es ist nicht gleichgültig, was für Eindrücke die Sinnen und das Herz der Kinder durch ihre allerersten
Empfindungen bekommen. Es ist gewiß nöthig, den sinnlichen Begierden derselben mit Klugheit und
Behutsamkeit zu begegnen, ehe noch die Vernunft Licht vor ihnen her anzündet; ehe sie noch unterschei­
dend bemerken, was in ihnen, und auser ihnen, [27] vorgeht. Aber wann dies anfängt zu geschehen, wann
sie sich die ersten deutlichen Begriffe sammlen: so sammlen sie sich insgemein Grundsätze aufs ganze Le­
ben. Ihr moralischer Charakter bekommt alsdann seine Gestalt. Geschieht dies in der Gesindstube, in
der Küche, im Stalle: so entstehen Junkers, die als Laquaien und Reitknechte vielleicht erträglich seyn
würden, wenigstens noch gebessert werden könnten; als Hochwohlgebohrne Herren aber unglückselige,
und für die Gesellschaft höchstbeschwerliche, Mitteldinge sind.
[II 220] ... Dem Kinde zur Gesellschaft, zum Zeitvertreib aller-[221]nächst, und mittelbarer Weise
zur Veranstaltung alles dessen, was dessen Bildung erfordert, zur Verhinderung aller schädlichen Ein­
drücke ist er [d. i. der Hofmeister] berufen. Wenn der Hofmeister seinen Eifer auf die Lehrstunden ein-
schrenket, und nach diesen ihn die Eltern beurtheilen: so haben beyde einen alles verkehrenden Gesichts­
punkt. Beliebt macht man sich bey Kindern, wenn man immer willig und fertig ist, ihr gegenwärtiges
unschuldiges Vergnügen zu befördern; welches, wenn man es ernstlich will, nicht schwer ist.
[30] Viele gehen in ihrer Gefälligkeit gegen Kinder so weit, daß sie ihnen nicht nur bey ihren thö­
richten Begierden zu willen sind: sondern daß sie ihnen wohl gar zum Zeitvertreibe allerhand unschick­
liche und strafbare Dinge angeben, woran die Kinder nicht würden gedacht haben. Man darf sich nicht
weit umsehen, um Beyspiele davon zu finden. Aber Kinder verfallen wohl Selbsten auf unerlaubte Dinge ?
Dies ist nicht zu läugnen. Ohne itzt [31] auf die Quelle davon zurück zu gehen, oder in schwere theolo­
gische Fragen mich einzulassen, sehe ich wohl so viel ein, daß, bey der sorgfältigsten Erziehung, sich
dennoch an Kindern Unarten äusern werden. Doch ist auch hierbey zu erwägen, daß man oft Kindern
Vorwürfe macht, die sie nicht verdienen. Fürs erste machen die A bsichten hauptsächlich eine Handlung
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 9

ist strafbar, und da irrt man bei den Kindern sehr oft; auch muss man ihnen Fehler
verzeihen, die ihrem Alter unvermeidlich sind, man macht ihnen auch oft zu Fehlern,
was zu loben ist. Wenn Kinder Sachen begehen, die keineswegs zu leiden sind, so
muss man machen, dass sie es nimmer thun, und sie die natürlichen Strafen der bösen
5 Handlungen treffen lassen; sind diese zu gering, so erzeige man ihnen willkürliche
Strafen, die natürlich zu sein scheinen. Man lässt ihren Herzen das nämliche erweisen,
was sie jemand anders gethan haben. Wenn man einem Kinde was untersagt, muss
man nie Beweise anführen, nur manchmal Gründe. Vor der jähen Hitze und Ueber-
eilungen des Zorns muss sich ein Hofmeister am meisten hüten.
io IV. Capitel.
Kinder muss man vorzüglich auf Gegenstände unvermerkt lenken, von welchen
das unschuldigste und gewisseste Vergnügen zu erwarten ist. Was kann das anders
4-5 natürlichen ... Handlungen] Th: natürliche Strafe der bösen Handlung 12 das2] Th: dss

strafbar. Bey Kindern irret man sich also, und gar oft, indem man ihren Handlungen Absichten zu­
schreibet, welches die Ihrigen nicht waren. Ja noch mehr, man lehret sie Verbrechen kennen, indem
man sie ihnen unverdienter Weise vorwirft. Sodann will man, daß Kinder keine Kinder seyn sollen.
Man verzeihet ihnen Fehler nicht, die bey ihrem Alter unvermeidlich sind, Handlungen, die da Folgen
sind der noch durch keine Vernunft bezähmten Triebe der Natur. Oder man machet ihnen zum Fehler,
was vielmehr zu loben ist. Ein Kind würde dann recht albern seyn, wenn es so wäre, wie es manchmal
eingebildete Weisen verlangen. Ein K ind soll ein K ind seyn. Dieß ist die Ordnung [32] der Natur,
welche bey der Erziehung allemal beybehalten werden muß.
Aber genug, Kinder begehen oftmals, was keinesweges zu leiden ist ? So machet nur, daß sie es nicht
mehr thun. Keine Moral anfangs, keinen Verweiß! Lasset sie die n atü rlich en Strafen ihrer bösen
Handlungen treffen. Oder glaubet ihr, daß diese nicht genug, oder nicht bald genug, merklich sind: so
verbindet willkührliche Strafen also damit, daß sie natürlich zu seyn scheinen. Ihr wisset nicht, wie ihr dieses
machen sollet: O, dieß müsset ihr wissen! Dieß ist eines der nothwendigsten Stücke eures Berufes. Wir
wollen einen Fall setzen. (Emil nimmt seiner Schwester eine Blume weg. Der Hofmeister lenkt es bei nächster
Gelegenheit dahin, daß die Schwester Emil ein Bild abnimmt, damit dieser das Unangenehme eines solchen Ver­
lustes selbst empfindet.)
[34] Der Grundsatz: W as du n ich t w illst, das dir die L eute thu n sollen, das thue du ihnen
auch n icht, ist so natürlich und so faßlich, daß es nicht schwer fällt, auch Kinder darauf zu führen. Aber
wenig Worte, keine Beweise! Eigene Erfahrung muß sie dieses lehren. (Esfolgt ein Beispiel.)
[35] Man muß vielleicht manchmal Gründe angeben, wenn man etwas untersaget. (Wiederum ein Bei­
spiel.) [36] Das nöthigste bey einer jeden Correction ist dieß, daß wir keinen Zorn dabey blicken lassen,
und alles mit ruhigem und immer gegenwärtigem Geiste thun. Von der jäh en H itze und den Ü b er­
eilungen des Z ornes muß ein H o fm eister frey seyn. ...
[37] V iertes C apitel
Noch ein paar Puncte, die wichtiger sind als das Latein
So ohngefähr machte ichs bey den Vergehungen des Emils. Oft genug verhinderte ich sie, wenn ich
voraus sah, daß sie geschehen könnten. Auf der andern Seite aber suchte ich ihm alles mögliche Ver-
10 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

seyn, als die Schönheit der Natur? Man muss aber hier ganz dem Geschmack und
Willen des Kindes folgen; und dieser ist gemeiniglich richtig, denn sie folgen der
Natur. Denen suchen auch Kinder zu gefallen, die sie lieben; und sie lieben die,
welche ihnen Gefälligkeiten erweisen.
Begehrt der Eleve etwas, das ihr ihm nicht zu lassen geneigt seyd, untersucht wohl 5
vorher, ob ihr es ihm abschlagen müsset, und was für Gründe euch dazu bewegen.
H abt ihr ihn einm al abgew iesen, so muss es dabei bleiben. Kinder
[sind] nicht so sehr Kinder, als man sich manchmal einbildet. Sie fühlen das Unrecht
und sehen es auch oft ein. Und wenn sie es einsehen, so sind die Folgen davon bei
Erwachsenen kaum so gefährlich, als bei ihnen. Fragen Kinder, warum dieses oder io
jenes ihnen nicht gestattet worden sey, so gebt ihnen die natürlichste Antwort, die
euch einfällt; sind sie damit nicht zufrieden, so antwortet, es muss so seyn; allezeit

gnügen zu machen. Dabey folgte ich, wie billig seinen Neigungen. Doch suchte ich sie auf solche Gegen­
stände unvermerkt zu lenken, von welchen das gewisseste und unschuldigste Vergnügen zu erwarten ist.
Was konnte dieses anders seyn, als die Schönheit der Natur? ... [39] Bey den Ergötzlichkeiten der Kinder
muß man sich nach dem Geschmacke der Kinder richten. Dieser ist auch meist richtig, denn sie folgen
der Natur; wenn sie nur noch nicht durch böse Beyspiele sind verführet worden. ...
[II 221] Angewöhnung zu den unschuldigen Vergnügungen der Natur. Man muß sich dabey nach dem
Geschmacke der Kinder richten; überhaupt ihnen gern zu Willen seyn; ...
[39] Mein Emil durfte bey unsern Spaziergängen sich setzen, stehen bleiben, springen, lau-[40]fen,
vornehmen was er wollte. Er durfte es wenigstens meistentheils; und daher richtete er sich auch gerne
nach mir, wenn ich einmal anderes Sinnes seyn mußte. D enn d enenjenigen suchen auch K inder
zu gefallen, die sie lieb en ; und sie lieben diejenig en , die ihnen viele G efälligkeiten
erw eisen. ...
Euer Eleve begehret etwas, das ihr ihm zuzulassen nicht geneigt seyd. Untersuchet wohl [41] vorher,
ob ihr es ihm abschlagen müsset, und was für Gründe euch dazu bewegen.----H abt ihr ihn einm al
abgew iesen: so m uß es dabey bleiben. Kein Bitten, noch weniger Ungestümm, darf euren Ent­
schluß ändern. ... Wann sie euch durch Bitten bewegen wollen: so gebet ihnen freundlich zur Antwort,
daß ihr gar nicht würdet auf ihr Bitten gewartet haben, wenn es seyn könnte; daß sie wüßten, wie bereit­
willig ihr immer wäret, ihr Vergnügen zu schaffen. Auf diese Art werdet ihr euch den Verdruß eines
beschwerlichen Anhaltens auf viele kommende Fälle erspahren.
Aber wenn diese Versicherung ihre Wirkung thun soll: so müsset ihr durch eure bisherige Aufführung
von der Wahrheit derselben den Eleve schon überzeuget haben. Und es [42] muß der gegenwärtige Fall
von der Art seyn, daß er ihm nicht eine gerechte Ursache giebt, über euch unzufrieden zu werden. D enn
K inder sind nicht so sehr K inder, als m an sich m anchm al einbildet. Sie fühlen das U n ­
rech t, und sehen es auch oft ein. Und wenn sie es einsehen, daß man ihnen Unrecht gethan: so
sind die Folgen davon kaum bey Erwachsenen so gefährlich, als bey ihnen.
Fragen sie euch, warum ihnen dieses oder jenes nicht verstattet wird: so gebt ihnen die natürlichste
Ursache an, die euch einfällt. Sind sie damit nicht zufrieden; so antwortet: Mein Kind, es muß so seyn.
... Muß es einmal zu Befehlen [43] kommen: so ist es am besten, sie zu einem blinden Gehorsam zu ge­
wöhnen. Aber desto strenger muß der Vorgesetzte sich selber seyn, desto vorsichtiger soll er zu Befehlen
schreiten; desto genauer soll er die Gründe und Gegengründe vorher prüfen. Ist der Untergebene unartig
genug, seinen Willen mit Ungestümm durchsetzen zu wollen: so lasset ihn erfahren, daß ihr mächtiger
seyd, als er. Aber hier, wie allezeit, w enige W o rte, G elassenheit, keinen w ilden Z orn.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 11

wenig Worte, Gelassenheit, keinen wilden Zorn; oder lasse ihn auch die natürlichsten
Folgen seines Ungehorsams treffen.
V. Capitel.
Ursachen des Unterschiedes der Menschen in den Erkenntnissfähigkeiten.
5 Man hält dafür, dass vermöge der ursprünglichen Anlage ein Mensch zu einer
Art der Geistesbeschäftigungen aufgelegt und geschickt geboren werde und dass
daher bisweilen die besten Genies unfähige Köpfe, so lange bis sie die Beschäftigung
finden, für die sie die Natur bestimmt hat. Aber der Hauptgrund des Unterschiedes
ist nicht so leicht zu bestimmen.
io Ist in dem, was des Körpers ist oder in dem Geiste allein, oder in beiden von diesen
der Unterschied zu finden ?
4 Erkenntnissfähigkeiten] Th: Erkenntnissfortschritten

Oder lasset ihn die natürlichen Folgen seines Ungehorsams treffen, wenn es ohne Gefahr geschehen
kann. (Es folgen Beispiele und nochmals ähnliche Erziehungsregeln.)

[46] Fünftes C apitel


Von den Ursachen des Unterschiedes der Menschen
in Ansehung der Erkenntnißfähigkeiten
Bey der Erziehung, wie bey allen, was der Mensch thun kann, erstrecken sich seine Kräfte und Ge­
schicklichkeiten nicht so weit, daß er etwas schaffen könnte, wo nichts, wo kein Grund vorhanden ist. ...
[47] Daß daher auf die natürliche Anlage eines Menschen bey der Erziehung desselben gar vieles an-
komme, ist leicht zu erachten; und jedermann gesteht es ein. Wer zweifelt daran, daß bey einem Kinde,
welches ganz geringe Erkenntnißfähigkeiten äusert, die besten Anstalten weniger fruchten, als bey einem
guten Kopfe, welcher oft für sich selbsten vortreflich wird, ohne Anweisung und Unterricht? Man hält
ferner dafür, daß schon vermöge der ursprünglichen Anlage, die in ihm ist, ein Mensch zu einer Art der
Geistesbeschäfftigungen aufgelegt und geschickt gebohren werde; ein anderer zu einer andern; und daß
es daher komme, daß bisweilen die besten Genies unfähige Köpfe scheinen, so lange bis sie die Beschäff-
tigung finden, für die sie die Natur bestimmt hat.
Aber wie viel von dieser natürlichen Anlage abhängt, was eigentlich ursprünglich und unabänderlich
dabey ist, und was noch kann gehoben und geändert werden, und worinne also zuletzt der Hauptgrund
des Unterschiedes [48] der Köpfe lieget; dieses ist so leicht nicht zu bestimmen.
Und doch ist dem Erzieher gewiß daran gelegen, dasjenige was er bilden und befördern soll, wo mög­
lich vom Grunde aus zu kennen. ...
[49] Ich will hier keine Spitzfindigkeiten oder Zweifel vortragen, über die den Gelehrten sowohl als
den Ungelehrten gewissermassen freylich noch sehr unbekannte Natur der menschlichen Seele, des bessern
Theiles von uns ... Genug, daß wir einen bessern Theil unserer Natur, einen Geist in uns kennen, den wir
mit Recht, von dem was unser Körper heißt, unterscheiden.
Natürlich entsteht also bey dem Nachdenken über den Unterschied der Menschen, in Ansehung der
Erkenntnißfähigkeiten, die Frage: Ob in dem, was des Körpers ist, oder in dem Geiste allein, oder in
beyden, der Grund von diesem Unterschiede zu suchen ? ...
12 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Wem ist wohl unbekannt, dass auf den Zustand unseres Körpers bei den Geistes­
kräften sehr viel ankommt. An einem heiteren Morgen, wenn der Körper neue Kraft
gesammelt hat etc., oder wenn durch mässige Bewegung den Säften der Lauf durch
alle Theile erleichtert worden ist, wie schnell entstehen nicht die Gedanken auf
einander, wie hell und deutlich sind sie nicht. Wer empfindet nicht den Einfluss der 5
Wärme, Hitze, heiter warmen etc. Luft; hieraus wird Jeder den Schluss machen
können, dass auf das Klima, auf die Dispositionen, Diät, Pflege und ganze physische
Lebensart, Kräfte und Blut des Körpers sehr viel bei den Geisteskräften ankomme.
Eine offenbare Ursache der Verschiedenheit des Genies liegt in der unterschiedenen
Anwendung und Uebung der natürlichen Kräfte. Unsere thätige Kraft ist ein Ver- 10
mögen, so sich nach Vorstellungen und Begriffen richtet, die wir nicht mit auf die
Welt bringen. Daher haben Viele die Seele mit einer leeren Tafel verglichen, auf
welcher vermittelst der Veränderungen, die die Empfindungen in uns veranlassen,
allerhand Bilder beschrieben würden. Andere sagen, [daß] feinere Theile des Körpers,
Fibern des Gehirns, deren sie sich als ihre nächsten Werkzeuge bedienet, anfangs so 15
zart und beugsam sind, dass sie Eindrücke annehmen und zu Bewegungen leicht
gebracht werden können, zu welchen sie, wenn sie einmal durch stete Anwendung

[50] Und nun, wem ist wohl unbekannt, daß auf den Zustand unseres Körpers bey den Geistesgeschäff-
ten sehr vieles ankömmt ? An einem heitern Morgen, wenn der Körper neue Kräfte gesammlet hat, wenn
keine unverdauten Speisen ihn beschweren, kein Schmerz in ihm ist: oder wenn durch eine mäßige Be­
wegung den Säften der Lauf durch alle Theile erleichtert worden ist: wie frey ist da nicht unser Geist,
wie schnell entstehen nicht da die Gedanken auf einander, wie helle und deutlich, sind sie nicht? Wer emp­
findet nicht den Ein-[51]fluf} der Witterung, den beschwerlichen Einfluß der Hitze, der schwühlen oder
feuchten Luft ? den stärkenden Einfluß einer heitern und mässig warmen Luft ?
Hieraus, und aus unzähligen Beobachtungen, die so unbekannt nicht sind, daß ich sie anführen müßte,
wird wohl ein jeder den Schluß ziehen, daß auf den ursprünglichen, beständigen oder gewöhnlichen
Zustand des Körpers, auf die Triebe die in ihm sind, auf die Menge und den Gang der Lebensgeister,
überhaupt auf die Mischung der Säfte und auf den Bau und das Verhältniß der festen Theile desselben in
Ansehung der Geistestriebe und Fähigkeiten eines Menschen nicht wenig ankommen müsse. ...
[53] Alsdenn würde sich auch die Folge bestimmter vortragen lassen, die ich itzt auch nur allgemein
anzeigen kann, daß Diät und Pflege, und die ganze physische Lebensart eines Menschen, und also auch der
Ort, wo er sich aufhält, auf seine Geisteskräfte einen merklichen Einfluß haben.
Aber eine andere eben so offenbare Ursache der Verschiedenheit des Genies liegt in der unterschiedenen
Anwendung und Übung der natürlichen Kräfte. Diejenigen Triebe weggerechnet, denen zu Folge wir
einiges, oh-[54]ne zu wissen wie, verrichten, ist bekanntlich unsere thätige Kraft ein Vermögen, so nach
Vorstellungen und Begriffen sich richtet, die wir nicht mit auf die Welt bringen, sondern uns erwerben
müssen. Die Seele ist daher von vielen mit einer leeren Tafel verglichen worden, auf welcher vermittelst
der Veränderungen, die die Empfindungen in uns verursachen, allerhand Bilder beschrieben würden.
Andere, die von der Seele keinen so bildlichen Begriff geben wollen, sagen, daß die feinere Theile des
Körpers, die Fibern oder Fasern des Gehirns, deren sie sich als ihrer nächsten Werkzeuge bedienet, anfangs
so zart und beugsam sind, daß sie Eindrücke annehmen und zu Bewegungen leicht gebracht werden
können, zu welchen sie, wenn sie einmal durch stete Anwendung von einerley Art, oder auch durch ir-
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 13

von einerlei Art oder auch durch irgend einen gewaltigen Zufall eine festere Form
bekommen haben, nicht mehr geschickt sind. Je nachdem also ein Mensch gewisse
Vorstellungen bekommt, je nachdem bekommen seine Geisteskräfte eine gewisse
Richtung, und Geschicklichkeit wird in ihm gegründet. Und viel kann bisweilen auf
5 die ersten Eindrücke ankommen. Durch öftere Wiederholung des Nämlichen ent­
steht die Fertigkeit. Von der Lust zu einer Sache hängt also bei Bildung des Körpers
gewiss Vieles ab. In der Organisation eines Menschen liegen Gründe, warum diese
Beschäftigungen ihm angenehmer, oder weniger unangenehm als einem anderen
sind. Aus unzähligen Quellen entspringt das Vergnügen, und aus eben so vielen
io Ursachen kann einem Menschen etwas angenehm seyn. Eine angenehme Vorstellung
oder Empfindung der Lust darf nur damit verbunden werden. Ein paar (verschiedene)
Vorstellungen können in der Seele oft lebhaft, angenehm mit einander entstehen und
so verknüpft werden, dass nicht leicht eine mehr ohne die andere entsteht. Alle
Dinge können zwar nicht mit einander angenehm verbunden werden, aber doch alle

gend einen gewaltigen Zufall, eine festere Form bekommen haben, nicht mehr geschickt sind. Je nach­
dem also ein Mensch gewisse Vorstellungen bekömmt, je nachdem bekommen seine Geisteskräfte eine
gewisse Richtung, und Geschicklichkeiten werden in ihm gegründet. Und [55] vieles kann bisweilen
auf die ersten Eindrücke ankommen.
Nicht jedwede Anwendung giebt der Seele, oder den Werkzeugen, vermittelst deren sie erkennet
und wirket, diejenige bleibende Richtung, wodurch die Fertigkeit, eines leichter als das andere zu ver­
nehmen oder zu verrichten, bewirket wird. Durch öftere und fleißige Wiederholung der nemlichen oder
einer ähnlichen BeschäfFtigung entsteht erst die Fertigkeit. Und diese wird sich nicht finden, wo nicht
Lust zur Sache ist. Lust zur Sache ist also die Triebfeder, von welcher bey der Bildung der Köpfe -
ich will noch nicht sagen wie vieles - aber gewiß vieles abhängt.
Nun fragt es sich, was kann die vorzügliche Lust zu einer gewissen BeschäfFtigung erwecken? Hängt
diese vielleicht von einer ursprünglichen Disposition der Natur in der Seele oder dem Körper ab ?
Hier will ich nun gerne einräumen - daß in der Organisation eines Menschen selbst schon ein Grund
liegen könne, warum gewisse [56] BeschäfFtigungen ihm angenehmer, oder weniger unangenehm, als
einem andern. (Es folgen Beispielefür die Bedeutung eines solchen ursprünglichen Unterschiedes der Naturen
und für die Wirkung der Disposition des Körpers.,)
[57] Aus unzähligen Quellen - auf die letzten und innersten sehe ich itzt nicht - entspringt das Ver­
gnügen, und durch eben so viele Ursachen kann also einem Menschen etwas angenehm werden. Denn
eine Vorstellung, in welcher etwas angenehmes liegt, oder die Empfindung der Lust, darf nur damit
verknüpfet werden. Und kann nicht eine angenehme Vorstellung mit jedwedem Dinge verknüpfet wer­
den; dergestalten verknüpfet werden, daß sie so leicht sich nicht wieder davon trennen lässet? Die Seelen­
forscher wissen es, und jedermann kann es bald merken, wenn er auf sich acht geben will, daß ein paar
Vor-[58]stellungen, wenn sie auch nichts ähnliches mit einander haben, dadurch daß sie zufälliger Weise,
oder auf willkührliche Veranstaltung, einmal sehr lebhaft, oder oft, neben oder auf einander in der Seele
eines Menschen entstehen, also mit einander vereiniget werden können, daß nicht leicht eine mehr ohne
die andere entsteht. ... So kann also alles angenehm oder weniger mißfällig für einen Menschen werden
durch die Verknüpfung mit einer angenehmen Vorstellung, oder wenn man lieber will, mit der ergötzen­
den Empfindung.
14 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT Exzerpt 2

mit einer angenehmen Vorstellung; man kann also einem Menschen alles zur
angenehmen Beschäftigung machen, wenn es ihm zur rechten Zeit vorgelegt wird.
Alles Neue gefällt. Wer Vergnügen liebt, liebt auch die Mittel, dasselbe sich zu ver­
schaffen. Wenn man auf den Ursprung der meisten Vergnügen Achtung giebt, die
auch unmittelbar zu seyn scheinen, so wird man dieselbe allererst aus der Vorstellung 5
des Nutzens entspringen sehen.
Aus diesem zieht Herr Feder nun den Schluss: dass daraus sich noch nicht an­
geborener Hang zu etwas beweisen lässt, wenn einer etwas an und für sich ohne
Rücksicht auf die Nutzbarkeit zu lieben scheint, dass es nur auf eine geschickte
Verknüpfung angenehmer Gegenstände ankommt. Wenn diese Ursachen so viel io
wirken, was können nicht erst andere mitwirkende ausrichten; Nachahmungssucht,
Wohlgefallen der Eltern, Hoffnungen, Aussichten u.a.m.

Nicht daß jedwede angenehme Vorstellung oder ergötzende Empfindung mit jedweder Sache, und bey
einem jeden Menschen sich [59] verknüpfen ließe. Aber da der angenehmen Vorstellungen unzählig viele
sind, die bey einem jeden Menschen Platz finden: so kann immer eine dazu dienen, eine Sache angenehm
zu machen, wenn es die andere nicht kann. ...
Was kann also einem Menschen nicht zur angenehmen Beschäfftigung gemacht werden, wenn es
ihm zur rechten Zeit vorgelegt wird ?
Ein Ding das neu ist, wenn es auch sonst wenig auf sich hat, gefällt, weil es neu ist, zumal denen
die noch wenig Beschäfftigung haben, und aus Mangel der genauem Kennt-[60]niß leicht vielerley Er­
wartungen sich machen. ...
W er das Vergnügen liebt und den Schmerz flieht, der liebt auch die Mittel, sich das Vergnügen zu
verschaffen und vom Schmerz sich zu befreyen; er strebt desto eifriger darnach, je nützlicher und un­
entbehrlicher sie ihm zu dieser seiner Absicht zu seyn scheinen. ...
[61] Es ist eine bekannte Meinung vieler Weltweisen aus den alten und neuern Zeiten, daß, ausser den
angenehmen Empfindungen, die von gewissen Zuständen des Körpers herkommen, und die ersten sind,
die uns zu Theil werden, alle andere Vergnügen aus dieser Quelle, nemlich aus der Vorstellung des Nut­
zens entspringen. ... Ich bin nicht ganz der Meinung dieser Philosophen. ... [62] Aber in so weit bestättiget
die Erfahrung dieser Weltweisen Meinung, daß wenn man auf den Ursprung dieser erst berührten und
vieler andern Vergnügungen, die nicht weniger unmittelbar zu seyn scheinen, acht giebt, man dieselben
allererst hauptsächlich aus der Vorstellung des Nutzens entspringen sieht.
Aus dieser fast zu langen Anmerkung - durch die ich aber zugleich für das folgende Capitel etwas
gewonnen habe - ziehe ich itzt nur diese Folge: daß daraus noch nicht sogleich ein angebohrner und un­
mittelbarer Hang sich beweisen lässet, wenn einer etwas an und [63] für sich und ohne Rücksicht auf seine
Nutzbarkeit zu lieben scheinet; und daß es nur auf geschickte Verknüpfung der Vorstellungen vom
Nutzen ankömmt, um eine solche Lust zu etwas zu erwecken, bey welcher man auch das Unangenehme,
das damit verbunden ist, bald vergisset. ...
Wenn diese bisher bemerkten Ursachen einzeln schon etwas ausrichten können, wie vieles muß erst
geschehen, wenn mehrere derselben zusammen wirken ? Wenn der Knabe Beschäfftigung suchet, und sie
in der Nachahmung seines Lieblings findet, und sieht, daß diese Beschäfftigung seinen Eltern wohlgefällt,
wenn sie ihm aus dem Stoffe seiner angenehmen Empfindungen Hoffnungen schaffet, Aussichten [64]
eröffnet; wie ungeschickt müßte man nicht seyn, wenn man machte, daß diese Lust sich bald wieder
verlöhre! ...
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 15

Die Lust ist eine Hauptursache der zu einer gewissen Grösse erhobenen und auf
gewisse Gegenstände bestimmten Geistesfähigkeiten.
In Ansehung dieser äusserlichen Ursachen lässt sich behaupten, dass das Meiste
von äusserlichen Antrieben abhängt; besonders in der Art der Geschicklichkeit, in
5 der sich der Mensch hervorthut.
Bei einem Blick auf die allgemeine Geschichte des menschlichen Verstandes sieht
man einen nicht geringen Einfluss des Körpers und der körperlichen Dinge, der Luft
und der Speise, auch des Erdbodens und Klima’s, auf die Fähigkeiten und Kenntnisse;
der eine ist zur völligem Empfindung, zu Vergleichungen und Verbindung ähnlicher
io Begriffe, der andere zur subtilem Auflösung derselben, zum langsamem Nach­
denken, zur Bemerkung der Unterschiede, die einem flüchtigen, feurigen Kopf ent­
gehen, geschickter.
8 Speise] Th: Weise

Die Lust ist also eine Hauptursache der zu einer gewissen Grösse erhobenen und auf gewisse Gegen­
stände bestimmten Geistesfähigkeiten; die Lust, die auf unzählige Weise, oft durch einen sehr mittelbaren,
bisweilen sonderbaren, Zusammenhang der Vorstellungen erweckt werden kann. ...
[65] Diesen äusserlichen Ursachen schreibt H elvetius alles zu. Er übertreibt die Sache. Aber so viel,
scheinet es, lasset sich behaupten, daß das allermeiste von diesen äusserlichen Antrieben und Anreitzungen
abhängt; besonders was die Art der Geschicklichkeiten anbelangt, in denen sich ein Mensch hervorthut.
(Es folgen Beispiele.)
[67] W ir wollen einen Blick auf die allgemeine Geschichte des menschlichen Verstandes werfen; weil
dort die Summe der Effecte ein mehr hervorstechendes Phänomenon macht, als bey einzelnen Personen.
Einigen Einfluß des Körpers, und der körperlichen Dinge, der Luft und der Speisen, bemerket man
auch hier bald, wenn man den Ursachen des Unterschiedes unter den Nationen des Erdbodens in An­
sehung der Fähigkeiten und Kenntnisse, durch die sich eine vor der andern auszeichnet, mit Aufmerk­
samkeit nachdenket.
(Indessen macht nach Feder die Geschichte offenbar, daß das mehreste auf die moralischen Ursachen ankommt,
und daß z. B. der Zustand von Künsten und Wissenschaften in einem Volk das Aufkommen des Genies beeinflußt.
Unter Verweis auf historische Persönlichkeiten macht Feder dann geltend, daß oft beiläufige und geringe Umstände
entscheidend dafür sindy welcher bestimmten Geistesbeschäftigung sich jemand zuwendet; bei claßischen Geistern
entspringe dies vielfach auch deren eigenem Entschluß.)
[71] Ich wollte nicht beweisen, daß die Bestimmung des Genies durch innere Dispositionen gar nicht
gegründet seyn könne; sondern nur, daß die äusserlichen Ursachen wahrscheinlicher Weise das meiste
dabey thun. Ich habe schon bemerket, daß selbst die Lust, die einer bey gewissen Beschäftigungen findet,
von der Natur der Empfindungs- und Bewegungswerkzeuge zum Theil herkommen könne. Und wenn
offenbar der Zustand der Imagination von dem Zustande des Körpers, von der Beschaffenheit der Nahrung
und des Klima abhängt; wenn vermöge physischer Ursachen die Lebhaftigkeit der Vorstellungen grösser
oder geringer, ihr Fortgang schneller oder langsamer zu seyn pfleget: so ist nicht zu leugnen, daß einer
zur völligem Empfindung, zu bilderreichen Vorstellungen, zur Vergleichung und zu Verbindungen der
Begriffe, die auf ihrer Ähnlichkeit beruhen, der andere zur subtilem Auflösung derselben, zum langsame­
ren Nachdenken, zu Bemerkung der Unterschiede, die den flüchtigen, feurigen Köpfen entwischen,
vorzüglich geschickt seyn könne, schon zu Folge derjenigen Beschaffenheit [72] seiner Organen, die er
mit auf die Welt bringt.
16 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Einen ursprünglichen Unterschied in den Kräften des Geistes beweist der Unter­
schied der Menschen, nach dem einige überhaupt zu gar nichts Fähigkeiten haben,
da andere in allem, was sie lernen, einen guten Kopf beweisen.
Allgemeine Folgen:
Auf Lust und Neigung kommt das Meiste an. Folge nun entweder der Neigung 5
des Knaben, oder wenn du ihm aus guten Gründen die Bahn vorlegst, so streue
überall Blumen auf dieselbe und entferne die Dornen, bis er ihrer so gewohnt wird,
dass es sein natürlicher Lauf ist. Das Innere des Jünglings musst du kennen. Gieb acht,
wodurch die Einbildungskraft zur feurigen Aufmerksamkeit erweckt, wodurch das
Spiel seiner innern Organe auf eine für ihn ergötzende Weise erregt wird; doch bei io
der Veränderlichkeit des Alters lässet sich noch kein sicherer Schluss ziehen. Den
sichtbaren Körper gewöhne zu einer gewissen Unempfindlichkeit, dass die Seele nicht
so leicht durch ihn gestört wird. Gieb ihm gehörige Bewegung, damit der Lauf seiner
Säfte befördert, und die Organe rege erhalten werden. Besonders lass keine Triebe
der Unmässigkeit aufkommen, diese rauben das Licht der Seele, tödten die feineren 15
Empfindungen, und entnerven den inneren Menschen allzubald.

Und noch mehr, scheinet es, beweiset einen ursprünglichen Unterschied in den Kräften des Geistes
derjenige Unterschied der Menschen, nach welchem einige überhaupt zu gar nichts Fähigkeit haben,
da andere in allem, was sie nur anfangen einen guten Kopf beweisen. Man müßte dem Paradoxen sehr
ergeben seyn, wenn man diese Folge gar nicht für gegründet erkennen wollte. Nichts desto weniger
aber kann es leicht geschehen, daß man sich bey der Anwendung derselben irret; wenn sie gleich im All­
gemeinen richtig ist. Und nur in der Rücksicht will ich einige Zweifel dagegen vortragen.
(Feder legt dar, daß die sogenannte Unfähigkeit oft nur eine scheinbare ist; er erörtert nochmals die Frage, ob ein
angeborener Unterschied der Fähigkeiten ganz und gar im Körper liege, oder ob die menschlichen Seelen selbst
durch Grundbestimmungen auch hier von einander unterschieden sind; das Ergebnis bleibt in der Schwebe.)
[79] Aber wozu alles dieses, dachten vielleicht schon lange einige Leser?
Letzteres nur zur Aufklärung des übrigen; alles zusammen aber um der practischen [80] Folgen willen.
Sie sind aus dem, was ich hie und da bemerket habe, wohl nicht schwer zu ziehen. Ich will doch noch
etliche besonders anzeigen.
Auf Lust und Neigung kömmt das meiste an. Folge also entweder der Neigung, die sich von selbsten
einfindet, bey der Wahl und Ordnung der GeistesbeschäfFtigungen; oder wenn du aus guten Gründen
dem Lehrlinge die Bahn vorzeichnen mußt, die er gehen soll, so mache daß er Blumen auf derselben
finde, und entferne die Dornen, bis er ihrer also gewohnt ist, daß es sein natürlicher Lauf wird.
Das Innere des Lehrlings mußt du kennen, du magst entweder seinem natürlichen Triebe folgen, oder
ihm welche erwecken wollen. Gieb acht, wodurch die Einbildungskraft desselben zur feurigen Aufmerk­
samkeit erweckt, wodurch das Spiel seiner innern Organen auf eine für ihn ergötzende Weise erregt
wird. Aus einer Beobachtung lässet sich noch kein sicherer Schluß ziehen im Alter der Veränderlichkeit.
Das gewöhnliche aber ist Natur.
[81] Auch der äussere sichtbare Körper ist dem Geiste wichtig. Gewöhne ihn zu einer gewissen Un­
empfindlichkeit, daß die Seele nicht so leicht durch ihn gestört wird; gieb ihm gehörige Bewegung,
damit der Lauf seiner Säfte befördert, und die Organen rege erhalten werden. Besonders aber laß keine
Triebe zur Unmäßigkeit aufkommen: denn diese rauben der Seele das Licht, tödten die feinem Emp­
findungen und entnerven den innern Menschen allzubald.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 17

VI. Capitel.
Von den Gründen der Neigungen, die das Recht oder Uebelverhalten eines Men­
schen hauptsächlich bestimmen. B egierde schreibt man in der Philosophie einem
Menschen zu, wenn er etwas im Sinne hat, so er als gut und nöthig sich vorstellet
5 und daher zu erhalten bemüht ist. N eigung, wenn einer Wohlgefallen daran hat,
und von Zeit zu Zeit Begierden darnach äussert.
L eidenschaft, wenn die Begierde, die sie erregt, die Empfindungen der Freude
oder des Verdrusses, die in ihr gegründet sind, so heftig sind, dass sie das Gemüth
beunruhigen, und den Menschen in den Stand des AfFects setzen. Trieb ist die
io Richtung der thätigen Kraft etwas Gewisses zu bewirken. M echanische sind, die
im Körper allein liegen; geistige sind Richtungen der geistigen Triebeskräfte;
wenn letztere bloss durch dunkle Vorstellungen erregt und geleitet werden, so heissen
sie blinde Triebe; wenn sie von vernünftigen Vorstellungen von der Ueber-
legung und deutlichen Erkenntniss abhangen, verständige oder vernünftige
15 Triebe. Eine Neigung entsteht oft aus der andern, oder eine wird auch durch eine
andere verdrängt. Das Sonderbarste ist, dass eine solche aus einer andern abstammende
8 heftig] Th: häufig 13 wenn] Th: werden 16 abstammende] Th: abstammenden

[82] Sechstes C apitel


Von den Gründen der Neigungen, sonderlich derjenigen, die das Recht- oder Übelverhalten
eines Menschen hauptsächlich bestimmen
... N eig un g en , B egierden und T rieb e sind Namen, die vielfältig als gleich bedeutend gebraucht
werden; in der genauem Sprache der Philosophen aber pflegt man sie bisweilen von einander zu unter­
scheiden, um einiger Fragen willen, die darnach leichter berichtiget werden können. Nemlich eine B e­
gierde schreibt man einem Menschen zu, wenn er etwas im Sinne hat, so er als gut, als nöthig, sich vor­
stellet, und daher zu erhalten bemüht ist. Eine N eig un g aber schreibt man [83] ihm zu in so fern man
weiß, daß er Wohlgefallen an etwas hat, und von Zeit zu Zeit Begierden darnach äussert, ob er gleich
itzt nicht daran denkt, oder darnach strebet; und man nennt die Neigung eine L eidenschaft, wenn
die Begierden, die sie erregt, die Empfindungen der Freude oder des Verdrusses, die in ihr gegründet sind,
so heftig sind, daß sie das Gemüth beunruhigen, und den Menschen in den Zustand des A ffects ver­
setzen. Endlich nennt man die Richtung der thätigen Kraft etwas gewisses zu bewirken einen T rieb ;
und unterscheidet die m echanischen T rieb e, solche die im Körper ganz allein liegen, von den g eis ti­
schen Trieben, oder den Richtungen der geistischen Kräfte, welche letztem b linde Triebe heissen,
wenn sie nur durch dunkle Vorstellungen erregt und geleitet werden, verstän dig e oder v ern ü n ftig e
Triebe aber, wenn sie von vernünftigen Vorstellungen, von der Überlegung und deutlichen Erkenntniß
abhängen.
(Feder will nun den Gründen der Neigungen, sonderlich derjenigen, die das Herz gut oder bös machen,
genauer nachdenken.)
[84] Was für das gewisseste bey dieser manchen Schwierigkeiten ausgesetzten Untersuchung gehalten
werden kann; scheinet dieses zu seyn, daß oft eine Neigung aus der andern entsteht, oft auch eine durch
die andere vertrieben wird. (Es folgen Beispiele.)
[85] Und das Sonderbarste hiebey ist dieses, daß eine also erzeugte, aus einer andern abstam m ende
18 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Neigung das Ansehen gewinnen kann, als wäre sie eine Grundneigung, so dass sich
der erste Beweggrund aus Begierde die andere durchzusetzen verliert.
Auch entspringt bei einem Menschen eine Neigung nicht aus den nämlichen
Gründen, wie bei dem andern, und dass oft viele Gründe zusammen kommen, eine
Neigung zu erzeugen und zu befördern. Der Trieb, s e i n e m V e r g n ü g e n n a c h - 5
z u g e h e n und Uebel von sich zu entfernen, liegt offenbar in dem Herzen aller
Menschen. Der Trieb sein Leben zu erhalten, ist nur eine Folge davon, denn ein
elend harmvolles Leben achtet ein Mensch nicht mehr.
Kein Mensch hat eine Gleichgültigkeit gegen das Glück, Wohlstand, Freude,
Verdruss, Elend, Unglück anderer Menschen; nur der bezweifelt diese Meinung, der 10
den Menschen bei Ausbrüchen solcher Neigungen beobachtet, die nicht Grund­
neigungen sind. Aus dem Obigen schreiben einige dem Menschen den Trieb des

Neigung das Ansehen gewinnen kann, als wäre sie eine G ru n d n eig u n g ; daß ein Mensch dasjenige,
was er erst nur [86] um einer andern Begierde willen gesucht hat, nur als ein Mittel begehrt hat, zuletzt
als um sein selbst willen, als eine letzte Absicht begehret, also darnach strebet, daß er die Absicht, die ihn
zuerst dazu getrieben hat, darüber vergisset, noch fortfähret darnach zu streben, wenn dieselbe nicht mehr
statt findet, wenn der erste Bewegungsgrund und die M u ttern eig u n g , sich völlig verloren haben. ...
[87] Auch dieß ist vorläufig noch anzumerken, daß bey einem Menschen eine gewisse Neigung nicht
aus eben den Gründen allernächst entspringt, wie bey dem andern; und daß oft vielerley Gründe zusam­
men kommen, eine Neigung zu erzeugen und zu befördern, daher man auch in dieser Materie die Schlüsse
aus einzelnen Erfahrungen nicht so bald all-[88]gemein machen darf. ...
Die letzten Gründe aller menschlichen Neigungen anzugeben, kann man nicht sicher wagen, wenn
man nicht wenigstens die vornehmsten derselben einzeln untersuchet hat. ...
E ine Neigung, ein Trieb, findet sich sehr offenbar in dem Herzen aller Menschen. Dieß ist der T rieb
seinem V ergnügen nachzugehen, und Übel von sich zu entfernen; zu machen, daß es einem wohl
oder nicht mehr übel ist, zu suchen, daß man innerlich vergnügt und zufrieden ist. Der T rieb sein Le­
ben zu [89] erh alten , ist nicht dieser ganze Trieb, sondern vielmehr nur eine Folge aus demselben.
Denn der Mensch achtet das Leben nicht mehr, wenn die Sorge dafür einer grossem Absicht hinderlich,
oder wenn es nichts mehr als Schmerz, Elend und Verdruß zu seyn scheinet. Alles aber zusammen wird
unter dem Namen der S elbstliebe begriffen ...
Aber daß der Mensch von Natur nicht ganz gleichgültig gegen andere Menschen, oder überhaupt
gegen lebendige Geschöpfe ist, daß er von dem Anblicke, oder auch schon von der blossen Vorstellung
des Elendes eines andern dergestalten bewegt und hingerissen werden kann, daß er, ohne sich zu besinnen,
ohne einmal an sich seinen Schaden oder Vortheil dabey zu gedenken, zu Hülfe eilt, oder, wenn er selbst
[90] vorhatte dem andern ein Leid zuzufügen, dadurch zurück gehalten wird; daß er ein uneigennütziges,
nicht auf die Vorstellung seines Vortheils gegründetes Vergnügen an dem Glücke und Vergnügen anderer
haben kann, und wann er sich nicht vorstellet dabey zu verliehren, wenn er neidisch zu werden, oder den
andern zu hassen, keine besondere Ursache hat, allemal einen Menschen lieber glücklich und vergnügt,
als nothleidend und betrübt weiß: dieses alles ist eben so gewiß; und kann nur von demjenigen bezweifelt
werden, der den Menschen nicht anders, als in den Ausbrüchen, oder bey der Wirksamkeit solcher Nei­
gungen, beobachtet, die keine ursprüngliche, wenigstens nicht die einzigen Grundneigungen sind. Und
in Rücksicht auf diese bemerkten Äusserungen der menschlichen Natur schreiben einige dem Menschen
einen T rieb des W o h lw o llens zu. Andere verstehen eben dieses unter dem Namen der Sym pathie,
oder des T riebes der Sym pathie.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 19

Wohlwollens, andere den Trieb der Sympathie zu. Als begriffen in der S e l b s t ­
l i e b e , d. i. dem Triebe zum Angenehmen und nützlich Scheinenden können um so
viel mehr mancherlei Neigungen betrachtet werden, weil es scheint, dieser Name
werde wegen der Bequemlichkeit gebraucht, um mehrere derselben, die unter einem
5 gemeinschaftlichen Begriffe zusammen kommen, zusammen zu fassen, und auf ein­
mal anzuzeigen. Denn so vielerlei Dinge es giebt, die unmittelbar um ihrer selbst
willen uns angenehm erscheinen, so vielerlei Urquellen der Lust in unserer Natur
sich finden, so vielerlei besondere Grundtriebe des Willens scheinen es auch zu seyn,
die man unter dem Namen der Selbstliebe zusammen begreift. Andere hingegen
io stellen sich diesen Grundtrieb zum Angenehmen als eine Wurzel vor, aus der alle
besonderen Neigungen dieser Art, als so viele Aeste entspringen.
Einer der frühesten von diesen mancherlei Trieben ist der Trieb sich zu
nähren.
Eine unangenehme Empfindung scheint die erste Triebfeder hierbei zu seyn. Dieser
15 und mehrere andere Triebe sind anfangs blinder Trieb, keine eigentliche Begierde.
Auch kommen hierzu noch andere Beweggründe, das Vergnügen, das Speise und

Diesem Triebe der Sympathie oder des Wohlwollens so lange nachzuspühren, bis man [91] ihn in den
Trieb der Selbstliebe sich verliehren sieht; ist eine Subtilität, die, wenn sie Gründe für sich hat, dem Lehrer
in dem Innersten der Schule wohl verziehen werden kann. Aber wir können uns ihrer überheben; wenn
wir nur merken, daß die gewaltigsten unserer Triebe, durch die die andern leicht überwältiget, aber auch
verstärket werden können, diejenigen sind, die in der Selbstliebe begriffen sind, oder aus ihr entspringen.
Als begriffen in der Selbstliebe, oder dem Triebe zum Angenehmen und nützlich scheinenden, können
um so viel mehr mancherley Neigungen betrachtet werden; weil bey genauerer Untersuchung es scheinet,
daß dieser Name nicht eine einzige Grundbestimmung der menschlichen Natur anzeiget, sondern viel­
mehr der Bequemlichkeit wegen gebraucht wird, mehrere derselben, die unter einem gemeinschaftlichen
Begriffe zusammen kommen, zusammen zu fassen und auf einmal anzuzeigen.
Nemlich so vielerley Dinge es giebt, die unmittelbar um ihrer selbst willen uns ange-[92]nehm sind,
so vielerley Urquellen der Lust in unserer Natur sich finden: so vielerley besondere Grundtriebe des
Willens scheinen es auch zu seyn, die man unter dem Namen der Selbstliebe zusammen begreifet. (Feder
zählt verschiedene sinnliche und geistige Vergnügen auf); setzt nicht ein jedes dieser Vergnügen einen eigenen
Trieb im Willen, wie einen eigenen innern Sinn, voraus? So denken einige. Andere aber stellen sich unter
der Grundneigung zum Angenehmen gleichsam eine Wurzel [93] vor, aus welcher alle besondere Nei­
gungen dieser Art, als so viele Äste, entspringen; ...
W ir wollen nun dieses wieder die Philosophen mit einander ausmachen lassen, und uns nur so viel
daraus merken, daß, um diesen nun einmal sogenannten Trieb der Selbstliebe, oder wenn andere lieber
wollen, diesen unnennbaren Grundtrieb, besser zu verstehen, es nöthig ist, die mancherley Neigungen
und Triebe, die darinne zusammen kommen, ... [94] einzeln anzusehen. ...
Einer der frühsten Triebe ist d er T rieb sich zu nähren. Es scheinet nicht zweifelhaft, daß unan­
genehme Empfindung die erste Triebfeder hiebey ist. Dieser Trieb, wie mehrere andere, ist anfangs ein
blinder Trieb, noch keine eigentliche Begierde. ... [95] Die Erfahrung lehret aber, daß zu diesem Triebe,
oder vielmehr zur Bewirkung der Handlungen, zu denen er allererst antreibt, bald andere Bewegungsgründe
hinzu kommen. Die Vorstellung des Vergnügens, das Speise oder Trank uns gewähren, die Nachahmung,
20 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Trank uns gewähren, Nachahmung, Folgsamkeit, Gewohnheit, auch der Gedanke,


dass Essen und Trinken zu unserer Erhaltung nöthig ist, u.a.m.
Wie mit diesem Trieb, so verhält es sich auch mit den anderen.
Der Trieb zur G eschäftigkeit ist eben so früh; nemlich körperliche, mecha­
nische Geschäftigkeit. Er bewirkt in uns Entwickelung unserer Kräfte. Er scheint 5
auch aus einer unangenehmen Empfindung herzustammen; Unthätigkeit in der
Länge wird beschwerlich. Auch kommen noch andere Anreizungen hinzu: Vor­
stellung des bewussten Vergnügens, des Nutzens, der Ehre, der Pflicht.
Die Natur bedient sich überall, wo schnellere und stärkere Thätigkeiten hervor­
gebracht werden sollen, des Mittels der unangenehmen Empfindung, denn von dieser io
suchen wir uns immer zu entfernen.
Bald erwacht auch der T rieb der N achahm ung. Er entsteht insonders aus
dem Unvermögen, sich selbst zu was zu bestimmen. Es giebt nachher auch eine halb
4 nemlich] möglicherweise von Th verlesen für: nicht

Folgsamkeit, Gewohnheit, auch der Gedanke, daß Essen und Trinken zu unserer Erhaltung nöthig ist,
und vielleicht noch andere Vorstellungen, können einen dazu bringen.
Diese kurze Geschichte des gemeinsten unserer Triebe enthält schon in gewisser Maase die Geschichte
der übrigen. ...
Der T rieb der G e sc h ä ftig k e it ist ein eben so früher Trieb. Ich rechne nicht daher diejenigen
Bewegungen im menschlichen Körper, die wahrscheinlicher Weise ganz mechanisch erfolgen, ohne daß
die Seele dabey [96] mit zu wirken durch Empfindungen oder Vorstellungen gereitzet wird. Aber die­
jenigen Thätigkeiten, die, wie wir hernach gewahr werden, nur erfolgen wenn wir wollen, und die so
früh anfangen, ohne Zweifel früher noch, als wir es beobachten können; diese sind es, weswegen wir einen
Trieb der willkührlichen Thätigkeit, oder einen Trieb zur BeschäfFtigung, in dem Innersten der Mensch­
heit erkennen müssen. Die Absicht, oder vielmehr die mancherley Absichten, warum uns der Schöpfer
denselben eingepflanzet hat, sind leicht zu erkennen. Erst bewirkt er die Entwicklung unserer Kräfte,
dann macht er uns für uns selbst und für andere nützlich. ... Die erste Anreizung dieses Triebes scheinet
abermals eine unangenehme Empfindung zu [97] seyn. ... wir wissen ja, daß Unthätigkeit in die Länge
beschwerlich wird, weil die Lebensgeister sich zu sehr an einem Orte häufen; Zerstreuung, Bewegung,
ist daher ein natürliches Bedürfniß, wie Essen und Trinken. Aber nachher bekömmt auch dieser Trieb
noch andere Anreizungen. Vorstellung des bewußten Vergnügens, Vorstellung des Nutzens, Vorstellung
der Ehre, Vorstellung der Pflicht, erwecken und unterstützen ihn Wechselsweise, oder auch mit einander.
[98] Hier kann ich nicht umhin, eine Anmerkung einzuschalten, die an mehrern Orten in der Seelen­
lehre Bestätigung findet, und wegen der praktischen Folgen wichtig ist; nemlich diese, daß die Natur
überall, wo schnelle und stärkere Thätigkeiten hervorgebracht werden sollen, sich des Mittels der un­
angenehmen Empfindung, oder welches in so weit einerley ist, der Furcht bedienet. Ein angenehmes
Selbstgefühl erzeuget eher Begierde in dem Zustande zu bleiben, als ihn zu verändern. ... Man ist we-[99]
niger hitzig, einen erträglichen oder wohl gar ergötzenden Zustand zu verlassen, um eines bessern willen,
als von einem unerträglichen sich zu befreyen. ...
Wenn der Trieb zur BeschäfFtigung in seiner ersten Wirksamkeit nichts anders ist, als ein Bestreben,
von der unangenehmen Empfindung sich zu befreyen: so ist alles für uns gut, was nur eine Bewegung
uns verschaffet, die weniger beschwerlich ist, als der Zustand, aus [100] dem wir fort wollen. ...
Bald erwacht auch zu seiner Unterstützung ein anderer Trieb, der Trieb der N achahm ung. Dieser
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 21

unwillkührliehe Nachahmung. Auch mit Ueberlegung ahmen wir die nach, für die
wir Hochachtung und Liebe haben, theils um ihnen zu gefallen, theils ihnen ähnlich
zu werden.
Der T rieb andern sich gefällig zu m achen, woher kommt dieser? Ur-
5 sprünglich wollen wir nicht sagen, dass diese Anreizung sey. Vielmehr scheint die
Furcht vor den nachtheiligen Folgen, die der Unwille, Zorn und Hass anderer für
uns hat, am meisten zu wirken. Dazu gesellen sich Erwartungen von Liebe und
Achtung, auch die Vorstellung der Pflicht.
Nun kommt der T rieb, seine P flicht zu befolgen, den man bei dem Men-
10 sehen in sofern für ursprünglich halten kann, soweit ihn das eigene Gefühl der Lust
oder der Schmerz antreibt, etwas zu thun, was ihm oder andern gut ist.
10 Lust] Th: Kunst

Trieb ist fast immer in gleichem Verhältnisse mit dem Bedürfnisse der BeschäfFtigung, und dem Un­
vermögen sich selbst zu etwas zu bestimmen. Es sind unterdessen auch andere Ursachen, die ihn reitzen.
Es giebt eine gewisse halb unwillkührliche Nachahmung, die man nicht ohne Grund der Sym pathie
zuschreibt ... [101] Auch mit Überlegung ahmen wir diejenigen nach, für die wir Hochachtung oder
Liebe haben; theils aus Begierde ihnen zu gefallen, theils in der Absicht ihnen ähnlich zu werden. Und oft
genug nimmt auch auf diese Weise einer des andern Fehler an.
Der T rieb andern sich gefällig zu m achen, um ihren Beyfall, ihre Liebe und Achtung, sich
zu bewerben, woher kömmt dieser, wodurch wird er erregt? Es sind dieß wirklich zweyerley Fragen,
woher ein Trieb kommt, das heißt, was ihn ursprünglich gründet, erzeuget oder erwecket, und was her­
nach hinzukömmt, ihn zu reitzen. Lasset uns nicht dagegen streiten, daß nicht das sympathetische Gefühl,
und das daraus erwachsende Verlangen andere nicht zu betrüben, eine der ersten Anreitzungen dieses
Triebes sey. Denn es ist unrecht, die menschliche Natur schlimmer vor-[102]zustellen, als sie ist. Aber
der Beweis möchte uns fehlen, wenn wir annehmen wollten, daß diese Anreitzung u rsp rün g lich eine
der mächtigsten sey. Vielmehr scheint dieses die Furcht zu seyn, die Furcht vor den unangenehmen und
nachtheiligen Folgen, die der Unwille anderer, ihr Zorn und Haß, für uns hat. Dazu gesellen sich hernach
allerhand Erwartungen von ihrer Liebe und Achtung gegen uns. ... Es kömmt hinzu die Vorstellung
der Pflicht, diese mächtige Triebfeder, wenn wir erkennen, daß wir jemanden Dankbarkeit, oder Gehor­
sam, oder menschenfreundliche Gefälligkeit, schuldig sind.
Aber was für einen T rieb der P flich t zu folgen hat die menschliche Natur ursprünglich in sich?
Einen blinden Trieb zu thun was recht ist, ohne daß man weiß, daß, und warum, es recht ist, kann
man in so weit [103] zwar in dem Menschen annehmen, in wie weit das eigene oder das sympathetische
Gefühl des Schmerzens und der Lust ihn antreibt, das zu thun, was für ihn selbst oder für den andern
gut ist. Und man kann vielleicht behaupten, daß der Mensch, der noch keine Vernunft hätte, durch diesen
blinden Trieb meist sicher genug würde geführt w erden... Aber bey allem dem ist es offenbar, daß die
Pflichten, die man sich und der Gesellschaft schuldig ist, gehörig zu befolgen, mehr nöthig ist, als dieser
blinde Trieb, der nur durch Empfindung oder höchstens durch undeutliche Vorstellung des nächsten
Vortheils oder Schadens gereitzet werden könnte. Und wenn nur derjenige rechtschaffen ist, und seine
Pflichten befolget, der es thut, weil er erkennet, daß es recht und Pflicht ist: so müssen wir den eigent­
lichen Trieb der Pflicht zu folgen bey der erweiterten Erkenntniß des Menschen suchen.
(Es folgt eine kurze Erörterung über den Begriff des Rechts und darüber, welche Beweggründe den jungen
Menschen, der diesen Begriff noch nicht habe, zum Rechttun und zur Tugend veranlassen.)
22 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Noch sind gesellschaftliche T riebe und liebreiche N eigungen übrig.


Gott hat den Menschen zum gesellschaftlichen Leben bestimmt, weil sich seine
Kräfte zu Anderer Vortheil sonst nicht entwickeln könnten. Den Menschen machen
zu einem gesellschaftlichen Leben ungefähr diese Gedanken geneigt: das unmittelbare
Wohlgefallen an seines Gleichen; Erinnerung vieler vergnügter Stunden; oft auch 5
Liebe der Dankbarkeit, die aus dem Wohlgefallen, das der Mensch an den Quellen
seines Glücks hat, nicht aus Eigennutz entspringt, der Name m e i n kommt auch
dazu; und wie lieblich sind alsdann die Triebe, wenn die grossen Gedanken der
Rechtschaffenheit sich der Seele bemeistert haben, ferner freundschaftliche Liebe und
Vaterlandsliebe, väterliche und kindliche Liebe. io
Aber kommt nicht auch Böses von der Natur? Ist den äusserlichen Ursachen,
Beispielen etc. jede böse Neigung zuzuschreiben?
Einen Grundtrieb zum Bösen, d. i. zum eigenen Verderben, und Nachtheil
11 von] Th: von

[107] Noch sind uns die gesellschafftlichen T rieb e und liebreich en N eig un g en übrig, die
wir nicht ganz vorbey gehen dürfen. Daß der Mensch zum gesellschaftlichen Leben von dem Urheber
der Natur bestimmt ist, kann daraus wohl gefolgert werden, daß er ausser demselben seine Kräfte nicht
würde entwickeln können, die zu seinem und anderer Vortheile in ihm sind. Aber dieser Gedanke ist
nicht der erste Antrieb, der den Menschen geneigt macht, sich zu seines gleichen zu gesellen. Das un­
mittelbare Wohlgefallen an seines gleichen, mit denen man eben deswegen, weil sie ähnliche Triebe und
Empfindungen mit einem haben, leichter sympathisirt, lieber sich beschäftiget, zieht hauptsächlich an;
und jede Erinnerung an die vergnügten Stunden, die man unter den kindi-[ 108]sehen Spielen, in dem
freundschaftlichen Umgänge mit andern, zugebracht, stärket den Trieb und erhöht das Gefühl des Wer-
thes des gesellschaftlichen Lebens, macht endlich den gewohnten Umgang unentbehrlich. Liebe der Dank­
barkeit kömmt hier und da hinzu. Diese entspringt natürlich aus dem Wohlgefallen, das der Mensch
an den Quellen seines Glückes hat. Daß ihre Äusserungen weit vom Eigennutze entfernet seyn können,
siehet man auch daraus, daß auch wohl gegen unbelebte Dinge, die in die Geschichte unserer Freuden
eingeflochten sind, Wallungen der Liebe in einem empfindsamen Herzen aufsteigen. Der Name m ein,
thut endlich auch etwas bey der Sache. Mein Freund, mein Landsmann, mein Kind, sind gewisser massen
Ich selbst, ihre Ehre ist die meinige. Aber edel und würdig und über die thie-[109]rischen Triebe völlig
erhaben, sind alsdenn die liebreichen Triebe, wenn die grossen Gedanken der Rechtschaffenheit sich der
Seele bemeistert haben; ... Dann sind freundschaftliche Liebe und Vaterlandsliebe, und väterliche und
kindliche Liebe, das geworden, was derjenige, der die Würde der Menschheit fühlt, nicht ohne Entzückung
denken kann, dasjenige, woraus ihm eine Seligkeit quillt, die ihn die thierischen Triebe auf eine weit
genugthuendere Weise vergessen macht, als der aristippische Weise die Würde der Menschheit vergißt,
wenn er in dem Strome der thierischen Wollust schwimmt. ...
[110] Ich bin der Ordnung der Natur in Aufsuchung des Ursprungs unserer Triebe gefolget. ...
[111] Aber wir haben die Natur bisher von der guten Seite nur betrachtet. Kömmt nicht auch Böses
von ihr her? Ist äusserlichen Ursachen, dem Beyspiele und dem Unterrichte jede bösartige Neigung
zuzuschreiben ? ...
Einen bloß zum Bösen, zum eigenen Verderben oder zum Nachtheile anderer, gerichteten G ru n d ­
trieb, habe ich in der menschlichen Natur noch nicht entdecken können. Der Mensch liebt sich, und
Exzerpt 2 PH ILO SO P H IE . PÄ D A G O G IK 23

Anderer, habe ich noch nie ausfindig gemacht. Der Mensch liebt sich und kann sein
Verderben auf keine Art wollen. Er schadet sich bloss aus Irrthum.
Zum Irrthum aber ist der menschliche Verstand auch nicht bestimmt; er strebt
nach Erkenntniss, aber nicht um Falsches anzunehmen. Einen Wahn, der keinen
5 Schein der Wahrheit hat, nimmt er nicht an.
Aber der Mensch hört ungern Vorstellungen, die einen angenehmen Wahn ver­
nichten; aber auch diese Beschaffenheit ist nicht immer zum Bösen.
Aber hat der Mensch ein Wohlgefallen an anderem Unglück und Schmerz ? Viele
Beispiele rechtfertigen diesen schrecklichen Gedanken. Aber die kindischen Triebe
io sind gewiss anfangs unschuldig; den Schaden, den Kinder anrichten, sehen sie nicht
ein, vielweniger wollen sie ihn. Man hat oft die Thorheit, die Kinder an die frühe
Lust, dem Verbot zuwider zu handeln, zu gewöhnen. Die Neigung hat aber auch
6 ungern] Th: gern

kann sein Verderben auf [112] keine Weise wollen. ... Wenn er vorsetzlich sich schadet: so ist es allemal
aus Irrthum.
Aber vielleicht ist sein Verstand zum Irrthume bestimmt: vielleicht liebt er den Irrthum? Der Ver­
stand kann nicht zum Irrthume bestimmt seyn. Er strebt nach Erkenntniß nicht in der Absicht, Falsches
anzunehmen. ... Hätte nicht dieser Wahn einigen Schein der Wahrheit für sich, er würde ihn nicht bey-
pflichten können.
[113] Allerdings aber ist dieß dennoch eine Quelle der Vergehungen des Menschen, ein Schutz der
bösen Neigungen, daß er ungerne Vorstellungen Gehör giebt, die einen angenehmen Wahn vernichten,
und leichter überzeugt wird, wenn sein Herz schon dahin ihn treibt, wo die Überzeugung den Verstand
hinleiten soll.
Aber auch diese Beschaffenheit der menschlichen Natur ist nicht blos zum Bösen. Die Wahrheit selbst
kann Vortheile davon ziehen. ...
Hat der Mensch Grundtriebe andern zu schaden; ein natürliches Wohlgefallen an ihrem Unglücke
und Schmerz?
[114] Diesen schrecklichen und niederschlagenden Gedanken, scheinet es, rechtfertigen die Exempel
solcher Menschen, die ein unmittelbares Vergnügen daran zu haben scheinen, andere zu kränken, sie zu
beschimpfen, verdrüßliche Dinge ihnen zu sagen, ihre Freude zu stören. Und gewiß, diese Beobachtung
rechtfertiget ihn noch mehr, als dieses, daß die Kinder ihre Lust haben am Zerbrechen und am Schlagen;
daß sich frühzeitig eine Neigung zur Rache in ihnen äussert, und eine Neigung das Verbotene um so viel
mehr zu begehren, weil es verboten ist.
Denn diese kindischen Triebe sind anfangs wenigstens unschuldig. Sie suchen blos Beschäfftigung
und Veränderung, sie haben Lust an der Anwendung ihrer Kräfte; den Schaden den sie anstiften, ver­
stehen sie noch nicht; viel weniger wollen sie ihn. Der Trieb sich dem zu widersetzen, was uns Schmerzen
und Nachtheil verursachet, ist nicht schlechterdings böse. Und jede Äusserung desselben bey den Kindern
darf man nicht gerade zu auf die [115] Rechnung der Natur schreiben; da man sieht, daß unvorsichtige
Erwachsene ihnen die erste Anweisung geben, indem sie das Bret schlagen, auf welches das Kind gefallen
ist, oder woran es sich gestossen hat; eine grosse Thorheit. Eine andere Thorheit der Erwachsenen ist auch
Ursache mit von der frühen Lust dem Verbote zuwider zu handeln; diese nemlich, daß man im Scherze
dem Kinde etwas verbietet, und zur Übertretung des Gebots auf diese Weise recht geflissentlich es ange­
wöhnet. Doch diese Neigung das Verbotene zu begehren, hat noch andere Gründe. Erstlich kann es nicht
24 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

folgende Gründe; man verbietet dem Kinde oft was, woran es sich ergötzt, und
keinen Beweggrund des Verbots angiebt, als dass man bloss den Befehl mit Schelt­
worten etc. unterstützt. Noch schlimmer ist, wenn es den Kindern gelingt, seinen
Willen durchzusetzen, und das Schlimmste ist endlich, wenn man Befehle giebt, die
zu verabscheuen sind. 5
Aber sind jene abscheulichen menschenfeindlichen Neigungen Erwachsener, von
denen die zarte Kindheit keine Spuren aufweist, sind diese Grundtriebe ? Die Quellen
lassen sich leicht finden. Schwache Menschen sind es, die sich keine besseren Gefühle
ihrer Kräfte zu verschaffen wissen, als das, das ihnen die Ueberwältigung der Freude
eines andern giebt; veraltete Kinder, die bei ihrem Trieb die Geschäftigkeit kennen; io
Unglückliche, die die freudevollere Beschäftigung nicht kennen; höchstens sind es
Blödsinnige, die meinen, sie müssen andern begegnen, wie man ihnen begegnet ist;
meinen, sie geben sich ein Ansehen, wenn sie anderer Vergnügen durch dumme
Bosheit, oder durch witzige Bosheit stören; meinen es sey ihnen besser, wenn sie ge­
fürchtet, als wenn sie geliebt werden. 15
10 veraltete] Th: Veraltete bei ihrem Trieb die Geschäftigkeit] Hegel möglicherweise: bei ihrem Trieb
d. Geschäftigkeit (davor oder danach ausgelassen: noch keine Zwecke,)

anders seyn, als daß das Kind Lust wider das Verbot zu handeln haben muß, wenn man ihm etwas ver­
wehret, woran es sich ergötzet, ohne ihm einen andern Bewegungsgrund zu geben, es nicht mehr zu thun,
als den blossen, wohl mit Scheltworten, Drohungen oder Schlägen unterstützten Befehl; wenn man nicht
wenigstens durch die Liebe, die man ihm gegen einen einflösset, den Befehl angenehm macht, durch neue
Beschäftigung den Verdruß, den es über dem Verbo-[116]te empfindet, w enigstens zerstreuet.
Noch schlimmer wird es, wenn es dazu kommt, daß es dem Kinde gelingt, seinen Willen durchzusetzen.
Dieses sein Vermögen lässet ihn allerhand angenehme Folgen sehen, giebt ihm eine besondere Satisfaction,
er sucht es zu behaupten, zu cultiviren, Freyheit und Unabhängigkeit wird ihm mehr und mehr ein wich­
tiges Gut, je mehr Proben er machet, daß sein Vergnügen, die Befriedigung seiner Begierden davon ab­
hänget. Völlig schlimm endlich, wenn Befehle gegeben werden, welche zu verabscheuen, entweder
wegen ihrer Ungerechtigkeit, oder wegen der Quellen von denen sie herkommen, oder der ungeschickten
Art, mit der sie gegeben werden, die Vernunft selbst, oder ihre Vorempfindung dem Zöglinge erlaubet.
Also entstehet freylich eine bösartige Neigung natürlich; aber ihr Grund ist nicht blos Natur.
Jene menschenfeindliche Neigungen aber erwachsener - soll ich sagen Menschen oder Unmenschen ? -
jene sind weit abscheulicher; [117] weil sie sich im Alter der Vollkommenheit äussern, und die zarte
Kindheit keine Spuren davon aufweiset. Sind es denn Grundtriebe? Ich kann es nicht glauben. Währen
es Grundtriebe: so müßten sie sich bey mehrern Menschen äussern. Und es ist nicht schwer, die unnatür­
lichen Quellen dieser gehäßigen Gesinnungen zu entdecken. Schwache Menschen sind es, die sich kein besseres
Gefühl ihrer Kräfte zu verschaffen wissen, als dasjenige, das ihnen die Überwältigung der Freude eines
andern giebt; veraltete Kinder, die noch keine Zwecke kennen bey dem Triebe ihrer Geschäftigkeit;
Unglückliche, die die freudenvollem Beschäfftigungen nicht kennen; höchstens sind es Blödsinnige, die
da meinen, daß sie andern begegnen müssen, wie ihnen begegnet worden ist; meinen, daß die Geschick­
lichkeit das Vergnügen anderer durch dumme Bosheit oder durch witzige Bosheit zu stören, ihnen ein
Ansehen geben werde; meinen, daß es ihnen besser sey, wenn sie gefürchtet, als wenn sie geliebt werden -
vielleicht verzweifeln sie daran, daß sie sich Liebe erwerben können. ...
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 25

Aber wenn auch der Mensch sich selbst überlassen wäre, oder unter lauter recht­
schaffenen Menschen auferzogen würde; es würden doch böse Neigungen entstehen.
Der Mensch liebt ursprünglich sich ungleich mehr als Andere. Die nahe Lust reizt
ihn weit stärker als die Vorstellung entfernter Vortheile; er ist nicht im Stande, sein
5 Bestes immer auf eine deutliche Art zu erkennen, nach und nach kommt er zu
höheren Erkenntnissen, und am Ziele der Menschheit, zur Tugend und Weisheit.
Aber wenn nur Tugend und Weisheit dem Zöglinge immer zur Seite gingen, wenn
nicht das verführerische Laster seinen begierigen Blicken begegnete, so würden die
Ausbrüche böser Begierden weit geringer seyn. Die wirksamsten Ursachen derselben
io liegen ausser uns.
Ich will hier noch einige practische Anmerkungen, die die wichtigsten sind,
beifügen.
Die Sym pathie oder Mitempfindung der Glückseligkeit und des Elends Anderer
ist erste Anreizung und der edelste Grund zum Wohlwollen, zur Billigkeit und Gut-
15 thätigkeit. Je lebhafter ein Mensch Anderer Elend empfindet, desto weniger wird er
ihnen schaden, desto mehr helfen; empfindet er Anderer Freude, so wird er ihnen
eben diese zu verursachen suchen. Aber wie muss dieses Gefühl der Sympathie in

[118] Aber wenn auch keine ganz böse, bloß zum Schaden abzielende Triebe ursprünglich in der mensch­
lichen Natur gegründet sind: folget daraus, daß keine böse Begierden und Neigungen entstehen würden,
gesetzt, daß ein Mensch sich selbst überlassen wäre, oder, welches noch scheinbarer, wenn er unter lauter
rechtschaffenen vollkommenen Menschen auferzogen würde ? ...
Der Mensch liebt ursprünglich sich ungleich mehr als andere. Die nahe Lust rei-[119]zet ihn weit stär­
ker, als die Vorstellung entfernter Vortheile. Er ist nicht im Stande, sein Bestes immer auf eine deutliche
mit Überzeugung verknüpfte lebhafte Weise zu erkennen. Die Bewegungsgründe sind nicht gleich und
nicht immer da, die ihn zum mächtigen Entschlüsse bringen könnten, einen Schmerz, einen gegenwärtigen
Verlust nicht zu achten. Stufenweise kömmt er zu den höhern Erkenntnissen, und zu dem Genüsse der
höhern Seligkeiten, die ihn gegen die Wallungen des Blutes, gegen die sinnlichen Reize gleichgültiger
machen. Tugend und Weisheit ist das Ziel der Menschheit; aber das Ziel ist nicht beym Eingänge der Lauf­
bahn.
Aber man müßte den Einfluß der Beyspiele und Lehren nicht kennen, wenn man einen Augenblick
daran zweifeln wollte, daß nicht weit schneller und gerader der Fortgang zum Guten, und der Ausbruch
böser Begierden weit geringer, ihre Stürme weit mäßiger seyn würden, wenn nur die Weisheit und Tu­
gend dem Zöglinge immer zur Seiten gien-[120]gen, wenn nicht das verführerische Laster seinen begie­
rigen Blicken begegnete. Die Geschichte der bösen Neigungen weiset es zur Genüge, daß die wirksamsten
Ursachen derselben ausser uns liegen. ...
Doch will ich noch einige Anmerkungen, die mir die wichtigsten zu seyn scheinen, selbst beyfügen.
[121] Die Sym pathie oder die Mitempfindung der Glückseligkeit und des Elendes anderer ist die
erste Anreitzung und der edelste Grund zum Wohlwollen, zur Billigkeit und Gutthätigkeit. Je lebhafter
ein Mensch anderer Schmerz und Elend sich vorstellet und empfindet, desto mehr wird er zurück gehalten,
ihnen zu schaden, getrieben ihnen zu helfen. Ist er im Stande an ihre Stelle sich zu setzen, um ihre Freude
zu empfinden; so wird er geneigt seyn ihnen Freuden zu verursachen. Was können wir bessers thun zur
Gründung der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, als daß wir dieses Gefühl der Sympathie in den zarten
26 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

zarten Herzen sorgfältig cultivirt werden? Das Beispiel thut das Beste. Um sie die
Pflicht der Wohlthätigkeit ganz uneigennützig ausüben zu lernen, so muss man sie
an den Gedanken g e w ö h n e n , dass es Schuldigkeit ist, und ihnen keine Lob­
sprüche mittheilen. Wenn bei dem jungen Herzen die Triebe der Sympathie aus­
schweifend werden, ist es besser, als wenn es jetzt schon stark genug ist, dieselben zu 5
unterdrücken. Die Triebe der allzu grossen Zärtlichkeit des Mitleidens und der
Gefälligkeit sind leicht [durch] Eigennutz, Klugheit und die Grundsätze des überlegten
Wohlwollens zu massigen.
Der Trieb der G efälligkeit kann oft gefährlich werden. Aber so lange der
junge Mensch noch Führer hat, wird er ihm mehr nützlich als schädlich seyn; ich io
rathe ihn nicht anzugreifen, sondern vielmehr zu erweitern, und ein Verlangen, dem
bessern Theile zu gefallen, daraus zu machen. Einen Charakter, der entschlossen
und standhaft bei seinen Entschliessungen ist, der eine gewisse Festigkeit der
eigenen Empfindung hat, müssen wir nicht zum zärtlichen sympathetischen Herzen
umschaffen. Das stärkere Gefühl der Ehre ist die Basis davon. Die Welt braucht 15

Herzen sorgfältig cultiviren? Und wie werden wir dieses bewerkstelligen? Hier, wie in allen andern Fäl­
len, wo Neigungen erweckt oder gestärket werden sollen, thut das Beyspiel das Beste. ... [122] Gelegen­
heiten sich wohlthätig zu erweisen, werden ihm [d. i. dem Zögling] gemacht, aber wir hüten uns durch
einen unzeitigen Befehl die Wohlthätigkeit zur unangenehmen Pflicht zu machen. W ir wollen, daß er
diese Pflicht so uneigennützig als möglich ausüben lerne, blos um des Vergnügens willen, so sie giebt,
weil Uneigennützigkeit die Seele dieser Tugend ist; und daß er sich an den Gedanken gew öhne, daß
alles dieß Schuldigkeit sey. Daher ertheilen wir ihm dabey keine solche Lobsprüche, wie wir thun, wenn
um seines eigenen aber künftigen ihm nur halb sichtbaren Vortheils willen er seinem itzigen Vergnügen
entsagt, mühsame Arbeit nicht verabscheut. ...
[123] Wenn bey dem jungen Herzen die Regungen der sympathetischen Triebe ausschweifend werden,
schadet es weniger, als wenn es schon itzt stark genug ist, sie zu unterdrücken. Diese Triebe sind leichter
zu mäßigen, als zu erwecken, wenn sie in ihren ersten Keimen unterdrücket worden sind. Der Eigen­
nutz, die Klugheit und die Grundsätze des überlegten Wohlwollens, vermögen bald, den Antrieben der
allzugrossen Zärtlichkeit, des Mitleidens und der Gefälligkeit sich zu widersetzen. ...
[124] Es ist nicht sowohl die Sympathie, als die Begierde zu gefallen, die, weil beyde in zärtlichen
Herzen am besten Statt finden, leicht neben ihr entsteht, welche den T rieb der G efälligkeit erzeugt,
welcher gefährlich werden kann. Aber so lange der junge Mensch noch Führer hat, wird ihm doch auch
dieser Trieb mehr nützlich als schädlich seyn; und ich würde nicht sowohl rathen, durch Vorstellungen
des Schadens oder der Schande, wenn man allzu gefällig oder nachgiebig ist, ihn fürs erste anzugreifen,
als vielmehr ihn zu erw eitern , ein Verlangen dem bessern Theile zu gefallen daraus zu machen, denen,
an deren Liebe und Beyfall uns am meisten gelegen ist, Gott, der Vernunft, denen die wir am sichersten
für verständig halten können, endlich denen, denen wir Gehorsam, Ehrfurcht und Gefälligkeit vorzüg­
lich schuldig sind.
Doch, wenn wir einen Charakter vor uns fänden, in welchem Entschlossenheit und [125] Standhaftig­
keit bey seinen Entschliessungen, eine gewisse Festigkeit der eigenen Empfindung, die sich nicht von dem
mitzutheilenden Gefühle einer andern Seele überwältigen lässet: so wollen wir nicht unternehmen, gerade
zu dieses Herz umzuschaffen, zum zärtlichen sympathetischen Herzen. Die Welt braucht allerhand Cha-
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 27

solche Charaktere, die zu Unternehmungen fähig sind. Seid ihm ein Führer auf dem
Wege zum Grossen, warnt ihn vor der Thorheit, lasset sie ihn aus Proben kennen,
und sich dann selbst Entwürfe machen. Muss man sich seinen Unternehmungen
widersetzen, so thut es so, dass er sich die Lehre daraus merkt, es koste wenig Mühe
5 seinen Trotz zu bändigen. Die T ugend ist freilich noch nicht vollkommene Tugend,
so lange sie von Erwartung eigener Vortheile, oder von der Furcht unterstiizt wird.
Stellet einem jungen Menschen das Elend eines Menschen vor, der verachtet wird,
und beweist ihm, dass nur der innerlich verachtet und verabscheut wird, der die
Gesetze des gemeinen Besten [nicht] verehrt und befolgt, wie wenig die glücklich
io sind, die Begierden in sich hegen, die sie verbergen müssen; wie schwer sich derjenige
zum gemeinen Besten bequemen kann, der sich nicht daran gewöhnt. Zeigt ihm
endlich, dass die Begierden zur Ungerechtigkeit, zu Schandthaten, zu unserer Glück­
seligkeit ganz gefährlich, vielweniger nöthig sind.
Die Furcht ist die mächtigste Triebfeder des menschlichen Herzens; und welche
15 Furcht ist auf alle Fälle mächtiger, als die Furcht vor Gott, dem Allmächtigen, dem
Allgegenwärtigen? O Freunde, lasst uns nicht mit einem eitlen Wahn uns bethören,
6 eigener] Th: einiger 9 [nicht]] Th: (nicht) 10 schwer] Th: scheu

raktere; und dieser hier ist zu Unternehmungen fähig, zu welchen die sanfte zärtliche Tugend wenigstens
später sich entschliessen möchte. Ein solcher Charakter scheinet es mir, muß hauptsächlich von Seiten der
Ehre angegriffen werden, deren stärkeres Gefühl meistentheils die Basis davon seyn wird; wenigstens
die moralische. Denn der physische Grund könnte auch in dem Zustande der innern Organen liegen. Aber
von diesen wissen wir nicht vieles; und wenn wir sie ändern können, so ist es doch nur vermittelst der Vor­
stellungen und Empfindungen, die wir erwecken. Seyd ihm ein Führer auf dem Wege zum Grossen,
warnet ihn vor der Thorheit, die sein Unverstand begehen will, lasset sie ihn aus Proben kennen lernen
und sich dann selbst Vorwürfe machen. [126] Ist es nöthig seinen Unternehmungen mit Gewalt sich zu
widersetzen: so thut es so, daß er sich die Lehre daraus merket, daß es nicht viele Mühe koste, seinen Trotz
zu bändigen, daß man weise seyn müsse, wenn man sein eigener Herr seyn wolle, und nicht zu vieles
fordern dürfe, wenn man nicht leiden kann, daß einem etwas abgeschlagen wird.
Die Tugend ist freylich noch nicht vollkommene Tugend, so lange sie noch von der Erwartung eigener
Vortheile oder von der Furcht unterstützet wird. (Doch sei auch diese aus weniger edlen Beweggründen geübte
Tugend von Wert; daher:) [127] Stellet ihm vor, wie elend ein Mensch daran ist, den man verachtet und
verabscheuet, und beweiset ihm, daß derjenige innerlich verabscheuet und verachtet werden müsse, der
nicht die Gesetze des gemeinen Besten verehret und befolget, wenn gleich aus Furcht, oder um ihres
eigenen Vortheils willen, einige ihm Beyfall zu geben scheinen. Wie weit von der Glückseligkeit der Zu­
stand desjenigen entfernet ist, der Begierden in sich heget, die er verbergen und zurückhalten muß; wie
weit schwerer es ihm wird, nach den Gesetzen des [128] gemeinen Besten sich zu bequemen, in so vielen
Fällen, da er es doch nothwendig thun muß, als es ihm werden würde, wenn er sich daran gewöhnte.
Zeiget ihm endlich, daß die Begierden, die zur Ungerechtigkeit und zu Schandthaten verleiten, zu unserer
Glückseligkeit nicht nöthig, aber auf vielerley Weise gefährlich sind. ...
Die Furcht ist die mächtigste Triebfeder des menschlichen Herzens; und welche Furcht ist mächtiger
auf alle Fälle, als die Furcht vor Gott, dem Allgegenwärtigen und Allmächtigen? O Freunde, lasset uns
nicht mit einem eitlen Wahne uns bethören, als ob die Menschen der Religion entbehren könnten, um
28 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Religion könnten die Menschen zur Tugend entbehren. Wenn eine böse Begierde
von nichts zurückgehalten werden kann, so wird es der Gedanke thun, dass Gott
Zeuge unserer Handlungen ist, wenn die Liebe zur Tugend nichts anfachen würde,
so wird es Religion thun. Durch sie bekommen die guten Triebe der Natur das
Ansehen einer göttlichen Stimme und die Vorschriften der Vernunft werden Gesetze 5
Gottes. Sie giebt der Seele Hoffnungen, die es in aller Betrachtung der Mühe
werth machen, irdischen Begierden sich zu entziehen und nach Vollkommen­
heiten zu streben, die dem Menschen nur erst alsdann zu viel scheinen würden,
wenn er mit diesem Körper sterben müsste. Die Tugend nimmt zu, je mehr
das Vermögen wächst, dem nahen Vortheile, den sinnlichen reizenden Begierden io
zu entsagen, um entfernterer weniger sichtbarer Vortheile willen, das Vermögen,
die Begierden zu überwinden, durch die Vorstellungen der Gesundheit und künf­
tigen Wohlseyns, von Ehre, innerem Beifall, Gewissen, Ehre, Gott und Ewigkeit.
Die Stärkung des inneren Sinnes und des Geschmacks an feineren inneren Ver­
gnügungen kann dem Wachsthum der Mässigkeit, vernünftigen Tapferkeit, Weis- 15
heit und Menschenliebe beförderlich seyn. Durch Künste und Wissenschaften wird
man menschlicher. Von unzählig vielen Ausschweifungen kann einen Menschen der
Geschmack an nützlicher und unschuldiger ergötzender Lectüre bewahren.
3 nichts] Th: nicht

so tugendhaft zu seyn, als es ihr eigenes und das gemeine Beste erfordert! (Dies wird in rhetorischer
Weise näher begründet.) [130] Zur Zeit, wenn nichts die böse Begierde zurück halten würde, wird es
der Gedanke thun, daß Gott Zeuge unserer Handlungen ist; wenn nichts den Eifer der Tugend wieder
anfachen würde, wird es die Religion thun. Durch sie bekommen die guten Triebe der Natur das Ansehn
einer göttlichen Stimme, und die Vorschriften der Vernunft werden Gesetze Gottes. Sie endlich giebt der
Seele Hoffnungen, die es in aller Betrachtung der Mühe werth machen, irrdischer Begierden, der Quellen
ungerechter und liebloser Handlungen sich zu entwehren, und nach Vollkommenheiten zu streben, die
nur alsdenn für den Menschen zu viel scheinen könnten, wenn er mit diesem Körper sterben müßte.
Die Tugend nimmt zu, je mehr das Vermögen wächset, dem nahen Vortheile, den sinnlich reitzenden
Begierden, zu entsagen, um entfernter weniger sichtbarer Vortheile willen; das Vermögen, die Begierden
zu überwinden, [131] durch die Vorstellungen von Gesundheit und künftigen Wohlseyn, von Ehre,
innerem Beyfall, Gewissen, Gott und Ewigkeit. Alles dieses sind feinere Empfindungen; und dieß eben
hindert ihre Wirksamkeit, daß der Reitz des nahen sinnlichen Vergnügens von Natur stärker auf uns wir­
ket. Aber doch haben wir auch ein Vermögen, die feinem innern Vergnügungen zu fühlen. Die Stärkung
dieses innern Sinnes, und des Geschmackes an diesen Vergnügungen, kann daher allerdings dem Wachs-
thume der Mäßigkeit, der vernünftigen Tapferkeit, Weisheit und Menschenliebe beförderlich seyn. Es
ist durch die Erfahrung bewiesen, daß die Menschen durch Künste und Wissenschaften zärtlicher, sympa­
thetischer, gefälliger, enthaltsamer gegen die grobe Unmäßigkeit, mit einem Worte menschlicher werden.
Aber weil es auch feine Lieblosigkeit und Grausamkeit, wie feine Schwelgerey giebt; weil die eigen­
nützigen Empfindungen durch diese Verfeinerung des Geschmackes eben so wohl wachsen, und sich
vermehren können, als die gemeinnützigen: so ist sich auf dieses Mittel, die Tugend zu befördern, [132]
alleine wenig zu verlassen. Aber neben den andern ist es allerdings zu gebrauchen. Vor unzählig vielen
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 29

Aber wie w erden böse, unstatth afte N eigungen bezähm t, oder gar
ausgerottet w erden können.
Die Neigungen gründen sich auf der Vorstellung von etwas, als von einer Quelle
eines vorzüglichen Vergnügens, oder unserer Glückseligkeit; verlieren sich diese
5 Vorstellungen, der Reiz der Sache, die Vorstellung seiner Nothwendigkeit und Nütz­
lichkeit, so verliert sich auch die Neigung, wenn sie nicht von Gewohnheit und
Leichtsinn unterstützt wird. Um nun die Vorstellungen zu schwächen, muss die
Aufmerksamkeit durch allerhand Zerstreuungen von ihnen abgezogen, und die Seele
mit andern Gegenständen beschäftigt werden; nur muss man hier die Patienten die
io Absicht nicht merken lassen, denn ein moralisch Kranker liebt alsdann seine Krank­
heit mehr.
Gesellschaften, Lectüre, endlich auch Jagd und Musik sind Mittel hiezu. Am besten
ist es, wenn man schon vorhandene Triebe zum Abbruch dieser Neigung anfeuert,

Ausschweifungen kann einen Menschen der Geschmack an nützlicher und unschuldig ergötzender Lectüre
bewahren.
Wie gute Neigungen erzeugt oder gestärkt werden können, habe ich nun gezeiget. Ich hielt für besser,
die Anweisung sogleich in Anwendung auf die vornehmsten der guten Neigungen, als in allgemeinen
Lehren, zu geben.
Etwas allgemeiner aber werden meine Anmerkungen seyn, die andere Frage betreffend: wie böse,
unstatthafte, Neigungen bezähmet, oder gar ausgerottet werden können ?
Die Neigungen gründen sich auf Vorstellungen; auf die Vorstellung von etwas, als von einer Quelle
eines vorzüglichen Vergnügens, als von einem nothwendigen Mittel zu dem, wovon unsere Glückselig­
keit abhängt. Die Neigung ist desto gewaltiger, je mehr dergleichen Vorstellungen bey einer Idee sich
häufen, und je lebhafter sie sind. Wenn diese Vorstellungen sich verlieren, wenn andere [133] an ihre
Stelle kommen, wenn sich der Reitz des Gegenstandes verlieret, die Vorstellung seiner Nothwendigkeit
und Nützlichkeit weg ist: so verschwindet auch die Neigung, wenn nicht andere Gründe sie noch unter­
stützen, dergleichen Gewohnheit oder Eigensinn seyn können.
Nun aber ist bekannt, daß Vorstellungen geschwächt und vertilget werden, entweder wenn die Auf­
merksamkeit von ihnen abgezogen, und die Seele mit andern Gegenständen beschäftiget wird; oder
wenn denselben der Grund, woraus sie entsprangen, benommen wird, wenn richtigere Begriffe von den
Dingen beygebracht werden. Einen oder den andern Weg muß man eingehen, wenn man wider Nei­
gungen kämpfen will.
Der erstere hat weniger Schwierigkeiten. Es lassen sich doch Z erstreu u n g en ausfindig machen,
denen der Patient sich nicht zu entziehen verlangt, oder entziehen kann. Aber eines ist hiebey oft haupt­
sächlich zu beobachten, daß man nemlich die Absicht seine Neigung ihm zu benehmen nicht merken
lässet. [134] Denn das ist das sonderbarste und schlimmste bey den moralischen Krankheiten, daß der
Kranke seine Krankheit desto mehr liebt, je mehr er von ihr angegriffen ist. ...
G esellschaften sind ein Mittel hiezu, von dem man meistentheils Gebrauch machen kann. Aber
es müssen Gesellschaften seyn, die mit den Neigungen des andern einigermassen übereinstimmen, ohne
der Neigung, die getödet werden soll, Nahrung zu verschaffen. Eine genauere Bestimmung hievon
können nur die besondern Umstände an die Hand geben.
L ectüre setze ich am nächsten nach diesem unter gleicher Erinnerung. Jagd und M usik können
in vielen Fällen brauchbar seyn.
30 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Liebe zur Tugend, Gefühl der Ehre, Gehorsam oder Freundschaft. Aber nicht andere
schädlichere als Ehrgeiz, Stolz, Eitelkeit müssen gestärkt werden. Hier vertheidigt
man nun die Sache der Leidenschaft laut oder heimlich im Herzen; wenn dann euer
Ansehen, eure Ueberzeugung nicht mehr überzeugt, so gebraucht Beispiele eigener
Erfahrung und klare Beweise, aber nie ungestüm. Wenn bloss die Neuheit, oder ein 5
flüchtiger Blick reizt, da ist keine Gefahr.
In gewissen Fällen rechtfertigt dringende Gefahr, wenn man Gewalt brauchte, die
Lust niederdonnerte, den Gegenstand verbannte, die Imagination betäubte, und ehe
sie sich vom Schrecken erholte, was anderes zu thun gäbe; so stürzte Mentor seinen
Telemaque in’s Meer. Aber was Minerva thut, darf nicht jeder Sterbliche wagen, 10
aber das kann er, die Seele in das Meer der Geschäfte werfen.
Gewisse Neigungen können durch sich selbst gebessert werden, wenn es allgemeine
Triebe sind, die nur auf die Unrechten Wege verfielen.

Aber man kömmt nicht weit, wenn man in solchen Umständen erst eine Neigung erzeugen soll, um
von dem Gegenstände der an-[135]dern abzuziehen. Besser gelingt es, wenn schon starke Triebe vor­
handen sind, die man zum Abbruche derselben anfeuern kann. Ist Liebe zur Tugend da, Gefühl der Ehre,
Gehorsam oder Freundschaft: so sind diese vorzüglich zu gebrauchen. Hingegen wäre es sehr übel gethan,
wenn man zur Ausrottung unanständiger Neigungen, andere stärken wollte, die eben so schädlich oder
noch schädlicher werden könnten; wie auf diese Weise bisweilen thörichter Ehrgeitz, Stolz und Eitelkeit
in jungen Herzen erzeugt werden.
Hier schon, wenn man andere Triebe unvermerkt aufwecken und entgegen setzen will, und noch mehr,
wenn man die Neigung gerne dazu mit Gründen der Vernunft bestreitet, tritt dann gar leicht die sophi­
stische Vernunft in die Mitte; und vertheidiget die Sache der Leidenschaft laut oder heimlich im Herzen.
Wenn dann euer Ansehen nicht mehr statt des Beweises gilt, wenn die Überzeugung, die aus euch redet,
nicht mehr überzeugt: so müssen eigene Erfahrung, Beyspiele anderer, oder [136] klare Beweise versuchen,
was sie thun können. Die gelegene Zeit zu wählen, den rechten Ton zu treffen, ist hiebey das haupt­
sächlichste. Trachtet nur, daß ihr immer Meister über euch selbst bleibt; da nier kein ungestümmer
Eifer euch überwältiget. ...
Eine Neigung entspringt bisweilen aus einer Vorstellung, die sehr leicht zu berichtigen ist, oder deren
Reitzung sich von selbst bald verlieret. Da wäre das schlimmste, wenn man gleich Unruhe merken liesse,
und grosse Gegenanstalten machen wollte. Wenn bloß die Neuheit reitzet, oder ein flüchtiger Blick,
der durch den folgenden nähern Anblick selbst widerlegt [137] werden wird, da ist keine Gefahr. ...
Doch bin ich auch nicht schlechterdings dawider, daß nicht in gewissen Fällen die dringende Gefahr
es rechtfertigen sollte, wenn man Gewalt brauchte, die Lust niederdonnerte, den Gegenstand vernichtete,
oder verbannte, die Imagination durch diesen Schrecken betäubte, und ehe sie sich vom Schrecken er-
hohlte, ihr geschwind etwas anders zu thun gäbe. So stürzte M en to r seinen T elem aque ins Meer,
da es nicht anders gehen wollte. Aber um das Stürzen ist es doch immer eine gefährliche Sache. Und was
M inerva thun kann, darf nicht jeder Sterbliche wagen.1
Eine Neigung kann oft durch sich selbst gebessert werden; und dieser Versuch ist immer der erste,
an den man denken muß. Nemlich [138] wenn eine Neigung von einem allgemeinen Triebe herkömmt,
und nur auf den unschicklichen Gegenstand verfiel, weil er der gelegenste war: so verschaffe man ihr
Nahrung von einem andern Gegenstände, wo weniger dabey zu fürchten ist. (Es folgt ein Beispiel)
1 Der Ausdruck Meer der Geschäfte findet sich bei Feder erst S. 188. Vgl. unten 41.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 31

Gewisse Neigungen verlieren sich von selbst mit den Jahren, oder mit Ver­
änderung der Lebensart und des Aufenthalts.
Neigungen, die ganz allein oder hauptsächlich von groben Irrthümern entstehen,
als die Neigung zu fluchen etc., sind durch Liebe gegen sich selbst leicht zu bessern.
5 Ist diese Neigung Gewohnheit, so müsste man durch Beispiele oder Vorstellung
bessere Neigung zu erwecken suchen und ihr alle Gelegenheit benehmen.
Bei A bneigungen muss man nicht sogleich die Abneigung ganz schlechterdings
verwerfen, denn sonst tritt Eigenliebe und Rechthaberei ein, durch allmählige Ver­
suche und Vorstellungen muss man sie widerlegen, nie dem andern den Gedanken
io beibringen, seine Abneigung sey unüberwindlich. Aber sind natürliche Neigungen
oder Abneigungen unüberwindlich ?
Neigungen gründen sich auf Vorstellungen. Vorstellungen werden durch die
Sinne in uns erweckt. Aber weil der Mensch etwas also empfindet, weil er solche
9 dem] Th: den

[139] Gewisse Neigungen verlieren sich von selbsten mit den Jahren, oder mit Veränderung der Lebens­
art und des Aufenthaltes. ...
Es giebt Neigungen, die aus groben Irrthümern und thörichten Vorurtheilen ganz allein oder haupt­
sächlich entstehen, als da ist die [140] Neigung zu fluchen, oder andere zu beleidigen durch Grobheiten
oder Spöttereyen. Von den Grundtrieben sind diese und ähnliche Neigungen weit entfernet; und scheinen
also vermittelst der Liebe gegen sich selbst, wenn sie noch nicht durch die Gewohnheit zur andern Natur
geworden sind, leicht ausgerottet werden zu können.
Wenn dieses ist; wenn eine Neigung durch die lange Gewohnheit zur Natur geworden ist; dann ist
freylich die Besserung noch ungleich schwerer. Aber dieß kann der Fall so oft nicht seyn, der bey der Er­
ziehung vorkömmt. Das einzige Mittel wäre nur dieses, allmählig bessere Neigungen gegen sie durch Bey-
spiele oder Vorstellungen zu erwecken, und alle Gelegenheit ihr so viel möglich zu benehmen.
Es ist oft eben so nöthig, und erfordert nicht weniger Mühe und Geschicklichkeit, Abneigungen aus­
zurotten, als Begierden. Aber die Grundregeln sind immer die nemlichen. Diese nemlich, daß man nicht
die ganze Abneigung, die doch auch eine natürliche Verabscheuung zum Grunde haben muß, nemlich
[141] den Abscheu vor Unlust oder Schaden, sogleich schlechterdings verwirft, und damit verursachet,
daß Eigenliebe und Rechthaberey für sie streiten; daß man entweder durch allmählige Versuche, die die
Gelegenheit an die Hand geben, oder wozu ein gefälliges Beyspiel reitzen muß, den Irrthum, der der
Grund ist von der Abneigung, einen benimmt, oder durch andere Vorstellungen ihn widerlegt; daß
man nicht selbst dem andern den Gedanken beybringt, als wäre seine Abneigung so groß und unüberwind­
lich. Diese Saite muß man sich hüten zu berühren.
Aber wenn wirklich Neigungen oder Abneigungen natürlich sind: dann sind sie doch wohl auch
unüberwindlich ?
W ir wollen nur erst sehen, in welchem Verstände Neigungen natürlich sind, oder von der Natur
herkommen.
Neigungen gründen sich auf Vorstellungen. Vorstellungen kommen durch die Sinnen in uns, oder,
welches hier einerley, werden durch die Sinnen erwecket. Neigungen [142] kommen also in der Bedeu­
tung nicht von der Natur her, daß die Begierde oder die Verabscheuung, die Vorstellungen voraussetzet,
die von gewissen äussern Gegenständen herkommen, auch wenn solche äusserliche Gegenstände noch
nicht da waren, oder wenn sie nie vorgekommen wären, sich dennoch hätte äussern können.
32 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Sinne hat, weil er auf eine Weise afficirt werden kann, je nachdem es mit seinen
Organen übereinstimmt, so können gewisse Neigungen natürliche genannt werden,
dass der Grund von ihnen in der unverfälscht eigenen Empfindung eines Men­
schen liegt.
So viel kommt immer heraus, dass die natürlichen und durch Kräfte der Welt 5
unüberwindlichen Begierden keine solche sind, die zum Verderben abzwecken
müssen.
Aber man hört von Leuten, denen böse Neigungen angeboren worden, Neigung
zu lügen oder Neigung zu stehlen. Ich halte davor, sie rühren von einer Veränderung
im Mutterleibe her; ich will auch zugeben, dass starke Abneigungen den Ursprung io
haben können, weil die unangenehme Empfindung gewaltiger auf uns wirkt, als ich
es den Begierden einräumen sollte. Uebrigens halte ich eine solche Neigung nicht
für unüberwindlich. Es kann gar oft etwas von gewissen Dispositionen im Körper,

Aber weil ein Mensch etwas also empfindet, weil er solche Sinnen hat, weil er von etwas auf eine
angenehme oder widrige Weise afficirt werden kann, je nachdem es mit der Beschaffenheit seiner Or­
ganen oder überhaupt den Dispositionen seiner Natur übereinstimmt: so können gewisse Neigungen
und Abneigungen natürlich genennet werden in der Bedeutung, daß nicht die Empfindungen, die von
dem veränderten, durch äusserliche Ursachen erst erzeugten Zustande der Organen, nicht in angenom­
menen Begriffen, Vorurtheilen und verwirrten Einbildungen; sondern in der unverfälschten eigenen
Empfindung eines Menschen der Grund von ihnen lieget.
(Es sei allerdings sehr schwierig festzustellen, ob jemands Neigung oder Abneigung also natürlich ist.)
[145] Doch wenn man hier auch alles einräumet, was man vermöge der Erfahrung mit Grunde ein­
räumen kann: so wird doch immer dieß heraus kommen, daß die natürlichen und durch Kräfte dieser
Welt unüberwindlichen Be-[146]gierden oder Verabscheuungen keine solche sind, die zum Verderben
abzwecken müssen. ...
Doch man höret von Leuten, denen böse Neigungen angebohren worden, N eig un g en zu lügen,
oder Neigung zu stehlen ?
Ich will mich nicht dabey aufhalten zu untersuchen, ob man das auch natürlich nennen kann, was
von einer Veränderung herrühret, die im Mutterleibe sich eräugnet hat. Und ich will es einräumen, daß
vermöge solcher Veränderungen Dispositionen in einem Menschen entstehen können, aus denen hernach
gewisse Empfindungen der Lust oder Unlust entstehen müssen, die ausserdem nicht erfolgt seyn würden.
Mit den Begriffen, die man sich von dem Innern des Menschen mit Wahrscheinlichkeit machen kann,
scheinet mir wenigstens, Hessen sich im Mutterleibe empfangene Eindrü-[147]cke, die die nachmaligen
Empfindungen bey gewissen Gegenständen modificiren, noch wohl zusammen reimen. Und alle Er­
fahrungen, die dergleichen etwas zu beweisen scheinen, schlechthin läugnen wollen, scheinet auch nicht
erlaubt.
... [148] Endlich will ich noch eher zugeben, daß starke Abneigungen einen solchen Ursprung haben
können, weil die unangenehme Empfindung gewaltiger auf uns wirket, als daß ich es von Begierden
einräumen sollte. Ganz andere Beweise aus der Erfahrung, als ich bis itzo kenne, müßte ich haben, wenn
ich glauben sollte, daß der Reitz der angenehmen Empfindungen, die nur einen solchen Grund haben,
Neigungen unüberwindlich machen, und daß eine Neigung zum Stehlen oder zum Lügen angebohren
werden könnte. ...
Nemlich es kann gar oft etwas von gewissen Dispositionen im Körper, in der Einbildungskraft oder
13270 fo'U?
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 33

in der Einbildungskraft oder im Verstände herkommen, die, so stark sie auch schei­
nen, sich wieder ändern lassen. Die veränderte Lebensart etc. können vieles in
Ansehung des Körpers, und somit auch in Ansehung der Imagination verändern.
Hernach was vermag nicht der Gedanke über die Empfindung ? Ueberdem giebt es
5 noch viele andere Triebe, die diese nach und nach bezähmen und bessern können.
Es sind bisweilen Triebe nach und nach so stark geworden, dass sie ganz den
Charakter des Menschen ausmachten. Aber durch eine ganz unerwartete Revolution
ist öfters ein solcher Mensch auf einmal ein ganz anderer worden, von einem Extrem
auf andere gekommen. Die Ursache ist, weil oft die widersinnigsten Neigungen einen
io Grund haben. Die Seele ging mit der grössten Begierde aus, und fand das Verlangte
nicht. Desto grösser ist ihr Unwille.
Gewöhne den, der die Gründe und Pflicht noch nicht einsehen kann, nicht daran,
dass er von allen Vorschriften Gründe wissen will. Das Beste ist, gute Triebe zu

im Verstände herkommen, die, sie mögen nun entweder angebohren, oder durch die Gewohnheit erzeugt
worden seyn, so stark [149] sie auch scheinen, sich wieder ändern lassen. Die veränderte Lebensart, und
andere Mittel, die der Arzt weiß, können vieles in Ansehung des Körpers, und somit auch in Ansehung
der Imagination, verändern. Hernach, was vermag nicht der G edanke über die E m pfindung? Hier
ist die moralische Universalmedicin wider die geistischen Krankheiten.
... Es ist kein Streit dagegen, daß nicht zur Wollust ein Mensch stärker als der andere, vermöge seines
Temperaments, gereitzet werde, und daß also verstanden, die Neigung dazu von seiner Natur herkommen
könne. Aber darum ist sie noch nicht unüberwindlich. In seiner Natur [150] sind noch andere Triebe,
vermittelst deren sie bezähmet und gebessert werden kann. ...
Es entstehen bisweilen Triebe nach und nach, weil Gelegenheit und Anreitzung für sie allein sich
findet; und werden zuletzt so stark, daß sie den Charakter eines Menschen ganz allein auszumachen,
seine ganze Natur in sich zu fassen, oder nach sich zu stimmen scheinen. Und doch wäre dieser Mensch
ursprünglich geschickt gewesen, die entgegen gesetzten Neigungen eben sowohl zu überkommen. Die
Erfahrung hat es bewiesen. Denn durch eine schnelle und allen unerwartete, aber dem Seelen-[151]forscher
nicht unbegreifliche Revolution ist schon öfters ein solcher Mensch auf einmal ein ganz anderer geworden.
Von einem Extrem ist er aufs andere gekommen, aus einem Wollüstlinge ein Einsiedler und Heidenbekeh­
rer, oder aus einem Schwärmer ein Wollüstling geworden. Man hat es oft bemerket, daß, zumal bey
den Neigungen, die Extremitäten an einander gränzen, die dem Scheine nach widersinnigsten Neigungen
oft schnell aus einander entstehen; die Ursache ist, weil alle einen Grund haben; und diejenigen, die,
bildlich es auszudrucken, aus einem Punkte nur gegen verschiedene Seiten zu auslaufen, näher bey ein­
ander sind, als die durch verschiedene Wendungen von einander abgesondert sind. Die Seele gieng mit
der grösten Begierde aus, und fand nicht, was sie erwartete. Je grösser die Begierde und die Erwartung
war, desto grösser muß der Unwille seyn. Je gewaltsamer der Schwung der hintrieb, desto stärker auch der
so zurück reisset. ...
[152] Gewöhne denjenigen, der noch nicht die Gründe von dem System der Pflichten einsehen kann,
nicht daran, daß er von allen Vorschriften die Gründe wissen will. Die Gesetzgeber haben bey dem kin­
dischen Alter des menschlichen Geschlechtes dieses nie gethan, und mit Recht. [153] Auch zur Zeit, wenn
Vernunft genug da wäre, die Gründe einzusehen, hindert die entgegenstrebende Begierde die Überzeugung.
Das beste also ist, gute Triebe frühe zu gründen, daß sie schon auf die Vernunft warten, und nur durch
sie erweitert werden dürfen.
34 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

gründen. Entziehe dem, dessen böse Neigung du entkräften willst, die Gegenstände,
die ihre Eindrücke erregen, und die Gelegenheiten. Lass ihn Folgen von seiner
Neigung an Andern gewahr werden.
Bringe ihn in gute Gesellschaften solcher Personen, die anders geartet sind, die
aber doch werth, rechtschaffen und beliebt sind. Bringe ihm Arzeneien immer so viel 5
als möglich unvermerkt bei. Verleite ihn zum Lesen solcher Schriften, die ihm Anlass
geben, auf andere Gedanken zu kommen. Suche zuerst eine Liebe gegen dich zu
erwerben; erbittere nicht, verachte nicht, nimm den Muth nicht. Verdamme nicht
aus Eigensinn, Unmuth etc. Male das Laster nicht mit all zu schwarzen Farben ab,
er möchte sich ihm sonst, wenn es nicht so hässlich erschiene, demselben in die Arme io
werfen. Mit Schwachheiten habe Geduld, bringe Ermahnung, Bestrafung an, wenn
dein eigenes G em üth frei, m unter und gelassen ist.

Entziehe denjenigen, dessen böse Neigung du entkräften willst, den Gegenständen, die durch ihre
Eindrücke sie erregen können, den Gelegenheiten, wo sie gereitzet werden würde. Laß ihn diejenigen
sehen, an denen er die üblen Folgen der Neigung gewahr wird, die er vielleicht noch nicht kennet, oder
nicht lebhaft genug sich denket, und die Seite derselben, wo sie ihm selbst verhaßt seyn muß. -
Bringe ihn in die Gesellschaft solcher Personen, die anders geartet sind, und doch Eigenschaften besitzen,
die sie ihm werth machen, die bey rechtschaffenen Leuten angesehen, überall beliebt, und auch seine Freund­
schaft sich zu erwerben geschickt sind. Denn man bildet sich nur nach denenjenigen gerne, die man liebt,
hochschätzet, oder wenigstens für [154] glücklich hält. Darum muß der Lehrer selbst sich oft, dem Scheine
nach, denenjenigen gleich stellen, die er nach sich bilden will. Diese letztere Regel aber sage ich nur denen,
die sie verstehen.
Bringe ihm die Arzneyen, immer so viel es seyn kann, unvermerkt bey. Er glaubet, sich dann etwa
selbst zu bessern, so fruchten sie desto mehr. Sage ihm deine Lehren so wie im Vorbeygehen, als wenn
du sie andern sagtest, und überlaß ihm die Application auf sich: Oder laß sie nur so in einer allgem einen
Sentenz mit einfliessen, indem du ihm bey einer Gelegenheit ein verdientes Lob ertheilest. V erleite
ihn zum Lesen solcher Schriften, die ihm A nlaß geben können, auf andere Gedanken und Entschliessungen
zu kommen.
Suche vor allen Dingen die Liebe und das Zutrauen desjenigen dir zu erwerben, den du bessern willst.
Begegne dem Affecte nicht mit Affect, sondern mit schreckenloser, ruhiger standhafter, heiterer Ge­
lassenheit. Erbittre nicht, verachte nicht, nimm den Muth nicht.
[155] Sey ja nicht zu strenge, und verdamme nicht aus Eigensinn, Unmuth, Unwissenheit, oder Heuche-
ley. Mahle das Laster nicht mit allzuschwarzen Farben ab. Es möchte sonst dein Lehrling demselben sich
in die Arme werfen, wenn es in minder häßlicher Gestalt erschiene; wie das junge Rehe in der Fabel. ...
Mit Schwachheiten habe Gedult. Wenn man zu geschwinde fertig seyn will, richtet man gar nichts
aus. Doch verschweige die drohende Gefahr nicht. Wähle die rechte Stunde zur Ermahnung und Be­
strafung; wenn etwa ein Erfolg dir schon vorgearbeitet hat, wenn [156] etwa das Zutrauen gegen dich
am stärksten, und w enn dein eigenes G em üth dazu am g eschicktesten, frey, m u n ter, ru h ig
ist.
Sey selbst Beyspiel. Beweise durch dein ganzes Verhalten Religion und Menschenliebe, Herrschaft
über deine Begierden, daß du dein Glück in der Tugend suchest und findest.
Exzerpt 2 PH ILO SO P H IE . PÄ D A G O G IK 35

VII. Capitel.
Man muss den Eleven zum Lernen gewöhnen, ehe er bemerken kann, dass jemand
von seiner Familie, reich, vornehm etc. ist.
Förmlich protestire ich wider die A u f m u n t e r u n g e n z u m L e r n e n d u r c h
5 B e l o h n u n g e n . Wenn man ihnen nicht immer giebt, so weigern sie sich darum
stille oder fleissig zu seyn. Und sie machen dieses Geben zu einer Hauptabsicht. Ich
glaubte nicht zu irren mit den Künsten anzufangen, zu welchen die Nachahmung,
ein früher Trieb, den Menschen am ehesten führt. Emil übte sich zuerst durch
M usik und Zeichnungen. Im 6. Jahr fing er an Lieder Zuspielen. Der natürlichste
io und leichteste Weg Sprachen zu erlernen ist ohne Zweifel die mündliche Uebung.
1 VII] Th: XII

[156] Siebentes C apitel


Lectionscatalogus für einen fünfjährigen Studenten
... [157] Man muß den Eleven zum Lernen gewöhnen, ehe er die Bemerkung machen kann, daß einer
und der andere in seiner Familie ein Mann von Ansehen, Rang und Titeln geworden ist, ohne das zu wis­
sen, was man ihm zu lernen aufgiebt.----(Emil sei an das Lernen, als eine Art von Zeitvertreibe schon ge­
wöhnt gewesen,)
[158] Förmlich aber protestire ich wider dergleichen A u fm u n teru n gen zum L ernen, wodurch
das Studieren, das eine Absicht seyn sollte, auf die letzte blos als ein Mittel zur Beförderung liederlicher
Einfälle und Begierden betrachtet, und der Hofmeister endlich vom Eigensinne des Lehrlings abhängig
gemacht wird. Schlägt er ihm einmal eine Bitte ab, siehe so lernet er nun nicht, oder machet alles aufs
schlechteste. Alle Aufmunterungen also, wodurch ein Begriff vom Lernen erwecket wird, der dessen
Werth zu weit herab setzet, und gänzlich zufällig machet, taugen nichts.*
[159] Da ich nachdachte, womit ich hauptsächlich das gegenwärtige Alter meines Eleve beschäftigen
sollte: so glaubte ich nicht zu irren, wenn ich ihn mit denjenigen Künsten anfangen liesse, zu welchen
die Nachahmung, ein früher Trieb, den Menschen am ersten führet. Dies ist der W eg, w elchen
die N atu r selbst m it dem m enschlichen G eschlechte genom m en hat, die erste L ehrm eiste­
rin. (Es folgen Beispiele zu dieser These.)
[160] Emil übte also seine sich entwickelnden Seelenkräfte zuerst durch Musik und Zeichnungen.
In seinem sechsten Jahre fieng er an Lieder zu spielen. ...
Die Kenntniß der Sprachen gehöret zu den Bedürfnissen, und es ist Anfangs leicht, [161] über deren
Erlernung verdrießlich zu werden. Der natürlichste und leichteste Weg ist ohne Zweifel die mündliche
Übung. Also ist Emil zur deutschen und französischen Sprache angeführet worden. In jener konnte er
auch schon lesen. Es ist gesagt worden, wie er ohne Mühe und Zwang dazu gekommen. Zum französisch
lesen mußte nunmehr fortgeschritten werden. ... Weil er schon viele Wörter wußte, ehe er zum Lesen
gewöhnet war, so fanden sich bald Gegenstände, die die Lust zum Lesen erweckten. Es waren kleine

* Die Regel verdienet allgemeiner gemacht zu werden. Die w illk ü h rlich en unmittelbaren Be­
lohnungen, sind bey Kindern überhaupt gefährlich. Endlich setzen sie die Erfüllung ihrer Pflicht auf einen
.immer höhern Preis und weigern sich, [159] fromm, stille oder fleißig zu seyn, woferne man ihnen nicht
noch mehr giebt. ...
36 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Beim Lesen fang’ mit Fabeln und Erzählungen an. Bei einer freien Erziehung halte
ich für besser, wo nicht für nöthig, das Latein erst nach dem 9. oder 10. Jahr zu
erlernen.
Bei der R eligion liess ich mir angelegen seyn, nicht durch Scheinheiligkeit und
verdriessliche Muckerei, wobei die Religion geschändet wird, sondern zur wahren 5
sich immer gleichen Gottesfurcht, deren Frucht Zufriedenheit des Herzens und
Menschenliebe ist, anzugewöhnen; zur Gelassenheit im Leiden, und zur Munterkeit,
das Gute zu verrichten.
Wie das Lesen dem Emil zum Unterricht in der Religion den Weg bahnte, so
bahnte es ihn auch zur H istorie und G eographie. Der Anfang kann wohl noch io
früher gemacht werden. Anfangs war alles ohne Zusammenhang; endlich näherten
sich die Fragmente einander, und so enstand ein Ganzes.
Ich habe vergessen zu sagen, dass Emil auch schreiben lernte, die Veranlassung
war, seine ältere Schwester war verreist, sie schrieb an die jüngere und an Emil.
1 Erziehung] Th: Erzählung

Fabeln und Erzehlungen. (Diese seien nicht wegen der Moral, sondern wegen ihres unterhaltenden Inhalts ge­
wählt worden. - Latein solle Emil erst später lernen, wenn ein Beweggrund zur Erlernung dieser toten Sprache
gefunden sei.) [163] Ich lasse es den Einsichten der Lehrer und der Eltern anheim gestellt, wenn sie vor
dem neunten oder zehnten Jahr ihrer Kinder Anstalten, das Latein zu lernen, machen wollen. Ich halte
das Gegentheil bey einer freyen Erziehung für besser, wenn ich nicht sagen will, für nöthig; und mehr
als ein Erfolg bestätiget mich in meinen Grundsätzen. (Bei Emil sei vom Lesenlernen auf ganz natürliche
Weise zur Einführung in die Wissenschaften fortgeschritten worden.)
[164] Ich konnte ihm auf diese Art viele Grundsätze der R elig io n beybringen. ... Ihn mit Gründen
und Gegengründen bekannt zu machen, verspahrte ich auf eine andere Zeit. ... [165] Klassische Sprüche
der heiligen Schrift, leichte Verse aus erbaulichen Liedern waren seine symbolischen Bücher, sein System,
waren der Inhalt seiner Theologie. ... Vorzüglich ließ ich mir angelegen seyn, ihn durch mein Beyspiel,
n icht zur S chein h eilig k eit und v erd rü ß lich en M uckerey, w o d urch die R eligion geschän­
det w ird , sondern zur w ah ren , sich im m er gleichen, G o ttesfu rch t, deren F rucht Z u ­
fried en h eit des H erzens und M enschenliebe ist, an zu g ew ö h n en ; zur Gelassenheit im Leiden,
und zur Munterkeit, das Gute zu verrichten ?
Wie das Lesen des Emils zum Unterricht in der Religion den Weg bahnte, so bahnte es ihm auch zur
H isto rie und G eo g rap h ie.* [166] Der Anfang darinnen war ohne Zusammenhang. Wie hätte sonst
der Eckel und das Beschwerliche vermieden werden können? Bey dieser Gelegenheit ein Stück, bey
jener ein anderes. Der Stücke wurden immer mehr und mehr. Sie w u rd en oft w ied erh o let, dam it
G rund und E cksteine des k ü n ftig en G ebäudes d au erh aft w ü rd en . Endlich näherten sich die
Fragmente einander, und es entstund ein Ganzes, indem wir, was hie und da fehlete, hinzu thaten. ...
Ich habe vergessen zu sagen, daß Emil auch Schreiben lernte. Wenn ein Kind lesen kann, so verfällt
es wohl selbst aufs Schreiben. ... [167] Emil hatte schon den Anfang spielend gemacht, als ein besonderer
Umstand seine Begierde zu schreiben, und Geschriebenes zu lesen, noch mehr anfeuerte. Man erräth
vielleicht diesen Umstand schon? Er ist auch leicht zu errathen. Seine ältere Schwester war verreiset, sie
* Den Anfang kann man noch früher machen, als hier angegeben worden ist. ...
Exzerpt 2 PH ILO SO P H IE . PÄ D A G O G IK 37

Anfangs lernte er 1/4 Stunde, 1/ 2 Stunde. Endlich wurden Stunden daraus, und da er
in’s 8. Jahr ging, war er des Vormittags 2 Stunden im Unterricht, und Nachmittags 2.
Langsam kommt man weiter, als wemi man zu sehr eilt.
VIII. Capitel.
5 Ritterliche Uebung fü r dieses Alter.
Emil musste die Unbequemlichkeiten des Lebens bei Zeiten kennen lernen. Er
wurde an’s starke Laufen, an Kälte, Wind und Regen und im Fall der Noth mit einer
bäuerlichen Mahlzeit vorheb zu nehmen gewöhnt.
Bei üblem Wetter hielt ich es mir für gar keine Schande maitre de plaisirs zu
io seyn. Meine Gegenwart verursachte ihm keinen Zwang. Alle seine Neigungen ent­
deckten sich meinen Augen; welcher Vortheil! Die Fehler untergrub ich nach und
nach, und rottete die Wurzel aus. Was ich recht bedauerte war, dass Emil keinen
4 VIII] Th: XIII 10 Alle] Th: Allein

schrieb an die jüngere, und an Em ilen----Das übrige versteht sich. Anfangs lernte Emil Viertelstunden,
Halbestunden lang. Endlich wurden Stunden daraus. Und als er ins achte Jahr gieng, war er des Vormit­
tags zwo Stunden im Unterrichte, und zwo des Nachmittages. Zu dieser Ordnung sind wir unvermerkt
gekommen. Und sie wurden nie beschwerlich, weil wir sie unterbrachen, so oft es unser Vergnügen,
oder andere Umstände, erforderten. M an k ö m m t langsam w eiter, als w enn m an zu sehr eilet. ...

