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Sylke Nissen · Georg Vobruba (Hrsg.

Die Ökonomie der Gesellschaft


Sylke Nissen
Georg Vobruba (Hrsg.)

Die Ökonomie
der Gesellschaft
Festschrift für
Heiner Ganßmann
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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1. Auflage 2009

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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Frank Engelhardt

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Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15783-2
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 5

Inhalt

Das Problem der materiellen Existenzsicherung ................................................ 7


Sylke Nissen, Georg Vobruba

I. Geld, Markt, Politik

Koordination und Verteilung.


Zwei Ansätze der Wirtschaftssoziologie .......................................................... 17
Jens Beckert

Konventionen und Arbeit.


Beiträge der „Économie des conventions“ zur Theorie der Arbeits-
organisation und des Arbeitsmarktes ............................................................... 35
Rainer Diaz-Bone

Geld und kapitalistische Dynamik ................................................................... 57


Christoph Deutschmann

II. Politische Ökonomie der Ungleichheit

Umverteilungsbarrieren.
Technische Probleme ökonomischer Gleichheit .............................................. 75
Adam Przeworski

Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? ................ 95


Martin Kohli, Harald Künemund
6 Inhalt

Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit?


Das Gleichheitsskript der Europäischen Union und die Einstellungen
der Bürger ...................................................................................................... 109
Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen ..................... 133


Kurt Hübner

III. Transnationalisierungsprozesse

Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates .................. 149


Peter Bleses

Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Gebremste Europäisierung des Arbeitsmarkts ............................................... 173
Sylke Nissen

Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie .................................... 205


Elmar Altvater

Globalisierung und ihre Interpretationen.


Soziologie der Transnationalisierung als Beobachtung zweiter Ordnung ...... 225
Georg Vobruba

Autorinnen und Autoren ................................................................................. 241


Das Problem der materiellen Existenzsicherung 7

Das Problem der materiellen Existenzsicherung


Sylke Nissen und Georg Vobruba

Das Forschungsprogramm
Trivial ist die Einsicht, dass die Ökonomie in der Gesellschaft stattfindet. Wo
sonst? Noch mit einigermaßen breiter Zustimmung kann die These rechnen, dass
es sich bei der Wissenschaft von der Ökonomie um eine Sozialwissenschaft
handelt. Selten hingegen werden die Konsequenzen ernsthaft verfolgt, die sich
daraus ergeben.
Heiner Ganßmann hat in seinem bisherigen Werk ein Forschungsprogramm
realisiert, welches die Stärken der Soziologie in dem zentralen gesellschaftlichen
Problemfeld der materiellen Existenzsicherung nützt und weiter entwickelt.
Wenn wir von dem Problemfeld der materiellen Existenzsicherung sprechen, um
den Fokus der Arbeiten von Heiner Ganßmann zu bezeichnen, verwenden wir
diesen Terminus in einem weiten Sinn: Er umfasst einerseits alle Interessen und
Anstrengungen, welche die Akteure darauf richten, materielle Knappheit mit
Blick auf ihre je aktuelle Lage und in der Zukunftsperspektive zu bewältigen.
Andererseits schließt der Begriff die systemische Eigenlogik der Ökonomie ein,
auf welche sich die Akteure dabei einstellen müssen und auf die sie in ihrem
Handeln Einfluss nehmen. Im Problemfeld der materiellen Existenzsicherung
geht es um Fragen des effizienten Einsatzes ökonomischer Ressourcen, Proble-
me des Arbeitseinsatzes und der Arbeitsteilung, des Tausches und der Wertauf-
bewahrung, insbesondere zum Zweck der materiellen Zukunftsabsicherung. Und
zwar geht es um diese Fragen in einem doppelten Sinn: Sie sind relevant sowohl
als praktische Fragen, denen sich die im Problemfeld relevanten Akteure zu
stellen haben, als auch als sozialwissenschaftliche Fragen, denen man sich wid-
men muss, wenn man dieses Problemfeld verstehen will. Das Problemfeld der
materiellen Existenzsicherung, dem sich Heiner Ganßmann in seiner Forschung
widmet, hat darum einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaft und einen
prominenten Platz in der soziologischen Gesellschaftstheorie.
Konstitutiv für die Realisierbarkeit dieses anspruchsvollen Programms ist
die Fundierung des Denkens von Heiner Ganßmann bei Karl Marx und Max
Weber (vgl. Bader et al. 1976; Ganßmann 1994). Seine Weber-Ausstattung hat
8 Sylke Nissen, Georg Vobruba

Ganßmann stets davor bewahrt, Marx’ Angebote zu einem ontologischen Öko-


nomieverständnis und einer teleologischen Geschichtsauffassung anzunehmen.
Seine Ausgangspunkte bei Marx wiederum haben verhindert, die Gesellschafts-
analyse in Handeln aufzulösen und den Systemcharakter der kapitalistischen
Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Es ist, wenn wir recht sehen, diese
doppelte Fundierung, welche es Ganßmann ermöglicht, sich stets in naher Dis-
tanz zur Ökonomie zu halten: Der Ökonomie als Untersuchungsobjekt galt schon
immer sein zentrales Interesse; die Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin hat
er kontinuierlich rezipiert und verarbeitet, ohne sie jedoch soziologisch nachzu-
äffen.
Damit ist zugleich gesagt, dass Heiner Ganßmanns soziologischer Blick auf
die Ökonomie beides erfasst: die ökonomischen Prozesse und deren fachökono-
mische Interpretationen. In seinen Analysen kommt immer wieder zum Aus-
druck, dass die Ökonomie gesellschaftlich konstruiert ist, und die Deutungen der
Ökonomie als gesellschaftliche – und gesellschaftlich wirksame – Sachverhalte
aufzufassen sind. Es ist ja tatsächlich bemerkenswert, dass eine Wissenschaft
und ihr Gegenstand mit demselben Begriff bezeichnet werden. Im Sinne dieser
doppelten Bedeutung von „Ökonomie“ repräsentiert Ganßmann wie kaum sonst
jemand die Wissenschaft von der „Ökonomie der Gesellschaft“.

Geld, soziale Sicherheit, Arbeit


Um die kapitalistische Ökonomie zum Gegenstand der Sozialwissenschaften
machen zu können, muss die Ökonomie als eigenlogisch operierendes System
aufgefasst und nach ökonomisch relevant handelnden Akteuren, samt ihren
Interessen und kulturellen Ausstattungen, gefragt werden. Mit diesem Ansatz
gelingt es Ganßmann einerseits, mit soziologischen Mitteln Kernthemen und
-probleme der Ökonomie zu reformulieren, und andererseits, relevante Anschlüs-
se anderer gesellschaftlicher Bereiche an die Ökonomie zum Thema zu machen.
Ersteres betrifft vor allem sein soziologisches Theoretisieren von Geld in
der kapitalistischen Ökonomie, letzteres die Analysen der Zusammenhänge von
Ökonomie und sozialer Sicherheit.
Sein dritter theoretischer und empirischer Forschungsschwerpunkt ist Ar-
beit. Arbeit ist die zentrale Verbindung, über welche die Zusammenhänge zwi-
schen der kapitalistischen Ökonomie und ihrer gesellschaftlichen Umwelt laufen.
„Since Marx held the buing and selling of labour power to be the operation constitutive of the
capitalist system and since labour power is inseperable from the agents performing labour, the
concept marks the personality-economy interface.“(Ganßmann 1994: 89)
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 9

Aus dieser sparsamen kategorialen Grundausstattung ergeben sich ein Theorie-


design und ein Forschungsprogramm, mit dem sich reicher soziologischer Ertrag
generieren lässt.

Die Konstruktion des Geldes


Am Thema Geld hat Ganßmann sein Gesellschafts- und Wissenschaftsverständ-
nis wohl am differenziertesten ausgearbeitet. Die Entwicklung einer soziologi-
schen Theorie des Geldes dient ihm im Kern dazu, die falsche Arbeitsteilung
zwischen Ökonomie und Soziologie – „Oppenheimers Fluch“ (Ganßmann 1996:
21ff.) – zu überwinden. Oppenheimer hatte der Ökonomie die Zuständigkeit für
„Mensch-Ding-Beziehungen“, der Soziologie die Zuständigkeit für „Mensch-
Mensch-Beziehungen“ zugewiesen. Ganßmann, der sich ausdrücklich in die
Tradition von Franz Oppenheimer, Karl Mannheim und Adolf Lowe stellt, un-
ternimmt dagegen den groß angelegten Versuch einer „Neubestimmung des
Verhältnisses von Ökonomie und Soziologie“ (Ganßmann 1996: 28). Er zieht die
Grenze zwischen Ökonomie und Soziologie nicht auf der Basis des Inhalts der
Relationen (Mensch oder Ding), sondern nach dem Kriterium des Modus der
Relationen (Geld oder Nicht-Geld). Damit ist eine Absage an alle Versionen
eines rein passiven Geldverständnisses, sei es als bloßer „Schleier“, sei es als
neutrales „Kommunikationsmedium“, verbunden (vgl. Ganßmann 1988). Geld
wirkt: Es konstituiert das ökonomische System, und es schafft Herrschaftsver-
hältnisse. Ganßmann analysiert das ökonomisch zentrale Thema Geld also sozio-
logisch. Wenn er sich auch vom „soziologischen Imperialismus“ Franz Oppen-
heimers absetzt, demonstriert Ganßmann damit doch eine die Ökonomie umfas-
sende Zuständigkeit der Soziologie beziehungsweise das Bemühen um die Inte-
gration von Soziologie und Ökonomie in einem umfassenderen Verständnis von
Sozialwissenschaft (vgl. Ganßmann 1996: 28; Ganßmann 1994).
Sein Ausgangspunkt ist, „Geld als soziale Konstruktion eigener Art zu ver-
stehen.“ (Ganßmann 1996: 127) Das Phänomen wird damit keineswegs in die
Beliebigkeit individueller Gestaltung entlassen. Die Konstruktion Geld entsteht
unter harten Vorgaben, und sie schafft – erst recht – harte Vorgaben für das
Handeln. Platz für die Einsicht in diesen harten Realitätscharakter des Geldes
entsteht eben durch die Abgrenzung von Medientheorien des Geldes, welche der
neoklassischen Neutralitätsthese des Geldes verwandt sind. Sie sind einer sozio-
logischen Gesellschaftstheorie unangemessen, denn in diesen Ansätzen
„wird Geld nicht (oder allenfalls in Andeutungen) als potentielles (oder tatsächliches) Geldka-
pital verstanden, so dass Fragen, die das Geld als Herrschaftsmittel betreffen, deplaziert er-
scheinen.“ (Ganßmann 1996: 129).
10 Sylke Nissen, Georg Vobruba

Die soziologische Geldtheorie wird in klassischen soziologischen Grundbe-


griffen: Vertrauen und Erwartungen verankert.
„Von einer Krise des Geldes kann man dann sprechen, wenn die Akzeptanz des ‚Mediums‘
nicht mehr gewährleistet ist, weil das Vertrauen, mit dem angenommenen Geld wiederum auf
Akzeptanz bei unbekannten Dritten zu treffen, nicht mehr besteht.“ (Ganßmann 1996: 157)

Diese Betrachtung der Funktionsbedingungen des Geldes unter den Auspizien


der Ausnahmesituation zeigt: Alle interaktionstheoretischen Erklärungen der
Entstehung und Funktionsweise von Geld greifen zu kurz. Geld hat systemische
Funktionsbedingungen. Die Akteure in der Gesellschaft sind vom Funktionieren
des Geldsystems abhängig, da das Geld den Zugang zu den lebensnotwendigen
Subsistenzmitteln gewährt. Der Zugang zu Geld erfolgt dabei für die ganz über-
wiegende Mehrheit, direkt oder indirekt, über den Verkauf der eigenen Arbeits-
kraft (vgl. Ganßmann 1996: 273f.). So wird es möglich, die Systemeigenschaften
des Geldes wieder auf Akteure und ihre „lebensweltlichen Probleme“ zu bezie-
hen: Wie und zu welchen Bedingungen findet man für die eigene Arbeitskraft
Nachfrage? Wie sichert man Zugriffsrechte auf gesellschaftlichen Wohlstand ab?
Insbesondere: Wie gelangt man in Kreditrelationen, aus denen sich zuverlässige
zukünftige Zugriffsrechte auf materielle Güter ergeben? Das aber bedeutet: Wie
ist Vertrauen in Geld als Ausweis zukünftiger Zahlungsfähigkeiten möglich?
Und welche institutionellen Möglichkeiten bestehen, dieses Vertrauen möglichst
nachhaltig abzusichern?
Damit berührt das Geld-Thema den zweiten großen Forschungsschwerpunkt
von Heiner Ganßmann: die Entwicklung und Krise des Sozialstaats im ökonomi-
schen Kontext.

Das Verhältnis von Ökonomie und Sozialstaat


In Kontrast zu der langen sozialpolitischen Diskurstradition, die auf Defizitdia-
gnosen und normative sozialstaatliche Reformpostulate spezialisiert ist, hat sich
Ganßmann stets auf die konflikttheoretische Analyse der Entwicklungsbedin-
gungen des Sozialstaats im Rahmen des Kräftedreiecks von Lohninteressen,
Kapitalinteressen und Sozialstaatsinteressen konzentriert (vgl. Ganßmann,
Weggler 1991).
Die sich in Konfliktkonstellationen fortschreibende – und damit: handlungs-
theoretisch analysierbare – Entwicklung des Sozialstaats wird ins Verhältnis ge-
setzt zu Problemen der systemischen Kompatibilität zwischen Ökonomie und
sozialer Sicherheit. Dabei geht es einerseits um Funktionalität und Disfunktiona-
lität des Sozialstaats für die Ökonomie (vgl. Ganßmann 1997) und andererseits
um Probleme im Kontext der Wiedervereinigung 1989ff (vgl. Ganßmann 1992).
Auch in diesem Themenfeld wird das Spannungsverhältnis von Systemanalysen
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 11

und handlungstheoretischen Erklärungen konsequent durchgehalten. Darum kann


Ganßmann auch hier die Makroanalysen handlungstheoretisch unterfüttern und
damit alle Spielarten von Determinismus vermeiden, ohne die Systemhaftigkeit
des Gegenstands aus den Augen zu verlieren.
„Akteure folgen in ihren Handlungen ihren je eigenen Intentionen. Sie sind dabei den durch
funktionale Differenzierung aufgebauten Handlungsbeschränkungen ausgesetzt, die das Han-
deln systemkompatibel halten sollen, aber es nicht determinieren.“ (Ganßmann 2000a: 15)

Dabei nimmt er die Akteursdeutungen sozialer Sachverhalte als integrierte Be-


standteile dieser Sachverhalte selbst: Konsequent an Weber anschließend befasst
er sich mit sozialen Sachverhalten als in der Praxis immer schon sinnhaft gedeu-
teten Tatsachen. Mit diesem Blick auf Wissensbestände als wesentliche Bestand-
teile des soziologischen Untersuchungsobjekts, gelingt Ganßmann eine wissens-
soziologische Positionierung, die er selbst zwar nie expliziert hat, die ihn jedoch
deutlich vom objektivistisch verfahrenden Mainstream der Politischen Ökonomie
und der Politischen Soziologie abhebt. Der wissenssoziologische Blick ermög-
licht souveräne Einschätzungen, konkrete Analysen – und Beobachtungen komi-
scher Details.
Souverän ist seine Einschätzung der Wirkung des Werkes von Marx ange-
sichts des gegenwärtigen Standes der gesellschaftlichen Entwicklung, mit stabi-
ler Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie, entwickelten Wohlfahrtsstaa-
ten, Expansion der Dienstleistungsökonomie etc.:
„At the risk of contradicting one of its central tenets – that social being determines social con-
sciousness – it makes sense to say that Marx’s theory, while not predicting most of these
changes, has itself contributed to them.“ (Ganßmann 1994: 86)

Konkrete Analysen liegen zu den Folgen der (Fehl-)Perzeptionen diverser politi-


scher Steuerungsprobleme durch die relevanten politischen Akteure vor; etwa
zur Wiedervereinigung (vgl. Ganßmann 1993), zur hohen Dauerarbeitslosigkeit
in der Bundesrepublik (vgl. Ganßmann 2004) und zu alternativen Organisations-
und Finanzierungsformen der Alterssicherung (vgl. Ganßmann 2000a: 132ff.).
Schließlich ermöglicht der wissenssoziologische Blick, das Komikpotential
mancher Akteursdeutungen zu erschließen. Dazu das Zitat:
„Am Ende klebt es an einem wie mir, meiner Regierung, wenn es keine operative Innovations-
einheit für Finanzdienstleistungen im Bereich der Aktienstruktur in Deutschland mehr gäbe.“
(Roland Koch, zit. nach Ganßmann 2006: 92)

Und der Kommentar des aus Darmstadt stammenden Ganßmann:


„Wenn ein Hesse im zweiten Halbsatz vom Indikativ in den Konjunktiv wechselt, muss eine
tiefe Verunsicherung vorliegen.“ (Ebd.)
12 Sylke Nissen, Georg Vobruba

Mit „operative Innovationseinheit für Finanzdienstleistungen im Bereich der


Aktienstruktur“ meinte der hessische Ministerpräsident die Frankfurter Börse,
die im Jahr 2006 übernahmegefährdet war.

Der Einsatz der Arbeit


Arbeit fungiert als zentraler Begriff, um die umfassende Ausdehnung der Opera-
tionsweise des Geldes darzustellen. Sowohl für die Praxis der Existenzsicherung
im Kapitalismus als auch für die Theorieanlage ist entscheidend,
„dass Arbeit in der modernen Wirtschaft von anderen Tätigkeiten durch den Bezug aufs Geld
unterscheidbar wird. Als Arbeit gilt nun jede Tätigkeit, für die man von anderen freiwillig be-
zahlt wird.“ (Ganßmann 1996: 274)

Noch einmal, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ganßmann macht


damit keinen Vorschlag zu einer soziologischen Definition, sondern beschreibt
den Mechanismus des Anschlusses der Akteure an die kapitalistische Ökonomie.
Arbeit interessiert Ganßmann jedoch nicht nur als gesellschaftstheoretischer
Schlüsselbegriff, sondern auch mit Blick auf den konkreten Arbeitseinsatz. Hier
geht es vor allem um Zusammenhänge zwischen der Flexibilität des Arbeits-
marktes, sozialer Sicherheit und Arbeitslosigkeit. Ausgangspunkt und Kontrast-
folie ist die Standardauffassung zu diesem Zusammenhang, die so stilisiert wird:
„Neo-liberal critics assert that the welfare state is part of the problem of unemployment rather
than part of its solution: State-organized social protection leads to labor market inflexibility
which in turn generates unemployment.“ (Ganßmann 2000b: 243)

In mehreren Untersuchungen geht es Ganßmann darum, die Behauptung dieser


Zusammenhänge zu widerlegen: Weder kann der Sozialstaat kategorial als sys-
tematische Behinderung von Flexibilität aufgefasst werden, noch ist Flexibilität
zwingend ein Instrument gegen Arbeitslosigkeit. Diese Ergebnisse stehen nicht
strikt gegen die einfachen – und einfach kommunizierbaren! – Botschaften der
Neoklassik, sondern liegen zu ihnen gewissermaßen quer: Ob soziale Sicherung
Flexibilität behindert oder fördert, und ob mehr Flexibilität beschäftigungsför-
dernd wirkt oder nicht, hängt von qualitativen Merkmalen und den Rahmenbe-
dingungen dieser Faktoren ab. Solche differenzierenden Einsichten werden aus
einer ganzen Reihe von Analysen gewonnen (vgl. Ganßmann, Haas 1996;
Ganßmann, Haas 1999; Ganßmann, Haas 2001; Ganßmann 2000b). Sie bieten
nicht nur wichtige international vergleichende Ergebnisse zur Flexibilität von
Arbeitsmärkten, sondern auch Anschauungsmaterial dafür, dass empirische In-
formationen in Überfülle vorhanden sind. Man muss sie nur zu nutzen verstehen,
indem man intelligente Fragen an das Material richtet und die erkenntnisleiten-
den Kategorien ohne Interessen-Bias verwendet.
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 13

„Als soziale Konstruktion ist der Sozialstaat abhängig von der Art und Wei-
se, wie über ihn kommuniziert wird.“ (Ganßmann 2000a: 169) Ausgestattet mit
Argumenten, die sich aus den Analysen der Sozialpolitik und der Flexibilität der
Arbeit ziehen lassen, hat Ganßmann darum immer wieder die Position verlassen,
von der aus sich politisch relevante Akteursdeutungen beobachten und als Be-
standteile des soziologischen Untersuchungsgegenstandes selbst analysieren
lassen. Insbesondere mit seinen Beweisführungen gegen die „mit der Zähigkeit
von provisionsabhängigen Versicherungsvertretern vorgetragenen Argumentati-
on“ (Ganßmann 2000a: 132), die auf die weitgehende Überantwortung der Da-
seinsfürsorge an den internationalen Kapitalmarkt hinauslaufen, hat er in gerade-
zu dramatischer Weise Recht behalten.

Das Anregungspotential
Was haben die in diesem Band versammelten Beiträge gemeinsam? Die am
nächsten liegende Antwort lautet: Sie alle demonstrieren das Anregungspotenti-
al, das in den Arbeiten von Heiner Ganßmann steckt. Wie aber tun sie das? Alle
Beiträge beziehen ihre Fragestellungen aus der Situierung der Ökonomie in der
Gesellschaft. Sie konzentrieren sich entweder auf die gesellschaftlichen Konsti-
tutionsbedingungen jener Grundgegebenheiten, von denen die Ökonomie immer
schon ausgeht. Oder sie befassen sich mit gesellschaftlichen Folgen, die sich aus
der Ökonomie als einem Ensemble von Handlungsbedingungen ergeben. Die
Beiträge konvergieren in dem Nachweis, dass jene Sachverhalte, welche die
Ökonomie in ihren Basiskategorien fasst, gesellschaftlich konstruiert sind. In
diesem Sinne befassen sie sich mit der Ökonomie der Gesellschaft. Es geht somit
um die soziologische Auflösung von Selbstverständlichkeiten in den epistemi-
schen Grundlagen der ökonomischen Theorie.
Der Nachweis des gesellschaftlichen Konstruktionscharakters aller ökono-
misch relevanten Sachverhalte verschiebt die ökonomische Realität freilich kei-
neswegs in den Bereich intentionaler Gestaltbarkeit, und löst die Ökonomie
weder als eigensinniges System noch als abgrenzbare Fachdisziplin auf. Viel-
mehr lässt sich gerade aus einer soziologischen Beobachtungsperspektive sehen,
dass die Ökonomie ein nach einer eigenen Logik operierendes System darstellt.
Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die Ökonomie als Wissenschaft in einem
eigenartigen Naheverhältnis zur Ökonomie als System bewegt – und warum dies
so ist.
Die gesellschaftliche Konstruktion der Grundgegebenheiten der Ökonomie
erfolgt unter harten Vorgaben. „Hart“ sind diese Vorgaben in dem Sinn, dass sie
für die einzelnen Akteure im System nur marginal verfügbar sind: Wer die Gren-
zen des systemisch definierten Handlungsspielraums überschreitet, muss mit
14 Sylke Nissen, Georg Vobruba

Sanktionen rechnen: mit Vermögensverlust, Konkurs, Arbeitslosigkeit. Die Ak-


teure, indem sie solche systemischen Sanktionen zu vermeiden trachten, repro-
duzieren die Logik des Systems. Gleichwohl führt der Ansatz von Heiner Ganß-
mann durch seine handlungstheoretische Unterfütterung die Idee der Veränder-
barkeit der Ökonomie der Gesellschaft immer mit.

Literatur
Bader, V. M., J. Berger, H. Ganßmann, J. von dem Knesebeck 1976. Einführung in die Gesellschafts-
theorie. Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bei Marx und Weber. Frankfurt a. M., New York:
Campus.
Ganßmann, H. 1988. Money – a symbolically generalized medium of communication? On the con-
cept of money in recent sociology. Economy and Society, 17 (3), 285-316.
Ganßmann, H., R. Weggler 1991. Interessen im Sozialstaat. Österreichische Zeitschrift für Soziolo-
gie, 16 (1), 5-24.
Ganßmann, H. 1993. Einigung als Angleichung? Sozialpolitische Folgen des deutschen Einigungs-
prozesses. Prokla 91, 185-203.
Ganßmann, H. 1994. Karl Marx. In B. Schäfers (Hrsg.), Sonderheft Soziologie 3. Opladen: Leske +
Budrich, 81-94.
Ganßmann, H. 1996. Geld und Arbeit. Frankfurt a. M., New York: Campus.
Ganßmann, H. 1997. Soziale Sicherheit als Standortproblem. Prokla 106, 5-28.
Ganßmann, H. 1999. Wirtschaftliche Grenzen des Wohlfahrtsstaats? In C. Honegger, S. Hradil, F. Traxler
(Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? Opladen: Leske+Budrich, 169-184.
Ganßmann, H. 2000a. Politische Ökonomie des Sozialstaats. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Ganßmann, H. 2000b. Labor Market Flexibility, Social Protection and Unemployment. European
Societies, 2 (3), 243-268.
Ganßmann, H. 2004. 30 Jahre Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik – ein deutscher Sonder-
weg. Leviathan, 32 (2), 164-184.
Ganßmann, H. 2006. Kapital – Arbeit. In S. Lessenich, F. Nullmeier (Hrsg.), Deutschland – eine
gespaltene Gesellschaft. Frankfurt a. M., New York: Campus, 92-114.
Ganßmann, H., M. Haas 1996. Lohn und Beschäftigung. Marburg: Schüren.
Ganßmann, H., M. Haas 1999. Arbeitsmärkte im Vergleich. Deutschland, Japan, USA. Marburg:
Schüren.
Ganßmann, H., M. Haas 2001. Arbeitsmärkte im Vergleich II. Flexibilität und Rigidität der Arbeits-
märkte in den Niederlanden, Dänemark und Schweden. Marburg: Schüren.
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 15

I. Geld, Markt, Politik


Das Problem der materiellen Existenzsicherung 17

Koordination und Verteilung.


Zwei Ansätze der Wirtschaftssoziologie
Jens Beckert

Zu ihrer Legitimierung muss wirtschaftssoziologische Forschung erklären kön-


nen, worin die Spezifik eines soziologischen Ansatzes der Analyse wirtschaftli-
cher Strukturen und Prozesse besteht (Beckert 1996). Warum bedarf es der so-
ziologischen Beschäftigung mit dem Feld der Wirtschaft, gibt es doch mit den
Wirtschaftswissenschaften eine ausdifferenzierte sozialwissenschaftliche Diszi-
plin, die ihren Gegenstandsbereich in der Erforschung wirtschaftlicher Phäno-
mene hat? Die sich seit den Achtzigerjahren entwickelnde neue Wirtschaftsso-
ziologie hat diese Frage vornehmlich mit Verweis auf die Bedeutung sozialer
Beziehungen für wirtschaftliche Handlungsresultate beantwortet. Die Spezifik
der Wirtschaftssoziologie wird darin gesehen, das Handeln in wirtschaftlichen
Kontexten aus den konkreten sozialen Beziehungen zu erklären, in die diese
„eingebettet“ sind (Granovetter 1985). Ein anderer Vorschlag zur Verortung
eines spezifisch soziologischen Ansatzpunktes in der Untersuchung wirtschaftli-
cher Phänomene besteht darin, das Problem der Ungewissheit beziehungsweise
der doppelten Kontingenz zum Ausgangspunkt wirtschaftssoziologischer For-
schung zu machen (Beckert 1996; 1997). Dieser Vorschlag hat viele Quellen in
der Soziologie (Luhmann 1984; Merton 1936; Parsons [1937] 1949) und auch in
der ökonomischen Theorie (Keynes [1937] 1973; Knight [1921] 1985) und wur-
de in der aktuellen Wirtschaftssoziologie von Autoren mit ganz unterschiedli-
chen Theorieansätzen und empirischen Forschungsgegenständen aufgegriffen
und entwickelt (Deutschmann 1999; Favereau, Lazega 2002; Ganßmann 2007;
Ganßmann 2008; Guseva, Rona-Tas 2001; Podolny 2005; Rössel 2007; Stark
2008 [im Erscheinen]; White 2002). Tatsächlich scheint die Wirtschaftssoziolo-
gie mit dem Problem der Ungewissheit einen theoretischen Ausgangspunkt iden-
tifiziert zu haben, der es ihr erlaubt, ein eigenständiges Forschungsprogramm zur
Untersuchung wirtschaftlicher Phänomene zu entwickeln. Zwar ist bis heute
daraus noch kein kohärentes Theoriesystem entstanden, doch gibt es Ansätze
dazu, und die verschiedenen Versatzstücke sind hinreichend kompatibel, um eine
solche theoretische Integration möglich erscheinen zu lassen.
18 Jens Beckert

Im vorliegenden Artikel möchte ich keinen Beitrag zu dieser theoretischen


Integration leisten (siehe hierfür zum Beispiel Beckert 2007, 2009 [im Erschei-
nen]). Vielmehr setze ich mich kritisch mit der Frage auseinander, inwieweit
Ungewissheit tatsächlich als paradigmatischer Ansatzpunkt der Wirtschaftsso-
ziologie dienen kann und wo Beschränkungen dieses Ansatzes liegen. Welche
Handlungs- und Ordnungsprobleme geraten von diesem Ausgangspunkt in den
Blick und welche für die soziologische Beschäftigung mit der Wirtschaft wichti-
gen Phänomene werden möglicherweise vernachlässigt? Diese Fragestellung
zielt zugleich auf die Benennung ergänzender und möglicherweise alternativer
Problemstellungen einer soziologischen Beschäftigung mit der Wirtschaft.
Im ersten Teil meines Beitrags werde ich zunächst kurz das Argument reka-
pitulieren, weshalb die Problematik der Ungewissheit ein spezifisch soziologi-
sches Forschungsprogramm für die Untersuchung wirtschaftlicher Phänomene
begründen kann, und anhand von einigen Beispielen wirtschaftssoziologischer
Forschung darlegen, welche theoretischen und empirischen Erkenntnisse daraus
gewonnen wurden. Im zweiten Teil argumentiere ich dann kritisch, dass die
durch den Ausgang beim Problem der Ungewissheit in den Vordergrund rücken-
de Problematik der sozialen Koordinierung wirtschaftlichen Handelns nur einen
Teil der soziologisch relevanten Fragestellungen bei der Untersuchung ökonomi-
scher Phänomene in den Blick geraten lässt. Im Vordergrund steht die Koordina-
tion wirtschaftlichen Handelns als Voraussetzung der Ausbildung stabiler wirt-
schaftlicher Handlungsstrukturen. Kaum beachtet werden hingegen Fragen der
Verteilung des in der Wirtschaft erzeugten Reichtums und der im Wirtschafts-
system und der Gesellschaft darum geführten politischen und sozialen Kämpfe.
Dies aber sind eminent soziologische Fragen. Sie gehen über die Problematik der
Erklärung der Reproduktion wirtschaftlicher Strukturen hinaus und zielen auf die
systematische Verbindung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung.
Diese Fragen stärker in die wirtschaftssoziologische Forschung einzubeziehen,
ist nicht inkompatibel mit der Formulierung des Ansatzes der Wirtschaftssozio-
logie von der Problematik der Ungewissheit her. Sie verlangen jedoch, die Ord-
nungsprozesse in der Wirtschaft, mit denen Ungewissheit reduziert wird, als
politische und soziale Auseinandersetzungen zwischen Akteuren zu verstehen, in
denen sie versuchen, soziale Makrostrukturen nach ihren materiellen und ideel-
len Interessen zu gestalten. Dabei entfalten sich dynamische Prozesse, durch die
Ungewissheit sowohl reduziert als auch erhöht und außerdem zwischen den
Akteuren verschoben wird.
Koordination und Verteilung 19

Ungewissheit und wirtschaftliche Ordnung


Die theoretische Begründung für die Wahl der Problematik der Ungewissheit als
Ausgangspunkt wirtschaftssoziologischer Forschung lässt sich am einfachsten in
Gegenüberstellung zur Modellierung wirtschaftlicher Ordnung in der ökonomi-
schen Theorie herleiten.
Die Grundmodelle der Wirtschaftswissenschaften sind hinsichtlich der so-
zialen Voraussetzungen wirtschaftlicher Ordnung anspruchslos. Die vollständig
informierten, auf perfekten Märkten agierenden Akteure gelangen zu paretoop-
timalen Gleichgewichten allein auf Grundlage ihrer individuellen Präferenzen
und deren rationaler Verfolgung in Tauschakten. Dieser Auffassung zufolge
kann sich in den als „Märkte“ bezeichneten Handlungsarenen „soziale Ordnung“
stabilisieren, weil der Tausch Vorteile für die Beteiligten mit sich bringt. Tausch
wird solange stattfinden, wie ein Akteur durch weiteren Tausch seinen Nutzen
erhöhen kann, ohne dadurch andere Akteure schlechter zu stellen (Pareto-
Effizienz).
In diesem Ordnungsmodell vorausgesetzt sind allerdings weitreichende
Handlungs- und Informationsannahmen, durch die es den Akteuren möglich ist,
optimale Handlungsstrategien zu kalkulieren. Solange unterstellt wird, dass diese
Annahmen erfüllt sind, können wirtschaftliche Allokationsprozesse aus den
Eigeninteressen der beteiligten Akteure erklärt werden, und die Untersuchung
von wirtschaftlichen Prozessen kann sich auf die Ausbildung von Gleichgewich-
ten durch Preisanpassungen konzentrieren. „[O]rder is grounded in each agent
acting rationally to maximize his or her own preferences within the constraints of
a competitive economy“ (Gould 1991: 92-93; vgl. auch Hirschman 1986: 123).
Das Problem der Ungewissheit wird nun relevant, wenn von den in den
ökonomischen Standardmodellen gemachten Annahmen abgerückt wird. Wenn
Akteure in Tauschprozessen nicht über perfekte Informationen verfügen und
entweder nicht wissen, welche Zustände der Welt jetzt oder in der Zukunft exis-
tieren oder aber die Handlungsweisen wichtiger anderer strategischer Akteure
nicht eingeschätzt werden können, verlieren die an ihrem Nutzen orientiert han-
delnden Akteure die Grundlage, um Maximierungsentscheidungen kalkulieren
zu können. Zum einen ist dies ein Problem der Komplexität von Entscheidungs-
situationen. Die kognitiven Kapazitäten der Informationsverarbeitung von Men-
schen sind beschränkt. Daher berücksichtigen sie bereits in relativ wenig kom-
plexen Entscheidungssituationen nicht sämtliche Variablen und machen Fehler
in ihrer Kalkulation. Dies ist Gegenstand der Entscheidungsmodelle der Carne-
gie-School geworden (Simon 1992) und wird heute in einer Vielzahl kognitions-
psychologischer Forschungen untersucht, die auf systematische Entscheidungs-
fehler von Menschen hinweisen (Kahneman et al. 1986).
20 Jens Beckert

Zum zweiten gelangt Ungewissheit in ökonomische Handlungssituationen,


weil auch wirtschaftliches Handeln soziales Handeln ist und die Akteure jeweils
mit der Reflexivität des Handelns ihrer Gegenüber rechnen müssen (Ganßmann
2007). Die soziale Ungewissheit von Entscheidungssituationen ist erstmalig von
Talcott Parsons (Parsons, Shils 1951) in dem Begriff der „doppelten Kontin-
genz“ gefasst worden, der später auch von Niklas Luhmann (1984) aufgenom-
men wurde. Doppelte Kontingenz meint, dass auf andere bezogenes Handeln
nicht nur von Ego abhängig ist, sondern auch von Alter, der in seinen Entschei-
dungen genauso frei und unberechenbar ist wie Ego. Unter der Bedingung dop-
pelter Kontingenz kommen Handlungen nur zustande, wenn die Akteure wech-
selseitig Erwartungen hinsichtlich ihrer jeweiligen Reaktionen ausbilden, die von
dem anderen einbezogen werden können. Insbesondere Heiner Ganßmann
(2007) hat sich in den letzten Jahren mit der Bedeutung dieser Problematik be-
schäftigt und dabei gezeigt, dass ein Verständnis von Marktprozessen nur mög-
lich ist, wenn der wechselseitigen Reflexivität sozialer Interaktion Rechnung
getragen wird.
Schließlich ist das Problem der Ungewissheit mit der prinzipiellen Offen-
heit der Zukunft verbunden. Für Probleme der Komplexität und der doppelten
Kontingenz lässt sich sagen, dass die Akteure zwar die optimale Handlungsalter-
native ex ante nicht kalkulieren können, sie sich aber in einem prinzipiell ge-
schlossenen Möglichkeitsraum befinden. Zwar sind dem Handelnden nicht alle
Möglichkeiten bekannt, sie könnten ihm aber prinzipiell bekannt sein. Die Of-
fenheit zukünftiger Entwicklung, die aus der Möglichkeit von Kreativität und
unvorhersehbaren strukturellen Wandlungsprozessen entsteht, führt hingegen zu
„fundamentaler Ungewissheit“ (Dequech 2000).
„The list of possible events is not predetermined or knowable ex ante, as the future is yet to be
created. This means that some relevant information cannot be known, not even in principle, at
the time of making many important decisions.“ (Beckert, Dequech 2006: 583)

An diese Facette von Ungewissheit hat während der letzten Jahre insbesondere
Christoph Deutschmann (1999; 2008) angeknüpft. Die Kreativität von Arbeits-
prozessen und unternehmerischem Handeln ist konstitutive Grundlage für die
Dynamik kapitalistischer Akkumulationsprozesse, bringt aber zugleich Unge-
wissheit in Entscheidungen und macht damit die Vorstellung einer restlosen
rationalen Kalkulierbarkeit ökonomischen Handelns gerade für kapitalistische
Ökonomien zu einem unzureichenden theoretischen Modell.
Alle drei hier unterschiedenen Quellen von Ungewissheit führen dazu, dass
sich Entscheidungsprozesse in der Ökonomie nicht einfach als Optimierungs-
handeln verstehen lassen. In Situationen mit Ungewissheit fehlen die Grundlagen
für die notwendigen Kalkulationen, die in den ökonomischen Standardmodellen
immer vorausgesetzt werden (Bandelj 2008: 168ff). Die ökonomische Theorie
Koordination und Verteilung 21

reagiert auf diese Argumente vornehmlich, indem sie ihre handlungstheoreti-


schen Grundlagen durch die Reformulierung der nicht kalkulierbaren Ungewiss-
heit als kalkulierbares Risiko verteidigt und damit wieder mit den Modellprämis-
sen kompatibel macht (Beckert 1996; Williamson 1993). Doch lassen sich solche
Versuche als Immunisierung verstehen, und die ökonomische Theorie wird letzt-
lich nur dann ihren eigenen Gegenstandsbereich verstehen können, wenn sie
Kreativität und Reflexivität des Handelns integriert (Ganßmann 2007: 77). Die
grundlegende, sich aus der Problematik von Ungewissheit herleitende Frage
lautet: Wie treffen intentional rationale Akteure Entscheidungen in Situationen,
in denen sie nicht wissen können, welches die optimale Handlungsalternative ist?
Mit dieser Frage werden wirtschaftliche Phänomene als genuin soziologi-
scher Gegenstandsbereich erkennbar. Denn Handeln kann jetzt nicht mehr als
kalkulativer (oder behavioristischer) Automatismus verstanden werden. Soll es
andererseits nicht als einfach zufällig erscheinen und damit unerklärt bleiben,
dann muss erklärt werden, wie Akteure sich davon überzeugen, mit ihrer Ent-
scheidung „richtig“ zu liegen und sich auf riskante Handlungen einlassen, anstatt
in ängstliche Inaktivität zu verfallen.
In der ökonomischen Theorie sind diese Fragestellungen insbesondere in
der Informationsökonomie (Stigler 1961) und im neuen ökonomischen Institu-
tionalismus (North 1990; Williamson 1985; 2000) zum Gegenstand geworden.
Die Informationsökonomie rückt von der Annahme vollständiger Informiertheit
der Akteure hinsichtlich der Qualität von Gütern ab. Der paradigmatische Aus-
gangspunkt dieser Forschungsrichtung ist der Aufsatz von George Akerlof
(1970) „The Market for ‚Lemons‘“, der zeigt, dass unter der Annahme asymme-
trischer Informationsverteilung – der potenzielle Käufer weiß weniger über die
Qualitätseigenschaften des zum Verkauf stehenden Gutes als der Verkäufer –
sich kein Markt ausbildet, es also zu Marktversagen kommt. Hier erweist sich,
dass Tausch bei fehlenden Informationen zu den Eigenschaften eines Produktes
sich eben nicht allein aus den Präferenzen der Akteure und deren Maximierungs-
absichten erklären lässt. Die Informationsökonomie setzt zur Lösung auf die
Einführung von Sicherungsinstitutionen durch die Marktanbieter, wie etwa eine
Gebrauchtwagengarantie oder Investitionen in die Reputation des Anbieters,
durch die das Ausbeutungsrisiko für den Käufer reduziert und Kaufbereitschaft
erzeugt wird. Der Markt ist damit zwar weniger effizient als er bei vollständiger
Informiertheit der Marktparteien wäre, jedoch kommen die marktkonstitutieren-
den Tauschakte überhaupt erst zustande.
Die neue institutionelle Ökonomie (North 1990; Richter, Furubotn 2003;
Williamson 1975; 1985; 2000) radikalisiert die Handlungsannahmen der neo-
klassischen Theorie, indem sie die seit den Anfängen der modernen Wirtschafts-
wissenschaften mitschwingende Vorstellung eines „ehrbaren Kaufmanns“, der
22 Jens Beckert

zwar an seinem Vorteil orientiert handelt, zugleich aber die Eigentumsrechte


anderer achtet (Hirschman 1987), aufgibt. An die Stelle dieser Annahme rückt
ein hobbesianisches Handlungsmodell des „self-interest seeking with guile“
(Williamson 1975: 255), also eines Akteurs, der opportunistisch nach seinem
individuellen Vorteil strebt und dabei auch bestehende Regeln rücksichtslos
verletzt. Opportunismus und „begrenzte Rationalität“ (Simon 1955) der Akteure
führen zu Ungewissheit, die durch Marktinstitutionen begrenzt werden muss.
Wenn von zentralen Annahmen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ab-
gerückt wird, so lassen sich die Befunde der Informationsökonomie und der
neuen institutionalistischen Ökonomie verallgemeinern, treten die Ordnungs-
probleme auf Märkten wieder auf, die durch die heroischen Annahmen der neo-
klassischen Theorie verdeckt worden waren. Zur Lösung bedarf es institutionel-
ler Regeln, die opportunistisches Handeln von Akteuren, durch das Tauschpart-
ner ausgebeutet würden, unterbinden. Spezifisch für diese Lösung des Ord-
nungsproblems in der ökonomischen Theorie ist, dass institutionelle Regulierun-
gen effizienztheoretisch aus den Interessen der beteiligten Akteure erklärt wer-
den, womit letztlich die individualistische Grundlage der Erklärung der Ordnung
von Märkten doch beibehalten wird. Die Herleitungen bestehender Institutionen
sind nicht historisch angelegt, sondern bedienen sich funktionalistischer Annah-
men.
Die vom Problem der Ungewissheit ausgehende Wirtschaftssoziologie steht
insofern mit den eben skizzierten ökonomischen Theorien in Übereinstimmung,
als auch sie die Problematik in der Reduktion von Handlungskontingenz erkennt,
durch die sich die wechselseitigen Erwartungen der potenziellen Tauschpartner
stabilisieren können, so dass diese die Bereitschaft entwickeln, sich auf die prin-
zipiell riskanten Transaktionen einzulassen. Ein entscheidender Unterschied
besteht allerdings darin, dass die sozialen Kontexte, die zur Handlungskoordina-
tion beitragen, nicht als effiziente, sich aus dem nutzenmaximierenden Handeln
der beteiligten Akteure erklärende Lösungen zu verstehen sind. Vielmehr sind
sie Elemente einer immer schon gegebenen sozialen und politischen Umwelt,
innerhalb derer wirtschaftliches Handeln stattfindet, und Teil eines in politischen
und sozialen Auseinandersetzungen entstandenen Regulationssystems. Effizienz
ist dadurch allenfalls ein normatives Kriterium, das die Genese der Kontextuali-
sierung wirtschaftlichen Handelns bestimmt.
Die Wirtschaftssoziologie untersucht vor diesem Hintergrund, wie die
Handlungen von Akteuren durch die sozialen Kontexte beeinflusst und konsti-
tuiert werden, in denen sie stattfinden. Die sozialen Kontexte lassen sich als
soziale Makrostrukturen bezeichnen, wobei diese noch einmal differenziert wer-
den können (Beckert 2007). So wird wirtschaftliches Handeln zum einen durch
formale institutionelle Regeln gesteuert, die Handlungserwartungen beinhalten,
Koordination und Verteilung 23

deren Nicht-Erfüllung sanktioniert wird. Zu den sozialen Kontexten gehören


zweitens soziale Netzwerkstrukturen beziehungsweise die relationale Positionie-
rung der Akteure im Feld, durch die Handlungsoptionen und -restriktionen zwi-
schen den Akteuren (ungleich) verteilt sind. Schließlich stellen kulturell veran-
kerte Rahmungen des Handelns eine dritte soziale Makrostruktur dar, die wirt-
schaftliches Entscheidungshandeln beeinflusst. Im Unterschied zur ökonomi-
schen Theorie werden die sozialen Makrostrukturen dabei nicht als externe Re-
striktionen des Handelns verstanden (die „Spielregeln“ in der Definition von
Douglass North), sondern ebenso als konstitutiv für die Akteure selbst. Sie sind
endogener Bestandteil der Handlungssituation und etablieren einen intersubjektiv
geteilten Handlungsraum. Anders als in der ökonomischen Theorie und deren
Vorstellung von „natürlichen Neigungen“ (Adam Smith), gibt es kein handlungs-
fähiges Subjekt unabhängig von seiner sozialen Konstitution.
Präzise benennen lassen sich auch die spezifischen Koordinationsprobleme,
mit denen Akteure in den durch Ungewissheit charakterisierten Tauschsituatio-
nen konfrontiert sind und deren Lösung nur mithilfe der durch die sozialen Ma-
krostrukturen geschaffenen intersubjektiven Handlungszusammenhänge gelingen
kann. Hier lässt sich zwischen dem Wertproblem, dem Problem des Wettbe-
werbs und dem Kooperationsproblem unterscheiden (Beckert 2009 [im Erschei-
nen]).
1. Ungewissheit besteht für Marktakteure zum einen aufgrund der Schwierig-
keiten der Beurteilung des Werts von Gütern. Angesichts der Vielzahl von
Gütern und ihrer komplexen Qualitätseigenschaften haben Marktakteure
Schwierigkeiten „in forming clear subjective values for goods in the mar-
ket“ (Koçak 2003: 8). Nur wenn Käufer in der Lage sind, zwischen dem
Wert von Gütern, die auf Märkten angeboten werden, zu unterscheiden, und
Verkäufer zuverlässig den Wert der von ihnen angebotenen Waren darlegen
können, kann Kaufbereitschaft entstehen (Koçak 2003: 5-6).
2. Das zweite zu lösende Koordinationsproblem entsteht aus dem Wettbewerb
zwischen Marktanbietern. Zu den profunden Einsichten der neoklassischen
Theorie zählt das Paradox, dass effiziente Märkte zwar auf vollständigem
Wettbewerb basieren, im Marktgleichgewicht die Grenzkosten aber den
Grenzerlösen gleichen und somit kein Profit erwirtschaftet werden kann,
womit zugleich der Anreiz zur Produktion für den Markt erlischt. Gewinne
werden erst möglich, wenn sich Märkte im Ungleichgewicht befinden
(Chamberlin 1933; Knight [1921] 1985; Robinson 1933). Wettbewerb ist so
zwar einerseits eine konstitutive Voraussetzung von Märkten, andererseits
bedroht Wettbewerb die Gewinnerwartungen von Marktanbietern, da diese
sich wechselseitig zu unterbieten versuchen. Anbieter haben daher ein Inter-
24 Jens Beckert

esse, Marktstrukturen zu etablieren, die sie in für sie vorteilhafter Weise


von Konkurrenten abschirmen – damit können sie Ungewissheit reduzieren.
3. Das Kooperationsproblem schließlich entsteht aus den sozialen Risiken, die
Marktakteure aufgrund ihrer unvollständigen Kenntnis der Handlungsab-
sichten des Tauschpartners und der Qualität des zu erwerbenden Produktes
eingehen. Marktbeziehungen sind riskant, wenn ein Tauschpartner in Vor-
leistung tritt, ohne sicher sein zu können, dass der andere seine vertragli-
chen Verpflichtungen auch tatsächlich einhält, oder wenn Verträge unvoll-
ständig spezifiziert sind. Diese Risiken sind umso größer, je schwieriger die
Qualität eines Produktes zu erkennen beziehungsweise zu spezifizieren ist
und je geringer die Fähigkeiten des Käufers sind, von den manifesten Signa-
len des Verkäufers auf dessen tatsächliche Handlungsabsichten zu schlie-
ßen. Nur wenn der Käufer zuversichtlich ist, vom Vertragspartner nicht
ausgebeutet zu werden, wird er sich auf den Markttausch einlassen.
Die institutionelle, sozialstrukturelle und kulturelle Einbettung von Märkten
kann als Voraussetzung zur Lösung genau dieser Probleme analysiert werden
und ist Grundlage der Möglichkeit der Konstitution wirtschaftlicher Ordnung.
Wirtschaftliches Handeln ist durch die konstitutive Verbindung mit den sozialen
Makrostrukturen immer zugleich auch soziales Handeln und die Ökonomie ist
immer Teil der gesellschaftlichen Ordnung. Dass soziale Makrostrukturen Un-
sicherheit reduzieren, indem sie reziproke Handlungserwartungen stabilisieren,
bedeutet zugleich nicht, dass Ungewissheit aufgehoben wäre. Vielmehr müssen
die Akteure immer mit der Möglichkeit unkonventioneller (unerwarteter) An-
wendungen institutioneller Regeln, mit nicht intendierten Handlungsfolgen und
völlig neuen Handlungsoptionen rechnen, die aus technologischen, politischen
und kulturellen Entwicklungen entstehen (Beckert 1999; Dequech 2000;
Deutschmann 2008; Streeck, Thelen 2005). Unsicherheit bleibt also im Hand-
lungshorizont der Akteure immer erhalten, wird durch die sozial konstituierten
reziproken Handlungserwartungen aber so reduziert, dass Akteure meinen, die
Situation hinreichend abschätzen zu können, um Präferenzen zu bilden und sich
auf die wettbewerblichen und auf die in der Möglichkeit des opportunistischen
Handels der Tauschreflektanten (Weber) gründenden Risiken des Tauschs einzu-
lassen.
Koordination und Verteilung 25

Ungewissheit in der wirtschaftssoziologischen Forschung


Diese Grundkonzeption einer vom Problem der Ungewissheit ausgehenden Wirt-
schaftssoziologie hat zu einer Vielzahl von empirischen Anwendungen geführt,
von denen hier nur ein ganz kleiner Ausschnitt angeführt werden kann. Alya
Guseva und Akos Rona-Tas (2001) haben in einer Untersuchung der Entstehung
von Kreditkartenmärkten in den vormals sozialistischen Ländern gezeigt, dass
Kreditvergabe von Institutionen abhängt, die Stabilität ermöglichen, Ereignisse
richtig kategorisieren und die Verifikation und Akkumulation von Informationen
ermöglichen. Die Abwesenheit solcher Institutionen in Russland unmittelbar
nach dem Ende der Sowjetunion führte dazu, dass die Vergabe von Kreditkarten
stark eingeschränkt war und, soweit sie stattfand, auf Vertrauen aus persönlichen
Netzwerkbeziehungen der Banken beruhte. In ihrer Studie zur Lenkung von
Strömen ausländischer Direktinvestitionen in Osteuropa hat Nina Bandelj (2008)
gezeigt, in welchen Dimensionen potenzielle Investoren mit nicht in Risiko
transformierbarer Unsicherheit konfrontiert sind und wie diese Unsicherheit zu
einer ständigen Anpassung von Handlungsstrategien sowie der sozialen Veran-
kerung von Entscheidungen führt:
„To maneuver the shifting terrain of situational uncertainty, actors rely on their social net-
works, fall back on cultural conceptions of political alliances, follow routines, and trust emo-
tions.“ (Bandelj 2008: 193)

Beckert und Rössel (2004; Rössel 2007) haben in der Untersuchung des Marktes
für zeitgenössische Kunst den Zusammenhang zwischen Preisbildung und Inter-
mediären gezeigt, also Galeristen, Museumskuratoren, Kunstkritikern und Kunst-
hochschulen, die durch ihre Beurteilung von Kunstwerken und Künstlern den
Wert der Werke im Feld der Kunst erst konstituieren. Bestimmte Praktiken der
Preisbildung von Galerien, wie etwa der Verkauf gleichgroßer Bilder zum glei-
chen Preis und der Verzicht auf Preisabschläge bei schwer verkäuflichen Wer-
ken, lassen sich als Strategien der Reduktion von Ungewissheit in einem durch
hochgradige Kontingenz charakterisierten Markt verstehen (Velthuis 2005). Der
Zusammenhang zwischen Status und Qualitätszuschreibung ist von Joel Podolny
(1993) auch für Investmentbanken untersucht worden. Die potenziellen Kunden
der Banken, die nicht in der Lage sind, die Qualität der angebotenen Leistungen
zu vergleichen, interpretieren deren Status als Qualitätssignal:
„If an actor is uncertain of the actual quality of the goods that confront her in the market, or if
she is unwilling or unable to bear the search costs of investigating all the different products in
the market, then the regard that other market participants have for a given producer is a fairly
strong indicator of the quality of that producer’s output.“ (Podolny 1993: 831)

Auf dem Gebiet der Geldtheorie hat Heiner Ganßmann (2008) jüngst die Pro-
blematik der Ungewissheit zum Ausgangspunkt einer soziologischen Geldanaly-
26 Jens Beckert

se gemacht. Geld spielt eine zentrale Rolle für die Handlungskoordination der
Akteure, indem es die Kontingenz wirtschaftlicher Interaktionen reduziert.
„In the economic context of markets and money, [the] fundamental uncertainty involved in in-
teraction in general is both further increased – due to the coexistence of a social division of la-
bor and the ex post coordination of economic activities – and reduced – due to the simultane-
ous functioning of money as a medium of communication, a metric, and an instrument of ap-
propriation.“ (Ganßmann 2008: 2)

Geld absorbiert Ungewissheit, indem es ein gemeinsam geteiltes System der


Evaluierung von Waren etabliert und auch, weil Tauschakte in der Geldökono-
mie immer so aufgebaut sind, dass Geld die Gegenleistung für jegliche Ware ist
(ebd.: 7). Christoph Deutschmann (1999; 2008; siehe auch seinen Beitrag in
diesem Band) hat den Zusammenhang von Ungewissheit und Institutionen zum
Ausgangspunkt einer Theorie kapitalistischer Dynamik gemacht. Zwar müssen
wirtschaftliche Austauschbeziehungen durch Institutionen stabilisiert werden,
doch ist die Erwirtschaftung von Gewinn gerade abhängig von einem Routinen
durchbrechenden und nicht rational kalkulierbaren Unternehmertum. Kapitalisti-
sche Gesellschaften oszillieren daher zwischen der Reduktion von Ungewissheit
durch Institutionen und der Schaffung neuer Ungewissheit durch das Durchbre-
chen eingeübter Handlungsweisen. Schließlich geht die in Frankreich entstande-
ne Ökonomie der Konventionen (Favereau, Lazega 2002) vom Problem der
wechselseitigen Abstimmung von Handlungen in Situationen aus, die durch
Ungewissheit gekennzeichnet sind, die aus der Komplexität von Verständigungs-
und Bewertungsmöglichkeiten von Gütern entsteht. Konventionen werden in
dieser Theorietradition als Dispositive zur Koordinierung von Handlungen unter
Bedingung von Ungewissheit verstanden (vgl. Diaz-Bone in diesem Band).