[168] A chtes C apitel


Ritterliche Übungen für dieses Alter
Emilens Körper wurde zwar nicht solchen Proben ausgesetzet, die nur ein junger Wilder aushalten
kann, aber er wurde auch nicht also verzärtelt, wie es bey Kindern vornehmer Leute gemeiniglich zu
geschehen pfleget. Er mußte die Unbequemlichkeiten des Lebens, vor denen kein Stand immer bewahren
kann, bey Zeiten kennen lernen. Doch so, daß man nicht auf einmal zu viel von ihm verlangte. Er wurde
öfters beym Spazierengehen so weit verführet, daß er auf dem Rückwege vracker müde wurde. Er wurde
zu Kälte, Wind und [169] Regen angewöhnet, und er lernete im Fall der Noth, auch mit einer bäurischen
Mahlzeit seinen Hunger stillen. ...
Mußten wir wegen der Kälte oder des gar zu schlimmen Wetters zu Hause bleiben: so wurden da­
selbst solche Spiele veranstaltet, die den Körper in Bewegung setzten. Ich hätte mir es für eine Schande
gehalten, wenn nicht ich der M aitre de Plaisirs gewesen wäre. (Dabei habe er sich nicht von seinen
eigenen, sondern von den Empfindungen des Zöglings leiten lassen.) [170] Je lustiger mein Eleve war, desto
froher war ich. [171] Meine Gegenwart verursachte ihm keinen Zwang. Alle seine Neigungen, alle seine
guten Eigenschaften, alle aufkeimende Fehler entdeckten sich meinen Augen. Welcher Vortheil! Aber
ich hütete mich sehr, diese Absicht merken zu lassen. Ich bestrafte sie nicht auf der Stelle. Ich untergrub sie,
ich rottete ihre Wurzel aus, ich entfernte die Gelegenheiten selbige auszuüben. ...
Was ich bey der Erziehung des Emils oftmals recht sehr bedauerte, war dieses, daß sich auf dem Land­
gute, wo wir uns aufhielten, seitdem sein Herr Vater die Hofdienste aufgegeben hatte, kein K am erade
für ihn fand. Allzuviele Unbequemlichkeiten wider-[172]riethen mir es, ihm Bauernjungen zur Gesell­
schaft auszulesen, wenn es auch die besten gewesen wären. (Den Besuch junger Adliger habe er sehr eingeschränkt,
um Emil auf keinen Fall in böse Gesellschaft zu bringen.)
38 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Kameraden hatte. Mit Bauerjungen liess ich ihn zwar allerdings umgehen, damit er
sich bei Zeiten gewöhnen möchte, ja nicht mit der frostigen Miene eines Grossen
auf diese Creaturen verächtlich herabzusehen.
Man lehrte ihn dieses auch ausüben, nemlich Niedrigen freundlich zu begegnen,
den Dürftigen mitzutheilen u.s.w. Aber nie wurde er deswegen besonders gelobt. 5
Besonders verbannte ich die lächerliche Furcht vor Gespenstern, vor Nacht und Ein­
samkeit.
IX. Capitel.
Unter solchen Beschäftigungen erreichte Emil das 10. Jahr. Er konnte deutsch und
französisch lesen, in beiden so ziemlich eine Unterredung halten. Er wusste ver- io
schiedene Stücke aus der Geschichte, und eben so viel Geographie. Er zeichnete, und
spielte ein wenig Clavier. Seine Theologie bestand in biblischen Geschichten, Versen

Übrigens bilde man sich ja nicht ein, daß ich Emilen deswegen nicht mit Bauern-[173]jungen hätte
umgehen lassen, damit er seinem Stande nichts vergeben, und bey Zeit gewöhnen möchte, mit der
frostigen Miene eines Grossen auf diese Creaturen verächtlich herab zu sehen. Dieses unbillige und lächer­
liche Vorurtheil nicht bey ihm aufkommen zu lassen, würde mir sehr angelegen gewesen seyn, wenn nicht
das Beyspiel seiner vortreflichen Eltern mir diese Mühe erspahret hätte; die vielleicht, ohne jenes, doch
würde fruchtlos gewesen seyn. Von ihnen lernete er, daß alle Ehrfurcht der Niedrigen gegen Höhere
diesen zur Schande gereiche, woferne sie durch etwas anderes, als durch Wohlthaten dazu gelangten. ...
[174] Zu solchen Grundsätzen wurde Emil gewöhnet. Man ließ es auch nicht bey blossen Lehren
bewenden, sondern führte ihn zur Ausübung derselben frühzeitig an. Er lernete den Niedrigen freundlich
begegnen, den Dürftigen mittheilen, über die Elenden ei-[175]ne mitleidige Thräne weinen, die Hung­
rigen speisen, die Durstigen tränken. Aber nie gab man ihm Gelegenheit sich dieses zum Verdienste zu
machen. N ie w urde er desw egen besonders gelobt. ... Noch ließ ich mir angelegen seyn, die
thörichten Eindrücke einer oft bis in die männlichen Jahre schädlichen Furcht zu verhindern. Ich meine
die Furcht vor Gespenstern, die man oft auf eine recht unüberlegte Art bey Kindern zu erregen und zu
erhalten suchet. Es durfte sich niemand unterstehen, ihm so etwas einzubilden. Man widersprach solchen
lächerlichen Schreckhistorien, man verbannte alle Furcht in der Einsamkeit, ausser derjenigen Ehrfurcht,
die man dem Allgegenwärtigen schuldig ist. Wenn noch ein [176] gewisser Abscheu vor Nacht und Ein­
samkeit, welcher den Menschen natürlich zu seyn scheinet, bey Emil übrig blieb, so war derselbe ihm doch
weder jetzo nachtheilig, noch konnte er der Herzhaftigkeit seiner männlichen Jahre Eintrag thun.
[179] N euntes C apitel
Gestit paribus colludere et iram
Colligit, ac ponit temere; et mutatur in horas
Unter solchen BeschäfFtigungen erreichte Emil sein zehntes Jahr. Er war kein Wunder der Gelehr­
samkeit; aber er war kein Feind vom Lernen. Dieß war genug. Und er hatte es doch auch in allerhand
nützlichen Kenntnissen bereits so weit gebracht, daß man hoffen konnte, ihn mit der Zeit so vollkommen
darinnen zu sehen, als man wünschte. Er konnte ohne Anstoß deutsch und französisch lesen; und in bey-
den Sprachen nach dem Um-[180]fange seiner Begriffe eine Unterredung aushalten. Er wußte verschie­
dene Stücke aus der Geschichte, bey manchen Reichen den ganzen kurzen Innbegriff und so viel von der
Geographie, als zum Verständnisse jener nöthig war. Er zeichnete Blumen, Thiere, Gebäude, Bäume,
Landschaften. Alles ohne Kunst und Genauigkeit; aber hier und da verrieth sich ein Genie. Zum Klavier­
spielen hatte er einen solchen Anfang gemacht, daß man einen gewissen Grad der Vollkommenheit in
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 39

aus vortrefflichen Liedern, und Sprüchen heiliger Schriften. Er wusste einen Fremden
mit ungezwungenem Anstand zu unterhalten. Was aber das meiste ist, die Tugend
hatte in seinem Herzen Wurzel geschlagen. Endlich, er liebte seinen Hofmeister
noch wie vor 5 Jahren.
5 Die beste Schilderung dieses Alters ist das Horazische mutatur in horas.
Drei Stücke muss man hier beobachten: erstlich dass der Knabe mit den Thränen
der Reue kein Spiel treiben lerne. Dann dass man ihn sehen lasse, man kenne ihn.
Endlich, dass er immer was Gutes zu thun habe.
Aus dem ersten Fehler entsteht, dass der Knabe oder das Kind Alles durch Thränen
io zu erzwingen sucht. Wenn man ihm aber sagt, auf diese Art werde er gar nichts
erlangen und fest bei diesem Vorsatz bleibt, so wird diese Gewohnheit sich bald
verlieren.
Was das Zweite betrifft, so will er anfangen, uns zu hintergehen, aber verräth
sich gleich selbst. Wenn er sich am sichersten glaubt, so sage man ihm, mit der ernsten

dieser Kunst von ihm erwarten konnte. Seine Theologie bestund noch in den vornehmsten biblischen
Geschichten, in Versen aus vortreflichen Liedern und denenjenigen Sprüchen heiliger Schrift, die unsere
Heilsordnung enthalten; und er verstund dieselben so weit, daß sie auf sein Herz wirken konnten. Er wußte
einen Fremden mit ungezwungenem Anstande zu unterhalten; er wußte seinen Körper schicklich zu
tragen und zu gebrauchen, um so viel damit auszurichten, als man von seinen Jahren verlangen konnte.
Aber was das meiste ist, die Tugend hatte in seinem Herzen Wurzel geschlagen, und es äus-[181]serte
sich in seinen Handlungen eine wirksame Menschenliebe. Endlich sein Hofmeister war ihm nach fünf
Jahren noch so lieb als in den ersten Tagen seiner Ankunft; und sein Umgang schien zu seinem Vergnügen
unentbehrlich. ...
Man kann den Character dieses Alters gewiß nicht richtiger bestimmen, als H oraz gethan hat. Mutatur
in horas. (Es folgt eine Beschreibung der raschen Stimmungswechsel des Knaben.)
[182] Hier sind drey Stücke besonders nöthig zu beobachten. Erstlich, daß der Knabe mit den Thränen
der Reue kein Spiel treiben lerne. Dann, daß man ihn sehen lasse, man kenne und verstehe ihn. Endlich
daß er immer etwas gutes zu thun habe.
Ein Knabe weinet zuerst vielleicht aufrichtig. Es kümmert ihn wenigstens, seinen Vorgesetzten un­
willig gemacht zu haben; und er nimmt sich ernstlich vor, dieses nicht mehr zu thun. Aber wenn er ge­
wahr wird, daß man sich sein Weinen Wohlgefallen läßt; wenn man seinem guten Herzen deswegen Lob­
sprüche ertheilet; wenn man ihm nicht nur verzeyht um [183] dieser Thränen willen, sondern auch eifrig
ist, sie zu vergelten: so müßte es sehr wunderlich zugehen, wenn er nicht lernete, sich derselben zum Schutze
seiner Leichtfertigkeiten zu bedienen. Ich habe einige Zeit lang einen sonst wackern Junker von diesem
Alter unter Händen gehabt, welcher ohne Zweifel durch den Fehler seines vorigen Hofmeisters, der sehr
weichherzig war, zu dieser Unart gewöhnet, eine jede Bitte so gleich mit Thränen unterstützte. Ich mußte
mir vornehmen, ihm alles, was er auf diese Art bat, abzuschlagen. Da ich dieses ihm ankündigte, und stand­
haft in Erfüllung brachte; so änderte er sich bald. Gegen das Weinen eines Kindes, das sprechen kann,
und eines Knabens, muß man völlig gleichgültig seyn, und nur auf sein ganzes Verhalten sehen. Merket
er, daß man so gesinnet ist: so wird er gleichfalls auf die bessere Einrichtung seiner Aufführung denken
müssen.
Das zweyte, was ich erinnert habe, ist, daß man den Knaben soll sehen lassen, man [184] kenne und
verstehe ihn. Er will anfangen, sich zu verbergen, uns zu hintergehen: aber er ist noch nicht völlig ge-
40 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

zornigen Miene, dass ein Mensch, der seine Freunde und Vorgesetzten zu betrügen
suche, ein Bösewicht sey. Triffst du ihn auf heimlichen Wegen an, so muss er den
gleichgültigen Blick des lieblosen Kaltsinns von dir erhalten. Verdient er weniger
Ahndung, so musst du die ersten Proben seiner Besserung abwarten, bis du ihm deine
Liebe nach und nach sehen lässt. Bei einem Knaben, der den Allgegenwärtigen 5
fürchtet, wird es weniger Mühe kosten.
Was das Dritte betrifft, so sagt Cicero off I, 34: »Maxime autem haec aetas a
libidinibus arcenda est, exercendaque in labore patientiaque et animi et corporis«
und Horaz A. P.: »Multa tulit fecitque puer sudavit et alsit, abstinuit venere et
mero.« Zu verhindern, dass einem Menschen nie was Strafbares vor Augen oder zu io
10 mero.«] Th: mero.

schickt dazu; er selbst verräth sich bald. Er soll dergestalt, daß es einen Eindruck auf sein Gemüth mache,
einsehen lernen, wie wenig ihm dieses helfe, und wie strafbar es sey. Wenn er sich am sichersten glaubet,
stelle man sich vor ihn, und mit der ersten zo rn igen M iene sage man ihm, daß ein M ensch, der
seine Freunde und V o rg esetzten zu b etrü gen suche, ein B ösew icht sey. Freundlicher werde
er bestrafet, wenn er ohne Tücke und Verstellung böses thut. Doch daß er es nicht vorsetzlich wieder thue!
Ein anderes mal, wenn du ihn auf seinen heimlichen Wegen unvermerkt beobachtet hast - ich rede von
tückischen Streichen - so sage ihm gar nichts. Aber wenn er hernach mit freundlicher Miene zu dir kömmt,
und durch Erzehlungen und Schmeicheleyen sich angenehm machen will: so muß er nur einen einzigen
Blick, den g leich g ü ltig sten B lick des lieblosen K altsinnes von dir erh alten ; und dann
gar nicht einen mehr, so sehr er sich [185] auch darum bemühet. ... Du thust dieß, und sagest es andern,
die ihr Verhalten gegen den Eleve zu ändern haben; wenn viele Bosheit dabey obwaltete. Verdienet
es weniger Ahndung: so mußt du doch erst Proben der Besserung abwarten, bis du ihm deine Liebe
nach und nach völlig w ied er sehen lässest. Aber eben also muß dein entsprechendes Verhalten
seine gute Aufführung u n g elo b t vergelten.
Dieser erst berührte Punct wird weniger zu schaffen machen, bey einem Knaben, der den A llgegen­
w ärtigen fürchtet. ...
[186] Endlich muß die ganze Einrichtung so gemachet werden, daß der Knabe durch zuträgliche
Beschäftigungen immerzu vom Bösen abgehalten wird. Die zunehmenden Kräfte können nicht mehr
unthätig bleiben. Es ist auch für einen solchen Knaben gar nicht befremdend, daß man von ihm verlanget,
er soll denenjenigen in seinen Verrichtungen ähnlich werden, denen er an Gestalt und Kräften immer
gleicher kömmt. Und jemehr er sich dem Alter nähert, wo der ganze Mensch mit allen seinen Kräften
und Begierden rege wird: desto mehr ist darauf zu sehen, daß er nicht müssig gehe*.
[187] Emil war ... von den Unarten seines Alters nicht ganz frey. ... Auch ließ er das Böse, das er sah,
oder hörte, nicht unnachgeahmet, wenn es sich auf einer Seite zeigte, die seinen Alter und Einsichten
schön deuchte. Zu verhindern, daß einem Menschen, der unter Menschen erzogen wird, nie etwas straf-

* Was Cicero off. 1,34. saget: Maxime autem haec aetas a libidinibus arcenda est, coercendaque in
labore patientiaque et animi et corporis, und Horaz A. P.
Multa tulit fecitque puer, sudauit et alsit,
Abstinuit venere et vino;
[187] lautet ganz anders, als wann ein französisch deutscher Hofmeister von der Nothwendigkeit
schwatzet, für den Eleve eine Maitresse zu halten. Arbeitet nur mit ihm ! ...
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 41

Ohren komme, wäre ein unmögliches Unternehmen. Kommt er aus einer zu grossen
Eingezogenheit und strengen Auferziehung in die Welt, so wird er von Allem
geblendet; sein Fall ist unausbleiblich. Glücklich, wenn ein weiser Mentor ihm zu
Hülfe erscheint und ihn aus der Insel der Weichlichkeit fortreisset, ihn in’s Meer der
5 Geschäfte stürzt.
Unter lasterhafte Handlungen zähle man nicht Kindereien, Unarten, die bei
kommenden Jahren sich von selbst verlieren.
X. Capitel.
Durch die Historie führte ich Emil zum Latein an. Hier beschwerte ich mit dem
io Wörterlernen weniger, als sonst gewöhnlich. Nach Erlernung der ersten Anfangs­

bares vor Augen oder zu Ohren komme, wäre ein unmögliches Unternehmen. Ja es ist gewissermassen
gut, daß schon der K nabe, wenn [188] er noch seine Führer zur Seite hat, auch an dergleichen Erscheinun­
gen gewöhnet werde. Wenn er aus einer allzugrossen Eingezogenheit und strengen Auferziehung, wo
aufkeimende zum Bösen abzielende Neigungen mehr unterdrücket als gebessert wurden, auf einmal
sich selbst überlassen, in die Welt kömmt: so werden, indem er äusserlich von allen dem neuen, das er
sieht und höret, geblendet und hingerissen, kaum auf das merket, was in ihm vorgeht, in seinem Herzen
die tyrannischen Leidenschaften, gegen die er sich niemals versucht, nie geübt hat, auf die Trümmer seiner
erlernten Sittensprüche ihren Thron errichten. Sein Fall ist unausbleiblich. Glücklich, wenn etwa bey
einem mislungenen Versuche oder kummervollen Ausgange der Leidenschaft, seine Tugend wieder
ihre Kräfte sammlet und ihn aufrichtet! G lücklich, w enn ein w eiser M en to r ihm zur H ülfe
erscheinet, und ihn aus der Insel der W eich lich k eit fo rtreisset, ihn ins M eer der G e­
schäfte s tü rz e t! ...
[189] Unter lasterhafte Handlungen zähle man nicht K ind erey en , Unarten, die bey kommenden
Jahren gewiß für sich wegfallen. Ich will nicht, daß man sie schlechthin leiden soll, wenn sie der wahren
Wohlgezogenheit eines Knaben zuwider sind, oder böse Gewohnheiten veranlassen können. Aber be­
kümmern oder entrüsten soll man sich deswegen nicht. (Es folgt eine Schilderung gelegentlicher Unarten
des Emil.)
[193] Z ehntes C apitel
Einige Anmerkungen über den ersten Unterricht in den schönen Wissenschaften
... Emil fand in den Compendien der H isto rie und G eographie, mit einem gewissen verwun­
derungsvollen Vergnügen diejenigen Stücke, die er bisher aus seinen Lehrbüchern und Un-[194]ter-
redungen mit mir einzeln sich bekannt gemachet hatte. Er fand sie in Verbindung mit andern, die ihm
noch unbekannt waren; und er machte sich auch diese mit gröster Begierde bekannt. ...
Die grosse Begierde zur Historie, hinderte mich anfänglich, das L atein mit ihm vorzunehmen, wie
ich es schon Willens war. Denn ich hielte nicht für rathsam, mit dieser verdrießlichen Unterweisung
den Anfang zu machen, ehe sein Hang zu jener angenehmem etwas befriediget wäre. Aber eben dieselbe
wurde mir bald darauf ein Mittel, die Erlernung der lateinischen Sprache glücklich zu unternehmen.
(Um Emil einen Beweggrund zur Erlernung der lateinischen Sprache zu vermitteln, habe er ihn vor allem
auf die vortrefflichen Inhalte der lateinischen Bücher hingewiesen.)
[196] Ich werde mich nicht dabey aufhalten, die Methode zu zergliedern, die ich bey dieser Unter­
weisung gebrauchte. Ich bin von dem gemeinen, mir und andern sehr wohl bekannten Verfahren der
Schulen nur darinn abgegangen, daß ich Emilen weniger mit dem W ö rterlern en beschwert und auf-
42 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

gründe führte ich ihn zu den Schriftstellern selbst, besonders zu solchen, wo er die
Historien schon wusste. Ich ging langsam unter immer fortwährender Abwechse­
lung fort.
Schöne Stellen lernte er auswendig. Mit der deutschen Sprache und mit der
Lectüre der neueren fing ich nicht eher an, als bis er die alte recht im Kopfe hatte, 5
welches Verfahren ich auch für das beste halte.
Jetzt musste Emil die O rdnung des Heils im Zusammenhänge lernen. Ich
machte auch einen Anfang in der M athem atik. Im 14. Jahre dünkte mir sehr viel,

gehalten habe, und mehr mit ihm zu den O rig in alen der alten lateinischen Schriftsteller geeilet bin.
Statt des beschwerlichen Wörterlernens, nahm ich, so bald er nur das Decliniren, Conjungiren, einiges
von der Construction und etliche hundert Wörter, dann etwa den vierten Theil so viel Redensarten,
meist aus mündlichem Unterricht erlernet hatte, ausser dem angehenden L ateiner, der ein bestän­
diges Handbuch blieb, alsbald diejenigen B ücher vor, in denen die G eschichten, die er m eist
schon w u ß te, vorkam en. Da konnte die Begierde, sie verstehen zu lernen nicht fehlen. Es waren sol­
ches die lateinischen biblische H isto rien , [197] die Historiae selectae und der Cornelius Nepos. Das
andere, was ich that, war, daß ich sehr langsam gieng. Öfters mündlich übersetzen, niederschreiben, das
Niedergeschriebene wieder in die Grundsprache übersetzen, Fragen mit den Worten des Textes beant­
worten, allein erzählen, erzählen helfen, ohne Buch aufschreiben, die schweren Wörter, die besten Redens­
arten, die leichtesten Beyspiele für die vornehmsten Regeln der Syntaxe auszeichnen — alles dieses wech­
selte bey jedem Stücke eines vorgenommenen Buches, wo wir inne halten konnten, unaufhörlich mit
einander ab. ... [198] Zwey volle Jahre mußte Emil beym Cornelius und den Historiis selectis beschrie­
bener massen zugebracht haben; ehe ich anfieng zur Abwechslung bisweilen einen Brief aus dem Plinius,
eine Fabel aus dem P häder, eine Ode aus dem H o raz, oder eine Ekloge aus dem V irg il vorzulegen.
Und diese mußte er auswendig gelernet haben, ehe was neues vorkam; im buchstäblichen Verstände
auswendig gelernet haben. (Er selbst, der Hofmeister, habe mit dem Zögling gelernt; oft habe es geradezu ge­
schienen, daß Emil ihm den Schriftsteller erkläre.) [200] An V erg leich un g en der A lten m it den N euern
dachte ich um so viel weniger, da ich, verführt durch meinen ehemaligen Lehrer, und durch meine eigene
Erfahrung noch hartnäckiger gemacht, fest entschlossen war, meinen Lehrling vom Lesen der neuern
Schrift-[201]steller, so lange als möglich, zurück zu halten; bis sein Geschmack vorhero recht antik
geworden w äre.----Und also sollte er fremde Sprachen reden lernen, und seine Muttersprache nicht
verstehen?----Ein Kind, das in einem guten Hause erzogen wird, lernet durch die blose Unterredung
seine Muttersprache so weit, daß man diejenige Ausbildung ohne Nachtheil verschieben kann, die dem
Dichter und Redner, oder überhaupt dem guten Schriftsteller, nöthig ist. Wann erst die Alten gelesen
worden sind, dann wird in einem halben Jahre alles reichlich eingebracht werden, was in der neuen Litte-
ratur bisher verabsäumet worden ist. Der Jüngling, der die Alten im Kopfe hat, wird dann auch die Neuern
besser verstehen und beurtheilen können, als ein anderer. (Im folgenden wird weitläufig dargelegt, warum
die Lektüre der alten Schriftsteller derjenigen der neuern, deutschen und französischen, voranzustellen sei. An­
schließend bemerkt Feder, daß er keineswegs der Privatunterweisung einen Vorzug vor den öffentlichen
Schulen zueignen wollte, daß aber Privatunterweisungen andere Anstalten erforderten als die öffentlichen.)
[206] Was das C h risten th u m anlangt: so mußte Emil jetzo die Ordnung des Heils in ihrem Zu­
sammenhänge lernen; dießfalls nicht nur die Beweissprüche aus der heiligen Schrift sich bekannt machen;
sondern auch ganze Bücher derselben mit mir durchlesen. ...
(Es folgt eine Zwischenbemerkung über den Wert des Christentums, als einer Religion, die höher ist, denn
alle Vernunft.)
[207] Ich machte nun auch den Anfang mit der Mathematik. (Es folgen Bemerkungen über die Methode
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 43

die Geometrie zum ersten mal absolvirt zu haben. Philosophie, noch mehr
Logik versparte ich, bis EmiFs Seelenkräfte sich erst recht entwickelt hatten, lang
geübt und von ihm genau gekannt waren. Dabei wurde das Vergnügen der kost­
baren Jugendjahre, Leibübungen nicht vergessen. Beim Lernen gingen wir überall
5 herum, bald in diese bald in jene Stube, bald in den Garten.
XI. Capitel.
In seinem 13. Jahre machte Emil seine erste Reise, wo es immer was Neues, was
Lehrreiches zu sehen gab. Ich traf hier einen Hofmeister an, und machte die Bemer­
kung, beim Antritt einer Stelle müsse man nie mit all zu vieler Weisheit eintreten;
io bei welchem übernatürlichen Charakter man sich nicht erhalten kann. Ich machte

des Mathematikunterrichis und die damit verbundene Übung des Denkens. Abgelehnt wird eine zu frühe Einführung
des Zöglings in die Philosophie und die philosophische Logik.) [209] Machet ihn erst mit den Empfindungen
und innern Erfahrungen mehr bekannt, ehe ihr sie ihm scientifisch erklären wollet! Lasset ihn erst seine
Seelenkräfte recht entwickeln, lange üben, genau kennen; ehe ihr ihn in die Wissenschaft vom Denken
führet!
Da ich thun konnte, was ich wollte: setzte ich das Ziel der Philosophie weit hinaus, dachte an die Wis­
senschaft der Logik am allerwenigsten, lehrte meinen Emil Historie aus den Quellen, und übte seinen
Verstand durch Mathematik. Langsam auch dieses da! Es dünkte mich sehr viel, mit dem vierzehnten
Jahre das Ende der G eom etrie zum erstenmal erreicht zu haben, und noch war in der S tereom etrie
sehr wenig bewiesen worden. ...
[210] Unterdessen gieng weder das Vergnügen der kostbaren Jahre der Jugend, noch die Sorge für
den Körper, über dem Studieren verlohren. ... Wenn die Leibesübungen mit den Übungen des Nach­
denkens, und überhaupt das Leichtere mit dem Schwereren immer abwechselt: so kann man mehr thun,
als manchem möglich scheinen möchte. Zu dem fanden wir gar nicht nöthig, beym Studieren [211]
immer in der Stube zu sitzen, sondern wir sassen, stunden, giengen in den Garten, in der Bibliothek, oder
in der Stube herum, wie es sich schickete. Warum sollten wir diesen Vortheil den alten Philosophen allein
überlassen ?
E ilftes C apitel
Emils erste Reise
Emil, der das dreyzehnte Jahr vollendet hatte, trat jetzo mit mir eine kleine Reise an, von der ich eines
und das andere zu sagen habe. Ich hielt für dienlich, ihm neue Aussichten in die Welt zu verschaffen. ...
(Es folgt die Beschreibung der abwechslungsreichen Fahrt zum Landgut eines verwandten Barons und des Be­
kanntwerdens mit dessen beiden Söhnen und ihrem Hofmeister L. Letzterer wird näher charakterisiert.) [214] Er
nahm seine Fehler leicht gewahr, und er sann beständig und ernstlich auf ihre Verbesserung. In der That
war er sich fast ein zu strenger Richter.
Mich dünket, es ist das auch ein Fehler, wenn man zu vollkommen seyn will; oder um mich genauer aus­
zudrücken, wenn man beym Eintritt in irgend eine Stelle den Anfang zu gut machet, m it allzu vieler
W eisheit e in tritt. Man kann sich nicht bey diesem übernatürlichen Character erhalten; man [215]
läßt Ängstlichkeit und Schaam merken, wenn man irgend einmal dagegen handelt. So bekommen dann
erst verzeihliche Kleinigkeiten, menschliche Schwachheiten, die man nicht würde geachtet haben, das
Ansehen erheblicher Fehler. Man giebt auch andern das Recht, einen strenger zu beurtheilen, wenn man ihnen
allzuviele Erwartung von sich gemachet hat. Ich habe diese Anmerkung öfters als einmal, unter allerley
Umständen, richtig befunden. ...
44 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

aus der Erinnerung an die reizende Gegend auch die Bemerkung: dass wenn der
Jüngling sich zu leben die Erlaubniss, er nur desto mehr Pflicht habe, als M ann
für d ie W elt zu leben. Glückseliger Mann, wenn dir ein Blick in’s Vergangene
nur sanfte Rührung zurückbringt und der Blick in die Zukunft grosse Entschlies-
sungen! 5
XII. Capitel.
Züge zu dem Bilde eines vollkommenen Hofmeisters.
In der Miene und dem Betragen eines Lehrers muss Ernst und Freundlichkeit
untermengt sein.
Sein Charakter muss sich immer gleich sein. Nichts geziemt ihm weniger als einen 10
Spassmacher zu machen.
Das sicherste Mittel sich Hochachtung zu erwerben, ist, dass man sie ernstlich zu
verdienen suche.
In einigen Häusern scheint man von einem Hofmeister zu fordern, dass er Alles
wisse; es gehört eine besondere Kunst dazu, sich mit Anstand in seiner Unwissenheit 15
sehen lassen.

(Es folgt eine Schilderung des gemeinsamen Ferienlebens und der Schönheiten der Landschaft.) Man wird
mir dieß Gemählde, das eben nicht nöthig gewesen wäre, aus Gefälligkeit zu gute halten, als eine Folge
des Ver-[219]gnügens, so mir diese Gegenden ehemals verursacheten. Die Erinnerung an das Vergangene
ist öfters die gröste Glückseligkeit späterer Jahre. ... Aber solche Empfindungen sind auch nur für gewisse
Jahre. Es folget die Zeit, da man weniger an der Empfindung kleben darf, um destomehr hinzusehen
auf das Ziel des Lebens, und auf den Zweck der verliehenen Kräfte. Wenn der Jü n g lin g sich zu leben
die Erlaubniß hatte: so hat er nur desto mehr Pflicht, als M ann für die W elt zu leben. Jetzo ist nicht
mehr die Zeit des Genusses. Sie fleucht hinter ihm, Kindern und Enkeln entgegen. Noch nicht die Zeit
der Ruhe. [220] Sie erwartet ihn am Ende der Laufbahn. Glückseliger Mann, wenn dir dein Blick ins
Vergangene nur sanfte Rührungen zurück bringet, und der Blick in die Zukunft grosse Entschliessungen! ...
[222] Z w ölftes C apitel
Züge, zu dem Bilde eines vollkommenen Hofmeisters nach den Maximen des Herrn L.
(Das Kapitel wird eingeleitet durch weitläufige, mit konkreten Beispielen verbundene Erörterungen über das
Hofmeisterleben. - Die folgenden Grundsätze führt Feder ein als Maximen des ihm inzwischen befreundeten
Hofmeisters L., die er selbst mit gelegentlichen Anmerkungen versehen habe.)
[231] In der Miene und dem Betragen eines Erziehers muß Ernst und Freundlichkeit untermenget seyn.
[232] Sein Character muß sich immer gleich seyn.
Nichts geziemet ihn weniger, als einen Spaßmacher abzugeben. Der glücklichste Einfall zum Lachen
giebt ihm ein Ansehen, das unter seiner Würde ist. Und die Begierde zu lachen und lachen zu machen,
verräth eine Leichtsinnigkeit, die einem Geiste unnatürlich ist, welcher auf sein Herz und auf andere
immer Acht zu geben hat. Das Lachen ist nur für Müßige. Und den satyrischen Spott gebraucht man auch
nicht, Freunde zu bessern; deren Zärtlichkeit man schonen muß.
[Anmerkung:] Ist im Grunde gewiß richtig, wenn es gleich zu stark ausgedruckt scheinet.
Das sicherste Mittel sich Hochachtung zu erwerben, ist, daß man sie ernstlich zu verdienen suche.
Wenn man lange rechtschaffen scheinen will, muß man es wirklich seyn.
Man scheinet in einigen Häusern von einem Hofmeister zu fordern, daß er alles [233] wissen soll, und
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 45

Man muss genaue Ordnung in Kleinigkeiten halten; diese kommen immer vor,
und bilden also durch die beständige Uebung die Gewohnheit von der einen oder
der andern Art. Aber man werde zu keinem pedantischen Eigensinn dadurch
verleitet.
5 Den Ausbruch des Zorns rechtfertigt beim Erzieher nichts, als eine Veranlassung,
bei welcher man mehr als Mensch seyn müsste, um nicht zu unterliegen. Wenn man
einmal fest entschlossen ist, sich nicht mehr zu erzürnen, so erzürnt man sich erst
nicht mehr sehr, und zuletzt gar nicht mehr.
Auch das Herz des Sittenrichters lässt sich oft durch unvermerkte Schwachheiten
io täuschen.
Die liebkosende Zärtlichkeit ist bei der Erziehung eben das Extremum als das
mürrische Wesen. Wie heisst die Tugend in der Mitte: Ernst des Menschenfreundes.
Bei Eleven, die schon Hofmeister hatten, darf man für ausgemacht halten, dass
man sich verstellt. Je ehrlicher und aufrichtiger man zu Werk [geht], desto mehr

staunet ihn an; wenn er etwa eine Frage nicht geschwinde zu beantworten weiß. Es gehöret eine be­
sondere Kunst dazu, sich mit Anstand in seiner Unwissenheit sehen zu lassen.
(Es folgt eine bestätigende Anmerkung.)
Man muß genaue Ordnung in Kleinigkeiten halten. Kleinigkeiten sind die Schutzwehre für die wichtig­
sten Dinge. Lasset man jene über den Haufen werfen: so reisset die Unordnung auch in diesen bald ein.
Kleinigkeiten kommen immer vor, und bilden also, durch die beständige Übung, die Gewohnheit von
der einen oder der andern Art.
[Anmerkung:] Aber daß man auch nicht durch diese Genauigkeit zum pedantischen Eigensinne, zu
[234] einer ungerechten Strenge, zu einem mürrischen Wesen, verleitet werde. ...
Weil man nicht mehr Meister über sich und seine Handlungen ist, so bald man sich dem Zorne über­
lasset: so rechtfertiget den Ausbruch dieser Leidenschaft bey dem Erzieher nichts, als eine Veranlassung,
bey welcher man mehr, als Mensch seyn müßte, um nicht zu unterliegen.
[Anmerkung:] Dieser Spruch ist wahr, aber nicht praktisch genug ausgedrucket. Ich habe wider den
Sturm des Zornes schon verschiedenes erinnert. Hier sage ich nur dieses: es kommt alles auf die Vorstellung
an. Man ist nicht mehr verliebt, habe ich irgend wo gelesen, so bald man es nicht mehr seyn [235] will.
Wenn man, bey gründlicher und oft wiederhohlter Überlegung, einmal mit sich eins geworden ist,
daß man sich nicht mehr erzürnen wolle: so erzürnet man sich, erst nicht mehr sehr, und zuletzt gar nicht
mehr; es mag auch die Veranlassung noch so stark seyn. Ich habe die Probe gemacht.
Auch das Herz des Sittenrichters lasset sich oft durch unvermerkte Schwachheiten täuschen. Die glück­
lichere Bildung eines Eleve vor dem andern machet, nach physischen Gesetzen, in unserer Einbildung
einen angenehmen Eindruck, der sich bis zum Urtheile über seine Handlungen erstrecken, und zu Un­
gerechtigkeiten verführen kann. Hier ist einer von den Fällen, wo man mit Recht sagen kann, daß den
Menschen sein eigenes Herz betrüge. Er kennet nur einen Theil seiner Bewegungsgründe, nicht die ur­
sprünglich veranlassende, nicht die mit bestimmende geheime Regung im Körper oder in der Phantasie.
Die liebkosende Z ärtlich k eit ist bey der Erziehung so gut ein Extremum als [236] das mürrische
Wesen. Keines thut lange gut. Wie heißt denn also hier die Tugend in der Mitte? E rnst des M enschen­
freundes.
Bey Eleven, die schon Hofmeister hatten, darf der neu angehende Hofmeister für ausgemacht anneh­
men, daß man sich gegen ihn verstellet. Je redlicher und aufrichtiger er zu Werke gehet, desto mehr läuft
46 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

läuft man Gefahr betrogen zu werden. Man muss daher von seinem Charakter nichts
blicken lassen, bis man [den] des Eleven ganz ausgeforscht hat. All zu grosse Ver­
traulichkeit bringt Verachtung. Das Vertrauliche besteht darin, dass man sich den
andern in Kleinigkeiten mittheilt, sich in Kleinigkeiten sehen lässt, sich in Kleinig­
keiten einlässet. 5
Wenn kein Mensch ohne Schwachheit ist: so muss doch der Erzieher nicht zu­
lassen, dass der Untergebene seines Vorgesetzten Fehler sich zu Nutzen mache, und
glücklich sei, wenn er ihn bei der schwachen Seite angreift. Menschenliebe muss tief
im Herzen des Hofmeisters eingewurzelt sein, und sich durch seinen ganzen Charak­
ter ausbreiten. Nie wird er sich ein Lob auf Kosten Anderer ertheilen lassen. Viel- 10
weniger Andere verkleinern. Lieber entschuldige er die Fehler seines Vorgängers, als
dass er verächtlich von ihm rede.
Die Kunst des Stillschweigens ist eine der nöthigsten Eigenschaften eines Hof­
meisters. Sein Stillschweigen wird dem Eleven oft fürchterlicher seyn, als eine lange
Strafpredigt. 15
Es ist bisweilen vortheilhaft zu scheinen, als hätte man eine bessere Meinung von
seinem Eleven, als man wirklich hat. Man kann sich nicht leichter irren, als in

er Gefahr, betrogen zu werden. Es wird gut seyn, wenn er von seinem Charakter nicht viel sehen lasset,
bis er den ihrigen ausgeforschet hat. Aber er kann sich irren, wenn er im ersten Vierteljahre damit fertig
zu seyn glaubet.
Allzugrosse Vertraulichkeit bringet Verachtung. Die Vertraulichkeit aber bestehet darinn, daß man
sich den andern in Kleinigkeiten mittheilet.
[Anmerkung:] Oder sich in Kleinigkeiten einlässet, sich in Kleinigkeiten sehen lasset. ...
[237] Wenn kein Mensch ohne Fehler und Schwachheiten ist: so muß doch der Erzieher nicht zulassen,
daß der Untergebene seines Vorgesetzten Fehler sich zu nutze machet und glücklich ist, wenn er ihn bey
der schwachen Seite angreift.
Menschenliebe muß tief in dem Herzen eines Flofmeisters eingewurzelt seyn, und sich durch seinen
ganzen Charakter ausbreiten. Nie wird er sich also ein Lob Wohlgefallen lassen, das ihm auf Unkosten
anderer ertheilet wird. Vielweniger wird er selbst zu seinem Vortheile andere zu ver-[238]kleinern suchen.
Was er ganz gewiß nicht thun wird, ist dieses, daß er von seinen Vorgängern verächtlich spreche; hätte
er gleich Ursache es zu thun. Weit lieber entschuldiget er sie.
[Anmerkung:] ...
Die Kunst des Stillschweigens ist eine der nöthigsten und nützlichsten Eigenschaften des Hofmeisters.
Sie wird ihm durchhelfen, wenn er sich in dem kützlichen Falle befindet, entweder schwarz weiß zu nen­
nen, oder Personen zu tadeln, für die der Eleve Ehrfurcht haben soll. Und sein Stillschweigen wird diesem
auch oft fürchterlicher und nützlicher seyn, als eine lange Strafpredigt.
[Anmerkung:] ...
[239] Es ist bisweilen vortheilhaft, zu scheinen, als hätte man eine bessere Meinung von seinem Eleve,
als man wirklich hat. Denn gleichwie ihn dieses antreiben kann, das zu werden, wofür man ihn schon zu
halten scheinet: also kann er durch das Gegentheil leicht verschlimmert werden. Er wird unempfindlich,
er nimmt sich nicht mehr in Acht. Denn er hat nichts mehr zu verlieren, wenn man schon das ärgste von
ihm glaubet.
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 47

Ansehung der Absicht, die ein Anderer bei seiner Handlung gehabt hat. Und kein
Irrthum kann üblere Folgen haben, als dieser.
Es kommt auf den Hofmeister an, dass ihm die niedrigen Bedienten im Hause
begegnen sollen, wie er will. Gefällige Menschenliebe ist die Tochter der Weisheit,
5 und Würde und Anstand gehen ihr zur Seite.
Wenn man sein bisheriges Verfahren ändert, so muss es unvermerkt geschehen,
und nie so, dass der Eleve merkt, man habe es bisher darin versehen.
Wenn man den Beifall des Eleven haben will, so muss man sich hüten, denjenigen
Leuten zu missfallen, die in seinen Augen wichtig sind.
io XIII. Capitel.
Zu wünschen wäre es einem Hofmeister allemal, dass er sich jene ungezwungene
Miene, jene ruhige Fassung des Gemüths in Gegenwart der Grossen, bei den mannig­
faltigsten Scenen blendender Gegenstände, und jene Leichtigkeit, tausend kleine
Dinge mit gutem Anstande zu verrichten, die in der grossen Welt einen beträcht-
15 liehen Theil der Sitten ausmachen, durch eigenen Fleiss und Nachdenken in der
Studirstube erwerben könnte; man könnte die Eigenschaft von ihm so gut fordern

Man kann sich nicht leichter irren, als in Ansehung der Absicht, die ein anderer bey seiner Handlung
gehabt hat. Und kein Irrthum kann von üblern Folgen seyn, als dieser. Ein Hofmeister insbesondere
wagt dabey das Zutrauen, das man in seine Einsicht sowohl, als in seine Gerechtigkeit, setzen soll, wenn
er zu geschwind ist, [240] die Absicht bey den Handlungen eines Eleven anzugreifen. Man muß sehr be­
hutsam in diesem Punkte gehen, und nicht mehr behaupten, als man beweisen kann. Für sich darf man
das immer merken, was sich hier einem entdecket. Nur muß man sich nicht erlauben, alles sogleich heraus
zu sagen, was man zu muthmassen berechtiget ist.
Es kömmt auf den Hofmeister an, wie er will, daß ihm die niedrigem Bedienten vom Hause begegnen
sollen. Stolz und vertrauliche Geselligkeit werden ihn gleich verächtlich machen. Aber gefällige Menschen­
liebe ist die Tochter der Weisheit; und Würde und Anstand gehen ihr zur Seite.
Es kann geschehen, daß es nöthig und billig ist, sein bisheriges Verfahren gegen den Eleven zu ändern.
Es ist aber gut, wenn es unvermerkt geschieht, und nur nicht also, daß man zeiget, man habe es bisher
darinne versehen.
[241] Wenn man den Beyfall des Eleven haben will: so hat man sich zu hüten, daß man denjenigen
Leuten nicht mißfällt, die in seinen Augen wichtig sind, wofern man nicht machen kann, oder darf, daß
er von diesen eine andere Meinung bekommt.
[Anmerkung:] ...
D reyzehntes C apitel
Noch eine Art von Hofmeistern
... [242] Wenn man jene freye und ungezwungene Miene, jene ruhige Fassung des Gemiithes in Gegen­
wart der Grossen, bey der manchfaltigen Scene blendender Gegenstände, und jene Leichtigkeit, tausend
kleine Dinge mit gutem Anstande zu verrichten, die in der grossen Welt einen beträchtlichen Theil der
Sitten ausmachen, durch eigenen Fleiß und Nachdenken sich in der Studierstube erwerben könnte: so
dürfte man diese Eigenschaft von einem Hofmeister so gut fordern, als andere Talente, die er beym An-
48 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

als andere Talente, die er bei Antritt des Amts mitbringt. Ein Mensch, von dem die
Mägde lächerlich erzählen, von dessen nächtlichem Lärmen die Gassen noch immer
ertönen, der soll es auf geben, Hofmeister zu werden; ein Mensch, der mit Allem,
was Sittsamkeit und Wohlstand heisst, ein unverständiges Gespötte treibt; der sich
durch Beleidigungen ein Ansehn zu geben, durch Grobheiten fürchterlich zu machen 5
glaubt, und sonderlich dem Adel verächtlich zu begegnen gewohnt ist, dessen Gesell­
schaft der Laquai des Hofmeisters nicht wählen würde, den dieser durch bessere
Lebensart beschämte; der Degen, mit dem ein solcher Mensch Alles zu beweisen
gewohnt war, beweist dann nichts mehr.
Die Aenderung solcher Sitten ist gewiss nicht geschwind geschehen. Ein Jahr 10
wenigstens muss ein solcher den Umgang derer suchen, die er bisher verlacht hat.
Er muss eine zeitlang eingezogen und still leben, sich durch Lectüre guter Schriften
bessere Gefühle erwecken. Er muss von Leuten höheren Standes, von Leuten, die
Kenntniss der Welt besitzen, wohlanständige Sitten erlernen. Vor allen Dingen muss
4 heisst möglicherweise von Th verlesen für: heischt

tritte seines Amtes gleich mitbringen muß. (Gerade dies aber sei kaum möglich.) [244] Zu wünschen wäre es da­
her einem Hofmeister allemal, daß er dieses Stück der Lebensart schon in seiner Gewalt hätte, ehe er Führer
wird. Und zu rathen ist einem jeden, der diese Absicht hat, daß er keine Gelegenheit hierinne sich zu üben
versäume.
(Es folgt die Schilderung eines Mannes ohne alle gesittete Lebensart, der sich um die Stelle eines Hofmeisters
bewarb. Feder nimmt dies zum Anlaß, sich an jene Leute zu wenden, die so unbesonnen, so ohne alle Zuberei­
tung, ohne die nöthigsten Vorerkenntnisse, Führer, Lehrer, Hofmeister werden wollen.)
[249] Sie wollen Hofmeister werden, Sie, mein Herr, von dessen Thorheiten die Mägde ein-[250]
ander erzählen; und von dessen nächtlichem Lermen die Gassen noch immer ertönen? Sie, der sie mit
allem, was Sittsamkeit und Wohlstand heischet, ein unverständiges Gespötte treiben; der Sie sich durch
Beleidigungen ein Ansehen zu geben, durch Grobheiten fürchterlich zu machen glauben, und sonderlich
dem Adel unhöflich zu begegnen gewohnt sind. Betrachten Sie sich selbst im Spiegel, und sehen Sie,
ob diese Miene, diese Stellung, wohl ein Muster abgeben können, nach welchem sich ein junger Edelmann,
ein künftiger Hofmann, bilden soll ?
Die Gesellschaft, zu der Sie sich bisher gehalten haben, würde der Laquay nicht wählen, der dem Hof­
meister zur Bedienung gegeben wird. Sie würde dieser beschämen durch seine bessere Lebensart; und
würde unter den Manieren eines Stallknechtes den Hofmeister verkennen. Ihr Degen, womit Sie bisher
zu beweisen gewohnt waren, daß Sie ein vernünftiger, rechtschaffener, Mann wären, und alles was sie
nur seyn wollten, beweiset denn gar nichts mehr. -
[251] Sie wollen ihre Sitten ändern. O, mein Herr, dieß ist so geschwinde nicht geschehen! W o neh­
men Sie denn andere Gewohnheiten her, wenn Sie diese auch gleich, so bald Sie wollten, ablegen könnten ? ...
Noch wenigstens ein Jahr lang müssen sie den Umgang derjenigen suchen, die sie bisher, unter aller­
hand läppischen Benennungen, verlachet haben. Sie müssen eine Zeitlang stille und eingezogen leben,
gute Schriften lesen, wodurch feine Gefühle erwecket, und Sitten ihnen bekannt gemacht werden. Sie
müssen auf diejenigen Acht geben, von denen sie, wegen ihres Standes, wegen der Kenntniß der [252]
Welt, die Sie sich auf Reisen erworben haben, und wegen des allgemeinen Lobes, das Ihnen vernünftige
Leute geben, gute Sitten und eine wohlanständige Lebensart vermuthen können. (Es folgen Einzelrat-
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 49

er sich vor Gelegenheiten hüten, wobei er sich leicht vergessen und in alte Gewohn­
heiten zurückfallen könnte.
Aus dem Namen Gelehrter macht man sich zwar in der feinen Welt nicht viel;
aber gewiss ein Mensch, der nicht Einsichten besitzt, die Gelehrsamkeit heissen
5 mögen, macht da eine ganz schlechte Figur.
Bei Hofmeistern, denen Gelehrsamkeit mangelt, habe ich besonders zween Fehler
bemerkt. 1) Sie verachten, was sie nicht verstehen. Ein Gelehrter und Pedant ist
ihnen einerlei. 2) Wollen solche Herren, um die Langeweile zu vertreiben, auch was
lesen, sie nehmen das nächste Modebuch zur Hand, die seichten am ehesten, weil sie
io von den andern nichts verstehen. Alles, aus Mangel der Beurtheilungskraft, halten sie
für Weisheit. Gewöhnlich werden sie zuletzt - lustige Scribenten ohne Vernunft,
oder Aventuriers.
Ein Hofmeister muss mit fremdem Gelde besser zu wirthschaften wissen, als mit
seinem eigenen. Ein übler Haushalter und ein Betrüger gesellen sich leicht zu-
15 sammen, und wer einer einzigen Betrügerei fähig ist, schickt sich der zu einem
Hofmeister ?

Schläge.) [253] Vor allen Dingen müssen Sie sich vor den Gelegenheiten hüten, wobey Sie sich leicht ver­
gessen, und in alte Gewohnheiten zurück fallen könnten. ...
(Weiter verweist Feder auf einen angehenden Hofmeister, der glaubte, nachlässig im Studieren sein zu können.)
[254] Wenn ich auch zugebe, daß ein Hofmeister nicht nothwendig ein Gelehrter seyn muß: so sind doch
die wenigsten Herrschaften [255] geneigt, einen Ungelehrten dazu zu nehmen. Aus dem Namen Ge­
leh rte r machet man sich in der feinem Welt eben nicht viel; aber wahrlich ein Mensch, der nicht ge­
wisse Einsichten besitzet, die gar wohl Gelehrsamkeit heissen können, machet da auch eine gar schlechte
Figur. (Dies wird näher begründet.)
[257] Endlich habe ich bey solchen Hofmeistern, denen Gelehrsamkeit mangelt, zween Fehler bemerket,
die mich wider sie einnehmen müssen. Sie verachten, was sie nicht verstehen. Ein Gelehrter und ein Pe­
dant, ist ihnen immer einerley. Der Eleve lernet nicht nur nichts von ihnen, sondern er darf nichts lernen,
weil sie nichts wissen. Und er wird, wie sie, durch unverständige Urtheile lächerlich, so oft er Einsichten
zeigen will. Unterdessen wollen solche Herren doch lesen, wenn sie des Müßigganges und ihrer ordent­
lichen, oft wenig rühmlichen Zeitvertreibe, überdrüßig worden sind. So nehmen sie dann jedes Mode­
buch vor die Hand, die schlechten wie die guten, und die seichten wohl am ehesten, weil sie die andern
nicht verstehen. Beurtheilen können sie nichts: so [258] halten sie die schädlichsten Irrlehren für Weisheit,
ein verwegenes gedankenleeres Geschwätz für Philosophie. Unglückliche Verführte und Verführer an­
derer, und zuletzt - lustige Scribenten ohne Vernunft, wie ihre Originale, oder Avanturiers, bisweilen
beydes zugleich. Denn was will man aus ihnen machen ? -
Hier ist wieder ein anderer. Aber nur noch eine kleine Bedenklichkeit hält mich auf, ehe ich es wagen
darf, ihn zum Hofmeister vorzuschlagen. - Minimum est, quod scire laboro; Wissen sie mit Geld um­
zugehen? - O, sie verstehen mich nicht. Das weiß ich wohl, daß sie schon Geld genug ausgegeben haben.
Aber wenn sie mit fremden Gelde nicht besser zu wirthschaften wissen, als mit dem ihrigen, wer wird sie
zum Hofmeister annehmen? (Es folgen Beispiele für mögliches Fehlverhalten.) [259] Ich will das Be-[260]ste
von ihnen glauben, mein Herr. Aber ein übler Haushalter und ein Betrüger gesellen sich leicht zusammen.
Und wer einer einzigen Betrügerey fähig ist, schickte sich der wohl zu einem Hofmeister ? -
50 A U S D ER G Y M N A SIA LZ E IT Exzerpt 2

Besonders muss sich ein Hofmeister vor der sogenannten Galanterie, einen Roman
zu spielen, gänzlich hüten. Es ist eine Neigung, die am leichtesten auch die Freunde
der Tugend berücket, weil sie in der Gestalt der Unschuld erscheinen kann. Aber
alle Laster finden hinter ihr Schutz, wenn sie einmal zur strafbaren Leidenschaft
geworden ist. Was bei Vielen Schwachheit heissen kann, wird bei denjenigen Ver- 5
brechen, die Lehrer und B eispiele der Sitten seyn w ollen.
Es ist leichter, Pflichten der Tugend zu lehren, als Laster zu bestrafen. Für die,
die noch gebessert werden können, halte ich das Büchlein sehr brauchbar: A. F.
Büsching, Grundriss eines Unterrichts, wie besondere Lehrer, Hofmeister etc. sich
pflichtmässig, wohlanständig und klüglich verhalten müssen. Altona und Lübeck 10
1760.
XIV. Capitel.
Project zu einer Ritteracademie auf dem Lande.
Ohne Beweis wird man einräumen, dass bei Erziehung des Knabens bis ins 14.
15. Jahr das Land den Vorzug vor der Stadt habe. 15
8 A.] Th: M.

(Noch eine weitere Unart sei zu behandeln:) Aber aufrichtig, mein Herr, wir sind alleine; wird auch wohl
die Aufwärterin vor ihrer Galanterie sicher seyn. Doch nein, so äusserst niederträchtig sind sie nicht.
Aber würden sie nicht etwa einen Roman mit der Kammerjungfer spielen? (Es folgt die Geschichte eines
Hofmeisters, dessen empfindliches Herz das Leere nicht ausstehen konnte, und immer etwas zu lieben haben
mußte.,) [263] W as bey vielen andern S chw achheit heissen kann, soll er in den Tagen seiner
Besserung oft gesagt haben, w ird bey d enenjenigen V erb rechen , w elche L ehrer und B ey-
spiele der S itten seyn w ollen. Nicht nur wegen des Ärgernisses, das sie geben, sondern auch darum,
daß die Neigung, die es einmal dahin gebracht hat, daß sie sich vor den schönen Sittensprüchen und guten
Lehren nicht mehr entsetzet, nicht mehr vor den heiligen Namen, der Tugend und Pflicht, die derjenige
täglich ausspricht und anpreiset, der ihr Schutz giebt, sich bald vor nichts mehr scheuet, alle gute Re­
gungen nicht mehr empfindet, und ungehindert in jede Ausschweifung ausbricht, zu welcher sie eine Ge­
legenheit reitzet. Zu-[264]mal die Neigung, die am leichtesten auch die Freunde der Tugend berücket,
weil sie in der Gestalt der Unschuld erscheinen kann. Aber alle Laster finden hinter ihr Schutz, wenn sie
einmal zur strafbaren Leidenschaft geworden ist.
Es ist leichter Pflichten der Tugend zu lehren, als Laster zu bestrafen. ... Um einiger willen, die noch
zur rechten Zeit gebessert werden können, habe ich das bisherige gesaget. Und für diese könnte auch noch
ein Büchlein brauchbar seyn, das ich daher nennen muß, A. F. B üschings G rundriß eines U n te r­
richtes, w ie besondere L ehrer und H o fm eister etc. sich p flich tm äß ig , w o h lan stän dig
und klüglich v erh alten m üssen. A ltona und Lübeck 1760. ...
[265] V ierzehntes C apitel
Project zu einer Ritteracademie auf dem Lande
(Die Zeit des Besuches auf dem Landgut - vgl. Kapitel 11 - geht zu Ende. Der Abschied weckt den Wunsch,
beisammenzubleiben; daraus erwächst der Plan einer Erziehungsgemeinschaft, einer kleinen Akademie.,)
[269] Das räumet man doch wohl ohne Beweis ein, daß bey der Erziehung des Knabens, bis [270] ins vier­
zehnte, fünfzehnte, Jahr, das Land den Vorzug vor der Stadt verdiene; wenn es dort nicht an Lehrern
und Gesellschaft fehlet? ...
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 51

Aber ein Landhofmeister allein wird ohne Gesellschaft mürrisch u.s.w. Der Eleve
schmachtet oder verwildert ohne Umgang mit seines Gleichen. In einem District
von 10-12 Meilen in Gegenden, wo der Adel zahlreich ist, kann es 3-4 Häuser geben,
wo es junge Herren giebt, die Hofmeister haben, die mit einander erzogen werden
5 könnten; 8, höchstens 10 Knaben, halb so viel Hofmeister. Auf einem geräumigen
Rittersitz eines patriotisch denkenden Mannes könnten sie sich versammeln und
wohnen; den Ort einer solchen adel. Landschule wünschte ich mir in einer frucht-

[271] Ein einziger Mann, wenn er auch so geschickt wäre, als unter hunderten von den gewöhnlichen
Hofmeistern kaum wenige sind, besitzet nicht Fähigkeit und Kraft genug, alles zu verrichten, was zur voll­
ständigen Erziehung eines jungen Edelmanns, bis er etwa mit Nutzen eine Universität beziehen kann,
erforderlich ist. Fehlte es ihm auch nicht an Geschicklichkeit, und machte man ihm auch solche Bedin­
gungen, daß er sich entschliessen möchte, einen Landhofmeister abzugeben, da er es höher bringen könnte:
so würde er des Umganges mit seines gleichen beraubt, nothwendig verdrüßlich, läßig, mürrisch werden
müssen. Der Knabe hat auch keinen anständigen Umgang; dieß ist noch erbärmlicher. Jener entschließt
sich vielleicht, ein philosophischer Einsiedler zu werden, und nähret sich mit der Lectüre. Bey diesem
leidet die werdende Natur, und das ganze Leben [272] verlieret dadurch. Er muß schmachten, oder ver­
wildern.
(Demgegenüber führe eine Gemeinschaft von drei oder vier Hofmeistern zu gegenseitiger Unterstützung, was
auch den Zöglingen zugute komme.)
Aber ich muß meine Gedanken ausführlicher vortragen, wenn die Brauchbarkeit derselben soll be-
urtheilet werden können; ich nehme in den Gegenden, wo der Adel zahlreich ist, einen District von zehen
bis zwölf Meilen im Umkreise an. So darf ich für wahrscheinlich hal-[273]ten, daß sich in diesem Dis-
tricte drey bis vier Häuser finden, wo es junge Herren giebt, die mit einander erzogen werden können;
oder wenigstens nur in zwo Klassen vertheilet werden dürften. ... Es seyen also sechs bis acht Knaben,
höchstens zehne. Und dazu halb so viele Hofmeister.
Darf ich nicht noch weiter annehmen, daß unter diesen adelichen Häusern, oder sonst in der Gegend
eines seyn werde, wo man patriotisch genug denket, um für die Einquartierung und Verkostung so vieler
Personen sorgen zu wollen? Hier scheinen freylich meinem Vorschläge grosse Schwierigkeiten im Wege
zu stehen. Ich sehe sie wohl, und will sie nicht verschweigen. Aber erstlich kenne ich viele Rittersitze,
wo der Punkt wegen der Wohnungen gar nichts zu schaffen machte. Es giebt da entweder ein Schloß,
das viele entbehrliche Zimmer hat, oder, neben den bewohnten, noch eines, das gar nicht be-[274]wohnt
wird, ohne ansehnliche Häuser, die für adeliche Wittwen, Ortsofficianten, Richter, Pfarrer und Verwalter
erbauet worden, und ganz oder zum Theil leer sind. Oder in den geringem Häusern ist hier und da eine
Stube mit etlichen Kammern, wo ein paar junger Herren mit einem Hofmeister so gut beherberget seyn
würden, als es jetzo nöthig ist. In den zwo geräumigsten Wohnungen versammleten sich die Schüler
zu den Lehrstunden.
(Wo es völlig an geeigneten Räumlichkeiten fehle , finde sich vielleicht ein Patriot, der das Geld zur Verfügung
stelle, um Quartiere für die Akademie einzurichten.)
[276] Nun will ich sagen, was ich mir für einen Ort zu meiner adelichen Landschule wünschte. ...
Einen freundlichen Ort, in einer fruchtbaren Gegend, wo blumenreiche Gründe von hellen Bächen
durchschnitten werden: wo Wälder von mannigfaltigem Grüne dem Schüler der Natur einen sichern
Schatten geben, den Gesängen der Nachtigall zuzuhören, einen Dichter in der Hand. W o nahe Berge
in heitern Frühlingstagen ein ganzes glückliches Land übersehen, und frische Himmelsluft einathmen
lassen. Einen Ort, wo der arbeitsame Landmann seines Fleißes froh wird, und seinen Herrn segnet. - Und
52 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

baren, in einer der anmuthigsten Gegenden, und einen Herrn der Art, der sein ver­
gangenes Leben in der grossen Welt am Hofe, oder bei der Armee zugebracht, der
die Laster wie ein Meteor glänzen und zerplatzen sah.
Ich will jetzt von den Lehrern reden; wir wollen annehmen, es wären 3; diese
muss man der Wahl der Eltern überlassen; aber ist die Schule einmal eingerichtet, so 5
muss das Collegium einen neuen Lehrer und neue Schüler annehmen dürfen. Die
Lehrer zusammen müssen im Stande seyn, Unterricht zu geben, im Deutschen,
Französischen, Italienischen und Lateinischen, in den Religionswahrheiten, in der
Mathematik, Musik, im Zeichnen, Tanzen, Fechten, in der Geographie, Wappen­
kunde, Natur- und Staatengeschichte. Es könnten vielleicht 2 Klassen nöthig seyn, 10
deren Einrichtung ich ungefähr angeben will.
In der untersten soll von einigen deutsch und französisch gelesen werden; von
andern etwas übersetzt. Alle üben sich in der Kalligraphie; der Anfang in der Historie,
Geographie und Theologie wird gemacht.
Die Aeltesten dieser ersten Klasse kommen eine Stunde früher zum Unterricht; 15
des Vormittags 3 Stunden und des Nachmittags 3.
Die oberste Klasse wird in: Historie, Geographie, Theologie, Naturhistorie,
Geometrie und Arithmetik; im Lesen französischer und lateinischer Schriftsteller,
einen Herrn des Orts, der hier ruhig sein Leben beschliessen will, nachdem, er die muntern Jahre im Dienste
der Welt, am Hofe oder bey der Armee, zugebracht hat. Einen Herrn, dem die Wissenschaften im Glü-
[277]cke eine Zierde, und in den Tagen der Prüfung ein Trost waren. Der auf den grossen Scenen der
Welt, das kühne Laster, wie ein Meteor, hat glänzen und zerplatzen sehen; ...
[278] Itzo will ich von den Lehrern reden. Ich will nur erst setzen, es wären dreye. Mit vieren würde
ich noch besser fortkommen. Sind es aber auch nur dreye: so kann ich behaupten, daß aller Unterricht
durch sie wird bestellt werden können, wenn man gehörigermassen gewählet hat. Die Wahl der ersten
Lehrer für meine Landschule muß ich den Eltern überlassen. ... [279] Ist die Schule einmal errichtet: so
muß, wenn ein neuer Lehrer nöthig ist, dem Collegio erlaubt seyn, Subjecte dazu vorzuschlagen, und keiner,
den sie mit Gründen verwerfen, ihnen aufgedrungen werden. Auch muß ihrem Ausspruche überlassen
werden, ob neue Schüler, die sich anbieten, in ihre Gesellschaft können aufgenommen werden...
Die Lehrer zusammen müssen im Stande seyn, Unterricht zu geben im Deutschen, Französischen,
Italienischen und Lateinischen, in den ReligionsWahrheiten, in der Mathematik, Musik, dem Zeichnen,
Tanzen und Fechten; in der Geographie, Wappenkunde, Natur- und Staaten-Geschichte. ...
[280] Ich habe gesagt, daß zwo Klassen nöthig seyn könnten. Mehrere werden nie nöthig seyn. Um
meinen Entwurf nicht zu unvollständig zu lassen, will ich mit wenig Worten anzeigen, wie die Einrichtung
dieser zwo Klassen, und die Eintheilung der Stunden o h n g efeh r gemacht werden könnte.
In der u n tersten Klasse soll von einigen deutsches und französisches gelesen, und von andern etwas
übersetzet werden. Alle üben sich in der Kalligraphie. Der Anfang in der Historie, Geographie und Theo­
logie wird gemacht. Mit dem Latein gespielet, wenn man will. ...
[281] Die ältesten dieser zwoten Klasse kommen eine Stunde früher zum Unterrichte; die jüngsten
eine Stunde später. Für jene dauert er etwa des Vormittags drey Stunden, und des Nachmittags drey:
so wird sich das nöthigste thun lassen. ...
Die oberste Klasse wird, nach Angabe des zehnten Capitels, in der Historie, Geographie, Theologie,
Naturhistorie, Geometrie und Arithmetik, im Lesen französischer und lateinischer Schriftsteller, im schrift-
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 53

im schriftlichen Uebersetzen, in der Ortographie und dem Briefschreiben unter­


richtet und geübt. Die lateinische Stunde sollte in beiden Klassen, wenigstens etliche
Mal der Woche, die erste unter den Frühstunden seyn. Musik und Tanz setze ich in
die Recreationsstunden, das Zeichnen in eine Lehrstunde. In beiden Klassen fängt
5 täglich der Unterricht, Sommers um 7, Winters um 8 Uhr an. Nach dieser Lection
ist eine Viertelstunde Frühstück und eine halbe zur Recreation ausgesetzt. In beiden
Klassen folgt der Religionsunterricht, dann wird wieder x/4 ausgesetzt, so sind
3 Stunden des Vormittags vorbei und 2 waren Lehrstunden. Im Winter kann die
übrige Stunde theils zum Ankleiden, theils in der unteren Klasse zum Lesen und
io Schreiben und Zeichnen angewandt werden. Bei der obern kann in der Geometrie
oder Arithmetik etwas gethan werden. Im Sommer ist noch eine Stunde übrig; diese
gehört zur Historie und Geographie: Nachmittags fängt man mit Historie und
Geographie an, dann folgen Sprachen. 4-5 ist für die Spiele. Eine 1/4 Stunde zum
Ausruhen; so wird wieder gearbeitet, geschrieben und übersetzt. Um 6 Uhr des
15 Abends versammeln sich Alle auf der geräumigsten Stube, wo Zeitungen, neue

liehen Übersetzen, in der Orthographie und dem Briefschreiben unterrichtet und geübet. In der latei­
nischen Stunde, die in beyden Klassen, die erste unter den Frühstunden, wenigstens etliche Tage die Woche
hindurch, ist, könnten benöthigten Falles, die Schwachem aus der obersten Klasse noch in die zwote
geschickt werden; wenn sonst allzugrosse Ungleichheit unter [282] den Schülern seyn würde. Musik und
Tanzen setze ich bey diesen in die Recreationsstunden, das Zeichnen in eine Lehrstunde.
Man wird mich nicht recht verstehen, bis ich die Eintheilung des ganzen Tages mache. In beyden
Klassen also fängt täglich der Unterricht, Sommers um sieben, und Winters um acht Uhr an. Die jüng­
sten der zwoten Klasse können eine Stunde später kommen. ...
Nach dieser Lection ist eine Viertelstunde zum Frühstücke, und eine halbe Stunde zur Recreation
auszusetzen. (Es folgen Hinweise auf verschiedene Möglichkeiten, die freie Zeit auszufüllen.)
[283] Es folget in beyden Klassen Unterricht in der christlichen Lehre. Dann wird wieder eine Viertel­
stunde ausgesetzet. So sind drey Stunden des Vormittages vorbey, und zwo davon waren Lehrstunden.
Noch sind des Sommers zwo Stunden, bis man zu Tische geht; im Winter nur eine. Eine halbe Stunde
muß etwa zur gehörigen Ankleidung frey gelassen werden. Die andere halbe Stunde kann in der untern
Klasse zum Lesen und Schreiben, oder zum Zeichnen, angewendet werden. Die von der obern Klasse
können eben dieses, oder in der Geometrie und Arithmetik etwas thun. Im Sommer ist noch eine Stunde
übrig. Diese gehöret dann in beyden Klassen zur Historie und Geographie. Mir scheinet es bey Anfängern
am besten gethan zu seyn, wenn man auf die Erdbeschreibung eines Landes sogleich dessen Geschichte,
und so dann die Statistik folgen läs-[284]set. Der Nachmittagsunterricht kann vor zwey Uhr nicht an­
fangen. Die Zeit, die vorher noch übrig ist, wird zu kleinen Besuchen angewandt, beym Klavier oder im
Garten zugebracht. Das Studieren fängt mit der Geographie und Historie an. Die folgende Stunde gehöret
den Sprachen. Die Zeit von vier bis fünf Uhr ist für die Spiele. Darauf eine Viertelstunde zur Sammlung
der Gedanken und zum Ausruhen: so wird wieder gearbeitet, abgeschrieben oder übersetzet. Das Ge­
schriebene wird corrigiret und die Regeln praktisch beygebracht. Einige können nach Gutbefinden
unterdessen auch in der Musik geübet werden. Also ist itzo sechs Uhr des Abends. Nun versammlen
/wir uns alle, so viel unserer sind, wenn es Winter oder schlimm Wetter ist, auf der geräumigsten Stube.
Da liegen Zeitungen, neue Brochiiren, man sieht sie an, man unterredet sich, alles ohne Zwang, fast wie
54 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

Brochüren u.s.w. liegen, man erzählt, unterredet sich u.s.w. Bei tauglichem Wetter
geht Alles spazieren; wer zuhören will, dem erzählt man aus der Historie. Diese
Abendstunde ist die wichtigste; die Lehrer geben auf nichts acht, und bemerken
Alles.
Nach dem Abendessen thut man was man will. 5
Zween Nachmittage von den 6 Arbeitstagen werden ausgesetzt; von Sonn- und
Feiertagen sage ich nichts.
Ueberdies ist es nothwendig, dass die Academie einen Vorsteher hat.
Die zween wichtigsten Geburtstage können zu Gelegenheiten in Redeübungen
dienen, oder zu kleinen Schauspielen, wo aber keine Schwänke auswendig gelernt io
werden.

in einem großstädtischen KofFeehause. Ein Hofmeister lieset melodische Poesie oder harmonische Prosa
vor, und ohne Befehl versammlen sich die Lehrlinge vom zärtern Gefühle um ihn herum. Die es nicht
thun, [285] werden deswegen nicht sauer angesehen. Vielleicht wird auch ein kleines Concert aufgeführt.
Bey tauglichem Wetter geht alles mit einander spazieren. Aus der natürlichen Historie werden denen,
die zuhören wollen, Stücke erzählet. Dort bringt einer einen Büschel Blumen, hie suchet einer gefärbte
Steine, zweene laufen einem Sommervogel nach. Alle stehen stille bey einer Nachtigall, oder bey der
Lerche, die steigend ihr Abendlied singet, oder bey einer Quelle. Denen man ein Gewehr anvertrauen
kann, die dürfen auch, wenn sie Lust dazu haben, mit einem Hofmeister auf die Jagd gehen.
Diese Abendstunde ist eine der wichtigsten Stunden. Die Lehrer geben auf nichts Acht, und bemerken alles.
Nach dem Abendessen geht zusammen, was sich zusammen schicket. Die Schüler wählen sich hier
ihre Freunde. Die Hofmeister vertauschen ihre Eleven gegen einander. Man thut, was man will.
Zweene Nachmittage von den sechs Arbeitstagen sind die Lehrstunden ausgesetzet. Da werden Werk­
stätte besuchet, oder Tänze veran-[286]staltet, oder Staatsvisiten abgestattet, oder eine Excursion aufs
Land vorgenommen.
Ich sage nichts von den Tagen, die dem Gottesdienste geheiliget sind. Ein jeder frage sein Gewissen. ...
Die Lehrer brauchen vielleicht selbst eine gewisse Aufsicht, die Akademie einen Vorsteher. Darum
soll erstlich eine Woche um die andere ein Hofmeister oberster Richter in den wichtigsten Streitsachen
seyn. Wie viel praktischen Verstand und Klugheit ein Hofmeister besitze, wird sich hier offenbaren.
Wenn der Herr vom Orte ein Mann ist, wie ich mir ihn erst gewünschet habe, dann ist er der Vater dieser
Landschule. ...
[287] W o bleibt dann die Übung in der Declamation? Sie ist nicht vergessen. Die zween wichtigsten
Geburtstäge im Orte können zu Gelegenheiten dienen, Redeübungen anzustellen, oder ein kleines Schau­
spiel aufzuführen. Man wird sie da keine Schwänke auswendig lernen lassen, wie in einigen Schulen ge­
schieht; auch nicht von Sachen reden lassen, von denen sie nicht mit Anstande reden können, weil sie
nicht verstehen, was sie sagen. ...
Dieß kann genug seyn zur Erklärung meiner Idee. ...
[288] Fünfzehntes C apitel
Emils letzte Studien vor seinem fünfzehnten Jahre
(Das Kapitel beginnt mit einem weitläufigen Gespräch, das der Hofmeister mit Emil nach dem Abschied von
seinen Freunden führt: über die Freundschaft und den Umgang unter Freunden, die gegenseitige Nachahmung und
Beeinflussung, sowie über die Aufgabe und Möglichkeit, einander zu bessern. Durch wahre Freundschaft muß
die Tugend befördert werden.)
Exzerpt 2 PH ILO SO P H IE. PÄ D A G O G IK 55

XV. Capitel.
Emirs letzte Studien vor seinem 15. Jahre.
Vor Allem war uns jetzt N atu rh isto rie; sie sollte vor der Philosophie allemal
vorhergehen. Emil sollte kein Professor werden, er hatte schon vorher auf Spazier-
5 gangen eine Menge nützlicher Sachen gelernt; die in’s Unendliche fortgehende
Classification war nichts für uns. Im Pflanzenreiche begnügte ich mich, ihn die
bekanntesten officinellen Kräuter von den andern unterscheiden zu lehren. Das
Andere, was wir jetzt Vornahmen, waren m echanische Künste. In verschiedene
Werkstätte der Handwerksleute hatte ich Emil schon geführt; ich führte ihn dabei
io auf allerhand Betrachtungen, besonders von Nothwendigkeiten des Lebens u.s.f.
7 officinellen] Th: officiellen

[301] Nachdem wir etliche Tage ausgeruhet hatten, fiengen wir wieder an zu arbeiten. Emil wollte
selbst einbringen, was bisher versäumet worden war; und ich hielte itzt für gut noch einige Beschäffti-
gungen zu den vorigen hinzu zu setzen.
Vor allem war es die N a tu rh isto rie ; ein für sich angenehmes, und in vielerley Absicht nützliches
Studium. Vor der philosophischen Wissenschaft sollte sie, nach meinem Bedünken, [302] allemal vorher
gehen. Die Vorbereitung dazu war schon lange gemacht. ... Schon manches Krautes Natur und Nutzen
hatte Emil von mir beym Spazierengehen gelernet; schon manches Thieres wunderbare Handlungen
erzählen hören, oder selbst beobachtet. Die hauptsächlichsten Erdarten wußte er schon zu unterscheiden.
Schon machte er Versuche mit den Pflanzen; setzte Blumen aus den Gartenbeeten auf das Feld, und Feld­
pflanzen in den Garten, um zu sehen, was der Unterschied der Erdarten für Veränderungen nach sich zöge.
Auch hat er der Arbeit des Gärtners öfters zugesehen, und seine Geschicklichkeiten auszuforschen ge­
sucht. Fragmente genug. Es war Zeit auf das System zu denken.
[303] Aber Emil sollte kein Professor werden. Die fast bis ins Unendliche fortlaufenden Klassifikatio­
nen, die Zeilen langen characteristischen Namen, waren keine Sache für uns. ...
In dem Pflanzenreiche begnügte ich mich, ihn die bekanntesten officinellen Kräuter von denen, die
es nicht sind, unterscheiden zu lehren; ...
(Beobachtungen und Sammlungen seien nicht unternommen worden, ohne Betrachtungen für den Verstand
und für das Herz dabey anzustellen. Ausführlich wird die Frage nach der im Leben der Natur waltenden göttlichen
Weisheit behandelt.)
[312] Das andere, was wir itzo Vornahmen, waren m echanische K ünste. ...
[313] In die Werkstätte der Handwerksleute und Künstler, sowohl in unserm Orte, als in der Nach­
barschaft, hatte ich meinen Eleve schon öfters geführet. Die Neugierde hieß ihn selbst oft stille stehen,
wenn wir irgend wo vor einem Wagner oder Zimmermann, oder Schreiner vorbey giengen. Es war
nicht schwer die Unterredung so bald ich nur wollte, auf die Betrachtung zu lenken, wie viele Leute
für uns arbeiten müssen, und wie übel es mit uns stehen würde, wenn wir alles, was ein jeder von uns
brauchte, allein besorgen sollten. Zwar ließ ich ihn bemerken, daß die wenigsten unserer Bedürfnisse,
die so viele Leute beschäfftigen, nothwendig zu unserer Erhaltung wären. Ein Bauer brauchte anderer
Hülfe sehr wenig, ein Wilder noch weniger. Aber wie sollte es einem Manne vom vornehmen Stande
gehen, wenn er auf einmal seines Vermögens beraubet, oder, wovon Beyspiele genug vorhanden sind,
wenn er in ein Land verwiesen werden sollte, wo er nicht mehr bedienet würde, und sich von seiner
Hände Arbeit nähren müßte ?
(Die weitere Erörterung dieser Fragen läuft darauf hinaus, in Emil die Lust zur Erlernung handwerklicher
Fertigkeiten zu erwecken.)
56 A U S DER G Y M N A SIA LZ E IT Exzerpt 2

Unsere Wahl eines Handwerks fiel auf das Sehr einer werk. Der Plan unserer Studien
wurde jetzt geändert, bloss der Vormittag war für das eigentliche Studieren. Nach­
mittags hatten wir allerhand Beschäftigungen.
Emil fing seit seiner letzten Reise an die Jagd zu lieben; ich ging mit; was mich
aber noch mehr in Verwunderung setzte, er wurde ein Dichter. 5
XVI. Capitel.
Emil wurde indess verliebt. Obgleich Viele anderer Meinung sind, so halte ich
es doch für das Beste, dass ein Aufseher nur immer ein wachsames Auge habe, dass
die Natur sich nicht aus Unwissenheit auf Abwege verirre, die zum schrecklichen
Verderben führen. Ich war lange Zeit ungewiss, ob ich die Sprache der Mienen zu 10
gebrauchen, oder allgemeine Moral oder Umschweife wählen sollte. Ich hielt es end-

[318] Die Werkstätte unseres Ortes wurden noch einmal besucht, und das Schreinerhandwerk ge-
wählet.
Es wurde jetzt auch der ganze Plan unseres Studierens verändert; theils deswegen, weil dergleichen
Abänderungen neue Lust erwecken, theils auch, weil die neuen Beschäftigungen es nöthig machten.
Nur der Vormittag war für das eigentliche Studieren, d. h. für Geschichte nach ihrem ganzen Umfange,
Unterweisung in der Religion, Mathematik, für das mühsamere Lesen lateinischer und französischer Schrift­
steller, Übung im Schreiben und Zeichnen. Des Nachmittags erst Musik, denn BeschäfFtigung mit dem
Naturaliencabinette, mit abwechselnder Unterredung. Darauf eine, oder anderthalb Stunden in der W erk­
statt. ...
[319] Emil fieng an die Jagd zu lieben, seitdem wir von S. zuruck gekommen waren. Ich gieng mit.
Und, was mich in Verwunderung setzte, aber nicht wenig erfreute, er wurde D ichter. ...

[320] Sechszehntes C apitel


Emil wird krank
(Die Beschreibung von Emils Erziehung solle nicht verschweigen, daß auch in seinem Falle der Hofmeister
nicht von dem verschont blieb, was andern Mühe und Sorgen machet.,)
[324] Emil wurde, was ich wohl voraus sähe, daß er einmal werden würde, aber itzo noch nicht er­
wartet, und unter bessern Umständen mir gewünschet hätte - er wurde verliebt.
(Nachdem der Hofmeister dies erfahren, sei er mit sich zu Rate gegangen, wodurch der Sache schleunig und
aufs Beste abgeholfen werden könnte.)
[326] Ich weiß wohl, daß einige der Meinung sind, man müßte mit einem Knaben, der nun in die Jahre
eintritt, wo sich die Natur zu fühlen anfängt, gerade heraus reden von dem andern Geschlechte, und von
der Neigung gegen dasselbe u. s. w. Die Unwissenheit wäre die Quelle der Begierden; ...
Ich weiß nicht, was meine Leser von dieser Lehre halten werden. Ich habe nie Lust dazu gehabt. ...
[327] Doch ich will in einer so delicaten Sache meine Meinung nicht zur allgemeinen Regel machen.
D er A ufseher habe nur im m er, ein w achsam es A uge, daß die N atu r sich n icht aus U n ­
w issenheit auf A bw ege v erirre, die zum schrecklichen V erderben fü h ren . W enig zu
reden b efieh let auch hier die K lu g h eit ganz gew iß.-
Ich war eine Zeitlang ungewiß, ob ich die Sprache der Mienen zuerst gebrauchen, allgemeine Moral
oder Umschweife wählen sollte. Aber nachdem ich genügsame Kundschaft eingezogen hatte; hielt ich
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 57

lieh für’s Beste, die Sache rasch anzugreifen, und redete ihn also ernsthaft an: Emil,
Sie sind auf bösen Wegen, ich weiss Alles, was vorgeht, Sie wissen wohl selbst nicht,
was sie Vorhaben; ich verlange jetzt, dass Sie mir wie bisher glauben und trauen. Ich
habe, damit Sie in solchen Stunden der Vernunft folgen, 15 Jahre mit ihnen zu-
5 gebracht. Und es ist vergebens. Hier änderte ich den Ton: hören Sie, lieber Emil,
weil es noch Zeit ist. - Sie sind auf Wegen, auf welchen schon viele Jünglinge der
Schande und dem Verderben zugeeilt sind, die man für die Tugend aufgezogen hat.
Sie haben nichts Böses im Sinn; das weiss ich, aber auch nichts Gutes etc. etc. Durch
diese Unterredung genass Emil.
io II. Theil.
I. Capitel.
Wir haben Emil bei der wichtigsten Epoche des Lebens [verlassen], in einem
Alter, wo die Empfindung stark, die Begierden dringend, der Geist aber nicht geübt

fürs Beste, die Sache rasch anzugreifen. Als die Vormittags-Lectionen vorbey waren, und Emil zur Stube
hinaus wollte, hieß ich ihn da bleiben; und ernsthaft redete ich mit ihm:
Emil Sie sind auf bösen Wegen. Ich weiß alles, was vorgeht. Sie wissen wohl [328] selbst nicht, was
sie Vorhaben. Aber Sie sind auf bösen Wegen - Fürs erste verlange ich von Ihnen, daß Sie mir itzo, wie
bisher, glauben und trauen. ... Damit Sie in solchen Stunden der Vernunft folgen möchten, habe ich
eilf Jahre mit Ihnen zugebracht, des Tages gearbeitet, und oft eine Nacht hindurch gesorget. Und es ist
vergebens. Sie achten nicht auf Vernunft! -
Hier mußte ich den Ton abändern. Denn Emil war fast ohne Empfindung. Hören Sie mich, lieber
Emil, mein Sohn, weil es noch Zeit is t----Sie sind auf Wegen, auf welchen schon viele Jünglinge der
Schande und dem Verderben zugeeilet sind, die man für die Tugend auferzogen hatte, und von denen ihre
Familie Ehre hoffete. Sie haben nichts Böses im Sinne. O, dieß weiß ich. (Es folgt eine eindringliche Ermah­
nung, auf die Stimme der Vernunft zu hören.) [330] Sie erschrecken über diese Rede? Ja, Emil ich muß sie
wiederholen. Wenn Sie nicht itzo gleich umkehren, und sich wieder in meine Arme werfen, und sich wieder
von mir führen lassen, nicht mehr vor mir sich tückisch entfernen, bis die Gedanken, von denen Sie itzo
voll sind, Ihnen ein Abscheu geworden: so sind Sie verlohren. Sie haben nichts Böses im Sinne. Aber Gutes
auch nicht. Das wissen Sie wohl. ...
[331] So weit diesesmal. Emil genas. Noch eine Hauptunterredung gab es zwischen uns beyden über
diese Sache. ...
Emil genas nach Wunsche; und war eine geraume Zeit gesund am Körper und Geiste. Im Herbste
wurde er von einem Fieber befallen, das gefährlich zu werden schien. ...

Z w ey ter T heil
[3] Erstes C apitel
Vorläufige Betrachtungen über den Character und die Bedürfnisse des Alters,
in welchem Emil nun auftritt
Wir haben bey einer der wichtigsten Epochen des menschlichen Lebens, und unter kritischen Um­
ständen unsern Zögling verlassen; beym ersten Anfalle der gewaltsamsten und unvermeidlichsten der
Leidenschaften. ... Im [4] Alter, wo die Empfindungen stark, die Begierden dringend, der Geist aber
58 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

genug ist, bei vernünftigen Vorstellungen [sich] zu erhalten. Ein Blick, ein Beispiel
überwältigt den ersten Vorsatz.
Die vorzügliche Gefahr dieses Alters hat vorzügliche Hülfe nöthig. Und wo
können wir sie besser finden, als bei der Religion. Jetzt öffnet sich dem Verstände
des aufkeimenden Jünglings das Allerheiligste der Religion. 5
Um Emil zu den Wahrheiten der christlichen Religion nach dem Lehrgebäude
anzuführen, legte ich ihm einen Aufsatz von allgemeinen philosophischen Betrach­
tungen vor, um ihm durch denselben sein eigenes Nachdenken zu reizen.
II. Capitel.
Präliminarien zur vernünftigen und festen Ueberzeugung von der 10
Göttlichkeit der christlichen Religion.
Schon viele Jahre verehren Sie, mein Emil, einen Gott, den jeder vernünftige
Blick auf die Welt mit unüberwindlicher Gewissheit erkennen lehrt. Dass aber die
Lehren der Bibel nichts als göttliche Wahrheiten enthalten, dass wir die natürliche

nicht geübt genug ist, bey vernünftigen Vorstellungen sich zu erhalten. Ein Blick, ein Beyspiel über­
wältiget den besten Vorsatz. ...
[5] Aber die vorzügliche Gefahr dieses Alters hat vorzügliche Hülfe nöthig. Und wo könnten wir sie
besser finden, als bey der Religion ?
Es öffne sich itzt dem Verstände des auf keimenden Jünglings das Allerheiligste der Religion; ... (Schon
früh seien Emil die gemeinsamen Grundbegriffe aller vernünftigen Religionen vermittelt worden.)
[6] Der Prediger des Orts fieng nun an, täglich eine Stunde Emilen die Wahrheiten der christlichen
Religion nach dem Lehrgebäude seiner Kirche in einem ausführlichen und zusammenhängenden Unter­
richte zu erklären. (Der Hofmeister habe sich verpflichtet gefühlt, dabei mitzuwirken und ihm vor allem das Ver­
hältnis der christlichen Religion zur Vernunft darzulegen.)
[7] Ich faßte den Entschluß, einen Aufsatz von allgemeinen philosophischen Betrachtungen über die
christliche Religion ihm vorzulegen, und [8] durch selbige sein eigenes Nachdenken zu reitzen. ...
Z w eytes C apitel
Präliminarien zur vernünftigen und festen Überzeugung von der
Göttlichkeit der christlichen Religion
Schon viele Jahre verehren Sie, mein lieber Emil, einen Gott, welchen jedweder vernünftige Blick
auf die Welt, jedwede ruhige Überle-[9]gung unserer innersten Gefühle, mit unüberwindlicher Ge­
wißheit erkennen lehret; einen allmächtigen gütigen Schöpfer und ewigen weisen Vater. ... Ja Sie haben
auch schon die Lehren von Gott, die der natürliche Verstand erforschet, von denjenigen, die nur mit
dem Zeugnisse der heiligen Schrift bewiesen werden können, unterscheiden gelernt...
Daß aber nichts als göttliche Wahrheiten in den Lehren der Bibel enthalten sind, daß wir es bey jenen
Erkenntnissen der Vernunft nicht dürfen bewenden lassen, sondern die eigenthümlichen Lehren der hei­
ligen Schrift zur Richtschnur unseres Glaubens und Lebens nothwendig annehmen müssen - Dieß, mein
lieber Emil, haben wir bisher mehr vorausgesetzt, als eigentlich bewie-[10]sen; Sie haben es aus Zu­
trauen gegen uns mehr, als aus Einsicht, geglaubt. —
(Eine Untersuchung des wahren Verhältnisses der christlichen Religion zu den Wahrheiten und gegründeten
Vermutungen der Vernunft sei notwendig.)
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 59

Lehre der heiligen Schrift zur Richtschnur unsers Glaubens und Lebens nothwendig
annehmen, das haben wir eigentlich noch nicht bewiesen. Wir wollen nun diese
nachfolgenden Fragen beantworten:
Ist den Menschen eine weitere Erkenntniss von Gott, als sie die Vernunft leihen
5 kann, nützlich und nöthig zur Beförderung der Tugend und Weisheit?
Wenn sich eine unter den Religionen der Völker befindet, die in ihrem Wesent­
lichen nichts enthält, was die Vernunft nothwendig verwerfen müsste, und welche
den Bemühungen, die Vernunft, Weisheit und Glückseligkeit zu befördern, unleug­
bar Vortheile verschafft, muss diese nicht als göttliche Veranstaltung angesehen, und
io allgemein verehrt und angenommen werden ?
Ist die Religion der Christen in ihrem Wesentlichen so beschaffen? Welche Art
von Gründen und Ueberzeugung, welchen Grad der Gewissheit kann man ver­
langen, um sich hiebei zu entschliessen ?
Ein Mensch kann durch seine natürliche Erkenntniss auf ein verständiges Wesen,
15 als den Schöpfer und Erhalter der Welt kommen; ferner auf eine Unsterblichkeit
der Seele, und auf unzählige Beweggründe zum Guten, zur Pflicht. Aber es können

[11] Man kann diese Untersuchung auf vielerley Weise anfangen. Mir scheint sie natürlich und leicht
von statten zu gehen, wenn sie nach folgenden Fragen getheilt wird.
Ist eine mehrere Erkenntniß von Gott, als der natürliche Verstand gewähren kann, für das menschliche
Geschlecht überhaupt, und für einen jeden Menschen insbesondere, zur Beförderung der Tugend und
Glückseligkeit, nöthig, wünschenswerth ?
Wenn sich unter den positiven Religionen der Völker eine befindet, die in ihrem Wesentlichen nichts
enthält, was die Vernunft nothwendig [12] verwerfen müßte, und den Bemühungen der Vernunft, Weis­
heit und Glückseligkeit zu befördern, unleugbar Vortheil verschaffet; muß dieselbe nicht schon darum,
als eine göttliche Veranstaltung angesehn, und aus Liebe zu sich selbst und zum menschlichen Geschlechte
verehrt und angenommen werden ?
Ist die Religion der Christen in dem, was als wesentlich dabey angenommen werden muß, also be­
schaffen? Welche Art von Gründen und Überzeugung, welchen Grad der Gewißheit oder Wahrschein­
lichkeit kann man vernünftiger Weise verlangen, um sich hiebey zu entschließen ?
Ich setze, als etwas, was Sie theils wissen, theils immer mehr einsehen werden, voraus, daß allerdings
der Mensch durch seine natürliche Erkenntniß es dahin bringen kann, daß er ein verständiges Wesen
als den Schöpfer und Erhalter der Welt, und als den unsichtbaren Aufseher unserer Handlungen sich
denket, dem es [13] nicht gleichgültig seyn kann, wie sich ein Mensch aufführt, der vielmehr, nach seiner
weisen Güte, Böses zu verhindern, und Gutes zu befördern, auch Strafen gebrauchen kann und muß,
so lange als zur Beförderung des Guten und Verhinderung des Bösen dieses Mittel nöthig ist; daß er ferner
ein Leben der Seele nach dem Tode des irdischen Körpers, Unsterblichkeit hoffet; und daß er theils hier­
innen, theils in den natürlichen Folgen der Handlungen in diesem Leben, so viele Beweggründe zum
Guten findet, daß, w enn er sich diese Beweggründe, und alle diese Wahrheiten immer gehörig deut­
lich, lebhaft und mit Überzeugung vorstellte, er es nie würde v ern ü n ftig finden können, von dem
abzuweichen, was mit Grunde Pflicht heißen kann, von den Gesetzen der allgemeinen Menschenliebe
und der möglichsten Beförderung der Wohlfahrth und Vollkommenheit des Ganzen.
Aber, mein Liebster, wenn die Kenner und Freunde des Lichtes der Natur bey der Wahrheit bleiben
wollen: so müssen sie zugeben, daß [14] alle diese Erkenntnisse von Gott und dem andern Leben ... doch
60 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

einem bei diesem doch immer, wie es den grössten Männern ergangen ist, Zweifel
u. a. aufsteigen. Auf diesem Wege aber kann man eine nöthige Vollkommenheit
der Gemüthsruhe und der Tugend niemals erreichen. Die alten Philosophen zeigen
in vielen Stellen, wie wenig Beruhigung und Gewissheit sie hatten.

nicht die vollständige Deutlichkeit und Gewißheit, nicht die Evidenz für sich haben, daß nicht gar zu
leicht Dunkelheit sich über dieselben herziehen, Zweifel gegen sie aufsteigen, oder, aus Mangel der Voll­
ständigkeit und Bestimmtheit der Erkenntniß, tausenderley Muthmassungen und confuse Vorstellungen
entstehen; ... Es hat unleugbar unter denenjenigen, die dem blossen Lichte der Natur gefolget sind,
einige [15] gegeben, die für die wesentlichsten Grundwahrheiten der natürlichen Religion ein standhaftes
Bekenntniß abgelegt, und wie man der Billigkeit nach urtheilen muß, ihnen gemäß zu leben sich Mühe
gegeben haben. Aber eben diese Männer haben dabey dennoch theils nicht undeutlich zu erkennen ge­
geben, daß sie die Unvollkommenheit der natürlichen Erkenntniß von Gott einsähen und beklagten,
theils ... sich verleiten lassen, allerhand bedenkliche oder würklich schädliche Zusätze zu den für sich
so wenig genau bestimmten Vorstellungen der Vernunft zu wagen. Viele aber, die auch Männer von tiefen
Einsichten zu seyn scheinen können, ... sind, indem sie dem Lichte der Vernunft folgen wollten, auf die
gefährlichsten Abwege gerathen, Meynungen mit Eifer und Be-[16]harrlichkeit zu behaupten, die dem
eigenen und gemeinen Besten unleugbar entgegen sind. ...
[17] Und dann, mein lieber Freund, wenn wir auch annehmen könnten, daß alle, die von der Ver­
nunft allein sich wollten führen lassen, in den Untersuchungen über Gott und die Natur in den rechten
Weg eingiengen, und immer fort auf demselben blieben, und dadurch so weit in der Erkenntniß es bräch­
ten, als auf diesem Wege je geschehen kann: dürften wir alsdenn auch behaupten, daß sie diejenige Voll­
kommenheit der Gemüthsruhe und der Tugend auf diesem Wege erreichen würden, deren die mensch­
liche Natur hier unten nicht schlechterdings unfähig ist, und [18] welche wir vielleicht bey weitern Unter­
suchungen, durch bestimmtere, mehr gesicherte und weiter fortgeführte Religionserkenntnisse hie und
da bewirket finden können ?
... Mit einem Worte, die Tugend hat [19] zu ihrer Unterstützung und Ausbildung die Vorstellungen
der Religion nöthig. ...
[20] Daß wir bey unserer Religion mehr Beruhigung finden, als wir ohne dieselbe nicht haben
zu können nun vermeynen, entscheidet hierinne nichts, wenn zumal unsere Religion uns auch erst
Ursachen der Furcht eröffnet, die der sich selbst überlassenen Vernunft unbekannt geblieben wären.
Eine solche Unruhe, wie wir bey den Weltweisen zu erwarten durch unsere Religionsbegriffe leicht ver­
anlasset werden können, findet sich doch erweislich nicht beym Sokrates, P lato, E p ik tet und A n­
tonin. ...
[21] Aber dennoch lässet sich auch nicht wohl annehmen, daß bey der Ungewißheit und Un-[22]
Vollständigkeit der natürlichen Erkenntniß eine solche Beruhigung statt finden könnte, wie alsdenn,
wann sichere Zusagung von Verzeihung und Gnade, und väterlicher Liebe und Fürsorge in Zeit und
Ewigkeit vorhanden sind. Auch ist Grund vorhanden zu zweifeln, daß jene Beruhigung der Weltweisen
feste, stete Überzeugung war, und nicht vielmehr wankende Überredung und unbeständige Hoffnung,
die sich auch vielleicht in ihrer Schwachheit nicht am liebsten sehen ließ. Es fehlt ja nicht an ausdrück­
lichen Erklärungen dieser Männer, aus welchen genug-[23]sam erhellet, wie wandelbar ihre Hoffnungen
waren, wie weit unter der Zuversicht, die wir kennen. ... Aber wenn dieß der natürliche Zustand der
Tugend und Glückseligkeit der weisesten, der aufgeklärtesten Menschen ist: wie wird es mit der ungleich
grossem Zahl derjenigen aussehen, die nicht Zeit, nicht Kraft oder Neigung haben, ihren Verstand durch
eigenes Nachdenken aufzuklären; oder bey denen die Leidenschaften stärker sind, als die blosse Vernunft?
(Dies wird noch näher erörtert.)
Exzerpt 2 P H ILO SO P H IE . PÄ D A G O G IK 61

Die zweite Frage, was man von einer Religion halten solle, die den Bemühungen,
die Vernunft, Weisheit und Tugend zu befördern, unleugbar Vortheile verschaffte,
und in ihrem Wesentlichen nichts enthielte, was die Vernunft nothwendig ver­
werfen müsste ? Ein Mensch, der sich lange durch ein Labyrinth, worin er sein Herz
5 unter den Einflüssen der Laster kaum rein und lauter erhalten konnte, hindurchwand,
wird sich gewiss einem rechtschaffenen Manne zugesellen, der alles Schöne und
Erhabene mit Ueberzeugung lehrte, und nichts, was die Vernunft beleidigte.
Wer an der Göttlichkeit einer Religion zweifelt, weil er ihr A usserw esentliches
nach den Begriffen eines Zeitalters und ursprünglich eingerichtet und durch mensch-
io liehen Wahn verdienstlich findet, hat seine Grundsätze nicht hinlänglich überdacht.
Wenn eine Religion Glauben fordert, wo sie der ausgemachten Vernunftwahrheit
9-10 und ursprünglich ... findet] In diesem Satz scheinen sich Versehen Hegels (überflüssiges und nach
Zeitalters,) und Lesefehler Thaulows (Verdienstlich für verunstaltet,) verbunden zu haben 10 Grundsätze]
Th: Gründsätze

[27] Nun wollen wir die andere Frage untersuchen: Was man von einer Religion zu halten hätte,
die den Bemühungen der Vernunft, Weisheit und Glückseligkeit zu befördern, unleugbar Vortheil ver­
schaffte, und in ihrem Wesentlichen nichts enthielte, was die Vernunft nothwendig verwerfen müßte? ...
Wenn ich beym Nachdenken über meine Be-[28]stimmung und Pflicht mir selbst überlassen den Ge­
danken gar nicht hätte, daß den verlassenen Sterblichen noch ein anderes Licht leuchtete, als das Licht
der Vernunft; und ich hätte die Schwäche meines Verstandes, Wahrheit und Einbildung bey diesem
Lichte zu unterscheiden, oft empfunden; und mich hätten oft die Labyrinthe ermüdet, in die die Forschung
mich verführt, und oft hätte da vor Ungestalten und Schreckenbildern mein Blick sich entsetzt; oft er­
fahren, wie schwer es wird, unter solchen Einflüssen das Herz immer lauter und ruhig zu erhalten; und
ich fände dann einen Mann von rechtschaffenem Wesen, der alles, was meine Vernunft erhabenes und
gutes je zu erkennen vermochte, und vieles noch, was darüber geht, aber dem doch gut zu Statten kömmt,
mit Überzeugung lehrte, und nichts was die Vernunft beleidigte; und ich fände, daß diejenigen, die seine
Lehren annehmen, bessere Menschen würden, und ich fühlte selbst Eifer in Guten und Geisteserhebung
in [29] mir durch denselben bewirket: diesem Manne würde ich mich zugesellen, als einem, der mehr
gute Erkenntniß empfangen hätte, als ich; und sein Licht mir leuchten lassen; nicht meine Überzeugung,
aber meine Zweifel gern ihm aufopfern, und Gott danken. ...
(Eine von Gott durch Wunder gestiftete Religion müsse sich doch immer auf menschliche Weise darbieten,
nach den Begriffen des Zeitalters sich bequemen und einschrenken.j [30] Wer also an der Göttlichkeit einer
Religion zweifelt, weil er ihr A ußerw esentliches nach Begriffen und Schwachheiten eines Zeitalters
ursprünglich eingerichtet, und hernach durch Men-[31]schenwahn sie verunstaltet findet, hat seine
Grundsätze nicht hinlänglich überdacht.
Was wesentlich ist oder nicht bey einer Religion, entscheidet freylich der allzukühne Unglaube eben
so leicht falsch, als der furchtsame Aberglaube, oder der herrschsüchtige Gewissensmeister. Aber zum
Entschlüsse des redlichen Forschers ist es genug, wenn er nur einsieht, daß eine Religion, die ihm ehr­
würdig und annehmungswerth scheinet, ihm nirgends die Pflicht aufleget, dasjenige für Wahrheit an­
zunehmen, was die Vernunft unbrauchbar und das Gewisseste ungewiß machen würde. Wenn eine Reli­
gion Glauben forderte, wo sie den ausgem achten V ern u n ftw ah rh eiten widerspräche: so könnte
der Glaube vom Aberglauben nicht mehr unterschieden werden; und worauf wollte denn die Religion
62 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 2

widerspräche, so kann der Glaube vom Aberglauben nicht mehr unterschieden


werden.
Wenn nun alles Gute von Gott kommt, braucht man keinen anderen Beweis, um
eine Religion für ein Werk der göttlichen Providenz zu halten, als ihre innere Güte,?
Ob bei ihrer Entstehung alles aus natürlichen Ursachen begreiflich ist, ändert ihren 5
inneren Werth nicht.
Obschon unsere Vernunft die Wunder nicht begreifen kann, so müssen wir doch
theils durch die Zeugnisse glauben, und auch theils ohne diese kann die Vermuthung
derselben aus den grossen Umständen entstehen.
Von dem, was in einer besondern Gemeinde gelehrt wird, hat nicht alles gleiche 10
Gewissheit.

die Beweise ihrer Wahrheit gründen? (Hier folgen in einer ausführlichen Fußnote begriffliche Erläuterungen
zu dem Ausdruck ausgemachte Vernunftwahrheiten J
[32] Wenn denn nun alles, was gut ist, von Gott herkömmt, braucht es einen andern Be-[33]weis,
um eine R eligion für ein W erk der g ö ttlich en P rov id en z zu h alten, um [34] als eine gött­
liche Wohlthat sie zu verehren und zu gebrauchen, als ihre innere Güte ? Ob [35] mir bey ihrer Entstehung
und Ausbreitung alles aus natürlichen Ursachen begreiflich ist, oder nicht, ändert ihren innern Werth
selbst nicht.
Aber wenn zum Lehrbegriffe einer Religion dieß mit gerechnet würde, daß sie durch übernatürliche
Wirkungen entstanden sey; ... so ist es nur um so viel besser, um die schwärmende Phantasie und un­
gebundene Zweifelsucht dem festen Glauben [36] zu unterwerfen. Denn die Vernunft giebt uns keines­
wegs solche Begriffe von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit wunderbarer, aus den gemeinen Natur­
gesetzen nicht zu begreifender Eräugnisse, daß unser Beyfall durch die Voraussetzung derselben schlechter­
dings gehindert werden müßte. Die Philosophen müssen gestehen, daß sich auch von den alltäglichsten
Begebenheiten und den gemeinsten Naturgesetzen am Ende kein anderer letzter Grund angeben lässet,
als der göttliche Wille. Und obgleich der vernünftige Begriff von dem göttlichen Wesen so wohl als die
Erfahrung es so mit sich bringt, daß wir Erscheinungen, die wider die gewöhnlichen Kräfte und Wirkungs­
gesetze der Natur sind, nicht leicht erwarten oder glauben dürfen: so kann uns dennoch nicht nur das
Zeugniß des eigenen Sinnes, sondern auch das Zeugniß anderer, wenn nemlich die Unwahrheit desselben
unnatürlicher scheinen müßte, als die bezeugte Sache, ein Wunder zu glauben natürlicher Weise bestim­
men. Ja wie in andern Fällen historischer Untersuchung, die sonst ausgemachten [37] Umstände, die gleich­
zeitigen Eräugnisse und die bewirkten Erfolge, etwas unabhängig von dem Gewichte der Zeugen glaub­
würdig machen können: so kann auch aus solchen Umständen, vermöge der Begriffe vom Laufe der
Natur und der Grundgesetze der göttlichen Regierung, die Vermuthung außerordentlicher göttlicher
Veranstaltungen und Wirkungen, ohne Rücksicht auf Zeugen derselben entstehen. ...
(Man könne ein Christ sein, ohne von dem Lehrbegriffe irgend einer der Gemeinden, die sich zur
christlichen Religion bekennen, völlig abzuhängen. Dies wird im einzelnen ausgeführt.) [40] ... diese Be­
trachtung sollte nur dazu dienen, uns bemerken zu machen, daß, wie in der menschlichen Erkenntniß
überall, also auch von dem, was in irgend einer christlichen Gemeinde gelehrt wird, nicht alles gleiche
Gewißheit habe; ...
[41] Wenn wir denn nun die Hauptlehren des Christenthums untersuchen, und mit unsern vorher ent­
wickelten Grundsätzen Zusammenhalten; [42] wird es uns de^n lange zweifelhaft bleiben, ob sie die an-
nehmungswürdigste aller Religionen, die unter den Menschen zum Vorscheine gekommen sind; ob sie
eine göttliche Veranstaltung sey, göttliche Kraft und göttliche Weisheit enthalte oder nicht?
Exzerpt 2 PH ILO SO PH IE. PÄ D A G O G IK 63

Die christliche Religion enthält alle Theile der natürlichen Religion, aber mit einer
Bestimmtheit und Gewissheit, die über die Vernunft geht, die man also in den Lehren
aller Philosophen nicht antrifft:.

Sie enthält alles, was die Religion der Vernunft ausmacht, wenn sie aus den besten Schriftstellern zu­
sammengelesen wird; aber sie enthält alles mit einer Bestimmtheit und Zusicherung, die über die Ver­
nunft geht. Man vergleiche über die Einheit Gottes, die Fürsehung und Bestimmung des Menschen, die
Aussprüche der Bibel, und die Lehren und Beweise eines Philosophen, welchen man will. Man vergleiche,
und wähle - wähle für sich und die Welt! ...
64 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 3

E x c e r p t a e P r a e f a t io n e J o h . M a t t h . G e s n e r i G o t t i n g . E l o q .
et P o e s . P.P.O. a d L i v i u m e x e d i t i o n e c u m n o t i s J o . C l e r i c i .
L ip s ia e . W e id m a n n . 1 7 3 5 .
6.-17. Februar 1786.

Lectio est vel stataria vel cursoria. 5


2. Lectio stataria est duplex, neutra contemnenda; altera circumscribenda
angustioribus terminis; altera juventuti magis, quam fit, frequentanda.
3. Prior est interpretum veterum qui undecumque conducerent ex omni memoria
atque monimentis omnibus, quicquid ad explicandum aliquem auctorem pertineret.
In hoc genere princeps forte Eustathius Asconius Pedianus, Macrobius in alio 10
genere clariores, breviores Donatus, Servius, alii.
9 atque] Th: atq. 10 Eustathius] Th: Eustachius

Cum praefandi ista prouincia eo nobis tempore esset imposita, quo, collectis iam sarcinis, et inclusa
arcis libraria supellectili, in procinctu essemus migrationis Gottingam suscipiendae causa: nec postea in
hac ipsa vrbe propter multas alias occupationes, vel nostras copiolas statim redigere in ordinem suum
possemus, vel alienis thesauris frui, quibus vel publicis vel priuatis hanc vrbem mox ita instructam vide-
bimus, vt nulli facile Academiae concessura sit: visum est, seposita interim de Liuianis quibusdam locis
atque rebus disputatione, de eo argumento pauca disserere, quod et expediri aeque bene sine librorum
praesidio posset, nec a Liuii emtoribus abhorreret. De celeri ergo quam plures iam dixere cu rsoriam ,
bonorum ex antiquitate librorum lectione commentabimur, vt cum altera eam comparemus tardiore
et curatiore, quam statariam interim vocare liceat, et quid praesertim in priore illa boni insit paucis
demonstremus.
2 Scilicet duplex ista legendi antiquos libros ratio fere obtinet neutra plane contemnenda, sed altera,
quod nobis quidem videtur, circumscribenda angustioribus paullo terminis, altera magis quam vulgo
fieri a iuuentute solet, frequentanda. Quae tardius ingreditur lectio, ea nec ipsa vnam habet rationem,
sed in duplici minimum est, pro diuerso Scholarum gradu differentia.
3 Primum enim quo tempore deflcere eruditio ex ipsis hausta fontibus ccepit, et rariores esse, qui
omne scriptorum antiquorum genus ipsi peruolutarent; superessent tarnen, qui vnum aliquem cognoscere
atque intelligere vellent; exortum est genus interpretum, qui vndecunque conducerent ex omni memoria
atque monumentis omnibus, quidquid ad explicandum illum pertineret: vt scilicet qui reliquo doctrinae
apparatu carerent, et subiicere sibi non possent ea, quibus Opus est ad percipiendam illius sententiam,
aliorum labore ingenioque subleuati nihil eorum ignorare cogerentur. In hoc genere Eustathius forte
principatum obtinet, quanto recentior scholiastes, tanto caeteris fere plenior et praestantior: qui cum esset
Episcopus, illam varie interpretandi sanctos libros rationem ad poetam principem transtulit. Quae enim
ad Ciceronem Asconius Pedianus, quae Macrobius ad eundem commentati sunt, illa ex alio sunt genere
multum castigatiora, et ad rerum potius, vel ab antiquitate, vel a sublimitate abstrusiorum declarationem,
quam ad verborum origines, vsum, familias explicandas comparata. Breuiores etiam Donatus, Seruius,
caeteri.
Exzerpt 3 E PRA EFA TIO N E GESNERI 65

4. Et alii fuerunt, qui praelectionibus amplis, et ad doctrinae non vulgaris, ut


tum erant tempora, ostentationem comparatis libros veteres explicarent. Excellent
Mancinelli, Beroaldi, Calderini, Ascensii praelectiones, prae ceteris omnibus Nie.
Perottus, Sipontinus episcopus, postea Salmasii portentosum et immodicum opus
5 Plinianarum in Solinum exercitationum. In paullo moderatiore, optimo tarnen
veteres explicandi genere principatum fert Joh. Rud. de la Cerda in Virgilium.
5. Hunc morem secuti humaniorum literarum professores in publicis scholis, nil
praetermittentes, quae ullo modo vel per ambages adauctorem trahi posse viderentur;
et alia praesidia adhibuerunt.
io 6. In humilioribus scholis, ubi nunc idemque auctor bis aut ter perlegi et diverse
pro profectus ratione explicari solet, non una deinde repetitionis, imitationis, et
applicationis ratio succedit, qua, ut ajunt, in succum et sanguinem vertatur.
3 Ascensii] Th: Ascenscii

4 Sub felicem illam literarum instaurationem fuerunt, qui praelectionibus amplis, et ad doctrinae non
vulgaris, vt tum erant tempora, ostentationem comparatis libros veteres explicarent. Mancinelli, Pomponii,
Beroaldi, Calderini, Ascensii praelectiones magno Studio audiebantur, et bibliothecas ad huc rumpunt
Volumina. Eminet hic Nie. Perotti, Sipontini episcopi, diligentia, qui, vt librum vnum Martialis illustraret,
totos Latinae linguae atque eruditionis thesauros profudit, et cornu copiae dedit, vnde omnia fere
peti possunt, quae ex lexicis nunc promuntur, quorum illud cornu copiae riuulos auxit non mediocriter.
Huic qui comparari mole quidem operis posset, de his loquor, qui classicum quos vocamus librum expli-
carunt, postea non extitit, donec Salmasius portentosum nobis opus Plinianarum in Solinum exercitatio­
num daret. Sed hic neque eruditionis, neque digressionum modum seruauit. In paullo moderatiore, sed
amplo tarnen et copioso, commentandi et explicandi bonos libros genere, principatum fert, si quid iudicare
possum, Jo. Rud. de la Cerda, cuius in Virgilium commentariis quid absolutius fieri possit non video.
5 Hunc igitur morem secuti humaniorum literarum professores publicas in bonos libros recitationes
ita fere instituunt, vt quantum possunt maximum doctrinae apparatum ad eam rem conferant, neque
quidquam praetermittant indictum, quod vllo modo vel per ambages eo trahi posse videatur. Si qui ab
opibus suo Studio collectis destituantur, at ii commentarios aliorum, Lexica, et id genus praesidia adhibent,
perficiuntque dictatis suis, vt magnos thesauros sibi impertitos iuuentus arbitretur: neque carbones esse
dixerim equidem; sed opes nonnunquam putauerim aliunde minore cum temporis iactura comparandas.
Hoc vnum genus statariae quam dicere ausi sumus, lectionis est.
6 Alterum adiungimus, in scholis humilioribus vsitatum. Hic vnus idemque auctoris locus solet bis
aut ter adeo praelegi et a discipulis in binos aut ternos ordines pro profectus ratione diuisis explicari. Succe­
dit deinde non vna repetitionis, imitationisque et applicationis ratio, qua in succum, ita aiunt, et sangui­
nem vertuntur verba ac sententiae scriptoris. Quae omnia faciunt, vt mediocris admodum locus vna hora
pertractetur: Anni vero impendantur libro, vt hoc vtar, vni epistolarum Ciceronis aut officiorum inter-
pretando; fabula autem vna Terentii, aut liber vnus Caesaris, in tot distrahatur minutas particulas, vt vel
optima memoria vix sufficiat ad comprehendendam animo rerum ipsarum continuatam seriem.
7 Et qui fieri possit ? Informemus age apud animum nostrum Absyrti illam a sorore sua concisi fabulam:
fingamusque illam non tota fratris membra dissipasse, non proposuisse in alto scopulo Pallentesque
m anus sanguineum que caput. Sed articulatim concidisse fratrem, vt hic quidem dimidiatum oculum
/abiieeret, cuius altera pars alio in loco requirenda esset, tum auriculam dextram longe inde poneret, ac
nasum tertiatum, supercilii partem, digitum auricularem, quin vnguem, et praeputium adeo, ita disper-
66 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 3

7. Ita auctor adeo discerpitur, ut ne suspicari quidem de eo liceat, quis sit.


8. At potestne fieri, ut adolescens etiam non ab ingenio et memoria destitutus,
particulas ita explicationibus onustas praesentes animo servet, et cogitatione inde
inter se devinciat, ut corpus qualecunque demum effmgat, ut quid legerit, meminisse
possit, vel admonitus recordari historiae ? i
9. Jube aliquem et industrium adolescentem ex auctore suo narrare aliquid,
aestuabit, haerebit.
10. Ex hoc fonte repetendus est stupor ille paedagogicus, cum videas
homines, versatos bonam aetatis partem in contubernio quasi sapientissimorum
omnis aevi hominum, nihil praeter verba retulerunt, quos par erat cogitare, ut io
illos, argumentari, loqui.
11. Tanto minus fieri potest, ut in ea tarditate aliquis veram formam et pulchri-
tudinem hauriat libri alicujus, atque animo comprehendat.
12. Per illam autem dissectionem et dissipationem partium, quia notitia rei
tractatae intercipitur, languescit; aut exstinguitur legendi cupiditas, quae ad even- 15
tum festinat, et totum quäle sit cognoscere cupit.

geret, vt interuallo satis longo a se disiecta essent omnia: potuitne, oro vos, suspicari pater, hunc esse filium
suum? non magis profecto, quam opticarum rerum imperitus distractain eius, quam avoc[ji6p9co<7Lv vocant,
ope imaginem ac deformatam colügere ?
8 Sed an non simillima est ratio, qua tractantur vulgo, in bonis etiam scholis et illustribus, boni libri ?
Hodie legitur pensum minutissimum: singulae voces explicantur, distrahuntur a se inuicem magnis inter-
uallis periodi: octauo aut si omnes D I adiuuent, quarto tertioue die reditur ad eundem librum, et alia illius
particula simili arte in suas sibi minutas minutias secatur. Potestne fieri, vt aliquis adolescens etiam ab
ingenio et memoria non destitutus, particulas explicationibus praesertim suis onustas atque tumidas, ita
praesentes animo seruet, ita inter se cogitatione deuinciat, vt corpus vnde, non formosum dicam, sed
vnum qualecunque demum effingat, vt quid legerit meminisse possit, vt vel admonitus recordari historiae ?
9 Nihil dico, quod praesentissimis exemplis et periculis confirmare vnusquisque possit. Sume, qui
dubitas, in tali schola formatum quemcunque, laudabilis etiam industriae adolescentem, sed qui non nisi
in schola legerit, audierit, Cornelium Terentiumque; iube eum narrare, quid Themistocles egerit? quis
vir Atticus fuerit? quod argumentum sit Andriae? aestuabit, haerebit, inique, si D I s placet, secum agi
putabit.
10 Quin aut vehementer fallor, aut ex hoc fonte repetendus est stu p o r ille, qui in prouerbium fere
abiit paedagogicus, cum videas homines, qui bonam aetatis partem in contubernio quasi hominum
omnis aeui sapientissimorum versati, nihil tarnen ex illo praeter verba retulere, quos tarnen par erat similes
illorum fieri, h. e. cogitare vt illos, argumentari, loqui. Sed nunc de iuniorum aetate atque studiis nobis
sermo est, quibus prodesse istam disputationem optamus.
11 Tanto minus fieri potest, vt in ea quam diximus, tarditate aliquis veram formam et pulchritudinem
hauriat libri alicuius, atque animo comprehendat, quia, quo quis ingeniosior est, eo fert molestius se
m ouere quidem , quod ait ille, sed non p ro m o u ere: cum praesertim praeter ambages reliquas,
eundem locum bis, ter, aut quater adeo audire cogatur.
12 Ex eo ipso autem, quod rei aut negotii de quo tractatur notitia, per illam tanquam dissectionem
et dissipationem partium intercipitur; illud magnum incommodum consequitur, vt languescat, vel ex-
Exzerpt 3 E PRA EFA TIO N E GESNERI 67

13. Et juventus Homerum et alios horret, quia magnam eorum partem deinceps
et uno quasi spiritu nunquam legit, unde de toto corpore judicare posset, et eventus
exspectatione solicitari.
14. Nos cum Terentium explicaremus, et id maxime ageremus, ut quomodo verba
5 essent personis accommodata, et quantus morum artifex esset Terentius, osten-
deremus, et ita in ea re versaremur, ut fabulas omnes intra paucissimorum mensium
spatium absolveremus; hic hiantes videres auditores, tacentes, intentis oculis, auri-
bus, animis adsidentes: subridentes etiam, et voluptatem animi fronte, oculis,
ore, prodentes; cum in rem praesentem eos deducerem, ut ipsi in scena sibi versari
io media viderentur.
15. At Phoenissarum Euripidis, cum major pars in verbis nimis haerebat, longe
alia erat ratio; hiabant oscitatione; tacebant propter somnum.
16. Et sane fieri vix potest, ut intelligere discat antiquos libros, qui in stataria

tinguatur legendi voluptas, quae ea praesertim re continetur in aliis libris, quod ad euentum festinamus,
quod totum quäle sit cognoscere cupimus.
13 Cum ea vel sola illecebra sufficiat vt Telemachos, Robinsonios, Gulliueros, deuorent homines
minime alioquin acres, et nisi perlectos non deponant: tum Homerum, Virgilium, Plautum, Terentium,
Ouidium, Suetonium, Curtium, non minus iucundos scriptores negligit, quin horret iuuentus, quia ma­
gnam eorum partem deinceps et vno quasi spiritu nunquam legit, vnde de toto corpore iudicare pos­
set, et euentus expectatione solicitari.
14 Non molestum, spero, erit lectoribus, certe ad hanc nostram disputationem apprime facit, me
commemorare, quid tum alias aliquoties, tum in Schola Thomana Lipsiensi (cui faueat Deus) nuper ob-
seruauerim. Explicabantur eodem tempore Terentii fabulae, et Phcenissae Euripidis. Vtrumque a me
petierant iuuenes quidam. Vtrumque pari alacritate aggrediebantur, adeo vt Phoenissarum initia TpocycoSeiv
vnus itemque alter inciperet, et totas se ediscere veile minarentur. Iam in Terentio licebat progredi sic
satis celeriter, et verborum curam non tarn ad Grammaticas rationes adstringere, quam ostendere, vt
personis essent accommodata, et quantus morum artifex esset Terentius: qua in re ita versati sumus, vt
fabulas omnes intra paucissimorum mensium spatium absolueremus. Hic hiantes videres meos auditores,
tacentes, intentis oculis, auribus, animis adsidentes; subridentes etiam, et voluptatem animi, fronte, oculis,
ore, prodentes. Scilicet id agebam, quantum eius fieri posset, vt in rem praesentem eos deducerem, vt ipsi
in scena sibi versari media viderentur.
15 At Phoenissarum alia erat ratio. Maior numerus in verbis nimis haerebat; hic de significationibus
originibusque verborum, de aoristis, de contractionibus, de ellipsibus, de dialectis saepe nimis disputandum
erat, saepe nimis, ad amaram, heu! Grammaticam prouocandum. Quid multa? hiantes videbam quosdam,
sed oscitatione; tacentes obseruabam, sed propter somnum; subridentes, sed alia omnia, TpaycoSetv autem
cp/eTO,X7jpoi. Et iidem homines erant, cupidi sane maior pars discendi, qui vrgerent me, et rogarent, vt
plures horas Phoenissis impenderem, quas scilicet optarent totas cognoscere, qui Graece discendum esse
bona fide mihi crederent. Scilicet non poterant totam Tragoediae oeconomiam, fabulaeque rationem
per difficilia sibi verba nimis distractam praesentem animis habere.
16 Et sane, redeundum enim est, vnde digressi sumus, fieri vix potest, vt intelligere discat antiquos
libros, qui in stataria (molliamus age vsurpando verbum, quo aptius nullum reperimus) illa, laboriosa,
68 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 3

illa, laboriosa, anxiaque lectione diu nimis contineatur. Nulla enim vox tarn certa
atque defmita ubique vi est, sed ex vicinia, et tota orationis rerumque Serie aesti-
manda multorum librorum lectione percipi nequit.
17. Praeceptis inculcandis et verbis formulisque varie operoseque, summa licet
arte, dissolvendis, componendis, imitandis, ut in nullam rem, quae opere et actu 5
et usu constat, nec loquetur vel scribet latine, aut quacunque alia lingua.
18. u. 19. At non damno non contemno istum morem receptum summis auctori-
tatibus a summi judicii viris. Nam qui solidam cujuscunque linguae cognitionem
adspirant, iis opus est, ut sub ipsa discendi initia librum aliquem ad Grammatices
Rhetoricesque praecepta omnes singulasque particulas maxima industria exigant. io
20. Verum post jacta fundamenta sumendi etiam sunt libri, non in quibus
enucleandis menses et annos impendas sed quos cursim perlegas, et quam potest
celerrime.
1 anxiaque] Th: auxiaque

anxiaque lectione diu nimis contineatur. Paucorum verborum ita certa atque definita vis est, vt omnibus
in locis idem significent, sed ex vicinia et tota orationis rerumque adeo serie aestimanda sunt; cum eadem
verba, pro personarum atque rerum de quibus agitur discrimine, longe aliud significent. Hoc vt vbique
intelligas, vt statim, non quid significare possit, sed quid significet vnumquodque verbum, assequare;
istuc vero nisi multo vsu, id est multa multorum librorum lectione percipi nequit.
17 Praeceptiones hic parum valent, vt in nulla scilicet re, quae opere et actu constat. Neque sane magis
intelligere bonos libros, et loqui vel scribere Latine, aut quacunque denique lingua, discet aliquis praeceptis
inculcandis, et verbis formulisque varie operoseque, summa licet arte, dissoluendis, componendis, imitan­
dis: quam ciuilium rerum peritus, et reipublicae tractandae aptus erit rubricis Mazarinianis addiscendis,
vel Macchiauelli ad Liuium dissertationibus duabus aut tribus, vel omnibus adeo, enucleandis, et in succum,
vt iterum vtamur illa bonorum virorum formula, et sanguinem conuertendis.
18 Quid igitur? contemnimusne receptam summis auctoritatibus a summi iudicii hominibus in scholas
omnes rationem? Errorisne et ineptiarum postulabimus antiquam illam et venerabilem vocem, non
m ulta, sed m ultum ! abiicimusne libros omnes Sturmii, Schori, Scioppii, Morhofii, magistrorumque
aliorum, qui operosam illam et tarde grauiterque procedentem nobis legendi rationem commendarunt,
inculcaruntque ? Non ego is sum, qui hoc audeam; non damno morem istum, quin dum haec scribo
Horatianam de arte poetica epistolam, quam possum accurate copioseque illustrare satago.
19 Opus est iis, qui solidam cuiuscunque linguae cognitionem adspirant, omnibus, vt sub ipsa discendi
initia mediocrem libellum aliquem, aut eius certe partem non contemnendam, resoluant accuratissime,
et ad Grammatices, Rhetoricesque praecepta omnes singulasque particulas, quanta potest esse industria et
cura exigant: hoc enim qui neglexerint, nunquam illi secure vel loqui discent vel scribere, vacillabunt
semper, et vel impingent, vel impingere metuent. Apprime vtile est vnumquemque in progressu studii
in vno alteroque boni auctoris libro intelligere, quanto sit opus apparatu doctrinae, vt omnia plane
intelligantur, vt omnium personarum, rerum, formularum, verborum, accurata possit reddi ratio. Est
autem facilius longe et commodius, alio praeeunte et commonstrante hoc discere, quam ipsum diu nimis
sudare. Quantum viua docentis vox hic valeat, iam praetereo.
20 Verum enim vero, post iacta fundamenta, post paratam mediocrem rerum Grammaticarum et
Rhetoricarum notitiam, post specimen vnum alterumque, de quo modo dictum est, sumendi etiam sunt
libri, non in quibus enucleandis menses et annos impendas, sed quos cursim perlegas, et quam potest celerri-
Exzerpt 3 E PRA EFATIO N E GESNERI 69

21. Hic non cursoriam lectionem commendamus eam, quam interdum imperat
necessitas locum aliquem aut verbum requirentibus, qui in id solum intenti reliqua
omnia praetermittunt, neque eam, qua librum novum in manus sumunt vel occupati
vel quem totum perlegere tanti non ducunt: et post praefationem, summaria,
5 breviaria, lemmata, indicesque inspiciunt, et ex loco uno alterove speciminis causa
considerato, speciem libri animo inform ant.
22. Nec consuetudinem somniculosorum hominum, qui libros semper illi quidem
in manibus habent, perfunctorie tarnen legunt, et strenue oculis, imo lingua et
labiis utuntur; ita tarnen, ut si rationem illos reddere jubeas, quid legerint, iniquo
io se loco deprehensos frustraque expedire se conentur.
23. Quam nos cursoriam dicimus, ea talis est. Sumitur in manus über boni auc­
toris, non ante ille dimittendus, quam perlectus integer sit. Legitur autem ita, ut
diligenter attendatur ad vocum tum simplicium tum conjunctarum, et non negligatur
eleganter, proprie, concinne, splendide dictum; ut ipsae quoque figurae demittantur
15 ad animum, et familiäres tractatione reddantur. Sed obiter tarnen aguntur reliqua
omnia et quid forte obscurius, non insistitur; sed locus difficilis revocandus suo
tempore et diligentius considerandus.
5 lemmata] Th: lemnata 7 consuetudinem] Th: consuedutinem

me. Statim hic error aliquis remouendus est, ne quis festinationem necessariam, aut negligentiam potius
quam lectionem a nobis commendari putet.
21 Cursoriam lectionem hic non commendamus eam, quam interdum necessitas imperat locum aliquem
aut verbum adeo requirentibus, qui in id solum intenti reliqua omnia praetermittunt, oculisque potius
vtuntur ad legendum, quam animo: neque eam qua librum nouum in manus sumunt, vel occupati, vel
quem totum perlegere tanti non ducunt: et post praefationem, ea quae summaria vocantur, breuiaria,
lemmata, indicesque inspiciunt, locum vnum alterumque speciminis tantum causa considerant, atque ex
his omnibus speciem quandam libri informant animo, et iudicium apud se ipsi ferunt. Hoc lectionis ge-
nere, (quod et ipsum alioquin vtilitate maxima non caret, recte vsurpatum) multi abutuntur hodie et
profectum impediunt: vtinam non essent, qui Claudiana iudicia exercerent, librorum parua tantum parte
inspecta saepe nulla.
22 De hoc igitur percurrendorum librorum genere sermo nobis non est, neque de somniculosorum
quorundam hominum consuetudine, qui libros semper illi quidem in manibus habent, mane surgunt
vti legant, cubitum autem tarde eunt, ne cito nimis a libris discessisse videantur, interim, cum in eo omnia
sibi falso esse persuaserint, vel temere aliis crediderint, quam plurimos libros, vt legant: perfunctorie id
agunt (vt illi barbare religiosi, qui ex opere quod vocant operato et gratiam sibi et beatitatem contingere
posse putant) et strenue oculis, interdum etiam lingua et labiis, vtuntur: ita tarnen, vt si rationem illos
reddere iubeas quid legerint, tanquam in alieno et inimico sibi loco deprehensa animalia laborent, et frustra
expedire se conentur.
23 Quam nos cursoriam lectionem dicimus, ea talis est. Sumitur in manus über boni auctoris, non ante
ille dimittendus, quam perlectus integer sit. Legitur autem ita, vt diligenter quidem attendatur ad vocum
tum simplicium significatus, tum coniunctarum, vt non negligatur, si quid eleganter, si quid proprie, si
/ quid concinne, si quid splendide dictum videatur; vt ipsae figurae quoque orationis demittantur ad ani­
mum, et familiäres tractatione et cogitatione reddantur. Sed obiter tarnen aguntur reliqua omnia, et si quid
70 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 3

24. Nimirum ad id intenditur animus, ut intelligamus, quid sibi efficiendum


docendumque proposuerit auctor, quibus ad hanc rem argumentis usus sit, et
quam feliciter, quomodo ea, quae objici sententiae succedit, rejecerit; quibus eam
rebus aliunde adsumtis h. e. exemplis, similitudinibus, testimoniis, exornaverit,
illustraveritque. Haec in libro, ubi docetur aliquid, et argumentis demonstratur. In 5
historia autem, vel vera vel conficta studiose observatur, quis, quid, quo tempore,
quo consilio praesertim, egerit, quibus adjumentis et quasi instrumentis sit usus,
quae impedimenta, et quomodo removerit, quid effecerit denique, quemque facti
sui fructum tulerit? quomodo superiora iis quae sequuntur, cohaereant, et haec
ex illis quasi orta sint? videaturne ea narrare scriptor, quae sic fieri potuerint, et io
aliorum etiam fide nitantur; an dicat, quae conciliari, vel inter se, vel cum aliis
rebus, de quibus certo nobis constat, non possint? In poetis etiam, artis vestigia,
et picturas rerum, ingeniorum, morumque et perturbationum descriptiones, per-
sequitur.
25. Haec sane una lectio est ad vitam utilis, quae animum consilio äuget, et 15
rebus privatim et publice gerendis facit aptiorem: haec sola facit, ut et ipsi tum
dicere discamus non incommode tum scribere, et e nobis proferre aliquid, quod
placere atque aetatem ferre possit. Et tantum se processisse unusquisque sciat,
quanto sibi laetius feliciusque procedere hoc lectionis genus animadverterit.

sit in verbis obscurum, certe insolitum, si quid ex antiquitate altius repetendum, non insistitur, neque co-
hibetur et quasi sufflaminatur legendi impetus, verum nota tantum quadam insignitur locus difficilis,
reuocandus suo tempore, et si tanti sit diligentius considerandus. Saepe ne Opus quidem illud est, cum ea
quae sequuntur sua sponte lucem inferant his quae tenebris mersa paullo ante videbantur.
24 Nimirum ad hoc vnum maximum intenditur in hac lectione animus, tota in hoc cogitatione defigi-
tur, vt intelligamus, teneamusque deinde, quid sibi efficiendum docendumque proposuerit auctor libri,
quibus ad hanc rem argumentis vsus sit, et quam feliciter; quomodo ea, quae obiici sententiae suae vidit,
reiecerit; quibus eam rebus aliunde adsumtis h. e. exemplis, similitudinibus, testimoniis, exornauerit,
illustraueritque. Haec in libro, vbi docetur aliquid, et argumentis demonstratur. In historia autem vel
vera vel conficta studiose obseruatur, quis, quid, quo tempore, quo consilio praesertim, egerit, quibus adiu-
mentis et quasi instrumentis sit vsus, quae impedimenta et quomodo remouerit, quid effecerit denique,
quemque facti sui fructum tulerit? quomodo superiora his quae sequuntur cohaereant, et haec ex illis
quasi orta sint? videaturne ea narrare scriptor quae sic fieri potuerint, et aliorum etiam fide nitantur; an
dicat, quae conciliari, vel inter se, vel cum aliis rebus, de quibus certo nobis constat, non possint? In poetis
praeter haec modo dicta, artis etiam vestigia, et picturas rerum, ingeniorum, morumque et perturbationum
descriptiones, persequitur.
25 Haec sane vna lectio est ad vitam vtilis, quae animum consilio äuget, et rebus priuatim et publice
gerendis facit aptiorem: haec sola facit, vt et ipsi tum dicere discamus non incommode tum scribere, et
e nobis proferre aliquid, quod placere atque aetatem ferre possit. Huc igitur, huc animum applicet, quicun-
que vltra prima elementa atque tirocinia processit; huc deducant iuuentutem qui possunt, in hoc eam Studio
crebris interpellationibus, interrogationibus, obiectionibus, disputationibus, adiuuent; tantum se profecisse
vnusquisque sciat, quanto sibi laetius feliciusque procedere hoc lectionis genus animaduerterit.
Exzerpt 3 E PRA EFATIO N E GESNERI 71

26. Atque haec quidem indivisum habeat comitem, dulcedinem quandam, et


sinceram maxime voluptatem; quae non diminui solet, sed semper augeri, cum
praeclara subinde et perfecta in his deprehendamus, ad quae pervidenda oculatior
fit, quo saepius in illis diligentiusque versatur.
5 27. lila ipsa voluptas Studium augebit atque attentionem, et felici quodam
causarum reciprocantium circulo, attentio voluptatem, voluptas attentionem,
utraque intelligentiorem faciet eum, qui legit, et rebus stilo, ore, consilio, opera
gerendis aptiorem. Qui enim cum ingentibus animis, et praestantissimis ex omni
memoria ingeniis, familiariter, diuque versatus, in eorum quasi animum moresque
io transibit.
28. Nec quidem difficile est, fundamentis rite jactis, posse legere hoc modo
antiquos auctores; incipiatur a facili; transmittantur interea, quae non intelligas;
et continuata lectio subjiciet sponte sua rationem, expediendarum difficultatum.
3 praeclara] Th: plaeclara

26 Quidni vero procedat ? quae indiuisum habeat in his, qui mediocrem verborum copiam, et Gram-
maticarum praeceptionuni vsum attulerint, comitem, dulcedinem quandam, et sinceram maxime volupta­
tem: quae solet in aureae illius et primae aetatis libris non diminui, vt in plerisque aliis fieri videmus, sed
semper augeri, cum plura subinde praeclara et perfecta in iis deprehendamus, ad quae peruidenda ocula-
tiorem aliquem fieri necesse est, quo saepius in iis diligentiusque versatur. De Terentianis fabulis iam
dictum est, quod nupero demum experimento nobis cognitum sit: Idem in se experietur aliisque, qui
periculum facere voluerit. Sume Roscianam Tullii Milonianamue, sume bellum Sallustii Catilinarium,
et vno tenore, eo quo dixi modo legere institue. Si non hebes eris, et ab sacris nostris alienus, festinabis
ad exitum, et finem iam adesse cum indignatiuncula quadam miraberis. Semper nouus eris integerque,
fessus nunquam aut languidus.
27 lila ipsa voluptas Studium augebit atque attentionem. quo magis vero attenderis, tanco facilius
intelliges. quo magis intelliges, tanto plus bonarum rerum, appositorumque rebus verborum, id est pul-
chritudinis, deprehendes. neque enim quid venustum sit, vel in pictura, vel in scripto intelligo, si ab ex-
pressione illa atque accuratissima imaginum, coloribus illic et lineis, hic verbis constantium, conuenientia
cum suis exemplis discedamus. Ita, felici quodam causarum reciprocantium circulo, attentio voluptatem
pariet, augebit attentionem voluptas, vtraque res intelligentiorem faciet eum, qui legit, et rebus stilo,
ore, consilio, opera gerendis aptiorem. Nisi putatis, fieri posse, vt aliquis cum ingentibus animabus, et
praestantissimis ex omni memoria ingeniis, familiariter diuque versatus, in eorum quasi animum moresque
transeat; et idem tarnen hebes, ignauus, atque humo adfixus maneat.
28 At difficile est eo aliquem peruenire, vt hoc modo legere antiquos scriptores possit. At nisi ita legas
plane praestat nunquam eos attigisse. At difficile non est, si fundamentis, quo modo dictum est, rite iactis,
initium a facilioribus fiat, si transmittantur interim, quae non intelligas, dum vel occasio sit interrogandi
pcritiorem; vel quod saepissime fieri expcrti sumus, continuata lectio, sponte sua subiiciat rationem ex-
pediendae difficultatis, quae insuperabilis paullo ante videbatur.
29 Sane in hoc nostro Studio res se habet, vt in rebus, quae vi et armis geruntur. prima victoria Alexandri
magni instrumentuni fuit alterius, haec autem novae, sed superbum forte videatur hac nos similitudine
vti. ad minora, vt videntur, nos demittamus, fermenti vulgaris, inflammationis in corpore viuo, atque
■ ignis adeo vniusrsini, ea est ratio, vt a paruis initiis geometrica quadam ratione ac proportione progredian-
tur, et quasi viro legcnte viros, vna quaeuis particula vicinas sibi moueat, subigat, excitet, quarum vna-
72 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 3

29. Et sane in hoc Studio ita se res habet, ut aliquot locorum accurata plenaque
cognitio, multorum juvet aliorum intelligentiam, quorum unusquisque suam sibi
utilitatem habet; ad plurium sensus aperiendos, et expediendas difficultates.
30. Inter haec crescit notitia cum magnis illis viris, et producta consuetudine
tanta familiaritas, ut, quemadmodum amicos, vultu, habitu corporis, incessu 5
vocisque sono et non visos agnoscimus, ita et intelligere discamus, non tantum,
antiquorum velint, sed et judicare, sitne ille liber, illa formula, vox
illa, ejus viri, cujus nomen praefert? quae judicandi facultas est critica.
31. Et est sane optabile, ut, cum sint libri antiqui doctrinae omnis verissima
instrumenta, existant subinde viri, qui ingenii magni et subtilis vim judiciique io
acrimoniam in hoc impendant.
32. Quod cum praestari feliciter non possit, nisi ab iis, qui in magno praesentique
ingenio et prope divino eam familiaritatem cum antiquis consecuti sint, ac praeterea
nullius non earum artium, quibus doctrinae tum continebatur orbis, peritiam et
usum habeant: apparet, quam injuste, vel nomen critici, vel quod pejus est, ipsum 15
munus invadant, qui ab aliqua harum rerum vel omnibus etiam sunt imparati:
deinde quam inique totum hoc, criticum esse, contemnatur.
3 plurium] Th: plurimum expediendas] Th: cxpcndiendas 13 familiaritatem] Th: familiaritem
praeterea] Th: praetera

queque vim quam modo sustinuit, in multas mox sui generis exerceat. Sic aliquot locorum accurata plena­
que, quantum eius fieri potest, cognitio, multorum iuuat aliorum intelligentiam, quorum vnusquisque
suam sibi vtilitatem habet, ad plurium sensus aperiendos et expediendas, si quae adsunt, difficultates.
30 Inter haec crescit notitia cum magnis illis viris, et producta aliquantum continuataque consuetudine,
ius quasi ciuitatis Romanae paratus, eorumque, quae disci possunt ex antiquitate, vel notitia, vel requirendi
certe idoneis locis facultas; tanta denique cum Tullio, Liuio, reliquisque, familiaritas, vt quemadmodum
amicos, et familiäres non intelligimus modo loquentes, sed vultu, habitu corporis, incessu, vocis denique
sono etiam non visos agnoscimus, et ab aliis distinguimus, ita et intelligere quidam possint non tantum
quid sibi verba antiquorum velint, sed etiam iudicare, sitne ille liber, illa formula, vox illa, eius viri, cuius
nomen praefert, vel inter cuius verba legitur? a qua iudicanti facultate Critici appellantur.
31 Et est sane optabile, si quidem sunt (quod ita se habere, hic interim sumimus alio forte loco proban-
dum) libri antiqui doctrinae omnis verissima instrumenta; existere subinde viros, qui ingenii magni et
subtilis vim, iudiciique acrimoniam in hoc impendant, vt, quantum humanis opibus prouideri potest,
apex nullus pereat de sinccris bonae antiquitatis monumentis, eaque quam emendatissima, et, si possit,
qualia exierunt e cerebro manibusque auctorum suorum, legantur; vt nihil eorum non probe intellectum
et vndequaque illustratum transmittatur.
32 Quod cum praestari feliciter non possit, (vtinam ne tentaretur quidem) nisi ab iis, qui in magno
praesentique ingenio, et prope diuino ay/tvotav Graecorum et c'jcrxo^iav dicere ita volo) eam quam
dixi familiaritatem cum antiquis, et ciuitatis quoddam ius consccuti sint, ac praeterea nullius non earum
artium, quibus doctrinae tum continebatur orbis, peritiam quandam et vsum habeant: apparet profecto,
quam iniustc et quanto cum litcrarum incommodo, vel nomen Critici, vel quod peius est ipsum munus
inuadant, qui ab aliqua harum rerum vel omnibus etiam sunt imparati: deinde quam inique totum hoc,
Exzerpt 3 E PRA EFATIO N E GESNERI 73

33. Ad hoc qui adspirant, vel ignorare labores criticos nolunt, habere studeant
Livium, vel J. F. Gronovii, veri critici, vel A. Drakenborchii.

criticum esse vel videri, contemnatur, traducaturque a quibusdam, quorum ne capere quidem angustus
animus potest, quantum illud sit, et quam paucorum hominum, quam idem tarnen vtile literis munus,
quo censeri Criticum modo indicatum est.
33 Ad hoc qui adspirant, vel qui certe non ignorare Criticorum labores volunt, aut amore quodam
ingenuo rerum pulchrarum tenentur, earum etiam, quibus plane frui quacunque de causa illis non licet;
hi optime sibi consulent, si habere studeant Livivm (ad hunc enim nostra se conuertit disputatio, vt etsuo
exemplo praeclaro illam finiamus, et praefandi, quas imponi nobis passi sumus partes recte perferamus)
Livivm igitur habere studeant, qualis ex J. F. Gronouii, digni, si quis vnquam, magno et perquam honorifico
Critici nomine, semel iterum, tertiumque prodiit, aut qualis a CI. Drackenborchio cum maxime adornatur.
(Die Abschnitte 34 und 35 enthalten Einzelhinweise zu früheren Livius-Ausgaben. In dem Schlußabschnitt 36
fordert der Verf insbesondere die Jugend auf Livius zu studieren und in den römischen Geist einzudringen.)
74 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 4

H ahn des So k ra tes.