Koordination und Verteilung


Diesen Beispielen ließen sich viele andere hinzufügen, die zeigen, in welch viel-
fältiger Weise der vom Problem der Ungewissheit ausgehende Ansatz wirt-
schaftssoziologische Forschung prägt. Die Koordinationsprobleme, mit denen
Akteure im Feld der Wirtschaft aufgrund der Ungewissheit der Handlungssitua-
tion konfrontiert sind, finden zumindest partiell ihre Lösung in der sozialen
Strukturierung des Handlungsfeldes.
Der Erfolg des Ansatzes für die Wirtschaftssoziologie ist unzweifelhaft.
Doch ist er auch hinreichend für die soziologische Untersuchung der Wirtschaft?
Eine von der Problematik der Koordination wirtschaftlichen Handelns her ange-
legte Wirtschaftssoziologie verweist in erster Linie auf die sozialen Vorausset-
zungen des Funktionierens hochgradig arbeitsteiliger wirtschaftlicher Prozesse
und zielt auf das Problem der Herstellung stabiler Erwartungsstrukturen. Gezeigt
Koordination und Verteilung 27

wird, wie kapitalistische Ökonomien von einem ausgeklügelten Institutionensys-


tem abhängen, auf Netzwerkbeziehungen zwischen den Akteuren angewiesen
sind, moralische Handlungsvoraussetzungen haben und auf kulturell verankerte
Wissensbestände zurückgreifen (Smelser, Swedberg 2005). Märkte, Unterneh-
men oder industrielle Distrikte werden so jeweils vor dem Hintergrund der Fra-
gestellung untersucht, welche Bedeutung den soziologischen Erklärungsfaktoren
für das Verständnis des Funktionierens ökonomischer Strukturen zukommt.
Dabei wird in einigen Fällen der effizienztheoretischen Argumentation der öko-
nomischen Theorie gefolgt. Dies gilt, wenn die soziale Einbettung wirtschaftli-
chen Handelns als notwendige Voraussetzung wirtschaftlich effizienter Struktu-
ren untersucht wird (Burt 1992). Zumeist wird jedoch die effizienztheoretische
Erklärung sozialer Einbettung zurückgewiesen und stattdessen das systemische
Problem der stabilen Reproduzierbarkeit von Strukturen (White 1981) bezie-
hungsweise des Überlebens der Firmen in organisationalen Feldern (Fligstein
2001) in den Vordergrund gerückt. Firmen bedürfen „stabiler Welten“, da sie
sich nur unter dieser Bedingung reproduzieren können und damit eine wirtschaft-
liche Ordnung entstehen kann, die wirtschaftlichen Wohlstand produziert.
In der Betonung der Voraussetzungen der Handlungskoordination unter Be-
dingungen von Ungewissheit bleibt jedoch sekundär, welche Form die Ordnung
ermöglichenden Strukturen annehmen. In der Frage nach der konkreten Ausge-
staltung der „Einbettung“ wirtschaftlichen Handelns und deren Genese liegt
jedoch ein zentraler Aspekt des soziologischen Interesses an wirtschaftlichen
Phänomenen. Denn die sozialen Makrostrukturen koordinieren ja nicht nur wirt-
schaftliches Handeln, sondern bestimmen zugleich die Leistungsfähigkeit der
Wirtschaft und die Verteilung des produzierten Reichtums zwischen den Akteu-
ren. Dass gesellschaftliche Konflikte im Wesentlichen Konflikte über institutio-
nelle Regelungen sind, lässt sich nur erklären, wenn berücksichtigt wird, dass
Institutionen nicht einfach technokratische Strukturen der Handlungskoordinati-
on sind, sondern sich in ihnen materielle und ideelle Interessen realisieren, die
zwischen den Akteuren umkämpft sind.
Die Interessendivergenz besteht dabei einerseits zwischen den im Markt
miteinander konkurrierenden Firmen. Max Weber ([1922] 1985) hatte in seiner
Analyse des Wettbewerbs einen klaren Blick für diesen eminent konflikthaften
Charakter der institutionellen und sozialstrukturellen Kontextualisierung der
Wirtschaft. Alle Anbieter haben ein Interesse daran, Marktstrukturen zu etablie-
ren, die sie in für sie vorteilhafter Weise von Konkurrenten abschirmen. So ent-
steht eine Tendenz zu Monopolbildung und Marktversagen. Dies berührt die
Interessen der Wettbewerber und der Nachfrager. Aus diesem Interessenkonflikt
entsteht ein machtgestützter „Tauschkampf“ (Weber [1922] 1985: 36) zwischen
den Marktkonkurrenten, dem Staat und Interessengruppen der Nachfragerseite
28 Jens Beckert

um die Eindämmung, Ausweitung, Gestaltung und Regulierung von Wettbewerb


(Lie 1997: 345). Das Handeln der Marktakteure zur Etablierung institutioneller
Strukturen lässt sich als „getting action“ und „blocking action“ verstehen (White
1992), mit dem Vorteile gegenüber Konkurrenten erlangt werden sollen und die
Verteilung des erwirtschafteten Reichtums zwischen den Unternehmen, den
Arbeitnehmern und dem Staat entschieden wird. Die Dynamik dieser Auseinan-
dersetzung entsteht aus den Interessendifferenzen zwischen den beteiligten Par-
teien, wobei dies nicht nur materielle Interessen sein müssen, sondern auch ideel-
le Interessen der Verteilungsgerechtigkeit und andere Konventionen Bedeutung
erlangen. Der Staat ist in den Marktkampf durch seine Rolle bei der Rechtset-
zung, zum Beispiel im Wettbewerbsrecht oder im Urheberrecht, ebenso wie
durch die Einführung von Subventionen, Steuern und Zöllen sowie den Schutz
von Verbrauchern involviert. Er verfolgt dabei einerseits eigene Interessen, und
ist andererseits Agent für politisch organisierte Interessengruppen oder die Inter-
essen von Wählergruppen. Die Marktanbieter selbst versuchen durch Vereinba-
rungen untereinander, Produktdifferenzierung, First-Mover-Vorteile, Korruption,
Kartellbildung oder Monopolisierung, ein Handlungsumfeld zu schaffen, das
nicht nur stabil ist, sondern ihnen einen möglichst hohen Gewinn beziehungs-
weise Lohn sichert. Die institutionelle Einbettung der Wirtschaft findet so als
Kampf zwischen den Marktakteuren um die Regulierung von Wettbewerbsbe-
dingungen, Subventionen sowie Steuer- und Sozialabgaben statt, wobei es um
Koordination, aber eben auch um die Verteilung des produzierten wirtschaftli-
chen Reichtums geht. Soziale Makrostrukturen erscheinen daher nicht als exoge-
ner „constraint“ im Datenkranz der Akteure, sondern als endogenes Resultat der
dynamischen Auseinandersetzungen um die Strukturierung wirtschaftlicher
Handlungsräume.
Wie die durch die Strukturierung ökonomischen Handelns beeinflusste Ver-
teilung aussieht, ist nicht nur für die in der wirtschaftssoziologischen Forschung
hauptsächlich betrachteten Unternehmen relevant, sondern letztlich für alle Ak-
teure der Gesellschaft, da diese sich direkt oder indirekt über Interaktionen im
Wirtschaftssystem mit eigener Zahlungsfähigkeit versorgen müssen. Jegliche
Institutionalisierung wirtschaftlichen Handelns führt nicht nur zur Handlungs-
koordination, sondern ist auch eine Entscheidung über die Verteilung wirtschaft-
lichen Reichtums. Erst die Berücksichtigung dieses Sachverhalts eröffnet der
Wirtschaftssoziologie eine Perspektive, die über die Untersuchung der Funkti-
onsweise eines isolierten gesellschaftlichen Teilsystems hinausgeht und tatsäch-
lich eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf die Einbettung der Wirtschaft
ist, indem diese als Feld der machtdurchsetzten Auseinandersetzung um die
Verteilung wirtschaftlicher Güter in der Gesellschaft und der Verteilung von
Unsicherheiten zwischen den Akteuren beobachtbar wird.
Koordination und Verteilung 29

Es sind aber durchaus nicht nur die institutionelle Einbettung wirtschaftli-


chen Handelns und die in Marktstrukturen etablierten Netzwerkstrukturen, die
zwischen den Akteuren umkämpft sind. Vielmehr gibt es eine der formalen Insti-
tutionalisierung gewissermaßen vorgelagerte beziehungsweise zugrunde liegende
Ebene intersubjektiv geteilter kognitiver Rahmungen, mit denen die Wahrneh-
mung ökonomischer Sachverhalte strukturiert wird. Welche Institutionen als nor-
mativ oder funktional angemessen wahrgenommen werden, welchen Stellenwert
soziale Gruppen oder Anliegen in der Gesellschaft haben, ist selbst geschichtli-
ches Resultat sozialer Kämpfe. Insbesondere Pierre Bourdieu und Autoren in der
Tradition der Ökonomie der Konventionen haben diese Umkämpftheit von
Wahrnehmungsschemata, mit denen Akteure im Feld der Wirtschaft ökonomi-
sche Sachverhalte erfassen und beurteilen, und ihre Konsequenzen für die Ver-
teilung gesellschaftlichen Reichtums untersucht. Bourdieu hat in seinen Untersu-
chungen zur Entstehung von Klassifikationen gezeigt, dass diese im sozialen
Raum umstritten sind, „weil von der Durchsetzung von Klassifikationsprinzipien
und Klassifikationen die Position und Identität sozialer Gruppen und Milieus im
sozialen Raum abhängt“ (Diaz-Bone 2008: 336). Solche Kämpfe um Klassifika-
tionen wurden auch von verschiedenen der Ökonomie der Konventionen zu-
zuordnenden Autoren erforscht. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit von Luc Bol-
tanski (1990) zur Formierung der „Cadres“ (in etwa: Führungskräfte) als einer
identifizierbaren Berufsbezeichnung in Frankreich. Während diese Kategorie bis
in die Dreißigerjahre praktisch nicht existierte, wies sie in der Volkszählung von
1982 über vier Millionen Beschäftigte aus.1 Dies lässt sich als Resultat der Inves-
titionsarbeit dieser Berufsgruppe im sozialen Raum verstehen, der es durch die
Kombination symbolischer, politischer und institutioneller Strategien gelungen
ist, als Kollektiv wahrgenommen zu werden, sich von anderen Gruppen abzu-
grenzen und dadurch Rechte und Status zu erlangen. Solche „Forminvestitio-
nen“, durch die eine soziale Gruppe mit einer sozialen Kategorie identifizierbar
wird, basieren auf den reflexiven und interpretativen Kompetenzen der Akteure
und führen zu spezifischen, im sozialen Raum geteilten, kognitiven Strukturen,
die nicht nur Koordination routinisieren und vereinfachen, sondern Grundlage
für die Legitimierung des Anspruchs auf Zuweisung von Geld und sozialem
Status sind (vgl. auch Diaz-Bone 2008: 374).
Oliver Godechot (2007) hat einen solchen Prozess jüngst anhand der Aus-
handlungsprozesse bei Investmentbanken zur Verteilung der im Handel gemach-
ten Profite untersucht. Welche Gruppe innerhalb der Firma das Recht auf Aneig-
nung des Gewinns hat, ist nicht objektiv festgeschrieben, sondern Resultat von
formellen und informellen Verhandlungen um die Legitimität von Verteilungen.

1 Ich beziehe mich in dieser Darstellung auf die Ausführungen von Diaz-Bone (2008: 348ff.).
30 Jens Beckert

„Ist der untergebene Trader oder Verkäufer nur derjenige, der den primären Willen seines Vor-
gesetzten zur Aneignung ausführt? Oder ist er in der Lage, als Erster eine Gelegenheit auf dem
Markt zu sehen und zu ergreifen? Das Vorrecht, das auf diese Weise definiert wird, spielt eine
wichtige Rolle bei der Aneignung von Gewinn.“ (Godechot 2007: 274)

Ein Großteil der als Boni ausgeschütteten Vergütungen wird in diesen Banken
von den Aktienhändlern vereinnahmt, wohingegen die Analysten, auf deren
Recherchen die Strategien der Händler aufbauen, sehr viel geringer an den ge-
machten Gewinnen teilhaben. Dies lässt sich als Ausdruck einer etablierten Wer-
tigkeitsordnung verstehen, die bestimmte Handlungen als höherwertig kategori-
siert und damit eine Grammatik der Koordination wirtschaftlichen Handelns
etabliert, zugleich aber auch ungleiche Verteilungen in einer bestimmten Weise
festschreibt.
Bringt man die beiden wirtschaftssoziologischen Überlegungen zusammen,
dass die Koordination wirtschaftlichen Handelns aufgrund der darin enthaltenen
Unsicherheit immer auf die Einbettung in soziale Makrostrukturen angewiesen
ist, diese soziale Einbettung sich aber nie in einer reinen Koordinationsfunktion
erschöpft, sondern immer auch Verteilungsfolgen hat, so lassen sich zwei Er-
kenntnisse gewinnen. Zum einen: „Den Markt“ als einen unabhängig von den
beteiligten Akteuren bestehenden Koordinationsmechanismus gibt es nicht,
vielmehr sind Märkte in kontingenter, von den Machtstrukturen und kognitiven
Rahmungen der Akteure abhängiger Weise organisiert. Märkte sind Kampffelder
um die Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands und kein neutraler, allein am Ziel
der Effizienz orientierter Allokationsmechanismus. Aus dem politischen Charak-
ter von Einbettung als Resultat von „Marktkämpfen“ ergibt sich, dass die Struk-
tur von Märkten nicht innerhalb des Wirtschaftssystems als „rationale“ Lösung
von Koordinationsproblemen entsteht, sondern aus bestehenden gesellschaftli-
chen Ordnungsstrukturen und sozialen Kämpfen emergiert.
Zum anderen führt das Verständnis der Organisation von Märkten als Re-
sultat einer Interessenauseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Gruppen
zu der Einsicht, dass wirtschaftliches Handeln immer auch soziales beziehungs-
weise politisches Handeln ist, und der Referenzpunkt der Organisation der Wirt-
schaft daher nicht eine als autonom gedachte ökonomische Ordnung sein kann,
sondern nur die gesellschaftliche Ordnung. In der Auseinandersetzung um die
Ausgestaltung wirtschaftlicher Ordnung treffen an der Maximierung von Gewinn
orientierte Interessen auf abweichende materielle und ideelle Interessen, die sich
im Raum der politischen Öffentlichkeit artikulieren und die institutionelle Ge-
stalt des Wirtschaftssystems ebenso wie die Handlungen der Akteure beeinflus-
sen. Diese Widerständigkeit artikuliert sich sowohl in Arbeitsorganisationen, wo
sie durch Gewerkschaften und Betriebsräte institutionalisiert ist, als auch im
Nachfrageverhalten von Konsumenten auf Märkten, die in ihren Kaufentschei-
Koordination und Verteilung 31

dungen moralische Handlungsorientierungen einfließen lassen, als auch in Form


staatlichen Handelns. Im öffentlichen Diskurs lässt sich diese Widerständigkeit
allenthalben bei Standortverlagerungen oder Schließungen von Unternehmen,
bei der Diskussion um Mindestlöhne, bei der Skandalisierung unternehmerischen
Handelns im Fall der Verletzung ethischer Normen durch unwürdige Arbeitsbe-
dingungen an den Produktionsstandorten oder der Externalisierung von Kosten
im Umweltbereich sowie in politischen Diskussionen zur Reform sozialstaatli-
cher Sicherung beobachten (Ganßmann 2000). Diese Ausein-andersetzungen
verdichten sich in den institutionellen Strukturen der Wirtschaft als Resultat
eines machtdurchsetzten Prozesses; die konkrete institutionelle Gestalt von
Märkten ist das Resultat von sozialen Konflikten, in denen unterschiedliche
Interessen innerhalb eines moralisch und politisch strukturierten Handlungskon-
textes aufeinander treffen. Der Wandel sozialökonomischer Konfigurationen ist
insofern nicht ökonomisch determiniert, sondern formt sich politisch in den Aus-
einandersetzungen um die Regulierung des Wirtschaftssystems. Wie Wettbe-
werbsmärkte sozial eingebettet sind, lässt sich daher auch nicht theoretisch dedu-
zieren, sondern nur jeweils konkret empirisch beschreiben und in ihren histori-
schen Entwicklungslinien nachzeichnen.

Schluss
Wirtschaftssoziologische Forschung hat einen zentralen Ausgangspunkt in der
Problematik der Ungewissheit wirtschaftlichen Handelns. Empirische Forschun-
gen zeigen, dass die in wirtschaftlichen Beziehungen entstehenden Koordinati-
onsprobleme nicht auf der Grundlage rational kalkulierter Maximierungsent-
scheidungen gelöst werden, sondern auf Grundlage institutioneller, sozialstruktu-
reller und kultureller Makrostrukturen, die zur Reduzierung der Handlungskon-
tingenz der Akteure beitragen. Hierbei hat häufig zu wenig Beachtung gefunden,
dass die Einbettung wirtschaftlichen Handelns nicht nur einen Beitrag zur Koor-
dination leistet, sondern zugleich immer auch Verteilungskonsequenzen hat.
Damit aber darf wirtschaftssoziologische Forschung sich nicht auf die abstrakte
Frage der Funktion sozialer Einbettung für die Koordination wirtschaftlichen
Handelns beschränken, sondern muss gerade das Zustandekommen der konkre-
ten Formen der Einbettung von Märkten untersuchen. Bei der Untersuchung der
gesellschaftlichen Kontextualisierung wirtschaftlichen Handelns geht es sowohl
um die Erklärung der Ausformung von Erwartungssicherheit der Akteure bezie-
hungsweise der Reduktion von Ungewissheit (Beckert 1996; 2009 [im Erschei-
nen]) als zentrale Voraussetzung wirtschaftlicher Ordnung als auch um die Un-
tersuchung der Formen der Regulation wirtschaftlichen Handelns als Resultat
32 Jens Beckert

kontinuierlicher gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um die institutionelle


Strukturierung des Wirtschaftssystems.
Eine in diesem Sinn erweiterte Wirtschaftssoziologie findet sehr viel leich-
ter Anschluss an verwandte Forschungsrichtungen innerhalb der Soziologie, die
jedoch bis heute von der Wirtschaftssoziologie eher getrennt sind. Hierzu zählen
einerseits die Wohlfahrtsstaatsforschung und andererseits die vergleichende
politische Ökonomie. Heiner Ganßmann hat zu allen drei Forschungsbereichen
wichtige Beiträge geliefert.

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Koordination und Verteilung 35

Konventionen und Arbeit.


Beiträge der „Économie des conventions“ zur Theorie der
Arbeitsorganisation und des Arbeitsmarktes
Rainer Diaz-Bone

„Was uns am Wirtschaften interessiert, sind regelmäßig


soziale oder sozial konstruierte Sachverhalte, die in Mo-
dellen, in denen ein isolierter Akteur einer Objektwelt
gegenübergestellt wird, nicht erfaßt werden können.“
(Ganßmann 1996: 33)

Einleitung:
Kritik der Differenzierung von Soziologie und Ökonomie
Lange Zeit hatte sich die Wirtschaftssoziologie nach dem Weltkrieg auf die
Randbereiche der Ökonomie beschränkt und dabei die Zuständigkeit der Wirt-
schaftswissenschaften für die Analyse der Ökonomie im Grunde akzeptiert
(Stark 2000).1
Damit einher ging in den Wirtschaftswissenschaften eine Entsoziologisierung,
die im neoklassischen Mainstream gipfelte. Dieser konnte sehr erfolgreich ein
Handlungsmodell etablieren, in dem Akteure so gedacht waren, als ob sie mit
gegebenen Präferenzen isoliert handelten und dabei zugleich von kulturellen
Schemata und normativen Vorgaben unbeeinflusst seien. Zudem wurde die Wirt-
schaft als ein sich selbst regulierendes Marktsystem modelliert, dem inhärent
sein sollte, über den Preismechanismus ein Gleichgewicht anzustreben und so
ökonomische Handlungen indirekt zu koordinieren. Trotz dieser Entsoziologisie-
rung der Wirtschaftswissenschaften haben die Wirtschaftswissenschaften immer
wieder versucht, die neoklassischen Modelle über die Ökonomie hinaus auf die
Analyse sozialer Phänomene anzuwenden.

1 David Stark hat eine Art „Pakt“ ausgemacht, den Talcott Parsons mit den Wirtschaftswissen-
schaftlern für die Etablierung und Anerkennung der Wirtschaftssoziologie geschlossen habe.
Die Wirtschaftswissenschaften seien demnach für die Analyse von Wert („value“, der in Prei-
sen bewertet werde) zuständig und die Wirtschaftssoziologie für den sozialen Kontext, für die
Frage, welche Rolle Normen und Werte („values“ als Wertorientierungen) für das wirtschaftli-
che Handeln und ökonomische Beziehungen spielten: „[…] economists study value, economic
sociologists study values; they claim the economy, we claim the social relations in which eco-
nomies are embedded.“ (Stark 2000: 1)
36 Rainer Diaz-Bone

Gegen diesen „ökonomischen Imperialismus“ (Swedberg 1990: 39; Ganß-


mann 1996: 25) hat sich die neuere amerikanische Wirtschaftssoziologie positio-
niert (White, Granovetter), die nun ihrerseits die Analyse der Wirtschaft mit
soziologischen Konzepten (insbesondere dem des Netzwerks und dem der Ein-
bettung) in Angriff genommen hat. Dabei hat sie die Differenzierung von Sozio-
logie und Wirtschaftswissenschaften in Frage gestellt und damit international
und interdisziplinär viel Beachtung gefunden (vgl. auch Beckert in diesem
Band). In den 1980er Jahren hat sich in Frankreich ein transdisziplinärer Ansatz
herausgebildet, der ebenfalls die sozialwissenschaftliche Reintegration der Ana-
lyse der Wirtschaft und Gesellschaft in Angriff genommen hat (Diaz-Bone 2006,
2010). Die so genannte „Économie des conventions“ ist in einem Netzwerk von
Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und Statistikern entstanden. Bemer-
kenswert ist hierbei, dass dieser Ansatz ein sowohl in den französischen Wirt-
schaftswissenschaften2 als auch in der französischen Soziologie etablierter An-
satz ist, der mittlerweile eine umfangreiche Agenda vorweisen kann und dem
heute einige Dutzend Forscherinnen und Forscher zuzurechnen sind (Eymard-
Duvernay 2006a; 2006b; Orléan 2004).
Die ersten Publikationen der Économie des conventions in der zweiten
Hälfte der 1980er Jahre präsentieren Forschungen zum Thema „Arbeit“ und den
anhängigen Themen wie „Arbeitslosigkeit“, „Arbeitsmarkt“ und „Arbeitsorgani-
sation“.3 Der Ansatz der Économie des conventions hat von Beginn an Analysen
zur Konstruktion von Berufsklassifikationen, von Qualitätskonstruktionen sowie
der Vernetzung von Handlungen, Wissenskonzepten und Objekten unter Bezug
auf Konventionen in Unternehmen unternommen. Ein Ausgangspunkt war die
theoretische Reflexion zur Praxis des Kategorisierens, die der Reform der für
Frankreich bedeutsamen „catégories socioprofessionelles“ voranging (INSEE
1981; Boltanski, Thévenot 1983; Desrosières, Thévenot 2002). Am Pariser Insti-
tut National de la Statistique et des Études Économiques (INSEE) und dann
später insbesondere am Centre d’Études de l’Émploi (CEE) wurden die ver-
schiedenen Logiken der Handlungskoordination in Unternehmen und die Formen
der Arbeit und Arbeitsorganisation in zumeist qualitativen Studien analysiert.
Die Économie des conventions gilt in Frankreich als prominenter Bestandteil der
„neuen Soziologien“ (Corcuff 2007), die die Repragmatisierung der Sozialwis-
senschaften vorantreiben, indem sie die situativen Handlungskompetenzen von
Akteuren zur Lösung von Problemen der Koordination so modellieren, dass den

2 Als das Gründungsdokument gilt das Schwerpunktheft 40 (2) der Revue économique aus dem
Jahr 1989: „Économie des conventions“. Die Revue économique ist die wichtigste wirtschafts-
wissenschaftliche Zeitschrift in Frankreich.
3 Salais, Thévenot (1986); Salais et al. (1986); Thévenot (1986b); Eymard-Duvernay (1987);
Boltanski, Thévenot (1989)
Konventionen und Arbeit 37

Akteurskompetenzen für die praktische Handhabung von Konventionen eine


entscheidende Rolle für die Koordination zukommt. Ein theoretisches Grundla-
genwerk der Économie des conventions ist die Arbeit von Luc Boltanski und
Laurent Thévenot zur Theorie der Rechtfertigungsordnungen (Boltanski, Théve-
not 2007), die in praxeologischer Perspektive den wechselseitigen Zusammen-
hang von Strukturprinzipien (Rechtfertigungsordnungen beziehungsgweise Kon-
ventionen) und situativ-reflexiven Akteurskompetenzen theoretisiert. Rechtferti-
gungsordnungen sind aus Sicht dieser Theorie alltagspraktisch wirksam und für
die Akteure eine alltagspraktische Ressource. Sie sind nicht einfach nur rhetori-
sche Schemata, sondern statten Handeln, Wahrnehmen und Urteilen situativ mit
Sinn aus. Sie stellen Akteuren so zwar situative, aber dennoch idealtypische
Ordnungen für deren praktische Welt zur Verfügung, so dass Boltanski und
Thévenot auch von „Welten“ oder „Wertigkeitsordnungen“ sprechen. Zugleich
fußen diese „Ordnungen“ auf normativen Prinzipien. Denn sie ermöglichen die
alltägliche Koordination in der Ökonomie, indem Akteure sich auf unterliegende
Rechtfertigungsordnungen als Wert(igkeits)ordnungen beziehen. Letztere „ent-
werfen“ idealtypisch eine „Polis“, also ein Modell von Gemeinschaft, so dass in
ihr das Streben nach einem kollektiven Gut denkbar werden soll und ihren Mit-
gliedern die soziale Zuerkennung von Wertigkeit oder „Größe“ („grandeur“) in
Aussicht gestellt wird. Auch der Markt stellt eine solche Polis oder Welt dar. Die
Wirtschaftswissenschaften, die vermeintlich das Soziale außen vor halten, brin-
gen aus Sicht von Boltanski und Thévenot mit dem Marktmodell nun selbst eine
moralisch fundierte Welt als Modell in die Analyse ein und konstruieren unter
seiner Ägide normative Konzepte und Akteurmodelle.
„Uns geht es dagegen um den Nachweis, dass die Wirtschaftswissenschaften auf eine Kon-
struktion des Gegenstandes angewiesen sind, die dem Akteur Ansprüche auferlegt und so aus
ihm ein moralisches Wesen macht. Dabei verstehen wir ‚Moral‘ im Gegensatz zu manchen
Ansätzen des Liberalismus nicht im eingeschränkten Sinne einer Veranlagung zu guten Taten,
die interessengetriebenen Egoismus ausgleicht. Wir wollen zeigen, dass eine moralische Kapa-
zität den Kern einer auf marktförmigen Austausch zwischen Personen beruhenden Ordnung
ausmacht. Diese müssen in der Lage sein, von ihren eigenen Besonderheiten abzusehen, um
hinsichtlich äußerer Güter, deren Definitionen allgemeingültig ist, Verständigung zu erzielen.
Der Umstand, dass der Gebrauch dieser Güter exklusiv ist, hindert uns oft daran, die Annahme
eines allgemein geteilten Wissens, welches die Universalität ihrer Definition impliziert, zu er-
kennen. Diese Konvention ist die Voraussetzung dafür, dass Besitzwünsche miteinander kon-
kurrieren und sich aufeinander abstimmen können, sie bleibt jedoch in der Wirtschaftstheorie
zumeist implizit (natürlich).“ (Boltanski, Thévenot 2007: 48)

Die Marktkonvention fordert von Akteuren auf einer ersten Reflexionsebene,


dass sie sich bewusst eigennützig verhalten und von anderen Verhaltenserwar-
tungen und sozialen Bindungen absehen. Dass Akteure sich diese Handlungslo-
gik aneignen können, ist bereits eine zivilisatorische und keine anthropologische
„Errungenschaft“. Auf einer zweiten Reflexionsebene müssen Akteure aber ihr
38 Rainer Diaz-Bone

eigennütziges Verhalten moralisch rechtfertigen können. Damit beinhaltet diese


Handlungslogik auch ein ethisch-moralisches Prinzip, das eigennützig handeln-
den Akteuren in Situationen eine Wertigkeit zuerkennen oder diese in Frage
stellen kann.
Der vernetzende Handlungsbezug zwischen Akteuren und Objekten ist
hierbei wichtig, denn es sind insbesondere Objekte, die die Beweisführung (Evi-
denz) für die in einer Rechtfertigungsordnung anerkannte Wertigkeit stützen
sollen. In dieser Einbeziehung der dreistelligen Relation Subjekt-Objekt-Wertig-
keit wirkt sich der Einfluss der Actor-network-theory auf die Arbeit von Boltan-
ski und Thévenot aus. Das soziologisch-theoretische Grundlagenwerk, das Bol-
tanski und Thévenot (2007) vorgelegt haben, ist selbst im Kontext der Économie
des conventions entstanden und hat dann sofort auf diese zurückgewirkt.4 Auch
hierin zeigt sich eine Besonderheit der Économie des conventions, deren An-
wendungsfeld zuerst die Wirtschaft ist, die dann aber (in Frankreich) die wirt-
schaftssoziologische Forschung für die pragmatische Soziologie und damit die
allgemeine Soziologie insgesamt hat bedeutsam werden lassen. Die neuere fran-
zösische Wirtschaftssoziologie ist damit nicht länger einfach nur eine Binde-
strichsoziologie, wie dies für die deutsche Wirtschaftssoziologie lange Zeit ge-
golten hat. Diese Theoriebewegung der Économie des conventions (und auch der
Actor-network-theory) zur Neukonzipierung von Akteur-Objekt-Netzen nimmt
die Differenzierung von Soziologie und Ökonomie wieder zurück, die Heiner
Ganßmann kritisch auf den einflussreichen Vorschlag von Franz Oppenheimer
aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeführt hat. Oppen-
heimer hatte die Fächerdifferenzierung anhand der Art der Relationen analytisch
bestimmt, die zu analysieren Aufgabe der jeweiligen Disziplin sei. „Demnach
handelt die Soziologie von ‚Mensch-Mensch-‘, die Ökonomik aber von
‚Mensch-Ding-Beziehungen‘.“ (Ganßmann 1996: 21)5
Ganßmann bezeichnet diese Differenzierung als „Oppenheimers Fluch“.
Denn sie verunmöglicht seitdem eine angemessene Analyse der Formen prakti-
scher Koordination in der Wirtschaft, wie sie für die soziale Zuschreibung von
Werten, für die Lösung von Koordinationsproblemen eben unter Einbezug von
Objekten und kollektiv geteilter Zukunftserwartungen erforderlich ist. Die Öko-
nomie wird von da an zur Nicht-Sozialwissenschaft, und sie beginnt ihre Analy-
se immer erst da, wo „normative Erwägungen (die die Zielwahl leiten) abge-

4 In Frankreich ist „Über die Rechtfertigung“ in einer Vorversion zuerst 1987 („Les économies
de la grandeur“ als Band 31 in der Reihe Cahiers du Centre d’Études de l’Émploi), dann 1991
als „De la justification“ bei Gallimard erschienen.
5 Für eine ausführliche Herleitung dieser Kritik Differenzierung ehemals integrierter sozialwis-
senschaftlicher Disziplinen durch die Aufteilung der Zuständigkeiten von Beziehungsarten
siehe Ganßmann (1979).
Konventionen und Arbeit 39

schlossen sind, weil es immer nur um die Beschaffung von Mitteln, nicht aber
um die Festlegung ‚letzter‘ Ziele geht.“ (Ganßmann 1996: 33)
Für Ganßmann ist der neoklassische Mainstream damit insgesamt bereits in
seinen Grundkonzepten nicht in der Lage wirtschaftliches Handeln angemessen
zu modellieren, da er die Koordinationsproblematik unter der Bedingung doppel-
ter Kontingenz für die Analyse der Wirtschaft schlichtweg ausblendet (Ganß-
mann 2007).

Konventionen
Im Rahmen der Économie des conventions spielt das Konzept der Konvention
im Zusammenspiel mit dem Modell von pragmatisch-kritischen und reflexiv-
kompetenten Akteuren für die Lösung des Koordinationsproblems eine zentrale
Rolle. Konventionen werden hierbei aber nicht als dem Handeln äußerliche und
für dieses bereits vorgegebene Institutionen gedacht. Vielmehr sind Konventio-
nen in das Handeln „eingelagert“, denn Konventionen entstehen als pragmati-
sche Lösungen zunächst situativ und können sich erst von da aus verfestigen –
bis hin zu Institutionen.
„Conventions resemble ‚hypotheses‘ formulated by persons with respect to the relationship be-
tween their actions and the actions of those on whom they must depend to realize a goal. When
interactions are reproduced again and again in similar situations, and when particular courses
of action have proved successful, they become incorporated in routines and we then tend to
forget their initially hypothetical character. Conventions thus become an intimate part of the
history incorporated in behaviors. […] Thus convention refers to the simultaneous presence of
these three dimensions: (a) rules of spontaneous individual action, (b) constructing agreements
between persons, and (c) institutions in situations of collective action; each has a different spa-
tio-temporal extent, and they overlap in complex ways at a given moment in any given situa-
tion. In practice, it is only by initially assuming the existence of a common context and by for-
mulating expectations with respect to the actions of others that it is possible to engage in coor-
dinated collective action: these are the dimensions of inherited, longue durée conventions,
some of which take the form of formal institutions and rules. But at any given moment, the
context is evaluated and re-evaluated, reinterpreted, by the individual who must choose to prac-
tice or not practice according to a given convention.“ (Storper, Salais 1997: 16f.)

Die bislang eingeführten Begriffe „Rechtfertigungsordnung“, „Welt“ (oder „Po-


lis“), „Wertigkeitsordnung“ und „Konvention“ repräsentieren alle gleichermaßen
das zentrale Konzept der Économie des conventions (auch wenn sie jeweils ver-
schiedene Aspekte hervorheben).6 Boltanski und Thévenot (2007) haben zu-
nächst sechs verschiedene Konventionen identifiziert, die sie als historisch ent-
standenes Inventar westlicher Gesellschaften ausmachen. Es sind dann weitere
Konventionen von den Vertretern der Économie des conventions identifiziert

6 Siehe zu der Inbezugsetzung dieser Begriffe auch Boltanski, Chiapello (2003: 61f.).
40 Rainer Diaz-Bone

worden. Zentral für die Wirtschaftssoziologie – und insbesondere die Marktso-


ziologie – ist hierbei, dass in der Sphäre der Ökonomie prinzipiell alle von Bol-
tanski und Thévenot (2007) unterschiedenen Konventionen anzutreffen sind und
eben nicht nur die Marktkonvention. Aus Sicht der Économie des conventions ist
die Ökonomie keine Sphäre, in der das Handeln nur einer Rationalität folgt.
Erfolgreiches und anerkanntes Arbeiten und Wirtschaften kann verschiedenen
Rationalitäten und auch einer Pluralität von Rationalitäten folgen. Die prominen-
testen Konventionen sollen kurz skizziert werden.
Die industrielle Konvention ist durch die Logik der langfristigen Planung
und der Standardisierung der Produktion großer Mengen und nicht durch die
kurzfristige Orientierung an Marktpreisen gekennzeichnet. Arbeitern kommt hier
Wertigkeit zu, indem sie ausdauernd standardisierte Arbeitsabläufe bewerkstelli-
gen, die Führungskräfte qualifizieren sich durch ihre wissenschaftliche Experti-
se, die sie in der Planung, Standardisierung und Kontrolle der Produktion aber
auch in der Anleitung und Kontrolle der Arbeiter einbringen. Wissen ist hier
nicht personengebunden, so dass die Beteiligten in ihrer Position prinzipiell
leicht ersetzt werden können. Dagegen wird die handwerkliche Konvention
durch die Produktion in eher kleinen und auf Familienbeziehungen basierenden
Betrieben repräsentiert. Das Produktionswissen wird mündlich und eher bei-
spielhaft überliefert. Wertigkeit kommt den Handwerkern zu, indem sie im Laufe
ihrer langen Tätigkeit im Betrieb das traditionell betriebsspezifische Wissen
inkorporieren und diesem im Laufe der Meisterschaft individuelle Beiträge hin-
zufügen. Die Produktion ist kundenspezifische Fertigung, nicht Massenprodukti-
on. Die Marktkonvention ist durch eine Produktionsweise gekennzeichnet, die
sich kurzfristig an Kundenbedürfnissen und insbesondere an Preisschwankungen
orientiert. Akteuren kommt einerseits als Nachfragern Wertigkeit zu, wenn sie
mit Bedürfnissen auftreten und zudem über ausreichend Kaufkraft verfügen.
Andererseits verfügen Akteure dann über Wertigkeit, wenn sie sich als geschick-
te Händler erweisen und die begehrten Güter anbieten. Die ökologische Konven-
tion verleiht Wertigkeit denjenigen Akteuren, die die Integrität der biologischen
Umwelt langfristig berücksichtigen. Hier kommt es zunächst nicht auf den
„Konsumwert“ von Produkten an, sondern auf die Art ihrer Herstellung, insofern
diese die Natur nicht nachteilig beeinträchtigen. Dann kommt es auf die Folgen
des Konsums für eben diese Integrität der Natur an (wozu auch die körperliche
Integrität der Endverbraucher zählt). Handlungsweisen erhalten Wertigkeit,
wenn sie begründet diese Integrität wahren oder herstellen. Akteuren kommt
weiter Wertigkeit zu, wenn sie über Wissen über die ökologischen Zusammen-
hänge verfügen (Thévenot et al. 2000). Die Netzwerkkonvention haben Boltanski
und Chiapello (2003) als eine neue Form der Arbeitsorganisation identifiziert,
die die Kritik, die an den Formen des tayloristischen Managements geübt wurde,
Konventionen und Arbeit 41

nun in die neuen Managementformen aufnimmt und so produktiv absorbiert.


Wertigkeit kommt hier den Arbeitnehmern insofern zu, als sie sich als „projekt-
fähig“ erweisen und ihre Anstrengungen eigeninitiativ und selbst kontrolliert auf
den erfolgreichen Abschluss des (oft immateriellen, wie in Form von Dienstleis-
tungen bestehenden) Projektziels ausrichten. Arbeitsverhältnisse sind hier häufig
nur vorübergehend, und die in der Vergangenheit bewiesene Projektfähigkeit
wird gegenwärtig als Indiz für die Verwendbarkeit für neue Projekte genommen.
Sind die Arbeitsbeziehung der Marktkonvention zufolge durch Anonymität, die
der industriellen Konvention zufolge durch Formalisierung und die nach der
handwerklichen Konvention durch Abhängigkeit gekennzeichnet, so prägen
Beziehungen durch Bekanntheit und strategisches Vertrauen die Netzwerkkon-
vention.
Konventionen beinhalten ein allgemeineres Prinzip. Dieses ist das Äquiva-
lenzprinzip, und es bestimmt den normativen Gehalt der Konvention, denn dieses
Prinzip verweist einmal auf eine „Vision“ für die Verfassung eines idealen Ge-
meinwesens (sei es die ideale Familie, der ideale Markt oder die ideale indus-
trielle Planung). Zum anderen stellt es das Prinzip dar, auf dessen Grundlage
Wertigkeiten vergleichbar werden (was nicht deren Gleichmachung bedeutet).
Konventionen beinhalten die Referenz auf ideale Zustände, denn sie erhalten ihre
Wirkmächtigkeit durch das Versprechen, eine bestimmte Form des Allgemein-
wohls anzustreben. Zum anderen ermöglicht dieses Äquivalenzprinzip auch, dass
die einzelnen Akteure in kritischen Situationen darauf bezogen werden und so
ihre Wertigkeit vom Standpunkt der Konvention beurteilt werden kann. Damit
ermöglicht das mit den Konventionen einhergehende Äquivalenzprinzip, dass
Akteure, Objekte oder Situationen je untereinander vergleichbar gemacht wer-
den: Sie werden mit Bezug auf die Konvention klassifizierbar.
Allerdings sind Situationen regelmäßig durch eine Pluralität von Konven-
tionen gekennzeichnet. Solche Pluralitäten können dann Ausgangspunkt für
Konflikte sein, wenn zum Beispiel die Arbeitsleistung in einem Team vom
Standpunkt verschiedener Konventionen unterschiedlich beurteilt wird. Zudem
ist es den Akteuren möglich, Kompromisse zwischen Konventionen herzustellen
und diese auf Dauer zu stellen. In der Arbeitswelt sind Werksmeister in großen
Industriebetrieben ein formalisierter Kompromiss zwischen der handwerklichen
und der industriellen Konvention. Im Unternehmen ist es insbesondere die Auf-
gabe des Managements, solche Kompromisse zu verwalten, Konflikte zwischen
Konventionen zu lösen und gangbare Kompromisse zu institutionalisieren. Aus
Sicht der Économie des conventions sind die verschiedenen Formen von Unter-
nehmen weniger durch Effizienzgesichtspunkte zu erklären – wie im wirtschafts-
wissenschaftlichen Neoinstitutionalismus von Williamson (1985) – als vielmehr
durch die Komplexität, die durch die Pluralität der Konventionen eingebracht
42 Rainer Diaz-Bone

wird (Thévenot 1989). Diese Komplexität wird in der Form des Unternehmens in
unterschiedlicher Weise gehandhabt.
Die verschiedenen Studien der Économie des conventions haben nicht nur
weitere Konventionen identifiziert. Das Konzept der Konvention ist auch so
differenziert worden, dass Formen von Konventionen angenommen werden, die
sich hinsichtlich ihrer „Reichweite“ unterscheiden. Die Konventionen, die von
Boltanski und Thévenot in „Über die Rechtfertigung“ beschrieben werden, sind
dadurch gekennzeichnet, dass sie sich als Handlungslogiken in einer Öffentlich-
keit prinzipiell rechtfertigen bzw. kritisieren lassen. Darüber hinaus werden aber
auch Konventionen angenommen, die eher privaten Charakter haben, die als
Routinen die individuelle Lebensführung strukturieren, und die nicht dem Recht-
fertigungsimperativ in einer Öffentlichkeit unterliegen (Thévenot 2006). Zudem
betonen die verschiedenen Vertreter der Économie des conventions in ihren
Analysen unterschiedliche Leistungen der Konventionen. Für Salais steht aus
institutionalistischer Sicht die Koordinationsleistung von Konvention im Vor-
dergrund, für Orléan eher die Fähigkeit von Konventionen, als kognitive Reprä-
sentationen zu fungieren.
Thévenot und Eymard-Duvernay haben das Konzept der Konvention für die
kollektive Qualitätsdefinition in Produktionsprozessen angewandt und sprechen
daher auch von Qualitätskonventionen (Thévenot 1986a; 1989; Eymard-
Duvernay 1989; 2004). Die Qualitätskonvention bezeichnet dabei die Art und
Weise, wie die konventionenbasierte Vernetzung von Handlungen, Objekten und
Konzepten die Produktion in kohärenter Weise organisiert. Damit ist es nicht
sinnvoll, einzelne Handlungen und Elemente der Produktion zu analysieren, denn
sie sind in der Produktion wechselseitig aufeinander bezogen, und für die Akteu-
re ist das System der Produktion kohärent, weil es mit der Qualitätskonvention
ein wahrnehmbares unterliegendes kollektives Schema gibt, das unternehmens-
übergreifend die Handlungen, die Wahrnehmungen und das Denken in einem
Unternehmen oder gar in einem Branchensegment praktisch aufeinander ab-
stimmt. Der theoretische Bezug auf Qualitätskonventionen soll damit leisten,
dass verschiedene nun als miteinander verbundene Aspekte in empirischen Ana-
lysen erklärbar werden. (1) Zunächst können Qualitätskonventionen zu Produk-
tionsmodellen werden, indem sie kohärente Formen der Organisation und der in
ihr unterschiedlich stattfindenden Produktionsweise vorzeichnen. (2) Mit den
unterschiedlichen Qualitätskonventionen korrespondieren unterschiedliche Defi-
nitionen von Produktqualitäten und Kompetenzen von Personen (Arbeitnehmern,
Arbeitgebern). Aus dieser Sicht kann jeweils (und am besten auch vergleichend)
versucht werden zu zeigen, wie auf eine solche Qualitätskonvention bezogen die
Konstruktion von „Produkten“ und „Arbeit“ erfolgt. (3) Auf Qualitätskonventio-
nen beruht weiter die Differenzierung von Produktionsmärkten und Branchen in
Konventionen und Arbeit 43

Bereiche, in denen verschiedene Qualitätskonventionen das jeweilige Produkti-


onsregime darstellen. Damit kann das Konzept der Qualitätskonvention herange-
zogen werden, um aus marktsoziologischer Perspektive die Binnendifferenzie-
rung von Märkten zu analysieren. (4) Zuletzt zeigt sich in der Analyse, dass eine
Qualitätskonvention über verschiedene Produktionsstufen hinweg die Produktion
integrieren kann, das heißt, dass die Qualität der jeweiligen Vorprodukte der
Qualitätskonvention entsprechen muss und hier die „Ontologie“ der Produktqua-
lität nur in mehreren Unternehmen schrittweise zustande kommt. Durch die
Verwendung des Konzepts der Qualitätskonventionen wird ersichtlich, wie die
Produzenten auf unterschiedlichen Produktionsstufen sich an einer gemeinsamen
Qualitätsdefinition unternehmensübergreifend orientieren.7
Ein weiterer Beitrag der Économie des conventions besteht in der For-
schung zu den nach Konvention spezifischen Weisen der kognitiven Organisati-
on von Wissen, genauer: zu den konventionenspezifischen Weisen der „Investi-
tion in Formen“. Damit einer Qualitätskonvention entsprechend koordiniert ge-
handelt werden kann, ist eine kognitive „Instrumentierung“ für die konventio-
nenbasierte Koordination erforderlich. Diese Instrumentierung korrespondiert
mit Qualitätskonventionen, und erst mit dieser Instrumentierung werden Organi-
sationen (beziehungsweise spezifischer: Unternehmen) und Märkte zu einem
sozialen Kollektiv (Eymard-Duvernay 2004). Hier erhalten Formen den Charak-
ter von Dispositiven für die Evaluation und Koordination. Thévenot (1984) zeigt,
dass ein Unternehmen nicht nur in die materielle Instrumentierung (wie Maschi-
nen) für die koordinierte Produktion investieren muss, sondern auch in Formen
als Investition in die immaterielle Instrumentierung. Thévenot hat dies beispiel-
haft anhand der tayloristischen Arbeitsorganisation veranschaulicht, die idealty-
pisch die industrielle Qualitätskonvention repräsentiert. Frederick W. Taylors
„Prinzipien des wissenschaftlichen Managements“ beinhaltet ein ganzes Reper-
toire an formgebenden Strategien, die sorgsam im Unternehmen implementiert
und aufeinander abgestimmt werden müssen. Dazu zählen die Techniken und
Methoden der Erfassung und Zergliederung von Arbeitsabläufen, der Normie-
rung der zugehörigen Zeiteinheiten, die damit mögliche Bewertung von Arbeits-
leistung und insbesondere das Spektrum der schriftlichen Fixierungen (wie An-
weisungen), der zugehörigen sprachlichen Formen (wie Definitionen) und grafi-
schen Darstellung der Arbeitsabläufe, Einheiten und Leistungsstände. Wissen
wird so auf der Ebene des Unternehmens „formatiert“ und zu „In-Formation“, es
wird damit dem Besitz einzelner Akteure entzogen. Zu der Investition in Formen
gehören aber auch die Prinzipien der räumlichen Anordnung von Maschinen und

7 Boisard und Letablier (1987) haben dies beispielhaft für die Produktion von Camembert
gezeigt, der einmal als „Massenprodukt“ unter dem Regime der industriellen Konvention her-
gestellt wird und einmal als „Spezialität“ unter dem Regime der handwerklichen Konvention.
44 Rainer Diaz-Bone

Materialien (Vor- und Zwischenprodukte). Damit wird die Anordnung der Ob-
jekte und die Zuordnung der auf diese abgestimmten Handlungsabläufe selbst
ein kollektives kognitives Dispositiv der Produktion: Sie strukturieren die Wahr-
nehmung der kollektiven Produktion. Thévenot spricht von Investition in For-
men als von einer Praxis „formgebender Aktivitäten“, also von der Einfassung
und der Vernetzung der Handlungspraxis in der Produktion anhand von kollekti-
ven kognitiven Formen. Er zeigt, wie die Forminvestition als „Formierung der
Produktion“ nicht nur alle Stationen der Produktion übergreift und integriert,
sondern wie sie sich in den Anweisungen für die Qualifizierung, Bewertung und
Standardisierung der Ausbildung und der Produkte selber in kohärenter Weise in
der Konstruktion von Wertigkeiten niederschlägt.

Arbeit
Die Analyse der Arbeit sowie der institutionellen Formen für die Arbeitsorgani-
sation und für Arbeitsmärkte ist trotz der mittlerweile weiten thematischen Diffe-
renzierung der Économie des conventions ein konstantes Anliegen. Im Folgen-
den sollen drei spezifischere Forschungsbereiche skizziert werden, die zeigen,
wie die Forschung zur Arbeitsorganisation und zum Arbeitsmarkt mit diesem
Ansatz integriert werden kann. Insbesondere die Analyse der Einstellungsprakti-
ken stellt ein aktuelles Forschungsfeld am CEE dar, wobei diese Beiträge der
Économie des conventions im deutschsprachigen Raum noch kaum beachtet
werden, so dass dieses ausführlicher eingeführt werden soll.8

Berufe klassifizieren
Ein erster Ausgangspunkt der Économie des conventions war die Überarbeitung
der sozialstatistischen Berufskategorien am Institut National de la Statistique et
des Études Économiques (INSEE). Diese „catégories socioprofessionnelles“
(CSP) sind in Frankreich zugleich auch die in der Gesellschaft etablierten Kate-
gorisierungen, anhand derer sich soziale Milieus im sozialen Raum identifizie-
ren. Die Analyse der Entstehung von Berufskategorien und Berufsklassifikatio-
nen ist nicht nur für die Arbeits- und Industriesoziologie auf der Ebene der be-
trieblichen Arbeitsorganisation bedeutsam, sondern für die Sozialstrukturanalyse
insgesamt. Hier beginnt die Économie des conventions mit der sozial-histori-
schen Analyse der Formierung von Berufsgruppen, die stattfindet, wenn sich

8 Die konventionentheoretische Analyse des Arbeitsvertrages und des Gehalts sind weitere For-
schungsbereiche, die zum Anwendungsspektrum der Économie des conventions zählen, siehe
Reynaud (1994) sowie die Beiträge in Salais, Thévenot (1986) und Eymard-Duvernay (2006a;
2006b).
Konventionen und Arbeit 45

Akteure an der kollektiven Investition von Berufskategorien beteiligen, um diese


Berufskategorie als Begriff und als kognitive Kategorie im sozialen Raum zu
etablieren.
Boltanski (1990) hat dies anhand der Etablierung der Gruppe der „Füh-
rungskräfte“, der „cadres“, gezeigt. Boltanski argumentiert, dass die Evidenz für
die Existenz dieser Gruppe Resultat von Forminvestitionen als Resultat einer
Repräsentationsarbeit zu denken ist, die mehrere Dimensionen hat. Einmal geht
es um die erfolgreiche symbolische Repräsentation mit Hilfe der Etablierung
eines Namens, mit dem einerseits eine möglichst idealtypische Darstellung eines
Berufsbildes verbunden werden soll, so dass das Label im sozialen Raum attrak-
tiv erscheinen kann. Andererseits sollen möglichst viele angrenzende Fraktionen
„mobilisiert“ werden können, indem das Berufsbild auch ausreichend offen ge-
halten wird. Weiter erfolgt zugleich die politische Repräsentation vor allem
durch die Gründung und Einflussnahme von Berufsverbänden. Diese agieren in
den verschiedenen Arenen, um die Durchsetzung der Kategorie zu erreichen, um
die Macht der Definition der Zugehörigkeit zu dieser Sozialkategorie möglichst
zu kontrollieren und um Leistungen und Berechtigungen für die Gruppe dann
auch gegenüber den weiter entfernten sozialen Gruppen durchzusetzen. Die
cadres bilden heute in Frankreich eine etablierte sozialstrukturelle Kategorie und
werden selbstverständlich als eine Gruppe wahrgenommen.9 Aber die Einteilun-
gen in Berufskategorien und Berufsgruppen sind nicht bereits in der „Natur der
Sache“ angelegt, sondern sind Resultat verschiedener Formen sozialer Praxis
von Akteursgruppen, die diese institutionalisieren – wie Statistiker, Vertreter von
Berufsverbänden, Tarifpartner und der Staat (der ausbildet und einige Abschlüs-
se samt Berufsbezeichnungen reguliert). Die Entwicklung von Berufsklassifika-
tionen im Rahmen der amtlichen Statistik ist eine konstruktive Praxis, für die
entschieden werden muss, warum und anhand welcher Äquivalenzprinzipien
Berufsgruppen einzuteilen sind. Diese Entscheidung ist die Festlegung einer sta-
tistischen Konvention, auf der die Klassifikation beruht. Die „Entdeckung“ der
rechtfertigenden Praxis und der reflexiven Kompetenzen der Akteure erfolgte in
der Analyse, wie Akteure Karteikarten mit soziodemographischen Daten von
Individuen klassifizieren. Hier stellte sich heraus, dass die Weise der Klassifika-
tion von Karteikarten zu Kritiken und Rechtfertigungsversuchen unter den Ak-
teuren führte.
„To calm the tension, they have to escape into generalization and this leads them to draw on
the available forms of representation of the social world and to reinvent the principal social

9 Salais et al. (1986) haben in einer weiteren Studie gezeigt, wie die statistische Kategorie der
„Arbeitslosen“ entstanden ist und wie sie im Laufe von hundert Jahren ihre Bedeutung verän-
dert hat, weil sie auf je andere statistische Konventionen bezogen wurde.
46 Rainer Diaz-Bone

philosophies, which they gravitate to in accordance with their social trajectories of their habi-
tus.“ (Boltanski, Thévenot 1983: 657)

Der kritisierende beziehungsweise rechtfertigende Bezug auf allgemeinere Prin-


zipien und etablierte soziale Repräsentationen ließ den konventionellen Charak-
ter dieser Klassifikationen deutlich werden.

Konventionen der Arbeit


Während das Konzept der Qualitätskonvention die Arbeitsorganisation auf der
Ebene des Unternehmens und die Praktiken der Unternehmensführung fokus-
siert, hat Salais (1989: 2007) bei der „Arbeit“ selbst angesetzt. Er diagnostiziert
die Koexistenz der „Konvention der Produktivität“ und der „Konvention der
Arbeitslosigkeit“. Während die Konvention der Produktivität die Bedeutung der
Arbeit für die Herstellung von Produkten im Unternehmen bestimmt, setzt die
Konvention der Arbeitslosigkeit an der Beurteilung der Arbeit als Ware an der
Schnittstelle zwischen Unternehmen und Arbeitsmarkt an. Die Konvention der
Produktivität strukturiert die Arbeitsbeziehung, indem sie die Transformation der
Arbeit in ein Produkt koordiniert und daraufhin bewertet. Hier werden die Arbeit
und das Produkt im Unternehmen auf Konzepte wie Lohn, Effizienz und Qualität
bezogen. Die Konvention der Arbeitslosigkeit bezieht dagegen die Arbeit als
Ware auf dem Arbeitsmarkt auf die Absatzmöglichkeiten von Produkten auf
zugehörigen Produktmärkten. In dem Moment, in dem der Unternehmer das
fertige Produkt verkaufen will, muss das Verhältnis zwischen diesen beiden
Konventionen justiert werden. Denn das ist der Moment, in dem das Produkt
durch den Markt geprüft wird. Diese Justierung erfolgt en detail durch einen
Evaluationsprozess, in welchem der Unternehmer die Geltung der beiden Kon-
ventionen berücksichtigen und relationieren muss:
„Entspricht es nach Menge, Qualität und Preis den Erwartungen und Möglichkeiten der Käu-
fer? In diesem Moment wird auch die Konvention der Produktivität getestet. Denn häufig tun
sich bedeutende Lücken zwischen den Antizipationen des Unternehmens und den Möglichkei-
ten des Absatzes auf dem Markt auf. Die Anpassung der Kosten wird über die Konvention der
Arbeitslosigkeit geregelt. Die Menge der bezahlten Arbeit wird an die Marktmöglichkeiten an-
gepasst (gemäß diverser Arrangements: Entlassung, Unterbeschäftigung, Einstellungsstopp,
Aufteilung der Arbeit). Im Artikel von 1989 habe ich untersucht, ob es eine Hierarchie zwi-
schen den beiden Konventionen gibt. In dem Maße, wie die Konvention der Produktivität über
das Endergebnis entscheidet, hat ihre Stabilität Vorrang. Der Unternehmer hat kein Interesse
daran, in jedem Augenblick die Lohnsetzung in Frage zu stellen, auf deren Stabilität das Ar-
beitsengagement der Lohnabhängigen beruht. Die Anpassung ist kurzfristig. Sie richtet sich
vorrangig auf die Parameter der Beschäftigung, daher die Konvention der Arbeitslosigkeit. In
einem solchen Schema funktioniert die Mechanik der Macht über die Hierarchie der beiden
Konventionen. Die Priorität, die der Stabilität der Lohnsetzung eingeräumt wird, bedeutet für
die Lohnabhängigen, dass sie die Auswirkung von Marktschwankungen auf das Beschäfti-
gungsniveau akzeptieren müssen. Umgekehrt muss der Unternehmer die Interessen der Lohn-
Konventionen und Arbeit 47

abhängigen im Bereich der Produktion berücksichtigen. Es besteht also dort eine Art Ver-
pflichtung (mit ungleichen Erträgen für die einen und die andern) zur Kooperation. Der Punkt,
bis zu dem der Unternehmer sich kompromissbereit zeigen muss, hängt ab vom relativen Ge-
wicht der Paradigmen der Organisation und des Markts.“ (Salais 2007: 103f.)

Die Auswirkungen variierender Absatzmöglichkeiten für die Arbeit hängen


damit aus konventionentheoretischer Sicht von der relativen Gewichtung dieser
beiden Konventionen ab. Hat die Konvention der Produktivität Vorrang, variiert
das Beschäftigungsvolumen bei relativ stabilen Löhnen, reicht aber die Konven-
tion der Arbeitslosigkeit in das Unternehmen hinein, dann beginnen die Löhne
zu variieren bei relativer Stabilität der Arbeitszeit. Die konventionenbasierte
Konstruktion des „Werts“ der Arbeit variiert je nach dominierender Konvention.