Den 6. A pril 1786.
(Briefe zur Bildung des Geschmacks. II. Theil.)

Nach dem Griechischen Text sagt Sokrates nur: Krito, wir sind dem Eskulap
einen Hahn schuldig, er spricht kein Wort von einem Opfer. Dieses war ein Scherz; 5
und Plato lässt seinen Lehrer so sterben, wie er gelebt hat, m it der Ironie im
M unde. Der heidnische Aberglaube fällt also ganz weg, denn es war ein gewöhn-
liches Sprichwort, wie der Franzose sagt: nous devons une belle Chandelle.
3 II. Theil] in Th außerhalb der Klammern

[212] Er zeigt ihm, daß er den griechischen Text nicht richtig erkläret. Nach diesem Text sagt Socrates
nur: C rito , w ir sind dem Esculap einen H ahn schuldig: er spricht kein W ort von einem O pfer.
Dieses war ein Scherz; und P lato läßt seinen Lehrer so sterben, wie er gelebt hatte, m it der Ironie
im M unde. Es war ein gewöhnliches Sprichwort: so wie der Franzoß sagt, nous devons une belle
Chandelle. Der heidnische Aberglauben fällt also völlig weg.
Exzerpt 5 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 75

St o ik e r .
Den 5. Juni 1786.
(Cicero Paradox. Praef.)
Cato Stoicus et ea sentit, quae non sane probantur in vulgus, et in ea haeresi
5 est, quae nullum sequitur florem orationis, neque dilatat argumentum, sed minutis
interrogatiunculis et quasi punctis, quod proposuit, efficit.
5 florem] Th: flamen

[fol. 116] M. T vllii C iceronis / P aradoxa , ad M. / B r v t v m .


... Cato autem perfectus (mea sententia) Stoicus et ea sentit, quae non sane probantur in vulgus, et in ea
haeresi est, quae nullum sequitur florem orationis, neque dilatat argumentum, sed minutis interrogatiun­
culis, et quasi punctis, quod proposuit, efficit.
76 AU S DER G YM N A SIA LZEIT Exzerpt 6

W ahre G l ü c k s e l ig k e it .
17.-22. Juni 1786.
(Kosmologische Unterhaltungen für die Jugend von Wünsch, 2r Band.
Leipzig J. G. I. Breitkopf 1779 von Seite 1-70.)

Die Seligkeit der Auserwählten wird theils in dem Vergnügen über ihre guten 5
Handlungen auf Erden, theils in der höheren Erkenntniss Gottes und seiner herr­
lichen Werke bestehen; so wie der Fluch des Bösen in dem erwachten und geäng­
steten Gewissen zu suchen ist.
Hier auf Erden müssen die Menschen nützliche Kenntnisse, wie aus einer himm­
lischen Quelle schöpfen, und auf dem Pfade der Tugend wandeln, um sich dadurch io
unmittelbar zu dem Genuss der zukünftigen und ewig unwandelbaren Glückselig­
keit geschickt zu machen. Die vornehmste Quelle unserer Weisheit, und der festeste
Grund unseres Heils sind die weisen Anordnungen, die uns Gott durch Jesum in
Rücksicht auf unsere Seligkeit hat bekannt machen lassen. Sie gehören ebenfalls zu
den grossen Werken Gottes, sowie das zuversichtliche Vertrauen zu ihm und die 15
Befolgung seiner Lehren selbst Tugend ist. Als Christen schöpfen wir nicht wie
3 von] Th: (von 4 J. G. I.] Th: T. G. F.

[1] Ich halte selbst dafür, fuhr A m alie fort, daß die Seligkeit der Auserwählten theils in dem Ver­
gnügen über ihre guten Handlungen auf Erden, theils in der hohem Kenntniß Gottes und seiner herrlichen
Werke bestehen werde: so wie ich auch nicht leugne, daß der Fluch der Bösen dereinst in dem erwachten
und geängstigtem Gewissen zu suchen sey, wenigstens mir ist nichts schrecklicher als dieses.
(Es folgen Ausführungen der Amalie darüber, daß weder die Kenntnis der Werke Gottes noch die Ausübung
der Tugend ihr die wahre Glückseligkeit gewährleiste, sondern daß allein die Kenntnis der Verdienste Jesu sie völlig
beruhige, - ferner eine Zwischenbemerkung des Philalethes über die Glückseligkeit der Bewohner anderer Welt­
körper. Dann fährt dieser fort:)
[8] Wenn ich aber ohnlängst sagte, daß die Menschen hier auf Erden nützliche Kenntnisse aus den
herrlichen Werken der Gottheit, wie aus einer himmlischen Quelle, schöpfen, und auf dem Pfade der
Tugend wandeln sollten, um sich dadurch unmittelbar zu dem Genüsse der zukünftigen und ewig un­
wandelbaren Glückseligkeit geschickt zu machen: so dürft Ihr deswegen doch nicht vermuthen, daß ich
die vornehmste Quelle unserer Weisheit und den vestesten Grund unseres Heyls ganz aus der Acht ge­
lassen habe; denn ich setzte diese Wahrheiten schon als bekannt voraus, und glaubte nicht erst nöthig zu
haben, Euch noch daran zu erinnern. Die weisen Anordnungen, die uns Gott durch Jesum in Rücksicht
auf unsere Seligkeit hat lassen bekannt machen, gehören ja ebenfalls zu den großen Werken Gottes, so wie
das zuversichtliche Vertrauen zu ihm und die Befolgung seiner Lehren selbst Tugend ist. Als Christen
schöpfen wir demnach unsere Kenntnisse der Gottheit nicht bloß aus der Natur, sondern aus allen ihren
Werken, und daher auch aus den heiligen Schriften: ein überaus großer Vorzug, welchen wir vor vielen
[9] andern Nationen voraus haben, weil diese den Schöpfer bloß aus der Natur müssen erkennen lernen,
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 77

andere Völker, deren Begriff von Gott und Tugend daher freilich sehr schwankend
und ungewiss ist, aus der blossen Natur, sondern aus den heiligen Schriften. Doch
glauben alle Völker an ein höchstes Wesen, das die Welt erschaffen hat und regieret;
nur sehr wenige lässt ihr elendes Leben vielleicht an keinen gütigen Beherrscher
5 denken, und an kein besseres Leben nach dem Tode.
Es ist lauter Gnade, dass uns Gott zu jener Glückseligkeit geschaffen und die Wege
zu ihm zu gelangen vorgezeichnet hat. Aber nur muss man sich keinen solchen
Begriff davon machen, und sich einbilden, um selig zu werden, dürfe man nur
sicherlich glauben, Jesus habe für unsere Sünden gebüsst, das Gesetz für uns erfüllt
io und den erzürnten Vater, der doch wirklich nie zornig ist, versöhnt; folglich könne
man lasterhaft sein, weil man nur allemal die begangenen bösen Handlungen bereuen,
sich auf das Verdienst Christi verlassen und am Ende des Lebens die Seele ihm emp­
fehlen dürfe, um eben des Glücks theilhaftig zu werden, welches denen bestimmt
ist, die ihre ganze Lebenszeit hindurch auf dem Pfade der Tugend wandeln. Dies
15 kann Gott unmöglich wollen, denn die Belohnungen und Strafen sind allezeit natür­
liche und nothwendige Folgen unserer Thaten, indem Gott keinen Menschen nach

woraus aber auch leicht erhellet, daß ihre Begriffe von Gott und Tugend freylich oft sehr schwankend und
ungewiß seyn mögen: denn die großen Wahrheiten, die aus dem Munde des göttlichen Lehrers der Weis­
heit selbst geflossen sind, haben sie entweder noch nicht gehört, oder noch nicht fassen können: Aber ein
höchstes Wesen, welches die Welt geschaffen hat und regieret, verehren dennoch alle Völker, nur sehr
wenige vielleicht ausgenommen, die sich in den entferntesten Gegenden der Erdkugel aufhalten, und
denen die unglaublichen Beschwerlichkeiten, womit sie die allernöthigsten Bedürfnisse ihres elenden
Lebens erwerben müssen, wahrscheinlich nicht verstatten, einen gütigen Beherrscher der Welt zu erkennen,
und an ein zukünftiges glücklicheres Leben ihrer Geister zu denken.
Es ist demnach schon eine außerordentliche Gnade, daß Gott uns nicht nur zu vernünftigen Menschen
gemacht, sondern auch in einem aufgeklärten Jahrhunderte unter andere verständige Leute in ein Land
gesetzt hat, wo wir viel glücklicher, als die meisten übrigen Nationen, leben und die höhern Kräfte un­
serer Seelen gehörig anwenden können, um in den Geschöpfen den Schöpfer [10] zu finden, und uns
zu dem Genüsse des ewigen Glücks recht vorzubereiten: aber noch weit größer ist die Gnade, daß auch
sogar sein Sohn Jesus selbst auf der Erdkugel erschienen ist, um uns mündlich wahre Weisheit zu lehren,
das Gesätz zu erfüllen, und unser Gewissen zu beruhigen, oder mit einem Worte, uns zeitlich und ewig
glücklich zu machen. Auf solche Art kann man freylich nicht sagen, daß wir durch unser eigenes Ver­
dienst oder durch gute Werke selig werden: denn es ist ja lauter Gnade, daß uns Gott zu jener Glückselig­
keit geschaffen, und die Wege, worauf man zu ihr gelangt, vorgezeichnet hat. Nur müßt Ihr Euch keinen
falschen Begriff von dieser Gnade, die dem menschlichen Geschlecht durch Jesum wiederfahren ist,
machen und Euch nicht einbilden, man dürfe nur, um dereinst selig zu sterben, ganz sicherlich glauben,
Jesus habe für unsere Sünden gebüßet, das Gesätz für uns erfüllt, und den erzürnten Vater, der doch
wirklich niemals zornig ist, versöhnt: folglich könne man immer auf Erden lasterhaft seyn, weil man nur
allemal die begangenen bösen Handlungen bereuen, sich auf das Verdienst Jesu verlassen, und am Ende
des Lebens die Seele ihm empfehlen dürfe, um eben des Glücks theilhaftig zu werden, welches denen
bestimmt ist, die ihre ganze Lebenszeit [11] hindurch auf dem Pfade der Tugend wandeln. Nein, dieß
kann Gott unmöglich wollen, denn die Belohnungen und Strafen sind allezeit natürliche, ja nothwendige,
78 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

Gunst belohnen und mit Parteilichkeit richten kann; das Andenken böser Hand­
lungen wird den Gottlosen ohne Zweifel bis in die Ewigkeit verfolgen, da im
Gegentheil der Gerechte sich keine Vorwürfe machen und glücklich seyn wird. Die
heilige Schrift bezeugt selbst, dass der Glaube an Jesum ohne Ausübung der Tugend
todt, d. i. zu nichts nütze sey, also gar nichts gelte. Auch würden in Ansehung des 5
schrecklichsten Bösewichts, der Vergebung der Sünden in seinen letzten Stunden
und des Tugendhaften, der plötzlich stirbt, ferner aller Menschen ausser der Christen­
heit sich Folgen ergeben, die ganz abscheulich und dem Geiste der christlichen Lehre
gänzlich widersprächen; denn wer Gott fürchtet und recht thut, ist ihm angenehm
und unser Vorzug, den wir als Christen vor andern Menschen voraus haben, besteht io
bloss darin, dass uns eine mündliche, leichtere und richtige Anweisung, weise zu
leben und selig zu sterben, ertheilt worden, dieweil andere den wahren Zweck ihrer
Bestimmung, der uns so nahe vor den Augen liegt, durch beschwerliche Umwege
mühsam suchen müssen, und ihn selten finden. Was die andere Frage betrifft, warum
Gott andern Völkern das Evangelium nicht geoffenbart habe, u.s.f., so müssen wir 15
6 Bösewichts,] Th: Bösewichts

Folgen unserer Thaten, indem Gott keinen Menschen nach Gunst belohnen, oder mit Partheylichkeit
richten kann, wie zuweilen vielleicht auf Erden unter den Menschen geschiehet. Das Andenken böser
Handlungen wird die Gottlosen ohnfehlbar bis in die Ewigkeit verfolgen, und an ihrem Gewissen wie ein
allezeit hungriger W urm nagen, da im Gegentheile der Gerechte sich keine Vorwürfe machen und glück­
lich seyn wird. Die heiligen Schriften des neuen Bundes bezeugen ja selbst, daß der Glaube an Jesum
ohne Ausübung der Tugend, die er gepredigt hat, tod sey, das heißt, zu nichts nütze: folglich versteht es
sich von selbst, daß der Glaube ohne Tugend gar nichts gilt. Auch würde, wenn der bloße Glaube selig
machte, folgen, daß alle, unter den Christen, hingerichtete Missethäter und überhaupt die abscheulichsten
Bösewichter, die in ihren letzten Stunden noch durch das Verdienst Jesu Vergebung ihrer Verbrechen
hofften, schöner und seliger gestorben wären, als der tugendhafte Mann, welcher plötzlich fiel, und zu
seinem zukünftigen Leben nicht so feyerlich zubereitet ward: im Gegentheile wäre zu befürch-[12]ten,
daß außer der Christenheit alle Menschen, ja selbst die Tugendhaftesten und Edelsten derselben verdammt
werden müßten, welches aber kein Christ glauben kann, in dessen Herzen noch die menschenfreundlichen
Gesinnungen wohnen, die ihm sein himmlischer Lehrer und sein Schöpfer selbst eingeflöset haben: denn
der Herr hat sich aus allen Völkern diejenigen gewählt, die ihn fürchten und recht thun, und unser Vor­
zug, den wir als Christen vor andern Menschen voraus haben, besteht, wie schon bereits gesagt, bloß
darinn, daß uns eine mündliche, leichte, und richtige Anweisung, weise zu leben und selig zu sterben,
ertheilt worden ist, dieweil andere den wahren Zweck ihrer Bestimmung, der uns so nah vor den Augen
liegt, durch beschwerliche Umwege erst mühsam suchen müssen, und ihn dennoch selten finden.
Aber - fragte C arl - warum hat denn Gott das Evangelium nicht unter allen Völkern verkündigen
lassen, und warum bekennen sich nicht alle Menschen zu der christlichen Religion - ?
Dieß ist eine Frage, antwortete P hilalethes, die ebenfalls zu den vielen gehört, die wir nicht be­
antworten können, und deren Auflösung sich Gott selbst Vorbehalten hat. Man könnte zwar verschiedene
wahrscheinliche Ursachen, welche viel-[l3]leicht Gott dazu bewogen haben, aufsuchen: allein es würden
sich doch allemal neue Einwendungen dagegen machen lassen, daher es denn am besten ist, wenn wir
in solchen Fällen unsere Unwissenheit bekennen: denn welcher endliche Geist kann sich wohl erkühnen,
Exzerpt 6 W AHRE G LÜ C K SELIG K E IT 79

unsere Unwissenheit bekennen. Genug, dass wir wissen, dass seine Absichten die
weisesten und dass der würdig sey, dereinst zur sicheren Erkenntniss Gottes und
Glückseligkeit zu gelangen, wer sich auf Erden der Weisheit, Gerechtigkeit und
Tugend aus allen Kräften befleissigt, er sey in einer oder der anderen Religion unter-
5 richtet. Wenn wir das Laster meiden und nur so viel Gutes thun, als nach unsern
Kräften und Verhältnissen auf der Erde möglich ist, so können wir uns beruhigen
und auf ein besseres Glück hoffen, denn es kommt nicht bloss auf grosse und edle
tugendhafte Handlungen an, die augenscheinlich über viele Menschen einen Nutzen
verbreiten, sondern vorzüglich auf die Güte der Absichten oder auf ein tugendhaftes
io Herz. Bei Uebereilungssünden nehmen wir dann unsere Zuflucht zu dem Verdienst
Jesu und hoffen gewiss Vergebung. Denn dieses nützt bloss dem Tugendhaften, der
sich ein Gewissen macht, von dem Pfade der Tugend abzuweichen. Aber zur Aus-

die geheimen Wege der Vorsehung auszuspähen, und die Ursachen ihrer weisen Regierung zu erforschen,
da er doch weiter nichts wissen kann, noch zu wissen nöthig hat, als daß ihre Absichten jederzeit die wei­
sesten, die gütigsten, und anbetungswürdigsten sind -? ... Auf solche Art würden sich die Menschen
mit lauter Fragen und Antworten beschäftigen, die zu nichts nützten. Genug, daß wir wissen, der sey
würdig dereinst zu nehmen Erkenntniß Gottes und Glückseligkeit, wer sich auf Erden der Weisheit,
Gerechtigkeit und [14] Tugend aus allen Kräften befleißigt, er mag übrigens von dieser oder einer andern
Religion unterrichtet seyn.
Sie führen mich wieder auf meine ersten Fragen zurück, versetzte A m alie - denn aus dem allen folgt
noch immer, daß mir das Verdienst Jesu ohne Ausübung der Tugend nichts helfen könne - Gesetzt
nun, ich hütete mich auf das sorgfältigste vor dem, was wider Gottes Gebot wäre, um mich keiner offen­
bahren Sünden schuldig zu machen, könnte aber niemals Mittel finden, gute Werke auszuführen: was
würde ich denn da dereinst zu gewarten haben, wenn mein künftiges Glück nur eine natürliche Folge
meines gegenwärtigen Verhaltens wäre -? Vielleicht weder Belohnung noch Strafe, weil ich weder Gutes
noch Böses gethan - ?
Nein, versetzte Philalethes, man muß nicht glauben, Pflichten erfüllen zu müssen, die wir schlechter­
dings nicht leisten können. Wenn wir das Laster meiden und nur so viel Gutes thun, als uns nach unsern
Kräften und nach den Verhältnissen, worein wir von Gott auf Erden gesetzt worden sind, möglich ist:
so können wir uns schon beruhigen, und auf ein besseres Glück freudig hoffen: denn es kömmt nicht bloß
darauf an, daß wir wirklich viel große und edle Tugenden aus-[15]üben, die einen augenscheinlichen Nut­
zen über andere Menschen verbreiten, sondern vorzüglich darauf, daß die Absichten, die wir mit unsern
Unternehmungen verbinden, gut sind, oder mit einem Worte, daß wir ein tugendhaftes Herz besitzen.
W ir können nicht allezeit so viel zum allgemeinen Besten der Menschen beytragen, als wir wünschen:
aber in diesem Falle dürfen wir uns nicht ängstigen, denn wir sind außer Schuld. Allein zuweilen ver­
gessen wir unsere Pflichten, und unterlassen auch da das Gute zu thun, wo uns nichts daran hindert: dann
ist unsere Zerstreuung, unser Leichtsinn, unsere natürliche Schwachheit schuld. W ir bemerken aber die
Fehler in dergleichen Fällen gar bald, und nehmen unsere Zuflucht zu der größten der Tugenden, zu dem
Glauben an das Verdienst Jesu, da wir dann gewiß überzeugt seyn können, wegen dieser Uebereilungs­
sünden Vergebung zu erlangen: woraus zugleich aufs neue erhellet, daß das Verdienst Jesu bloß denen,
die auf dem Pfade der Tugend wirklich wandeln, und sich ein Gewissen daraus machen, wenn sie ihn
,-zuweilen verfehlen, zu statten komme, dem Lasterhaften hingegen gar nichts nütze...
[16] Ueberdieß müßt Ihr nicht glauben, daß man zu Ausübung der Tugend allezeit angesehen, groß
80 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

Übung der Tugend haben alle Menschen täglich Gelegenheit und Mittel, indem sie
stets mit andern Menschen in Verbindung stehen, gegen welche sie gewisse Pflichten
zu beobachten haben. Und desto mehr Klugheit müssen wir mit unserem tugend­
haften Herzen verbinden, jemehr uns die Vorsehung Mittel an die Hand giebt, Gutes
zu thun, denn sonst würden wir mit unseren vermeinten Wohlthaten oft mehr 5
Schaden als Nutzen stiften. So mit Verschwendung des Vermögens an Arme; so
mit Entsagung aller Vergnügungen, die die Gesundheit nicht zerstören, das Ver­
mögen nicht zersplittern, den Verstand nicht betäuben, das Herz nicht verderben,
und der Wohlthätigkeit nicht hinderlich sind; so in Ertragung aller offenbaren
Beleidigungen ungezogener Menschen. - Es ist freilich mühsam, tugendhaft und 10
glücklich zu werden, aber man wird es nicht auf einmal, nur durch eigene Erfahrung,
durch fleissige Aufmerksamkeit auf sich selbst und Andere. Je erhabener und wün-
schenswerther die Güter sind, die man zu erlangen sucht, desto mehr Arbeit und Fleiss
muss man verwenden. Die Schwierigkeiten müssen uns nicht abschrecken, wir dürfen
nicht müde werden, unsere Kenntnisse im Guten zu erweitern und unsere Fehler zu 15

und reich seyn müsse: nein, alle Menschen, auch die geringsten und ärmsten unter ihnen, finden dazu
täglich Gelegenheiten und Mittel, indem sie stets mit andern Menschen in Verbindung stehen, gegen
welche sie gewisse Pflichten zu beobachten haben. Auch ist zu wissen, daß wir allezeit desto mehr Klug­
heit mit unsern tugendhaften Herzen verbinden müssen, je größer das Pfund ist, das uns Gott anvertrauet
hat, und je mehr uns die Vorsehung Mittel an die Hand giebt, Gutes zu thun, denn sonst würden wir mit
unsern vermeynten Wohlthaten oft mehr Schaden als Nutzen stiften.
Also würdet Ihr nicht klug, nicht tugendhaft handeln, wenn Ihr dereinst all Euer geerbtes oder er­
worbenes Vermögen aus übertriebenen Mitleiden unter die Dürftigen austheilen, und dadurch Euern
Nachkommen die Mittel entreißen wolltet... (Für die wirklich Dürftigen zu sorgen sei Pflicht der ganzen
Gesellschaft und der Obrigkeit.) [17] Eben so würdet Ihr nicht klüglich verfahren, wenn Ihr alle unschuldige
Freuden dieses Lebens ... [18] verwerfen oder deren Genuß für lasterhaft halten wolltet. ... Nur dann,
wenn dergleichen Belustigungen die Gesundheit zerstören, das Vermögen zersplittern, den Verstand be­
täuben, das Herz verderben, und der Wohlthätigkeit hinderlich sind; dann sind es keine vernünftigen
Freuden, sondern unvernünftige Ausschweifungen, dann sind sie verderblich und böse, und würdigen
den Menschen unter die untersten Klassen des Viehes herab. Es wäre ferner keine Tugend, wenn wir
alle offenbare Beleidigungen ungezogener Leute gedultig ertragen wollten: denn dadurch würden wir
unser dultsames Herz verrathen, man würde uns für einfältig halten, und noch tausend mal ärger belei­
digen. ... (Gelegenheit und Mittel zur Ausübung der Tugend seien überall und zu allen Zeiten zu finden, da jeder
stets in der Gesellschaft anderer Menschen lebe.)
[20] Es ist freylich etwas mühsam, tugendhaft und glücklich zu werden, fuhr P h ila le th e s fort: man wird
es auch nicht auf einmal, sondern nur nach und nach, durch eigene Erfahrungen, und durch eine fleißige
Aufmerksamkeit auf uns selbst, sowohl als auf Andere. Allein es ist [21] auch bekannt, daß man allemal
desto mehr Arbeit und Fleiß anwenden muß, je erhabener, je wünschenswürdiger die Güter sind, die man
dadurch zu erlangen sucht: daher darf es uns auch nicht unerwartet Vorkommen, wenn wir, um wahr­
haftig glücklich zu werden, ebenfalls Schwierigkeiten zu überwinden haben. Aber sie müssen uns nur
nicht abschrecken: wir dürfen nicht müde werden, unsere Kenntnisse im Guten zu erweitern, und unsere
Fehler zu verbessern, damit wir in Weisheit und Erkenntniß Gottes täglich wachsen und zunehmen, denn
dafür werden wir dereinst Freuden die Fülle ärndten ewiglich.
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 81

verbessern, damit wir in Weisheit und Erkenntniss Gottes täglich wachsen, denn
dafür werden wir dereinst Freude erndten die Fülle ewiglich.
Wer erkennt, worin die wahre Glückseligkeit des gegenwärtigen und zukünftigen
Lebens besteht, und die untrüglichen Mittel dazu weiss, der ist verständig. Wer aber
5 diese Mittel nicht nur kennt, sondern sich derselben auch wirklich bedient, der ist
weise und ehrwürdig. Wer endlich den Weg zu seiner Glückseligkeit nicht selbst
ausforschen kann, sondern diese Arbeit verständigen Menschen überlassen muss,
aber dennoch auf Pfaden wandelt, die ihn sein unverderbtes Herz lehrt, der ist
tugendhaft und würdig der grössten Glückseligkeit, wenn er schon nicht weise
io genannt werden kann.
Gesundheit, Ruhm unter den Menschen, Reichthum u.s.w. sind allerdings Güter,
die zu unserm Glück viel beitragen; wer aber auf schlechtem Wege sein Glück sucht
und den Genuss der Güter dieses Lebens nicht bloss für Hülfsmittel, sondern für
wesentliche Stücke der Glückseligkeit ansieht und nicht bedenkt, dass seine Wohl-
15 fahrt grösstentheils von der Wohlfahrt anderer Menschen abhängt, der ist ein Thor.
Denn er kennt das erhabene und wahre Glück, die ruhige Zufriedenheit des Geistes,
nicht, und vertauscht die eingebildeten Freuden, die ihm noch durch den Fluch der
Unglücklichen, die er gemacht bat, mit den Qualen, die ihm dereinst das Andenken
seiner bösen Thaten verursachen wird. Weisheit und Verstand sind also niemals

Weisheit -? sagte A m alie - diese gehört wohl nur für die Männer, und nicht für das weibliche Ge­
schlecht - ? Aber sagen Sie mir doch: wer ist weise - wer verständig - wer wirklich tugendhaft - ?
Wer erkennet, versetzte P hilalethes, worinn die wahre Glückseligkeit des gegenwärtigen, sowohl
als zukünftigen, Lebens bestehet, und die untrüglichen Mittel weiß, wodurch man zeitlich und ewig
glücklich wird: der ist verständig. Wer aber diese Mittel nicht nur kennt, sondern sich derselben auch wirk­
lich bedient: der ist weise und ehrwürdig. W er endlich den Weg zu seiner Glückseligkeit nicht selbst
ausforschen kann, son-[22]dern diese Arbeit verständigen Menschen überlassen muß, aber dennoch
auf Pfaden wandelt, die ihm sein unverderbtes Herz lehret: der ist tugendhaft und würdig der höchsten
Glückseligkeit, ob er gleich nicht weise genannt werden kann.
Gesundheit, Ruhm unter den Menschen, Reichthum u. s. w. sind Güter, die allerdings zu unserm
wahren Glücke vieles beytragen, wenn wir sie nicht mißbrauchen. (Schändlich aber sei es, wenn wir diese
Güter auf Kosten anderer Menschen zu erlangen suchten.) Weh dem Reichen, wenn er sein Vermögen auf
solche Weise gesammlet hat: weh dem Mächtigen und [23] Gewaltigen, wenn er seine Stärke dem Schwä-
chern grausamer weise empfinden läßt und ihn mißhandelt. Wer auf solchen Wegen sein Glücke sucht,
wer den Genuß der Güter dieses Lebens nicht bloß für Hilfsmittel, sondern für wesentliche Stücke der
Glückseligkeit ansiehet, und nicht bedenkt, daß seine Wohlfarth größtentheils von der Wohlfarth
anderer Menschen abhängt: der ist freylich nicht tugendhaft, nicht verständig und nicht weise, sondern
ein Thor, denn er kennt das wahre und erhabene Glück, die ruhige Zufriedenheit seines Geistes, noch
nicht, und vertauscht die kurzen Freuden dieses Lebens, die doch fast immer in der bloßen Einbildung
bestehen, und die ihm sogar auch schon hier durch den Fluch derer, vergället werden, die durch ihn
unglücklich geworden sind, mit den schrecklichen Qualen, die ihm dereinst das Andenken seiner bösen
Thaten verursachen wird.
82 AU S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

getrennt, d. h. kein Mensch kann bloss verständig seyn, ohne zugleich die Mittel zu
gebrauchen, die sein wahres Wohlergehn befördern, und in deren richtigen Kenntniss
eigentlich der Verstand besteht; und sich unglücklich zu machen kann kein Vieh,
kein Mensch wollen, indem blosser Mangel der Kenntniss dessen, was wirklich ist,
fehlt, indem wir das Böse in dem Augenblicke der Begehung für gut halten. Gott ist 5
zwar allein vollkommen verständig, weise und tugendhaft; aber wer zu dumm ist,
die erste Stufe zu betreten, wird niemals auf die höhere gelangen. - Die meisten
Menschen aber halten schon die für verständig, welche bloss die Mittel kennen, wie
zu Reichthum, Gesundheit, Ansehn und andern zeitlichen Gütern zu gelangen, oder
wenn man sie besitzt, vor Zerrüttung zu bewahren verstehen, ohne von dem wahren 10
Glücke nur die geringste Kenntniss zu haben. Bestände aber der Verstand bloss darin,
so wäre er das grösste Uebel für die Welt; er würde dem rathen, ein Bösewicht,
jenem ein Ungerechter u.s.w. zu seyn. Um aber den Uebeln vorzubeugen, die jene

Hieraus folgt, daß Weisheit und Verstand niemals von einander getrennt seyn können, das heißt, kein
Mensch kann bloß verständig seyn, ohne zugleich die Mittel zu gebrauchen, die sein wahres Wohlergehen
befördern, und in deren richtigen Kenntniß eigentlich der Verstand bestehet: außerdem müßte er sich
vorsetzlich selbst unglücklich machen wollen, welches aber, wie A m alie [24] bereits selbst angemerkt
hat, kein Vieh, vielweniger ein Mensch wollen kann, indem wir alle aus keiner andern Ursache, als aus
Mangel hinlänglicher Kenntniß dessen, was uns gut ist, fehlen: denn wir handeln auch alsdann bloß ans
Mangel des Verstandes thörigt, wenn wir von unsern Leidenschaften gereitzt werden, Böses zu thun,
indem wir in dem Augenblicke, da wir es thun, uns wirklich vorstellen, daß es uns gut sey. Vollkommen
verständig, weise, und tugendhaft ist freylich Niemand, als Gott: denn wir sind endliche Geister von
eingeschränkten Kenntnissen, und müssen auf der Leiter der Vollkommenheit nur stufenweise empor
steigen. Wer aber zu dumm ist, die ersten und niedrigsten Stufen zu betreten: der wird auch niemals
auf die hohem gelangen. Wenn Ihr also einmal lernet Menschen kennen, die nicht auf dem Pfade der
Tugend wandeln: so könnt Ihr allemal ganz sicherlich den Schluß machen, daß sie keinen Verstand be­
sitzen, wenn sie auch gleich in großen Ansehen stehen, oder gar von Andern für gelehrt gehalten werden -
(Hier berichtet Carl von einem Gelehrten mit großem Verstände, der nachweislich nicht tugendhafi gelebt habe.)
[25] Ja, da ist zu wissen, antwortete P hilalethes, daß die meisten Menschen schon diejenigen für
verständig halten, welche bloß die Mittel kennen, wodurch man Reichthum, Gesundheit, Ansehen, Ruhm
und dergleichen zeitliche Güter vor der Zerrüttung bewahren, oder, wenn man sie noch nicht besitzt,
erwerben kann, ob man übrigens gleich von dem wahren Glücke, welches ewig dauert, nicht die geringste
Kenntniß hat, und daher natürlicherweise alle Mittel ergreift, um gedachte vergängliche Güter zu erlangen,
sie mögen nun recht seyn, oder nicht: aber Ihr werdet leicht einsehen, daß ein Mann von dieser Art den
Ehrennamen eines Verständigen keinesweges verdiene, weil er sein wahres Glück verkennt. Der Ver­
stand ist eine erhabene Eigenschaft unsers Geistes, der dem menschlichen Geschlecht zum großen Heil
gereicht, und es unmit-[26]telbar mit der Gottheit näher verbindet, indem darinn das Ebenbild Gottes
bestehet. Wollte man nun annehmen, daß wir unsere wahre Glückseligkeit und die Mittel, sie zu erlangen,
nicht verstehen und dennoch verständig heißen könnten: so würde der Verstand ein großes Uebel aber
keine Wohlthat für uns seyn. (Es folgen Beispiele für das vielfache Unheil, das aus diesem verkehrten Verstände
entspringt.) [27] Den Großem und Mächtigem würde alsdann ihr Verstand sagen, daß es für sie gut wäre,
wenn sie das mühsam erworbene Eigenthum der Geringem an sich zögen, und daß sie selbst dadurch
nicht unglücklich würden, wenn sie die Schwachem zum Zeitvertreibe oder Vergnügen tödeten. Dem
Geringen würde sein Verstand rathen, ein Bösewicht von der niedrigen Art zu werden, weil er auf keine
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K EIT 83

Meinung haben könnte, so hat Gott in alle Herzen ein klopfendes Gefühl der Mensch­
heit und des Guten gelegt; und Denen, die dieses göttliche Gefühl unterdrücken
wollen, überdies noch eine schaudernde Furcht vor der Schande, die seine laster­
haften Handlungen bei andern Menschen wirkt, lebhaft eingeprägt. Und selten fällt
5 ein Mensch so tief, alle zu verlieren.
Warum aber einige Menschen unverständig sind und die zeitlichen Güter jener
Glückseligkeit vorziehen, kommt daher: die Güter der Erde sind zu zahlreich und
liegen uns zu nahe vor den Augen, als dass sie den Verstand nicht manchmal täuschen
sollten; das wahre Glück hingegen befindet sich gleichsam erst am Ende unserer
io irdischen Laufbahn und ist jetzt gewissermaassen noch von uns entfernt. Alle Gegen­
stände erscheinen aber desto grösser, je näher sie uns liegen, da im Gegentheile die
entfernten allezeit klein aussehen, ja die nahen bedecken oft die entfernten gänzlich,

andere Weise sein Glück zu machen wüßte, und weil die Kenntniß, wie man den gesetzmäßigen Strafen
entgehen müsse, sein Verstand seyn würde. ...
Sie sagten aber, fiel ihm C arl in die Rede, daß die meisten Menschen allerdings schon diejenigen
Kenntnisse, wodurch man zeitliche Güter erwerben kann, zu dem Verstände rechneten: folglich gehören
dahin wohl auch alle ihre listigen Ränke und andere Fähigkeiten, ihren Brüdern zu schaden, weil sie daraus
für sich einigen Nu-[28]tzen zu ziehen gedenken -? Wenn aber dieses die meisten Menschen glauben:
so wundere ich mich, warum sie doch nicht weit ungerechter mit einander umgehen, als wirklich ge­
schiehst - ...
Gott hat Mittel gewußt, dieses zu verhüten, erwiederte P h ila le th e s: denn damit die schädlichen
Folgen des großen Irrthums der Menschen, als ob unsere Glückseligkeit bloß auf Erden zu suchen wäre,
nicht zu allgemein würden, noch das ganze menschliche Geschlecht in kurzer Zeit vertilgen mögten:
so hat er ein heftig klopfendes Gefühl der Menschheit und des Guten in unser Aller Herzen gelegt, wel­
ches jedoch viele deßwegen unterdrücken, weil sie die geheimen Ursachen, den göttlichen Ursprung,
desselben nicht kennen, das heißt, weil sie nicht verständig sind. Die aber dieses Gefühl wirklich unter­
drücken und daher thörigt genug sind, diese Stimme Gottes zu verachten, die doch oft sehr stark in ihren
Herzen redet, denen hat er überdieß noch eine schaudernde Furcht vor der Schande, die seine lasterhaften
Thaten bey andern Menschen wirken, lebhaft eingeprägt.
[29] Diese beyden Mittel sind es, wodurch Gott die unverständigen Thoren noch beständig zurück
hält, daß sie einander nicht auf reiben, noch diesen kleinen Wandelstern von Bewohnern entblößen. Selten
fällt ein Mensch so tief, daß er nicht nur seinen Verstand, sondern auch das Gefühl seines Herzens, und die
Furcht vor der Schande verlieret: wer aber wirklich so tief fällt, der wird allezeit ein Bösewicht, und ver­
dient nicht mehr ein Mensch genannt zu werden.
(Es folgen breite Ausführungen darüber, daß Menschen wie der zuvor erwähnte berühmte Gelehrte nicht wirk­
lich verständig genannt werden können.)
[33] Wie kömmt es aber, fragte A m alie, daß einige Menschen unverständig sind, und die zeitlichen
Güter dem unvergänglichen Glücke vorziehen, da wir doch alle fähig sind, verständig zu leben - ?
Die Güter der Erden, antwortete P hilalethes, sind zu zahlreich, und liegen uns zu nah vor den
Augen, als daß sie den Verstand nicht oftmals täuschen sollten: das wahre Glück hingegen befindet sich
gleichsam erst am Ende unserer irdischen Laufbahn, und ist itzt gewissermaaßen noch von uns entfernt.
Es ist aber bekannt, daß alle Gegenstände desto größer erscheinen, je näher sie uns sind, da im Gegentheile
die entferntem allezeit klein aussehen: ja die nahen bedecken oftmals die entfernten gänzlich, so, daß
84 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

so dass wir zuweilen von den letzten gar nichts sehen können, ob sie gleich ungemein
grösser, schöner und edler sind, als die ersten. Ebenso geht es mit den unendlich
höheren Gütern des Geistes. Am Ende gesättigt und überdrüssig der Güter dieses
Lebens, sehen wir freilich, dass wir betrogen sind, dass sie uns keine dauernde Glück­
seligkeit gewähren. Aber dann ist es zu spät, den wahren Zweck unseres Daseyns 5
aufzusuchen, wir erndten unser Ausgesäetes, und können die Folgen unseres Leicht­
sinns, unserer Nachlässigkeit, unseres Unverstandes, unserer Thorheit schlechterdings
nicht vermeiden. Aber der Verständige kennt jene Güter und ihren wahren Nutzen,
sie nehmen davon das Nöthige, und ohne Zeitverlust gehen sie weiter, um die
schönen und edlen Gegenstände, die für ihren unsterblichen Geist bestimmt sind, zu io
entdecken, welches ihnen nicht misslingt. Sie gehen auf dem Wege, er sey wie er
wolle, getrost und ruhig ihrem grossen Ziele zu, denn darin besteht die wahre
Weisheit, die sich auf den Verstand gründet und allezeit aus ihm entspringt. - Bei
3 überdrüssig] Th: bedürftig

wir zuweilen von den letztem gar nichts sehen können, ob sie gleich ungemein größer, schöner, und
edler sind, als die erstem: denn der kleine Mond verbirgt nicht selten Sterne, die in der Welt unendlich
mehr zu bedeuten haben, als er selbst. Eben so gehet es auch mit den unendlich höhern Gütern unsers
Gei-[34]stes. Wir sehen die Herrlichkeiten der Erden in der Näh, da sie dann groß und höchst wichtig
zu seyn scheinen. W ir suchen sie, weil wir nicht sogleich was Besseres gewahr werden, und weil wir alles,
was uns gut vorkömmt, von Natur suchen müssen. Darüber vergißt man nun, sich auch nach den ent­
legenen bessern Gütern umzusehen. Man wird freylich am Ende, wenn man sein Vergnügen an den
nähern gesättigt, und ihrer bereits überdrüßig ist, gewahr, daß man sich großentheils betrogen habe,
indem alle irdische Güter vergänglich sind, und keine wahre unveränderliche Glückseligkeit gewähren:
aber alsdann ist es immer zu spät, weiter zu gehen, und den wahren Zweck unsers Daseyns aufzusuchen;
die Nacht des Lebens übereilet uns oft, und wir laufen vergebens nach dem Ziele unserer Wünsche: wir
erndten, was wir ausgesäet, und können die unangenehmen Folgen unsers Leichtsinns, unserer Nachläßig-
keit, unsres Unverstandes, unserer Thorheit, schlechterdings nicht vermeiden; ja Gott selbst kann uns
auf keine andere Art glücklich machen, als dadurch, daß wir das Gute thun, das in unserm unverderbten
Herzen geschrieben stehet. Die Verständigen und Klugen hingegen, welche gewöhnt sind, alle Gegen­
stände aus verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten, eh sie davon ur-[35]theilen, ob sie gut oder
böse, schön oder häßlich, wünschenswürdig, gleichgiltig, oder verabscheuungswürdig sind, kennen den
wahren Nutzen der irdischen Güter: sie nehmen davon, so viel sie nöthig haben, oder ohne großen Zeit­
verlust erhalten können, und gehen weiter, um auch die schönem und edlern Gegenstände, die für ihren
unsterblichen Geist bestimmt sind, zu entdecken, welches ihnen auch niemals mißlingt. Dann gehen sie
die Wege, welche nach dem gesuchten Ziele führen, mit Freuden, sie mögen nun rauh oder gebahnt,
angenehm oder beschwerlich, zu wandeln seyn, denn darinn besteht die wahre Weisheit, welche sich
auf den Verstand gründet, und allezeit aus ihm entspringt. Einige Menschen finden auf Erden Gelegenheit,
verständiger zu werden, als andere, und dann sind sie verbunden, auch diese auf ihr wahres Glück auf­
merksam zu machen, oder ihnen den rechten Weg, der sie zu ihrer höhern Bestimmung führt, zu zeigen -
Woran soll man aber erkennen, fragte A m alie, ob der, welcher uns leitet, den rechten Pfad nicht selbst
verfehle, und ob wir auf sichern Wegen einher wandeln, da doch alle Menschen irren können -? Dazu
gehört ja, wie Sie selbst sagen, Weisheit, welche für mich und für viele viel zu hoch ist -?
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 85

vielen Menschen ist schon Klugheit hinreichend, den rechten Pfad zu wandeln, der
von allen Menschen theils durch Erfahrung, theils durch genaue Aufmerksamkeit
auf das, was uns unser Herz lehrt, erlangt werden kann. Wer nicht lange genug
gelebt hat, um dergleichen Erfahrungen zu machen oder sein Herz zu prüfen, der
5 lebt auch nicht lange genug, um Böses zu thun, oder um sein Gewissen zu belästigen
und wird daher in jenem Leben gewiss glücklich werden, wenigstens glücklicher, als
wenn er lange und nicht tugendhaft gewandelt hätte. Klugheit ist die Führerin der
Tugend, so wie der Verstand der Vater der Weisheit ist; - wer ohne Führer nur dem
Wege folgt, wovon ihm sein Herz sagt, dass er recht sey, trifft gemeiniglich den
io rechten, wenn er nicht durch falsche Vorstellungen und verkehrte Erziehung
schwindelnd geworden ist; denn eigentlich sind die Herzen der Menschen gut und
edel aus der Hand ihres gütigen Schöpfers gekommen, welches verschiedene kleine
unschuldige Völkerschaften beweisen, die weiter keinen anderen Gesetzen, als denen
ihres Herzens folgen. Nur Hunger, Blösse und andere Gefahren des Lebens können
15 sie zuweilen zwingen, dieses Gefühl zu unterdrücken und Böses zu unternehmen.
Denn der allgemeine Trieb der Erhaltung des Lebens wirkt freilich oft stärker als
das Verlangen, andere Menschen glücklich zu sehen und an ihrem Wohlergehen
Antheil zu nehmen, weil Jeder sich selbst am Nächsten ist. - Seid also klug wie die

[36] Nicht allemal, versetzte P h ilaleth es, denn bey den meisten ist schon die Klugheit hinreichend,
die nur ein niedriger Grad des Verstandes ist, und von allen Menschen, ohne Ausnahme des weiblichen
Geschlechts, theils durch die Erfahrung, theils durch genaue Aufmerksamkeit auf das, was uns unser Herz
lehret, erlangt werden kann. Wer nicht lange genug lebt, um dergleichen Erfahrungen zu machen, oder
sein Herz zu prüfen, der lebt auch nicht lange genug, um Böses zu thun, oder um sein Gewissen zu be­
lästigen, und wird daher in jenem Leben gewißlich glücklich seyn, wenigstens glücklicher, als wenn er
lange, aber nicht tugendhaft, auf Erden gewandelt hätte. Klugheit ist die Führerin der Tugend, so, wie
der Verstand der Vater der Weisheit ist.
(Leider gebe es freilich Menschen, die sich zu Wegweisern anderer aufwürfen, aber selber den rechten Weg oft
verfehlten.) [37] Nein, dann darf es Niemanden befremden, wenn die Reisenden ihren Führer verlassen, und
auf gut Glück den ersten den besten Weg, wovon ihnen ihr eigenes Herz sagt, daß er recht sey, verfolgen,
welchen sie denn auch insgemein richtig treffen, wenn sie noch nicht durch falsche Vorstellungen und ver­
kehrte Erziehung schwindelnd geworden sind, noch den Süd im Norden, oder den West im Osten, su­
chen, wie ihre bestürzten Wegweiser: denn eigentlich sind die Herzen der Menschen gut und edel aus
der Hand ihres gütigen Schöpfers gekommen, welches verschiedene kleine Völkerschaften beweisen,
die gleichsam noch in dem Stande der Unschuld leben, und weiter keinen Gesätzen, als die ihnen ihr Herz
vorschreibt, unterworfen sind.
Nur Hunger, Blöße und andere Gefahren des Lebens können sie zuweilen zwingen, dieses gute Ge­
fühl zu unterdrücken und böse Handlungen zu unternehmen: denn Gott hat auch den Trieb der Er­
haltung des Lebens in alle belebte Geschöpfe gelegt, welcher aber freylich oft stärker wirkt, als das Ver­
langen, andere Menschen, die um uns sind, glücklich zu sehen, und an ihrem Wohlergehen Antheil zu
nehmen, weil Jeder sich selbst am nächsten ist. Selten lieben wir einen [38] Menschen so sehr, daß wir,
um ihn von dem Tode zu retten, bereit sind, für ihn zu sterben. Man kann sich auch diese großmüthige
Liebe nicht nach Willkühr eigen machen, denn sie bemächtigt sich selbst der Herzen der Menschen, ohne
86 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

Schlangen und ohne falsch wie die Tauben, d. h. trauet nicht denen auf ihr Wort,
die euch den Weg zu eurer Glückseligkeit zeigen wollen, sondern prüfet euer Herz
aufrichtig und ohne Falsch, um zu erfahren, ob es gut sey, ihnen zu folgen oder einen
anderen Weg zu gehen.
In der Gesellschaft jener höheren Wesen werden wir dann eben so gut wie auf 5
Erden Gelegenheit an treffen, Gutes zu thun und Vergnügen von verschiedener Art
zu gemessen, indem wir dadurch Gott ähnlicher werden. Die Menschen machen sich
freilich seltsame und meist sinnliche Begriffe von der zukünftigen Glückseligkeit (da
sie allein für den Geist gehört) indem sie grösstentheils dasjenige Glück daselbst zu
finden glauben, welches sie auf Erden am meisten wünschen, aber nicht erlangen io
können. Diese irrigen Begriffe gründen sich meist auf der verkehrten Vorstellung
vom Himmel und der Wohnung Gottes mit den Seligen, da Gott doch überall ist,
da wir in ihm allezeit leben, in ihm uns bewegen und in ihm selbst sind; wir dürfen
also nicht erst nach dem Tode zu ihm gelangen. Dass wir reden, hören und sehen,
dass ein Herz in unserer Brust schlägt, dass ein Gedanke auf den andern folgt, das 15
thut Gott, in dem wir sind und leben! Welch’ erhabener, Ehrfurcht einflössender

deren Bewußtseyn. Wer aber der Stimme seines unverderbten Herzens und Verstandes gehorcht, der
handelt klug und tugendhaft: darum seyd klug, wie die Schlangen und ohne Falsch, wie die Tauben,
das heißt, trauet nicht denen auf ihr Wort, die Euch den Weg zu Eurer Glückseligkeit zeigen wollen,
sondern prüfet Eure Herzen aufrichtig und ohne Falsch, um zu erfahren, ob es gut sey, ihnen zu folgen,
oder einen andern Weg zu gehen.
(Hier wird das Gespräch unterbrochen. Bei seiner Fortsetzung am nächsten Tage äußert sich Carl über die
Unwissenheit der Menschen, worin eigentlich die künftige Glückseligkeit bestehen werde. Dem begegnet Philalethes
mit dem Hinweis, daß Gott als unendlich gütiger Vater uns zweifellos ein sehr wiinschenswürdiges Glück auf­
behalte, und fährt fort:) [40] Ohne Geschäfte werden wir wahrscheinlich auch nicht seyn: aber wir werden
ihnen nicht mit Widerwillen oder aus Noth, wie zuweilen auf Er-[41]den geschiehet, obliegen, sondern
Wohlgefallen und Vergnügen daran finden: denn warum sollten wir in der Gesellschaft höherer Wesen
nicht eben so gut, wie auf Erden, Gelegenheit antreffen, Gutes zu thun, und Vergnügungen von verschie­
dener Art zu genießen, indem wir dadurch Gott selbsten ähnlicher werden - ? ...
Die Menschen machen sich allerdings oftmals gar seltsame Begriffe von dem ewigen Leben, indem
sie größtentheils dasjenige Glück daselbst zu finden glauben, welches sie auf Erden am meisten wünschen,
aber nicht erlangen können. (Es folgen Beispiele hierfür aus verschiedenen Nationen und Ständen.)
[43] Alle diese irrigen Meynungen gründen sich auf den falschen Begriff der meisten Menschen, daß
der Himmel eine gewölbte Decke sey, hinter welcher Gott mit den Seligen wohne: da wir doch wissen,
daß er überall ist, daß wir allezeit in ihm leben, in ihm uns bewegen, und in ihm selbst sind; denn er er­
füllet den ganzen Himmel oder Weltraum, worinnen wir schon itzt herum getragen werden, und nicht
erst nach dem Tode dahin gelangen dürfen ... Welcher erhabener Gedanke -! Er muß Euch, so oft Ihr
Gott denkt, rühren, Euren Geist erschüttern, und Euch die tiefste Erfurcht gegen ihn einflößen -! Gott ist
hier -! Wir befinden uns in ihm -! Daß wir reden, daß wir hören, und sehen, daß ein Herz in unserer
Brust schlägt, daß ein Gedanke auf den andern erfolgt: das thut Gott - in welchem wir leben und sind -
Denn wer könnte das sonst, als er -? Woraus sollte man sonst seine Gegenwart erkennen, als aus seinen
Werken - ?
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 87

Gedanke! Und wegen dieser irrigen Meinung ergreift man selten die rechten Mittel
zur wahren Glückseligkeit zu gelangen. Kurz an die Aufklärung des Verstandes und
Ausübung der Tugend, als worin der Glaube an Jesus besteht, und welche die ein­
zigen Mittel der menschlichen Glückseligkeit sind, ist Jahrtausende lang nicht gedacht
5 worden, und bei einigen Religionen wird noch gar nicht daran gedacht, daher denn
viele Unverständige und Lasterhafte. Viele sind zwar immer noch gut, und wir
würden noch besser und des Namens der Menschen viel würdiger werden, wenn sich
die Weisen angelegen sein Hessen, die grosse Wahrheit, dass wir durch unsere guten
Handlungen ohne weiteres Zuthun Gottes glücklich, durch böse Thaten und unedle
io Triebe hingegen unmittelbar unglücklich werden, durchgängig zu lehren und leb­
haft vorzustellen. So tief ist selten Jemand gefallen, dem bei bösen Unternehmungen

Wer aber seine Einbildung mit solchen verkehrten Vorstellungen, wie die vorhin angeführten sind,
verderbt hat: der wird, wie leicht zu erachten, auch in der Wahl der Mittel, die ihn zu [44] seinen wahren
Glücke führen sollen, höchst verkehrt verfahren, und sie eben so verkehrt Andern anrathen, oder gar
aufdringen, wenn er Gewalt dazu hat. Daher gab es zu verschiedenen Zeiten Leute, welche lehrten, man
müsse, um das Himmelreich zu erben, alle Güter dieses Lebens wegwerfen, den irdischen Freuden, auch
wenn sie nützlich und unschuldig sind, gänzlich entsagen, die Seinigen verlassen, andere Menschen, die
diesen verkehrten Meynungen nicht beypflichten, fliehen und weiter nichts thun, als fasten und beten:
denn dieses hielten sie für Tugend, die Jesus gepredigt habe, indem sie dadurch das Glück der Seelen
gleichsam zu erkaufen gedachten. Andere hingegen behaupteten, man dürfe nur glauben, aber niemals
selbst nach Wahrheit forschen, denn dieses sey der gerade Weg nach der Höllen. Derer, die sich außer
der Christenheit befanden, und ihre erzürnten Götter durch Opfer, oder gewisse Gebetsformeln, und
andere gottesdienstliche Gebräuche, versöhnen wollten, will ich nicht einmal gedenken. Kurz an die
Aufklärung des Verstandes und Ausübung der Tugend, als worinn der Glaube an Jesum bestehet, und
welche die einzigen Mittel der menschlichen Glückseligkeit sind, wird bey einigen Religionen fast gar
nicht gedacht: daher denn auch viele Menschen unverständig und lasterhaft bleiben -
[45] Ach das wäre entsetzlich -! rief A m alie - Sollten denn wirklich viel böse Menschen in der Welt
seyn -? Sie sagten ja: sie folgten größtentheils den Neigungen ihrer Herzen -? Diese hat doch aber Gott
alle gut erschaffen -? Und gesetzt, einige würden verwahrloset: so werden doch die meisten gut bleiben -?
Nun ich will es zugeben, erwiederte P h ila le th e s: aber wir würden noch weit besser und des hohen
Namens der Menschen viel würdiger seyn, wenn sich die Weisen unter uns angelegen seyn ließen, die
große Wahrheit, daß wir durch unsere guten Handlungen und Gedanken, ohne weiteres Zuthun Gottes,
glücklich, durch böse Thaten und unedle Triebe hingegen unmittelbar unglückhch werden, durchgängig
zu lehren und lebhaft vorzustellen. ...
Kein Mensch ist sich selbst genug: er hängt nicht von sich selbst ab, sondern von tausend leblosen
Sachen sowohl, als von andern Menschen [46] und Gott: er ist ein Glied der großen Kette der Natur, die
in allen ihren Theilen aufs genaueste zusammenhängt, und das große Ganze, oder die Welt, ausmacht.
Beleidigen oder verderben wir ein Glied dieser großen Kette der Natur, wohin auch die Geister gehören:
so wird die ganze Kette durch unsere Schuld unvollkommener, folglich auch wir selbst, weil wir zu dem
Ganzen gehören, und von den übrigen Gliedern abhangen. Diese uns selbst zugezogene Erniedrigung
müssen wir nothwendig unter dem Namen des erwachten Gewissens empfinden, welches auch in der
,That bey den meisten Menschen geschiehet, wenn sie etwas böses begangen haben; denn so tief sind wir
doch noch nicht gefallen, daß Einem bey bösen Unternehmungen der Gedanken: du handelst unrecht!
88 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

der Gedanke unrecht zu handeln, niemals einfallen sollte. Nein, der Keim des Guten
ist von der gütigen Vorsehung in unser aller Herzen gepflanzt; uns liegt nur ob, für
seine Entwickelung und Wachsthum zu sorgen. Die das Gegentheil lehren, laden
sich eine grosse Last auf ihr Gewissen; und eben so Diejenigen, die lehren, dass wir
nicht um unserer selbst willen, sondern bloss, weil es Gott so haben wolle, tugendhaft 5
leben müssen. Denn es ist wider die Natur des vernünftigen Menschen, etwas zu
thun, wenn er nicht voraussieht, oder vermuthet, dass für ihn selbst auf irgend eine
Art gewisse Vortheile daraus entspringen. Es ist wider den Begriff, welchen wir uns
von Gott machen müssen, wenn wir glauben, dass er verlange, ihm mit unsern guten
Handlungen einen Dienst zu erzeigen; denn er will bloss deswegen, dass wir Gutes 10
thun sollen, weil es uns, aber nicht ihm nützlich ist und unmittelbar glücklich macht.
Leute, die Jenes glauben, geben der warnenden Stimme Gottes in ihrem Herzen
kein Gehör, weil man ihnen gesagt hat, dass auch ihr Herz selbst von Natur verderbt
und höchst böse sey. W as m an thun müsse, um glücklich zu w erden, ist
kürzlich D ieses: Ehre Gott über Alles und liebe deinen Nächsten als dich selbst; 15
diess ist die Stimme der Gottheit und unserer Herzen; wer diesen gehorcht, ist glück­
lich. G ott ehren heisst unsern Geist, so viel nur immer möglich ist, mit nützlichen

da bist strafbar! gar niemals einfallen sollte. Nein, der Keim des Guten ist vielmehr von der gütigen Vor­
sehung in unser Aller Herzen gepflanzt: uns liegt nur ob, für seine Entwickelung und Wachsthum Sorge
zu tragen.
Auf solche Art werden freylich diejenigen eine große Last auf ihr Gewissen laden, welche Gelegenheit
haben, die Herzen des Menschen kennen zu lernen, und ihnen doch weiß machen, daß sie zum Guten
gänzlich unfähig seyen, oder daß sie nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß weil es [47] Gott so haben
wolle, tugendhaft leben müssen: denn es ist wider die Natur des vernünftigen Menschen, etwas zu thun,
wenn er nicht voraus siehet oder vermuthet, daß für ihn selbst auf irgend eine Art gewisse Vortheile
daraus entspringen; es ist wider den Begriff, welchen wir uns von Gott machen müssen, wenn wir glauben,
daß er verlange, ihm mit unsern guten Handlungen einen Dienst zu erzeigen: denn er will bloß deßwegen,
daß wir Gutes thun sollen, weil es uns, aber nicht ihm, nützlich ist und unmittelbar glücklich macht.
Wer dieses nicht weiß und nicht einsiehet, sondern dafür hält, er müsse bloß Gott zu gefallen gerecht
und tugendhaft leben: der wird seine verderbten Begierden oft ungehindert wirken lassen, die Religion
mag übrigens sagen, was sie will: denn dergleichen Menschen wissen ja nicht, daß ihnen Gott nah ist,
daß er es weiß, und daß sie sich dadurch selbst schaden: sie glauben vielmehr, ihr Bestes darinn zu finden,
und geben der warnenden Stimme Gottes, die in ihren Herzen ruft, kein Gehör, weil man ihnen gesagt
hat, daß auch ihr Herz selbst von Natur verderbt und höchst böse sey. (Auch durch gesetzmäßige Strafen
könne das Gute nicht befördert xuerden. Aber künftig werde das Leben auf Erden für die Menschen sicherlich immer
angenehmer sein, da sich mit xuachsenden Kenntnissen auch Tugend und Glückseligkeit immer mehr verbreiten
würden.)
[49] Aber können Sie mir nicht kürzlich sagen, was ich thun muß, um glücklich zu werden -? fragte
Am alie weiter.
Ehre Gott über alles, und liebe deinen Nächsten als dich selbst - Dieß ist die Stimme der Gottheit
und unserer Herzen - versetzte P h ilaleth es - W er dieser gehorcht, der ist glücklich.
Was heißt denn Gott ehren -? Fuhr A m alie fort.
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K EIT 89

Kenntnissen sättigen, um dadurch Gott täglich ähnlicher zu werden; eben so ehren


wir ihn, so oft wir etwas Neues lernen, das uns oder Andern nützlich ist, obgleich die
Art und Weise, wie wir es erlernen, sehr verschieden seyn kann, ferner durch freudige
Dankbarkeit für seine Güte und volle Bewunderung über seine Weisheit; wir ehren
5 ihn, wenn wir den seligen Empfindungen über seine Liebe, Güte und Herrlichkeit,
entweder bei einsamen Betrachtungen seiner erhabenen Grösse, oder in Gesellschaft
anderer Menschen Raum geben, und einen Drang in uns fühlen, ihn zu preisen und
anzubeten. Aber alle diese Verehrungen helfen ihm eigentlich nichts, denn er bedarf
nichts, da er Alles besitzt; sie sind bloss uns selbst nützlich, indem sie unserer Seele
io unmittelbar wahre Stärke, Hoheit und Glückseligkeit gewähren. Ebenso fällt die
Liebe des Nächsten auf uns selbst zurück, denn dadurch erfüllen wir unsere Pflichten,
die wir als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft einander schuldig sind, um das
Wohl des Ganzen zu befördern; dieses wird unser Herz beruhigen, wir werden uns
darüber mit allen edlen Geistern freuen und höchst glücklich seyn. Diese Liebe hat
15 aber ihre bestimmten Grenzen, wo sie aufhört Tugend zu seyn oder in schwärmeri­
sche Einfalt ausartet. Die Merkmale dieser Grenzen sind folgende: wir müssen uns
bei jeder beträchtlichen Unternehmung alle Zeit in die Lage Desjenigen hineinden-

Unsern Geist, so viel nur immer möglich ist, mit nützlichen Kenntnissen sättigen, um dadurch Gott
täglich ähnlicher zu werden - antwortete P hilalethes - Also ehren wir Gott überall, wo wir unserm
Verstände Nahrung reichen, der Ort, wo dieses geschiehet, sey nun, wo er wolle. Eben so ehren wir ihn
allezeit, so oft wir etwas neues lernen, das uns oder andern nützlich ist, obgleich die Art und Weise, wie
wir es erlernen, sehr verschieden seyn kann: woraus aber auch erhellet, daß es Gott selbsten nichts hilft,
wenn wir ihn ehren, sondern nur allein uns, weil wir dadurch unser eigenes Glück befördern, wozu wir
geschaffen sind, und welches Gott will.
[50] Wir ehren Gott ferner, wenn wir uns die Wohlthaten, die er dem menschlichen Geschlecht er-
theilt hat, recht lebhaft vorstellen, und unsere Herzen, voll freudiger Dankbarkeit für seine Güte, und voll
Bewunderung über seine Weisheit, womit er die Welt regieret, zu ihm erheben: wir ehren ihn, wenn wir
den seligen Empfindungen über seine Liebe, Güte, und Herrlichkeit, entweder bey einsamen Betrach­
tungen seiner erhabenen Werke, oder in Gesellschaft anderer Menschen, Raum geben und einen Drang
in uns fühlen, ihn zu preisen und anzubeten. Aber alle diese Verehrungen können ihm eigentlich nichts
helfen, denn er bedarf nichts, weil er alles besitzt: sie sind bloß uns selbsten nützlich, indem sie unserer
Seelen unmittelbar wahre Stärke, Hoheit, und Glückseligkeit gewähren.
Also wird auch wohl die Liebe gegen den Nächsten auf uns zurück fallen, und uns selbst zum Besten
gereichen-? fragte A m alie ferner.
Allerdings - betheuerte P h ilaleth es: denn dadurch erfüllen wir unsere Pflichten, die wir als Mit­
glieder der menschlichen Gesellschaft einander schuldig sind, um das Wohl des Ganzen zu befördern:
dieses wird unser Herz beruhigen, wir werden uns darüber mit allen edlen Geistern freuen, und höchst
glücklich seyn.
[51] Aber die Liebe gegen den Nächsten, setzte A m alie hinzu, hat doch wohl auch ihre bestimmte
Grenzen, wo sie aufhört Tugend zu seyn, oder in schwärmerische Einfalt ausartet - und wollen Sie mir
wohl die Merkmale dieser Grenzen bekannt machen - ?
Wir müssen uns, antwortete P h ilaleth es, bey jeder beträchtlichen Unternehmung allezeit in die
90 AU S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

ken, mit dem wir es zu thun haben, und uns lebhaft prüfen, was wir alsdann wohl für
ein Verfahren von Menschen wünschen würden. Behandeln wir nun unsere Brüder
und Schwestern ebenfalls so, wie wir es verlangen würden, wenn wir an ihrer Stelle
wären, so erfüllen wir unsere Pflichten gegen den Nächsten, und sind in dieser Rück­
sicht tugendhaft. Anfangs ist es zwar etwas schwer, aber wird es bald gewohnt, bald 5
leicht und angenehm; ja es erregt in unsern Herzen oft das edelste Vergnügen, dessen
Sterbliche fähig sind. Also seyd in allen Unternehmungen, Gesprächen, Scherzen,
Urtheilen und Handlungen höchst behutsam, und prüft allemal eure Herzen vorher.
Was uns in diesem und wahrscheinlich auch in dem zukünftigen Leben grosse
Glückseligkeit gewährt, sind die Leidenschaften, von welchen kein Mensch, der ein io
empfindsames Herz besitzt, befreit bleiben kann, weil sie aus dem inneren und
geheimen Gefühl desselben entstehen, und Thieren niemals zukommen; denn man
kann bei ihnen nur Naturtriebe nennen, und sie dauern nur so lange, als das Thier
den Gegenstand seiner Empfindung vor sich sieht. Einige Menschen werden freilich

Lage desjenigen hinein denken, mit dem wir es zu thun haben, und uns lebhaft prüfen, was wir alsdann
wohl für ein Verfahren von andern Menschen wünschen würden.
Behandeln wir nun unsere Brüder und Schwestern ebenfalls so, wie wir es verlangen würden, wenn
wir an ihrer Stelle wären: so erfüllen wir unsere Pflichten gegen den Nächsten, und sind in dieser Rück­
sicht tugendhaft.
(Dies wird im folgenden durch einige Beispiele ausführlich erläutert.)
[54] Anfangs ist es freylich oft schwer, sich in die Lage eines Andern gehörig hinein zu denken und
zu untersuchen, welche Pflichten man zu befolgen habe: aber man wird dieser Untersuchungen in kurzer
Zeit gewohnt, und dann werden sie uns, wann wir in die großem Gesellschaften der Menschen getreten
und nur einige mal in dergleichen Angelegenheiten verwickelt gewesen sind, sogar leicht und angenehm;
ja sie erregen in unsern Herzen oft das edelste Vergnügen, das wir uns auf Erden nur immer wünschen
können, zumal wenn wir Gelegenheit finden, Unterdrückten aufzuhelfen, Unschuldige zu vertheidigen,
Verlassene zu erquicken, und die Tugend glücklich zu sehen. ...
Also seyd in allen Euren Unternehmungen, in Euren Gesprächen, in Euern Scherzen, in Euern Ur­
theilen, und allen Handlungen, höchst behutsam: unternehmet, redet, beurtheilt, und lobet oder tadelt
eher nichts, bis Ihr Euch vorher in die Lage desjenigen, den dieses betrifft, gehö-[55]rig hinein gedacht,
und Euer Herz geprüfet habt, wie es ihm gefallen würde, wenn Euch selbst also geschäh. (Es folgen weit­
läufige Ausführungen über den Wert des gesitteten, wohlanständigen Verhaltens in der Gesellschaft und darüber,
daß das allgemeine Glück der Menschen nur aus dem gemeinsamen Bemühen aller erwachsen könne.)
[57] Was uns in diesem, und wahrscheinlich auch in dem zukünftigen, Leben vorzüglich große Glück­
seligkeit gewähret, das sind die Leidenschaften, von welchen kein Mensch, der ein empfindsames Herz
besitzt, befreyet bleiben kann, weil sie aus dem innern oder geheimen Gefühl desselben entstehen [58]
und andern Thieren niemals zukommen: denn daß ein gereizter Löwe, oder Tieger, grimmig wird und
Menschen zerreißt, daß böse Hunde durch den Anblick fremder Menschen oder Katzen zum Bellen und
Beißen angetrieben werden, und daß die Tauben einander liebkosen, kann wohl nicht Leidenschaft, son­
dern nur etwa Naturtrieb, genannt werden. Der Grimm des Tiegers, die Bosheit des Hundes oder der
Katze, und die Liebkosung der Tauben, dauern nur so lange, als diese Thiere die Gegenstände ihres
Grimms, ihrer Bosheit und ihrer Liebkosung vor sich sehen, und legen sich bey deren Abwesenheit gänz­
lich, welches bey dem Menschen ganz anders ist, indem bey diesem eine Leidenschaft oft viele Jahre lang
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 91

auch grimmig und viehisch u.s.w., aber dann sind nicht die Leidenschaften, sondern
Raserei und Unsinn daran Schuld. Ohne Leidenschaften würden wir zwar keines
Unglücks, aber auch keiner grossen Glückseligkeit auf Erden fähig seyn, denn sie
sind uns eigentlich gegeben, um unser Glück recht lebhaft zu empfinden, weil wir
5 einen Zügel haben, womit wir sie auf rechtem Wege leiten müssen; und dieser ist
die Vernunft. Oft wird sie von den Leidenschaften überwältigt, wenn sie nämlich
stärker sind als der Verstand; und dann sind die Menschen, die sich überwältigen
lassen, nicht selten unwiederbringlich verloren.
Prägt auch noch folgende Regeln tief ein, um den unglücklichen Folgen fast
io immer zu entwischen, und glücklich zu entgehen. - Die erste und edelste unter den
Leidenschaften ist die Liebe, welche darin besteht, dass sich in unserm Herzen ein
unersättliches Verlangen, andere Menschen glücklich zu sehen, äussert, und uns an­
treibt, Alles zu thun, was ihnen gefällig und angenehm ist. Sie ist die einzige Quelle
menschlicher Glückseligkeit, indem aus ihr auch alle andern edlen Leidenschaften
15 entspringen, wenn sie Gegenliebe findet; sie gewährt uns die grösste Lust, deren nur
vernünftige, Gott ähnliche Menschen fähig sind, wenn wir die Verdienste derer, die
wir lieben, belohnt und die Tugend glücklich sehen. Ein hoher Grad der Lust wird

lebhaft fortdauert, wenn auch gleich der Gegenstand, der sie erregt hat, weit von ihm entfernt ist. Einige
Menschen werden zuweilen frevlich auch grimmig, boshaft, und viehisch, aber dann sind nicht die Leiden­
schaften, sondern Unsinn und Raserey daran schuldig.
Hätte uns Gott ohne Leidenschaften gemacht: so würden wir zwar keines Unglücks, aber auch keiner
großen Glückseligkeit auf Erden fähig seyn; denn eigentlich sind sie uns bloß gegeben, um unser Glück
recht lebhaft zu empfinden, weil wir einen Zügel haben, womit wir sie auf rechten Wegen [59] leiten
müssen: und dieser ist die Vernunft. Oft wird sie von den Leidenschaften überwältigt, wenn sie nämlich
stärker sind, als der Verstand, und dann sind die Menschen, die sich überwältigen lassen, nicht selten
unwiederbringlich verlohren.
Es kann seyn, daß Ihr in Eurem Leben ebenfalls in Gefahr gerathet, von heftigen Leidenschaften über­
rascht zu werden: darum prägt Eurem Verstände noch folgende wenige Lehren, von den Leidenschaften
überhaupt, tief ein und ruft sie bey allen Gelegenheiten wieder in Euer Gedächtniß zurück, um ihnen
nachzukommen: so werdet Ihr den unglücklichen Folgen, die aus zügellosen Leidenschaften fast immer
nothwendig entspringen, hoffentlich allemal glücklich entgehen.
Die erste und edelste unter den Leidenschaften ist die Liebe, welche darinn besteht, daß sich in unsern
Herzen ein unersättliches Verlangen, andere Menschen glücklich zu sehen, äußert, und uns antreibt, alles
zu thun, was ihnen gefällig und angenehm ist. Zuweilen wirkt dieses dunkele Gefühl der Liebe so heftig,
daß man sich höchst glücklich schätzt, nicht nur Rang, Reichthum, und Ehre, der geliebten Person zu
ihren Füßen nieder zu legen, sondern auch selbst das Leben, mit den lebhaftesten Empfindungen des Ver­
gnügens, für sie dahin zu geben: denn die Liebe ist gleichsam die [60] einzige Quelle der menschlichen
Glückseligkeit, indem aus ihr auch alle andere edele Leidenschaften entspringen, wenn sie Gegenliebe
findet. Sie gewährt uns die größte Lust, deren nur vernünftige gottähnliche Geister fähig sind, wenn
wir die Verdienste derer, die wir lieben, belohnt und die Tugend glücklich sehen.
. Ein hoher Grad der Lust wird Freude genannt, die also ebenfalls aus der Liebe entstehet, und insgemein
nur dann erst in unsern Herzen erregt wird, wann diejenigen, die wir lieben, unverhofft recht sehr glück-
92 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

Freude genannt, die also ebenfalls aus der Liebe entsteht, und insgemein nur dann
erst in unsern Herzen erregt wird, wenn diejenigen, die wir lieben, unverhofft recht
glücklich werden; denn dadurch werden wir es auch selbst, weil wir in ihrem Glücke
unser eigenes finden; ja, diese Leidenschaft wirkt zuweilen so gewaltig, dass sie sogar
den Menschen plötzlich tödtet, daher muss man sich gewöhnen, den wahren Werth 5
der irdischen Güter kennen zu lernen, um sie nicht heftig zu begehren, sondern viel­
mehr mit gleichgültigen Augen ansehen, damit wir von ihnen nicht zu unserem
Schaden überrascht werden. - Die Liebe treibt uns ferner an, nach Ehre, d. h. nach
Ruhm bei dem Weisen, nach Ansehn, Reichthum und andern Gütern dieses Lebens
zu streben, damit wir sie mit denen, die wir lieben, theilen, von ihnen Gegenliebe 10

erlangen und dadurch unser eigenes Glück vollkommen machen können. Liebe,
Lust, Freude und Bestreben nach solchen Gütern, die zu unserem wahren Glücke
dienen, sind demnach allerdings gute und edle Leidenschaften, wenn sie mit Verstand
gemässigt und mit Klugheit gebraucht werden; aber sobald wir ihnen die Zügel
gänzlich frei lassen, und nicht Verstand genug anwenden, um einzusehen, dass es uns 15
auf der anderen Seite höchst schädlich seyn würde, wenn wir dergleichen Güter
gleichsam erzwingen wollten, und doch einsähen, dass wir sie durch allen unsern
Fleiss, durch alle unsere Mühe und dringendes Bestreben dennoch unmöglich er­
reichen können; dann verwandeln sich diese edlen Leidenschaften in Hass gegen die
vermeintlichen Hinderer an unserem Glücke; wir gerathen in Unruhe, Traurigkeit, 20

Angst, Rachbegierde und zuweilen gar in Verzweiflung, da wir dann verloren gehen.
Dies geschieht zuweilen auch, wenn wir um gewisse Güter, die wir schon völlig

lieh werden, wenigstens unserer Meynung nach: denn dadurch werden wir es auch selbsten, weil wir in
ihrem Glücke unser eigenes finden; ja diese Leidenschaft wirkt zuweilen so gewaltig, daß sie sogar die
Menschen plötzlich tödet, indem schon viele vor allzugroßen Freuden über ein längst gewünschtes, und
nun auf einmal erlangtes, Gut augenblicklich tod zur Erden gefallen sind. Daher muß man sich gewöhnen,
den wahren Werth der irdischen Güter kennen zu lernen, um sie nicht heftig zu begehren, sondern viel­
mehr mit gleichgiltigen Augen anzusehen, damit wir von ihnen nicht zu unserm Schaden überrascht
werden.
Die Liebe treibt uns ferner an, nach Ehre, das heißt, nach Ruhm bey dem Weisen, nach Anse-[61]
hen, Reichthum und andern Gütern dieses Lebens, zu streben, damit wir sie mit denen, die wir lieben,
theilen, von ihnen Gegenliebe erlangen, und dadurch unser eigenes Glück vollkommener machen können.
Liebe, Lust, Freude, und Bestreben nach solchen Gütern, die zu unserm wahren Glücke dienen, sind
demnach allerdings gute und edle Leidenschaften, wenn sie mit Verstände gemäßigt und mit Klugheit
gebraucht werden: aber sobald wir ihnen den Zügel gänzlich frey lassen, und nicht Verstand genug an­
wenden, um einzusehen, daß es uns auf der andern Seite höchst schädlich seyn würde, wenn wir der­
gleichen Güter gleichsam erzwingen wollten, und doch einsähen, daß wir sie durch allen unsern Fleiß,
durch alle unsere Müh und dringendes Bestreben, dennoch unmöglich erreichen können, dann verwan­
deln sich diese edlen Leidenschaften in Haß gegen diejenigen, die uns, unserer Meynung nach, an unserm
Glücke hinderlich sind; wir gerathen darüber in Unruh, Traurigkeit, Angst, Rachbegierde, und zuweilen
gar in Verzweifelung, da wir dann verlohren gehen. Dieses geschieht zuweilen auch, wenn wir um ge-
Exzerpt 6 W AHRE G L Ü C K SELIG K E IT 93

besitzen, unrechtmässiger Weise gebracht werden, oder auch bloss durch Unglücks­
fälle darum kommen. Solche Leidenschaften sind dann höchst schädlich. Seyd daher
wachsam über eure Herzen, lernt den wahren Werth der Güter dieser Erde recht
kennen, und achtet sie niemals höher, als die Ruhe eures Gewissens, noch höher als
5 das höchste Gut eurer Seelen, d. h. das Bewusstseyn, rechtschaffen und tugendhaft
gehandelt zu haben, denn dieses Glück kann euch die Ewigkeit selbst nicht berauben.
Seyd also zu allen Stunden bereit, Glück und Unglück zu empfahen, damit euch
nichts unerwartet oder unerträglich Vorkommen möge, denn mehr kann doch nicht
verloren gehen, als das Leben des Leibes, und was ist dieses gegen die Glückseligkeit
io des erhabenen Geistes, der sich jetzt dieses Leibes bloss zu verschiedenen Geschäften
bedient ? Behaltet diese Regeln und glaubt, dass es viel leichter ist, das Herz vor gefähr­
lichen Leidenschaften zu beschützen, wenn man noch von ihnen frei ist, als sie erst
daraus zu vertreiben, nachdem sie sich desselben schon bemächtigt haben. -W enn
ihr unvermuthet Hoffnung zu einem wünschenswerthen Glück gewinnt, das etwa
15 noch von der weisen Vorsehung oder auch von dem Eigensinne einiger Menschen
abhängt, so hütet euch vor dem ersten Schritte, diese Hoffnung euren Seelen tief
einzuprägen oder die Wahrscheinlichkeit dieses Glück zu erhalten, bei euch zu einiger
Gewissheit zu machen; denn oft schlägt diese Hoffnung fehl, und dann wäret ihr,
9 das] Th: des

wisse Güter, die wir schon völlig besitzen, unrechtmäßigerweise gebracht werden, oder auch bloß durch
Unglücksfälle darum kommen.
[62] Solche Leidenschaften sind dem menschlichen Geschlecht freylich höchst schädlich, indem sie uns,
wenn wir ihnen nicht mit den Waffen des Verstandes begegnen, in das größte Verderben stürzen. Darum
seyd stets wachsam über Eure Herzen, lernet den wahren Werth der Güter dieser Erden recht kennen,
und achtet sie niemals höher als die Ruh Eures Gewissens, noch höher, als das höchste Gut Eurer Seelen,
welches, wie schon oft gesagt worden ist, in dem Bewußtseyn, rechtschaffen und tugendhaft gehandelt
zu haben, bestehet: denn dieses Glück kann Euch die Ewigkeit selbst nicht rauben, vielweniger die Men­
schen. Seyd also zu allen Stunden bereit, Glück und Unglück zu empfahen, damit Euch nichts unerwartet
oder unerträglich Vorkommen möge: denn mehr kann doch nicht verlohren gehen, als das Leben des
Leibes, und was ist dieses gegen der Glückseligkeit des erhabenen Geistes, der sich itzt dieses Leibes bloß
zu verschiedenen Geschäften bedient ?
Wenn Ihr diese Wahrheiten gehörig prüfet und ihnen folgt: so wird Euer Verstand stets die Oberhand
über die Leidenschaften behalten, und Ihr werdet Euch von ihnen niemals hinreißen oder unglücklich
machen lassen; denn es ist viel leichter, das Herz vor gefährlichen Leidenschaften zu beschützen, wenn
man noch von ihnen frey ist, als sie [63] erst daraus zu vertreiben, nachdem sie sich desselben schon be­
mächtigt haben.
Es kann sich aber zutragen, daß Ihr einmal unvermuthet Hoffnung gewinnet, ein großes wünschens-
würdiges Glück zu erlangen, das Euch vorzüglich angenehm ist. Hängt nun dieses etwa noch von der
weisen Vorsehung, oder auch bloß von dem Eigensinne einiger Menschen, ab: so hütet Euch, hütet Euch
vor dem ersten Schritte, diese Hoffnung Euern Seelen tief einzuprägen, oder die Wahrscheinlichkeit,
daß Ihr dieses Glück erhalten werdet, bey Euch zu einiger Gewißheit zu machen: denn oft schlägt eine
94 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

wenn ihr diesen Schritt gewagt hättet, wahrscheinlich durch euer ganzes Leben oder
wenigstens viele Jahre unglücklich, weil ihr euch dafür halten würdet, und weil euer
Verstand in Rücksicht auf diese Angelegenheit wirklich verrückt wäre. Wenn ihr
aber auch aller angewandten Vorsichtigkeit ungeachtet unvermerkt überrascht wor­
den wäret, aber nun auch betrogen in euren Hoffnungen, die Unmöglichkeit der 5
Erfüllung eurer Wünsche einsähet, und darüber betrübt, traurig, mürrisch, ja zu
allen euern nöthigen Geschäften, denen ihr mit Lust oblieget, gänzlich unfähig
würdet, so ist noch ein Rath übrig, um dieser unglücklichen Leidenschaft zu ent­
gehen, aber er ist streng und überaus schwer auszuführen. Alle Menschen, alle
Betrachtungen und Vorstellungen wären vergebens, ihr wäret schon längst davon io
überzeugt, aber könntet eure Wünsche dennoch nicht unterdrücken und eure Leiden­
schaften nicht ablegen; ihr würdet euch über dergleichen Rathschläge ärgern und
alle Menschen für abscheuliche Ungeheuer ansehen, aus der Hölle gesandt, bloss um
euch zu quälen. Der einzige Rath ist: Lasst eure Unruhe und ängstlichen Wünsche
Niemanden merken; zwingt euch anfangs, ein anderes Gut aufzusuchen, welches 15
jenem in vielen Stücken ähnlich und vielleicht leichter zu erlangen ist, als jenes, zeigt
denen, die euch an Erlangung des ersten hindern, dass euch nichts daran gelegen sey,
ob es gleich nicht wahr ist. Anfangs wird es euch freilich schwer, anders zu reden
11 könntet] Th: könnten

solche veste Hoffnung fehl, und dann wäret Ihr, wenn Ihr diesen ersten Schritt wirklich gewagt hättet,
wahrscheinlich durch Euer ganzes Leben hindurch, oder wenigstens viele Jahre lang höchst unglücklich,
weil Ihr Euch selbst dafür halten würdet, und weil Euer Verstand in Rücksicht auf diese Angelegenheiten
wirklich verrückt wäre. (Im folgenden wiederholt sich der Gedankengang.)
[64] Noch ein Fall! Wenn Ihr nämlich, auch aller angewandten Vorsichtigkeit ohngeachtet, dennoch
unvermerkt überrascht worden wäret, aber nun auch, betrogen in Euren Hoffnungen, die Unmöglich­
keit der Erfüllung Eurer Wünsche einsähet, und darüber betrübt, traurig, mürrisch, ja zu allen Euren nöthi­
gen Geschäften, denen Ihr mit Lust oblieget, gänzlich unfähig würdet: so ist doch noch ein Rath übrig,
um dieser unglücklichen Leidenschaft zu entgehen, aber er ist streng, und überaus schwerlich auszuführen.
Alle Menschen in der Welt würden Euch in diesem Falle nicht helfen können, wenn sie Euch, wie oft
geschiehet, bloß sagen wollten, daß Ihr die Vorsehung solltet walten lassen, daß Ihr um nichts unglück­
licher wäret, wenn auch diese Eure Wünsche nicht befriedigt würden, oder daß Ihr durch alle Eure Sor­
gen, Angst, Unruh, Gebeth, und Verzweifelung, dennoch nichts ausrichten noch erlangen könntet: denn
dieß würde Euch Euer Verstand alles selbst sagen. Ihr würdet längst von dem allen, was diese Leute schwat­
zen, vollkommen überzeugt seyn, aber Eure Wünsche dennoch nicht unterdrücken und Eure Leiden­
schaft nicht ablegen können: Ihr würdet Euch nur noch mehr über der-[65]gleichen Rathschläge ärgern,
und alle Menschen in der Welt für die abscheulichsten Ungeheuer ansehen, welche aus der Höllen ge­
sandt wären, bloß um Euch zu quälen. Nein, der einzige Rath ist alsdann dieser: Laßt Eure Unruh und
ängstlichen Wünsche Niemand merken: zwingt Euch anfangs, ein anderes Gut aufzusuchen, welches
jenem in vielen Stücken ähnlich, und vielleicht leichter zu erlangen ist, als jenes: zeigt denen, die Euch
an der Erlangung des erstem hindern, daß Euch nichts daran gelegen sey, ob es gleich nicht wahr ist. An­
fangs wird es Euch freylich schwer fallen, anders zu reden und zu handeln, als Euer Herz erfodert: aber
Exzerpt 6 W AHRE G LÜ C K SELIG K EIT 95

und zu handeln, als euer Herz erfordert; aber nach und nach wird es leichter; ja ihr
werdet in kurzer Zeit das so sehnlich gewünschte Gut vergessen, nichts mehr wün­
schen, wohl gar verabscheuen und nur das letztere suchen, welches ebenfalls zu ver­
gessen, wenn es nicht zu erlangen wäre, euch nun vollends nicht schwer werden
5 wird, wenn ihr nur das erste glücklich überwunden habt; denn sehr viele Güter
bestehen bloss in der leeren Einbildung, weil wir sie bald emsig suchen, bald ver­
abscheuen. - Oftmals gebären auch üble Gewohnheiten dergleichen verderbliche
Leidenschaften, die viele Menschen nicht ablegen können, ob sie gleich vollkommen
einsehen, dass sie sich selbst dadurch unglücklich machen. In solchen Fällen ist die
io Erziehung und wohl gar das böse Beispiel anderer Menschen, die sie erzogen haben,
daran Schuld, weil man sie hätte warnen sollen. Solchen Leuten ist nicht zu helfen,
als nur dadurch, dass sie sich ein Vierteljahr lang unter die despotische Gewalt eines
verständigen Mannes begeben müssen, der ihnen ihre schädlichen und zur Leiden­
schaft gewordenen Gewohnheiten gewisslich abgewöhnen wird. Dies sind die Mittel
15 die verderbten Leidenschaften zu bekämpfen; wohl dem, der in Allem die rechte
Mittelstrasse findet! -
In dergleichen Fällen wünscht man sich einen Freund, der uns Gutes rathe. Es ist
ein Unterschied zu machen zwischen vertrauten und gemeinen Freunden. Wer uns
in dem Besitze unseres Eigenthums, unseres guten Rufs, und überhaupt in glücklicher
20 Ruhe unseres Herzens friedlich leben lässt oder gar wohl gebührende Belohnung

nach und nach geht es leichter; ja Ihr werdet in kurzer Zeit das erstere so sehnlich gewünschte Gut wirk­
lich vergessen, nicht mehr wünschen, oder auch wohl gar verabscheuen, und nur das letztere suchen,
welches ebenfalls zu vergessen, wenn es nicht zu erlangen wäre, Euch nun vollends gar nicht schwer
werden wird, wenn Ihr nur das erste mal glücklich überwunden habt: denn sehr viele, sehr viele Güter
bestehen bloß in der leeren Einbildung, weil wir sie bald emsig suchen, und bald verabscheuen.
Endlich ist noch anzumerken, daß auch oftmals tibele Gewohnheiten dergleichen verderbliche Leiden-
[66]schaften gebähren, die viele Menschen nicht ablegen können, ob sie gleich vollkommen einsehen,
daß sie sich selbst dadurch unglücklich machen. In solchen Fällen ist die schlechte Erziehung, und wohl
gar das böse Beyspiel anderer Menschen, die sie erzogen haben, daran schuldig, weil man sie hätte war­
nen sollen: Ihr werdet dergleichen Leidenschaften nicht zu befürchten haben. Wollt Ihr aber wissen,
wie solchen Leuten zu helfen ist: so dient zur Nachricht, daß sie sich nur ein Viertheljahr lang unter die
despotische Gewalt eines verständigen Mannes begeben müssen, der ihnen ihre schädlichen, und zu Leiden­
schaften gewordenen, Gewohnheiten gewißlich abgewöhnen wird.
Dieß sind die Mittel, womit man die verderblichen Leidenschaften bekämpfen muß: wohl dem, der
in allen die rechte Mittelstraße findet -!
Aber in dergleichen Fällen wünscht man sich doch auch einen Freund, der uns Gutes rathe - sagte
C arl - und woran soll man erkennen, wer unser aufrichtiger Freund sey -?
Es ist ein Unterschied zu machen zwischen gemeinen und vertrauten Freunden - erwiederte Phila-
/lethes - W er uns in dem Besitze unsers Eigenthums, unsers guten Rufs, und überhaupt in glücklicher
Ruh unsers Flerzens friedlich leben [67] läßt, oder wohl gar gegen gebührende Belohnung mit gutem
96 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6

giebt, mit gutem Rath an die Hand gehet und uns nützlich ist, ist schon unser Freund,
und davon giebt es genug in der Welt. Feinde sind, die euch in eurer Wohlfahrt zu
stören trachten. Aber bei aufrichtigen Freunden seyd klug und gebraucht folgende
Maassregeln: Wählet keinen Menschen zu eurem vertrauten Freund, welcher fähig
ist, seinen Nächsten zu hassen oder auf irgend eine Art bloss darum vorsätzlich zu 5
beleidigen, damit er ihn ärgere oder quäle; denn er ist nicht klug und ihr dürft euer
Herz nicht vor ihm ausschütten, noch ihm die empfindsamen Saiten desselben hören
lassen, weil er zu wenig Verstand besitzt, als dass er euch in eurem geheimen Anliegen
guten Rath ertheilen, eure Leiden, deren sich unfehlbar auch welche einfinden wer­
den, lindern, und die Pflichten der genauem Freundschaft heilig bewahren könne, io
Aber er kann euch auch gefährlich werden, weil er es andern ist; er kann eure Auf­
richtigkeit missbrauchen, und ein Verräther an euch werden, wenn er nach seiner
schlechten Denkungsart seinen Vortheil dabei findet, welcher ihm im Grunde frei­
lich zu seinem eigenen Schaden gereicht, nur dass er zu dumm ist, es einzusehen. -
Ferner dem nicht, der euch selbst schon einmal vorsätzlich beleidigt hat, bloss um 15
euch zu kränken, Unrecht gethan hat, wenn er auch gleich in der Folge um Ver­
zeihung bitten sollte; denn sein Verstand ist einmal mit bösen Grundsätzen angefüllt,
die er in seinem Leben nicht gänzlich ablegen wird, weil es dergleichen Leuten
ausserordentlich schwer fällt, ihre eigenen tief eingewurzelten Irrthiimer zu erkennen
9 einfinden] Th: erfinden

Rathe an die Hand gehet, und uns nützlich ist: der ist schon unser Freund, und deren giebt es genug in
der Welt. Ihr werdet sie auch gar leicht von denen unterscheiden, die Euch in Eurer Wohlfarth zu stören
trachten, und daher Feinde genannt werden. Aber mit vertrauten Freunden hat es eine ganz andere Be-
wandtniß: diese sind gegenwärtig in der Welt noch leider sehr selten anzutreffen. Darum seyd klug und
gebraucht hierinn folgende Maaßregeln.
Wählet keinen Menschen zu Eurem vertrauten Freunde, welcher fähig ist, seinen Nächsten zu hassen,
oder auf irgend eine Art bloß darum vorsätzlich zu beleidigen, damit er ihn ärgere, oder quäle: denn
er ist nicht klug, und Ihr dürft Euer Herz nicht vor ihm ausschütten, noch ihm die empfindsamen Saiten
desselben hören lassen, weil er zu wenig Verstand besitzt, als daß er Euch in Eurem geheimen Anliegen
guten Rath ertheilen, Eure Leiden, deren sich ohnfehlbar auch welche einfinden werden, lindern, und die
Pflichten der genauem Freundschaft heilig bewahren könne. Aber er kann Euch gefährlich werden, weil
er es Andern ist: er kann Eure Aufrichtigkeit mißbrauchen, und ein Verräther an Euch werden, wenn er,
[68] nach seiner schlechten Denkungsart, seinen Vortheil dabey findet, welcher ihm im Grunde freylich
zu seinem eigenen Schaden gereicht, nur daß er zu dumm ist, dieses einzusehen.
Nehmt auch den nicht zu Euren vertrauten Freunde an, der Euch selbst schon einmal vorsätzlich,
bloß um Euch zu kränken, unrecht gethan hat, wenn er auch gleich in der Folge um Verzeyhung bitten
sollte: denn sein Verstand ist einmal mit bösen Grundsätzen angefüllt, die er in seinem Leben nicht gänz­
lich ablegen wird, weil es dergleichen Leuten außerordentlich schwer fällt, ihre eigenen tief eingewurzelten
Irrthümer zu erkennen und abzulegen, wenigstens könnet Ihr von ihrer ernstlichen Besserung nicht leicht
überzeugt werden, denn sie verstellen sich oft.
Exzerpt 6 W A H RE G LÜ C K SELIG K E IT 97

und abzulegen, wenigstens könnt ihr von ihrer ernstlichen Besserung nicht leicht
überzeugt werden; denn sie verstellen sich oft. Aber liebet sie alle wie andere Men­
schen oder wie eure gemeinen Freunde; zeigt ihnen bei schicklichen Gelegenheiten
liebreich, dass sie irren, und erweiset ihnen überhaupt alle Pflichten, die ihr verlangen
5 würdet, wenn ihr an ihrer Stelle wäret. Nur der, welcher durch sein Betragen zeigt,
dass er wisse, er schade sich selbst, wenn er seinen Brüdern ein Leid zufügt, der den
Beleidigungen Anderer, ja selbst dem Frevler, der ihm zu schaden sucht, auf eine
kluge Art zu entgehen weiss, und überdiess schon in verschiedenen widerwärtigen
Fällen unleugbare Proben seines richtigen Verstandes sowohl, als seiner getreuen
io Aufrichtigkeit abgelegt hat; nur dies ist der Mann, den ihr zu eurem vertrauten
Freunde annehmen, dem ihr euer ganzes Herz anvertrauen könnt. Denn er wird
euch in eurem Unglücke beistehen, und Antheil daran nehmen; er wird euch die
Freuden dieses Lebens erhöhen, eure trüben Tage aufheitern, und euch in allen
euren Anliegen weise rathen; ja seine Freundschaft wird euch schon hier auf Erden
15 himmlische Glückseligkeit gewähren.
Wer also euer vertrauter Freund seyn will, den müsst ihr durch diese zwar harte
Probe prüfen, und habt ihr keinen bewährt gefunden, so müsst ihr euch keinem
gänzlich anvertrauen, sondern der weisen Vorsehung euch empfehlen, und erwarten,
was diese über uns beschlossen hat, weil sie niemals etwas Anderes als das Beste des
20 ganzen menschlichen Geschlechts wollen kann; oder man muss klug werden, um
sich selbst Gutes zu rathen. - Verfahrt also in allen euren Handlungen bedachtsam,

Aber liebet sie alle, wie andere Menschen, oder wie Eure gemeinen Freunde: zeigt ihnen bey schick­
lichen Gelegenheiten liebreich, daß sie irren, und erweiset ihnen überhaupt alle Pflichten, die Ihr verlangen
würdet, wenn Ihr an ihrer Stelle wäret.
Nur der, welcher durch sein Betragen zeigt, daß er wisse, er schade sich selbst, wenn er seinen Brüdern
ein Leid zufügt, der den Beleidigungen [69] Anderer, ja selbst dem Frevler, der ihm zu schaden sucht,
auf eine kluge Art zu entgehen weiß, und überdieß schon in verschiedenen widerwärtigen Fällen un-
läugbare Proben seines richtigen Verstandes, sowohl als seiner getreuen Aufrichtigkeit, abgelegt hat, nur
dieß ist der Mann, den Ihr zu Euren vertrauten Freunde annehmen, dem Ihr Euer ganzes Herz anvertrauen
könnt: denn er wird Euch in Eurem Unglücke beystehen, und Antheil daran nehmen; er wird Euch
die Freuden dieses Lebens erhöhen, Eure trüben Tage aufheitern, und Euch in allen Euren Anliegen
weislich rathen: ja seine Freundschaft wird Euch schon hier auf Erden himmlische Glückseligkeit ge­
währen.
W er also unser vertrauter Freund seyn will, versetzte A m alie, den muß man wohl durch ziemlich
harte Proben prüfen - ? Und wenn nun keiner bewährt gefunden wird - ?
So muß man sich keinem gänzlich anvertrauen, erwiederte P hilalethes, sondern der weisen Vor­
sehung sich empfehlen und erwarten, was diese über uns beschlossen hat, weil sie niemals etwas anders,
als das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts, wollen kann: oder man muß klug werden, um sich
selbst Gutes zu rathen.
[70] Wohlan - sagte A m alie : ich will in allen meinen Handlungen bedachtsam verfahren, und mich,
98 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 6/6a

und euch, so viel nur immer möglich ist, der Tugend zu befleissigen; denn ihr seht
wohl ein, dass es grösstentheils an euch selbst liegt, wenn ihr nicht so glücklich seyd,
als ihr wünscht. Und zugleich bestrebt euch eifrig, viele gute Kenntnisse zu erlangen
und ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.

D en 27. Juni 1786.


Plurimos vitae prosperae cursus ofFendit, qui splendorem et speciem hujus vitae
intuentur; sollicitudinem autem et laborem perspicere non possunt. (Cic. ad Div. 1.9.)

so viel nur immer möglich ist, der Tugend befleißigen: denn ich seh wohl ein, daß es größtentheils an
uns selbst liegt, wenn wir nicht so glücklich sind, als wir wünschen.
Das will ich auch thun - setzte C arl hinzu - und zugleich will ich mich eifrig bestreben, viel gute
Kenntnisse zu erlangen und ein recht nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.
Zu 6-7
Hic meae vitae cursus ofFendit eos fortasse, qui splendorem, et speciem hujus vitae intuentur: solli­
citudinem autem, et laborem perspicere non possunt.
Exzerpt 7 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT 99

W eg z u m G lücke in d e r g r o s se n W elt.
Den 16. O ctober 1786.
(Zimmermann über die Einsamkeit. II. Th. V. Kap.)

Der Durchblick, der in der grossen Welt in allen feinen, bösen, kitzlichen und
5 gefährlichen Umständen des Lebens für jeden Menschen Alles sagt und Alles ent­
scheidet, ist nicht Philosophie. Er ist nicht das Federlesen, nicht das langsame Ab­
wickeln der Gedanken, nicht das Zweifeln und Schwanken, das Ja und Nein, woran
sich oft der grösste philosophische Denker in der Einsamkeit so sehr gewöhnt. Rasch
und schlank, auf allen Seiten beweglich und doch fest und keck, muss man in Allem
io zu Werke gehen, immer geschwind, furchtfrei und muthig. Dies ist zwar der Weg
zu unzähligen Fehlern, die kein Philosoph begeht, aber auch der einzige, beste und
sicherste Weg zum Glücke in der grossen Welt.

Das Exzerpt stimmt im Wortlaut mit dem Original überein, ausgenommen folgende Abweichungen:
7 das Ja und Nein,] in O folgt: das Nein und Ja, 9 allen] O: alle 10 ist] O: ist, so viel ich hiervon
weiß,
100 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 8

Seele.
Den 10. O ctober 1786.
(Campe’s kleine Seelenlehre für Kinder. 1784.)
Unsere Seele ist ein einfaches Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist, und das sich
etwas vorstellt, durch Hülfe der Sinne. 5
Unsere Seele stellt sich einige Dinge dunkel vor; d. h. sie kann das Ding, das
sie sich so vorstellt, nicht recht von andern Dingen unterscheiden. Unsere Seele stellt
sich auch zuweilen etwas klar vor, d. h. sie kann zwar die Dinge, die sie sich vor­
stellt, von andern unterscheiden, aber sie kann nicht die Kennzeichen angeben, wo­
durch es von andern Dingen unterschieden wird; deswegen heisst sie auch eine io
verw orrene.
Unsere Seele stellt sich auch zuweilen etwas deutlich vor, d. h. sie kann das,
was sie sich so vorstellt, nicht bloss von andern Dingen unterscheiden, sondern sie
kann auch die Kennzeichen angeben, wodurch cs von andern Dingen unterschieden
wird. - Dieses Vermögen heisst man den V erstand. 15

[19] Vater: ... Also schon wieder etwas von unserer Seele erkannt! Was wissen wir nun schon alles
von ihr ?
Nikolas: O ich! ich! - Unsere Sele ist ein einfaches Wesen, - das sich seiner selbst bewust [20] ist, -
und das sich etwas vorstclt - durch Hülfe der Sinne. ...
[35] Nikolas: Unsere Sele stellt sich einige Dinge dunkel vor.
Vater: Halt! - nun must du mir auch erst diktiren, was das heißt.
Nikolas: Das heißt: sie kan das Ding, das sie sich so vorstellt, nicht recht von andern Dingen unter­
scheiden.
Vater: Gut! - Nun weiter.
Nikolas: Unsere Sele stellt sich auch zuweilen etwas klar vor.
Vater: Das heißt?
Nikolas: Das heißt: sie kan zwar das Ding, das sie sich so vorstcllt, von andern unterscheiden, aber
sic kan nicht die Kennzeichen angeben, wodurch cs von andern Dingen unterschieden wird.
Vater: Und wie wird eine solche klare Vorstellung deswegen auch genant?
[36] Nikolas: Eine verworne.
Vater: Ich hab’s; nur weiter!
Nikolas: Unsere Sele stellt sich auch zuweilen etwas deutlich vor.
Vater: Das heißt?
Nikolas: Das heißt: sie kan das, was sie sich so vorstellt, nicht blos von andern Dingen unterscheiden,
sondern sie kan auch die Kennzeichen angeben, wodurch es von andern Dingen unterschieden wird.
Exzerpt 8 SEELE 101

Unsere Seele kann auch von vielen Dingen die Ursache und auch die Wirkung
deutlich einsehen, d. h. sie hat V ernunft.
Unsere Seele hat auch eine U rtheilskraft, d. h. sie kann einsehen, ob etwas
müsse bejaht oder verneint werden.
Unsere Seele kann auch schliessen, d. i. sie kann aus zweien Urtheilen von selbst
ein drittes ziehen.
Unsere Seele kann auf etwas aufm erksam seyn, d. h. sie kann alle anderen
Gedanken unterdrücken, um sich bloss eine Sache allein vorzustellen.

[40] Vater: ... Deutliche Vorstellungen äussern die Thiere niemals; man hat daher Recht zu sagen,
daß sie zu solchen Vorstellungen unfähig sind. Das ist also der erste Vorzug, den der liebe Gott unsern
Selen vor den Selen aller Thiere gegeben hat. Und wolt ihr wissen, wie man diesen unsern Vorzug zu
nennen pflegt? Man nennt ihn - den Verstand. Wenn man also sagt: unsere Sele habe Verstand; was heißt
das wohl mit andern Worten?
Johannes: Sie kan sich etwas deutlich vorstellen.
[47] Johannes: Unsere Sele hat auch Vernunft.
Vater: Und was heißt das nun mit andern Worten?
Johannes: Sie kan von vielen Dingen die Ursache und auch die Wirkung deutlich einsehen.
[48] Vater: Halt! Da hätten wir ja also, ehe wir’s uns vermutheten, auf einmal wieder eine neue Kraft
in unserer Sele entdekt. - Sie kan also auch einsehen, ob etwas müsse bejaht oder verneint werden?
Alle: Ja, das kan sie.
Vater: Nun, das ist mir lieb; so weiß ich, daß unsere Selen auch urtheilen können.
Johannes: Urtheilen?
Vater: Ja; denn das nennt man ja urtheilen, wenn einer einsieht, ob etwas müsse bejaht oder verneint
werden. Kan das nun eure Sele nicht auch ?
Alle: O ja!
[49] Vater: W ir wollen doch gleich noch einmal sehen, ob’s auch wirklich wahr sey. Ich will etwas
an die Tafel schreiben und ihr solt mir sagen, ob das, was ich angeschrieben habe, bejaht oder verneint
werden müsse.
Er schreibt an die Tafel: unsere Erde ist vierekkig.
Nun, sieht eure Sele ein, ob dieser Saz bejaht oder verneint werden müsse?
Alle: O ja; er muß verneint werden! Unsere Erde ist ja rund: wie kan sie denn vierekkig sein?
Vater: Nun, ich sehe wohl, es ist wirklich wahr; eure Sele hat auch schon Urtheilskraft. -
[52] Vater: Ich habe einmal gehört, daß unsere Sele eine gar besondere Kraft haben soll, wodurch
sie in den Stand gesezt wird, Wahrheiten, die sie von Andern niemals gehört hat, selbst zu erfinden. Man
sagt nemlich, wenn sie nur erst zwei Urtheile hätte, so könte sie aus denselben mit leichter Mühe ganz
von selbst ein drittes ziehen, welches ihr keiner jemals ge-[53]sagt hat. Und diese ihre Geschiklichkeit
nent man die Kraft zu schliessen, oder durch Vernunftschlüsse etwas zu erkennen. -
[70] Diderich: Unsere Sele kan auf etwas aufmerksam sein, das heißt -
Vater: Halt! daß ich dies erst ausschreibe. - Nun weiter!
Diderich: Das heißt, sie kan alle andere Gedanken unterdrükken, um sich blos eine Sache allein vor­
zustellen.
102 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 8

Die Seele kann auch Dinge mit einander vergleichen, um zu sehen, ob sie ähnlich
oder unähnlich sind, wenn sie einsieht, dass sie ähnlich sind, so thut sie dies durch
ihren W itz; und wenn sie einsieht, dass die Dinge einander unähnlich oder von
einander unterschieden sind, so thut sie das durch ihren Scharfsinn.
Unsere Seele hat auch G edächtniss, d. h. sie kann eine Vorstellung, die sie 5
schon einmal gehabt hat, wieder hervorrufen, und kann dabei wissen, dass sie die­
selbe schon einmal gehabt habe.
Die Seele hat auch E m pfindungen, d. h. solche Vorstellungen, die uns entweder
Vergnügen oder Missvergnügen machen.
Ferner hat unsere Seele auch E inbildungskraft, d. h. sie kann ehemalige io
Empfindungen wieder in sich erneuern.
Die Einbildungskraft und das Gedächtniss sind auch darum von einander unter­
schieden, dass dieses deutlich bemerkt, dass unsere Seele diejenige Vorstellung, die

Johannes: Nun ich! - Die Sele kan auch Dinge mit einander vergleichen, um zu sehen, ob sie ähnlich
oder unähnlich sind. - Wenn sie -
[71] Nikolas: O nein, mit Erlaubniß, junger Herr: nun komm’ ich! - Wenn sie einsieht, daß die Dinge
einander ähnlich sind: so thut sie das durch ihren Wiz; und
Gotlieb: Halt! das ist ja für mich! - Und wenn sie einsieht, daß die Dinge einander unähnlich oder
von einander unterschieden sind: so thut sie das durch ihren Scharfsinn. -
[77] Nikolas: Unsere Sele hat auch ein Gedächtniß.
Vater: Seze hinzu, was das mit andern Worten sagen wolle.
Nikolas: Das heißt: sie kan eine Vorstellung, die sie schon einmal gehabt hat, wieder hervorrufen,
und kan dabei wissen, daß sie dieselbe schon einmal gehabt habe.
[89] Johannes: Unsere Sele kan auch Empfindungen haben; - soll ich auch sagen, was Empfindungen
sind ?
Vater: Allerdings!
[90] Johannes: - Das sind solche Vorstellungen, die uns entweder Vergnügen oder Misvergnügen
machen.
Vater: Ferner?
Johannes: Ferner hat unsere Sele auch Einbildungskraft: - das heißt, sie kan ehmalige Empfindungen
wieder in sich erneuern.
[87!] Vater: Unsere Sele kan also beides, sie kan angenehme und auch unangenehme Empfindungen
in sich [88] erneuern! und es ist ihr in dem Augenblikke zu Muthe, als wenn ihr eben dasselbe noch einmal
begegnete.
Johannes: Mit welcher Kraft thut sie denn das?
Vater: Mit ihrer Einbildungskraft.
Johannes: Die ist ja wohl einerlei mit dem Gedächtniß?
Vater: Deine Frage beweis’t, daß du aufmerksam gewesen bist. Wirklich haben beide etwas mit ein­
ander gemein; aber laß sehen, ob unser Scharfsinn nicht auch irgend einen Unterschied zwischen beiden
bemerken kan. - Beide rufen etwas in unsere Sele zuriik: aber was denn? Das Gedächtniß Vorstellungen
überhaupt, die Einbildungskraft hingegen nur solche Vorstellungen, bei denen unsere Sele Vergnügen
Exzerpt 8 SEELE 103

sie erneuert, schon einmal gehabt habe; die Einbildungskraft hingegen, besonders
eine recht starke, macht, dass die Seele vergisst, dass sie die in ihr erneuerte Empfin­
dung schon ehemals gehabt habe, und weiss sie zu überreden, dass sie dieselbe jetzt
erst habe, ohngeachtet Dasjenige, was diese Empfindung ehemals in ihr erweckte,
5 ihr jetzt nicht mehr gegenwärtig ist.
Unsere Seele hat auch Phantasie, d. h. sie kann sich vorstellen, was nicht ist.
Unsere Seele hat ein Vermögen, etwas zu begehren, d. i. sie stellt sich etwas
vor, das sie gern haben möchte.
Unsere Seele hat auch ein Vermögen, etwas zu verabscheuen, d. i. sie stellt
io sich etwas vor, was sie nicht gern haben möchte.
Unsere Seele hat auch freien W illen, d. h. sie kann, ehe sie etwas thun oder
nicht thun will, erst überlegen, ob es ihr auch nützlich oder schädlich seyn würde.
Unsere Seele hat auch Instinkte, d. h. sie fühlt sich gezwungen, einige Dinge
zu begehren, ohne dass sie recht weiss, warum.

oder Misvergnügen fühlet, das heißt - Empfindungen. Ferner, das Gedächtniß bemerkt deutlich, daß
unsere Sele diejenige Vorstellung, die sie erneuert, schon einmal gehabt habe; die Einbildungskraft hin­
gegen, besonders wenn sie recht stark ist, macht, daß die Sele vergißt, daß sie die in ihr erneuerte Emp­
findung schon ehemals gehabt habe, und weiß sie zu überreden, daß sie dieselbe jezt erst habe, ohngeachtet
dasjenige, was diese Empfindung ehemals in ihr [89] erwekte, ihr jezt nicht mehr gegenwärtig ist. ...
[94] Gotlieb: O ja, ich hab’s mir wohl gemerkt! - Unsere Sele hat auch Phantasie.
Vater: Nun, und was heißt denn das?
Gotlieb: Ja, sie kan sich so etwas vorstellen, was nicht ist.
[100] Diderich: Unsere Sele hat ein Vermögen, etwas zu begehren.
Vater: Und was thut sie, indem sie etwas begehrt?
Diderich: Sie stelt sich etwas vor, das sie gern haben mögte.
Vater: — haben mögte. - Weiter?
Diderich: Unsere Sele hat auch ein Vermögen, etwas zu verabscheuen.
Vater: Und was thut sie denn, wenn sie etwas verabscheuet?
[101] Diderich: Sie stelt sich etwas vor, was sie nicht gern haben mögte.
Vater: Ist das Alles?
Diderich: O nein! Unsere Sele hat auch freien Willen, das heißt, sie kan, ehe sie etwas thun, oder nicht
thun will, erst überlegen, ob’s ihr auch nüzlich oder schädlich sein würde.
[110] Johannes: Unsere Sele hat auch Instinkte.
Vater: Füge die Erklärung hinzu.
Johannes: Das heißt, sie fühlt sich gezwungen, einige Dinge zu begehren und andere Dinge zu ver­
abscheuen, ohne daß sie recht weiß, warum ?
Vater: Einen dieser Instinkte unserer Sele haben wir nun schon kennen gelernt; und welcher war das?
/ Johannes: Der Instinkt der Sinnlichkeit.
Vater: Und worin besteht derselbe?
104 A U S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 8

Der Instinkt der Sinnlichkeit besteht darin, dass wir alle angenehme sinn­
liche Empfindungen gern, und alle unangenehmen sinnlichen Empfindungen nicht
gern haben wollen.
Der zweite Instinkt unserer Seele ist der Instinkt der S elbsterhaltung, und
dieser treibt uns an, dass wir unser Leben zu erhalten suchen, so lange wir können. 5
Der dritte Instinkt ist der Instinkt der N eubegierde, er macht, dass sich unsere
Seele immer etwas Neues vorstellen will.
Der vierte Instinkt unserer Seele ist der Instinkt der Liebe, d. h. wir haben alle
ein angebornes Verlangen, Andere zu lieben und von Andern geliebt zu werden,
d. h. wir haben alle ein Verlangen, wenigstens den einen oder den andern auf- 10
zusuchen, in dessen Gesellschaft wir Freude empfinden, und der auch wieder an uns
Freude haben möge.
Unsere Seele hat fünftens auch den Instinkt der D ankbarkeit, d. i. sie kann
nicht umhin, denjenigen zu lieben, der ihr Gutes thut.
8 Instinkt^] Th: Geist (möglicherweise verlesen für abgekürzt: Inst.,)

Johannes: Der besteht darin, daß wir alle angenehme sinnliche Empfindungen gern, und alle unan­
genehme sinnliche Empfindungen nicht gern haben wollen.
[114] Ferdinand: Der zweite Instinkt unserer Sele ist der Instinkt der Selbsterhaltung.
Vater: Und dieser Instinkt treibt uns an - wozu, Ferdinand?
[115] Ferdinand: Daß wir unser Leben zu erhalten suchen, so lange wir können.
[118] Mathias: Ah! das ist gut, daß ich endlich doch auch einmal dran komme! - Der dritte Instinkt
unserer Sele ist der Instinkt der Neubegierde.
Vater: Und was macht dieser Instinkt?
Mathias: Er macht, daß sich unsere Sele immer gern etwas Neues vorstellen will.
[124] Johannes: Der vierte Instinkt unserer Sele ist der Instinkt der Liebe; das heißt -
Vater: Nun?
Johannes: Ja, ich kan nur nicht die rechten Worte finden.
Vater: Wilst du nicht etwa so sagen: das heißt, wir haben Alle ein angebohrnes Verlangen, Andere
zu lieben und von Andern geliebt zu werden ?
Johannes: Ach ja!
Vater: Oder etwa lieber so: das heißt, wir haben alle ein Verlangen, wenigstens einen oder den andern
Menschen auszusuchen, in dessen [125] Geselschaft wir Freude empfinden, und der auch wieder an uns
seine Freude haben möge ?
[130] Nikolas: Unsere Sele hat auch fünftens einen Instinkt zur Dankbarkeit.
Vater: Das heißt?
Nikolas: Das heißt: sie kan nicht umhin, denjenigen zu Heben, der ihnen Gutes thut.
Exzerpt 8 SEELE 105

Unsere Seele hat sechstens den Instinkt des M itgefühls, d. h. sie freuet sich
wenn sie andere Menschen freudig sieht, und ist traurig, wenn sie sieht, dass andere
Menschen traurig sind.
Unsere Seele hat siebentens den Instinkt der N achahm ung; der treibt uns an,
5 dasjenige nachzumachen, was wir andere Leute thun sehen.
Unsere Seele freuet und betrübt sich zuweilen so sehr, oder sie begehrt und ver­
abscheuet zuweilen etwas so heftig, dass sie nicht anderes hört und sieht, und dass
uns das Blut in den Adern noch einmal so geschwind herumläuft; das nennt man denn
einen A ffect oder Leidenschaft.
io Ein Affect ist der Affect der Freude, wenn man sich unmässig freut. Der zweite
der Affect der T rau rigkeit, wenn man sich unmässig betrübt.
Der Affect der H offnung ist, wenn man sich über etwas Gutes freut, das noch
zukünftig ist.
Der Affect der Furcht ist, wenn man betrübt ist über etwas Böses, das noch
15 zukünftig ist.
Der Affect des Schreckens ist eine rechte Furcht vor einem Uebel, das ganz
unversehens ist.

[137] Gotlieb: Unsere Sele hat auch sechstens einen Instinkt des Mitgefühls; das heißt, sie freuet sich,
wenn sie andere Menschen freudig sieht, und ist traurig, wenn sie sieht, daß andere Menschen traurig sind.
[143] Ferdinand: Der siebende Instinkt unserer Sele ist der Instinkt der Nachahmung.
Vater: Und wozu treibt uns dieser an?
Ferdinand: Der treibt uns an, dasjenige nach zu machen, was wir andere Leute thun sehn.
[150] Johannes: Unsere Sele freuet und betrübet sich zuweilen so sehr, oder sie begehrt und verab­
scheuet zuweilen etwas so heftig, daß sie nichts anders hört und sieht, und daß uns das Blut in den Adern
noch einmal so geschwind herumlauft als sonst: das nent man denn einen Affekt oder eine Leidenschaft.
Vater: Und wie viel dieser Affekte haben wir jezt kennen gelernt?
Johannes: Zwei; den Affekt der Freude, wenn man sich so unmäsig freuet, und den Affekt der Traurig­
keit, wenn man sich so unmäsig betrübt.
[161] Mathias: W ir haben gehört, was der Affekt der Hofnung sei!
Vater: Und was ist er denn?
Mathias: Wenn man sich über etwas Gutes freuet, das noch zukünftig ist.
Vater: Gut! - Ferner haben wir gemerkt?
[162] Matthias: Den Affekt der Furcht.
Vater: Und der ist?
Matthias: Wenn man betrübt ist über etwas Böses, das noch zukünftig ist.
Vater: Also gerade das Gegentheil von dem Affekt der Hofnung. Ferner?
Mathias: Den Affekt des Schrekkens.
Vater: Und was ist denn der?
'Mathias: Eine recht grosse Furcht vor einem Uebel, das ganz unversehens kömmt.
Vater: Richtig! - Und endlich?
106 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 8

Der AfFect der B etäubung, wenn man vor Schrecken ganz sinnlos wird, dass
man gar nicht weiss, wie einem geschieht.
Der AfFect der Liebe besteht in einem Verlangen, immer näher mit einem
vereinigt zu werden, und zugleich in einem Verlangen, dass es dem, der ihn liebt,
immer recht wohl gehen möge. 5
Der AfFect der Sehnsucht besteht in einer Traurigkeit über die Abwesenheit
eines Andern.
Der AfFect des M itleids ist Traurigkeit über das Unglück eines Andern.
Der AfFect der B ew underung ist Freude über etwas Neues oder über etwas
Unerwartetes. (Sonst braucht man B ew underung zur Bezeichnung der Freude, 10
V erw underung zur Bezeichnung der Traurigkeit über etwas Unerwartetes, und
Erstaunen zur Bezeichnung des höchsten Grades von beiden.)
Der AfFect des Hasses besteht darin, dass man einem A ndern Böses gönnt, und
sich freut, wenn ihm Böses widerfährt.
Der AfFect des Neides besteht darin, dass man sich betrübt über das Gute, 15
welches einem Andern widerfährt.
Der AfFect des Zorns, welcher eine Begierde ist, einem Andern, von dem man
beleidigt zu seyn glaubt, etwas zu Leide zu thun.
Mathias: Den Affekt der Betäubung, wenn man vor Schrekken ganz sinnlos wird, daß man gar nicht
weiß, wie einem geschieht.
[178] Johannes: Ich fange also an! Der Affekt der Liebe besteht in einem Verlangen, immer näher mit
jemand vereiniget zu werden, und zugleich in einem Verlangen, daß es dem, den man liebt, immer recht
wohl gehen möge.
Nikolas: Nun komm ich! - Der Affekt der Sehnsucht besteht in einer Traurigkeit über die Abwesen­
heit eines Andern.
Diderich: Nun ich! - Der Affekt des Mitleids ist Traurigkeit über das Unglük eines Andern.
[179] Johannes: Und nun ich wieder! - Der Affekt der Bewunderung ist Freude über etwas Neues
oder über etwas Unerwartetes.
[174. Fußnote] Nach einer genauem Eintheilung, die für Kinder aber entbehrlich ist, könnte man einen
Unterschied zwischen den Affekten der Bewunderung, der Verwunderung und des Erstaunens anmerken,
indem man das W ort Bewunderung zur Bezeichnung der Freude, Verwunderung zur Bezeichnung der
Traurigkeit über etwas Unerwartetes und Erstaunen zur Bezeichnung des höchsten Grades von beiden
machte.
[193] Johannes: Der Affekt des Hasses besteht darin daß man einem Andern Böses gönnt und sich freuet,
wenn ihm Böses wiederfährt.
Vater: Ich hab’s.
Johannes: Der Affekt des Neides besteht darin, daß man sich betrübt über das Gute, welches einem
Andern widerfährt.
Vater: Und endlich?
Johannes: Der Affekt des Zorns, welcher eine Begierde ist, einem Andern, von dem man be-[194]
leidiget zu sein glaubt, etwas zu Leide zu thun.
Exzerpt 8 SEELE 107

Der Affect des Geizes besteht darin, dass man eine Begierde nach Reichthümern
hat, nicht um sie auf eine nützliche Weise zu brauchen, sondern bloss um sie zu
haben.
Der Affect des Ehrgeizes besteht in der Begierde nach Lob.
5 Der Affect der Reue ist eine Betrübnis darüber, dass man etwas schlecht gemacht
habe.
Der Affect der Schaam ist eine Betrübniss darüber, dass man von andern Leuten
verachtet wird.

[209] Diderich: W ir haben heute zuerst kennen gelernt den Affekt des Geizes.
Vater: Und worin bestand denn diese Leidenschaft?
Diderich: Darin, daß man eine Begierde nach Reichthümern hat, nicht um sie auf eine nüz-[210]
liehe Weise zu brauchen, sondern blos um sie zu haben.
Vater: Gut! - Nun, Johannes, weiter!
Johannes: Es folgt der Affekt des Ehrgeizes, der in einer Begierde nach Lobe besteht.
Vater: Auch gut! - Nikolas!
Nikolas: Dann kommt der Affekt der Reue.
Vater: Und was ist denn der?
Nikolas: Eine Betrübniß darüber, daß man etwas schlecht gemacht hat.
Gotlieb: Nun ich! nicht wahr, Vater?
Vater: Ja! - Nur zu!
Gotlieb: Der Affekt der Schaam ist auch eine Betrübniß und zwar darüber, daß man von andern Leuten
verachtet wird.
108 A U S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 9

A c a d e m ie . U e b e r a c a d e m is c h e V o r s t e l l u n g s - A r t e n .
1786. 15. O ctober.
(Zimmermann über die Einsamkeit II. Th. 5. Cap. citirt aus Hissmanns Versuch
über das Leben Leibnitzens p. 13).

Academische Begriffe und Vorstellungsarten behalten als Vorbereitungen ihren 5


entschiedenen Werth. Den Fortschritten der Kenntnisse werden sie hingegen dadurch
hinderlich, dass der Geist so vieler edler Jünglinge gerade in die Schranken und
Leisten hineingezwängt wird, die sein Lehrer gezimmert hat. Theologie, Juris­
prudenz, Medicin, Philosophie u.s.w. nach den ältesten und neuesten Lehrbüchern,
von demselben Lehrer hundert horchenden Jünglingen vorgetragen; sollte eine 10

solche [Gleichförmigkeit] der Vorstellungsart dem Fortgang der Wissenschaften


zuträglich seyn ? Es ist immer dasselbe Rauchfass des Opferpriesters, immer derselbe
Altar der Schule oder der Academie, und im Rauchfass, wie auf dem Altar dampft
noch dazu gar oft verfälschter Weihrauch. Da sich indessen die wenigsten Menschen
zum Selbstdenken erheben, so ist es doch für den Beobachter, der es weiss, wie es bei 15
diesem Schauspiel hinter den Coulissen aussieht, kein unangenehmer Anblick, wenn
er ein Heer von geistlosen Geistern in denselben Dunst academischer Weisheit ge­
hüllt, auftreten sieht; er sieht doch wenigstens keine blossen Gerippe. Für’s bürger­
liche Leben scheint Dampf und Mittagslicht, Wolken und Feuersäule, meist einerlei
zu seyn; die Völker folgen beiden. 20

3 5] Th: 10 11 dem] Th: von dem 17 Dunst] Th: Geist (Fehler Hegels oder Thaulows?)

Das Exzerpt stimmt mit dem Original überein. Einzige Abweichung außer den hier korrigierten Versehen,
die im textkritischen Apparat nachgewiesen sind: 9 und] O: oder
Exzerpt 10 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 109

M önche.
1786. 15. O ctober.
(Zimmermann über die Einsamkeit I. p. 199 u. fgg.)

Es gab eigentlich 4 Gattungen egyptischer Mönche: Cenobiten, Anachoreten,


5 Remoboth oder Sarabaiten, und Herumschweifende.
C enobiten hiessen solche, die gemeinschaftlich und beisammen wohnten. Man
liest ihre ganze Oeconomie beim Hieronymus. Sie waren in Haufen von Zehn und
Hunderten eingetheilt. Neun derselben hatten allemal einen Vorsteher. Sie wohnten
in Zellen von einander abgesondert, und kamen vor der neunten Stunde nicht
io zusammen, den Vorsteher ausgenommen, der seine Schaafe besonders besuchte.
Nach jener Stunde vereinigten sie sich zum Psalmensingen und Lesen der heiligen
Schrift und zum Gebete. Hierauf fing der in der Mitte sitzende Vater an zu reden;
keiner unterstand sich nun den andern anzuschauen, oder auszuspucken. War die
Versammlung geendigt, so ging jedes Zehend mit seinem Vorsteher zu Tische.
15 Niemand redete dabei; man ass nur Brot, Hülsenfrüchte und Kräuter, die man mit
Salz würzte und zuweilen mit Oel. Wein bekamen nur die Alten, für welche auch
und für die Kranken oft ein Mittagessen gegeben ward, damit jene gestärkt, und diese
nicht zu sehr entkräftet würden. Sie standen endlich auf, stimmten einen Gesang an,
und kehrten in ihre Hütten zurück, und da führte dann jeder Vorsteher mit den
20 Seinigen bis an den Abend gottselige Gespräche. Da auch des Nachts, ausser dem
gewöhnlichen Gebete, jeder auf seinem Lager wachen musste, gingen die Vorsteher
in den Zellen herum und horchten, was jeder mache. Dem Trägen gaben sie keinen
Verweis, sondern besuchten ihn öfters und forderten ihn mehr zum Beten auf. Die
Tagesarbeit eines jeden war festgesetzt und ward dem Vorsteher von jedem Zehend
25 überliefert, der sie an den Haushalter übergab, welcher monatlich dem Abt mit vie­
lem Zittern Rechenschaft ablegte. Er kostete auch die zubereiteten Speisen und sorgte
dafür, weil keiner etwas begehren durfte, dass es keinem an der nöthigen Kleidung
fehle. Die Kranken wurden von den Alten an besonderen Orten, auf das sorgfäl­
tigste verpflegt. Diese Cenobiten lebten sehr einsam, denn sie sahen (wenn ich die
6 hiessen] Th: heissen

Das Exzerpt stimmt bis auf die folgenden Abweichungen mit dem Original überein:
4 Es gab eigentlich] O: Eigentlich gab es 7 beim] O: bey dem 18 würden] O; werden 19 Hüt­
ten] Hierzu in O eine Fußnote, deren Inhalt Hegel weiter unten in den Text einfügt: siehe 110,4-10. 25-26
vielem] O: viel
110 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 10

Klöster des Pachomius ausnehme) niemand als ihre Brüder, und lebten in einer
beträchtlichen Entfernung von allen bewohnten Oertern, mitten in dem dürren und
brennenden Sande.
Der Platz, worauf ihre Hütten gebaut waren, hiess Mandra und diess bedeutet
einen Schaafstall. Gleich den Sammelplätzen der Schaafe hatten die Wohnungen den 5
freien Himmel zur Decke und umher nichts als eine Wand. Die Zellen waren
schlechte enge und aus leichten Materialien zusammengestoppelte Hütten, reihen­
weise gebaut und durch Gassen von einander gesondert. Jedes Kloster hatte sodann
noch seine Kirche, sein Krankenspital, einige Haushaltungsgebäude, einen Garten,
einen Brunnen oder Teich, und Alles umgab eine Wand oder eine Mauer. 10

A nachoreten hiessen solche, die alleine lebten, und sich von allen Menschen
absonderten, nachdem sie ihr Noviziat unter den Cenobiten ausgehalten, und da
versucht hatten, ihre Leidenschaften zu zähmen. Diese verliessen ihre gemeinschaft­
lichen Wohnungen, und begaben sich bloss mit Brot und Salz in die Wüste.
R em oboth oder Sarabaiten waren, wie Hieronymus sagt, schlimm und ver­ 15
achtet, aber in seiner Provinz waren sie entweder die einzigste oder vornehmste
Gattung. Ihrer zwei oder drei, nicht leicht Mehrere, wohnten beisammen, ganz nach
ihrer Willkühr und unabhängig. Sie lebten gemeinschaftlich von ihrer Arbeit. Sehr
viele derselben wohnten in Städten und Schlössern. Alles, was sie verkauften, war
theuer. Oft entstanden unter ihnen Zänkereien, weil sie von ihren eigenen Nahrungs­ 20

mitteln leben und Niemand unterworfen sein wollten. Sie schlichen wohl, sagt
Hieronymus, zu Mädchen, sprachen übel von Geistlichen, und assen sich an Fest­
tagen bis zum Brechen satt. Cassianus redet von diesen Einsamen, als von Leuten,
die darum der Klosterzucht und des Gehorsams gegen den Abt sich entschliigen,
damit sie desto freier leben und herumschweifen können; die auch wohl in den 25
Städten selbst und in ihrem väterlichen Hause wohnten; und die entweder, um viel
essen zu können, oder aus Geiz, einen Vorrath auf viele Jahre häufen.
Die vierte Gattung hiessen H erum schw eifende (gyrovagi), denn sie machten
an jedem Ort nur eine kurze Residenz. Anfänglich hatten sie sich dem Klosterleben

4-6 Der Platz ... eine Wand.] Der Anfang der oben erwähnten Fußnote in O zu Hütten, deren Inhalt das
Exzerpt hier Zeile 4-10 wiedergibt, lautet: [200] Dieß ist der eigentliche Name, den man den damaligen Klö­
stern geben konnte; die Zeiten ha-[201]ben sich seitdem verändert. Mandra hieß der Platz, auf welchem
jene Hütten gebaut waren, und dieses W ort bedeutet einen Schafstall. Gleich den Sammelplätzen der
Schafe hatten diese Mönchswohnungen den freyen Himmel zur Decke, und umher weiter nichts als eine
Wand. 9 sein] O: seinen Haushaltungsgebäude] O: Haushaltsgebäude 16 einzigste] O: einzige
21 wohl] O: auch wol 28 Die ... machten] O: Eine vierte Gattung von Egyptischen Mönchen hiessen
Herumschweifende (gyrovagi), denn sie machten, wie die Domherren die viele Präbenden haben,
Exzerpt 10 M ÖNCHE 111

gewidmet, gar bald aber, da ihre Demuth und Geduld erkaltet war, begaben sie sich
in abgesonderte Zellen, um da, wo man die Tugend nicht prüft, das Ansehn der
Tugend zu erschleichen. Augustin sagt von diesen verdorbenen Anachoreten, der
Feind des menschlichen Geschlechts habe eine Menge Heuchler unter der Gestalt
5 von Mönchen überall zerstreut, die im Lande herumziehen, nirgends hingesandt
seyen, nirgends bleiben, nirgends stehen oder sitzen. Einige verkaufen selbstgemachte
Glieder der Märtyrer; andere sagen, sie hätten gehört, dass ihre Eltern und Anver­
wandten in diesem Lande wohnten, und geben fälschlich vor, dass sie zu denselben
reisen. Sie betteln von Allen, sie fordern von Allen, entweder Kosten für eine
io gewinnsüchtige Dürftigkeit, oder den Werth einer verstellten Frömmigkeit.
Alk dies heilige Gesindel war aus dem Saamen des grossen Antonius erwachsen;
alle verehrten ihn als ihren geistlichen Vater, alle erzeugten ihm ähnliche Kinder und
Bastarde.

1 war] O: waren 3 Augustin] O: Augustinus 6 Einige] O: Einige von ihnen 7 und] O: oder
8 diesem] O: diesem oder jenem 11 All’ dies heilige Gesindel] O: Jene Cenobiten, Anachoreten, Sara-
baiten und diese Vaganten, mit einem W orte dieses ganze heilige Gesindel
112 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 11

Lehrart.
1786. 16. O ctober.
(Kästners Anfangsgründe der Arithm. Geom. Trigon. Vorerinnerungen von der
Mathematik und ihrer Lehrart.)

Bei der synthetischen L ehrart ist es genug, dass die schon erfundenen Wahr­
heiten überzeugend dargethan werden, obgleich aus ihrem Beweise eben nicht
erhellet, wie ihr erster Erfinder darauf gekommen ist. Bei der analytischen
L ehrart muss man den Weg zeigen, auf welchem man zu dem Gesuchten gelangen
kann.
3 Trigon.] Th: Trign.

[20] 37. Man kann bey dem Vortrage der schon erfundenen Wahrheiten etwas anders verfahren, als
bey der Erforschung solcher, die noch unbekannt sind. Dorten ist es genug, jeden Satz überzeugend dar-
zuthun, ob gleich aus seinem Beweise eben nicht erhellet, wie sein erster Erfinder auf ihn gekommen ist:
Hie muß man den Weg zeigen, auf welchem man zu dem gesuchten gelangen kann. Jene Lehrart pflegt
man die sy nth etisch e, diese die analytische zu nennen. Aus beyden lässt sich eine verm ischte
zusammensetzen, welche zum Vortrage der Anfangsgründe der Wissenschaften am bequemsten ist.
Exzerpt 12 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 113

A egypten. V on der G e l e h r s a m k e it der A egypter.


1786. 23. D ecem ber.
(Aus: Revision der Philosophie. I. Theil. Göttingen und Gotha 1772. p. 96 sqq.)
Es scheint unleugbar zu seyn, dass nicht alles, was die Priester der Aegypter wuss-
5 ten und lehrten, Missgeburten des blindesten Aberglaubens waren. Wie wollte man
ohne eine solche Voraussetzung die grossen Schätze des Genies erklären, die
Pythagoras aus Aegypten mitbrachte ? Dagegen aber lässt sich Folgendes einwenden.
Man kann 1) leicht zu voreilig schliessen, wenn man alle die Gelehrsamkeit, die ein
grosser Geist aus fremden Ländern mitbringt, für bloss erlernte, und nicht für selbst
io gemachte Betrachtungen hält. Aegypten unterschied sich so sehr durch seine Lage,
Regierung, prächtige Stiftungen und Sitten, dass eine genauere Untersuchung dieser
Seltenheiten für die Griechen auch alsdann wichtig gewesen wäre, wenn sie auch
keinen Unterricht von den Priestern genossen hätten. Der genaue Umgang mit den
Priestern konnte eine blosse Neugierde zum Grunde haben, weil man von ihnen
15 allein einige Erläuterungen in Ansehung der bürgerlichen und natürlichen Geschichte
14 konnte] Th: könnte

Das Exzerpt stimmt fast usörtlich mit dem Original überein; der Gedankengang, aus dem Hegel exzerpiert,
beginnt im Original folgendermaßen: [95] Bei den Aegyptiern war der Thron einmahl auf das Ansehen der
Priester gegründet, ihr Stand war der wichtigste Theil der Nation, den man nicht erschüttern und ernied­
rigen konnte, ohne die gehorchende Menge zu beleidigen, oder Gesinnungen lebhaft zu machen, die
für die angreifende Parthei gleichfalls hätten gefährlich werden können. Ueberdem waren die andern
Wissenschaften, die bei ihnen im Gange waren, so sehr mit dem mystischen Theil ihrer Theologie ver­
webt, und durch die Hieroglyphen dem Pöbel so unzugänglich gemacht, daß man sich gar nicht wundern
darf, wenn unter einem ungeheueren Wüste theologischer arcoppTjTcov einige brauchbare Kenntnisse
gemischt waren, die die Aufmerksamkeit wißbegieriger Frembdlinge auf sich zogen. - Aus diesen Muth-
massungen kann man die Ursachen leicht abziehen, warum sie einem Pythagoras, Demokrit, Eudoxus,
und Pla-[96]to den Zutritt in ihre feierlichen Tempel so schwer machten, und warum ihre Staatsverfassung
sowohl, als die hieroglyphische Schreibart auch die übrigen Wissenschaften zu lauter esoterischen Kennt­
nissen machten. Diese Methode heiligte viele Lehren, die für Layen bestimmt seyn sollten, aber doch scheint
es unleugbar zu seyn, daß nicht alles, was sie wußten und lehrten, Misgeburten des blindesten Aberglaubens
waren. Wie wollte man ohne eine solche Voraussetzung die grossen Schätze des Genies erklären die
Pythagoras aus Aegypten mitbrachte ?
Ich würde die letzte Anmerkung, die ich einem Freunde zu danken habe, für eine der gewissesten
Vermuthungen halten, wenn man nicht nachfolgendes dagegen einwenden könnte. Man kann 1) leicht
zu voreilig schliessen, ...
; Von hier ab weist das Exzerpt nur noch folgende Abweichungen auf:
14-15 weil man von ihnen allein] O; weil sie die eintzigen waren, wovon man
114 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 12

und der angeblichen Ursachen ihrer Traditionen erfahren Konnte. Dass 2) das Charac-
teristische der Pythagoräischen Philosophie nicht bloss einem fremden Unterrichte,
sondern dem schon gebildeten und sich noch immer von den Aegyptischen Erschei­
nungen nährenden Genie des griechischen Weltweisen zuzuschreiben sey, konnte
auch daraus vermuthet werden, weil Demokrit und andere sich ebenfalls lange in 5
Aegypten aufgehalten, und die Bekanntschaft der gelehrten Priester genützt haben,
ohne nur im geringsten von den Speculationen des Pythagoras einen Anstrich zu
haben. Man weiss, dass Democrit von jenem gerade ein Gegensatz ist. 3) Die Moral
des Pythagoras (wenn wir sie nach eben nicht zuverlässigen Fragmenten beurtheilen
dürfen) übertrifft an Ordnung sowohl, als Vollständigkeit, alle die zerstreuten Gedan­ 10

ken seiner Vorgänger; man muss aber bedenken, dass er ein Mann von Genie war,
der den Menschen in erstaunlich vielen Situationen zu betrachten Gelegenheit gehabt
hatte. Von seinen theoretischen Stücken (die aus mancherlei Ursachen viel ungewisser
sind) trifft man in den Fragmenten der Aegyptischen Philosophie, so wie sie uns von
den Griechen sind überliefert worden, wenig Spuren an, und man könnte sie ihm 15
deswegen als seine eigene Erfindungen anrechnen, wenn es nicht in den folgenden
Zeiten bei den Pythagoräern Mode geworden wäre, ihrem Haupte alle Entdeckungen
seiner Schüler zuzuschreiben, so wie er selbst seine Ideen für Aegyptische ausgab, um
ihnen desto mehr Ansehn zu verschaffen. 3) Giebt es unwiderlegliche Beispiele, so
wie man sie aus einem so hohen Alterthume verlangen kann, dass die Aegyptier in 20

der Mathematik und höhern Speculationen keine grossen Meister gewesen sind.
Man besinne sich nur auf den pythagoräischen Lehrsatz, auf die Methode, die Höhe
eines Thurms zu messen, die Thaies sie soll gelehrt haben, auf die Erfindungen von
Sonnenuhren, Sphären und ihre Ausmessungen, wodurch so viele griechische Welt­
weise sich nicht hätten unsterblich machen können, wenn sie in Aegypten so was 25
Gemeines gewesen wären.
16 Erfindungen] Th: Erfindung 22 Man] Th: Mann

1 und der] O: und die 15 den Griechen] O: andern Griechen 21 Speculationen] O: Speculation
Exzerpt 13 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 115

P h i l o s o p h i e . A l l g e m e in e U e b e r s i c h t .
1787. 9. u. 10. März.
(Sulzers kurzer Begriff der Gelehrsamkeit. 1759. §. 186-239.)
Unter der Philosophie verstehen wir hier diejenigen Wissenschaften, welche §.186
5 eine nähere Beziehung auf die sittliche Kenntniss der Welt und des Menschen
haben.
Die Wissenschaft, welche zeigt, wie die Vernunft bei Untersuchung der philo- §. 190
sophischen Wahrheiten verfahren soll, wird die Logik oder V ernunftlehre
genannt. Tschirnhaus Medicina mentis.
io I. Der speculative oder betrachtende Theil der Philosophie oder die M eta- §. 194
physik, enthält die Erforschungen über die innerliche allgemeine Beschaffenheit
der Dinge.
A. Die G rundw issenschaft (ontologia, scientia entis, Philosophia prima) ist
den Untersuchungen gewidmet, die gewisse allgemeine Wahrheiten erkennen,
15 welche sich auf die allgemeine Beschaffenheit aller Dinge überhaupt beziehen.
3 239.)] Th: 239. 7 Vernunft] Th: Vernunft

[139] § 186. Das W ort Philosophie wird ofte in einem so weiten Verstand genommen, daß auch die
ganze Physik mit darunter begriffen wird. W ir verstehen hier aber unter dem Namen der Philosophie
blos diejenige Wissenschaften, welche eine nähere Beziehung auf die sittliche Kenntnis der Welt und des
Menschen haben. ...
[144] § 190. ... Die Wissenschaft, welche zeiget, wie die Vernunft bey Untersuchung der Philosophi­
schen Wahrheiten verfahren soll, wird die L ogik, oder Vernunftlehre genennt.
[146] § 192. (Über die Verdienste von Aristoteles, Descartes, Leibniz und Woljf für die Logik. Im Anschluß
an den letzteren heißt es:) [147] Indessen hat doch auch dieser große Weltweise noch verschiedenes sowol
von besondern Methoden Begriffe zu entwikeln, als von besondern Arten analytischer Untersuchungen
theils nicht berührt, theils nicht genug ausgeführt. Von dergleichen besondern Kunstgriffen hat der be­
rühmte T schirnhaus in seiner Medicina mentis vielerley Proben angeführt, welche aber noch um ein
merkliches könnten vermehret werden.
[148] § 194. Man theilet die Weltweisheit überhaupt in zwey Theile ein, den spekulativen oder
b etrach ten d en und den prak tisch en oder ausübenden Theil. Der betrachtende Theil der Philosophie
enthält die Erforschungen über die allgemeine innerliche Beschaffenheit der Dinge, und der ausübende
Theil wendet die Entdekungen des ersten auf die Verbesserung des Menschen und der menschlichen Ge­
sellschaften an. ...
(Vgl hier auch den von Hegel sonst nicht exzerpierten § 214:) [166] Alle bis dahin von (§ 191. bis 213.)
erwähnte Wissenschaften gehören zu der theoretischen Weltweisheit. In Deutschland ist man gewohnt
alle zusammen (nur die Logik ausgenommen) mit dem Namen der M etaphysik zu belegen. ...
/ [149] § 195. Ehe man sich in Untersuchungen über die innere Beschaffenheit der Welt und des Men­
schen einlassen kann, muß man nothwendig gewisse allgemeine Wahrheiten erkennen, welche sich auf die
116 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 13

§. 199. B. Die allgem eine C osm ologie ist der allgemeinen metaphysischen Betrach­
tung der Welt gewidmet, insofern nämlich dieselbe ein aus vielen vereinigten Sub­
stanzen zusammengesetztes Wesen ist.
§.202. C. Die M onadologie untersucht das Wesen und die Eigenschaften einfacher
Substanzen überhaupt, ingleichen ihre Veränderungen, aus dem Begriff derselben, 5
und aus der allgemeinen Beschaffenheit einer Welt, deren Theile sie sind.
§.203. D. Die G eisterlehre (Pneumatologia) ist die Untersuchung der einfachen
Wesen, welche denken.
§.204. Die Psychologie erforscht die Natur der menschlichen Seele, ihr Wesen, ihre
Kräfte und Vermögen, ihre Eigenschaften und die Veränderungen, welche sich io
natürlicher Weise zutragen können.
a. Die em pirische Psychologie enthält eine genaue und deutliche Beschrei­
bung alles dessen, was uns von der Seele durch die Erfahrung bekannt ist.
§.208. b. Die erklärende Psychologie (Psychologia rationalis) sucht durch die Auf­
lösung der Begebenheiten, welche in dem ersten Theil angemerkt worden, das 15
Wesen und die Grundeigenschaften der Seele zu entdecken und hernach aus diesen
durch einen Rückweg alle andern Eigenschaften und Veränderungen derselben zu
erklären.
7 Pneumatologia] Th: Pneumatologie 10 Veränderungen] Th: Veränderung 14 rationalis] Th:
naturalis

allgemeine Beschaffenheit aller Dinge überhaupt beziehen. ... [150] Der Theil, welcher diesen allgemeinen
Untersuchungen gewiedmet ist, wird die G rundw issenschaft (Ontologia, scientia entis, Philosophia
prima) genennt.
[152] § 199. Auf die Betrachtung der allgemeinen Grundsäze der Vernunft folget natürlicher Weise
die allgemeine metaphysische Betrachtung der Welt, in so fern nemlich dieselbe ein aus vielen vereinigten
Substanzen zusammengeseztes Wesen ist. Der Theil der Weltweisheit, welcher dieser Betrachtung ge­
widmet ist, wird die allgem eine C osm ologie oder die allgemeine Theorie einer Welt genennt. ...
[155] § 202. Auf die Cosmologie, welche zugleich eine Betrachtung der allgemeinen Eigenschaften
der Materie enthält, folget denn in der natürlichen Ordnung, die allgemeine Betrachtung der geistlichen
oder einfachen Substanzen. Diese wird die M onadologie genennt. Sie untersucht das Wesen und die
Eigenschaften einfacher Substanzen überhaupt, ingleichen ihre Veränderungen, aus dem Begriff der­
selben, und aus der allgemeinen Beschaffenheit einer Welt, deren Theile sie sind. ...
[156] § 203. Nach der allgemeinen Kenntnis der einfachen Substanzen überhaupt folget die Unter­
suchung der einfachen Wesen, welche denken, oder die G eisterlehre (Pneumatologia.)
§ 204. Die P sychologie ist also die Wissenschaft der menschlichen Seele. Sie erforscht ihre Natur,
ihr Wesen, ihre Kräfte und Vermögen, ihre Eigenschaften und die Veränderungen, welche sich natür­
licher Weise zutragen können. Sie besteht aus zwey Haupttheilen, welche W o lf durch die Namen Psycho­
logia empirica und Psychologia ra-[157]tionalis von einander unterschieden hat. Der erste Theil (psycho­
logia empirica) enthält eine deutliche und genaue Beschreibung alles dessen, was uns von der Seele durch
die Erfahrung bekannt ist. ...
[160] § 208. Auf die empyrische und beobachtende Psychologie folget die erklären d e (Psychologia
rationalis.) Diese sucht durch die Auflösung der Begebenheiten, welche in dem ersten Theil angemerkt
Exzerpt 13 PH ILO SO PH IE. A LLG EM EIN E Ü BE RSIC H T 117

E. Die philosophische G ottesgelahrtheit (Theologia naturalis) ist die §.211.


Wissenschaft von dem Daseyn und den Eigenschaften eines unendlichen Wesens,
von welchem die Welt ihr Daseyn empfangen hat, und regieret wird.
II. Die practische P hilosophie begreift überhaupt Alles, was sich auf die §.215.
5 äussere und innere Glückseligkeit des Menschen beziehet.
A. Die allgem eine praktische Philosophie (Philos. practica universalis). §.216.
Die moralische Theorie des Menschen setzt alle die allgemeinen Grundsätze fest,
welche in allen Theilen der practischen Weltweisheit aus der moralischen Betrach­
tung des Menschen müssen vorausgesetzt werden; das allgemeine Gesetz der Natur
io und die allgemeine Verbindlichkeit der Menschen dazu; die wahren Begriffe von
Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Unglückseligkeit, von natürlichen
Belohnungen und Strafen, von Schuld und Unschuld. Dann zeigt sie, wie die freie
Handlung des Menschen überhaupt müsse durch den Willen zum Guten gelenkt
werden, und durch was für einen Weg der Mensch zu dem höchsten Gut und der
15 zeitlichen Glückseligkeit gelangen könne. Locke, Leibnitz, Gr. v. Shaftesbury, Wolf.

worden, das Wesen und die Grundeigenschaften der Seele zu entdeken, und hernach aus diesen durch
einen Rükweg alle andre Eigenschaften und Veränderungen derselben zu erklären. ...
[163] § 211. Nunmehr kommen wir auf den wichtigsten Theil der Weltweisheit, die philosophische
G o ttesg elah rth eit, (Theologia naturalis) oder die Wissenschaft von dem Daseyn und den Eigen­
schaften eines unendlichen Wesens, von welchem die Welt ihr Daseyn empfangen hat und regieret [164]
wird. ...
[167] § 215. W ir kommen nun auf die praktische Theile der Philosophie, welche sich mit den morali­
schen Handlungen der Menschen beschäftiget. Die praktische P hilosophie begreift überhaupt alles,
was sich auf die äußere oder innere Glükseeligkeit des Menschen beziehet. ...
[168] § 216. Außer den allgemeinen Grundsäzen, welche die theoretische Philosophie der praktischen
darreichen muß, hat sie noch besondere Grundsäze nöthig, welche aus der moralischen Betrachtung der
menschlichen Natur fließen. Den Inbegriff dieser Grundsäze hat W o lf die allgem eine praktische
Philosophie (Philosophia practica vniversalis) genennt. Man könnte ihr den Namen der moralischen
Theorie des Menschen geben. Diese Wissenschaft ist für die praktische Weltweisheit das, was die Grund­
wissenschaft oder Ontologie für die theoretische: denn die sezet alle die allgemeine Grundsäze fest, welche
in allen Theilen der praktischen Weltweisheit aus der moralischen Betrachtung des Menschen müssen
vorausgesezt werden. Demnach bestimmt sie die eigentliche Beschaffenheit der moralischen Handlungen
überhaupt, und zeiget, wie dieselben gut oder böse seyn können. Sie untersucht das allgemeine Gesez
der Natur und die allgemeine Verbindlichkeit der Menschen demselben gemäß zu leben. Sie sezet die
wahren Begriffe von Tugend und Laster, von dem moralischen Guten und Bösen, von der Glükseeligkeit
und Unglükseeligkeit denkender Wesen, von natürlichen Belohnungen und Strafen, von Schuld und
Unschuld feste. Nach dieser Theorie aber zeiget sie auch, wie die freye Handlungen des Menschen über­
haupt [169] müssen durch den Willen zum Guten gelenkt werden, und durch was für einen Weg der
Mensch zu dem höchsten Gut und der zeitlichen Glükseeligkeit gelangen könne.
§ 218. ... [170] Der berühmte Loke hat, so viel mir bekannt ist, zuerst angemerkt, daß diese Wissen­
schaft einer geometrischen Gewißheit [171] unterworfen sey, und eben dieses hat L eibniz hernach viel­
fältig erinnert. Der fürtrefliche G raf von S chäftesbüry hat durch seine Abhandlung über die Tugend
eine sehr schöne Probe davon gegeben. Indessen muß man auch hier dem unsterblichen Canzler W olf
118 AU S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 13

§.219. B. Die T heorie der m enschlichen P flichten ist die besondere Betrachtung
und Bestimmung seiner natürlichen Pflichten oder der moralischen Handlungen,
wozu die Natur einen jeden Menschen verbindet.
a. Die M oral betrachtet die sittlichen Pflichten, deren Beobachtung nicht mit
Gewalt von dem Menschen kann gefordert werden, weil sie nothwendig von seinen 5
Absichten abhangen und keinem fremden Urtheil können unterworfen seyn.
b. Das R echt der N atur enthält vollkommnere und bestimmte Pflichten, zu
deren Beobachtung ein Mensch von Andern kann angehalten werden.
c. Wenn man unabhängige bürgerliche Gesellschaften als einzelne Personen
betrachtet, und das Recht der Natur auf diese anwendet, so entsteht das V ölker- io
recht.
d. Ethik oder S ittenlehre ist die Theorie des moralischen Verstandes und
Willens.
C. Die H aushaltungsw issenschaft (oeconomia) ist die Wissenschaft, seine
moralischen Handlungen in kleineren Gesellschaften, die man Familien nennt, so 15
einzurichten, wie es die Wohlfahrt und Glückseligkeit solcher Gesellschaften er­
fordert.
6 können] Th: könne 10 Recht der] Th: die

den Ruhm lassen, daß er der erste gewesen, der die allgemeine praktische Welt Weisheit in ihrem ganzen
Umfang in der wahren Form einer Wissenschaft vorgetragen, eine sehr große Menge vorher verworrener,
unbestimmter und undeutlicher Begriffe auf das deutlichste entwikelt und daher die wahren Grundsäze
der moralischen Weltweisheit in völlige Gewißheit gesezt hat.
§ 219. Nach der allgemeinen moralischen Theorie des Menschen folget dann die besondere Betrach­
tung und Bestimmung seiner natürlichen Pflichten oder der moralischen Handlungen, wozu die Natur
einen jeden Menschen verbindet. Der Theil der Weltweisheit, der hiervon handelt, kann die T heorie
der m enschlichen P flich ten genennt werden. ...
[172] § 220. Die M oral betrachtet die sittlichen Pflichten, deren Beobachtung nicht mit Gewalt von
dem Menschen kann gefodert werden, weil sie nothwendig von seinen eigenen Absichten abhangen
und keinem frömden Urthel können unterworfen seyn. ...
[173] § 221. Das R echt der N atu r enthält die vollkomneren und bestimmteren Pflichten, zu deren
Beobachtung ein Mensch von andern kann angehalten werden. ...
§ 222. Wenn man verschiedene unabhängliche bürgerliche Gesellschaften als einzelne Personen be­
trachtet, und das Recht der Natur auf diese Personen anwendet, so entstehet daher das V ölkerrecht. ...
[176] § 225. ... In der That ist W olf der erste Weltweise, dem es eingefallen ist nach der Theorie
der [177] Pflichten die Theorie der moralischen Verbesserung des Verstandes und Willens in ein ordent­
liches philosophisches System zu bringen, dem er den Namen der E thik oder S ittenleh re gegeben
hat.
[179] § 229. Die H aushaltungsw issenschaft (Oeconomica) ist die Wissenschaft, seine moralische
Handlungen in kleinern Gesellschaften, die man Familien nennt, so einzurichten, wie es die Wolfarth
und Glükseeligkeit solcher Gesellschaften erfordert. ...
Exzerpt 13 PH ILO SO PH IE. A LLG EM EIN E Ü BERSIC H T 119

D. Staatsw issenschaft oder P olitik enthält die Theorie der Glückseligkeit §.231
ganzer Staaten oder bürgerlicher Gesellschaften und zeigt die Mittel an, wodurch
dieselbe kann erreicht werden.
a. Derjenige Theil der Staatswissenschaft, der die Ruhe und Sicherheit von aussen §. 233
5 zum Endzweck hat, wird oft im engeren Verstände die P olitik genennt.
b. Den Theil, der die allgemeine Theorie der bürgerlichen Freiheit nach ver- §. 234
schiedenen Regierungsformen enthält, kann man die N om ologie heissen; es muss
dabei insonderheit untersucht werden, wie die Gesetze der Freiheit und des Eigen­
thums auf die beste Art können gehalten werden.
io c. Der Theil, der die Besorgung aller Arten der Privatbedürfnisse, alles dessen, was §. 235
nicht bloss zur Sicherheit des Lebens und des Eigenthums gehört, zu erleichtern sucht,
kann die allgemeine Polizeiw issenschaft genannt werden.
Socrates, Plato, Aristoteles, Xenophon und Cicero, Bodin, Leibnitz, Wolf, §. 236
Montesquieu, Set. Pierre, Heinrich IV. in Frankreich, Friedrich II. in Preussen.
10 c. Der Theil] Th: C. Der Theil I

[180] § 231. Die Staats wissensch aft, oder P o litik , enthält die Theorie der Glükseeligkeit ganzer
Staaten oder bürgerlicher Gesellschaften, und zeiget die Mittel an, wodurch dieselbe kann erreicht werden....
[181] § 233. Derjenige Theil der Staatswissenschaft, der die Ruhe und Sicherheit von aussen zum End-
zwek hat, wird ofte im engern Verstände die P o litik genennt. ...
[182] § 234. Weil kein Staat bestehen könnte, wenn nicht jeder Bürger desselben hinlängliche Sicher­
heit hätte, in seinen Unternehmungen, Verrichtungen und dem Genuß seines Eigenthums von den Mit­
bürgern ungestört zu bleiben, so muß der Theil der Politik, welcher die Theorie der innerlichen Sicherheit
lehret, zeigen, wie bey jeder Regierungsform eine hinlängliche Freyheit zu erhalten sey... Diese Wissen­
schaft, welcher man den Namen der N o m o lo g ie geben könnte, enthält demnach die allgemeine Theorie
der bürgerlichen Geseze und der bürgerlichen Freyheit nach den verschiedenen Regierungsformen. Es
muß aber [183] dabey insonderheit untersucht werden, wie die Geseze der Freyheit und des Eigenthums
auf die beste Art können gehandhabet werden. ...
§ 235. Es werden endlich zu der Wolfarth eines Staates noch verschiedene Dinge erfodert, die von
der äußerlichen und innerlichen Sicherheit unterschieden sind. Dergleichen sind hinlängliche Gelegenheiten
für jeden Stand sich zu nähren und seine Familie zu versorgen, gewisse Annehmlichkeiten in den äusser-
lichen Sitten und der Lebensart, Gelegenheiten, sich durch Verdienste empor zu schwingen, hinlängliche
Anstalten, alle nüzliche Künste und Wissenschaften zu erlernen, und mit einem Worte alles, was nicht
blos zur Sicherheit des Lebens und des Eigenthums gehöret. Der Theil der Staatswissenschaft, welcher
zeiget, wie diese Sachen durch gute Einrichtungen zu erhalten sind, kann die allgemeine Policeyw issen-
schaft genennt werden.
§ 236. (Die Staatswissenschaß sei zu allen Zeiten der besonderen Bemühungen der Weltweisen für würdig
erachtet worden.) [184] Die verehrungswürdige Namen Sokrates, P lato , A ristoteles, X enophon
und C icero erscheinen also mit Recht unter denen, die sich mit der Staats Wissenschaft in den alten Zeiten
beschäftiget haben. Auch in den neuern Zeiten hat diese Wissenschaft die Bemühungen der besten Köpfe
erfahren. B odin, L eibniz, W olf, M ontesquieu, St. P ierre, und die, deren Namen noch heller
.glänzen, H einrich der IV in Frankreich, und F riedrich der II in Preussen, nebst viel andern für-
treflichen Männern haben daran gearbeitet. ...
120 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 13

§. 238. Ausser dieser kunstmässigen Philosophie giebt es noch eine natürliche, die nichts
von den mühsamen und weitläufigen Erforschungen weiss, um die ersten Quellen
der Wahrheit zu entdecken; sie braucht keine Methode, sie nimmt ihren Stoff, wie
er sich zeigt, und überdenkt ihn nach dem blossen Gutdünken der gesunden Vernunft.
§. 239. Man könnte sie die P hilosophie der W elt nennen; sie ist die Wissenschaft, über- 5
all klug zu handeln. Diese Weisheit lernt der Mensch bloss durch die Erfahrung und
den Umgang der Welt, wenn er Alles, was ihm vorkommt, mit gehöriger Scharf-
sinnigkeit beobachtet.

[185] § 238. ... Außer dieser kunstmäßigen Philosophie giebt es eine natürliche, die nichts von den
mühsamen und weitläuftigen Erforschungen weis, welche man nothwendig anwenden muß, um die
Wahrheit aus ihren ersten Quellen zu entdeken; eine Philosophie der gesunden Vernunft, die jeder nach­
denkender Mensch ohne besondere methodische Anstalten, mehr oder weniger besizet, je nachdem er
zum Nachdenken aufgelegt ist. Man könnte die erstere die Philosophie der Schule und die andere die
Philosophie der Welt nennen. [186] Denn jene ist eine wahre Disciplin, die nicht anders als nach einer ge­
nauen Methode kann erlernt werden. Diese aber braucht gar keine Methode, sie nimmt ihren Stoff so
wie er sich zeiget, und überdenkt ihn ohne Kunst, nach dem bloßen Gutdünken der gesunden Vernunft. ...
[187] § 239. ... So leicht es zu bestimmen ist, wie ein Mensch in allen Vorfallenheiten des Lebens recht
handeln soll, so wenig läßt sich allgemein bestimmen, wie er klug seyn soll. Diese Weisheit lernt der
Mensch blos durch die Erfahrung und den Umgang der Welt, wenn er alles, was ihm vorkommt, mit
gehöriger Scharfsinnigkeit beobachtet. ...
Exzerpt 14 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT 121

R e c h t s g e l e h r s a m k e i t . A l l g e m e in e U e b e r s i c h t .
1787. 10. März.
(Sulzer’s kurzer Begriff der Gelehrsamkeit. 1759. §. 240-258.)
Die R echtsgelehrsam keit ist die Wissenschaft der willkührlichen Gesetze §.240.
5 eines Staats. Die durch die besondere Verfassung eines Staats bestimmten Verbind­
lichkeiten und Rechte, nennen wir das w illkührliche R echt (jus positivum) und
die daher entstehenden Gesetze, w illkührliche Gesetze.
I. Das natürliche G esellschaftsrecht (jus naturale sociale, jus civile uni- §.242.
versale) begreift die Theorie der Rechte und Gesetze, welche aus der Natur einer
io bürgerlichen Gesellschaft überhaupt entstehen, und also allen Staaten gemein sind.
II. Der andere Haupttheil beschäftigt sich bloss mit den besonderen Rechten und
Gesetzen gewisser Staaten.
A. Das bürgerliche R echt betrifft die sogenannten weltlichen Bürger eines §.244.
Staats, und diejenigen Sachen, welche bloss auf die zeitliche Wohlfahrt einen Ein-
15 fluss haben.
AA. Das Staatsrecht (jus publicum) enthält die Verbindlichkeiten der Bürger §.245.
gegen die Regenten und der Regenten gegen die Bürger.
8 sociale,] Th: sociale 16 AA] Th: A (Fraktur)

[189] § 240. Durch die R echtsg eleh rsam k eit verstehen wir überhaupt die Wissenschaft der will­
kührlichen Geseze eines Staates. W ir haben in dem Vorhergehenden der natürlichen Geseze Erwähnung
gethan, welche aus der bloßen Betrachtung der menschlichen Natur ohne Absicht auf bürgerliche Ver­
bindungen fließen. Außer diesen allgemeinen Gesezen der Natur hat jeder Staat seine besondern Geseze,
welche aus seinem eigenen besondern Zustande und Verfassung entstehen. Die durch die besondere Ver­
fassung eines Staates bestimmte Verbindlichkeiten und Rechte nennen wir das w illk ü h rlich e R echt
(Ius positiuum) und die daher entstehende Geseze, w illk ü h rlich e Geseze. ...
[191] § 242. Die Rechtsgelehrsamkeit (Iurisprudentia) hat demnach zwey Haupttheile, der erste be­
greift die Theorie der Rechte und Geseze, welche aus der Natur einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt
entstehen, und also allen Staaten gemein sind, welches [192] man das n atü rlich e G esellschaftsrecht
(Ius naturae sociale, Ius Ciuile vniuersale) nennen kann, Der andere Haupttheil aber beschäftiget sich
blos mit den besondern Gesezen und Rechten gewisser Staaten. ...
[193] § 244. Das bürgerliche Recht betrift die sogenannte weltliche Bürger eines Staates, und diejenige
Sachen, welche blos auf die zeitliche Wolfarth einen Einfluß haben. Es theilet sich aber in zwey Haupt­
zweige. Denn da die Bande der Gesellschaft so wol die Obern oder Regenten gegen die Bürger oder
Unterthanen, als diese gegen jene verbinden, so entsteht daher ein doppeltes Recht, nämlich das [194]
S taatsrecht, (Ius publicum) und das P riv atrech t, (Ius ciuile priuatum.)
/ § 245. Das S taatsrecht enthält die Verbindlichkeiten der Bürger gegen die Regenten, und der Re­
genten gegen die Bürger. ...
122 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 14

§.246. a. Das natürliche oder allgem eine Staatsrecht (jus publicum universale)
erforschet die gegenseitigen Pflichten und Verbindlichkeiten der Bürger und Regen­
ten aus allgemeinen Begriffen und aus der allgemeinen Beschaffenheit eines Staats
überhaupt.
§. 248. b. Das besondere S taatsrecht freier Staaten gründet sich auf die besondern 5
Gesetze und Verträge zwischen den Unterthanen und dem Regenten.
Die vornehmsten Quellen des deutschen besondern Staatsrechts sind die alten
G ew ohnheiten, die R eichsherkom m en heissen, die goldene B ulle, der
Landesfriede, die R eichsabschiede, die kaiserliche W ah lk ap itu latio ­
nen, und der W estphälische Friede. io
§.250. BB. Das bürgerliche P rivatrecht.
a. Das peinliche R echt untersucht die Verschiedenheit der die innerliche Ruhe
störenden Handlungen und die denselben angemessenen Strafen.
9-10 Wahlkapitulationen] Th: Wahlkapitulation 11 BB] Th: B (Fraktur)

[195] § 246. ... Die Wissenschaft, welche man das n atü rlich e S taatsrech t (Ius publicum Vniuer-
sale) nennt, erforschet die Pflichten und Verbindlichkeiten der Regenten gegen die Bürger, und der Bür­
ger gegen die Regenten aus allgemeinen Begriffen, und aus der allgemeinen Beschaffenheit eines Staates
überhaupt. ...
(Der erste Satz von Hegels Zusammenfassung des § 248 stützt sich offenbar nicht nur auf diesen Paragraphen,
sondern ist aus dem ganzen Gedankenzusammenhang heraus frei formuliert. Das Wort Verträge kommt im
Original nicht vor.)
[198] § 248. Auf das allgemeine oder natürliche Staatsrecht folget das besondere Staatsrecht freyer Staa­
ten. So viel dergleichen Staaten vorhanden sind, so viel giebt es verschiedene Staatsrechte. Denn jeder
Staat hat nach seiner besondern Beschaffenheit sein besonderes Recht. Das Deutsche, das Gros-[199]
brittannische, das Schwedische, das Polnische und andre Reiche, sind in ihren Constitutionen ganz un-
gemein von einander unterschieden, und so sind es auch die Staatsrechte dieser Reiche. Von diesen Rei­
chen aber verdienet das Deutsche eine vorzügliche Betrachtung. ... Wegen der grossen Menge und Ver­
schiedenheit der Staaten, die zum Reiche gehören, wegen der mannigfaltigen Quellen des deutschen
Staatsrechts, deren einige in dem finstern Alterthum verborgen liegen, und wegen der vielfältigen Ver­
änderungen, welche seit bald tausend Jahren darin vorgefallen, ist dieses Recht ungemein weitläuftig.
Die vornehmste Quellen desselben sind die alte Gewohnheiten, welche R eichsherkom m en genennt
werden, die goldene B ulle, der L andesfriede, die R eichsabschiede, die K ayserliche
W ah lcap itu latio n en und der W estphälische Friede. ...
[199] § 250. Auf das Staatsrecht folget das b ü rg erlich e P riv atrech t, (§ 244.) welches, wegen der
vielerley Arten der Vorfälle und der Stände in einem grossen Staat, sich wieder in vielerley besondere
Theile [200] absondert. In jedem Staat ist die vornehmste Pflicht der Bürger, sich solcher Handlungen
zu enthalten, durch welche die innerliche Sicherheit und Ruhe könnte gestöhrt werden. Es ist daher noth-
wendig, daß auf solche die Ruhe stöhrende Handlungen Straffen gelegt werden. Die Verschiedenheit
solcher böser Handlungen und die mannigfältige Grade des Verbrechens und der denselben angemes­
senen Straffe hat besondere Untersuchungen verdienet, aus welchen das peinliche R echt entstanden
ist. Die Theorie des peinlichen Rechts, welche sich blos auf die innerliche Natur der Verschuldungen
Exzerpt 14 R EC H TSG ELEH R SA M K EIT. A LLG EM EIN E Ü B E R SIC H T 123

1) Das allgem eine peinliche R echt (jus criminale universale) ist die Theorie
des peinlichen Rechts, welche sich bloss auf die innere Natur der Verschul­
dungen gründet.
2) Das w illkührliche C rim inal-R echt setzt das näher fest, was das allgemeine
5 natürliche Criminalrecht nur überhaupt bestimmt. Das römische Justinianische
Recht. Carl V. peinliche Gerichtsordnung.
b. Das E igenthum s-R echt ist der Inbegriff der Gesetze, die das Eigenthum und §. 252.
die rechtlichen Ansprüche eines jeden in ein deutliches Licht setzen.
1) Das allgemeine E igenthum s-R echt gehört in das Naturrecht,
io 2) Das w illkührliche E igenthum s-R echt bestimmt alles, was das natür­
liche Recht unbestimmt gelassen, und hat noch überdem willkührliche Gesetze,
welche von der besondern Beschaffenheit eines jeden Staats, oder von dem
besondern Gutdünken des Gesetzgebers herrühren. In Deutschland das Frän­
kische und das Sächsische R echt, das Röm ische Justinianische
15 R echt; ehemals auch das päbstliche R echt; vor dem 16. Jahrhundert
7 § 252 in Th neben: Das willkührliche Kriminal-Recht 10 2)] Th: 2.

gründet, wird das allgem eine peinliche R echt (Ius Criminale Vniuersale) genennt. ... Ausser
diesem allgemeinen peinlichen Recht hat jedes Land noch sein besonderes oder w illkührliches C ri­
m in alrech t, welches dasjenige, was das allgemeine natürliche Criminalrecht nur überhaupt bestimmt,
näher festsezct. Das deutsche peinliche Recht enthält viele Verordnungen aus dem römischen Justiniani­
schen Recht, und andere aus des Kayser Carl des V. peinlicher Halsgerichts-[201]ordnung. ...
[202] § 252. Da aber zu der innerlichen Ruhe nicht nur erfordert wird, daß ein jeder Bürger sich böser
Handlungen gegen andere enthalte, sondern auch daß er jedem alles leiste, wozu dieser ein Recht hat,
so sind außer den Criminalgesezen auch noch Geseze, die das Eigenthum und die rechtlichen Ansprüche
eines jeden in ein deutliches Licht sezen. Der Inbegriff dieser Geseze wird das E igenthum srecht ge­
nennt. Dieses Recht muß nun zuvoderst aus dem allgemeinen Recht der Natur auf die merkwürdigsten
Fälle des Eigenthums, die von Verträgen, Kaufen und Verkaufen, Schenkungen und Erbschaften u. d. gl.
herkommen, genau bestimmt werden. Dieses allgemeine Eigenthumsrecht gehört eigentlich zu dem
Recht der Natur, davon wir schon in dem vorhergehenden Abschnitt unter den philosophischen Wissen­
schaften gehandelt haben. Das w illk ü h rlich e E ig en th u m srech t bestimmt alles dasjenige, was
das natürliche Recht hierin unbestimmt gelassen, und hat noch überdem willkührliche Geseze, welche
von der besondern Beschaffenheit eines jeden Staa-[203]tes, oder von dem besondern Gutdünken des
Gesezgebers herrühren. Mithin ist dieses in jedem Staat verschieden. In Deutschland sind dreyerley Quel­
len dieses Rechts in jeder Provinz. Einige alte ursprünglich deutsche Geseze oder Herkommen, welche
durch die Gewohnheit die Kraft der Geseze erhalten haben, und die von zweyerley Art sind, nämlich
das Fränkische und das Sächsische R echt, das R öm ische Ju stin ian isch e R echt, welches
durchgehends in Deutschland angenommen worden, und wornach alles gerichtet wird, was nicht durch
besondere Landesgeseze ausgemacht ist. In den Zeiten, da noch ganz Deutschland der römischen Hier­
archie unterworfen war, hat auch das päbstliche R echt Autorität bekommen, und hiezu kommen
noch einige Reichsverordnungen. In den neuern Zeiten herrscht das römische Recht in Deutschland
überall, wiewol es sich erst in den spätem Zeiten eingeschlichen hat. Man hat bis ins XVI. Jahrhundert
in Deutschland wenig davon gewußt. Die kayserliche deutsche Rechte, die schon zu den Zeiten Kaysers
Heinrichs des VI. unter dem Namen des Iuris ciuilis oder Iuris communis gesammlet waren, galten allein. ...
124 AU S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 14

253. allein die kaiserlichen deutschen R echte, Jus civile oder Jus com ­
mune. v. Senkenbergs Corpus legum Germanicarum.
254. c. Das Processrecht (jus judiciarium) bestimmt die Verbindlichkeiten der
Richter in Ansehung der Ausübung ihres Amts, und der Partheien in Verfolgung
ihres Rechts und ihrer Ansprüche. 5
1) Die allgem einen Regeln dieses Rechts müssen aus dem Rechte der Natur
hergeleitet werden.
2) Das w illkührliche Processrecht, die Processordnung, wird in jedem
Lande dem natürlichen Processrechte gemäss näher und auf’s Genaueste
256. bestimmt. In Deutschland gilt die römische Processordnung. Friedrich II. io
257. d. Es giebt auch viele andere Theile der bürgerlichen Rechtsgelehrsamkeit, welche
aus besonderen Arten der bürgerlichen Lebensarten entstehen, z. B. das W echsel­
recht, das H andlungsrecht, u.s.w.
Das Lehns-R echt (Jus feudale) setzt die Verbindlichkeiten und Rechte, die aus
den Lehen entstehen, in ein besonderes Licht. Die Sammlung der Lehnsrechte von 15
den Longobarden in zwei Büchern heisst das L ongobardische Lehnrecht.
11 bürgerlichen] Th: bürgerlichen und

[205] § 253. ... Der Herr von S enkenberg hat eine sehr rühmliche Arbeit übernommen, daß er das
Corpus legum germanicarum gesammelt, welches er jezo herauszugeben anfängt.
§ 254. Die Handhabung der bürgerlichen Geseze macht das richterliche Amt nothwendig. Daher
entstehen wieder besondere Verbindlichkeiten der Richter in Ansehung der Ausübung ihres Amts, und der
Partheyen in Verfolgung ihres Rechts und ihrer Ansprüche. Der Theil der Rechtsgelehrsamkeit, der diese
besondere Verbindlichkeiten bestimmt, wird das P ro ceß rech t, (Ius iudiciarium) genennt. Die allgemeine
Regeln dieses Rechts, müssen aus dem Recht der Natur hergeleitet werden. ... [206] Das w illk ü h r­
liche P ro ceß rech t, die P ro ceß o rd n u n g , wird in jedem Lande dem natürlichen Proceßrecht ge­
mäß näher bestimmt. Demnach enthält die Proceßordnung alles, was die Anzal und Beschaffenheit der
Richter, die verschiedene von einander abhangende Gerichte, und die Art zu verfahren betrifft. Jeder
nöthige Punct wird so fest gesezt, daß man daraus bis auf die kleinste Umstände die Art in Rechtssachen
zu verfahren sehen könne.
[208] § 256. ... In den meisten deutschen Gerichtsstuben wird nach der ehmaligen römischen Proceß­
ordnung verfahren. Die Staaten des unsterblichen F riedrichs haben den unschäzbaren Vorzug, daß die
Proceßordnung unter der Oberaufsicht dieses gekrönten Weltweisen von einer Gesellschaft der größten
und scharfsinnigsten Männer, mit der Sorgfalt, Genauigkeit und strengen philosophischen Einsicht ab­
gefaßt worden, welche man sonst nur auf mathematische Untersuchungen zu verwenden gewohnt war. ...
[209] § 257. Ausser der erwähnten Theilen der bürgerlichen Rechtsgelehrsamkeit giebt es noch viele
besondere Theile, welche aus besondern Arten der bürgerlichen Lebensarten entstehen. So hat man z. E.
ein besonderes W ech selrech t, ein H an d lu n g srech t, u. a. m. die wir hier besonders zu beschreiben
nicht für nöthig erachten. Allein des Lehnrechts müssen wir seiner Wichtigkeit halber besondere Er­
wähnung thun. ... Weil in allen Europäischen Staaten der größte Theil der Güter des hohen und niedrigen
Adels ... Lehen sind, und sehr viele wichtige Streitfälle darüber entstehen können, so war ein besonderer
Theil der Rechtsgelehrsamkeit nöthig, der die Verbindlichkeiten und Rechte, welche aus den Lehen ent­
stehen, in ein Licht sezte. Dieser Theil wird das L ehnrecht, (Ius feudale) genennt. Von den Longo-
Exzerpt 14 R E C H TSG ELE H R SA M K E IT. A LLG EM EIN E Ü B E R SIC H T 125

B. Das K irchenrecht (jus ecclesiasticum) ist das System der geistlichen Gesetze, §. 258.
die theils auf das geistliche Eigenthum, theils auf die Besetzung der geistlichen Stellen,
theils auf die Ordnung und Disciplin sich beziehen. Die Quellen sind die Verord­
nungen (canones) der Päpste und der allgemeinen Kirchenversammlungen; daher
5 es auch den Namen des canonischen Rechts (jus canonicum) erhalten hat. Ein
jedes Reich hat aber noch seine besonderen Kirchenrechte, so Deutschland die
C oncordate; auch gehört der Westphälische Friede, der Religionsfriede und
andere hierher. Aus diesem ist das besondere deutsche K irchenrecht ent­
standen, welches eingetheilt wird in
io AA. das Päpstliche,
BB. das Protestantische K irchenrecht. Böhmer.
10 AA] Th: A (Fraktur) 11 BB] Th: B (Fraktur)

barden sind die Lehnrechte [210] in zwey Büchern gesammelt worden, welche daher den Namen des
L ongobardischen L ehnrechts erhalten haben. ...
§ 258. W ir beschliessen diesen Abschnitt mit dem K irch en rech t. Es ist bereits oben erinnert worden,
daß in den Staaten, durch welche die römische Hierarchie sich ausgebreitet hat, in der bürgerlichen Ge­
sellschaft sich noch ein andrer geistlicher Staat nach und nach gebildet habe, der sein von den weltlichen
Regenten verschiedenes Oberhaupt hat, nämlich den Pabst. Auch dieser geistliche Staat hat seine beson­
dere Geseze und Rechte, welche theils auf das geistliche Eigenthum, nämlich die Kirchengüter, theils auf
die Besezung der geistlichen Stellen, theils auf die Ordnung und Disciplin gehen. Das System der geist­
lichen Geseze wird das K irch en rech t (Ius ecclesiasticum) genennt. Die Quellen dieses Rechts sind die
Verordnungen (Canones) der Päbste und der allgemeinen Kirchen Versammlungen, und von diesen hat
es den Namen des canonischen Rechts (Ius canonicum) erhalten. Es hat aber [211] außer diesem canoni­
schen Recht ein jedes Reich noch seine besondere Kirchenrechte. In dem deutschen Reich sind noch be­
sondere Kirchengeseze, C o n co rd ate, der deutschen Nation errichtet worden; auch enthält sowol der
Religionsfriede, als der Westphälische Friede verschiedene Verordnungen, welche das Kirchenwesen im
deutschen Reich betreffen. Aus diesen ist das besondere deutsche K irch en rech t entstanden, welches
in das Päbstliche und P rotestan tisch e K irch en rech t eingetheilt wird. ... Verschiedene deutsche
Gelehrte haben sich um das Kirchenrecht ungemein verdient gemacht, unter welchen der ehemalige
Hallische Professor und Preußische Geheimte Rath B öhm er vorzüglich verdient genennt zu werden.
126 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

P h il o s o p h ie . P s y c h o l o g ie . P r ü f u n g der F ä h ig k e it e n .
14.-18. M ärz 1787.
(Garve’s Versuch über Prüfung der Fähigkeiten im VIII. Band der neuen Bibi,
der philosophischen Wissenschaften und freien Künste 1769.)

Die Fähigkeiten und Vollkommenheiten erkennt man gemeiniglich erst dann, 5


wenn sie an wichtigen Gegenständen geübt werden; aber gewöhnlich ist es alsdann
schon zu spät.
Eine Untersuchung über die Prüfung der Fähigkeiten kann zwar nach unserer
Verfassung nicht dazu dienen, dem Menschen seine Geschäfte und seine Bestimmung
anzuweisen, sondern sie kann nur den erwachsenen Mann mit seinen Kräften bekannt 10
machen, ihm, wenn er auf die rechte Seite gestossen, mehr Zufriedenheit geben,
wo nicht, doch einen angemesseneren Zeitvertreib zeigen; endlich die seltsame Ver­
einigung erklären, die man so oft in demselben Menschen, zwischen grossem Ver-
13 grossem] Th: grossen

Wenn das Hauptwerk der Erziehung darinnen besteht, den Fähigkeiten der Seele Beschäftigung,
und den Neigungen ihre gehörige Gegenstände zu geben: so wird ihr erstes Geschäfte seyn müssen,
diese Fähigkeiten zu kennen. Aber wie schwer und wie mißlich ist diese Untersuchung. Wodurch will
man die Fähigkeiten des Geistes kennen lernen, wenn man ihn nicht handeln sieht? Und doch, was kann
es in diesem Alter für Verrichtungen geben, bey denen diese Fähigkeiten merklich würden ? Es geht mit
der Bildung der Geister wie mit der Entstehung der Körper. W ir werden diese letztem nicht eher gewahr,
als bis sie schon eine merkliche Größe erreicht haben, und schon lange über die Epoque hinaus sind, wo
sich ihre Bestandtheile zusammenfügten, und durch ihre Lage und ihre Gestalt die Beschaffenheit und
Erscheinungen des künftigen Dinges bestimmten. Eben so erkennen wir die Vollkommenheiten eines
Geistes erst alsdann, wenn sie an wichtigen Gegenständen geübt werden; Aber dann ist es gemeiniglich schon
zu spät, die Wahl ist geschehen, und nur der glückliche oder unglückliche Erfolg läßt uns auf die Anlage
der Seele schließen, die diesen Gegenständen angemessen war. (Es sei auch bei großer Seelenkenntnis und
Beobachtungsgabe kaum möglich, aus unbedeutenden Beschäftigungen besondere Talente zu erkennen.)
[2] Also, wenn das der einzige Endzweck dieser Untersuchung wäre, dem Menschen seine Bestimmung
und seine Geschäffte anzuweisen, so könnte man sie getrost auf geben. Das Tribunal, das über die Fähig­
keiten junger Bürger in einem Staate den Ausspruch thun, und jedem seine Lebensart nach diesem Aus­
spruche zuerkennen sollte, ist einer von den schönen Vorschlägen, die zu weiter nichts dienen, als ihre
Erfinder zu belustigen. Die Natur will nicht haben, daß sich unsre Weisheit in alle ihre Werke mischen
soll; und am Ende macht sie es doch vielleicht eben so gut, als wir es mit unsrer ganzen Klugheit würden
gemacht haben.
Aber um den erwachsenen Mann mit seinen eignen Kräften bekannt zu machen, ihm, wenn der Zu­
fall ihn gerade an die rechte Stelle gestoßen hat, mehr Zufriedenheit zu geben, oder wenn er an die un-
rechte gekommen ist, ihm wenigstens einen Zeitvertreib zu zeigen, der sich besser für ihn schickt [3]
als seine Geschäffte; endlich wenigstens von den Erscheinungen in dieser Sphäre Grund anzugeben, und
die seltsame Vereinigung zu erklären, die man so oft in demselben Menschen zwischen großem Ver-
Exzerpt 15 P R Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 127

stand und grosser Einfalt, zwischen ausnehmenden Talenten und einer ungewöhn­
lichen Unfähigkeit, zwischen grossen Kräften und einer völligen Ohnmacht,
gewahr wird.
I. Die Empfindungen sind der Stoff, den die übrigen Fähigkeiten bearbeiten.
5 Sind diese fest und dauerhaft, so gehört nur ein vortrefflicher Künstler dazu, um vor­
treffliche Werke daraus zu machen, sind sie schwach und untauglich, so wird selbst
eine Meisterhand und die weiseste Anwendung nur etwas Mittelmässiges hervor­
bringen.
Zeichen, ob die Eindrücke, die die Seele des Kindes von sich selbst, und von den
io Sachen ausser sich empfängt, richtig mit den Gegenständen übereinstimmend, tief
und dauerhaft; ob das Empfinden wahr und stark ist, sind folgende:
1) wenn das Kind die einmal empfundenen Sachen, besonders wenn es noch
keine Worte dafür hat, leicht wieder erkennt.
Denn um eine Sache [wieder] zu erkennen, ist nöthig, den alten und den gegen-
15 wärtigen Eindruck zu vergleichen. Je geschwinder dieses geschieht, desto merklicher

stände und großer Einfalt, zwischen ausnehmenden Talenten und einer ungewöhnlichen Unfähigkeit,
zwischen großen Kräften und einer völligen Ohnmacht gewahr wird, dazu ist diese Untersuchung nütz­
lich. Kann wohl die Philosophie, wenn sie nun einmal nicht zugelassen wird, die Dinge in der Welt zu
bessern, etwas anders thun, als das was geschieht, zu beschreiben? und wenn sie nicht an der Spitze des
Heeres gehen kann, als Befehlshaber, um die Begebenheiten zu lenken, so muß sie wenigstens hinten
her gehen, als Geschichtschreiber, um sie aufzuzeichnen.
(Es folgen methodische Erwägungen mit dem Schluß:) Um zu wissen, wie sich gewisse Fähigkeiten der
Seele äußern, muß man diese Fähigkeiten erst unterscheiden.
[4] I. Die erste, der Grund aller übrigen, und die, welche die Stärke und Beschaffenheit der andern
bestimmt, ist das Vermögen zu empfinden. - So ist der Gang der Natur: Zuerst empfängt die Seele eine
Menge Eindrücke, das Gedächtniß erhält sie, die Einbildungskraft setzt sie zusammen, der Verstand samm­
let das Aehnliche in denselben, und verwandelt die Eindrücke in Ideen, die Vernunft endlich bringt diese
Ideen in Verbindung und erbaut sich daraus das System ihrer Grundsätze und ihrer Regeln. Die Emp­
findungen sind also der Stof, welchen die übrigen Fähigkeiten bearbeiten. Ist dieser fest und dauerhaft,
so ist weiter nichts als ein geschickter Künstler dazu nöthig, um vortreffliche Werke daraus zu machen;
ist er schwach und untauglich, so wird selbst eine Meisterhand und die weiseste Anwendung nur etwas
mittelmäßiges hervorbringen.
Von der Empfindung sollte also der Anfang dieser Untersuchung, so wie der Erziehung überhaupt,
gemacht werden. Sind die Eindrücke, die die Seele dieses Kindes von sich selbst und von den Sachen
außer sich empfängt, richtig, mit den Gegenständen übereinstimmend, tief und dauerhaft; sind ihre Emp­
findungen wahr und stark? das ist die Frage die man zuerst entscheiden muß. Ich setze mich in die Stelle
des Vaters und Lehrers, und folge dem Kinde in allen seinen Bewegungen.
1. Das erste, worauf ich Acht haben werde, ist, ob das Kind die Sachen, die es einmal empfunden hat,
[5] geschwind und leicht wieder erkennt. Diese Beobachtung werde ich selbst zu der Zeit anstellen, wo
das Kind für diese Empfindungen noch keine Worte hat. Der Schluß selbst ist klar. Um eine Sache wie­
der zu erkennen, ist nöthig, den alten und den gegenwärtigen Eindruck zu vergleichen. Je geschwinder
diese Vergleichung geschieht, desto merklicher müssen die Spuren seyn, die die Sache in der Seele zurück-
128 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

müssen die Spuren seyn, die die Sache in der Seele zurückgelassen hat. Man sieht
auch, warum diess Merkmal nur bei Kindern richtig ist, ihre Seele beschäftigt sich
ganz allein mit Empfindungen, ihre Aufmerksamkeit ist nie zwischen den sinnlichen
Gegenständen und den allgemeinen Ideen getheilt; und das Maass der Stärke, mit
welchem sie empfindet, ist zugleich das Maass ihrer Kraft überhaupt. 5
2) wenn das Kind eine grosse Aufmerksamkeit auf den jedesmaligen Gegenstand
der Empfindung hat, und sich durch die übrigen Sachen, die itzund nicht eigentlich
zu seiner Betrachtung gehören, wenig oder gar nicht zerstreuen lässt; seine Augen
und Ohren haben immer etwas Bestimmtes und Festes, worauf sie sich richten; sie
unterscheiden immer das Bekannte vom Fremden, und dieses sehen sie so lange starr 10
an, bis sie völlig eben so bekannt damit sind, als mit dem Uebrigen.
Die Aufmerksamkeit ist die Ursache starker Empfindungen, weil, wo mehr Kraft
angewendet wird, die Wirkung grösser seyn muss; und der Beweis, weil die Seele
von jeder [Sache] um so viel mehr an sich gezogen wird, je grösser die Thätigkeit ist,
in die sie die Seele setzt. 15

gelassen hat. Man sieht zugleich, warum dieses Merkmal bey Kindern richtig ist, und bey Erwachsenen
trügt. Die Seele der ersten beschäfftigt sich ganz allein mit Empfindungen; ihre Aufmerksamkeit ist nie­
mals zwischen den sinnlichen Gegenständen und allgemeinen Ideen getheilt; und das Maaß der Stärke
also, mit welchem sie empfindet, ist zugleich das Maaß ihrer Kraft überhaupt. Bey den andern hängt
die Leichtigkeit, die alten Gegenstände wieder zu erkennen, nicht blos von dem Nachdrucke, mit dem
man sie zuerst empfunden hat, sondern auch von dem Grade der Aufmerksamkeit ab, den man itzt auf
sie wendet; und für die Empfindung bleibt nur so viel von der Kraft der Seele, als zum Denken nicht
nöthig ist.
2. Ein andres noch allgemeineres und sicherers Merkmal ist es, wenn das Kind eine große Aufmerk­
samkeit auf den jedesmaligen Gegenstand seiner Empfindung hat, und sich durch die übrigen Sachen,
die itzund nicht eigentlich zu seiner Betrachtung gehören, wenig oder gar nicht zerstreuen läßt. (Jeder
habe schon bemerkt, daß manche Kinder die Vielfalt der sie umgebenden Dinge und Eindrücke hinnehmen, ohne
bei einem einzelnen zu verweilen.)
[6] Andre sind immer nur mit einem Gegenstände auf einmal beschäftigt. Ihre Augen oder Ohren
haben immer etwas festes und bestimmtes, worauf sie sich richten. Unter einem noch so großen Haufen
von Sachen oder Personen unterscheiden sie augenblicklich das Bekannte vom Fremden, gehen unacht­
sam bey dem einen vorbey, und sehen dafür das andre so lange starr und unverwandt an, bis sie ungefähr
damit eben so bekannt worden sind, wie mit den übrigen. ...
Diese Gabe viele Dinge nicht zu sehen und nicht zu hören, um von einer recht gerührt zu werden,
die Aufmerksamkeit mit einem Worte, ist sowohl die Ursache als der Beweis starker Empfindungen.
Die Ursache, weil, wo mehr Kraft ange-[7]wendet wird, die Wirkung größer seyn muß; der Beweis,
weil die Seele von jeder Sache um so viel mehr an sich gezogen wird, je größer die Thätigkeit ist, in die
sie die Seele setzt. Ist die Seele nur zu leichten und gleichsam nur berührenden Eindrücken fähig; so wer­
den sie niemals über die Zerstreuungen die Oberhand behalten; die Kraft der Seele wird unter alles gleich
ausgetheilt, und durch diese Theilung verzehret. Heftige Wirkungen hingegen werden die Aufmerksam­
keit, auch ohne ihren Willen, auf den Gegenständen festhalten, die sie erregen.
3. Ein drittes, aber mehr zweydeutiges Kennzeichen, ist schon immer bey dieser Untersuchung ge­
braucht worden; die Lebhaftigkeit meyne ich, und die Geschäfftigkeit des Geistes. Die Wahrheit, die
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 129

3) Je besser und lebhafter die Bilder sind, die die Seele durch die Empfindungen
erhält, desto grösser ist das Vergnügen über dieselbe, und desto grösser das Ver­
langen nach neuen. Aber der schnelle Uebergang von einer Sache zur andern und die
Lebhaftigkeit und Geschäftigkeit des Geistes zeigt freilich eine wirksame Seele, aber
5 er löscht zugleich einen Eindruck durch den andern aus, und zerstört die Wirkung,
indem er den Gegenstand zu oft abändert. Ein langsamer Fortgang von einem
Gegenstand zum andern, der oft für Dummheit angesehen wird, kann die Ursache
des künftigen Verstandes seyn, weil er für ihn eine Reihe unterschiedener und sorg­
fältig gezeichneter Bilder sammlet. Man muss also dabei unterscheiden, ob die Seele
io aus Trägheit und Verdrossenheit so schwer die alten Gegenstände verlässt, oder ob
es aus einer gewissen Art von dunkler Betrachtung herrührt, die sie darüber anstellt.
4) Die unmittelbarsten Wirkungen der Empfindung sind die Begierden, die sich
noch eher als die Fähigkeiten entwickeln. Sind sie rauschend und heftig, aber vor­
übergehend, so sind die Eindrücke schnell, aber flüchtig. Sind sie ruhig, aber dauer-
15 haft, so ist die Empfindung langsam, aber tief. Ist zwischen den Begierden und ihren
Gegenständen ein gewisses Verhältniss, gesetzt auch, dass sie zuweilen darüber
hinausgehen sollen, so kann man Ordnung und Richtigkeit vermuthen. Aus-

zum Grunde liegt, ist diese: Je besser und lebhafter die Bilder sind, die die Seele durch die Empfindungen
erhält, desto größer ist das Vergnügen über dieselbe, und desto größer das Verlangen nach neuen.
Die Begierde also, mit welcher wir gewisse Seelen immer neue und neue Gegenstände ihrer Emp­
findung aufsuchen sehen, und die Behendigkeit, die diese Begierde allen ihren Handlungen giebt, könnte
ein Beweis von der Güte ihrer Empfindungen seyn, wenn nur diese Munterkeit nicht oft einer gewissen
Beharrlichkeit entgegen wäre, welche jedem Eindrücke Zeit genug läßt, sich in die Seelen fest zu setzen,
ehe ein neuer auf ihn folgt. Ein schneller Uebergang von einer Sache zur andern zeigt freylich eine wirk­
same Seele, aber er [8] löscht zu leicht einen Eindruck durch den andern aus, und zerstört die Wirkung,
indem er den Gegenstand zu oft abändert.
Man sieht also, wie leicht hier der Irrthum ist. Ein langsamer Fortgang von einem Gegenstände zum
andern, der bey Kindern oft für Dummheit angesehen wird, kann eben die Ursache ihres künftigen Ver­
standes seyn, weil er für ihn eine Reihe unterschiedner und sorgfältig gezeichneter Bilder sammlet. Und
die Flüchtigkeit der andern, über die man sich als eine unfehlbare Verkündigung eines fähigen Geistes
freuet, verwirrt und vermischt diese Bilder, und giebt der Reflexion, wenn sie endlich ihr Amt anfangen
will, nichts als ein Chaos von halbverlöschten und verworrnen Zügen, aus denen sich nichts zusammen­
setzen läßt. Die Kunst besteht also darinnen, zu unterscheiden, ob die Seele aus Trägheit und Verdrossen­
heit so schwer die alten Gegenstände verläßt, oder ob es aus einer gewissen Art von dunkler Betrachtung
herrührt, die sie darüber anstellt.
4. Die unmittelbarsten Wirkungen der Empfindungen sind die Begierden. Man kann also diese brau­
chen, um auf jene zurückzuschließen; und da sich die Begierden eher als die Fähigkeiten entwickeln,
so ist dieß auch der erste Weg der Untersuchung, die Talente aus den Leidenschaften zu beurtheilen.
Sind diese rauschend und heftig, aber vorübergehend, so sind die Eindrücke in der Seele schnell, aber
flüchtig. Sind sie ruhig, aber dauerhaft, so ist die Empfindung langsam, aber tief. Ist zwischen den Begier­
den und ihren Gegenständen ein gewisses [9] Verhältniß, gesetzt auch, daß sie zuweilen darüber hinaus­
gehen sollten, so kann man in den Begriffen Ordnung und Richtigkeit vermuthen. Ausschweifende oder
130 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

schweifende und ganz verkehrte Leidenschaften, ohne alle wenigstens scheinbare


Proportion mit dem Guten, auf das sie gerichtet sind, zeigen Zerrüttung und Un­
deutlichkeit in Bildern an. Ein Mangel aller Leidenschaften ist das untrüglichste
Kennzeichen der Dummheit.
5) Für diejenige Klasse von Empfindungen ist das Vermögen der Seele am fähig- 5
sten, in der sie das Schöne am leichtesten und richtigsten unterscheidet. Wenn die
sinnlichen Werkzeuge richtig, und die Seele nicht unfähig ist, so bringt das Schöne
Vergnügen, und das Hässliche Verdruss hervor. Aber nicht bei allen Gegenständen
ist diese Empfindung gleich stark. Ein Mensch, dem Alles gleichgültig, der das
Schlechte und Gute mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den Harmonie, io
Ordnung und Schönheit keine Wirkung thun; dessen Eindrücke müssen an und
für sich schlecht, unrichtig und schläfrig seyn; denn wenn dieses richtig ist, so ist die
begleitende Empfindung unausbleiblich. Jede Seele hat die beste Anlage für die
Gegenstände, wo sie am leichtesten und genauesten das Gute nicht nur vom Schlech­
ten, sondern auch vom Mittelmässigen unterscheidet, wo ihre Unterscheidungen 15
die feinsten, und ihr Vergnügen und ihre Unlust die lebhaftesten sind.
1 Leidenschaften] Th: Leidenschaft

ganz verkehrte Leidenschaften, ohne alle wenigstens scheinbare Proportion mit dem Guten, auf welches
sie gerichtet sind, zeigen Zerrüttung und Undeutlichkeit in den Bildern an, die die Dinge von sich in der
Seele abgedrückt hatten. Ein Mangel aller Leidenschaften ist das untrüglichste Kennzeichen der Dumm­
heit.
5. Aber die genaueste und schärfste Prüfung läßt sich durch die Beobachtung des Geschmacks an­
stellen. Für diejenige Klasse von Empfindungen ist das Vermögen der Seele am fähigsten, in der sie das
Schöne vom Häßlichen am leichtesten und richtigsten unterscheidet. Nach der Einrichtung der Natur
bringt, wenn die sinnlichen Werkzeuge richtig, und die Seele nicht unfähig ist, das Schöne Vergnügen,
und das Häßliche Verdruß hervor. Aber nicht bey allen Gegenständen ist diese angenehme oder un­
angenehme Empfindung gleich stark. Das Auge eines Mahlers empfindet weit mehr Verdruß über eine
unrichtige Gestalt, als sein Ohr über eine Disharmonie; hingegen sieht der Tonkünstler die abgeschmack­
teste Zeichnung ohne Ekel, und geräth bey falschen Tönen oder bey verfehltem Takte ausser sich.
Man kann also diese Beobachtung auf zweyerley Art brauchen.
[10] Einmal das Empfindungsvermögen überhaupt zu beurtheilen. Ein Mensch dem alles gleichgültig
ist, der das Schlechte und Gute mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den Harmonie, Ordnung
und Schönheit keine Wirkung thun; dessen Eindrücke müssen an und vor sich schlecht, unrichtig und
schläfrig seyn: denn wenn das Bild von der Sache selbst richtig gefaßt ist, so ist diese begleitende Emp­
findung von Lust oder Unlust unausbleiblich.
Zum andern die Art von Gegenständen zu bestimmen, zu denen jede Seele die beste Anlage hat, näm­
lich für die, wo sie am leichtesten und genauesten das Gute nicht nur vom Schlechten, sondern auch vom
Mittelmäßigen unterscheidet, wo ihre Unterscheidungen die feinsten, und ihr Vergnügen und ihre Un­
lust die lebhaftesten sind. Es würde diese Art von Prüfung weit vollkommner werden, wenn es möglich
wäre, von jeder Art der sinnlichen Gegenstände dem Kinde die schönsten und vortrefflichsten vorzustel­
len, um an ihnen seine Empfindung zu prüfen. Wenigstens wäre es doch billig, anstatt das Auge und das
Ohr des Kindes von Jugend auf an Mißgestalten und Disharmonie zu gewöhnen, und es gegen den natür-
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG K EITEN 131

6) Aeussere Merkmale sind: die Structur der Werkzeuge. Ein lebhaftes feuriges
und munteres Auge ist das Kennzeichen eines fähigen Geistes, denn es ist die Quelle
der vornehmsten und meisten Empfindungen, und wie Milton sagt: das grosse Thor
der Weisheit. - Die Munterkeit und das äussere Betragen, die Beweglichkeit und
5 Thätigkeit des Körpers ist die Folge eines geschäftigen Geistes; wie der Schlaf die
Beraubung aller Empfindungen ist, so ist die Schläfrigkeit die Schwächung der­
selben.
7) Die Unfähigkeit eines jungen empfindenden Kopfs zu Erlernung abstracter
Begriffe, oder der Wörter, die sie ausdrücken. Eine Seele, die mit wirklichen Bildern
io von Dingen erfüllt ist, wird sich ungern von denselben zu blossen Worten weg­
wenden, die es nicht versteht; und je lebhaftere Eindrücke es bekömmt, mit desto
grösserm Widerwillen wird es sich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die ohne
alle Eindrücke sind. Die Geschichte der Genies hat diess oft bestätigt, und oft das
Urtheil ihrer ersten Schullehrer widerlegt.
15 Es ist nichts schwerer, als die Empfindungen Anderer zu beurtheilen oder zu ver­
gleichen. Nur aus dem, was die Seele mit den Empfindungen anfängt, kann man

liehen Ekel davor abzuhärten, es lieber durch richtige Zeichnung und wohlklingende Töne schon zuvor
einzunehmen, und ihm seine erste Vergnügungen zu einem Muster zu machen, nach denen es schlechtere
beurtheilen und verwerfen lernte.
[11] 6. Das wären also solche Kennzeichen der Empfindung, die selbst Ursachen oder Wirkungen der
Sache sind, die sie bezeichnen. Es giebt aber andre, die mehr Anzeichen als Merkmale sind, die ganz auf
der Oberfläche liegen, die bey den einzelnen Menschen am leichtesten bemerkt werden, und sich doch,
weil sie so mannichfaltig und so veränderlich sind, am schwersten in eine allgemeine Regel verwandeln lassen.
Das wichtigste dieser äußern Merkmale ist die Structur der Werkzeuge. Ein lebhaftes, munteres und
feuriges Auge, ist daher immer mit Recht für das Zeichen eines fähigen Geistes gehalten worden, weil es
die Quelle der vornehmsten und meisten Empfindungen, oder, wie Milton sagt, das große Thor der
Weisheit ist.
Die Munterkeit und das äußere Betragen, die Beweglichkeit und Thätigkeit des Körpers ist ein ander
solches Merkmal. So wie der Schlaf die Beraubung aller Empfindung ist, so ist die Schläfrigkeit die Schwä­
chung derselben. (Dies wird noch einmal aus der Wechselwirkung von Seele und Körper begründet.)
[12] 7. Aber ein Merkmal, welches seltner beobachtet wird, ist die Unfähigkeit eines jungen emp­
findenden Kopfs zu Erlernung abstracter Begriffe, oder der Wörter die sie ausdrücken. (Bei scheinbarer
Ungelehrigkeit verständiger Kinder sei entweder der ausgewählte Lehrstoff nicht für sie geeignet oder der Lehrer
unterscheide nicht die Gabe des bloßen Behaltens von der Fähigkeit des Selbstdenkens.) Eine Seele, die mit wirk­
lichen Bildern von Dingen erfüllt ist, wird sich sehr ungern von denselben zu bloßen Worten wegwenden,
die es nicht versteht; und je lebhaftere Eindrücke es bekommt, mit desto größerm Widerwillen wird es
sich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die ohne alle Eindrücke sind.
Die Geschichte der Genies hat diese Anmerkung bestätigt, und oft das Urtheil ihrer ersten Schullehrer
widerlegt.
Nur noch zwey Worte über diese ganze Materie.
Erstlich. Es ist nichts schwerer als die Empfindungen andrer zu beurtheilen oder zu vergleichen. Unsre
Sprache drückt das sinnliche Bild blos durch den Namen des Gegenstandes aus. Jeder erin-[13]nert sich
132 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

wissen, wie ein Anderer empfindet; und der Gebrauch, den jemand von den Bildern
macht, die in seiner Seele gesammelt sind, zeigt am besten, wie diese Bilder beschaffen
sind. Obgleich die Werkzeuge nicht verdorben seyn müssen, wenn die Empfindung
gut seyn soll, so ist es doch falsch, dass sich die Stärke der letztem nach der Schärfe
der erstem richtet. Ueberdiess ist es nicht der blosse Eindruck der Sache, sondern es 5
ist die Idee, die aus diesem Eindrücke herausgezogen wird, die den Stoff zu den
folgenden Wirkungen der Seele giebt. Also ist die Beurtheilung der Empfindung
etwas Anderes, als die blosse Beurtheilung des Sehens und Hörens; also kann diese
nicht unmittelbar durch die Observation dessen, was das Kind, oder der Mensch von
seinen Empfindungen sagen kann, geschehen; also ist kein anderes Mittel zu irgend io
einer Kenntniss derselben zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der Emp­
findungen kennen zu lernen.
II. Die zweite Handlung der Seele ist die Wiederhervorbringung der Empfin­
dungen, entweder in eben der Form und Ordnung, in der wir sie gehabt haben, das
ist das G edächtniss; oder getrennt und zusammengesetzt, die E inbildungs- 15
kraft.

also bey dem Worte an seine eigne Idee, aber keiner erfährt die Idee des andern. Die Mittheilung der Ge­
danken besteht nicht sowohl darinnen, in dem andern eben die Eindrücke hervorzubringen, die wir selbst
haben, sondern nur die Eindrücke wieder zu erwecken, die durch eben die Gegenstände bey ihm hervor­
gebracht werden. Unsre sinnlichen Begriffe sind lauter Verhältnisse. Das Absolute in denselben könnte
sich völlig ändern, und alle unsre Ausdrücke würden noch können dieselben bleiben, wenn nur die Aen-
derung durchgängig und auf eine gleichförmige Art geschähe. Um also zu wissen, wie empfindet ein andrer,
müssen wir untersuchen, was fängt die Seele mit ihren Empfindungen an; und der Gebrauch, den jemand
von den Bildern macht, die in seiner Seele gesammlet sind, zeigt am ersten, wie diese Bilder beschaffen
sind. ( Z . B. könne ein Maler das Besondere, das er sieht bzw. empßndet> nicht durch Worte mitteilen, sondern
nur durch die Gestaltung im Bild.)
[14] Zum andern. Obgleich die Werkzeuge nicht verdorben seyn müssen, wenn die Empfindung gut
seyn soll, so ist es doch falsch, daß sich die Stärke der letztem nach der Schärfe der erstem richtet. Was
wir ein scharfes Auge nennen, ist nur ein Auge, das entferntere oder kleinere Gegenstände doch noch
deutlich sieht. Es sieht also ohne Zweifel mehr auf einmal. Aber bey einer gewissen Größe und Nähe
sieht das schwächere Auge eben so gut; Es bedarf also mehr Zeit, sich dieselbe Anzahl von sinnlichen
Begriffen zu verschaffen, aber es gelangt endlich doch dazu; und oft besser, weil sein Gesichtskreis immer
eingeschränkter und seine Aufmerksamkeit also weniger getheilt ist.
Ueberdieß ist es nicht der bloße Eindruck der Sache, sondern es ist die Idee, die aus diesem Eindrücke
herausgezogen wird, die den Stof zu den folgenden Wirkungen der Seele giebt.
Also ist die Beurtheilung der Empfindungen etwas anders, als die bloße Beurtheilung des Sehens und
Hörens; also kann diese Beurtheilung nicht unmittelbar durch die Observation dessen, was das Kind oder
der Mensch von seinen Empfindungen sagen kann, geschehen; also ist kein andres Mittel zu irgend einer
Kenntniß derselben zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der Empfindungen kennen zu lernen.
II. Die zweyte Handlung der Seele, die auf die Empfindungen zunächst folgt, ist die Wiederhervor­
bringung derselben, entweder in eben der Form und [15] Ordnung in der wir sie gehabt haben, das ist
das G edächtniß; oder getrennt und zusammengesetzt, die E in b ild u n g skraft. Beydes ist in ge-
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 133

Es giebt ein gewisses blos behaltendes, und ein anderes, so zu sagen raisonnirendes
Gedächtniss. Jenes könnte man Gedächtniss im engern Verstände, dieses die Gabe
der Erinnerung nennen. Von jenem urtheilt man immer am ersten, und behauptet
vielleicht nicht ohne Grund, dass es bei einem grossen Verstände selten sey; es erhält
5 die ehemaligen Eindrücke, und stellt sie der Seele, so oft sie will, in eben der Ordnung
wieder vor, ohne dass sie dabei eine andere Bemühung hätte, als sich darauf zu rich­
ten. Man kann die Stärke dieses Gedächtnisses ziemlich richtig nach dem abmessen,
was ein Mensch auswendig lernen kann.
Das andere ist ein Erinnern, welches durch Reflexion geschieht, wenn die Seele
io ihre ehemaligen Vorstellungen, wenn nur eine davon wieder lebhaft geworden ist,
durch ihre Verbindung und Folge aufzuwecken weiss. Hier sind zwar die alten Ideen
gewissermaassen verlöscht, aber diese Schwäche wird durch eine andere Kraft der
Seele ersetzt, die Verbindung der Dinge einzusehen, und selbst verdunkelte Bilder
durch ihre Bemühung wieder klar zu machen. Dieses Gedächtniss ist ein sehr sicheres
15 Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verstandes. Die Beschäftigungen, die man
den Kindern gewöhnlich giebt, lassen nur über das erste urtheilen. Wem beide
15 Beschäftigungen] Th: Beschäftigung

wisser Maaße eine unmittelbare Folge der Empfindung und eine nothwendige Vorbereitung zum Denken.
Keine Fähigkeit scheint leichter zu erkennen zu seyn, als das Gedächtniß, weil man glaubt nur Ach­
tung geben zu dürfen, wie viel man behalten kann. Im Grunde aber ist die Untersuchung eben so schwer,
und der Irrthum häufig, weil man gemeiniglich von dem Mangel einer gewissen Gattung von Gedächt­
nisse auf den Mangel des Gedächtnisses überhaupt schließet.
Es giebt ein gewisses blos behaltendes, und ein andres, so zu sagen raisonnirendes Gedächtniß. Man
könnte das erste das Gedächtniß im engern Verstände, und das andre die Gabe der Erinnerung nennen.
Jenes ist das, wovon man am ersten urtheilt, und wovon man vielleicht nicht ohne Grund behauptet,
daß es bey einem großen Verstände selten sey; es erhält die ehemaligen Eindrücke, und stellt sie der Seele,
so oft sie will, in eben der Ordnung wieder vor, ohne daß sie dabey eine andre Bemühung nöthig hätte,
als sich darauf zu richten. Man kann die Stärke dieses Gedächtnisses ziemlich richtig nach demjenigen
abmessen, was ein Mensch auswendig lernen kann.
Das andre ist ein Erinnern, welches durch Reflexion geschieht, wenn die Seele ihre ehemaligen Vor­
stellungen, wenn nur eine davon wieder lebhaft [16] worden ist, durch ihre Verbindung und Folge auf­
zuwecken weis. Dieses Gedächtniß setzt zwar voraus, daß die alten Ideen auf eine gewisse Weise ver­
löscht sind, aber es ersetzt diese Schwäche durch eine andre Kraft der Seele, die es anzeigt, die Kraft die
Verbindungen der Dinge einzusehen, und selbst verdunkelte Bilder durch ihre eigne Bemühung wieder
klar zu machen. Dieses Gedächtniß ist ein sehr sicheres Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Ver­
standes.
(Es folgt eine genauere Gegenüberstellung der beiden Arten von Gedächtnis.)
[17] Man sieht also auch, warum man bey Kindern fast nur über das erste urtheilt. Alles womit man
sie beschäftigt, und woran man ihre Fähigkeiten prüft, sind größtentheils Sachen, die ohne innere Ver­
bindung sind, und wo also kein ander Mittel ist, als daß man sie entweder auswendig wissen, oder ver­
gessen muß.
134 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

Arten von Gedächtniss fehlen, der wird für seine Reflexion nur wenig Gegenstände,
und also einen kleinen und eingeschränkten Verstand haben.
III. Die E inbildungskraft nimmt aus den Empfindungen einzelne Theile,
und macht daraus ein neues Ganze. In einem höhern Grade nennt man sie die
Gabe der Dichtung. 5
Ihre Vollkommenheit beruht auf der Richtigkeit der Theile und ihrer Aehnlich-
keit mit den Dingen, von denen sie genommen sind. Dann auf der Regelmässigkeit
und Richtigkeit der Verknüpfung. Jeder Mensch baut sich zuweilen in seinen
Gedanken eine kleine Welt auf, in der er wohnt, und in der er sich gefällt. Wenn
diese gut geordnet ist, und eine Reihe von Möglichkeiten enthält, die zusammen- io
hängen, so ist die Imagination richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfin­
dungen an Stärke nahe kommen, so ist sie lebhaft, wenn sie zusammengesetzt einen
höhern Grad der Vollkommenheit haben, als die Natur, aus der sie gesammelt sind,
so ist sie erhaben. Bei dieser Fähigkeit zeigt sie vorzüglich die Bestimmung der Seele,
und die Art von Gegenständen, für die sie geschaffen ist. Die stärkeren Empfm- 15
düngen lassen den stärksten Eindruck zurück, und die Verbindungen werden also
auch am leichtesten und besten.
Diese Werke der jugendlichen Einbildungskraft sind leicht zu erkennen, wo sie
wirklich körperliche Theile zu einem Ganzen verbindet. Man darf nur darauf

Wem beyde Arten von Gedächtniß fehlen, der wird für seine Reflexion nur wenig Gegenstände,
und also einen kleinen und eingeschränkten Verstand haben.
III. Die Einbildungskraft nimmt aus den Empfindungen einzelne Theile, und macht daraus ein neues
Ganze. In einem höhern Grade nennt man sie die Gabe der Dichtung.
Ihre Vollkommenheit beruht, wie einer jeden Zusammensetzung ihre, erstlich auf der Richtigkeit
der Theile und ihrer Aehnlichkeit mit den Dingen, von denen sie genommen sind. Zum andern auf der
[18] Regelmäßigkeit und Richtigkeit der Verknüpfung. So erfodern die Mahler, bey dem was sie Ideal
nennen, die genaueste Wahrheit und die getreueste Copie der Natur in den Theilen, und in dem Ganzen
Wahl und Anordnung.
Jeder Mensch baut sich zuweilen in seinen Gedanken eine kleine Welt auf, in der er wohnt, und in
der er sich gefällt. Wenn diese gut geordnet ist, und eine Reihe von Möglichkeiten enthält, die Zusammen­
hängen, so ist die Imagination richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfindungen an Stärke nahe
kommen, so ist sie lebhaft; wenn sie zusammengesetzt einen höhern Grad von Vollkommenheit haben,
als die Natur, aus der sie gesammlet sind, so ist sie erhaben. Auf diese Art also können unsre Spielwerke
uns unsre wesentlichen Vollkommenheiten aufklären.
Diese Fähigkeit hat noch das eigne, daß sich bey ihr vorzüglich die Bestimmung der Seele, und die
Art von Gegenständen zeiget, für die sie gemacht ist. Die Empfindungen, die die stärksten waren, lassen
auch die stärksten Eindrücke zurück, und die Verbindungen werden also auch am leichtesten und besten.
Durch diesen Weg zeigt zuweilen die Natur von selbst die Absicht mit ihrem Geschöpfe. Der künftige
Bildhauer macht Menschen aus Leim, der junge Tonkünstler singt richtigere und künstlichere Melodien.
Diese Werke der jugendlichen Einbildungskraft sind leicht zu erkennen, wo sie wirklich körperliche
Theile zu einem Ganzen verbindet. Man darf nur [19] darauf Achtung geben, in welcher Gattung das
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG K EITEN 135

Achtung geben, in welcher Gattung das Kind die grösste Empfindsamkeit, den rich­
tigsten Geschmack, und die beste Anordnung hat. Aber die Einbildungskraft, die
blosse Bilder zusammensetzt, zeigt sich später und lässt sich leichter verkennen, und
auf dieser beruht doch eigentlich die Fähigkeit zum Gelehrten oder zum schönen
5 Geist.
Ausser diesen giebt es eine andere für den Philosophen oder den Erfinder der
Philosophie; eine gewisse Kunst, glücklich zu rathen, durch die man weit entfernte
Folgerungen der Wahrheit voraussieht, ohne sich aber der Schlüsse bewusst zu seyn,
durch die man auf sie gekommen ist. Es giebt gewisse Augenblicke, wo es scheint,
io als wenn in einen dunkeln Theil unserer Seele auf einmal Licht gebracht würde; die
ganzen Ideen, die hier verborgen liegen, zeigen sich auf einmal, obgleich Zeit und Folge
1 Empfindsamkeit] Fehler Hegels oder Thaulows?

Kind die größte Erfindsamkeit, den richtigsten Geschmack und die beste Anordnung hat. Aber die Ein­
bildungskraft, die bloße Bilder zusammensetzet, zeigt sich später und läßt sich leichter verkennen, und auf
dieser beruht doch eigentlich die Fähigkeit zum Gelehrten oder zum schönen Geist.
Man kennt gemeiniglich nur eine einzige Art von Einbildungskraft, die, welche sinnliche Bilder ver­
einigt, um neue Bilder hervorzubringen, die aus den Theilen der Körper neue Körper, aus Factis Facta,
und aus einzelnen Erscheinungen in der Natur und beym Menschen eine ähnliche Welt und ähnliche
Menschen zusammensetzt. Hier geben die Sinnen zuerst den Stoff, und ihnen wird auch zuletzt das Werk,
wenn es vollendet ist, vorgestellt. Aber es giebt auch eine Einbildungskraft für den Philosophen, oder
wenigstens für den Erfinder der Philosophie. Um zu einer neuen Wahrheit zu kommen, wenn sie nicht
eine unmittelbare Folge einer schon bekannten ist, ist es unmöglich, die Art von deutlich gedachten
Schlüssen zu brauchen, durch welche man diese Wahrheit, wenn sie erfunden ist, beweist. Wie will man
den Weg zu einem Ziele abzeichnen, welches man noch nicht kennt? ... Hier muß der [20] schnelle
Flug des Genies erst das unbekannte Land ausspähen, erst die fremde Gegend durchschaut haben, ehe
der langsam fortschreitende Verstand seinen Weg antreten kann. Die Seele muß das Vermögen haben,
die ganze Reihe mit einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anschauen zu übersehen. Ideen, die
entwickelt eine ganze Wissenschaft ausmachen, müssen sich zusammendrängen, ein Ganzes ausmachen,
und sich gleichsam in ein Bild vereinigen. So wie es eine gewisse Divination giebt, durch die man künftige
Begebenheiten voraussieht, ohne sich alle die Ursachen erklären zu können, aus denen man sie folgert:
so giebt es eine gewisse Kunst glücklich zu rathen, durch die man weit hinaus liegende Ideen und ent­
fernte Folgerungen der Wahrheiten voraussieht, ohne sich aller der Schlüsse bewußt zu seyn, durch die
man auf sie gekommen ist.
Würde wohl in einem andern Kopfe, als in Newtons seinem, der Fall eines Apfels die Idee eines neuen
Weltsystems haben erregen können ? ...
Unerklärlich scheint es in der That zu seyn, allgemeine Ideen, zu denen kein Bild in der Imagination
gehört, auf gewisse Weise sinnlich klar zu denken: und doch ist diese Fähigkeit gewiß in der mensch­
lichen Seele. In einem geringem Grade [21] finden wir sie schon bey der Erlernung und Wiederholung
der Wissenschaften. Man wird oft gewahr, daß, ehe man sich aller Theile eines allgemeinen Beweises,
oder mit einem W ort alles dessen, was man von einer Sache weis, einzeln erinnert, man schon zum voraus
auf gewisse Art empfindet, wie der Gang der ganzen Reflexion seyn wird. Und eben diese Vorausemp­
findung, wenn wir sie haben, macht uns alsdann die Aufklärung der einzelnen Theile leichter. Es giebt
gewisse Augenblicke, wo es scheint, als wenn in einen dunkeln Theil unsrer Seele auf einmal ein Licht ge-
136 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

dazu gehört, um sie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewusstseyn
zu bringen. Wo diese schnellen plötzlichen Aufklärungen öfter geschehen; wenn der
Geist des Schülers den Beweisen seines Lehrers zuvorkommt, und das Ende des
Raisonnements schon zum voraus fühlt, ehe ihn noch die Reihe der Schlüsse dahin
geführt hat; bei wem einzelne Winke viel Gedanken veranlassen; wessen Verstand 5
nicht immer durch alle Wendungen und Umschweife lauter unmittelbarer Fol­
gerungen fortschleicht, sondern zuweilen glückliche Sprünge thut: bei dem hat die
Natur die Anlage zu dem grossen Lehrer, oder dem Erfinder der Wissenschaften
gemacht.
Wenn die Fabel oder Geschichte Mitleiden, Liebe, Hass, Bewunderung, Furcht, 10

alle Arten von Leidenschaften in der Seele rege macht, so ist die Einbildungskraft
gut. Die Entstehung dieser Leidenschaften hängt immer von einer gewissen
idealen Gegenwart der Gegenstände ab, und diese wird von der Einbildungskraft
gewirkt. Eine rührende Erzählung also mit Kaltsinn anhören; bei der Erzählung einer
vortrefFliehen That gleichgültig seyn; an dem Schicksale der Tugendhaften keinen 15
Antheil nehmen; sich für keine Person oder für keine Art von menschlichen Voll­
kommenheiten interessiren, zeigt nicht blos ein unempfindliches Herz, sondern auch
einen schwachen Kopf an. Die Seele muss ganz unfähig seyn, sich diese Art von Bil­
dern nur vorzustellen, wenn sie von ihnen gar keine Wirkung empfindet.
Wenn man bei gewissen Kindern zuweilen eine plötzliche Freude, eine Furcht, 20

eine Niedergeschlagenheit oder sonst eine Leidenschaft sieht, die sich aus ihren

bracht würde; die ganzen Ideen, die hier verborgen liegen, zeigen sich mit einem male, ob gleich Zeit und
Folge dazu gehört, um sie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewustseyn zu bringen.
Wo also diese schnelle plötzliche Aufklärungen öfter geschehn; wenn der Geist des Schülers den Be­
weisen seines Lehrers zuvorkommt, und das Ende des Raisonnements schon zum voraus fühlt, ehe ihn
noch die Reihe der Schlüsse dahin geführt hat; bey wem einzelne Winke viel Gedanken veranlassen;
wessen Verstand nicht immer durch alle Wendungen und Umschweife lauter unmittelbarer Folgerungen
fortschleicht, sondern zuweilen glückliche Sprünge thut: bey dem hat die Natur die Anlage zu dem gro­
ßen Lehrer oder dem Erfinder der Wissenschaften gemacht.
Die dichterische Einbildungskraft hat Merkmale, die auch schon in einem zarten Alter statt fin-[22]
den. (So an erster Stelle die Anteilnahme an wohlgemachten Erdichtungen. Eine lebhafte Einbildungskraft werde
vorgemalte Bilder leicht nachmalenf eine richtige Einbildungskraft die Ähnlichkeit mit der Natur leicht wahrnehmen.)
Also, wenn die Fabel oder Geschichte, Mitleiden, Liebe, Flaß, Bewunderung, kurz alle Arten von Leiden­
schaften in der Seele rege macht, so ist die Einbildungskraft gut. Die Entstehung dieser Leidenschaften
hängt immer von einer gewissen idealen Gegenwart der Gegenstände ab, und diese wird von der Ein­
bildungskraft gewirkt. Eine rührende Begebenheit also mit Kaltsinn anhören; bey der Erzählung einer
vortrefflichen That gleichgültig seyn; an dem Schicksale der Tugendhaften keinen Antheil nehmen;
sich für keine Person oder für keine Art von menschlichen Vollkommenheiten intereßiren; zeigt nicht
bloß ein unempfindliches [23] Herz, sondern auch einen schwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfähig
seyn, sich diese Art von Bilder nur vorzustellen, wenn sie von ihnen gar keine Wirkung empfindet.
Weiter: wenn man bey gewissen Kindern zuweilen eine plötzliche Freude, eine Furcht, eine Nieder-
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG K EITEN 137

gegenwärtigen Empfindungen nicht erklären lässt, so kann man daraus auf eine
geheime Geschäftigkeit der Einbildungskraft schliessen, die ihre Wirkung äussert,
ohne uns die Mittel dazu zu entdecken. In einem höheren Alter kann man leicht
diese Kraft gleichsam auf der That ertappen, und sie bei ihrer geheimen Wirksamkeit
5 überraschen; ja ihr selbst die Arbeiten vorschreiben, nach denen man sie beurthe-ilen
will. Die natürlichsten Proben sind die Erzählung und die Erdichtung selbst. Solche
Uebungen des Stils, die den fähigen Kopf am stärksten unterscheiden, und dem
mittelmässigen die meiste Gelegenheit zum Unterricht geben, sollten bei der Er­
ziehung am meisten gebraucht werden.
o Aeussere Kennzeichen. Man findet oft bei Leuten von einer starken Einbildungs­
kraft eine Art von Zerstreuung und Abwesenheit von Gegenständen, die um sie
sind. Denn sobald die einen Vorstellungen an Klarheit steigen, so sinken die andern
in eine tiefere Finsterniss; und jede Annäherung der Seele auf einen Gegenstand ist
zugleich eine Entfernung von den übrigen.
5 Auch die Fähigkeit der Seele, sich durch sich selbst zu beschäftigen, und selbst
Ideen hervorzubringen, ist noch ein sicheres Kennzeichen von einer starken Ein-
7 Uebungen] Th: Uebergänge

geschlagenheit sieht, die sich aus ihren gegenwärtigen Empfindungen nicht erklären läßt; so kann man
daraus auf eine geheime GeschäfFtigkeit der Einbildungskraft schließen, die ihre Wirkungen äussert, ohne
uns die Mittel dazu zu entdecken. (Wem die Gabe verliehen sei, außer der ihm gegebenen Welt noch viele andre
in sich selbst zu bauen, der verliere sich oft in dieser erdichteten Welt.)
In einem hohem Alter hat man so viele Mühe nicht nöthig, diese Kraft gleichsam auf der That zu
ertappen, und sie bey ihrer geheimen Wirksamkeit zu überraschen; Man kann sie alsdann dazu auffo-
dern, und ihr selbst die Arbeiten vorschreiben, nach denen man sie beurtheilen will. Die natürlichsten [24]
Proben die man machen kann, sind die Erzählung und die Erdichtung selbst. (Schon die gute Beschreibung
von wirklichen Begebenheiten oder von Erdichtungen anderer erfordere einen hohen Grad von Einbildungskraft,
erst recht aber eine naturgetreue Erfindung von Personen, Begebenheiten usw.) Warum müssen also diejenigen
Uebungen des Stils, die den fähigen Kopf am stärksten unterscheiden, und dem mittelmäßigen die meiste Ge­
legenheit zum Unterricht geben, warum müssen diese bey der Erziehung am wenigsten gebraucht werden ?
Dieß sind die Aeußerungen dieser Fähigkeit durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die mehr mit
derselben beysammen zu seyn, als von ihr unmittelbar herzurühren scheinen, und die eben deswegen
nur mit den ersten verbunden, den Schluß zuverläßig machen.
Erstens: Man findet oft bey Leuten von einer starken Einbildungskraft eine Art von Zerstreuung
und Abwesenheit von den Gegenständen, die um sie sind. Die Einrichtung der Natur hält zwischen dem
dunkeln und dem hellen Theile unsrer Vorstellungen ein beständiges Gleichgewicht. So bald die eine
[25] an Klarheit steigen, so sinken die andern in eine tiefere Finsterniß; und jede Annäherung der Seele
auf einen Gegenstand, ist zugleich eine Entfernung von den übrigen. Die Eindrücke also, die die äußern
Gegenstände durch die Sinne auf uns machen, werden in eben dem Grade schwächer, in welchem andre
Vorstellungen, die schon in der Seele da sind, stark sind. Auf diese Art kann die Einbildungskraft ihre
Bilder zuweilen so lebhaft und so stark malen, daß die Seele auf eine Zeitlang der Empfindungen ganz
vergißt, und sich dessen nicht bewußt wird, was um sie herum vorgeht.
Zweytens, die Fähigkeit der Seele sich durch sich selbst zu beschäfftigen, ist ein noch sicherers Kenn-
138 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

bildungskraft oder Reflexion. Um desswillen haben von jeher die Dichter die Ein­
samkeit geliebt, weil sie sich das Vergnügen, was andere in der Gesellschaft suchen,
und das sie ohne Hülfe der Sinne nicht erhalten können, durch ihre eigene Ein­
bildungskraft zu verschaffen wussten.
Endlich eine gewisse Abneigung und Unfähigkeit bei Begriffen, wo keine Bilder 5
sind (abstracte) und ein schneller Fortgang in Allem, was auf die richtige Vorstellung
eines Bildes ankommt, ist das letzte äussere Kennzeichen.
Die Einbildungskraft entwickelt sich zuerst, der Verstand hernach. Ein Kind, das
von einer schönen Fabel entzückt wird, und bei einem eben so schönen Beweise
gähnt; das voll Munterkeit und Aufmerksamkeit ist, wenn es die Geschichte auf 10
einem guten Kupferstiche oder Gemälde erklären hört, und verdrossen und zerstreut
wird, sobald man ihm allgemeine Wahrheiten vorträgt, das in seinen Spielen Erfind­
samkeit und in den Lernstunden Unfähigkeit zeigt, würde mir weit mehr Hoffnung
machen, als ein anderes, das eine ganze Moral mit der grössten Geduld und der
scheinbarsten Aufmerksamkeit anhört, und in der Grammatik eben so gern liest, 15
als im Robinson.