Analyse der Einstellungspraktiken


Ein weiterer Forschungsbereich der Économie des conventions besteht in der
Analyse von „Rekrutierungsformen“ und „Einstellungspraktiken“ auf Arbeits-
märkten („façons de recruter“) und den beteiligten Praxisformen derjenigen, die
am Einstellungsprozess beteiligt sind. Die Kompetenzen der Bewerber werden
hierbei nicht als „objektiv“ gegebene Sachverhalte betrachtet, sondern gerade
daraufhin analysiert, wie sie im Laufe der ineinander greifenden Stationen der
Rekrutierung durch die Praktiken verschiedener Akteursgruppen hervorgebracht
werden. Kompetenzen von Arbeitnehmern sind für Eymard-Duvernay Resultat
von Beurteilungspraktiken (jugements). Diese erfolgen wiederum mit Bezug auf
eine Konvention, so dass die Kompetenz einer Person (zum Beispiel einer Be-
werberin) je nach Konvention unterschiedlich beurteilt wird.
„Notre approche nous incite à inscrire le jugement dans le registre de l’action. Il n’a pas une
compétence existant préalablement au jugement et qu’il s’agirait de découvrir: le jugement
contribue à la formation de la compétence. Suivant une expression un peu galvaudée on pour-
rait dire que la compétence est une ‚construction sociale‘. Plus précisément, nous parlerons de
la compétence comme résultant d’une convention, c’est-à-dire d’un accord sur ce qu’est la
compétence. Le terme convention est utilisé pour désigner des accords plus proches de l’action
que ne le sont des normes sociales fondamentales […]. Cette démarche conduit à un déplace-
ment de l’analyse: des compétences, on passe à la relation de jugement.“ (Eymard-Duvernay,
Marchal 1997: 12)

Eymard-Duvernay und Marchal (1997: 25f.) haben vier Konventionen für die
Beurteilung von Bewerbern unterschieden, die im Zuge von Einstellungsprakti-
ken („Rekrutierungen“) zum Tragen kommen. Wieder handelt es sich um ideal-
typische Unterscheidungen. (Die beiden Autoren greifen hierbei nur die „Markt-
konvention“ von Boltanski und Thévenot auf, die sie nun auf die Einstellungs-
praktiken beziehen und führen drei weitere Konventionen ein.)
48 Rainer Diaz-Bone

1. Die Konvention der Institution: Die Beurteilung erfolgt hier mit Bezug auf
formale Regeln, die die allgemeinen Kategorien der ausgeschriebenen Tä-
tigkeit (Unternehmenskategorien, Kategorien der Arbeitsposition usw.) an
die spezifischen Kategorien der Bewerber (Diplome, Berufserfahrungen)
vermitteln. Aber der Rekrutierende muss als „Regulator“ dennoch für jeden
Bewerber die Anwendung der Regeln interpretieren, denn der Économie des
conventions gelten formale Regeln als unvollständig.
2. Die Konvention des Marktes: Hier betrachtet der Rekrutierende eine mög-
lichst große Auswahl an konkurrierenden Bewerbern als einen Markt und
versucht eine Wahl zu treffen, die einerseits mit wenigen Kosten verbunden
sein soll und andererseits durch den Konkurrenzmechanismus die Qualität
der Bewerber optimieren soll. Im Unterschied zur Konvention der Instituti-
on unterliegt der Rekrutierende hierbei nicht im selben Ausmaß dem Zwang
zur Rechtfertigung. Der Rekrutierende ist hier ein „Selektierer“. Um die
„Eignung“ der Bewerber zu ermitteln, kann der Rekrutierende ein Repertoi-
re von einfachen Regeln bis hin zu psychologischen Eignungstests einsetzen.
3. Die Konvention des Netzwerks: Der Rekrutierende stützt sich in der Aus-
wahl auf ein Netzwerk sozialer Beziehungen, um einen Kandidaten für eine
Stelle zu ermitteln. Hier kommen weder allgemeine Regeln zur Anwendung
(wie bei der Konvention der Institution), noch erfolgt die Mobilisierung ei-
ner möglichst großen Zahl von Bewerbern (wie bei der Konvention des
Marktes). Die Rekrutierung erfolgt vielmehr lokal und die Rolle des Rekru-
tierenden ist hier nur gering institutionalisiert, so dass er als ein „Mediator“
angesehen werden kann. Er verlässt sich hierbei auf die im Netz zirkulie-
rende Reputation von Kandidaten, deren Kompetenz als in ihren Beziehun-
gen „verteilt“ („distribuiert“) betrachtet wird.
4. Die Konvention der Interaktion: Hier ist dem Rekrutierenden der Kandidat
(in einem Bewerbungsgespräch) situativ präsent, und er versucht eine Ver-
trauensbeziehung zu dem Kandidaten herzustellen. Die Beurteilung basiert
auf dem Interaktionsprozess, in dem die Kompetenz des Kandidaten „emer-
giert“. Hierbei ist der Rekrutierende ein Gesprächspartner, der versucht, im
Laufe der Interaktion die Kategorien für die Beurteilung des Bewerbers zu
gewinnen und anzupassen.
Auch bei dieser (analytischen) Unterscheidung von vier Konventionen zeigt sich
die für die Économie des conventions kennzeichnende Position der unterstellten
Pluralität von Konventionen: Es gibt nicht nur eine ökonomische Prozedur für
die Auswahl von Bewerbern, sondern alternative Modi der Beurteilung für „Ar-
beit“ und „Kompetenz“. Zudem ist charakteristisch, dass in den meisten Einstel-
lungsverfahren mehrere dieser Konventionen zu verschiedenen Zeitpunkten mit
Konventionen und Arbeit 49

unterschiedlichem Gewicht „aktiviert“ werden, so dass eine Rekrutierung zu-


meist nicht durch eine einzige Konvention geprägt ist. Wenn dies aber so ist,
dann ist für die Économie des conventions bedeutsam, wie die Akteure den
Übergang zwischen diesen Konventionen handhaben, und wie sie ein „ausgewo-
genes Urteil“ („jugement équilibré“) zustande bringen, nachdem verschiedene
Konventionen handlungswirksam geworden sind, denn die Konventionen artiku-
lieren durchaus antagonistische Logiken.
Eymard-Duvernay und Marchal haben für die vier Konventionen systema-
tisch unterschieden, wie diese eine je eigene „Ontologie“ der Kompetenz von
Bewerbern fundieren, und welche „Dispositive“ diese Kompetenzkonstruktion
unterstützen und stabilisieren. Die folgende Abbildung setzt die vier (idealtypi-
schen) Konventionen zueinander in Beziehung. Dabei treten zwei Oppositionen
zu Tage, die durch die vertikale und die horizontale Achse in der Abbildung re-
präsentiert werden. (1) Die vier Konventionen lassen sich danach unterscheiden,
ob die Prozeduren der Kompetenzzuschreibung im Rekrutierungsprozess auf
individuelle Eigenschaften zurückgeführt werden, oder ob die Kompetenz zu-
rückgeführt wird auf Eigenschaften, die den Bewerbern aufgrund ihrer Zugehö-
rigkeit zu Kollektiven zukommen. (Die individuellen Eigenschaften sind Ge-
genstand der Psychologie und werden als „naturgegebene Ausstattung“ von Per-
sonen aufgefasst. Kollektive Eigenschaften sind durch Institutionen „abgesicher-
te“ Eigenschaften, wie Bildungsabschlüsse oder die Statusgruppen und Netzwer-
ke, denen Bewerber angehören.) (2) Kompetenzen lassen sich dann danach un-
terscheiden, ob sie sich in einem Aushandlungsprozess im Laufe der Rekrutie-
rung in Situationen ergeben oder ob sie sich auf Normen und Kriterien beziehen,
die vor der einzelnen Rekrutierung institutionalisiert wurden, so dass vereinheit-
lichte Kriterien für die Beurteilung gelten, die nicht auf den Einzelfall bezogen
sind (oder im Laufe einzelner Rekrutierungen entwickelt wurden).10

10 In dieser Dimension stehen einander die Konzepte der formalen Qualifikation und der indivi-
duellen Eignung gegenüber. Eymard-Duvernay und Marchal (1997: 42f.) heben die Rolle der
Psychologie hervor, die die individuellen Dispositionen (Eignungen) von den institutionalisier-
ten Formen der Kompetenz (Qualifikation) dadurch absetzt, dass diese Kompetenzen als Teil
der „naturgegebenen Ausstattung“ von Individuen konzipiert werden. Kompetenzen werden so
als Begabung (1) individualisiert und (2) als dauerhaft gegebene, stabile Eigenschaften aufge-
fasst.
50 Rainer Diaz-Bone

Abbildung: Konventionen der Rekrutierung

Kompetenzen werden auf die


Zugehörigkeit von Kollektiven bezogen

(1) Institution (3) Netzwerk

Rekrutierender: Regulierer Rekrutierender: Mediator

Dispositive, die Äquivalenz Dispositive, die Beziehungen


herstellen: Status, Stufen, herstellen: räumliche Nähe,
Diplome, Positionen, Bürgen, Objekte
Hierarchie

Ontologie der Kompetenz: Ontologie der Kompetenz:


Vereinheitlichung formale Qualifikationen im Netz distribuierte
und Planung Kompetenzen Aushandlung der
(„planification“) Kompetenzen
der Kompetenzen (2) Markt (4) Interaktion

Rekrutierender: Rekrutierender:
Selektierender Gesprächspartner

Dispositive der Konkurrenz: Face-to-face-Dispositive:


Kleinanzeigen, Eignungstests Bewerbungsgespräche

Ontologie der Kompetenz: Ontologie der Kompetenz:


Eignung („aptitudes“) emergierende Kompetenzen

Individualisierung der Kompetenzen

Quelle: Eymard-Duvernay, Marchal 1997: 25

Wenn im Laufe einer Rekrutierung mehrere dieser hier unterschiedenen Konven-


tionen durch die Akteure praktischer Bezug werden für die Handlungskoordina-
tion, dann ist es in der Regel erforderlich, dass so genannte „intermédiaires“
zwischen diesen verschiedenen Konventionen als Bewertungslogiken vermitteln,
zwischen ihnen „Übersetzungen“ leisten und Kompromisse herstellen. „Intermé-
diaires“ sind alle Personen, die an dem Prozess der Rekrutierung beteiligt sind.
Das können Berater sein, die in spezialisierten Unternehmen für die Suche von
Konventionen und Arbeit 51

Arbeitnehmern tätig sind. Das können aber auch Mitarbeiter von Behörden,
staatlichen und lokalen Einrichtungen sein, die an der Vermittlung von Arbeit-
nehmern beteiligt sind.
Am CEE sind verschiedene qualitative Studien zu eben diesen vermitteln-
den Tätigkeiten im Rahmen der Rekrutierung von Führungskräften (cadres) durch-
geführt worden. Anhand von Einzelfallstudien wurde hierbei untersucht, wie die
intermédiaires vorgehen, was ihre Handlungskriterien und Routinen sind – und:
wie sie praktisch an der Konstruktion von Kompetenzen und der Definition von
Anforderungen mitwirken. In diesen Untersuchungen wurden die intermédiaires
gebeten in dem Prozess der Einstellung von Führungskräften ihre Vorgehenswei-
se schrittweise zu erläutern. Beratungs- und Einstellungsgespräche wurden dabei
(offen) beobachtet und die verschriftlichten Gespräche ausgewertet.
In einem Fall wurde ein Berater engagiert, der für einen mittelständischen
Unternehmer eine „rechte Hand“ für die Geschäftsführung suchen sollte. Der
Unternehmer hatte aus Sicht des Beraters, der an den Formaten des Marktes
orientiert war, wenig spezifizierte Vorstellungen von der Tätigkeit und der Ar-
beitsplatzdefinition seines zukünftigen Mitarbeiters. Die Organisation des mit-
telständischen Unternehmens war durch wenige Hierarchiestufen und durch
geringe Formalisierung der leitenden Tätigkeiten gekennzeichnet. Der Unterneh-
mer beschrieb, welche charakterlichen Eigenschaften er von dem zukünftigen
Mitarbeiter erwartete, und sah dessen Aufgabe insbesondere darin, selbst flexibel
Probleme zu identifizieren und darauf zu reagieren. Die Schilderung beinhaltete
die Angabe der Arbeitsbeziehungen, in die der neue Mitarbeiter eher wie in ein
Netzwerk denn in eine formale Organisation eintreten sollte. Anfangs stellte für
den Unternehmer die Konvention des Netzwerks dessen Handlungslogik und
Denkschemata dar. Der Berater versuchte nun, nach und nach im Beratungsge-
spräch die Konvention des Netzwerks in diejenige des Marktes „zu übersetzen“.
Er musste im Gespräch Punkt für Punkt die erwarteten Eigenschaften in die
Formate der Marktkonvention umwandeln, wobei er genau hier praktisch inter-
venieren musste. Denn die anfänglich nicht spezifizierten Vorstellungen des
Unternehmers oder die Erwartungen, die mit der Marktkonvention nicht verein-
bar waren, wurden im Beratungsgespräch so umgearbeitet, dass die resultieren-
den Formulierungen in einer Stellenanzeige gedruckt werden konnten. So erwar-
tete der Unternehmer „Charisma“ und „allgemeine Persönlichkeit“, was im Bera-
tungsgespräch zunächst zu „professioneller Kompetenz“ und dann zu „vorhan-
dener Managementerfahrung“ transformiert wurde. Da der Berater die Formate
des Marktes antizipierte, wirkte er aktiv auf die Anzeigengestaltung und sogar
auf die Definition der formalen Arbeitsplatzanforderungen mit ein. So schlug er
die erforderlichen formalen Abschlüsse und eine Eingrenzung des Alters vor.
Der Berater wurde damit nicht nur zum „Übersetzer“ und „Mitkonstrukteur“ für
52 Rainer Diaz-Bone

die Stellenausschreibung; durch seine Intervention setzte er darüber hinaus For-


men des Marktes so durch, dass er aktiv die Angleichung der Formen von Ange-
bot und Nachfrage betrieb, weil der Berater auch an den Unternehmer die
Marktkonvention vermittelte.
„On se propose de pointer la série de traductions opérées par le consultant. La demande de
l’employeur ne peut pas être transposée telle quelle dans une annonce d’offre d’emploi. Elle
doit être formatée et transcrite dans les standards du marché du travail. Cela suppose à la fois
de délimiter les contours du poste et d’en définir les composantes, de lister des critères de sé-
lection permettant aux candidates. Le cas auquel il se trouve confronté permet de bien mettre
en évidence qu’il n’est pas un intermédiaire transparent dans le rapprochement de l’offre et de
la demande. Il joue un rôle actif dans la construction du profil qui va constituer l’unique repère
commun aux différentes parties impliqués dans le recrutement.“ (Eymard-Duvernay, Marchal
1997: 54f.)

Dennoch beinhaltete die Stellenanzeige die Spuren der Netzwerkkonvention, da


die Angaben des Unternehmers sich nicht ganz in standardisierte Formate der
Marktkonvention übersetzen ließen, so dass Formulierungen wie „rechte Hand
des Unternehmers“ oder die Anforderung „schnell reagieren zu können“, „viel-
seitig zu sein“ Interpretationsspielraum ließen für Bewerber, die so auf eine
geringe Formalisierung der Arbeitsorganisation schließen konnten. Ihnen oblag
dabei die Aufgabe, die Tätigkeit zu präzisieren beziehungsweise die wenig be-
stimmte Aufgabe zu präzisieren.
Anzeigen sind hier das eine Dispositiv für die Marktkonvention. Anzeigen
stabilisieren diese Form der Handlungskoordination und stellen für die Akteure,
die sich daran orientieren, die kognitive Orientierung dar: Auch wer sich (als
Arbeitnehmer) nicht auf Annoncen bewirbt beziehungsweise (als Arbeitgeber)
keine Annonce aufgibt, kann so sehen, „was der Markt ist“, was man hier erwar-
ten kann. Stellenanzeigen repräsentieren die „Grammatik der Marktkonvention“,
da sie die formalisierten (zum Teil gesetzlich festgeschriebenen) Formulierungen
für Qualifikationsanforderungen, Tätigkeitsbeschreibungen und Berufsbezeich-
nungen verwenden, die von allen Akteuren gekannt und anerkannt werden.
Die nächste Aufgabe des Beraters war die Sichtung der eingegangenen
schriftlichen Bewerbungen. Hier wurde das Curriculum Vitae (CV) zum weite-
ren Dispositiv der Marktkonvention für die Auswahl. Das standardisierte schrift-
liche Format des CVs ermöglichte ein hohes Maß an Vergleichbarkeit und damit
an Konkurrenz zwischen den Bewerbern. Da eine große Zahl von Bewerbungen
vorlag, und die Auswahl effizient erfolgen sollte, zog in der Einzelfallstudie der
Berater zunächst die formalisierten Kriterien (formale Bildung, Alter) heran, um
diese als Eliminationskriterien zu verwenden. Bewerbungen, in denen die Be-
werber das Alter oder die Art der Managementerfahrung nicht präzise angeben,
wurden mit der Begründung aussortiert, dass die Bewerber sich nicht konform
mit den Regeln des Marktes beworben hätten. In weiteren untersuchten Fälle
Konventionen und Arbeit 53

wurden aufgrund des Zwangs, aus einer großen Zahl schriftlicher Bewerbungen
wenige Kandidaten auszuwählen, im Zuge der Durchsicht – also ex post – Krite-
rien abgeändert und verschärft (beispielsweise wurde die Anforderung an die
Qualifikation erhöht). In einigen der untersuchten Fälle haben die Berater nach
Durchsicht der Bewerbungslage eine Neuausschreibung vorgeschlagen, wenn
ihnen die Bewerberlage nicht angemessen schien. Ex post wurde hierbei das
anvisierte Profil nun „präzisiert“, das heißt umgearbeitet. Auch hier partizipier-
ten die Berater an der Stellendefinition. Die Vorgehensweise der Berater weist so
im Vergleich der (in der Abbildung unterschiedenen) vier Konventionen das
geringste Ausmaß an Rechtfertigungszwang aus.
Sobald Berater eine Auswahl an Bewerbern zur Einladung für Bewerbungs-
gespräche vorschlugen, kam es zum Übergang zwischen Konventionen. Denn
die anschließend durchgeführten Bewerbungsgespräche unterlagen – so Eymard-
Duvernay und Marchal – nun der Konvention der Interaktion. Aus ihrer Sicht
wurde auf diese Weise die Vergleichbarkeit der Bewerber und die Konkurrenzsi-
tuation zwischen ihnen (die die Dispositive der Marktkonvention eingebracht
hatten) geschwächt, da die Gespräche immer nur mit Einzelnen geführt wurden,
diese Gespräche nicht vollständig vorab durchgeplant werden konnten, Stim-
mungen, Körperhaltungen, Verhaltensweisen, Vokabular nicht standardisiert
sind, und es hier (nach Auswahl aufgrund des CV) auf die Validierung der von
den Bewerbern angegebenen Erfahrungen durch die Rekrutierenden ankam.
Diese Erfahrungen wurden aber je individuell und durch Schilderung von je
spezifischen Arbeitssituationen und Arbeitsbeziehungen dargestellt. Die Motive
für Stellenwechsel und die Karriereorientierung wurden erfragt. Der bisherige
Berufsweg wurde insgesamt danach beurteilt, wie seine Dynamik sich in „Erfah-
rungen“ niedergeschlagen hatte. Und die Rekrutierenden waren dann an der
Frage interessiert, wie diese Erfahrungen auf die neue Arbeitssituation übertra-
gen werden konnten. Diese spezifische „Kompetenz“ des Bewerbers trat hier nun
in der Interaktion mit den Beratern „ans Licht“. Diese versuchten im Gespräch
die Dimensionen zu identifizieren, anhand derer sie diese Berufserfahrungen
fallspezifisch beurteilen konnten.

Resümee
Der Ansatz der Économie des conventions integriert die Wirtschaftsanalyse
wieder in die Gesellschaftsanalyse. Das ist hier mit Bezug auf die Analyse der
Arbeit gezeigt worden. Dieser Ansatz stellt die pragmatischen Handlungskompe-
tenzen der Akteure ins Zentrum für die gelingende Handlungskoordination in der
Ökonomie. Ausgehend von der Pluralität der Konventionen – wie sie in den
meisten Situationen wirtschaftlichen Handelns vorliegt – denkt dieser Ansatz
54 Rainer Diaz-Bone

auch eine Pluralität von möglichen ökonomischen Handlungsrationalitäten. Die-


se Rationalitäten sind immer auf eine Konvention bezogen, so dass dieser Ansatz
zugleich eine kognitiv-kulturalistische Dimension hat. Dies gilt zum einen, weil
Akteure Konventionen als kulturelle Schemata handhaben können müssen (das
heißt, ihr Vorliegen in Situationen identifizieren und ihre Angemessenheit inter-
pretieren können müssen). Zum anderen sind Konventionen kulturelle kognitive
Schemata, die in Kollektiven verfügbar sein müssen, wenn deren Akteure eine
gelingende Koordination im geteilten pragmatischen Bezug auf diese herstellen
können sollen. Zugleich argumentieren die Vertreter dieses Ansatzes konstrukti-
vistisch: Die Objekte, die Akteure und die Arbeit erhalten in der Ökonomie erst
ihren „Wert“ (ihre Qualität), weil sie auf eine Konvention bezogen werden.
Letztlich stellt dieser Ansatz auch einen neuen institutionalistischen Zugang für
die Analyse der Ökonomie (dabei gleichermaßen von Märkten und Unterneh-
men) dar, so dass die Économie des conventions zu den vielversprechenden
zeitgenössischen Ansätzen der neuen Wirtschaftssoziologie zu zählen ist, deren
Rezeption im deutschsprachigen Raum erst allmählich einsetzt.

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Konventionen und Arbeit 57

Geld und kapitalistische Dynamik


Christoph Deutschmann

Einleitung
Mein Thema ist die Funktion des Geldes im Kontext wirtschaftlichen Wachs-
tums und kapitalistischer Dynamik. Der Kapitalismus ist ein dynamisches Sys-
tem, das sich nicht auf gleicher Stufe reproduzieren, sondern nur wachsen oder
schrumpfen kann (Baumol 2002). Welche Rolle spielt Geld in diesem Prozess?
Ist es ein bloßes „Schmiermittel“, das von außen her (von einem Hubschrauber,
meint Milton Friedman) in eine durch ganz andere Kräfte getriebene ökonomi-
sche Maschine eingefüllt wird? Oder trifft die gegenteilige Ansicht zu, dass Geld
und Kredit selbst die zentralen Faktoren kapitalistischer Dynamik sind? Ich
schließe mich keiner dieser beiden extremen Thesen an und werde versuchen,
eine dritte Position zu entwickeln, die der relativen Autonomie der monetären
Sphäre Rechnung trägt, aber gleichwohl dem Gedanken einer sozialen Konstitu-
tion von Geld und kapitalistischer Dynamik folgt. Der entscheidende Schritt
dazu ist, wie ich zeigen möchte, eine Mehrebenenanalyse des ökonomisch-
technischen Innovationsprozesses und seiner Wechselbeziehung mit den Kredit-
und Kapitalmärkten.
Zunächst einige Erläuterungen zum Hintergrund meiner Überlegungen:
Während der vergangenen 10 bis 15 Jahre ist in der Wirtschaftssoziologie eine
Reihe von Versuchen unternommen worden, die Barrieren zwischen ökonomi-
schen und soziologischen Geldtheorien zu überwinden und das Geld als Thema
soziologischer Analysen neu zu erschließen. Bruce Carruthers, Nigel Dodd,
Heiner Ganßmann, Geoffrey Ingham, Axel Paul, Viviana Zelizer und andere
Autoren haben die Kurzschlüssigkeit der neoklassischen Konzeption des „neu-
tralen“ Geldes kritisiert und alternative Konzeptionen unter Rückgriff teils auf
klassische Autoren (insbesondere Simmel, aber auch Marx und Weber), teils auf
unorthodoxe ökonomische Autoren entwickelt. Ihr Ziel ist es, gegenüber der
individualistischen Sicht der Neoklassik die genuin gesellschaftliche Konstituti-
on des Geldes herauszuarbeiten. Diese Versuche sind nicht nur in der Soziologie,
sondern auch bei Wirtschaftswissenschaftlern auf positive Resonanz gestoßen.
Heute besteht zunehmend Konsens darüber, dass die Existenz und die Funktio-
58 Christoph Deutschmann

nen des Geldes aus dem Blickwinkel einer rein individualistischen Logik ratio-
naler Wahl nicht zureichend erklärt werden können. Adam Smiths alte Geschich-
te vom „natürlichen Hang des Menschen zum Austausch“, auf die die klassische
und neoklassische Sicht zurückgeht, beruht auf einer petitio principii. Geld ist
vielmehr ein genuin sozialer Tatbestand, der nur unter Rekurs auf soziale Struk-
turen und Institutionen erklärt werden kann.
Gleichwohl gehen die Vorstellungen darüber, wie die soziale Konstitution
des Geldes genauer zu denken sei, bis heute weit auseinander. Sie reichen von
eigentumstheoretischen Ansätzen (North 1990; Heinsohn, Steiger 1996), system-
theoretischen Konzeptualisierungen des Geldes als Kommunikationsmedium
(Parsons 1967; Luhmann 1988; Baecker 1988), „politischen“ Theorien des Gel-
des als Herrschaftsmedium (Ganßmann 1996; Ingham 2004) bis hin zu netz-
werktheoretischen Ansätzen (Dodd 1994; Paul 2004) und kultursoziologischen
Interpretationen des Geldes (Zelizer 1997). Es soll hier kein Versuch zur Ver-
mittlung in den teilweise heftigen Kontroversen zwischen den Verfechtern dieser
Ansätze unternommen werden.1 Ich beschränke mich auf einen knappen Vor-
schlag zur Terminologie: Zur Klärung der Begriffe erscheint es mir hilfreich, mit
Dodd (2005) zwischen Geld als abstraktem Medium und Währungen als institu-
tionalisierten Geldformen und monetären Recheneinheiten zu unterscheiden.
Soweit auf die Ebene von Nationalstaaten und nationalen Zentralbanken Bezug
genommen wird, müsste dann von „Währungen“, nicht von „Geld“ gesprochen
werden, wobei der Euro den bis heute singulären Fall einer supranationalen
Währung darstellt. Was sich überdies von Zelizer lernen lässt, ist, dass es „Wäh-
rungen“ nicht nur auf nationaler, sondern auch auf lokaler und sogar privater
Ebene gibt. Geld sollte jedoch nicht mit Währungen gleichgesetzt werden, son-
dern hat auch eine globale Dimension. Es ist diese globale Dimension, auf die
sich die eigentumsrechtlichen und systemtheoretischen Konzeptualisierungen
des Geldes konzentrieren. Auch die Diskussion über die Relation von Finanzde-
rivaten zum Geld (Pryke, Allen 2000; Bryan, Rafferty 2007) nimmt auf den
globalen Markt Bezug. In jedem Fall sollte vermieden werden, die „abstrakten“
und die „individualisierenden“ Seiten des Geldes gegeneinander auszuspielen.
Beide Aspekte des Geldes stehen nur scheinbar in Widerspruch zueinander; in
Wahrheit bedingen sie sich gegenseitig, wie bereits von Simmel (1989) klar
erkannt worden ist: Gerade weil Geld ein „allgemeines Mittel“ ist, bietet es dem
Individuum eine unerschöpfliche Fülle von Optionen und wird so zur Basis „in-
dividualisierter“ Lebensformen.
Neben der Heterogenität soziologischer Geldtheorien gibt es aber noch ein
anderes, schwerwiegenderes Problem: die Vernachlässigung der dynamischen

1 Vgl. die vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Economy and Society“ ausgetragene Kontrover-
se (Lapavitsas 2005; Dodd 2005; Zelizer 2005; Ingham 2006).
Geld und kapitalistische Dynamik 59

Charakteristika von Geld und Kredit. Der Preis, den wir für die Entdeckung der
sozialen Konstitution des Geldes zu zahlen haben, scheint eine strukturalistische
Verkürzung in der Analyse der Geldfunktionen, eine reduktionistische Sicht des
Geldes als institutionalisiertes Tauschmittel beziehungsweise als Medium sozia-
ler „Buchführung“ (Spahn 2003) zu sein. Geld tritt als ein Medium in den Blick,
das den Prozess wirtschaftlicher Wertschöpfung lediglich „ratifiziert“, nicht aber
als Triebkraft wirtschaftlicher Wertschöpfung und Entwicklung selbst. Viele
soziologische Konzeptualisierungen des Geldes teilen insofern die Schwächen
der neoklassischen Idee des „neutralen“ Geldes beziehungsweise des Geldes als
bloßem „Schleier“ über vermeintlich „realen“ Transaktionen. Im Gegensatz zu
diesen Positionen haben Wirtschaftswissenschaftler wie Schumpeter, Keynes
oder Minsky die aktive Rolle des Geldes in der wirtschaftlichen Entwicklung
betont. Die Kreditschöpfung der Banken wird hier als Bedingung innovativer
Kapitalinvestitionen betrachtet. In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem geht
alles Geld auf Kredit zurück, und Kredit entsteht nicht durch die Politik des
Staates, sondern in privaten Verträgen. Geld beziehungsweise Kredit initiieren
somit die wirtschaftliche Wertschöpfung, sie ratifizieren sie nicht nur. Schumpe-
ter konzentriert sich in seiner Analyse auf die Bedeutung des unternehmerischen
Handelns für die wirtschaftliche Dynamik; Keynes und Minsky interessieren sich
vor allem für die funktionalen Mechanismen des monetären Systems selbst. Die
soziale Einbettung von Geld und Kredit wird jedoch von keinem dieser Autoren
näher untersucht. Die Frage ist also: Wie kann die Entdeckung der sozialen
Konstitution des Geldes mit seinem dynamischen, in privaten Kontrakten gene-
rierten Charakter in Einklang gebracht werden?
Ingham (2004) hat den Versuch gemacht, die beiden Betrachtungsweisen im
Rahmen einer historischen Analyse der Genese des Geldes zusammenzuführen.
Folgt man seiner Argumentation, so ist der soziale Ursprung des Geldes doppel-
ter Art. Auf der einen Seite – Ingham folgt hier der Position von Aglietta und
Orléan (1998) – ist das Geld im Rahmen vormoderner Sozialstrukturen entstan-
den, in denen es die Funktionen als Recheneinheit und Zahlungsmittel für indi-
viduelle Steuer- und Opferleistungen an den Staat sowie umgekehrt für staatliche
Transferleistungen an die Mitglieder des Gemeinwesens erfüllte. Der Staat war
Gläubiger und Schuldner in einem: Er erzeugte das Geld selbst, brachte es durch
Transferzahlungen in Umlauf und nahm es in Form von Steuern und religiösen
Opferleistungen entgegen. Der Geldkreislauf behielt unter diesen Bedingungen
einen statischen Charakter. Wie Ingham betont, geht alles Geld historisch auf
„institutionalisiertes“ Rechengeld dieses Typs zurück. Auf der anderen Seite hat
das Geld auch moderne Ursprünge als privates Kreditgeld, das in den Transak-
tionen zwischen Bankiers und Kaufleuten in Süd- und Westeuropa (Italien, Eng-
land, Niederlande) während des 16. Jahrhunderts entstand. Es entwickelte sich
60 Christoph Deutschmann

aus privaten Schuldverschreibungen, die zunehmend „depersonalisiert“ und auf


dritte Instanzen, auf private und schließlich staatliche Banken übertragen wur-
den. Dieser Geldkreislauf ist seiner Natur nach dynamisch, da er auf der Erzeu-
gung immer neuer Schulden basiert; er würde „disappear if anyone paid their
debts“ (Ingham 2004: 221).
Ingham zeichnet die spannungsreiche Parallelentwicklung der beiden mone-
tären Systeme in der europäischen Neuzeit nach. Er zeigt, dass das zuerst ge-
nannte System des öffentlichen beziehungsweise „politischen“ Geldes im Zuge
der Entwicklung des modernen Kapitalismus zunehmend durch das zweite Sys-
tem des privaten Kreditgeldes überlagert wurde (vgl. auch Spahn 2001). In den
heutigen rein „nominalistischen“ Währungssystemen reduziert sich die Rolle der
Zentralbanken im Kern darauf, die private Nachfrage nach Kredit gemäß spezifi-
schen währungspolitischen Kriterien zu bedienen. Die Zentralbanken können die
Geldmenge nicht wirklich kontrollieren, sondern sie lediglich indirekt mit den
Mitteln der Zinspolitik beeinflussen. Nur eine mögliche „Weltzentralbank“, die
erneut die Rollen des letzten Gläubigers und Schuldners in sich vereinigen wür-
de, wäre in der Lage, den Primat der Politik über das monetäre System wieder-
herzustellen. Solange es eine solche Zentralbank nicht gibt, bleibt das monetäre
System mit Unsicherheit behaftet. Nur durch die dauernde Erzeugung neuer
Schulden kann es sich reproduzieren; fehlt dieser Antrieb, fällt es in eine Krise.
Matthias Binswanger (1996) hat den gleichen Sachverhalt in einer kreislauftheo-
retischen Perspektive aufgezeigt. Die Dynamik einer kapitalistischen Wirtschaft
lässt sich, wie er argumentiert, durch die Marx’sche Formel G-W-G’ beschrei-
ben: Unternehmer investieren Kapital, um ein Produkt herzustellen, das sich am
Markt mit Profit verkaufen lässt. Das aggregierte Kapital kann jedoch nur dann
profitabel sein, wenn es auf eine Nachfrage trifft, die höher ist als die, die die
Unternehmer vorher mit ihren eigenen Kostenzahlungen geschaffen haben. Dies
setzt eine stetige Zusatznachfrage von „außen“ voraus, die nicht aus dem Trans-
fer von Ersparnissen, sondern nur aus zusätzlicher Kreditschöpfung finanziert
werden kann. Bleibt diese Zusatznachfrage aus, kommt es zu einem kumulativen
Nachfragerückgang, der das System in die Krise treibt.

Geld, Kapital und die Kreativität der Arbeit


Inghams Analyse ist ein wichtiger Schritt voran, aber sie ist zweifellos noch
nicht vollständig. Was bei Ingham unklar bleibt, sind die sozialen Kräfte, die die
Expansion des kapitalistischen Kreditgeldes vorantreiben. Was „zwingt“ die
Akteure, immer neue Schulden aufzunehmen und einzulösen? Es ist wichtig, hier
die Fallstricke des Funktionalismus zu vermeiden. Die Aussage, dass es die „Lo-
gik“ von Kredit und Verschuldung selbst sei, die die monetäre Expansion „er-
Geld und kapitalistische Dynamik 61

zwinge“, bleibt unbefriedigend und reduziert sich letztlich auf eine Tautologie.
Die Schwäche von Inghams Analyse liegt in der nur oberflächlichen Betrachtung
der realen sozialen Transformationsprozesse, die der Entwicklung des kapitalisti-
schen Kreditgeldes zugrunde liegen. Inghams Blick bleibt auf die Konflikte
zwischen den bürgerlichen und aristokratischen Klasseninteressen und die Ver-
schiebungen im relativen Gewicht dieser Interessen beschränkt. Die Konstitution
dieser Interessen selbst wird vernachlässigt; in diesem Punkt muss Inghams Ana-
lyse weiter ausgearbeitet werden.
Was sich in dem Aufstieg des privaten Kreditgeldes widerspiegelt, ist zu-
nächst offensichtlich die „Logik“ des Kaufmannskapitals: Händler kaufen, um
die erworbenen Waren mit Profit weiterzuverkaufen. Sie müssen den Kauf durch
Kredit vorfinanzieren, und der Profit muss hoch genug sein, um mindestens die
Zinsen abzudecken. Noch im 16. und sogar im 17. Jahrhundert jedoch stellten
die Banken und der Fernhandel einen relativ kleinen Sektor der europäischen
Wirtschaft dar. Wie kam es zur Verallgemeinerung der kaufmännischen Logik?
Um diese Verallgemeinerung in vereinfachter Form zu beschreiben, bietet sich
der Rückgriff auf Karl Polanyis (1977) bekannte Unterscheidung zwischen mo-
dernen und traditionellen Märkten an. Traditionelle Märkte sind „sozial einge-
bettet“, insofern der Ware-Geldnexus auf den Bereich der Güter und Dienstleis-
tungen beschränkt bleibt; die menschliche Arbeitskraft, der Boden und andere
Produktionsmittel dagegen bleiben aus dem Markt ausgeschlossen. Im Gegensatz
dazu schließen moderne, kapitalistische Systeme nicht nur Märkte für Güter und
Dienstleistungen, sondern auch Arbeits- und Bodenmärkte ein. Wie Polanyi be-
tont, unterscheidet sich diese Konstellation grundlegend von traditionellen Märk-
ten und stellt sich auch aus einer langfristigen historischen Perspektive als einzi-
gartig dar. Ein kapitalistisches System entsteht durch die zirkuläre Schließung
des Ware-Geldnexus, indem nicht mehr nur der Tausch fertiger Produkte und
Dienstleistungen, sondern der Gesamtprozess gesellschaftlicher Reproduktion
von der Produktion, Distribution, dem Konsum und zurück zur Produktion durch
den Markt vermittelt wird. Es entwickelt sich ein selbstreferentiell geschlosse-
nes, durch den Profit reguliertes System von Märkten (Swedberg 2005). Im
Rahmen unserer Fragestellung sind die Konsequenzen der Inklusion der Arbeits-
kraft in den Markt von besonderer Bedeutung. Es ist eben diese Inklusion, die,
wie ich im Folgenden zeigen möchte, den entscheidenden sozialen Makro-
Kontext für die Verallgemeinerung des kapitalistischen Kreditgeldes bildet.
Von vorn herein sollte betont werden, dass wir es mit freier Arbeit zu tun
haben, das heißt, der Arbeiter ist Eigentümer seiner eigenen Arbeitskraft und als
solcher nicht nur, wie der Sklave, objektiv, sondern auch subjektiv in den Markt-
nexus eingebunden. Für Polanyi stellt sich diese Herauslösung der Arbeitskraft
aus ihren sozialen Einbettungen als soziale Katastrophe dar, allein: es ist noch
62 Christoph Deutschmann

etwas anderes daran wichtig: Als freier Eigentümer seiner Arbeitskraft lernt der
Arbeiter, wie jeder andere ökonomische Akteur, sich an seinen finanziellen Ver-
dienstchancen zu orientieren. Dies ist, wie schon Adam Smith erkannte, der
Grund für die im Vergleich zur Sklaverei wesentlich höhere Produktivität der
Lohnarbeit – immer unter der Voraussetzung, dass die Eigentumsrechte des
Arbeiters respektiert werden. Freie Lohnarbeiter sind nicht nur produktiver als
Sklaven, sondern entwickeln auch „kreative“ Fähigkeiten. Der Arbeitsvertrag ist
gemäß der bekannten Definition von March und Simon „offen“; er lässt Raum
nicht nur für Lernprozesse der Arbeiter, sondern auch für die Entwicklung ge-
nuin neuer Ideen, Produkte oder Problemlösungen. Kreativität wird im indus-
triellen Kapitalismus nicht nur von den qualifizierten Angestellten und Experten
in der Forschung und Entwicklung, im Design und Marketing gefordert, sondern
auch in scheinbar trivialen alltäglichen Operationen. Wie Studien des industriel-
len Arbeitsprozesses (zum Beispiel Thomas 1964; Burawoy 1979; Böhle et al.
2004) immer wieder gezeigt haben, besteht die Aufgabe der Arbeiter nicht allein
darin, Anweisungen und Vorschriften „auszuführen“, sondern den erfolgreichen
Ablauf von Operationen zu gewährleisten – wenn notwendig durch „kreative“
Abweichungen von den Vorschriften. Kreativität ist nicht nur eine Eigenschaft
isolierter Individuen, sondern hat auch eine kooperative Dimension, insofern
Kooperation mehr ist als die bloße Addition individueller Potentiale. Indem sie
kooperieren, können Akteure Ergebnisse erzielen, die den Leistungen isolierter
Individuen nicht nur quantitativ, sondern qualitativ überlegen sind – man denke
nur an das Beispiel gelungener Kombinationen im Fußball.
Auf eine pragmatistische Handlungstheorie zurückgreifend, hat Jens Be-
ckert (1997; 2003) gezeigt, dass diese Formen der Kreativität sich mit den gän-
gigen Konzepten „rationalen“, selbst „intentionalen“ Handelns nicht in Einklang
bringen lassen. Ich kann eine Erfindung oder eine neue Problemlösung weder
„planen“ noch mich dazu „verpflichten“, obwohl ausdauernde und disziplinierte
Arbeit die Voraussetzungen dafür schaffen mag. Ebensowenig kann ich Koope-
ration planen, die ja immer auch von den autonomen Entscheidungen der Ande-
ren abhängt. Innovation gehört zu jenen Geisteszuständen, die nach Jon Elster
(1987)„wesentlich Nebenprodukt“ sind. Kreativität geht stets mit Unsicherheit
einher: Durch Kreativität versuchen Akteure, wie John Dewey ([1938] 1998)
gezeigt hat, Situationen der Unsicherheit zu strukturieren; umgekehrt ist der
kreative Akteur eine Quelle der Unsicherheit für seine Umwelt. Kreativität hat
darüber hinaus immer auch die Kehrseite der Zerstörung. Das historisch völlig
einzigartige Wirtschaftswachstum des modernen Kapitalismus seit der Industria-
lisierung (Maddison 2001) lässt sich als Prozess der „Rationalisierung“ und
quantitativer Effizienzsteigerung nicht zureichend verstehen. Schumpeters be-
kannter Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ trifft die Sache besser.
Geld und kapitalistische Dynamik 63

Welche Folgerungen ergeben sich im Hinblick auf unser Thema Geld? Im


industriellen Kapitalismus stellt Geld nicht länger einen Eigentumstitel auf die
am Markt angebotenen Dienste und fertigen Produkte dar, sondern auch auf die
Produktionsfaktoren: Land, Arbeit, Maschinen, Technologie, Zwischenprodukte.
Das Gegenstück des Geldes am Markt ist nicht länger eine gegebene Menge von
Gütern und Diensten, sondern die Gesamtheit der existierenden und virtuellen
Güter, die durch den Einsatz der gegebenen Produktionsfaktoren hergestellt
werden könnten. Die Erfindung und Entwicklung neuer Güter und Technologien
ist nur durch „Arbeit“ im weitesten Sinne möglich: Manuelle, administrative,
Dienstleistungsarbeit, so genannte „Wissensarbeit“ etc. Nur Arbeiter und Arbei-
terinnen sind kreativ, nicht Maschinen, Organisationen oder Computer. Während
Maschinen und selbst avancierte Software nur eine endliche Zahl von Program-
men ausführen können, ist eine abschließende Definition der Potentiale der Ar-
beit unmöglich. Eine solche Definition müsste nicht nur alle früheren und ge-
genwärtigen, sondern auch alle zukünftigen Erfindungen einschließen, was auf
einen Selbstwiderspruch hinauslaufen würde. Aufgrund der Kreativität der Ar-
beit ist die Gesamtheit dessen, worauf mittels Geld zugegriffen werden kann,
eine im quantitativen wie im qualitativen Sinn offene Größe. Weder ein „Opti-
mum“ noch ein „Gleichgewicht“ können bestimmt werden, weil dies stets beob-
achtbare Einheiten voraussetzen würde.
Unter diesen Bedingungen reichen die konventionellen Definitionen des
Geldes als Tauschmittel und Recheneinheit – ob „sozial eingebettet“ oder nicht –
nicht länger hin. Festzustellen ist vielmehr eine dauernde Inkongruenz zwischen
der Bestimmtheit jeder gegebenen Geldsumme und der Unbestimmbarkeit des
Potentials, auf das sie verweist. Die Forderungen (und die Schuld), die Geld
verkörpert, können niemals definitiv eingelöst werden, sondern nur in einem
kontinuierlichen Prozess der Ausschöpfung der Potentiale der Arbeit, deren
Gegenstück die Akkumulation des Geldes als Kapital ist. Die Akkumulation des
Kapitals jedoch setzt, wie oben schon gezeigt, permanente Kreditschöpfung
voraus. Der Anreiz zur Kreditaufnahme wiederum ergibt sich aus „Innovatio-
nen“ im weitesten Sinn, das heißt der Entwicklung bislang unbekannter Arbeits-
fähigkeiten.
Wir sind damit in der Lage, die sozialen Grundlagen der Entwicklung des
kapitalistischen Kreditgeldes genauer zu bestimmen: Sie liegen nicht etwa in der
„Logik“ des Kreditgeldes selbst, auch nicht in den Verschiebungen des Macht-
gleichgewichts zwischen den feudalen und den bürgerlichen Klassen, wie In-
gham argumentiert. Ihre soziale Basis ist vielmehr die moderne Universalisie-
rung des Geldnexus, seine Ausdehnung von fertigen Produkten und Diensten auf
die Produktionsfaktoren, insbesondere die Arbeitskraft. Es ist der Geld-Arbeits-
kraft-Nexus, der Geld in Kapital verwandelt hat und parallel dazu immer neue
64 Christoph Deutschmann

Schulden entstehen lässt. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass die
kapitalistische Dynamik auch noch von einer Reihe anderer gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen abhängt: der Entwicklung der modernen Wissenschaften,
der politischen und rechtlichen Garantie der Eigentumsrechte, der Entwicklung
des Bankensystems, der kulturellen Veränderungen usw. Die Entwicklung von
Arbeits- und – als ihr Gegenstück – Kapitalmärkten ist jedoch die conditio sine
qua non, wie schon der Quantensprung in der Entwicklung der wirtschaftlichen
Wachstumsraten in der Ära der „Großen Transformation“ zu Beginn des 19.
Jahrhunderts anzeigt (Maddison 2001, Baumol 2002).
Märkte für Arbeit und Kapital bilden den Makro-Kontext kapitalistischer
Dynamik in einem doppelten Sinn: Sie „erzwingen“ sie aufgrund der expansiven
Logik des Kapitalkredits und sie „ermöglichen“ sie aufgrund der innovativen
Potentiale der Arbeit. Es ist nicht purer Voluntarismus, sondern der Imperativ
der Kapitalschulden, der den Unternehmer zu innovativen Aktivitäten antreibt.
Gleichzeitig bietet ihm die Institution des Arbeitsmarktes die Chance, diesem
Imperativ durch die Einstellung von Lohnarbeitern und durch die Organisation
ihrer kreativen Fähigkeiten auch nachzukommen. Wenn die Figur des modernen
Unternehmers durch seine Dispositionsgewalt über organisierte freie Arbeit
definiert ist, dann ist es erst die Institution des Arbeitsmarktes, die den Boden für
ihre Entstehung schafft. Der Markt für freie Lohnarbeit ist die Voraussetzung
dafür, dass kapitalistische Unternehmen wachsen können und die für die kapita-
listische Dynamik konstitutive „Innovationskonkurrenz“ (Baumol 2002) sich
entwickeln kann. Aber die Verbindung von Kapital und Arbeit geschieht nicht
von allein, sondern immer nur vermittelt über das Handeln konkreter Akteure.
Deshalb muss die Analyse der Makro-Ebene durch die der Meso- und der Mikro-
Ebene ergänzt werden.

Makro- und Mikro-Ebenen des innovativen Prozesses


Die klassische Mikro-Analyse der Innovation ist natürlich Schumpeters Theorie
des Unternehmers. Der Unternehmer setzt „neue Kombinationen“ durch und
finanziert sie in der Regel durch „zusätzlichen Kredit“ der Banken (Schumpeter
1952: 108f.). Schumpeter betont die Kreativität der unternehmerischen Persön-
lichkeit. Der Profit signalisiert nicht nur die „Rationalität“ der Unternehmensfüh-
rung, sondern stellt vielmehr eine Prämie auf die Kreativität des Unternehmers
dar. Wenn der Unternehmer bei der Entwicklung der neuen Kombinationen er-
folgreich ist, erntet er dank seines temporären Monopols über die Neuerung
einen Profit. Weil die Konkurrenten nicht träge sind und den Vorsprung des
Pionierunternehmers aufzuholen versuchen, muss der innovative Prozess auf
Dauer gestellt werden, denn nur so lässt sich auch die Profitabilität des Unter-
Geld und kapitalistische Dynamik 65

nehmens sichern. Da die Kapitalrendite in Schumpeters Modell von der Kreativi-


tät der Unternehmer abhängt, ist sie stets mit Unsicherheit behaftet. Obwohl der
Unternehmer über kreative Fähigkeiten verfügen muss, unterscheidet sich seine
Rolle sehr von der des Künstlers. Er ist auch für die Kontrolle des Arbeitsprozes-
ses zuständig und kombiniert die Rollen des rationalen Administrators und des
Neuerers in seiner Person.
Schumpeters Analyse ist auf die Mikroebene des Systems konzentriert.
Aber der Unternehmer ist nicht der einzige innovative Akteur. Erfolgreiche In-
novation entwickelt sich nicht allein aus der großen Idee des Unternehmers,
sondern auch aus den tausend kleinen Ideen seiner Arbeiter, Lieferanten, Ent-
wickler, Finanziers, Kunden usw. Innovation ist immer ein sozialer Prozess, und
daher spielt die Kommunikation innovativer Ideen mittels Netzwerken, Institu-
tionen und technologischer „Paradigmen“ eine zentrale Rolle. Hier tritt die „Me-
so-Ebene“ (Dopfer 2006) des innovativen Prozesses in den Blick. Innovation
geht nicht allein auf die konkreten Aktionen des individuellen Unternehmers
zurück, sondern bedeutet eine Transformation gesellschaftlichen Wissens.
Wie ist rationales Management in einer völlig unsicheren Umwelt möglich?
Wie können innovative Ideen kommuniziert werden? Wirtschaftssoziologen
pflegen an diesem Punkt Begriffe wie „Institutionen“, „Konventionen“, „Organi-
sationen“ oder „Netzwerke“ in die Diskussion einzuführen. Institutionen, Kon-
ventionen, Organisationen, Netzwerke betten wirtschaftliches Handeln in soziale
Strukturen ein und reduzieren dadurch die Ungewissheit der Umwelt auf ein
Niveau, das koordiniertes Handeln möglich macht. Die Idee der Rationalität
selbst ist nichts anderes als ein „rationalisierter Mythos“ – soweit die gängige
Meinung. Diese Auffassung ist, wie ich nun zeigen möchte, nicht falsch, aber
nicht komplex genug. Oben habe ich gezeigt, dass der Nexus zwischen Geld und
Arbeit eine endogene Quelle der Unsicherheit im ökonomischen System entste-
hen lässt. In einem solchen System ruhen alle sozialen Strukturen und Institutio-
nen auf unsicherem Grund. Technologien, Managementkonzepte, Konsummoden
müssen sich ständig an alternativen und möglicherweise attraktiveren Lösungen
messen lassen. Nicht nur die wirtschaftlichen Institutionen im engeren Sinne,
sondern auch die übrigen sozialen Institutionen sind direkt oder indirekt diesem
Konkurrenzdruck unterworfen und sehen sich entsprechenden Anpassungszwän-
gen ausgesetzt. Die Literatur über den Wandel kapitalistischer „Regimes“, vom
Fordismus bis zum Finanzmarkt-Kapitalismus, bietet dafür reichliche Evidenz.
Wirtschaftliches Handeln kann nicht zugleich institutionell reguliert sein und
unter der Bedingung von Unsicherheit stehen. Der Widerspruch zwischen beiden
Annahmen kann nur durch Einführung der Zeitdimension in die Analyse aufge-
löst werden (Deutschmann 2008: 72f.). Erforderlich ist eine dynamische Theorie
der Institutionen, die Einsichten in die Logik und die typischen Ablaufmuster des
66 Christoph Deutschmann

Prozesses „schöpferischer Zerstörung“ liefert. Nur eine solche dynamische Ana-


lyse, die Einsichten in die realen Prozesse ökonomischer Wertschöpfung liefert,
kann auch zu einem angemessenen Verständnis der sozialen Konstitution kapita-
listischen Kreditgeldes verhelfen. Ansätze dieser Art sind seit einiger Zeit im
Kontext der Evolutionären Ökonomie entwickelt worden; ich denke, dass die
Wirtschaftssoziologie viel von diesen Forschungen lernen könnte.
Die Basisidee der evolutionären Ansätze besteht in der Verbindung des
Konzepts der Pfadabhängigkeit mit einer Analyse von Innovationen (im Über-
blick: Schreyögg, Sydow 2003; Garud, Karnoe 2001a). Innovationen werden als
„pfadbegründende“ Ereignisse interpretiert, die den Boden für strukturierte öko-
nomisch-soziale Veränderungsprozesse schaffen (Schreyögg et al. 2003). Das
bedeutet, dass ökonomisches Handeln sich nicht in einem homogenen Raum mit
festen sozialen, zeitlichen und räumlichen Koordinaten entwickelt, sondern
durch „Historizität“ in einem dreifachen Sinne charakterisiert ist: Erstens präju-
dizieren frühere Ereignisse die Bandbreite möglicher späterer Ereignisse, und
diese können ihrerseits zu „Bifurkationen“ für noch spätere Ereignisse werden.
Zweitens gibt es keine einheitlichen Kriterien weder für rationale Entscheidun-
gen noch für ökonomische „Optima“ beziehungsweise Gleichgewichtslösungen.
Lösungen, die zu einem Zeitpunkt effizient sind, können zu einem anderen Zeit-
punkt ineffizient sein. Drittens hängen wissenschaftliche Beobachtungen und
Theorien von den historischen Umständen ihrer Formulierung ab und müssen
daher selbst mit einem historischen Index versehen werden. Eine im Jahr 1980
formulierte Theorie über das Internet etwa dürfte sich erheblich von einer aktuel-
len Theorie über den gleichen Gegenstand unterscheiden.
Die Karriere einer Innovation ist typischerweise durch drei Phasen charak-
terisiert. Die erste Phase, in der eine grundlegende Entdeckung oder Innovation
hervorgebracht wird, wird in der Regel als Pfadkreation (Windeler 2003) be-
zeichnet. Die „Produktion“ einer Erfindung ist ein sozialer Prozess, in dessen
Verlauf soziale Relevanzstrukturen neu arrangiert werden: Ursprünglich als „zu-
fällig“ oder „bedeutungslos“ geltende Phänomene beziehungsweise Ereignisse
finden neue Aufmerksamkeit. Der Ausgangspunkt ist eine „mindful deviation“
(Garud, Karnoe 2001b) von routinisierten Praktiken. Bedeutungsvoll ist in dieser
Phase nicht allein die Erfindung selbst. Noch wichtiger sind die Ideen, Visionen
und Utopien, die die Erfindung einrahmen, ihr einen „Sinn“ geben und einen
Horizont zukünftiger Anwendungen und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen.
Die individuelle Kreativität von Erfindern und Unternehmern spielt eine zentrale
Rolle und zugleich ihre „social skills“ (Fligstein 2001), das heißt, ihre Fähigkeit,
Andere zu überreden, zu überzeugen und zu mobilisieren. Die Risiken sind hoch
in dieser Phase, die potentiellen Profite aber auch. Die Verfügbarkeit von Risi-
kokapital und die Bereitschaft der Investoren, auch in schwierigen Phasen durch-
Geld und kapitalistische Dynamik 67

zuhalten und das Projekt zu unterstützen, sind kritische Faktoren auf der monetä-
ren Seite. Gelingt es den Pionieren, eine kritische Masse anderer wichtiger Ak-
teure für die Kooperation und für Investitionen in das ursprünglich meist sehr
vage Paradigma zu gewinnen, beginnt die zweite Phase der Pfadausbildung. In
dieser Phase nährt der Erfolg des Paradigmas sich selbst. Ein „win-win“-Spiel
entsteht: Mehr und mehr Akteure wechseln von der Rolle des distanzierten Be-
obachters in die des engagierten Teilnehmers. Sie investieren frisches Kapital
und neue Ideen in die Weiterentwicklung des Paradigmas, mit der Folge, dass
neue Chancen für weitere Akteure entstehen. Was ursprünglich als vage Utopie
erschien, stellt sich nun als realistisches Projekt dar. Dies stimuliert die Expansi-
on des Kredits und kann zu einer ausgedehnten Phase hohen wirtschaftlichen
Wachstums führen. Schließlich tritt das Paradigma in die dritte Phase der Institu-
tionalisierung ein. Das Paradigma ist nun weitgehend „ausgereift“, die Techno-
logie ist entwickelt und ausgearbeitet, sie repräsentiert nun den „Stand des Wis-
sens“, der in Hochschulen und Ausbildungsstätten gelehrt wird. Das Potential
der Technologie erscheint prinzipiell „ausgereizt“ und lässt nur noch Raum für
kleinere und kosmetische Verbesserungen. Da ein Qualitäts- und Innovations-
wettbewerb in dieser Phase kaum mehr stattfindet und die Marktkonkurrenz sich
auf die Dimension der Preise und Kosten reduziert, ähnelt der Markt zunehmend
einem neoklassischen Wettbewerbsmarkt. Die Marktbewegungen werden immer
kalkulierbarer, aber gleichzeitig schwinden die Profitchancen. Die Institutionali-
sierung kann am Ende in eine Phase der Schließung beziehungsweise des lock-in
münden, in der die ursprüngliche Erfindung sich völlig zu kristallisieren scheint
und jede Weiterentwicklung blockiert wird. Die Folge ist, dass die in der Phase
der Institutionalisierung ohnehin zurückgehende Kreditschöpfung zum Stillstand
kommt, und das System in eine Rezession fällt. Paradoxerweise ist es jedoch
gerade die Phase des lock-in, die Raum für gänzlich neue Pfad erzeugende Inno-
vationen schaffen kann, denn sie macht die strukturellen Grenzen des alten Para-
digmas manifest und bereitet so den Boden für die Entstehung gänzlich neuer
Ideen. Was eine Sackgasse für die Mehrheit der Akteure bedeutet, kann sich für
Minderheiten als Chance darstellen – mit der möglichen Folge, dass ein neuer
Zyklus beginnt.
Soweit nur eine knappe Zusammenfassung einiger im Kontext der evolutio-
nären Ökonomie (zum Beispiel Dopfer 2006) sowie der Techniksoziologie (zum
Beispiel Dosi 1982; Bijker 1995) entwickelter Konzepte. Die Anwendungsmög-
lichkeiten einer derartigen dynamischen Institutionenanalyse beschränken sich
gewiss nicht auf die genannten Bereiche; man könnte sie auch in anderen Fel-
dern, wie der Organisationssoziologie oder der Konsumsoziologie, fruchtbar
machen (Deutschmann 2008). Hier sehe ich vielversprechende Perspektiven für
die Wirtschaftssoziologie.
68 Christoph Deutschmann

Schlussbemerkungen
Es ging mir darum, Inghams Analyse weiterzuentwickeln und die soziale Konsti-
tution des kapitalistischen Kreditgeldes, sowie die seiner Dynamik zugrunde
liegenden gesellschaftlichen Prozesse genauer zu klären. Die entscheidende
Voraussetzung liegt nicht allein, wie ich argumentiert habe, in den Verschiebun-
gen des sozialen Kräfteverhältnisses zwischen den aristokratischen und bürgerli-
chen Klassen, sondern in der Universalisierung und institutionellen „Entbettung“
(Polanyi) des Geldes in der Moderne. Eine institutionell eingebettete Marktwirt-
schaft, in der der Nexus der Ware-Geld-Beziehungen sich nur auf Dienstleistun-
gen und fertige Güter erstreckt, muss kategorial von einem kapitalistischen Sys-
tem unterschieden werden, in dem der Geldnexus den gesamten Prozess gesell-
schaftlicher Reproduktion einschließlich der Produktionsfaktoren Arbeit und
Boden umfasst. Geld, das die kreativen Fähigkeiten freier Arbeit kontrolliert, ist
nicht länger ein harmloses Medium sozialer Buchführung, sondern verwandelt
sich in Kapital. Dem Nexus von Geld und Arbeit kommt, wie Heiner Ganßmann
(1996) mit Recht hervorhebt, konstitutive Bedeutung für den modernen Kapita-
lismus zu. Die Kapitalform des Geldes begründet nicht nur ein soziales Macht-
verhältnis, sondern auch einen gesellschaftlichen Wachstumsimperativ, der
durch die kontinuierliche Ausbeutung der Potentiale der Arbeit auf der einen
Seite, durch Kreditschöpfung auf der anderen Seite zu erfüllen ist. Der Wachs-
tumsimperativ auf der makrogesellschaftlichen Ebene bildet den Rahmen für
pfadabhängige Innovationsprozesse auf den Meso- und Mikroebenen. Diese
Prozesse entwickeln sich im Zuge des zyklischen Aufbaus, der Institutionalisie-
rung und des Niedergangs innovativer Paradigmen durch konkurrierende unter-
nehmerische Akteure. Sie sind in allen Feldern der Wirtschaft zu beobachten, in
der Produktion und Technologie ebenso wie in der Organisation und im Kon-
sum. Daraus entsteht ein ständiger Druck zur Transformation nicht nur der öko-
nomischen Institutionen, sondern des gesamten institutionellen Rahmens der Ge-
sellschaft.
In seiner Kapitalform scheint Geld zu einem Selbstzweck zu werden, zu ei-
nem perfekt formal-rationalen Medium. Es scheint sich auf keine andere Realität
als auf sich selbst zu beziehen. Wie Callon (1998: 23) es formuliert: „The tools
of capitalist calculation do not merely record a reality independent of them-
selves; they contribute powerfully to shaping, simply by measuring it, the reality,
they measure.“ Die qualitative Differenz zwischen dem Zeichen und dem Be-
zeichneten verschwimmt. Das Zeichen scheint zu sein, was es repräsentiert; die
Differenz, die es markiert, ist nicht länger qualitativer, sondern rein quantitativer
Natur. Es ist leicht, das Schild, das vor dem bissigen Hund warnt, von dem Hund
selbst zu unterscheiden: Das Schild beißt nicht. Aber im Fall des kapitalisierten
Geldes ist diese klare Unterscheidung nicht länger möglich. Es „symbolisiert“
Geld und kapitalistische Dynamik 69

Reichtum nicht nur, sondern ist Reichtum, der zwischen Akteuren „transferiert“
und auf Bankkonten „deponiert“ oder „akkumuliert“ werden kann. Kapitalisier-
tes Geld ist folglich nicht nur ein „symbolisches Medium“, wie oft behauptet
wird; es ist vielmehr eine „Chiffre“ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Luh-
mann (1992) führt das Konzept der Chiffre ein, um die Besonderheiten religiöser
Sinnformen gegenüber sprachlichen und anderen Symbolen zu kennzeichnen.
Sie repräsentieren eine Realität, die alle Erfahrung überschreitet und scheinen
daher mit dieser Realität zu verschmelzen. Das Gleiche gilt aber auch für das in
Kapital verwandelte Geld. Die Realität, auf die das kapitalisierte Geld und die
auf ihm begründeten Kalkulationstechniken verweisen, ist als Ganze nicht beob-
achtbar, aber es handelt sich gleichwohl um eine Realität: Die Wirklichkeit men-
schlicher Kreativität, oder, um es mit Friedrich von Hayek zu formulieren, des
„Entdeckungsprozesses“ der Potentiale menschlicher Arbeit. Als Ganzes ent-
zieht diese Wirklichkeit sich der Reichweite wissenschaftlicher Theorien und
rationaler Planung. Auch die Wirtschaftssoziologie kann keine abschließende
Theorie über sie bilden. Aber sie kann die sozialen Prozesse der Entstehung, Ent-
wicklung und Institutionalisierung von Märkten analysieren, und sie kann erklä-
ren, woher der beständige Druck zur Schaffung neuer Märkte kommt. Sie kann
keine „große Theorie“ bieten, wohl aber eine Begründung dafür, warum wir uns
auf historisch eingebettete Theorien „mittlerer Reichweite“ beschränken müssen.

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Geld und kapitalistische Dynamik 73

II. Politische Ökonomie der Ungleichheit


Geld und kapitalistische Dynamik 75

Umverteilungsbarrieren.
Technische Probleme ökonomischer Gleichheit
Adam Przeworski 1

Einleitung
Dass Demokratie nicht nur politische, sondern auch ökonomische Gleichheit
fördern soll, ist eine unwiderstehliche intuitive Überzeugung. Demokratien ha-
ben es jedoch mit ökonomischen Systemen zu tun, in denen Märkte die Vertei-
lung der meisten Ressourcen regeln, und Märkte (re-)generieren ständig Un-
gleichheit. Deshalb sind wir immer wieder überrascht festzustellen, im welchem
Maße die Demokratie kompatibel ist mit ökonomischer Ungleichheit. Obwohl
für diese Tatsache nahezu jede erdenkliche Erklärung schon vorgeschlagen wur-
de, zielt dieser Beitrag darauf ab, eine weitere, ausschließlich „technische“ Er-
klärung hinzuzufügen. Ungleichheit zu reduzieren ist, so mein Argument, ein
schwieriges Unterfangen. Es stimmt zwar, dass bereits generiertes Einkommen
durch das fiskalische System – also durch Steuern und Transferleistungen –
umverteilt werden kann, aber dieser Mechanismus der Angleichung von Ein-
kommen ist höchst ineffizient. Eine Umverteilung der Fähigkeit, Einkommen zu
erzielen, ist wiederum in Gesellschaften, in denen die wichtigsten produktiven
Ressourcen entweder unveräußerlich („Humankapital“) sind oder verstaatlicht
wurden, aus technischen Gründen entweder sehr ineffektiv oder nur sehr lang-
sam möglich. Tatsächlich ist die politische Rede vom „Umverteilen“ anachronis-
tisch, ein Überbleibsel aus den Tagen, in denen der Boden das wichtigste Pro-
duktionsmittel war. Boden lässt sich leicht umverteilen: Er ist teilbar und kann
von Familienverbänden genutzt werden. Aber keine anderen produktiven Ver-
mögenswerte lassen sich ähnlich leicht umverteilen. Das heißt, dass es mögli-
cherweise ausschließlich technische Barrieren gibt, die eine ökonomische Um-
verteilung behindern. Und weil kein politisches System diese Barrieren überwin-
den kann, sollten wir der Demokratie nicht die Schuld dafür geben, dass sie et-
was nicht leistet, was kein politisches Institutionensystem leisten kann.

1 Die Übersetzung besorgte Paula Bradish.


76 Adam Przeworski

Mein Beitrag beginnt mit einer schematischen Darstellung der Ansichten


zum Verhältnis von politischer und ökonomischer Ungleichheit. Im zweiten Teil
stelle ich einige Fakten dar und fasse die verschiedenen Argumentationstypen
zusammen, die zur Erklärung der Kompatibilität von Demokratie und ökonomi-
scher Gleichheit angeführt wurden. Es folgt das Kernargument zu den Umvertei-
lungsbarrieren. Schließlich werde ich einige Konsequenzen für die Bewertung
von demokratischen Systemen ziehen.

Demokratie und Eigentum


In einer Gesellschaft, in der ökonomische Ungleichheit herrscht, eröffnet politi-
sche Gleichheit, sofern sie wirksam ist, die Möglichkeit, dass die Mehrheit per
Gesetz die Verteilung von Eigentum oder der Vorteile, die durch den Gebrauch
von Eigentum entstehen, ausgleichen könnte. Dies ist ein zentrales Thema in der
Geschichte der Demokratie, das noch heute so lebendig und kontrovers ist, wie
zur Zeit der Entstehung von repräsentativen Regierungsformen. Denn im Gegen-
satz zu Freiheit oder Glück befindet sich Eigentum – zumal die Eigentumsarten,
die zur Generierung von Einkommen verwendet werden können – schon immer
und auch heute noch in den Händen einer Minderheit; damit müsste sich das
Recht, Eigentum zu schützen, gegen die Interessen der Mehrheit richten. Deshalb
war vorhersehbar, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und
Eigentum geben würde, und es wurde tatsächlich vorhergesagt.
Um die Geschichte dieses Spannungsverhältnisses nachzuzeichnen, muss
man mit den Levellers beginnen, die Wootton (1993: 71) als die ersten Demokra-
ten ausgemacht hat, die das Konzept einer repräsentativen Regierung innerhalb
eines Nationalstaats vertraten, und nicht das einer partizipativen Regierung in-
nerhalb eines Stadtstaates. Ihre Widersacher fürchteten die Levellers, weil sie –
obwohl die Leveller dies beharrlich und vehement abstritten – das Ziel verfolgt
haben sollen, durch Umverteilung von Boden dafür zu sorgen, dass alle gleich
würden.2 In den Worten Harringtons (1977: 460): „By levelling, they who use
the word seem to understand: when a people rising invades the lands and estates
of the richer sort, and divides them equally among themselves.“ Einige von ih-
nen, jene, die sich True Levellers oder Diggers nannten, errichteten tatsächlich
Kommunen auf Gemeinschaftsgrund.
Die Forderung nach ökonomischer Gleichheit wurde während der Französi-
schen Revolution in Babeufs Manifest der Plebejer aus dem Jahr 1795 artikuliert.
Bis dahin hatte die revolutionäre Regierung die Ländereien der Kirche und der

2 Forderungen nach einer Umverteilung von Boden wurden immer wieder in Lateinamerika
artikuliert, und zwar vor allem von Hidalgo und Morelos in Mexiko im Jahr 1910 und von Ar-
tigas in Uruguay (damals Banda Oriental) im Jahr 1813.
Umverteilungsbarrieren 77

noblesse émigré beschlagnahmt, verteilte sie jedoch nicht an die Kleinbauern,


sondern verkaufte sie an reiche Bürgerliche (Fontana 1993: 122). Babeuf dage-
gen wollte das Eigentum abschaffen, statt es umzuverteilen: „We do not propose
to divide up property, since no equal division would ever last. We propose to
abolish private property altogether.“ Mit der Behauptung, die Mägen aller Men-
schen seien gleich, wollte Babeuf, dass alle Menschen ihre Erzeugnisse in einem
gemeinsamen Vorrat zusammenlegten, aus dem jeder Einzelne dann einen glei-
chen Anteil erhalten sollte. Damit sollte keiner einen Vorteil daraus ziehen, über
mehr Reichtum oder bessere Fähigkeiten zu verfügen. Babeuf begründete sein
kommunistisches Programm mit einem moralischen Prinzip, le bonheur com-
mun, aus dem sich „communauté, comfort for all, education for all, equality,
liberty and happiness for all“ ergeben müsse (Babeuf zitiert nach Palmer 1963:
240-241). Seine Forderung nach ökonomischer Gleichheit basierte auf morali-
schen Prinzipien. Babeuf behauptete, dass sowohl die Gleichheit vor dem Ge-
setz, als auch die ökonomische Gleichheit natürliche Folgen der Aufklärung
seien und dass beide dem Geist der Französischen Revolution entsprächen. War-
um sollte die Tatsache oder das Postulat, dass alle Männer gleich geboren seien,
die politische Gleichheit legitimieren nicht aber die ökonomische? Warum sollte
die Vernunft verschiedener Menschen gleich behandelt werden, nicht aber deren
Mägen? Wenn die Logik eine solche Unterscheidung nicht vorschreibt, kann
man hinter ihr Interessen vermuten. Stellt der ökonomische Zwang, seine Dienste
einem anderen zu verkaufen, nicht eine genauso starke Fessel dar wie die politi-
sche Unterwerfung unter den Befehl eines anderen? Zumindest Rousseau war
der Ansicht, dass „kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen andern
kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen.“ (2005: 57)
Man kann aber auch aus rein analytischen statt moralischen Erwägungen zu
der Ansicht gelangen, dass Demokratie durch die Realisierung der politischen
Gleichheit zu ökonomischer Gleichheit führen muss. Und in der Tat werden
politische und ökonomische Gleichheit ab einem bestimmten Moment durch
einen Syllogismus miteinander verbunden: Das universelle Wahlrecht, verbun-
den mit der Herrschaft der Mehrheit, gewährt der Mehrheit politische Macht.
Und weil die Mehrheit immer arm ist, wird sie den Reichtum konfiszieren. Die-
ser Syllogismus wurde möglicherweise erstmals im Rahmen der Putney Debatten
über das Wahlrecht 1647 in England von Henry Ireton formuliert:
„It [universal male suffrage] may come to destroy property thus. You may have such men cho-
sen, or at least the major part of them as have no local or permanent interest. Why may not
these men vote against all property?“ (zitiert nach Sharp 1998: 113-114)

Ein konservativer französischer Polemiker, Jacques Mallet du Pan, argumentierte


ähnlich, als er 1796 darauf bestand, dass politische Gleichheit zwangsläufig zu
einer Gleichheit des Besitzes führe müsse:
78 Adam Przeworski

„Do you wish a republic of equals amid the inequalities which the public services, inheritances,
marriage, industry and commerce have introduced into society? You will have to overthrow
property.“ (zitiert nach Palmer 1964: 230)

Ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, der durch häufiges falsches Zitieren ent-
standen ist (und auch ich bekenne mich hier schuldig3), dachte Madison (1982,
Federalist #10), dass diese Schlussfolgerung nur für direkte, nicht jedoch für
repräsentative Demokratien gültig sei. Nachdem er eine „reine Demokratie“ als
ein System der direkten Herrschaft definiert hat, fährt Madison fort,
„such Democracies have ever been spectacles of turbulence and contention; have ever been
found incompatible with personal security or the rights of property; and have in general been as
short in their lives as they have been violent in their deaths.“ (meine Hervorhebung, AP)

Aber: „A Republic, by which I mean a Government in which the scheme of re-


presentation takes place, opens a different prospect and promises the cure for
which we are seeking.“ Allerdings scheint Madison einige Jahrzehnte später
weniger zuversichtlich gewesen zu sein:
„the danger to the holders of property can not be disguised, if they are undefended against a
majority without property. Bodies of men are not less swayed by interest than individuals…
Hence, the liability of the rights of property…“ (zitiert nach Ketcham 1986: 152)4

Einmal formuliert, beherrschte dieser Syllogismus seither die Ängste und Hoff-
nungen, die man mit der Demokratie verband. Konservative und Sozialisten5
waren sich darin einig, dass die Demokratie, genauer gesagt: das universelle
Wahlrecht, das Eigentum unterminieren würde. Die Eigennützigkeit der gewun-
denen Argumente, mit denen eine Beschränkung des Wahlrechts auf die besit-
zende Klasse begründet wurde, wurde offenkundig: Das allgemeine Wahlrecht
war gefährlich, weil es das Eigentum bedrohen würde. Der schottische Philosoph
James Mackintosh prognostizierte 1818, „if the laborious classes gain franchise,
a permanent animosity between opinion and property must be the consequence“
(Collini et al. 1983: 98). David Ricardo wollte das Wahlrecht nur gewähren für
„that part of them which cannot be supposed to have an interest in overturning
the right to property.“ (ebd., 107) Thomas Macaulay fasste in einer 1842 gehal-
tenen Rede über die Chartists eindringlich die Gefahr zusammen, die vom uni-
versellen Wahlrecht ausging.
„The essence of the Charter is universal suffrage. If you withhold that, it matters not very much
what else you grant. If you grant that, it matters not at all what else you withhold. If you grant
that, the country is lost… My firm conviction is that, in our country, universal suffrage is in-

3 Das Fehlzitieren besteht darin, dass das englische Wort „such“ im folgenden Zitat ausgelassen
wird; vgl. zum Beispiel Hanson (1985: 57) oder Przeworski und Limongi (1993: 51-69).
4 Diese Notiz wurde zwischen 1821 und 1829 geschrieben.
5 Nach Rosanvallon (2004) tauchte dieses Wort zuerst 1834 in Frankreich auf.
Umverteilungsbarrieren 79

compatible, not only with this or that form of government, and with everything for the sake of
which government exists; that it is incompatible with property and that it is consequently in-
compatible with civilization.“ (Macaulay 1900: 263)

Neun Jahre später äußerte Karl Marx vom anderen Pol des politischen Spektrums
dieselbe Überzeugung, nämlich dass Privateigentum und das universelle Wahl-
recht nicht kompatibel seien.
„Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie [die Konstitution] verewigen soll, Proleta-
riat, Bauern, Kleinbürger, setzte sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politi-
schen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bour-
geoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herr-
schaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg
verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den
einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den
anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“ Marx 1960
[1851]: 43.)

Demokratie „entfesselt den Klassenkampf“, nach Marx eine unausweichliche


Entwicklung. Die Armen nutzen die Demokratie, um sich den Reichtum an-
zueignen; die Reichen sind bedroht und unterlaufen die Demokratie, indem sie
die politische Macht auf Dauer den bewaffneten Kräfte übertragen. Die Kombi-
nation von Demokratie und Kapitalismus ist somit eine inhärent instabile Form
der Organisation von Gesellschaft: „nur die politische Umwälzungsform der
bürgerlichen Gesellschaft … und nicht ihre konservative Lebensform“ (Marx
1972 [1852]: 122), „only a spasmodic, exceptional state of things…impossible as
the normal form of society.“ (Marx 1971 [1872]: 198)
Der von Marx ausgemachte fundamentale Widerspruch der Republikani-
schen Verfassung würde sich allerdings nicht materialisieren, wenn entweder der
Besitz von Eigentum sich spontan ausweiten würde oder die Enteigneten aus
irgendwelchen Gründen davon Abstand nehmen würden, ihre politischen Rechte
zu nutzen, um Eigentum zu beschlagnahmen.6 Andererseits stellt Maier fest,
„if the observer feared that social leveling would continue toward proletarianization, then the
advance of democracy must appear an alarming trend. For this would suggest… that all democ-
racy must in effect tend towards social democracy. That is, the advent of popular government
and expanded electorate would ineluctably lead to programmes for further social equalization
and redistribution on wealth.“ (Maier 1975: 127)

In der Tat: Die Idee, dass Demokratie im Bereich der Politik logischerweise zur
sozialen und ökonomischen Gleichheit führen muss, wurde zu einem Eckpfeiler
der Sozialdemokratie. Wie Beitz (1989: xvi) beobachtet, bestand ein Hauptziel

6 James Mill hat zum Beispiel die politischen Gegner dazu aufgefordert, „to produce an in-
stance, so much as one instance, from the first page of history to the last, of the people of any
country showing hostility to the general laws of property, or manifesting a desire for its sub-
version.“ (zitiert nach Collini et al. 1983: 104)
80 Adam Przeworski

demokratischer Bewegungen darin, in der Politik Abhilfe zu schaffen für die


Folgen der Ungleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft.
Sozialisten traten mit weitgesteckten Zielen bei Wahlen an. Der Kongress
der Ersten Internationale in Den Haag verkündete,
„die Konstituierung des Proletariats als politische Partei ist unerläßlich, um den Triumph der
sozialen Revolution und ihres höchsten Zieles, der Aufhebung der Klassen, zu sichern.“ (Marx,
Engels 1962 [1872]: 149)

Und im ersten sozialistischen Programm Schwedens hieß es:


„Social Democracy differs from other parties in that it aspires to completely transform the eco-
nomic organization of the bourgeois society and bring about the social liberation of the work-
ing class…“ (Tingsten 1973: 118-119)

Sogar der reformistischste aller Sozialisten, Alexandre Millerand, mahnte,


„whoever does not admit the necessary and progressive replacement of capitalist
property by social property is not a socialist.“ (zitiert in Ensor 1908: 51)
Doch nach Meinung der Sozialisten gab es auf dem Weg zu diesen Endzie-
len zahlreiche Maßnahmen, die soziale und ökonomische Ungleichheiten redu-
zieren würden. Die Parti Socialiste Français unter der Leitung von Jean Jaures
verkündete bei ihrem Kongress 1902 in Tour: „The Socialist Party, rejecting the
policy of all or nothing, has a program of reforms whose realization it pursues
forthwith“, und zählte 54 solche Maßnahmen auf (Ensor 1908: 345ff.). Schwedi-
sche Sozialdemokraten forderten 1897 neben politischen Rechten auch eine
direkte Besteuerung, Aktivitäten des Staates und der Gemeinden im Produkti-
onsbereich, öffentliche Kredite, sowie die gesetzliche Regelung der Arbeitsbe-
dingungen, Altersversorgung, Versorgung im Krankheitsfall und Unfallversiche-
rung (Tingsten 1973: 119-120). Die Sozialdemokraten trieb die Frage um, ob,
wie Hjalmar Branting 1886 formulierte, „the upper class [would] respect popular
will even if it demanded the abolition of its privileges“ (Tingsten 1973: 361).
Gab es Grenzen der Volkssouveränität, wie sie von Wahlmehrheiten ausgeübt
wurde? Sollte sich die Revolution als notwendig erweisen, wie August Bebel
1905 seine Befürchtung zum Ausdruck brachte, „as a purely defensive measure,
designed to safeguard the exercise of power legitimately acquired through the
ballot“? (zitiert nach Schorske 1955: 43)
Dem geht jedoch eine Frage voraus, die die Sozialdemokraten nicht bedacht
hatten. Kann irgendein politisches Arrangement ökonomische Gleichheit gene-
rieren? Selbst wenn die Oberschicht bereit wäre, der Abschaffung ihrer Privile-
gien zuzustimmen – lässt sich Gleichheit per Gesetz einführen? Oder ist ein ge-
wisses Maß an ökonomischer Ungleichheit unvermeidbar, auch wenn alle sie
abschaffen wollen? Sind die egalitären Demokratien gescheitert oder haben sie
das Mögliche erreicht?
Umverteilungsbarrieren 81

Was sollte uns überraschen?


Nach Dunn verwandelte sich die Demokratie erstaunlicherweise von einem revo-
lutionären Projekt in ein konservatives:
„Where the political force of the idea of democracy came from in this new epoch was its com-
bination of formal social equality with a practical order founded on the protection and repro-
duction of an increasingly dynamic system of economic inequality… No one at all in 1750 ei-
ther did or could have seen democracy as a natural name or an apt institutional form for the ef-
fective protection of productive wealth. But today we know better. In the teeth of ex ante per-
ceived probability, that is exactly what representative democracy has in the long run proved to
be.“ Dunn (2003: 22)

Sollten wir seine Verwunderung teilen? Mein bisheriges Argument war, dass die
Idee der Umverteilung mit der Erbsünde belastet ist: Demokratie war in der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine revolutionäre Idee, aber die
Revolution, die sie anbot, war nur eine strikt politische, keine ökonomische.
Nach meiner Lesart war die Demokratie bei ihrer Entstehung ein Projekt, das,
egal wie revolutionär es politisch gewesen sein mag, gegenüber der ökonomi-
schen Ungleichheit einfach blind war. Moralische Argumente für die Umvertei-
lung oder Abschaffung von Eigentum waren dabei marginal und kurzlebig. Dar-
über hinaus ersetzen Demokratien durch die Einschränkung des Wahlrechts
Aristokratie durch Oligarchie. Dennoch ist die Koexistenz von universellem
Wahlrecht und ungleicher Verteilung von Eigentum schwer zu begreifen. Der
Syllogismus, nach dem die Armen ihren Mehrheitsstatus nutzen würden, um die
Reichen zu enteignen, wurde beinahe universell akzeptiert. Und er macht auch
heute noch Sinn. Betrachten wir einfach das Lieblingsspielzeug der politischen
Ökonomen, das Model des Medianwählers (Meltzer, Richards 1981): Jedes Indi-
viduum ist charakterisiert durch seine Ausstattung mit Arbeitskraft oder Kapital,
und alle Individuen lassen sich in eine Rangfolge bringen, vom Ärmsten zum
Reichsten. Individuen können darüber abstimmen, wie hoch das Einkommen
besteuert werden soll, das durch den produktiven Einsatz von Arbeit oder Kapi-
tal generiert wird. Diese Steuereinkünfte werden entweder gleichmäßig auf alle
Individuen verteilt oder für öffentliche Güter ausgegeben, die für alle gleich
nützlich sind, so dass der Steuersatz das Umverteilungsmaß eindeutig bestimmt.
Ist der Steuersatz einmal festgelegt, maximieren die Individuen ihren Nutzen,
indem sie dezentral entscheiden, wie viel von ihren Ressourcen sie einbringen
wollen. Das Theorem des Medianwählers geht davon aus, dass es aufgrund des
Mehrheitsprinzips ein eindeutiges Gleichgewicht gibt; dieses Gleichgewicht er-
gibt sich aus der Wahlentscheidung des Wählers mit Medianpräferenz, das heißt
des Wählers mit dem Medianeinkommen. Ist die Verteilung der Einkommen
rechtsschief, das heißt, ist das Median-Einkommen niedriger als der Durchschnitt
(was in allen Ländern der Fall ist, für die Daten existieren), dann geht das auf-
82 Adam Przeworski

grund des Mehrheitsprinzips entstandene Gleichgewicht mit einem hohen Maß


an Gleichheit der post-fiskalischen Einkommen (Steuern und Transfer) einher
und wird lediglich durch die Transaktionskosten der Umverteilung reduziert.
Die Forderung nach sozialer und ökonomischer Gleichheit steht weiterhin
auf der Tagesordnung. Während Eliten die Demokratie institutionell begreifen,
wird sie von der Öffentlichkeit, zumindest in Osteuropa und Lateinamerika, als
Frage der „sozialen und ökonomischen Gleichheit“ konzipiert. In einer in Chile
durchgeführten Untersuchung äußerten 56% der Befragten die Ansicht, dass die
Demokratie soziale Ungleichheiten abmildern würde (Alaminos 1991), während
in Osteuropa der Anteil derjenigen, die Demokratie mit sozialer Gleichheit in
Verbindung brachten zwischen 61% in der Tschechoslowakei und 88% in Bulga-
rien variierte (Bruszt, Simon 1991). Die Menschen erwarten, dass die Demokra-
tie soziale und ökonomische Gleichheit erzeugen wird. Damit bleibt die Koexis-
tenz von Demokratie und Ungleichheit weiterhin rätselhaft.

Zunächst einige Fakten:


1. Wenn wir politische Regime vereinfachend in zwei Kategorien einteilen,
nämlich in Demokratien und Autokratien, entdecken wir, dass das Ausmaß
der Ungleichheit – hier definiert als das Verhältnis der oberen 20% der Ein-
kommen zu den unteren 20% der Einkommen – sich in Staaten mit unter-
schiedlichen Durchschnittseinkommen pro Kopf kaum unterscheidet.7

7 Als Demokratien werden hier Regime definiert, in denen es Wahlen mit einem gewissen Maß
an Opposition gibt (nach ACLP-Daten, vgl. Przeworski et al. 2000). Autokratien sind schlicht
keine Demokratien. Die Daten sind von Deininger und Squire (1996) und beziehen sich auf die
Phase nach 1960, wobei die Zahl der Beobachtungen pro Land stark variiert. Die wichtigsten
Öl exportierenden Länder sind ausgenommen worden.
Umverteilungsbarrieren 83

Verhältnis des oberen zum unteren Einkommensquintil


(nach Regimetyp und Pro-Kopf-Einkommen)

15

10

5
Demokratien
Q5 / Q1

0 Autokratien

-5

-10
0 10.000 20.000 30.000
BIP/pro Kopf

Anm.: Schraffierte Bereiche mit 95%-Konfidenzintervall


Quelle: Deininger und Squire (1996)

Man beachte, dass es in Ländern mit hohen Einkommensniveaus einige


Demokratien gibt, aber keine Autokratien. Der nach oben zeigende Teil der
Kurve ergibt sich aus den Daten der Vereinigten Staaten, die für ihr Ent-
wicklungsniveau eine vergleichsweise hohe Ungleichheit aufweisen.8
Wie statistische Analysen zeigen, sind die geschätzten durchschnittli-
chen Differenzen zwischen Regimes klein und nicht robust.

8 Die USA ist das Land mit dem höchsten Grad an Ungleichheit, gemessen am disponiblem
Realeinkommen, unter den 24 Demokratien mit hohem Einkommen, die Brandolini und
Smeeding untersucht haben (2008, Tabelle 2.1).
84 Adam Przeworski

Unterschiede zwischen Autokratie und Demokratie im Verhältnis des


obersten und untersten Fünftels der Einkommensbezieher

Autokratie Demokratie Differenz


N 93 238
Beobachtet 10.50 1.31
Treffer 3.84
2SLS -1.25
Heckman 2 11.27 10.75 0.52
Heckman 1 -1.38

Hinweis: Die Ergebnisse basieren auf verschiedenen Auswahl-Schätzern. „Beobachtet“ gibt die
beobachteten Mittelwerte an. „Treffer“ basiert auf Imbens’ nnmatch („nearest-neighbor“) mit
einem Treffer. „2SLS“ ist der Schätzer der Instrumentvariablen. „Heckman 2“ ist der Schätzer nach
Heckman, berechnet für nach Regimetypen getrennte Regressionsmodelle. „Heckman 1“ ist ein
zusammengefasster Schätzer mit Interaktionseffekten. Die Auswahlmodelle beinhalten das Pro-
Kopf-Einkommen und in der Vergangenheit gesammelte Erfahrungen mit demokratischen Regi-
men. Folgeregressionen verwenden das Pro-Kopf-Einkommen und dessen zweite Potenz.

Quelle: eigene Berechnungen

2. Unabhängig vom politischen Regime scheint die jeweilige Einkommensver-


teilung über die Zeit erstaunlich stabil zu bleiben. Den stärksten Beleg hier-
für (allerdings für eine verhältnismäßig kurze Phase) lieferten Li et al.
(1997), die davon berichten, dass etwa 90% der Gesamtvarianz in den Gini-
Koeffizienten mit der Variation innerhalb der Länder zu erklären ist, wäh-
rend nur wenige Länder zeitliche Veränderungstrends zeigen. Erwerbsein-
kommen zeigen im Verlauf des 20. Jahrhunderts nahezu keine Variationen
(Piketty 2003).
3. Ungleichheit scheint sehr viel schneller zu- als abzunehmen. Insbesondere
nach 1989 sind einige dramatische Zunahmen der Ungleichheit zu verzeich-
nen gewesen. In Polen, wo unter dem kommunistischen Regime die ökono-
mische Verteilung noch recht egalitär war, lag das Verhältnis des Median-
Einkommens zum Durchschnittseinkommen (eine zweckmäßige Möglich-
keit, log-normale Einkommensverteilungen zu charakterisieren) 1986 bei
0,82, während es in Mexiko 1989 0,59 betrug. 1995 war es in Polen auf
0,62 gesunken, ein Wert fast gleichauf mit dem von sehr hoher Einkom-
mensungleichheit geprägten Mexiko. In den Vereinigten Staaten schwankte
die Ungleichheit in der Einkommensverteilung bis etwa 1970 nur geringfü-
Umverteilungsbarrieren 85

gig, um dann stark zuzunehmen (Bartels 2008: 35). Die Betrachtung länge-
rer Zeiträume zeigt, dass Umverteilung in nur sehr begrenztem Maße statt-
fand, obwohl der Anteil der oberen Einkommensgruppe in einigen demo-
kratischen Ländern zurückging.9 Es scheint, als hätte kein Land Marktein-
kommen sehr schnell angleichen können, ohne irgendeiner Art von Umwäl-
zung ausgesetzt zu sein, sei es (1) durch die Vernichtung von großen Men-
gen an Eigentum durch Fremdbesatzung (etwa der Japaner in Korea oder
der Sowjetunion in Osteuropa), durch Revolutionen (in der Sowjetunion)
oder durch Kriege, oder (2) durch die massenhafte Auswanderung der ar-
men Bevölkerung (Norwegen, Schweden).
Da diese Frage höchst brisant ist, gibt es Erklärungen im Überfluss.10 Ich kann
hier nur die Basisvarianten darstellen:
1. Eine Kategorie von Erklärungen behauptet, dass diejenigen, die kein Eigen-
tum haben, aus verschiedenen Gründen den Ausgleich von Eigentum, Ein-
kommen oder sogar von Chancen nicht wollen. Die dafür genannten Gründe
sind unterschiedlicher Art:
1.1 Falsches Bewusstsein aufgrund mangelnden Verständnisses für den Un-
terschied zwischen produktivem und nicht-produktivem Eigentum;
1.2 Ideologische Herrschaft, die darauf zurückzuführen ist, dass die Medien
im Besitz der Begüterten sind (Anderson 1977);
1.3 Die Zersplitterung der Armen aufgrund von Religion oder Rasse (Roe-
mer 2001, Frank 2004);
1.4 Erwartungen, dass die Armen reich werden würden (Benabou, Ok
2001);
1.5 Mangelhafte Information über die Auswirkungen bestimmter politischer
Maßnahmen, auch bei Menschen, die egalitäre Normen vertreten (Bar-
tels 2008);
1.6 Der Glaube, dass die Ungleichheit gerecht sei, weil sie eine Folge von
Leistung, nicht eine Frage des Glücks ist (Piketty 1995).
2. Eine andere Kategorie von Erklärungen behauptet, dass, selbst wenn eine
Mehrheit egalitäre Normen vertritt, formale politische Rechte als Mittel ge-

9 Diese Feststellungen bedeuten keinen Widerspruch in sich: Der Hauptgrund für diesen Rück-
gang besteht darin, dass durch Kriege und schwerwiegende ökonomische Krisen große Ver-
mögen vernichtet wurden und aufgrund der progressiven Einkommensbesteuerung nicht erneut
angehäuft werden konnten. Zu der langfristigen Dynamik der obersten Einkommensanteile
vergleiche die Beiträge in Atkinson und Piketty (2007).
10 Einige dieser Erklärungen finden sich in Bartels (2008); die Darstellung dort ist jedoch sehr
viel komplexer und differenzierter als die hier folgende, schematische Liste suggeriert.
86 Adam Przeworski

gen die Macht des Privateigentums ineffektiv sind. Auch hier gibt es einige
relevante Varianten:
2.1 Reiche Menschen verfügen über einen unverhältnismäßig großen politi-
schen Einfluss, den sie nutzen, um sich gegen ökonomische Umvertei-
lung zu verteidigen (Miliband 1970, Lindblom 1977). Nominell gleiche
politische Rechte reichen nicht aus, um den privilegierten Zugang der
Reichen zur Politik auszugleichen. Anders gesagt: Auch politische Ah-
nungslosigkeit gegenüber den ökonomischen Unterschieden reicht nicht
aus, um die Politik vor dem Einfluss des Geldes zu schützen. Grossman
und Helpman (2001) analysieren die Mechanismen, mit denen sich Rei-
che in den USA politischen Einfluss kaufen. Benabou (2000) behauptet,
dass der politische Einfluss der Reichen mit zunehmender Ungleichheit
der Einkommen ebenfalls zunimmt.
2.2 Unabhängig vom Lobbyismus der Reichen müssen Regierungen jegli-
cher politischer Couleur den Zielkonflikt zwischen Umverteilung und
Wachstum berücksichtigen. Das Umverteilen von produktivem Eigen-
tum oder gar von Einkommen hat für die Armen hohe Kosten. Ange-
sichts der Aussicht, ihr Eigentum zu verlieren, oder der Möglichkeit, die
Früchte des Eigentums nicht genießen zu können, sparen und investie-
ren Eigentümer weniger und reduzieren damit das künftige Vermögen
und das künftige Einkommen von allen. Diese „strukturelle Abhängig-
keit vom Kapital“ setzt der Umverteilung Grenzen, auch bei jenen Re-
gierungen, die Einkommen ausgleichen wollen (Przeworski, Wallerstein
1988).
Keine dieser Erklärungen bleibt unangefochten, wenn man sie Gegenargumenten
und Beweisen aussetzt. Ich bin persönlich nicht überzeugt von dem Argument,
dass die Armen nicht würden besser leben wollen, auch wenn es auf Kosten der
Reichen ginge. Das Verhältnis zwischen Umverteilung und Wachstum wiederum
wird, aus theoretischer Sicht, extrem kontrovers diskutiert, und die empirischen
Belege sind uneindeutig (Banerjee, Dufflo 2003). Einige Formen der Umvertei-
lung – etwa in Form von Bildungsförderung oder von Investitionshilfen für die-
jenigen, deren Zugang zu Krediten sonst begrenzt wäre – sind ganz offensicht-
lich wachstumsfördernd. Eine reine Umverteilung von Konsum wiederum kann
wachstumshemmend wirken.

Umverteilungstechniken
All diese Überlegungen bringen uns zu der Erkenntnis, dass viele Regierungen
mit der Unterstützung der Armen gewählt wurden, dass sie die Absicht hatten,
Einkommen umzuverteilen, und versuchten, dieses Ziel zu erreichen. Wenn
Umverteilungsbarrieren 87

Regierungen damit also gescheitert sind, muss das Gründe gehabt haben, die
nichts mit dem Wollen oder Bemühen zu tun hatten. Da es in dieser Frage um
die Grenzen der Demokratie geht, muss die Argumentation nun sorgfältig entwi-
ckelt werden.
Zunächst muss man beachten, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt,
Einkommen umzuverteilen. Man kann Markteinkommen besteuern und die Erlö-
se nutzen, um entweder den Konsum der Armen zu finanzieren oder sie für öf-
fentliche Güter auszugeben, die für alle gleich nützlich sind. Genau das tun die
meisten Regierungen in unterschiedlichem Maße. Es gibt ferner eine überwälti-
gende Menge an Belegen dafür, dass linke Regierungen stärker umverteilen als
andere.11 Eine Umverteilung mittels Steuern und Transferzahlungen reduziert
jedoch nicht die zugrunde liegende Ungleichheit der Fähigkeit, Einkommen zu
erzielen. Diese Vorgehensweise finanziert den privaten oder öffentlichen Kon-
sum, ohne einen größeren Einfluss auf das Potential zu haben, Einkommen zu
erzielen. Deshalb muss diese Form der Umverteilung immer wieder vollzogen
werden, Jahr für Jahr, nur um die Ungleichheit des Erwerbseinkommens wieder
auszugleichen. Und weil es teuer ist – entweder weil Anreize reduziert werden
oder einfach aufgrund der damit verbundenen Verwaltungsausgaben – bleibt es
eine Ad-hoc-Maßnahme und keine dauerhafte Lösung.
Fast die gesamte Literatur zur politischen Ökonomie konzentriert sich auf
diesen Mechanismus der Umverteilung, obwohl Regierungen die Einkommens-
verteilung nicht nur durch Steuern und Ausgaben, sondern auch noch durch eine
Vielzahl von anderen politischen Maßnahmen beeinflussen. Wie Stigler (1975)
feststellt, wirken alle staatlichen Maßnahmen, von der Anerkennung der Berufs-
ausbildung von Krankenschwestern über die Vergabe von Taxikonzessionen bis
hin zum Verbot giftiger Substanzen, in unterschiedlicher Weise auf die Ein-
kommen. Und sobald wir an Politik jenseits des fiskalischen Systems denken,
wird deutlich, dass diese Interventionen auch regressive Auswirkungen haben
können (Peltzman 1976). Tatsächlich werden in allen Gesellschaften sowohl
politische Maßnahmen implementiert, die Einkommen konzentrieren, als auch
Maßnahmen, die Einkommensunterschiede verringern. So führen zum Beispiel
Patentgesetze zu einer Konzentration von Einkommen, während Gesetze gegen
Monopole Einkommen eher breit verteilen; kostenlose Vorschulbildung verteilt
das Einkommen nach unten, während kostenlose Bildung im Hochschulbereich
es nach oben umverteilt; Mindestlohnregelungen heben niedrige Löhne an, wäh-
rend gewerkschaftsfeindliche Gesetze sie eher senken.
Deshalb hätte Bartels sich nicht wundern sollen, als er beobachtete, dass in
den Vereinigten Staaten „presidents have had less influence on the distribution of

11 Vgl. Beramendi und Anderson 2008 für Literaturhinweise und Diskussion.


88 Adam Przeworski

post-tax income than on the distribution of pre-tax income…“ (2008: 58). Märk-
te werden von Regierungen geschaffen. „Markteinkommen“ werden durch ein
System von lohnsetzenden Institutionen, regulatorischen Vorgaben, Handelsbar-
rieren, Monopolgesetzen usw. generiert; die Liste ist endlos. Korporatistische
Arrangements und insbesondere deren Auswirkungen auf die Lohnkompression
sind die Ursache für erhebliche Unterschiede in der Verteilung von Einkommen
in den OECD-Staaten (Beramendi, Anderson 2008).
Haben wir erst einmal erkannt, dass Einkommen unter politisch regulierten
Bedingungen generiert werden, können wir uns dem zweiten Mechanismus zu-
wenden, durch den sie ausgeglichen werden können, nämlich durch die Anglei-
chung der Potentiale, Einkommen zu erzielen. Und da Einkommen durch An-
strengungen auf der Grundlage von Produktionsfaktoren – ob nun Boden, physi-
sches Kapital, Bildung oder Qualifikationen – generiert wird, wird eine Anglei-
chung der Fähigkeit, Einkommen zu erzielen nur durch die Umverteilung dieser
Faktoren zu bewerkstelligen sein.
Aber welche Vermögensarten lassen sich in modernen Gesellschaften
gleichmäßiger verteilen? Als die Vorstellung von gleichem Eigentum entstand,
war Produktivvermögen gleichbedeutend mit Landbesitz. Boden lässt sich ver-
hältnismäßig leicht umverteilen. Es reicht aus, ihn den einen wegzunehmen und
den anderen zu geben. Deshalb fanden Agrarreformen recht häufig in der Ge-
schichte der Welt statt: Allein zwischen 1946 und 2000 gab es mindestens 175
Bodenreformen mit Umverteilungen. Heute spielt jedoch die Verteilung von
Boden eine relativ unbedeutende Rolle bei der Entstehung von ungleichen Ein-
kommensverhältnissen. Andere Vermögensarten entziehen sich dagegen einer
solchen einfachen Operation:
1. Die Kommunisten haben das Industriekapital umverteilt, indem sie es in die
Hände des Staats legten und versprachen, dass die nicht investierten Profite
an alle Haushalte gleichmäßig verteilt werden würden. Zwar hat dieses Sys-
tem ein gewisses Maß an Gleichheit erzeugt, erwies sich aber aus Gründen,
die hier nicht erörtert werden können, als dynamisch ineffizient: Es hat In-
novationen und den technischen Fortschritt behindert.
2. Alternativ könnte man auch Eigentumstitel in Form von Aktien umvertei-
len. Aber diese Art der Umverteilung bringt ganz eigene Probleme mit sich.
So zeigen die Erfahrungen mit der Privatisierung in Tschechien, dass eine
neuerliche rasche Konzentration solcher Anteile in den Händen Weniger
möglich, ja sogar wahrscheinlich ist. Denn die Ärmeren verkaufen ihre Ak-
tien bald an die Wohlhabenderen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass
die Streuung von Eigentum die Anreize für Aktienbesitzer mindert, Mana-
ger zu überwachen. Zwar wurden einige Lösungen für dieses Problem vor-
geschlagen, sie scheinen aber nicht sehr effektiv zu sein.
Umverteilungsbarrieren 89

3. Viele Länder haben die unterschiedliche Verteilung von Humankapital


ausgeglichen, indem sie in Bildung investierten. Aber Menschen, die das
gleiche Bildungssystem durchlaufen, erwerben aufgrund ihres sozialen und
ökonomischen Hintergrunds dennoch unterschiedliche Fähigkeiten, Ein-
kommen zu erzielen. Und weil Menschen mit verschiedenen Begabungen
geboren werden und solche Begabungen für die Gesellschaft insgesamt
nützlich sind, wäre es wünschenswert, in die Ausbildung Begabter mehr zu
investieren.
4. Schließlich lässt sich die Fähigkeit, Einkommen zu erzielen, durch Maß-
nahmen entwickeln, die direkt darauf ausgerichtet sind, die Produktivität der
Armen zu erhöhen („Armutsorientiertes Wirtschaftswachstum“), zum Bei-
spiel durch Erleichterung des Zugangs zu Krediten, Ausbildung für spezifi-
sche Qualifikationen, Finanzierung notwendiger Infrastrukturmaßnahmen,
vorrangige Bekämpfung von Erkrankungen, die überwiegend arme Men-
schen treffen, usw. Allerdings dauert es, bis solche Maßnahmen Wirkung
zeigen, und um den Bedarf richtig zu diagnostizieren und adäquate Politik
zu gestalten, bedarf es einer elaborierten administrativen Kompetenz.
Somit scheint es nicht nur aus politischen oder ökonomischen Gründen, sondern
vor allem aus technischen Gründen schwierig zu sein, Unterschiede im Besitz
von produktiven Vermögen auszugleichen.
Selbst wenn es schließlich möglich wäre, das produktive Vermögen gleich-
mäßig zu verteilen, ließe sich perfekte Gleichheit in einer Marktwirtschaft nicht
nachhaltig sichern. In Kapitel 5 vom 5. Buch fragt Montesquieu „Wie die Geset-
ze in einer Demokratie die Gleichheit festlegen“ und wählt als seinen Ausgangs-
punkt die Gleichverteilung des Bodens. Er führt dann weiter aus:
„Wenn der Gesetzgeber bei der Durchführung einer solchen Verteilung keine Gesetze zu ihrer
Aufrechterhaltung gibt, schafft er lediglich eine vorübergehende Einrichtung, Die Ungleichheit
wird durch die Pforte, welche die Gesetze nicht verriegelt haben, eintreten, und die Republik
wird verloren sein. … Obgleich wirkliche Gleichheit in der Demokratie die Seele des Staates
ist, ist ihre Einführung mindestens so schwierig, daß übertriebene Genauigkeit in dieser Hin-
sicht nicht immer angebracht ist. Die Einführung eines Zensus, der die Unterschiede ein-
schränkt oder bei einem bestimmten Punkt festlegt, genügt. Danach ist es dann Sache spezieller
Gesetze, die Ungleichheit durch die den Reichen auferlegten Steuern und die den Armen zuge-
billigten Erleichterungen gewissermaßen auszugleichen.“ (Montesquieu 1994: 144, 146)

Wir erinnern uns, dass Babeuf glaubte, die Umverteilung von Eigentum werde
das Problem der Ungleichheit nicht lösen, „since no equal division would ever
last.“ Nehmen wir an, der Besitz von produktivem Vermögen sei ausgeglichen
worden. Gleichwohl haben Menschen unterschiedliche und nicht beobachtbare
Fähigkeiten, daraus Einkommen zu erzielen. Darüber hinaus unterliegen sie den
Unwägbarkeiten des Glücks. Angenommen, bestimmte Menschen oder deren
90 Adam Przeworski

Projekte erzielen geringfügig unterschiedliche Renditen: Manche verlieren mit


einer Rate von 0,02 jährlich, andere gewinnen 0,02 jährlich. Nach 25 Jahren wird
der Mensch, der 2% Rendite pro Jahr erwirtschaftet 2,7 Mal reicher sein als
derjenige, der 2% pro Jahr verliert, und nach 50 Jahren (sagen wir, zwischen 18
und 68 Jahren) wird der Unterschied das 7,4-fache betragen.12 Das heißt, selbst
wenn das produktive Vermögen gleich verteilt worden wäre, würde schleichend
wieder Ungleichheit entstehen13

Demokratie beurteilen
In seiner Analyse der Thatcher-Ära stellt Dunn fest, dass
„the state at this point is more plausibly seen as a structure through which the minimally parti-
cipant citizen body (those prepared to take the trouble to vote) select from the meagre options
presented to them those they hope will best serve their several interests. In that selection, the
meagreness of the range of options is always important and sometimes absolutely decisive.“
(Dunn 2000: 147)

Sind diese Optionen eng begrenzt, weil die Logik der Wahlkonkurrenz Parteien
dazu zwingt, sehr ähnliche Politiken anzubieten und zu verfolgen? Oder sind sie
es, weil es wenig gibt, was die Parteien anders machen könnten? Diese Frage ist
wichtig, weil sie unser Urteil über die Demokratie beeinflusst. Nehmen wir an,
ökonomische Ungleichheit könnte weit unter das derzeit in entwickelten Demo-
kratien herrschende Maß reduziert werden, ohne dass künftige Einkommen
schrumpfen würden. Und nehmen wir außerdem an, dass eine solche, mögliche
Minderung der Ungleichheit nicht schon an den institutionellen Merkmalen der
Demokratie scheitert (egal wie man sie sonst beurteilt). Dann gäbe es ganz of-
fensichtlich einen „trade-off“ zwischen Gleichheit und anderen Werten, die wir
aufgeben müssten, wenn wir für ökonomische Gleichheit optierten. Aber es gibt
diesen trade-off nicht.
Das Streben nach ökonomischer und sozialer Gleichheit ist stets ein Merk-
mal von Demokratien gewesen. Moderne repräsentative Institutionen haben den
ökonomischen und sozialen Status ihrer Bürger zunächst ausgeblendet, konnten
aber damit die himmelschreiende Ungleichheit in den Lebensbedingungen der
Menschen nicht überdecken. Spätestens seit Babeuf – um von Marx ganz zu
schweigen – erschien die Begrenzung der Forderung nach Gleichheit auf die

12 Die Annahme, dass es eine Korrelation zwischen jährliche Rendite und individuelle Entwick-
lung über die Zeit gibt, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menschen unterschiedliche, nicht
beobachtbare Eigenschaften haben, die ihre Fähigkeit, Produktivvermögen zu nutzen, beein-
flussen.
13 Andere Spielarten dieses Arguments finden sich in Mookherjee, Ray (2003) und Benhabib,
Bisin (2008).
Umverteilungsbarrieren 91

Sphäre der Politik als „unlogisch“. Und wenn auf der rechten Seite des politi-
schen Spektrums auch immer die Angst umging, wirksame politische Gleichheit
würde das Eigentum bedrohen, wussten jene auf der linken Seite, dass eine
Gleichheit, die nur politisch definiert war, sich angesichts ökonomischer und
sozialer Ungleichheiten nicht aufrecht erhalten lassen würde. „Die Ausweitung
der Demokratie vom politischen in den sozialen Bereich“ war nicht nur eine
Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, sondern auch der Aufruf, im Bereich der
Politik selbst die Demokratie effektiv zu gestalten.
Aber es gibt wohl Grenzen dieses Strebens. Ein gewisser Grad an Un-
gleichheit ist einfach unvermeidbar. Dagegen ist die Demokratie, aber auch jedes
andere denkbare politische Arrangement, machtlos. Denken wir an Brasilien: Im
Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte war das Land eine Kolonie, eine unab-
hängige Monarchie, eine oligarchische Republik, eine populistische Militärdikta-
tur, eine Demokratie mit einem schwachen Präsidenten, eine rechts-gerichtete
Militärdiktatur und eine Demokratie mit einem starken Präsidenten. Dabei hat
sich, so weit wir erkennen können, die Einkommensverteilung überhaupt nicht
verändert. Sogar die Kommunisten, deren Ziel es war, alles einzuebnen, und die
tatsächlich Güter und Vermögen insofern gleich verteilten, als sie alles verstaat-
lichten, mussten die Ungleichheit tolerieren, die aus unterschiedlichen Begabun-
gen und Motivationen entsteht.
Damit ist nicht gesagt, dass alle Demokratien gleich sind. Unter den gegen-
wärtigen Demokratien variiert das Verhältnis des oberen und unteren Fünftels
der Einkommen (das vielleicht intuitiv verständlichste Maß der Ungleichheit)
zwischen etwa 33:1 in Brasilien und weniger als 6:1 in Finnland, Belgien, Spa-
nien und Südkorea. Wir können also sowohl die Angebote, die politische Partei-
en ihren Wählern machen, als auch die Politik bestimmter Regierungen verglei-
chen und beurteilen. Und weil Konflikte über die Verteilung von Chancen, Ar-
beit und Konsum das tägliche Brot der Politik in der Demokratie darstellen,
müssen wir wachsam sein. Aber auch die besten Regierungen arbeiten unter
Beschränkungen, die sie hinnehmen müssen. Die Verhältniszahl „6“ ist noch
immer sehr groß: Sie besagt, dass in einem Land mit einem durchschnittlichen
Pro-Kopf-Einkommen von 15.000 US-Dollar,14 jemandem im obersten Fünftel
ein Jahreseinkommen von 27.000 US-Dollar hat, während jemandem aus dem
untersten Fünftel 4.500 US-Dollar hat. Die Mehrzahl der Befragten in Spanien
und Südkorea empfindet solche Ungleichheiten als exzessiv. Aber vielleicht
stellt dies einfach für jedes politische System die Grenze der möglichen Anglei-
chung von Einkommen oder Vermögen dar.
Mein Punkt ist also, dass wir der Demokratie zu viel aufbürden.

14 In den genannten Ländern etwa der Durchschnitt im Jahr 2002; berechnet in 1995 US-Dollar-
Kaufkraftparitäten.
92 Adam Przeworski

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Umverteilungsbarrieren 95

Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale


Ungleichheit?
Martin Kohli und Harald Künemund

Einleitung
Bekanntlich kann man sich seine Eltern nicht aussuchen – zumindest nicht die
biologischen. Das ist bedauerlich, denn auch heute noch hängt sehr viel von
ihnen ab, nicht zuletzt der soziale Status. Soziale Ungleichheit wird auf vielfälti-
ge Weise von den Eltern auf die Kinder übertragen. Die Grundlagen dafür mö-
gen zum Teil genetisch vorgegeben sein, sie werden aber jedenfalls frühzeitig
über die unmittelbare Umwelt mit in die Wiege gelegt – etwa über die Komple-
xität von Interaktionen oder sprachlichen Regeln, an denen die heranwachsenden
Kinder sich bilden und einen „Habitus“ herausbilden – und später im Bildungs-
und Erwerbssystem verfestigt, so dass Kinder im Ergebnis typischerweise auf
ähnlichen relativen Positionen im Gefüge der sozialen Ungleichheit anzutreffen
sind wie zuvor ihre Eltern. Schichtungs-, Mobilitäts-, Bildungs- und Sozialisati-
onsforschung haben die Bedeutung dieser biographisch „frühen“ Vererbung
sozialer Ungleichheit hinreichend belegt, die trotz aller Betonung von Chancen-
gleichheit, Eigenleistung und Individualität nach wie vor durchschlägt (vgl. zum
Beispiel Erikson, Goldthorpe 1992; Scherer et al. 2007; für Deutschland jüngst
Habich, Noll 2008: 180ff.).
Dass auch eine biographisch spätere Transmission sozialer Ungleichheit
möglich ist, hat in der Ungleichheits- und Mobilitätsforschung dagegen bisher
kaum Berücksichtigung gefunden (vgl. Kohli et al. 2009). Zu denken ist dabei
vor allem an die materiellen Transfers der Eltern an ihre erwachsenen Kinder.
Sie bilden die familiale Seite des gesellschaftlichen Generationenvertrages (vgl.
Ganßmann 2002). Erbschaften und Transfers inter vivos in späteren Lebenspha-
sen können bestehende Ungleichheiten im Prinzip weiter verschärfen oder auch
abmildern. Im ersten Falle liegt die Forderung nach einer höheren Erbschafts-
und Schenkungssteuer nahe, will man der Verschärfung sozialer Ungleichheit
durch „unverdientes Vermögen“ (Beckert 2004) entgegentreten. Im zweiten
Falle würde damit ein gegenteiliger Effekt erzielt: Wenn Schenkungen und Erb-
schaften eher an weniger gut situierte Kinder gehen und so zu einer Verbesse-
96 Martin Kohli, Harald Künemund

rung ihrer relativen Position im Gefüge der sozialen Ungleichheit führen, haben
sie einen nivellierenden Effekt, und eine höhere (oder gar konfiskatorische) Be-
steuerung hätte lediglich die Folge, dass die Reichen reich und die Armen arm
blieben. Die wenigen Ergebnisse dazu sind bisher nicht eindeutig.
Wir möchten diese Möglichkeiten zunächst theoretisch weiter differenzie-
ren und anschließend ausgewählte empirische Befunde diskutieren, um damit
eine erste Antwort auf diese Frage formulieren und Anregungen für die weitere
Forschung in diesem Bereich geben zu können.1 Die Befunde beziehen sich
überwiegend auf Deutschland; die Prozesse, um die es geht, sind jedoch ähnlich
auch in anderen europäischen und westlichen Gesellschaften zu beobachten (vgl.
Breen 2004; Kohli 2004; Albertini et al. 2007).