Zeichen von einer starken Einbildungskraft oder Reflexion. (Wenn die Seele in sich selbst keine Gegenstände
für ihre Beschäftigungen finde, so suche sie außerhalb danach.) W er also, sobald seine Geschaffte geendigt sind,
unmittelbar nach Gesellschaft, nach Zerstreuungen und nach Vorrath von neuen Eindrücken schmachtet;
wer nicht mehr denken kann, so bald seine Augen und seine Ohren nicht angefüllt sind, der muß selbst
wenig Ideen hervorzubringen wissen. (Daher liebe der Pöbel alle Schauspiele.)
[26] Um so viel größer das Vermögen der Seele ist, sich selbst alte Bilder wieder zu erneuern, oder
dieselbe durch neue und noch nicht angestellte Verknüpfungen reizender zu machen: um so viel mehr
kann sie des beständigen Anstoßes von außen entbehren. Um deswillen haben von je her die Dichter
die Einsamkeit und die Einöde geliebt; nicht weil sie Feinde des Vergnügens oder der Gesellschaft waren;
sondern weil sie sich das Vergnügen, was andre in der Gesellschaft suchen, und das sie ohne Hülfe der Sin­
nen nicht erhalten können, durch ihre eigne Einbildungskraft zu verschaffen wußten.
Endlich eine gewisse Abneigung und Unfähigkeit bey Begriffen, wo keine Bilder sind, und ein schnel­
ler Fortgang in allem, wobey es auf die richtige Vorstellung eines Bildes ankommt, ist das letztere äußere
Kennzeichen.
Man hat angemerkt, daß eine sehr große Richtigkeit und Correction in den Werken des jugendlichen
Witzes gemeiniglich das Zeichen eines geringen Genies ist. Man könnte eben so überhaupt ein zu früh­
zeitiges Nachdenken, und abstracte Betrachtungen, zu einer Zeit, wo die Seele noch mehr empfinden als
denken sollte, zum Zeichen einer schwächern Seele annehmen. Nach der Ordnung der Natur [27] ent­
wickelt sich die Einbildungskraft zuerst, der Verstand hernach. So wie also bey gewissen Körpern, die
zu schnell zur Reife kommen, der Bau schwach und die Kraft klein ist: so sind die Seelen, die nicht mit
der gehörigen Langsamkeit eine Fähigkeit nach der andern entwickelt und ausgebildet haben, beständig
mittelmäßig. Ein Kind also, welches von einer schönen Fabel entzückt wird, und bey einem eben so schö­
nen Beweise gähnt; das voll Munterkeit und Aufmerksamkeit ist, wenn es die Geschichte auf einem guten
Kupferstiche oder Gemälde erklären hört; und verdroßen und zerstreut wird, so bald man ihm allgemeine
Wahrheiten vorträgt; das in seinen Spielen Erfindsamkeit, und in den Lernstunden Unfähigkeit zeigt:
würde mir weit mehr Hoffnung machen, als ein andres, das eine ganze Moral mit der größten Geduld
und der scheinbarsten Aufmerksamkeit anhört, und in der Grammatik eben so gerne liest, als im Robinson.
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 139

IV. Aus diesen Materialien erbaut die V ernunft das System allgemeiner Begriffe,
nach denen der Mensch sich und seine Geschäfte regiert. Die Vernunft abstrabirt,
wenn dies manchmal geschieht, so heisst es nachdenken; und weil bei uns die Sprache
schon eher diese abstracten Begriffe mit Worten verbunden der Seele liefert, ehe sie
5 selbst zur Abstraction fähig ist, so beschäftigt sich nunmehr der Verstand zuerst
damit, die Bedeutung der Worte zu bestimmen, und die wahre allgemeine Idee auf­
zusuchen, von welcher das W ort ein Zeichen seyn soll.
Die Erlernung der Sprache hängt also mit der Vernunft zusammen, als ein Mittel;
und der richtige Gebrauch derselben hängt davon ab, als Wirkung. Wer durch
io Worte denken und sich ausdrücken soll, muss allgemeine Begriffe haben, denn die
Worte bezeichnen keine andere. Aber die Seele kann diese Begriffe auf eine doppelte
Art haben. Entweder sucht sie nur in den einzelnen Fällen den Begriff auf, und
begnügt sich, wenn sie in jedem vorkommenden neuem diese Merkmale wieder
erkennen, und den Begriff anwenden kann. Oder sie sammelt diese Merkmale in
15 eins, bezeichnet jedes mit einem Wort, und bemüht sich den allgemeinen Begriff
abgesondert von den Fällen, aus denen er abgezogen ist, vorzustellen. Der erste
macht sich das Wort und die Vorstellung deutlich, indem er eine geschwinde dunkle
Uebersehung der Fälle anstellt, in denen es gebraucht wurde, der andere, indem er eine

IV. Aus diesen Materialien nun endlich, die die Empfindung herbeygeschafft, das Gedächtniß bewahrt,
die Einbildungskraft gesammlet hat, erbaut die Vernunft das System allgemeiner Begriffe, nach denen der
Mensch sich und seine Geschaffte regieret.
(Im Folgenden wird nach der Fähigkeit der Seele zu reflektieren und nach dem Verstand gefragt. Um der Fülle
der jeweils nur auf einen einzelnen Gegenstand bezogenen Empfindungen Herr zu werden, habe der Mensch eines
Mittels bedurjt, das Gemeinsame und Bleibende aus vielen Empfindungen herauszuziehen und sich eine immer
wiederholte Erfahrung zu ersparen; dieses Mittel sei die Abstraktion.)
[29] Also, mehrere Empfindungen mit einander vergleichen; das, was in ihnen ähnlich ist, bemerken,
dieses in einen Begriff sammlen, und das übrige alles, was unähnlich war, weglassen, das heißt Abstrahiren;
und dieses mehrmalen wiederholt, heißt Nachdenken; oder weil bey uns die Sprache schon eher, diese
abstracten Begriffe mit Worten verbunden, der Seele liefert, ehe sie selbst noch zur Abstraction fähig
ist: so beschäftigt sich nunmehr die Vernunft zuerst damit, die Bedeutung der Worte zu bestimmen,
und die wahre allgemeine Idee aufzusuchen, von welcher das W ort ein Zeichen sein soll.
Die Erlernung der Sprache hängt also mit der Vernunft zusammen, als ein Mittel; und der richtige
Gebrauch derselben hängt davon ab, als Wirkung.
Man findet indessen hier doch einen sehr merklichen Unterschied.
W er durch Worte denken, und sich ausdrücken soll, muß allgemeine Begriffe haben, das ist klar,
denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann diese Begriffe auf eine doppelte Art haben.
Entweder sucht sie nur in den einzelnen Fällen den Begriff auf, und begnügt sich, wenn sie in jedem vor­
kommenden neuem Falle diese Merkmale wieder erkennen, und den Begriff anwenden kann. Oder sie
sammlet diese Merkmale in eins, be-[30]zeichnet jedes mit einem Worte, und bemüht sich den all­
gemeinen Begriff abgesondert von den Fällen, aus denen er abgezogen ist, vorzustellen. Der erste macht
sich das W ort und die Vorstellung deutlich, indem er eine geschwinde dunkle Uebersehung der Fälle
anstellt, in denen es gebraucht wurde, der andre, indem er eine Erklärung davon macht.
140 A U S DER G Y M N A SIA LZ E IT Exzerpt 15

Erklärung davon macht. Man könnte jenes den praktischen, und dieses den theo­
retischen Verstand nennen. Der practische Verstand hängt mit der Einbildungskraft
zusammen, oder ist vielmehr nur eine besondere Anwendung derselben.
1) Leute von dieser Art können sich sehr wenig über Sachen erklären, die sie doch
recht gut verstehen, und recht glücklich ausführen, wenn sie sie unternehmen. Zur 5
Erklärung gehören Worte, zu diesen Merkmale, die von ihren Gegenständen ab­
gesondert, und ohne sie gedacht und bezeichnet worden, kurz gerade das, durch
dessen Mangel diese Art vom Verstände sich unterscheidet. Der Philosoph, der
erklärt, vergisst über den Merkmalen, die er sammlet, die individuellen Umstände
der Fälle, die doch in der Ausübung müssen mit zu Rathe gezogen werden, und sie 10
verunglückt ihm also. Der arbeitende Künstler findet in dem Bilde, das ihm anstatt
der Erklärung gegenwärtig ist, alle diese kleinen Umstände; aber er kann aus diesem
Bilde nicht die einigen wenigen Theile herausnehmen, die das Uebrige würden
kenntlich machen.
2) Die genaue Beobachtung des Schicklichen; die Uebereinstimmung in seinen 15
Reden und Handlungen mit der Zeit, dem Orte und den Verhältnissen der Personen;

Man könnte jenes den practischen, und dieses den theoretischen Verstand nennen.
Der practische Verstand hängt mit der Einbildungskraft zusammen, oder ist vielmehr nur eine be-
sondre Anwendung derselben. Ihr Werk ist es der Seele zugleich mit dem Worte, die Fälle herbey zu
bringen, aus deren schneller und ihr selbst unbewußten Vergleichung sie jedesmal den Begriff von neuem
hervorbringt.
Die Kennzeichen von beyden werden sich also einander sehr ähnlich seyn.
Erstens, Leute von dieser Art können sich sehr wenig über Sachen erklären, die sie doch recht gut
verstehen, und die sie recht glücklich ausführen, wenn sie sie unternehmen. Der Grund ist augenschein­
lich. Zur Erklärung gehören Worte, zu diesen Merkmale, die von ihren Gegenständen abgesondert,
und ohne sie gedacht und bezeichnet worden, kurz gerade das, durch dessen Mangel diese Art vom Ver­
stände sich unterscheidet. Man kann überhaupt zwey Arten von Menschen in der Welt bemerken. Einige
wissen vortrefflich von Sachen zu sprechen, und können ihre ganze Theorie mit Genauig-[31]keit und
Deutlichkeit vortragen, die ihnen doch mißlingen, so bald sie die Hand daran legen. Andere reden wxnig
und verwirrt, und bringen sie zu Stande.
Man thut sehr unrecht, wenn man die ersten als Schwätzer, und die andern als bloße Handwerker
ansieht.
Die Fähigkeiten, die sie zu dem machen, was sie sind, sind von der Natur selbst unterschieden. Der
Philosoph der erklärt, vergißt über den Merkmalen die er sammlet, die individuellen Umstände der Fälle,
die doch in der Ausübung müssen mit zu Rathe gezogen werden, und sie verunglückt ihm also. Der
Künstler welcher arbeitet, findet in dem Bilde, das ihm anstatt der Erklärung gegenwärtig ist, alle diese
kleinen Umstände; aber er kann aus diesem Bilde nicht die einigen, wenigen Theile herausnehmen, die
das übrige würden kenntlich machen, er kann also sich nicht erklären, als indem er die Sache zeigt. Wenn
die ersten beständig zum Erklären und die andern zum Ausüben bestimmt würden, so würde die Welt
richtige Theorien und vortreffliche Werke zugleich erhalten.
Zweytens. Ein ander Zeichen eines solchen practischen Verstandes ist die genaue Beobachtung des
Schicklichen; die Uebereinstimmung in seinen Reden und Handlungen, mit der Zeit, dem Orte und
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 141

eine gewisse grössere Aufmerksamkeit auf Alles, was zum menschlichen Leben gehört.
Denn zu dieser Klugheit des gesellschaftlichen Lebens ist eine schnelle Uebersehung
einer Menge von Gegenständen auf einmal, aber nicht die Ergründung eines ein­
zigen nöthig. Solcher Jünglinge Fortgang in der Wissenschaft ist sehr gering, aber
5 sie werden von der Welt und besonders von Leuten ihres Alters hervorgezogen, und
von ihren Lehrern verachtet werden.
3) Diese Köpfe kommen daher auch bald zur Reife. Ihr Verstand erscheint mit
der Einbildungskraft, und diese ist die unmittelbare Wirkung der Empfindungen.
Ueberdiess finden sie allenthalben und alle Augenblicke Gegenstände, an denen sie
io ihn üben.
4) Ein höherer Grad dieses Verstandes bringt die Gabe der Voraussehung hervor,
da man künftige Begebenheiten voraussieht, ohne sich alle die Ursachen erklären

den Verhältnissen der Personen; mit einem Worte, eine gewisse größre Aufmerksamkeit auf alles, was
zum menschlichen Leben gehört. Man sieht viel junge Leute, die diese Gabe vollkommen besitzen, und
[32] deren Fortgang in den Wissenschaften sehr geringe ist, die deswegen von der Welt und besonders
von Leuten ihres Alters hervorgezogen und von ihren Lehrern verachtet werden. Die Ursache ist die:
Zu dieser Klugheit des gesellschaftlichen Lebens, ist eine schnelle Uebersehung einer Menge von Gegen­
ständen auf einmal, aber nicht die Ergründung eines einzigen nöthig. Die Seele muß ihre Aufmerksam­
keit zwischen sehr vielen Dingen zu theilen, oder sie muß sich vielmehr von dem Ganzen ein richtiges Bild
bis auf alle Kleinigkeiten zu machen wissen. Aber sie hat nicht nöthig, diese kleinen Umstände, die sie
blos empfindet, und nach denen sie sich richtet, in Gedanken von den übrigen zu trennen, und auszu­
drücken.
Und dieß ist drittens eben die Ursache, warum diese Art von Köpfen weit eher zur Reife zu kommen
scheint, als die andern. Ihr Verstand erscheint zugleich mit ihrer Einbildungskraft, und diese ist eine un­
mittelbare Wirkung der Empfindungen. Ueberdieß finden sie jeden Augenblick und allenthalben Gegen­
stände, an denen sie ihn üben; ... (Daher werde man über diese Art von Fähigkeit weit zeitiger urteilen können.)
[33] Viertens. Ein höherer Grad dieses Verstandes bringt die Gabe der Vorhersehung hervor, die wir
schon oben genannt haben, und die das eigentliche Talent zu Geschäfften ausmacht. Die Zukunft liegt
in dem Gegenwärtigen eingewickelt. Man muß dieses ganz übersehen können, um jene darinn zu finden.
Wirkungen kann man nur aus ihren Ursachen kennen. Aber diese sind oft in so vielen Dingen zerstreut;
viele davon so klein, so unmerklich, und doch in der Zusammenkunft so erheblich, daß es unmöglich ist
sie zu bemerken, wenn man sie sich nicht anders als deutlich denken kann. Ein Kopf der immer zer­
gliedern und Schlüßen muß; dessen Fähigkeiten nur die Dinge von derjenigen Seite fassen, von der sie
sich deutlich machen lassen; wird diese kleinen Umstände übersehen, er wird sich blos an die Haupt­
ursachen halten, dieser ihre Kräfte untersuchen, und so genau er immer diese abgemessen haben kann,
einen falschen Erfolg heraus bringen. Das ist die eigentliche Gränzscheidung zwischen Theorie und
Praxis. Die erste nimmt keine andre als die größten, die in die Augen fallendsten Ursachen, und diese
ergründet sie völlig; die andre nimmt alle Umstände zusammen, aber blos in einem Bilde. W er also auf
diese anschauende Art denken kann, wessen Seele eine Menge verwickelter Begebenheiten zugleich zu
umfassen im Stande ist, wessen Beobachtung so genau ist, daß er unter der Menge doch nicht [34] die klein­
sten Umstände übersieht; wer endlich alle diese Beobachtungen so schnell und so fertig anwenden kann,
daß er augenblicklich aus ihnen den Erfolg zieht, ohne sich selbst seines Schlusses bewußt zu seyn: das ist
der Mann, der den entscheidenden Augenblick in der Schlacht oder im Cabinet treffen wird, und dessen
Entschlüsse zugleich schnell und sicher seyn werden.
142 A U S D ER G Y M N A SIA LZ E IT Exzerpt 15

zu können, aus denen man sie folgert. Die Gründe liegen in dem Bilde, das sie haben,
und dieses Bild können sie Niemand mittheilen, weil Worte nur immer gewisse
Theile, niemals den ganzen Eindruck bezeichnen.
5) Ein Mensch von solchem Verstände kann endlich über Begebenheiten, Per­
sonen und Handlungen richtige Urtheile fällen, ungeachtet er verlegen ist, wenn er 5
die Eigenschaften, die er den Dingen beilegt, erklären oder die Gründe anführen soll,
warum ihnen dieselbe zukommen. Er ist deswegen ein genauer Beobachter der
Unschicklichkeit in dem Betragen Anderer, empfindet das Lächerliche leicht und
geschwind, und wird also zur Satyre oder zur Spötterei mehr als andere Köpfe auf­
gelegt seyn. Das Lächerliche ist das Ungereimte in Kleinigkeiten. io
6) Die andere Gattung von Verstand gehört eigentlich für die Wissenschaften, sie
ist ein philosophisches Genie, ein gewisser Trieb, der zugleich mit Fähigkeit ver­
bunden ist, das Individuelle auf’s Allgemeine zurückzuführen, und dieses Allgemeine
zu einem abgesonderten Gegenstände seiner Betrachtung zu machen. Eine Seele, die
diese Fähigkeit besitzt, indem sie durch die Sprache die Anzahl von Begriffen erhält, 15
6 Eigenschaften] Th: Eigenschaft

Eben daher rührt bey diesen Leuten die feste Ueberzeugung, mit der sie die Gewißheit eines Erfolgs
vorhersehen, dessen Gründe sie doch nicht angeben können. Diese Gründe liegen in dem Bilde, was sie
haben, und dieses Bild können sie niemand mittheilen, weil Worte nur immer gewisse Theile, niemals
den ganzen Eindruck bezeichnen. (Nach Platon sei den Staatsmännern die Gabe, das Zukünftige ohne Schlüsse
zu entscheiden, mit den Wahrsagern gemeinsam.)
Fünftens. Diese Art von Verstand macht endlich, daß der Mensch über Begebenheiten, Personen
und Handlungen richtige Urtheile fällen kann, [35] unerachtet er verlegen ist, wenn er die Eigenschaften,
die er den Dingen beylegt, erklären, oder die Gründe anführen soll, warum ihnen dieselbe zukommen.
Er ist deswegen ein genauer Beobachter der Unschicklichkeit in dem Betragen anderer, empfindet das
Lächerliche leicht und geschwind, und wird also zur Satyre oder zur Spötterey mehr als andre Köpfe
aufgelegt seyn. Eben dieser Geist der Observation, der ihn fähig macht, selbst alle diese kleinen Verhält­
nisse zu wissen, um sie zu beobachten, macht ihn auch zugleich aufmerksam, wenn andre sie aus den
Augen setzen.
Das Lächerliche ist das Ungereimte in Kleinigkeiten. Eine Seele, die nur immer auf das Große, auf
gewisse HauptbegrifFe, auf ganze Summen von Merkmalen geht, übersieht diese kleinen Mishelligkeiten
oder vergißt sie augenblicklich. Von dem andern, der nicht über die Sachen grübelt, sondern sie nur an­
sieht, werden sie gefaßt und behalten. Die Seele des ersten ist ein Maler, der die großen Züge allein ab­
sondert, und durch sie das Bild entwirft, die Seele des andern ist ein Spiegel, der die Sache ganz wie sie
ist, mit allen ihren kleinsten Flecken darstellt.
Die andre Gattung von Verstand, die raiso n n iren d e, wenn ich so sagen darf, gehört eigentlich
für die Wissenschaften, und verdient also am meisten unsre Aufmerksamkeit. Sie ist nichts anders als ein
philosophisches Genie, ein gewisser Trieb, der zugleich mit Fähigkeit verbunden ist, das Individuelle aufs
allgemeine zurückzuführen, und dieses Allgemeine zu [36] einem abgesonderten Gegenstände seiner
Betrachtung zu machen.
Diese Fähigkeit äußert sich zuerst dadurch, daß die Seele, die sie besitzt, indem sie, durch die Sprache,
die Anzahl von Begriffen erhält, die ungefähr den Umfang dessen ausmachen, was man bon sens oder
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 143

die ungefähr den Umfang des [so] genannten bon sens oder den Menschenverstand
ausmachen, beruhigt sich nicht bloss dabei, diese Begriffe klar zu haben, sondern
verlangt von jedem Worte Beschreibung und Erklärung, weil bei dieser Seele die
Einbildungskraft weder stark noch ausgebreitet ist, und also die Seele sich den Begriff
5 des Worts nicht durch die Erinnerung der Fälle aufklären kann. Weil zu dieser
Fähigkeit eine wiederholte Vergleichung, und eine langsame Sammlung der Aehn-
lichkeiten gehört, so entwickelt sie sich später, und ein Kind von der Art kann in den
ersten Jahren als ein Dummkopf scheinen. Alle Begriffe, die die Seele anders nicht
als klar denken kann, die mehr gefühlt als gesagt werden können, kommen bei ihm
io später, und sind selten richtig genug. Hingegen Alles, wo sich die Merkmale von
dem Dinge absondern, kurz was sich erklären und lehren lässt, begreift es schnell,
und ist im Kurzen im Stande, es wieder mitzutheilen.
Der Geschmack ist ein dunkles Gefühl des Schönen. Einige Theile davon lassen
sich in Begriffe auflösen, und sind deswegen der Erklärung und einer Theorie fähig,

den Menschenverstand nennt, sich nicht dabey beruhigt, diese Begriffe blos klar zu haben, sondern von
jedem Worte Beschreibung und Erklärung verlangt. Jede Seele ist bemüht, Gedanken in sich hervor-
[zu]bringen. Es ist also natürlich, daß, wenn sie ein Zeichen von einer Sache bekommt, die sie so sehr
wünscht, sie diese Sache selbst sucht. Die Einbildungskraft kam den Köpfen von der ersten Art in diesem
Falle zu Hülfe, und stellte ihnen geschwind einen einzelnen Fall, eine Begebenheit vor, wo dieses W ort
hingehörte, und gab ihnen also vor eine Idee ein Bild. Aber bey unsrer Gattung von Köpfen, ist die Ein­
bildungskraft weder stark noch ausgebreitet, also kann die Seele sich den Begriff des Worts nicht durch
die Erinnerung der Fälle aufklären; sie wünscht also die Bestimmungen, die in den Fällen liegen, und die
eigentlich allein zu diesem Worte gehören, schon abgesondert, schon aus ihrer Verwickelung mit dem
übrigen herausgehoben, schon mit einander zusammengesetzt.
Mich deucht, ich brauche nicht erst auf eine Erfahrung zurück zu führen, die alle Tage gemacht wer­
den kann. Einige Kinder fodern von jedem neuen Worte eine Erklärung, und diese führet sie erst [37]
zur Aufmerksamkeit auf die Sache. Die andern observiren ganz in der Stille, und kennen schon die Sache
eher, zu der das W ort gehört, ehe man ihnen noch das W ort selbst gesagt hat.
Die Folge also hieraus muß gerade die entgegengesetzte von derjenigen seyn, die wir oben aus einem
entgegenstehenden Grunde zogen. Diese Fähigkeit muß sich viel später entwickeln; weil zu der ersten
nur Empfindung und Erinnerung, zu dieser eine wiederholte Vergleichung, und eine langsame Samm­
lung der Aehnlichkeiten gehört. Ein Kind von dieser Art kann also in den ersten Jahren sehr leicht ein
Dummkopf zu seyn scheinen. Abstractionen hat es noch nicht Zeit genug gehabt zu machen; und die
Einbildungskraft ersetzet bey ihm diesen Mangel nicht durch die Erinnerung der Fälle. Um eben dieses
Bedürfnißes willen verlangt es Erklärungen; weil es sonst bey dem Worte nichts als einen leeren Schall
hört. Die Seele ist also in dieser Zeit beständig wirksam, aber ihre Arbeit ist noch unvollendet; und erst
der Erfolg kann entscheiden, ob ihre Kraft sich nur deswegen verbarg, weil sie innerlich geschäfftig war,
oder weil sie durch ihre Schwäche eingeschränkt wurde.
In allen Sachen, wo es keine Abstraction durch Worte giebt, ist der Fortgang eines solchen Kopfs
langsam. Alle diese Begriffe, die die Seele anders nicht als klar denken kann, die mehr gefühlt als ge­
sagt werden können, kommen bey ihm spät und sind selten richtig genug. Hingegen alles wo sich die [38]
Merkmale von dem Dinge absondern, wo sie sich unter einen Begriff und in ein W ort fassen lassen, kurz
was sich erklären und lehren läßt, begreift er schnell, und ist in kurzem im Stande es wieder mitzutheilen.
144 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

wie bei einem Gedicht die Erfindung und die Anordnung, die Richtigkeit der Bilder
und die Genauigkeit des Ausdrucks; bei einem Gemälde die dichterischen Schön­
heiten, der Ausdruck der Leidenschaften. Andere sind zu sehr im Ganzen verstreut,
zu vielfach und zu zusammengesetzt, als dass sie gedacht werden könnten, wenn man
sie nicht mehr empfindet. Wie bei einem Gedicht Schönheit der Harmonie, die 5
Uebereinstimmung des Ganzen oder der Ton, der überhaupt darin herrscht, bei
Gemälden die mechanischen Schönheiten, die Wirkung des Lichts oder die Har­
monie der Farben. Die Art der Geister, von denen wir reden, werden mit der ersten
Art weit leichter bekannt werden, als mit der letztem, wo ihr Gefühl durch kein
Raisonnement geleitet oder unterstützt werden kann. Unter die letzte Art von io
Sachen gehören auch die ganzen Gesetze des Wohlstandes und der Lebensart; die
Klugheit in den Geschäften des täglichen Lebens; die beständige Rücksicht auf den
Charakter, die Verhältnisse und die Umstände der Person, mit der man zu thun hat.
Sie werden sich ferner mit den allgemeinen Gesprächen einer grossen Gesellschaft
schlecht behelfen, wo nicht ergründet, Alles nur berührt wird; aber in einer Unter- 15
redung mit einer einzelnen Person, wo unbestimmte Materie der Vorwurf ist, vor­
trefflich seyn können. Ein solcher zergliedernder Kopf, wenn er einmal sich ent-

Der Geschmack ist ein dunkles Gefühl des Schönen. Einige Theile davon lassen sich in Begriffe auf-
lösen, und sind deswegen der Erklärung und einer Theorie fähig. Andre aber sind zu sehr im Ganzen
verstreut; zu vielfach und zusammengesetzt, als daß sie gedacht werden könnten, wenn man sie nicht
mehr empfindet. Die Art von Geistern, von der wir reden, werden also mit der ersten Gattung von Schön­
heiten weit leichter bekannt werden, als mit der letzten; wo ihr Gefühl durch kein Raisonnement geleitet
oder unterstützet werden kann, wird es mangelhaft oder unsicher seyn; Sie werden als Kunstrichter die
Erfindung und die Anordnung eines Gedichts, die Richtigkeit der Bilder und die Genauigkeit des Aus­
drucks geschwinder einsehen, als die feinen Schönheiten der Harmonie, die Uebereinstimmung des Gan­
zen, oder den Ton, der überhaupt darinne herrscht. Von einem Gemälde werden sie die dichterischen
Schönheiten, weit eher als die mechanischen finden; der Ausdruck der Leidenschaften wird von ihnen
besser bemerkt werden, als die Wirkungen des Lichts oder die Harmonie der Farben; und ihre Entschei­
dung wird oft von des Malers seiner unterschieden seyn.
Unter diese Sachen, die nicht erklärt, sondern nur gefühlt werden können, wie sie seyn müssen, gc-
[39]hören fast die ganzen Gesetze des Wohlstandes und der Lebensart; die Klugheit in den Geschäfften
des täglichen Lebens; die beständige Rücksicht, bey allem, was man sagt oder thut, auf die Charakter, die
Verhältnisse und die Umstände der Person, mit denen man zu thun hat. In diesen allem wird unser junger
Philosoph von dem blos gemeinen Verstände des andern übertroffen werden.
Dieses hat noch eine andre Folge. Er wird sich mit dem allgemeinen Gespräche in einer großen Ge­
sellschaft schlecht behelfen, und wird doch in einer Unterredung mit einer einzeln Person, wo eine be­
stimmte Materie der Vorwurf ist, vortrefflich seyn können. Bey dem ersten ist ein Gemisch von tausend
abgebrochenen und zerstückten Gedanken; ein beständiger Uebergang von einem Gegenstände zum
andern. Man will durchaus nichts ergründet, sondern alles nur berührt haben. (Im Folgenden werden das
gesellschaftliche Gespräch und die Einzelunterredung noch näher beschrieben und nochmals begründet, warum der
philosophische Kopffür das erstere so wenig geeignet ist.)
[41] Aber eben aus diesem Geiste der Zergliederung folgt, daß, wenn sich dieser Kopf einmal ent-
Exzerpt 15 P R Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 145

wickelt hat, lässt sich dann viel richtiger abmessen. Seine Begriffe müssen schlechter­
dings entweder völlig entwickelt, oder dunkel seyn. Für solche Köpfe ist die Mathe­
matik ein wahrer Probierstein.
Auch werden sie jedes Factum sogleich zu erklären und seine Ursache anzugeben,
5 es auf seine Möglichkeit zurückzuführen, es mit ihren Grundsätzen zu verbinden und
daraus entweder ihre alten Begriffe [zu] bestätigen oder neue abzuziehen suchen. Ihre
Methode ist oft, aus einem einzelnen Falle, oder aus wenig (weil der schleichende
Gang durch so viele Erfahrung und Beobachtung und immer neue Vergleiche oft
zu langsam ist) den allgemeinen Begriff herauszuziehen, und nun ohne Anstand aus
io diesem die übrigen Fälle zu erklären. Diess hat die Systemmacher, die eingeschränk­
ten Kunstrichter und die einseitigen Moralisten hervorgebracht. Ein zweiter Abweg
ist das Subtilisiren. Wenn der Philosoph Begriffe auflösen will, die entweder zu

wickelt hat, er sich durch seine Werke weit richtiger abmessen läßt. Er wird das was er weiß, allemal
ausdriicken und mittheilen können. Seine Begriffe müssen schlechterdings entweder völlig entwickelt
oder dunkel seyn. Die bloße Klarheit des Anschauens, die die Gegenstände in der Seele erleuchtet, ohne
sie aufzulösen, ist für ihn nicht gemacht. Was er also nicht zu sagen weiß, davon hat er auch gewiß keine
Vorstellung.
Die reine Mathematik ist ein rechter Probierstein für diese Köpfe. (Dies wird aus der rationalen Struktur
der mathematischen Wissenschaft näher begründet.)
[42] Diese Köpfe unterscheiden sich gemeiniglich im Umgänge noch durch ein ander Merkmal. Sie
sind beständig damit beschäfFtigt, von allen Begebenheiten die Ursachen anzugeben, dahingegen die
andern sich mit der bloßen Wirklichkeit des Facti und mit der Kenntniß der Umstände beruhigen. (Es
folgt ein Beispiel.) Die ersten wissen mit einem bloßen Facto nichts anzufangen, wenn sie es nicht gleich
auf seine Möglichkeit zurückführen, es mit ihren Grundsätzen in Verbindung bringen, und daraus ent­
weder ihre alten Begriffe bestätigen, oder neue abziehen können. Die andern verlangen nichts als ein ge­
treues und vollständiges Bild von der Sache; das Anschauen desselben lehret sie alsdann auf künftige Fälle
eben das, was jenen seine Schlüsse. ...
Man kann zuweilen die Fähigkeiten der Seele durch ihre Fehltritte erkennen. Oder vielmehr, gewisse
Fähigkeiten sind einer Unrechten Anwendung so sehr unterworfen, daß man bey aller Ueberzeugung,
daß man sie besitzt, doch noch mit einer großen Behutsamkeit von der andern urtheilen muß. Z. E. [43]
weil diesen Köpfen der schleichende Gang von einer Erfahrung zur andern, um daraus endlich, durch
vielfältige Beobachtungen und immer neue Vergleichungen, die abstracten Begriffe zu sammlen, oft zu
langsam ist: so ist ihre Methode, aus einem einzelnen Falle, oder aus wenigen, den allgemeinen Begriff
herauszuziehn, und nun ohne Anstand aus diesem Begriff die übrigen Fälle zu erklären.
Dieses ist es, was die Systemmacher hervorgebracht hat, die aus einzelnen Beobachtungen gleich
Gesetze der Natur machen, und durch eine einmal zugetroffne Hypothese alle Erscheinungen der Welt
erklären; die eingeschränkten Kunstrichter, die die freye Wahl des ersten Genies in eine Regel für alle
künftige verwandeln, und dem Vergnügen verbieten, aus andern Quellen zu fließen, als aus denen sie es
schon gekostet haben; die einseitigen Moralisten, die immer die menschliche Natur und die ihrige ver­
mischen, und alle Erfahrungen unter das Joch der Grundsätze bringen, die gar nicht mit Hülfe dieser Er­
fahrungen waren gemacht worden.
Ein andrer Abweg dieser Köpfe ist das Subtilisiren. So bald der Zergliederer Körper theilen will, die
entweder zu dicht sind und zu fest Zusammenhängen, um sich trennen zu lassen; oder zu klein um gefaßt zu
146 A U S D ER G Y M N A SIA LZE IT Exzerpt 15

verwickelt und zu individuell sind, um einer andern Erklärung als des Vorzeigens
fähig zu seyn; oder zu einfach und schon zu weit zergliedert, so ist seine Arbeit nicht
blos vergeblich, sondern auch schädlich.
Ein richtig philosophirender Jüngling wird sich durch eine besondere Methode
in seinem Gespräche unterscheiden; alle seine Gedanken werden einander unter- 5
geordnet, und die Verhältnisse, in denen seine Ideen fortgehen, werden immer
genauer und wesentlicher seyn. Aber deswegen scheinen seine Vorstellungen oft
seltsam, widersinnig oder mit dem Gegenstände unzusammenhängend, entweder
weil er seine Betrachtungen zu weit hinausgeführt hat, und der Gedanke, den er vor­
bringt, erst durch viele Mittelglieder mit der gegenwärtigen Sache oder Begeben- 10
heit zusammenhängt, die er oft zu sagen vergisst, und die die andern nicht ergänzen
können, oder weil er zu weit zu den Principien zurückgeht, und seine Reflexion erst
durch eine Menge von andern vorbereiten muss, deren Absicht man nicht errathen
kann. So zeigt sich diese Fähigkeit in dem Umgang und dem gesellschaftlichen
Leben; aber ganz uneingeschränkt und unverdunkelt bei der Erlernung der Wissen- 15
schäften.
Das erste Merkmal eines verständigen Lehrlings ist die Fähigkeit und die Neigung
zu eignen Betrachtungen. Die Verschiedenheit der menschlichen Geister bringt un-
2 zergliedert] Th: vergliedert

werden, so ist seine Kunst vergeblich. Und wenn der Philosoph Begriffe auflösen will, die entweder
zu verwickelt und zu individuell sind, um einer andern Erklärung als des Vorzeigens fähig zu seyn; oder
zu einfach und schon zu weit zerglie-[44]dert, um noch eine neue Auflösung zuzulassen: so ist seine Ar­
beit nicht blos vergeblich, sondern auch schädlich. (Daraus seien in der Philosophie Sophismen und Spitz­
findigkeiten entstanden.)
Aber nun noch einmal zu unserm richtig philosophirenden Jünglinge zurück, der diese Abwege ver­
meidet. Er wird sich noch durch eine gewisse Methode in seinen Gesprächen unterscheiden; alle seine
Gedanken werden einander untergeordnet, und die Verhältniße, in denen seine Ideen fortgehen, wer­
den immer genauer und wesentlicher seyn. Aber eben deswegen scheinen seine Vorstellungen oft selt­
sam, widersinnig, oder mit dem Gegenstände unzusammenhängend, entweder weil er seine Betrachtungen
zu weit hinausgeführt hat, und der Gedanke, den er vorbringt, erst durch viele Mittelglieder mit der ge­
genwärtigen Sache oder Begebenheiten zusammenhängt, die er oft zu sagen vergißt, und die die andern
nicht ergänzen können; oder, weil er zu weit zu den Principien zurückgeht, und seine Reflexion erst durch
eine Menge von andern vorbereiten muß, deren Absicht man nicht errathen kann.
So also zeigt sich diese Fähigkeit in dem Umgänge und im gesellschaftlichen Leben.
[201] Die höhern Verstandskräfte und den Geist der Untersuchung durch die gewöhnlichen Aeußerungen
im gesellschaftlichen Leben kennen zu lernen, ist schwer, weil er hier außer seiner eigentlichen Sphäre
ist, und ihn viele Hindernisse entweder zurückhalten oder unbrauchbar machen; aber bey der Erlernung
der Wissenschaften zeigt er sich uneingeschränkt und unverdunkelt.
Das erste Merkmal eines verständigen Lehrlings ist die Fähigkeit und die Neigung zu eignen Be­
trachtungen. Die Verschiedenheit der menschlichen Geister bringt unausbleiblich auch in ihre ähnlichsten
Exzerpt 15 P R Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 147

ausbleiblich auch in ihre ähnlichsten und übereinstimmendsten Begriffe eine grosse


Verschiedenheit, sobald nur diese Begriffe nicht bloss Wiederholung eines einzigen
sind. Von zwei Menschen, die durchaus einerlei über eine Materie denken, hat gewiss
nur einer oder gar keiner gedacht; es muss ihnen ein fremdes Gepräge seyn auf-
5 geprägt worden, ihre eigene Gestalt würde Unähnlichkeiten haben.
Man sieht oft, dass junge gute Köpfe die streitsüchtigsten sind; nur muss dieser
Widerspruch die Folge von wirklich angestellten Untersuchungen seyn, nicht die
Absicht derselben. Ein Theil der Sprache, die gemeiniglich unser erstes Studium ist,
ist willkürlich, der andere philosophisch und beruht auf den Verhältnissen der
io Begriffe. Von dem blos nachdenkenden Geiste wird der erste schwer gefasst; er hat
nichts, woran er sich halten kann; alles Vergessne ist verloren. Aber der andere wird
ihm leicht. Bei Versuchen im Schreiben wird es ihm oft an Ausdrücken und Wörtern
fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache weniger Gewalt anthun; er wird viele
willkürliche Regeln der besondern Grammatik übergehen können; aber keine sol-
15 chen, die in allen Sprachen Ungereimtheiten wären.

und übereinstimmendsten Begriffe eine gewisse Verschiedenheit, sobald nur diese Begriffe nicht bloße
Wiederholungen eines einzigen sind. Von zwey Menschen die durchaus einerley über eine gewisse Ma­
terie denken, hat gewiß nur einer oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein fremdes Gepräge seyn auf-
gedrückt worden, ihre eigne Gestalt würde Unähnlichkeiten haben. Ein junger Mensch also, bey dem
sich die Fähigkeit des Nachdenkens zuerst entwickelt, wird seines Lehrers Untersuchung mehr zur Ge­
legenheit als zum Muster seiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm zusammentrifft, so wird er die nun­
mehr erlernten Be-[202]griffe als die seinigen mit dem vollen Bewußtseyn des Eigenthums annehmen
und bewahren; wenn er von ihm abgeht; so wird er eben so dreist verwerfen, und wenn man ihn belehren
will, reich an Zweifeln und Einwürfen seyn. Man sieht so oft, daß gute junge Köpfe streitsüchtige
Köpfe sind. Wenn dieser Widerspruch die Folge von wirklich angestellten Untersuchungen, und nicht
die Absicht derselben ist; wenn er blos von einer freyen und durch kein Ansehen des Lehrers eingeschränk­
ten Beurtheilung herrührt, ohne zuvor schon beschlossen worden zu seyn, ehe man noch geprüft hatte:
so ist er eine Uebung für den Schüler, und eine Probe seiner Fähigkeiten. In diesem Fall giebt es, wie
Plato sagt, für die Irrenden keine andre Strafe, als die, belehrt zu werden. - (Wenn aber der Widerspruch
aus bloßer Eitelkeit erfolge, so könne dies den Kopf verderben und in leere Disputierkünste ausarten.)
Die Erlernung der Sprachen ist gemeiniglich unser erstes Studium; also wird sie auch die erste Ge­
legenheit für den Lehrer seyn, die Köpfe seiner Schüler zu untersuchen. Ein Theil der Sprache [203] ist
willkührlich, und kann blos von dem Gedächtnisse gefaßt w*erden; der andre ist philosophisch und be­
ruht auf den Verhältnissen der Begriffe. Von dem blos nachdenkenden Geiste wird der erste schwer ge­
faßt; er hat nichts woran er sich halten kann; und alles vergeßne ist verlohren. Aber der andre wird ihm
leicht; er kommt geschwind mit der Abstraction gewisser allgemeinen Regeln der Anordnung und Ver­
bindung der Begriffe zu Stande, die er, ohne es zu wissen, bey der Erklärung der Stellen zum Grunde legt,
die er nicht nach den Bedeutungen aller einzelnen Wörter versteht; ein lebhaftes Gefühl vom Zusammen­
hänge, macht ihm beständig das Unrichtige oder das Mangelhafte seiner Erklärungen merklich, und hilft
ihn oft zum voraus schon dasjenige muthmaßen, was er durch die Auslegung finden soll. Bey einer ge­
wissen Fertigkeit in der Sprache, bey welcher er schon Versuche im Schreiben machen kann, wird es ihm
oft an Wörtern und Ausdrücken fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache weniger Gewalt anthun;
er wird viele von solchen Sprachfehlern begehn können, die blos willkührliche Regeln der besondern
Grammatik übertreten, aber keine solchen, die in allen Sprachen Ungereimtheiten wären.
148 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

Eben so hat jeder andere Gegenstand des Wissens und Thuns eine doppelte Seite,
eine für den FJeiss und das Gedächtniss, eine andere für die Reflexion und den
Verstand.
Ob man gleich in der ersten Erziehung nicht schon der Wissenschaft einen aus-
schliessendern Vorzug geben darf, die man nach der Wahl oder nach der Fähigkeit 5
des Lehrlings als sein künftiges Studium ansieht, theils um nicht dadurch den Kopf
zu sehr einzuschränken, wenn man seinen natürlichen Hang durch eine zu frühzeitige
Befriedigung noch verstärkte, theils weil keine Ausübung einer menschlichen Fähig­
keit ohne einen gewissen Grad von Vollkommenheit in den übrigen vortrefflich
oder auch nur brauchbar werden kann; so ist es doch sehr unrecht, dass, wenn man 10
auch mit dem grössten Theil junger Leute einerlei Wissenschaften treiben darf, man
von ihnen einerlei fordert, und man ihren Fleiss oder ihre Tüchtigkeit gerade nach
einerlei Art des Fortganges beurtheilt. Der junge Mensch vom grössten Verstände
wird in diesem Alter am meisten zurückgesetzt, weil man auf das, was er besser als
Andere in seinen Arbeiten leistet, als auf ein Nebenwerk oder etwas Ueberflüssiges 15
nicht Acht hat; und hingegen die Art von Vortrefflichkeit verlangt, zu der er am
unfähigsten ist.
Der philosophirende Verstand zeigt sich am deutlichsten durch die Begriffe, die
er selbst hervorbringt. In seinen Aufsätzen ist immer etwas Eigenes und Charac-

So wie die Sprache, so hat jeder andre Gegenstand des Wissens und des Thuns, eine doppelte Seite,
eine Seite für den Fleiß und das Gedächtniß; eine andre für die Reflexion und den Verstand. Man kann
nach einem langen Studio der [204] Geschichte von ihr, außer einzelnen merkwürdigen und großen
Factis, fast nichts wie ihre Philosophie wissen; und man kann hingegen in der Mathematik nichts als eine
Nachricht von ihren Sätzen lernen. Ob man also gleich in der ersten Erziehung nicht schon der Wissen­
schaft einen ausschließenden Vorzug geben darf, die man nach der Wahl oder nach den Fähigkeiten des
Lehrlings als sein künftiges Studium ansieht, theils, um nicht dadurch den Kopf zu sehr einzuschränken,
wenn man seinen natürlichen Hang durch eine zu frühzeitige Befriedigung noch verstärkte, theils weil
keine Ausübung einer menschlichen Fähigkeit ohne einen gewissen Grad von Vollkommenheit in den
übrigen, vortrefflich, oder auch nur brauchbar werden kann: so ist es doch sehr unrecht, daß, wenn man auch
mit dem größten Theil junger Leute, einerley Wissenschaften treiben darf, man von ihnen einerley for­
dert, und man ihren Fleiß oder ihre Tüchtigkeit gerade nach einerley Art des Fortgangs beurtheilt. In
der That wird der junge Mensch vom größten Verstände in diesem Alter am meisten zurückgesetzt;
weil man auf das, was er besser als andre in seinen Arbeiten leistet, als auf ein Nebenwerk oder etwas
überfUißiges nicht Acht hat; und hingegen die Art von Vortrefflichkeit verlangt, zu der er am unfähig­
sten ist. (Facta und Wörter müßten zwar alle studierenden Jünglinge lernen. Aber man dürfe mit diesem Unter­
richt nicht ohne Rücksicht auf die individuellen Fähigkeiten bei jedem dasselbe erreichen wollen. Am Beispiel des
Geschichtsunterrichts wird dargelegt, daß sich gemäß den unterschiedlichen Begabungen der Lernenden von jeder
Wissenschaft mannigfach verschiedener Gebrauch machen läßt.)
[207] Der philosophirende Verstand, um uns nicht zu weit von ihm zu verlieren, zeigt sich am deut­
lichsten durch die Begriffe, die er selbst hervorbringt. In nichts unterscheiden sich die guten Köpfe von
Exzerpt 15 PR Ü FU N G DER FÄ H IG KEITEN 149

teristisches; ferner äussert sich der Geist der Reflexion durch eine gewisse Verfolgung
einerlei Idee, durch eine Auseinandersetzung allgemeiner Grundsätze, durch die
Geschicklichkeit viele Begriffe aus einem gemeinschaftlichen Gliede herzuleiten.
Wenn auch in den einzelnen Begriffen Dunkelheit, in den Sätzen Irrthum, in ihrer
5 Anwendung Spitzfindigkeit ist, so wird doch das Ganze Zusammenhängen, ein Irr­
thum wird wenigstens durch den andern unterstützt werden.
Die Fähigkeit zu reflectiren, mit einem Grade von Einbildungskraft vermischt,
giebt das, was wir W itz oder Scharfsinn nennen. Zu jenem gehören die Aehn-
lichkeiten; zu diesem die Unterschiede der Dinge. Diese Verbindungen und Tren-
10 nungen können bald durch die Einbildungskraft, bald durch den Verstand geschehen;
es giebt also einen sinnlichen und einen vernünftigen Witz im engern Verstand; was
gemeiniglich unter diesem Namen bekannt ist, besteht in einer gewissen Erfindsam­
keit, verborgene und doch einleuchtende Verbindungen unter Begriffen zu ent­
decken, die von einander sehr entfernt scheinen. Man hat die Productionen desselben
15 Einfälle genannt. Diese ausserordentlichen Verbindungen unter sehr fremd scheinen­
den Ideen verlangen schlechterdings eine gewisse Mannigfaltigkeit und einen ordent­
lichen Reichthum von Objecten, unter welchen sich von Zeit zu Zeit einige zu­
sammenfinden müssen, die einer solchen Verbindung fähig sind. Daher ist die Gesell-

den schlechten so sehr als in ihren Aufsätzen. Bey dem bloßen Lernen kann größre Emsigkeit und viel­
leicht mehr Gedächtniß die letztem weiter gebracht haben. Aber der Gebrauch, den die erstem auch von
ihrer geringem Kenntniß in dem was sie für sich selbst denken, machen, wird ihnen sehr bald ihren Vor­
zug wiedergeben. Zuerst ist immer etwas eignes und charakteristisches, wo die Kraft der Seele selbst schafft,
nicht blos empfangne Ideen zurück giebt; zum andern äußert sich der Geist der Reflexion durch eine ge­
wisse Verfolgung einerley Idee, durch eine Auseinanderwickelung allgemeiner Grundsätze, durch die
Geschicklichkeit viele Begriffe aus einem gemeinschaftlichen Gliede herzuleiten. Wenn auch in den ein­
zelnen Begriffen noch Dunkelheit, in den Sätzen Irrthum, in ihrer Anwendung Spitzfündigkeit ist; so wird
doch das Ganze zusammen hängen, ein Irrthum wird wenigstens durch den andern unterstützt werden.
Die Fähigkeit zu reflectiren, mit einem Grade von Einbildungskraft vermischt, giebt das, was wir
nach Verschiedenheit der Gegenstände Witz oder Scharfsinn nennen. Es ist bekannt, daß man zu dem
Gebiethe des ersten die Aehnlichkeiten, und zum Gebiethe des andern die Unterschiede der Dinge be­
stimmt. Aber darauf hat man nicht im-[208]mer Acht gegeben, daß diese Verbindungen, oder diese
Trennungen, bald durch die Einbildungskraft und bald durch den Verstand geschehen können; daß es
einen sinnlichen und einen vernünftigen Witz gebe.
Das was man den Witz im engern Verstände nennen könnte, und was in der Welt unter diesem Na­
men gemeiniglich bekannt ist, besteht in einer gewissen Erfindsamkeit, verborgne und doch einleuchtende
Verbindungen unter Begriffen zu entdecken, die von einander sehr entfernt scheinen. Man hat die Pro­
ductionen desselben Einfälle genannt; um dadurch die Art von Vergleichungen auszuschließen, die durch
Untersuchung und Nachdenken gefunden werden, und den Charakter der Schnelligkeit anzuzeigen,
der diesen Werken des Witzes wesentlich ist, und ihr vornehmstes Verdienst ausmacht. Es ist begreiflich,
daß diese außerordentlichen Verbindungen unter sehr fremdscheinenden Ideen, schlechterdings eine ge­
wisse Mannichfaltigkeit und einen unordentlichen Reichthum von Objecten verlangen, unter welchen
sich von Zeit zu Zeit einige zusammen finden müssen, die einer solchen Verbindung fähig sind. Um deß-
150 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

schaft und ein vermischtes abwechselndes Gespräch der eigentliche Ort und die
Werkstätte des Witzes.
Diese Art von Witz verträgt sich besser mit dem practischen, als mit dem theo­
retischen Verstände. Die Einbildungskraft muss viele Begebenheiten und Bilder im
Vorrath haben, und durch jeden Anlass, durch die kleinste Verwandtschaft der 5
gegenwärtigen Dinge an dieselbe erinnert werden, wenn die Vernunft sie eben so
geschwind soll vergleichen können. Diese Aehnlichkeiten liegen ferner nicht in dem
Wesentlichen und Inneren der Sachen, nicht in ihrer Structur, sondern nur in der
äussern Gestalt, in ihren zufälligen und abwechselnden Merkmalen. Aber diese kann
ihrer Kleinheit und Menge wegen nicht durch deutliche Begriffe erkannt werden, 10
und wer durch diese am meisten denkt, übersieht sie, oder stellt sie sich falsch vor.
Endlich der Schein des Ohngefährs ist niemals zu erhalten, wenn die Ideen zu sehr
in einander gegründet sind, und man augenscheinlich die Folge einsieht, in der man
auf sie hat kommen können. In der Gesellschaft sind gemeiniglich die Partheien beim
Gespräch; die einen wollen die Sache als eine wirkliche Materie des Gesprächs, die 15
andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen.

willen ist die Gesellschaft, und ein vermischtes abwechselndes Gespräch, der eigentliche Ort und die Werk­
stätte des Witzes. (Ein witziger Kopf befinde sich also besser in Gesellschaft leerer Schwätzer, die nie auf einer
Sache beharren, als bei verständigen Männern, deren Gedanken gleichförmiger und regelmäßiger fiortgehen.)
[209] Man sieht leicht, daß diese Art von Witz sich mit dem, was wir den practischen Verstand ge­
nannt haben, besser als mit dem theoretischen verträgt. Die Einbildungskraft muß viele Begebenheiten
und Bilder im Vorrath haben; und sie muß durch jeden Anlaß, durch die kleinste Verwandschaft der
gegenwärtigen Dinge an dieselbe erinnert werden, wenn die Vernunft sie eben so geschwind soll ver­
gleichen können. Ueberdieß liegen diese Aehnlichkeiten, die der Witz aufsucht, nicht in dem Wesentli­
chen und Innern der Sachen, nicht, so zu sagen, in ihrer Structur, sondern nur in der äußern Gestalt, in
ihren zufälligen und abwechselnden Merkmalen. Aber diese letztem können, ihrer Menge und ihrer
Kleinheit wegen, nicht durch deutliche Begriffe erkannt werden; und wer durch diese am meisten denkt,
übersieht sie, oder stellt sie sich falsch vor. Endlich ist der Schein des Ohngefährs, der dem wirklich witzi­
gen Einfall nothwendig ist, niemals zu erhalten, wenn die Ideen zu sehr in einander gegründet sind, und
man augenscheinlich die [210] Folge einsieht, in der man auf sie hat kommen können. Der zu genaue
und innre Zusammenhang also, der zwischen den Ideen in einem blos philosophirenden Kopfe seyn muß,
wenn eine die andre soll erwecken können, macht ihm leichte und zufällige Verknüpfungen unmöglich;
seine Einfälle haben immer das Ansehn des Studirten und Ausgedachten. In der Gesellschaft sind die Er­
fahrungen leicht zu machen, die dieses bestätigen. Wenn eine gewisse Materie zum Gespräche aufgeworfen
wird: so sind gemeiniglich (wenn überhaupt die Gesellschaft nicht aus Dummköpfen besteht,) zwey
Partheyen in der Art, wie sie mit dem Gegenstände umgehn. Die einen wollen die Sachen als eine wirk­
liche Materie des Gesprächs, die andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen. (Dies wird näher ausgeführt.)
Besonders ist die Gabe gut zu erzählen das Eigenthum des witzigen Kopfs. Die Theile einer Begebenheit
so zu ordnen, daß diejenigen neben einander kommen, deren Aehnlichkeit oder deren Contrast den Ein­
druck machen soll; sie durch den Ausdruck in das gehörige Licht zu stellen, und ihr ein lächerliches, oder
wenigstens ein außerordentliches Ansehn zu geben: alles das hindert der bloße reine Verstand durch die
Langsamkeit, mit der er verfährt. Zum Untersuchen sind diese [211] Sachen zu klein und zu mannich-
Exzerpt 15 PR Ü FU N G DER FÄ H IG KEITEN 151

Besonders ist die Gabe, gut zu erzählen, das Eigenthum des witzigen Kopfs, wobei
er oft dem Alltäglichen der Begebenheiten durch einen Zusatz von seiner eignen
Schöpfung aushelfen kann.
In der That kann aber oft auch der Zufall hervorbringen, was sonst nur Werk
5 des Witzes ist. In einer Seele, die noch alle Begriffe ohne den geringsten Grund der
Aehnlichkeit oder ihrer Verbindung dabei nöthig zu haben zusammensetzt, müssen
nothwendig unter der Menge ganz ungereimter und nichts bedeutender Ver­
knüpfungen, einige Vorkommen, in die sich ein lächerlicher oder ein verständiger
Sinn hineinlegen lässt. Naivität, ein Zweig des Witzes, ist, wenn unter dem Scheine
io der Einfalt und der Unwissenheit nur mit einem ungereimten oder einfältigen Aus­
druck eine grosse oder auffallende Wahrheit gesagt wird. Bei Kindern sind solche
Ausdrücke oft wirkliche Einfalt; denn der Gedanke, den man sonst damit verbindet,
fehlt wirklich; daher scheinen oft diese artigen im dritten Jahr bewunderten Einfälle,

faltig; ein gewisses Gefühl muß sie uns finden lehren; und dieses Gefühl giebt der Witz. Aber eben des­
wegen ist es dem witzigen Kopfe so natürlich Geschichte[n] zu erdichten, oder die wahren zu verunstalten.
Da die seltsamen Verbindungen unter Vorfällen immer angenehmer sind, als die unter Ideen: so erzählt
er noch lieber, als er Einfälle sagt. Und weil nun in der wirklichen Welt, besonders in dem engen Cirkel
der Erfahrungen eines einzigen Menschen, solche Verbindungen weit seltner Vorkommen, als sie der
witzige Kopf braucht: so muß er oft die Armuth der Natur in diesem Stücke ersetzen; oder wenigstens
dem Alltäglichen der Begebenheiten durch einen Zusatz von seiner eignen Schöpfung aufhelfen?
Auf keine Fähigkeit thun sich Aeltern bey ihren Kindern mehr zu gute; und bey keiner können sie
leichter hintergangen werden, als bey dem Witze. So wie der wirkliche Witz seinen Erfindungen den
Schein des bloßen Zufalls, und eines nicht vorhergesehenen nicht zur Absicht gehabten Lächerlichen
geben muß: so kann hinwiederum der Zufall in der That oft eben das hervorbringen, was sonst nur das
Werk des Witzes ist. In einem Kopfe, wo schon die Ideen nach gewissen Absichten und nach gewissen
Regeln geordnet werden, ist dieses nicht möglich, oder wenigstens selten. Aber wo noch die Seele alle
Begriffe die ihr Vorkommen, ohne den geringsten Grund ihrer Aehnlichkeit oder [212] ihrer Verbindung
dabey nöthig zu haben, zusammensetzt; da müssen nothwendig unter der Menge ganz ungereimter und
nichtsbedeutender Verknüpfungen, einige Vorkommen, in die sich ein lächerlicher oder ein verständiger
Sinn hineinlegen läßt. Ein Zweig des Witzes ist die Naivität. Sie besteht darinnen, wenn unter dem Scheine
der Einfalt und der Unwissenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit gesagt wird; wenn
der Ausdruck ungereimt oder einfältig, und der Sinn groß ist. Wenn man nun bey Kindern solche Aus­
drücke, noch dazu mit der einnehmenden Mine der Unschuld und der Freundlichkeit Vorbringen hört:
so glaubt man, sie sind naiv, ob sie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt sind. Man bemerkt nämlich nicht,
daß der Gedanke, den man sonst vielleicht mit diesem oder einem ähnlichen Ausdrucke zu verbinden
gewohnt ist, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hatte, war vielleicht so nichtsbedeutend oder so
widersinnig als der Ausdruck. Daher scheinen so oft diese artigen Einfälle, die im dritten Jahre bewundert
wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind sagt itzt nichts schlechters als zuvor; aber man wird nur
mehr gewahr, daß der Gedanke, den man vorausgesetzt hatte, nicht vorhanden sey; der angenommene
Contrast zwischen Bezeichnung und Idee fällt weg, das Naive wird tölpisch.
Wenn es aber auch noch leicht wäre den wahren Witz zu erkennen: so ist es doch gewiß schwer,
die übrigen Fähigkeiten des Kopfes nach demselben [213] zu beurtheilen. Natürlicher Weise äußert sich
152 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15

im achten Ungereimtheiten. Der Witz äussert sich am ersten. Mit dem philosophi­
schen Genie verträgt er sich selten; eine sehr feurige Imagination verzehrt ihn so zu
sagen; er findet nur bei einer gewissen Mittelmässigkeit dieser beiden Hauptfähig­
keiten statt. Die frühzeitige Ausbildung desselben ist sogar der Uebung der andern
Fähigkeiten schädlich. Da er die Seele gewöhnt, immer von dem Wesentlichen der 5
Dinge abzugehen, so hindert er die Untersuchung; und indem er die Aufmerksam­
keit der Seele bei jedem Gegenstände theilt, und sie von der blossen Betrachtung
gleich auf Anwendung desselben abzieht, so lässt er keinen starken und bleibenden
Eindruck zu. Er ist der Diener und Gehülfe der Eitelkeit; und seine Bemühung, seine
alten Vorzüge immer sehen zu lassen, stört die Bemühung, neue zu erwerben. Diese 10
Fähigkeit erfordert oder lässt die wenigste Ausbildung zu; man kann nichts hin-
zuthun, als sie regieren und mässigen. Der Witz ist vortrefflich, wenn er in eine Seele,
die schon mit Begriffen angefüllt ist, als die letzte Verschönerung hinzukommt.
Es giebt aber noch einen andern so zu sagen reflectirenden Witz, der mit der
zweiten Art von Imagination in Verbindung steht; ein Witz, der nicht unter ein- 15

10 stört] Th: statt (Lesefehler?) 15 zweiten] Th: ersten (vielleicht Lesefehler, sofern Hegel mit Ziffer
schreibt: 2ten)

der Witz am ersten, weil auch unter einem kleinen Vorrathe von Ideen, schon genug Zusammensetzungen
möglich sind; und dieß eben das Werk und das Verdienst des Witzes ist, das Verborgne zu finden. Aber
er ist deswegen nicht immer die Ankündigung eines großen Geistes. Mit dem philosophischen Geiste
verträgt er sich selten; eine sehr feurige Imagination verzehrt ihn so zu sagen; und er findet nur bey einer
gewissen Mittelmäßigkeit dieser beyden Hauptfähigkeiten statt. Alles, was er sucht, liegt nur auf der
Oberfläche, und bedarf weder ein tiefes Nachdenken, noch eine sehr starke Empfindung.
Er ist sogar, wenn er zu frühzeitig ausgebildet wird, der Uebung der andern Fähigkeiten schädlich.
Da er die Seele gewöhnt immer von dem Wesentlichen der Sachen abzugehn, und auf ihre Zufällig­
keiten und ihre äußren Verhältnisse zu sehen: so verhindert er die Untersuchung; und indem er die Auf­
merksamkeit der Seele bey jedem Gegenstände theilt, und sie von der bloßen Betrachtung gleich auf
Anwendungen desselben abzieht: so läßt er keinen starken und bleibenden Eindruck zu. Der Witz ist der
Diener und der Gehülfe der Eitelkeit. So wie er das Licht ist, welches die Talente den Augen des großen
Haufens sichtbar macht: so erhöhet er sie zugleich in den Augen des Menschen selbst. Die Geschicklichkeit
sich mit Vortheile zu zeigen, erweckt die Begierde es oft zu thun; und [214] so wird die Bemühung neue
Vorzüge zu erwerben, durch die Bemühung seine alten sehen zu lassen, gestört.
Man sollte sich aber um destoweniger um diese Fähigkeit Mühe geben, weil sie unter allen übrigen
die wenigste Cultur zuläßt oder erfordert. Sie entwickelt sich von sich selbst, und man kann nichts anders
zu ihrer Ausbildung thun als sie regieren und im Zaume halten. Der Witz ist vortrefflich, wenn er in eine
Seele, die schon mit Ideen und Bildern angefüllt ist, als die letzte Verschönerung hinzu kommt. Der Reich­
thum wird alsdann zugleich zur Pracht, und die Gestalten, in welche die Seele ihre Begriffe kleidet, werden
eben so schön als die Begriffe selbst gesund und vollkommen sind. Sollen aber diese Ideen und Bilder
erst gesammlet werden, dann ist seine Geschäfftigkeit schädlich und hinderlich.
Aber diese ganze Gattung von Witz ist nicht die einzige. Es giebt einen andern so zu sagen reflectiren­
den Witz, der mit der zwoten Art von Imagination von der wir oben geredet haben, in Verbindung
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG K EITEN 153

zelnen Dingen, sondern unter allgemeinen Ideen, nicht äussere Verhältnisse, sondern
innere Uebereinstimmungen, aber auf eine solche Art sucht, dass man die Operation
des Verstandes, und die Folge der Begriffe, durch welche diese Uebereinstimmungen
sind gefunden worden, nicht gewahr wird. Wenn mit dem Verstände der Witz
5 sich vermählt, so wird der erste beherzter und unternehmender. Er bekommt einen
gewissen geheimen Zug, die unähnlichsten Begriffe mit einander zu vergleichen, und
die entferntesten zusammenzubringen. Das Feld seiner Geschäftigkeit wird grösser,
der Vergleich geschieht schneller; die Verbindungen, die er macht, werden mannig­
faltiger und neuer.
io Es giebt ferner in der Philosophie, im Erklären und im Beweisen einen gewissen
Geschmack, ein dunkles Gefühl von der Stärke und Schwäche der Gründe selbst,
ehe man sie noch so genau geprüft hat. Dieser Geschmack nun wird von dem Witz,
von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacität nennen, hervorgebracht. Bei
Erlernung der Wissenschaft bringt er eine schnelle Begreifung und eine richtige
15 Anwendung der vorgetragenen Wahrheiten hervor; bei einem höhern Fortgange
äussert er sich durch eine gewisse Erfindsamkeit, die Seite des Dinges zuerst zu finden,
von der sie sich am besten angreifen lässt, und den Begriff von ihm zu fassen, der
am leichtesten und am fruchtbarsten bearbeitet werden kann.
15 vorgetragenen] Th: vorgegangenen

steht; ein Witz, der nicht unter einzelnen Dingen, sondern unter allgemeinen Ideen, und nicht äußre
Verhältnisse, sondern innere Uebereinstimmungen, aber auf eine solche Art sucht, daß man die Operation
des Verstandes, und die Folge der Begriffe, durch welche diese Uebereinstimmungen sind gefunden wor­
den, nicht gewahr wird. Nämlich ein blos gesunder natürlicher Verstand, ohne diesen Witz, hält keine
andre Ideen [215] gegen einander, als wo sich schon aus dem, was er von ihnen weiß, ihre Uebereinstim-
mung vorhersehen läßt; und wo es also blos darauf ankömmt, dieselbe auf etwas bestimmtes und deut­
liches zu bringen. Auf diese Art verfährt die kluge Vorsichtigkeit in den gewöhnlichen Geschäfften des
gemeinen Lebens, und die bescheidne Lehrbegierde in der Erlernung der Wissenschaften. Diese Eigen­
schaften sichern den Menschen für Verwegenheit und für Irrthum; aber sie machen ihn auch zu großen
Unternehmungen und zu neuen Entdeckungen untüchtig. Wenn aber mit dem Verstände sich der Witz
vermählt, so wird der erste beherzter und unternehmender. Er bekommt einen gewissen geheimen Zug,
die unähnlichsten Begriffe mit einander zu vergleichen, und die entferntesten zusammen zu bringen;
das Feld seiner Geschäfftigkeit wird größer, die Vergleichung geschieht schneller; die Verbindungen,
die er macht, werden mannichfaltiger und neuer.
Es giebt ferner in der Philosophie, im Erklären und im Beweisen eben sowohl einen gewissen Ge­
schmack, als in den Künsten und in den Werken des schönen Geistes; ein dunkles Gefühl von der Stärke
oder der Schwäche der Gründe selbst, ehe man sie noch genau geprüft hat; ein vorläufiges Urtheil von
der Wahrheit oder der Brauchbarkeit seiner Ideen, vor der Untersuchung. Dieser Geschmack nun wird
von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacität nennen, her-[216]vorgebracht. Er
weiset dem Nachdenken die Punkte an, auf die es sich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wissen­
schaften bringt er eine schnelle Begreifung, und eine richtige Anwendung der vorgetragnen Wahrheiten
hervor; bey einem höhern Fortgange äußert er sich durch eine gewisse Erfindsamkeit, die Seite des Dinges
zuerst zu finden, von der sie sich am besten angreifen läßt; und den Begriff von ihm zu fassen, der am leich-
154 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15
Mit dem Witze gehört der Scharfsinn zu einer Classe. Der Scharfsinn scheint
mehr auf der Partei des philosophischen Verstandes zu seyn, so wie der Witz auf der
Seite des dichterischen. Denn eben das Unterscheiden und Absondern, mit dem der
Scharfsinn zu thun hat, bringt die Abstraction hervor.
Es giebt aber auch einen Scharfsinn, der sich mit dem Witz vermischt, und unter 5
seinen Namen verbirgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und Unterschied sind immer
gegenseitig, und wo Uebereinstimmungen bemerkt werden, da muss man die Ver­
schiedenheiten zugleich mit empfinden, die von jenen abstechen. Die andere Gattung
von Scharfsinn äussert sich nur bei Erlernung der Wissenschaften. Die falsche An­
wendung von Scharfsinn ist Spitzfindigkeit, und besteht in der Entdeckung nichts- 10
würdiger oder falscher Unterschiede.
Das frühzeitigste und beinahe das sicherste Kennzeichen des Scharfsinns ist ein
richtiger Gebrauch der Sprache. Bei Ausarbeitungen, die man junge Leute machen
lässt, sollte man auf keine Eigenschaft so sehr sehen. Ein richtiger Gebrauch der
Sprache bringt in unsere Vorstellung eine grössere Mannichfaltigkeit, indem er unter 15
Begriffen, die wir sonst für einen einzigen gehalten hätten, Unterschiede finden lässt,
durch [die] sie zu mehreren werden. Er macht die Entwickelung der Ideen leichter,
indem er uns bei jedem Begriffe, den wir aufklären wollen, die am nächsten damit

testen und am fruchtbarsten bearbeitet werden kann. So zeigt er sich z. B. in der Mathematik durch die
Wahl der Beweise, durch die Abkürzung des Weges, und durch eine gewisse feinere Verwickelung und
eine unvermuthete Auflösung der Aufgaben.
Mit dem Witze gehört der Scharfsinn zu einer Classe. Der Scharfsinn scheint mehr auf der Parthey
des philosophischen Verstandes zu seyn, so wie der Witz auf der Seite des dichterischen. Denn eben das
Unterscheiden und Absondern, mit dem der Scharfsinn zu thun hat, bringt die Abstraction hervor, oder
ist eine Folge derselben. Um deswillen ist die Subtilität, die eine Wirkung dieser Ursache ist, so oft für
die Eigenschaft der Philosophen angesehen worden. - In der That aber giebt es auch einen Scharfsinn,
der sich mit dem Witz vermischt und unter seinem Namen verbirgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und
Unterschied sind immer gegenseitig, und wo Uebereinstimmungen bemerkt werden, da muß man die
Verschiedenheiten zugleich mit empfinden, die von jenen abstechen.
[217] Die andre Gattung von Scharfsinn äußert sich nur bey der Erlernung der Wissenschaften. Man
hat aber nicht sowohl ihn kennen zu lernen, als die Fehler, zu denen er verleiten kann. Die falsche An­
wendung von Scharfsinn ist Spitzfündigkeit, und besteht in der Entdeckung nichtswürdiger oder falscher
Unterschiede.
Das frühzeitigste und beynahe das sicherste Zeichen des Scharfsinns ist ein richtiger Gebrauch der Spra­
che. (Es wird hingewiesen auf die Fülle sinnverwandter Wörter in jeder Sprache und auf die Wichtigkeit einer
genauen Wahl des Ausdrucks.) [218] In der That, weil diese Richtigkeit des Ausdrucks, der Grund, und bey­
nahe das wesentlichste Stück der Schönheit des Stils ist: so sollte bey den Ausarbeitungen, die man junge
Leute machen läßt, auf keine Eigenschaft so sehr gesehen werden. Ein richtiger Gebrauch der Sprache
bringt in unsere Vorstellungen eine größere Mannichfaltigkeit, indem er uns unter Begriffen, die wir
sonst für einen einzigen gehalten hätten, Unterschiede finden läßt, durch die sie zu mehrern werden.
Er macht die Entwickelung der Ideen leichter, indem er uns bey jedem Begriffe, den wir aufklären wol-
Exzerpt 15 P R Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 155

verwandten zeigt, von denen der Begriff durch die Erklärung abgesondert werden
muss; er giebt uns endlich mehr Stoff zur Philosophie, indem er mehr Bedeutungen
der Worte, als so viel sinnlich klare Begriffe uns anweiset, die wir deutlich zu machen
und durch genaue Merkmale zu bestimmen haben.
5 Wenn die Fähigkeiten, die einander in gewissem Maasse entgegenstehen, und die
man deswegen ordentlicherweise nur unter verschiedenen Menschen vertheilt findet,
in einem bestimmten Falle diesen Streit aufheben; wenn sie in einer Seele Zusammen­
kommen und einander das Gleichgewicht halten; wenn sie sich endlich alle zu­
sammen auf einen gewissen Gegenstand vereinigen, alsdann bringen sie ein Genie
io hervor. Ueberhaupt heisst Genie entweder alles, was in unseren Fähigkeiten von der
Natur herrührt, und wird dem Erlernten oder der Gelehrsamkeit entgegengesetzt;
oder es zeigt eine höhere Classe von Geist an, und in diesem Verstände nehmen wir
es hier. Es giebt also so viele Genies, als es Gegenstände für besondere Fähigkei­
ten giebt.
15 Ich will nur noch einige allgemeine Merkmale, woran sich gute Köpfe überhaupt
erkennen lassen, hinzusetzen:
1) Die Eitelkeit hat bei ihnen weniger Einfluss, und die Erwartung des Lobes ist
bei ihnen ein schwacher oder überflüssiger Bewegungsgrund, weil die Sache selbst
schon für sich sie beschäftigt und einnimmt.

len, die am nächsten damit verwandten zeigt, von denen der Begriff durch die Erklärung abgesondert
werden muß; er giebt uns endlich mehr Stoff zur Philosophie, indem er mehr Bedeutungen der Worte
als soviel sinnlich klare Begriffe uns anweiset, die wir deutlich zu machen, und durch genaue Merkmale
zu bestimmen haben.
Jetzo sind wir im Stande, uns den Begriff eines Genies zu machen. - W ir haben gesehen, daß einige
Fähigkeiten in gewisser Maaße einander entgegen stehn, und daß man sie deswegen ordentlicher Weise
nur unter verschiedenen Menschen ver-[219]theilt findet. - Aber wenn dieselben in einem bestimmten
Falle diesen Streit aufheben; wenn sie in einer gewissen Seele zusammen kommen, und sich einander
das Gegengewicht halten; wenn sie sich endlich alle zusammen auf einen gewissen Gegenstand vereinigen:
alsdann bringen sie ein Genie hervor. - Ueberhaupt heißt Genie entweder alles was in unsern Fähigkeiten
von der Natur herrührt, und wird dem Erlernten oder der Gelehrsamkeit entgegen gesetzt; oder es zeigt
eine höhere Classe von Geist an, und in diesem Verstände nehmen wir es jetzt. - Es giebt also so viel
Genies, als es Gegenstände für besondere Fähigkeiten giebt. (Es folgt als Beispiel eine nähere Beschreibung
des dichterischen Genies, dessen Eigentümliches in der Vereinigung von Empfindungskraft und Vernunft zu sehen
sei.)
[220] Ich will nur noch einige allgemeine Merkmale, woran sich gute Köpfe überhaupt erkennen
lassen, hinzusetzen:
E rstlich, die Eitelkeit hat bey ihnen weniger Einfluß, und die Erwartung des Lobes ist bey ihnen
ein schwacher oder überflüßiger Bewegungsgrund, weil die Sache selbst schon für sich sie beschäftigt
und einnimmt. (Ein guter Schriftsteller und ein wirklicher Gelehrter seien schon durch das Vergnügen ihrer eigenen
Beschäftigung mit dem Gegenstand hinlänglich belohnt.)
156 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15
2) Gute Köpfe, die, wenn sie für sich ohne Aufforderung und ohne Anstrengung
über eine Materie denken, voller Einsichten sind, werden vielleicht in den Zeiten
und Orten, wo sie sich am meisten zeigen wollen, und wenn es eigentlich darauf
ankommt, eine Probe ihrer Fähigkeiten zu geben, weniger leisten, als andere. Die
Ursache ist zum Theil physisch. Zum Denken wird eine gewisse Bewegung des 5
Bluts und der Lebensgeister erfordert. Diese, bei welchen der gehörige Grad von
Bewegung ordentlicher Weise vorhanden ist, wenn die Bewegung durch eben diese
Leidenschaft des Ehrgeizes, der Furcht, der Hoffnung noch mehr beschleunigt wird,
werden eben dadurch unfähiger.
Zum Theil ist die Ursache sittlich. Jede Leidenschaft entzieht dem Gegenstände 10

einen Theil von der Aufmerksamkeit und von der Kraft der Seele, und nimmt sie für
sich weg. Je stärker man also die Leidenschaften erregt, um desto mehr schwächt
man eine jede andre Anwendung der Seelenkräfte; und zwar gerade da am meisten,
wo diese am grössten und also zugleich die Leidenschaften am stärksten sind, dahin­
gegen bei anderen, wo Triebfedern fehlen, wo die Wirksamkeit der Seele an und 15
für sich klein ist, diese Leidenschaften nützlich werden.
3) Gute Köpfe haben selten eine gewisse Art von anhaltendem, und wenn ich
sagen darf, sclavischem Fleisse. Sie unterrichten noch weit lieber sich selbst, als sie
sich unterrichten lassen; und ihre Seele beschäftigt sich lieber damit, selbst Begriffe
hervorzubringen, als sie bloss einzusammeln. So richtig diese Bemerkung ist, so 20

12 Leidenschaften] Th: Leidenschaft

[221] Z w eytens. Gute Köpfe, die, wenn sie für sich ohne Aufforderung und ohne Anstrengung
über eine Materie denken, voller Einsichten sind, werden vielleicht an den Zeiten und Orten, wo sie sich
am meisten zeigen wollen, und wo es eigentlich darauf ankommt, eine Probe ihrer Fähigkeiten zu geben,
weniger leisten als andre. ... Die Ursache davon ist zum Theil physisch. Zum Denken wird eine ge­
wisse Bewegung des Bluts und der Lebensgeister erfordert. Die, bey welchen sonst diese Bewegungen
langsam und schläfrig sind, werden bey einer außerordentlichen Gelegenheit, wo dieselben durch die Lei­
denschaft des Ehrgeizes, der Furcht, der Hoffnung beschleunigt und verstärkt werden, besser und richtiger
denken. Dahingegen die andern, bey welchen der gehörige Grad von Bewegung ordentlicher Weise
vorl anden ist, wenn die Bewegung durch eben diese Leidenschaft noch mehr beschleunigt wird, eben
dadurch unfähiger werden. - Zum Theil ist die Ursache sittlich . Jede Leidenschaft entzieht dem Gegen­
stände einen Theil von der Aufmerksamkeit und von der Kraft der Seele, und nimmt sie für sich weg.
Je stärker man also die Leidenschaften [222] erregt, um desto mehr schwächt man eine jede andre An­
wendung der Seelenkräfte; und zwar grade da am meisten, wo diese am größten, und also zugleich die
Leidenschaften am stärksten sind. Dahingegen bey andern, wo Triebfedern fehlen, wo die Wirksamkeit
der Seele an und für sich klein ist, eben diese Leidenschaften nützlich seyn können.
D rittens. Gute Köpfe haben selten eine gewisse Art von so anhaltendem, und, wenn ich so sagen darf,
sclavischem Fleiße. Sie unterrichten noch weit lieber sich selbst, als sie sich unterrichten lassen; und ihre
Seele beschäftigt sich lieber damit, selbst Begriffe hervorzubringen, als sie blos einzusammlen. - So rich­
tig diese Bemerkung ist, so würde sie verführen können, wenn man sie nicht gehörig einschränkte. Z u-
Exzerpt 15 PR Ü FU N G DER FÄ H IG KEITEN 157

würde sie verführen können, wenn man sie nicht gehörig einschränkte. Ohne fort­
gesetzte und vielfältige Uebung, und ohne eine Erlangung von mannigfaltigen
Kenntnissen kann keine einzige Fähigkeit des menschlichen Geistes, und wenn sie
auch von der eigentlichen Gelehrsamkeit noch so weit entfernt wäre, zur Voll-
5 kommenheit gelangen. Auch muss man den Fleiss, der eine behende und zugleich
anhaltende Wirksamkeit ist (das eigne Gepräge des Genies) von der blossen Arbeit­
samkeit, die in einer emsigen und unermüdeten Wiederholung einerlei vorgeschrie­
bener und vielleicht nur fruchtloser Bemühungen besteht, unterscheiden.
Es ist nur noch übrig, zu welcher Art von Geschäften oder Wissenschaften jede
io Fähigkeit gehört. Ueberhaupt ist schon aus der Erklärung dieser Fähigkeiten selbst
klar, dass der bloss philosophirende Verstand für die Theorie, der andre für die
Ausübung ist; der eine Gelehrte, der andre Leute von Geschäften oder Künstler
macht. Fluart hat dies schon sehr gut abgehandelt, und wir brauchen also nichts
als einige Anmerkungen zu machen, die sich hauptsächlich auf die Wissenschaft
15 einschränken sollen.
Unter den G elehrten sind einige blos dazu bestimmt, die schon bekannten
Wahrheiten fortzupflanzen und die Wissenschaft zu dociren.
Bon sens d. h. eine nicht sehr tiefsinnige, aber doch richtige Vernunft, die sich
an den gewöhnlichen Gegenständen der menschlichen Kenntnisse geübt hat; eine

erst also steht der Grundsatz fest: Ohne fortgesetzte und vielfältige Uebung, und ohne eine Erlangung
von mannichfaltigen Kenntnissen, kann keine einzige Fähigkeit des menschlichen Geistes, und wenn sie
auch von der eigentlichen Gelehrsamkeit noch so entfernt wäre, zur Vollkommenheit gelangen. (Mittel­
mäßige Köpfe seien aber dabei ganz von ihren Lehrern abhängig, während guten Köpfen der Unterricht ihrer Lehrer
nur Stoff und Anlaß zu eigener Arbeit biete. - Außerdem arbeiteten die Fähigen leichter und darum weniger als
die andern.) [223] Lehrer von Einsicht werden dieses Merkmal nutzen, und den Fleiß, der eine behende
und zugleich anhaltende Wirksamkeit ist, (das eigne Gepräge des Genies,) von der bloßen Arbeitsamkeit,
die in einer emsigen und unermüdeten Wiederholung einerley vorgeschriebner, und vielleicht immer
fruchtloser, Bemühungen besteht, unterscheiden. Nur Lehrer von eingeschränkten Einsichten, die noch
dabey Eitelkeit haben, werden die Fähigkeit ihrer Schüler nach der Zeit abmessen, die sic in ihren Hör­
sälen zugebracht haben, und den beständigen Zuhörer auch für den geschicktesten halten.
[224] Es ist also nur noch die zwote Frage übrig, zu welcher Art von GeschäfFten oder Wissenschaften
jede Fähigkeit gehört. Ueberhaupt ist schon aus der Erklärung dieser Fähigkeiten selbst klar, daß der
blos philosophirende Verstand für die Theorie, der andre für die Ausübung ist; der eine Gelehrte, der
andre Leute von GeschäfFten oder Künstler macht. Fluart hat diesen Theil unsrer Materie schon sehr
gut abgehandelt, und wir brauchen also nichts als einige Anmerkungen zu machen, die sich hauptsächlich
auf die Wissenschaften einschränken sollen.
Unter der Classe von Menschen, die man Gelehrte nennt, sind einige blos dazu bestimmt, die schon
bekannten Wahrheiten fortzupflanzen, und die Wissenschaft zu dociren; andere sie zu erweitern; die drit­
ten, sie auf das menschliche Leben und den wirklichen Nutzen der Gesellschaft anzuwenden. Man würde
sehr unrecht thun, wenn man lauter Genies für die Wissenschaften forderte, da es doch eine Menge von
Aemtern und Verrichtungen giebt, die einen Gelehrten fordern, und die doch ohne Genies besser bestellt
werden. Bon sens, das heißt, eine nicht sehr tiefsinnige aber doch richtige Vernunft, die sich an den gc-
158 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT E xzerpt 15
Gabe, die Gedanken Anderer zu fassen, und in den Sinn dessen, das man liest und
hört, einzudringen; ein Gedächtniss, das wenigstens bei einer hinlänglichen Wieder­
holung die alten Gedanken erneuert, und uns in den Stand setzt, immer das wieder
von Neuem zu lernen, was wir von Zeit zu Zeit vergessen; dies ist für diese Aemter
und für die Classe der Gelehrten, die sie besorgen, und also für den grössten Theil 5
hinlänglich. Wenn zu diesen Fähigkeiten des Verstandes noch gewisse Eigenschaften
des Charakters hinzukommen; erstlich die Beharrlichkeit, welche Schwierigkeiten
überwindet, und auch einen langsamen Fortgang ununterbrochen verfolgt; zum
andern eine Sorgfalt, keine Begriffe eher für erlernt anzusehen, bis sie sie andern
wieder beibringen können: so können recht gute Lehrer auf Akademien und Schu- io
len daraus werden, sie können gute Köpfe zubereiten, und mittelmässigen ihre Bil­
dung geben. Geister von hohen Gaben lassen sich entweder schwerlich zu diesen
Verrichtungen brauchen, oder verrichten sie in der That schlechter, weil sie sie un­
willig und zerstreut thun, und sie nur als Nebendinge ansehen, von denen sie je eher
je lieber wieder loszukommen suchen. Die Gedanken des Ersteren werden niemals 15
etwas Eignes und Hervorstechendes haben, aber sie werden auch niemals ab­
geschmackt seyn; er wird oft Andern nachahmen, aber er wird es doch auf eine
schickliche Art zu thun wissen; er wird fleissig, bedachtsam und überlegt seyn, und
vor allen Dingen, bei dem Mittelmässigen, was er macht, sich einer gewissen hohem
Vollkommenheit bewusst seyn, die er nicht erreichen kann. In der That kann eine 20
1 die] Th: den (wahrscheinlich für Abkürzung: &.)

wohnlichen Gegenständen der menschlichen Kenntnisse geübt hat; eine Gabe, die Gedanken andrer zu
fassen, und in den Sinn dessen, was man liest oder hört, einzudringen; ein Gedächtniß, welches, wenig­
stens bey einer hinlänglichen Wiederholung, die alten Gedanken [225] erneuert, und uns in den Stand setzt,
immer das wieder von neuem zu lernen, was wir von Zeit zu Zeit vergessen: Das ist für diese Aemter
und für die Classe von Gelehrten, die sie besorgen, und also ohne Zweifel für den größten Theil hinläng­
lich. Wenn zu diesen Fähigkeiten des Verstandes noch gewisse Eigenschaften des C harakters hinzu
kommen; erstlich die Beharrlichkeit, welche Schwierigkeiten überwindet, und auch einen langsamen
Fortgang ununterbrochen verfolgt; zum andern eine Sorgfalt, keine Begriffe eher für erlernt anzusehen,
bis sie sie andern wieder beybringen können: so können recht gute Lehrer auf Akademien und Schulen
daraus werden, sie können gute Köpfe zubereiten, und mittelmäßigen ihre Bildung geben. Man würde
also durch die Strenge, die alle mittelmäßigen Köpfe von der Gelehrsamkeit ausschließt, dem Staate mehr
schaden als nützen. Geister von höhern Gaben lassen sich entweder schwerlich zu diesen Diensten brauchen,
oder verrichten sie in der That schlechter, weil sie sie unwillig oder zerstreut thun, und sie nur als Neben­
dinge ansehen, von denen sie je eher je lieber wieder los zu kommen suchen. Ein geschickter Lehrer wird
einen jungen Menschen, der in diese Classe von brauchbaren Gelehrten kommen kann, bald erkennen.
Seine Gedanken werden niemals etwas eigenes und hervorstechendes haben, aber sie werden auch niemals
abgeschmackt seyn; er wird oft andern nachahmen, aber er wird es doch auf eine schickliche Art zu thun
wissen; er wird fleißig, bedachtsam, und überlegt seyn, und vor [226] allen Dingen bey dem Mittel­
mäßigen, was er macht, sich einer gewissen höhern Vollkommenheit bewußt seyn, die er nicht erreichen
kann. In der That kann eine sehr mittelmäßige Arbeit, ein schlechtes Gedicht, von einem ganz guten
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄ H IG KEITEN 159

sehr mittelmässige Arbeit, ein schlechtes Gedicht von einem ganz guten Kopfe her­
rühren. Aber wenn er es selbst für vortrefflich hält und den Unterschied gegen
andere nicht fühlt; dann ist er verloren. Ein solcher muss die Wissenschaften ver­
lassen.
5 Die andre Classe von G elehrten, welche die Wissenschaften erweitern sollen,
erfordern wirklich das was man Genies nennt. Solche Köpfe finden immer für sich
selbst die Gegenstände, die für sie gemacht sind, und fast jede Wissenschaft hat so
viel verschiedene Seiten, dass man eben so viele verschiedene Köpfe braucht um sie
anzubauen.
io Nur bei der Wahl der Wissenschaften ist noch dies zu bemerken. Man suche den
jungen Leuten einen wirklichen Begriff von denselben beizubringen, so dass sie im
Ganzen (und so weit es ohne sie erlernt zu haben möglich ist) ohngefähr voraus­
sehen können, was sie darinnen zu erwarten haben, und stelle mit ihnen kleine Proben
über die Sachen in jeder Wissenschaft an. Man bemühe sich ferner so viel möglich
15 den Eindruck zu zerstören, den auf die ersten Jahre die äussern Blendwerke eines
jeden Standes gemacht haben, und lege dem jungen Menschen, wenn man kann,
ein treues Gemälde von dem menschlichen Leben und den verschiedenen Ständen
desselben vor. Nichts ist hiebei so wichtig, als ihn zu überzeugen, dass die Glück­
seligkeit und das Elend beinahe allenthalben gleich und fast nirgends von dem Stande,
20 sondern durchaus von der Person abhängig sey. Die Prüfung der Geschicklichkeiten

18 wichtig] Th: richtig

Kopfe herrühren. Aber wenn er es selbst für vortrefflich hält, wenn er den Unterschied gegen andre nicht
fühlt: dann ist er verlohren. Ein solcher muß die Wissenschaften verlassen.
Die andre Classe von G elehrten, welche die Wissenschaften erweitern sollen, erfordert wirklich
das, was man Genies nennt, das heißt: irgend eine Fähigkeit in einem vorzüglichen Grade und die übrigen
in einer gehörigen Unterordnung, sie zu unterstützen. ... Die Wissenschaften selbst braucht man hier nicht
erst auszuzeichnen; zuerst, weil solche Köpfe für sich selbst die Gegenstände finden, die für sie gemacht
sind; zum andern, weil fast jede Wissenschaft so viel verschiedene Seiten hat, daß man eben so viel ver­
schiedene Köpfe braucht, um sie anzubauen.
Nur bey der Wahl der Wissenschaften ist noch dies zu merken. Man suche den jungen Leuten einen
wirklichen Begriff von denselben beyzubringen, so daß sie im Ganzen, (und so weit es ohne sie erlernt
zu haben möglich ist,) ohngefähr voraussehen können was sie darinne zu erwarten haben, und stelle mit
ihnen kleine Proben über die [227] Sachen einer jeden Wissenschaft an. (Es folgt ein Hinweis auf das Lehr­
verfahren der von Xenophon beschriebenen Schule der Gerechtigkeit der Perser.,) Man bemühe sich ferner,
so viel möglich den Eindruck zu zerstören, den auf die ersten Jahre die äußern Blendwerke eines jeden
Standes gemacht haben, und lege dem jungen Menschen, wenn man kann, ein getreues Gemälde von dem
menschlichen Leben und den verschiedenen Ständen desselben vor. Nichts ist hierbey so wichtig, als ihn
zu überzeugen, daß die Glückseligkeit und das Elend bey nahe allenthalben gleich, und fast nirgends von
dem Stande, sondern durchaus von der Person abhängig sey.
Die Prüfung der Geschicklichkeiten muß weniger durch öffentliche Examina und feyerliche Unter-
160 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15
muss durch beständige Aufmerksamkeit auf die gewöhnlichen Arbeiten geschehen.
Das Erste, wodurch sich die Seele im Denken übt, ist, die Gedanken Anderer mit
eignen Ausdrücken zu wiederholen, und eigene damit zu vermischen. Durch nichts
könnte man die Geschicklichkeit besser erforschen, als wenn der Schüler für sich
selbst eben die Materie, als wenn er zu unterrichten hätte, schriftlich oder mündlich 5
vortrüge.
Die d ritte Classe von G elehrten, die die Wissenschaften auf das menschliche
Leben und den wirklichen Nutzen der Gesellschaft anzuwenden bestimmt sind,
erfordert in der That oft weit weniger Gelehrsamkeit, als Klugheit und Witz. Die
Merkmale von diesen Fähigkeiten sind also auch die Bestimmung für die Praxis. 10
Ich will dieses Ganze noch m it der Bem erkung einiger Hindernisse beschliessen, die
der Prüfung der Talente im W ege stehen.
1) Ein jeder Mensch kann grosstentheils von den menschlichen Fähigkeiten nur
nach seinen eigenen urtheilen; und je eingeschränkter er selbst ist, desto weniger
kann er höhere Vollkommenheiten begreifen. Da also das Maass, welches er an- 15
nimmt, schon zu klein ist, kommt die Grösse, die er misst, zu gross heraus, und er
spricht also immer über seine Fähigkeiten ein zu günstiges Urtheil. Dies zeigt uns
a) die Nothwendigkeit, über unser Genie Andere urtheilen zu lassen, die selbst
Genie haben; b) ist es uns ein Merkmal, woran wir unser eignes prüfen können.
13 grösstentheils] Th: grösstentseils

suchungen, als durch die beständige Aufmerksamkeit auf die gewöhnlichen Arbeiten geschehen. Ueber-
dieß sollten die ersten Probestücke nicht sowohl ganz neue Ausarbeitungen seyn, die gemeiniglich elend
und leer sind, und nur den Stolz der jungen Leute vermehren, und die Zeit zum Lernen nehmen; sondern
freye Wiederholungen des Gelernten. Das erste, wodurch sich die Seele im Denken übt, [228] ist, die Ge­
danken andrer mit eignen Ausdrücken zu wiederholen, und einige eigne damit zu vermischen. Durch
nichts also könnte man die Geschicklichkeit besser erforschen, als wenn der Schüler (der während des
Unterrichts nichts oder nur so viel als zur Erhaltung der Aufmerksamkeit nothwendig ist, aufzeichnen
müßte) für sich selbst alsdann eben diese Materie, als wenn er zu unterrichten hätte, schriftlich oder münd­
lich vor trüge. ...
Die dritte Classe, welche die ausübenden Gelehrten in sich begreift, erfordert in der That oft weit
weniger Gelehrsamkeit als Klugheit und Witz. Die Merkmale von diesen Fähigkeiten sind also auch die
Bestimmung für die Praxis. (Am Beispiel der praktischen Arzneikunst wird dargetan, daß Leute von großer
Gelehrsamkeit oft in der Praxis wenig leisten.)
[229] Ich will dieses Ganze nur noch mit der Bemerkung einiger Hindernisse beschließen, die der
Prüfung der Talente im Wege stehn.
1) Ein jeder Mensch kann größtentheils von den menschlichen Fähigkeiten nur nach seinen eigenen
urtheilen; und je eingeschränkter er selbst ist, desto weniger kann er höhere Vollkommenheiten begreifen.
Daher kommt es, daß, da das Maaß, welches er annimmt, schon zu klein ist, die Größe, welche er mißt,
zu groß heraus kömmt, und er also immer über seine Fähigkeit ein zu günstiges Urtheil spricht. Diese
Bemerkung zeigt uns erstlich die Nothwendigkeit, über unser Genie andre urtheilen zu lassen, die selbst
Genie haben. Zum andern giebt sie uns ein Merkmal, woran wir unser eignes prüfen können.
Exzerpt 15 PR Ü FU N G D ER FÄHIGKEITEN 161

2) Jeder Mensch steht in gewissen Verbindungen, die seiner Eitelkeit entweder


aufhelfen und sie unterstützen; oder in andern, die seine wirkliche Fähigkeit ver­
kleinern und unterdrücken. Und unsere eigene Gemüthsart hat in Beurtheilung
unserer selbst einen zu grossen Einfluss. Furchtsamkeit und Misstrauen werden oft
5 unsre Fähigkeiten heruntersetzen, oder Dreistigkeit und Munterkeit sie vergrössern.
Der Lehrer, um die Waage auf beiden Seiten gewissermaassen gleich zu machen,
wird entweder dem einen etwas weniger, dem andern etwas mehr als Gerechtigkeit
widerfahren lassen, oder sie in solche Umstände und Verbindungen setzen, wo diese
ihre Leidenschaften ohne Einfluss sind. Vornehmlich aber muss er sich dadurch
io warnen lassen, seine Schüler nicht nach einzelnen Fällen, in denen sie sich entweder
sehr vortheilhaft oder sehr nachtheilig gezeigt haben, sondern nach dem Ganzen zu
beurtheilen.
3) Lange Zeit werden wir von uns selbst und andern bloss nach der Grösse unseres
Gedächtnisses beurtheilt. Die wahre Untersuchung des Vermögens zu denken ist:
15 wenn man zwei Personen über eine Materie, über die sie gleichviel Erfahrung und
Unterricht haben, ihre eignen Meinungen und Urtheile sagen oder aufschreiben
lässt. Der gute Kopf wird hier den Mangel dessen, was er vergessen hat, durch eigne
Betrachtungen ersetzen, der andre wird entweder bloss wiederholen, oder nichts
hervorbringen. Daher wird auch in den Gedanken des Einen mehr Methode und

2) Jeder Mensch steht in gewissen Verbindungen, die seiner Eitelkeit entweder aufhelfen und sie unter­
stützen; oder in andern, die seine wirkliche Fähigkeit verkleinern und unterdrücken. Es ist nur gar zu
gewiß, daß unsre eigne Gemüthsart in die Beurtheilung unsrer selbst einen zu großen Einfluß hat. Und so,
wie in Absicht auf die Moral, die Schwermuth oder der Leichtsinn, das Maas unsrer Tugenden und Laster
verfälscht; so werden auch oft Furchtsamkeit und Mistrauen unsre Fähig-[230]keiten herunter setzen,
oder Dreustigkeit und Munterkeit sie vergrößern. Der eine sucht selbst nicht soviel in seinem Verstände,
als er finden würde, wenn er nur Zutrauen zu sich hätte, und läßt daher einen Theil seiner Gaben un­
gebraucht; der andre sucht in sich soviel und vielleicht noch etwas mehr, als er hat, und wendet also eine
kleinere Kraft mit grösserm Nachdruck an. Um also diesem Hindernisse abzuhelfen, ist es eine Regel
für den Lehrer, die Waage auf beyden Seiten einigermaßen gleich zu machen, entweder, indem er dem
einen etwas weniger, dem andern etwas mehr als Gerechtigkeit wiederfahren läßt, oder indem er sie in
solche Umstände und Verbindungen setzt, wo diese ihre Leidenschaften ohne Einfluß sind. Vornehmlich
aber muß er sich dadurch warnen lassen, seine Schüler nicht nach einzeln Fällen, in denen sie sich ent­
weder sehr vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, sondern nach dem Ganzen zu beurtheilen.
3) Dieß ist endlich noch ein großes Hinderniß bey dieser ganzen Untersuchung, daß wir eine lange
Zeit, von uns selbst und andern, blos nach der Größe unsers Gedächtnisses beurtheilet werden. (Es sei
falsch und unergiebig, immer nur zu prüfen, wie viel ein Kind wisse und behalten habe.) [231] Die wahre Unter­
suchung des Vermögens zu denken ist: wenn man zwey Personen über eine Materie, über die sie gleich
viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eigne Meynungen und Urtheile sagen oder aufschreiben läßt.
Der gute Kopf wird hier den Mangel dessen, was er vergessen hat, durch eigne Betrachtungen ersetzen,
der andre wird entweder blos wiederholen, oder nichts hervorbringen. Daher wird auch in den Gedanken
162 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 15
anscheinende Bündigkeit seyn, weil sie bloss entlehnt sind, in des Andern seinen m ehr
Unregelmässiges, aber zugleich m ehr Eigenthümliches. Die N atur giebt auch ihren
geringsten W erken gewisse Vorzüge vor den blossen W erken des Fleisses und der
Kunst, die dem Auge des Kenners nicht entgehen.

des einen mehr Methode und anscheinende Bündigkeit seyn, weil sie blos entlehnt sind, in des andern
seinen mehr Unregelmäßiges, aber zugleich mehr Eigenthümliches. Die Natur giebt auch ihren gering­
sten Werken gewisse Vorzüge vor den bloßen Werken des Fleißes und der Kunst, die dem Auge des
Kenners nicht entgehen.
Exzerpt 16 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 163

P h il o s o p h ie . N a t ü r l ic h e T h e o l o g ie . V o r s e h u n g .
Den 20. M ärz 1787.
(N. Bibi. d. philosoph. Wissensch. VIII. Bd. 1. St. p. 115 sq. bei: Einige Vorlesungen
von Abrah. Gotth. Kästner 1768.)

5 Es giebt gewisse Fähigkeiten unserer Seele, die nur deswegen Vollkommenheiten


sind, weil wir eine höhere nicht erreichen können. So sind die allgemeinen Begriffe;
Einschränkungen unserer Kenntniss auf einige wenige Beschaffenheiten der Dinge,
um nicht durch die Menge aller verwirrt zu werden. - Wir theilen die Sachen in
Classen, weil wir keine Sache ganz, von keiner Sache ihr Wesen, sondern von allen
io Sachen nur wenig, nur die gemeinschaftlichen Theile, oder besser nur den Schein,
der aus der Wirkung derselben entsteht, erkennen. Diese Classen aber sind nichts
anders als eine Art von Zeichen, die wir an eine Menge von Dingen anhängen, um
sie leichter wieder zu erkennen. Es ist ein bloss eingebildeter Reichthum, wenn man
glaubt, die Idee der Gattung enthalte alle Ideen der einzelnen Dinge. Bloss das
15 Gemeinschaftliche, das Einförmige in ihnen stellt man sich vor. Für ein Wesen, das
alle Dinge durchaus mit allen ihren Eigenschaften kennt, für dieses macht jedes Ding
eine Classe; der Verschiedenheiten sind für dasselbe weit mehr als der Aehnlich-
keiten, und das Gemeinschaftliche, wonach wir die Sachen ordnen, verliert sich bei
ihm unter die Menge Besonderheiten und des Eigenthümlichen jedes Dinges; - eine
20 Vorsehung also, die sich nicht auf die einzelnen Dinge erstreckt, ist nur die Vor­
sehung eines schwachen und eingeschränkten Geistes, bei dem eine freiwillige Un­
wissenheit gewisser Sachen Pflicht und Weisheit ist, weil er sonst die nothwendig-
sten Sachen nicht wissen würde.
3 philosoph.] Th: philosph. 18 Gemeinschaftliche] Th: Gemeinschaftliche

Das Exzerpt stimmt wörtlich mit dem Original überein, ausgenommen die folgende Stelle: 19 unter die
Menge Besonderheiten und des Eigenthümlichen] O: unter der Menge Besonderheiten und dem Eigen­
thümlichen
164 A U S DER G Y M N A SIA LZE IT Exzerpt 17

P h il o s o p h ie . P s y c h o l o g ie . W it z .
Den 22. M ärz 1787.
(N. Bibi, philosoph. Wiss. VIII. Bd. 1. St. p. 116 sq. bei einigen Vorlesungen
von Kästner 1768.)

Witz ist die Fähigkeit, die die Aehnlichkeiten der Dinge bemerkt. Er ist also noth- 5
wendig, erstlich zum Erlernen der Wissenschaft, zum leichtern Uebergang von einer
Wahrheit zur andern, zum Ordnen der Sachen, die man untersuchen will, oder die
man schon kennt, zur Classification, zur Bildung des Systems.
Er ist nothwendig zur Erfindung: um entfernte Uebereinstimmungen der Begriffe,
Verhältnisse, zwischen denen lange Reihen von Mittelgliedern, geschwind und io
gleichsam vorläufig zu übersehen, ehe der langsamere Verstand Glied vor Glied an
die Kette ansetzet, um zu der neuen Wahrheit zu gelangen. Er ist nothwendig zum
Ausdrucke und zum Vortrage der Wahrheiten; nothwendig endlich zum Verstand
und zur Auslegung der Schriften, an deren Hervorbringung selbst Witz und Ein­
bildungskraft Theil gehabt haben. 15
2 März] Th: Mai 5 Aehnlichkeiten] Th: Aehnlichkeit

Das Exzerpt stimmt wörtlich mit dem Original überein.


Exzerpt 18 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 165

(N. Bibi. d. schön. Wissensch. p. 120 sq. bei: Einigen Vorlesungen


von Kästner 1768.)
D en 22. M ärz 1787.

Jeder Gelehrte soll die Encyklopädie gewisser Wissenschaften kennen. Die meisten
5 Rathschläge, die man einem jungen Menschen giebt, sind einseitig und können nicht
anders seyn. Aber jeder Kopf und jede Verfassung des Menschen muss ihren eigenen
Plan haben. Sich auf eine einzige Wissenschaft einschränken ist vortrefflich; aber
wenn nun diese Wissenschaft selbst auf andere zurückführt, wenn die Seele des Men­
schen gerade von der Beschaffenheit ist, dass sie über der Beschäftigung einer Art
io geschwind ermüdet und entweder oft abwechseln oder müssig seyn muss: wird sich
alsdann nicht der Cirkel der Wissenschaften erweitern dürfen ? -
Das Genie wird sich, wenn es die Natur für einen einzigen Theil derselben be­
stimmt, schon von selbst dazu hinneigen, wenn es nur erst genug kennen gelernt hat,
um seinen Gegenstand darunter zu treffen. Und brauchen wir am Ende nicht mehr
15 aufgeklärte Bürger, als Lehrer einer einzigen Wissenschaft; und besteht diese Auf­
klärung nicht eben in einer gewissen Mannigfaltigkeit von Kenntnissen, die eine
durch die andere erläutert und eingeschränkt wird ?
4 Encyklopädie] Th: Encyklopödie

Das Exzerpt stimmt mit dem Original überein bis auf den ersten Satz, der folgenden Satz des Originals zu­
sammenfaßt: [120] Wenn die Mathematik auf der einen Seite dem denkenden Kopfe eine Menge neuer
Objecte und Materialien giebt, und ihn mit neuen Arten seiner Fähigkeiten oder ihrer Anwendungen
bekannt macht; wenn sie von der andern ihm selbst die Uebung in diesen Fähigkeiten verschaft: so muß
sie mit unter die Encyclopädie der Wissenschaften gehören, die jeder Gelehrte kennen soll.
Außerdem ist nach dem zweiten Satz (d. i. nach: ... seyn.j im Exzerpt ein Satz des Originals ausgelassen:
Man giebt sie gemeiniglich nur für seine eigene Fähigkeiten und für die Umstände, in denen man selbst ist
erzogen worden.
166 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT E xzerpt 19

(N. Bibi, der philosoph. Wiss. VIII. Bd. p. 123. aus einigen Vorlesungen
von Abr. Gotth. Kästner 1768.)
Den 22. M ärz 1787.

Oft ist das was man bei E rfindungen Zufall nennt, in der That Versuch,
wovon man den Erfolg noch nicht voraussieht; freiwillige Combination, die man 5
unter den bekannten Dingen macht, um zu sehen, wie ihre Vereinigung die Wirkung
ändern und bestimmen wird. Hier könnte also bloss das Zufall heissen, dass diese
Vereinigung das einemal kein merklich verändertes oder unbekanntes Resultat giebt,
das anderemal ein ganz neues. Die Verbindung selbst ist ein Werk des Verstandes. -
Oft hat das blosse Raisonnement zu eben der Zeit die Wirkungen zum Voraus 10

bestimmt, als sie durch den wirklichen Versuch dargestellt wurden. - Immer aber
hat wenigstens der Verstand und die Einsicht, das was der Zufall hervorgebracht hat,
ausarbeiten müssen, um es nützen zu können. Alsdann ist die Erfindung selbst
weniger werth, als der Gebrauch, den man davon macht. - Wie man überhaupt
Zufall nennt, wovon die Ursachen zu verwickelt und zu sehr gehäuft sind, um sie 15
zu kennen, so ist Zufall in den Erfindungen beinah nichts anders, als der unmerkliche
Fortgang einer Wissenschaft, wenn er bis auf den Punkt kommt, wo diese kleinern
vorher unbeträchtlichen Zuwüchse gleichsam in Eins gebracht sind und durch ihre
Anwendung sichtbar gemacht werden. Wie in den Begebenheiten, so in den Ein­
sichten des menschlichen Geschlechts geschehen grosse Revolutionen niemals ohne 20

vorbereitet zu seyn; man würde sie gar nicht so nennen, wenn man auf die immer
fortgehende Reihe von Veränderungen aufmerksam wäre. Ohne den Personen, die
wir Erfinder nennen, ein höheres Talent und ein grösseres Genie abzusprechen, ist es
doch gewiss, dass diese Erfindungen für den, der den Zustand der Wissenschaft in
der Zeit, da sie geschehen, kennt, weit weniger Wunder sind, ihm weniger un­ 25
begreiflich scheinen, als für den Unwissenden, der sie als Erscheinungen ansieht, zu
19 Anwendung] Th: Anordnung (wahrscheinlich Lesefehler Thaulows) 24 Erfindungen] Th: Erfindung

Das Exzerpt stimmt bis auf die folgenden Abweichungen mit dem Original überein:
4 Oft ... nennt,] O: [123] Die letzte kleine Abhandlung, wie viel der Zufall bey Erfindungen, und wie
viel die Vernunft thue, enthält ebenfalls eine Idee, die für den Geschichtschreiber der Genies fruchtbar ist.
Oft ist das, was man Zufall nennt, 5 m anj O; man nur 6 den] fehlt in O 7 und] O: oder 14 Der
Gedankenstrich zeigt folgende Auslassung an: [123] Es giebt noch [124] eine Seite, von der sich diese Sache
betrachten ließe. 23 grösseres] O: größer 25 geschehen] O: geschahen
Exzerpt 19 [E R FIN D U N G U N D ZUFALL] 167

denen vorher kein Grund gelegt war. Eine Menge guter Köpfe hintereinander,
macht jeder irgend eine kleine Entdeckung, irgend eine Verbesserung in einer
Wissenschaft, giebt ihr eine neue Wendung. Man wird von allen diesen nicht viel
gewahr, so lange als der Erfolg davon noch immer bloss in den Grenzen dieser ein-
5 geschränkten Wissenschaft bleibt. Endlich kommt ein Geist, der alle diese Ent­
deckungen vor sich hat, und aus ihnen so zu sagen, die Summe zieht, und grade
glücklich zu der Zeit kommt, da eine Reihe von Erfindungen sich in einem wich­
tigen Punkt, an einem Scheidewege endigt, wo die Aussicht in viele Gegenden sich
auf einmal eröffnet. Er thut ebenfalls nur einen Schritt wie seine Vorgänger, aber er
io thut gerade den letzten; und weil er am Ziel anlangt, so bemerkt man ihn allein,
ohne zu bedenken, wie nahe er schon am Ziel war, da er ausging. - Im Menschen,
in der Natur, in der Seele ist alles Wachsthum, Entwickelung. Wir erkennen nur
immer das Aeusserste; die Mittelzustände, von welchem das eine zu dem andern
hindurch muss, bleiben für uns verborgen.

3 allen] O: allem 6 und aus] O: aus grade] O: nun grade 7 in] O: irgend in
168 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT Exzerpt 20

P h il o s o p h ie . P s y c h o l o g ie .

Von den Ursachen des Unterschieds der Menschen in Ansehung der Erkenntniss-
Kräfte, und von den Gründen der Neigungen, sonderlich denjenigen, die das Recht­
oder Uebelverhalten eines Menschen hauptsächlich bestimmen, vid. Feders neuen
Emil I. Buch V. u. VI. Cap.
3 Neigungen] Th: Neigung

Überschrift des 5. Kapitels: [46] Von den Ursachen des Unterschiedes der Menschen in Ansehung der
Erkenntnißfähigkeiten. Überschrift des 6. Kapitels: [82] Von den Gründen der Neigungen, sonderlich
derjenigen, die das Recht- oder Uebelverhalten eines Menschen hauptsächlich bestimmen.
Exzerpt 21 AU S DER G Y M N A SIA LZEIT 169

(Berl. Monatsschr. 1784. IX. St. 7. 1) Ueber die Frage: was heisst aufklären?
von Mos. Mendelssohn p. 193-200.)

Den 31. M ay 1787.

B ildung, C ultur und A ufklärung sind Modificationen des geselligen Lebens,


5 Wirkungen des Fleisses und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zu­
stand zu verbessern.
Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiss mit der Be­
stimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden, desto mehr Bildung hat
dieses Volk.
io Bildung zerfällt in Cultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Practische
zu gehen: auf Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken, Künsten und Gesellig­
keitssitten (objective); auf Fertigkeit, Fleiss und Geschicklichkeit in jenen, Nei­
gungen, Triebe und Gewohnheit in diesen (subjective). Je mehr diese bei einem
Volk der Bestimmung des Menschen entsprechen, desto mehr Cultur wird dem-
15 selben beigelegt. - Aufklärung hingegen scheint sich mehr auf das Theoretische zu
beziehen. Auf vernünftige Erkenntniss (objective) und Fertigkeit (subjective) zum
6 IX.] Th: 18.

[193] Die Worte A u fk lärun g , K u ltu r, B ildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge.
Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. Sollte dieses
ein Beweis sein, daß auch die Sache bei uns noch neu sei? Ich glaube nicht. Man sagt von einem gewissen
Volke, daß es kein bestimmtes W ort für T u gend , keines für A berglauben habe; ob man ihm gleich
ein nicht geringes Maaß von beiden mit Recht zuschreiben darf.
Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied
angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen. Bildung, Kul-
[194]tur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der
Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern.
Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen
in Harmonie gebracht worden; desto mehr B ild u n g hat dieses Volk.
Bildung zerfällt in K u ltu r und A ufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen:
auf Güte Feinheit und Schönheit in Handwerken Künsten und Geselligkeitssitten (objektive); auf Fertig­
keit, Fleiß und Geschiklichkeit in jenen, Neigungen Triebe und Gewohnheit in diesen (subjektive). Je mehr
diese bei einem Volke der Bestimmung des Menschen entsprechen, desto mehr Kultur wird demselben
beigelegt; so wie einem Grundstükke desto mehr Kultur und Anbau zugeschrieben wird, je mehr es durch
den Fleiß der Menschen in den Stand gesetzt worden, dem Menschen nützliche Dinge hervorzubringen. -
A ufklärung hingegen scheinet sich mehr auf das T h eoretische zu beziehen. Auf vernünftige Er-
kenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen
Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen.
170 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 21
vernünftigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maassgebung
ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen. Eine
Sprache erlangt Aufklärung durch die Wissenschaften, und erlanget Cultur durch
gesellschaftlichen Umgang, Poesie und Beredtsamkeit. Durch jene wird sie geschick­
ter zu theoretischem, durch diese zu praktischem Gebrauche. Beides zusammen 5
giebt einer Sprache die Bildung.
Cultur im Aeusserlichen heisst Politur. Heil der Nation, deren Politur Wirkung
der Cultur und Aufklärung ist; deren äusserliche Glanz und Geschliffenheit inner­
liche gediegene Aechtheit zum Grunde hat!
Aufklärung verhält sich zur Cultur, wie Theorie zur Praxis; wie Erkenntniss zur 10
Sittlichkeit; wie Critik zur Virtuosität. An und für sich betrachtet (objectiv) stehen
sie in dem genauesten Zusammenhänge; ob sie gleich subjective sehr oft getrennt
seyn können. Die Sprache eines Volks ist die beste Anzeige seiner Bildung, der Cul­
tur sowohl als der Aufklärung, der Ausdehnung sowohl als der Stärke nach.
Die Bestimmung des Menschen lässt sich auch eintheilen in 1) Bestimmung des 15
Menschen als Mensch, und 2) Bestimmung des Menschen als Bürger betrachtet.
In Ansehung der Cultur fallen diese Betrachtungen zusammen; indem alle prak­
tischen Vollkommenheiten bloss in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen
Werth haben, also einzig und allein der Bestimmung des Menschen als Mitgliedes
5 theoretischem] Th: theoretischen

Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und
[195] Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht ver­
lieren wollen.
Eine Sprache erlanget A u fk lärun g durch die Wissenschaften, und erlanget K u ltu r durch gesell­
schaftlichen Umgang, Poesie und Beredsamkeit. Durch jene wird sie geschikter zu theoretischem, durch
diese zu praktischem Gebrauche. Beides zusammen giebt einer Sprache die B ildung.
Kultur im äußerlichen heißt P o litu r. Heil der Nation, deren Politur Wirkung der Kultur und Auf­
klärung ist; deren äußerliche Glanz und Geschliffenheit innerliche, gediegene Aechtheit zum Grunde
hat!
Aufklärung verhält sich zur Kultur, wie überhaupt Theorie zur Praxis; wie Erkenntniß zur Sittlichkeit;
wie Kritik zur Virtuosität. An und für sich betrachtet, (objektive) stehen sie in dem genauesten Zusammen­
hänge; ob sie gleich subjektive sehr oft getrennt sein können.
Man kann sagen: die Nürnberger haben mehr Kultur, die Berliner mehr Aufklärung; die Franzosen
mehr Kultur, die Engländer mehr Aufklärung; die Sineser viel Kultur und wenig Aufklärung. Die Grie­
chen hatten beides, Kultur und Aufklärung. Sie waren eine g e b ild e te Nation, so wie ihre Sprache eine
g e b ild e te Sprache ist. - Ueberhaupt ist die Sprache eines Volks die beste Anzeige seiner [196] Bildung,
der Kultur sowohl als der Aufklärung, der Ausdehnung sowohl als der Stärke nach.
Ferner läßt sich die Bestimmung des Menschen eintheilen, in 1) Bestimmung des Menschen als M ensch,
und 2) Bestimmung des Menschen als B ürger betrachtet.
In Ansehung der Kultur fallen diese Betrachtungen zusammen; indem alle praktische Vollkommen­
heiten bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen Werth haben, also einzig und allein der
Exzerpt 21 [B IL D U N G , C U L T U R , A U FK LÄ R U N G ] 171

der Gesellschaft, entsprechen müssen. Der Mensch als Mensch bedarf keine Cultur;
aber er bedarf Aufklärung.
Stand und Beruf im bürgerlichen Leben bestimmen eines jeden Mitgliedes Pflich­
ten und Rechte, erfordern nach Maassgebung derselben andere Geschicklichkeit und
5 Fertigkeit, andere Neigungen, Triebe, Geselligkeitssitten und Gewohnheiten, eine
andere Cultur und Politur. Je mehr diese durch alle Stände mit ihrem Berufe über­
einstimmen, desto mehr Cultur hat die Nation.
Sie erfordern aber auch für jedes Individuum nach Maassgebung seines Standes
und Berufs andere theoretische Einsichten, und andere Fertigkeit, dieselben zu er-
io langen, einen andern Grad der Aufklärung. Die Aufklärung, die den Menschen als
Menschen interessirt, ist allgemein ohne Unterschied der Stände. Die Aufklärung des
Menschen als Bürger betrachtet modificirt sich nach Stand und Beruf. Die Bestim­
mung des Menschen setzt hier abermals seiner Bestrebung Maass und Ziel.
Diesem nach würde die Aufklärung einer Nation sich verhalten 1) wie die Masse
15 der Erkenntniss, 2) deren Wichtigkeit, d. i. Verhältniss zur Bestimmung a) des Men­
schen und b) des Bürgers, 3) deren Verbreitung durch alle Stände, 4) nach Maassgabe
ihres Berufs.
Menschen-Aufklärung kann mit Bürger-Aufklärung in Streit kommen. Gewisse
Wahrheiten, die dem Menschen als Menschen nützlich sind, können ihm als Bürger
20 zuweilen schaden. Hier ist Folgendes zu erwägen. Die Collision kann entstehen

5 Neigungen] Th: Meinungen

Bestimmung des Menschen, als Mitgliedes der Gesellschaft, entsprechen müssen. Der M ensch als
M ensch bedarf keiner K u ltu r: aber er bedarf A ufklärung.
Stand und Beruf im bürgerlichen Leben bestimmen eines jeden Mitgliedes Pflichten und Rechte,
erfordern nach Maaßgebung derselben andere Geschiklichkeit und Fertigkeit, andere Neigungen, Triebe,
Geselligkeitssitten und Gewohnheiten, eine andere K u ltu r und P o litu r. Je mehr diese durch alle Stände
mit ihrem Berufe, d. i. mit ihren respektiven Bestimmungen als Glieder der Gesellschaft übereinstimmen;
desto mehr Kultur hat die Nation.
Sie erfordern aber auch für jedes Individuum, nach Maaßgebung seines Standes und Berufs andere
theoretische E in sic h te n , und andere Fertigkeit dieselben zu erlangen, einen andern Grad der Aufklärung
Die A u fk lärun g , die den Menschen als Mensch interessirt, ist allgem ein ohne Unter-[197]schied
der Stände; die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet, modificirt sich nach Stand und Beruf.
Die Bestimmung des Menschen setzet hier abermals seiner Bestrebung Maaß und Ziel.
Diesem nach würde die Aufklärung einer Nation sich verhalten, 1) wie die Masse der Erkenntniß,
2) deren Wichtigkeit, d. i. Verhältniß zur Bestimmung a) des Menschen und b) des Bürgers, 3) deren
Verbreitung durch alle Stände, 4) nach Maaßgabe ihres Berufs; und also wäre der Grad der Volksaufklä­
rung nach einem wenigstens v ie rfa c h zusammengesetzten Verhältnisse zu bestimmen, dessen Glieder
zum Theile selbst wiederum aus einfachem Verhältnißgliedern zusammengesetzt sind.
Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem
Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden. Flier ist folgendes in
172 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 21

zwischen 1) wesentlichen oder 2) zufälligen Bestimmungen des Menschen mit


3) wesentlichen oder 4) mit ausserwesentlichen, zufälligen Bestimmungen des
Bürgers.
Ohne die wesentlichen Bestimmungen des Menschen sinkt der Mensch zum Vieh
herab; ohne die ausserwesentlichen ist er kein so gutes herrliches Geschöpf. Ohne die 5
wesentlichen Bestimmungen des Menschen [als Bürgers] hört die Staatsverfassung
auf zu seyn; ohne die ausserordentlichen bleibt sie in einigen Nebenverhältnissen
nicht mehr dieselbe. Unglücklich ist der Staat, der sich gestehen muss, dass in ihm
die wesentlichen Bestimmungen des Menschen mit den wesentlichen des Bürgers
nicht harmoniren, dass die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich 10

nicht über alle Stände ausbreiten könne, ohne dass die Verfassung in Gefahr sey,
zu Grunde zu gehen.
Aber wenn die ausserordentlichen Bestimmungen des Menschen mit den wesent­
lichen oder ausserwesentlichen des Bürgers in Streit kommen, so müssen Regeln
festgesetzt werden, nach welchen die Ausnahmen geschehen und die Collisionsfälle 15
entschieden werden sollen.
Wenn die wesentliche Bestimmung des Menschen unglücklicherweise mit seiner
ausserordentlichen Bestimmung selbst in Gegenstreit gebracht worden ist; wenn
man gewisse nützliche und den Menschen zierende Wahrheit nicht verbreiten darf,
ohne die ihm nun einmal beiwohnenden Grundsätze der Religion und Sittlichkeit 20

7 ausserordentlichen] Vgl. den editorischen Bericht.

Erwegung zu ziehen. Die Kollision kann entstehen zwischen 1) wesentlichen, oder 2) zufälligen Bestim­
mungen des Menschen, mit 3) wesentlichen, oder 4) mit außerwesentlichen zufälligen Bestimmungen
des Bürgers.
Ohne die wesentlichen Bestimmungen des Menschen sinkt der Mensch zum Vieh herab; ohne die
außerwesentlichen ist er kein so gutes herrliches Geschöpf. Ohne die wesentlichen Bestimmungen des
Menschen als Bürgers, hört die Staatsverfassung auf zu sein; ohne die außerwesentlichen bleibt [198] sie
in einigen Nebenverhältnissen nicht mehr dieselbe.
Unglükselig ist der Staat, der sich gestehen muß, daß in ihm die wesentliche Bestimmung des Men­
schen mit der wesentlichen des Bürgers nicht harmoniren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unent­
behrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne; ohne daß die Verfassung in Gefahr
sei, zu Grunde zu gehen. Hier lege die Philosophie die Hand auf den Mund! Die Nothwendigkeit mag
hier Gesetze vorschreiben, oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um
sie nieder zu beugen, und beständig unterm Drukke zu halten!
Aber wenn die außerwesentlichen Bestimmungen des Menschen mit den wesentlichen oder außer­
wesentlichen des Bürgers in Streit kommen; so müssen Regeln festgesetzt werden, nach welchen die Aus­
nahmen geschehen, und die Kollisionsfälle entschieden werden sollen.
Wenn die wesentlichen Bestimmungen des Menschen unglüklicherweise mit seinen außerwesentlichen
Bestimmungen selbst in Gegenstreit gebracht worden sind; wenn man gewisse nützliche und den Menschen
zierende Wahrheit nicht verbreiten darf, ohne die ihm nun einmal beiwohnenden Grundsätze der Reli-
Exzerpt 21 [B IL D U N G , C U L T U R , A U FK LÄ R U N G ] 173

niederzureissen; so wird der tugendliebende Aufklärer mit Vorsicht und Behutsam­


keit verfahren, und lieber das Vorurtheil dulden, als die mit ihm so fest verschlungene
Wahrheit zugleich mit vertreiben. Freilich ist diese Maxime von jeher Schutzwehr
der Heuchelei geworden, und wir haben ihr so manche Jahrhunderte von Barbarei
5 und Aberglauben zu verdanken. So oft man das Verbrechen greifen wollte, rettete
es sich ins Heiligthum. Allein demungeachtet wird der Menschenfreund in den
aufgeklärtesten Zeiten selbst noch immer auf diese Betrachtung Rücksicht nehmen
müssen. Schwer, aber nicht unmöglich ist es, die Grenzlinie zu finden, die auch hier
Gebrauch von Missbrauch scheidet.
io Je edler ein Ding in seiner Vollkommenheit, desto grässlicher in seiner Verwesung.
So auch mit Cultur und Aufklärung.
Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn,
Egoismus, Irreligion und Anarchie. Missbrauch der Cultur erzeugt Ueppigkeit,
Gleissnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei.
15 Wo Aufklärung und Cultur mit gleichen Schritten fortgehen, da sind sie sich
einander die besten Verwahrungsmittel wider die Corruption. Ihre Art zu ver­
derben ist sich einander schnurstracks entgegengesetzt.
Die Bildung einer Nation, welche nach obiger Worterklärung aus Cultur und
Aufklärung zusammengesetzt ist, wird also weit weniger [der] Corruption unter-

gion und Sittlichkeit niederzureißen; so wird der tugendliebende Aufklärer mit Vorsicht und Behutsam­
keit verfahren, und lieber das Vorurtheil dulden, [199] als die mit ihm so fest verschlungene Wahrheit
zugleich mit vertreiben. Freilich ist diese Maxime von je her Schutzwehr der Heuchelei geworden, und
wir haben ihr so manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglauben zu verdanken. So oft man das
Verbrechen greifen wollte, rettete es sich ins Heiligthum. Allein dem ungeachtet wird der Menschen­
freund, in den aufgeklärtesten Zeiten selbst noch immer auf diese Betrachtung Rüksicht nehmen müssen.
Schwer, aber nicht unmöglich ist es, die Grenzlinie zu finden, die auch hier Gebrauch von Misbrauch
scheidet. -
Je edler ein D ing in seiner V o llk o m m en h eit, sagt ein hebräischer Schriftsteller, desto
g räß lich er in seiner V erw esung. Ein verfaultes Holz ist so scheußlich nicht, als eine verwesete
Blume; diese nicht so ekelhaft, als ein verfaultes Thier; und dieses so gräßlich nicht, als der Mensch in
seiner Verwesung. So auch mit Kultur und Aufklärung. Je edler in ihrer Blüte: desto abscheulicher in
ihrer Verwesung und Verderbtheit.
Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu H artsin n , Egoism us,
Irre lig io n , und A narchie. Misbrauch der Kultur erzeuget U ep p ig k eit, G leißnerei, W eich lich ­
keit, A berglauben, und Sklaverei.
Wo Aufklärung und Kultur mit gleichen Schritten fortgehen; da sind sie sich einander die besten
Verwahrungsmittel wider die Korruption. Ihre [200] Art zu verderben ist sich einander schnurstraks
entgegengesetzt.
Die Bildung einer Nation, welche nach obiger Worterklärung aus Kultur und Aufklärung zusam­
mengesetzt ist, wird also weit weniger der Korruption unterworfen sein.
174 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 21
worfen seyn. Eine gebildete Nation kennt in sich keine andere Gefahr, als das Ueber-
maass ihrer Nationalglückseligkeit, welches, wie die vollkommenste Gesundheit des
menschlichen Körpers, schon an und für sich eine Krankheit, oder der Uebergang
zur Krankheit genannt werden kann. Eine Nation, die durch die Bildung auf den
höchsten Gipfel der Nationalglückseligkeit gekommen, ist eben dadurch in Gefahr 5
zu stürzen, weil sie nicht höher steigen kann.

Eine gebildete Nation kennet in sich keine andere Gefahr, als das U eberm aaß ihrer N atio n al-
g lü k se lig k e it; welches, wie die vollkommenste Gesundheit des menschlichen Körpers, schon an und
für sich eine Krankheit, oder der Uebergang zur Krankheit genennt werden kann. Eine Nation, die durch
die B ildung auf den höchsten Gipfel der Nationalglükseligkeit gekommen, ist eben dadurch in Ge­
fahr zu stürzen, weil sie nicht höher steigen kann. - Jedoch dieses führt zu weit ab von der vorliegenden
Frage!
E xzerpt 22 A U S D ER G Y M N A SIA LZ E IT 175

P h il o s o p h ie . P h il o s o p h is c h e G e s c h ic h t e .
U eber d en R u h m der A u fk lä r u n g alter L ä n d e r ,
P e r s ie n s , A e g y p t e n s .
(Berl. Monatsschr. Jul. 1787 von Eberhard über die heutige Magie S. 23.)

5 Aus dem Platon sowohl als aus dem Xenophon in der Cyropädie erhellet, dass in Alcibiad. 1,17.
der sokratischen Schule Persien als das Land gebraucht ward, wohin sie ihr Ideal der
E rziehungskunst zu verlegen pflegten. Dieser Roman scheint indess in den da­
maligen Zeiten alle nöthige Beglaubigung gehabt zu haben; und nichts ist natür­
licher. Man konnte gewiss damals alle idealischen Pläne eben so dreist nach Persien
io verlegen, als wir sie jetzt in das Land der Severamben verlegen. Ein jedes Land, das
so weit entfernt war, war das Utopien der Griechen. Ferner ein Land, dessen Cultur
älter als die griechische war, hatte ein Recht von ihnen als das Vaterland der Weisheit,
als der Wohnsitz aller Künste und Wissenschaften angesehen zu werden. Es ist natür­
lich, dass ein jeder die Künste dahin verlegte, die er für die grössten und schätzbarsten
15 hielt. Schon zu Homers Zeiten war Aegypten durch seine frühere Cultur das Vater­
land der Weisheit. Allein ein Volk, wie das griechische zu dieses alten Barden Zeiten,
kannte keine andere Weisheit als die Weisheit der Jongleurs, der Weisen eines jeden
noch halb wilden Volks. Noch jetzt heisst gelehrt seyn bei unserm gemeinen Volke,
etwas von verbotenen Künsten verstehen; indess bei dem Einfältigen unter den
20 Juden, der bei seinen Weisen alle ihre Weisheit sich im Auslegen erschöpfen sieht,

19 dem] Th: den

Die Marginalie stützt sich auf eine Darlegung, die in der Abhandlung einige Seiten vor Beginn des Exzerpts
steht: [20] Allein, wie ist das Vorurtheil von der m agischen W eisheit der persischen Weisen ent­
standen? ... Die Veranlassung zu dieser Benennung [sc. jener Weisheit als Magie] scheint mir in einer Stel­
le von P latons erstem Alcibiades [dazu die Fußnote: Nach Ihrer Ausgabe, Kap. 17: (es folgt ein griechisches
Zitat)] zu [21] liegen, wo zugleich, so viel ich habe nachforschen können, das W ort M agie zum erstenmale
vorkommt, und die nach einer wörtlichen Uebersetzung also lautet: »Wenn der Knabe zweimal sieben
Jahr alt geworden ist, so nehmen ihn diejenigen zu sich, welche sie (die Perser) königliche Erzieher nennen.
Dieses sind vier der ausgesuchtesten bejahrten Männer, die man für die besten hält; der eine der Weiseste,
der andere der Gerechteste, noch ein Anderer der Mäßigste, und noch ein Anderer der Tapferste. Einer
von diesen lehrt ihn die M agie des Z o ro asters des Sohns des O ro m azes; diese ist der D ienst der
G ötter. Er lehrt aber auch die königlichen Wissenschaften.«
In Hegels Auszug ist der Text des Originals wörtlich wiedergegeben mit folgenden Ausnahmen:
7 pflegten.] In O folgen Ausführungen darüber, daß die behandelte Platonstelle im Grunde nur griechische
Philosophie im persischen Gewände sein solle. Der Gedankengang schließt: [23] Die ganze Stelle des Platon
enthält also nichts, als den gewöhnlichen Roman der [24] sokratischen Schule von der Vortreflichkeit der
persischen Pädagogik.
176 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT E xzerpt 22
alle Gelehrsamkeit in Darschen d. i. in Auslegen besteht. In diesem Geiste machte
Homer seine Zauberer zu Aegyptern. Odyss. IV. v. 227. Ebenso konnten Platon
und Xenophon ihre philosophischen Ideale nach Persien verlegen, dessen alte Cultur
und Weisheit sie, wie seine Orden von Weisen, nach ihrem eigenen Ideal von
Cultur und Weisheit bildeten. 5
Nun lässt sich auch begreifen, wie die neuplatonischen Philosophen eben dieses
Land zu dem Vaterlande ihres schwärmerischen Aberglaubens machen konnten:
da es Platon für den Sitz des Unterrichts in dem Dienst der Götter erklärt hatte, und
dieser Dienst der Götter die theurgischen Operationen waren, die den höchsten
Gipfel ihrer Weisheit ausmachten. io
2 v.] Th: V 5 Cultur und Weisheit] Th: Cultur-Weisheit

1 machte] O: macht 2 ... Aegyptern.] Hierzu in O die Fußnote: Hom. Odyss. IV. v. 227. (es
folgen zwei griechische Verse) 4 wie] O: so wie 6 Nun lässt sich auch begreifen] O (ohne Absatz):
- Aber nun auch eben so gut läßt es sich begreifen
Exzerpt 23 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT 177

(Nicolai’s Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz. V. Bd.
1785. XIV. Abschn. p. 205 ff.)