Verteilungswirkungen von Erbschaften


Mehrere Autoren haben die sozio-demographischen Merkmale der Erblasser und
Erben analysiert, um von hier aus Schlussfolgerung hinsichtlich der Veränderung
der Vermögensungleichheit ziehen zu können. In der Bundesrepublik untersuch-
te zum Beispiel Schlomann (1991; 1992) den Einfluss von Erbschaften auf das
Vermögen privater Haushalte anhand der fünften Welle des SOEP von 1988, die
zum ersten Mal Daten zur Höhe und Verteilung von Erbschaften bereitstellte.
Demnach erbten Haushalte, deren Vorstände Beamten, Selbständige oder Anges-
tellte waren, überdurchschnittlich häufig, Arbeiter- oder Nichterwerbstätigen-
haushalte dagegen seltener (Schlomann 1991: 9). Die durchschnittliche Erb-
summe betrug umgerechnet rund 45.000 Euro. Außerdem ergab sich ein positi-
ver Zusammenhang zwischen Haushaltsnettoeinkommen und Erbschaftserhalt:
Der Anteil der Haushalte mit Erbschaften war – die unterste Nettoeinkommens-
klasse ausgenommen – bei denjenigen mit höherem Haushaltsnettoeinkommen
größer (ebd.: 7). Dies würde bedeuten, dass diejenigen mit höherem Einkommen
häufiger etwas erbten, wenn man ausschließt, dass sich das Einkommen durch
die Erbschaft selber entsprechend erhöht hatte. Schlomann zeigte, dass die

1 Wir stützen uns dabei auf verschiedene Forschungsarbeiten, vor allem aus dem Umfeld des
Alters-Survey (Kohli, Künemund 2005), und die daraus hervorgegangenen Publikationen
(Kohli et al. 2006; Künemund et al. 2005; 2006; Künemund, Vogel 2008), sowie auf ein Gut-
achten zu den Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen Erbschaften und Vermö-
gensverteilung (Kohli et al. 2005). Wir möchten daher an dieser Stelle auch jenen Personen
unseren Dank aussprechen, die an diesen Forschungsarbeiten beteiligt waren – im Kontext die-
ses Aufsatzes insbesondere Jürgen Schupp, Marc Szydlik und Claudia Vogel. Unser Dank
richtet sich auch an Heiner Ganßmann, der zwar an den genannten Projekten nicht direkt betei-
ligt war, uns jedoch am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin über Jahrzehnte
hinweg immer wieder mit den grundsätzlichen Fragen nach Ausmaß, Ursachen und Wirkun-
gen sozialer Ungleichheit konfrontiert hat.
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 97

Chance, eine Erbschaft zu erhalten, durch Alter, berufliche Stellung und Ein-
kommen der Erbenhaushalte strukturiert wurde, und schloss daraus, dass Erb-
schaften dazu beitragen, soziale Ungleichheit zu reproduzieren. Neben der Ein-
kommens- ging er auch auf die Vermögenswirkung von Erbschaften ein; er dis-
kutierte die These – ohne sie allerdings weiter zu prüfen –, Erbschaften könnten
die Ungleichheit der Vermögensverteilung vergrößern, da Haushalte mit hohem
bereits vorhandenem Vermögen eine Erbschaft eher dazu nutzen würden, dieses
Vermögen zu vermehren, während Haushalte mit keinem oder wenig Vermögen
damit eher Konsumwünsche befriedigen oder Schulden tilgen würden.
Lauterbach und Lüscher (1996) untersuchten mit den Daten des SOEP von
1988 die Erbschaften, die Westdeutsche zwischen 1960 und 1988 erhielten (vgl.
auch Lauterbach 1998). Die Autoren zeigen, dass höhere Einkommensgruppen
häufiger als niedrigere eine Erbschaft erhielten und diese eher für den Kauf einer
Immobilie einsetzten. Auch beeinflusste eine Erbschaft noch im späteren Le-
bensalter den Lebenslauf der Erben: Sie machte es möglich, eine Immobilie zu
erwerben oder in die vererbte Immobilie zu ziehen, was Einspareffekte bei den
Wohnkosten zur Folge hatte.
Eine Reihe weiterführender Analysen – auch unter Einschluss von Schen-
kungen – ist von der Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf mit Daten des
Alters-Survey 1996 und des SOEP vorgelegt worden (Szydlik 1999; 2000; 2004;
Szydlik, Schupp 2004; Kohli 2004; Künemund et al. 2005). Knapp die Hälfte der
40- bis 85-jährigen Befragten des Alters-Survey von 1996 gab an, sie selbst oder
ihr Partner hätten bereits eine Erbschaft erhalten. Ein großer Teil dieser Erb-
schaften war allerdings relativ niedrig. Ein Viertel aller Erben erhielt mindestens
50.000 Euro, aber nur 5% 250.000 Euro und mehr (Szydlik 2000: 157ff.). Szyd-
liks Analyse umfasste erstmals den Vergleich von Erbschaften in Ost- und West-
deutschland. Es zeigte sich, dass Ostdeutsche seltener und weniger erbten, da die
Vermögen in Ostdeutschland historisch bedingt deutlich niedriger waren. Diese
Studie zeigte auch, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erbschaft mit der Bildung
der Erben stieg, die wiederum stark mit der beruflichen Stellung der Eltern korre-
lierte: Akademiker hatten im Vergleich zu Hauptschulabgängern „eine doppelt so
große Chance, bereits etwas geerbt zu haben und eine über drei Mal so hohe
Wahrscheinlichkeit, zukünftig etwas zu erhalten“ (Szydlik 1999: 97). Szydlik
schloss daraus, dass Erbschaften die soziale Mobilität hemmen und zur Verschär-
fung sozialer Ungleichheiten in der Erbengeneration beitragen, weil diejenigen die
schlechtesten Erbchancen haben, die auch anderweitig benachteiligt sind.
Andere Autoren kommen jedoch zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen.
Westerheide (2004), der mittels des SOEP aus dem Jahr 2002 die Auswirkungen
von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensbildung untersuchte, zeig-
te, dass die Sparneigung aus den erhaltenen Transfers hoch war: Mehr als 80%
98 Martin Kohli, Harald Künemund

der Transfersummen wurden durchschnittlich der Vermögensbildung zugeführt.


Weniger vermögende Haushalte wiesen tendenziell eine höhere Sparneigung aus
den erhaltenen Transfers auf. Deshalb erwartete Westerheide einen nivellieren-
den Effekt der Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensverteilung. Im
Verhältnis zum selbst erzielten Einkommen scheinen also intergenerationale
Transfers für weniger vermögende Haushalte von größerer Bedeutung zu sein,
während wohlhabendere Haushalte auch ohne solche Transfers leichter Vermö-
gen aus ihrem laufenden Einkommen ansparen können. Schüssler und Funke
(2002) untersuchten den Beitrag einzelner Vermögenskomponenten zur Vertei-
lung der Vermögen mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und
zeigten, dass Immobilienerbschaften die Ungleichheit der Vermögen nicht erhö-
hen, „obwohl von empfangenen Immobilienerbschaften (…) nur ein Teil der
Haushalte betroffen ist, was für sich genommen die Ungleichheit erhöhen müss-
te“ (Schüssler, Funke 2002: 123). Möglicherweise fallen also auch im unteren
Vermögensbereich große Erbschaften an, die zu einem Aufstieg in der Vermö-
gensverteilung führen können – etwa wenn ein Hof geerbt wird.
Nochmals anders sehen die Ergebnisse hinsichtlich privater intergeneratio-
neller Transfers zu Lebzeiten (Schenkungen) aus. Obwohl das Volumen der
Erbschaften dasjenige der Schenkungen bei weitem übertrifft – Schätzungen
liegen bei etwa 3:1 (vgl. Kohli 2004) –, können letztere im Sinne von vorgezo-
genen Erbschaften eine wichtige Rolle bei der Vererbung von Vermögen spielen.
Mit den Daten des Alters-Survey haben wir gezeigt, dass kleinere Schenkungen
eher zu einer Verringerung von Ungleichheiten führen, weil für sie die Bedürf-
tigkeit der Empfänger ein wichtiges Kriterium ist (Motel, Szydlik 1999; Küne-
mund et al. 2005). Allerdings gilt auch für diese Transfers, dass sie und ihr Um-
fang stark vom Vermögen der Geber abhängen. Entsprechend existiert ein posi-
tiver Zusammenhang zwischen Erbschaften und Schenkungen: Wer Eltern hat,
die schon zu Lebzeiten Unterstützung leisten konnten, hat auch bessere Chancen,
etwas zu erben (Kohli 2004).
Insgesamt ist also mehrfach gezeigt worden, dass die Erbschaften und auch
der Erhalt von finanziellen Transfers zu Lebzeiten des Gebers positiv mit Bil-
dung, Einkommen und Vermögen des Gebers und des Empfängers korreliert
sind. Somit wäre zu erwarten, dass familiale Transfers die bestehenden sozialen
Ungleichheiten stärker konturieren und verschärfen. Die Annahme eines generel-
len „Matthäus-Effekts“ – wer hat, dem wird gegeben – ist allerdings voreilig. Es
sind Differenzierungen nötig, um die divergierenden Einzelbefunde integrieren
zu können.
Zunächst ist zu spezifizieren, auf welcher Ebene wir von Ungleichheit spre-
chen. Betrachten wir zum Beispiel die Ungleichheit in der gesamtgesellschaftli-
chen Vermögensverteilung zu zwei Zeitpunkten, ist dazwischen durch Erbschaf-
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 99

ten Vermögen von Erblassern auf Erben übertragen worden. Wenn hypothetisch
pro Erblasser ein einziger Erbe unterstellt wird, hat sich in der Gesamtgesell-
schaft (fast) nichts verändert – das Vermögen hat lediglich den Besitzer gewech-
selt. Eine progressive Erbschaftsbesteuerung wie in der Bundesrepublik würde
dann dazu führen, dass die Ungleichheit geringer wird. Dies ist theoretisch auch
dann der Fall, wenn Vermögen und Kinderzahl positiv korreliert sind und das
Erbe jeweils auf alle Kinder gleichmäßig verteilt wird – große Vermögen wären
dann nach dem Erbfall stärker verteilt als zuvor, die gesamtgesellschaftliche
Vermögenskonzentration wäre niedriger.
Durch statushomogene Familienbildung kann dagegen die Ungleichheit zu-
nehmen, wenn große Erbschaften von Eltern und Schwiegereltern zusammentref-
fen und so zu einer stärkeren Konzentration der Vermögen führen. Dies hängt
jedoch wiederum von der Familienkonstellation ab. Bei zwei Kindern und
Gleichverteilung des Erbes unter den Kindern kommt es im Ergebnis ebenfalls
lediglich zu einer Transmission der sozialen Ungleichheit. Empirisch sind solche
Zusammenhänge in dieser Komplexität bislang noch kaum erforscht, auch weil
entsprechende Längsschnittdaten, die solche Effekte analysierbar machen kön-
nen, erst in Ansätzen vorliegen.
Plausibel ist dagegen die Annahme einer Verschärfung der Ungleichheit in
der Erbengeneration: Eine positive Korrelation von Vermögen und Erbchance
sowie Erbhöhe bedeutet, dass jene Personen im Durchschnitt mehr erhalten, die
schon zuvor über größere Vermögen verfügten. Diesen Befund würde man auch
dann erhalten, wenn Vermögen und Kinderzahl positiv korreliert wären und die
Konzentration der Vermögen dadurch abnehmen würde. Es geht also darum, ob
wir den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Vermögensungleichheit richten
oder auf diejenige in einer Empfängerkohorte.
Selbst in der Perspektive auf eine isolierte Erbengeneration gilt der Befund
einer Zunahme der Ungleichheit zwingend allerdings nur für absolute Vermö-
gensbeträge. Wenn für bereits begüterte Haushalte die Vermögensübertragung
mortis causa nur einen relativ geringen Anteil ihres Vermögens ausmacht, kann
es sein, dass die Vermögenskonzentration in der Erbengeneration trotz einer
Zunahme der absoluten Ungleichverteilung abnimmt. Der Unterschied zwischen
absoluter und relativer Betrachtung lässt sich mit einer hypothetischen Gesell-
schaft mit je zwei Erblassern und Erben verdeutlichen: Nehmen wir einen Er-
blasser A mit einem Vermögen von 1.000 Euro und einen dazugehörigen Erben a
ohne jedes Vermögen, sowie einen Erblasser B mit einem Vermögen von 5.000
Euro und einen Erben b, der bereits vor dem Erbfall über 4.000 Euro verfügt.
Dann waren vor und nach den Erbfällen 90% dieses Vermögens in der Hand der
Familie B konzentriert. Betrachten wir allein die Erben, hat b vor dem Erbfall
100%, danach aber nur noch 90% des Gesamtvermögens (obgleich der absolute
100 Martin Kohli, Harald Künemund

Unterschied zwischen b und a nunmehr von 4.000 auf 8.000 Euro gewachsen ist)
– die relative Ungleichheit hat sich reduziert. Erbschaften haben also je nach
vorheriger Vermögenssituation einen unterschiedlichen relativen Einfluss auf die
Vermögensausstattung der Haushalte und die Vermögenskonzentration in einer
Bevölkerung. Auch dies ist bislang noch kaum empirisch erforscht.
Nochmals komplizieren kann sich die Situation in längerfristiger Perspekti-
ve, wenn sich Spar- und Konsumneigung systematisch zwischen den Vermö-
gensgruppen unterscheiden. Nehmen wir an, b – da er sich schon hinreichend
abgesichert fühlt – würde das Erbe unmittelbar konsumieren, a hingegen anspa-
ren, würde sich (gleiche Verzinsung des Kapitals unterstellt) die relative Kon-
zentration des Vermögens bei 80% in der Hand von b einpendeln, also noch
weiter reduzieren, während die Ungleichheit gemessen in absoluten Beträgen
natürlich mit der Zeit weiter anwächst, sofern das Kapital Zinsen abwirft.
Es wird also deutlich, dass die Wirkungen von Erbschaften je nach Perspek-
tive und Modellannahmen unterschiedlich ausfallen und deshalb nur empirisch
ermittelt werden können. Wir können an dieser Stelle – auch mangels geeigneter
Längsschnittdaten – nicht all diese Probleme auf empirischer Basis angehen,
möchten im Folgenden jedoch einige unserer Befunde zusammenfassen und im
Hinblick auf die Verteilungsfrage interpretieren.

Ausgewählte empirische Befunde


Betrachten wir zunächst die Verteilung des Erbes auf die Kinder innerhalb von
Familien. Würden hier zum Beispiel Männer oder Erstgeborene bevorzugt, wür-
de durch Erbschaften die Ungleichheit in der Kindergeneration wahrscheinlich
zunehmen. Würden dagegen jene Kinder beim Erbe bevorteilt, die im Vergleich
zu ihren Geschwistern finanziell schlechter dastehen, würde die Ungleichheit
tendenziell reduziert. Faktisch ist heute beides eher die Ausnahme als die Regel.
Eine hypothetische Frage aus dem Pretest des Sozio-oekonomischen Panel im
Jahre 2004 ergibt ein klares Bild: Wenn die Befragten ein Erbe hinterlassen
könnten und dies auf mehrere Kinder verteilen müssten, würde die überwälti-
gende Mehrheit dieses Erbe nach dem Gießkannenprinzip gleich auf alle Kinder
verteilen (Künemund et al. 2006). Die Söhne oder die Töchter bevorzugen würde
fast niemand. Auch die Bedürftigkeit der Kinder spielt – anders als bei den
Transfers inter vivos – kaum eine Rolle. Gleiches gilt für das in der ökonomi-
schen Literatur gerne bemühte strategische Vererbungsmotiv. Der Wille zur
Gleichbehandlung aller Kinder überwiegt weitgehend solche Bedarfs- oder Re-
ziprozitätsgesichtspunkte.
Im Unterschied zu manchen anderen Bereichen stimmen Einstellungen und
Verhalten hier überein. Die Analyse des faktischen Erbschaftsgeschehens zeigt,
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 101

dass das Erbe typischerweise gleichmäßig auf alle Kinder verteilt wird. Das gilt
auch für die USA, wo der Testierfreiheit praktisch keine Grenzen gesetzt sind;
die ökonomische Literatur spricht deshalb vom „equal division puzzle“ (Bern-
heim, Severinov 2000). Im Vergleich zu Einzelkindern haben sowohl Töchter
mit einem Bruder als auch Söhne mit einer Schwester gleich hohe Chancen, eine
Erbschaft zu erhalten, und die durchschnittliche Erbhöhe unterscheidet sich
ebenfalls nicht signifikant zwischen Töchtern und Söhnen (Künemund et al.
2006). Auch die Position in der Geburtenfolge ist für die Erbchance und die
Erbhöhe irrelevant: Die ältesten Söhne erben ebenso häufig und im Schnitt eben-
so hohe Beträge wie jüngste Söhne, älteste oder jüngste Töchter oder Personen in
der Mitte zwischen älteren und jüngeren Geschwistern (Künemund, Vogel
2008). Erbschaftshöhe und Geschwisterzahl sind negativ korreliert – ab vier
Kindern fallen Erbschaften durchschnittlich geringer aus (Kohli et al. 2005). Auf
die Gesamtbevölkerung bezogen können wir festhalten, dass Geschlecht und
Position in der Geburtenfolge für Erbhöhe und Erbchance keine wesentliche
Rolle spielen.
So weit wäre also davon auszugehen, dass die Ungleichheit der Elterngene-
ration auf die nachfolgende Generation wenig verändert übertragen wird. Zwei
Kinder2 teilen sich das Vermögen der Eltern und erhalten – so sie wiederum dem
Normalfall entsprechend einen Partner haben – in ihrer Ehe zusätzlich eine Hälf-
te des Erbes der Eltern ihres Partners. Die an dieser Stelle entstehenden Vertei-
lungswirkungen sind theoretisch ausgesprochen vielfältig und empirisch noch
kaum erforscht. Aufgrund der empirischen Tendenz zu statushomogenen Part-
nerschaften sind die Wirkungen im Hinblick auf die Vermögenskonzentration in
der Gesamtgesellschaft wahrscheinlich unsystematisch und gering; lediglich im
Falle einer negativen Korrelation zwischen Vermögen und Kinderzahl ergäbe
sich eine Tendenz zu einer stärkeren Konzentration.
Klarer sind die Befunde auf der Ebene der Erbenden. Hier ist – wie oben
angeführt – wiederholt gezeigt worden, dass Personen mit höherer Bildung eine
deutlich höhere Erbchance haben (hinsichtlich der Erbhöhe sind die Befunde
weniger eindeutig; die Daten des Alters-Survey ergeben hier keinen zusätzlichen
Effekt, vgl. Kohli et al. 2005). Tabelle 1 zeigt exemplarisch die Ergebnisse einer
logistischen Regression des Erbschaftserhalts auf ausgewählte Merkmale der
Erbenden im mittleren Erwachsenenalter mit den Daten der zweiten Welle des
Alters-Survey aus dem Jahr 2002.3

2 Das entspricht der durchschnittlichen Kinderzahl in den älteren Kohorten, deren Erbschaften
gegenwärtig anstehen.
3 Der Alters-Survey ist eine repräsentative Befragung der 40- bis 85-jährigen Deutschen, die
1996 begonnen und 2002 mit einer zweiten Welle fortgesetzt wurde. Der Datensatz ist beim
Zentralarchiv für empirische Sozialforschung verfügbar. Die Frageformulierung lautete „Ha-
102 Martin Kohli, Harald Künemund

Tabelle 1: Erbschaften von (Schwieger-)Elterna

bivariat multivariat

Frauen (Ref.: Männer) 1,11 1,08

Ostdeutschland (Ref.: West) 0,71* 0,85

Familienstand (Ref.: verheiratet)


Geschieden oder getrennt 0,59* 1,03
Ledig oder verwitwet 0,64* 1,19
Geschwister (Ref.: Keine) 0,95 1,02

Kinder (Ref.: Keine) 1,42 1,65

Arbeitslos (Ref.: Nein) 0,41** 0,61

Äquivalenzeinkommen (Ref.: unterstes Quintil)


Zweites Quintil 1,58* 1,26
Drittes Quintil 1,55 0,95
Viertes Quintil 1,59* 0,81
Oberstes Quintil 2,91** 1,26
Vermögen > 5 TDM (Ref.: Nein) 3,40** 2,47**

Hauseigentum (Ref.: Nein) 3,87** 3,20**

Schulden > 5 TDM (Ref.: Nein) 1,51** 1,00

Pseudo-R2 (Nagelkerke) 0,18

a
Logistische Regression, odds ratios, nur 40- bis 54-Jährige
Quelle: Alters-Survey 2002; n= 763; *= p< 0,05; **= p< 0,01

Zunächst ist festzustellen, dass der Erhalt von Erbschaften nicht mit dem Bedarf
korreliert, wie er über die Arbeitslosigkeit des Befragten oder die des Partners,
über eine Scheidung oder über Schulden indiziert wird. Dies entspricht den be-
reits genannten Befunden zur Gleichverteilung von Erbschaften auf die Nach-
kommen. Der bivariat noch deutliche Zusammenhang mit dem Einkommen
verringert sich erheblich bei Einbezug des Vermögens: Auf Haushaltsebene ist

ben Sie oder Ihr (Ehe-)Partner schon einmal etwas geerbt? Bitte denken Sie dabei auch an
kleinere Nachlässe“. Einbezogen wurden Erbschaften von den eigenen Eltern oder Großeltern
und den Eltern oder Großeltern der Partner. Dieses Modell repliziert eine Analyse mit den Da-
ten der ersten Welle (Künemund et al. 2005).
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 103

der Zusammenhang mit der Einkommenshöhe nicht mehr statistisch signifikant.


Die stärksten Zusammenhänge zeigen sich beim Vermögen und dem Hausbesitz.
Beides kann in dieser Querschnittsbetrachtung aber natürlich Teil des Erbes
gewesen sein. Damit wird auch schon die Schwäche dieser Form der Analyse
deutlich: Man bräuchte auch an dieser Stelle Längsschnittdaten, mit denen sich
eine Veränderung der Position in der Vermögenshierarchie als Konsequenz einer
Erbschaft nachweisen ließe.4
Aufgrund des Fehlens solcher Daten haben wir an anderer Stelle hypothe-
tisch die Erbsumme vom Vermögen subtrahiert und die Ungleichheit der Ver-
mögensverteilung vor und nach Abzug des Erbes analysiert (Kohli et al. 2005;
2006). Ein solcher Kunstgriff – analog zu einer konfiskatorischen Besteuerung –
ist allerdings mit einer Reihe von Voraussetzungen verbunden, die erwähnt wer-
den müssen:
ƒ Erstens könnte die Erbschaft zwischenzeitlich konsumiert worden sein; der
Abzug stellt dann die Ausgangssituation zu negativ dar, das heißt, er führt
zu einer Überschätzung der Wirkungen der Erbschaft. Dies könnte sozial
selektiv wirken, etwa wenn wenig Vermögende ihr Erbe eher konsumieren,
Wohlhabende dagegen ertragreich anlegen.
ƒ Zweitens könnten soziale Regelmäßigkeiten im Antwortverhalten Probleme
nach sich ziehen, etwa wenn Wohlhabende kleinere Erbschaften für „nicht
nennenswert“ halten, Geringverdiener diese hingegen angeben.
ƒ Drittens können Zugewinne aus Erbschaften nicht genau kalkuliert werden.
Neben möglichen Zinsen gilt dies zum Beispiel für Einspareffekte im Falle
selbst genutzter Immobilien oder Betriebsüberschüsse.
ƒ Viertens können Konsumentscheidungen schon zu früheren Zeitpunkten
von der Erwartung einer Erbschaft bestimmt worden sein.
Dennoch handelt es sich bei der gegebenen Datenlage um die beste Möglichkeit,
die bislang unbeobachteten Veränderungen einer Analyse zugänglich zu machen.
Dieser hypothetische Abzug der Erbsumme führt nicht zu einer Zunahme der
Ungleichheit, sondern zu einer geringen Abnahme. Der Gini-Koeffizient der
Vermögensverteilung als Gesamtindikator von deren Ungleichheit steigt bei
Abzug der Erbsumme geringfügig von 0,718 auf 0,722. Zudem ist die Vermö-
gensungleichheit bei jenen höher, die gar nicht geerbt haben. Die Ungleichheit
der gesamtgesellschaftlichen Vermögensverteilung wäre ohne Erbschaften also
eher noch größer. Bei diesen Befunden ist zu berücksichtigen, dass sie auf der
bisherigen Erbschaftsbesteuerung beruhen. Ein nicht näher zu bestimmender Teil

4 Für Detailfragen zur Repräsentativität der Daten und Verlässlichkeit der Messungen vgl. Kohli
et al. (2005).
104 Martin Kohli, Harald Künemund

dieser Ungleichheitsreduktion ist also ein Effekt des gegenwärtigen Besteue-


rungssystems.
Wie weit Erbschaften zu Veränderungen im Vermögen privater Haushalte
führen, kann näherungsweise auch mit den Längsschnittdaten des SOEP, näm-
lich durch einen Vergleich der im Jahr 1988 erhobenen Vermögensbilanz mit der
des Jahres 2002 untersucht werden. Die an beiden Erhebungen teilnehmenden
Haushalte wurden hierzu danach differenziert, ob sie 2002 über Vermögenszu-
gänge aus Erbschaften seit 1988 berichteten oder nicht. Diese Analysen be-
schränken sich aus methodischen Gründen auf Privathaushalte des Jahres 1988
in Westdeutschland, die auch 2001/2002 noch als Privathaushalte in Deutschland
leben. Hier lässt sich feststellen, dass der durchschnittliche Anteil der Erbsumme
am Nettogesamtvermögen des Jahres 2002 bei etwa 27% liegt (wenn unterstellt
wird, dass in der Zwischenzeit kein Konsum der Erbschaft stattfand). Für Haus-
halte, die im Ausgangsjahr 1988 über keinerlei Vermögen verfügten, macht der
Zuwachs durch Erbschaften mehr als ein Drittel des durchschnittlichen Nettoge-
samtvermögens des Jahres 2002 aus. Für diejenigen hingegen, die 1988 bereits
ein Vermögen von mehr als 200.000 Euro hatten, beträgt der Zuwachs im Jahr
2002 lediglich 18,3%. Dieser Befund zeigt, dass Erbschaften in bislang wenig
vermögenden Haushalten deutlich stärker zur Vermögensbildung und Vermö-
genssteigerung beitragen als in Haushalten, die zuvor bereits über hohe Vermö-
gen verfügten. Zwar erben letztere Haushalte häufiger, der Zuwachs daraus
macht jedoch einen geringeren Anteil an ihrem Gesamtvermögen aus.

Fazit und Ausblick


Die mit dem Matthäus-Effekt einhergehende Annahme einer generellen Ver-
schärfung sozialer Ungleichheiten durch Erbschaften greift also zu kurz. Auf der
gesamtgesellschaftlichen Ebene reproduziert sich die soziale Ungleichheit derart,
dass Personen mit höherem Einkommen oder Vermögen eine höhere Erb-
schaftswahrscheinlichkeit aufweisen (und im Durchschnitt vielleicht auch höhere
Erbschaften erhalten, obgleich dies nicht alle Befunde eindeutig zeigen). Daraus
kann man in der Tat – ganz im Sinne des „Matthäus-Effekts“ – auf eine Ver-
schärfung der absoluten Ungleichheit in der Erbengeneration schließen: Wer
schon mehr hat, dem wird mehr gegeben. Damit überträgt sich ein wesentlicher
Teil der Ungleichheit zwischen den Eltern auf die Erben und führt bei diesen zu
einer stärker ausgeprägten internen Differenzierung. Da der Erbfall überwiegend
erst im mittleren Erwachsenenalter eintritt, bedeutet dies auch eine biographisch
spätere Transmission sozialer Ungleichheit, als sie in der Schichtungs- und Mo-
bilitätsforschung gewöhnlich unterstellt wird. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebe-
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 105

ne bleibt jedoch die Ungleichheit der Vermögensverteilung unverändert oder


nimmt sogar ab, insbesondere im Falle einer progressiven Besteuerung.
Die Schlüssel zur Auflösung dieser komplexen Zusammenhänge liegen ei-
nerseits in der Präzisierung des zugrunde gelegten Ungleichheitskonzepts (abso-
lute oder relative Ungleichheit), andererseits in der ins Auge gefassten Populati-
on (Erbengeneration oder Gesamtbevölkerung). Autoren wie Schlomann (1991)
und Szydlik (2004), die in ihren Analysen eine Verschärfung der Ungleichheit
durch Erbschaften aufzeigen, folgen einem absoluten Ungleichheitskonzept und
richten ihren Blick auf die Erbengeneration. Bei einem relativen Ungleichheits-
konzept, wie es sich in der Forschung über Einkommens- und Vermögensvertei-
lung und insbesondere in der Armuts- und Reichtumsforschung weitgehend
durchgesetzt hat, können Erbschaften die Ungleichheit auch auf der Ebene der
Erbengeneration verringern, selbst wenn die Erbschaftschance und -höhe mit
dem Vermögen vor dem Erbfall positiv korreliert sind. Hier sind die Befunde
bislang allerdings noch wenig befriedigend. Näheres kann erst auf der Grundlage
von Längsschnittdaten mit verlässlichen Vermögensangaben herausgearbeitet
werden. Diese Daten sind seit kurzem vorhanden und werden von uns derzeit auf
diese Fragen hin analysiert: Durch einen Vergleich der Vermögensverteilung
zwischen zwei Zeitpunkten sollen die durch Erbschaften bewirkten Veränderun-
gen empirisch nachgezeichnet werden. Wir hoffen, dann auch in dieser Hinsicht
belastbare Ergebnisse vorlegen zu können.
Zusammenfassend kann man auf der Grundlage der bislang vorliegenden
Analysen vermuten, dass bei einem relativen Ungleichheitskonzept die Vermö-
gensungleichheit in der Gesamtbevölkerung durch Erbschaften nicht zu-, son-
dern tendenziell sogar etwas abnimmt. Dieser auf den ersten Blick kontraintuiti-
ve Befund erklärt sich unter anderem daraus, dass der Anteil der Erbschaften am
Vermögen bei den oberen Gruppen der Vermögenshierarchie geringer ist als bei
den unteren. Die absolut höheren Erbsummen, die an die vermögenderen Erben
gehen, sind für diese relativ weniger gewichtig als für den Erben ohne oder mit
geringem Vermögen. Für letztere bieten Erbschaften häufig erst die Grundlage
für einen (meist bescheidenen) Vermögensaufbau oder eine Entschuldung. Ent-
sprechend kann auch vermutet werden, dass die anstehende „Erbschaftswelle“,
die in den Medien beschworen wird, nicht zu einer Zunahme der Vermögensun-
gleichheit führen wird – zumindest unter der bis letztes Jahr geltenden Besteue-
rung. Welche empirischen Verteilungswirkungen allerdings die neue Erbschafts-
steuer hat und welche Möglichkeiten der Umgehung sie bieten wird, ist zur Zeit
noch offen.
106 Martin Kohli, Harald Künemund

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Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 109

Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit?


Das Gleichheitsskript der Europäischen Union und
die Einstellungen der Bürger1
Jürgen Gerhards und Holger Lengfeld

Moderne Wohlfahrtsstaaten sind nationalstaatliche Organisationsformen der


Produktion von ökonomischer Sicherheit. Ihre Entwicklung beginnt bekanntlich
am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung gesetzlicher Sozialversiche-
rungssysteme in mehreren europäischen Ländern. Der eigentliche Expansions-
schub des Wohlfahrtsstaates findet in allen westlichen Ländern nach dem 2.
Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren statt. Intensität und Extensität des Wohl-
fahrtsstaates und die institutionellen Arrangements unterscheiden sich in den ver-
schiedenen europäischen Ländern aber beträchtlich von einander, je nachdem, ob
die Herstellung von Sicherheit in erster Linie dem Markt, der Familie oder dem
Staat überlassen wird (vgl. Ganßmann 2000: 26). Gemeinsam ist allen Wohl-
fahrtstaaten aber eine Grundidee: Der Staat übernimmt zumindest die partielle
Verantwortung für die Herstellung sozialer Sicherheit seiner Bürger und die
Verminderung von sozialer Ungleichheit zwischen ihnen.
So wie die Organisationsformen der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements
nationalstaatlich begrenzt sind, so ist auch ihre kulturelle Grundlage national-
staatlich codiert. Nach innen ersetzt der Wohlfahrtsstaat partikulare Solidaritäten
auf familiärer, lokaler und regionaler Ebene durch die Idee einer nationalen Soli-
darität. Er definiert alle Bürger eines Nationalstaates insofern als Gleiche, als sie
qua Staatsbürger die gleichen Rechte auf die Leistungen ihres Wohlfahrtsstaates
haben. Jeder deutsche Staatsbürger hat so zum Beispiel die gleichen Rechte auf
die Zahlung von Kindergeld, Arbeitslosengeld etc., so wie jeder Brite, Franzose,
Schwede die gleichen Rechte auf den Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Gratifika-
tionen seines Landes hat. Die nationalstaatlich definierte innere Gleichheit be-
deutet zugleich die Definition einer äußeren Ungleichheit, insofern Ausländer in
aller Regel keinen Zugang zu den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der anderen

1 Wir bedanken uns bei Jürgen Schupp, mit dem zusammen wir eine der beiden Umfragen, von
denen hier berichtet wird, durchgeführt haben (vgl. Gerhards et al. 2007).
110 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Länder haben. Wohlfahrtsstaaten ersetzen damit den subnationalen durch einen


nationalen Partikularismus der Solidarität.
Der nationalstaatliche „Container“ ist nun vor allem durch Europäisierungs-
prozesse aufgebrochen und hat sich verändert. Die Entwicklung der Europä-
ischen Union ist seit ihrer Gründung neben einer Ausdehnung des territorialen
Herrschaftsbereichs durch Aufnahme neuer Mitglieder durch eine zunehmende
Vertiefung der politischen und gesellschaftlichen Integration gekennzeichnet.
Die Nationalstaaten haben einen Teil ihrer Souveränitätsrechte auf die europä-
ische Ebene verlagert, und die Politikfelder, für die die Europäische Union und
nicht mehr der Nationalstaat zuständig ist, wurden ausgedehnt. Dieser Prozess
manifestiert sich in einer Vielzahl von Faktoren: So ist die Zahl der Entschei-
dungen seitens des Europäischen Rates beziehungsweise der Europäischen
Kommission kontinuierlich gestiegen, die Anzahl der Fachministerräte ebenfalls,
die Verflechtung zwischen europäischer und nationaler Politik hat zugenommen
(Knill 2001) und auch die intermediären Organisationen und Interessengruppen
richten ihr Augenmerk zunehmend auf die europäische Ebene (Fligstein, Stone
Sweet 2002; Stone Sweet et al. 2001; Wessels 1997).
Die wohlfahrtsstaatliche Sicherung gehört auf den ersten Blick sicherlich zu
den Bereichen, die sich im geringen Maße europäisiert haben und entsprechend
in erster Linie weiterhin nationalstaatlich verankert sind. Die EU besitzt in die-
sem Politikfeld nur sehr begrenzte Zuständigkeiten. Diese beschränken sich im
Wesentlichen auf Unterstützung der sozialpolitischen Zusammenarbeit der Mit-
gliedstaaten sowie in bestimmten Bereichen auf die Definition von Mindeststan-
dards insbesondere hinsichtlich der Rechte von Arbeitnehmern. Dabei wird stets
der primären Verantwortung der Mitgliedstaaten sowie der Vielfalt der nationa-
len Sozialsysteme Rechnung getragen. Die sozialen Sicherungssysteme sind
weiterhin auf der Ebene der Nationalstaaten institutionalisiert und entsprechend
in den europäischen Nationalstaaten sehr unterschiedlich. „Ein ‚Europäischer
Sozialstaat‘ zeichnet sich somit nicht ab,“ konstatieren Stefan Leibfried und Paul
2
Pierson lapidar (Leibfried, Pierson 2000: 352).

2 Dass die europäische Sozialpolitik trotz aller großen politischen Rhetorik nicht sehr weit
entwickelt ist, ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur hinreichend beschrieben worden.
Fritz Scharpf (1996) hat versucht zu erklären, warum es nicht zur Entwicklung eines europä-
ischen Sozialstaates gekommen ist und wahrscheinlich nicht kommen wird. Die ärmeren Län-
der in der EU haben kein Interesse an hohen europaweiten sozialen Standards. Die Faktorpro-
duktivität (die Produktivität von Arbeit und Kapital) ist in diesen Ländern deutlich geringer als
in den ökonomisch entwickelten Ländern der EU. Wenn diese Länder trotzdem konkurrenzfä-
hig sein wollen, dann müssen die Faktorkosten – also vor allem die Löhne, die Lohnnebenkos-
ten und die Umweltkosten – recht niedrig sein. Eine Angleichung der Löhne und der Sozial-
standards wäre für diese Länder wahrscheinlich mit einer Vernichtung von Arbeitsplätzen ver-
bunden. Die ärmeren Länder der EU werden entsprechend vor allem für die Beibehaltung ihrer
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 111

Dem muss man zustimmen, wenn man unter einem europäischen Wohl-
fahrtsstaat ein supranationales Gebilde versteht, das mit ähnlichen Ressourcen,
Kompetenzen und Rechten ausgestattet ist wie die nationalstaatlichen Systeme
und zugleich diesen hierarchisch vorgeordnet ist. Im Kontext des europäischen
Einigungsprozesses haben sich allerdings die Zugangsbedingungen der europä-
ischen Bürger zu den Institutionen der sozialen Sicherheit der jeweiligen Mit-
gliedsländer geändert. Der mit der Entstehung nationaler Sicherungssysteme
institutionalisierte nationale Partikularismus ist aufgeweicht und ersetzt worden
durch einen europäischen Partikularismus aller europäischen Marktbürger. Es
handelt sich dabei um eine partikularistische und nicht um eine universalistische
Gleichheitsvorstellung, weil die Rechte an den Status, Bürger eines Mitglieds-
landes der EU zu sein, gebunden sind. Mit der Institutionalisierung der so ge-
nannten Freizügigkeitsregel für Arbeitnehmer haben alle Bürger das Recht erhal-
ten, in allen anderen Ländern der EU zu arbeiten und damit auch das Recht, an
den sozialen Sicherungssystemen des jeweiligen Landes zu partizipieren. Die
Europäische Union hat damit schrittweise die Idee einer nationalstaatlich be-
grenzten Vorstellung von Gleichheit der Bürger ersetzt durch die Idee einer eu-
ropäischen Gleichheit.
Ob und in welchem Maße die Bürger diese Umcodierung akzeptieren, ist
die zentrale Forschungsfrage der folgenden Ausführungen. Dazu werden wir in
einem ersten Schritt kurz beschreiben, wie die Europäische Union die Idee einer
allein binnennationalen Gleichheit transnationalisiert und ersetzt hat durch die
Idee einer Gleichheit aller Bürger Europas. Manche Autoren gehen davon aus,
dass sich mit einer Europäisierung der Politikfelder und einer Strukturierung
eines europäischen gesellschaftlichen Raumes auch die Wahrnehmungen der
Bürger verändern, so dass man von einer Europäisierung von Einstellungen und
Wertorientierungen sprechen kann (Beck, Grande 2004: 266). Ob dies wirklich
der Fall ist, wollen wir zumindest für Deutschland durch die Auswertung zweier
Umfragen prüfen. In welchem Maße unterstützen die Bürger die Vorstellung,
dass ausländische Bürger auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Zugangsmöglich-
keiten und Rechte genießen sollen wie die eigenen Bürger, und in welchem Ma-
ße unterstützen sie die Vorstellung, dass die europäischen Ausländer einen glei-
chen Zugang zu Sozialleistungen haben wie deutsche Bürger? Die Frage nach
einer Unterstützung der EU-Politik durch die Bürger ist für die Legitimität der
EU nicht unerheblich. Demokratien sind strukturell auf die Unterstützung ihrer
Bürger angewiesen. Bleibt diese aus, kann es zu Legitimitätsproblemen der Insti-
tutionen selbst kommen.

landesspezifischen Standards plädieren und ihr Veto gegen eine einheitliche Regelung geltend
machen.
112 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Nach einer Diskussion unserer deskriptiven Befunde gehen wir im dritten


Schritt der Frage nach, ob und in welchem Maße die Gleichheitsvorstellungen
der Bürger belastbar sind. Die Einstellungsforschung geht in der Regel von der
Annahme aus, dass die Menschen den Werten, die sie vertreten, auch in konkre-
ten Handlungssituationen folgen. Ob dies der Fall ist, wollen wir für den Bereich
der Gleichheitsvorstellungen prüfen. Dazu haben wir in den beiden Umfragen,
die wir durchgeführt haben, zum einen konkrete Handlungssituationen und zum
anderen die Kosten einer Wertbefolgung simuliert. Auf diese Weise können wir
prüfen, in welchem Maße die Bürger ihren Gleichheitsvorstellungen auch in
konkreten Handlungssituationen und unter Bedingungen von variierenden Kos-
ten folgen. Die Analysen werden abgeschlossen durch eine Zusammenfassung
der Befunde. Der Aufbau des Artikels (Rekonstruktion der Politik der EU in
einem spezifischen Feld, dann Überprüfung der Unterstützung der Politik durch
die Bürger) folgt anderen Analysen, die wir bezüglich anderer Politikfelder
durchgeführt haben (vgl. zum Beispiel Gerhards 2007; Gerhards, Lengfeld 2006;
Hölscher 2006).

Die Europäisierung von Sicherheit durch eine Europäisierung der


Gleichheit
Obschon der Nationalstaat historisch relativ spät zur dominanten gesellschaftli-
chen Organisationsform wurde, herrscht unter Sozialwissenschaftlern wenig
Zweifel darüber, dass die europäischen Gesellschaften des späten 19. und des 20.
Jahrhunderts als Nationalgesellschaften charakterisiert werden können (Gellner
1983; Anderson 1991; Hobsbawm 1992). Kernbestandteile der Nationalstaats-
werdung sind die Monopolisierung physischer Gewaltsamkeit zum Zwecke der
Sicherung der Außengrenzen sowie zur Ausübung von Macht im Inneren. Militä-
rische Grenzsicherung, Zoll- und Migrationspolitik wurden zu zentralen Feldern
der Abgrenzung einer Nationalgesellschaft von den sie umgebenden Gesellschaf-
ten. Die Ausweitung staatlicher Macht im Inneren ging einher mit der Durch-
dringung der Gesellschaft durch den Aufbau des Polizeiwesens, der öffentlichen
Verwaltung sowie einer staatlich regulierten Institutionenordnung.
Komplementär zur nationalstaatlichen Institutionenbildung erfolgte die In-
klusion der Menschen, die innerhalb des Territoriums eines Staates leben. Sie
wurden zu Bürgern ihres Staates, müssen seinen Bildungsangeboten nachkom-
men (Schulpflicht), haben die Verpflichtung, Steuern und Abgaben zu entrichten
und erhalten im Gegenzug zivile und bürgerliche Rechte. Da sich Gleichheit
damit auf die Chancengleichheit aller innerhalb eines Nationalstaats lebenden
Bürger beschränkt, werden Nicht-Mitglieder, das heißt Angehörige anderer Na-
tionalstaaten, weitgehend ausgeschlossen (Brubaker 1990; Hahn 2000).
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 113

Dieses nationalstaatlich definierte Verhältnis von Inklusion und Exklusion


gilt auch für die Bereiche, die soziale Sicherheit produzieren. Heiner Ganßmann
(2000) unterscheidet drei zentrale Institutionen der Produktion von sozialer Si-
cherheit. Auf Arbeitsmärkten erwirtschaften Menschen via Erwerbstätigkeit
Einkommen; dieses Einkommen ermöglicht es ihnen, den Lebensunterhalt zu
sichern und es eröffnet Konsummöglichkeiten. Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähig-
keit, Krankheit und Alter sind Sicherheitsrisiken, die über Märkte in aller Regel
nicht abgefangen werden können. Zur Kompensation marktinduzierter Unsicher-
heiten stehen die beiden anderen Institutionen der Herstellung von Sicherheit zur
Verfügung – Familie und Staat. Die Bedeutung der Familie hat sich im Verhält-
nis zur Bedeutung des Staates im Verlaufe des 20. Jahrhundert dramatisch ver-
ändert. Mit der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten hat dieser in fast allen euro-
päischen Ländern die Funktion der Familie als Produzent sozialer Sicherheit
zunehmend ersetzt. Für Arbeitsmärkte und für den Sozialstaat gelten beziehungs-
weise galten (wenn man die Veränderungen, die mit dem Prozess der europä-
ischen Integration verbunden sind, mit berücksichtigt) ähnliche nationalstaatlich
begrenzte Inklusions- und Exklusionsverhältnisse wie für fast alle Institutionen
des Nationalstaates. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Leistungen des
Sozialstaates stand den Staatsbürgern eines Nationalstaates offen, die Bürger
anderer Nationalstaaten waren weitgehend ausgeschlossen und wurden daher
ungleich behandelt. Ausländer hatten in aller Regel nicht das Recht, sich in ei-
nem fremden Land niederzulassen, dort zu arbeiten, eine Ausbildung zu genie-
ßen oder am Wohlfahrtsstaat zu partizipieren. Die Öffnung der nationalstaatli-
chen Grenzen für Migranten von außen erfolgte in der Regel nach Interessensge-
sichtspunkten des jeweiligen Nationalstaates. Damit war auch die Produktion
von Sicherheit unmittelbar an den jeweiligen Nationalstaat gekoppelt.
Der Prozess der europäischen Integration hat die nationalstaatlich begrenzte
Sicherheitsproduktion zumindest rechtlich-kulturell nachhaltig verändert, inso-
fern alle Bürger der Mitgliedsländer der EU einen Zugang zu den europäischen
Arbeitsmärkten und zu den jeweiligen nationalen sozialen Sicherungssystemen
erhalten haben (vgl. Gerhards 2006: Koslowski 1997).

Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten


Die Idee der europaweiten Gleichheit ist im Bereich des Arbeitsmarkts am wei-
testen fortgeschritten. Die Veränderung der Zugangsmöglichkeiten zu den natio-
nalen Arbeitsmärkten ist Bestandteil der Entwicklung eines europäischen Bin-
nenmarktes. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte, die 1986 beschlossen und
1993 endgültig implementiert wurde, entstand der gemeinsame europäische
Binnenmarkt mit den so genannten „Vier Freiheiten“ für Personen, Waren,
114 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Dienstleistungen und Kapital (Chalmers et al. 2006). Diese Bewegungsfreiheit


gilt nicht allein für Arbeitnehmer, sondern auch für Menschen außerhalb des
Arbeitsmarkts, wie Rentner und Studierende. Rechtliche Grundlage dafür ist die
wechselseitige Anerkennung von Bildungszertifikaten und der Transfer von
Sozialversicherungsansprüchen für Personen, die in einem anderen EU-Land
leben als in jenem, in dem sie diese Ansprüche erworben haben. Die zentrale
Rechtsnorm für diese personalen Gleichheitsrechte ist die so genannte Freizü-
gigkeitsregel für Arbeitnehmer (Hartley 2003). Danach haben alle Unionsbürge-
rinnen und Unionsbürger die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen,
zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen. Diese Rege-
lung umfasst neben dem eingewanderten Beschäftigten Ehegatten, Kinder unter
21 Jahren sowie weitere Verwandte in auf- und absteigender Linie, denen der
Beschäftigte Unterhalt gewährt. Die Freizügigkeitsregel gilt analog für Selbst-
ständige (Niederlassungsrecht).
Für die neu beigetretenen Länder wurden Übergangsfristen vereinbart. Por-
tugal und Spanien sind der EU bereits 1986 beigetreten, die volle Freizügigkeit
wurde jedoch erst im Jahr 1993 implementiert, da man starke Migrationsbewe-
gungen von den ökonomisch schwächeren Beitrittsländern in die wohlhabenden
Kernländer erwartet hatte. Auch für die zehn neuen EU-Mitgliedstaaten, die der
Gemeinschaft im Mai 2004 beigetreten sind, und für die 2007 beigetretenen
Länder Bulgarien und Rumänien wurden Übergangsregeln erlassen. Einige der
alten EU-Länder, allen voran Deutschland und Österreich, befürchteten massive
Wanderungsbewegungen (Werner 2001; Bosch, Worthmann 2006; Brücker
2003; Kvist 2004; vgl. Nissen in diesem Band). Diese Übergangsfristen sind a)
auf bestimmte Länder und Personengruppen bezogen, sie sind b) zeitlich gestaf-
felt und c) auf maximal sieben Jahre beschränkt. Danach wird die Idee der
Gleichheit aller Bürger im gesamten EU-Raum Geltung besitzen.
Mit der Implementierung der Freizügigkeitsregel ist die Idee einer europä-
ischen Gleichheit aller Marktbürger zum europaweiten Rechtsanspruch gewor-
den (Meehan 1993; 1997); die Idee einer national begrenzten Gleichheit, die
Inländer und europäische Ausländer ungleich behandelt, wurde europäisiert. Die
Zugangsmöglichkeit zu allen europäischen Arbeitsmärkten schafft die Möglich-
keit, dort erwerbstätig sein zu können, ein Einkommen zu erwirtschaften und
damit die eigene ökonomische Sicherheit gewährleisten zu können.

Zugang zu den nationalen Sicherungssystemen


Das Recht auf Freizügigkeit und die sozialen Rechte der Unionsbürger sind eng
miteinander verknüpft. Damit die Unionsbürger ihr Recht auf Freizügigkeit tat-
sächlich und vollständig nutzen können, ist die Frage nach deren sozialer Siche-
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 115

rung im Falle einer Abwanderung in einen anderen Mitgliedstaat von erheblicher


Bedeutung. Nur wenn der Schutz der sozialen Sicherung gewährleistet ist und
den Unionsbürgern keine Nachteile im Hinblick auf die soziale Sicherheit im
Falle einer Abwanderung entstehen, ist echte Freizügigkeit und ein Funktionie-
ren eines europäischen Arbeitsmarktes möglich, so die Vorstellung der EU
(Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002). Deswegen wurden be-
reits 1971 Anstrengungen unternommen, die sozialen Rechte der Unionsbürger
zu schützen und den Gleichbehandlungsgrundsatz auch auf die sozialen Rechte
anzuwenden. Erstmals wurden in der Verordnung „(EWG) Nr. 1408/71 des Ra-
tes vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit
auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die inner-
halb der Gemeinschaft zu- und abwandern“ entsprechende Rechtsvorschriften
erlassen. Diese Verordnung wurde durch die Verordnung „(EG) Nr. 883/2004
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinie-
rung der Systeme der sozialen Sicherheit“ mit einigen geringfügigen Ausnahmen
aufgehoben (Rat der Europäischen Gemeinschaften 2004). Durch diese Verord-
nung wird eine verbesserte Koordinierung der nationalstaatlichen Systeme der
sozialen Sicherung angestrebt. Eine Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechts-
vorschriften ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Der wohl wichtigste Grundsatz
dieser Verordnung ist das Verbot der Ungleichbehandlung. Demnach unterliegen
ausländische Unionsbürger bezüglich der Sozialleistungen denselben Pflichten
und genießen dieselben Rechte wie inländische Unionsbürger (Rat der Europä-
ischen Gemeinschaften 2004). Es gilt das sogenannte Territorialitätsprinzip.
Demnach haben EU-Bürger Anspruch auf Sozialleistungen in ihrem Wohnstaat,
wie sie auch Inländern zustehen, was heißt, dass sie dieselben Leistungen unter
denselben Bedingungen erhalten. Höhe, Umfang, Art und Dauer der Leistungen
sind abhängig von den im jeweiligen Wohnstaat geltenden Gesetzen. Es ist in der
Regel nicht möglich, Ansprüche im Wohnstaat geltend zu machen, die sich an
den Leistungen im Herkunftsland orientieren. Wer in Spanien arbeitet, kann auch
nur die dort geltenden Leistungen der sozialen Sicherung beanspruchen. Doch
auch hier gibt es wieder Ausnahmeregelungen. In einigen Fällen, wie zum Bei-
spiel der Rente, ist es möglich, Ansprüche und Leistungen aus dem Herkunfts-
land zu exportieren. Hierfür gelten gesonderte Rechtsbestimmungen (Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales 2007).
Eine besonders bedeutsame Änderung in der Verordnung 883/2004 ist die
Ausdehnung des Sozialschutzes auf alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten.
Die vorherige Beschränkung auf Erwerbspersonen entfällt. Demnach sind nun
neben Arbeitnehmern, Selbständigen, Beamten, Studierenden und Rentnern auch
nichterwerbstätige Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch
machen, sozial abgesichert. Die neue Verordnung deckt folgende Bereiche der
116 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

sozialen Sicherheit ab: Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfälle, Berufskrankhei-


ten, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Familienleistungen, Leistungen bei Alter und
Sterbegeld (Rat der Europäischen Gemeinschaften 2004). Im Unterschied zum
Arbeitsmarktzugang wurden im sozialen Bereich keine Übergangsregelungen für
die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zur Koordinierung der Systeme der
sozialen Sicherung (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2006) ver-
einbart.
Fassen wir die Ergebnisse kurz zusammen: Arbeitsmärkte und sozialstaatli-
che Einrichtungen sind die zentralen Institutionen der Produktion sozialer Si-
cherheit. Ihr Zugang war nationalstaatlich begrenzt, Nicht-Staatsbürger wurden
exkludiert. Der Prozess der europäischen Integration hat den Zugang zu den
Arbeitsmärkten und den Sozialleistungen europäisiert. Zwar gibt es keinen euro-
päischen Wohlfahrtsstaat, der als Zentralorgan für die Produktion sozialer Si-
cherheit zuständig ist. Was sich allerdings im Kontext des europäischen Eini-
gungsprozesses geändert hat, sind die Zugangsbedingungen der europäischen
Bürger zu den Institutionen der sozialen Sicherheit der jeweiligen Mitgliedslän-
der. Damit ist eine Umcodierung der bis dato nationalstaatlich eingehegten
Gleichheitsidee verbunden. Der nationale Partikularismus ist aufgeweicht und
ersetzt worden durch einen europäischen Partikularismus aller europäischen
Marktbürger.

Die Legitimität der Europäisierung von Gleichheitsrechten


Fraglich ist, inwieweit die politisch institutionalisierte Idee der Gleichheit aller
EU-Bürger im Hinblick auf die genannten Rechte bei den Bürgern Zustimmung
findet und damit zur Legitimität der rechtlichen Regelungen (im Sinne eines
Legitimitätsglaubens) beiträgt. Unterstützen die Bürger die Idee der europäisier-
ten Gleichheit oder favorisieren sie ein Ungleichheitskonzept, das zwischen
Inländern und Ausländern unterscheidet?
Analysen mit Daten des „European Values Survey“ zeigen, dass die Idee
einer europäischen Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt im Zeitraum zwi-
schen 1990 und 2000 kaum Zustimmungsgewinne erzielt hat (Gerhards 2008).
Größere Zustimmungsraten von rund 40% der Befragten sind nur in den EU-15-
Ländern zu finden. Insgesamt deuten die Daten darauf hin, dass die Idee der
europäischen Chancengleichheit unter den EU-Bürgern als wenig legitim gilt.
Allerdings sind diese empirischen Befunde nur mit Vorsicht zu verallgemeinern.
Erstens konnte aufgrund der verwendeten Umfragedaten nicht zwischen EU-
Bürgern und Nicht-EU-Bürgern unterschieden werden. Zweitens wurden in der
Studie nur Gleichheitsvorstellungen auf dem Gebiet des Arbeitsmarkts unter-
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 117

sucht, nicht aber zu sozialen Rechten. Und drittens beziehen sich die Daten auf
den Zeitpunkt 1999/2000 und mögen in der Zwischenzeit etwas veraltet sein.
Wir haben in zwei kleineren Pilotstudien versucht, erste Erkenntnisse über
Ausmaß, Struktur und Ursachen der Legitimität europäisierter Gleichheitsrechte
zu gewinnen. In der ersten Studie wurden die Einstellungen der Bürger der Bun-
desrepublik zur Akzeptanz des Zugangs anderer europäischer Bürger zum deut-
schen Arbeitsmarkt erhoben, in der zweiten Umfrage die Einstellungen zur Ak-
zeptanz des Zugangs zu Sozialleistungen.

Akzeptanz des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt


Die im Folgenden analysierten Daten stammen aus einer Sondererhebung des
Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des DIW Berlin (vgl. Gerhards, Lengfeld,
Schupp 2007). Das SOEP wird als Panelbefragung seit 1984 jährlich in West-
deutschland, seit 1990 in Gesamtdeutschland in Form einer face-to-face Haus-
haltsbefragung durchgeführt. Da im SOEP für einzelne Panelstichproben regel-
mäßig neue Befragungsinstrumente eingesetzt werden, findet im Vorfeld einer
jährlichen Befragung eine breit angelegte Pretest-Befragung statt. In der im Jahr
2006 durchgeführten Pretest-Befragung wurden 1.063 Personen über 15 Jahren
mittels CAPI-Fragebogen interviewt. Die Befragung wurde im Juni 2006 durch
ein kommerzielles Umfrageinstitut durchgeführt. Sie entspricht in Stichproben-
ziehung (random route), -umfang und Befragungsmethode allen Standards kon-
trollierter Bevölkerungsumfragen.
In dieser Befragung wurde nach der Legitimität des Zugangs von Arbeit-
nehmern aus einem anderen EU-Mitgliedsland zum deutschen Arbeitsmarkt
gefragt. Der genaue Fragetext lautete:
„Ein Ziel der Europäischen Union ist es, dass jeder Arbeitnehmer in jedem Land der EU arbei-
ten darf. Wie ist Ihre Meinung zu folgenden Aussagen? Es ist gerecht, dass Arbeitnehmer aus
einem anderen Mitgliedsland der EU in Deutschland arbeiten dürfen, auch wenn es für manche
Deutsche dann schwieriger wird, einen Job zu bekommen.“

Zur Beantwortung der Frage standen die Antwortalternativen zur Verfügung:


„Stimme voll zu“, „Stimme eher zu“, „Lehne eher ab“, und „Lehne voll ab“.
Die Frageformulierung hat mehrere Vorteile. Erstens misst sie recht gut das
Prinzip der europäisierten Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Zweitens
verweist der Fragetext auf die Europäische Union als den Akteur, der die Zu-
gangsmöglichkeiten zu den europäischen Arbeitsmärkten eröffnet hat. Drittens
fordert das Item den Befragten auf, eine Gerechtigkeitsbewertung abzugeben.
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass keine situativen Akzeptanzurteile,
sondern grundlegende Wertorientierungen erhoben werden. Und viertens wird
den Befragten verdeutlicht, dass die Durchsetzung der Freizügigkeitsregel mit
118 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Kosten verbunden sein kann, da sie die Arbeitsmarktlage der Deutschen ver-
schlechtern könnte. Dieser Bezug auf die Kosten der Wertbefolgung führt dazu,
dass wir keine „sunshine beliefs“ erheben, sondern dass die Gleichheitsvorstel-
lungen in gewissem Maße handlungsrelevant sind.
Die Formulierung der Frage wurde nun mehrmals variiert. Das zweite Item
fragte nach der Chancengleichheit für deutsche Arbeitnehmer im EU-Ausland.
Damit sollte geprüft werden, in welchem Ausmaß sich die Deutschen mögli-
cherweise stärkere Rechte im Zugang zum Arbeitsmarkt im EU-Ausland ein-
räumen als sie analoge Rechte EU-Ausländern zubilligen. Die Items 3 bis 5 frag-
ten nach der Chancengleichheit für Arbeitnehmer aus Frankreich, Polen und der
Türkei. Die jeweiligen Länder wurden als stellvertretend für Ländergruppen
ausgewählt: Frankreich als altes, wohlhabendes EU-Land, Polen als neues EU-
Land und die Türkei als aktueller Beitrittskandidat. Da diese Länder für unter-
schiedliche Wohlstandspositionen innerhalb der EU stehen, sollte geprüft wer-
den, in welchem Ausmaß die Befragten zwischen der nationalen Herkunft der
EU-Arbeitnehmer unterscheiden.
Tabelle 1 gibt die relativen Häufigkeiten zu den fünf Items zur Chancen-
gleichheit auf dem Arbeitsmarkt wieder. Die beiden Zustimmungs- und Ableh-
nungskategorien wurden jeweils zusammengefasst.

Tabelle 1: Akzeptanz der Gleichheit aller Europäer auf dem Arbeitsmarkt

Zustimmung in % N
EU-Arbeitnehmer in Deutschland 63,5 618
Deutsche Arbeitnehmer im EU-Ausland 69,3 674
Französische Arbeitnehmer in Deutschland 74,3 723
Polnische Arbeitnehmer in Deutschland 63,9 622
Türkische Arbeitnehmer in Deutschland 55,3 538

Quelle: GSOEP-Pretest 2006

Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Fast zwei Drittel der Befragten stimmen der
Chancengleichheit für EU-Ausländer zu. Zugleich billigen sich die Deutschen
zwar durchschnittlich höhere Rechte zu, als sie dies den EU-Ausländern gegen-
über tun; die Zustimmungsdifferenz fällt aber mit rund sechs Prozentpunkten
relativ gering aus. Die Korrelation zwischen beiden Fragen beträgt .83 (signifi-
kant auf dem 1% Niveau). Die Vorstellung einer europäischen Gleichheit ist
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 119

offenbar weitgehend reziprok und damit in der Bevölkerung Deutschlands gut


verankert.
Blickt man auf die nach Herkunft eines Arbeitnehmers differenzierenden
Fragen, so ergibt sich ein nach Wohlstandsniveau abgestuftes Bild: den französi-
schen Arbeitnehmern werden häufiger gleiche Chancen zugebilligt als den polni-
schen Arbeitnehmern. Gleiches gilt auch für die türkischen Bürger, deren zu-
künftige Mitgliedschaft in der EU umstritten ist. Hier plädieren noch 55% der
Befragten für gleiche Chancen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind
nicht sehr hoch. Insgesamt gilt aber, dass die Vorstellung, Bürger aus dem euro-
päischen Ausland sollten den gleichen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt
haben wie deutsche Arbeitnehmer, von fast zwei Dritteln der Bürger akzeptiert
wird. Die Europäisierung der Arbeitsmärkte, wie sie von der EU betrieben wur-
de, findet also bei den Bürgern der Bundesrepublik überwiegende Zustimmung.

Akzeptanz des Zugangs zu Sozialleistungen


In einer zweiten Befragung hatten wir die Möglichkeit, die Akzeptanz des glei-
chen Zugangs aller EU-Bürger zu den sozialen Leistungen eines Nationalstaates
zu überprüfen. Dazu wurde ein Fragemodul in eine vom Meinungsforschungsin-
stitut TNS-Infratest dimap regelmäßig durchgeführte Politikbus-Umfrage einge-
schaltet. Befragt wurden 1.000 repräsentativ ausgewählte Bürger der Bundesre-
publik. Die Befragung erfolgte telefonisch und wurde im Jahr 2006 durchge-
führt. Der genaue Fragetext lautet folgendermaßen:
„Nach europäischem Recht kann jeder EU-Bürger, der in einem anderen europäischen Land
arbeitet, auch sämtliche Sozialleistungen des dortigen Landes in voller Höhe bekommen, wie
zum Beispiel Kindergeld und Sozialhilfe. Bitte sagen Sie mir zu jeder Aussage, ob Sie ihr voll
und ganz zustimmen, eher zustimmen, sie eher ablehnen oder voll und ganz ablehnen: Auslän-
dische EU-Bürger, die in Deutschland arbeiten, sollten die gleichen Sozialleistungen wie die
Deutschen bekommen können.“

Auch hier wurde die Frageformulierung mehrfach variiert, indem wir nicht nur
nach ausländischen EU-Bürgern im Allgemeinen, sondern nach den Zugangs-
chancen zu Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus Frankreich, aus Polen und aus
der Türkei gefragt haben. Die beiden Zustimmungs- und Ablehnungskategorien
wurden für die folgenden Analysen wiederum zusammengefasst.
120 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Tabelle 2: Akzeptanz der Gleichheit aller Europäer im


Hinblick auf den Zugang zu Sozialleistungen

Zustimmung in % N
Anspruch auf Sozialleistungen von EU-Bürgern in Deutschland 81,6 795
Anspruch auf Sozialleistungen von Franzosen in Deutschland 83,0 811
Anspruch auf Sozialleistungen von Polen in Deutschland 81,1 795
Anspruch auf Sozialleistungen von Türken in Deutschland 80,1 778

Quelle: TNS-Infratest 2006

Über 80% der Befragten unterstützen die Idee, dass EU-Ausländer in Deutsch-
land die gleichen Rechte auf Sozialleistungen haben wie Deutsche. Das ist eine
enorm hohe Quote und spricht für die These, dass der nationale Partikularismus
im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten zum Sozialstaat aufgebrochen und
europäisiert wurde. Die Akzeptanzquote übertrifft zudem deutlich die des freien
Zugangs zu den Arbeitsmärkten. Weiterhin zeigt sich, dass die Bürger kaum zwi-
schen den verschiedenen Ausländergruppen unterscheiden. Die Zustimmungsra-
ten für Franzosen, Polen und Türken liegen sehr nahe bei einander. Wenn es um
den Zugang zu Sozialleistungen geht, machen die Bürger offensichtlich keinen
Unterschied nach dem Wohlstandsniveau des Landes, aus dem die Menschen
kommen. Dies deutet darauf hin, dass es sich um eine nicht nur europäisierte,
sondern um eine universalisierte Norm handelt.

Die Belastbarkeit der Gleichheitsvorstellungen der Bürger


In der Umfrageforschung wird häufig unterstellt, dass die Menschen den Werten,
die sie vertreten, auch praktisch Folge leisten. Aus unserer Sicht erscheint es als
eine Schwäche der traditionellen Werteforschung, dass die unterstellte Verhal-
tensrelevanz von Werten häufig nicht überprüft wird. Wenn zum Beispiel ein
deutscher Unternehmer zum Ausdruck bringt, dass Deutsche und Polen nach
seiner Auffassung das gleiche Recht haben, in Deutschland einer Berufstätigkeit
nachzugehen, so wissen wir nicht, ob diese Einstellung auch dazu führt, dass der
Befragte in einem Bewerbungsverfahren Deutsche und Polen gleich behandeln
würde. Andere Forschungen haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass
Personen sich von ihren Werten in konkreten Entscheidungssituationen leiten
lassen, unter anderem von den möglichen Kosten einer Handlung abhängt (vgl.
Diekmann, Preisendörfer 2003; Fehr, Gächter 2002). Wir haben versucht, empi-
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 121

risch zu überprüfen, ob die im letzten Abschnitt beschriebenen hohen Unterstüt-


zungsraten auch Handlungsrelevanz besitzen und vielleicht mit der Höhe der
Kosten variieren, die aus dem Befolgen der Werte resultieren können. Wir haben
diese Fragestellung wiederum bezüglich der Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt
und für den Zugang zu Sozialleistungen getrennt analysiert.

Handlungsrelevanz des Votums für Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt


Zusätzlich zu der abstrakten Frage, ob die Befragten es in Ordnung finden, dass
Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedsland der EU in Deutschland arbeiten
dürfen, haben wir die Befragten mit folgender Entscheidungssituation konfron-
tiert:
„Stellen Sie sich jetzt bitte die folgende Situation aus dem Alltag vor: Ihre Waschmaschine ist
kaputt und Sie wollen sie durch eine Fachfirma reparieren lassen. Sie erhalten ein Angebot von
einer deutschen und einer polnischen Firma. Beide Firmen nehmen 200 Euro für die Reparatur.
Die Qualität der Leistung und die Zuverlässigkeit der Handwerker sind bei beiden Firmen ab-
solut gleich. Würden Sie dann lieber die deutsche oder lieber die polnische Firma beauftra-
gen?“

Die Befragten konnten zwischen den Alternativen „Deutsche Firma“, „Polnische


Firma“ und „Egal“ wählen.

Tabelle 3: Einstellung zur Gleichheit von Polen und Deutschen auf dem
Arbeitsmarkt und deren Einfluss auf die Auswahl einer Firma
(relative Häufigkeiten in %)

Alle Befrag- Zustimmung zur Ablehnung der


ten Chancengleichheit von Chancengleichheit von
Polen und Deutschen Polen und Deutschen
Deutsche Firma
74,2 67,7 85,7
beauftragen
Egal ob deutsche oder
24,1 29,9 13,8
polnische Firma
Polnische Firma
1,7 2,4 0,6
beauftragen
N 1.053 638 363

Quelle: GSOEP-Pretest 2006


122 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Wie die zweite Spalte in Tabelle 3 zeigt, würden drei Viertel aller Befragten eine
deutsche Firma bevorzugen. Nur knapp ein Viertel sagt, dass es egal sei, welche
der beiden Firmen die Reparatur übernimmt. Diese Befragten machen also kei-
nen Unterschied zwischen einer deutschen und einer polnischen Firma. Bedenkt
man, dass sich 64% der Befragten für eine Gleichheit von Polen und Deutschen
auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgesprochen haben (siehe Tabelle 1), dann
fällt der Unterschied zwischen der Werteeinstellung einerseits und der (simulier-
ten) Handlung der Befragten doch sehr deutlich aus. Auch wenn sich die Bürger
mehrheitlich für einen gleichen Zugang der EU-Ausländer zum deutschen Ar-
beitsmarkt aussprechen, heißt dies offenbar noch lange nicht, dass sie deutsche
und polnische Dienstleister gleich behandeln würden. Die Gründe dafür können
vielfältig sein. Wir haben versucht, durch die Frageformulierung zu suggerieren,
dass beide Firmen in ihrer Leistung gleich gut sind, so dass die Präferenz für die
deutsche Firma nicht auf antizipierbare Qualitätsunterschiede zurückzuführen ist.
Insofern vermuten wir, dass kulturelle Vorurteile den Ausschlag geben für die
Präferenz für die deutsche Firma.
Zugleich zeigt die Tabelle 3 aber auch, dass sich die generalisierten Werte
durchaus auf die Handlungen der Akteure auswirken können. Wir haben die
Einstellungen zu einem gleichberechtigten Zugang für Polen zum deutschen
Arbeitsmarkt mit den Antworten zur Auswahl der Handwerkerfirma kreuztabel-
liert. Den Spalten 3 und 4 der Tabelle 3 ist zu entnehmen, dass unter denjenigen
Befragten, die auf der generalisierten Ebene für eine europäische Gleichheit auf
dem Arbeitsmarkt plädieren, sich doppelt so viele Personen befinden, denen es
egal ist, ob sie eine deutsche oder polnische Firma beauftragen (knapp 30 gegen-
über 14%). Insofern gilt zwar, dass abstrakte Werte und konkrete Handlungsent-
scheidungen voneinander entkoppelt sein können, die Überzeugungssysteme
sind aber nicht völlig folgenlos für die Strukturierung von Handlungsentschei-
dungen.
Wir haben nun im nächsten Schritt versucht, die Kosten der Handlungsent-
scheidung zu variieren. Wie vor allem Studien im Kontext der so genannten
„Low Cost“-These gezeigt haben (vgl. Diekmann, Preisendörfer 2003), hängt die
Handlungsrelevanz der Wertorientierungen entscheidend von den Kosten der
Wertbefolgung ab. Je höher die Kosten der Befolgung der eigenen Wertorientie-
rungen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Werte wirklich
handlungsrelevant werden. Die Kosten wurden in der Befragungssituation drei-
fach verändert, indem die Preise für die Reparatur der Waschmaschine der polni-
schen Firma verändert wurden. Neben der bereits zitierten Frage, in der die Kos-
ten für die Reparatur der Waschmaschine bei der deutschen und polnischen Fir-
ma gleich waren, wurden in zwei weiteren Entscheidungssituationen verschiede-
ne Preisdifferenzen simuliert:
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 123

„Nehmen wir jetzt einmal an, die polnische Firma ist für die gleiche Leistung 20 Euro preis-
günstiger als die deutsche Firma. Die Qualität der Leistung und die Zuverlässigkeit sind bei
beiden Firmen wieder absolut gleich. Wie würden Sie sich nun entscheiden?“
„Wir wollen Sie noch nach einer dritten Möglichkeit fragen: Nehmen Sie an, dass die polni-
sche Firma für die gleiche Leistung nur die Hälfte des Preises verlangt wie die deutsche Firma,
also 100 Euro weniger. Wenn Qualität und Zuverlässigkeit wieder absolut gleich sind: Welche
Firma würden Sie jetzt beauftragen?“

Die Skalierung entsprach jener der ersten Entscheidungssituation. Die Ergebnis-


se sind in Tabelle 4 wiedergegeben. Die Befragten, die bei gleicher Leistung,
gleicher Zuverlässigkeit und gleichem Preis mit deutlicher Mehrheit die deutsche
Firma präferieren würden, ändern dann ihre Meinung, wenn der polnische
Dienstleister preiswerter ist als sein deutscher Konkurrent. Bei einer Preisdiffe-
renz von 20 Euro steigt der Anteil derer, die eine polnische Firma beauftragen
würden, von rund 2 auf etwa 25%. Ist die polnische Firma nur halb so teuer wie
die deutsche Firma (100 Euro Preisdifferenz), dreht sich die Prioritätenordnung
kom-plett um: 62% würden nun die polnische Firma beauftragen. Von den ur-
sprünglich 74% der Befragten, die die deutsche Firma unter der Bedingung glei-
cher Preise beauftragt hätten, bleiben nur noch 31% übrig. Wie man sieht, haben
die Kosten einen enormen Einfluss auf die Entscheidung, welche der beiden
Firmen beauftragt wird.

Tabelle 4: Auswahl einer deutschen beziehungsweise polnischen Firma bei


variierenden Preisen
(relative Häufigkeiten in %)

Ausgewählte Reparatur- Ausgewählte Reparatur- Ausgewählte Reparatur-


firma bei gleichem Preis, firma, wenn polnische firma, wenn polnische
gleicher Leistung und Firma 20 Euro preis- Firma 100 Euro preis-
Zuverlässigkeit werter ist werter ist

Deutsche
74,2 62,4 31,1
Firma
Egal 24,1 12,8 7,4
Polnische
1,7 24,8 61,5
Firma
N 1.053 1.046 1.034
Cramers V .199 .181 .159

Quelle: SOEP-Pretest 2006


124 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Die Kosten einer Reparatur schlagen aber offenbar nicht für alle Befragten glei-
chermaßen zu Buche. Dies wird deutlich, wenn man die Befragten danach ein-
teilt, ob sie sich bei der oben erläuterten Frage für oder gegen die europäisierte
Freizügigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt aussprechen.

Tabelle 5: Handlungsrelevanz von Werten nach Grad der Zustimmung zur


europäisierten Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt
(relative Häufigkeiten in %)

Zustimmung zur Ablehnung der


Chancengleichheit Chancengleichheit
von Polen und Deutschen von Polen und Deutschen
Gleicher Preis für beide Firmen
Deutsche Firma beauftragen 67,7 85,7
Egal ob deutsche oder polnische
29,9 13,8
Firma
Polnische Firma beauftragen 2,4 0,6
N 638 363

Polnische Firma 20 Euro


preiswerter
Deutsche Firma beauftragen 55,8 73,7
Egal ob deutsche oder polnische
13,9 10,0
Firma
Polnische Firma beauftragen 30,6 16,3
N 633 361

Polnische Firma 100 Euro


preiswerter
Deutsche Firma beauftragen 25,4 40,6
Egal ob deutsche oder polnische
7,3 6,2
Firma
Polnische Firma beauftragen 67,3 53,2
N 627 357

Quelle: SOEP-Pretest 2006.


Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 125

Tabelle 5 zeigt, dass die Befragten umso eher bereit sind, für ihre generalisierte
Wertorientierung in der konkreten Entscheidungssituation die Kosten zu über-
nehmen, wenn sie sich auf der Ebene der generalisierten Wertorientierungen
gegen die europäische Gleichheitsidee aussprechen. Allerdings entscheidet sich
auch die Mehrheit der Gegner der europäischen Chancengleichheit für die polni-
sche Firma, wenn der Preisunterschied zwischen den Firmen 50% beträgt.

Handlungsrelevanz des Votums für gleichen Zugang zu Sozialleistungen


Schauen wir uns nun die Ergebnisse bezüglich der Einstellungen zu den sozialen
Rechten an. Auch in diesem Fall haben wir versucht, in der Befragung die Kos-
ten zu modellieren, die entstehen können, wenn sich die Anzahl der Anspruchs-
berechtigten auf soziale Leistungen durch europäische Ausländer erhöht. Dazu
wurden folgende Fragen gestellt:
„Stellen Sie sich jetzt bitte folgende fiktive Situation vor: Weil alle in Deutschland lebenden
EU-Bürger das gleiche Kindergeld wie die Deutschen erhalten, sähe sich die Politik aus Haus-
haltsgründen gezwungen, das Kindergeld für alle zu kürzen. Wie stehen Sie zu folgenden Vor-
schlägen? 1. Ausländische EU-Bürger sollten auch dann das gleiche Kindergeld wie deutsche
Familien bekommen, wenn dadurch das Kindergeld für alle um 20 Euro gekürzt werden müss-
te. 2. Ausländische EU-Bürger sollten auch dann das gleiche Kindergeld wie deutsche Fami-
lien bekommen, wenn dadurch das Kindergeld für alle um 100 Euro gekürzt werden müsste.“

Die Antwortalternativen waren „Stimme voll zu“, „Stimme eher zu“, „Lehne
eher ab“ und „Lehne voll ab“. Wir haben die beiden Zustimmungs- und Ableh-
nungseinstellungen für die Analyse wieder zusammengefasst.
Wir hatten weiter oben (vgl. Tabelle 2) gesehen, dass 81,6% der Befragten
der Ansicht sind, dass Menschen aus dem europäischen Ausland die gleichen
Rechte auf Sozialleistungen haben sollen wie deutsche Bürger. Die Unterstüt-
zungsrate für diesen Gleichheitsgrundsatz sinkt auf 66,2%, wenn der Zugang zu
den Sozialleistungen mit Kosten verbunden ist, in diesem Fall mit einer Redukti-
on von 20 Euro für alle Anspruchsberechtigten (vgl. Spalte 2 in Tabelle 6). Die
Zustimmungsraten verringern sich nochmals um gut 18 Prozentpunkte und sin-
ken auf 48%, wenn die Erweiterung des Kreises der Zugangsberechtigten zu
einer Absenkung des Kindergeldes um 100 Euro führen würde.
126 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Tabelle 6: Generalisierte Einstellung zur Gleichheit beim Bezug von


Sozialleistungen und Einstellung zur Gleichheit unter der
Bedingung der Reduktion der Leistung um 20 Euro
beziehungsweise 100 Euro (relative Häufigkeiten in %)

Alle Zustimmung zur Ablehnung der Gleichheit


Befrag- Gleichheit von Euro- von Europäern und Deut-
ten päern und Deutschen schen beim Bezug von
beim Bezug von Sozial- Sozialleistungen
leistungen

Zustimmung zur Gleich-


heit von Europäern und
Deutschen, wenn das 66,2 75,7 25,6
Kindergeld um 20 Euro
gekürzt wird
Ablehnung der Gleich-
heit von Europäern und
Deutschen, wenn das 33,8 24,3 74,4
Kindergeld um 20 Euro
gekürzt wird
N 933 757 179
Cramers V .415

Zustimmung zur Gleich-


heit von Europäern und
Deutschen, auch wenn 48,0 55,8 16,1
das Kindergeld um 100
Euro gekürzt wird
Ablehnung der Gleich-
heit von Europäern und
Deutschen, auch wenn 52,0 44,2 83,9
das Kindergeld um 100
Euro gekürzt wird
N 915 735 180
Cramers V .316

Quelle: TNS-Infratest 2006

Ähnlich wie bei dem oben diskutierten Waschmaschinenszenario, mit dem wir
die Kosten für den Bereich des Arbeitsmarktes simuliert haben, gilt auch für den
Bereich der Sozialleistungen, dass die abstrakte Unterstützung der Idee einer
europäischen Gleichheit beziehungsweise die Bevorzugung der Mitbürger eige-
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 127

ner Nationalität „käuflich“ ist. Wenn die Befragten antizipieren, dass ihre Wert-
entscheidung mit konkreten Folgekosten verbunden ist, dann weichen sie von
ihrer Grundüberzeugung ab. Diese Abweichung ist aber begrenzt. Immerhin blei-
ben 48% der Befragten, die eine Reduktion des Kindergeldes akzeptieren wür-
den. Und dem Waschmaschinenbeispiel vergleichbar zeigt sich auch hier, dass
die Ausrichtung der generalisierten Werteinstellung Einfluss auf die Bereitschaft
hat, die Kosten für die eigene Wertorientierung zu übernehmen. In den Spalten 3
und 4 der Tabelle 6 haben wir die Einstellung zum gleichen Zugang zu Sozial-
leistungen für alle Europäer mit der Bereitschaft kreuztabelliert, auch die Kosten
für diese Einstellung zu übernehmen. Diejenigen, die sich auf der generalisierten
Werteebene für den gleichen Zugang von Deutschen und Europäern zu sozialen
Leistungen aussprechen, sind auch häufiger bereit, die Kosten für diese Werte-
festlegung in Form einer Reduktion des Kindergeldes zu tragen, als diejenigen,
die den Europäern keinen Zugang zu den nationalen Sozialleistungen zubilligen.
Auch hier gilt der Befund, den wir bereits oben konstatiert haben. Die Werte-
orientierungen der Menschen sind in gewisser Weise käuflich, sie sind dies aber
nur in einem begrenzten Maße. Auf eine Unstimmigkeit unserer Analyse muss
allerdings hingewiesen werden. Leider enthält der Datensatz keine Informationen
darüber, ob die Befragten selbst Kinder haben bzw. Kindergeld beziehen oder
nicht. Geht man davon aus, dass die möglichen Kosten einen Einfluss auf die
Werthaltung der Menschen haben, dann müssten Personen, die selbst Kinder
haben und Kindergeld beziehen, sich eher gegen einen Zugang zum Kindergeld
für EU-Bürger aussprechen, wenn damit eine Reduktion des Kindergelds insge-
samt verbunden ist, als Personen, die keine Kinder haben. Da wir dies mit unse-
ren Daten nicht prüfen können, kann es sein, dass die Zustimmungsraten in der
Tabelle 6 zu hoch ausfallen.3 Eine Überschätzung der absoluten Werte ändert
aber nichts an dem sich aus der Analyse ergebenden Zusammenhang zwischen
den generalisierten Werthaltungen einerseits und den Kosten einer Handlungssi-
tuation andererseits.

Bilanz
Der europäische Einigungsprozess hat die Gesellschaften der Mitgliedsländer der
EU tiefgreifend verändert (Lepsius 1990; Münch 1993; 2000; Flora 2000; Del-
hey 2003; Kaelble 2007; Mau 2006; 2007; Immerfall 2006; Heidenreich 2006;
Vobruba 2005). Die Herstellung des europäischen Binnenmarkts sowie die damit
verbundene Freizügigkeit für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte
hat grenzüberschreitende Wirtschaftsprozesse befördert und entscheidend das

3 Die Größe des Haushalts wurde in der Untersuchung erhoben. Diese hat keinen statistisch
signifikanten Einfluss auf die Gleichheitseinstellungen.
128 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

Anwachsen des binneneuropäischen Handels, die Zunahme grenzüberschreiten-


der und vor allem europäischer Wertschöpfungsketten und die Transnationalisie-
rung des Kapitals begünstigt. Das für alle Länder verbindliche Gemeinschafts-
recht hat homogenisierende Effekte in vielen gesellschaftlichen Bereichen gezei-
tigt. Im Zuge der europäischen Einigung ist es entsprechend in vielen Teilberei-
chen der Sozialstruktur zu Konvergenzentwicklungen gekommen.
Der Wohlfahrtsstaat gehört prima facie nicht zu den Bereichen, die sich im
hohen Maße europäisiert haben, weil die EU in diesem Politikfeld nur sehr be-
grenzte Zuständigkeiten besitzt. Geändert haben sich allerdings die Zugangsbe-
dingungen der Bürger zu den Institutionen der sozialen Sicherheit. Der mit der
Entstehung nationaler Sicherungssysteme institutionalisierte nationale Partikula-
rismus ist durch einen europäischen Partikularismus aller europäischen Markt-
bürger ersetzt worden. Mit der Institutionalisierung der Freizügigkeitsregel für
Arbeitnehmer haben alle Bürger das Recht erhalten, in allen anderen Ländern der
EU zu arbeiten und damit auch das Recht, an den sozialen Sicherungssystemen
des jeweiligen Landes zu partizipieren. Die Europäische Union hat damit
schrittweise die Idee einer nationalstaatlich begrenzten Vorstellung von Gleich-
heit der Bürger ersetzt durch die Idee einer europäischen Gleichheit. Geht man
im Anschluss an die Arbeiten von Heiner Ganßmann davon aus, dass marktver-
mittelte Erwerbstätigkeit und staatsvermittelte Sozialleistungen die zentralen
Institutionen der sozialen Sicherheit sind, dann kann man bezüglich des Zugangs
zu diesen Sicherheitssystemen von einer Europäisierung vormals national kaser-
nierter Systeme sprechen.
Ob und in welchem Maße die Bürger eine Öffnung der Zugangsmöglichkei-
ten zu dem eigenen (nationalen) Arbeitsmarkt und den eigenen Sozialleistungen
begrüßen und den europäischen Ausländern diesbezüglich die gleichen Rechte
zubilligen, stand im Mittelpunkt unserer Ausführungen. Anhand von zwei Um-
fragen haben wir gezeigt, dass die Europäisierung von wirtschaftlichen und so-
zialen Rechten bei Deutschen auf sehr hohe Zustimmung stößt. Mehr als zwei
Drittel der Befragten sind der Auffassung, dass europäischen Ausländern Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt gewährt werden sollte. Auch wenn die Befragten
dabei Unterschiede nach der nationalen Herkunft eines EU-Ausländers machen,
sinkt die Zustimmung nicht unter 50%. Ähnliche Befunde haben wir für den Zu-
gang zu den sozialen Sicherungssystemen festgestellt. Hier liegen die Zustim-
mungsraten bei über 80% der Befragten bei gleichzeitig geringen Unterschieden
nach Herkunftsland.
Weiterhin haben wir unter Bezug auf die „Low Cost“-These versucht zu
prüfen, inwiefern diese Überzeugungen das Handeln der Befragten auch anleiten,
wenn die Befolgung der eigenen Werte mit Kosten verbunden ist. Vor die Auf-
gabe gestellt, einen Handwerkerauftrag an eine deutsche oder eine polnische
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 129

Firma zu erteilen, entscheidet sich die große Mehrheit für die deutsche Firma.
Liegt das Angebot der polnischen Firma aber preislich deutlich unter dem der
deutschen Firma, entscheidet sich die Mehrheit der Befragten für das Angebot
des polnischen Dienstleisters. Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich die
deutsche Bevölkerung in hohem Maße für Chancengleichheit von ausländischen
Arbeitnehmern und Dienstleistungsunternehmen auf den inländischen Märkten
ausspricht, diese Dienstleistungen aber nur in Anspruch nehmen würde, wenn
die ausländischen Anbieter wesentlich preiswerter sind als die deutsche Konkur-
renz. Zugleich zeigte sich, dass diejenigen, die der europäischen Gleichheit gene-
rell zustimmen, auch häufiger bereit sind, den Auftrag an die polnische Firma zu
vergeben.
Ähnlich ist die Situation im Hinblick auf den Zugang zu sozialen Siche-
rungsleistungen. Diejenigen, die sich auf der Ebene generalisierter Werte für den
gleichen Zugang von Deutschen und Europäern zu sozialen Leistungen ausspre-
chen, sind auch häufiger bereit, die Kosten für diese Wertfestlegung in Form
einer Reduktion von Sozialleistungen zu tragen, als diejenigen, die den Euro-
päern keinen Zugang zu den nationalen Sozialleistungen zubilligen. Zwar gilt
auch hier, dass die generalisierten Werte bei steigenden Kosten an Handlungsre-
levanz verlieren. Dennoch sind immer noch fast 50% der Befragten bereit, eine
radikale Kürzung der Sozialleistungen zugunsten der EU-Ausländer zu akzeptie-
ren.
In der Summe weisen unsere Befunde auf eine relativ hohe Zustimmung
zum Konzept der europäisierten Sicherheit in der deutschen Bevölkerung hin
und zwar auch dann, wenn die Europäisierung den Inländern Nachteile in Form
von verringerten Arbeitsmarktchancen oder gekürzten Sozialleistungen bringen
würde. Angesichts der in den letzten Jahren zahlreich gewordenen Krisener-
scheinungen des europäischen Integrationsprozesses ist dies sicherlich kein
schlechtes Zeichen für die Zukunft der europäisierten Chancengleichheit. Ob
dieses Ergebnis allerdings auch für die anderen Länder Europas gilt, können wir
mit den von uns erhobenen Daten leider nicht sagen.
130 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld

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Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 133

Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen


Kurt Hübner

Einleitung
War in den 1970er Jahren die Rede vom Ende des ‚Keynesianischen Kompro-
misses‘ infolge der politischen Zeitenwende zugunsten eines marktradikalen
Liberalismus, so waren die 1980er und noch mehr die 1990er Jahre von der Rede
des Absterbens des Sozialstaates infolge der ungebremsten Macht ökonomischer
Globalisierung geprägt. Das Argument, demzufolge die hohe grenzüberschrei-
tende Mobilität des Faktors Kapital die traditionellen westeuropäischen Formen
von Sozialstaatlichkeit durch Produktionsverlagerung und Währungsdestabilisie-
rung in Frage stelle, wurde bezeichnenderweise von rechts als Warnung und
Aufforderung zu einem radikalen retrenchment des Sozialstaates (Sinn 2002)
und von links als systematische Bedrohung von sozialen Rechten der arbeitenden
Bevölkerung gebrandmarkt (Altvater, Mahnkopf 2004). Gegenüber den lauten
Tönen dieser Literatur blieben die enger auf den Zusammenhang von Sozialstaat
und Globalisierung fokussierten Untersuchungen vergleichsweise kühl oder
jedenfalls reserviert. So vermerkte beispielsweise Genschel (2004: 633), dass das
simple Faktum beschleunigter ökonomischer Globalisierung nicht mit einer
Abwärtskonvergenz sozialstaatlicher Formen verwechselt werden sollte; freilich
weist er mit Recht auch darauf hin, dass die nach wie vor vorfindbare Existenz
und teilweise sogar der quantitative Ausbau von Sozialstaatlichkeit nicht bedeu-
te, dass ökonomische Globalisierung keine (negativen) Auswirkungen auf Sozi-
alstaaten zeitige. Diese ambivalente und vorsichtig abwägende, auf empirische
und analytische Zusammenhänge bauende Einsicht durchzieht auch die Analysen
des Sozialstaates und nationaler Lohnregimes, wie sie in den letzten Jahren von
Ganßmann vorgelegt wurden (vgl. Ganßmann, Haas 1999; Ganßmann 2000).
Mein Beitrag nimmt diese in der Fachliteratur heute weithin geteilte Sichtweise
ein Stück weit auf und diskutiert ein Kernstück ökonomischer Globalisierung,
den Prozess der Financialization, und dessen Implikationen für die Einkom-
mensverteilung. Dabei geht es mir nicht um die technischen Details oder die
makroökonomischen Implikationen der Financialization als vielmehr um den
134 Kurt Hübner

Zusammenhang von Financialization und Gleichheitsnormen, die konstitutiv für


sozialstaatliche Arrangements sind.

Ungleichheit und Financialization


Seit den 1990er Jahren hat sich in der Welt der entwickelten kapitalistischen
Geld- und Marktwirtschaften ein fundamentaler Wandel in der Einkommensver-
teilung vollzogen. Der Anteil der Lohneinkommen am Bruttoinlandsprodukt
(Lohnquote) hat abgenommen; spiegelbildlich ist der Anteil der Gewinn- und
Zinseinkommen angestiegen. Deutschland spielt in diesem Wandel eine heraus-
ragende Rolle, hat sich doch dort die funktionale Einkommensverteilung, gemes-
sen als Anteil der Lohn- und Gehaltseinkommen am Volkseinkommen, am stärk-
sten zu Lasten der Lohneinkommensbezieher gewandelt. Nach Angaben der
OECD ist die Lohnquote zwischen den Jahren 2000 und 2005 um insgesamt 3,1
Prozentpunkte zurückgegangen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berichtet für den Zeitraum 2003 bis 2007
sogar einen Rückgang um sieben Prozentpunkte (SVR 2007). In den USA und in
Kanada betrug der Rückgang in der Periode 2000/2005 2,5 respektive 1,3 Pro-
zentpunkte. Eine Ausnahme von diesem Trend stellen allein Frankreich und
Großbritannien dar. Dort ist die Lohnquote im gleichen Zeitraum um 0,2 bezie-
hungsweise 0,8 Prozentpunkte angestiegen (OECD 2006: 220f.).
Die Veränderungen in der funktionalen Einkommensverteilung werden von
tiefgreifenden Änderungen in der Verteilung zwischen verschiedenen Gruppen
von Einkommensklassen begleitet. Die mittels des so genannten Gini-Koeffi-
zienten gemessene Einkommens(un)gleichverteilung hat in nahezu allen Indus-
trieländern zugenommen (vgl. auch Przeworski in diesem Band). Daten zum
verfügbaren Haushaltseinkommen1 etwa zeigen, dass zwischen 1985 und 2000
die Ungleichverteilung ausgeprägtere Formen angenommen hat; deutlich in den
USA und in Großbritannien, aber auch in sozialdemokratisch-formierten Volks-
wirtschaften wie der Schwedens (OECD 2006: 219ff.). Daten des sozio-
oekonomischen Panel für Deutschland (früheres Bundesgebiet) belegen, dass der
Gini-Koeffizient zwischen 1991 und 2004 von einem Wert von 0,412 auf einen
Wert von 0,476 angestiegen ist2. Es ist deshalb nur logisch, dass im gleichen
Zeitraum die Nettoeinkommen der Selbstständigenhaushalte nahezu doppelt so
stark angestiegen sind wie die der Arbeitnehmerhaushalte (SVR 2007: 434).

1 Nettoaggregat aus Arbeitseinkommen, Zins-, Dividenden- und Mieteinkommen, Rentenzah-


lungen sowie anderen Sozialtransfers.
2 Der Anstieg in den neuen Bundesländern fiel sehr viel höher aus (von 0,374 auf 0,536), aber
dies reflektiert auch die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die mit einem steilen Anstieg
von Arbeitslosigkeit einhergingen.
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 135

In den 1990er Jahren, so bereits dieser oberflächliche Befund, hat sich eine
Einkommensstrukturdifferenzierung eingestellt, die manche Beobachter von
einer Rückkehr der 1920er Jahre, also einem neuen ‚gilded age‘ sprechen lassen
(Acs, Dana 2001). Die 1990er und 1920er Jahre teilen in der Tat eine Gemein-
samkeit, die eine solche These berechtigt sein lässt: Beide Perioden sind durch
ausgeprägte Innovationsaktivitäten und damit durch die Existenz enormer tech-
nologischer Renten gekennzeichnet. Es ist aus wirtschaftstheoretischer Sicht
keineswegs überraschend, dass die Aneignung solcher Renten mit Einkommens-
ungleichheiten einhergeht, ja diese gleichsam auf natürliche Weise generiert
werden, wenn einzelne Unternehmen oder Innovatoren mit Neuerungen vorpre-
schen. Derartige Ungleichverteilungen sollten politisch-normativ eigentlich kei-
nen Grund zur Unruhe darstellen, sind sie doch, wenn die These richtig sein
sollte, marktendogen und werden, genügend Wettbewerb vorausgesetzt, durch
imitatorische Praktiken im Zeitablauf abgebaut. Markttheoretisch lässt sich er-
warten, dass im Zuge der ,Normalisierung‘ von Innovationsprozessen nicht nur
technologische Renten, sondern auch dadurch ausgelöste einkommensmäßige
Ungleichverteilungen gleichsam automatisch korrigiert werden. Empirische
Untersuchungen zeigen, dass im Zuge innovatorischer Prozesse und des dadurch
ausgelösten sektoralen Strukturwandels ein skill-biased technischer Fortschritt
dominiert, der dann wiederum Einkommensverteilungseffekte zeitigt. Dieser
Effekt kann in der Regel die Verschiebungen in der Verteilung besser erklären
als die Variable ,Globalisierung‘ respektive internationaler Handel (Hornstein et
al. 2005)3.
Ausgeblendet wird in den meisten Untersuchungen allerdings der Umstand,
dass Innovationen in einen Finanznexus eingebettet sind, der überhaupt erst
technische Renten und skill premiums erlaubt, aber auch das Potential in sich
birgt, die Einkommenseffekte auf Dauer zu stellen. Ich werde im Weiteren zu
zeigen versuchen, dass der spezifische Finanznexus zu einem gesellschaftspoliti-
schen Klima beigetragen hat, das die zunehmenden Einkommensungleichvertei-
lungen als gleichsam ‚gerecht‘ und ‚notwendig‘ darstellt und akzeptabel macht.
Makroökonomisch hat dieser Finanznexus freilich eine Dimension von Instabili-
tät zur Folge, die unter bestimmten Bedingungen Innovations- wie überhaupt
ökonomische Wachstumsfaktoren zu unterminieren droht. Diese Instabilität kann
dann, sollten sich fundamentale ökonomische Krisen einstellen, die neu etablier-
ten Gerechtigkeitsnormen in Frage stellen.
Der konkrete Finanznexus des letzten Innovationszyklus lässt sich ange-
messen als financialization beschreiben, also als ein Vorgang, bei dem die natio-
nalen und internationalen Finanzmärkte die Führungsrolle im Akkumulationsge-

3 Jaumotte et al. (2008) zeigten jüngst, dass ein hoher Grad finanzwirtschaftlicher Offenheit die
Ungleichverteilung verstärkt.
136 Kurt Hübner

schehen übernehmen. Aus einer geldkeynesianischen Perspektive ist bekannt,


dass die Vermögens- respektive die Finanzmärkte die Investitionsentscheidungen
des privaten Unternehmenssektors steuern (vgl. Herr, Hübner 2005). Diese
Steuerungskapazität kann unter bestimmten Bedingungen das Akkumulationsge-
schehen stabilisieren und dem Investitions- und Wachstumsprozess eine nachhal-
tige Dynamik verleihen. Eine dieser Bedingungen besteht in der Ausprägung
akkumulationskompatibler und flexibler institutioneller Formen der Finanzmärk-
te (Herr, Hübner 2005). Solche institutionellen Settings sind nicht auf Dauer
gestellt. Finanzmärkte können, wie die ökonomische Geschichte lehrt, wenn sich
die makroökonomischen Konstellationen ändern, enorm destabilisierend auf das
Akkumulationsgeschehen wirken. Mit der während der 1990er Jahre infolge von
Marktliberalisierungen zunehmenden Dominanz des marktgesteuerten Finanzre-
gimes in den Volkswirtschaften der OECD ging eine deutliche Verschiebung des
Steuerungszentrums einher: Die das Investitions- und Akkumulationsgeschehen
bestimmenden Profiterwartungen wurden immer weniger durch den Bezug auf
die früheren Profitraten gebildet, sondern vielmehr als Antwort auf die Verwer-
tungsansprüche der Finanzmärkte. Diese Erwartungen sind rekursiv: Akteure
bilden ihre Erwartungen über angemessene Profitraten auf der Basis ihrer Inter-
pretationen der Erwartungen anderer Akteure. Die Folge solch rekursiver Erwar-
tungsbildung sind dann oft bandwagon effects, die sich in immer höheren Profit-
ratenerwartungen niederschlagen. Solche Erwartungen übersetzen sich in einen
steilen Anstieg der Aktienpreise des privaten Unternehmenssektors respektive in
außerordentlich hohe IPO-Werte. Der Anstieg der Aktienindizes pumpte nicht
allein Liquidität in die Märkte, sondern generierte darüber hinaus auch Erwar-
tungen weiter steigender Kurse und implantierte auf diese Weise ein spekulatives
Moment in die Ökonomie (Hübner 2006a). In Kombination mit einer Vielzahl
von Finanzinnovationen, insbesondere sogenannten strukturierten Finanzproduk-
ten4, wurde ein grenzüberschreitender Handel mit Finanzprodukten in Gang
gesetzt, der sich für die Finanzinstitutionen wie insbesondere auch für die ‚Agen-
ten‘ dieser Transaktionen als hochgradig profitabel herausstellte.
Gesamtwirtschaftlich dokumentiert sich der Übergang zu diesem Finanzre-
gime in einem Anstieg des Anteils der rentier income, also der Einkommen, die
sich finanzwirtschaftlichen Transaktionen verdanken. Epstein und Power (2002)
haben den Versuch unternommen, auf der Grundlage von OECD-Daten den

4 Bei strukturierten Finanzprodukten handelt es sich um die Kombination von zwei oder mehre-
ren Finanzinstrumenten, wobei eines der Elemente ein Derivat darstellt. Entstanden sind sie als
ein Instrument zur Risikominimierung durch Bündelung verschiedener gegenläufiger Risiken.
Freilich stellte sich heraus, dass diese Instrumente wegen ihres opaken Charakters sensibler
auf ‚Störungen’ reagieren und im Falle von auflaufenden Verlusten eine große Zahl von
Marktagenten betreffen (Borio 2008).
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 137

Anteil dieses Einkommenstypus zu kalkulieren5. Danach ist in Frankreich,


Großbritannien und den USA der Anteil dieses Einkommenstypus am Bruttoin-
landsprodukts zwischen 99 und 155% angestiegen. In Australien, Deutschland
und Luxemburg betrug der Anstieg im Durchschnitt immerhin noch 55%. So
tiefgreifend diese Verschiebung auch ausgefallen ist, gilt doch festzuhalten, dass
sie keine unmittelbaren und direkten Effekte auf die konstatierte (personelle)
Ungleichverteilung der Einkommen hat.
Indirekte Wirkungen gibt es allerdings sehr wohl. Zum ersten darf vermutet
werden, dass der Einzug von finanzwirtschaftlich bedingtem short termism in die
Ausformung von Unternehmensstrategien verstärkte Anstrengungen zur Steige-
rung der Unternehmensprofite zeitigte, die dann wieder als Kostendruck weiter-
gegeben wurden. Löhne boten sich als bestes Ventil zur Bewältigung der Rivali-
täten zwischen Finanz- und traditionellen Profiteinkommen an. Gewerkschaftli-
che Lohnpolitik hat unter den Bedingungen dieses Finanzregimes nicht allein die
Sicherung einer ‚Mindestprofitrate‘ seitens der produzierenden Sektoren in
Rechnung zu stellen; immer öfter ging es darum, die seitens der Finanzindustrie
gesetzte ‚Mindestverzinsung‘ zuzulassen. Diese Neufassung des Lohnverhältnis-
ses wurde, zweitens, begleitet von einem gesellschaftspolitischen wie akademi-
schen Diskurs, bei dem der Prozess ökonomischer Globalisierung als unabweis-
barer Sachzwang präsentiert wurde, dem nur durch kostenmäßige Anpassung
und eine Übernahme des angelsächsischen Modells erfolgreich begegnet werden
könne. Das Ergebnis war eine tiefgreifende Umdefinition des Sozialkontraktes in
der nicht-angelsächsischen Welt des Kapitalismus. Drittens schließlich wurden
im öffentlichen Diskurs die Finanzeinkommen als Ausdruck ‚smarten Marktver-
haltens‘ interpretiert, was wiederum zur Messlatte eines erfolgreichen Kapitalis-
mus wurde.
In Deutschland wie überhaupt im westlichen Kontinentaleuropa hat sich
nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Durchsetzung sozialstaatlicher Nor-
men und Prinzipien ein Korridor der Einkommensverteilung herausgebildet, der
allgemein als gerecht, jedenfalls tolerierenswert, angesehen und zum Grundpfei-
ler eines contrat social wurde. Dieser Sozialkontrakt trug zu einem soliden Maß
an Sozialintegration in diesen Gesellschaften bei und beförderte darüber hinaus
auch die stetigen Produktivitätsfortschritte6 während der Phase des catch up.
Sozialintegrierte Arbeitskräfte und deren (gewerkschaftliche) Interessenorganisa-
tionen waren bereit, ihren ,schöpferischen‘ Anteil zum großen catch up zu leis-

5 Genaue empirische Definitionen von Einkommensströmen und die Berechnungsmethode


werden in diesem Text erläutert.
6 Das stark auf Inklusion abzielende westeuropäische Akkumulationsmodell war in dieser
Hinsicht lange Zeit dem stärker auf Kontrollmechanismen abzielenden Modell der USA über-
legen (dazu schon frühzeitig Bowles et al. 1983).
138 Kurt Hübner

ten, und wurden dafür auf der einen Seite mit einem Anstieg der Reallöhne und
auf der anderen Seite mit einer sozialstaatlichen Dekommodifizierung der Ar-
beitskraft entlohnt. Integraler Bestandteil dieses Kontraktes war die Vorstellung
einer als gerecht empfundenen und akzeptierten Ungleichverteilung der Ein-
kommen. Demgegenüber gab es einen derartigen Sozialkontrakt und organisier-
ten Interessenausgleich in den USA nie. Die Einkommensungleichheit hat zwar
auch dort, nicht zuletzt dank kampfstarker Gewerkschaften, in den 1950-1970er
Jahren leicht abgenommen, war aber auch während des golden age des Nach-
kriegskapitalismus ausgeprägter als im westlichen Kontinentaleuropa. Einkom-
mensungleichheit wurde und wird in Nordamerika weniger als Problem als viel-
mehr als ein legitimer (und attraktiver) Anreiz für die weniger Gutbestellten
gesehen, ihre Leistungen zu erhöhen und auf diese Weise in die Gruppe der
Bessergestellten aufzusteigen. Der ,amerikanische Traum‘ erwies sich als die
nachhaltige legitimatorische Basis, die auch während der langen Phase der Zu-
nahme der Einkommensungleichverteilung das systemische Gleichgewicht in
den USA sicherte.

Spitzengehälter, Spitzenmanagement, Spitzenleistung


In einer langfristigen Perspektive könnte man die aktuelle Ungleichverteilung als
eine Form von Widerlegung der Kuznet-Kurve interpretieren. Diese Mitte der
1950er Jahre in der entwicklungstheoretischen Debatte vorgestellte Hypothese
besagt, dass die Einkommensverteilung in nationalen Ökonomien einem simplen
Muster folgt: In der Industrialisierungsphase nimmt die Einkommensungleich-
heit zu, weil nur eine Minderheit die ökonomischen Chancen nutzen kann, wäh-
rend die Mehrheit sich in ein Lohnarbeiterverhältnis einfindet, das zwar Markt-
einkommen offeriert, aber diese Einkommen vom Verlauf des Akkumulations-
prozesses abhängig macht. Je mehr im Laufe der Zeit Arbeitskräfte in die pro-
duktivitäts- und innovationsstarken Sektoren wechseln, desto stärker nimmt dann
aber die Ungleichheit ab. Dieser Wandel geht einher mit einer politischen Aufla-
dung des Lohnverhältnisses, sei es infolge gewerkschaftlicher Organisation der
Lohnabhängigen und/oder infolge sozialstaatlicher Interventionen in die nationa-
len Arbeitsmärkte.
Die historischen Erfahrungen der OECD-Ökonomien legen allerdings nahe,
dass diese Erklärung generell zwar stimmig, aber dennoch zu simpel angelegt ist,
um die Entwicklung der Einkommensverteilung zu verstehen. Empirisch ist zu
beobachten, dass der Übergang von Industrie- zu Dienstleistungs- und mehr und
mehr zu Wissensökonomien immer von Neuem eine Wiederholung des Un-
gleichheits-Gleichheits-Zyklus in Gang zu bringen scheint, und marktendogene
Mechanismen überfordert scheinen, eine ausgeglichene Einkommensverteilung
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 139

zu generieren. Gesellschaftliche Machtstrukturen können sogar dazu führen, dass


im Zuge raschen sektoralen Wandels bestehende Ungleichverteilungen sich
verfestigen, und diese zu einem Pfeiler gesellschaftlich anerkannter Gerechtig-
keitsnormen werden. Was als ,gerecht‘ angesehen und toleriert wird, ist hoch-
gradig kontextbedingt. Noch weniger gilt die Kuznets-Hypothese für demokra-
tisch schwach entwickelte Volkswirtschaften, die sich zusätzlich noch durch eine
ausgeprägt gebrochene Modernisierung auszeichnen, also durch das Nebenei-
nander von hochgradig peripheren und modernen Sektoren charakterisiert sind.
In diesen Fällen sind Einkommensdichotomien sogar super-verfestigt, wie etwa
das wohl bekannteste Beispiel Brasilien zeigt.
Man könnte vermuten, dass in modernen Gesellschaften der Zyklus dank
der Existenz sozialstaatlicher Prinzipien gedämpfter verläuft. Vergleicht man die
verschiedenen Varianten von Kapitalismus unter dem Gleichheits- beziehung-
sweise Ungleichheitsaspekt, dann steht außer Frage, dass die liberal-marktorien-
tierten Varianten (USA, Großbritannien, Australien) ein höheres Maß an Ein-
kommensstrukturungleichheit aufweisen als die sozialdemokratischen Kapita-
lismusvarianten, wie man sie vor allem in Skandinavien findet. Empirische Be-
funde bestätigen diese Vermutung eindrucksvoll (Pontusson 2005). Dies bedeu-
tet aber nicht, dass nicht auch diese Kapitalismusvarianten mit Ungleichheit
konfrontiert wären. Der von der deutschen Bundesregierung vorgelegte 2. Ar-
muts- und Reichtumsbericht etwa belegt einen Anstieg der Einkommensun-
gleichheit während der 1990er Jahre, der vor allem auf die unterschiedliche Ent-
wicklung von Markteinkommen der verschiedenen Kategorien von Lohn- und
Einkommensbeziehern zurückzuführen ist. Sozialpolitische Kompensationen
spielen für die untere Klasse von Einkommensbeziehern eine große, oftmals eine
zentrale Rolle, haben aber nicht ausgereicht, um die Lücke zwischen oberen und
unteren Einkommensbeziehern konstant zu halten.
Die in Deutschland neu entfachte Unterschichtendebatte, modisch als Pre-
kariatsdebatte umschrieben, beschreibt zutreffend einen Teil des Problems. Ar-
mut in entwickelten Volkswirtschaften sollte durchaus als das benannt werden,
was sie ist: als ein gesellschaftlicher Skandal. Es ist aber verfehlt, die Einkom-
mensungleichheit allein oder auch nur zugespitzt als Armutsdebatte zu führen.
Was die Einkommensungleichheit treibt, ist weniger der Absturz einer immer
noch vergleichsweise kleinen gesellschaftlichen Schicht in die Armut als viel-
mehr die rasante Zunahme der Spitzeneinkommen einer kleinen Gruppe von
Einkommensbeziehern. Diese Spitzeneinkommen sind dann wiederum die Mess-
latte für eine nächste Gruppe von Einkommensbeziehern, deren Einkommen
absolut zwar sehr viel kleiner ausfallen, die aber einem catching-up-Muster zu
folgen versuchen – ein Mechanismus, der als ,Keeping-up-with-the-Jones‘ be-
140 Kurt Hübner

kannt ist7. Ich sehe in diesem Prozess den eigentlichen Motor der Umdeutung
des Sozialkontraktes in der Mehrzahl der OECD-Ländern. Es ist bekannt, dass in
den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sich die Entkoppelung der Spitzengehälter
von den Durchschnittseinkommen in den westlichen Gesellschaften stark be-
schleunigt hat. Dieser Vorgang hat zwar immer wieder Unmut erzeugt, dies
wurde aber im Wesentlichen als Ausdruck von Einkommensneid gedeutet, und
zeitigte entsprechend wenig gesellschaftspolitische Relevanz: Über die Acker-
männer wurde gesprochen, aber sie wurden zur gleichen Zeit als erfolgreiche
,Macher‘ gesehen, ohne die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit nicht sicherge-
stellt werden könne.8
Die Einkommen von Chief Executive Officers (CEOs) der im Standard &
Poor’s gelisteten 500 größten US-amerikanischen Unternehmen sind zwischen
1980 und 2000 steil angestiegen.9 Vergleicht man die Einkommen der CEOs mit
den durchschnittlichen Lohneinkommen der Beschäftigten dieser Unternehmen,
dann stieg der Quotient von 42 im Jahr 1980 über 102 im Jahr 1990 bis auf 525
im Jahr 2000. Seitdem ist zwar ein Rückgang zu beobachten, doch betragen die
CEO-Einkommen noch immer das 425fache des durchschnittlichen Lohnein-
kommens eines Arbeiters.10 Die Medianentlohnung für Spitzenmanager11 ist
nach Jahren von Zuwächsen, die in Einklang mit der allgemeinen Einkommens-
entwicklung lagen, in den 1990er Jahren geradezu explodiert und bewegte sich
im Jahr 2000 auf einem Durchschnittsniveau von 4,6 Millionen US-Dollar. Die
Managerentlohnung fiel in vielen New Economy-Companies in dieser Phase
noch weit höher aus – Bill Gates von Microsoft stellt nur die Spitze des Eisber-
ges dar. Definiert man, adäquaterweise, die Spitzeneinkommen von CEOs als
Summe aus Gehalt, Bonuszahlungen, langfristigen Anreizzahlungen, Aktienop-
tionen und ähnlichen Gratifikationen, fallen die durchschnittlichen Entlohnungen
noch drastischer aus. Für die 500 Unternehmen des S&P-Index stieg die CEO-
Entlohnung von 3,7 Millionen US-Dollar (2002-Dollarwerte) im Jahr 1993 auf
einen Spitzenwert von 17,4 Millionen US-Dollar im Jahr 2000. Bis zum Jahr
2003 ist ein Rückgang auf 9,1 Millionen US-Dollar zu beobachten, der anekdoti-

7 Der Vergleich mit dem ,Nachbarn’ wird diesem Theorem zufolge als treibendes Motiv für
Konsumentscheidungen gesehen. Eine Variante dieser Aufwärtsorientierung sehe ich auch im
Bereich der Einkommensnormen am Werke.
8 Besonders deutlich wird diese Ambivalenz bei Wendelin Wiedeking, CEO von Porsche,
dessen enorm hohes Einkommen selbst vom IG Metall-Betriebsratsvorsitzenden als angemes-
sen bezeichnet wird.
9 Empirische Daten nach Bebchuk, Grinstein (2005).
10 Diese Daten stammen vom Institute for Policy Studies, das seit den 1990er Jahren einen
jährlichen Überblick über die CEO-Einkommen veröffentlicht.
11 Für diesen Zweck definiert als die drei am höchsten bezahlten Angestellten jener Unterneh-
men, die in den 1940er, 1960er und 1990er Jahren zu den 50 größten Unternehmen der USA
zählten.
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 141

schen Angaben zufolge aber seitdem zum Halt beziehungsweise zur Umkehr
gekommen ist (Bebchuk, Grinstein 2005).12 Alle Anzeichen sprechen dafür, dass
eine Rückkehr zur historischen ‚Normalität‘ nur zu erwarten ist,13 wenn die öko-
nomische Grundlage dieser neuen Form von Ungleichheit, die financialization,
in einem ‚Platzen der Blase‘ mündet, und es zu negativen makroökonomischen
Effekten kommt, die dann wiederum eine Politisierung der Einkommensvertei-
lung antreibt.14
Was für den Normalbürger moralisch schwer auszuhalten sein mag, ist für
einen theoretischen Ökonomen nicht unbedingt ein Problem. Neoklassisch aus-
gebildete Ökonomen wissen, dass die Entlohnung sich nach der Grenzprodukti-
vität der Anstrengung bemisst. Hohe Entlohnungen drücken so gesehen allein
überdurchschnittliche Anstrengungen ökonomischer Akteure aus. Diese über-
durchschnittlichen Anstrengungen wiederum reflektieren überdurchschnittliche
Bildungsinvestitionen, die sich entlohnungsmäßig auszahlen. Es ist bekannt, dass
die Lebenseinkommen von Arbeitskräften mit höherer Schulbildung höher aus-
fallen als die von Arbeitskräften mit unterdurchschnittlicher Bildung. Hohe Ent-
lohnungen können aber auch das Ergebnis knapper und stark nachgefragter Bil-
dungsqualifikationen sein. So kann man beispielsweise die Einkommen von
Tennisspielern wie Roger Federer oder Golfern wie Tiger Woods erklären, ver-
fügen beide doch über seltene und hochgradig überdurchschnittliche sowie nach-
gefragte Fähigkeiten, die es erlauben, nach dem Knappheitskriterium entlohnt zu
werden.
Übertragen auf die CEO-Entlohnung würde dies bedeuten, dass die über-
durchschnittlich hohen Zuwachsraten das Ergebnis überdurchschnittlich hoher
Leistungen beziehungsweise einer relativen Verknappung von Managementqua-
lifikationen sind. Das Problem ist, dass sich ein solcher Zusammenhang empi-
risch nicht belegen lässt. Abseits der immer wieder zu machenden Beobachtung,
dass Firmen wenig Sensibilität zeigen, wenn zeitgleich oder in kurzer Folge
Meldungen über Steigerungen der CEO-Gehälter und notwendige Einsparmaß-
nahmen auf Seiten der Belegschaften öffentlich gemacht werden, zeigen sorgfäl-
tige Untersuchungen, dass in der Tat kein systematischer Zusammenhang zwi-
schen Spitzenentlohnung und ökonomischem Wertzuwachs der Unternehmen
besteht. Die ausgeprägte ‚Kultur‘ von golden parachutes auf Seiten dieser Klien-
tel dementiert auch das Argument, CEOs müssten solche Gehälter beziehen, weil

12 Ich beschränke mich hier auf die USA. Die Zahlen für kontinentaleuropäische Länder fallen
niedriger aus, doch ist der Trend identisch.
13 Frydman, Saks (2005) geben einen hilfreichen Überblick über die CEO-Entlohnung seit Mitte
der 1930er Jahre.
14 Diese Bedingung ist wichtig, hat doch die letzte geplatzte Blase, die New Economy (siehe
Hübner 2006b), am Trend zur Ungleichverteilung der Einkommen nichts geändert.
142 Kurt Hübner

sie überdurchschnittliche Risiken tragen. Für US-amerikanische und britische


Unternehmen und CEOs, die ganz an der Spitze der Entlohnungspyramide ste-
hen, kann keinerlei systematischer Zusammenhang gefunden werden (Erturk et
al. 2005). Markttheoretisch gesehen ist das keine echte Überraschung, werden
doch die Spitzengehälter nicht auf Märkten bestimmt; sie sind vielmehr Ergeb-
nisse von internen Aushandlungsprozessen, bei denen externe Konkurrenz keine
Rolle spielt. Paradoxerweise sind gerade die Spitzeneinkommen jener sozialen
Klasse, die am ausgeprägtesten Leistung als Grund ihrer Einkommen reklamiert,
am wenigsten von offenen Marktprozessen bestimmt. In den Worten von Boyer
(2005: 22):
„There is a strong asymmetry of power and information between the top managers and the var-
ious boards and committees. Their members are appointed by the executives, the information
they are provided is elaborated by the staff of corporations and finally, the members of the
board tend to belong to the same social network. Thus, the probability of accepting the agenda
and the proposal put forward by the CEOs is quite high. Similarly, during the general assembly
of shareholders, minorities do not have the resources to propose alternative nomination and
proposals... Therefore, the control of managers by auditors, financial analysts, shareholders’
organisations, is operating ex post and generally when the situation has become dramatic.“

Gerade diese symbiotische Aushandlungspraxis der Spitzeneinkommen des obe-


ren Managements hilft, die Bestimmung dieser Superstar-Entlohnungen auf der
einen Seite opak zu halten und auf der anderen Seite zur Propagierung einer
neuen Gerechtigkeitsnorm zu nutzen.