Den 16. Aug. 1787.

C ultur und A ufklärung sind beide mächtige Triebfedern zum Wohlstand


5 einer Nation; beide müssen [vereint] wirken, beide müssen im gehörigen Verhält­
nisse untereinander, im gehörigen Verhältnisse mit der jedesmaligen Masse der
Thätigkeit und der Denkungsart einer Nation wirken; widrigenfalls wird ihre Wir­
kung weder sicher noch dauerhaft seyn. Cultur bezieht sich auf die ganze Masse der
Thätigkeit einer Nation. Künste, Handwerke, Fertigkeiten, Sitten, gesellschaftliche
io Bemühungen, bestimmen den Grad der Cultur, und das Aeusserliche an allen diesen
den Grad der Politur einer Nation. Es kann Cultur ohne Politur, Politur ohne Cul­
tur und beide in sehr ungleichem Verhältnisse geben. Hingegen Nachdenken über
alle Gegenstände des menschlichen Lebens, insofern sie Einfluss auf das Wohl eines
jeden Individuum und auf das allgemeine Wohl haben; verbreitete Penetration,
15 dieses schnell anschauend zu erkennen, zeigt den Grad der Aufklärung einer Nation.
Alles diess kann tausendfach modificirt seyn, muss aber im richtigen Verhältnisse
stehen, sonst wird der Erfolg schlecht seyn. Will man mehr penetriren, als man zu
penetriren vermögend ist, so wird nicht Aufklärung, sondern Dünkel die Folge seyn.
Ohne weitverbreitetes Nachdenken kann Aufklärung nicht da seyn, wohl aber
20 Politur. Diese kann eine Nation in gewisser Absicht von aussen empfangen. Cultur
selbst muss billig bis in das innerste Bestandtheil verbreitet seyn, muss aus innern
Kräften herauf gearbeitet werden. Hat aber eine Nation Politur, ehe sie Cultur hat,
so wird man mehr Schein als Wirklichkeit erlangen. Eben so ists bei einzelnen Men-
1 V.] Th: VI. 7 widrigenfalls] Th: widrigenfalls 9 Künste] Th: Künstler 12 ungleichem] Th:
unglücklichem

Das Exzerpt stimmt bis auf diefolgenden Abweichungen wörtlich mit dem Original überein:
4 Cultur ... beide] O: [205] K u ltu r und A u fk lärun g sind Wörter, die so oft gebraucht werden, ohne
daß die Begriffe gehörig bestimmt sind; ja die meisten brauchen sie, ohne überhaupt etwas richtiges dabey
zu denken. Beide sind 7 Denkungsart] O: Denkungskraft 10 Bemühungen,] danach in O: gesell­
schaftliche Vergnügungen, 14 verbreitete] O: die allgemein verbreitete 16 richtigen] O: richtigsten
21 das innerste Bestandtheil] O: die innersten Bestandtheile 23 erlangen.] Hier folgt in O eine Fußnote,
die auf den Aufsatz von Moses Mendelssohn über Aufklärung und Kultur verweist (vgl. den editorischen
Bericht).
178 A U S D ER G Y M N A SIA LZ E IT E xzerpt 23
sehen. Die Natur geht Schritt vor Schritt, hat keine Wirkung ohne Ursachen, und
in ihr wird jede Wirkung nothwendig wieder zu einer neuen Ursache, die wieder
Wirkung hervorbringt; und so geht sie beständig fort. Die Einbildungskraft springt,
schafft nach Belieben, will Wirkungen haben, ehe die Ursachen da sind, sieht nichts,
wie es ist, sondern wie sie es gern haben wollte, will’s noch besser haben, wird un- 5
gehalten, wenn es nicht von andern so gefunden wird, und stellt sich vor, es wäre
doch so. Unterdessen geht die Natur ihren Weg, und bringt nicht mehr Wirkungen
hervor, als Ursachen vorhanden sind.
4 Wirkungen] Th: Wirkung

5 wie es ist, sondern] O: so wie es ist, sondern so


Exzerpt 24 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT 179

(Nicolai’s Reisen. IV. Band. XII. Abschn. p. 923.)

D en 23. Aug. 1787.

Wohlthätige Verbesserungen betreffend die Cultur einer Nation, und die Auf­
klärung in Gelehrsamkeit und Religion, wenn man ihnen einen dauerhaften Einfluss
5 versprechen soll, werden am sichersten aus der mittlern Classe des Volks entstehen,
wenn diese für die nöthigsten Bedürfnisse des Körpers zu sorgen nicht nöthig hat,
und so vorbereitet ist, dass sie nachdenken und thätig seyn will und kann. Sie in
diesen Zustand zu bringen, ist die höchste Kunst eines Regenten, und befördert das
Wohl einer Nation gewiss mehr, als alle directe Verordnungen und Befehle. Aus der
io mittlern Classe werden sich Cultur und Aufklärung sehr bald in den untern Classen
des Volks ausbreiten, wenn deren Geist nicht durch Armuth, Aberglauben, Faulheit
und stumpfe Sinnlichkeit niedergedrückt ist; und sie werden sich von da aus in den
hohem Ständen verbreiten, wenn diese nicht durch Reichthum, Stolz, Aberglauben,
Faulheit und verfeinerte Sinnlichkeit, für das, was der Menschheit wichtig ist, un-
15 empfindlich geworden sind. Ist diess wahr, so wie es die Geschichte allenthalben
bestätigt, so ist auch offenbar, dass sowohl Cultur als Aufklärung nicht nothwendig
in einer Residenzstadt zuerst aufkeimen, am wenigsten aber vom Hofe aus ein geführt
werden müssen.
1 IV.] Th: V. 9 Verordnungen] Th: Verordnung

Das Exzerpt stimmt bis auf den Anfang und einzelne Wörter mit dem Original überein.
3-5 Wohlthätige ... versprechen soll] O: [923] Aber Gott behüte, daß Männer, die nicht Hofschranzen
sind, den Monarchen ferner einbilden wollten, alles, und besonders die Kultur einer Nation und die Auf­
klärung in Gelehrsamkeit und Religion, müsse allein von ihnen herkommen! Diese wohlthätigen Ver­
besserungen, wenn man ihnen einen dauerhaften Einfluß versprechen soll 9 Wohl] O: dauerhafte
Wohl 10 den] O: die 12-13 in den höhern Ständen] O: auch in die höhern Stände 13 Reichthum,
Stolz] O: Stolz, Reichthum 15 geworden] O: worden
180 A U S DER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 25

P h il o s o p h ie . P h il o s . G e s c h ic h t e .
M y t h e n in d e r P h il o s o p h ie u n d R e l ig io n .
28. Sept. 1787.
(Berl. Monatsschr. Jul. 1787. S. 14.)

Ein M ythos ist eine Dichtung, welche die Beglaubigung einer übernatürlichen 5
Belehrung oder einer alten Ueberlieferung hat, und welche als eine ausgemachte
Wahrheit angenommen wird, weil die richtige Vernunfterkenntniss des Gegen­
standes über den Gesichtskreis der Vernunft und der Erfahrung derjenigen erhaben
ist, die diese Mythen annehmen. Ein ganzes System solcher Mythen über die Religion
ist die M ythologie; und es ist sehr natürlich, dass die Philosophie und Religion io
einer jeden Nation anfänglich Mythologie ist. Denn die sinnliche Gewissheit muss bei
ganzen Völkern so gut, als bei den einzelnen Menschen vor der vernünftigen vorher­
gehen, weil in dem endlichen Verstände das Vollkommnere erst auf das Unvoll-
kommnere folgen kann.

Das Exzerpt stimmt fast vollständig mit dem Original überein. Einzige Abweichungen:
5 ist] O: ist also 12 den] O: dem
E xzerpt 26 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 181

(Allg. Liter. Zeitg. Jan. 1788. No. 1. aus: Zöllner’s Lesebuch für alle Stände
VIII. Th. 1787.)
Den 1. Febr. 1788.

Nicht die Bestreitung des Vorurtheils macht den aufgeklärten M ann, und
5 noch weniger das Verschreien der Wahrheit unter dem Namen des Vorurtheils.
Wenn jemand den unpartheiischen Forscher nachspricht, und irgend eine Meinung
für abgeschmackt oder für unerweislich ausgiebt, weil jener sie dafür erklärt hat,
wird er da nicht selbst durch Vorurtheil geleitet? Und wenn ein anderer erst die
ungefärbte Wahrheit durch den Namen des Voiurtheils herabsetzt, und dann gegen
io sie in’s Feld zieht, giebt er nicht zu erkennen, dass er sich selbst durch Vorurtheil
beherrschen lasse? Nicht darum ist jemand aufgeklärt, weil er diesen oder jenen Satz
behauptet, oder leugnet, sondern weil er so viel Hochachtung und Sinn für die
Wahrheit, so viel Entschlossenheit und Festigkeit hat, dass er mit männlichem Ernste
prüft, und sich weder durch Tadel noch Lob, weder durch Geschrei noch Hohn-
15 gelächter abhalten lässt, kaltblütig zu untersuchen, warum er etwas behauptet oder
leugnet.

Das Exzerpt stimmt fast vollständig mit dem Original überein. Einzige Abweichungen:
4 Vorurtheils] in O folgt: , sagt Hr. Z. am Ende, 6 den] O: dem 10 Vorurtheil] O: Vorurtheile
182 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 27

(Allg. Litter. Zeitung. Febr. 1788. N. 41b. S. 446. aus J. H. Kistenmaker’s Prof. Philolog.
de origine ac vi Deponentium et Mediorum Graecae linguae praesertim Latinae.
Münster 1787.)

Den 18. M ärz 1788.

Die Reciprokenformen der Zeitwörter haben eine aus Thun und Leiden gemischte 5
Bedeutung, und es giebt zwei Arten, wo unsere Handlungen auf uns selbst gehen,
einmal, wenn dieselben eine Veränderung in uns hervorbringen, so dass wir thuendes
Subject und leidendes Object zugleich sind, [und dann,] wenn eine unserer Hand­
lungen zu unserem Vortheil oder Schaden ausschlägt. Die lateinische und andere
Sprachen bezeichnen das Zurückwirkende gewöhnlich durch personelle Vorwörter, 10
die Griechen fassten den Unterschied genauer und hatten eine eigene Conjugations-
form (Medium), von der das Nöthige beigebracht ist. Etwas dem ähnliches haben
zwar auch die Lateiner in ihren Deponentibus, aber sie lassen sich doch in den
wenigsten Fällen mit den verbis mediis der Griechen vergleichen, fliessen vielmehr
aus einer allgemeinen Quelle, nämlich aus der natürlichen Sagacität der Seele, die 15
Verschiedenheit der Handlungen und Veränderungen in und an uns zu bemerken,
und auf dieselbe eine verschiedene Wörterbildung zu gründen; diese Sagacität lässt
sich aus der Analogie mehrerer Sprachen beweisen. Die lat. Depon. kann man auf
folgende Quelle zurückleiten. 1) In unsern Empfindungen, zumal wenn sie heftig
sind und schnell entstehen, ist immer etwas Thätiges und Leidendes; jenes, weil 20

unsere Seele in handelnder Bewegung ist, dieses, weil die Gemüthsbewegung so


gewaltig auf uns eindringt, dass wir uns leidend zu verhalten scheinen. Daher haben
die Griechen und Lateiner diese Wörter in passiver Form und in activer Bedeutung
und Construction gebraucht, z. B. laetor, miror. 2) Wenn wir etwas nicht ganz
einsehen, nicht mit gehöriger Aufmerksamkeit oder Bestimmtheit über eine Sache 25

1 41 b] Th: 416

Der Wortlaut des Exzerpts weicht an folgenden Stellen ab vom Original:


5-6 Die ... Arten] O: Nach genauer Bestimmung der activen, passiven und reciproken Formen der
Zeitwörter bemerkt der Verf., daß die letztem eine aus Thun und Leiden gemischte Bedeutung haben,
und daß es zwey Arten gebe 15 allgemeinen] O: allgemeineren der] O: unserer 17-18 diese ... be­
weisen.] O: eine Sagacität, die aus der Analogie der deutschen, französischen, italiänischen und englischen
Sprache erläutert wird. 18-19 Die ... zurückleiten.] O: Von diesem Grundsätze geleitet führt Hr. K.
die lateinischen Deponentia auf folgende Quellen zurück: 19 unsern Empfindungen] O: unsern innern
Empfindungen, sagt er, 20 Leidendes] O: etwas Leidendes 22 eindringt] O: andringt 24 laetor,
miror] O: 7)8opoa, laetor, ayapaL, miror u.s.w.
Exzerpt 27 [r e c i p r o k e n f o r m en der Ze it w ö rter] 183

u rth eilen , so ist das k e in e e ig e n tlic h e v o lls tä n d ig e H a n d lu n g , v ie lm e h r ein M itte ld in g


z w is c h e n T h u n u n d L eid en , z. E. suspicari, o p in a ri, o b liv isc i. 3) U e b e r h a u p t alle
H a n d lu n g e n , die m it w e n ig e r U e b e r le g u n g o d e r A u fm e r k s a m k e it, h in g e g e n m it
desto m e h r H itz e , U e b e r e ilu n g u n d S c h n e llig k e it gesch eh en , w e r d e n g e m e in ig lic h
5 als D e p o n . g e fu n d e n , w e s w e g e n sie o ft in R ü c k s ic h t a u f H e ftig k e it o d er m in d ere
A n s tr e n g u n g von g le ic h b e d e u te n d e n A c tiv is v e rsch ie d e n sind, z. B . lacrim a ri,
re ic h lic h w e in e n , la rg iri, re ich lich g e b e n , n an cisci, v o n u n g e fä h r erla n g en . 4 ) g e h ö re n
d ah in solch e, d ie eine H a n d lu n g a n ze ig e n , b e i d er w ir n ic h t s o w o h l fr e iw illig , als
v ie lm e h r u n ter L e itu n g u n d A n tr ie b eines A n d e r n th ä tig sind, z. B . sequi, assentiri.
io 5) aus p e rsö n lich e n N o m in ib u s g e b ild e te , die ein igerm aassen den B e g r i f f der N a c h ­
a h m u n g in sich fassen, z. B . rusticari, i. e. ru stic u m agere, v a ticin ari, latro cin ari.
6 ) ein ig e R e c ip ro c a , z. B . p ig n e ro r, ich n e h m e m ir ein P fa n d , p ig n e ro , ich g e b e eines.
Z u diesen R e cip ro cis g e h ö re n a u ch d ie V e r b a , in d en en die Idee des G e g e n se itig e n
h e g t, rixari, altercari; a m p le cti, osculari, p acisci.
15 W e g e n d er S c h w ie r ig k e ite n m uss m a n die erste u n d älteste B e d e u tu n g der W ö r t e r
so v ie l als m ö g lic h au fspü ren , n ach u n d n a ch sind v ie le d erselb en v e r lo re n g e g a n g e n
o d er in eine v e r w a n d te ü b e r g e g a n g e n , aus in tra n sitiv e n tra n sitiv g e w o r d e n ; die
ersten E rfin d e r d er W ö r t e r sind ü b e rh a u p t o ft n u r v o n d u n k e ln B e g r iffe n g e le ite t
w o r d e n , die w ir je t z t u n m ö g lic h m e h r a n g e b e n k ö n n e n ; au ch d arf m a n b ei k ein er
20 S p rach e eine u n v e rä n d e rlich e sich ü b era ll g le ic h b le ib e n d e N o r m e rw a rten .

16 aufspüren] Th: aufführen

5 oft] O: auch oft 7 reichlich weinen] O: sehr weinen erlangen] O: erhalten 12 pigneror,] O:
pigneror heißt
15 Von hier ab lautet O: [446] Perizonius habe die mehresten Deponentia auf den Begriff des Reciproci
allein zurückzuleiten gesucht, aber sich dadurch zu enge Grenzen gesetzt, die Sache nicht erschöpft, und
sich in Schwierigkeiten verwickelt gefunden, die er durch Interpretation zu heben nicht vermochte. -
Diese Schwierigkeiten, glaubt nun unser Verf., würden bey seiner mehr umfassenden Erklärungsart
nicht so sehr statt finden. Ob alle Deponentia sich unter die angegebenen Rubriken möchten bringen
lassen, ließe sich nur durch Induction ausmachen, zu der wir hier keinen Raum haben. Doch der Verf.
besitzt selbst das bescheidenste Gefühl einiger Schwierigkeiten, denen auch seine Erklärungsart noch aus­
gesetzt seyn könnte, und giebt deshalb den Rath, daß man die erste und älteste Bedeutung der W ör­
ter, so viel möglich, aufspüren soll; - nach und nach wären viele derselben verloren, oder in eine ver­
wandte übergegangen, wären aus intransitiven transitiv geworden, - die ersten Erfinder der Wörter
wären überhaupt oft nur von dunkeln Begriffen geleitet worden, die wir jetzt unmöglich mehr angeben
könnten; - man dürfe bey keiner Sprache eine unveränderliche, sich überall gleich bleibende Norm er­
warten. - Die Beweise für dies alles müssen wir dem Liebhaber der Sprachphilosophie selbst nachzulesen
überlassen, können aber demselben im Voraus das Vergnügen versprechen, an H. K. einen Denker zu
finden, der seinen Hypothesen wenigstens den Grad von Wahrscheinlichkeit zu geben wußte, dessen sie
fähig waren, und Rec. müßte sich sehr irren, wenn nicht besonders auch das, was beyläufig S. 33 über den
Infmitivus historicus gesagt ist, Beyfall finden sollte.
184 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 28

P h il o s o p h ie . U eb er F r e ih e it .
Den 31. Juli 1788.
(Allg. Lit. Zeitg. April 1788. No. 100 Recension der Schrift: Eleutheriologie,
oder über Freiheit und Nothwendigkeit vonj. A. Ulrich. Jena 1788.)

Der Unterschied des Physischen und des Moralischen am Menschen, insofern er 5


einerseits, als Unterthan der Natur, den unabänderlichen Einfluss ihrer Ursachen
fühlt, und nach ihren bestimmten Gesetzen alle Handlungen vorher zu berechnen
und hinterher zu erklären, durch seinen Verstand selbst angewiesen ist, und anderer­
seits als Gebieter über die Natur, sich eine von ihr unabhängige Selbstthätigkeit
zutraut, und sich eigne Gesetze giebt, nach welchen, trotz allem fremden Einflüsse, 10

die künftigen Handlungen einzurichten, er für ein unerlässliches Gebot erkennt, und
die vergangenen, laut Aussprüchen eines Richters in seinem Innern, unerbittlich
billigt oder verdammt: dieser Unterschied ist der gemeinsten Vernunft geläufig; und
freilich sie müsste, welches sie weder kann noch darf, sie müsste aufhören, das, was
ist und geschieht, von dem, was seyn und geschehen soll, zu unterscheiden, wenn sie 15
denselben verkennen oder bezweifeln wollte. Hingegen der Zusammenhang dieses
Physischen und Moralischen im Menschen, insofern er eben dieselben Handlungen,
nicht nur nach Verhältnissen der bestimmten Naturnothwendigkeit, sondern auch
in Beziehung auf eine unbedingte Selbstthätigkeit, und zwar beides zusammen,
gedenken soll, überschreitet alle Fassung seines Geistes, der je nachdem er es ver­ 20

sucht, diese Handlungen, entweder gemäss dem Bedürfnisse des Verstandes, als
durch Natur bestimmt, oder, gemäss dem Erfordernisse der Moralität, als durch
Freiheit hervorgebracht, anzunehmen, bald einsiehet, dass er im ersteren Fall das
Wesen der Sittlichkeit, und im andern den Gebrauch des Verstandes aufgeben
müsse, und sonach, da keines von beiden sich aufgeben lässt, gewahr wird, dass hier 25
ein Geheimniss vor ihm liege. Was bleibt nun in Absicht dieses Geheimnisses für das
Nachdenken übrig ? Nichts, als zuerst den wesentlichen Unterschied des Natürlichen
und Sittlichen in das hellste Licht, und gegen alle Zweifel und Einsprüche des sich
dawidersträubenden Vorwitzes in völlige Gewissheit und Sicherheit zu setzen und
alsdann durch kritische Erforschung unsers gesammten Erkenntnissvermögens 30
befriedigenden Aufschluss darüber zu suchen, warum der Zusammenhang jener bei­
den Verknüpfungen unbegreiflich sey, und (obschon sich nicht ergründen lässt, auf
welche Weise Natur und Freiheit im Menschen Zusammenhängen) inwiefern den-

Das Exzerpt stimmt bis auf eine Anzahl von Auslassungen und einzelne Umformungen mit dem Original
überein.
Exzerpt 28 U EBER FREIHEIT 185

noch sich ohne Widerspruch gedenken lasse, dass beide wirklich in ihm vereinigt
statthaben. Das scheint allerdings sehr wenig zu seyn, und ist freilich auch weniger,
als lüsterne Wissbegierde verlangt, ob zwar wohl so viel, als die Zwecke des Lebens
nur immer erfordern mögen. Wenn nun aber vollends bei den Untersuchungen, die
5 uns jenen Aufschluss gewährten, es sich offenbarte und auswiese, dass eben durch die
Begränzung ihres Wissens, die Vernunft, die sonst in ihren Speculationen über das
Theoretische und Praktische mit sich selbst zerfällt, in Absicht auf beides zur voll­
kommensten Harmonie gelangte, und eben durch die Erörterung seines Unver­
mögens, Natur und Sittlichkeit mit einander zu paaren, unser Geist die erfreulichsten
io Blicke in eine von der Sinnenwelt unterschiedene Verstandeswelt, und die erwünsch­
testen Aussichten über seine Bestimmung und Würde gewönne; so wäre es in der
That Kurzsichtigkeit, wenn man über die Begränzung unsers Wissens und über das
Unvermögen unsers Geistes Klage erheben, und Unverstand, wenn man sich
weigern wollte, zu gestehen, was gleichwohl unleugbar ist, dass nämlich das wichtig-
15 ste und anziehendste aller Probleme der Vernunft für uns hienieden unauflöslich sey.
Indessen mag man diess Alles noch so klar zeigen, so wird man darum nicht weniger
von Zeit zu Zeit noch immer Versuche, das Problem zu lösen, zum Vorschein
kommen sehen; denn so ist es nun einmal mit dem Menschen bewandt, dass er in
Sachen des Nachdenkens zu Allem eher als zur Erkenntniss seiner Unwissenheit
20 gelangt; der Verfasser der gegenwärtigen Schrift bemüht sich darin das System der
durchgängigen Naturnothwendigkeit aller menschlichen Kraftäusserungen unter
dem Namen des Determinismus, als das einzig Richtige darzustellen, und in Absicht
der Sittlichkeit nicht nur als mit ihr verträglich zu erklären, sondern auch als ihr
förderlich anzupreisen. Neue auch nur Wendungen und Methoden, geschweige
25 Gründe und Beweise hierüber verlangen, hiesse den Gegenstand der Bearbeitung,
an welchem seit Jahrtausenden der menschliche Geist sich versuch t und erschöpft hat,
misskennen. So wie daher einerseits, was die Richtigkeit dieser Lehre selbst betrifft,
alles wie gewöhnlich darauf hinausläuft, dass, was nur irgend durch den äussern oder
24 geschweige] Th: gehörige (möglicherweise Lesefehler)

18-20 dass er ... der gegenwärtigen Schrift] O: [178] daß er in Sachen des Nachdenkens vornemlich
über dunkele, und eben darum reizende Gegenstände, zu allem eher, als zur Erkenntniß seiner Unwissenheit
gelangt, und zu allem [179] leichter, als zum Geständnisse seiner Unfähigkeit sich überwindet; und so muß
es wohl seyn, da dergleichen Versuche nicht etwa, wie ähnliche, welche überschwängliche Erfindungen
in der Mathematik betreffen, von Anfängern und Stümpern in der Wissenschaft, sondern oftmals von
Männern herrühren, deren Einsichten und Kenntnisse kaum argwöhnen lassen, daß sie, welches gleichwohl
immer der Fall ist, den eigentlichen Fragepunkt der Aufgabe mißverstehen, oder eine Bemäntelung der
Schwierigkeiten für eine wirkliche Auflösung derselben verkennen würden; wovon auf alle Weise die
gegenwärtige Schrift einen Beleg abgiebt. Der eben so scharfsinnige als gelehrte Verfasser derselben
186 A U S D ER G YM N A SIA LZEIT Exzerpt 28

innern Sinn sich wahrnehmen lässt, insofern es durch den Verstand begriffen werden
soll, auch dem Erfordernisse des Verstandes gemäss mit Ausschliessung des Ohn-
gefährs nothwendige Bestimmung haben, und sonach der Mensch als Naturwesen
auch unter Naturgesetzen stehen müsse (ein Satz, der allerdings unwiderleglich ist,
aber nur noch immer den Fragepunct zurücklässt, ob denn der Mensch durchaus 5
nur als Naturwesen anzusehen sey?) so läuft andererseits über das Verhältniss der
physischen Nothwendigkcit zur Moralität alles wiederum auf einen Fatalismus
hinaus, der den ächten Begriffen von Verpflichtung und Zurechnung weiter keinen
Bestand lässt. -
Da das Sollen ein Können, mithin das von allem, was wirklich geschieht, [un­ 10

abhängige Sollen, ein ebenmäßig von allem, was wirklich geschieht,] unabhängiges
Können, oder sittliche Verbindlichkeit ursprüngliche Selbstthätigkeit voraussetzt,
die nun eigentlich dasjenige ist, was man unter Freiheit zu denken hat, und doch nicht
zu begreifen weiss: so sucht der Verfasser, um dieser Unbegreiflichkeit auszuweichen,
umgekehrt einen Ucbcrgang von dem Können zu dem Sollen zu finden. Nun giebt 15
es allerdings ein Können, das auch wohl Freiheit heisst, und doch ganz verständlich
ist; so fern nämlich der Mensch nicht wie die Maschine durch Stoss oder wie das
Thier durch Gefühl, sondern durch Gedanken wirksam ist; und sofern alle Gedanken,
die dem Menschen vermittelst des innern Sinnes, nur irgend gegenwärtig werden,
und zur Wahrnehmung sich anbieten mögen, in Rücksicht ihres Entstehens, Aus­ 20

bleibens, Wiederkommens, der Zunahme und Abnahme ihrer Klarheit, Lebhaftig­


keit und Wirksamkeit, kurz in Rücksicht ihrer Erscheinung und Abwechselung
ebensowohl wie alle andere Phänomene der Sinncnwclt sich müssen begreifen und
erklären lassen. Und hievon geht der Verfasser aus, wenn er die Freiheit unter
anderen (S. 59.) durch die Verbesserlichkeit unserer praktischen Erkenntniss erklärt, 25
und bei dem Aufzählcn der Ursachen, wovon die Erwerbung und Entwickelung der

7 zur] O: zu der wiederum auf] O: wiederum, und, gewisse logische Förmlichkeiten abgerechnet,
namentlich fast ganz so, wie in dem bekannten Versuche einer Sittenlehre für alle Menschen, auf 9 Der
Gedankenstrich steht für folgende Auslassung: [179] Das wird keinen Sachkundigen befremden; aber was uns
denn doch befremdet hat, ist theils die Insinuation des Vf. S. 8. »sich keine Zurückhaltung und absichtlich
klügelnde Zwcydcutigkcit oder Unbestimmtheit erlaubt zu haben«; theils die Zuversicht, womit er in der
an die Lieblinge seiner Seele, das heißt, seine werthesten Zuhörer, gerichteten Dedication »nichts mehr
wünscht, als daß sie in dieser seiner Lehre alle die Beruhigung und Zufriedenheit finden möchten, die er
selbst davon erfahren habe, und sie auffodert, durch ihr Beyspiel zu zeigen, daß richtig, (zu verstehen, so
wie er hier dargcstcllt [180] ist,) gefaßter Determinismus die Sittlichkeit nicht aufhebe, sondern stütze.« In
dcrThat macht beides, verglichen mit dem Vortrage und Inhalt der Schrift, mit einander zum Theil einen
wunderlichen Contrast, und cs wird gewiß wohlgcthan seyn, diesen durch folgende Beleuchtung des Haupt­
gedankens für den Leser in näheren Augenschein zu setzen. 10 Da] O: Da nemlich 24 Und ... aus]
O: Und das ist es auch, wovon der Vf. ausgeht
Exzerpt 28 U EBER FREIHEIT 187

praktischen Erkenntniss abhange, z. E. [theils] der Gelegenheit des Unterrichts, der


Erfahrung, theils des vorsätzlichen Nachdenkens u.s.w. in Absicht des letztem frei-
müthig überall (besonders S. 62) hinzufügt: dass alles dies Vorsätzliche selbst wieder
von tausenderlei Umständen abhange, die in der gesammten Verknüpfung (der
5 physischen Ursachen) liegen. Diess Geständniss erheischt freilich sein System durch­
aus, indem alles Psychologische in Absicht der Erklärbarkeit als Gegenstand der
Wahrnehmung sich an die Reihe des Mechanischen, Chemischen, Organischen
anschliesst, und damit als eben so viel besondere Nebenarten, die Hauptgattung des
Physischen bildet. Aber nun der Uebergang von dieser Namenfreiheit, die nichts als
io Naturnothwendigkeit ist, zu der davon abgeschnittenen Moralität; oder von diesem
abhängigen Können zu dem absoluten Sollen? - Ja (statt den zu zeigen, worauf doch
alles ankam), klagt der Verfasser Seite 17, der Begriff des absoluten Sollens (der frei­
lich der eigentliche Plagegeist für den empirischen Moralisten ist) sey einer der
schwersten in der ganzen Moral, dessen Untersuchung er sich auf eine andere Zeit
15 Vorbehalte, vergleiche S. 38, feilscht und dingt die Richtigkeit seiner Lehre wenig­
stens auf Halbscheid in Absicht des Zukünftigen, wenn gleich nicht in Absicht des
Vergangenen zu retten, bis am Ende die Wahrheitsliebe ihm noch die naive Frage
ablockt: was wäre es denn nun, wenn alles Sittliche sich zuletzt auf etwas Physisches
zurückbringen liesse? - Was es denn wäre? - Nun wohl weiter nichts, als dass es
20 denn zuletzt gar nichts Sittliches gäbe, und mit dem Unterschiede des Physischen
und Moralischen zugleich der Unterschied dessen, was ist oder geschieht und dessen,
was seyn oder geschehen soll, verschwände. Doch der Verfasser thut auch Anträge
auf Halbscheid: »Der Mensch soll (S. 63) anders und besser werden; auch kann er
es werden; nur kein Mensch kann schon jetzt anders oder besser seyn, als er ist.«
25 Also nur schon jetzt und bis jetzt nicht.
Wie aber, wenn aus dem fortfliessenden Jetzt das Immer entstände, wie aus dem
fortfliessenden Punct die Linie entsteht, und von jeder Stelle der zukünftigen und
vergangenen Zeit das Jetzt eben so gälte, wie von jeder Stelle der Linie, hinauf und
23 »Der] Th: Der

2 Nachdenkens u.s.w.] O: Nachdenkens, der vorsätzlichen Aufmerksamkeit, Uebung u.s.w. 10 da­


von] O: davon ganz 11 Ja] davor in O: Der Uebergang? doch] O: doch eben 15 vergleiche S. 38]
O: [181] bittet S. 38. seine Zuhörer, »sich an dasjenige zu erinnern, was sie in den moralischen Vorlesun­
gen bey der mühsamen Entwickelung der Idee von Pflicht über das absolute Sollen gehört haben« und
wovon leider der Leser nichts weiß; 17 noch] O: noch, unter den Verbesserungen und Zusätzen auf
der vorletzten Seite, 22 verschwände. Doch der Verfasser thut auch] O: verschwände. Das ist ja aber
die Theorie, in Rücksicht welcher der Vf. die Lieblinge seiner Seele aufgefodert hat, sie durch ihren
Wandel zu widerlegen. Doch wie gesagt, der V. thut unter andern auch 23 S. 63] O: heißt es S. 63.
82. etc. und] O: oder
188 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 28

hinab betrachtet, der Punct gilt? In der That, wenn alles Künftige sogut dereinst
gegenwärtig seyn wird, als alles Vergangene bereits gegenwärtig gewesen ist; so
muss das menschliche Thun und Lassen, wenn es allemal bis jetzt durch Nothwendig-
keit bestimmt ist, auf gleiche Weise auch für alle Folgezeiten in’s Unendliche hin
bestimmt seyn; als welche Folgezeiten das zur Gränze der Nothwendigkeit an­ 5
genommene Jetzt der Reihe nach in’s Unendliche hindurchwandern muss: oder wenn
der Verfasser das läugnen wollte, so müsste er behaupten, dass alle Handlungen aller
Menschen in aller Zeitfolge zwar zurück von B nach A gesehen, unmöglich anders,
aber vorwärts, von A nach B gesehen, ganz anders möglich gewesen seyn, welchem
nach einerlei Urtheil über einerlei Sache, objectiv genommen, zugleich wahr und 10

falsch wäre; eine Unbegreiflichkeit, die grösser ist, als die so durch Umgehung der
sittlichen Freiheit vermieden werden sollte, und in die nicht etwa nur der Verfasser
aus Versehen gerathen ist, sondern auf demselben Wege, trotz aller Vorsicht, jedermann
unabänderlicher Weise am Ende sich verwickeln muss. Und so zeigt es sich denn
augenscheinlich, dass der Hauptgedanke des Verfassers unhaltbar und seine Schrift 15
nichts als ein Beitrag zu dem Beweise des klaren Satzes ist: dass Freiheit, sowie sie
der Sittlichkeit zu Grunde liegt, sich nicht begreifen lasse, und so wie sie sich begreifen
lässt, nicht der Sittlichkeit zur Grundlage dienen könne, sondern vielmehr dahin
abzwecke, die ganze moralische Verstandeswelt, die auf persönlicher Selbstmacht
beruhet, in eine physische Sinnenwelt zu verwandeln, wo alles nach einer anders 20

woher bestimmten und unabänderlichen Naturnothwendigkeit fortgeht, und wo


(sofern S. 90 niemand zu dem jedesmaligen Zustande seines sittlichen Werths oder
Unwerths durch seine vorsätzlichen Bemühungen eigentlich etwas beigetragen hat,
oder hat beitragen können) weder ein Mensch, als welcher nur Ursache, nicht Ur­
heber ist, an seinem oder Anderer Thun und Lassen, noch sogar die Gottheit, als 25
welche in allem ihr Werk und nur sich selbst handeln sieht, an uns insgesammt das
mindeste zu tadeln finden kann, und wo nicht mehr von Pflichten und Verbindlich­
keiten, sondern nur von Thaten und Begebenheiten, nicht mehr von Verdienst und
Schuld, von Tugend und Laster, sondern nur von Glück und Unglück, Vergnügen
und Leiden die Rede seyn darf: in eine Welt, in Absicht welcher nichts übrig bleibt, 30
als die schwindelnde Vernunft durch die Phantasie, diese leidige Trösterin, in den

7 dass alle Handlangen] O: daß z. B. das Thun und Lassen der Jenenser im verflossenen Jahr, jetzt nach
dem Ende des Jahres durchaus nothwendig so, wie es war, vor dem Anfänge desselben aber nicht noth-
wendig so, wie es war; und auf gleiche Weise alle Handlungen 11 die so] O: diejenige, welche
14-16 Und so ... Satzes ist:] O: [182] Und so zeigt es sich denn nach aufgehobenem Blendwerke, wel­
ches mit dem Jetzt und Schon und Einst gespielt wird, augenscheinlich, daß der Hauptgedanke des Vf.
schlechterdings unhaltbar, und seine Schrift, trotz der Zuversicht, die er darauf gesetzt hat, nichts als
ein überflüssiger Beytrag zu dem Beweise des an sich klaren Satzes ist:
Exzerpt 28 U EBER FREIHEIT 189

wilden Traum von einer Vorsehung einwiegen zu lassen, welche an der Naturkette
der nothwendigen Ursachen, unter deren Erfolgen manche kraft eines wohlthätigen
Wahns uns freie Handlungen zu seyn scheinen, alle Menschen oder Personen als
lauter wirkliche Automate, die einen später, auf dem Umwege sogenannter Laster,
5 die andern früher, auf dem Richtwege vermeintlicher Tugend, zu einem gemein­
samen äussersten Ziele der Glückseligkeit mechanisch hinbewegt. Wie ein System
dieser Art (obwohl nicht leicht ein Mann von Nachdenken seyn mag, dem es nicht
irgend einmal durch den Kopf gegangen) völlige Zufriedenheit gewähren könne, ist
an sich sonderbar; vollends aber auf Seiten des Verfassers befremdlich, weil er selbst
io eine erhebliche Bedenklichkeit dagegen geäussert hat. In dem polemischen Theile
seiner Schrift nämlich, der wider die Kantische Theorie der Freiheit gerichtet ist
(eine Theorie, würdig eines ächten Weltweisen, der auf wissenschaftliche Gewissheit
dringt, wo sie nur irgend zu haben ist, aber auch Unwissenheit redlich anerkennt,
wo ihr gar nicht abgeholfen werden kann, und von welcher die ersten Grundzüge
15 zum Eingänge dieser Recension dargelegt sind) gesteht Herr U. geradezu (S. 33),
dass diese Theorie unwiderleglich seyn würde, wenn man den Satz als ausgemacht
zugestände, dass die Zeit eine bloss subjective Form der Erscheinungen sey. Allein
gegen diesen Satz ist es nicht mit blossen Gegenerklärungen (wie S. 33) oder mit
blossen Einwendungen ausgerichtet, zumal wenn letztere entweder auf eitlen Miss-
20 verstand hinauslaufen, oder nur die Erläuterung des Satzes und nicht den Satz selber
treffen. So heisst es unter andern (S. 34): Wie will man bei Behauptung einer ur­
sprünglichen Selbstthätigkeit des reinen Vernunftvermögens der Frage ausweichen,
warum dies Vermögen bei gewissen Handlungen angewandt werde, bei andern
nicht, da doch entweder ein Grund einmal der Unterlassung, das anderemal der
25 Anwendung vorhanden seyn müsse oder nicht, und mithin im ersten Fall Zufall,
im andern Nothwendigkeit eintrete. Denn dieser und allen ähnlichen Fragen, die
voraussetzen, man solle von der Freiheit nicht nur dass sie wirklich, sondern auch wie
sie beschaffen sey, wissen, wird ganz getreulich durch das Geständniss ausgewichen,
dass man in Absicht des letztem nichts wissen könne, weil Freiheit sich nicht durch
30 sinnliche Wahrnehmung offenbart, obgleich man von ihren Erfolgen, insofern diese

3 Menschen] O : Menschen und alle vernünftige Wesen 11 seiner Schrift nämlich] O: nemlich seiner
Schrift 17 sey.] Danach überspringt das Exzerpt eine längere, umständliche Erörterung zur Argumentation des
besprochenen Autors Ulrich. 18 gegen diesen] O: wider jenen (wie S. 33)] O: (wie hier S. 33. »Derselbe
sey, man sage was man wolle, durch alles noch nicht erwiesen, und dasjenige, was darüber so oft auch von
ihm gesagt worden, noch nicht beantwortet,«) 21 treffen.] O: treffen: von welchen beiden Arten von
Einwürfen hier mehrere vorgebracht sind. 24-25 einmal der Unterlassung, das anderemal der Anwen­
dung] O: einmal der Anwendung, das anderemal der Unterlassung 25-26 im ersten Fall Zufall, im
andern Nothwendigkeit] O: im ersten Fall Nothwendigkeit, im andern Zufall 26 die] O: welche
190 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 28

sich unserer Wahrnehmung anbieten, wie von allen andern Phänomenen, die in der
Zeit erfolgen, bestimmende Gründe angeben kann, und in diesem Betracht also
jener Frage nicht auszuweichen braucht. Eben so ist es mit dem andern Einwurf
(S. 38) bewandt, wo es heisst: dass von Kant selbst zugestanden werde, unsere
Vernunft sey nicht ohne Hindernisse praktisch, und mithin unsere Selbstthätigkeit 5
nicht ohne Hemmungen wirksam: denn diese Hemmungen und Hindernisse, welche
uns durch sinnliche Wahrnehmung gegenwärtig werden, gelten wieder nur von
dem, was sich überhaupt an uns sinnlich wahrnehmen, nicht aber von dem, was,
einer solchen Wahrnehmung entnommen, sich bloss gedenken lässt. Und auf gleiche
Weise verhält es sich mit mehreren Einwürfen, welche Erläuterungen eines Begriffs io
verlangen, von dem im gesammten Gebiete der Erfahrung nichts Aehnliches an­
zutreffen seyn kann, und von dessen Gegenstand, der Freiheit, die speculative Philo­
sophie (mit Verzicht auf Einsichten in die Beschaffenheit desselben) sich begnügen
muss, erkennen zu können, dass derselbe weder an sich selbst noch in Verbindung
mit der Naturnothwendigkeit seiner Phänomene, d. i. unserer Handlungen, wider- 15
sprechend, sondern als zusammenbestehend im Menschen, nach der zwiefachen
Weise seines Daseyns in der Zeitfolge, und ausser aller Zeitbestimmung, gedenk­
bar sey.
Exzerpt 29 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT 191

P h il o s o p h ie . V er h ä ltn iss der M eta ph y sik zur R e lig io n .


Den 29. Septbr. 1788.
(Allgem . Literatur-Zeitung. Junius 1788. N . 153. S. 690 f f.: U eber das Verhältniss der M etaphysik
zu der R eligion von A u g. W ilh . Rehberg. Berlin 1787.)

5 Die Frage über das Verhältniss der Metaphysik zur Religion hat durch die Kan-
tische Kritik der reinen Vernunft eine solche Wichtigkeit erhalten, dass jede nähere
Untersuchung derselben dem Wahrheitsfreunde willkommen seyn muss.
»Die Methode, die natürliche Religion auf metaphysische Speculationen zu
stützen, ist äusserst nachtheilig, weil man eben dergleichen von jeher zu ihrem
io Umstürze aufgestellt hat, und daher bei vielen die Besorgniss erweckt wird, sie
beruhe vielleicht auf unsicherm Grunde. Da aber die Religion auf der einen Seite
mit der Sittlichkeit genau zusammenhängt, und ihr auf der andern Seite, wie man
sie auch behandeln mag, metaphysische Untersuchungen anhängen, so giebt es nur
2 Wege, dem durch Zweifel zerrissenen Kopfe und Herzen zu Hülfe zu kommen,
15 entweder die Gründe des sittlichen Wohlverhaltens ganz allein in seinem innern
und unabhängigen Werthe zu suchen, und es dahin gestellt seyn zu lassen, was jeder
von allen den Gegenständen der Untersuchung denke, die zur Religion gerechnet
werden mögen, oder zu beweisen, dass, auf was für Vorstellungen man auch bei
den subtilen Speculationen der Metaphysik verfallen mag, diese die Begriffe über die
20 Gottheit und ihren Einfluss auf die Welt zwar modificiren, aber mit den wesentlichen
Lehren der Religion allemal vereinbar bleiben. Ein solcher allgemeiner IndifFerentis-
mus aber, als ihn der erste Weg erfordert, ist, ausser den Nachtheilen, die er mit sich
führen würde, nicht einmal möglich. Also bliebe nur der zweite Weg übrig, zu
zeigen, dass auch bei den sonderbarsten Speculationen das bestehen könne, worauf
25 die Ruhe so vieler gegründet ist. Das Wesentliche einer jeden Religion bestehe in
den beiden Sätzen: In den Veränderungen der Welt erscheint Beziehung auf einen
höchsten Verstand, und im Menschen liegt ein mit jenem grossen Plane von Ord­
nung im Universo verwandter Trieb nach Ordnung und Absicht zu wirken. Auf

M it Ausnahme der im folgenden angegebenen Auslassungen und kleinen Umformungen stimmt das Exzerpt
mit dem Original überein.
7 Nach dem ersten Satz folgt in O: [689] Hn. Rehbergs Schrift, in welcher man den speculativen Denker,
und seine Bekanntschaft mit den vornehmsten metaphysischen Systemen nicht verkennt, verdient also
Aufmerksamkeit und Prüfung, und Rec. hält es daher für Pflicht, sowohl den Hauptplan derselben auszu­
heben, als sein unpartheyisches Urtheil darüber beyzufügen. 10 erweckt] O: erregt 13 giebt] O:
gebe 23 bliebe] O: bleibe
192 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 29

dieser Verwandtschaft unsers Geistes mit dem erhabensten Geiste gründe sich alle
sowohl philosophische als christliche Vervollkommnung des Menschen durch die
Religion, und da beides Erfahrungssätze, alle metaphysische Systeme aber nur
Erklärungen der Erscheinungen sind, die uns die Erfahrung kennen lehrt; so müssen
diese mit jenen beiden Grundbegriffen der Religion nothwendig alle vereinbart 5
seyn.[«] Dies sucht Herr Rehberg nun zuerst an der Metaphysik des Spinoza zu
zeigen. Dass sie auf Atheismus hinauslaufe, darin pflichtet er dem Herrn Jacobi völlig
bei. Nur macht er einen Unterschied zwischen dem dogmatischen Atheismus, der
sich zu beweisen anmaasst, dass überall kein solches Wesen gedenkbar sey, dessen
Begriff der Religion zum Grunde liegt, oder wenigstens zur Annahme seiner Exi­ 10

stenz nirgends ein Grund gefunden werden könne, und zwischen dem skeptischen
Unglauben, der bloss in einem Systeme keinen Grund dazu findet, es aber dahin­
gestellt seyn lässt, ob sie aus andern Gründen bewiesen werden könne. Im letztem
Sinne sey die Metaphysik des Spinoza allerdings atheistisch, aber auch jede andere,
weil die Speculation über das, was allen Erscheinungen zum Grunde liegt, und über 15
den Begriff des Unbedingten und Unendlichen für die Religion ganz unfruchtbar
sey, und alle anscheinenden Beweise, die sie gewähren, auf blosse Täuschung hinaus­
laufen. Indessen schliesse jene so wenig als irgend eine andere die obigen Grund­
begriffe der Religion nothwendig aus. Nach dem Spinoza ist die Welt zwar in Gott,
die Gedanken der Menschen sind Gedanken der Gottheit, die Erscheinungen der 20

Körperwelt Modificationen der Ausdehnung der Gottheit. Aber wenn man nach der
gewöhnlichen Theologie Ideen von Vollkommenheit, Ordnung und Schönheit im
göttlichen Verstände annehmen muss, um eine Welt ausser der Gottheit zu erklären,
so bedürfe man ihrer nicht weniger, um diese Welt in ihr zu erklären, und da es
auch nach dem Spinoza Vorstellungen geben müsse, die weder von einem endlichen 25
Geiste gedacht werden, noch einen körperlichen Gegenstand ausdrücken, weil nach
ihm ex necessitate divinae naturae infmita infinitis modis sequi debent; so sei die
Welt zwar in Gott, Gott aber noch weit mehr als die Welt. Der eigentliche Unglaube
des Spinoza bestehe demnach bloss darin, dass er die Endursachen leugnet, weil,
wenn Gott um einer Sache oder Idee willen etwas anders wirkte, diese letztere schon 30
in seinem Verstände da seyn, mithin schon existiren müsste, ehe sie existirt. Nun
entstehen zwar in den gewöhnlichen Systemen diese nämlichen Schwierigkeiten
nicht, aber andere gleich wichtige. Denn, da alles Wirken der Menschen im Zu­
sammensetzen der in verschiedener Gestalt enthaltenen sinnlichen Ideen besteht; so

6 Dies] O: Dieses 7 hinauslaufe] O: hinlaufe 15 Speculation] O: Speculationen 17 sey] so auch


in O; richtig wäre dort: scyen 17-18 anscheinenden Beweise ... hinauslaufen] O: anscheinende Belehrung,
die sie gewähren, auf bloße Täuschung hinauslaufe 34 enthaltenen] O: erhaltenen
Exzerpt 29 V ER H Ä LTN IS D ER M ETA PH Y SIK Z U R R ELIG IO N 193

sey Wirken nach Endzweck und Absicht nur in den Wesen gedenkbar, die der Sinn­
lichkeit unterworfen sind. (Wie folgt dieses? Wäre dieser Schluss richtig; so würde
daraus noch mehr folgen, nemlich: dass die Gottheit gar nicht wirken, ingleichen dass
sie gar nicht denken könnte, weil alles Denken der Menschen sinnliche Vorstellungen
5 voraussetzt, und successiv geschieht, beides aber in Gott nicht stattfindet.) Ferner
könne man in den gewöhnlichen Systemen fragen: Kann nicht die Allmacht Alles,
was sie will, ohne Mittel wirken ? (Allerdings, alles, was sie schuf, schuf sie unmittelbar.
Aber verlangen, dass sie das, was nun schon durch einmal erschaffene Kräfte möglich
ist, z. B. den regelmässigen Lauf der Planeten, oder die Hervorbringung der Men-
10 sehen, Thiere und Pflanzen, immerfort unmittelbar wirken soll, ist doch in der
That eine eigene Forderung.) Und ist es nicht der Allweisheit angemessen, nichts zu
wirken, als was an sich Zweck ist ? (Kaum. Denn wer kann sich erkühnen, die Her­
vorbringung der materiellen Welt, die doch als solche nicht Zweck an sich seyn
kann, unweise zu nennen ? Und wie kann man, da der Beweis bloss aus Begriffen,
15 mithin nur analogisch geführt werden müsste, wie kann man, frage ich, aus den
Begriffen der Allweisheit den Satz: sie wirkt nichts, als was an sich Zweck ist, heraus­
bringen, wenn man ihn nicht vorher willkürlich hineingelegt hat?) Ist nicht daher
das ganze Existirende nur Ein Zweck? (Nein! sondern der einzige letzte Zweck der
ganzen Schöpfung ist das höchste Gut, d. i. Tugend und ihr genau angemessene
20 Glückseligkeit in einem moralischen Reiche, denn nur das höchste Gut ist der Zweck
des wahren Weisen.) Und schliesst nicht dieses die Begriffe aus, die Menschen unter
den Worten: Zweck, Absicht, Mittel denken? (Nicht im mindesten, wie aus den
vorhergehenden Bemerkungen von selbst klar ist.) Kommt es nicht also auch hier
wiederum nur allein darauf an, dass die Welt mit den Ideen der Gottheit, von Ord-
25 nung, Schönheit, Vollkommenheit harmonire ? (Bei weitem nicht. Die Idee der Gott­
heit so einschränken wollen, wäre der keckste Dogmatismus der speculativen Ver­
nunft. Denn so wenig diese beweisen kann, dass der Begriff einer nach Zweck und
Wahl wirkenden höchsten Intelligenz objective Realität habe, so wenig kann sie
auch beweisen, dass der höchste Verstand keinen Willen haben könnte, denn wo
30 ein vernünftiger Wille ist, da ist Zweck und Wahl. Und wo wollte sie diese über­
schwängliche Einsicht in die Natur des höchsten Verstandes hernehmen, da dieser
ganz ausserhalb ihrer Sphäre liegt? Der dogmatische Spinoza glaubte zwar in ihrem
11 Klammer fehlt in Th

8 durch] O: durch die 26 so] O: so enge 29 beweisen, dass der höchste Verstand keinen Willen
haben könnte] O: beweisen, daß derselbe unmöglich und widersprechend sey. Wollte sie dieses überneh­
men; so müßte sie beweisen, daß der höchste Verstand keinen Willen haben könne
194 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 29

Besitze zu stehen. Er wusste nicht nur genau, dass die Vorstellung, die die Gottheit
von einem Dinge hat, mit seiner Existenz einerlei ist, sondern er bewies auch hieraus,
dass sie um einer Idee willen nicht etwas anderes wirken könne, weil dieses sonst
schon existiren müsste, ehe es existirt. Allein es ist nur übel, dass seine ausgedehnte
Gottheit zu Gunsten dieses Beweises auch eben so successiv denken müsste, als wir.) 5
Nachdem der Verfasser zu zeigen gesucht, dass das System des Spinoza mit der
Religion vereinbar sey; so sucht er ferner zu beweisen, dass alle dogmatische Meta­
physik nothwendig auf dieses System führe. Zuerst die Leibnitzische. Denn wenn
nichts existirt, als Vorstellungen, der Gottheit aber vollkommene Vorstellungen von
allem Existirenden beigelegt werden müssen: wodurch unterscheiden sich alsdann io
die Vorstellungen der eingeschränkten Wesen von den Bildern, die die Gottheit
von denselben Gegenständen hat? Wir gerathen unfehlbar in folgendes Dilemma:
entweder giebt es keine unendliche Gottheit, oder es giebt nichts ausser ihr. Wenn,
nach Wolf, nur das Substanz ist, was die Quelle seiner Veränderungen in sich selbst
hat, so sey entweder die Seele selbstständig und von der Gottheit ganz unabhängig, 15
oder nicht Substanz, sondern Modification der Gottheit. Worin aber auch die
Metaphysiker das Wesen [der] Substanz setzen mögen, so folge immer aus der
Behauptung, dass wir einen Begriff von demjenigen haben, was die Substanz an sich
ist, im Gegensätze der abwechselnden Erscheinung, der Hauptgrundsatz des Spinoza.
Denn wenn die Substanz von allen ihren Accidenzen abgesondert einen Begriff 20
gebe, der ihr Wesen ausdrückt, so sey ganz klar, dass wir von mehreren Substanzen
einerlei Art nur einen Begriff haben, dass alle ihre numerische Verschiedenheit nur
in den Accidenzen gegründet sey, mithin in der Erscheinung existire, und es also
nicht mehrere Substanzen geben könne, denen dieselben Attribute zukommen. Die
letzte Zuflucht des Metaphysikers sey endlich der Begriff der Existenz, des Seyns. 25
Da aber in diesem keine besondere Art der Existenz liegt, so seyen alle Arten des­
selben Attribute dieser Substanz, und weil im Seyn ebensowenig der Grund zu einer
Zahl liegt, als welcher Begriff bloss auf die Erscheinung angewandt werden könne,
so folge wieder, dass nur eine einzige Substanz sey. Die wahre Antwort auf den
Beweis des Spinoza sey also diese: zu der individuellen Vorstellung einer Substanz 30
gehören die Attribute nicht mehr als alle modi. Denn sie existiren bloss in der Vor­
stellung, sie seyen nur die Form der Erkenntniss. Sollten diese Attribute oder irgend
ein Begriff das Wesen der Substanz ausdrücken, so müsste aus demselben nicht nur
die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit der Verschiedenheit ihrer Acciden­
zen erhellen. Dieses aber sey ein Widerspruch. Denn wie kann ein allgemeiner 35
Begriff die Nothwendigkeit mannigfaltiger Beschaffenheiten desselben enthalten?

7 er] O: er nun
Exzerpt 29 V ERH Ä LTN IS D ER M ETA PH Y SIK ZU R R ELIG IO N 195

W i e k a n n der G ru n d d er V e r s ch ie d e n h e it in d e m lie g e n , w a s d e m V e rsch ie d e n e n


g e m e in ist? Es sey also u n m ö g lic h , z u b e w e ise n , dass n u r E in e S u bstan z existire,
ab er eb en so u n m ö g lic h sey a u ch d e r B e w e is , dass es m e h re re g eb e . ( V e r m ö g e des
th eo retisch en G eb ra u ch s d er V e r n u n ft lässt sich fre ilic h w e d e r das E in e n o c h das
5 A n d e r e erw eisen , aber in ih re m p ra k tisch e n G e b ra u c h e ist n ic h t n u r eine p ersö n lich e
G o tth e it, so n d ern au ch die P e rsö n lic h k e it u nserer Seele ein n o th w e n d ig e s P ostulat.)
H r. R . g e h t h iera u f z u m K a n t ’ schen S y ste m , u n d z ie h t aus d en G ru n d sä tzen der
B e h a rrlic h k e it, C a u sa litä t u n d G e m e in sc h a ft, d en en er v ö lli g b eip flich tet, die F o lg e ,
dass die sin n lich en E rsch e in u n g e n m it etw a s zu sa m m e n h ä n g e n , w a s k e in G egen sta n d
io d er E rsch ein u n g seyn k a n n , u n d das d u rch d ie Id een v o n D in g e n an sich, v o n K r a ft,
u n d v o n ein e m u n e n d lich e n W e s e n a u s g e d rü c k t w ir d . D ie se Id een aber sind g a r
k e in e r erk en n b aren B e s tim m u n g e n fä h ig , u n d b e z e ic h n e n also an sich n ich ts, son­
d ern d eu ten n u r an, dass das g e sa m m te F eld d er E rsc h e in u n g e n n o c h au f etw a s ausser
sich h in w eise, dessen D a s e y n d ah er n ic h t erk a n n t, so n d ern n u r gesch lo ssen w ir d , u n d
15 n o t h w e n d ig v o ra u sg e se tz t w e r d e n m uss. D ie Idee des h ö ch ste n W e se n s, au f w e lc h e
uns die M e ta p h y s ik fü h rt, sey d a h er fü r d ie R e lig io n g a r n ic h t b rau ch b a r, sond ern ,
w e n n sie dieses w e r d e n soll, so m üsse m a n zu ih r erst d en B e g r i f f des v o llk o m m e n ­
sten V erstan d es u n d W ille n s w illk ü r lic h gesellen . E b e n d ah er, w e il der letzte G ru n d
aller W e ltb e g e b e n h e ite n in d e m O b je c te je n e r Id een z u su ch en sey, v o n dessen
20 B esch a ffen h eit uns sch lech terd in gs n ich ts b e k a n n t w e r d e n k ö n n e , fo lg e au ch g an z
o ffen b a r ( !!) , dass der le tz te G ru n d alles E x istire n d e n z w a r w o h l in der G o tth e it,
n ic h t aber in ih re n V o r s te llu n g e n , o d e r in d e m z u su ch en sey, w a s w ir M en sch en
A b s ic h t u n d W a h l n en n en . W e n n m a n also d en G e d a n k e n v o n ein em h ö ch sten
V e rstä n d e u n d W ille n e n tw ic k e ln u n d e rw e ise n w ill, so m üsse m a n k e in e m e ta -
25 p h ysisch e Id een m it ein m isch en , so n d ern dieses lasse sich a u f fo lg e n d e A r t b e w e r k ­
ste llig e n : d er G la u b e an h ö h e re e m p fin d e n d e u n d d e n k e n d e W e s e n ist g a n z tief in
d en E rsch e in u n g e n d er N a tu r u n d in d e m W e s e n des m en sch lich e n V erstan d es
g e g rü n d e t. D e r M e n sch n im m t e in ig e E rsch e in u n g e n d er W e lt w a h r , v e rb in d e t sie
a u f m a n n ig fa ltig e W e is e etc. E r e rk e n n t aber a u ch d e u tlich , dass ü berall G ru n d zu
30 ih rer V e r b in d u n g in h ö h e re n B e g r iffe n u n d in e in em h ö h e re n B e w u s s tse y n au ch da
ist, w o der m en sch lich e G eist n ic h t h in d rin g t. G ru n d g e n u g , das D a se y n anderer
g e istig e r E rsch e in u n g e n a n zu n e h m e n , ausser den en , w e lc h e d ie M e n sch e n aus­
m ach en . U n d da so lch e V e r b in d u n g e n u n ter allen E rsch e in u n g e n einer W e lt statt
fin d e n , da sie alle in V e r b in d u n g u n d B e z ie h u n g a u f ein an d er g e d a ch t w e rd e n

10 Erscheinung] Th: Erscheinungen das] Th: dass

15 Idee] O: Ideen (Druckfehler)


196 AU S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 29

können, so ist es natürlich, auch einen höchsten Geist anzunehmen, der das Ganze
der Erscheinungen in allen seinen Theilen vollkommen deutlich erkennt, und durch
Begriffe des Verstandes in einem höchsten Bewusstseyn vereinigt.
Dieser Beweis, und die Vorstellung von der Gottheit, die aus ihm folgt, meint
der Verfasser, sey sehr vielen Schwierigkeiten nicht unterworfen, die die gewöhn­ 5
lichen Systeme drücken. Denn da wir ihr Daseyn nur desswegen annehmen, um
unsern Begriff von den Phänomenen dieser Sinnenwelt vollständig zu machen, so
müsse ihr die vollkommenste Erkenntniss derselben beigelegt werden. Da aber der
Verfasser den letzten Grund der Welt nicht im Verstände und Willen Gottes sucht,
so leitet ihn dieses natürlich zur Bestreitung des Optimismus, und da er diesen als ein io
Product unrichtiger Begriffe von den moralischen Eigenschaften des höchsten
Wesens ansieht, zugleich zur Untersuchung des Begriffs der Sittlichkeit. Dieser
bezieht sich nicht auf Handlungen, sondern auf den Willen. Ohne Empfindung des
Vergnügens und Missvergnügens aber will der Mensch nichts. Die einfache Ver­
bindung des Vergnügens oder Missvergnügens mit einer Wahrnehmung der Sinne 15
ist blosse Begierde oder Abscheu. Da also der Gegenstand jeder Begierde immer etwas
Angenehmes oder Gutes ist, so ist jede einfache Begierde an sich gut. Werden aber
mehrere Begierden in einen Begriff verbunden, so sind diejenigen Begriffe und damit
verknüpfte Begierden sittlich gut, welche gedenkbar, vernunftmässig sind, die Ver­
bindung widersprechender Begierden in einen Begriff erzeugt hingegen das sittlich 20
Böse, und da sich eine solche Verbindung mehrerer Empfindungen in den Begriff
einer Handlung nicht ohne Rücksicht auf Vorhergehendes und Nachfolgendes den­
ken lässt, so ist keine Begierde oder Handlung ohne Rücksicht auf ihre Folgen sittlich
gut oder übel: sondern letztere ist es, wodurch jene gut oder böse wird. Die Sittlich­
keit der Handlungen besteht also in der Gedenkbarkeit ihrer Begriffe. Diese aber 25
ist nicht hinreichend, Handlungen hervorzubringen, sondern die Triebfeder, die
den Willen bestimmen muss, ist das Vergnügen, welches mit der Erkenntniss der­
selben verbunden ist, dessen Maass aber nicht allein durch den Gegenstand der Er­
kenntniss bestimmt wird, sondern auch von subjectiven Bedingungen unserer
Erkenntniss und unseres Zustandes abhängt. Der Mensch wird also nie durch das 30
moralische Gesetz allein zum Handeln bestimmt, sondern er muss sich damit be­
gnügen, die Triebfeder seiner Handlungen mit jenem so viel möglich in Ueber-
einstimmung zu bringen. Die höchste moralische Vollkommenheit lässt sich also nur
in dem Wesen gedenken, welches mit seinem Verstände Alles umfasst, und alle
Verhältnisse gleich deutlich erkennt, dessen Empfindungen nicht durch einzelne 35
Theile der Sinnenwelt bestimmt werden, sondern durch das Ganze. Nähere Bestim-

15 Sinne] O: Sinnen 36 durch das] O: durchs


Exzerpt 29 V ERH Ä LTN IS D ER M E TA PH Y SIK Z U R RELIG IO N 197

mungen lassen sich von demselben nicht geben. (Der höchste Verstand empfindet
nicht, sondern ist anschauend, er wird nicht durchs Ganze bestimmt, sondern ist
bestimmend. Eine Intelligenz, die Empfindungen hat, die durch sinnliche Dinge
bestimmt werden, ist leidend und abhängig, also keine Gottheit.)
5 Diesem Begriffe von Sittlichkeit zu Folge leugnet der Verfasser gegen Kant nicht
nur, dass die Vernunft Causalität durch Freiheit habe, sondern er meint auch, dass
die Annahme des Ideals einer moralischen Welt oder des Reichs der Gnade, zur
Hebung des Widerstreits der Sittlichkeit mit der Sinnlichkeit, weder nothwendig
noch tauglich sey, nicht nothwendig, weil die Grundgesetze der Sittlichkeit in der
io Vernunft gut genug gegründet seyen, die Sinnlichkeit mag auch dagegen einwenden,
was sie wolle; nicht tauglich, weil durch die verächtlichen!! Antriebe einer künftigen
Sinnlichkeit (Hoffnung einer Belohnung) die Moral ganz und gar zerstört werde,
das Uebersinnliche aber gar keine Antriebe geben könne, indem Alles, was wir
Glückseligkeit nennen, nur in der Sinnlichkeit empfunden werden könne.
15 Rec. hat den Hauptinhalt des Buchs getreu darzustellen gesucht. Und sein Urtheil
darüber? Dieses fasst er, ausser den schon eingeschalteten Bemerkungen, in folgende
Punkte:
1) Das Wesen der Religion darin zu setzen, dass in den Veränderungen der Welt
Beziehung auf einen höchsten Verstand erscheint, ist viel zu dürftig und unbestimmt.
20 Denn man nehme immer ein Wesen an, das den vollkommensten Verstand besitzt,
und alle Weltbegebenheiten auf’s Deutlichste kennt; behauptet man aber, dass das­
selbe nicht durch seinen Verstand und Willen, sondern bloss durch seine Substan-
tialität oder Daseyn, mithin nur auf eine blinde oder nothwendige Art die Ursache
der Welt sey, und dass man also bei demselben an keine Vorsehung, an keinen
25 Weltregierer und Vergelter zu denken habe; so ist eine Religion, die einen solchen
Gott lehrt, eben so viel als gar keine. Das Daseyn eines solchen Gottes interessirt
weder den Verstand, noch das Herz. Denn was für Befriedigung erhält jener, wenn
er die Schönheit und Ordnung der Welt, sogar bei der Annahme einer höchsten
Intelligenz, doch als etwas ganz Zweckloses ansehen, und sie nicht aus ihrem Ver-
30 stände, sondern so zu sagen aus der blinden Natur ihres Subjects herleiten soll, und
was für Trost kann das Herz, was für Aufmunterung kann es haben, durch tugend­
hafte Handlungen ein Wesen nachzuahmen, das die Welt nur unthätig denkt, das
also noch weniger, als eine Weltseele, ja noch weniger als einen Weltspiegel, nur
einen Abgrund vorstellt, der die Strahlen, die er auffängt, verschluckt, ohne einen
35 einzigen zu reflectiren. Der Verfasser hat also den wahren Gesichtspunkt gänzlich
12 gar] Th: ganz

9 tauglich sey, nicht] O: tauglich; sey nicht 23 blinde oder] O: blinde und
198 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 29

verfehlt, wenn er den Verehrer der Religion dadurch zu beruhigen glaubt, dass er
auch die sonderbarsten metaphysischen Speculationen als vereinbar mit ihr ansehen
soll. Besser hat Kant für seine Beruhigung gesorgt, da er unwidersprechlich dar-
gethan, dass jede Speculation, welche die Möglichkeit der Ideen von Gott, Freiheit,
und Unsterblichkeit, in dem Sinne, wie sie die Religion erfordert, anfechten will, 5
ein leeres Hirngespinnst ist.
2) Der Unglaube des Spinoza ist nicht bloss skeptisch, sondern vielmehr erz-
dogmatisch. Nach seinem Systeme ist der Begriff einer persönlichen Gottheit, die
nach Zweck und Absicht handelt, mithin als höchste Intelligenz Urheber der Welt
ist, nicht problematisch, sondern schlechterdings widersprechend. Wie konnte er es 10
also dahin gestellt seyn lassen, ob derselbe sich anderweitig realisiren lasse? Nur
schade daher um alle Mühe, die so manche würdige Männer auf die Läuterung dieses
Systems verwenden, denn, soll es aufhören, Atheismus zu seyn, so ist es nicht mehr
Spinozismus.
3) Dass die Leibnitzische Metaphysik und jede andere dogmatische schlechter­ 15
dings auf den Spinozismus führe, lässt sich doch immer nur durch Consequenzen
erweisen, bei denen man Spinozistische Begriffe zum Grunde legt, welche der
bestrittene Dogmatiker niemals zugesteht: z. B., dass Vorstellungen und Vor­
stellungskräfte für sich bestehen und selbstständig oder unabhängig seyen, einerlei
sind u.s.w. Allein sind Consequenzen von der Art erlaubt, so hat ja schon Mendels­ 20
sohn umgekehrt erwiesen, dass das System des Spinoza auf das Leibnitzische führe.
4) Wenn der Verf. mit Kant eins ist, dass die Idee des höchsten Wesens für uns
keiner erkennbaren Bestimmungen fähig sey, und gleichwohl sagt, es folge hieraus
ganz offenbar, dass der letzte Grund alles Existirenden zwar in der Gottheit, als dem
Objecte jener Idee, aber nicht in ihren Vorstellungen, oder in dem, was wir Absicht 25
und Wahl nennen, zu suchen sey, so hat er nicht wahrgenommen, dass, indem er hier
alles Dogmatismen mit Recht verwirft, er selbst ein völliger Dogmatiker wird, indem
er uns durch blosse Speculation sogar positiv belehren will, wie und auf welche Art
das höchste Wesen die Ursache der Welt sey. Wer sich befugt hält, sowohl diesem,
als auch der menschlichen Vernunft alle Causalität durch Freiheit abzusprechen, der 30
muss sich doch wirklich bestimmte Einsicht a priori in die Natur der Dinge an sich
Zutrauen, denn die Erfahrung kann uns von ihnen ohnehin nichts lehren.
5) Der Beweis des Verf. vom höchsten Verstände und Willen beruht auf dem
metaphysischen Satze, dass alles Existirende nicht nur gedenkbar sey, sondern auch
von irgend einem Wesen wirklich gedacht werde; und ist also mit dem Mendels- 35
16 Spinozismus] Th: Spinozismns

35 dem] O: dem neuen


Exzerpt 29 V ERH Ä LTN IS D ER M E TA PH Y SIK ZU R R ELIG IO N 199

sohn’schen einerlei, mithin keineswegs unmetaphysisch. Dass aber das höchste Wesen
auch ein Vermögen, nach Vorstellungen zu handeln, d. i. einen Willen habe, hat er
gar nicht bewiesen, und so ist sein Beweis für die Religion schon an sich nicht
interessant.
5 6) Da Hr. Rehberg den Begriff der Moralität in der Gedenkbarkeit oder Vernunft-
mässigkeit der Begierden setzt, so sagt derselbe im Grunde nichts weiter, als das
gewöhnliche empirische Prinzip der Selbstliebe oder Glückseligkeit. Denn eine
Begierde ist nur alsdann gedenkbar oder vernunftmässig, wenn sie nicht bloss mit
dieser oder jener andern Begierde, sondern mit der Befriedigung des ganzen
io Begehrungsvermögens, d. i. mit unserer Glückseligkeit zusammenstimmt. Wenn er
aber die Triebfeder, die zur Bestimmung des Willens erfordert wird, im Vergnügen
an der Sittlichkeit sucht, so setzt, da Vergnügen nicht geboten werden kann, und
Vergnügen an der Sittlichkeit schon ein sehr sittlich gutes Gemüth supponirt, sein
Moralgesetz schon ein sittlich gutes Gemüth voraus, folglich würde es den Laster-
15 haften nichts angehen, sondern nur dem Tugendhaften gegeben seyn.
7) Was der Verf. wider die nothwendige Harmonie zwischen Tugend und
Glückseligkeit, zum Umstürze der Moraltheologie, beibringt, beruht auf ähnlichen
Missverständnissen. Denn so gewiss es ist, dass die Triebfeder des Guten nicht
Begierde nach Glückseligkeit, sondern reine Achtung für’s Gesetz seyn muss, so
20 gewiss ist es andererseits, dass eben die Vernunft, welche reine Tugend will, auch
den Tugendhaften der Glückseligkeit würdig erkennt, und daher nothwendig will,
dass Tugend und eine ihr genau angemessene Glückseligkeit nicht bloss bei uns,
sondern bei jedem Andern verbunden seyen. Beide vereinigt machen daher erst das
höchste Gut oder das ganze vollständige Object eines vernünftigen Willens aus,
25 und zwar so, dass Tugend an sich gut, mithin der unmittelbare erste und unbedingte
Gegenstand eines vernünftigen Willens ist, Glückseligkeit hingegen von ihm nicht
als etwas an sich Gutes, sondern nur unter Voraussetzung der Tugend und im genauen
Verhältnisse mit ihr gewollt werden kann, aber unter dieser Voraussetzung noth-
wendig gewollt werden muss. Wäre also die Idee einer moralischen Welt, in welcher
30 Beides zusammen ist, eine Chimäre, so wäre es auch die Idee der Tugend und Sitt­
lichkeit, denn beide Ideen sind in der Natur eines vernünftigen Willens gleich fest
Hoffentlich wird ein noch tieferes Studium des Kanf sehen Systems und besonders
der unlängst erschienenen vortrefflichen Kritik der praktischen Vernunft nicht nur
18 es ist] Th: ist es

22 uns] O: uns selbst 33 Der letzte Absatz des Exzerpts ist folgendem Schlußabschnitt des Originals entnom­
men: Hr. Rehberg wird diese freymüthigen Anmerkungen des Rec. als eben so viele Beweise der besondern
200 A U S D ER G Y M N A SIA LZEIT Exzerpt 29

die Begriffe des Hrn. Ver£. über Sittlichkeit und Moraltheologie, sondern auch seine
Vorliebe für die Spinozistischen Spitzfindigkeiten in der Folge merklich abändern.

Aufmerksamkeit ansehen, die er seiner Schrift gewidmet hat. Der Gegenstand ist zu wichtig, als daß er
sich eine flüchtige Anzeige, oder einen bloßen Dictatorspruch hätte verzeihen können. Hoffentlich wird
ein noch tieferes Studium des Kantschen Systems und besonders der unlängst erschienenen vortrefflichen
Kritik der praktischen Vernunft nicht nur die Begriffe des Hn. Verf. über Sittlichkeit und Moraltheologie,
sondern auch seine Vorliebe für die leeren Spinozistischen Spitzfindigkeiten in der Folge merklich abän­
dern. Und in der That wäre es um die unverkennbaren philosophischen Talente des Verf. Schade, wenn
sie durch jene irre geführt, noch zu neuen in diesem Falle nothwendig verunglückenden Versuchen ver­
wendet würden.
D E F IN IT IO N E N
VON ALLERHAND G E G E N STÄ N D EN
AB 10. JU N I 1785
Exzerpt 30 D EFIN IT IO N E N 203

D e f in it io n e n
VO N ALLERHAND G EG ENSTÄN DEN

Die beiden ersten Definitionen sind nicht überliefert. Sie betrafen die Begriffe
Aberglauben und Schönheit.
Vgl. dazu den editorischen Bericht.

P h ilo so p h iren :
bis auf den Grund und die innere Beschaffenheit menschlicher Begriffe und
Kenntnisse von den wichtigsten Wahrheiten dringen.
Schrök

Zu 6-8
Die Quelle wurde noch nicht ermittelt.
204 D EFIN IT IO N E N Exzerpt 31

V erän d eru n g :
ein Ding heißt verändert, wenn unter zweien entgegengesetzten Bestimmungen,
die ihm zukommen können, die eine aufhört und die andere anfängt, wirklich zu
sein.
Mendelssohn, Phädon

[50] Sokrates ... sprach: ... Der Tod, o Cebes! ist eine natürliche Veränderung des menschlichen Zu­
standes, und wir wollen itzt untersuchen, was bey dieser Veränderung so wohl [51] mit dem Leibe des
Menschen als mit seiner Seele vorgehet.
Sollte es nicht rathsam seyn, erst überhaupt zu erforschen, was eine natürliche Veränderung ist, und
wie die Natur ihre Veränderungen nicht nur in Ansehung des Menschen, sondern auch in Ansehung der
Thiere, Pflanzen, und leblosen Dinge hervor zu bringen pflegt ? ...
Der Einfall scheinet nicht unglücklich, versetzte Cebes; wir müssen also fürs erste eine Erklärung
suchen, was Veränderung sey.
Mich dünkt, sprach Sokrates, wir sagen, ein Ding habe sich verändert, wenn unter zwoen entgegen­
gesetzten Bestimmungen, die ihm zukommen können, die eine auf höret, und die andere anfängt wirklich
zu seyn. Z. B. schön und häßlich, gerecht und ungerecht, gut und böse, Tag und Nacht, schlafen und
wachen, sind dieses nicht entgegengesetzte Bestimmungen, die bey einer und eben derselben Sache möglich
sind ?
Exzerpt 32/33 D E FIN IT IO N E N 205

Logik :
ein Inbegriff der Regeln des Denkens, abstrahirt aus der Geschichte der Mensch­
heit.

S taaten :
5 concilia coetusque hominum, jure sociati.
Cicero, Somnium Scipionis Cap. III

Zu 1-3
Die Quelle wurde noch nicht ermittelt.
Zu 4-6
[fol. 127 verso] Nihil est enim illi principi Deo, qui omnem hunc mundum regit, quod quidem in
terris fiat, acceptius, quam concilia, coetusque hominum iure sociati, quae ciuitates appellantur. Harum
rectores, et conseruatores hinc profecti, huc reuertentur.
206 D EFIN IT IO N E N

Über weitere Definitionen, deren Wortlaut nicht überliefert ist, vgl. den editorischen
Bericht.
EXZERPTE
AUS DER B E R N E R ZEIT
1794-1796
Exzerpt 34 A U S D ER BERN ER ZEIT 209

Aus: A llg em ein e L it e r a t u r - Z e it u n g 17 9 2

Liter. Zeitung n. 87. [17]92.


Vorstellungsvermögen ist, in der weitesten Bedeutung, die im Subjekt bestimmte
Möglichkeit der Vorstellung überhaupt; Erkenntnißvermögen in w. B. diese Mög-
5 lichkeit in Rüksicht der Beziehung der Vorstellung auf das Objekt - Begehrungs­
vermögen diese Möglichkeit in Riiksicht der Beziehung der Vorstellung auf das
Subjekt - der Erkenntniß trieb wird durch Vorstellungen, die mit den objektiven
Bedingungen übereinstimmen, wahr sind, der Begehrungstrieb durch Vorstellungen,
die mit den subjektiven Bedingungen übereinstimmen, angenehm sind, befriedigt, -
10 und beide durch das Gegentheil beschränkt - wann und wie ferne das Daseyn und
die Beschaffenheit einer Vorstellung nicht von der blossen Selbstthätigkeit des
Subjekts, sondern von einem gegebenen Stoffe abhängt; in so ferne mus der Trieb
in Rüksicht auf eine solche Vorstellung durch Afficirtwerden gereizt seyn, und die
subjektive Übereinstimmung oder der Widerspruch dieser Vorstellung (die in
15 Beziehung auf das Subjekt Empfindung heist) kan sich nur durch Lust und Unlust
ankündigen durch welche der besondere Trieb nach Verlängerung und Vermehrung,
oder nach Aufhebung der Empfindung, die der nächste Gegenstand des Begehrens
in engerer Bedeutung ist, gewekt wird. Insofern ist der Begehrungstrieb in engerer
Bedeutung Trieb nach Vergnügen, und eigennüziger Trieb. Wann und wieferne
20 hingegen eine Vorstellung ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, lediglich
von der Selbstthätigkeit des Subjekts abhängt, dann und insofern ist die Lust weder
Bestimmungsgrund noch Gegenstand des Triebes, erfolgt aber im Subjekte durch das
Bewustseyn seiner eigenen Handlungen. Diß ist der Fall beim reinen Wollen, wo
5 Objekt -] folgt gestr: unter 7 Vorstellungen aus Vorstellungs 18 engerer] folgt gestr: Begehr

Der Wortlaut des Exzerpts stimmt bis auf geringe Umformungen mit dem Original überein.
3-7 Vorstellungsvermögen ... Subjekt -] In O lautet dieser Satz: [11] Unter Vorstellungsvermögen in
weitester Bed. denkt er [sc. der Verfasser des besprochenen Buches, Carl Chr. Erhard Schmid] sich, die im Sub-
ject bestimmte Möglichkeit der Vorstellung überhaupt; unter Erkenntniß vermögen in w. B. diese Mög­
lichkeit in Rücksicht der Beziehung der Vorstellung auf das Object, und unter Begehrungsvermögen in
w. B. diese Möglichkeit in Rücksicht der Beziehung der Vorstellung auf das Subject. 10 wie ferne] O:
in wie ferne 19 wieferne] O: in wie ferne 23 Handlungen] O: Handlung
210 AU S DER BERN ER ZEIT Exzerpt 34

das Subjekt sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Foderung des
Triebes nach Vergnügen durch die blosse Vorschrift bestimmt, die es sich lediglich
durch Vernunft und also nur um der Vorschrift selbst willen gibt, während sich
dasselbe beim empirischen Wollen zwar auch durch eine Vorschrift, die es sich aber
um des Vergnügens willen gibt, selbst bestimmt, Begehren in engerer Bedeutung 5
wäre die Aüsserung des Triebes, der durch Vergnügen oder Mißvergnügen zur Ver­
stärkung oder Aufhebung einer Empfindung gereizt wird, Wollen hingegen die
Handlung des Subjekts durch welche sich dasselbe zur Befriedigung oder Nicht­
befriedigung einer Foderung des begehrenden Triebs selbst bestimmt

6 wäre] O: wäre so nach


Exzerpt 35 A U S D ER BERN ER ZEIT 211

Aus: A llg em ein e Lit e r a t u r - Z e it u n g 1792

Lit. Zeitung, n. 117. [17]92. Tennemann


»Sokrates Zwek ging nicht auf die Bearbeitung oder Vervollkommnung irgend
einer Wissenschaft, auch nicht einmal der Moral, sondern allein auf die moralische
5 Besserung und Ausbildung seiner Zeitgenossen - Plato’s Zwek ging weiter, er hatte
die Bildung des Menschengeschlechts überhaupt, die Vervollkommnung der Moral
als Wissenschaft und die Grundlegung einer philosophischen Gesezgebung und
Staatsverfassung zur Absicht.« Soviel ist gewiß daß Sokrates seinen Schülern kein
bündiges System der Moral vortrug: er suchte sie zum Selbstdenken zu führen, und
10 die Gründe der Sittenlehre sie aus sich selbst entwikeln zu lassen, damit sie diesen
Fund als ihr Eigenthum betrachten, und sich ein eignes System bilden möchten

[250] Hiermit geht er (S. 170) zur Darstellung der sokratischen und platonischen Philosophie über,
und sucht den wesentlichen Unterschied zwischen beiden festzusetzen. Natürlicher Weise mußte ihn hier
die Frage beschäftigen, ob die wahre sokratische Philosophie aus dem X en o p ho n , oder P lato, oder
aus beiden zugleich, müsse geschöpft werden. Um dies zu entscheiden, sucht er zuvor den Endzweck
der sokratischen Philosophie zu bestimmen. »Sokrates Zweck,« heißt es (S. 191.) »ging nicht auf die Be­
arbeitung oder Vervollkommnung irgend einer Wissenschaft, auch n icht einm al der M oral, son­
dern nur allein auf die moralische Besserung und Ausbildung seiner Zeitgenossen.« Nach dieser Voraus­
setzung tritt Hr. T[ennemann] der Meynung derjenigen bey, welche den X en o p ho n für die einzige
lautere Quelle der sokratischen Philosophie halten. Pia tos Zweck ging, nach dem Urtheile unsers Vf.,
weiter (S. 202.), er hatte die Bildung des Menschengeschlechts überhaupt, die Vervollkommnung der
Moral als W issenschaft und die Grundlegung einer philosophischen Gesetzgebung und Staats Verfassung
zur Absicht. (Im folgenden begründet Rez. seine von Tennemann abweichende Auffassung, daß man sich nicht auf
Xenophon allein stützen dürfe, sondern auch Plato heranziehen müsse, wenn man Sokrates wirklich kennenlernen
wolle.) [251] Hr. T. scheint sich [252] in dieser Untersuchung einmal zu widersprechen. S. 184. behauptet
er: »Sokr. habe kein System der Moral gehabt, weil seine vertrautesten Schüler keinen zusammen­
hängenden Unterricht genossen hätten, welches doch wohl hätte geschehen müssen, wenn er die Moral
in ein System gebracht hätte.« Gleich darauf gesteht er ihm doch G rundsätze zu, welche ihn bey allen
seinen Unterredungen geleitet hätten! Es ist ja wohl ein Unterschied zwischen einem System e und
einem zusam m enhängenden U n te rric h te? So viel ist gewiß, daß Sokr. seinen Schülern kein bün­
diges System der Moral vortrug: er suchte sie zum Selbstdenken zu führen, und die Gründe der Sitten­
lehre sie aus sich selbst entwickeln zu lassen, damit sie diesen Fund als ihr Eigenthum betrachten, und sich
ein eigenes System bilden möchten. Hieraus folgt unwidersprechlich, daß er selbst eins haben mußte.
212 AUS D ER BERN ER ZEIT Exzerpt 36

Aus: N eues t h eo lo g isc h es J ournal

Joh. l .
Von Urbegin war die Weisheit; sie thronte bei Gott, und war Gott selbst - Schon
von Urbegin war die Weisheit bei Gott; sie schuf alles; und Nichts von Allem was
ist, wurde ohne sie. Diese Weisheit ist eins mit der belebenden Gotteskraft, welche 5
schon frühe die Menschen erleuchtete. Nur fasten im A. T. die sinnlichen Menschen
den göttlichen Stral dieser Weisheit nicht, bis Johannes auf die Erscheinung des­
selben in Jesu vorbereitete.
v. 14. So^a die moralische Geistesgrösse und Hoheit Jesu von der sich alle seine
Schüler und Verehrer aus dem persönlichen Umgang mit ihm überzeugen konnten - io

Zu 2-8
[463] Es sei uns erlaubt, unsere Theorie durch die Erläuterung der sechs ersten Verse des ersten Kapitels
Johannis zu rechtfertigen. »Von U rb eg in n w ar die W eiß h eit: sie th ro n te bei G o tt und w ar
G o tt selbst. (Die Weißheit, Xoyoc;, wird nach Sprüchw. 8,22. ff. personificirt: s. L ö fflers Abhandlung
zum Platonismus der Kirchen-[464]väter S. 394. ff. Wie bei Plato die evoc<; oder (Jiova<;, mit dem vou<;
eine Substanz ausmachen (T ennem ann in Paulus Memorabilien I. Stück S. 34. ff.); so ist der Xoyoc,
und die Gottheit eine Substanz: gegen den Parsismus des Zerduscht, nach welchem das W o rt, als eine
Ur- und Feuerkraft von Ormuzd ausfloß.) Schon von U rb eg in n w ar die W eiß heit bei G ott:
sie schuf Alles; und N ich ts, von A llem , was ist, w urde ohne sie. (Gegen den parsischen Dua­
lismus, der auch später in die Gnose übergieng, und eine Ewigkeit der Materie behauptete. Johannes dringt
auf eine geistige Grundursache aller Dinge und erhebt sich also, als ein würdiger, philosophirender Lehrer
der moralischen Christusreligion, über den Materialismus, Dualismus und Pantheismus.) D iese W eiß ­
heit ist eins m it der belebenden G o ttesk raft, w elche schon frü h e die M enschen erleu ch ­
tete. (Licht und Leben und Weißheit sind eins: gegen die Zabier, die Schüler des Lichtes.) N u r faßten
im A. T. die sinnlichen M enschen den g ö ttlich en S tral dieser W eiß h eit n icht, bis Jo ­
hannes auf die E rscheinung desselben in Jesu v o rb ereitete. (Ahrimans Reich, nach Zerduscht,
das Reich der Finsterniß, ist das Reich der Sinnlichkeit und [465] des Aberglaubens, welches bisher unter
den Menschen herrschte.)«

Z u 9-10
[466] In demselben Verse ist wohl nicht W u n d er, wie der Verfasser glaubt: sondern ent­
weder die nrPDttf» der nimbus, welchen Johannes und Petrus während der Verklärung auf dem Berge an
Jesu sahen; oder T O D die moralische Geistesgrösse und Hoheit Jesu, von der sich alle seine Schüler und
Verehrer aus dem persönlichen Umgang mit ihm überzeugen konnten.
Exzerpt 36 N EU ES TH EO LO G ISC H ES JO U R N A L 213

2,19. reist immer disen Tempel, an dem nun beinahe ein halbes Jahrhundert
gebaut wird, ein! ich baue ihn in 3 Tagen, - d. i. diser Tempel das Palladium eurer
Theokratie, forderte die Kunst eines halben Jahrhunderts: meine Religionsverfassung
ruht auf keinem Tempel, und ist in kürzerer Zeit gegründet -
5 Matth. 10,23. Luc. 9,27. mehrere unter euch werden Zeugen seyn, daß meine
moralische Gotteslehre über die Staatsreligion des Judenthumes siegt.
2 Tagen,] Tagen. d. i. nachtr.

Zu 1-4
[467] Zu der dunklen Stelle 11,19. »reißet diesen Tempel ein und ich richte ihn in drei Tagen auf«
bemerkt der Verfasser »bei dem ganzen Ausspruche Jesu kam alles darauf an, wer [468] von seinen Zu­
hörern zugleich die Geberden, mit welchen ihn Jesus begleitete, sah. Wer blos die Worte hörte, konnte
wohl an nichts anders, als an (ein) Niederreissen des Hauses denken, in welchem Jesus diese Worte aus­
sprach. Wer aber, wie die Jünger, und unter denselben unser Schriftsteller Johannes so nahe bei ihm stand,
daß er auch zugleich die körperlichen Bewegungen und Mienen, mit welchen er sie begleitete, sah, der
mußte bald, zumal als Jude, dem diese bildliche Redensart nicht fremd war, an seinen Körper zu denken
sich gedrungen fühlen.« Da wir nicht abzusehen vermögen, welcher Zweck durch diese, seinen Zuhörern
gänzlich unverständliche Vorher Verkündigung seiner Auferstehung von Jesu erreicht werden sollte; so
fassen wir die Stelle, dem Zusammenhänge gemäß, zunächst also: »reisset immer diesen Tempel, an dem
nun beinahe ein halbes Jahrhundert gebauet wird, ein! ich baue ihn in drei Tagen:« ohne Bild »dieser
Tempel, das Palladium eurer Theokratie, forderte die Kunst eines halben Jahrhunderts: meine Religions­
verfassung ruht auf keinem Tempel, und ist in kürzerer Zeit gegründet.«

Zu 5-6
[187] Matth. 10,23. »Wenn sie euch in dieser Stadt verfolgen, so fliehet in eine andere: noch werdet
ihr die Runde um Israels Städte nicht vollendet haben, so wird der göttliche Gesandte erscheinen.« Herr
B olten ist der Meinung, daß hier weder von dem allgemeinen Weltgerichte noch von der Zukunft zum
Gerichte über Jerusalem, sondern davon die Rede sei, daß sich Jesus mit seinen Schülern, nach ihrer ersten
Sendung, also vor seinem Tode, in irgend einer jüdischen Stadt wieder vereinigen werde. Allein die Apostel
hatten damals noch nicht Kenntnisse genug, um schon zu einer so weitaussehenden Mission gebraucht
zu werden; auch lesen wir in der evangelischen Geschichte nicht, daß sie sich in den ersten drei Jahren so
weit von ihrem göttlichen Lehrer entfernet hätten. Aus dem ganzen Zusammenhänge erhellt vielmehr,
daß Matthäus die gedoppelte Instruction der Schüler Jesu bei ihrer ersten und zweiten Sendung vermengt
habe, und daß der Sinn der Worte Jesu dieser ist: »eure Verfolgung in Judäa dauert nicht zu lan-[188]ge;
denn ehe ihr noch die Flucht von einer Stadt zur anderen im Kreise vollendet haben werdet, komme ich
herbei, dem ganzen Staate ein Ende zu machen.« Das Wiederkommen ... Jesu bezeichnet also hier den
Sieg des Christenthums über das Judenthum.
Matth. 16,27. ff. »der göttliche Gesandte wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln
erscheinen und dann einem Jeden nach seinen Handlungen vergelten. In Wahrheit, einige unter den hier
Stehenden werden den K elch des Todes n icht trin k en , bis sie den g ö ttlich en G esandten
in der H errlich k e it seines Reiches w ied erk eh ren sehen.« ... Der wahre Sinn ist unverkennbar:
»mehrere unter euch werden Zeugen sein, daß meine moralische Gotteslehre über die Staatsreligion des
Judenthumes siegt.« Offenbar ist also auch hier von einer unsichtbaren Wiederkunft Jesu die Rede.
214 A U S D ER BERN ER Z EIT Exzerpt 36

Matth. 19,28. das Sizen Jesu auf seinem majestätischen Throne drükt auch hier
seine unsichtbare Herrschaft durch die Wahrheit und Göttlichkeit seiner Religion
aus - cf Luc. 22,30.69.
Matth. 26,63. freilich bin ich Christus, nur nicht der von euch erwartete Volks­
messias sondern nur der höhere moralische Christus, der eine neue Religion gestiftet 5
hat, und der nun bald zur Himmelsherrlichkeit erhoben, euch als Richter eurer
Boßheit und Hartnäkkigkeit erscheinen wird -
Luc. 4.
der Mensch braucht eben nicht irdische Güter zu einem glükseeligen Leben,
besser sind die geistigen Güter Weisheit und Tugend. io

Zu 1-3
[189] Matth. 19,28. »bei der großen Umwandelung, welche dem Judenthume bevorsteht, werdet
auch ihr, meine Schüler, wenn der Gottgesandte auf seinem majestätischen Throne sitzt, neben ihm auf
zwölf Thronen sitzen und das Urtheil über die zwölf Stämme Israels aussprechen.« Unter der 7raXiYYsveotoc
hat man hier, dem Zusammenhänge gemäß, nicht die Auferstehung der Todten, sondern die große
Revolution ... zu verstehen, welche das Christenthum hervorbringen, das Reich Christi, welches sich nach
seiner Auferstehung immer weiter ausbreiten und über alle Eingelenke des jüdischen Verfolgungsgeistes
siegen würde. Die Apostel sollten als Lehrer dem erhabenen Beispiele Jesu folgen und alle Vorurtheile des
jüdischen Aberglaubens zu überwinden suchen. Die Einkleidung dieses Zurufes ... enthält Bilder aus der
glänzenden Epoche der jüdischen Gerichtsstühle, um den Gedanken zu bezeichnen: »ihr werdet als Statt­
halter in meinem Reiche regieren.« Das Sitzen Jesu auf seinem majestätischen Throne drückt also auch hier
seine unsichtbare Herrschaft durch die Wahrheit und Göttlichkeit seiner Religion aus (vergl. Luk. 22,30.69.)

Zu 4-7
[190] ... Matth. 26,63. f. Der H o h ep rie ster: Ich beschwöre dich bei Gott dem Alllebenden, daß
du uns sagest, ob du der Messias, Gottes Liebling seiest? Jesus : Ich widerspreche nicht: aber noch mehr,
ihr werdet von jetzt an den Gottgesandten zur Rechten der göttlichen Allmacht erhoben, und aus den
Wolken des Himmels wiederkommen sehen. Der ausdrückliche Zusatz Jesu »von jetzt an ...« erlaubt es
nicht, an eine buchstäbliche Erklärung zu denken. Das Sitzen zur Rechten Gottes ... bezeichnet das Erhöhen
zu einer gottähnlichen W ürde; das Kommen auf den Wolken ... die Hoheit des ihm vom Vater über­
tragenen (Joh. 5,27.) moralischen Gerichtes. [191] Die ganze Stelle besagt also kaum mehr, als so viel:
»freilich bin ich Christus; nur nicht der von euch erwartete Volksmessias, sondern der höhere (moralische)
Christus, der eine neue Religion gestiftet hat, und der nun bald, zur Himmelsherrlichkeit erhoben, euch als
Richter eurer Boßheit und Hartnäckigkeit erscheinen wird.« Das £7U tcov vecpeXcov ist also
auch hier bildlich zu verstehen.

Zu 8-10
[448] Jesus [zu seinem Versucher]: ... O der Mensch lebt nicht vom Brode nur; Gott hat auch andern
Nahrungsmitteln Kraft mitgetheilt. Eben so braucht der Mensch eben nicht irdische Güter zu einem
glükseligen [449] Leben; besser sind die geistigen Güter, Weisheit und Tugend.
Exzerpt 37 A U S D ER BERN ER ZEIT 215

Aus: M o sh e im , K ir c h en g esch ich te

Mosh. histor. eccles. sec. 13. p. 2. c. 5. §. 10.


de doctrina fratrum liberi spiritus quaedam ex eorum scriptis excerpta.
Der gute Mensch ist der ingeburne Sohn Gottes, den der Vater eweclyken geburen
5 hat. Ick sprecke nüt, daß alle Kreaturen syn etwas kleines, oder daß sie etwas sind,
sondern daß sie sind om, (nihil). Es ist etwas in der Seelen, das nüt geschaffen ist -
und ungescheffelik; und das ist die Vernünftigkeit. Gott ist noch gut, noch besser,
noch allerbest, und ich thue also unrecht, wenne ich Gott gut heisse, rechte ase ob
ick oder er etwas wiz weiß, und ich es schwarz heisse. Der Vater gebiret nock sinen
io Sohn, und denselben Sun. Want was Gat wirket, das ist ein, durch das so gebirt er
auch sinen Sun an allem Unterscheid (idcirco gignit filium suum sine omni
divisione). Was die heilige Schrift gesprichet von Christo, das wird alles vor war
geseit von jiglichen gottlicken Menschen. Was eigen ist der gottlickcn Naturen,
3 liberi] libri 6 (nihil).] (nihil.) 8 wenne] folgtgestr: was wiz 9 es] folgt gestr: nenne es nock
aus noch 13 gottlicken2] folgt gestr: Menschen

[552] Apponam hic enuntiata quaedam ex secretioribus eorum libris: O m nis hom o vere pius
et bonus est un ig en itu s D ei filius, quem Deus ab aeterno g en u it: Germanice veteri illo
maiorum nostrorum sermone: Der gute Minsch ist der ingeburne Sune Gates, den der Vatter [553]
eweclycken geburen hat. Omnia enim illa, quae de divinae naturae distinctione in tres personas sacri
libri tradunt, negabant isti homines ad verbum intelligi debere atque ex reconditae disciplinae suae sensu
interpretabantur. O m nes res creatae n ih il su n t: N on dico, eas parvum et m in u tu m aliquid
esse, sed n ihil sunt. Ick sprecke nüt, daß alle Kreaturen syn etwas kleines, oder das sie etwas sind,
sondern daß sie sind om, nihil. Est in anim a hom inis aliquid nec creatum , nec creabilc: id
est ration alitas. Es ist etwas in der Seelen, das nüt geschaffen ist und ungescheffelick: Und das ist die
Vernünftigkeit. Deus nec bonus est, nec m elio r, nec o p tim u s: Q ui ergo D eum bonum
vocat, is aeque in sip ien ter agit, atque is, qui quod candidum esse n o v it, n ig ru m appellat.
Gat ist noch gut, noch besser, noch allerbest, und ich thue also unrecht, wenne ick Gat gut heisse, rechte
ase ob ick oder er etwas wiz weiß und ich es schwarz heisse. Deus g ig n it adhuc filium suum uni-
g en itu m et eum dem g ig n it filiu m , quem ab aeterno genuit. Q uod enim Deus o p eratu r,
id sim plex et unum est et filium id circo suum etiam g ig n it sine om ni divisione. Der
Vatter gebiret nock sinen Sun und denselben Sun. Want was Gat wircket, das ist ein, durch das so gebirt
er auch sinen Sun an allem Unterscheid. Q uod S crip tu ra d icit de C h risto , id de q u o lib et honline
divino et bono verum est. Et quod divinae naturae p ro p riu m est, id etiam cu ilib et vere
pio h o m ini p ro p riu m est. Was die heilige Schrift gesprichet von Christo, das wird alles vor war
geseit von einem jiglichem gottlicken Menschen. Was eigen ist der gottlicken Naturen, das ist alles eigen
216 AU S D ER BERN ER ZEIT Exzerpt 37

das ist alles eigen einem jiglichen gottlicken Menschen. - Deus est formaliter omne,
quod est. Quilibet homo perfectus est Christus per naturam. Homo perfectus est
über in totum, nec tenetur ad servandum praecepta data ä Deo. Multa sunt poetica
in Evangelio, quae non sunt vera, et homines credere magis debent eonceptibus ex;
anima sua Deo juncta profectis quam Evangelio etc. (haec, quae latine dicta sunt,
ex episcopi contra illos rescripto)

einem jiglichen gottlicken Menschen. Adde his, quae Latine tantum exhibebimus, sequentia, non ex ipsis
tarnen eorum libris, sed ex Jo h an n is, Argentinensis episcopi, longo contra fratres lib eri Spiritus
aut B echardos rescripto A. 1317. Sabbato ante festum A ssum tionis M ariae, excerpta: D eus
est fo rm aliter om ne, quod est. Q u ilib et hom o perfectu s est C h ristus per naturam . H om o
perfectus est ü b er in to tu m , nec ten etu r ad servandum p raecepta ecclesiae data a Deo.
M ulta sunt p o etica in E v an gelio , quae non sunt vera, et hom ines credere m agis debent
eonceptibus ex anim a sua D eo ju n c ta p ro fectis, quam E vangelio etc.
Exzerpt 38 A U S D ER BERN ER ZEIT 217

Aus: Förster, A n sic h t e n vom N ied err h ein

Försters Ansichten lstr Th.


Die Bekehrung im Kerker muß zweklos seyn, weil sie unfruchtbar bleibt, und ein
Augenblik wahrer Reue ist soviel werth als ein in Thränen und Büssungen hin-
5 geschmachtetes halbes Jahrhundert. Allein die Furcht vor dem Tode, die nur durch
eine der Würde des Menschen angemessene Erziehung gemildert und in Schranken
gehalten wird, lehrt den Richter das Leben in immerwährender Gefangenschaft als
eine Begnadigung schenken, und den Verbrecher es unter dieser Bedingung dankbar
hinnehmen. Auch hier wirkt also die Furcht, wie [sie] sonst immer zu wirken pflegt :
io sie macht grausam und niederträchtig. - So lang es Menschen gibt, die das Leben
ohne Freiheit, an der Kette und im Kerker, noch für ein Gut achten können, so lange
bedaure ich den Richter der vielleicht nicht weiß, welch ein schrekliches Geschenk
er dem unglüklichen Verbrecher mit der Verlängerung eines elenden Lebens macht;
aber verdenken kan ich es ihm nicht, daß er sich von dem Geiste seines Zeitalters
15 hinreißen läst.
ebend. p. 139.
Wenn man die gröste Anstrengung neuerer Zeiten betrachtet, ist cs unmöglich
sich des Gedankens zu erwehren; wie arm und hülflos in Absicht des Erhabenen und
Idealen sie da stehen würden, wenn sie nicht die Griechen zu Vorgängern und
20 Mustern gehabt hätten.
9 hinnehmen aus anzunehmen

Die exzerpierten Stellen stimmen mit dem Original überein, ausgenommen: 3 Der Anfang des Gedankens
lautet im Original: [24] Die fromme Täuschung, die man sich zu machen pflegt, als ob ein Delinquent
während seiner lebenslänglichen Gefangenschaft Zeit gewönne, in sich zu gehen, eine sittliche Besserung
anzufangen, sich durch seine Reue mit Gott zu versöhnen und für ein künftiges Leben zu bereiten, würde
schnell verschwinden, wenn man sich die Mühe gäbe, die Erfahrung um Rath zu fragen, ob dergleichen
Bekehrungen die gewöhnlichen Folgen der ewigen Marter sind ? Die finsteren, modernden Gewölbe der
Gefängnisse, und die Ruderbänke der Galeeren würden, wie ich fürchte, hierüber schauderhafte Wahr­
heiten verrathen, wenn man auch nicht, durch richtiges Nachdenken geleitet, schon im voraus überzeugt
[25] werden könnte, daß die Bekehrung im Kerker zwecklos seyn müsse, weil sie unfruchtbar bleibt,
und daß ein Augenblick wahrer Reue so viel werth sei, als ein in Thränen und Büßungen hingeschmach­
tetes halbes Jahrhundert. 10 Der Gedankenstrich bezeichnet folgende Auslassung: Doch den Gesetzen will
ich hierin weniger Schuld beimessen, als der allgemeinen Stimmung des Menschengeschlechts. 17
Zeiten] O: [139] Künstler 19 Idealen] O: Idealischen
218 AU S DER BERN ER ZEIT Exzerpt 38

p. 208 .
Es mag seine Richtigkeit haben, mit der göttlichen Vollkommenheit der beiden
Meisterwerke des Phidias, seiner Minerva und seines Jupiters; aber je majestätischer
sie da säßen oder ständen, das hehre Haupt für unsern Blik angränzend an den Him­
mel: desto furchtbarer unserer Phantasie; je vollkommnere Ideale des Erhabenen: 5
desto befremdlicher unserer Schwachheit. Menschen, die für sich allein stehen konn­
ten hatten kekes Bewustseyn genug um jenen Riesengottheiten ins Auge zu sehen,
sich verwandt mit ihnen zu fühlen und sich um dieser Verwandschaft willen ihren
Beistand im Nothfall zu versprechen -
Unsre Hülfsbedürftigkeit ändert die Sache. Wir darben unaufhörlich und trozen 10

nie auf eigne Kräfte. Einen Vertrauten zu finden, dem wir unsere Noth mit uns selbst
klagen, dem wir unser Herz mit allen seinen Widersprüchen, Verirrungen und
geheimen Anliegen ausschütten, dem wir durch anhaltendes Bitten und Thränen-
vergießen wie wir selbst geduldig und mitleidig sind, ohne ihn zu ermüden, Beistand
und Mitleid abloken können: diß ist das Hauptbedürfnis unseres Lebens, und dazu 15
schaffen wir uns Götter nach unserem Bilde. In dem nächsten Kapellchen kan ich
die Überzeugung finden, daß die unbegreifliche Gottheit selbst, schwerlich irgendwo
mit dem herzlichen Vertrauen angerufen wird, womit eifrige Christen hier zu den
Heiligen beten, die einst Menschen waren, wie sie. Diß ist die Stimme der Natur -
das Schwache kan das Vollkommene nicht umfangen; es sucht ein Wesen seiner 20

Art, von dem es verstanden und geliebt werden, dem es sich mittheilen kan -
16 dem aus der (?) 18 herzlichen aus herrlichen

19-21 Diß ... kan -] O: [209] Dies ist die Stimme der Natur, trotz allem, was die Philosophie, die nur
in Abstraktionen lebt, darüber dogmatisiren mag. Gleichheit ist die unnachläßliche Bedingung der Liebe.
Der Schwache kann das Voll-[210]kommene nicht umfangen; er sucht ein Wesen seiner Art, von dem
er verstanden und geliebt werden, dem er sich mittheilen kann.
Exzerpt 39 A U S D ER BERN ER ZEIT 219

Aus: A llg em ein e L it e r a t u r - Z e it u n g 1796

Lit. Zeitung n. 59 - 1796. Principien der Gesezgebung darfen nicht mit Principien
der Sittlichkeit verwechselt werden. Das Princip der Moral soll nicht die einzelnen
Vorschriften der Sittenlehre gleichsam in sich halten, sondern soll nur das höchste
5 Kriterium seyn, ob sich eine Maxime mit der Sittlichkeit verträgt. Sie ist objektiv
das für die Maximen, was der Saz des Widerspruchs für Behauptung ist. Subjektiv
aber muß sie den Beweggrund enthalten, durch den eine Handlung moralisch wird.
Das, wodurch eine Handlung moralisch ist, muß aber in unserer Gewalt stehen, und
kan daher nie in einen Zwek gesezt werden, dessen Erreichung vom Zufall abhängt.
10 Sie enthält auch nicht die Bestimmungsgründe zum Handeln, sondern drükt die
Gesinnung aus, in der wir die Bestimmungsgründe abwägen sollen. Die geforderte
Reinheit der Gesinnung ist daher nicht ein Ideal, sondern eine unnachlaßliche
Foderung der Vernunft.
4 soll nachtr. höchste aus höchstes 6 das nachtr.

Das Exzerpt stimmt bis auffolgende Einzelheiten mit dem Original überein:
2-3 Principien ... werden.] Dieser Satz ist umgeformt aus folgendem Gedanken in O: Die Einwürfe gegen
Kant ... gründen sich alle auf die Verwechslung der Principien zur Gesetzgebung mit einem Princip der
Sittlichkeit. 6 die fehlt in O 12 nicht] O: nicht, wie Hr. F. glaubt,
EXZERPTE
Z U M B E R N E R STAATSWESEN
VERMUTLICH 1795/1796
Exzerpt 40 Z U M BERN ER STA A TSW ESEN 223

AUS: D U G O U V ER N EM EN T DE B E R N E

D u gouvernem ent de B erne, en Suisse. 1793.


chap. 4. des contributions publiques

Les im pots sont un de ces objets d ’un in teret general, qui m eriten t d ’au tan t plus
5 l ’attention , qu ’ils sont pour ainsi dire la prem iere m esure, d ’apres laquelle on peut
ju g er de la bonte d ’un gouvern em en t, et le th erm om etre de la prosperite publique:
le gouvernem ent n ’en pertjoit que de deu x especes savoir les droits de peages et
l ’im p ot territorial. A cöte de cela p oint d ’im pöts directs ou indirects, ni capitation,
ni droits de patentes, ni papier tim b re, ni ferm es, ni privileges exclusifs, qui renche-
10 rissent les objets de prem iere necessite, il n ’ y a pas m em e de droits sur les objets
dont le lu x e p eu t avoir fa it un besoin, et l ’ on jo u it de la plus grande liberte de
com m erce et de consom m ation. II n ’y a que deu x exception s ä faire, mais qui bien
loin d ’ etre ä la charge du peuple, sont pour son a va n ta g e et pour sa surete. Les sels
sont en regie, et distribues p ar le souverain qui les tire de l ’etran ger; la p etite quan-
15 tite , que notre p ays peut en produire, etan t fo rt insuffisante: mais cette regie n ’est
point onereuse, puisque le sei n ’est pas plus eher, dans notre p ays que chez ceux
qui nous le fournissent: il se ven d un sol 9 deniers la liv re. - L a seconde excep-

4 sont] folgt gestr: encore 6 publique:] folgt gestr: (1) lorq (2) lorsque 17 le] les

[17] C h ap itre IV
Des Contributions publiques
Les impots sont encore un de ces objets d’un interet general, qui meritent d’autant plus l’attention, qu’ils
sont pour ainsi dire la premiere mesure d’apres laquelle on peut juger de la [18] bonte d’un gouvernement,
et le thermometre de la prosperite publique: (Das Exzerpt überspringt: Lorsque les contributions levees sur
le Peuple ne sont pas proportionnees ä ce que le Prince fait pour lui; lorsqu’elles ne sont pas fixees d’une
maniere invariable, et que des ordres arbitraires menacent ä chaque instant la jouissance paisible que chacun
doit avoir de sa propriete; lorsque les impots surpassent les facultes des pauvres Citoyens, ou du moins
lorsqu’ils les genent, lorsqu’ils decouragent l’agriculture, qu’ils nuisent ä l’industrie, qu’ils pesent sur la
classe la plus indigente, alors on a lieu de plaindre un Peuple soumis ä ce fardeau.
Mais nous sommes bien eloignes d’en porter un semblable, et les legeres contributions publiques per^ues
par le Gouvernement n’ont pas un seul de tous ces vices.J II n’en per<;oit que de deux especes, s^avoir les
droits de peages et l’impot territorial.
Von hier ab stimmt das Exzerpt im Wortlaut mit dem Original überein.
224 Z U M BERN ER ST A A TSW ESE N Exzerpt 40

tion est pour les m archands am bulans, qui p arcou ren t les foires, et qui ne p euvent
exercer cette espece de com m erce sans une p a ten te du so u verain : C ette p recaution
de surete fu t etablie il y a quelques annees ä l ’occasion de plusieurs voleurs publics,
qui parcou raient le p a y s , en q ualite de p orteballes, et qui com m ettaient un grand
nom bre de crim e s: il e ta it donc necessaire que cette classe d ’homm es qui v o n t dans 5
les villages et dans les cam pagnes ecartees fu t soum ise ä quelque surveillance.
Les droits de p eage se leven t sur tous les objets de com m erce q u ’on transporte
dans le p a y s ; mais ils sont si m oderes, q u ’ils n ’influent p oint d ’une m aniere sensible
sur leur p rix , et que le consom m ateur n ’est jam a is en souffrance. Les objets les
m oins necessaires sont les plus cb arges; cependant ce q u ’ils p a yen t au P eage est 10
bien peu de chose en com paraison des ta x es auxquelles ils sont soum is dans les
autres E ta ts : p ar exem ple le Cacao sur lequel les droits sont les plus forts ne p aye
que 2 1. 4 s. le q uin tal. Q uand a u x autres objets d’un usage plus com m un tels que
l ’huile, le savon, le Sucre, le caffe, etc. ils ne sont soum is q u ’ au peage m odique de
12 ä 14 sous le q uin tal. Il est facile de [se] convaincre, com bien peu ces droits sont 15
onereux en faisan t la com paraison du p rix de nos m archandises avec celui des autres
peuples, com paraison qui suffit pour ferm er la bouche ä tous les censeurs, qui
s’elevent contre cette espece de droits. Le Sucre que nous tirons de H ollande

6 quelque] quelques surveillance.] folgt gestr: Les (danach Zwischenraum) 8 le] les 10 ce] ce
18 Le] Les

Der letzte, nur angefangene Satz des Exzerpts lautet vollständig im Original: [20] Le sucre que nous tirons
de Hollande, malgre les fraix d’un long transport et les droits de peage, se vend au meme prix dans nos
boutiques de detail que dans les raffineries de France: les droits de peage ne peuvent donc pas les avoir
beaucoup rencheris; de meme en est-il de tous les autres objets de commerce qui ne sont pas plus greves
que ceux-lä, et sur lesquels il n’y a aucun impot de consommation.
Exzerpt 41 ZU M BERN ER ST A A TSW ESEN 225

Aus: L ’e t a t et l e s d e l i c e s d e la S uisse

L’etat et les delices de la Suisse par plusieurs auteurs.


Amsterdam. 1730. 8. en 4 tomes.
tom . I. ch. 13. sur le gouvern em en t des cantons. dans un gouvern. aristocr. un
5 hom m e savan t et eloquent a beau dire les plus belles choses du m onde ä des gens, qui
souvent n’ ont ni etude ni Science; bien loin de persuader il ne fa it que se rendre suspect,
parce que la plus grande p artie de ceu x ä qui il parle h ait l ’ appareil de l ’erudition
et s’en defie — presque tous ceu x qui ont p a rt a u x affaires, ont de l ’education il n ’en
la u t [pas] davan tage pour leur faire croire q u ’ils ont de la p robite, de la Science, de
10 la prudence, et asses de m erite, pour gouverner seuls. cela les em peche de se rendre
ä des avis que [de] plus habiles gens q u ’ eu x proposent —

7 parce] parce ce 8 s’en defie] s’enfin

[213] C h ap itre X III


De la forme du Gouvernement general des sept Cantons
(Von den dreizehn Kantonen seien sieben aristo-demokratisch verfaßt. Von diesen räumten Zürich, Basel, Schaff­
hausen dem Volk mehr Mitwirkung ein, Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn weniger. - Es sei falsch zu be­
haupten, es gebe heute sieben reine Aristokratien. Andererseits seien Demokratien in Wirklichkeit Oligarchien, in
denen wenige Personen das Volk nach ihrem Willen lenkten, und zwar kraft ihrer Eloquenz.)
[216] Il n’en vapasde meme dans un Gouvernement A risto cratiq ue. Un homme savant et eloquent
a beau dire les plus belles choses du monde ä des gens, qui souvent n’ont ni etu-[217]de ni Science: bien loin
de persuader, il ne fait que se rendre suspect, parce que la plus grande partie de ceux ä qui il parle hait
l’appareil de l’erudition et s’en defie: (Das Exzerpt überspringt: on aime mieux, suivre les sentimens de ceux
que l’on a choisis, pour etre ä la tete des affaires. Il arrive neanmoins asses souvent, qu’un homme habile et
politique, venant ä cacher tout son brillant et ä se mettre en apparence dans les interets du Peuple, fait alors
tout ce qu’il veut. Tout le succes d’un avis depend ainsi du credit, que peut avoir celui, qui le propose et
de la bonne opinion, que l’on a con<;ue de lui. Ces choses lui manquent-elles ? Il donneroit le conseil le
plus excellent du monde, il ne seroit pas ecoute. Il y a ce mal, sij’ose le dire, dans le Gouvernement A risto-
cratiq ue;j c’est que presque tous ceux, qui ont part aux affaires, ont de l’education, il n’en faut pas davan­
tage, pour leur faire croire, qu’ils ont de la probite, de la Science, de la prudence et asses de merite, pour
gouverner seuls. Cela les empeche de se rendre a des avis, que [218] de plus habiles gens qu’eux proposent:
(Es wird dargelegt, daß die Unterschiede in der Regierungsform der Kantone nicht von Anfang an bestanden,
sondern sich im Laufe der Zeit entwickelt hätten. - Besonders wird eingegangen auf die Weise, wie man in den heute
aristokratischen Kantonen die Partizipation an der Regierung handhabe.)
226 Z U M BERN ER ST A A TSW ESEN Exzerpt 41

zu XIII. - sur ce que les places vacan tes ne se rem plissent, que des parens ou des amis de
ceux, qui sont deja en place. Je n ’ ai rien ä repondre si non que l ’on p ratiq u e en
Suisse ce que l ’on fa it en F ran ce en angleterre et presque dans to u t l ’U nivers. Le
pere eleve p a rto u t son fils, son paren t, son allie p referablem en t ä to u t autre. C ’est
lä un usage1 ancien, qui est de tous les tem s, de tous les pais et tous les lieu x. — 5
celui qui possede en Suisse quelques biens fonds, n ’est jam ais trouble dans sa
possession: on ne le force pas de con vertir son argent en un papier trom peur, il
n ’apprehende ni les C ap itations ni les ta x e s: to u t Im p ot nouveau lui est inconnu
les revenus de Charges de M agistrature ne d oiven t pas etre trop considerables
zu XIII. car si une fois les honneurs se tro u v en t jo in ts avec de grandes richesses chacun 10
s’em pressera d ’y p arven ir non pour l ’a va n ta g e m ais p ar des vues d’interet sordide.

1 D azu m it Z eichen am R an de: un abus pas un droit

1 ne nachtr. amis aus amies 3 Le] folgt gestr: eie 6 en Suisse nachtr. 9 etre aus etres 11
vues] vües interet aus interets 12 pas aus non (?) un2 nachtr.

[223] A l’egard de ce que dit TAuteur de la Relation, que les Places vacantes ne se remplissent, que des
Parens ou des Amis de ceux qui sont deja en Place. Je n’ai rien ä repondre sinon, que l’on pratique, en
Suisse, ce que l’on fait en France, en A n g leterre, et presque dans tout l’Univers. Le Pere eleve par-tout
son Fils, son Parent, son Allie, preferablement ä tout autre. C ’est-lä un usage ancien, qui est de tous les tems,
de tous les Pais et de tous les Lieux. Les Suisses ne different point en cela du reste des hommes.
(Dennoch sei es, z. B. auch in Bern, gelegentlich möglich, daß ein Bürger neu zu den honneurs de la Republique
gelange, allerdings sei dies unter den heutigen Verhältnissen schwieriger als früher. - Jede Regierungsform habe ihre
Unvollkommenheiten, weil weder die Bosheit [la mcchancete] der Untertanen noch die der Regierenden ausgerottet
werden könne. Die natürlichste Regierungsform sei die Aristokratie, und sie weise letzten Endes die wenigsten
Fehler auf So führten die Schweizer ein glückliches Leben; [228] ils ne sont point desolcs par des Guerres con-
tinuellcs, foulcs par des Tributs, accablcs par des Impots, ni sujets ä tant de revers inopincs de la Fortune, et
du caprice du sort, ä quoi presque toutes les autres Nations sont exposees.J Celui qui possede en Suisse
quelques biens fonds, ou de quelque autre nature que ce soit, n’est jamais trouble dans sa possession: on ne
le force pas de convertir son argent en un papier trompeur, il n’apprehende ni les Capitations, ni les Taxes:
tout Impöt nouveau lui est inconnu; il jouit de son bien en repos . . .
(Die beste Form der Regierung sei tatsächlich diejenige, unter der man in völliger Sicherheit sein Gut genießen
könne. Zur Vermeidung von Aufruhr müsse sichergestellt werden, daß unter den Regierenden die Ämter gleich ver­
teilt und daß die Untertanen nicht ungleich belastet seien. Für die Republik der Schweizer bedürfe es aber noch
weiterer Bestimmungen: t) Ein Gesetz müsse Offenheit und Eintracht unter ihnen gewährleisten. 2) Jeder Kanton
müsse zur Regel haben, die alten Gesetze der Republik auf keinen Fall zu ändern; denn diese seien le fondement
et la süretc de l’Etat.J [232] 3. Les Revenus des Charges de Magistrature ne doivent pas etre trop conside-
rablcs; car si une fois les honneurs se trouvent joints avec de grandes richesses, chacun s’empressera d’y
parvenir, non pour l’avantage de la Republique; mais par des vues d’intcret sordide. D ’ailleurs ce seroit
infailliblcmcnt, un jour, la scmence de quelque Guerre Civile.
(Der Behauptung, daß die sieben Kantone mit Städten hinsichtlich der Regierenden ziemlich gleich, im Flinblick
auf die Untertanen dagegen ungleich verfaßt seien, müsse entgegengehalten werden, daß sie die historische Entwick­
lung nicht berücksichtige. Manche Kantone, z. B. Bern, hätten sich im Laufe der Zeit sehr vergrößert, und es könne
nicht angelten, daß die hinzugekommenen Gebiete, die eigentlich Untertanen des Kantons seien, an der Ausübung
Exzerpt 41 L ETAT ET LES D ELICES DE LA SU ISSE 227

Le pouvoir souverain est a tta ch e ä ja m a is a u x bourgeois de la C apitale de chäque


Canton, il n’y a que ces bourgeois qui puissent etre choisis m em bres du grand
conseil et il n’y a que les m em bres qui p uissent occuper tous les bons E m plois, de
sorte que les h abitans de to u t le reste du C anton sont entierem ent exclus de toutes
5 les pretentions au gouvern. — on ne p eu t pas dire, que tou tes les fam illes qui n ’ont
p a rt du gouvern. ne

5 ont] on

der Ämter beteiligt würden, da sie keinerlei Verdienste um die Republik hätten. - Im weiteren wird die Auffassung
vorgetragen, ein demokratisches Gemeinwesen brauche zu seiner Erhaltung eine M iliz statt eines Söldnerheeres,
ferner Agrargesetze, die Gleichheit garantierten, sowie eine regelmäßige Rotation in der Ausübung der Ämter; es
wird erörtert, ob und wieweit dies in den Schweizer Kantonen verwirklicht sei. In diesem Zusammenhang heißt es:)
[239] Mais par rapport aux Sujets, le Gouvernement est tres-inegal. Le Pouvoir Souverain est attache,
ä jamais, aux Bourgeois de la Capitale de chäque Canton. Il n’y a que ces Bourgeois, qui puissent etre
choisis Membres du Grand Conseil; et il n’y a que les Membres de ce Conseil, qui puissent occuper tous les
bons Emplois; de sorte que les Habitans de tout le reste du Canton [240] sont entierement exclus de toutes
les Pretentions au Gouvernement.
(Dies sei sinnvoll gewesen im Anfang der Republik, als deren Territorien sich noch kaum über die Stadtmauern
hinaus erstreckten. Aber bei den Kantonen, die stark gewachsen seien, bestehe heute ein großes Mißverhältnis. Par
exemple dans celui de B erne, oü l’inegalite est la plus visible, puisqu’il est le Canton le plus vaste, il n’y
a certainement pas plus de quatre-vingt Familles, qui ayent ä present part au Gouvernement, quoiqu’il y
ait plus de trois-cens-soixante Familles Bourgeoises dans la Ville, et que leur Canton fasse, pour le moins
la troisieme partie de toute la Suisse. - Innerhalb der anschließenden kritischen Erwägungen hierzu heiße es:)
[241] Je conviens que tout le Gouvernement y est renferme dans quatre-vingt Familles; c’est un fait
trop clair, pour pouvoir le contester; mais je nie, qu’il y ait plus de trois eens Familles, qui ayent droit de
pretendre au Gouvernement; quoiqu’il en soit, on ne peut pas dire pour cela que toutes les Familles, qui
excedent le nombre des quatre-vingt, ne participent pas aux Revenus de la Republique, et que leur droit
leur soit inutile et infructueux; . . . (Es wird hingewiesen auf Familien mit Einkünften aus kirchlichem Besitz,
auf neue Familien, die noch keine Ansprüche auf Regierungsbeteiligung erworben hätten, auf Familien, die wegen
ihres auswärtigen Wohnsitzes ihre Rechte nicht ausüben könnten, etc.)
228 Z U M BERN ER ST A A TSW ESEN Exzerpt 42

Aus: S e ig n e u x , System e abrege

System e abrege de ju risp ru d . crim inelle accom m odee1*5


7ä la lo ix et ä la Constitution
du p ays par F r. Seigneux. Ju ge civ il et crim inel de la ville de L aus. 1756.