Ungleichheit als Gesellschaftsnorm?


Das Enteilen der Spitzengehälter kann mit den üblichen ökonomischen Vorstel-
lungen über Entlohnungen nicht gut verstanden werden. Die Zunahme wie die
absolute Höhe dieser Gehälter reflektieren, so die These dieses Beitrages, einen
tiefgreifenden Wandel moderner Ökonomien und Gesellschaften, der sich, wie
angedeutet, am angemessensten als ‚Verfinanzwirtschaftlichung‘ (financializati-
on) beschreiben und analysieren lässt. Bereits im Laufe der 1970er Jahre wurden
zunächst in Großbritannien und dann in den USA Weichenstellungen zugunsten
einer Deregulierung und Liberalisierung von Finanzmärkten und Bankensyste-
men vorgenommen, die dann im Laufe der 1980er und 1990er Jahre die ökono-
mischen Prozesse in neue Gefilde führten. In der öffentlichen Debatte wurde
diese Strukturverschiebung lange Zeit als shareholder vs. stakeholder-Kontro-
verse aufgeführt: Die eher kontinentaleuropäischen Modelle von corporate go-
vernance, gesellschaftlicher Teilkontrolle ökonomischer Macht und wirtschaftli-
cher Partizipation wurden als nicht länger wettbewerbsfähig gegenüber dem
nordamerikanischen Modell von Finanzmarktkontrolle gesehen. Die eigennutz-
orientierten Interessen der shareholder sind dieser Sichtweise nach sehr viel
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 143

besser gerüstet, Profitchancen zu erkennen und Unternehmen auf einen erfolg-


reichen Wachstumspfad zu führen. Manager, die diese Aufgabe übernehmen und
erfolgreich ausführen, agieren als Agenten der shareholder und werden nach
Maßgabe von shareholder-Normen entlohnt.
Begleitet wurde diese Debatte von zwei weitreichenden Prozessen. In Euro-
pa wurde seit den späten 1980er Jahren der Reiz der Aktienmärkte entdeckt,
nicht nur für das Management von Unternehmen zur Attrahierung von Eigenka-
pital, sondern auch seitens der privaten Haushalte als Form von profitträchtiger
Nutzung ehemals als Spareinlagen gehaltenen Vermögens. Das Aktienspiel er-
freute sich im Zuge der Ausbreitung der New Economy breiter Zustimmung, ja
manchmal schon Euphorie.15 Aus Geld mehr Geld machen ohne den leidigen
Umweg der Warenproduktion, war die Parole der Zeit und bereitete den Boden
für die Ausbreitung eines gesellschaftlichen Klimas, das Bereicherung als
Schlüsselziel der Persönlichkeitsentwicklung definierte. Begleitet und vorange-
trieben wurde dieser Wandel, zweitens, von sich rasant ausbreitenden Finanz-
Innovationen, die neue Anlagemöglichkeiten, Finanzierungsinstrumente und
dann auch Anlagestrategien hervorbrachten. Die von diesen Instrumenten flie-
ßenden Einkommensströme spielten eine bedeutsame Rolle für den Aufbau der
Einkommensstrukturungleichheit. Makroökonomisch war das Ergebnis dieser
Entwicklung ein spezifisches Muster der Kapitalakkumulation, bei dem finanz-
wirtschaftliche Gewinne eine größere Rolle als Profite aus nicht-finanzwirt-
schaftlichen Operationen spielen. In normativer Hinsicht, vor allem unter dem
Aspekt der Gleichheitsnorm, trug dieser Prozess zur Unterminierung der Grund-
lagen des Sozialkontraktes bei: Was über Jahrzehnte als gesellschaftlich akzep-
tierte Differenz zwischen Durchschnitts- und Spitzeneinkommen galt, hat einer
starken Spreizung Platz gemacht.
Seit dem offenen Ausbruch der als sub-prime-Hypothekenkrise bezeichne-
ten finanzwirtschaftlichen Liquiditätsklemme im Jahr 2007 und dem dramati-
schen Übergang zu einer globalen finanzwirtschaftlichen Solvenzkrise, ist zwar
offensichtlich, dass viele der Finanzinnovationen auf Sand gebaut sind. Auch
sind die seitens nationaler Regierungen aufgelegten Rettungspakete in ihrem
Umfang einmalig und in den meisten Fällen mit Auflagen für die Finanzwirt-
schaft verbunden. Im Kern handelt es sich bei allen Maßnahmen aber um den
klassischen Modus einer ,Sozialisierung der Verluste‘ sowie um die Bereitstel-
lung neuer Liquidität, in der Hoffnung, dass die nationalen Finanzsektoren zu

15 Ich hörte Mitte der 1990er Jahre erstmals aus dem Mund eines US-amerikanischen Deutsch-
landexperten, dass es den Deutschen an einer adäquaten Aktienkultur mangele. Die Verbin-
dung der Worte ,Aktie‘ und ,Kultur‘ war damals für mich schockierend, indiziert aber nur den
hegemonialen Diskurs der Zeit.
144 Kurt Hübner

einer Mindestversorgung der Gesamtwirtschaft mit Krediten zurückkehren wer-


den.
In Deutschland wie auch in den USA gibt es darüber hinaus Bemühungen,
die Spitzengehälter von Managern jener Banken zu begrenzen, die staatliche
Hilfe zur Überwindung der Kreditkrise in Anspruch nehmen. Eine derartige
Maßnahme ist moralisch sauber, dürfte aber funktional nicht weit tragen, wenn
nicht zur gleichen Zeit die Grundlagen und Praktiken der Verfinanzwirtschaftli-
chung grundlegend umgebaut und verändert werden. Jedenfalls kann nur dann
erwartet werden, dass die systematischen ‚Exzesse‘ der Spitzenentlohnung der
Vergangenheit angehören – was wiederum die notwendige Voraussetzung für
eine ‚Normalisierung‘ der Einkommensverteilung ist. Sozialwissenschaften kön-
nen zu diesem ‚Normalisierungsprozess‘ beitragen, indem gesellschaftspolitisch
relevante Themen zum Forschungsgegenstand gemacht werden.

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Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 147

III. Transnationalisierungsprozesse
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 149

Die dreifache Herausforderung des deutschen


Wohlfahrtsstaates
Peter Bleses

Der Sozialstaat „ist sowohl Produkt als auch Instanz zur


Bewältigung der Folgeprobleme der Ausdifferenzierung
kapitalistischen Wirtschaftens. Er verbleibt deshalb in
der Spannung, Modernisierung sowohl zu verhindern als
auch zu ermöglichen.“
(Ganßmann 2000: 17)

Einleitung
Der deutsche Wohlfahrtsstaat steht in seinem Kernbereich der sozialen Siche-
rung mittels Sozialversicherungen insbesondere vor drei großen Herausforderun-
gen:
ƒ Finanzierungsprobleme durch eine ungünstige Entwicklung der Relation
von Beitrags- und Ausgabenvolumen,
ƒ Sicherungsprobleme durch eine wachsende Zahl von Personen, die in Le-
bensverläufen und Erwerbsformen nicht mehr den Normvorstellungen der
Sozialversicherungen entsprechen und daher keine ihren Lebensunterhalt
deckenden Ansprüche erreichen können,
ƒ Souveränitätsprobleme durch ein zunehmendes Unvermögen des nationalen
Wohlfahrtsstaates, die Leistungsträger und die Gruppe der Leistungsberech-
tigten zu kontrollieren.
Diese Herausforderungen sind zwar alles andere als neu1 und stellen sich in
Teilen oder insgesamt auch anderen Wohlfahrtsstaaten. Das deutsche Modell des
„lohnarbeitszentrierten“ (Vobruba 1990; Bleses, Vobruba 2001) „Sozialversiche-
rungsstaates“ (Riedmüller, Olk 1994) gilt aber infolge seiner Gestaltungsprinzi-
pien als besonders krisenanfällig – vor allem was die Herausforderungen durch
Sicherungs- und Finanzierungsprobleme anbelangt.
Dem Sozialversicherungsstaat wurde in den Sozialwissenschaften lange
Zeit eine weitreichende „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2004: 10) und mangelhafte

1 Zu einer differenzierten Diskussion der Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates siehe bereits


Kaufmann 1997.
150 Peter Bleses

Reaktionsfähigkeit oder -bereitschaft attestiert (zum Beispiel: Esping-Andersen


1999). Erst die so genannte Agenda 2010 und die Hartz-Reformen der rot-grünen
Bundesregierung haben viele Beobachter dazu veranlasst, von einem grundle-
genden sozialpolitischen Wandel zu sprechen (zum Beispiel: Hengsbach 2005).
Das ist meines Erachtens eine sehr verkürzte Betrachtungsweise, die historische
Entwicklungen auf augenfällige Zäsuren verengt. Im Folgenden soll demgegen-
über erstens gezeigt werden, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat sein Gesicht
bereits seit langer Zeit sukzessive verändert hat. Die jüngsten sozialpolitischen
Reformen sind nur noch der offenkundig gewordene Ausdruck von Entwicklun-
gen, die lange vorher begannen. Zweitens soll der Frage nachgegangen werden,
ob die Veränderungen des deutschen Wohlfahrtsstaates in der Vergangenheit
auch – gemessen an seinen Herausforderungen – problemadäquat zu nennen
sind.
Ich gehe wie folgt vor: Zunächst schildere ich die charakteristischen Gestal-
tungsmerkmale des tradierten deutschen Modells sozialer Absicherung durch
Sozialversicherungen, um eine Folie zu gewinnen, vor der die weitere sozialpoli-
tische Entwicklung gespiegelt werden kann. Anschließend gehe ich auf die zent-
ralen Herausforderungen (Finanzierungs-, Sicherungs- und Souveränitätspro-
bleme) des Modells ein. Dann analysiere ich die sozialpolitische Entwicklung
der letzten Jahrzehnte mit Blick auf die Veränderungen der charakteristischen
Gestaltungsmerkmale des deutschen Wohlfahrtsstaates. Dabei werde ich mich
auf Kernbereiche der sozialen Absicherung konzentrieren, die für das traditionel-
le wohlfahrtsstaatliche Konzept in der Bundesrepublik Deutschland und seine
aktuelle Entwicklung besonders wichtig sind: die Einkommenssicherung bei den
Risiken Arbeitslosigkeit und Alter. Zum Abschluss werde ich die Ergebnisse
zusammenfassen und auf die Frage nach den Anpassungsleistungen des deut-
schen Wohlfahrtsstaates eingehen.

Die Konstellation: Lohnarbeitszentrierter Sozialversicherungsstaat bis 1972


Im Sozialversicherungsstaat erfolgt die soziale Absicherung in der Regel durch
Sozialversicherungen beziehungsweise nach dem Sozialversicherungsprinzip.
Andere Sicherungen sollen allenfalls Ausnahmen von der Regel sein (Sozialhil-
fe). Die Absicherung nach dem Sozialversicherungsprinzip ist an versicherungs-
rechtliche Bedingungen gebunden. Diese ergeben sich aus einer Äquivalenz von
individuellem Beitrag und daraus erwachsendem Leistungsanspruch. Können die
versicherungsrechtlichen Bedingungen nicht erfüllt werden, wird keine Leistung
gewährt. Die Sozialversicherungen folgen dabei dem Kausalitätsprinzip: Ein
Leistungsanspruch kann nur bei Eintritt der versicherten Risikofälle entstehen
(Arbeitslosigkeit, Alter, Invalidität usw.), unabhängig von Bedürftigkeit.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 151

Die Lohnarbeitszentriertheit der Sozialversicherungen resultiert daraus, dass


die Sozialversicherungen in ihrer Leistungsvergabe auf Lohnarbeit(er) zentriert
sind und diese durch die Art der Leistungsvergabe wiederum auf Lohnarbeit hin
zentrieren. Die Lohnarbeitszentriertheit kommt bei den Einkommensleistungen
der Sozialversicherungen besonders zur Geltung, als Musterbeispiel in der Ar-
beitslosenversicherung, etwas eingeschränkter auch in der Rentenversicherung.
Was bedeutet sie im Einzelnen? Beiträge an die Sozialversicherungen werden
nur auf Einkommen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erhoben.
Personen in anderen Erwerbsformen (zum Beispiel: Selbstständige, Beamte)
oder nicht entgoltenen Arbeitssphären (vor allem in der Reproduktionssphäre)
können – sieht man von den Ausnahmen ab, die seit Beginn der 1970er Jahre
sukzessive eingeführt wurden (siehe unten) – nicht als Versicherte in die Sozial-
versicherungen gelangen. Damit überhaupt ein Leistungsanspruch entstehen
kann, muss man eine bestimmte Zeit Beiträge gezahlt haben. Da sich die Bei-
tragshöhe an der Höhe der Lohneinkommen bemisst, richtet sich auch der Leis-
tungsanspruch an der Einkommensposition im Erwerbsleben aus. Und schließ-
lich muss insbesondere in der Arbeitslosenversicherung weiterhin Arbeitsbereit-
schaft nachgewiesen werden, um Leistungen beziehen zu können (Vobruba
1990: 28f.; Bleses, Vobruba 2001).
Ergänzt wird die Lohnarbeitszentrierung der Sozialversicherungen vor al-
lem in der Rentenversicherung durch die Hinterbliebenenversorgung für Ehe-
partner und Kinder der Versicherten.2 Die Einbeziehung der Familienangehöri-
gen und hier insbesondere der Ehefrauen beruht auf einem bestimmten Rollen-
verständnis der deutschen Sozialpolitik. Während der Mann als Familienernährer
möglichst in einem Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger 1985) tätig ist, ist
die Ehefrau in der Hauptsache nicht erwerbstätig und für Reproduktionsaufgaben
der Familie zuständig.3 Nur das vollzeitige und dauerhaft ausgeübte sowie ar-
beits- und sozialrechtlich voll erfasste Normalarbeitsverhältnis ermöglicht es,
eine Familie zu ernähren und in den Sozialversicherungen einen hinlänglichen
Anspruch zu erwerben. Für nichterwerbstätige Ehefrauen bleibt in diesem Mo-
dell die jeweils von ihrem Ehemann abgeleitete Einkommenssicherung: zuerst
über sein Erwerbseinkommen, dann gegebenenfalls – nach seinem Tode – über
die von seinem Sicherungsanspruch abgeleitete, niedrigere Hinterbliebenensiche-
rung (maximal 60% des Versichertenanspruchs). Es handelt sich also um ein
Geschäft auf Gegenseitigkeit: Partizipation am männlichen Einkommen und

2 Auch in der Krankenversicherung findet sich das Element der Mitversicherung von (nicht oder
nur geringfügig erwerbstätigen) Ehepartnern und Kindern.
3 Zum sich gegenseitig ergänzenden Verhältnis von Normalarbeitsverhältnis und Normalfamilie
vgl. zum Beispiel Bleses, Rose 1998a; Bleses, Seeleib-Kaiser 2004; 1999; Hinrichs 1996; Les-
senich 1996.
152 Peter Bleses

Sozialversicherungsschutz gegen weibliche Dienstleistungen im Reproduktions-


bereich.
Für alle, die keinen für ihren Lebensunterhalt ausreichenden Anspruch in
den Sozialversicherungen aufbauen können, bleibt die Sozialhilfe als letztes
Sicherungsnetz. Das sind vor allem randständig Beschäftigte und Witwen, die
von der Hinterbliebenenversorgung leben müssen. Die Sozialhilfe funktioniert
allerdings nach völlig anderen Regeln als die Sozialversicherungen. Sie folgt
allein dem Bedürftigkeitsprinzip. Für sie ist deshalb keine Vorleistung erforder-
lich; einzige Leistungsvoraussetzung ist Bedürftigkeit. Dabei ist die Sozialhilfe
(fast) allen anderen Einkommensquellen und insbesondere der Selbsthilfe durch
eigene Erwerbstätigkeit gegenüber nachrangig. Die Sozialhilfe hat anders als die
Sozialversicherungen nicht einmal die normative Zielvorgabe, den Lebensstan-
dard abzusichern; vielmehr richtet sie sich auf ein politisch definiertes Existenz-
minimum.
Bis zur Mitte der 1970er Jahre war es das sozialpolitische Ziel, immer mehr
Menschen so in die Sozialversicherungen zu integrieren, dass sie dort einen
ausreichenden Anspruch erwerben können. Gesetzgeberischer Ausdruck war
zum Beispiel die teilweise Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für
Selbstständige oder die Rente nach Mindesteinkommen (beides 1972). Die Sozi-
alhilfe sollte sich auf jene wenigen Ausnahmefälle konzentrieren, die nicht der
Sicherungsnorm entsprechen können. Dieses Vorhaben hatte natürlich eine Rei-
he von Voraussetzungen: vor allem ‚Vollbeschäftigung‘ aller männlichen Fami-
lienernährer und die Akzeptanz geschlechtlicher Rollenteilung (Vobruba 2000).
Zusammengefasst halte ich folgende Kennzeichen des Modells fest:
1. Sicherungsziel: Lebensstandardsicherung (wer hat, dem wird gegeben; wer
nichts hat, dem nicht)
2. Adressaten: sozialversicherungspflichtige (männliche) Lohnarbeiter mit
abgeleiteten Ansprüchen für Familienangehörige
3. Finanzierungs- und Regulierungsweise: Vorrangige Finanzierung aus lohn-
arbeitsbezogenen Beiträgen im Umlageverfahren
Im Rückblick war die Zeitspanne, in der dieses sozialpolitische Modell wirklich
funktionierte, kurz, sehr kurz sogar. Sie reichte in der Bundesrepublik Deutsch-
land vom Ende der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre. Es war – wie in
anderen Wohlfahrtsstaaten auch – ein durch und durch nationalstaatlich gepräg-
tes Modell, das davon ausging, dass der Staat das wohlfahrtsstaatliche Institutio-
nensystem, das Leistungs- und Vorleistungsspektrum sowie die Gruppe der Leis-
tungsberechtigten vollständig autonom und souverän bestimmen konnte (de
Swaan 1994: 102f.). Selbst die Voraussetzungen des Wohlfahrtsstaates – hohes
Wirtschaftswachstum und hoher Beschäftigungsstand – schienen durch natio-
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 153

nalstaatliche Politik kontrollierbar zu sein. Eine sich sprunghaft entwickelnde


wirtschaftliche Globalisierung und die Europäische Integration, die ohne umfas-
sende Kontrollmöglichkeiten der nationalen Regierungen auf den nationalstaatli-
chen Wohlfahrtsstaat wirken können, lagen noch weitgehend außerhalb der poli-
tischen Vorstellungskraft.
Sucht man nach Veränderungen des Modells, muss man prüfen, ob, wann
und wie sich diese Kennzeichen des Modells verändert haben (siehe Seite
167ff.). Will man zudem wissen, ob diese Veränderungen auch adäquate Reak-
tionen auf die aktuellen Herausforderungen des Modells sind, muss man diese
Herausforderungen zunächst eingehender betrachten.

Die Herausforderungen des lohnarbeitszentrierten Sozialversicherungs-


staates
Seit Mitte der 1970er Jahre sorgten insbesondere abgeschwächtes und diskonti-
nuierliches wirtschaftliches Wachstum, Veränderungen des Arbeitsmarktes und
eine Modernisierung der Geschlechterrollen für zunehmende Funktionsdefizite
und Finanzierungsprobleme der lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik. Etwas spä-
ter gesellten sich zu diesen Entwicklungen infolge des europäischen Integrati-
onsprozesses Souveränitätsverluste sowie zukünftige Finanzierungsrisiken durch
mögliche Einnahmeverluste und Ausgabensteigerungen des nationalen Wohl-
fahrtsstaates auch in der Sozialpolitik. Diese Problemlagen lassen sich in den
drei großen, eingangs skizzierten Herausforderungen des traditionellen wohl-
fahrtsstaatlichen Arrangements zusammenfassen. Ich werde sie nun im Einzel-
nen diskutieren.

Finanzierungsprobleme
Zu Finanzierungsproblemen kommt es im lohnarbeitszentrierten Sozialversiche-
rungsstaat vor allem dann, wenn die Beitragszahlungen nicht mehr ausreichen,
um die Leistungsansprüche zu befriedigen. Das kann verschiedene Gründe ha-
ben: In Deutschland sind hohe Arbeitslosigkeit, Wandel der Erwerbsformen und
demographische Veränderungen die wichtigsten Faktoren.
Über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland müssen nicht
mehr viele Worte verloren werden. Bis jüngst war seit mehr als drei Jahrzehnten
von Wirtschaftskrise zu Wirtschaftskrise ihr stufenförmiger Anstieg zu beobach-
ten. Zwischenzeitlich sank die Arbeitslosigkeit zwar immer wieder ein wenig ab,
erreichte aber nicht mehr das jeweilige Niveau vor der Krise: Mitte der 1970er
Jahre stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt schnell
über die Millionengrenze, zu Beginn der 1980er Jahre wurde die Zweimillionen-
154 Peter Bleses

grenze genommen, Mitte der 1990er Jahre im vereinten Deutschland zuerst die
Dreimillionengrenze und kurz darauf die Viermillionengrenze, 2005 wurde die
Fünfmillionengrenze nur knapp verfehlt. Seitdem sank die Zahl der Arbeitslosen
– im Vergleich der vergangenen Jahrzehnte – sehr schnell. Im Jahre 2007 betrug
der Jahresdurchschnitt knapp 3,8 Millionen und damit über eine Millionen Ar-
beitslose weniger als noch zwei Jahre zuvor. Im Jahre 2008 lag der Jahresdurch-
schnitt deutlich unter dreieinhalb Millionen. 4 Das ist sicher ein Erfolg. Aber er
sollte nicht überbewertet werden. Zum einen bleibt der Durchschnitt über drei
Millionen. Zum anderen zeigt sich im Zuge der Finanzkrise seit Ende 2008 be-
reits eine deutliche Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Damit wird der
Abbau der Arbeitslosigkeit bei mehr als drei Millionen Arbeitslosen zum Still-
stand kommen und mit gewisser zeitlicher Verzögerung von diesem sehr hohen
Sockel erneut ansteigen.
Von hoher Arbeitslosigkeit ist vor allem die Arbeitslosenversicherung be-
troffen. Denn hier schlägt sich Arbeitslosigkeit direkt in höheren Ausgaben und
geringeren Einnahmen nieder. Nicht ganz so unvermittelt, aber immer noch stark
ist auch die Rentenversicherung betroffen, da für Arbeitslose im Arbeitslosen-
geldbezug geringere Beiträge als von Beschäftigten abgeführt werden. Von Ar-
beitslosen ohne Leistungsanspruch werden überhaupt keine Beiträge abgeführt.
Es ist eigentlich bemerkenswert, dass es die Arbeitslosenversicherung angesichts
der auf ihr lastenden Anforderungen bereits mehr als dreißig Jahre geschafft hat,
ihre eigene Existenz zu sichern. Das ging oftmals nicht ohne Zuschüsse aus
Steuergeldern. Es ging aber vor allem nicht ohne Veränderungen des Leistungs-
rechts und der Beitragshöhen. Dazu später mehr. Derzeit steht der Haushalt der
Arbeitslosenversicherung erstens aufgrund der gesunkenen Arbeitslosigkeit und
zweitens aufgrund einer geringen Quote von Beziehern von Arbeitslosengeld I
relativ gut da.
Da der Anspruch auf Arbeitslosengeld I zeitlich eng befristet ist, macht sich
anhaltende Arbeitslosigkeit und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit nach ei-
nem gewissen Zeitraum auch in den nachgelagerten, steuerfinanzierten Siche-
rungsinstitutionen durch einen starken Ausgabenanstieg bemerkbar: früher ins-
besondere in der Sozialhilfe (vorwiegend kommunal finanziert) und der Arbeits-
losenhilfe (Bundesmittel), heute im Arbeitslosengeld II und dem Sozialgeld
(vorwiegend Bundesmittel), die seit 2005 als neue Grundsicherung für Arbeit-
suchende die Sozialhilfe für Erwerbsfähige und die Arbeitslosenhilfe ersetzen.
Ein weiteres großes Finanzierungsproblem für die lohnarbeitszentrierten
Sozialversicherungen stellt der Wandel der Erwerbsformen von vollzeitiger, un-
befristeter und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei einem Arbeit-

4 Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit siehe BMAS 2007, Tab. 2.10 und Bundesagentur für
Arbeit 2008, Tab. 07.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 155

geber zu Erwerbsformen dar, die von diesem Normalarbeitsmodell abweichen.


Neue Erwerbsformen (Teilzeitbeschäftigung, befristete Beschäftigung usw.)
entsprechen in der Regel einem oder sogar mehreren dieser Kriterien nicht. Vor
allem aber sind sie oft nicht sozialversicherungspflichtig oder führen nur zu
geringen Beitragshöhen beziehungsweise diskontinuierlichen Beitragsleistungen.
Geringere Beitragshöhen resultieren aus allen Formen teilzeitiger Beschäfti-
gungsverhältnisse; diskontinuierliche Beitragsleistungen sind Folge befristeter
Beschäftigungsverhältnisse; ganz ausbleibende Beiträge resultieren aus nicht
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sowie aus den meis-
ten Formen selbstständiger Tätigkeit.
Folgende Daten verdeutlichen den Umfang dieser Veränderungen: Die Zahl
sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sank von 1992 bis 2006 von 29,3
Millionen auf 26,4 Millionen (wobei die Entwicklung im jüngsten Wirtschafts-
aufschwung wieder positiv war). Spiegelbildlich stieg die Zahl der nicht sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten von 8,7 auf 12,8 Millionen. 6,3 Millionen
Menschen waren 2006 geringfügig beschäftigt, 4,5 Millionen Erwerbstätige (ins-
besondere Frauen) übten eine Teilzeitbeschäftigung aus und ca. 4 Millionen
Personen (oder ca. 11% aller Erwerbstätigen) waren selbstständig tätig, davon
ca. zwei Drittel alleinselbstständig.5
Die Finanzierungsrisiken aus dem Wandel der Erwerbsformen betreffen ins-
besondere die Rentenversicherung, da sie auf einer generationenübergreifenden
Umlagefinanzierung beruht. Das bedeutet, dass derzeit – und in Zukunft noch
mehr – die aufgrund meist kontinuierlicher Beitragsbiographien hohen Leistungs-
ansprüche der „Normalarbeiter“-Generation durch die Beiträge einer Generation
befriedigt werden müssen, die zu hohen und kontinuierlichen Beitragszahlungen
viel weniger in der Lage oder bereit ist. Der Rückgang sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung bedeutete allein in der Rentenversicherung im Jahre
2006 im Vergleich zum Jahre 1992 einen geschätzten Beitragsverlust von ca. 15
Milliarden Euro; bei gleichbleibendem Beitragsvolumen hätte der Beitragssatz
heute ca. 1,7 Prozentpunkte niedriger liegen können (Fachinger 2007: 11).
Auch die dynamische Entwicklung des Niedriglohnsektors dürfte der Ren-
tenversicherung deshalb Probleme bereiten. Denn von Niedriglöhnen werden
keine oder nur sehr geringe Beiträge abgeführt. Zwar resultieren daraus langfris-
tig auch sinkende Leistungsansprüche, aber sie taugen gegenwärtig und in naher
Zukunft zur Finanzierung der Leistungen an die gegenwärtige Rentnergeneration
leider auch nicht viel. Insgesamt stieg die Quote jener, die im Niedriglohnsektor

5 Alle Zahlen aus Fachinger 2007: 8ff. Zu den verschiedenen Formen der Alleinselbstständig-
keit vgl. Bleses 2008. Vor allem die Alleinselbstständigkeit im Dienstleistungssektor nimmt
zu, die mit traditionellen Formen der Selbstständigkeit (Ärzte, Anwälte usw.) nur noch wenig
gemein hat und ein hohes Prekaritätspotenzial besitzt.
156 Peter Bleses

beschäftigt waren, von 1995 bis 2006 von 15% auf 22,2%. Das war ein Zuwachs
von 43% in elf Jahren. Die Gesamtzahl der im Niedriglohnsektor Beschäftigten
betrug 2006 ca. 6,5 Millionen (Kalina, Weinkopf 2008: 4).
Die Lücke zwischen Beitrags- und Leistungsvolumen in der Rentenversi-
cherung wird durch die demographische Entwicklung weiter verschärft. Das
Problem ist mittlerweile hinreichend debattiert worden (siehe zum Beispiel
Ganßmann 2000: 132ff.; Marschallek 2004) und muss daher hier nicht erneut mit
Daten veranschaulicht werden (aktuell: Statistisches Bundesamt 2006). Auch
wenn sich nicht verlässlich klären lassen wird, wie groß die Belastungen der
Beitragszahler in den Spitzenzeiten des ‚Rentner-‘‚ oder besser ‚Rentenberges‘
sein werden – sehr viel hängt beispielsweise von der Entwicklung der Erwerbstä-
tigkeit und des Leistungssystems ab – es ist jedenfalls einigermaßen sicher, dass
die finanziellen Aufwendungen hoch sein werden.

Sicherungsprobleme
Die zur finanziellen Stabilisierung der Rentenversicherung und zur Begrenzung
des Beitragssatzes ergriffenen Maßnahmen haben die Lohnersatzrate der Ren-
tenversicherung erheblich abgesenkt. Interessant ist nun vor allem das Zusam-
mentreffen von abgesenktem Sicherungsziel in der Rentenversicherung und der
wachsenden Zahl derer, die – wie oben geschildert – kein Normalarbeitsverhält-
nis mehr erreichen können. Hier treffen dann niedrige Lohnersatzraten mit ge-
ringen Beitragshöhen und kurzen Versicherungszeiten zusammen. Das Ergebnis
kann kein lebensunterhaltssichernder Anspruch mehr sein. Das bedeutet, dass es
noch mehr als in der Vergangenheit zu einer Verschiebung des ursprünglich
angestrebten Sicherungsarrangements kommen wird: Die soziale Absicherung
neben oder anstelle der Sozialversicherungen wird vom Ausnahme- zum Nor-
malfall. Und davon sind – nach wie vor – vor allem Frauen betroffen, denn die
vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Erwerbsformen sind vielfach von
Frauen dominiert (insbesondere die geringfügige und die sozialversicherungs-
pflichtige Teilzeitbeschäftigung). Die Steigerung der Frauenerwerbsquote ergab
sich in großen Teilen aus Nicht-Normalarbeitsverhältnissen.
Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit zeigt das bereits deutlich: Im Rechts-
kreis des SGB III, also der Sozialversicherung mit dem Arbeitslosengeld I als
Hauptleistung, wurden im August 2008 von den knapp 3,2 Millionen Arbeitslo-
sen 965.000 oder 30% betreut; im Rechtskreis des SGB II, also der steuerfinan-
zierten Grundsicherung mit dem Arbeitslosengeld II als Hauptsicherung, wurden
ca. 2,23 Millionen oder 70% betreut (Bundesagentur für Arbeit 2008: 13). Der
Bedeutungsverlust des Arbeitslosengeldes im Vergleich zu den steuerfinanzier-
ten Hilfeleistungen ist ein langfristiger Trend und zeichnete sich schon zu Zeiten
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 157

der Arbeitslosenhilfe ab (vgl. Bleses, Seeleib-Kaiser 2004: 54). Für die aus dem
Arbeitslosengeld I ausgegrenzten Arbeitslosen resultiert daraus ein Absinken
ihrer möglichen Sicherungsansprüche, weil das Arbeitslosengeld II nicht mehr
den Anspruch der Lebensstandardsicherung, sondern nur noch den einer Lebens-
unterhalt sichernden Basisabsicherung hat.
Für die ca. 6,5 Millionen Beschäftigten im Niedriglohnbereich (2006) wer-
den die Sozialversicherungen weder im Alter noch bei Arbeitslosigkeit ausrei-
chende Leistungen bereitstellen, weil die individuelle Beitragsleistung dazu nicht
ausreichen wird. Während das Arbeitslosengeld eine Nettolohnersatzquote von
67% für Arbeitslose mit Kindern und 60% für Arbeitslose ohne Kinder vorsieht,
strebt die Rentenversicherung – 45 Beitragsjahre vorausgesetzt – für das Jahr
2021 ein Versorgungsniveau von 46,1% und für das Jahr 2030 von 43% vor
Steuern an; 2007 lag dieses Niveau noch bei 51% (Rentenversicherungsbericht
2007: 39). Während ein Durchschnittsverdiener heute ca. 28 Beitragsjahre benö-
tigt, um den Grundsicherungsbedarf durch die gesetzliche Rentenversicherung in
Höhe 664 Euro im Monat zu decken, werden es 2030 nach heutigen Werten (also
ohne weitere Niveauabsenkungen) 34 Jahre sein. Bei 75% des Durchschnittsent-
gelts benötigt er heute gut 37 Jahre, 2030 werden es 45 Jahre sein (Steffen
2008b: 3).

Souveränitätsprobleme
Obwohl die Europäische Integration voranschreitet, gibt es nach wie vor keinen
europäischen Wohlfahrtsstaat beziehungsweise keine explizite von der Europä-
ischen Union betriebene Sozialleistungspolitik. Der nationale Wohlfahrtsstaat ist
daher auch in der Europäischen Union noch weitgehend intakt geblieben. Dazu
kommt der überwiegende Wunsch der Bevölkerung der Mitgliedsländer der EU,
Sozialpolitik in nationalstaatlicher Kompetenz zu belassen (vgl. Mau 2003, Eu-
ropäische Kommission 2008: 109). Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass
es sich eher noch um eine intakte nationalstaatliche Hülse des Wohlfahrtsstaates
handelt, die nicht aufgelöst, sondern ausgehöhlt wird. Dazu tragen vor allem die
veränderten, durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) garantierten Wettbe-
werbsregeln und die Mobilität von Personen, Kapital, Arbeit und Dienstleistun-
gen bei.
Das führt zu Veränderungen auf der Einnahmen- wie der Ausgabenseite des
nationalen Wohlfahrtsstaates. Die Einnahmenseite wird vor allem durch die
Mobilität des Kapitals tangiert. Die freie Wahl des Unternehmensstandortes hat
insbesondere die wohlfahrtstaatlich induzierten Lohnnebenkosten (insbesondere
die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge) zum Dauerthema werden lassen. Zu
hohe Lohnnebenkosten – so das Argument – trieben die Unternehmen ins Aus-
158 Peter Bleses

land. Eine Senkung dieser Kosten wird deshalb als unmittelbar wirksam für die
Sicherung von Arbeitsplätzen angesehen, führt aber zu Einnahmeverlusten der
Sozialversicherungen. Die Ausgabenseite wird durch die Rechtsprechung des
EuGH zum Beispiel hinsichtlich der Portabilität von Leistungen beziehungswei-
se Leistungsansprüchen zwischen EU-Staaten beeinflusst.
Der nationale Wohlfahrtsstaat hat sich deshalb immer mehr nach Regeln zu
richten, die er nicht mehr selbst setzen kann. Die zunehmende Europäisierung
schränkt die souveräne Handlungsfähigkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates ein:
Er kann weder die Leistungserbringer noch die Gruppe der Leistungsberechtig-
ten abschließend festlegen; dadurch kommen Probleme der Kontrollierbarkeit
von Ausgaben und Leistungserbringung einerseits und unkalkulierbare finanziel-
le Risiken andererseits auf ihn zu. Der EuGH spielt in dieser Entwicklung auf-
grund seiner rechtsschöpferischen Kraft eine zentrale Rolle als sozialpolitischer
Motor der europäischen Integration – und zwar unabhängig davon, ob er seine
Entscheidungen auf soziale Aspekte oder auf die Freiheit von Wettbewerb,
Dienstleistungen und Arbeitskräften abstellt (vgl. Münch 2008).
An wen richten sich die Herausforderungen durch die europäische Integra-
tion besonders? Die Sozialversicherungen sind vor allem im Bereich der sozialen
Dienstleistungen und der Sachleistungen, speziell im Bereich der Gesetzlichen
Krankenversicherung betroffen. Denn hier sind bereits viele wettbewerbliche
Elemente eingeführt worden, die den EuGH in seiner wettbewerbsbezogenen
Rechtsprechung dazu veranlasst haben und zukünftig noch mehr dazu veranlas-
sen könnten, auch (private) Konkurrenz zu den nationalen Leistungsanbietern
von jenseits der Grenzen zuzulassen. Die gesetzliche Krankenversicherung
müsste dann auch für die (Dienst-)Leistungen dieser Anbieter aufkommen (Mau
2008: 95ff., 104).
Bei der Einkommensersatzfunktion sind die Sozialversicherungen bislang
weniger betroffen, wie eine Reihe von Entscheidungen des EuGH etwa im Be-
reich der Arbeitslosenversicherung gezeigt hat (Mau 2008: 74ff.). Hier gibt es
Probleme eher bei den voraussetzungslosen Grundsicherungsleistungen, die ohne
jede Form der Vorleistungsbindung sind. Der EuGH bezieht sich hier nicht auf
die Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit, sondern strebt explizit sozialpoli-
tische Ziele an, indem er „erstmalig auch die solidarische Verpflichtung der Mit-
gliedstaaten gegenüber allen EU-Bürgern anerkennt“ (Mau 2008: 115). Zwar
darf sich niemand nach Deutschland begeben, nur um Grundsicherungsleistun-
gen zu beanspruchen. Aber bereits nach relativ kurzer Zeit der Erwerbstätigkeit
oder für die Suche nach einer Erwerbstätigkeit steht ein (zumindest dreimonati-
ger) Anspruch zu. Souveränitätsverluste und finanzielle Risiken drohen deshalb
also nicht bei den Einkommensleistungen der Sozialversicherungen, sondern
eher bei den Grundsicherungen.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 159

Die politischen Reaktionen: Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik 1972 bis 2008


Wie hat sich der deutsche Wohlfahrtsstaat zu den geschilderten Herausforderun-
gen verhalten? Seit dem Ende des ‚goldenen Zeitalters‘ des nationalen Wohl-
fahrtsstaates sind in allen Sozialpolitikfeldern zum Teil umfassende Veränderun-
gen der Leistungssysteme vorgenommen worden, um die Herausforderungen
angehen zu können. Eine ausführliche Schilderung der Policy-Entwicklung auf
den Feldern der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik der vergangenen Jahrzehnte
könnte allein mehrere Bände füllen. Das zwingt zu Beschränkungen. Ich kon-
zentriere mich deshalb im Folgenden auf zentrale Veränderungen in der Ein-
kommensersatzfunktion. Sie sollen in der anfangs aufgezeigten Dreigliederung
der charakteristischen Kennzeichen des deutschen Wohlfahrtsmodells systemati-
siert und zusammengefasst werden: 1) Sicherungsziel (und Leistungsniveaus), 2)
Adressaten und 3) Finanzierungs- und Regulierungsweise (insbesondere Grad
der Lohnarbeitszentrierung, Beitrags- vs. Steuerfinanzierung).6

Arbeitsmarktpolitik
In der Arbeitsmarktpolitik bildet das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969
die Referenzfolie, vor der die späteren Veränderungen gespiegelt werden müs-
sen. Im AFG übernahm der Staat beziehnungsweise die Bundesanstalt für Arbeit
eine weitgehende Verantwortung für die Absicherung Arbeitsloser sowie deren
Reintegration in den Arbeitsmarkt (vgl. Kühl 1982; Bleses, Seeleib-Kaiser 2004;
Bleses, Rose 1998). Hauptinstrumente der Einkommenssicherung bei Arbeitslo-
sigkeit waren das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe. Während das Ar-
beitslosengeld eine rein aus Beiträgen finanzierte Versicherungsleistung war,
stellte die aus dem Bundeshaushalt steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe eine Mi-
schung von Vorleistungsbezug und Bedürftigkeitsabhängigkeit dar: Sie wurde
entweder im Anschluss an das Auslaufen des Arbeitslosengeldes (Anschluss-
Arbeitslosen-hilfe) oder dann gewährt, wenn man die strengeren Voraussetzun-
gen des Arbeitslosengeldes nicht erfüllen konnte (originäre Arbeitslosenhilfe). In
beiden Fällen wurde die Bedürftigkeit geprüft; der Leistungsanspruch richtete
sich aber nicht nach Bedarfskriterien, sondern wurde als Lohnersatzrate am vor-
angegangenen Einkommen bemessen (zur ‚Zwittergestalt‘ der Arbeitslosenhilfe
vgl. Bleses 1994a).

6 Ausführliche Schilderungen der Entwicklungen auf diesen Sozialpolitikfeldern (und zusätzlich


der Familienpolitik) sind bei Bleses, Seeleib-Kaiser (2004) zu finden. Sie haben ebenso als
Quelle gedient wie auch die ausgesprochen hilfreiche „Sozialpolitische Chronik“ von Johan-
nes Steffen (2008a) aus der Arbeitnehmerkammer Bremen.
160 Peter Bleses

Veränderungen des Sicherungsziels


1975 wurde die Lohnersatzrate des Arbeitslosengeldes im Zusammenhang mit
der Ausgliederung der Familienzuschläge aus dem AFG noch auf 68% des vor-
angegangenen Nettoentgelts erhöht. Danach wurden die Lohnersatzraten jedoch
nur noch abgesenkt.

Tabelle 1: Entwicklung der Leistungssätze in der Arbeitslosenversicherung

Arbeitslosengeld Arbeitslosenhilfe
1975 68% 58%
68% für Eltern 58% für Eltern
1983
63% für Kinderlose 53% für Kinderlose
67% für Eltern 57% für Eltern
1994
60% für Kinderlose 53% für Kinderlose

Einen erheblichen Einfluss auf das Leistungsniveau der folgenden zwei Jahr-
zehnte hatte das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) aus dem
Jahre 1981 (Seeleib-Kaiser 2001: 134). Das AFKG nahm Einmalzahlungen (wie
Weihnachts- und Urlaubsgeld) und Überstundenentgelte aus der Bemessung des
Leistungsanspruchs heraus, obwohl diese Zahlungen der Beitragspflicht unterla-
gen. Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht diese Praxis als verfassungs-
widrig eingestuft hatte, wurden die Einmalzahlungen ab 2000 (gesetzlich festge-
schrieben seit 2001) bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes wieder berück-
sichtigt. Bei der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe blieben sie weiterhin ohne
Berücksichtigung.
Im Jahre 2005 kam es mit der Einrichtung der Grundsicherung für Arbeit-
suchende zu einer Verschmelzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Be-
reich der Hilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Personen. Für viele Ar-
beitslosenhilfe-Empfänger bedeutete die Einführung der Grundsicherung, die
sich ungefähr auf dem Niveau der vorangegangenen Sozialhilfe bewegte, eine
erhebliche Verschlechterung des vorangegangenen Leistungsniveaus. Für alle
zukünftigen Langzeitarbeitslosen, die aus dem Arbeitslosengeld-Anspruch he-
rausfallen, ergibt sich eine deutliche Einschränkung ihres vorher möglichen
Sicherungsniveaus. Schon die Rücknahme der Lohnersatzraten beim Arbeitslo-
sengeld in den 1980er und 90er Jahren hatte Zweifel am Ziel der Lebensstan-
dardsicherung aufkommen lassen. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende zeigt
jetzt explizit die Orientierung an einer Mindestsicherung.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 161

Adressaten
In der Arbeitslosenversicherung kam es erst jüngst zu einem doppelten Ausbau
des Kreises der einbezogenen Personen: Seit dem 1. Februar 2006 können sich
auch Selbstständige freiwillig in der Arbeitslosenversicherung versichern. Sie
müssen sich allerdings binnen einer Frist von einem Monat nach Gründung der
Selbstständigkeit für die Versicherungspflicht entscheiden. Die Versicherungs-
möglichkeit für Selbstständige ist zunächst bis zum Ende des Jahres 2010 befris-
tet. Die öffentlich wenig beachtete Regelung, die Bestandteil des Dritten Geset-
zes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt war, steht im Zusammenhang
mit der Förderung der so genannten Ich-AG. Das Interessante an der Arbeitslo-
senversicherung für Selbstständige ist die weitgehende Entkopplung von Beitrag
und Leistung. Die Beiträge werden unabhängig vom tatsächlichen Einkommen
nach festen Sätzen erhoben (2008: 20,50 Euro in den alten und 17,32 Euro in den
neuen Bundesländern), die Leistungen hingegen variieren unabhängig vom Bei-
trag nach den Qualifikationsstufen der Selbstständigen: Sie pendeln zwischen ca.
550 Euro in der niedrigsten Stufe bis knapp 1.380 Euro in der höchsten Qualifi-
kationsstufe in den alten Bundesländern.
Auch die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist als eine er-
hebliche Erweiterung des in die Arbeitsförderung einbezogenen Personenkreises
anzusehen. Zwar werden die Leistungsberechtigten nicht in den Bereich der
Arbeitslosenversicherung aufgenommen; für sie stehen aber die Instrumente der
Arbeitsförderung zur Verfügung, und sie sind in den anderen Zweigen der Sozi-
alversicherung versichert. Dies stellt eine bemerkenswerte Verbesserung für alle
jene dar, die zuvor keine Arbeitslosenhilfe, sondern nur Sozialhilfe bezogen
hatten. Die Bezeichnung ‚Grundsicherung für Arbeitsuchende‘ ist allerdings
irreführend, denn sie deutet nur auf einen Teil der einbezogenen Personen hin:
Neben den Arbeitsuchenden werden in die Grundsicherung auch jene einbezo-
gen, die erwerbstätig sind, mit ihren Erwerbseinkommen aber unterhalb der
Bedarfsgrenzen der Grundsicherung liegen.
Sieht man von diesen Erweiterungen des Personenkreises ab, war die Ent-
wicklung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe hinsichtlich der er-
fassten Personen wenig eindeutig: Ausweitungen der Leistungsberechtigungen
standen Einschränkungen gegenüber. Bei der Arbeitslosenhilfe ist vor allem die
im Jahre 2000 umgesetzte Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe zu nen-
nen, die jene aus der Arbeitsförderung in die Sozialhilfe überwies, die die höhe-
ren Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld nicht erfüllten. Beim Arbeitslo-
sengeld haben die zwischen 1985 und 1987 zunächst vorgenommene Auswei-
tung der maximal möglichen Bezugsdauer und deren radikale Kürzung ab dem
Jahre 2004 den einbezogenen Personenkreis jeweils stark verändert. Die 2008
erfolgte erneute Ausdehnung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I (wie die
162 Peter Bleses

Leistung jetzt in Abgrenzung zum Arbeitslosengeld II, der Grundsicherung für


Arbeitsuchende, heißt) (siehe folgende Tabelle 2) muss im Zusammenhang mit
dem relativen Bedeutungsverlust des Arbeitslosengeld I im Vergleich zum Ar-
beitslosengeld II gesehen werden, der sich bei Langzeitarbeitslosigkeit zwangs-
läufig ergibt.

Tabelle 2: Entwicklung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes*

1985 18 Monate ab dem vollendeten 49. Lebensjahr


16 Monate ab dem vollendeten 44. Lebensjahr
1986 20 Monate ab dem vollendeten 49. Lebensjahr
24 Monate ab dem vollendeten 54. Lebensjahr
18 Monate ab dem vollendeten 42. Lebensjahr
22 Monate ab dem vollendeten 44. Lebensjahr
1987
26 Monate ab dem vollendeten 49. Lebensjahr
32 Monate ab dem vollendeten 54. Lebensjahr
2004 18 Monate ab dem vollendeten 55. Lebensjahr
15 Monate ab dem vollendeten 50. Lebensjahr
(bei 30 Monaten Vorversicherungszeit)
18 Monate ab dem vollendeten 55. Lebensjahr
2008
(bei 36 Monaten Vorversicherungszeit)
24 Monate ab dem vollendeten 58. Lebensjahr
(bei 48 Monaten Vorversicherungszeit)

* Arbeitslose, die die jeweiligen Altersgrenzen unterschreiten, erhalten weiterhin (wie alle Arbeits-
losen vor 1985) maximal 12 Monate Arbeitslosengeld

Finanzierungs- und Regulierungsweise


Die Arbeitslosenversicherung hatte bei den Lohnersatzleistungen bis zum Jahre
2005 ihren starken Bezug auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte behalten.
Seit Öffnung der Arbeitslosenversicherung für Selbstständige im Jahre 2006 gilt
das nicht mehr. Allerdings – und mit der freiwilligen Versicherung von Selbst-
ständigen vielleicht im Zusammenhang stehend – hat sich die Arbeitslosenversi-
cherung hinsichtlich der Eingliederung der Arbeitslosen in die Erwerbsarbeit
schon längst von alten Fesseln gelöst. Seit vielen Jahren werden von der Bundes-
agentur für Arbeit Gelder bereit gestellt, um die Gründung einer Selbstständig-
keit und damit nicht beitragspflichtiger Erwerbsarbeit durch Arbeitslose zu för-
dern. Das bekannteste Beispiel war die so genannte Ich-AG, deren Förderung
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 163

zwar mittlerweile ausgelaufen ist, was aber nicht zu einer generellen Einstellung
der Förderung durch Existenzgründerzuschüsse geführt hat.
Verlässt man den engeren Kreis der Arbeitslosenversicherung und erweitert
den Blick auf die gesamte Arbeitsförderung, ist vor allem die Grundsicherung
für Arbeitsuchende ein Beispiel für die Lösung von ehemaligen Vorstellungen
sozialversicherungszentrierter Absicherung. Die Grundsicherung für Arbeitsu-
chende ist – wie die oben genannten Zahlen belegen – zu einem der Hauptin-
strumente der Arbeitsförderung und der Absicherung bei Arbeitslosigkeit ge-
worden. Zudem unterstützt sie Erwerbstätige unabhängig davon, in welcher
Erwerbsform sie tätig sind. Beides zeigt, dass sich die Arbeitsmarktpolitik von
den Charakteristika eines lohnarbeitszentrierten Sozialversicherungsstaates in
weiten Teilen verabschiedet hat.

Rentenpolitik
Mit den Rentenreformen 1957 waren in der Gesetzlichen Rentenversicherung ein
ausgabenintensiver Expansionskurs und ebenso ein Orientierungsstandard be-
züglich ihres Sicherungsziels definiert worden: Die Anpassung der Rentenhöhen
richtete sich seit 1957 nach der Entwicklung der Bruttolöhne in den vorangegan-
genen (drei) Jahren. Das bedeutete, dass sich die Anpassung in der plötzlich
einsetzenden wirtschaftlichen Krise ab 1972/73 nicht an den aktuellen Reallöh-
nen orientierte, sondern an den hohen Steigerungsraten der Bruttolöhne vor der
Krise. Das Ziel der Gesetzlichen Rentenversicherung lautete: Lebensstandardsi-
cherung unter dynamischer Berücksichtigung der Steigerung des Lebensstan-
dards der Versicherten.

Sicherungsziel
Die Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung ist seit Ende der 1970er
Jahre dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber immer wieder versucht hat,
die Anpassung der Renten an die Entwicklung der Einkommen der Versicherten
zu unterlaufen. Seit Ende der 1980er Jahre steht auch ihr Sicherungsziel ständig
zur Debatte und ist vor allem in jüngster Zeit erheblich eingeschränkt worden.
Die gesetzlichen Eingriffe sind so zahlreich, dass hier nur wenige angesprochen
werden können.
Bereits die sozialliberale Koalitionsregierung verschob und deckelte die
Rentenanpassungen verschiedentlich zwischen 1977 und 1979 um zu verhindern,
dass sich die Rente dem starken Anstieg der Bruttolöhne entsprechend entwi-
ckelte (Nullmeier, Rüb 1993: 125). Die christlich-liberale Koalition führte dann
diese Maßnahmen 1983 und 1984 fort. Seit 1984 wurde nur noch die Entwick-
164 Peter Bleses

lung der Arbeitsentgelte im Kalenderjahr vor der Anpassung berücksichtigt.