A va n tp r. p. X . des ju g es, qui ne sont pas souverains, ne p eu ven t se passer de


regles pour l ’adm in istration de la ju stice. p ag. 5 ss. Com m e la Suisse ou H elv. 5
m eridionale dependoit de la B ourgogn e, sous le regne de G ondebaud nos lo ix ont eu
dans tous les tem s b eaucoup d ’ affinite avec celle de cette p ro vin ce; une des plus
anciennes lo ix que nous connoissions est celle de G ondebaud I I roi de B ourg. 480.
qui s’ accordent avec les notres au moins dans les principes — la m eme uniform ite se

1 D arüber, oben rechts a u f der S eite: zu IV. p. 90 10

3 du] davor gestr: dy par aus dem Ansatz: pr 4 X. über gestr. 10 5 pag. 5 ss. nachtr. über gestr. nos
6 Bourgogne,] folgt gestr: sous 1 sous ... Gondebaud nachtr. über der Zeile Gondebaud] Gondeband
8 Gondebaud] Gondeband

A v an t-pro p o s
[X] Des Juges qui ne sont pas Souverains ne peuvent se passer de regles pour Tadministration de la
Justice; . . .
C h ap itre I
(Das erste Kapitel beginnt: [1] La Jurisprudence Criminelle n’a commence ä prendre en Suisse une forme
un peu reguliere que depuis environ deux Siecles. Avant cette epoque, on ne connoissoit d’autres regles,
que celles qu’observoient les peuples barbares, qui avoient inonde l’empire et les Gaules: . . . Der Verfasser
geht näher ein auf diese frühe Strafpraxis.)
[5] Une des plus anciennes loix que nous connoissions est celle de Gondebaud II, Roi de Bourgogne;
eile est de l’an 480: Elle merite une attention particuliere, en ce que la Suisse ou Helvetie meridionale depen­
doit de la Bourgogne sous son regne, et que nos loix ont eu dans tous les tems beaucoup d’affinite avec
celles de cette province, comme je le montrerai par quelques exemples. (Es folgt eine Gegenüberstellung
der Bestrafung vergleichbarer Taten nach dem Gesetz des Gondebaud und nach dem des Plait General de Lausanne
von 1368.) [6] On voit que ces loix quoique differentes sur la quotite de Tarnende s’accordoient cependant
sur le fond des principes; ...
[7] La meme uniformite que Ton trouve dans les principes se rencontre encore dans la forme des Juge-
mens, et dans la maniere de faire les Loix; tous les cas de crimes etoient juges publiquement par un Tribunal
appellc P lacitum ou C our Seculiere, parce que les Ecclesiastiques ne pouvoient assister aux causes de
sang; ...
Exzerpt 42 SE IG N E U X , SYSTEM E ABREGE 229

rencontre dans la form e des jugem en s2, et dans la m aniere de faire les lo ix - le
pouvoir legisla tif etoit exerce par l ’ assem blee du P la it general ou des E ta ts, composee
des E cclesiastiqu es, des nobles (Milites) et des Com m unautes ressortissantes qui
form oient les E ta ts de la province sous la presidence du prince ou de l ’E veq u e qui
5 les con voqu oit annuellem ent au 1 er du M ai - on nous a conserve la m aniere dont se
tenoient les E ta ts en Suisse (par exem ple a. 1264. sous la presidence du B aillif au
nom du Prince — ainsi 1368 com m e tous les p laits G en erau x etoient en F rance et
dans l ’E m pire, oü se tra ito ien t les affaires les plus im portantes de l ’E ta t. les diettes
tiennent en E m pire la place des P la its generaux, et en F ran ce il reste encore dans
10 certaines provinces une om bre des anciens P la its ou E ta ts g en erau x .3
L a Caroline — dans cette periode l ’E m p ereur et l ’E m p ire ne conservoient plus
aucun droit de superiorite sur les Suisses, ils etoient souverains et independans ils

2 D arüber nachtr. : publiquem ent par une cour seculiere


3 In der freigebliebenen H a lb ze ile am Schluß des A b sa tze s nachtr. m it kleiner Schrift 3 Z eilen :
15 (ecclesiast. L L E E . exercent le droit des E veques,
seigneurs sont encore eux m em es, il y a encore des baro-
nies, m ais com m e il n ’y [a] plus (?) d ’etats, ceux ci -

2 pouvoir] folgt gestr: executif Plait aus plait 3 des2] de 7 comme] folgt gestr: tout 8 oü se]
oü<s> le l’Etat] l’^Ep) ^Empire) E tat 10 Plaits] davor gestr: pl 12 superiorite] superiote 15
Eveques,] danach, nochmals nachträglich, eng am Rand 2-3 nicht eindeutig lesbare Wörter 17 plus] das Wort
ist, wie die beiden vorangehenden Einzelbuchstaben, T. in die darunterstehende Zeile hineingeschrieben; Lesung
unsicher8

[8] Le pouvoir legislatif etoit exerce par l’assemblee du Plait General ou des Etats, composee des Eccle­
siastiques, des Nobles (M ilites) et des Communautes ressortissantes qui formoient les Etats de la Province
sous la presidence du Prince ou de l’Eveque qui les convoquoit annuellement au 1er de Mai.
(Hier schließt sich folgende Fußnote an:)
On nous a conserve la maniere dont se tenoient les Etats en Suisse: ceux qui furent tenus au Pais de
Vaud sous Pierre Comte de Savoye Seigneur de Vaud en 1264 etoient composes des trois Etats, savoir,
pour les Ecclesiastiques; des Commandeurs de Romainmotier et la Chaux, les Abbes de Romont, Aulcret,
lac de Joux et Marsens, les Prieurs de Payerne, St. Bernard etc. Pour les Nobles assistoient les Comtes de
Romont, Neufchatel, Gruyere et l’Eveque de Lausanne; les Barons de Cossoney, la Sara, Aubonne, Mont,
et Grancourt, les Banderets d’Estavaier, Coppet, Prengins, Oron, Montricher, Foux, Vuflens, Vuillerens,
Cugiez, Bavois et Veuillens. Pour les Communes ou le tiers Ordre les Deputes de Moudon, Nion, Yverdon,
et Morges; des Mandemens de Cudrefin, des Clees, ceux des bourgades de Payerne, Orbe, Morat, Avan-
ches et Montagni, sous la presidence du Baillif au nom du Prince. Le Plait General de Lausanne en 1368
etoit aussi compose des trois Ordres de l’Etat, comme tous les Plaits Generaux l’etoient en France et dans
l’Empire, oü se traitoient les affaires les plus importantes de l’Etat. Les Diettes tiennent en Empire la place
des Plaits Generaux, et en France il reste encore dans certaines Provinces une ombre des anciens Plaits ou
Etats Generaux.
(Es folgen weitere historische Betrachtungen. Hervorgehoben werden die Bemühungen des Kaisers Maximilian
um sages Reglemens, qu’il se proposoit de faire recevoir dans tout l’Empire comme loi generale.)
230 Z U M BERN ER ST A A TSW ESE N Exzerpt 42

se gouvernoient par leur propres lo ix et par consequent ils n ’ etoient p oint soum is4 ä
l ’ordonnance de Charles V - cependant ils en adop teren t l ’usage, oü p lu to t ils s’y
con form eren t; sans cependant lui a ttrib u er force de loi. la republ. de B erne en
prescrivit meme l ’usage ä ses v a ssau x , qui avoien t le droit de glaive [;] dans ce tem s
les juges n ’avoient p oin t de lo ix crim inelles — le souverain vo u lo it q u ’ elle fu t suivi 5
dans les pais de leur dependance et en p articu lier ä L ausan ne et lieu x de son ressort
par deux extraits tires de nos regitres publics, oü on tro u v e que le 3 aoüt 1555 une
fille a ya n t d etru it son fru it, le trib u n a l Crim inel com m ua la peine ordinaire dictee
par la Caroline, en v e rtu de la quelle cette fille d ev o it etre subm ergee. L L .E E . firent
lä dessus de viv es censures qui obligerent le Conseil de L au san ne ä presenter de tres 10
hum bles excuses; sur quoi L L .E E . ce sont les term es de l ’A rre t ne s’etan t contentes
des dites excuses, laissent neanm oins passer le to u t p our cette fois a la condition
q u ’ils prennent bien garde et q u ’ ä l ’ avenir ils ch atien t les crim inels selon leurs
dem erite et selon le droit im perial, et q u ’ils ne leur fassent p oint de grace. Le 26

4 D aru n ter , in der linken unteren E cke der Seite: V II z u p 184. 15

3 sans ... de loi. nachtr. über der Zeile 4-5 dans ... criminelles nachtr. über der Zeile 5 de] des 7
une] un 10 de3 aus des

[11] Charles V. qui lui succeda ne perdit point de vue un projet si important et si utile, et ce ne fut que
l’an 1532 qu’enfin la Constitution Caroline obtint la sanction dans une Diette solemnelle tenue ä Nu-[12]
remberg. ...
Telle est l’histoire abregee de la Jurisprudence Criminelle de TEmpire et de la Suisse qui en a fait partie
pendant plusieurs Siecles. A l’epoque dont je parle, l’Empereur et l’Empire ne conservoient plus aucun
droit de superiorite sur les Suisses; ils etoient Souverains et independans, ils se gouvernoient par leurs
propres loix, et par consequent ils n’etoient point soumis ä l’ordonnance de Charles V. Cependant comme
ils avoient encore certaines relations avec l’Empire, et que d’ailleurs cette Constitution avoit ete examinee,
revue et modifiee avec toutes les precautions que dictent la sagesse et la prudence, en sorte qu’elle contenoit
les meilleures loix qu’on eut jamais fait en ce genre, ils en adopterent l’usage, ou plutot ils s’y conformerent,
sans cependant lui attribuer force de loi.
La Republique de Berne en prescrivit [13] meme l’usage ä ces Vassaux qui avoient le droit de glaive;
dans ce tems lä les Juges n’avoient point de loix criminelles; ... (Es folgt ein Hinweis auf die Verbesserung
der Rechtsprechung, die durch die Carolina ermöglicht wurde.)
Je prouve que le Souverain vouloit qu’elle fut suivie dans les Pais de leur dependance, et en particulier
ä Lausanne et lieux de son ressort, par deux extraits tires de nos regitres publics, oü on trouve que le 3.
Aoüt 1555 une fille ayant detruit son fruit, le Tribunal Criminel commua la peine ordinaire, dictee par la
Caroline, en vertu de laquelle cette fille devoit etre submergee; LL.EE. firent lä dessus de vives censures
qui obligerent le Conseil de Lausanne ä presenter de tres humbles excuses. Sur quoi LL.EE. ce sont les
termes de l’Arret, ne s’etan t contentes des dites excuses, laissent neanm oins passer le to u t
p o u r cette fois, ä la co n d itio n q u ’ils p ren n en t bien gard e, et q u ’ä l ’a-[1 4 ]v en ir ils
c h atien t les crim inels selon leur d em erite et suivant le D r o i t I m p e r i a l , et q u ’ils ne leur
Exzerpt 42 SE IG N E U X , SY STEM E ABREGE 231

Mars 1563 le seigneur B aillif v in t encore en Conseil par Ordre de L L E E pour y


faire des rem ontrances de leur p a rt, parce que dans le ju gem en t d ’un crim inel on
n’a vo it p oint su ivi le D ro it im p e ria l;5
L L E E ont la h au te ju risd ictio n crim inelle dans le pais de V a u d — Les seigneurs
5 Y a ssa u x ne p eu ven t faire execu ter une sentence de m ort ju s q u ’a ce quelle ait ete
revue, approuvee, m odifiee et corrigee su iva n t le bon p laisir de L L E E . qui ont
le ju s a gg ravan d i et agratian di — la v ille de L ausan ne est exceptee de cette regle
generale, et p eut faire executer sa sentence ä m oins que le condam ne ou q uelqu ’un
pour lui ne recourre a la grace, que le S ou verain s’ [est] expressem ent reserve
io p. 20
Le souverain en infeudan t la ju risd ictio n a u x divers seigneurs (c’est les baillifs)
s’est tou jou rs reserve une m arque de superiorite qui les tien t dans la dependance;
tel est le droit de grace ou d ’a g ra v a tio n ; tel est encor l ’appel devan t lui, ou autres
exceptions quan t a u x personnes q u an t a u x lieu x ou q u an t ä la nature des crimes -

15 5 In der freigeblieben en H a lb ze ile am E n de des A b sa tze s: - z u Y I. 140.

1 seigneur] folgt gestr: de 3 imperial;] folgt gestr: je pourrois a 4 criminelle nachtr. 12 reserve]
reserve<(e)> superiorite] superiote dependance;] das Wort endet auf dem Seitenrand, Satzzeichen fehlt

fassen t p o in t de grace. Le 26. Mars 1563 le Seigneur Baillif vint encore en Conseil par ordre de
LL.EE. pour y faire de fortes remontrances de leur part, parce que dans le Jugement d’un criminel on
n’avoit pas suivi le D ro it Im perial; je pourrois ajouter d’autres exemples ä ceux-ci, ...
(Es wird dargelegt, daß sich die Carolina zunächst allgemein durchgesetzt habe. In der Schweiz seien dann im
Laufe der Zeit die strengen Strafen zunehmend mißbilligt worden, während man die Verfahrensvorschriften immer
noch für richtungweisend halte.)
C h a p itre II
(In diesem Kapitel wird zuerst gezeigt, wie sich die verschiedenen Abstufungen der Jurisdiction - la haute ou
omnimode, ... la moyenne ... und la basse - herausgebildet haben.)
[21] J’ai dit que l’omnimode Jurisdiction est toujours limitiee ä certains egards; c’est ainsi, par exemple,
que les Seigneurs Vas-[22]saux, ne peuvent faire executer une sentence de mort,jusqu’ä ce qu’elle ait ete
revue, approuvee, modifiee ou corrigee suivant le bon plaisir de LL.EE., qui ont le ju s agravandi et
ag ratian d i: La ville de Lausanne est exceptee de cette regle generale et peut faire executer sa sentence, ä
moins que le condamne ou quelqu’un pour lui, ne recourre ä la grace, que le Souverain s’est expressement
reserve.
(Das Exzerpt greift dann zurück auf eine Stelle, die sich im Text bereits zuvor, im Anschluß an die Aufzählung
der drei Arten der Jurisdiction, findet:)
[20] Avant que d’entrer dans le detail du degre de pouvoir qu’emporte chacune de ces especes de Juris-
dictions, il faut etablir pour principe, que le Souverain en infeudant la Jurisdiction aux divers Seigneurs,
s’est toujours reserve une marque de superiorite, qui les tient la dependance; tel est le droit de grace ou
d’agravation; tel est encor l’appel devant lui, ou autres exceptions quant aux personnes, quant aux lieux,
ou quant ä la nature des crimes.
232 Z U M BERN ER ST A A TSW ESEN Exzerpt 42

C’est ainsi par exem ple, que dans ce p ays les V a ssa u x et le Clerge ne sont pas
du ressort du trib u n al ordinaire, de meine en quelques endroits le souverain s’est
reserve la ju risd ictio n sur les grands chem ins, quoique to u t le territoire soit de la
jurisd iction du seigneur p a rticu lier: enfin le crim e de leze M ajeste est uniquem ent
du ressort du souverain, quoique dans quelques occasions il en com m ette le ju gem en t 5
au trib u n al ordinaire p ar form e de delegation.
Je dois ajouter que les seigneurs h auts ju sticiers a ya n ts droit de confiscation sur
les biens des condam nes, les procedures crim inelles qui s’instruisent en leur nom
doivent se poursuivre p ar la ju stice ordinaire, sans que le seigneur puisse avoir
aucune influence, ni sur l ’in terrogatoire ni sur les sentences interlocutoires ni defini- io
tiv e s: il ne lui est pas perm is d ’y assister, v ü l ’in teret q u ’il est presum e avoir ä la
confiscation, et de m em e ceu x qui ont p a rt a u x am endes dans les causes fiscales, ne
doivent ni assister ni deliberer, pour eviter le blam e d ’etre juges dans leur propre
fa it, c’est a quoi a p o u rvü tres sagem ent la loi 3 fol. 387. du C outüm ier.6
p. 28 15
F ief et ju stice n ’ont rien de com m un, on v o it souven t la ju risd ictio n sans fief et

6 D anach am unteren S eitenrand , durch Z eichen vor den B eginn des A b sa tze s (Z e ile 7) ver­
w iesen: p. 180

7 ayants] ayant 11 avoir] folgt gestr. Komma 14 quoi] pourquoi 16 souvent] folgt gestr: dans

C’est ainsi, par exemple, que dans ce Pai's, les Vassaux et le Clerge, ne sont pas du ressort du Tribunal
ordinaire: De meme en quelques endroits le Souverain s’est reserve la Jurisdiction sur les grands chemins,
quoique tout le territoire soit de la Jurisdiction du Seigneur particulier: Enfin le crime de Leze-Majeste est
uniquement [21] du ressort du Souverain, quoique dans quelques occasions, il en commette le Jugement au
Tribunal ordinaire, par forme de Delegation.
(Fortsetzung direkt anschließend an den bereits exzerpierten Absatz [i. o.], der mit den Worten endet: ... que
le Souverain s’est expressement reserve.:)
[22] Je dois ajouter que les Seigneurs hauts Justiciers ayants droit de confiscation sur les biens des con­
damnes, les procedures criminelles qui s’instruisent en leur nom, doivent se poursuivre par la Justice ordi­
naire, sans que le Seigneur puisse avoir aucune influence, ni sur l’interrogatoire, ni sur les sentences inter­
locutoires et definitives: Il ne lui est pas meme permis d’y assister, vü [23] l’interet qu’il est presume avoir
ä la confiscation; et de meme ceux qui ont part aux amendes dans les causes fiscales, ne doivent ni assister,
ni deliberer, pour eviter le blame d’etre Juges dans leur propre fait; c’est ä quoi, a pourvü tres sagement
la loi 3. fol. 387. du Coütumier.
(Der Verfasser spricht noch von den besonderen Anforderungen an die Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit und
beschreibt dann in je eigenen Paragraphen die Zuständigkeiten der mittleren und niederen. In einem weiteren Para­
graphen De la Justice Censiere ou Fonciere wird bestritten, daß es die von manchen behauptete vierte Art der
Jurisdiction gebe.)
[28] Cependant dans ce Pai's, comme en France, Fief et Justice n ’ont rien de com m un ; Aussi voit on
souvent dans un meme territoire, la Jurisdiction sans fief et le fief sans Jurisdiction; (das Exzerpt überspringt:
D ’ailleurs, l’origine de ces deux especes de droitures, [29] n’est point la meme. Les fiefs ont ete donnes ä la
Exzerpt 42 SE IG N E U X , SY STEM E ABREGE 2 33
le fief san s Ju risd iction —adj’u dication s de saisies p ar deffaut de payem en t de censes
ou Services fe u d au x n ’ont rien de com m un avec la j’u risdiction et la confiscation -

1 adjudications] folgt gestr: especes deffaut] deffauts

charge de servir en guerre le Seigneur dominant ou le Seigneur Suserain, et la Jurisdiction sous la condition
d’exercer la Justice et de purger le Pais de malfaiteurs.J
Le Seigneur de fief, suivant les principes que nous venons d’etablir, ne peut saisir les fiefs ou fonds, dont
il s’est reserve le Domaine direct, que pour deffaut de payement de censes ou Services feudaux, et ces especes
de saisies quon appelle A d j u d i c a t i o n s n’ont rien de commun avec la Jurisdiction et la confiscation; ...
N IC H T NÄHER DATIERBARES
Exzerpt 43 N IC H T N A H ER D ATIERBA RES 237

Aus: R ousseau a M. D ’A l e m b e r t

R ousseau — a M D ’A lem b ert


L ’am our de l ’hum anite, celui de la p atrie, sont les sentim ens dont les peintures
tou ch en t le plus ceux qui en sont p en etres; m ais quand ces deu x passions sont
5 eteintes, il ne reste que l ’am our proprem ent dit pour leur suppleer, parce que son
charm e est plus natu rel et s’efface plus difficilem ent du coeur que celui de toutes
les auttes. Cependant il n ’ est pas egalem ent convenable a tous les hom m es; c ’est
p lu to t com m e Supplem ent de bons sentim ens que com m e bon sentim ent lui meme
q u ’on p eut l ’ad m ettre: non q u ’il ne soit louable en soi, com m e tou te passion bien
10 reglee m ais parce que les exces en sont dangereux et in evitab les. L e plus
m echant des hom m es est celui qui s’isole le plus, qui concentre le plus son cceur en
luim em e; le m eilleur est celui qui p artag e egalem ent ses affections ä tous ses sembla-
bles. Il v a u t beaucoup m ieu x aim er une m aitresse que de s’aim er seul au monde.
Mais quiconque aim e tendrem en t ses parens, ses amis, sa patrie, et le genre hum ain,
15 se degrade par un attach em en t desordonne qui nuit b ien tot ä tous les autres et
leur est infailliblem ent prefere. Sur ce prin cipe je dis q u ’il y a des p a ys oü les mceurs
sont si m auvaises, q u ’ on seroit trop h eu reu x d ’y p ou voir rem onter ä l ’am our;

3 sentimens] sentimen<(t)>s 4 mais] danach Punkt (Ansatz zu Komma?) 7 convenable] convenables


8 sentimens] sentimen<t>s

(Zum Quellentext vgl. den editorischen Bericht.)


... L’amour de 1’humanite, celui de la patrie, sont les sentimens dont les peintures touchent le plus ceux
qui en sont penetres; mais, quand ces deux passions sont eteintes, il ne reste que l’amour proprement dit,
pour leur suppleer: parce que son charme est plus naturel et s’efface plus difficilement du cceur que celui
de toutes les autres. Cependant il n’est pas egalement convenable ä tous les hommes: c’est plutot comme
Supplement des bons sentimens que comme bon sentiment lui-meme qu’on peut l’admettre; non qu’il ne
soit louable en soi, comme toute passion bien reglee, mais parce que les exces en sont dangereux et
inevitables.
Le plus mechant des hommes est celui qui s’isole le plus, qui concentre le plus son cceur en lui-meme;
le meilleur est celui qui partage egalement ses affections ä tous ses semblables. Il vaut beaucoup mieux aimer
une maitresse que de s’aimer seul au monde. Mais quiconque aime tendrement ses parens, ses amis, sa patrie,
et le genre-humain, se degrade par un attachement desordonne qui nuit bientot ä tous les autres et leur est
infailliblement prefere. Sur ce principe, je dis qu’il y a des pays oü les mceurs sont si mauvaises, qu’on
seroit trop heureux d’y pouvoir remonter ä l’amour; d’autres oü elles sont assez bonnes pour qu’il soit
238 N IC H T N AH ER D A TIERBA RES Exzerpt 43

d ’autres oü eiles sont assez bonnes pour q u ’il soit fach eu x d ’y descendre; Si les
heros de quelques pieces (du T h eatre) soum etten t F am our au devoir, en adm irant
leur force le coeur se p rete ä leur foiblesse; on apprend moins ä se donner leur
courage q u ’ä se m ettre dans le cas d ’en avoir besoin. C ’est plus d ’exercice pour la
v e rtu ; mais qui l ’ ose exposer ä ces com bats m erite d ’y succom ber. L ’ am our, l ’am our 5
meme prend son m asque pour la surprendre; il se pare de son en th o u sia sm e; il
usurpe sa fo rce; il affecte son lan ga g e; et quand on s’appergoit de l ’erreur, q u ’il est
tard pour en reven ir! Q ue d ’hom m es bien nes, seduits p ar ces apparences d’ am ans
tendres et genereux q u ’ils etoient d ’abord, sont devenus par degres de vils corrup-
teurs, sans moeurs, sans respect pour la foi conjugale, sans egards pour les droits 10
de la confiance et de l ’ a m itie ! H eureu x qui sait se reconnoitre au bord du precipice
et s’em pecher d ’y to m b er! E st-ce au m ilieu d ’ une course rapide q u ’ on doit esperer
de s’a rreter? E st-ce en s ’a tten d rissan t tous les jours, q u ’ on apprend ä surm onter
la tendresse ? On triom p h e aisem ent d ’un foible p en ch an t; mais celui qui connut le
veritab le am our et l ’a su vain cre, ah! pardonnons ä ce m ortel, s’il existe, d ’ oser 15
pretendre ä la vertu .

1 descendre;] folgt gestr: e t j ’ose croire le mien d (Strichpunkt vielleicht nachtr.) 4 le] folgt gestr: combat
8 ces] folgt gestr: q 12 qu’on] quon 13 s’arreter] s’ nachtr. 14 le aus la

facheux d’y descendre, et j ’ose croire le mien dans ce dernier cas. J ’ajouterai que les objets trop passionnes
sont plus dangereux ä nous montrer qu’ä personne: parce que nous n’avons naturellement que trop de
penchant ä les aimer. Sous un air flegmatique et froid, le Genevois cache une ame ardcnte et sensible, plus
facile ä emouvoir qu’ä retenir. Dans ce sejour de la raison, la beaute n’est pas etrangere, ni sans empire;
le levain de la melancolie y fait souvent fermenter l’amour; les hommes n’y sont que trop capables de sentir
des passions violentes, les femmes, de les inspirer; et les tristes effets qu’elles y ont quelquefois produits ne
montrent que trop le danger de les exciter par des spectacles touchants et tendres. Si les heros de quelques
Pieces soumettent l’amour au devoir, en admirant leur force, le cceur se prete ä leur foiblesse; on apprend
moins ä se donner leur courage qu’ä se mettre dans le cas d’en avoir besoin. C’est plus d’exercice pour la
vertu; mais qui l’ose exposer ä ces combats, merite d’y succomber. L’amour, l’amour meme prend son
masque pour la surprendre; il se pare de son enthousiasme; il usurpe sa force; il affecte son langage, et
quand on s’apper^oit de l’erreur, qu’il est tard pour en revenir! Que d’hommes bien nes, seduits par ces
apparences, d’amans tendres et genereux qu’ils etoient d’abord, sont devenus par degres de vils corrupteurs,
sans moeurs, sans respect pour la foi conjugale, sans egards pour les droits de la confiance et de l’amitie!
Heureux qui sait se reconnoitre au bord du precipice et s’empecher d’y tomber! Est-ce au milieu d’une
course rapide qu’on doit esperer de s’arreter? Est-ce en s’attendrissant tous les jours qu’on apprend ä sur­
monter la tendresse ? On triomphe aisement d’un foible penchant; mais celui qui connut le veritable amour
et l’a su vaincre, ah! pardonnons ä ce mortel, s’il existe, d’oser pretendre ä la vertu!
Ainsi de quelque maniere qu’on envisage les choses, la meme verite nous frappe toujours. Tout ce que
les Pieces de Theatre peuvent avoir d’utile ä ceux pour qui elles ont ete faites, nous deviendra prejudiciable,
jusqu’au goüt que nous croirons avoir acquis par elles, et qui ne sera qu’un faux goüt, sans tact, sans delica-
tesse, substitue mal-ä-propos parmi nous ä la solidite de la raison. ...
Exzerpt 44 N IC H T N AH ER D ATIERBA RES 239

Aus: H o m e r , I lia s

Fatum

II. B p. 100.
TCSpXCOGTLO«;, oc, nepi 7TOCVTCOV
5 7]§££ [xavTOGUva^, ou§£ ou<; TicaScaq eaaxe
aT£L^£LV ec, TüoX£[JLOV <plhcJ7)V0pa* TCO Se O L O U T L
7T£i.'9'£cr'9'7)V xY]p£q yap ayov pi£Xavo^ 'EhxvaTcxo.

p. 102.
- £VVO[JLO^ OLCOVIOTY]^,
io AXX’ o u x olcjvolg lv Ip u a c r a T o x v jp a pi£Xat,vav,
AXX’ ISapiT] etc.

IX. y. p. 108.
7)pL£C0V S’oTUTÜOTEpCp &avaTO<; xai [tOLpa TETUXTat,
T£'9'V0CÜ.7].

5 eaaxe ans eaaxev

[100] [IA IA A O E . B .]
Tcov &8pr)GT6<; ts xai <5cpj.cpt.og Xivo^copy^,
Tt£ 8uCO pLepOTTOc; TTSpXCOaLOU, OC, TTSpl TUOCVTCOV
HSee piavToauva^, ouSe oü^ 7ralpac; eaaxe
2 t £ lx£LV ££ 7t6Xe (jLOV cpaHayjvopa- T<o 8k oi outl
n etO -ea ^ v • xyjpe? yap ayov ptiXavcx; ^avaToto.

]102]
Muacov 8k /popu^ ^PX£> xai svvopio^ olamaTT]«;'
AXX’ oux oicovoiatv IpuaaaTO X7]pa ptiXaivav,
AXX’ eSapnq u7ro X£Pa '1 tco8 coxeo<; alaxtöao
Ev TTOxapLcp, öOt 7rep Tpcoac; xspai^e x a i <5cXXou<;.

[108] [IA IA A O E . T .]
Hpiecov 8’ OTZKOTSpcp &(xvocto<; x a i pLOipa rkruxToa,
Te-B-vaiY]* #XXoi 8k 8iaxpivB-eiTs T a/iaxa.
240 N IC H T N A H ER D A TIERBA RES Exzerpt 44

p. 112 . P riam us ad H elenam


OUTL [JtOL bCLTLY] £(7<7L, & S01 VU pOL OCLTLOl £L(7tV,
6l p o t. ic p c o p p ^ c r a v 7ToX£(jlov 7 r o X u § a x p u v A ^ a i c o v .

p. 120.
Z£i><; p £ v 7 rou T oyT ) 6 i$ e x o a a f r a v a ir o i & soi aX X oi 5
07C7r0T£pCü 'fraVOCTOLO T s X o q 7T£7UpCOp£VOV £<7TIV

A p. 150.
7](JL£L^ x a i S'Tjßy)^ £§ 0<; £t.Xop£V £7TTOC7TuXoiO
7uaupOT£pov Xaov ayayov& E u n o t z v / oc, ap£LOv
7UEL&op£VOL T e p a e c jd t. ^ ecov x a i Z y) v o <; a p c o y T ]. io
x e i v o i 8 e aq jeT sp ^ crL v aT aa& aX L 7)C 7iv oXo v t o .

E . p. 162
6q x a i A X e^avSpco tex t y jv o c t o v y )a ^ zia o L c,

a p ^ e x o c x o i)« ;, a t 7racri x a x o v x p c o s a m y e v o v x o ,
ot, t ’ a u T O )’ etcel o u T i 'ö'ecov ex alEorcpaToc fjS y ). 15

[ 112]
(Ouxi pot, aiTL7] eaal, D-eol vu poi a’m o l elatv,
Ol' poi ecpcopp7)aav rcoXepov 7roXu8axpuv a^aLcov)

[ 120]
Zeuc; pev ttou xoye oTSe xal aB-avaxot, ^eol aXXoi
OjuTUOTspcp O-avaxoto xeXo<; 7re7rp<opevov ecrxlv.

[150] [IA IA A 0 2 . A .]
Hpei<; xal aH)ß7)^ e$o<; el'Xopev eruxarruXoLO,
Ilaupoxepov Xaov ayayoV'O'’ utto xel^0? apeLOv,
IIet.^6pevoL xepaeaart, B-ecov x a l £rjvö<; apcayfl.
KeTvoi Se a<pexep7)aiv ax8crB-aXi7)aiv oXovxo.

[162] [IA IA A O E . E .]
Og x a l aXe^avSpco xexxfjvaxo V7ja<; itaoLq
Apxexaxouc;, cx.1 7rac7t, xaxov xpcoeaat yevovxo,
O l x’ auxco* e7rel ouxl &ecov ex O-ec^axa ^8 yj.
N A C H R IC H T EN
ÜBER VERSCH OLLENES
N A C H R IC H T E N U BER V ERSCH O LLEN ES 243

Eine der stärksten dieser Excerptsammlungen betrifft die Philologie und Lite­
raturgeschichte. In Lateinischer Sprache ist hier von dem Leben, den Schrif­
ten und Ausgaben fast aller antiker Autoren gehandelt und auch die seltneren
kommen darin vor, wie z. B. Polyänos Buch von den Kriegslisten berühmter
5 Feldherrn. Mitunter schwellen die Auszüge zu kleinen Büchern an; so sind z. B.
die Noten B ru nk’s zum Sophokles vollständig abgeschrieben. (Rosenkranz: He-
geVs Leben. 13.)
Am 1. Januar 1787 vermerkt Hegel in seinem Tagebuch (vgl. Band 1 dieser Ausgabe.
31,2-4), daß er übrige Viertelstunden mit Lesung und Exzerpirung der Exkurse Hey-
10 ne’s zu seinem Virgil ausfiille. Weitere Berichte dazu:
Tagebuch, 2. Januar 1787: Ich exzerpirte Abends aus Heyne’s Exkursen. (Band 1.
32,2.)
Tagebuch, 4. Januar 1787: 4-5 und 6-7 [Uhr] exzerpirte ich aus Heynes Item
Exkurs, ad Aen. II. (Band 1. 32,14-15.)
15 Am 5. Januar 1787 exzerpierte Hegel laut Tagebuch (Band 1. 32,17-18 u. 21-22) aus
einem Theil der Allgem. deutschen Bibliothek die Editionen des Demosthenes und
amgleichen Tag aus einem neuen Theil der allgem. d. Bibliothek.

Eine andere Sammlung betrifft die A esthetik. In den Artikeln Epopöie, Lehr­
gedicht, Roman u.s.f. erscheinen hier alle Lieblingsschriftsteller jener Zeit: Ram m-
20 1er, Dusch, Lessing, W ieland, Engel, Eberhard u. a. Besonders weitläufig
sind die Briefe D usch’s zur Bildung des Geschmacks und W ieland’s Ausein­
andersetzung der Horazischen Briefe ausgebeutet. K lopstock’s Oden finden
sich größtentheils abgeschrieben. Eine Sammlung von Stam m buchsentenzen
1786 und w itzigen P ointen von schalkhafter Laune, wie Hegel sie immer geliebt
25 hat, ist auch hieher zu rechnen. - Ein Fragment versucht eine Analyse des republi­
kanischen Trauerspiels Fiesko. - G ottsched’s Kern der D eutschen Sprach­
kunst ist fast ganz abgeschrieben und sogar ein, wie es scheint, selbst angelegtes
Lexikon der Idiotism en der Deutschen Sprache in ihren verschiedenen Dialekten
fehlt nicht. (Rosenkranz: HegeVs Leben. 13.)
244 N A C H R IC H T E N Ü BER V ER SCH O LLEN ES

Eine andere ziemlich reichhaltige Abtheilung führt den Titel: E rfahrungen


und Physiognom ik. - Hier haben vorzüglich Zim m erm ann über die Ein­
samkeit, M einers Briefe über die Schweiz, W ünsch’s kosmologische Unter­
haltungen, R ousseau’s Bekenntnisse und N ico lai’s Reisen in Deutschland den
Stoff geliefert. Aus den letzteren ist namentlich die ganze Charakteristik der ver­ 5
schiedenen Deutschen Stammphysiognomieen, der Baierischen, Brandenburgischen,
Tyrolischen, Wienerischen u.s.f. ausgehoben. (Rosenkranz: Hegel’s Lehen. 13.)

Noch andere Abtheilungen sind nach den besonderen Wissenschaften geordnet.


Die A rithm etik, G eom etrie und angew andte M athem atik sind vorzüg­
lich aus K ästner’s Schriften entnommen; (Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14.) io
In seinem Tagebuch notiert Hegel am 1. Januar 1787: Den Vormittag fmg ich an in
der Sphärischen Trigonometrie, die ich aus Lorenzens Mathematik abgeschrieben
hatte, etwas durchzugehen. (Band 1. 31,3-7.)

Unter den Blättern zur Physik findet sich die Farbenlehre aus Scheuehzer’s
Physica, Zürich 1729, herausgeschnitten. (Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14.) 15

Für die Psychologie spielt C am pe’s Seelenlehre für Kinder, für die M oral
Garve und Ferguson eine große Rolle. In der Pädagogik sind dem Ideal des
H ofm eisterthum s lange Excerpte gewidmet und Schlözer’s Staatsanzeigen
ausführlich benutzt. Viele Bestimmungen, was gerecht, was tugendhaft sei, hat
Hegel aus Platon, Aristoteles, Tacitus und Cicero in den Originalstellen kategorieen- 20

artig angegeben. (Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14.)

In der philosophischen G eschichte ist ein Auszug aus M einers Geschichte


der Menschheit zu bemerken. (Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14.)
...aus Meiners Culturgeschichte fertigte er sich einen Auszug; (Rosenkranz:
Hegel’s Leben. 60.) 25

Für die natürliche T heologie sowohl als für die positive sind die Quellen
der Auszüge fast immer die kritischen Zeitschriften. (Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14.)
N A C H R IC H T E N U BER V ERSCH O LLEN ES 245

Die Philosophie hat ebenfalls eine eigene Abtheilung. Da der Zusammen­


hang für die Philosophie zu wesentlich ist, so wollte es mit der alphabetischen Zer­
stückelung nicht fort und Hegel fing an, die Excerpte auf ganze Bücher auszu­
dehnen. So finden sich L ocke’s, H um e’s und K an t’s Werke, aber wohl erst
5 aus der akademischen Zeit, weitläufig excerpirt. Das Studium von Kant’s V er-
nunftkri tik wenigstens fällt mit Bestimmtheit erst in das Jahr 1789. (Rosenkranz:
Hegel’s Leben. 14.)
Mit K ant’s Kritik der praktischen Vernunft hatte Hegel in der Schweiz
sich wiederholt beschäftigt. Ein Auszug daraus mit einigen Bemerkungen, wie er
io ihn früher auf dem Stift auch aus der Kritik der reinen Vernunft machte, hat sich
auch noch erhalten. (Rosenkranz: HegeVs Leben. 86f.)

Schon am Ausgang der Schweizerperiode finden sich unter Hegel’s Papieren


Excerpte von Stellen aus Meister Eckart und T auler, die er sich aus Literatur­
zeitungen abschrieb. (Rosenkranz: HegeVs Leben. 102.)

15 Mit großer Spannung, wie seine Excerpte aus Englischen Zeitungen beweisen,
folgte Hegel den Parlaments Verhandlungen über die A rm entaxe als das Almo­
sen, mit welchem die Adels- und Geld-Aristokratie den Ungestüm der subsistenz­
losen Menge zu beschwichtigen hoffte. (Rosenkranz: HegeVs Leben. 85.)
A NHANG
ANHANG 249

SC H RIFTTY PEN , ZEIC H E N , A B K Ü RZU N G EN , SIGLEN

S c h r if tty p e n
gerade Schrift a) oberhalb der Q u erlin ie: T ex t von H egels E x zerp t
b) unterhalb der Q u erlin ie, kleinerer Schriftgrad: T ex t des exzerpierten
O rigin als ( = Q u ellen tex t)
Sperrung H ervorhebung im M a n u sk rip t (M s) oder D ru ck tex t
K apitälchen doppelte H ervorhebung im M s oder D ru ck tex t
Bodoni-Schrift W örter, die im M s durch lateinische Schrift ausgezeichnet sin d
K ursivschrift H erausgebertext

Z e ic h e n

[] K la m m e rn , um schließen in H egels T ex t H in zu fü gu n g en der H erausgeber,


im Q u ellen tex t insbesondere die S eiten zah len des O rigin als
<> K lam m ern , um schließen W örter b zw . B uchstaben, die im M s gestrichen
sin d
im A p p a ra t und in E in zelm itteilu n gen z u m Q u ellen tex t: A bgren zu n g
des L em m as
das2 In dexziffer im L em m a des A p p a ra ts; ze ig t bei öfterem V orkom m en des
gleichen W ortes in einer Z e ile des T extes an, die w ievielte S telle gem ein t
ist
A u slassung im Q u ellen tex t

A b k ü r z u n g e n im A p p a r a t
aus verändert aus
nachtr. nachträglich eingefügt
gestr. gestrichen (gestrichenes, gestrichenem )

A b k ü r z u n g e n im A n h a n g
Anm . A n m erk u n g
A u fl. A ußage
Bd B an d
H rsg. H erausgegeben
Ms M a n u sk rip t
250 ANHANG

Nr N u m m er
P. P ars (la tein .)
r bei A n gaben z u r M s-P agin ieru n g: recto
Sp. S p a lte
T. T eil
(b e ifra n zö s. b zw . latein. T iteln : T om e, T om us)
V bei A n gaben z u r M s-P agin ieru n g: verso

S ig le n
O: bei E in zelm itteilu n g en z u Q u ellen texten das dem E x zerp t zu gru n delie­
g en d e O rig in a l
Th: Beispiele von Excerpten aus Hegel’s Gymnasialzeit. In : Hegel’s An­
sichten über Erziehung und Unterricht. Als Fermente für wissen­
schaftliche Pädagogik . . . aus Hegel’s sämmtlichen Schriften gesam­
melt und systematisch geordnet von Gustav Thaulow. T . 3 : Zur
Gymnasialpädagogik und zur Universität Gehöriges. K ie l 1854. 3 3 —
146.

A b g e k ü r z te B u c h tite l
K atalog. Verzeichniß der von dem Professor Herrn Dr. Hegel und dem Dr.
Herrn Seebeck hinterlassenen Bücher-Sammlungen . . . Berlin 1832.
D ie angegebenen N u m m ern bezieh en sich a u f die Sectio I. Bücher-
Sammlung des Prof. Dr. Hegel.
Rosenkranz: Georg W ilhelm Friedrich Hegel’s Leben beschrieben durch Karl
Hegel’s Leben Rosenkranz. B erlin 1844. (S u pplem en t z u H egeVs W erken .)
G. Thaulow: Hegel’s Ansichten . . . (w ie unter Siglen). T . 1—3 . K ie l 1853—1854.
Hegel’s Ansichten.
ANHANG 251

ED ITO R ISC H ER BERICH T

Z u m I n h a lt des B a n d e s
D ieser dritte B an d der A u sgabe steh t in enger V erbindung m it den beiden vorhergehenden
B änden. E n th alten B an d 1 u n d B an d 2 H egels Frühe Schriften aus den Jah ren 178 5—1800, so
fa ß t der vorliegende B an d die Exzerpte zu sa m m en , die H egel w äh ren d des gleichen Z eitrau m s
angefertigt hat. (B ei Schriften u n d E x zerp ten ist f ü r den Ü bergang von H egels Frankfurter Z e it
z u seiner Jen aer Periode auch B a n d 5 der A u sgabe z u vergleichen.)
D ie separate E dition der E x zerp te ist einerseits begründet durch den U m stan d, daß sonst der
U m fang von B a n d 1 über G eb ü h r angew achsen w äre. A ndererseits ergibt sich a u f diese W eise
eine geschlossene editorische E in h eit, deren C h arakteristiku m die ständige G egenüberstellung von
E x zerp ten u n d Q u ellen texten ist.
K a rl R o sen k ra n z hat die A u szü g e aus gelesener L iteratu r, die H egel in seiner Ju gen d ange­
legt u n d dann dauernd au fb ew a h rt hat, zu treffen d die Incunabeln seiner Bildung gen an n t.1
D u rch R o sen k ra n z haben w ir auch K en n tn is davon, w ie reichhaltig die K o n vo lu te m it E x zerp ­
ten w aren, die sich in H egels N a ch la ß befanden, bevor dieser im späteren 19. Jah rh u n dert von
den Söhnen redu ziert w u rde.2
D ie noch vorhandenen E x zerp ttex te, die dieser B a n d zu sa m m en stellt, w erden im g a n zen chro­
nologisch angeordnet, zugleich aber in m ehrere G ru ppen gefaß t u n d aufgegliedert. B ei der G ru p ­
pieru n g sin d teils sachliche A sp ekte, teils solche der Überlieferungsform berücksichtigt. N ä h er er­
läutert und begründet w ird dies f ü r die ein zeln en G ru ppen je w e ils im editorischen Bericht. H ier
nur eine Ü bersicht:
l) D ie bei w eitem um fangreichste G ru p p e bilden die B eispiele von E x zerp ten aus H egels
G ym n a sia lzeit, gen au er aus den Jah ren 1 78 5—1788, deren Ü berlieferung dem Pädagogen G u stav
T h a u lo w z u verdanken ist. 2 ) D e m fo lg en in einer sehr schm alen G ru ppe, die der gleichen E n t­
stehungszeit angehört, die inhaltlichen R este eines von H egel angelegten H eftes m it Definitio­
nen; sie blieben erhalten als Z ita te in dem biographischen B ericht von R o sen k ra n z. 3 ) Im
handschriftlichen N a ch laß befinden sich noch einige E x zerp te heterogenen Inhalts, deren E n tste­
hung gem äß den S ch riftin dizien in H egels B erner Jah re f ä llt (1 7 9 4 —1796) u n d die m an insofern
z u einer G ru p p e verbinden kan n . 4) Im U nterschied h ierzu gehören die drei folgen den M a n u ­
skripte s a c h lic h zu sa m m en : es sin d E x zerp te z u m B erner Staatsw esen, die H egel, w ie a n zu ­
nehm en ist, ebenfalls w ährend seines A u fen th alts in der S ch w e iz niedergeschrieben hat. 5) N ich t
näher datierbar sin d ein fran zösisch es Rousseau- und ein griechisches Homer -E x ze rp t, doch
müssen sie m it hoher W ahrscheinlichkeit der Periode der Frühen Schriften zugerechnet w erden.

1 Vgl. Rosenkranz: Hegel’s Leben. 13.


2 Z u dieser R ed u k tio n vgl. den editorischen B ericht unten 3 0 2 m it F ußnote 3 3 .
252 ANHANG

6) D e n A bsch lu ß des B andes bilden, bezogen a u f dieselbe Z eitsp a n n e, N achrichten über E x ­


zerpte, die heute verloren sind.
D ie E x zerp te sind, w ie die T exte der B än de 1 und 2, insgesam t durchnum eriert . D ie Z ä h ­
lung ist (in der F orm : E x ze rp t 1, E x ze rp t 2, u sw .) an der Innenseite des K olu m n en titels ange­
bracht. D ie jew e ilig e N u m m er w ird dort über die g a n ze E rstreckung eines E xzerp ttextes m itge­
fü h rt.

Z u r W ie d e r g a b e d e r Q u e l l e n t e x t e
D a H egels A u szü g e nich t schlechterdings w örtlich aus den zugrundeliegenden literarischen
Vorlagen abgeschrieben, sondern durch A uslassungen, U m form u lierungen, W o rt- u n d S a tzu m stel­
lungen, Z usam m enfassungen u. ä. g eken n zeich n et sind, ist es eforderlich , daß der E d itio n die
Q u ellen texte selbst beigegeben w erden. D ie s geschieht in einer Form , die es erm öglicht, den
W ortlau t von E x ze rp t u n d Q u elle fo rtlau fen d z u vergleichen: A u f je d e r S eite w ird dem im obe­
ren T eil abgedruckten E x zerp ttex t unter einem Q uerstrich der entsprechende Passus aus der V or­
lage konfrontiert. B ei kleineren A uslassungen des E x zerp ts läuft der Q u ellen tex t vollständig w ei­
ter. G rößere A uslassungen w erden in der Q u elle durch drei P u n k te angezeigt oder durch ein
ku rzes Inhaltsreferat überbrückt. S eiten zah len der Q u elle ( die der editorische B ericht je w e ils g e ­
nau bibliographiert) w erden dort, w o die Seitenbrüche sind, in eckigen K la m m ern dem T ex t ein -
gefügt.
S tim m en E x ze rp t u n d Q u ellen tex t g a n z oder n ah ezu vollstän dig im W o rtla u t überein, so
w ird dies u nter dem Q uerstrich ausdrücklich m itgeteilt. A u f einen A b d ru ck der Q u elle w ird in
diesen Fällen verzich tet. E tw a vorhandene A bw eich u n gen des E x zerp ts von der V orlage w erden
ein zeln nachgew iesen, u n d z w a r in der Form des textkritischen A p p a ra ts (m it Z eile n za h l u nd
L em m a ); dabei steh t die Sigle O f ü r das von H egel exzerpierte O rigin a l.

Z u E in z e lh e ite n des A n h a n g s
D ie T ite l der E x z e r p t g r u p p e n sam t den ihnen zu geordn eten Jah reszah len gliedern auch
den editorischen B ericht. Im A n sch lu ß an die T itel w erden je w e ils zu erst die leitenden G esichts­
p u n k te z u r A b g ren zu n g der G ru pp en sow ie allgem eine H in w eise z u ihrem Inhalt, ihrer Ü berlie­
ferungsform usw . gegeben.
D ie M itteilu n g en z u den e i n z e l n e n E x z e r p t e n w erden eingeleitet durch deren E x ­
zerp tn u m m er u n d Überschrift.
In dem A b sch n itt » Ü b e r lie f e r u n g « fin d e t m an bei den von T h a u lo w u n d R o sen k ra n z m it­
geteilten T exten die B eschreibung des E rstdrucks u n d gegeben en falb E rw ägun gen d a zu , w as sich
über das nicht m ehr vorhandene M s H eg eb noch erkennen oder erschließen läßt. B ei den hand­
schriftlich erhaltenen Stücken w ird das M s beschrieben. D ie hier angeführte B la ttzä h lu n g ent­
spricht der j e t z t gültigen B ibliotheksfoliierun g; noch sichtbare ältere Z äh lu n gen bleiben unberück­
sichtigt. F orm atangaben bezieh en sich a u f die Seitengröße (H öh e vor B reite) u n d sin d in cm aus­
gedrückt.
D e r A b sch n itt » A n g a b e n z u m E x z e r p t « en th ält a) sow eit m öglich, den bibliographischen
ED ITO RISCH ER BERICH T 253

N a ch w eis der Q u e l l e ; h) eine C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s , die dessen V erhältnis z u r lite­


rarischen V orlage bestim m t u n d sonstige B esonderheiten hervorhebt; c) die D a t i e r u n g , die sich
entw eder a u f sekundär überlieferte D a ten s tü tz t oder — bei V orliegen der H an dschrift — die S ta ­
tistik der B uchstabenform en z u R a te zieh t.
E in A b sch n itt » Z u r E d i t i o n « verm ittelt im B edarfsfall besondere D eta ils z u r Präsentation
des E x zerp ts oder seiner Q u elle.

Z u sä tzlich e A n m e r k u n g e n erübrigen sich in diesem B an d. W ie vorstehend dargelegt, w erden


die erforderlichen N a ch w eise bereits an anderen Stellen erbracht: D ie »A ngaben z u m E x zerp t«
orientieren über die Q u elle u n d erörtern B esonderheiten der Q u ellen b en u tzu n g durch H egel. D ie
Q u ellen texte selbst w erden im T ex tteil u n ter den E x zerp ten abgedruckt.

EXZERPTE
A U S D ER G Y M N A S IA L Z E IT
1785-1788

D ie hier edierten H egelschen E x zerp te sin d a b geschlossene G ru p p e überliefert:


Beispiele von Excerpten aus Hegel’s Gymnasialzeit. In : Hegel’s Ansichten über Erzie­
hung und Unterricht. Als Fermente für wissenschaftliche Pädagogik, sowie zur Beleh­
rung und Anregung für gebildete Eltern und Lehrer aller Art, aus Hegel’s sämmtlichen
Schriften gesammelt und systematisch geordnet von Gustav Thaulow. Dritter Theil. Zur
Gymnasialpädagogik und zur Universität Gehöriges. K ie l 1854. 3 3 —1 4 6 5
D ie M an u skripte H egels, die T h a u lo w b e n u tzt hat, sin d genauso verloren w ie die vielen E x ­
zerp te, über die R o sen k ra n z berichtet 4 u n d von denen w ir aufgrund dieses Berichts lediglich w is­
sen, daß sie existiert haben. D a ß durch die g en an n te Veröffentlichung ein B ü n del von dreißig
E x zerp ten im W o rtlau t erhalten blieb, ist besonderen U m stän den z u verdanken. G u sta v T h au ­
low (1817—1883) prom ovierte 1842 u n d h abilitierte sich 1843 f ü r P hilosophie und Pädagogik an
der U n iversität K ie l. Schon d a m a b begann er nach eigenem B eku n d en 5, alles, w as H eg eb
Schriften an pädagogischem Inhalt boten, zu sa m m en zu stellen . D a s dreiteilige Sam m elw erk, das
hieraus erwuchs, w a r bereits 184 7 fertig , kon nte aber nicht gedru ckt w erden. E rst 1853 erschien
der erste T eil; 1854 fo lg ten T eil 2 (in 2 B än den ) und T eil 3. O ffenbar erst k u rz vor der
D rucklegung des letzten B andes stieß T h a u lo w im H eg el-N a ch la ß a u f die f ü r ihn w ertvollen
E x zerp te u n d nahm sie noch in das B uch auf. T h a u lo w berichtet:

3 A b k ü rzu n g f ü r den T itel des W erkes im folgen den : Hegel’s Ansichten. - E ditorische Sigle
f ü r den H e g el-T ex t: Th.
4 V gl. in diesem B an d die N achrichten über Verschollenes.
5 Vgl. G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 1. Vorwort. X X I X —X X X I .
254 ANH ANG

Der Herausgeber bat das Glück gehabt, jetzt, Ostern 1854, in der Nachlese der He-
gel’schen Manuscripte ein von ihm selbst geordnetes, in ein Schiebfutteral zusammenge­
legtes Convolut von Manuscripten zu finden aus seiner Gymnasialzeit von 1784 [richtig:
1785]6 bis zum Jahre 1788 (Hegel ist 1770 im Herbst geboren), welches Excerpte über
Pädagogik, Didacdk, Methodik, Psychologie enthält, wo, bei jedem Excerpt, wie Hegel
sein ganzes Leben hindurch that7, neben Angabe des Titels des W erkes, Jahreszahl und
Datum, an welchem er excerpirte, genau bezeichnet sind.8
E in zelh eiten darüber, w ie seine B en u tzu n g des H egel-N ach lasses vonstatten gin g , teilt T h a u -
low nicht m it. D e r N a ch la ß befand sich in den Jah ren 1 84 0—1843 in K önigsberg bei R o sen ­
kra n z, der dam als an seinem B uch über Hegel’s Leben arbeitete. A n sch ließ en d kehrten die P a ­
p iere w ieder nach B erlin in die O b h u t der F am ilie H egels zu rü ck . E in en brieflichen K o n ta k t
m it der F am ilie erw äh n t T h a u lo w bereits in seinem am 19. Februar 1853 U nterzeichneten V or­
w ort z u m ersten T eil des W erk es? M eh r a b ein J a h r später f a n d er — nach seinem oben z itie r ­
ten B ericht — die pädagogisch relevanten A u szü g e H egels. D ie A ussonderung dieses bestim m ten
K on vo lu ts z u r P u blika tion s e tz t w o h l die K en n tn isn ah m e des g a n ze n N achlasses, zu m in d e st aber
des gesam ten B estandes von E x zerp ten voraus.
V on sachlicher B edeu tung ist T h au low s H in w eis d a ra u f daß er dieses Convolut H eg eb a b
ein von ihm selbst geordnetes ansah. D a b e i ist allerdings in B etracht z u zieh en , daß in der
jah rzeh n telan gen A u fb ew a h ru n g des M a te ria b durch H egel selbst gelegentliche U m ordnungen g e ­
schehen sein können u n d daß nach H e g eb T od zu m in d e st R o sen k ra n z die P apiere in der H a n d
geh abt u nd ein zeln e E x zerp te dieses F a szik e b in seinem biographischen B ericht ausdrücklich er­
w ä h n t h at.10 Bestehen bleibt, daß T h a u lo w bei seiner E d itio n die Vorgefundene A n ordn u n g
offensichtlich eingehalten h at; d a ra u f deuten auch besondere B em erkungen, die er z u einigen
Stücken m acht: vgl. den editorischen B ericht z u E x ze rp t 6a, 7, 8 u n d 20 .
R o sen k ra n z erzäh lt, daß H egel den Schiebfutteralen auf dem Rücken eine orientirende
Etikette aufgeklebt h a b e 11 D ie s w ird von T h a u lo w bestätigt, — sofern seine A u ssage a u f eige­
ner A n sch au u n g beruht u n d nicht nur R o sen k ra n z w iederh olt; er schreibt: Jedes Schiebfutteral,
worin Hegel seine Manuscripte aufbewahrte, hat hinten einen Titel. Im A n sch lu ß daran
heißt es: A uf dem Schiebfutteral, worin die auf Erziehung und Unterricht sich beziehen­
den Excerpte sich befinden, ist der Titel leider ganz verwischt und nicht mehr zu
entziffern, es leidet aber keinen Zweifel, dass er gelautet hat »Zur Pädagogik.«12

6 D ie K orrek tu r der irrigen J a h resza h l 1784 w ird begründet in den A usführungen z u r D a ­


tierung von E x ze rp t 1, unten 2 5 7 .
7 D ies trifft nicht g a n z z u . Schon im vorliegenden B a n d sin d m ehrere handschriftlich erhal­
tene E x zerp te ediert, die kein D a tu m aufw eisen.
8 G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. Vorwort. V I.
9 Vgl. Hegel’s Ansichten. T . 1. Vorwort. X X X V I .
10 Vgl. in diesem B a n d 2 44 ,16—19 u nd die zugehörigen A usführungen des editorischen B e­
richts.
11 Rosenkranz: Hegel’s Leben. 13. S ieh e auch den editorischen B ericht, unten 3 0 3 .
12 G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . Vorwort. VII.
E D ITO RISCH ER BERICH T 255
256 ANHANG

L etzteres ist nun gerade nich t gesich ert. T h a u lo w verfolgt im R a h m en seiner V eröffentlichung
z u Hegel’s Ansichten über Erziehung und Unterricht eine inhaltliche T en d en z. Seine V er­
m utung verm ag sich d a ra u f z u stü tze n , daß in den Überschriften z u den beiden ersten E x ze rp ­
ten die O rientierungsbegriffe Erziehung und Pädagogik Vorkom m en u nd daß auch in den w ei­
teren T exten m ehrfach pädagogische P roblem e erörtert w erden. Insgesam t ist aber doch die T h e­
m atik der E x zerp te w eiter gefaß t. In unserer E dition kan n jed en fa lls ein übergeordneter T itel f ü r
das G a n ze nicht g elten d gem ach t w erden.
T h au low h at dem letzten B a n d seines W erkes eine S eite m it fak sim ilierten Proben der
Handschrift HegePs beigegeben. V ier dieser kleinen Schriftproben, die T h a u lo w nach dem L e ­
bensalter H egels unterscheidet, sin d den edierten E x zerp ten entn om m en. D a es sich um S plitter
aus den verlorenen O rigin alm an u skripten h an delt, w erden diese Schriftproben hier wiedergegeben
(siehe vorige Seite). D ie editorische A u sw ertu n g der ein zeln en F ragm ente erfolgt w eiter unten in
den D arlegungen z u r Ü berlieferung der E x zerp te 1, 2, 3 u n d 8.
U n s e r e E d i t i o n fo lg t dem T ex t; d. h. dem W o rtla u t u nd der Schreibw eise von T h. O ffen ­
sichtliche D ruckfehler w erden korrigiert. T extkon jektu ren w erden vorgenom m en bei sinnentstellen­
den W ortfeh lem u n d bei falsch en W ortform en, die nicht m it dem S a tzb a u ü berein stim m en ,13
M a n m uß sich vergegenw ärtigen, daß es sich hier ebenso um Lesefehler T h au low s w ie um
Schreibversehen in H egels M s handeln kan n. R e la tiv häufig kom m t es vor, daß T h ein S u bstan ­
tiv im Singu lar bringt, das im P lu ra l stehen m üßte; hier sin d verm utlich die K ü rz e l f ü r W o rt­
endungen, die H egel z u verw en den pflegte, von T h a u lo w nicht erkan n t w orden. — D ie E ingriffe
in den T ex t von T h sin d im textkritischen A p p a ra t verzeichnet. G elegentlich w erden dort an ­
hand des W ortlau ts von T h V erm utungen über den T extbrfu n d in H egels M s geäußert.
A u s T h ü bern im m t unsere E d itio n auch die D reigliederung der Ü berschriften: l) O rdn u n gs-
begriffe (in T h durch Sperrung hervorgehoben, bei uns durch K ap itä lch en ); 2 ) D a tu m ; 3 ) Q u e l­
lenhinw eis (in T h eingeklam m ert u n d in kleinerem Schriftgrad g esetzt).
B ei der Textherstellung w u rd e verglichen:
Beispiele von Exzerpten aus HegePs Gymnasialzeit. In : Dokumente zu Hegels Ent­
wicklung. H rsg, von Joh an n es H offm eister. S tu ttgart 1936. 5 4 —166.

E xzerp t 1
E rziehung. P lan der N ormal- S chulen in R ussland

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: HegePs Ansichten. T . 3. 3 3 —3 5 .
D ie letzte Z e ile des E x zerp ts (d. i. 5 ,7 unserer E d itio n ) fin d e t sich in T h nicht am Schluß
des T extes, sondern innerhalb einer A n m erku n g , die der H erausgeber z u der vorangestellten
Q u ellen n o tiz (d. i. 3 ,3 ) m acht. S ie lau tet: Unter dem Manuscript hat Hegel noch den Ver-

13 D ie K on jektu ren stü tze n sich je w e ils a u f die zugru n deliegen den Q u ellen texte:
ED ITO RISCH ER BERICH T 257

fasser dieses Berichts geschrieben: Aepinus, russisch Kais, wirklicher Staatsrath. D a ß auch
in dem zugrundeliegenden O rigin a l der A u to r am E n de des A rtik e b steht, erw äh n t T h au low
nicht.
E in S p litter des M s, näm lich der d rittletzte S a tz des E x zerp ts (vgl. 5,1—2), ist in den H a n d ­
schriftproben, die T h a u lo w seinem B a n d beigegeben hat (s. o.), im originalgetreuen F aksim ile z u
lesen: Der Unterricht in d. Wissenschafft: muß darinn bestehen daß der Lehrer vorher
alles erklärt u. dann examinirt. D e r W o rtla u t stim m t m it dem von T h überein, w ährend die
O rthographie von T h erw artungsgem äß abw eicht. Schriftgröße u n d Z eilen b reite passen am ehesten
z u B lättern im O k tavform at (gefalteten oder halbierten Q u artblättern ), w ie H egel sie auch später
f ü r nicht z u um fangreiche N iederschriften gelegentlich b en u tzte.14

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Stats-Anzeigen gesammelt und zum Druck befördert von August Ludwig
Schlözer. B d 7, [d. i.] H e ft 2 5 —2 8. G ö ttin gen 1785 . 8 2 —92. A m B eginn von H e ft 2 5 der
k ü rzer gefaß te T itel: A. L. Schlözer’s Stats-Anzeigen. H egel exzerpiert aus diesem H eft den
B eitrag N r 4, einen B ericht m it der Ü berschrift: N orm al Schulen in Rußland. / Aus S. Pe­
tersburg, vom 13 Jun. 1784.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D a s E x ze rp t läßt die su b jek tiv gefärbten E inleitungspar­
tien des B erichts aus; es s e tzt ein m it den allgem einen organisatorischen P rin zip ien des Schul­
plan s. D a n n sin d nochm als m ehr als z w e i Seiten (m it persönlichen Stellu ngnahm en des A u tors
z u m M ethodenproblem ) übersprungen, bevor das E x zerp t, stark kontrahierend, den A usführungen
bis zu m E n d e fo lg t.
c) D a t i e r u n g : D e r E rstdruck T h überliefert das im A n sch lu ß an die Ü berschrift g esetzte
D a tu m : 1784. 2 2 . April. D a der H erausgeber T h a u lo w in seinem — oben zitierten — V orw ort
dieses D a tu m des ersten E x zerp ts besonders hervorhebt u n d außerdem zusam m en fassend von ei­
nem Convolut von Manuscripten ... von 1784 bis zum Jahre 1788 spricht, kan n m an da­
von ausgehen, daß er die Jah reszah l 1784 in H egels N iederschrift vorgefunden hat. E s handelt
sich aber in jed em F all um eine F ehldatierung, da das exzerpierte H e ft 25 der Stats-Anzeigen
erst 1785 erschienen ist. A m Sch luß des H eftes steh t die Z eitan gabe: Im Febr. 1785, w as m an
als R edaktion ssch lu ß oder als A usgabeterm in verstehen m uß. E in Schreibversehen H egels könnte
übrigens beeinflußt sein durch das D a tu m 13 Jun. 1784 am A n fa n g des A rtik els. D ie K o n jek tu r
1785 h ält das frü h este J a h r fest, in dem H egel den A u szu g ve fe r tig t haben kan n. D a ß die N ie ­
derschrift auch einem der folgen den Jah re angehören kan n, m uß a b M öglich keit offengehalten
w erden. D a aber T h a u lo w die E x zerp te in der R eihen folge abzu dru cken scheint, in der sie z u ­
vor in H egels Schiebfutteral lagen, u nd da diese R eih en folge zu gleich eine chronologisch fo r t­
schreitende ist, kan n f ü r das erste E x zerp t m it großer W ahrscheinlichkeit das E ntstehungsjahr
1785 angenom m en w erden.

14 V gl. etw a aus dem vorliegenden B an d das noch im M s erhaltene E x ze rp t 40.


258 ANHANG

E xzerpt 2
P hilosophie. Pädagogik.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: HegePs Ansichten. T . 3. 3 5 —62.
Im typographischen B ild des E rstdrucks sin d die Z w ischenüberschriften15 in folgen der W eise
hervorgehoben:
1 . Buch (6,4), II. Theil ( 5 7 ,lö ): h albfett;
I. Capitel (6,5), II. Capitel (7 ,7 ), u sw .: N orm alschrift, gesperrt;
inhaltliche Ü berschriften ( ll,5 u. öfter): kleinerer Schriftgrad, entsprechend dem G ra d der al­
len E xzerp ten vorangestellten Q u ellen h in w eise.
Im T ex t sin d einige W örter oder W en dungen durch F ettdruck ausgezeichnet, u n d z w a r:
(1 8 ,5 -6 ) seinem Vergnügen nachzugehen
(1 9 ,1 -2 ) Selbstliebe
(2 2 , 7) mein
(2 6 ,3 ) gewöhnen
A n einigen Stellen w eist T h a u lo w in F ußnoten a u f besondere H ervorhebungen H egels hin und
verm ittelt da m it Spuren einer B eschreibung des M s, das er vor A u g en hatte:
Z u 2 6,3 gewöhnen (in T h F ettdruck) sagt eine A n m erk u n g : Dies hat Hegel mit besonde­
rer Schrift geschrieben. E s ist z u fragen , ob ein solcher Sachverhalt auch an den anderen S tel­
len Vorgelegen hat, die T h in F ettdruck w iedergibt.
Z u 3 5 ,4 —5 Aufmunterungen zum Lernen durch Belohnungen (in T h Sperrdruck) ist
verm erkt: Dies hat Hegel nicht nur mit besonderer Schrift geschrieben, sondern sogar
mit blauer Dinte ...
Z u 44,3 für die Welt (in T h Sperrdruck) teilt eine F ußnote m it: Dies »für die Welt« hat
Hegel 3 Mal unterstrichen.
N ich t so eindeutig ist der B efund, den T h a u lo w m itteilt z u dem S a tz 4 2 ,7 : Jetzt musste
Emil die O rdnung des Heils im Zusammenhänge lernen. D e r H in w eis lautet: Im Text
steht: Was das C h risten th u m betrifft, so musste Emil jetzo die Ordnung des Heils in
ihrem Zusammenhänge lernen. Der Ausdruck »Ordnung des Heils« gefiel gewiss dem
nachdenkenden Knaben und deshalb schrieb er diese Worte gross und liess Christen­
thum als sich von selbst verstehend aus. H ie r scheint es sich eher um eine norm ale H ervor­
hebung z u handeln, die an die S telle der H ervorhebung des W ortes Christenthum im Q u ellen ­
text getreten ist und m it der nachfolgenden H ervorhebung der W örter Mathematik (4 2 ,8 ), Phi­
losophie (43, i) u n d Logik (4 3 ,2 ) korrespondiert. —
E in kleines F ragm ent des M s ist in fak sim ilierter Form unter den von T h a u lo w m itgeteilten
H andschriftproben (siehe oben 2 5 5 ) erhalten: Aber wie werde böse unstatthaffte Neigungen
bezämt, oder gar ausgerottet werden können? D e r Vergleich m it T h ze ig t auch hier Ü ber-

15 U n ter den von T h a u lo w m itgeteilten E x zerp ten ist dieses das ein zige, das solche Ü ber­
schriften aufw eist.
E D ITO RISCH ER BERICH T 259

einstim m ung im W ortlau t, aber eine norm alisierte Schreibw eise von T h (siehe 29,1—2). E in e
auffallende u n d w ichtige D ifferen z besteht darin, daß der S a tz in T h g a n z durch Sperrung her­
vorgehoben ist, w ährend das O rig in a l keinerlei U nterstreichung aufw eist. D ie s läßt uns verm u­
ten, daß T h a u lo w in den von ihm edierten E x zerp ten auch andere Stellen, die ihm w ichtig
schienen, von sich aus im D ru ck hervorgehoben hat. — D ie Z eilen breite des vorliegenden F aksi­
m iles kön nte a u f ein M s m it halbspaltig beschriebenen Q u artseiten verw eisen.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Der neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen.
(Von J. G. H. Feder.) 3. A u fl. E rlangen 1774. U n d: Der neue Emil ... T . 2. Erlangen
1775. — N a m e des Verfassers nicht a u f dem T itel, sondern in T eil 1 m it bloßen A nfangsbuch­
staben unter der W idm u n g, in T eil 2 ausgeschrieben unter der Vorrede.
D a ß dem E x zerp t der erste T eil in 3 . A u fla g e zugrundegelegen hat, ist der Q u ellen n o tiz
H egels w egen des dort feh len den Erscheinungsjahres nicht z u entnehm en, ergibt sich aber aus
textlichen Ü bereinstim m ungen. D ie K a p ite l V u n d V I sin d in der 3 . A u fla g e inhaltlich g a n z
verändert. ( T h au low , der offensichtlich nur die 1. A u fla g e verglichen u n d som it die späteren
Veränderungen nicht g ek a n n t hat, verm ittelt in einer A n m erk u n g zu m T ex t den E indruck, H e ­
g e l habe sich in den gen an n ten K a p iteln g a n z vom O rig in a l gelöst und eigene G edan ken fo rm u ­
liert.16 D erartige Ü berlegungen entbehren der G ru n dla ge.)
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H eg el hat das g a n ze W erk gelesen u n d fortlau fen d, aber
z . T . stark zusam m enfassend, exzerpiert. D ie G esam tgliederu ng w ird von ihm vereinfacht w ie­
dergegeben, aber nicht konsequent bezeichnet. Im O rig in a l ist T eil 1 in z w e i B ücher (K a p . 1—8
u nd K a p . 9 —16) unterteilt, w ährend T eil 2 in neu einsetzender Z ä h lu n g K a p . 1—9 um faßt und
im g a n zen durch einen vorangestellten Z w isch en titel als Drittes Buch bezeichnet ist. H egels E x ­
ze rp t berücksichtigt nur die Z w e iteilu n g des W erkes u n d m acht sie m ittels der divergenten Ü ber­
schriften 1. Buch (6 ,4 ) und II. Theil (5 7 ,lö ) sichtbar.
E in besonderes Vorgehen beim E xzerp ieren ze ig t der Vergleich m it dem O rigin a ltext in den
ersten vier K a p iteln . H egel m acht sich hier die Summarische Vorstellung des Innhaltes und
der vornehmsten Grundsätze des neuen Emils z u n u tze , die am E n d e von T eil 2 (vgl. dort
219ff) abgedruckt ist; er verkn üpft A u sdrü cke, S ä tze u n d G edan ken stü cke aus dieser Z u sam m en ­
fassu n g m it solchen aus dem ausführlichen T ex t der K a p ite l am A n fa n g des W erkes.
Innerhalb des G edankengangs von K a p ite l 2 des zw e ite n T eils bricht das E x ze rp t ab.
c) D a t i e r u n g : D a s vorangestellte D a tu m , das T h überliefert, kann nur den T ag bezeichnen,
an dem das E x zerp t begonnen w urde. Im U nterschied z u anderen um fangreichen Stücken, deren
N iederschrift m ehr als einen T ag in A n spru ch nahm , h at H egel hier nich t die zeitlich e E rstrek-
kung seiner A rb e it festgehalten.

16 Vgl. G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 3 8 .


260 ANHANG

Z u r E d itio n
B eim A bdru ck von T h w u rde die oben beschriebene T ypographie der Überschriften nicht
übernom m en, die A n ordn u n g der Ü berschriften jed och unverändert w iedergegeben.
D ie in T h durch F ettdruck oder durch einen zu sä tzlich en H in w eis des H erausgebers hervorge­
hobenen W örter (s. o.) geben w ir in gesperrten K apitälch en w ieder.

Exzerpt 3
E xcerpta e P raefatione J oh. M atth. G esneri ...
AD L iviu m ex e d i t i o n e cum notis J o. C lerici.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 6 2 —67.
D e r g a n ze T ex t von T h — ausgenom m en das D a tu m u n d die arabischen Z iffern z u r N u m e ­
rierung der A bsch n itte — ist ku rsiv gedru ckt.
D e r erste S a tz des E x zerp ts (6 4 ,5 ) ist in den fa k sim ilierten H andschriftproben, die T h a u lo w
m itgeteilt hat, enthalten (siehe oben 2 5 5 ). W ir lesen dort: Lectio est vel sta ta ria vel c u r s o -
ria. E in e A b w eich u n g gegenüber T h besteht darin, daß im M s das erste W o rt dieses S a tzes
nicht hervorgehoben ist. D ie geringe Z eilen b reite bei relativ großer Schrift m acht w iederum ein
halbspaltiggeschriebenes M s w ahrscheinlich.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : T . Livii Patavini historiarum libri qui supersunt ex editione et cum notis
Ioannis Clerici. Adiecta est diversitas lectionis Gronovianae. [T. 1.] Cum praefatione Io.
Matthiae Gesneri in academia Gottingensi eloq. et poes. P. P. O. Lipsiae in ofEcina
Weidmanniana. M D C C X X X V . (D ie Praefatio ist u n pagin iert.)
E s kann angenom m en w erden, daß H egel diese A u sg abe dam als selbst besessen hat. N a ch ei­
ner T agebu ch n otiz vom 11. D e ze m b e r 1785 (vgl. B a n d 1. 18,10—ll) hat er im H erbst des g le i­
chen Jahres einen 'L iv in s-T e x t erw orben, u n d in dem A u fsa tz Uber das Exzipiren, den er im
M ä r z 1786 innerhalb seines Tagebuches niederschrieb, z itie r t er L iv iu s u n d referiert etw as später
in deutscher Sprache Gesners Erklärung von der Kritik (vgl. B a n d 1. 2 5 ,2 7 jf u nd 27 , ff).
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H eg el durchläuft die g a n ze Praefatio u n d g ib t den T ex t
in zusam m engedrängter u nd dem gem äß veränderter Form w ieder. D ie letzten drei A bsch n itte
Gesners ( = N r 3 4 —3 6 ) läßt er aus.
c) D a t i e r u n g : H egel h at in der D a tu m sze ile am K o p f nicht nur den B eginn der N ie d er­
schrift festgehalten, sondern den g a n ze n Z eitra u m angegeben, in dem er sich m it der V efertig u n g
dieses E xzerp ts beschäftigt h at: 6.-17. Februar 1786. W äh ren d dieser Z e it fin d en sich in seinem
Tagebuch am 11., 15. u n d 16. F ebruar ausführlichere E intragungen in lateinischer Sprache: vgl.
B an d 1. 2 1 ,1 7 -2 2 ,2 6 .
ED ITO RISCH ER BERICH T 261

E xzerp t 4
H ahn des Sokrates.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 67.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Johann Jakob Dusch:] Briefe zur Bildung des Geschmacks. An einen jun­
gen Herrn von Stande. T . 2. L e ip zig u n d B reslau 1765. 212. — O d er der im T ex t überein­
stim m en de N ach dru ck dieses B andes: W ien 1770. 214f.
D a dem E x ze rp t w eder das E rscheinungsjahr der ben u tzten A u sgabe noch eine identifizierbare
S eiten zah l beigegeben ist, w äre auch noch ins A u g e z u fassen : Briefe zur Bildung des Ge­
schmacks. Gänzlich umgearbeitete Auflage. T . 2. L e ip zig u n d B reslau 1774. 422f. Jedoch
spricht eine kleine T extdifferen z f ü r die E rstausgabe oder den W ien er N ach dru ck a b Vorlage.
Im letzten S a tz der exzerpierten S telle h eiß t es in der N eu a u fla g e von 1774: ... fällt also
weg. In den beiden frü h eren A usgaben ist der W o rtla u t: ... fällt also völlig weg. D em ent­
spricht bei H e g e l: ... fällt also ganz weg (7 4 ,7 ).
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ie E rörterung, w ie die von P lato überlieferte Ä u ß eru n g
des Sokrates vor seinem T ode z u verstehen sei, fin d e t sich bei D u sch in B r ie f X U : Racines Ge­
dicht von der Religion. D iesen K o n te x t läßt H egel in seinem E x ze rp t g a n z außer acht; er
hält nur den D eutungsvorschlag z u je n e r S telle fest, f ü r die sein besonderes Interesse schon durch
eine Tagebucheintragung vom 2. J u li 1785 belegt ist (vgl. B an d 1. 5,31ff).
c) D a t i e r u n g : D a s E x zerp t ist nach T h am 6. A p r il 1 7 8 6 geschrieben.

Z u r E d itio n
In T h steh t zw isch en der Q u ellen n o tiz (Briefe zur Bildung des Geschmacks) und dem
T ext des E x zerp ts in einer Z e ile f ü r sich: II. Theil. D a dies der Sache nach z u m Q u ellen h in ­
w eis gehört, haben w ir es in diesen einbezogen.

E xzerp t 5
Stoiker.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 67.
D e r T ex t des E xzerp ts, nicht aber der eben falb lateinische Q u ellen h in w eis, ist in K u rsiv -
schrift gedruckt.
262 ANHANG

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : M. T . Ciceronis de officiis lib. III. Cato maior, sive de senectute. Laelius,
sive de amicitia. Somnium Scipionis. Paradoxa. Sylloge lib. de Repub. Post postremam
Naugerianam et Victorianam correctionem. Emendata a Ioanne Sturmio. Cum Indice lo-
cupletissimo. Additae edam sunt Erasmi Roterodami, et Philippi Melanchthonis, et Bar­
tholomaei Latomi annotationes in eosdem libros. Omnia, quam antehac, et locupledora
et emendatiora. (Argentorati excudebat Iosias Rihelius) 1582. 116 recto.
D iese A u sgabe, die sich nach H egels T od in seiner B iblioth ek befand (K a talog N r 498 ), w ar
nach A u sw eis seines Tagebuches schon 1785 in seinem B esitz: vgl. die E intragung vom 3 0 . J u li
dieses Jahres (B a n d 1. 13,19ff). D a ß er sie f ü r das vorliegende E x ze rp t b en u tzt hat, g eh t aus
H egels Q u ellen h in w eis nich t hervor, w ird aber bekräftigt durch übereinstim m enden W ortlau t,
w ährend z . B . die spätere, von J oh . A u g . E rnesti besorgte E d itio n Ciceronis opera omnia ex
recensione Jac. Gronovii ... (2. A u f . H a lle 1757) kleine A bw eich u n gen au fw eist (vgl. dort
B d 4. 9 9 3 ): est haeresi sta tt haeresi est; argumentum: minutis sta tt argumentum, sed m i-
nutis.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : A u s der anderthalb S eiten um fassenden, nicht m it einer
eigenen Ü berschrift versehenen V orbem erkung der Schrift Paradoxa en tn im m t H egel nur einen
S a tz.
c) D a t i e r u n g : D a s E x ze rp t w u rde nach T h am 5. J u n i 1 7 8 6 geschrieben.

Exzerpt 6
W ahre G lückseligkeit.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 6 8 —80.
E in e indirekte A u sk u n ft über ein D e ta il der äußeren Beschaffenheit des M s, das T h a u lo w
Vorgelegen hat, ergibt sich aus einer B em erkun g z u E x ze rp t 6a (siehe dort).

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Kosmologische Unterhaltungen für die Jugend. (Von Christian Ernst
Wünsch.) B d 2 : Von den auf der Erde sich ereignenden Phänomenen. L e ip zig 1779.
1— 70: Ein Fragment.
D e r a u f dem T itelb la tt nicht gen an n te Verfasser ist aus der U nterschrift der W id m u n g z u
entnehm en. D ie beiden anderen B än de des dreiteiligen W erkes (B a n d 1: Von den W eltkör-
pem ; B a n d 3 : Von dem Menschen,) erschienen 1778 u nd 1780. A u f Seite 1 des zw e ite n
B andes ist — in Form eines K o p ftitels — der B an d in h a lt nochm als angegeben: Unterhaltungen
von der Erdkugel und denen auf ihr sich ereignenden Phänomenen. D a n n fo lg t die Ü ber­
schrift: Ein Fragment.
ED ITO RISCH ER BERICH T 263

b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D e r von H egel exzerpierte T ex t m it der inhaltslosen


Überschrift Ein Fragment bildet in dem B a n d eine eigene E in h eit. Ihm fo lg t (ab 7 l) die Erste
Unterhaltung: Allgemeine Begriffe von der Materie und ihren verschiedenen Haupt­
eigenschaften. - D a s E x ze rp t h ält, m it einigen größeren u n d einer R e ih e von kleineren A u s­
lassungen, die H egel nicht kenntlich gem ach t hat, den g a n ze n G edan ken gan g fest. E s fo lg t dem
T ex t des O rig in a b im m er w ieder w örtlich, drängt aber zu gleich die vorgetragenen G edanken
stark zu sa m m en .
c) D a t i e r u n g : N a ch T h erstreckte sich die A u sa rbeitu n g des E x zerp ts vom 17. bis z u m 22.
J u n i 1786; sie w u rde dem nach an einem W och enende (sam stags) begonnen.

Exzerpt 6a
[O hne Stic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 80.
D e r k u rze A u szu g fo lg t, ohne eigene inhaltliche K en n zeich n u n g u n d ohne vorangestellten
Q u ellen h in w eis (der hier vielm ehr an den T ex t angehängt ist), u n m ittelbar a u f das vorherge­
hende E x zerp t. E in e F ußnote z u r D a tu m sze ile teilt m it: Diese und die folgende Stelle ist
demselben Manuscript hinzugefügt. D e r Sachverhalt w a r verm utlich der, daß das um fangrei­
che E x zerp t 6 a u f ineinandergelegten D oppelblättern niedergeschrieben w u rde u nd dabei am
Schluß noch P la tz freib lieb , der von H egel f ü r spätere Z u sä tze g e n u tzt w urde. Vgl. auch die
A usführungen z u E x ze rp t 7.
D e r T ex t des E x zerp ts ist in K ursivschrift gedruckt.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : D ie b en u tzte Cicero -A u sg a b e ist nicht z u bestim m en. W en n H egel das Z ita t
nicht aus zw e ite r H a n d kannte, m uß er sich a u f eine A u sgabe g e stü tzt haben, w elche die auch
a b Epistolae ad Familiäres bekannte B riefsam m lung unter dem T itel Epistolae ad Diversos
enthielt. W ir legen zu gru n de: M. Tullii Ciceronis Opera omnia ex recensione Iacobi Gro-
novii accedit varietas lectionis Pearcianae, Graevianae, Davisianae . . . cura Io. Augusti
Emesti. Editio secunda. H a lle 1757. B a n d 3 dieser A u sgabe en th ält: M. Tullii Ciceronis
epistolarum ad diversos libri X VI. E x zerp ierte S telle: 22.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ie S telle ist entnom m en einem B rie f Ciceros an P.
L en tu lu s. D u rch U m gestaltung des S atzan fan gs w ird die A ussage, die C icero a u f seinen eigenen
L ebensw eg bezieh t, verallgem einert u n d dem S in n e nach verändert.
c) D a t i e r u n g : D ie N o tiz ist dem E x zerp t, das H egel aus W ünschs B uch Kosmologische
Unterhaltungen für die Jugend anfertigte, f ü n f T age nach dessen A bsch lu ß , näm lich am 27.
J u n i 1786 h inzugefügt w orden.
264 ANHANG

Z u r E d itio n
D a H egel die k u rze S telle dem vorigen M s unm ittelbar angefügt u n d a u f eine besondere
Ü berschrift verzich tet hat, bringen w ir das E x zerp t nicht als selbständige E in h eit, sondern lassen
in D ruckanordnung u n d N u m erieru n g die enge V erbindung m it dem vorigen E x ze rp t sichtbar
w erden.

Exzerpt 7
W eg z u m G lü c k e in der gross en W elt.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 8 0 f
In einer F ußnote z u dem vorangestellten Q u ellen verm erk verw eist T h a u lo w nochm als a u f das
M s u nd unterstreicht das in der A n m erk u n g z u m C ic e r o -E x z e r p t ( = N r 6a) G esagte. E r fü h r t
aus: Da diese Stelle [aus Zimmermann] im October abgeschrieben ist und auf demselben
Papier steht, wo die Excerpte über die Glückseligkeit vom Juni sich finden, so kann
man daraus sehen, dass Hegels Gemüth mit allgemeinen wichtigen Problemen sich sy­
stematisch beschäftigte. D e r bei dieser E rw ägu n g fa s t beiläufig verm ittelte beschreibende H in ­
w eis läßt einen beachtensw erten äußeren M an u skriptbefu n d erkennen.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Ueber die Einsamkeit. Von Johann Georg Zimmermann. T . 2. L e ip zig :
W eidm an n s E rben u nd R eich 1784. 1—4 3 : Fünftes Capitel. Einige Nachtheile der Einsam­
keit. E x zerp ierte Stelle: 3 0 f
E s liegen m it gleichem E rscheinungsjahr u n d aus dem selben V erlag z w e i A usgaben des W er­
kes vor, die sich im F orm at unterscheiden u n d z w a r textgleich, aber nicht seitenidentisch sind.
U nsere Seitenangabe z u r exzerpierten S telle b ezieh t sich a u f die G roß o ktav-A u sg abe (T e il 1:
X L I X , 3 5 0 S .; T eil 2 : X L I I , 4 6 8 S .); sie ist als die von H egel b en u tzte identifizierbar m it
H ilfe des Seitennachw eises, den er selbst z u E x ze rp t 10 g ib t: vgl. 109}3 sow ie den editorischen
B ericht z u diesem Stück.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : A u s den vielerlei B eispielen u n d R eflexion en zu m
T hem a des 5. K a p itels greift H egel einen geschlossenen kleinen A b sch n itt heraus und schreibt
ihn m it g a n z geringen A bw eich u n gen im W o rtla u t ab. A u s dem letzten S a tz g e w in n t er das
leitende Stich w ort: W eg zum Glücke in der grossen W elt. D a s O rig in a l fä h rt an dieser
Stelle (nach A b sa tz) fo r t: Umgang mit Menschen in allen möglichen Fällen und Verwick­
lungen des Lebens, aber nicht Einsamkeit, führet auf diesen W eg.
c) D a t i e r u n g : L a u t T h w u rd e das E x ze rp t am 16. O k to b er 1786 ve fe rtig t. A m T ag zu vo r
h at H egel die E x zerp te 9 u n d 10 aufgeschrieben, die gleichfalls dem W erk von Z im m erm a n n
entnom m en sind. E b en fa lb am 16. O k to b er entstand das k u rze E x ze rp t 11 (aus K ästners Ma-
thematik-Le/zr&wc/z,).
ED ITO RISCH ER BERICH T 265

Z u r E d itio n
O b ivoh l dieser A u szu g nach T h au low s B ericht noch P la tz gefun den hat a u f freigebliebenen
B lättern des großen E x zerp ts 6, z u dem er sich inhaltlich in B ezieh u n g setzen läßt, sollte er
w egen der eigenen Ü berschrift als selbständiges S tü ck ediert w erden. D e m entspricht unsere A n ­
ordnung und B ezifferung.

E xzerp t 8
Seele.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 81—8 4.
D e r erste S a tz des E x zerp ts (1 0 0 ,4 —5) Ist in den Proben der Handschrift Hegel’s, die
T h a u lo w als B eilage in B a n d 3 seines W erkes veröffentlicht hat, fa k sim iliert wiedergegeben (siehe
oben 2 5 5 ). D o rt ist z u lesen: Unsere Seele ist ein einfaches Wesen, das sich seiner selbst
bewußt ist, u. das sich etwas vorstellt, durch Hülfe der Sinne. D ie w örtliche Ü bereinstim ­
m ung zw isch en T h u n d dem H egelschen M s, bei R egu lieru n g der Schreibw eise, w ird hier erneut
belegt. D ie ku rzen Z eilen entsprechen ziem lich genau denen, die w ir aus M an u skripten kennen,
w elche halbspaltig a u f längsgefalzten Q u artb lättern geschrieben sind.
In einer F ußnote z u r Ü berschrift sagt T h a u lo w : Mag es instinctartig seyn oder aus richti­
ger Ueberlegung, indem Hegel in demselben Schubfutteral die Psychologie mit der Päd­
agogik verbunden hat, richtig hat er verbunden; . .. U n abhängig von der In tention dieser
B em erkung w ird d am it bestätigt, daß T h au low s E dition der E x zerp te einer Vorgefundenen O rd ­
n u n g fo lgt.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e lle .-K le in e Seelenlehre für Kinder, vonj. H. Campe. [O h n e O rt] 1784 . 2 2 4 S.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : C am pes Schrift ist in G esprächsform angelegt. S ie u m ­
fa ß t vierzehn G espräche zw isch en einem V ater u n d seinen K in d ern . H egel exzerpiert die K ern ­
gedan ken des g a n ze n Buches, — m it A u sn a h m e des letzten G esprächs (211—2 2 4 ), das von der
U n sterblichkeit handelt. D a b ei befolgt er ein einfaches V erfahren: E r überspringt alle G esprächs­
partien , in denen die K in d er in pädagogisierenden G edankenschritten an neue E rkenntnisse her­
angeführt w erden, u nd hält nur die jew eilig en E rgebnisse fest. D ie se sin d in thesenhafter Form
in den Gesprächsgang eingefügt, m an chm al a u f z w e i oder m ehrere Personen verteilt; sie sin d stets
durch eine kräftigere D ru ck typ e hervorgehoben. H egel klam m ert die G esprächssituation g a n z aus
u n d g ib t den gedanklichen E rgebnissen, bei enger w örtlicher A n leh n u n g an den O rigin altext,
durch W eglassen aller verdeutlichenden Z w ischenfragen u n d -bem erkungen eine noch strengere
u nd gleichm äßigere Form . So n im m t sein E x ze rp t des Buches die G esta lt einer A n ein an derrei­
hung von definitorischen L eh rsä tzen an.
266 ANHANG

c) D a t i e r u n g : T h g ib t nur ein T agesdatum an : 10. October 1786. M a n m uß aber die


M öglich keit einräum en, daß die A u sa rbeitu n g des E x zerp ts a u f der B asis eines g a n ze n Buches
nicht an einem T ag angefangen u n d vollendet w urde.

Z u r E d itio n
In der W iedergabe des Q u ellen textes setzen w ir die N a m en der sprechenden Personen an den
Z eilenanfang, w äh ren d sie im O rig in a l je w e ils in der M itte einer besonderen Z e ile stehen.
D ie von H egel g a n z übersprungenen Gesprächspassagen repräsentieren w ir durch drei A u sla s­
sungspunkte, die zw isch en den exzerpierten P artien in j e eigener Z e ile stehen. D ie m itgeführten
S eiten zah len lassen den U m fan g der ausgelassenen Stücke erkennen.
D a so der Q u ellenabdruck a u f die A bsch n itte beschränkt w ird, in denen die R esu lta te des
G edankengangs ausgesprochen sind, verzich ten w ir a u f die H ervorhebung dieser Stellen durch
Sperrung. Im g a n ze n g ilt, daß alles, w as H egel abgeschrieben hat, im O rig in a l hervorgehoben
ist. E in e besondere H ervorhebung der in T h gesperrten E in zelw ö rter fin d e t sich in der Vorlage
nicht.

E xzerp t 9
A cademie. U eber academische V orstellungs- A rten.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 84f.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Ueber die Einsamkeit. Von Johann Georg Zimmermann. T. 2. L e ip zig :
W eidm an n s E rben und R eich 1784. 1—4 3 : Fünftes Capitel. Einige Nachtheile der Einsam­
keit. E x zerp ierte Stelle: 16—18 (F ußnote). — V orstehende Seitenangaben nach der durch E x ze rp t
10 (siehe dort) identifizierten A usgabe.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : In Z im m erm a n n s T ex t ist kritisch die R ed e von dem
einsamen engbeschränkten Völklein [der Gelehrten], das ewig im Kreise academischer
Begriffe und Vorstellungsarten herumwirbelt; weiter von der Welt nichts gesehen hat,
und nichts erfährt... E in e F ußnote z u dem W o rt Vorstellungsarten, die sich über drei S ei­
ten erstreckt, en th ält in A n fü h ru n gszeich en den g a n ze n von H egel abgeschriebenen T ext. A n das
Z ita t schließt sich noch eine Stellu n gn ah m e des A u to rs sow ie folgen der H in w eis an, den H egel
f ü r den Q u ellenverm erk z u seinem E x ze rp t verw ertet: Man findet diese Stelle an der 13.
Seite eines Versuches über das Leben des Freyherrn von Leibnitz, von Herrn Hißmann,
Professor der Weltweisheit in Göttingen .17

17 T h a u lo w hat — geleitet durch einen Fehler in H egels Q u ellen n o tiz (vgl. den textkritischen
ED ITO RISCH ER BERICH T 267

c) D a t i e r u n g : G em äß T h ist das E x ze rp t am 15. O k tober 1786 (einem Sonntag) geschrie­


ben.

Exzerpt 10
M önche.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 8 5 —87.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Ueber die Einsamkeit. Von
Johann Georg Zimmermann. T . 1. L e ip zig :
Viertes Capitel. Trieb zur Einsamkeit in den
W eidm an n s E rben u n d R eich 1784. 124—3 5 0 :
ersten Zeiten der Christlichen Kirche, und überhaupt in warmen Ländern. E xzerp ierte
S telle: 1 9 9 -2 0 5 .
A n h a n d der von H egel selbst angegebenen Seite läßt sich von z w e i gleichlautenden und
g leich zeitig erschienenen A u sgaben unterschiedlichen F orm ats und abw eichender P aginierung die
G roß oktav-A u sgabe, deren erster B a n d X L L X , 3 5 0 Seiten um faßt, a b die von ihm b en u tzte be­
stim m en . (ln der anderen A u sgabe fin d e t sich die exzerpierte S telle 2 2 3 —2 3 0 .)
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel exzerpiert eine zu sam m en h än gen de Passage ohne
A uslassungen. D e n In h alt einer in dieses S tü ck fa llen d en F ußnote fü g t er in den T ex t ein, j e ­
doch an a n d ererS telle: vgl. unsere M itteilu n g en aus dem Q u ellen text, oben 109 u n d 110.
c) D a t i e r u n g : D a s E x zerp t entstand, der in T h überlieferten D a tu m sn o tiz zufolge, am g le i­
chen T ag w ie das vorige.

Exzerpt 11
L ehrart.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G . Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 88.

A p p a ra t z u 108,3) — ein fa b ch es K a p ite l bei Z im m erm a n n aufgeschlagen u n d offenbar die Stelle


nicht gefunden. E r z ie h t den Schluß, daß H egel Hissmann’s Schrift zur Hand genommen
u nd seinen T ex t von dorther exzerpiert habe. D iese A n n a h m e erübrigt sich. T h au low s Irrtum
w irk t in anderem Z u sam m en h an g noch fo r t: E r ergän zt an h an d der ihm vorliegenden A u szü g e
die von R o sen k ra n z in der B iographie aufgezäh lten B ücher, aus denen Hegel als Gymnasiast
excerpirte, u n d nen n t a b einen der dort feh len den T itel Hissmann’s Versuch des Lebens
Leibnitzens. Vgl. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 84 (Fußnote) u n d 10 (Fußnote).
268 ANHANG

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Anfangsgründe
der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Tri­
gonometrie, und Perspectiv. Abgefaßt von Abraham Gotthelf Kästner. G öttin gen 1758.
1—2 0 : Vorerinnerungen von der Mathematik überhaupt und ihrer Lehrart. E xzerp ierte
Stelle: 2 0 (aus A b sch n itt 3 7 ).
O b H egel diese oder eine spätere A u ß a g e des Buches b en u tzt hat, ist nicht z u erm itteln.
W enige M o n a te später stu dierte er, w ie er in seinem Tagebuch verm erkt (E intragungen vom 5.
und 6. J a n u a r 1787; vgl. B an d 1. 32,21ff m it A n m .), den zw e ite n T eil des W erkes in der 2.
A u ß a g e von 1765, w obei w ir erfahren, daß er sich den B an d eigens auslieh. D ie 2. A u fla g e
des hier exzerpierten ersten T eils erschien 1764. D e r W o rtla u t des gen an n ten A bsch n itts der
Vorerinnerungen stim m t noch in der 4. A u ß a g e von 1786 m it dem der E rstausgabe überein.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel h ält die K ernaussage des letzten , m it 3 7 beziffer­
ten A bsch n itts der Vorerinnerungen fest.
c) D a t i e r u n g : N a ch T h am 16. O k to b er 1786 notiert, entstand der A u szu g am gleichen
Tage w ie E x zerp t 7.

Exzerpt 12
A egypten. V on d e r G elehrsam keit der A egypter.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 88f.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Christoph Meiners:] Revision der Philosophie. T . 1. G ö ttin gen und G oth a
1772. 3 ljf: Erster Abschnitt. Über die Philosophie. E xzerp ierte S telle: 9 6 —98.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H eg el schreibt aus dem a u f S eite 91 beginnenden § 4.
Exoterische und esoterische Philosophie ein zu sam m en hängendes Stück ohne A uslassung und
fa s t ohne V eränderung des W ortlau ts ab.
c) D a t i e r u n g : N a ch T h entstand das E x ze rp t am 2 3 . D e ze m b er 1786.

Exzerpt 13
P hilosophie. A llgemeine U ebersicht.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3 . 8 9 —92.
D ie P aragraphenzählung (§ 186ff) steh t in T h am R a n d e, außerhalb des Satzspiegels. E s
ED ITO RISCH ER BERICH T 269

m uß verm u tet w erden, daß dies einen B efu n d des M s w iedergibt. (D a b ei ist leicht vorstellbar,
daß H egel den eigentlichen T ex t halbspaltig niedergeschrieben h at.)
D ie gelegentlich in K la m m e m beigefügten lateinischen B ezeichnu ngen der wissenschaftlichen
D iszip lin en sin d in T h kursiv gedruckt.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit,
worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird.
(Von J[ohann] G[eorg] Sulzer.) 2. g a n z veränderte u n d sehr verm ehrte A u ß a g e . L e ip zig 1759.
139—188: VI. Die Philosophie. - D e r V efa ssern a m efin d et sich unter der Vorrede.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel drängt den T ex t des exzerpierten O riginals stark
zu sam m en . Im g a n ze n reiht er n u r k u rze K en n zeich n u n gen der aufgeführten D iszip lin en anein­
ander. A lle näheren E rläuterungen, illustrativen B eispiele, historischen B elege u. ä. sin d wegge­
lassen.
D ie § § -Z eich en u n d -Z a h len des O rigin als sin d im E x ze rp t m itgeführt, aber im U nterschied
z u r Vorlage, w o sie je w e ils als Überschrift in die M itte g e setzt sin d, neben den T ex t an den
R a n d gerückt.
M it H ilfe röm ischer Z iffern sow ie großer und kleiner B uchstaben am B eginn der ku rzen
T extabschnitte n im m t H egel eine system atische G liederu n g vor, die im O rig in a l nicht vorhanden
ist, aber aus den dort ausgesprochenen Z u ordnungen u n d B ezü gen gew on n en w erden kann. (A ls
B eispiel f ü r H egels Verfahrensw eise vergleiche m an seine E infügung des T erm inus Metaphysik,
der in § 214 vorkom m t, in den W o rtla u t von § 194.)
c) D a t i e r u n g : D ie in T h überlieferte D a tu m sn o tiz nen nt f ü r die N iederschrift den 9. und
10. M ä r z 1787.

Z u r E d itio n
Im E x z e r p t setzen w ir w ie T h die § § -Z a h le n je w e ils a u f den äußeren Seiten ran d; die S tel­
lung rechts oder links vom T ex t entspricht dabei im ein zeln en nicht dem E rstdruck, sondern
richtet sich nach unserer Seiteneinteilung.
B ei der W iedergabe des Q u e l l e n t e x t e s rücken w ir, um eine dem E x zerp ttex t korrespondie­
rende A n ordn u n g z u erleichtern, die eigentlich in der M itte stehenden § § -Z a h le n an den A n fan g
der zugehörigen A bsch n itte. D ie außerdem in eckigen K lam m ern eingebrachten Z iffern bezeich­
nen, w ie auch sonst, die S eiten zah len des O riginals. A usgelassene Stellen sin d nur innerhalb der
abgedruckten T extabschnitte durch drei P u n k te kenntlich gem ach t; sin d g a n ze Paragraphen über­
sprungen, so erkennt m an dies aus dem Fehlen der § § -Z a h le n .
270 ANHANG

Exzerpt 14
R echtsgelehrsamkeit. A llgemeine U ebersicht.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T hau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 9 2 —95.
In der überlieferten äußeren Form , die auch V erm utungen über die A n o rd n u n g des T h a u lo w
vorliegenden M s erlaubt, gleich t dieser T ex t dem E x ze rp t 13, dem das vorhergehende K a p ite l
desselben B uches zu gru n deliegt. V gl. das dort G esagte.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : K u rzer B eg riff aller W issenschaften ... 2. A u f . L e ip zig 1759. 189—211:
VII. D ie Rechtsgelehrsam keit.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D a s E x zerp t ist nach der gleichen V erfahrensw eise her­
gestellt w ie das vorige; vgl. das dort A usgeführte.
c) D a t i e r u n g : G em ä ß überliefertem D a tu m ist das E x ze rp t noch am gleichen Tage a u f g e ­
schrieben w orden, an dem S tü ck 13 abgeschlossen w urde.

Z u r E d itio n
H ier g ilt insgesam t das im B ericht über E x ze rp t 13 G esagte. — U n ter den von H egel einge­
setzten G liederungsbuchstaben w eist T h zw e im a l ein großes A u n d B in F rakturschrift auf. A u s
typographischen G rü n den w erden diese, w ie im textkritischen A p p a ra t belegt, in unserer E ditio n
durch D oppelbuchstaben (A A , B B j aus der A n tiqu asch rift ersetzt.

Exzerpt 15
P hilosophie, P sychologie. P rüfung der Fähigkeiten.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G . T hau low : H egel’s Ansichten. T . 3 . 9 5 —116.
E in w in zig es authentisches D e ta il des zugrundeliegenden M s verm ittelt eine F ußnote T h a u -
lows, die freilich nicht so sehr eine beschreibende w ie eine bew ertende A b sich t hat. Z u dem g e ­
sperrten W o rt V e r n u n f t ( l3 9 ,l) verm erkt er: Diess W o rt, das im T ex t ohne Emphase
steht, hat H egel unterstrichen und m it Recht. N ic h t erschließen läßt sich aus dieser A n m er­
kung, ob die w enigen anderen E in zelw o rte, die in T h abw eich en d vom O rig in a l gesperrt sin d
(vgl. 134,3; 149,8; 154,1; 157,16; 160,7), ebenfalls in H e g eb M s unterstrichen w aren oder ob
der H erausgeber sie seinerseits hervorgehoben hat, um die gedan klich e G liederu n g z u verdeut­
lichen.
ED ITO RISCH ER BERICH T 271

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Christian Garve:] V ersuch über die Prüfung der Fähigkeiten. In : N eue
Bibliothek der schönen W issenschaften und freyen Künste. B i 8. L e ip zig 1769. 1—44;
201—231. (D er erste T eil der A b h a n d lu n g ist im ersten Stück des B andes, die F ortsetzung am
A n fa n g des zw e ite n Stücks abgedruckt.) — D ie K en n tn is des Verfassers kann H egel nicht aus
dem exzerpierten B an d selbst geschöpft haben, in dem der A u fsa tz anonym erschien. A llerdin gs
hatte G a rve seither längst eine Sam m lung einiger Abhandlungen u nter seinem N a m en heraus­
gegeben (L e ip zig 1779), die den Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten enthält. H egels
Vorlage w ar jedoch der E rstdruck in der Z eitschrift. D ie s g eh t nicht nur daraus hervor, daß er
in seinem Q u ellenverm erk das E rscheinungsjahr 1769 n en nt; im T ex t des E x zerp ts fin d e t sich in
Ü bereinstim m ung m it dem E rstdruck der A b h a n d lu n g eine R e ih e von Frem dw örtern (130,2 Pro­
portion; 131,1 Structur; 132,9 Observation, u sw .), die beim W iederabdruck in G arves
Sammlung durch deutsche A u sdrü cke (Verhältniß, Bau, Beobachtung, u sw .) ersetzt w orden
sind.
M a n beachte den Fehler im T itel der als Q u elle angeführten Z eitsch rift (126,4 philosophi­
schen sta tt schönen,), — eine A bw eich u n g, die sich in den E x zerp ten 16, 17 und 19 w ieder­
holt, w ährend E x zerp t 18 die richtige F orm ulierung aufw eist.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel sucht in seiner N iederschrift, w en n auch stets um
kü rzere Fassung bem üht u nd N eben gedan ken auslassend, den gesam ten G edankengang der A b ­
handlung f ü r sich festzu h a lten .
c) D a t i e r u n g : D ie D a tu m sze ile in T h g ib t einen Z eitra u m von f ü n f Tagen an, in dem das
um fangreiche E x ze rp t aufgeschrieben w u rde: 14. bis 18. M ä r z 1787.

Exzerpt 16
Philosophie. N atürliche T heologie. V orsehung.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3 . 116f.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sion :] Einige Vorlesungen von Abraham G otthelf Kästner. Altenburg
1768. In : N eue Bibliothek der schönen W issenschaften und freyen Künste. B d 8, Stück 1.
L e ip zig 1769. 112—125. E x zerp ierte S telle: 115f.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ieses u n d die drei folgen den E x zerp te sin d dem g le i­
chen A rtik e l entn om m en. In der L ek tü re fortschreitend, schreibt H egel sich vier kleinere geschlos­
sene Passagen ab. D e r A u fteilu n g kom m t das rezensierte B uch K ästn ers entgegen: es handelt sich
um eine S am m lu n g verschiedener Stücke, die in der Z eitsch rift ziem lich kn app ein zeln referiert
w erden. D a s erste R eferat z u m T hem a U nsterblichkeit der Seele h at H egel übersprungen. D a s
272 ANHANG

vorliegende E x zerp t n im m t den In h a lt von S tü ck 2 auf. D e r A b sch n itt beginnt im O rigin a l m it


dem S a tz : D ie Betrachtungen des zw eyten Stücks sind bekannter, aber vortrefflich ausge­
führt. D a s dann Folgende h at H egel ohne A uslassung u n d fa s t ohne A bw eich u n g im W o rtla u t
abgeschrieben.
c) D a t i e r u n g : N a ch T h ist das E x ze rp t am 2 0 . M ä r z 17 8 7 entstanden, z w e i Tage nach
A bsch lu ß des vorigen E xzerp ts, dem derselbe B a n d der Z eitsch rift N eue B ibliothek zugrundelag.

Exzerpt 17
Philosophie. P sychologie. W itz.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 117 f

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sio n :] Einige Vorlesungen vo n Abraham G otthelf Kästner (w ie bei
E x zerp t 16). E xzerp ierte S telle: 116f.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : A n die im vorigen E x ze rp t w iedergegebene Textpassage
schließt sich im O rig in a l der A b s a tz an : K eine dieser kleinen Abhandlungen giebt so viel
Stoff zum D enken, und ist so fruchtbar an Folgerungen als die dritte, von dem G e­
brauch des W itzes in den h o h em W issenschaften. D a n ach fo lg en die beiden hier von H egel
w örtlich abgeschriebenen A bsch n itte. D ie nächsten drei S eiten, die den G ebrauch von M etaph ern
in der P hilosophie erörtern, ex zerpiert H egel nicht.
c) D a t i e r u n g : T h überliefert das D a tu m : D en 22. M ai 1787. D e r oben geschilderte enge
Z u sam m en h an g der E x zerp te 16—19 sow ie die R eih en folge der S tü cke lassen die sichere A n ­
nahm e z u , daß hier ein F ehler vorliegt: en tw eder ein Schreibversehen H egels oder ein in T h
eingegangener Übertragungsfehler. E s ist davon auszugehen, daß E x ze rp t 17 — w ie die beiden
folgen den — am 22 . M ä r z 178 7 geschrieben ist.

Exzerpt 18
[O hne S t ic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3 . 118.
A m E n de der vorangestellten Q u ellen n o tiz ist eine F ußnote angefügt, in der T h a u lo w sich ei­
gens a u f das Fehlen einer Ü berschrift bezieh t: Hat im M anuscript keine besondere U eber-
E D ITO RISCH ER BERICH T 273

schrift, ist aber Fortsetzung der allgem einen Frage über Didactik. Vergleicht m an diese
W orte m it den A n gaben T h au low s z u r Ü berlieferung der E x zerp te 6a u n d 7 (siehe dort), so
w ird deutlich, daß das vorliegende E x ze rp t innerhalb des K o n vo lu ts ein selbständiges M s dar­
stellte. D a ß eine inhaltliche Ü berschrift fe h lt u n d am K o p f des E x zerp ts nur der N a ch w eis sei­
ner H erku n ft steht, ist ein Sachverhalt, der in der Folge öfter vorkom m t.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sion :] Einige Vorlesungen von Abraham G otthelf Kästner (w ie bei
E x ze rp t 16). E xzerp ierte S telle: 120f.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H eg el exzerpiert — m it V eränderung des A n fan gs und
einer A uslassung nach dem z w e ite n S a tz — den g a n ze n A bsch n itt, der die vierte A bh an d lu n g
des besprochenen B uches von K ä stn er z u m G egen stan d hat. D e r Passus w ird eingeleitet: Das
vierte Stück bezieht sich dem Innhalte nach ganz auf die M athem atik; aber Ausführung
und Vortrag m achen es allgemeiner.
c) D a t i e r u n g : D a s dem E x ze rp t vorangestellte D a tu m 22. M ärz 1787 ist gegenüber der m it
dem vorigen E x ze rp t überlieferten T agesangabe 22. M ai als richtig an zu seh en ; vgl. auch die
Stücke N r 16 u nd 19.

Exzerpt 19
[O hne Stic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G . Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 118—120.
E in e inhaltliche Überschrift fe h lt, ohne daß der H erausgeber T h a u lo w (w ie beim vorigen E x ­
zerp t) etw as d a zu verm erkt.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R e zen sio n :] Einige Vorlesungen von Abraham G otth elf Kästner (w ie bei
E x zerp t 16). E xzerp ierte S telle: 123—125.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : N a ch dem H egel verstreute B em erkungen des R ezen sen ten
über verschiedene kleinere S tü cke K ästn ers übersprungen hat, schreibt er das R efera t über die
letzte kleine Abhandlung fa s t vo lb tä n d ig a b; nur ein langer S ch lu ß satz bleibt unberücksichtigt.
A bgesehen von der K on traktion am A n fa n g des T extes fin d en sich im E x ze rp t nur geringfügige
A bw eich u n gen vom W ortlau t des O riginals.
c) D a t i e r u n g : w ie bei E x ze rp t 18.
274 ANHANG

Exzerpt 20
P hilosophie. P sychologie.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T h au lo w : H egel’s Ansichten. T . 3 . 120.
A n stelle der D a tu m sze ile en th ält T h den V erm erk des H erausgebers: (o h n e D a t u m .) D e r
S tich w ort-Ü berschrift g ib t T h a u lo w eine F ußnote bei, in der er ausführt: D a dieses Excerpt in
dem Schiebfutteral an dieser Stelle lag, haben w ir schon aus dem Grunde keine Veran­
lassung finden dürfen, es etwa gleich hinter den großen Auszügen aus Feders neuem
Em il abdrucken zu lassen. ... D ieser H in w eis se tzt erkennbar voraus, daß die R eih en folge der
E xzerp te in T h au low s E d itio n derjenigen entspricht, die er in H egels N a ch la ß vorgefunden hatte.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : D er neue Em il oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen.
(Von J. G. H . Feder.) 3 . A u fl. E rlangen 1774. 46 u n d 8 2 : Ü berschriften des 5. und 6. K a p i­
tels.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : B etrachtet m an die N o tiz zu sa m m en m it der S tich w ort-
Überschrift, so h at das G a n ze w eniger den C h arakter eines E x zerp ts als vielm ehr den einer
V erw eisung a u f T extstücke, die H egel bereits frü h er (oben llff) ausführlich exzerpiert, aber an ­
ders rubriziert hatte.
c) D a t i e r u n g : D irek te A n h a ltsp u n k te f ü r eine zeitlich e B estim m u n g feh len . E s kan n nicht
ausgeschlossen w erden, daß H eg el schon w äh ren d der N iederschrifi von E x zerp t 2, das unter die
Leitbegriffe Philosophie, Pädagogik gerü ckt ist, f ü r einschlägige P artien eine z w e ite Z u ordn u n g
vorgenom m en hat. W ahrscheinlicher ist, daß der V erw eiszettel erst im Z u ge der näheren B e­
schäftigung H egels m it In h alten der Psychologie, w ie sie ab E x ze rp t 15 doku m en tiert ist, also im
F rühjahr 1787 angelegt w urde.

Z u r E d itio n
U nbeschadet der nicht aufgelösten D atierungsfrage fo lg en w ir beim A bdru ck der sinnvollen
E ntscheidung T h au low s, die N o tiz an der Stelle z u belassen, w o sie nach seinem ausdrücklichen
Z eu gn is in H egels Schiebfutteral gelegen hat.
ED ITO RISCH ER BERICH T 275

Exzerpt 21
[O hne Stic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T hau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 120—123.
D a s E x ze rp t beginnt m it dem Q u ellen h in w eis; eine inhaltliche Ü berschrift fe h lt (vielleicht
w egen der drei hervorgehobenen L eitw o rte B i l d u n g , C u l t u r und A u f k l ä r u n g , die gleich
am A n fa n g des T extes stehen).

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Moses Mendelssohn: U eber die Frage: was heißt aufklären? In : Berlinische
M onatsschrift. H rsg, von F. Gedike u n d J. E. Biester. B d 4: Julius bis Decem ber 1784.
B erlin 1784. 1 9 3 -2 0 0 .
D ie im Q u ellen h in w eis nach T h enth altene A n g a b e 18. St. m uß korrigiert w erden (siehe un­
seren T ex t 169}1 m it A p p a ra t); z u lesen ist: IX . St. E s handelt sich w oh l um einen Ü bertra­
gungsfehler von T h gegenüber dem M s; H egel h at offensichtlich in abgekü rzter Form den K o p fti­
tel des H eftes nachgebildet, der über dem m it 1. num erierten A u fsa tz von M endelssohn steht:
Berlinische M onatsschrift. 1784. Neuntes Stük. September.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel schreibt, m it A uslassungen geringen U m fangs und
T extvarian ten im D e ta il, die g a n ze A b h a n d lu n g ab.
c) D a t i e r u n g : Sofern das vorangestellte D a tu m nicht nur den B eginn der N iederschrift fe s t­
hält, ist das E x ze rp t am 31. M a i 1 78 7 angefertigt w orden.

Z u r E d itio n
Im E x ze rp t fin d e t sich dreim al (vgl. 17 2 ,7 ;13;18) das W o rt ausserordentlichen anstelle von
außerwesentlichen im O rigin al. D a es nicht m ehr entscheidbar ist, ob ein Übertragungsfehler
von T h oder ein Schreibversehen H egels vorliegt, oder ob H egel, der in dem selben Passus auch
dreim al das W o rt ausserwesentlichen se tzt (vgl. 172 ,2 ;4;14), vielleich t sogar den A u sd ru ck vari­
iert hat, haben w ir keine T extkorrektu r vorgenom m en, sondern begnügen uns dam it, hier a u f
den Sachverhalt aufm erksam z u m achen. E rw ä h n t sei, daß H offm eister bei seinem A bdru ck des
E x zerp ts an den drei angeführten S tellen stillschw eigend das W o rt außerwesentlichen eingesetzt
h at.18

18 V gl. D okum ente zu Hegels Entw icklung. H rsg, von Joh an n es H offm eister. Stuttgart
1936. 1 4 2 f
276 ANHANG

E xzerpt 22
P hilosophie. P hilosophische G eschichte.
U eber den R uhm der A ufklärung alter L änder,

P ersiens, A egyptens.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T h au low : H egel’s Ansichten. T . 3 . 124f.
A n stelle der D a tu m sze ile steh t in T h der V erm erk des H erausgebers: o h n e D a t u m .
D ie R a n d n o tiz ( l 75,5) ist in T h nicht am R a n d des T extes abgedruckt, sondern w ird in ei­
ner F ußnote m itgeteilt, die der H erausgeber an den N a m en Platon anhängt: H ier hat H egel
ah den Rand geschrieben »Alcibiad. 1,17.« Im T e x t steht das nicht. D ie letzte B em erkun g
trifft nicht z u . E in ige S eiten, bevor H egel m it seinem E x ze rp t ein setzt, w ird in der A b h an d lu n g
Eberhards die P latonstelle angeführt u nd sow oh l griechisch w ie in deutscher Ü bersetzu n g w ieder­
gegeben (vgl. unseren Q u ellen abdru ck unter dem T ext, oben 175). D a ß die Stellenangabe im M s
am R a n d e notiert u n d nicht, w ie Z eile 176,2 die O d y s s e e stelle, in den T ex t einbezogen w ar,
könnte d a ra u f hindeuten, daß H egel sie erst nachträglich seinem E x ze rp t beigab.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Johann August] Eberhard: Verm uthungen über den U rsprung der heuti­
gen M agie. Ein historischer Versuch. A n H errn Bibliothekar Biester. In : Berlinische
M onatsschrift. H rsg, von F. Gedike u n d J. E. Biester. B d 10: Julius bis D ecem ber 1787.
B erlin 1787. 6 —3 4 . E x zerp ierte S te lle : 2 3 —25.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel greift aus dem A u fsa tz eine zu sam m en h än gen de
P artie heraus, die er — abgesehen von einer größeren A u slassu n g nach dem ersten S a tz — fa s t
unverändert abschreibt.
c) D a t i e r u n g : D a s undatierte E x zerp t g eh t in T h z w e i Stücken voran, die vom 16. u n d
23. A u g u st 1 7 8 7 stam m en (nach unserer Z ä h lu n g : N r 2 3 u n d 2 4 ). N im m t m an an, es sei f r ü ­
her als diese beiden S tü cke entstanden, so steht nur ein schm aler zeitlich er Spielraum z u r V erfü­
gu n g; denn das E x ze rp t ist aus dem J u li-H e ft des laufenden Jahrgangs der Zweitschrift entn om ­
m en. P ünktliches E rscheinen des H eftes vorausgesetzt, kön n te H egel den A u fsa tz etw a in den
W ochen von M itte J u li bis M itte A u g u st gelesen haben. N ä h e r liegt die V erm utung, daß das
E x zerp t später entstanden ist. Besonders in B etracht z u zieh en ist die Tatsache, daß E x zerp t 25
vom 2 8 . Septem ber 1787, dessen Überschrift das gleich e spezifizieren de Stich w ort Philosophische
Geschichte enth ält, aus dem selben A u fsa tz von E berhard gew on n en ist. D a der dort aufge­
schriebene A u szu g dem vorliegenden im T ex t der A b h a n d lu n g vorangeht, ist es ziem lich w ah r­
scheinlich, daß E x ze rp t 2 2 n a c h N r 2 5 abgefaßt ist, — vielleicht aber am gleichen Tage (w as
eine psychologische E rkläru n g f ü r das W eglassen der D a tu m sn o tiz bieten könnte).
ED ITO RISC H ER BERICH T 277

Z u r E d itio n
In der R eihen folge des A bdru cks schließen w ir uns T h an, da m an davon ausgehen m uß,
daß T h a u lo w sich an die von ihm Vorgefundene A n ordn u n g der P apiere gehalten hat. H offm ei­
ster19 zieht Exzerpt 25 vor und stellt damit die Stücke so nacheinander: N r 25, N r 22,
N r 23, N r 24. V ielleicht wäre, sofern m an die A bfolge von T h ändern w ill, nicht w e­
niger sinnvoll die Alternative: N r 23, N r 24, N r 25, N r 22.

Exzerpt 23
[O hne St ic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 1 2 5 f
D a s E x zerp t beginnt m it dem Q u ellen h in w eis. E in e inhaltliche Ü berschrift fe h lt.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Friedrich N icolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die
Schweiz, im Jahre 1781. N ebst Bem erkungen über Gelehrsam keit, Industrie, Religion
und Sitten. B d 5. B erlin u n d S tettin 1785. E xzerp ierte S telle (aus: Vierzehnter Abschnitt.
Einige Anm erkungen über Sitten, G ew ohnheiten, Charakter und Sprache der Einwohner
von Wien,): 2 0 5 —2 0 7 .
V orstehende A n gaben belegen, daß der in der Q u ellen n o tiz enth altene H in w eis V I. Bd. ein
Irrtum ist.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel kon zen triert sich a u f einen in den B ericht N ico ­
lais eingelagerten Passus m it allgem eineren B etrachtungen, die der begrifflichen E rhellung von
C u ltu r und Aufklärung dienen. D a s E x ze rp t w eich t nur w en ig vom W o rtla u t des O riginals
ab. A usgelassen w ird folgen de F ußnote: M an sehe den trefliehen kleinen Aufsatz meines
theuren Freundes Moses M endelssohn über A ufklärung und K u ltu r im September der
Berlinischen M onatsschrift von 1784. Er enthält in der K ürze wahren Aufschluß und
Berichtigung der Begriffe in dieser bisher so seicht behandelten M aterie. D e r H in w eis g ilt
der A b h a n d lu n g M endelssohns, die H egel seinerseits schon E n d e M a i 178 7 abgeschrieben hat
(vgl. E x zerp t 2 l).
c) D a t i e r u n g : T h überliefert das D a tu m 16. A u g u st 1787.

19 Vgl. D okum ente zu Hegels Entw icklung. 144—146.


278 ANHANG

Exzerpt 24
[ O hne St i c h w o r t ]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T hau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 126.
A u ch dieses E x zerp t hat keine inhaltliche Ü berschrift; es beginnt m it der Q u ellen n o tiz.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Friedrich N icolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die
Schweiz, im Jahre 1781. N ebst Bem erkungen über Gelehrsam keit, Industrie, Religion
und Sitten. B d 4. B erlin u nd S tettin 1784. E x zerp ierte S telle (aus: Z w ölfter Abschnitt. V o n
den Schulen, von der Universität, von Bibliotheken und andern dahin gehörigen Anstal­
ten, desgleichen von der Gelehrsam keit und Litteratur in W ie n überhaupt,): 923f
A n a lo g z u der falsch en B andan gabe im vorigen E x ze rp t heiß t es im Q u ellen verm erk: V . Bd.
sta tt IV. Bd.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : Innerhalb des m ehrere hundert Seiten um fassenden X II.
A bsch n itts der R eisebeschreibung greift H egel einen T eil des G edankengangs heraus, den der
A u to r gegen einen überzogenen ku lturellen Führungsanspruch der S ta d t W ien vorträgt. E r g ib t
dem A n fa n g ssa tz des E x zerp ts eine allgem einere Form u n d schreibt das W eitere nah ezu w örtlich
ab.
c) D a t i e r u n g : G em ä ß der in T h überlieferten D a tu m sn o tiz ist das E x ze rp t am 23 . A u g u st
1787, also eine W och e nach dem vorigen, entstanden.

Exzerpt 25
P hilosophie. P hilos. G eschichte.
M y t h e n in der P hilosophie und R eligion.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 126f.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Johann August] Eberhard: Verm uthungen über den U rsprung der heuti­
gen M agie. Ein historischer Versuch. A n H errn Bibliothekar Biester. In : Berlinische
Monatsschrift. H rsg, von F. Gedike u n d J. E. Biester. B d 10: Julius bis Decem ber 1787.
B erlin 1787. 6 —3 4 . E xzerp ierte S te lle : 14f.
D e r A u fsa tz, der auch dem E x ze rp t 2 2 zugrundegelegen hat, erschien im J u li-H e ft (d. i.
ED ITO RISCH ER BERICH T 279

Stück 7) des Jahrgangs. Z u dem Z e itp u n k t, da H egel ihn exzerpierte, lag der (durchpaginierte)
H albjahresband noch nicht vollstän dig vor.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D a s E x ze rp t g ib t einen geschlossenen T extabschnitt, der
sich im Z u ge von A usführungen über P laton s M yth en fin d et, vollständig w ieder.
c) D a t i e r u n g : N a ch T h ist dieser A u szu g am 28. Septem ber 178 7 niedergeschrieben. V on
hier aus sin d auch Überlegungen z u r D a tieru n g des E x zerp ts 2 2 , das a u f dem selben A u fsa tz ba­
siert, anzustellen .

Z u r E d itio n
T ro tz der engen sachlichen u n d w oh l auch chronologischen B ezieh u n g zw isch en den E x zerp ­
ten 2 2 und 2 5 belassen w ir diese in der sie trennenden A n ordn u n g, in der sie in T h überliefert
sin d; vgl. das z u Stück 2 2 G esagte.

Exzerpt 26
[O hne Stich w o rt]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G . Thau low : H egel’s Ansichten. T . 3. 127.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R e ze n sio n ;] Berlin: Lesebuch für alle Stände - von J. F. Zöllner. - A ch ­
ter Theil. 1787. In : Allgem eine Literatur-Zeitung vom Jahre 1788. B d 1: Januar, Fe­
bruar, M ärz .J en a [etc.] 1788. 6— 7.
D ie R ezen sio n erschien in N r 1 ( l. J a n u a r 1788). Z u m Z e itp u n k t der A bfassung des E x ­
zerpts lag der V ierteljahresband noch nicht vollständig vor.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ie k u rze A n ze ig e des S am m elbandes g eh t nur a u f
z w e i Beiträge desselben ein. D e r z w e ite w ird m it dem S a tz eingeführt: D er Aufsatz über die
A u f k l ä r u n g köm m t gerade zu rechter Zeit. D a n n fo lg t sta tt eines w eiteren B erichts nur
noch ein längeres Z ita t, das H egel vollstän dig abschreibt.
c) D a t i e r u n g : N a ch dem in T h überlieferten D a tu m entstand das E x ze rp t am 1. Februar
1788.
280 ANHANG

Exzerpt 27
[O hne Stic h w o r t]

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T h au low : H egel’s Ansichten. T . 3. 127—129.
E in e inhaltliche Überschrift fe h lt. D a s E x ze rp t beginnt m it der Q u ellen n o tiz. — D ie latein i­
schen W örter im T ex t sow ie A u to r u n d B u ch titel innerhalb des Q u ellen h in w eises sin d in T h
kursiv gedruckt.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [Z u sam m engefaßte R ezen sio n zw e ie r B ücher unter der R u b rik Philologie:]
Frankfurt und Leipzig, bey Perrenon: Lateinische Sprachlehre zum allgemeinen G e­
brauch für Gym nasien und Schulen herausgegeben von J. H . K istem aker, Professor der
Philologie (zu Münster). 1787 und M ünster, bey Perrenon: D e origine ac vi verborum ,
ut vocant, D eponentium et M ediorum Graecae linguae, praesertim Latinae. 1787. In :
Allgem eine Literatur-Zeitung vom Jahre 1788. B d 1: Januar, Februar, M ärz. Jen a [etc.]
1788. 4 4 4 - 4 4 8 .
D ie R ezen sio n erschien in N r 41 b (16. F ebruar 1788). D ie D ru ckspalten sin d pro V iertel­
jah resban d durchgezählt. Z u m Z e itp u n k t der A bfassu n g des E x zerp ts lag der erste V ierteljahres­
band noch nicht vollständig vor.
M a n beachte in der Q u ellen n o tiz, die T h überliefert, die falsch e Z eitu n g sn u m m er und den
feh lerh aft geschriebenen N a m en des besprochenen A u tors. H eg eb A n g a b e S. 446 bezeichnet die
Z a h l der rechten S palte a u f der S eite, w o sein E x ze rp t beginnt; der B eginn f ä llt in die (lin ke)
S palte 445 .
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel hat nur den zw e ite n T eil der R ezen sio n ex zer­
piert, der das z u le tz t gen an n te B uch betrifft. D e r T ex t der V orlage ist vo lb tä n d ig berücksichtigt,
aber m it einer R e ih e von kleineren A uslassungen, vereinfachenden Z usam m enfassungen u n d ver­
änderten E in zelw ö rtern w iedergegeben.
c) D a t i e r u n g : N a ch der D a tu m sn o tiz in T h w u rde das E x zerp t am 18. M ä r z 1788 aufge-
schrieben.

Exzerpt 28
P hilosophie. U eber Freiheit.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. T hau low : H egel’s Ansichten. T . 3 . 129—135.
ED ITO RISCH ER BERICH T 281

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sio n unter der R u b rik Philosophie:] Jena, in der Crökerschen Buchh.:
Eleutheriologie oder über Freyheit und Nothwendigkeit, von Johann August Heinrich
Ulrich. Zum Gebrauch der Vorlesungen in den Michaelsferien. 1788. In : Allgemeine Li­
teratur-Zeitung vom Jahre 1788. B d 2 : April, May, Junius. Jen a [etc.\ 1788. 177—184.
D ie R ezen sio n erschien in N r 100 (2 5 . A p r il 1788). D e r V ierteljahresband ist, neu m it 1
beginnend, nach Spalten durchgezählt, w äh ren d die N u m erieru n g der Z eitungsausgaben über das
V ierteljahr hinaus w eiterläuft.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel hat die g a n ze R ezen sio n abgeschrieben, dabei eine
A n z a h l größerer u n d kleinerer A uslassungen vorgenom m en, den W o rtla u t im ein zeln en aber nur
w en ig verändert.
c) D a t i e r u n g : T h überliefert als D a tu m f ü r die A bfassung des E x zerp ts den 31. J u li 1788.

Exzerpt 29
Philosophie. V e r h ä l t n i s der M etaphysik

zur R eligion.

Ü b e r lie f e r u n g
Th: G. Thaulow: Hegel’s Ansichten. T . 3. 135—146.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [.R ezen sion unter der R u b rik Philosophie:] Berlin, bey August Mylius:
Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion, von August W ilhelm Rehberg
. . . 1787. In : Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1788. B d 2 : April, May, Junius.
Jen a [etc.] 1788. 6 8 9 - 6 9 6 .
D ie R ezen sio n erschien in N r 153 b (2 6 . J u n i 1788). D ie A n g a b e S. 690fF. in H egels
vorangestellter Q u ellen n o tiz bezeichnet der Z a h l nach die rechte S pa lte a u f der Seite, w o die
R ezen sio n beginnt (d. i. a u f der ersten S eite der angeführten N u m m er, jed och in der linken
S palte 689 ).
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ie R ezen sio n ist g a n z abgeschrieben. D e r erste u n d der
letzte A b s a tz sin d je w e ils durch eine größere A uslassung g ek ü rzt. D ie Veränderungen im W ort­
lau t sin d geringfügig. Im O rigin a l sin d über 5 0 E in zelw o rte oder W en du n gen durch K u rsivdruck
betont; dies ist im E x zerp t, das keinerlei H ervorhebungen aufw eist, unberücksichtigt gelassen.
c) D a t i e r u n g : N a ch dem in T h überlieferten T agesdatum ist das E x ze rp t am 29. Septem ber
1788 entstanden. A ngesichts des großen U m fangs m u ß jed och die M öglich keit in B etracht g e zo ­
gen w erden, daß die N iederschrift nicht an einem ein zigen T ag begonnen u n d abgeschlossen
w urde. — E rw ä h n t sei, daß dieses letzte der von T h a u lo w m itgeteilten E x zerp te in der W oche
nach der offiziellen B eendigung von H egels S ch u lzeit aufgeschrieben w orden ist. A m 25. S ep tem -
282 ANHANG

her fa n d im G ym n asiu m z u Stu ttgart die A bgangsfeier statt, in der H egel die A bsch ieds- und
D a n kesw orte der entlassenen Schüler vortrug.20

D E F IN IT IO N E N
V O N ALLERH AN D GEGEN STÄN D EN
Ab 1 0 . Juni 1785

A m Schluß des B erichts über die E x zerp te, in denen H egels L ektü re w äh ren d seiner G y m n a ­
sia lzeit sich niederschlug, erw äh n t K a rl R o sen k ra n z ein ihm vorliegendes, heute nicht m ehr er­
haltenes H eft, in das H egel verschiedenartige, beim L esen aufgefundene Definitionen eintrug.
R o sen k ra n z schreibt: Die erste Spur einer ausdrücklicheren Richtung auf Philosophie
findet sich in einem kleinen am 1 0 . Juni 1785 angelegten Hefte mit dem Titel: D e f i n i ­
tio n e n von allerhand Gegenständen .21
D a s hier gen an n te A n fan gsdatu m , das sicherlich authentisch ist, liegt nahe bei der A bfassung
der ersten von T h a u lo w m itgeteilten E x zerp te22 u n d k u rz vor dem B eginn von H egels T age­
buch23. R o sen k ra n z beschreibt das H eft nicht näher. So ist auch nicht z u erkennen, ob H egel es
bei dem E röffnungsdatum belassen hat oder ob im V erla u f des H eftes noch w eitere D a ten
folg ten . E in e genauere V orstellung vom G esam tu m fan g g ew in n en w ir nicht. R o sen k ra n z w eist
a u f einige D efin ition en hin, die er nicht w örtlich m itteilt, fü h r t aber auch m ehrere durch Z ita te
belegte B eispiele f ü r solche B egriffsbestim m ungen an, die ihm unter dem A sp e k t einer ausdrück­
licheren Richtung auf Philosophie belangvoll erscheinen. D ie s verleiht seinem B ericht direkten
Q u ellen w ert.

Z u r E d itio n d er m itg e te ilte n D e fin itio n e n


E s kön nte ausreichend scheinen, den erzählenden B ericht von R o sen k ra n z, der 17 Z eilen u m ­
fa ß t, im T ex tteil unseres B andes zu sam m en h än gen d w iederzu geben . D ie s w ü rde jedoch die E i­
gen stän digkeit der E in zelein tragu n gen g a n z in den H in tergru n d treten lassen. D em gegenüber ist
es die A b sich t unserer E ditio n , die B eispiele der von H egel aufgeschriebenen D efin ition en g leich -
rangig neben die überlieferten B eispiele seiner sonstigen E x zerp te z u stellen. A u s diesem G ru n de
verselbständigen w ir die ein zeln en D efin ition en u n d geben ihnen zu gleich eine einheitliche äu ­
ß e re Form . E in e solche Form ist z w a r hypothetisch, doch lassen sich ihre E lem en te aus dem R o -
senkranzschen B ericht erheben: l) der z u definierende Begriff, 2 ) der T ex t der D efin ition u n d 3 )
der A u to r b zw . Fundort.

20 Sieh e d a zu in B an d 1 dieser A u sgabe T ex t 6 u n d den zugehörigen editorischen Bericht.


21 Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14f.
22 S ie stam m en aus den M on aten A p r il u n d M a i 1 78 5; siehe oben die E x zerp te 1 u n d 2.
23 E rster E in trag vom 2 6 . J u n i 1 7 8 5 ; vgl. B an d 1. 3.
ED ITO RISCH ER BER ICH T 283

D ie A n fü h ru n gszeich en , durch die R o sen k ra n z innerhalb seiner D arstellu n g den D efin ition s­
text je w e ils genau abgren zt, entfallen bei unserer W iedergabe. S o w eit erm ittelt, konfrontieren w ir
dem von H egel aufgeschriebenen T ex t w ie bei den E x zerp ten je w e ils den W ortlau t der zu g ru n ­
deliegenden Q u elle.
Jed e D efin ition w ird m it einer eigenen E x zerp tn u m m er bezeichnet. A u f diese N u m m ern be­
zie h t sich im folgen den auch der editorische B ericht. Z u v o r ist hier jedoch einzugehen a u f die
H in w eise von R o sen k ra n z, denen keine w örtlichen B elege beigegeben sind.

Ohne Nr
[Hinweise auf n i c h t m i t g e t e i l t e D efinitionen]

Z u 2 0 3 ,3 —4 • dm A n sch lu ß an den T itel des H eftes, den er anführt, sagt R o sen k ra n z: Die
beiden ersten Definitionen betreffen den A b e r g la u b e n und die S c h ö n h e it ... Inhaltlich
konkretisiert w ird dies nicht. D ie hier sichtbar w erdende R eihen folge der Begriffe, die sich m it
der von uns als E x ze rp t 3 0 wiedergegebenen D efin ition un m ittelbar fo rtse tzt, zeig t, daß H egel in
diesem H eft keine system atische A b sich t v e fo lg t h at; wahrscheinlich h at er Lesefrüchte aufge­
schrieben, w ie sie ihm begegneten.

Z u 206 ,1—2: N a ch dem letzten m itgeteilten B eispiel, dem Cicero - Z ita t (E x ze rp t 3 3 ), schreibt
R o sen k ra n z noch: Ein großer Theil der Definitionen ist aus einem nun ganz obscuren
Schriftsteller R o c h a u genommen.
D ie s ist zu n äch st ein indirekter H in w eis d a ra u f daß die Z a h l der in H egels H eft zu sa m ­
m engestellten D efin ition en nicht unbeträchtlich w ar. Innerhalb des G a n ze n fie l aber eine gew isse
B evorzugung e in e s A u to rs auf. B ei diesem A u to r, der R o sen k ra n z nach 1840 kaum noch be­
kan n t gew esen z u sein scheint, h andelt es sich vielleicht um den P hilanthropen Friedrich E ber­
hard von R o ch o w (1 7 3 4 —1805). A u s seinem belehrend-aufklären den Schrifttum käm e z . B . hier
als Q u elle in Frage: Katechismus der gesunden Vernunft oder Versuch, in faßlichen Er­
klärungen wichtiger W örter, nach ihren gemeinnützigsten Bedeutungen und mit einigen
Beispielen begleitet zur Beförderung richtiger und bessernder Erkenntnis. B erlin und S tet­
tin 1 7 8 6 .24 O h n e die B en u tzu n g dieses oder eines bestim m ten anderen R ochow schen B uches fe s t
behaupten z u können, m uß m an doch eine ähnliche Vorlage H egels annehm en, w eil nur so bei
den notierten D efin ition en das häufige V orkom m en eines A u tors erklärlich scheint, der sonst in
H egels L ektü re, sow eit w ir wissen, keine R o lle gespielt hat.

24 Z itie rt nach F. E. von Rochow: Sämtliche pädagogische Schriften. H rsg, von F. Jon as
und F. W ienecke. B d 2. B erlin 1908. 3 7 —97. D a s B üchlein besteht aus einer A bfolge von
D efin itionen, dargeboten in der Form von Frage u nd A n tw o rt. — U nsere V erm utung se tzt fr e i­
lich voraus, daß H egel das am 10. J u n i 1785 begonnene Sam m eln von Definitionen über län­
gere Z e it fortgefü h rt hat.
284 ANHANG

Exzerpt 30
P hilosophiren

Ü b e r lie f e r u n g
Rosenkranz: Hegel’s Leben. 14: Die beiden ersten Definitionen betreffen den A b e r ­
g la u b e n und die S c h ö n h e it, die dritte das P h ilo s o p h ir e n , d. h. »bis auf den Grund
und die innere Beschaffenheit menschlicher Begriffe und Kenntnisse von den wichtigsten
Wahrheiten dringen.« - D ie Stellu n g der A nfü h ru n gszeich en läßt die A n n a h m e z u , daß das
S tich w ort Philosophiren im M s nicht einfach in einen fortlau fen den S a tz einbezogen, sondern
a u f irgendeine W eise abgehoben w a r. E in e solche Z ä su r w ird auch in den drei übrigen B eispie­
len sichtbar.

Q u e lle
R o sen k ra n z fä h r t in seinemB ericht fo r t (l4 f): Diese Definition ist aus einem
S c h r ö k ’schen Buche entlehnt! D a ß er den T itel des Buches nicht nennt, besagt nicht, daß
dieser auch in H egels M s feh lte . — D ie Vorlage f ü r die von H egel notierte D efin ition kon nte
bisher nicht aufgefunden w erden.

Exzerpt 31
V eränderung

Ü b e r lie f e r u n g
Rosenkranz: Hegel’s Leben. 15: Die folgende [Definition], aus dem M e n d e ls -
s o h n ’ sch en P h ä d o n , beschreibt den Begriff der Veränderung: »ein Ding heißt v e r ä n ­
d e rt, wenn unter zweien entgegengesetzten Bestimmungen, die ihm zukommen kön­
nen, die eine aufhört und die andere anfängt, wirklich zu sein.« - D ie Sperrung des W o r­
tes verändert kann a u f R o sen k ra n z zurü ckgehen, der in diesem F alle das vorangestellte
D efin ien du m (Veränderung^ nicht hervorgehoben h at; sie kan n aber auch W iedergabe einer
Unterstreichung in H egels M s sein. Ü ber die Stellu n g der A n fü h ru n gszeich en vgl. das zu m vori­
gen E x zerp t G esagte.
D e r A n fa n g des berichtenden S a tzes ist w oh l zu rü ckbezog en a u f die vorhergehende, d. i. die
dritte D efin itio n ; dem nach w äre die D efin ition der Veränderung in H egels H e ft die vierte gew esen .

Q u e lle
Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprä­
chen. 3. verm . u. verb. A u fl. B erlin u n d S tettin 1769. 51. — D ie vorstehende A u fla g e des B u -
ED ITO RISCH ER BERICH T 285

ches befand sich bei H egels T od, nach A u sw eis des Versteigerungskatalogs (vgl. dort N r 165), in
seiner B ibliothek.

Z u r D a tie r u n g
D ie L ektü re von M endelssohns Phädon erw äh n t H egel in seinem Tagebuch am 15. J u li
1785 (vgl. B a n d 1. 10, ll). D ie s kön nte einen H in w eis a u f A n la ß u nd Z e it der N iederschrift der
vorliegenden D efin ition ergeben.

Exzerpt 32
L ogik

Ü b e r lie f e r u n g
Rosenkranz: Hegel’s Leben. 15: L o g ik ist definirt als: »ein Inbegriff der Regeln des
Denkens, abstrahirt aus der Geschichte der Menschheit.« - D e r S a tz ist ohne B ezu g zu m
vorhergehenden; es bleibt daher offen, ob sich diese D efin ition im M s unm ittelbar an die vorige
anschloß oder ob R o sen k ra n z sie aus den w eiteren N o tize n herausgegriffen hat. H insichtlich der
A n führu ngszeichen g ilt das z u E x ze rp t 3 0 G esagte.

Q u e lle
R o sen k ra n z} M itteilu n g en th ält keinerlei A n h a ltsp u n k t über die Q u elle des von H egel aufge­
schriebenen Z ita ts. O b in diesem F alle ein Q u ellen h in w eis im M s fe h lte oder ob R o sen k ra n z sie
von sich aus weggelassen hat, ist nicht erkennbar. D ie H erku n ft dieser D efin ition kon nte bisher
nicht aufgeklärt w erden.

Exzerpt 33
Staaten

Ü b e r lie f e r u n g
Rosenkranz: Hegel’s Leben. 15: Der Begriff der Staaten ist aus C ic e r o ’ s Somnium
Scipionis Cap. III als: »concilia coetusque hominum, jure sociati.« u. s. f. - D ie latein i­
schen W örter sin d durch A n tiq u a -S ch rift von dem übrigen abgehoben. D e r S a tz ist nicht a u f die
vorhergehenden rückbezogen; er g ib t daher keine A u sk u n ft über die Stelle, die diese D efin ition
im H e ft innehatte. Ü ber die von R o sen k ra n z g esetzten A nfü h ru n gszeich en vgl. das z u E x zerp t
3 0 G esagte. Z u beachten ist, daß erst n a c h dem das E n de des Z ita ts anzeigen den S ch lu ß zei-
286 ANHANG

chen der abgekürzte A u sd ru ck fo lg t: und so fort. D ieser bezieh t sich also nicht a u f den w eite­
ren W ortlau t der zitierten C ic e r o -S te lle , sondern a u f die sich fo rtsetzen d e R eih e der D efin ition en .

Q u e lle
D e r literarische F undort ist gen au bezeichnet: Cicero’s Somnium Scipionis Cap. III. V on
dem ku rzen T extfragm ent her ist es nicht m öglich, durch Vergleich des W ortlau ts die b en u tzte
A usgabe z u bestim m en. In Frage kom m t aber auch hier in erster L in ie die alte A u sgabe, die
H egel schon im J u li 1785 persönlich besaß u n d die m it großer W ahrscheinlichkeit auch dem E x ­
ze rp t 5 zu gru n delag (vgl. oben 2 6 2 ): M. T . Ciceronis de officiis lib. III. Cato maior, sive
de senectute. Laelius, sive de amicitia. Somnium Scipionis. . .. (Argentorati) 1582. Z ita t:
127 verso.

EXZERPTE.
A U S D E R B E R N E R Z E IT
1794_1796

D ie folgen den sechs E x zerp te sin d nicht, w ie die beiden vorhergehenden G ru pp en , geschlossen
überliefert, sondern w erden hier editorisch zusam m en gefaßt. E s h an delt sich um handschriftlich
erhaltene Stücke. S ie sin d nich t datiert, u n d es fin d en sich an ihrem K o p f auch nicht die them a­
tischen Leitbegriffe, w ie H eg el sie als G ym n asiast z u verw enden pflegte, um m it ihrer H ilfe die
einzeln en E x zerp te adä qu at in seine M aterialsam m lu n g einordnen z u können. S ein e dam alige
A rbeitsw eise scheint H egel schon w äh ren d seines S tu diu m s in T übingen aufgegeben z u haben.
D ie sechs E x zerp te liegen im H eg el-N a ch la ß verstreut zw isch en den M an u skripten , die in
B an d 1 dieser A u sgabe ediert w orden sind. M a n m uß davon ausgehen, daß dies von A n fa n g an
der F all w ar, w enn auch die gen au en Stellen, w o die ein zeln en B lätter heute ihren P la tz ha­
ben, erst a u f die von H . N o h l um 1906 durchgeführte O rdn u n g der N a ch laß -P apiere aus H e ­
gels J u g en d zeit zurü ckgehen. F ür das k u rze E x ze rp t 3 5 h at H egel die freigeblieben e S eite eines
anderen M an u skripts (d. i. T e x t 17 in B a n d l) ben u tzt. D ie A u szü g e 3 7 —3 9 stehen u n m ittelbar
nacheinander a u f ein u n d dem selben D o pp elb la tt.
D ie D a tieru n g der vorliegenden E x zerp te kan n nach der in B a n d 1 erprobten M eth ode m it
H ilfe der E n tw icklu n gen in H egels H an dschrift vorgenom m en w erden .25 D ie T exte des ersten
B andes bilden zu gleich das chronologische G erüst, in das die E x zerp te eingefügt w erden können.
D iese sin d alle in der Z e it von H erbst 1794 oder W in ter 1 7 9 4 /9 5 bis Som m er 1796 entstanden
und lassen sich dem gem äß z u einer G ru p p e zusam m enfassen.

25 D a s Verfahren w ird in B a n d 1 am A n fa n g des editorischen B erichts im ein zeln en erläu­


tert; vgl. dort 4 4 4 —450.
ED ITO RISCH ER BERICH T 287

D ie Ü b e r s c h r if te n stam m en nicht, w ie in der ersten G ru p p e dieses B andes, von H egel,


sondern sin d Z u ta t der E d itio n ; sie zeigen je w e ils g a n z fo rm ell die H erk u n ft des exzerpierten
Textes an.
B ei der T extherstellung w u rde verglichen:
D okum ente zu Hegels Entw icklung. H rsg, von fo h a n n es H offm eister. S tu ttgart 1936.
1 7 2 -1 7 5 u n d 2 1 7 -2 1 9 .™

E xzerp t 34
A us: A llgem ein e L it e r a t u r - Z eitung 1 7 9 2

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: S taatsbibliothek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H egel-N a ch la ß , B an d 7,
B la tt 101.
E in B la tt, F orm at ca. 18 x 11, w oh l durch H albieru n g eines Q u artblattes entstanden. P apier­
fa rb e: cham ois. A n derth alb Seiten sin d ohne R a n d beschrieben; die untere H ä lfte der zw e iten
Seite ist fre i.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sion :] Jena, in der Crökerschen Buchhandl.: Em pirische Psychologie
von M . Carl Christian Erhard S c h m id .. . 1791. . . . (Erster Band, w elches auf dem Titel
nicht bem erkt ist.) In : Allgem eine Literatur-Zeitung vom Jahre 1792. B d 2 : A pril, M ay,
Junius .J en a u nd L e ip zig 1792. 1—8; 9—14.
D ie R ezen sio n erschien in z w e i T eilen in N r 86 (2. A p r il 179 2) u n d N r 8 7 (3 . A p r il
1792). H egel h at — w ie auch seine vorangestellte Q u ellen n o tiz fe sth ä lt — nur aus N r 8 7 ex zer­
piert, u nd z w a r aus S palte 11—12.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D ie R ezen sio n ist gegliedert nach den T eilen des bespro­
chenen Buches. A u s dem A bsch n itt Vierter T eil. U eber das V erm ögen und die K raft zu
begehren überhaupt (Sp. löff) hat H egel einen zusam m en hängenden Passus abgeschrieben. D e r
W o rtlau t des O rigin als ist im E x ze rp t an w enigen Stellen geringfügig verändert, die öfteren H er­
vorhebungen von E in zelw ö rtern durch K ursivschrift sin d nicht berücksichtigt.
c) D a t i e r u n g : D a s M s w eist folgen de f ü r die chronologische B estim m u n g relevanten B uch­
stabenform en au f: A 2, B 2, k 2, T 2, w 2, W 3, dagegen noch Sj. A bgesehen von dem letzteren, ha­
ben sich also die f ü r die B erner Jah re charakteristischen Form en durchgesetzt. R e in pro zen tu a l
betrachtet, m uß bei diesem Schriftbefund das E x zerp t später an gesetzt w erden als der in B a n d 1

26 V on den sechs E xzerp ten dieser G ru pp e sin d bei H offm eister vier abgedruckt, und z w a r
die Stücke 3 4 u n d 3 5 , die unzutreffenderw eise in die T übinger Z e it verlegt w erden, sow ie 3 8
u nd 3 9 .
288 ANHANG

dieser A u sgabe abgedruckte T ex t 2 4 (siehe d a zu den editorischen B ericht: B a n d 1. 4 8 0 ß . B e­


rücksichtigt m an zu sä tzlic h , daß infolge der langsam en S on deren tw icklu n g des B uchstabens s das
V orkom m en von s2 erst bei einem relativ fortgeschrittenen B efu n d w irklichen A u ssagew ert g e ­
w in n t27} so ergibt sich buchstabenstatistisch sogar eine klare zeitlich e E in ordn u n g des E xzerp ts
n a c h den T exten 2 5 —2 8 (vgl. den editorischen B ericht: B a n d 1. 481—489 ). D ie geringe T ex t­
m enge unseres Stücks bietet jed o ch f ü r eine so strikte rechnerische A u slegu n g der aufgewiesenen
Buchstabenform en kein e hinreichend sichere G rundlage. M a n m u ß dem nach festh a lten : E x zerp t
3 4 ist seiner E ntstehung nach den in B an d 1 edierten T exten 2 4 —2 8 ben a ch b a rt/ doch läßt sich
eine R eihen folge nicht sicher bestim m en. A ls Z eitrau m ist z u benennen das fortgeschrittene J a h r
1794 b zw . der W in ter 1 7 9 4 /9 5 . Sachlich bedeutsam ist, daß m an a u f je d e n F all von einer z e it­
lichen N ä h e zw isch en E x ze rp t 3 4 u n d T ex t 27, dem Manuskript zur Psychologie und
Transzendentalphilosophie, ausgehen kann.

Exzerpt 35
Aus: A l l g e m e i n e L iteratur- Z eitung 1792

Ü b e r lie f e r u n g
Manuskript: S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B an d 7,
B la tt 48v.
Z u r genaueren B eschreibung ist z u vergleichen, w as in B a n d 1 über T ex t 17 (Ausser dem
mündlichen Unterricht...,) gesagt ist (siehe dort 475 ). D a n ach besteht jen es M s aus z w e i
L agen von j e z w e i D o p p elb lä ttern ; P a p iefä rb e : cham ois. D ie linken Seitenhälften der durch ei­
nen L ängsknick in der M itte g eteilten B lätter sin d fo rtla u fen d beschrieben. A u f der fü n ften S eite
der zw e iten L age, d. i. B la tt 48r, bricht der T ex t etw a in der M itte ab. A u f der folgen den
Seite, also 48v, steht vorliegendes E x zerp t. F orm at dieses B lattes: ca. 2 0 ,5 x 16,5. D ie lin ke
S palte ist etw as m ehr als halb beschrieben. D ie beiden folgen den S eiten sin d leer.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Jena, in der akademischen Buchh.: Lehren und Meynungen
Q u e l l e : [R ezen sio n :]
der Sokratiker über Unsterblichkeit, von M. Wilhelm Gottheb Tennemann. 1791. In :
Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1792. B d 2 : April, May, Junius. Jen a u nd L e ip ­
z ig 1792. 2 4 9 - 2 5 4 .
D ie R ezen sio n erschien in N r 117 (8. M a i 1792); vgl. H egels vorangestellte Q u ellen n o tiz.
E xzerp ierte S telle: Sp. 2 5 0 u n d 2 5 2 .

27 V gl. den H in w eis z u dieser B esonderheit der E n tw ick lu n g in B a n d 1. 449.


ED ITO RISCH ER BER IC H T 289

b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : In dem E x ze rp t sin d z w e i kleinere Stellen der Bespre­


chung z u einem G a n ze n zusam m en gefügt: ein Z ita t aus T en n em an n , in das auch noch der an ­
schließende referierende S a tz einbezogen ist, u n d eine spätere k u rze Stellu ngnahm e des R e z e n ­
senten. D ie ein zeln en T eilstücke sin d w örtlich übernom m en.
c) D a t i e r u n g : O b w o h l der U m fan g dieses E x zerp ts nur ein D ritte l des vorigen ausm acht,
läß t sich feststellen , daß der Schriftbefund der gleich e ist. D adu rch verbietet es sich, die N ied er­
schrift des E x zerp ts in a llzu enge V erbindung z u dem a u f der V orderseite des B lattes endenden
T ex t 17 z u rücken: die Buchstabenform en A2, B2, T 2 u n d W 3 kom m en in diesem T ex t noch
nicht vor. D e r A u szu g aus der T erm c m a rm -R e ze n sio n , der sich sachlich z u T ex t 17 in B e zie ­
hung setzen läßt, m uß erst später a u f der freigeblieben en Seite eingetragen w orden sein. W egen
des zah len m äß ig geringfügigen B uchstabenm aterials ist eine genauere chronologische E inordnung
nicht m öglich; vgl. das zu m vorhergehenden E x ze rp t G esagte.

Exzerpt 36
Aus: N e u e s theologisches J ournal

Ü b e r lie f e r u n g
M a n u skript: S taatsbibliothek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B a n d 8,
B la tt 1.
E in B la tt, F orm at ca. 16—16,5 x 10,1. D a s B la tt ist j e t z t durch R estaurierung a u f Q u artfor­
m at vergrößert, doch lassen sich die hier angegebenen ursprünglichen M a ß e noch erkennen. P a ­
pierfarbe: cham ois.
B eide Seiten sin d ohne R a n d beschrieben. A u f je d e r S eite bleibt unten R a u m f ü r einige Z e i­
len fre i. A u f der Vorderseite stehen die ersten drei T eilex zerpte; die N iederschrift a u f der R ü c k ­
seite beginnt m it 213,5 unseres Textes.

A ngaben zu m E x zerp t
D a s G a n ze zerfä llt in sieben kleine T eilex zerpte. D ie drei ersten stam m en aus der gleichen
R ezen sio n ; die folgen den drei sin d gem einsam einem anderen B eitrag, das letzte einer w eiteren
R ezen sio n entnom m en. H egel g ib t keinerlei Q u ellen h in w eis und n im m t auch keine G ruppierung
vor; es kom m t ihm offenbar nur a u f die ein zeln en T extstellen an. W ir geben zu erst z u jed em
T eilex zerpt die gen au e Q u elle u n d eine ku rze C harakteristik. A bsch ließ en d behandeln w ir f ü r
das gesam te B la tt die Datierungsfrage.

[a.] Z u 2 1 2 ,2 -8
Halle bei Gebauer: Joh. Christoph Fried. Schulz, ... Anmer­
Q u e l l e : [R ezen sio n :\
kungen, Erinnerungen und Zweifel über Joh. David Michaelis Anmerkungen für Unge-
290 ANHANG

lehrte zu seiner Uebersetzung des N . T . Fünftes Stück mit fortlaufenden Seitenzahlen


S. 291-366. 1793. In : Neues theologisches Journal. H rsg, von H. C . A. Hänlein u nd C. F.
Ammon. B d 2 . N ü rn berg 1793. 461—469 . E x zerp ierte Stelle: 4 6 3 —465.
C h a r a k t e r i s t i k : D e r R e zen sen t vertritt hinsichtlich der E rläuterung des Johannes-
E vangelium s, im B lick a u f andere an tik e W eltanschauungslehren, eine A uffassung, die er durch
die Erläuterung der sechs ersten Verse des ersten Kapitels Johannis zu rechtfertigen
sucht. A u s diesem zu sam m en h än gen den Passus schreibt H egel nur die — im D ru ck hervorgeho­
bene — Ü bersetzung der sechs Verse heraus. D ie Verse sin d im O rig in a l ein zeln im V erla u f der
A usführungen z itie r t; H egel reiht sie u n m ittelbar aneinander.

[b.] Z u 2 1 2 ,9 -1 0
Q u e lle : die gleiche R ezen sio n , die dem vorigen T eilex zerp t zu grundeliegt. E xzerp ierte S telle:
466.
C h a r a k t e r i s t i k : A u s Vers 14 des ersten jo h a r m e s -K a p ite b kom m en tiert der R ezen sen t z u ­
nächst den S a tz : »die W eißheit wurde Mensch« u nd erörtert dann das richtige V erständnis
des in dem selben Vers vorkom m enden Begriffs So£a. H ierau s notiert H egel die letzte der vorge­
schlagenen B edeutungen, ohne a u f die A ltern a tiven einzugehen.

[c.] Z u 213,1—4
Q u e l l e : die gleiche R ezen sio n , w ie z u den beiden vorigen T eilex zerpten angeführt. E x ze r­
p ierte Stelle: 467f
C h a r a k t e r i s t i k : Im w eiteren V e rla u f se tzt sich der R e ze n se n t m it der D eu tu n g von Vers
19 des zw e iten K a p itels auseinander, die der besprochene A u to r vorgetragen hat. D ie dem gegen­
übergestellte Interpretation des R ezen sen ten schreibt H egel ab, w obei er den K o n tex t u nd die
A nführu ngszeichen w egläßt.

[d.] Z u 2 1 3 ,5 -6
Q u e l l e : Ueber die Aeusserungen Jesu von seiner W iederkunft zum Weltgerichte.
[U n terzeich n et:] A. In : Neues theologisches Journal. H rsg, von H. C. A. Hänlein u n d C .
F. Ammon. B d 3. N ü rn berg 1794. 185—2 0 0 . E x zerp ierte S te lle : 188.
C h a r a k t e r i s t i k : D ie A b h a n d lu n g erw ägt angesichts der L eh re von der sichtbaren W ieder­
ku n ft Jesu die Stellen genauer, in welchen Jesus selbst von seiner Wie4erkunft spricht
(1 8 6 ) . H egel s e tzt ein m it der S telle Matth. 10,23. A u s den daran anknüpfenden Ü berlegungen
(187) , die in den G edan ken vom Sieg des Christenthums über das Judenthum m ünden, z i ­
tiert H egel noch nicht. E rst dem folgen den A bsch n itt, der an M a tth . 16,27ff anschließt, en tn im m t
er einen den B ibeltext erläuternden S a tz. E r überträgt jed och nicht die h ierzu angegebene Stelle
aus dem Matthäus-E va n g eliu m , sondern se tzt stattdessen von sich aus die P arallelstelle Luc.
9,27 ein, die in der A b h a n d lu n g nich t angeführt w ird.
ED ITO RISCH ER BERICH T 291

[e.] Zw 214}l - 3
Q u e l l e : die gleiche A bh an d lu n g, aus der das vorige T eilex zerp t entnom m en ist. E xzerp ierte
S telle: 189.
C h a r a k t e r i s t i k : A u s dem im O rig in a l folgen den A b sch n itt notiert H egel die Stellenangabe
am A n fan g u n d das Interpretationsergebnis, z u dem der G edankengang des Verfassers hinführt.

[f.] Zw 2 1 4 ,4 -7
Q u e l l e : die gleiche A bh an d lu n g, w ie z u den beiden vorigen T eilex zerpten angeführt. E x ze r­
pierte Stelle: 1 9 0 f
C h a r a k t e r i s t i k : D a s kleine E x ze rp t ist genauso aufgebaut w ie das vorige: z u der Schrift­
stelle vom A n fa n g fü g t es die interpretatorische These vom Sch luß des A bsch n itts.

[g.] Zw 2 1 4 ,8 -1 0
Hamburg bei Bobn: Die Versuchung Jesu, ein Empörungsver­
Q u e l l e : [R ezen sion :]
such iüdischer Priester. 1793. In : Neues theologisches Journal. H rsg, von H. C. A. Hän-
lein u n d C. F. Ammon. B d 3. N ü rn berg 1794. 4 4 4 —452 . E xzerp ierte S telle: 4 4 8 f
C h a r a k t e r i s t i k : In dem besprochenen B uch w ird die V ersuchung Jesu als Versuchung
durch einen M enschen dargestellt. D ie R ezen sio n zeich n et den G edankengang nach. A u s dem
A b sch n itt Erster Versuch des iüdischen Priesters schreibt H egel die abschließenden W orte Jesu
auf. D ie dem E x zerp t vorangestellte Schriftstelle hat H egel nicht aus der A b h a n d lu n g entn om ­
m en, sondern von sich aus ein gesetzt; sie bezeichnet aus dem Lukas-E va n g eliu m das K a p itel,
dessen In h alt der B ericht über die Versuchung Jesu ist.

D a tie r u n g
In dem z w e i Seiten um fassenden M s haben sich die f ü r H egels B erner Periode typischen
Buchstabenform en g a n z durchgesetzt: A2, B2, k2, T 2 (bei nur einer A u sn a h m e: T\ in der A b ­
kü rzu n g A. T .) , U2, w2, W 3. D a rü b er hinaus hat der B uchstabe s z u einem D ritte l der vor­
kom m enden F älle die Form s2, u n d z w a r im m er am W ortanfang, w o sich s2 zu erst ausprägt.
M it diesem Schriftbefund m u ß die E n tstehung des E x zerp ts k u rz vor dem sog. Leben Jesu,
d. i. T ex t 31 in B a n d 1 unserer A usgabe, an gesetzt w erden. D essen N iederschrift h at H egel am
9. M a i 1795 begonnen. Z ugleich stim m t das S ch riftbild des vorliegenden E x zerp ts n ah ezu über­
ein m it dem von T ex t 2 9 , d. h. je n e n N o tizen b lä ttern , die nach H egels eigenem B eku n den (vgl.
B an d 1. 197 M arg.) bei der L ektü re der Z eitsch rift Neues theologisches Journal angelegt w u r­
den. In ihnen beträgt der A n te il von s2 etw as m ehr als 40% (vgl. den editorischen B ericht: B an d
1. 489 ), im Leben Jesu steigt er a u f über 50% , in den Schlußpartien a u f über 60% (vgl. ebd.
496).
292 ANHANG

Z u r E d itio n
D ie Z w isch en räu m e, durch die in unserer W iedergabe die ein zeln en T eilex zerpte voneinander
abgehoben sin d, fin d en sich im M s nicht. H egel beginnt nur je w e ils in einer neuen Z eile. D ie
eingelegten A b stä n d e dienen der Ü bersichtlichkeit u nd der leichteren Z u ordn u n g z u den abge­
druckten Q u ellen texten ; sie unterstreichen außerdem die S elbstän digkeit der aus dem K o n tex t des
jew eilig en O riginals g a n z herausgelösten E in ze ln o tizen .
U m den gedanklichen Z u sam m en h an g w ieder sichtbar z u m achen, sin d die entsprechenden
P artien aus den Q u ellen texten relativ ausführlich wiedergegeben.

Exzerpt 37
Aus: M osheim, K irchengeschichte

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B an d 8,
B la tt 19 8r.
Erste Seite eines — j e t z t nicht m ehr zu sam m en hängenden — D oppelblattes. S eitenform at: ca.
2 0 ,8 x 16,8. P apieifarbe: blaugrau.
D ie S eite ist breitzeilig ohne R a n d beschrieben. U n ten ist ein P la tz von etw a 5 cm H öh e
fre i. A u f den beiden folgen den S eiten stehen die E x zerp te 3 8 u n d 3 9 .

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Io. Laur. Moshemii Institutionum historiae ecclesiasdcae antiquae et re-
centioris libri quatuor ex ipsis fontibus insigniter emendati, plurimis accessionibus locu-
pletati, variis observadonibus illustrati. Helmstadii M D C C L V . E x zerp ierte S telle: 5 5 2
(Fußnote).
V orstehende A u sgabe des W erkes befand sich in der Steigerschen B iblioth ek in Tschugg, w o
H egel als H ofm eister in den fa h re n 1794—1796 m it der F am ilie seines Brotherrn die S om m er­
m onate verbrachte; vgl. den B eleg in dem V erzeichnis, das f ü r d ie Versteigerung der B iblioth ek
im A p ril 1880 aufgestellt w urde, aber die z u H egels Z e it vorhandenen B ücher um faßt: Catalo-
gue de la precieuse bibliotheque de feil M. l’Avoyer Christophe de Steiger de Tschugg
(N r 869 ).
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D a s E x ze rp t ist entn om m en aus: Saec. XIII. Pars II.
Cap. V. Historia sectarum et haeresium. Innerhalb dieses K a p itels handelt § I X über Fratres
et sorores Liberi Spiritus u n d daran anschließend § X über Mystica eorum theologia. A m
E n de von § X fin d e t sich die exzerpierte F ußnote. A u s dem K o n tex t der beiden Paragraphen
u nd dem ersten S a tz der F ußnote h at H egel eine Ü berschrift geform t. D a n n ist zu n äch st die
deutsche Version der aus den Schriften je n e r M ystik er m itgeteilten S ä tze abgeschrieben, die im
O rigin a l m it dem lateinischen T e x t abw echselt. D a s E x ze rp t h ält sich durchw eg an den alten
ED ITO RISCH ER BERICH T 293

W ortlau t, doch sin d ein zeln e W örter ins N euhochdeutsche übertragen. D a n n fo lg t ein nur latei­
nisch wiedergegebener Passus aus einer bischöflichen G egenschrift.27*
c) D a t i e r u n g : A u ch hier ist die B asis f ü r eine schriftstatistische B estim m u n g recht schm al.
Ist der U m fang des E x zerp ts schon an sich gering, so w ird das verw ertbare B uchstabenm aterial
nochm als reduziert, w eil ein T eil lateinisch geschrieben ist. T ro tzdem ergibt sich ein klares B ild :
E s fin d en sich nur die Form en k 2, w 2, W 3, U 2 (die B uchstaben A und B feh len im T ext).
D e r A n te il von s2 (am W ortan fan g , ein m al auch schon im Inneren des W ortes vorkom m end) er­
reicht 47%. D a s E x zerp t ist w o h l nicht vor den N o tize n z u einigen B ibelstellen ( = E x zerp t 3 6 )
entstanden, eher etw as später. E s kan n k u rz vor oder w ährend der A rb e it am Leben Jesu
(M a i—J u li 1795) geschrieben w orden sein.
E rw ä h n t sei, daß H egel in T ex t 3 2 , den er im A n sch lu ß an das Leben Jesu im Som m er
1795 u nd W in ter 1 7 9 5 /9 6 niedergeschrieben hat, Mosheim ausdrücklich zitie rt (vgl. B an d 1.
329 ,17—20 und 3 4 9 ,2 9 m it A n m .).

Exzerpt 38
Aus: Förster, A n sic h t e n vom N iederrhein

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H egel-N ach laß , B an d 8,
B la tt 198v u n d 199r.
E s handelt sich um die z w e ite u nd dritte S eite des heute nicht m ehr zusam m en hängenden
D oppelblattes, a u f dessen erster S eite E x ze rp t 3 7 steht. Seitenform at u n d P a p iefä rb e, w ie dort
angegeben. D a s vorliegende E x ze rp t ist breitzeilig ohne R a n d geschrieben u n d f ü llt etw a andert­
halb Seiten. D ire k t anschließend fo lg t E x zerp t 3 9 .

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : George Förster: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Hol­
land, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. T . 1. B erlin 1791. — E x - '
zerpierte S tellen : 2 4 —2 6 , 139, 2 0 8 —210.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel notiert, offenbar im Z u g e fortschreitender L ektüre,
drei voneinander unabhängige P a rtien ; f ü r die zw e ite u n d dritte g ib t er selbst die S eiten zah l
an.
D ie e r s te S telle stam m t aus B rie f II (geschrieben in A ndern ach ). Förster berichtet von einem
Besuch der Festung E hrenbreitstein u n d von dem abscheulichen Eindruck, den die G efangenen

27a M öglicherw eise m u ß dieses E x zerp t a b identisch gelten m it den Stellen aus Meister
E c k a r t und T a u le r , von denen R o sen k ra n z berichtet: vgl. in diesem B a n d 245,12—14 und
d a zu den editorischen B ericht unten 312.
294 ANHANG

dort a u f ihn m achten; er reflektiert darüber, daß das L eben nicht das einzige der unantastbaren
G ü ter ist, und betont: Die Freiheit der Person isj: unstreitig ein solches, von der Bestim­
mung des Menschen unzertrennliches und folglich u n v e r ä u ß e r lic h e s Gut. (2 3 ) A u s
den anschließenden G edan ken ist das E x zerp t.
D a s k u rze m i t t l e r e S tü ck ist entn om m en aus dem in D ü sseld o rf geschriebenen B rie f VI. E r
schildert einen ersten Besuch in der hiesigen vortrefliehen Galerie. D e r von H egel zitierte S a tz
steht innerhalb der ausführlichen Beschreibung des G em äldes Das jüngste Gericht von R u ben s.
D e r um fangreichere l e t z t e Passus ist exzerpiert aus B r ie f VIII, der ebenfalls noch in D ü ssel-
d o rf geschrieben ist u n d w eitere E in drü cke a u s■ der dortigen G a lerie verarbeitet. D e r A u szu g
stam m t aus der ersten H ä lfte des Briefes, der längere E rörterungen über den B egriff des Ideals
und über Fragen der B ildu n g des G eschm acks enthält.
A lle drei Stücke des E x zerp ts lassen den K o n tex t, aus dem sie entn om m en sind, unberück­
sichtigt und übernehm en den T ex t des O rigin als fa s t w örtlich.
c) D a t i e r u n g : Z eig t schon die äußere A n ordn u n g des M s, daß dieses E x ze rp t erst nach N r
3 7 z u P apier gebracht w orden ist, so belegen die S ch riftin dizien , daß es etw as später entstand.
D e r A n te il von s2 liegt bei 70%, u n d diese Buchstabenform ko m m t j e t z t schon m ehrm als im
W ortinneren vor. D ie s ergibt eine P a rallelität z u T ex t 3 2 der Frühen Schriften, dessen u m ­
fangreicher H a u p tteil nach dem 2 4 . J u li 1795 (A bsch lu ß des Leben Jesu,), aber noch im S o m -
m er/H erbst desgleich en Jah res verfaßt w urde (vgl. den editorischen B ericht: B a n d 1. 496 ).

Exzerpt 39
A u s: A ll g e m e in e L it e r a t u r - Z eitung 17 9 6

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: Staatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B an d 8,
B la tt 199r (untere H älfte).
D e r nur eine halbe S eite um fassende T ex t fo lg t im M s u n m ittelbar a u f E x ze rp t 3 8 (vgl. das
dort z u r Ü berlieferung G esagte) u n d ist w ie dieses b reitzeilig ohne R a n d geschrieben. D ie R ü c k ­
seite des B lattes ist fre i.

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : [R ezen sio n unter der R u b rik Kleine Schriften:] Philosophie. Bremen, b.
Wilmans: Die neusten Streitpunkte über den letzten Grund der Moralität und Sitten­
lehre, zu bequemer Uebersicht aus einander gesetzet und beurtheilet von Carl Gottfried
Fürstenau, Prof, der Phil, in Rinteln. 1795. In : Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre
1796. B d LJanuar, Februar, März. Jen a u nd L e ip zig 1796. 4 7 lf.
D ie k u rze R ezen sio n erschien in N r 5 9 (2 0 . Februar 179 6); sie steh t am Sch luß dieser
N u m m er und ist in kleinerem Schrifigrad gesetzt.
ED ITO RISCH ER BERICH T 295

b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel hat einen Passus aus dem G edankengang der R e ­


zen sion herausgegriffen u nd dabei den E in gan gssatz seines E x zerp ts fre ier form u liert, das übrige
fa s t w örtlich abgeschrieben.
c) D a t i e r u n g : B ei den B uchstabenform en h at sich s2 durchgesetzt, sx kom m t nur noch ein­
m al vor (im D o p p el-s). D a m it ist die S ch riftentw icklung gegenüber E x ze rp t 3 8 noch deutlich
fortgeschritten. N a ch dem statistischen B efu n d ist die E n tsteh u n g von E x ze rp t 3 9 später an zu set­
ze n a b die N iederschrift von N r 3 4 der in B a n d 1 enthaltenen T exte (vgl. ebd. 500 ), doch
m uß wegen des Vorbehalts, den die geringe M aterialm en ge des E x zerp ts e fordert, auch eine
G leich zeitigk eit beider in B etracht gezogen w erden. J e d en fa lb z ä h lt E x ze rp t 3 9 z u den spätesten
Stücken der B erner P eriode (Frühsom m er/Jahresm itte 1796). In dem G edich t Eleusis (B and 1,
T ex t 3 6 ; vgl. den editorischen B ericht ebd. 5 0 5 ) scheint sich die H an dschrift H eg eb noch etw as
w eiter en tw ickelt z u haben.

EXZERPTE
ZU M BERNER STAATSW ESEN
Vermutlich 1795/1796

D ie E x zerp te 4 0 —42 w erden z u einer besonderen G ru p p e gefaß t m it R ü cksich t a u f ihre


sachliche Z usam m en gehörigkeit: H egel notiert hier aus drei Schriften in fran zösisch er Sprache
G edan ken u n d F akten z u m bem ischen R egieru n gs- u nd A bgabensystem sow ie z u r H an dh abu n g
des Strafrechts, m it B lick a u f das dam als von B ern beherrschte W aa d tla n d . M ehrere M argi­
nalziffern im zw e ite n und dritten dieser E x zerp te bezieh en sich a u f bestim m te Stellen in den
Lettres de Jean Jaques Cart über das staatsrechtliche V erhältnis der W a a d t z u B ern, die H egel
1798 in deutscher B earbeitung anonym veröffentlichte.
D ie M an u skripte sin d undatiert. D a sie in lateinischer Schrift geschrieben sind, die bei H egel
nicht teilhat an den F orm veränderungen seiner deutschen Schrift, ist ein e chronologische B estim ­
m ung a u f dieser B asis nicht m öglich. D ie W ahrscheinlichkeit spricht aber dafür, daß H egel seine
A u szü g e aus der die B erner V erhältnisse betreffenden S p ezia llitera tu r am O rt selbst u nd nicht
erst in F rankfurt angefertigt hat. D ie f ü r die N iederschrift der E x zerp te ben u tzten verschiedenen
P apiere stam m en alle aus B ern.
A u ch in dieser G ru p p e sin d die Ü b e r s c h r if te n vom H erausgeber eingesetzt.
296 ANHANG

E xzerp t 40
A us: D u GOUVERNEMENT DE BERNE

Ü b e r lie f e r u n g
M a n u skript: S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H egel-N a ch la ß , B an d
13, B la tt 62.
E in D o p p elb la tt (gefaltetes Q u artb latt). S eitenform at: ca. 16,8 x 10,4. P a p iefä rb e : cham ois.
V order- u nd R ü ckseite des ersten B lattes sin d m it lateinischer Schrift ohne R a n d g a n z beschrie­
ben. D a s z w e ite B la tt ist leer. D a s M s bricht am E n d e der zw e ite n S eite innerhalb eines S atzes
ab. H ie r ist m öglicherw eise ein folgen des B la tt m it der F ortsetzung des S atzes u n d eventuell w ei­
terem T ex t verlorengegangen.

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : D u gouvem em ent de Berne. En Suisse. 1793. — D a s ohne V efa sser und
O r t erschienene B uch w ird L o u is A u gu ste C u rta t zugeschrieben. — E xzerp ierte S telle: 17—20 .
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel exzerpiert, w ie auch in seiner Ü berschrift festge­
halten, aus: Chapitre IV. Des Contributions publiques. E r s e tzt m it dem A n fa n g des K a p i­
tels ein, überspringt sogleich einen Z w isch en gedan ken über m ögliche M iß stän de im Steuersystem ,
die nach M ein u n g des V efassers in B ern nicht z u beklagen sind, u n d notiert w örtlich die D a r ­
legungen über die a b m ild beurteilten tatsächlichen A bgab en u nd Z ö lle. D ie im w eiteren V erla u f
des K a p itels enthaltenen H in w eise z u r G rundbesteuerung u n d die A usführungen über W o h b ta n d
u n d Z u frieden h eit der B evölkerung im K a n to n B ern berührt das E x ze rp t nicht (w obei aber, w ie
gesagt, die M öglich keit von T extverlu st in B etracht z u zieh en ist).29,
c) D a t i e r u n g : D ie lateinische H an dsch rift bietet keine A n h a ltsp u n k te f ü r eine chronologische
B estim m ung. D a s P apier sta m m t seinem W asserzeichen nach aus B ern. P apier m it dem gleichen
W asserzeichen hat H egel f ü r mehrere der in B a n d 1 edierten A rb eiten b en u tzt: zu erst f ü r T ex t
17, dann w ieder f ü r T ex t 3 3 u n d f ü r einen T eil von T ex t 3 4 ; das M s des letzteren besteht aus
sechs vierblättrigen L agen, von denen die fü n fte u n d sechste übereinstim m en m it dem P apier des
vorliegenden E x zerp ts (vgl. auch den editorischen B ericht: B a n d 1. 499 ). D ieser Sachverhalt
sollte, obw oh l er keine direkte chronologische E ingliederu ng erm öglicht, beachtet w erden .29*

28 -
R o sen k ra n z g ib t in H egel’s Leben in dem K a p ite l über Theologische und historische
Studien der Schweizer Periode - einen H in w eis darauf, daß H egel die F i n a n z v e r f a s ­
su n g B e r n s bis in das kleinste D etail, bis zum Chausseegeld u.s.w. hin, durcharbeitete
(6 l). D e r Form nach kan n diese M itteilu n g nicht ohne w eiteres a u f ein E x ze rp t bezogen w er­
den; sie ist darum in B a n d 2 unter den N ach rich ten über verschollene A rb eiten H egels z u be­
rücksichtigen. D essen ungeachtet m uß auch die M öglich keit in B etracht gezogen w erden, daß die
B em erkun g von R o sen k ra n z sich a u f das vorliegende E x ze rp t bezieh t, indem die droits de
peage ausdrücklich und betont them atisiert w erden.
28a F ür die den W asserzeich en -B efu n d der M a n u sk rip te betreffenden A n gaben stü tzen w ir uns
hier und im folgen den (w ie schon in B a n d 1; vgl. dort 4 5 0 ) a u f die dankensw erten M itteilu n gen
ED ITO RISCH ER BERICH T 297

Exzerpt 41
Aus: L ’ e t a t et les d e l i c e s de la S uisse

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: S taatsbibliothek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B an d
13, B la tt 37.
E in D o ppelb latt. Seitenform at: ca. 21 x 16,8. P a p iefa rb e : blaugrau. D ie B lätter sin d in der
M itte längs g efa lzt. V order- u n d R ü ck seite des ersten B lattes sin d in der linken H ä lfte von oben
bis unten beschrieben. D ie Schrift ist lateinisch. B la tt 58 ist freigeblieben . D a der T ex t des E x ­
zerpts am E n de der letzten Z e ile m itten im S a tz abbricht, stellt sich die Frage, ob w eiterer T ext
m it einem in der M itte liegenden B la tt oder D o p p elb la tt verlorengegangen ist.
A u f je d e r der beiden Seiten des M s steh t ein m al am R a n d e des E xzerp ttextes die V erw ei­
sung: zu XIII. D ie s bezieh t sich a u f den dreizeh n ten B rie f in den Lettres de Jean-Jaques
Cart a Bemard Demuralt, Tresorier du Pays de Vaud, Sur le droit public de ce Pays, et
sur les evenemens actuels (Paris 1793) u n d hängt zu sa m m en m it H eg eb deutscher B earbeitung
dieser Schrift.29

A n gaben zu m E x ze rp t
a) Q u e l l e : L ’Etat et les Delices de la Suisse. En forme de Relation cridque, par plu-
sieurs Auteurs celebres. Enriclii de Figures en Taille-douce, dessinees sur les Lieux me­
ines et de Cartes Geographiques tres-exactes. en IV. Volumes. T . 1. A m sterdam 1730. —
E xzerp ierte S telle: 2 16—241.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : H egel exzerpiert aus Chapitre XIII. De la forme du
Gouvernement general des sept Cantons (213—261). D a s E x ze rp t s e tzt drei Seiten nach B e­
g in n des K a p ite b ein und fo lg t dem T ex t des O rig in a b , doch sin d im m er w ieder größere P artien
übersprungen. D ie G edankenstriche in H e g eb M s stehen f ü r solche A u slassu n gen ; einige w eitere
L ü cken sin d nicht geken n zeich n et.
c) D a t i e r u n g : A u ch hier kan n nur hingewiesen w erden a u f die B erner H erku n ft des P a ­
piers u n d a u f die A rb eiten , f ü r die H egel das gleiche bläuliche P apier m it übereinstim m endem
W asserzeichen verw endet hat. E s sin d dies aus B a n d 1 unserer A u sgabe die T exte 19—24, 26,
2 8 u n d 3 0 , fern er aus dem vorliegenden B a n d die E x zerp te 3 7 —3 9 (die a u f e in e m D o pp elb la tt
stehen).

von Frau E va Z iesche in der H an dschriftenabteilu ng der S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb e­


sitz, B erlin.
29 E in e A u sw ertu n g der M argin alien e fo lg t in B an d 2 unserer A usgabe, in dem H egeb
Ü bersetzung zu sa m m en m it dem fran zösisch en O rig in a l ediert w ird.
298 ANHANG

Exzerpt 42
Aus: Seigneux, Systeme abrege

Ü b e r lie f e r u n g
M an u skript: Staatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H eg el-N a ch la ß , B an d
13, B latt 5 9 - 6 0 .
E in D o p pelb latt. Seitenform at: ca. 2 1 ,7 x 17. P a p iefä rb e : cham ois. D e r T ex t ist m it latein i­
scher Schrift breitzeilig ohne R a n d geschrieben; drei Seiten sin d g a n z gefü llt, a u f der vierten
Seite stehen oben sechs Z eilen , der R e s t ist fre i.
Textbeginn B l. 59r: Systeme abrege ... (2 2 8 ,2 )
T extbeginn B l. 5 9 v: l’usage, oü plutot ... (2 3 0 ,2 )
T extbeginn B l. 60r: p. 2 0 . / Le souverain . .. (231,10)
T extbeginn B l. 60 v: p. 28. / Fief et justice ... (232,15)
R echts oben und links unten a u f der ersten S eite des M s sow ie j e ein m al a u f der zw e ite n
und dritten S eite sin d m it andersfarbiger (m ehr braun getönter) T in te V erw eisungsziffern einge­
tragen. S ie beziehen sich w ie die M argin alien in E x ze rp t 41 a u f die B riefe ( = röm ische Z iffern )
und Seiten ( = arabische Z iffern ) in den Lettres de Jean-Jaques Cart, die H egel ins D eutsche
übersetzt und kom m entiert h at.30

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : Systeme abrege de jurisprudence criminelle, accommode aux loix et a la
Constitution du pays. Par Francois Seigneux, Juge Civil et Criminel de la Ville de Lau­
sanne. . . . A Lausanne, Chez Marc-Michel Bousquet M D C C L VI.
V on diesem W erk sin d p a ra llel zw e ierlei A u sgaben erschienen, deren T itelblä tter incl. V ig­
nette völlig übereinstim m en. D e r T ex t ist gleichlautend, w eist aber orthographische D ifferen zen
auf. B eide A u sgaben haben die gleich e Satzspiegelgröße, sin d aber in unterschiedlichem Schrift­
grad g e setzt u n d w eichen infolgedessen in der P aginierun g voneinander ab. A u s den von H egel
m itnotierten S eiten zah len ergibt sich, daß er die A u sgabe m it größerem Schriftgrad b en u tzt hat,
von der sich heute ein E x em p la r z . B . in der S ch w eizer N a tio n a lb ib lio th ek in B ern befindet.
E xzerp ierte Stellen : X und 5 —2 8 .
D a s B uch ist auch aufgeführt als B estan d der Steigerschen B iblioth ek: vgl. den oben 2 9 2 (zu
E x zerp t 3 7 ) genannten A u k tio n sk a ta lo g von 1880 (N r 1132). D e r bloße T itel läßt freilich die
spezielle A u sgabe nicht erkennen.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : A u s dem V orw ort, das w eitläufig die In ten tion des B u ­
ches darlegt u n d begründet, notiert H egel nur einen ein zigen S a tz. D a n n fo lg t das E x zerp t dem
G ed a n k en g a n g .der beiden ersten K a p itel, die — a u f historische E n tw icklu n gen zurü ckgreifend —

30 A u ch diese V erw eisungsziffern w erden ausgew ertet in B a n d 2, im R a h m en der dort edier­


ten Ü bersetzung der Cartsehen Schrift.
ED ITO RISCH ER BERICH T 299

allgem eine B etrachtungen über Strafgesetze u n d R echtsprechung anstellen. B ei der N iederschrift


n im m t H egel m eh fa ch K ü rzu n g en , A uslassungen u n d U m stellungen vor.
c) D a t i e r u n g : W ie bei den beiden vorhergehenden E x zerp ten ist keine genauere chronologi­
sche B estim m u n g m öglich, sondern nur eine Z u w eisu n g z u r B erner P eriode, die durch das W a s­
serzeichen des P apiers ausgewiesen ist. E rg än zen d sei aber a u f folgen des aufm erksam gem acht:
D a s g a n ze M s von T ex t 31, d. i. Das Leben Jesu, ist m it A u sn a h m e des 7. Bogens a u f g le i­
chem P apier geschrieben; außerdem fin d e t sich noch ein vereinzeltes D o p p elb la tt dieses Papiers,
näm lich B l. 103/104 der B iblioth ekszäh lu n g, innerhalb des M s von T ex t 3 2 . (V gl. hierzu den
editorischen B ericht: B an d 1. 491 u n d 4 9 3 f.)

N IC H T N Ä H E R D A T IE R B A R E S

D ie beiden vereinzelten frem dsprachlichen E x zerp te aus Rousseau u n d Homer,, die hier f o l­
gen, können w ie die Stücke 4 0 —42 nicht vom Schriftbild her datiert w erden. D a andererseits
auch die Papierbeschaffenheit hier keine hinreichend deutlichen Z u w eisu n gskriterien bietet, scheint
es angem essen, a u f eine Inanspruchnahm e f ü r T ü bin gen 31, B ern oder F ran kfu rt 32 z u verzichten
u nd beide E x zerp te ohne genauere zeitlich e Z u ordn u n g in die P eriode der Schriften H egels bis
1800 au fzu n eh m en .
D ie Ü b e r s c h r if te n entstam m en nicht den M an u skripten selbst, sondern sin d hinzugefügt.

Exzerpt 43
Aus: R o u s s e a u , L e t t r e a M. D ’ A l e m b e r t

Ü b e r lie f e r u n g
M a n u skript: S taatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H egel-N ach laß , K apsel
15, F aszikel 1, N r 6.
E in D o p p elb la tt (gefaltetes Q u artb latt). Seitenform at: ca. 16,8 x 10,3. P a p iefa rb e : chamois.
M it lateinischer Schrift sin d fa s t zw e iein h a lb Seiten breitzeilig ohne R a n d beschrieben; der R est
ist freigeblieben.

31 So hat J . H offm eister das Rousseau-Exzerpt bei seinem E rstdruck z u den A u szü g en g e ­
stellt, die er (übrigens fä b ch lich ) der T übinger S tu d ie n -Z e it zu ordn et. Vgl. Dokumente zu He­
gels Entwicklung. 1 7 4 f
32 So rückt H . N o h l das E x ze rp t aus der Ilias, das er nicht abdruckt, sondern nur erw ähnt,
in die N achbarschaft der B lätter m it dem sog. Grundkonzept zum Geist des Christentums
u n d w eist es da m it in das J a h r 1798. Vgl. Hegels theologische Jugendschriften. T übingen
1907. 3 9 3 .
300 ANHANG

A ngaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : D a H egel w eder bibliographische A n gaben m acht noch S eiten zah len m itteilt,
kon nte nicht erm ittelt w erden, w elche A u sgabe des R ousseauschen T extes er b en u tzt hat. W ir le­
gen zu gru n de: Collection complete des CEuvres de J. J. Rousseau, Citoyen de Geneve.
T om e on ziem e. G en eve 1782. 179—4 4 8 : J. J. Rousseau . . . a M. D ’Alembert . . . sur son
Article GENEVE, dans le V IIme Volume de l’Encyclopedie, et particulierement sur le
Projet d’etablir un Theatre de Comedie en cette Ville. - E xzerp ierte S telle (nach dieser
A u sgabe): 4 0 9 —412.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : D a s E x zerp t g ib t — m it einer nicht kenntlich gem achten
längeren A u slassung — einen zu sam m en h än gen den Passus des T extes von R ousseau w örtlich
w ieder. — In dem A u sd ru ck pieces (du Theatre) ist die eingeklam m erte E rg än zu n g dem W o rt­
lau t des O rigin als an dieser S telle (2 3 8 ,2 ) von H egel hinzugefügt. D e r vollständige A u sd ru ck
Pieces de Theatre fin d e t sich im O rig in a l am A n fa n g des A b sa tzes, der a u f das exzerpierte
T extstück fo lg t.
c) Z e i t l i c h e E in o r d n u n g : D ie lateinische Schrift bietet keine H ilfe z u r D a tieru n g des M s.
D a s P apier, w ie oben dargelegt ein abgetrenntes Q u artb latt, also nur die H ä lfte eines B lattes im
F olioform at, z e ig t kein vollständiges W asserzeichen, sondern nur ein W asserzeichen-F ragm ent.
D ieses w eist nach T übingen, scheint aber nicht m it einem der sonst von H egel ben u tzten T ü b in ­
ger P apiere ü berein zu stim m en . E s ist w oh l gerechtfertigt, das vorliegende S tü ck den frü h en E x ­
zerpten H egels zu zu o rd n en ; eine sichere chronologische B estim m u n g ist aber nicht m öglich.
M a n kön n te fragen , ob die Rousseau-L ek tü re, die sich in dem E x ze rp t niedergeschlagen hat,
in Z u sam m en h an g z u sehen ist m it der R eise nach G en f, die H egel im M a i 1795 von B ern
aus unternom m en h at.32*

Exzerpt 44
Aus: H omer, I lias

Ü b e r lie f e r u n g
M a n u sk rip t: Staatsbiblioth ek Preußischer K u ltu rb esitz B erlin — H egel-N ach laß , B an d
11, B la tt 59a.
E in B la tt (abgerissene H ä lfte eines Q u artblattes). F orm at: ca. 17,5 x 10,8. P a p iefa rb e : cha­
mois. D ie V orderseite ist g a n z beschrieben, a u f der R ü ckseite stehen nur noch vier Z eilen .
A u f der V orderseite fin d en sich an der unteren, unregelm äßigen R iß k a n te m ehrere B uchsta­
benfragm ente; sie stehen quer z u r Schreibrichtung des M s untereinander. D a s D o pp elb la tt, von
dem das O k ta vb la tt abgetrennt w urde, w a r som it a u f m indestens einer S eite beschrieben.

32a D ie R eise ist bezeu gt durch einen P a ß der S ta d t B ern u n d eine G en fer Torbescheinigung,
die erhalten geblieben sin d: vgl. Briefe von und an Hegel. B d 4, T eil 1: Dokumente und
Materialien zur Biographie. H rsg, von F. N ico lin . H am bu rg 1977. 70f.
ED ITO RISCH ER BERICH T 301

A n gaben zu m E x zerp t
a) Q u e l l e : OMHPOT IA IA 2 , H* M AAAON ÄTuavTa z k g ^ o^ ol. HOMERI ILIAS,
SEV POTIVS omnia eius quae extant opera. Studio et cura Ob. Giphanii i. c. quam
emendadssime edita, cum eiusdem Scbolijs et Indicibus nouis. . . . Argentorati Excudebat
Theodosius Rihelius. (1 5 7 2 .)
D iese zw eisprachige A u sgabe, die neben den griechischen einen lateinischen T ex t stellt, befand
sich nach der sehr abgekürzten bibliographischen A n g a b e des A u ktion skata logs (N r 4 4 1 /4 2 ) in
H egels persönlicher B iblioth ek. D a ß er sie schon f ü r das vorliegende E x ze rp t benutzte, beweisen
die S eiten zah len , die er den notierten V ersgruppen je w e ils voranstellt.
Im ein zeln en sin d folgen de Verse herangezogen w orden : l) Z w e ite r G esang, Vers 8 3 0 —8 3 4 ;
2 ) E bd. Vers 8 5 8 —861; 3 ) D ritte r G esang, Vers lO lf; 4) E bd. Vers 164f; 5 ) E bd. Vers 3 0 8 f;
6) V ierter G esang, Vers 4 0 6 —4 0 9 ; 7) F ünfter G esang, Vers 6 2 —64.
b) C h a r a k t e r i s t i k d e s A u s z u g s : A u s den G esängen I I bis V der Ilias schreibt H egel eine
R e ih e von Stellen heraus, die inhaltliche B elege z u dem von ihm a b Ü berschrift g esetzten Stich­
w ort Fatum bieten. In den beiden ersten F ällen beginnt er nicht m it einem volbtändigen Vers.
D ie Versanfänge schreibt er abw eichend von seiner V orlage nicht m it großen Buchstaben. Z u m
vierten T eilex zerp t fo rm u liert H egel aus dem K o n tex t eine (lateinische) Überschrift.
c) Z e i t l i c h e E in o r d n u n g : A u ch bei diesem E x ze rp t entfallen handschriftliche In d izien fü r
eine D atieru n g. E in W asserzeich en -R est ist nicht erkennbar. D e r P apierqu a lität nach stam m t
das B la tt m öglicherw eise aus T übingen. D ie Ilias selbst w a r H egel schon von seiner G ym n asial­
z e it her vertraut; vgl. d a zu B a n d 1. 31,31 (T agebu ch) u n d 415,6 (N achrichten über Verscholle­
nes). Z u beachten bleibt, daß das E x ze rp t im N a ch la ß H egels in m itten von E n tw ü rfen überlie­
fe r t ist, die w äh ren d seiner F rankfurter Z e it entstanden sin d; doch ergibt auch dies keinen gesi­
cherten chronologischen F ixpu n kt. So läßt sich die w o h l nicht in Frage z u stellende Z ugehörig­
k eit z u r P eriode der Frühen Schriften nicht p rä ziser eingrenzen.

Z u r E d itio n
D e r T e x t von H e g eb E x zerp t w ird, dem M s gem äß, insgesam t ohne A k z e n te abgedruckt.
B ei der W iedergabe des Q u e l l e n t e x t e s ist die altertüm liche Schreibw eise, die das griechische
O rigin a l besonders in Form zah lreich er L igatu ren aufw eist, norm alisiert b zw . aufgelöst. D ie in
eckigen K la m m ern eingefügten B ezeichnu ngen der G esänge entsprechen den K olu m n en titeln der
Vorlage.

N A C H R IC H T E N Ü BER V E R SC H O LLE N E S

D ie zahlreichen E xzerp te, die H egel in den Jah ren seiner Ju gen dbildu n g bis zu m A bsch lu ß
des S tu diu m s in T übingen angefertigt u n d danach sorgsam aufgehoben hat, sin d heute nicht
m ehr erhalten. L an ge Z e it hat m an geglaubt, diesen bedauerlichen V erlust in erster L in ie m it
302 ANHANG

der B en u tzu n g des H egelschen N achlasses durch K a rl R o sen k ra n z in V erbindung bringen z u


müssen. Schließlich ist aber aus dem B riefw ech sel zw isch en H e g eb Söhnen bekanntgew orden33,
daß die E x zerp te und andere verschollene M an u skripte einer von den E rben bew u ß t vorgenom ­
m enen R ed u k tio n des N achlasses z u m O p fer gefallen sind.
D ie frü h en E x zerp te H e g eb sin d offenbar noch lange a u fb ew a h rt w orden. E rstm a b w urden
anscheinend 1855, nach dem T ode M a rie H egeb, der W itw e des P hilosophen, T eile aus seinem
N a ch laß vernichtet, darunter die nachgeschriebenen Hefte der Universitätsvorlesungen aus
T übingen. In diesem Z u sam m en h an g schreibt Im m an u el H egel an seinen B ruder K a rl: Bei den
Papieren des Vaters habe ich geglaubt, alles, was irgendein biographisches Interesse hat,
aufheben zu müssen, dieses waren erstens auch die Exzerpte aus seiner Gymnasialzeit, in
zusammengebundenen Heften und Schachteln. So scheinen diese H andschriften noch vorhan­
den gew esen z u sein bis z u m Jah re 1889, in dem der heute a b H eg el-N a ch la ß bekannte B e­
stand in öffentlichen B iblioth eksb esitz ü b e fü h rt w urde. D a m a b bestätigt Im m an u el H egel seinem
B ruder in einem aus B erlin nach E rlangen gerichteten Schreiben, daß er die für die hiesige
K[önigliche] Bibliothek ausgewählten Schriften des Vaters dorthin übersandt habe, u n d fü g t
an: Die übrige Masse wurde, um weiteren Mißbrauch zu verhindern, in einer hiesigen
Papiermühle abgeliefert. Z u dieser Masse müssen auch die E x zerp te gehört haben.
A ngesichts dieses V erlustes kom m t neben der sekundären Ü berlieferung einer ausgew ählten
G ru pp e von E x zerp ten durch G u sta v T h a u lo w dem B ericht über die ursprünglich vorhandenen
A u szü g e H egeb, den R o sen k ra n z in der B iographie erstattet hat, besondere B edeu tung z u .
D ieser au fzäh len de B ericht bildet einen T eil des K a p ite b Lectüre und Methode derselben
im E rsten B uch von Hegel’s Leben .34 W ir geben den B ericht u n gekü rzt u n d fortlau fen d w ieder
u n d stellen nur durch öfter eingelegte Z w isch en räu m e eine G liederu n g her, die den von R o sen ­
k ra n z unterschiedenen sachlichen G ruppierungen fo lg t u n d sie äußerlich stärker hervorhebt. Z u ­
gleich w ird es dadurch m öglich, einige hierhergehörige M itteilu n g en aus H eg eb Tagebuch u n d
aus späteren P artien der L ebensbeschreibung passen d einzuschalten. D e n zitierten Stellen sin d die
N ach w eise direkt beigegeben.
B evor R o sen k ra n z die ein zeln en E x zerp te anführt, beschreibt er im g a n ze n deren äußere
Form und die A r t ihrer A u fbew ah ru n g:
Bei seiner Lectüre ging er [sc. Hegel] nun folgendermaaßen zu W erke. Alles, was
ihm bemerkenswerth schien - und was schien es ihm nicht 1 - schrieb er auf ein einzel­
nes Blatt, welches er oberhalb mit der allgemeinen Rubrik bezeichnete, unter welche
der besondere Inhalt subsumirt werden mußte. In die Mitte des oberen Randes schrieb
er dann mit großen Buchstaben, nicht selten mit Fracturschrift das Stichwort des Arti­
kels. Diese Blätter selbst ordnete er für sich wieder nach dem Alphabet und war mit­
telst dieser einfachen Vorrichtung im Stande, seine Excerpte jeden Augenblick zu benut­
zen. Bei allem Umherziehen hat er diese Incunabeln seiner Bildung immer aufbewahrt.

33 W illi Ferdinand Becker: Hegels hinterlassene Schriften im Briefwechsel seines Soh­


nes Immanuel. In : Zeitschrift für philosophische Forschung. 3 5 ( l9 8 l) , 5 9 2 —614. Z u m
folgen den vgl. dort 6 0 6 (B rie f vom 7. 8 .1 8 5 5 ) u n d 613 (vom 1 4 .4 .1 8 8 9 ).
34 Rosenkranz: Hegel’s Leben. 10—15. D a vo n hier herangezogen: 13f.
ED ITO RISCH ER BERICH T 303

Sie liegen theils in Mappen, theils in Schiebfutteralen, denen auf dem Rücken eine ori-
entirende Etikette aufgeklebt ist.35
Im folgen den w erden die ein zeln en M itteilu n g en , die R o sen k ra n z m acht, vor allem a u f die
m öglichen Q u ellen der E x zerp te hin erschlossen. In einigen F ällen ist z u erörtern, oh das von
R o sen k ra n z gen an n te E x zerp t identisch ist m it einem der Stücke, deren T ex t durch die E dition
von T h a u lo w erhalten blieh.

Z u 2 4 3 ,2 —3: D a ß H egel über Leben u n d Schriften . . . antiker Autoren E x zerp te in La­


teinischer Sprache anfertigen konnte, se tz t entsprechende V orlagen voraus. D e r spätere K atalog
von H egels B iblioth ek nennt beispielsw eise (N r 6 8 ; 4 4 6 —4 4 8 ; 5 9 2 ) die K u rzfassu n g der P h ilo­
sophiegeschichte von Jak ob B rücker: Insdtutiones historiae philosophicae usui academicae iu-
ventutis adomatae. Ed. secunda. L ip sia e 175 6; fern er drei griechisch-lateinische A usgaben von
Diogenes Laertius de vitis . . . philosophorum (ed. H . Stephanus 1570, C olon iae A llobrogum
1616, L ipsiae 1759) sow ie die Vitae philosophorum: Scriptoribus Diogene Laertio, Eunapio
Sardiano, Hesychio Illustrio. L u g d u n i B at. 1596. W enigstens zu m T eil könnten diese Bücher
H egel schon w ährend seiner letzten G ym n asialjah re verfügbar gew esen sein.

Z u 2 4 3 ,4 : M it P o ly ä n o s Buch von den Kriegslisten scheint R o sen k ra n z ein B eispiel aus


den soeben genannten biographisch-bibliographischen A u fzeich n u n gen H egels anzugeben. D e r u n ­
m ittelbar anschließende S a tz seines B erichts (Mitunter schwellen die Auszüge . . .) läßt aller­
dings die D eu tu n g z u , daß auch im Vorangegangenen schon eigentliche T extau szü ge m itgem eint
w aren. S ollte H egel dem nach die Strategematum libri octo des P olyain os exzerpiert haben, so
h at es sich bei seiner Vorlage w o h l eher um eine lateinische Ü bersetzung als um das griechische
O rigin a l gehandelt. E in e bestim m te A u sg abe kan n aber nicht angegeben w erden. Im K a ta lo g von
H egels B iblioth ek kom m t der A u to r nicht vor.

Z u 2 4 3 ,6 : die Noten B r u n k ’ s zum Sophokles. In H egels persönlicher B iblioth ek war,


w ie der K a ta lo g verzeichnet (N r 411/412), neben anderen S o p \io )d zs-A u sg a b e n auch eine von
B runck enth alten: In Quarto. . . . S o p h o c lis tragoediae ed. R. F. Ph. B r u n k cum vers.
et schol. Argent. 786. Tom i II. Frzb. (Prachtausg. mit breitem Rand.) D iese abgekürzte
bibliographische N o tiz ist z u bezieh en a u f folg en d e G roßquartausgabe in 2 B än den : Sophoclis
quae exstant omnia cum Veterum Grammaticorum Scholiis. Superstites Tragoedias VII.
ad optimorum exemplarium fidem recensuit, Versione et Notis illustravit, deperditarum
Fragmenta collegit Rieh. Franc. Phil. Brunck. Argentorati apud Joannem Georgium
Treuttel. M D C C L X X X V I. (D ie Noten fin d en sich dort: T . I, P . U . 1 8 1 -2 4 0 u nd T . U , P .
II. 162—2 1 2 .) — S eit w an n H egel B esitzer dieser A u sgabe w ar, läßt sich nicht bestim m en. D a ß

35 Rosenkranz: Hegel’s Leben. 12f. D iese Schilderung ist z u vergleichen m it den beschrei­
benden H in w eisen von T h au low : siehe oben 25 4 .
304 ANHANG

er die um fangreichen N o te n vollständig abschrieb, m ag der leichteren H an dh abu n g bei der


T extlektüre g ed ien t haben, kan n aber auch d a ra u f h indeuten, daß er die B än de dam als noch
nicht selbst besaß. D ie N o te n sin d m it V erszahlen versehen u nd w aren daher auch in V erbin ­
dung m it anderen A u sgaben leicht z u verw enden. G ru n dlage f ü r H egels A bsch rift kön n te auch
gew esen sein: Sophoclis Tragoediae septem ad opdmorum exemplarium fidem emendatae
cum versione et notis ex editione Rieh. Franc. Phil. Brunck. T . 1—4. A rgen torati 178 6—
1789. D ie B än de 1 u n d 2 dieser A u sgabe im O k tavform at, die den T ext, .die lateinische Ü ber­
setzu n g u n d die A n m erku n g en enthalten, erschienen 1786, und z w a r noch vor der großen A u s ­
gab e.36 — E rw ä h n t sei, daß eine B ezu gn ah m e a u f Sophokles in H egels Sch u lau fsatz vom 7. J u li
1788 die K en n tn is der A n m erku n g en B runcks vorau szu setzen scheint (vgl. B a n d 1. 48,4).

Z u 2 4 3 ,9 —14: B ei der von H egel selbst in seinem Tagebuch A n fa n g J a n u a r 178 7 erw ähnten
Exzerpirung der Exkurse Heyne’s h andelt es sich um folgen den T ex t: P. Virgilii Maronis
opera varietate lecdonis et perpetua adnotatione illustrata a Chr. Gottl. Heyne. Accedit
index uberrimus. T . 1—4. L ip sia e 176 7—1775. B a n d 2 u n d 3 dieser E dition enthalten die 12
B ücher der Aeneis, die der H erausgeber m it E xkursen versehen hat. — Insbesondere bezieh t sich
H egel a u f den Excursus I ad Aen. II. princ.; dieser steh t in B a n d 2. 2 2 0 —236 .

Z u 243,15—16: D a s erste der beiden E x zerp te vom 5. J a n u a r 178 7 s tü tzt sich a u f eine R e ­
zen sion in : Allgemeine deutsche Bibliothek. Des fünfzehnten Bandes erstes Stück. B erlin
u n d S tettin 1771. 4 0 —5 8 . Besprochen w ird die A u sg abe: Oratorum Graecorum, quorum
princeps est Demosthenes, quae supersunt, monumenta ingenii, e bonis libris a se emen-
data, materia critica, commentariis integris Hieron. Wolfii, Io. Taylori, Ierem. Mark-
landi, aliorum, et suis, Indicibus denique instructa edidit Ioan. Iac. Reiske. Volumen
primum, partem priorem dimidiam Demosthenis tenens. Lipsiae, typis Sommeri, 1770. -
Volumen secundum, partem posteriorem dimidiam Demosthenis tenens, una cum scho-
liis graecis e codice Bavarico nunc primum editis, aliisque ex Augustano fidelius redditis.
Ib. eod. 8vo maj. - H egels A usdrucksw eise, er habe die E ditionen des Demosthenes ex­
zerpiert, läßt verm uten, daß er die frü h eren Demosthenes-A u sg a b en , w elche die R ezen sio n im
A n sch lu ß an die E in leitu n g von R eisk e recht ausführlich behandelt (43jf), f ü r sich festgeh alten
hat. D ies w äre zu gleich ein B eispiel f ü r die A u fzeich n u n g von Ausgaben ... antiker Autoren,
die R o sen k ra n z in der E xzerp tsa m m lu n g H egels auffiel (siehe oben 2 4 3 ,3 ).

Z u 243,17: W en n H eg el notiert, daß er am N a ch m itta g des 5. J a n u a r 178 7 in einem


neuen Theil der allgem. deutschen] Bibliothek gelesen u n d daraus exzerpiert habe, so ist
dies a u f dem H in tergru n d der vorangegangenen M itteilu n g z u sehen, die einen w eit zu rü ck lie-

36 Vgl. d a zu : Allgemeine Literatur-Zeitung. 1786, B d 2. Sp. 2 2 3 —2 2 4 .


ED ITO RISCH ER BERICH T 305

genden Jahrgang der Z eitsch rift betraf; er m ein t nun w oh l ein aktuelleres, vielleicht sogar das
z u le tz t erschienene H e ft der Bibliothek, die sein V ater bezog (vgl. B a n d 1. A n m . z u 32,17).

Z u 243,19—20: D e r N a m e R am m ler verw eist wahrscheinlich a u f ein E x ze rp t aus: Einlei­


tung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn [Charles] Bat-
teux, mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler. 3 . u. verb. A u fa g e . B d 1—4.
L e ip zig 1769. Vgl. H egels T agebucheintrag vom 13. J u li 1783, dem zu folge er dieses W erk in
der Ö ffentlichen B iblioth ek z u S tu ttgart b en u tzte u nd darin das Stük von der Epopee las
(B an d 1. 1 0 ,4 -5 m it A n m erku n g en ); hier stellt sich auch eine V erbindung her z u dem E x zerp t
über Epopöie, das R o sen k ra n z u nter den die Ä sth e tik betreffenden Artikeln a b erstes nennt.
E in e W och e später verm erkt H egel, daß er wieder im Rammler las (ebd. 10,2ö).

Briefe D usch’s kan n H egel in folgen den A u sgaben b en u tzt haben:


Z u 2 4 3 ,2 0 —21: D ie
Briefe zur Bildung des Geschmacks an einen jungen Herrn von Stande. [Von Johann Ja­
kob Dusch.] T. 1—6. L e ip zig u n d B reslau 176 4—1773. — N ach dru ck: W ien 1770—1774. —
Gänzlich umgearbeitete Auflage [der T eile 1 u n d 2 \. L e ip zig u n d Breslau 1773—1774. —
H egel verlangte in der S tuttgarter B iblioth ek Dusch’s Briefe bereits am 2 0 . J u li 1785 (siehe
B an d 1. 10,24). E in en ku rzen A u szu g aus B a n d 2 des W erkes vom 6. A p r il 1786 hat T h a u -
low überliefert: siehe E x zerp t 4 im vorliegenden B and. Im editorischen B ericht d a zu , oben 261,
w ird vom W o rtla u t des E x zerp ts her erörtert, w elche A u sgabe H egel wahrscheinlich z u r H a n d
hatte. — D ie Briefe zur Bildung des Geschmacks käm en in Frage a b Vorlage f ü r ein E x ­
ze rp t H eg eb z u m S tich w ort Lehrgedicht, das R o sen k ra n z ausdrücklich erw äh n t (siehe 243,18—
19): die B riefe I—T V des zw e ite n B andes handeln von diesem G egenstand.

Z u 2 4 3 ,2 0 : Lessing. Ü ber literaturästhetische E x zerp te aus Lessingschen Schrifien, die w äh ­


rend der S ch u lzeit H eg eb entstanden, lassen sich keine bestim m ten V erm utungen äußern. W ie
sehr jed och H eg eb T übinger M itstu den ten in ihm einen Vertrauten Lessings sehen konnten, ist
einer brieflichen B em erkun g Schellings z u en tn ehm en.37

Z u 2 4 3 ,2 0 —22: D ie w eitläufigen W ieland -E x ze rp te , die R o sen k ra n z vor A u g en hatte, ent­


stam m ten dem W erk : Horazens Briefe aus dem Lateinischen übersezt und mit historischen
Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. 2 Teile.
D essau 1782. — H egel h at E rläuterungen aus dieser Horaz- Ü bersetzu n g zitie rt in seinem
Sch u lau fsatz vom 7. A u g u st 1 7 8 8 .38

37 Schelling an H egel, 4. F ebruar 1795. In : Briefe von und an Hegel. H rsg, von J .
H offm eister. 3. A u fl. H am bu rg 1969. B d 1. 2 0 —2 3 ; Z ita t: 21.
38 D . i. T ex t 5 in B a n d 1 dieser A usgabe. Vgl. dort 48,13—18 m it A n m erku n g en .
306 ANHANG

Z u 2 4 3 ,2 0 : A u s den Schriften von Joh an n Jakoh Engel d u f te als V orlage f ü r die hier g e­
m einten E x zerp te in Frage kom m en : Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus
deutschen Mustern entwickelt. T. 1. B erlin u n d S tettin 1783.

Z u 2 4 3 ,2 0 : E berhard. In H egels B iblioth ek registriert der K a ta lo g (N r 8 0 4 ) folgen des


Buch, das hier w oh l in Frage käm e: Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche
seiner Vorlesungen herausgegeben von Johann August Eberhard. 2. verb. A u f . H a lle:
B uchhandlung des W aisenhauses 1786. (D ie 1. A u ß a g e erschien 17 8 3 .)

Z u 2 4 3 ,2 2 : K lopstock’s Oden. - D e r K a ta lo g von H egels B iblioth ek verzeich n et unter


N r 8 2 2 eine A usgabe, von der angenom m en w erden kann, daß sie schon dem G ym n asiasten z u r
V efü g u n g stan d: Sammlung der poetischen und prosaischen Schriften der schönen Geister
in Teutschland. Enthaltend Klopstoks Oden. R eu tlin g en 1777. — M ehrere Z ita te aus den
Oden K lopstocks fin d en sich in H egels frü h en M an u skripten (vgl. B a n d 1, N a ch w eise im Perso­
nenverzeichnis).

Z u 2 4 3 ,2 3 : O b H egel f ü r seine Z u sam m en stellu n g von Stam m buchsentenzen a u f eine


gedruckte S am m lu n g derartiger K u rzte x te zurü ckgreifen konnte, ließ sich bisher nicht feststellen .
H a t eine solche Vorlage gefehlt, so m u ß hier etw as Ä h n lich es g em ein t sein w ie das H eft, in das
H egel Definitionen eintrug, die er an g a n z verschiedenen F undorten aufsam m elte: vgl. d a zu
den editorischen B ericht, oben 2 8 2 . R o sen k ra n z verbin det den H in w e is a u f die Stammbuchsen­
tenzen u n m ittelbar m it dem Jah resdatum 1786 u n d n en n t dan n erst die von H egel notierten
witzigen Pointen. V ielleich t hatte er z w e i T extgruppen vor A u g en , von denen nur die erste
(etw a z u B eginn) datiert w ar.

Z u 2 4 3 ,2 5 —26: D ie fragm entarische A n a lyse des Schillerschen Fies ko, von der R o sen k ra n z
berichtet, ist nicht den E x zerp ten zu zu rech n en . D ie M itteilu n g w u rde darum in die N achrichten
über verschollene T exte H egels in B a n d 1 dieser A u sg abe einbezogen (vgl. dort 413,22—24). D a ­
m it der D u k tu s des B erichts im g a n ze n n achvollziehbar bleibt, haben w ir aber die — von R o ­
sen kran z selbst in G edankenstriche eingefaßte — M itteilu n g im vorliegenden Z u sam m en h an g
nicht getilgt.

Z u 2 4 3 ,2 6 —27: D ie K u rzfassu n g von Joh an n C hristoph G ottsched’s


Grundlegung einer
deutschen Sprachkunst, die H egel exzerpierte, trägt den T ite l: Kern der
deutschen Sprach­
kunst, aus der ausführlichen Sprachkunst des Herrn Professor Gottscheds. Zum Gebrau­
che der Jugend, von ihm selbst ins Kurze gezogen. D a s B uch erschien zu erst L e ip zig 1753
u nd w urde in rascher Folge m eh fa ch neu aufgelegt (noch über den T od des A u to rs 1766 h in -
E D ITO R ISCH ER BERICH T 307

aus). A u ch ein in W ien herausgekom m ener N ach dru ck erlebte eine R e ih e von A u ß a g e n . D ie
von H egel ben u tzte A u sgabe kan n nicht bestim m t w erden.

Z u 24 3 ,2 7 —28: Lexikon der Id io tism e n ... - D a R o sen k ra n z den E indruck gew in n en


konnte, es handle sich bei diesem W örterverzeich n is um ein von H egel selbst angelegtes, w ar
eine literarische Vorlage offenbar nich t angegeben. E s ist nicht unw ahrscheinlich, daß H egel fü r
diese Z usam m en stellung N icolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland (vgl. w eiter
unten den editorischen B ericht z u 2 4 4 ,4 —7) a b Q u elle ben u tzte. In den Beylagen dieses viel­
bändigen W erkes, aus dem H egel sich die D arstellu n g deutscher Stammphysiognomieen (2 4 4 ,4 )
abschrieb, fin d en sich auch Id iotika verschiedener deutscher S täm m e: Verzeichniß einiger
Nümbergischen Provinzialwörter (B d 1. Beylage XI.9 ); Versuch eines östreichischen
Idiotikon, oder Verzeichniß östreichischer Provinzialwörter (B d 5. Beylage XIV.l) ; Ver­
zeichniß einiger bairischen Provinzialwörter (B d 6. Beylage 11.7).

Z u 2 4 4 ,2 —3: Vgl. Ueber die Einsamkeit. Von Johann Georg Zimmermann. T . 1—4.
L e ip zig 178 4—1785. D e m gleichen W erk entstam m en m ehrere E x zerp te H egels, die T h au low
überliefert hat u n d die in diesem B a n d abgedruckt sin d (siehe die E x zerp te 7, 9 u n d 10). Iden­
titä t dieser S tücke m it den hier von R o sen k ra n z erw ähnten ist nicht an zu n eh m en , da letztere ei­
nem anderen S am m eltitel zu geordn et w aren, näm lich: Erfahrungen und Physiognomik. -
Ü ber die A u sgabe des W erkes von Z im m erm a n n , a u f die H egel sich stü tzte, vgl. den editori­
schen B ericht z u E x ze rp t 10, oben 2 6 7 .

Z u 2 4 4 ,3 : M einers. V gl. Briefe über die Schweiz. (Von C. Meiners.) T . 1—4. B erlin
1784—1790. H egel hat in seinem A u fsa tz Einige Bemerkungen über die Vorstellung von
Grösse ( = T ex t 3 ), geschrieben am 14. M a i 1787, aus T eil 1 der Briefe m it einer S eitenan­
gabe zitiert, die dem in F rankfurt u n d L e ip zig 1785 erschienenen N ach dru ck entspricht.39 So ist
z u verm uten, daß den von R o sen k ra n z angeführten E x zerp ten dieser N achdruck als Vorlage
diente. — W en n H egel die E x zerp te alle w äh ren d seiner S ch u lzeit anfertigte, können sie nur aus
den beiden ersten T eilen des W erkes entnom m en w orden sein, da die T eile 3 u nd 4 erst 1790
(im N ach dru ck 1791) erschienen.

W ünsch’s ... Unterhaltungen. G em ein t ist das W erk : Kosmologische


Z u 2 4 4 ,3 —4:
Unterhaltungen für die Jugend. (Von Christian Emst Wünsch.) B d 1—3. L e ip zig 1778—
1780. B an d 2 begegnet uns auch a b Q u elle eines um fangreichen E x zerp ts, das T h a u lo w m itge­
teilt hat: vgl. oben E x zerp t 6. D a inhaltliche D e ta ib der E x zerp te, a u f die R o sen k ra n z ver-

39 Vgl. Stellenangabe u n d Z ita t in B a n d 1 unserer A u sg abe: 41,8—11. Siehe auch die A n m .


d a zu .
308 ANHANG

w eist, feh len , können w ir uns nur an ihrer Z ugeh örigkeit z u der A b teilu n g Erfahrungen und
Physiognomik orientieren; dem nach d ü f te hier das von T h a u lo w überlieferte Stück nicht m itge­
m ein t sein. Z u denken w äre an A u szü g e aus B a n d 3 : Von dem Menschen, etw a aus der er­
sten u n d zw e ite n U n terh altu n g: Allgemeine Verschiedenheiten der Völker (6 ljf) u nd Beson­
dere Verschiedenheiten einzelner Menschen (9 lß ).

Z u 2 4 4 ,4 : N a ch dem B ericht scheint H egel R ousseau’s Bekenntnisse in einer deutschen


A u sgabe gelesen u n d exzerpiert z u haben. W äh ren d seiner Schul- und S tu d ie n zeit erschien bei­
spielsw eise: Johann Jakob Rousseau: Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Adolph v.
Knigge. 4 T eile. B erlin 178 6—1790.

N ico lai’s Reisen... V gl. Beschreibung einer Reise durch Deutschland


Z u 2 4 4 ,4 —7:
und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Re­
ligion und Sitten, von Friedrich Nicolai. B d 1—12. B erlin u n d S tettin 1 7 8 3 —1796. H egel
konnte als G ym n asiast die B än de 1—8 ben u tzen , die bis z u m Jah re 1787 Vorlagen; die w eiteren
B ände erschienen erst 1795 u n d 1796. ( A u f der L ek tü re von B a n d 4 u n d 5 beruhen die im
A u g u st 178 7 niedergeschriebenen E x zerp te 2 3 u n d 2 4 , oben 177—1 79 .) D ie von R o sen k ra n z er­
w äh n ten E x zerp te z u r E igenart der Deutschen Stammphysiognomieen w aren w oh l en tn om ­
m en aus A bsch n itten w ie: Einige Anmerkungen über Sitten, Gewohnheiten, Charakter,
und Sprache der Einwohner von Wien (B d 5. 186JJ) oder München; Charakter der Ein­
wohner (B d 6. 75Iß), doch kom m en auch viele verstreute B em erkungen über Nationalphysiog­
nomien (B d 5. 2 9 7 ; vgl. B d 1. 130ß) in F rage3 °

Z u 244,10: D e r H in w eis a u f E x zerp te aus K ästner’s Schriften läßt an seinem W o rtla u t


erkennen, daß die beiden folgen den T eile des Lehrbuches als Q u elle b e n u tzt w aren : l) An­
fangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie, und
Perspektiv. Abgefaßt von Abraham Gotthelf Kästner. G ö ttin gen 1758 u. öfier. 2 ) Anfangs­
gründe der angewandten Mathematik abgefaßt von Abraham Gotthelf Kästner. Der ma­
thematischen Anfangsgründe zweyter Theil. G ö ttin gen 1759 u. öfter. — In w elcher A u fla g e
H egel diese B än de f ü r die erw ähnten A u szü g e b en u tzte, m u ß oßenbleiben. Z eitlich ist es von
Interesse, daß eine Beschäftigung H egels m it K ästn ers Mathematik z w e im a l w äh ren d des Sch ul­
ja h rs 1 7 8 6 /8 7 doku m en tiert ist: A m 16. O k to b er 1786 notierte er ein ku rzes E x ze rp t aus den
Vorerinnerungen des ersten T eils, w obei ebenfalls die A u fla g e nicht bestim m bar ist (vgl. E x ­
ze rp t 11 u nd den zugehörigen editorischen B erich t); am 5. u n d 6. J a n u a r 178 7 las er lau t T a -

40 Im A n sch lu ß an 2 4 4 ,7 fo lg t bei R o sen k ra n z eine A u ssage über den S tellen w ert der P h y­
siognom ik im dam aligen Z eitgeist, die w ir weggelassen haben.
ED ITO RISCH ER BERICH T 309

gebuch (vgl. B an d 1. 40f) im ausgeliehenen z w e ite h T eil des W erkes, 2. A u ß a g e 1765, u n d


erörterte m it einem seiner L eh rer eine schw ierige Stelle daraus.41

Z u 244,12—13: D e r von H egel selbst in seinem Tagebuch erw äh n te A u szu g aus Lorenzens
Mathematik w ird bei R o sen k ra n z nich t angeführt. E s kan n nicht gesagt w erden, ob er in die
E xzerptsam m lu n g eingegangen w ar, die dem B iographen m it H egels N a ch laß vorlag. A llerdin gs
hat R o sen k ra n z die m athem atische A b teilu n g der Sam m lu n g nicht ausschließlich, sondern nur
vorzüglich a u f Kästner’s Schriften zu rü ckgefü h rt; er scheint also hier auch Stücke aus ande­
ren A u toren vor sich g eh abt z u haben. — D ie Q u elle f ü r H egels E x ze rp t w ar: Die Elemente
der Mathematik in sechs Büchern von Johann Friedrich Lorenz. Erster Theil die
Arithmetik, Geometrie und Analysis. L e ip zig 1785 . 2 6 5 —2 8 4 : Von der Berechnung kör­
perlicher Triangel, oder die sphärische Trigonometrie. H egel scheint dieses K a p ite l g a n z
abgeschrieben z u haben. D ie zitie rte T agebu ch n otiz vom 1. J a n u a r 1787 besagt, daß er an die­
sem T ag in dem abgeschriebenen T ex t stu diert hat. D ie A bsch rift selber scheint frü h er entstanden
z u sein; w enige Z eilen zu v o r h ält H egel im Tagebuch fest, daß er im Winterhalbjahr 86-87
sonntags meist in der sphärischen Trigonometrie arbeite.

Z u 244,14—15: R o sen k ra n z spricht von Blättern zur Physik im S in n e einer besonderen fa c h ­


lichen A b teilu n g von E xzerp ten , aus denen er aber nur eins n en nt: die Farbenlehre nach
Scheuchzer. Q u elle ist hier das B u ch : Physica, Oder Natur-WissenschafFt, Verfasset
Durch Joh. Jacob Scheuchzer ... Anjetzo bey dieser neuen Auflage durch und durch
vermehret und mit nöthigen KupfFeren versehen. T . 1. Z ü rich 1729. C ap. X II I handelt
Vom Licht / Schein / Farben / und anderen sichtbaren Begebenheiten, C a p . X I V dann
Von dem Liecht / und Farben nach Herren Newtons Meynung.

Z u 244,16: D a s E x zerp t aus C am pe’s Seelenlehre für Kinder ist w ie die übrigen, die
R o sen k ra n z anführt, als M s verloren; doch gehört der T ex t z u denen, die durch T h au low s E d i­
tion erhalten blieben: siehe E x ze rp t 8 in diesem B an d. — A n dieser S telle läßt sich die W eise
von R o sen k ra n z ' M itteilu n g überprüfen. D ie E rw äh n u n g der Psychologie fin d e t sich innerhalb
eines A bsch n itts, an dessen B eginn R o sen k ra n z noch ein m al ausdrücklich d a ra u f verw eist, daß
H egel mehrere Abtheilungen von E x zerp ten nach den besonderen Wissenschaften geordnet
hatte (vgl. 2 4 4 ,8 ). So w ird der E in dru ck erw eckt, der A u szu g aus Campe’s Seelenlehre sei in
einer Sam m elm appe von E x zerp ten sp eziell z u r Psychologie abgelegt gew esen . T h a u lo w dagegen
g ib t den T ex t m itsam t dem übergeschriebenen S tich w ort Seele im R a h m en der geschlossen abge­
druckten S am m lu n g w ieder, d ie er der Pädagogik zurechnet, u n d fü g t eigens eine R eflexion

41 Im A n sch lu ß an 244,10 fo lg t bei R o sen k ra n z ein eingeschobener H in w eis a u f Hegel’s


Schulhefte, den w ir unter die N achrichten über Verschollenes in B an d 1 aufgenom m en haben:
siehe dort 415,13-15.
310 ANHANG

darüber bei, daß Hegel in demselben Schubfutteral die Psychologie mit der Pädagogik
verbunden hat (vgl. den editorischen B ericht z u E x zerp t 8, oben 2 6 5 ). O b der schon f ü r
T h au low nicht m ehr lesbare T ite l des Futterals sich nur a u f die P ädagogik bezog oder ob er die
Psychologie ausdrücklich m it an zeig te, ist nicht m ehr auszum achen. D essen ungeachtet läßt sich
aus dem von T h a u lo w Ü berlieferten erkennen, daß eine besondere S am m elein h eit Psychologie
nicht vorhanden w ar. R o sen k ra n z h at dem nach im Falle dieses E x zerp ts nur eine inhaltliche
Z u ordn u n g ausgesprochen, nicht aber ein besonderes K o n vo lu t a b F undort bezeichnet. S ein e M it­
teilung steht insofern nicht in W iderspruch z u den durch T h a u lo w verm ittelten Inform ationen,
u n d sie bietet keinen A n la ß , a u f w eitere M an u skriptverlu ste aus dem T hem enkreis der Psycholo­
g ie z u schließen.

Z u 244,16—17: D ie A n gaben , die R o sen k ra n z für die M oral m acht, lassen nicht ohne w ei­
teres eine besondere A b teilu n g von E x zerp ten a u f diesem G eb iet annehm en. E s kan n sich ebenso
w ie bei der im gleichen S a tz angesprochenen Psychologie um einen inhaltlichen E in zelh in w eis
a u f A u toren handeln, die H egel exzerpierte. — Garve ist in der E ditio n T h au low s m it einem
ausführlichen T ex t vertreten (siehe E x ze rp t 15, oben 126). D iesen ordnet H egel jed och , sachlich
zutreffend, durch den L eitb eg riff in seiner Ü berschrift ausdrücklich der Psychologie z u . E in e
Iden tität des von R o sen k ra n z gem ein ten A u szu g s m it diesem T ex t ist daher auszuschließen.
W elch e der zeitlich u n d inhaltlich in Frage kom m enden A bh an d lu n gen von G a rve H egel außer­
dem noch exzerpiert hat, m uß g a n z offenbleiben. D ie K o m b in a tio n der N a m en von Garve
und Ferguson kön nte auch Zusam m enhängen m it einer f ü r R o sen k ra n z erkennbaren B en u t­
zu n g des B uches: Adam Ferguson’s Grundsätze der Moral-Philosophie. Aus dem Engli­
schen von Christian Garve. L e ip zig 1772. — D ie offene F orm ulierung des R osenkranzschen
B erichts an dieser S telle erlaubt es, den V erlust w eiterer E x zerp te in B etracht z u zieh en .

Z u 244,17—19: M it den u nter Pädagogik angeführten E x zerp ten z u m Ideal des H of-
m eisterth u m ’s sin d zw eifello s diejenigen aus Feders B uch Neuer Emil gem ein t, m it dem
A u szu g aus Schlözer’s Staatsanzeigen der von H egel dort abgeschriebene Plan der Normal-
Schulen in Russland. B eides ist in T h au low s E d itio n enth alten: siehe die E x zerp te 2 und 1 im
vorliegenden B an d. A u ch hier sin d a b o nur die M an u skripte H eg eb , nicht die E x zerp ttex te ver­
loren. — W ied er läßt R o se n k ra n zf unspezifische F orm ulierung es offen, ob Pädagogik a b ein
von ihm selbst gew äh lter O rien tieru n gsbegriff oder a b Vorgefundener T itel eines Schiebfutterals z u
verstehen ist.*2

Z u 244,19—21: D ie E rw äh n u n g der von H egel notierten Bestimmungen, was gerecht, was


tugendhaft sei, scheint sich noch an den im vorhergehenden S a tz gen an n ten O rdnun gsbegriff

42 Insofern kön nte der R osen kran zsch e T ex t T h a u lo w darin bestärkt haben, f ü r das verw ischte
E tik ett des ihm vorliegenden F u tterab den T itel Zur Pädagogik z u rekonstruieren.
ED ITO RISCH ER BERICH T 311

Pädagogik anzuschließen. In der von T h a u lo w veröffentlichten G ru p p e von E xzerp ten fin d e t


sich nichts dergleichen. O d er sollte R o sen k ra n z den H in w eis noch m it R ü cksich t a u f die zu v o r
them atisierte Moral hierher g e setzt haben? N ic h t erkennbar ist, ob R o sen k ra n z eine größere A n ­
z a h l k u rzer E in zelex zerp te oder eine Z u sam m en stellu n g von Z ita te n aus verschiedenen antiken
A u toren z u r D efin ition der beiden fraglichen Begriffe vor sich hatte. E s erhebt sich auch die
Frage, in w elchem V erhältnis die hier angezeigten Bestimmungen sich z u dem von H egel an­
gelegten H eft m it Definitionen verhielten, über das R o sen k ra n z im gleichen K a p ite l der B iogra­
p h ie berichtet (vgl. den editorischen B ericht, oben 2 8 2 ).

Z u 2 4 4 ,2 2 —25: D ie beiden hier von uns zusam m en gerückten H in w eise a u f einen Auszug aus
M einers fin d en sich bei R o sen k ra n z in unterschiedlichem K o n tex t: der erste im R a h m en der
Übersicht über H egels E x zerp te aus der G ym n a sia lzeit, der w ir hier folgen , der z w e ite innerhalb
von A usführungen über historische S tu dien , die H egel in seiner S ch w eizer P eriode betrieb. A b e r
auch an dieser zw e ite n S telle bezieh t sich R osen kran z, nochm als zurü ckblicken d, a u f H egels
S ch u lze it 43; es scheint sich, tro tz der V ariante in der W iedergabe des B uchtitels, beidem ale um
dasselbe E x zerp t z u handeln. — In H egels B iblioth ek w ar, nach dem A u ktion skata log (N r 164),
folgen de A u sgabe des zu erst 1785 erschienenen W erkes en th alten : Grundriß der Geschichte
der Menschheit, von C[hristoph] Meiners. F rankfurt u n d L e ip z ig 1786. — D e r L eitbegriff
Philosophische Geschichte, a u f den R o sen k ra n z im ersten H in w eis B ezu g n im m t, fin d e t sich
in der von T h a u lo w überlieferten E xzerp tsa m m lu n g zw e im a l: vgl. die E x zerp te 2 2 u n d 25
(oben 175 u n d 180). B eide M a le handelt es sich aber um einen A u szu g aus einer A bh an d lu n g
von E berhard. D a s gen an n te B uch von M einers kom m t nicht vor.

Z u 2 4 4 ,2 6 —27: D a ß f ü r die T heologie in H egels M aterialsam m lu n g eine spezielle A b te i­


lung vorlag, ist nicht nur w egen der B esonderheit dieser D is z ip lin z u verm u ten; der H in w eis
darauf, daß H egel als Q u ellen fast immer die kritischen Zeitschriften heranzog, läßt auch
a u f eine größere Z a h l von einschlägigen E x zerp ten schließen. D och bleibt der B ericht von R o ­
sen kran z auch hier im g a n ze n ziem lich vage. — In dem von T h a u lo w edierten T extbestand
taucht das S tich w ort Natürliche Theologie ein m al a u f (siehe E x ze rp t 16, oben 163); auch dort
liegt eine R ezen sio n aus einer Z eitschrift zu gru n de.

Z u 2 45 ,1—5: D ie A b teilu n g Philosophie w ird im B ericht von den anderen T eib a m m lu n -


gen durch den H in w eis unterschieden, daß ihre E x zerp te sich auf ganze Bücher erstreckten.
R o sen k ra n z nen nt — das von ihm Vorgefundene verm utlich erschöpfend — Locke’s, H um e’s
und K ant’s Werke. S p ezifiziert w ird diese A n g a b e nur im F alle K a n ts (siehe die folgen de E r-

43 R o sen k ra n z ein leiten d : Schon auf dem Gymnasium gab er sich eifrig mit Geschichte
ab. D a n n folgen , a b B eleg hierfür, G edan ken aus H eg eb Tagebuch und der H in w eis a u f das
E x zerp t aus Meiners Culturgeschichte. Vgl. Hegel’s Leben. 59f.
312 ANHANG

läuterung). V on Joh n L ocke ist in H egels persönlicher B iblioth ek später nachgew iesen (K atalog,
N r 1 5 9 /160): An Essay conceming Human Understanding. 8ch edition. V ol. 1.2. L ondon
1721. M öglicherw eise besaß H egel diese A u sgabe schon als S tu den t. Z u sä tzlich e A n h a ltsp u n k te
im H in b lick a u f seine L ek tü re philosophischer Schriften von D a v id H u m e feh len g a n z. D a ß
H egel sich m it H u m e als Geschichtschreiber beschäftigt hat} belegt ein T extstü ck im R a h m en
der Fragmente historischer Studien, die R o sen k ra n z in dem Urkunden- A n h a n g z u r B iogra­
p h ie m itgeteilt h at.44 M a n m öchte annehm en, daß etw aige E x zerp te aus H u m es Geschichte
von England (deutsch 176 7— 71) hier, w o R o sen k ra n z im engeren S in n e von einer A b teilu n g
Philosophie spricht, nicht g em ein t sin d. A llerdin gs können w ir der E x a k th e it des B erichts nicht
sicher sein. E s ist auch denkbar, daß R o sen k ra n z die N a m en der drei Philosophen aneinander­
gereih t hat, ohne die B esonderheit der exzerpierten Schriften z u berücksichtigen. So bleibt es u n ­
bestim m t, ob H egel neben der nachgew iesenen L ektü re des G eschichtsw erks von H u m e noch an ­
dere Schriften dieses A u to rs weitläufig excerpirt hat. — R o sen k ra n z verlegt die E ntstehung der
offenbar undatierten philosophischen E x zerp te in H egels T übinger Z e it. E r scheint sich dabei nur
z u stü tzen a u f ein dem A u szu g aus K a n t z u entnehm endes D a tu m .

Z u 2 4 5 ,5 —11: D ie M itteilu n g en über K a n t- E x z e r p te H egels, die R o sen k ra n z in z w e i aus­


einanderliegenden A bsch n itten der B iographie m acht, ergänzen sich gegenseitig. D em n ach hat
H egel 1789 einen Auszug ... aus der Kritik der reinen Vernunft hergestellt, in den B erner
Jah ren einen Auszug ... mit einigen Bemerkungen aus der Kritik der praktischen Ver­
nunft. R o sen k ra n z’ F orm ulierung erlaubt es, das V orhandensein eigener B em erkungen H egels
auch f ü r das E x ze rp t aus der Kritik der reinen Vernunft an zu n eh m en . — D ie in B a n d 1 u n ­
serer A u sgabe edierten T exte enthalten B elege dafür, daß H egel die z w e i t e A u fla g e der Critik
der reinen Vernunft (R ig a 1787) b e n u tzt hat.45 D o rt tritt aber auch hervor, w elche B edeu tung
die Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft von Joh an n
S ch u lze (zu erst K önigsberg 1784) f ü r H egels K a n ta n eig n u n g geh abt haben.46

Z u 245 ,12—14: Stellen aus Meister E ckart und T auler, die sich im S in n e dieser M itte i­
lung als Q u elle f ü r Excerpte H egels bezeichnen ließen, kon nten in einschlägigen L itera tu rzei­
tungen nicht erm ittelt w erden. N ic h t ausgeschlossen ist, daß R o sen k ra n z sich hier a u f die M y sti­
k er-S ä tze bezieh t, die H egel aus Mosheim abgeschrieben h at (vgl. oben E x ze rp t 3 7 ). A u f dem
gleichen D o p p elb la tt w ie dieser A u szu g fin d e t sich E x ze rp t 3 9 , das m it der A n g a b e beginnt: Lit.

44 Hegel’s Leben. 5 2 9 f; vgl. auch die E d itio n


der Fragmente in B a n d 2 dieser A usgabe.
45 Vgl. vor allem T ex t 2 7 : B a n d 1. 186—195 m it A n m erku n g en .
46 A n dieser S telle sollte erw äh n t w erden, daß R o sen k ra n z über das bisher A n gefü h rte hinaus
noch von N iederschriften berichtet, die H egel sich 1798 beim S tu d iu m von K a n ts Rechtslehre
u n d Tugendlehre gem ach t habe (vgl. Hegel’s Leben. 87). E r spricht jed och in diesem Z u sa m ­
m enhang nicht nur von einem Auszug, sondern ausdrücklich von Commentaren. D a ru m sin d
diese M itteilu n g en nicht hier, sondern bei den N ach rich ten über verschollene T exte in B a n d 2
z u berücksichtigen.
ED ITO RISCH ER BERICH T 313

Zeitung n. 59 - 1796 (siehe 2 19 ,2); dies kön n te R o sen k ra n z einen A n h a ltsp u n k t geboten ha­
ben f ü r seine B em erkung über die H erk u n ft je n e r Stellen aus Literaturzeitungen u n d f ü r die
chronologische B estim m ung: am Ausgang der Schweizerperiode. Z u berücksichtigen ist, daß
die g a n ze M itteilu n g sich nicht im R a h m en von E xzerptbeschreibungen fin d e t, sondern als bei­
läufiger H in w eis bei Überlegungen z u r E n tw ick lu n g von H egels T rin itätsspekulation (vgl. He­
geln Leben. 102).

Z u 245,15—17: D a die M itteilu n g über Excerpte aus Englischen Zeitungen nicht durch
bibliographisch-chronologische A n gaben kon kretisiert oder eingegrenzt ist, konnten Z eitungsbe­
richte, die als Q u elle f ü r H egels N o tize n in Frage käm en, bisher nicht aufgefunden w erden.
D a ß die N iederschrift dieser Excerpte in H egels F rankfurter Z e it fä llt, ist der D arstellu n g von
R o sen k ra n z nur indirekt z u entnehm en. In dem K a p ite l Politische Studien (85jf) sagt R osen ­
k ra n z zu erst, daß H egel m it dem Ü bergang nach F rankfurt a. M . in eine Stadt der mercanti-
len Geldaristokratie kam . D a n n h eiß t es: Für die Verhältnisse des Erwerbs und Besitzes
fesselte ihn besonders England, u n d der B iograph stellt über die G rü n de f ü r dieses Interesse
V erm utungen an. D em fo lg t u n m ittelbar die hier zitie rte M itteilu n g über die Z eitu n gsexzerpte.
E s ist möglich, daß sie an dieser S telle rein inhaltlich m otiviert, also nicht durch ein Vorgefunde­
nes D a tu m der Jah re 1797—1800 veran laßt w ar. Solange aber f ü r diese verlorenen Excerpte
keine abw eichende E n tsteh u n gszeit nachgewiesen w ird, müssen sie als den Frankfurter Jahren
zugehörig betrachtet w erden.
314 ANHANG

PERSONENVERZEICHNIS

Das Register bezieht sich auf historische Personen. Differierende Namensformen und -Schrei­
bungen, besonders bei antiken Namen, sowie ggf. Zusätze, die der Orientierung dienen, sind
den Namen in Klammern hinzugefügt. Es werden folgende Abkürzungen gebraucht: Ev. =
Evangelist; Hl. = Heiliger; Kg. = König; Ks. = Kaiser.
Die Nachweise beschränken sich auf den Textteil. Eingeklammerte Seitenzahlen zeigen an,
daß dort der Name nicht in Hegels Exzerpt, sondern nur im Quellentext (unter der Querlinie)
vorkommt.
Aepinus, Franz Ulrich Th. 5 Cicero, Marcus Tullius 40, (64), (65),
Alembert, Jean le Rond d’ 237 (71), (72), 75, 98, 119, 205, 244
Alexander d. Gr. (71) Clericus (le Clerc), Johannes 64
Antonin (Antoninus Pius) (60) Crito (Kriton) 74
Antonius d. Gr. (Hl.) 111 Curtius (Q. Curtius Rufus) (67)
Aristoteles (115), 119, 244
Ascensius sieheBadius Demokrit (113), 114
Asconius Pedianus, Q. 64 Demosthenes 243
Augustinus, Aurelius 111 Descartes, Rene (115)
Donatus, Aelius 64
Badius gen. Ascensius, Jodocus 65 Drakenborch, Arnold 73
Beroaldo, Filippo 65 Dusch, Johann Jakob 243
Bodin,Jean 119
Böhmer, Justus Henning 125 Eberhard, Johann August 175,243
Bolten, Johann Adrian (213) Eckhart (Eckart), gen. Meister E. 245
Breitkopf, Johann Gottlieb Immanuel 76 Engel, Johann Jakob 243
Brunck, Richard Fr. Philipp 243 Epiktet (60)
Brutus, Marcus Iunius (75) Eudoxos (113)
Büsching, Anton Friedrich 50 Euripides 67
Eustathios von Thessalonike 64
Caesar, Gaius Iulius (65)
Calderinus (Calderino), Domitius 65 Feder, Johann Georg Heinrich 6, 7, 14,
Campe, Joachim Heinrich 100, 244 168
Cassianus, Johannes 110 Ferguson, Adam 244
Catilina, Lucius Sergius (71) Förster, Georg 217
Cato d.J., Marcus Porcius 75 Friedrich II. d. Gr. (Kg.) 119,124
Cebes (Kebes) (204)
Cerda, Johann Ludwig de la 65 Garve, Christian 126, 244
PERSO N EN V ERZEICH N IS 315

Gesner, Johann Matthias 64 Macrobius, Ambrosius Theodosius 64


Gondebaud II. (Gundebald) (Kg.) 228 Mancinelli, Ant. 65
Gottsched, Johann Christoph 243 Maria (Mutter Jesu) (216)
Gronovius, Johann Friedrich 73 Martialis, Marcus Valerius 65
Matthäus (Ev.) 213, 214
Heinrich VI. (Ks.) (123) Maximilian I. (Ks.) (229)
Heinrich IV. (Kg. v. Frankreich) 119 Mazarin, Jules (68)
Helvetius, Claude Adrien (15) Meiners, Christoph 244
Heyne, Christian Gottlob 243 Mendelssohn, Moses 169, (177), 198,
Hieronymus (Hl.) 109, 110 204
Hißmann, Michael 108 Milo, Titus Annius (71)
Homer 67, 175,176, 239 Milton, John 131
Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 39, Montesquieu 119
40, (42), (68), 243 Morhof, Daniel Georg (68)
Huarte, Johann 157 Mosheim, Johann Lorenz 215
Hume, David 245
Nepos, Cornelius (42)
Jacobi, Friedrich Heinrich 192 Newton, Isaac (135)
Jesus Christus 76, 77, 78, 79, 87, 212, Nicolai, Christoph Friedrich 177, 179,
(213), 214, 215, 216 244
Johannes (Bischof von Straßburg) (216)
Johannes (d. Täufer) 212 Oromazes (Oromasdes) (175)
Johannes (Ev.) 212, (213) Ovid (Publius Ovidius Naso) (67)

Kästner, Abraham Gotthelf 112, 163, Pachomius (Hl.) 110


164, 165, 166, 244 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (212)
Kant, Immanuel 189, 190, 191, 195, 197, Perizonius, Jac. (183)
198, 199, (200), (219), 245 Perotti, Niccolo 65
Karl V. (Ks.) 123, 230 Petrus (Apostel) (212)
Kistemaker, Johann H. 182, (183) Phäder (Phaedrus) (42)
Klopstock, Friedrich Gottlieb 243 Phädon (Phaidon) 204
Phidias (Pheidias) 218
Leibniz, Gottfried Wilhelm 108, (115), Pierre Comte de Savoye (229)
117,119, 194, 198 Platon (60), 74, (113), 119, (142), 175,
Lessing, Gotthold Ephraim 243 176, 211, (212), 244
Livius, Titus (64), (68), (72), 73 Plautus, Titus Maccius (67)
Locke, John 117, 245 Plinius d. J. (42), 65
Löffler, Josias Friedrich Christian (212) Polyänos (Polyainos) 243
Lorenz, Johann Friedrich 244 Po mponius, Julius (65)
Lukas (Ev.) 213, 214 Pythagoras 113, 114

Machiavelli, Niccolo (68) Ramler, Karl Wilhelm 243


316 ANHANG

Rehberg, August Wilhelm 191, 192, 195, Tacitus, Cornelius 244


199 Tauler, Johannes 245
Roscius, Sextus (71) Tennemann, Wilhelm Gottlieb 211, (212)
Rousseau, Jean Jacques 237, 244 Terendus, Cornelius (65), (66), 67, (71)
Thaies 114
Saint-Pierre, Charles Irenee Castel de Themistokles (66)
119 Tschimhaus, Ehrenfried Walther Graf
Sallust (Gaius Sallusdus Crispus) (71) von 115
Salmasius, Claudius 65
Scheuchzer, Johann Jakob 244 Ulrich, Johann August Heinrich 184, 189
Schlözer, August Ludwig (von) 3, 244
Schorus (Schor), Ant. (68) Virgil (Publius Virgilius Maro) (42), 65,
Schmid, Carl Chr. Erhard (209) (67), 243
Schröckh, Johann Matthias 203
Scioppius (Schoppe), Caspar (68) Wieland, Christoph Martin 243
Seigneux, Frangois 228 Wolf (Wolff), Christian (115), (116), 117,
Senckenberg, Heinrich Christian von 124 (118), 119, 194
Servius 64 Wünsch, Christian Emst 76,244
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl
of 117 Xenophon 119, (159), 175,176, (211)
Sokrates (60), 74,119, 175, (204), 211
Solinus 65 Zimmermann, Johann Georg 99, 108,
Spinoza, Benedictus de 192, 193, 194, 109, 244
198, 200 Zöllner, Johann Friedrich 181
Sturmius (Sturm), Johann (68) Zoroaster (Zarathustra) (175), (212)
Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) (67)
Sulzer, Johann Georg 115,121

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