Durch die sogenannte ‚Rentenreform 1992‘ (beschlossen im Jahre 1989) wurde
dann der Anpassungsmodus vollständig von der Brutto- auf die Nettolohnanpas-
sung umgestellt (bei Orientierung an der Entwicklung des Arbeitsentgelts im
Vorjahr).7
Die Rentenreform 1992 und die in der Folgezeit ergriffenen Maßnahmen
reichten jedoch nicht aus, den Beitragssatz angesichts der dauerhaft problemati-
schen wirtschaftlichen Entwicklung und vor allem der hohen Arbeitslosigkeit
niedrig zu halten. In den Jahren 1997 und 1998 stieg der Beitragssatz mit 20,3%
erstmalig auf über 20%. Die Bundesregierung wollte diesem Anstieg mit der
Rentenreform 1999 begegnen, die sowohl auf die zukünftigen Probleme der
demographischen Entwicklung reagieren als auch die aktuellen Rentenausgaben
beeinflussen sollte. Für das Rentenniveau waren folgende Maßnahmen zentral:
ƒ Einführung eines demographischen Faktors in die gesetzliche Rentenversi-
cherung, der die steigende Lebenserwartung berücksichtigt und entspre-
chend zu einer Absenkung des Rentenniveaus von ehemals 70% führt; eine
Untergrenze von 64% als Netto-Standardrentenniveau war jedoch einzuhal-
ten.
ƒ Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten wurden für Rentenzugänge ab dem
Jahre 2000 abgeschafft. Stattdessen waren Renten wegen voller beziehung-
sweise teilweiser Erwerbsminderung längstens für die Jahre bis zum Errei-
chen des 65. Lebensjahres vorgesehen. Bei voller Erwerbsminderung betrug
das Rentenniveau 100%, bei teilweiser Erwerbsminderung 50%.
Das Rentenreformgesetz 1999 wurde jedoch von der rot-grünen Koalition mit
dem ‚Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der
Arbeitnehmerrechte‘ zum Teil wieder revidiert. Das betraf insbesondere die
Einführung des Demographiefaktors. Diese Revision war auf die Jahre 1999 und
2000 befristet und unter den Vorbehalt gestellt, zu einer anderen Regelung im
Rahmen einer eigenen Rentenreform zu kommen.
Im Jahre 2001 trat dann die Neuregelung der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit in Kraft. Kernpunkte der Reform waren der Wegfall des zwei-
geteilten Systems aus Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten sowie die Neure-
gelung der verbleibenden so genannten Erwerbsminderungsrenten. Nur wer zum
Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reform das 40. Lebensjahr bereits vollendet
hatte, erhält auch in Zukunft eine Berufsunfähigkeitsrente, allerdings beträgt
diese nur noch die Hälfte und nicht mehr wie zuvor zwei Drittel der Erwerbs-
minderungsrente. Für alle jene, die zu diesem Zeitpunkt unter 40 waren und noch

7 Vgl. eingehend zur Rentenreform 1992 und der ihr vorausgehenden politischen Debatte Null-
meier, Rüb (1993).
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 165

keinen Anspruch geltend gemacht hatten, entfällt die Berufsunfähigkeitsrente der


gesetzlichen Rentenversicherung. Denn im Unterschied zu den bisherigen Rege-
lungen der Berufsunfähigkeit, bei denen die Fähigkeit beurteilt wurde, noch im
berufsspezifischen Arbeitsmarkt unterkommen zu können, wird jetzt generell nur
noch geprüft, ob beziehungsweise inwieweit eine Tätigkeit auf dem ‚allgemei-
nen‘ Arbeitsmarkt möglich ist. Dazu wurde eine zweigeteilte Erwerbsminde-
rungsrente eingeführt. Danach erhält eine volle Erwerbsunfähigkeitsrente, wer
weniger als drei Stunden am Tag arbeiten kann; wer zwischen drei und sechs
Stunden arbeiten kann, erhält eine halbe Erwerbsunfähigkeitsrente. Wer mehr als
sechs Stunden arbeiten kann, erhält keine Erwerbsunfähigkeitsrente. Die gesetz-
liche Rentenversicherung hatte sich damit aus dem beruflichen Statusschutz
verabschiedet.
Die Einführung der so genannten. „Riesterrente“ 2001/2002 brach dann
endgültig mit den tradierten Sicherungszielen. Sie hatte das Ziel, das zur Siche-
rung der Beitragssatzstabilität und zur Finanzierbarkeit der Rentenversicherung
sinkende Leistungsniveau der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversiche-
rung durch eine freiwillige, kapitalfundierte und steuerlich geförderte Zusatzren-
te auszugleichen (Marschallek 2004). Zeitgleich wurde die Hinterbliebenensi-
cherung verändert, eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter ab 2003
eingeführt und das Rentenniveau erneut abgesenkt:
ƒ Ab 2011 wird der Rentenanstieg weiter verlangsamt, so dass das Nettoren-
tenniveau von 70,7% im Jahre 2000 auf 64,3% im Jahre 2030 sinkt; da das
Nettorentenniveau allerdings neu definiert wird, beträgt es 2030 nach neuer
Berechnung 67,9%.
ƒ Die im Rahmen der Förderung privater Zusatzversorgung staatlich förde-
rungsfähigen Zusatzversorgungsprodukte bedürfen der staatlichen Zertifi-
zierung, die unter anderem besagt, dass Leistungen wenigstens in Höhe der
einbezahlten Beiträge garantiert sein müssen.
ƒ Eine bedarfsorientierte Grundsicherung ist seit dem 1. Januar 2003 eine
eigenständige, bedürftigkeitsabhängige Leistung außerhalb des Bundessozi-
alhilfegesetzes; diese Leistung steht allen über 65jährigen sowie dauerhaft
voll Erwerbsgeminderten ab dem 18. Lebensjahr zu, unabhängig davon, ob
sie eine Rente beziehen oder rentenberechtigt sind; um verschämter Alters-
armut bei alten Menschen zu begegnen, wird auf die Umsetzung der Unter-
haltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern verzichtet (Buhr 2003).
Aufgrund von Praxisproblemen wurde die Grundsicherung im Alter 2005 in
die Sozialhilfe (SGB XII) reintegriert. Sie behielt jedoch Sonderregelungen,
die sie im Vergleich zur ‚normalen‘ Hilfe im Lebensunterhalt verbessern
(zum Beispiel die jährliche Festlegung der Leistungshöhe ohne erneute Be-
166 Peter Bleses

dürftigkeitsprüfung, die Möglichkeit der Antragstellung über den Renten-


versicherungsträger).
ƒ Die Veränderungen bei den Hinterbliebenrenten beinhalteten vor allem eine
Absenkung des Versorgungsniveaus bei der Witwen-/Witwerrente von 60%
auf 55% und die gleichzeitige Einführung eines Zuschlags an persönlichen
Entgeltpunkten für Kinder, die der/die Hinterbliebene bis zur Vollendung
des dritten Lebensjahres erzogen hat.8 Das führt bereits bei einem Kind oft
zu einem Ausgleich des abgesenkten allgemeinen Versorgungsniveaus, ab
zwei Kindern werden die Erziehenden besser gestellt als nach alter Rechts-
lage.

Adressaten
1972 wurde die gesetzliche Rentenversicherung für neue Personengruppen
(Hausfrauen und einige Selbstständige, die bereits zuvor als Beschäftigte in der
Gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren) geöffnet. 1986 wurde das
Prinzip der Lohnarbeitszentriertheit der Rente mit der Anerkennung von Kinder-
erziehung als rentenbegründende Zeiten erstmalig systematisch durchbrochen
(Götting 1992). Diese Zeiten wurden anschließend zügig ausgebaut: Für Gebur-
ten ab 1992 werden 3 Jahre Kindererziehungszeiten rentenbegründend aner-
kannt. Während die Zeiten der Kindererziehung zunächst nur mit 75% des
Durchschnittsverdientes der Versicherten anerkannt wurden, stieg diese Quote
bis zum Jahr 2000 sukzessive auf 100% an, wobei diese Zeiten bis zur Beitrags-
bemessungsgrenze kumulativ mit Ansprüchen aus eigener Erwerbstätigkeit zu-
sammengerechnet werden.

Finanzierungs- und Regulierungsweise


Zwar ist die Rentenversicherung nach wie vor in ihrem Kern beitragsfinanziert
und gewährt die Leistungen im Umlageverfahren. Allerdings sind die Eingriffe
in die Lohnarbeitszentriertheit der gesetzlichen Rentenversicherung unüberseh-
bar. Das sind zum einen deren Öffnung für Selbstständige und zum anderen
insbesondere der sukzessive Ausbau der Anerkennung von Kindererziehungszei-
ten und damit von Leistungen außerhalb der Lohnarbeit. Hinzu kommen die
Abkehr von der gesetzlichen Rentenversicherung als alleiniger Institution zur
Gewährleistung der Lebensstandardsicherung mittels Beiträgen und ihre Ergän-

8 Im Rahmen des Vertrauensschutzes erhalten Personen, die vor dem 1. Januar 2002 geheiratet
haben und bei denen mindestens einer der Ehegatten vor dem 2. Januar 1962 geboren worden
ist, die alte Witwen-/Witwenrente.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 167

zung durch die kapitalgedeckte Riesterrente, die anders als die Gesetzliche Ren-
tenversicherung nicht einmal obligatorisch ist. Schließlich muss die Grundsiche-
rung im Alter als steuerfinanzierte Absicherung alter Menschen unabhängig von
Vorleistungen als weitere Einschränkung des Anspruchs der gesetzlichen Ren-
tenversicherung gesehen werden, vorrangige Sicherungsinstitution zu sein.
Durch die Grundsicherung im Alter werden Beiträge zur gesetzlichen Rentenver-
sicherung, die zu einem Rentenanspruch unterhalb des Grundsicherungsniveaus
führen, unsinnig.

Lohnarbeitszentrierter Sozialversicherungsstaat?
Bewertung der Anpassungsleistungen des deutschen Wohlfahrtsstaats
Komplexe Entwicklungen verbieten einfache Beurteilungen. Deshalb kann ich in
diesem Fazit ein ‚Sowohl-als-auch‘ nicht völlig vermeiden. Ich orientiere mich
zunächst an der Dreiteilung in der vorangegangenen Systematisierung der sozi-
alpolitischen Entwicklung (Sicherungsziele, Adressaten und Finanzierungs-
beziehungsweise Regulierungsweise), ziehe dann ein zusammenfassendes Fazit
zur Entwicklungsgeschichte und -richtung der Sozialpolitik, um anschließend
sagen zu können, ob der deutsche Wohlfahrtsstaat angemessen auf die Heraus-
forderungen reagiert hat, die Finanzierungs- und Sicherungsprobleme sowie der
Souveränitätsverlust durch die Europäische Integration an ihn stellen.
Hinsichtlich der Sicherungsziele (und Leistungsniveaus) zeigt sich in den
betrachteten Sozialpolitikfeldern ein deutlicher Trend, nämlich eine sukzessive
Absenkung über die vergangenen Jahrzehnte hinweg, die ergänzende Absiche-
rungen ebenso vorbereitet wie erforderlich gemacht hat. Das betrifft sowohl –
nach unten – die Einführung bedarfsdeckender Sicherungen als auch – nach oben
– die Einführung der Riester-Rente zur Absicherung eines höheren Sicherungs-
niveaus. Durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie jene im Alter und
bei Erwerbsunfähigkeit wird das Sicherungsniveau der Sozialversicherungen
ebenso wie bei der Riester-Rente allerdings nicht innerhalb der Sozialversiche-
rungen selbst, sondern durch besondere Leistungssysteme ergänzt.
Die neuen Grundsicherungen bedeuten eine Tendenz zur Universalisierung
der Sicherungsziele in der Arbeitsmarkt- und Alterssicherungspolitik. Eine sol-
che Universalisierungstendenz lässt sich auch bei den grundsicherungsberechtig-
ten Personengruppen feststellen. Die Grundsicherungen sind absolut vorleis-
tungsunabhängig und auch unabhängig davon, welchen Erwerbsstatus man vor
dem Leistungsbezug innehatte. Wie die Riester-Rente in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung aber zeigt, bietet die Universalisierung von Mindestsicherung
neuen Raum für Differenzierung nach oben für jene, die sich eine private Zu-
satzabsicherung leisten wollen und können. Privat werden sich aber nicht alle
168 Peter Bleses

zusätzlich absichern können, jedenfalls nicht in lohnendem Umfang (vgl. Steffen


2008b: 6f.).
Die Rentenversicherung hat durch die Einbeziehung von Eltern beziehung-
sweise Erziehungszeiten als rentenbegründende Zeiten, die damit der Lohnar-
beitsleistung gleichgestellt werden, zudem eine wichtige Neuerung im Vergleich
zur vorherigen Berücksichtigung von Familien vorgenommen: Statt eines vom
Ehepartner abgeleiteten Anspruchs können Elternteile, die sich der Kindererzie-
hung widmen, allein durch die Kindererziehung Ansprüche an die gesetzliche
Rentenversicherung erwerben.
Hinsichtlich der Finanzierungs- und Regulierungsweise haben sich in den
vergangenen Jahrzehnten gravierende Verschiebungen ergeben: Mag der Anteil
beitragsfinanzierter Sozialleistungen am Sozialbudget auch nach wie vor sehr
hoch sein und mögen die Beitragslasten für die Beitragszahler auch nach wie vor
groß sein, in Bezug auf die soziale Absicherung von Lebenslagen ist eine Drift
von den beitragsfinanzierten Versicherungen hin zu den steuerfinanzierten
Grundsicherungen unverkennbar. Damit geht die Lohnarbeitszentrierung auf den
Feldern der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik zurück. Auch die Förderung von
Selbstständigkeit, die (vorsichtige) Öffnung der Arbeitslosenversicherung für
Selbstständige sowie die Einbeziehung von Erziehungsleistungen in die Renten-
versicherung zeigen den tendenziellen Bedeutungsverlust der Lohnarbeitszent-
rierung.
Insgesamt bleibt damit für die Arbeitslosen- wie Rentenversicherung fest-
zuhalten, dass die charakteristischen Merkmale des lohnarbeitszentrierten So-
zialversicherungsstaates: Lebensstandardsicherung, vorleistungsbezogene und
beitragsfinanzierte Absicherung durch Sozialversicherungen sowie die Fixierung
auf die beitragspflichtige Beschäftigung (Lohnarbeit) mehr und mehr zurücktre-
ten gegenüber bedarfsdeckenden, vorleistungsfreien und steuerfinanzierten Ele-
menten, die die Sozialversicherungen ergänzen. Umgekehrt lässt sich aber auch
behaupten, dass die Lebensstandardsicherung durch Sozialversicherungen selbst
stärker vorleistungsorientiert ist als je zuvor. Durch die Absenkung der Leis-
tungsniveaus sind die Voraussetzungen für eine langfristig hohe Absicherung
stark gestiegen.
Wie lässt sich nun die Frage nach der Problemangemessenheit der Verände-
rungen beantworten? Hinsichtlich der Finanzierungsprobleme der Sozialversi-
cherungen erscheint eine Auslagerung sozialer Sicherung aus den Sozialversi-
cherungen heraus auf externe Sicherungsinstitutionen ein gangbarer Ausweg zu
sein, der die Sozialversicherungen in der Zukunft stark entlasten kann. Am wei-
testen wurde dieser Weg in der Rentenversicherung gegangen, noch nicht so weit
in der Arbeitslosenversicherung, in der sich der Lebensstandard noch nicht staat-
lich gefördert außerhalb der Arbeitslosenversicherung absichern lässt.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 169

Es ist allerdings zu bedenken, ob die Sicherung der Finanzierung der Sozi-


alversicherungen via Auslagerung der Sicherungsaufgaben nicht sehr bald die
Sozialversicherungen selbst in Frage stellen wird. Für alle Personen, die auf-
grund niedrig entlohnter oder anderweitig prekärer Erwerbsarbeit systematisch
nicht in der Lage sein werden, mit ihren Beiträgen in der Arbeitslosen- oder der
Rentenversicherung Ansprüche oberhalb ihres Grundsicherungsanspruchs zu
erwerben, stellt sich sehr schnell das Problem der Legitimität der Beitragsleis-
tungen und damit der Sozialversicherungen insgesamt. Warum soll jemand Bei-
träge für ein Sicherungsniveau entrichten, das er beitragsfrei ebenso gut errei-
chen kann? Die Beitragsmoral dürfte damit jedenfalls nicht gesteigert werden.
Die Grundsicherungen für Arbeitssuchende sowie im Alter und bei Er-
werbsunfähigkeit sind natürlich nicht nur als Antwort auf die Finanzierungspro-
bleme der Sozialversicherungen zu sehen. Sie sind auch eine Antwort auf die
zunehmenden Sicherungsprobleme, die sich insbesondere aufgrund der flexiblen
Arbeitswelt stellen. Die Grundsicherungen im Alter und bei Arbeitslosigkeit sind
eigentlich späte Realisierungen alter Forderungen einer armutsfesten Gestaltung
des Sozialversicherungssystems insbesondere seitens der Grünen und der SPD,
die bereits aus den 1980er Jahren stammen (Bleses 1994b; Nissen 1990). Zwar
tragen die jetzt eingerichteten Grundsicherungen nicht mehr den emphatischen
Charakter einer zukunftsgerichteten sozialpolitischen Innovation (Freiheit von
Armut und Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens jenseits von Arbeits-
zwängen sollten sie einmal sein), sondern stehen gerade als ‚Hartz IV‘ unter
kritischem Dauerbeschuss: Den einen sind die Leistungen zu einfach zu bekom-
men und zu hoch, den – meisten – anderen sind sie viel zu niedrig. Dennoch sind
sie eine Sicherungsinnovation ersten Ranges, die angesichts der herunterge-
schraubten Ziele der Sozialversicherungen unumgänglich geworden ist. Es lässt
sich deshalb kaum bestreiten, dass der Sozialstaat mit den Grundsicherungen
eine Antwort auf die durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verursachten
Probleme gefunden hat (vgl. Kronauer, Linne 2005; Struck 2006).
Auch die Anerkennung von Familienleistungen in der gesetzlichen Renten-
versicherung, die neben dem Elterngeld, dem Elternurlaub und dem Ausbau des
Kinderlastenausgleichs nur ein Element der neuen Familienpolitik während der
vergangenen Jahrzehnte war (vgl. Bleses, Seeleib-Kaiser 2004), ist eine Innova-
tion der Sozialpolitik und eine Reaktion auf veränderte Sicherungsbedarfe und
Lebenssituationen.
Ob der Sozialversicherungsstaat auch auf seine zunehmenden Souveräni-
tätsprobleme Antworten gefunden hat, kann hingegen bezweifelt werden (vgl.
Leibfried, Pierson 1995). Hinsichtlich der Souveränitätsverluste erscheinen die
Einkommensersatzleistungen nicht als das zentrale Problem der Sozialversiche-
rungen. Hier stehen eher die sozialen Dienste und die Sachleistungen im Vorder-
170 Peter Bleses

grund, da diese keine innereuropäischen Grenzen mehr kennen. Die an Vorleis-


tungen gebundenen Einkommensersatzleistungen der Sozialversicherungsleis-
tungen scheinen sogar noch relativ sicher gegenüber einer Ausnutzung ohne
Vorleistung. Hier stehen eher die steuerfinanzierten und an Bedürftigkeit gebun-
denen Grundsicherungen im Problemfokus. Sie sind es, die bei attraktivem Ni-
veau und geringen Bezugsvoraussetzungen Bedürftige aus dem europäischen
Ausland anziehen könnten und denen durch die Rechtsprechung des Europä-
ischen Gerichtshofes auch am ehesten ein solches Recht eingeräumt wird (vgl.
Mau 2008). Der Sozialstaat kann damit vielleicht das Niveau der an ihn gerichte-
ten Ansprüche senken, die Menge der an ihn gerichteten Ansprüche wird er da-
mit nicht unter Kontrolle bekommen können.
Sieht man vom Souveränitätsproblem ab, ist das Resümee jedoch eindeutig:
Der lohnarbeitszentrierte Sozialversicherungsstaat hat in der Vergangenheit
Antworten auf die an ihn gerichteten Anforderungen gegeben. Die gefundenen
Antworten werden nicht jedem gefallen und mit einigem Recht kann gefragt
werden, ob denn Grundsicherungen (auf geringem Niveau) alles sein können,
was der Sozialstaat in Zukunft einem großen Teil seiner Bevölkerung anzubieten
bereit und in der Lage ist. Aber es sind Antworten – und diese Antworten haben
ihn verändert. Der lohnarbeitszentrierte Sozialversicherungsstaat wird deshalb
nicht in kurzer Zeit vollständig verschwunden sein. Aber er spielt für immer
weniger Menschen noch eine Rolle.

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Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 173

Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Gebremste Europäisierung des Arbeitsmarkts
Sylke Nissen

Wie wenig andere Themen europäischer Politik berührt Arbeitnehmerfreizügig-


keit die drei von Heiner Ganßmann in dem Begriff Europäisierung zusammenge-
fassten Aspekte der wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Integration
„im Sinne a) des Bedeutungsverlustes nationalstaatlicher Abgrenzungen für Wirtschaftstrans-
aktionen, b) der Vereinheitlichung rechtlicher Regelungen und c) der zunehmenden Bedeutung
auf supranationaler Ebene getroffener Entscheidungen“ (Ganßmann 2009).

Die Debatte und Regelung der Freizügigkeitsfrage ist daher ein geeigneter
Gradmesser des politischen Integrationswillens in den Mitgliedstaaten der EU.
Die Haltung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist zugleich ein harter Test für den
Integrationswillen der EU-Bürger, weil über den Arbeitsmarkt Existenzfragen
geregelt werden (vgl. Ganßmann 1996) und angenommen werden kann, dass die
Leute (Vobruba 2009) ihre Interessen kennen und verfolgen. Man kann nun
erwarten, dass Politiker in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit zurückhal-
tend agieren, weil ihr Blick auf die Bevölkerungsmehrheit gerichtet ist, die durch
die vollständige Freizügigkeit im Zuge der Osterweiterung Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt befürchtet.
In den folgenden Abschnitten werde ich die Positionen zur Arbeitnehmer-
freizügigkeit näher untersuchen. Ich konzentriere mich in erster Linie auf die
Entwicklung in Deutschland, da hier (ähnlich wie in Österreich) die Frage der
vollständigen Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit intensiv diskutiert wor-
den ist. Zunächst werde ich die Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und
die in den EU-Mitgliedstaaten gewählten Varianten ihrer Einschränkung skizzie-
ren. Da für die Einschränkung der Freizügigkeit in der Regel mit Verweis auf ein
drohendes Migrationspotential argumentiert wurde, werde ich anschließend
Gründe für die Migration von Arbeitskräften in der EU sowie einige Schätzun-
gen von Wanderungsbewegungen in Folge der Osterweiterung darstellen. Die
folgende Analyse der parteipolitischen Diskussion über die Ausgestaltung der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird zeigen, wie die Erweiterungsdiskussion
politisch instrumentalisiert wurde. Abschließend werde ich auf die öffentliche
174 Sylke Nissen

Meinung eingehen, die unter anderem mit dem Eurobarometer erhoben wird.
Angesichts der erkennbaren Unterschiede zwischen politischer Elitenposition
und den Einstellungen der Bevölkerung muss jedoch angenommen werden, dass
die Position politischer Eliten von anderen Faktoren als der durchschnittlichen
Bevölkerungsmeinung beeinflusst wird.

Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Entwicklung und Struktur


Eigentlich ist alles klar: „Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer gewährleistet.“ (EG Vertrag, Artikel 39 Abs. 1) Und dies ist nicht
erst der Fall, seit im Vertrag von Maastricht 1992 die vier Grundfreiheiten des
Binnenmarktes verankert wurden. Bereits bei der Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft wurde 1957 die Herstellung der Freizügigkeit der Ar-
beitnehmer „spätestens bis zum Ende der Übergangszeit“ in Aussicht gestellt1
und
„die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung
der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige
Arbeitsbedingungen“ (EWG-Vertrag, Artikel 48)

fixiert. Wenige Jahre nach der Unterzeichnung des Gründungsvertrags legte der
Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1961 mit der Verordnung Nr. 15
die Grundlagen der Arbeitnehmerfreizügigkeit fest und schuf für alle Mitglied-
staaten unmittelbar geltendes Recht. Danach hatte jeder Arbeitnehmer eines
Mitgliedstaates das Recht, nach Ablauf einer Vorrangfrist für inländische Ar-
beitnehmer von maximal drei Wochen nach Registrierung der offenen Stelle in
einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung auszuüben (vgl.
Werner 1973: 327). 1964 schaffte die EWG den Vorrang inländischer Bewerber
ab und sprach Arbeitnehmern ein grundsätzliches Recht auf Arbeitserlaubnis in
allen Mitgliedstaaten zu (Verordnung Nr. 38/64/EWG2). Weitere vier Jahre spä-
ter und mehr als ein Jahr vor dem geplanten Ende der Übergangsfristen wurde
die Bindung der Freizügigkeitsregelung an die bei den Arbeitsämtern registrier-
ten offenen Stellen aufgehoben und jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates
erhielt den gleichen Anspruch auf Zugang zu verfügbaren Stellen wie ein Ange-
höriger des Staates, in dem die Beschäftigungsmöglichkeit angeboten wurde.
Nur eine „Störung auf dem Arbeitsmarkt“ und deren Folgen können seitdem
dieses Recht noch einschränken. Eine Arbeitserlaubnis ist nicht mehr erforder-
lich und der Vorrang vor Arbeitnehmern aus Drittstaaten wird explizit verankert

1 Als Ende der Übergangszeit wurde der 31. Dezember 1969 festgelegt.
2 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. 62 vom 17.04.1964.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 175

(Verordnung EWG 1612/683). Damit war 1968 im Wesentlichen die bis heute
gültige Interpretation der Arbeitnehmerfreizügigkeit erreicht. 1992 wurde Artikel
48 des EWG-Vertrages in den Vertrag von Maastricht als eine der vier Grund-
freiheiten des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapi-
tal übernommen:
Artikel 39: Freizügigkeit der Arbeitnehmer
(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedli-
chen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Ent-
lohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Ge-
sundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer die-
ses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung aus-
zuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter
Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen
festlegt.4

Um die Mobilität der Arbeitnehmer in Europa über diese Gleichstellung hinaus


zu fördern und die bis dahin gemessenen niedrigen Migrationsraten zu erhöhen
(Stöckel 2007), ergänzte die Kommission Anfang der 1990er Jahre die Verord-
nung 1612/68. Damit „tatsächlich und rechtlich sämtlichen Staatsangehörigen
der Mitgliedstaaten der gleiche Vorrang auf dem Arbeitsmarkt zuerkannt wird
wie den Staatsangehörigen jedes einzelnen Mitgliedstaates“, sollten größtmögli-
che Transparenz auf dem Arbeitsmarkt geschaffen und wechselseitige Informati-
onsdefizite abgebaut werden (Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 vom 27. Juli
19925).
Trotz des grundsätzlichen Ziels der Europäischen Union, „die Grundlagen
für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaf-
fen“ und „durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fort-
schritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken be-
seitigen“ (Präambel des EG-Vertrags6), zeigen sich Grenzen dieses Bestrebens,
wenn die erreichte Homogenität unter Druck gerät, und weitere Integrations-

3 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 257 vom 19.10.1968.


4 Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Amtsblatt
der Europäischen Union Nr. C 321 E/3 vom 29.12.2006 DE.
5 Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 245 vom 26.08.1992.
6 Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Amtsblatt
der Europäischen Union Nr. C 321 E/43 vom 29.12.2006 DE.
176 Sylke Nissen

schritte Kosten für die Mitglieder verursachen (Vobruba 2001). So stellte sich
spürbare Zurückhaltung bei der Beseitigung aller Europa trennenden Schranken
vor allem bei der Süderweiterung 1981/1986 und bei der Osterweiterung
2004/2007 ein. Nach vollzogener Erweiterung blieb die Freizügigkeit der Ar-
beitnehmer zunächst eingeschränkt.

Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit

Süderweiterung
Mit der Erweiterung der EWG um Griechenland 1981 und um Spanien und Por-
tugal 1986 traten der Gemeinschaft drei relativ arme und ökonomisch gering
entwickelte Staaten bei. Die neun Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschland
(vgl. Preston 1997: 59f.) waren an der Aufnahme dieser drei Länder vor allem
aus politischen Gründen interessiert. „Der Übergang zur Demokratie im An-
schluss an die Ablösung autoritärer Regimes sollte abgesichert und eine be-
schleunigte Konsolidierung erreicht werden.“ (Pfetsch 1997: 53; siehe auch
Musto 1977; Leggewie 1979) Die Alt-Mitgliedsländer erwarteten allerdings
spürbare Migrationströme wegen der hohen Arbeitslosigkeits- und Inflationsra-
ten und unausgeglichenen Zahlungsbilanzen in den Beitrittsländern. Angesichts
der in Kerneuropa bereits seit Mitte der 1970er Jahre steigenden Arbeitslosigkeit
wurde daher der Beitritt der entwicklungsschwachen Südländer einseitig mit
Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (und für mediterrane
Agrarprodukte) gekoppelt. Die Einführung der vollen Freizügigkeit war erst
sieben Jahre nach dem Beitritt vorgesehen.7 Während des Übergangszeitraums
galten die bilateralen Abkommen zwischen alten und neuen Mitgliedsländern
weiter. Nachdem die befürchteten Migrationsströme ausgeblieben waren, wurden
die Übergangsfristen für Spanien und Portugal zum 1. Januar 1992, im Verhält-
nis zu Luxemburg ein Jahr später aufgehoben.8
Die alten Mitgliedstaaten waren dagegen vom Tag des Beitritts der drei
Mittelmeerländer in den Genuss der vollen Freizügigkeit gekommen, so dass
Becker resümierte, „that especially the transitional arrangements as to free mo-
vements of workers were, first of all, made in order to protect the old Member
States.“ (2001: 4)

7 Im Verhältnis zu Luxemburg galt sogar eine Frist von zehn Jahren (Bartz 2006: 129).
8 Dies konnte geschehen, weil die Beitrittsakte für Spanien und Portugal eine Prüfung der
Maßnahmen durch die Kommission in den letzten zwei Jahren des Übergangszeitraums und
daran anschließend die Möglichkeit der vorzeitigen Beendigung enthielt (Becker 1999: 17f.).
Eine solche Regelung war für Griechenland nicht vorgesehen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 177

Für die Einschränkung der Freizügigkeit in der Süderweiterung gelten zu-


sammenfassend drei Charakteristika: Die EG implementierte für die Alt-Mitglie-
der eine gemeinsame Regelung der Übergangsfristen (mit der genannten Aus-
nahme für Luxemburg). Diese Übergangsregelungen wurden mit Wirkung für
alle Alt-Mitgliedsländer verkürzt und zum selben Zeitpunkt beendet. Die Neu-
Mitglieder führten keine reziproken Einschränkungen der Freizügigkeit ein,
sondern beugten sich dem „zynischen“ (Becker 2001: 5) Argument der Alt-Mit-
glieder, die Fristen seien in ihrem eigenen Interesse. Für die Übergangsregelun-
gen, die bei der Osterweiterung9 2004/2007 vereinbart wurden, treffen diese
Merkmale nicht zu.

Osterweiterung
Erneut war es der Druck der Bundesrepublik Deutschland, unterstützt von Öster-
reich und diesmal mit Verweis auf die räumliche Nähe zu den Bewerberländern,
der zu Übergangsfristen für die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit führ-
te. Mit dem Beitritt von zunächst zehn mittel- und osteuropäischen Staaten im
Jahr 2004 und dem 2007 anschließenden Beitritt Rumäniens und Bulgariens
wurde der gemeinsame Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten auf alle Mit-
gliedsländer ausgedehnt. Obwohl die Kommission Arbeitnehmerfreizügigkeit als
„vielleicht das wichtigste Recht, das Einzelpersonen aus den Gemeinschaftsvor-
schriften herleiten können“ bezeichnet (Europäische Kommission 2002: 3), zö-
gerte die EU die vollständige Binnenmarktöffnung in dieser Frage hinaus. Die so
genannte 2+3+2-Regelung gilt für alle Neu-Mitglieder mit Ausnahme von Malta
und Zypern, von deren Migrationspotential keine wesentlichen Einflüsse auf die
Arbeitsmärkte der EU-15 erwartet wurden.
Mit der 2+3+2-Staffelung wurde der Übergang zur vollen Freizügigkeit in
einem dreistufigen Prozess geplant, der sich über sieben Jahre erstrecken sollte.
Grundsätzlich sahen die Übergangsregelungen vor, dass jeder alte Mitgliedstaat
in den beiden ersten Jahren nach dem Beitritt nationale Bestimmungen anzu-
wenden hatte. Die bis dahin bestehenden bilateralen Vereinbarungen behielten
dementsprechend ihre Gültigkeit.10 Vor Ablauf der ersten Zweijahresfrist Ende
April 2006 sollte die Kommission einen Bericht erstellen, und der Rat die Über-

9 Die so genannte Norderweiterung der EU Mitte der 1990er Jahre um Schweden, Finnland und
Österreich muss hier nicht weiter betrachtet werden, da aufgrund ähnlicher Wohlstandsniveaus
bei Alt- und Neu-Mitgliedern keine nennenswerten Migrationsströme erwartet und folglich
keine Einschränkungen der Freizügigkeit vorgenommen wurden.
10 Eine Verschlechterung der bilateralen Regelungen wurde explizit ausgeschlossen. Die Über-
gangsregeln gelten nicht für Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Beitritts in einem der alten
Mitgliedstaaten bereits beschäftigt waren oder dort seit mindestens zwölf Monaten zugelassen
waren, sowie für deren Angehörige.
178 Sylke Nissen

gangsregelungen auf ihre weitere Notwendigkeit hin überprüfen. Anschließend


musste jedes Mitgliedsland eine formelle Mitteilung machen, ob es die Über-
gangsregelungen abschaffen oder für weitere drei Jahre beibehalten wollte. Im
Verlauf dieser Dreijahresfrist stand es jedem Land frei, die getroffenen nationa-
len Beschränkungen aufzuheben und die uneingeschränkte Freizügigkeit der
Arbeitnehmer nach geltendem EU-Recht anzuwenden. Fünf Jahre nach dem
Beitritt (Mai 2009) sollten die alten Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht
übernehmen. Nur
„im Falle schwerwiegender Störungen der Arbeitsmärkte oder der Gefahr derartiger Störungen,
ist eine Verlängerung der nationalen Maßnahmen um weitere zwei Jahre nach Mitteilung an
die Kommission möglich.“ (Europäische Kommission, o. J.: 2)

In der Praxis führten die Staaten der EU-15 respektive EU-25 sehr unterschiedli-
che Formen der Freizügigkeit für Arbeitnehmer ein (vgl. die Übersicht im An-
hang). Die Transitionsregeln für die osteuropäischen Beitrittsstaaten variieren
zwischen sofortiger uneingeschränkter Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt mit
gleichberechtigtem Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen auf der einen
und dem Erfordernis von Arbeitserlaubnissen wie auch der Einschränkung der
Dienstleistungsfreiheit für ausgewählte Branchen auf der anderen Seite des
Spektrums.
Während die Entscheidung des Rates über das Ende der Übergangsfristen
(Verordnung 2195/9111) bei der Süderweiterung die Einschränkungen für alle
„alten“ Mitgliedstaaten zugleich aufhob, gibt es im Rahmen der Osterweiterung
keinen einheitlichen, verbindlichen Zeitpunkt für das EU-weite Ende der Über-
gangsfristen. Vielmehr orientiert sich jedes Mitgliedsland an je eigenen Kriterien
für die Fortsetzung oder Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen, so dass
bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Termine für die Einführung der Freizü-
gigkeit zustande gekommen ist. Allerdings kann eine nationale Regierung nicht
allein über einen eventuellen Eintritt in Phase 3 des Übergangsmodells entschei-
den, sondern
„jeder Mitgliedstaat, der sich besonderen Schwierigkeiten gegenübersieht, die zu ‚Störungen
des Arbeitsmarktes führen oder die Gefahr solcher Störungen‘ heraufbeschwören könnten,
(muss) bei der Kommission eine weitere Verschiebung um zwei Jahre beantragen, was mit
Ausnahmebedingungen bzw. unerwarteten Umständen zu begründen wäre.“ (Europäisches
Parlament, o. J.)12

11 Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 206 vom 29.07.1991.


12 Die Sprachregelung ist in diesem Punkt uneinheitlich. In den Übergangsbestimmungen der
Kommission heißt es nur: „im Falle schwerwiegender Störungen der Arbeitsmärkte oder der
Gefahr derartiger Störungen ist eine Verlängerung der nationalen Maßnahmen um weitere
zwei Jahre nach Mitteilung an die Kommission möglich.“ (Europäische Kommission, o. J.: 2).
Auf der Homepage der Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chan-
Arbeitnehmerfreizügigkeit 179

Diese Konstruktion macht es den Mitgliedsländern schwer, ihre in den Regelun-


gen der Phasen 1 und 2 durchgesetzten Interessen weiterhin zu wahren.13 Dass
sie im Erweiterungsprozess eine große Rolle spielten, werde ich in den nächsten
Abschnitten zeigen. Allerdings kann die politische Diskussion um die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit nicht ohne Kenntnis der Migrationsdeterminanten analysiert
werden. Das heißt, zunächst müssen die Rahmenbedingungen geklärt werden:
Welche Ursachen für Wanderungsbewegungen wurden im Vorfeld der Osterwei-
terung gesehen? Welches erwartete Ausmaß an Migration lag der politischen
Diskussion zugrunde, und beruhten die Erwartungen auf realistischen Schätzun-
gen?

Migrationsgründe und Migrationsschätzungen


Migrationspotentiale und deren Schätzungen werden von verschiedenen Fakto-
ren beeinflusst. Im Zusammenhang mit der Osterweiterung gehören dazu
ƒ ökonomische, soziale und individuelle Gründe, die eine Wanderungsent-
scheidung beeinflussen,
ƒ die quantitative Bewertung dieser Gründe in Migrationsschätzungen und
ƒ die Lehren aus den Migrationserfahrungen in früheren Erweiterungsrunden,
insbesondere und sofern übertragbar die der Süderweiterung.
Ich beginne mit dem letzten Punkt. Die Erfahrungen mit dem Beitritt Griechen-
lands, Spaniens und Portugals gaben keinen Anlass zur Sorge. Die vorzeitige
Aufhebung der Übergangsregelungen und die Herstellung der vollständigen
Freizügigkeit 1986 für Griechenland und 1992 für Spanien und Portugal gelten
als Reaktion auf die ausgebliebene Flut an Arbeitsmigranten aus Griechenland,
Spanien und Portugal. Die tatsächliche Migration infolge der Süderweiterung
war so stark hinter den zuvor als Begründung für Einschränkungen der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit geäußerten Erwartungen zurückgeblieben, dass die Regie-
rungen der damaligen Alt-Mitglieder übereinkamen, die Übergangsfristen zu

cengleichheit findet sich der Hinweis: Nach fünf Jahren „kann einem Mitgliedstaat, der natio-
nale Maßnahmen anwendet, die Genehmigung erteilt werden, weiterhin diese nationalen Maß-
nahmen anzuwenden, jedoch nur dann, wenn sich sein nationaler Arbeitsmarkt mit schwerwie-
genden Problemen konfrontiert sieht.“ (http://ec.europa.eu/employment_social/free_movement/
enlargement_de.htm; Aufruf 22.01.2009). Sabine Bartz stellt – allerdings ohne Angabe von
Quellen – sogar fest: „die europäischen Regierungen gemeinsam befinden über eine Verlänge-
rung der Übergangsfrist. In jedem Fall ist eine einstimmige Entscheidung erforderlich.“ (2006:
140) (sämtliche Hervorhebungen von mir)
13 Allerdings kann erwartet werden, dass die Kommission den Interessen wichtiger Mitgliedslän-
der entgegenkommt.
180 Sylke Nissen

verkürzen. Durch die Herstellung der Freizügigkeit sollten nun umgekehrt An-
reize für innereuropäische Mobilität geschaffen werden. Aber für
„die südeuropäischen Herkunftsländer war oft auch nach EU-Beitritt bzw. Gewährung der
Freizügigkeit das Volumen der Wanderungsströme sehr viel niedriger als in den 60er oder frü-
hen 70er Jahren.“ (Brücker et al. 2003: 38)

Jon Kvist sah überhaupt kein Muster in den Erfahrungen mit der Erweiterung um
Griechenland, Spanien und Portugal:
„In all three instances, there were discernible variations in the migration patterns across coun-
tries and between years just as there was significant return migration, especially in the Spanish
and Portuguese cases. This led a Eurostat study to conclude that ‚there has been no clear,
common or consistent relationship between changing patterns of population and labour stocks,
or immigration, and the accession of Greece, Spain and Portugal‘.“ (Kvist 2004: 307)

Gleichwohl wurden Erfahrungen aus der Süderweiterung mit Blick auf die Ost-
erweiterung diskutiert (vgl. unter anderem Becker 1999; Brücker et al. 2000;
BMWA 2004; Bartz 2006; Hatala 2006). Herbert Brücker et al. (2003) schlossen
auf ein größeres osteuropäisches Migrationspotential, da bereits vor dem Beitritt
Griechenlands, Spaniens und Portugals 3% der Bevölkerung dieser Länder in der
EU lebten, während sich nur 0,8% der Bevölkerung der osteuropäischen Kandi-
datenländer schon vor der Erweiterung in der EU-15 aufhielt. Kvist ging davon
aus, dass das Migrationspotential der drei südeuropäischen Länder vor deren
Beitritt bereits erschöpft gewesen war, während in Osteuropa der Eiserne Vor-
hang Wanderungsbewegungen nahezu vollständig unterbunden hatte (Kvist
2004: 307). Auch das Einkommensgefälle zwischen Osteuropa und dem EU-
Durchschnitt war deutlich größer, als es das Gefälle zu den drei Südländern ge-
wesen war (Brücker et al. 2003: 13). Diese Unterschiede allein reichten aber
nicht aus, um „tatsächliche Migrationspotentiale“ (BMWA 2006)14 und Migrati-
onsraten nach der Osterweiterung sicher zu prognostizieren. Angesichts erhebli-
cher Migrationskosten „müssen auch die Einkommensunterschiede deutlich sein,
um ökonomisch motivierte Wanderung hervorzurufen.“ (Brücker et al. 2003: 42)
Und selbst dann wandert immer nur ein Teil der Bevölkerung.
Vor allem die ungewisse Entwicklung des Wohlstandsgefälles zwischen den
mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) und den Ländern der EU-15
machte Wanderungsprognosen im Vorfeld der Erweiterung schwierig. In einer

14 Zum „tatsächlichen Migrationspotential“ werden Bürgerinnen und Bürger des Herkunftslandes


gezählt, die sich bereits um Aufenthalts- beziehungsweise Arbeitsgenehmigungen im Zielland
bemühen. Im Unterschied dazu umfasst das „allgemeine Migrationspotential“ nur jene, die
Fragen wie: „Denken Sie daran, ins Ausland zu gehen?“ bejahen. Zum „wahrscheinlichen
Migrationspotential“ gehören Personen, die schon konkrete Schritte unternommen haben und
für eine künftige Migration Information beschafft oder nach einem Arbeitsplatz gesucht haben
(vgl. Fassmann, Hintermann 1997; BMWA 2006: 5)
Arbeitnehmerfreizügigkeit 181

Potentialanalyse differenzierte das österreichische Wirtschaftsministerium zwi-


schen jenen osteuropäischen Ländern, die sich in einem zügigen Aufholprozess
befanden und daher geringes Migrationspotential entwickelten, und schwächeren
Kandidaten wie Polen und Ungarn, deren Rückstand größere Wanderungsbewe-
gungen erwarten ließ (BMWA 2004).
Als makroökonomische Determinanten, die eine Wanderungsentscheidung
beeinflussen können, nannte Heinz Werner (2001: 13f) die Arbeitsmarktsituati-
on, die Struktur der Handelsbeziehungen und Einkommensunterschiede zwi-
schen zwei Ländern. Neben Netzwerken, die Informationen über das Zielland
vermitteln können, betonten Herbert Brücker et al. die Bedeutung von Human-
kapitaleigenschaften (Alter, Geschlecht und Familienstatus, Ausbildung und
Arbeitserfahrung) sowie „unterschiedliche Präferenzen der Individuen“ (2003:
12; vgl. Brücker et al. 2000). Auch Barbara Dietz führte (tatsächliche oder er-
wartete) Lohndifferenzen, Kosten der Migration, Humankapitalausstattung, Mig-
rationsnetzwerke und darüber hinaus die politische und ethnische Situation im
Herkunftsland als Faktoren an, die die Entscheidung zur Migration beeinflussen
(Dietz 2004: 45). Ansgar Belke und Martin Hebler stellten eine Übersicht öko-
nomischer Migrationsfaktoren im Herkunfts- und im Zielland zusammen:

Push- und Pull-Faktoren für Migration

Push-Faktoren Pull-Faktoren
Niedriger Lebensstandard und Hoher Lebensstandard
geringe Wachstumsraten
Hohe Arbeitslosigkeit, Geringe Arbeitslosigkeit
insbesondere bei Jugendlichen
Rasches Bevölkerungswachstum Alternde und schrumpfende Bevölkerung
Fehlende oder geringe soziale Sicherung Gute soziale Sicherungssysteme
Hohe Besteuerung Geringe Besteuerung
Mangel an Wohnraum Niedrige Mieten für gute Wohnungen
Geringe Umweltqualität Hohe Umweltqualität
Schlechte Infrastruktur Gute Infrastruktur
Gute Beschäftigungsmöglichkeiten für
Zuwanderer
Bestehende Netzwerke von Ausländern

Quelle: Belke, Hebler 2002: 128


182 Sylke Nissen

Julianna Traser verwies zusätzlich auf geographische Nähe als eine, Migration
fördernde Bedingung (2006: 9) und wurde in dieser Einschätzung vom österrei-
chischen Wirtschaftsministerium unterstützt. Angesichts der rund fünf Millionen
Menschen in den vier Beitrittsländern Tschechien, der Slowakei, Ungarn und
Slowenien, die entlang der 1.300 km langen Grenze mit Österreich leben, rech-
nete die österreichische Regierung mit erheblichen Pendlerströmen (BMWA
2006).15 Traser zählte eine Reihe weiterer Gründe für Migrationsabsichten auf.
„Apart from economic reasons (including better quality of employment), there is also a whole
array of other potential incentives to migration: better housing conditions, better local envi-
ronment, the advantage of discovering new places and meeting new people, and other less ob-
vious reasons, like better climate.“ (Traser 2006: 9; vgl. auch Brücker et al. 2003: 28ff.)

Neben diesen Faktoren, die die Entscheidung zur Migration unterstützen, müssen
für Schätzungen des Migrationspotentials jene Gründe berücksichtigt werden,
die eine Person davon abhalten können, sich in ein anderes Land zu begeben.
Dazu gehören Kenntnisse und Fähigkeiten, die räumlich nicht transferierbar sind,
die durch Migration also entwertet würden. Ebenso wirken sich die Bindung an
das vertraute soziale Umfeld, Risikoscheu oder die Gefahr von Diskriminierung
im Zielland negativ auf Migration aus (Werner 2001: 15f.). Desweiteren können
mangelnde oder falsche Informationen über Migrationsvoraussetzungen und über
das Zielland ebenso wie Wohnungs- oder Hauseigentum, familiäre Bindungen,
sowie kulturelle oder Sprachbarrieren von Migration abhalten (vgl. Traser 2006:
9f).
Aus der Art und der Vielzahl der Bedingungen, die das Migrationspotential
beeinflussen, wird deutlich, dass einfache Analogien zur Süderweiterung oder
zur Phase der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren kaum brauch-
bare Ergebnisse erwarten lassen. Darüber hinaus variieren Migration begünsti-
gende Aspekte in ihrer Intensität in den Beitrittsländern, und Hinderungsgründe
für die Migration Arbeit Suchender tragen stark individuelle Züge. Wanderungs-
entscheidungen hängen von der Nähe zur westlichen Grenze und der zukünftigen
ökonomischen Entwicklung im Beitritts- und im Zielland ab. Und schließlich
liegt zwischen der vagen Äußerung von Migrationsabsichten und der Realisie-
rung von Migrationsentscheidungen eine große Bandbreite von Migrationsnei-
gungen, die als wahrscheinliches oder tatsächliches Wanderungspotential kaum
zu beziffern sind.
Die zahlreichen Migrationsfaktoren und die noch zahlreicheren möglichen
Deutungen dieser Faktoren machten große Unterschiede in den Prognosen mög-

15 Die Grenzsituation stellt einen weiteren Unterschied zur Süderweiterung dar. Keines der
damaligen Beitrittsländer grenzte unmittelbar an Pendlerzielgebiete. Die Grenze in den Pyre-
näen zwischen dem strukturschwachen Südfrankreich und Nordspanien bildet die einzige di-
rekte Grenze.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 183

lich, die ich wegen ihres erheblichen politischen Einflusses deshalb kurz auf die
zugrunde liegenden Methoden überprüfen werde. Auf der Basis der genannten
Unwägbarkeiten kann im Grunde nur als gesichert gelten, dass „die Ungewiss-
heit über die Zuwanderung aus den Kandidatenländern Mittel- und Osteuropas
hoch“ war (Brücker et al. 2003: 14). Gleichwohl wurden im Vorfeld der Oster-
weiterung mehrere Potentialanalysen und Migrationsschätzungen erstellt, die
makroökonomische Faktoren und individuelle Aspekte herangezogen haben. Die
meisten Migrationsstudien basierten auf ökonometrischen Modellen, differierten
aber in den gewählten Schätzverfahren und den Datengrundlagen, was zu er-
kennbaren Unterschieden in den Ergebnissen führte (vgl. GEFRA et al. 2007:
109ff.). So schätzte beispielsweise das ifo-Institut das Migrationspotential bezo-
gen auf nur fünf der osteuropäischen Beitrittsländer langfristig rund dreimal so
hoch wie andere Modelle, die ihren Rechnungen alle zehn neuen Mitgliedstaaten
zugrunde legten (Sinn et al. 2001; vgl. GEFRA et al. 2007: 137). Manche Stu-
dien wiesen darauf hin, dass sie nicht tatsächliches Migrationspotential berech-
neten, sondern „reine Absichtserklärungen“ bezifferten (Dietz 2004: 46, BMWA
2006).16 Trotz methodischer Unterschiede rechneten viele Arbeiten in einem
Zeitraum von 15 bis 20 Jahren mit einem Migrationspotential aus den zehn neu-
en Mitgliedstaaten von 3 bis 4% der dortigen Bevölkerung. Für die ersten Jahre
nach der Erweiterung wurde eine kurzfristige Nettozuwanderung von 250.000
bis 400.000 Personen in die EU-15 erwartet. Brücker et al. hielten – auch in
Bezug auf ihre eigene Arbeit – fest:
„Alle diese Simulationen sind nicht als exakte Prognose zu verstehen, sondern sollen nur einen
Hinweis auf die Größenordnung des Migrationspotentials geben. Die verwendeten Modelle
stellen zwangsläufig erhebliche Vereinfachungen komplexer Migrationsentscheidungen dar, so
dass die Schätzergebnisse nur vorsichtig interpretiert werden können.“ (Brücker et al. 2003: 17)

Für die Migrationseffekte der Osterweiterung gaben die Autoren darüber hinaus
zu bedenken, dass die Prognosen nicht aus der Extrapolation von Erfahrungswer-
ten ermittelt werden konnten, sondern Schätzergebnisse aus anderen Ländern
übertragen werden mussten (ebd.: 51). Auch Thomas Straubhaar warnte davor,
zu dramatische Konsequenzen aus Migrationsprognosen zu ziehen:
„Zusammengefasst zeigt sich, dass trotz sehr unterschiedlicher Annahmen, Vorgehensweisen
und Schätzverfahren die ‚Faustregel‘ von Layard et al. (1992) gar nicht schlecht bestätigt wird,
nämlich, dass insgesamt etwa 3% der mittel- und osteuropäischen Bevölkerung über eine län-
gere Periode von 1-2 Dekaden nach den heutigen EU-Ländern umziehen dürfte. … Über eine
sehr lange Zeitspanne von 10 bis 20 Jahren dürften demgemäß zwischen 2 und 3 Millionen
Menschen aus den MOEL-8 nach Westen wandern. Wird die Rückwanderung mit berücksich-
tigt, dürfte etwa die Hälfte davon – also 1 bis 1,5 Millionen Menschen aus den MOEL in der

16 Für eine Übersicht von Modellen, Methoden und Schätzungen vgl. GEFRA et al. 2007; Belke,
Hebler 2002.
184 Sylke Nissen

heutigen EU bleiben. Von einer ‚Völkerwanderung‘ kann also keine Rede sein!“ (Straubhaar
2002: 33; Hervorhebung im Original)

Angesichts der zahlreichen nationalen Interventionen während des Ausgestal-


tungsprozesses der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der entstandenen Ausdiffe-
renzierung der Übergangsregelungen für die neuen Mitgliedstaaten liegt die Ver-
mutung nahe, dass die meisten Länder der EU-15 durch die Öffnung des Bin-
nenmarktes starke negative wirtschaftliche Auswirkungen befürchteten, ins-
besondere auf den Arbeitsmärkten. Diese Annahme deckt sich nun allerdings
nicht mit den Ergebnissen der kurzen Skizze von Migrationsgründen und Schät-
zungen des zu erwartenden Ausmaßes an Migration nach dem Beitritt der osteu-
ropäischen Länder. Zwar wurden für die grenznahen Regionen räumlich (Pend-
ler, Grenzarbeitnehmer) und sektoral (Bauwirtschaft, Landwirtschaft) stärkere
Zuwanderungen vermutet (Hille, Straubhaar 2001: 34; ähnlich Brücker et al.
2003; vgl. auch BMWA 2004; GEFRA et al. 2007). Aber selbst diese Prognose
wird durch Erfahrungen relativiert, die bereits im Vorfeld der Erweiterung zwi-
schen 1989 und 2001 mit tschechischen Pendlern in Bayern gemacht wurden.
Daraus folgerte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass die
Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit „weit weniger negative Auswirkun-
gen für Deutschland haben dürfte als oft befürchtet.“ (Moritz 2007: 6)
Vor der Erweiterung zeichnete sich daher ab, dass Wachstumsimpulse für
die Wirtschaftsentwicklung und den Arbeitsmarkt erwartet werden konnten, und
Ost-West-Wanderungsbewegungen ein „temporäres Phänomen“ (Belke, Hebler
2002: 184) bleiben würden. Selbst unter Berücksichtigung anfänglicher Belas-
tungen, die zum Beispiel für die Landwirtschaft oder den Bausektor für möglich
gehalten wurden, konnte aus zahlreichen Studien gefolgert werden,
„dass die Wohlfahrtsgewinne umso größer sein dürften, je größer die Handelsanteile der Län-
der bzw. Regionen mit den neuen Mitgliedsstaaten sind. Diese wiederum sind eine Funktion
der räumlichen Nähe, so dass insbesondere Deutschland und Österreich positive Effekte erwar-
ten dürfen.“ (GEFRA et al. 2007: 340; vgl. ebd. S. 120ff.)

Dennoch traten in der politischen Diskussion Bedrohungsszenarien in den Vor-


dergrund, und „the EU 15 member states have acted as if migration would take
place.“ (Kvist 2004: 303) Die Konzentration der Erweiterungsdiskussion auf ver-
meintliche Migrationsbelastungen und Migrationsängste der Bevölkerung steht
im Widerspruch zu dem eher beruhigenden Tenor der meisten Schätzungen. Sie
ist darüber hinaus kaum vereinbar mit der von politischen Eliten lange verfolgten
Strategie, die EU, die Erweiterung, die europäische Integration als Positivsum-
menspiel aller Beteiligten zu interpretieren.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 185

Politische Diskussion der Freizügigkeitsfrage in Deutschland


Die Auseinandersetzung über bedrohliche Migrationsentwicklungen und folglich
die Ausgestaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde in Deutschland seit
Ende der 1990er Jahre besonders vehement geführt, weshalb ich nun die in der
Bundesrepublik vor der Erweiterung vertretenen Positionen zur Arbeitnehmer-
freizügigkeit näher untersuche.
Mit der Einigung auf das 2+3+2-Modell war die Debatte nicht beendet, da
gerade dieser Regelung wegen zwei Jahre nach der Erweiterung erneut geprüft
werden musste, ob die Gründe für die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit nach wie vor Bestand hatten oder die Restriktionen gelockert werden
sollten. Folglich standen in der Bundesrepublik auch noch nach dem Beitritt
politische Statements zur Arbeitnehmerfreizügigkeit auf der Tagesordnung. Als
Randbedingung ist bei der Aufarbeitung der anhaltenden Diskussion das Ergeb-
nis der Bundestagswahlen 2004 zu berücksichtigen, in dessen Folge die CDU/
CSU von der Oppositions- in die Regierungsrolle wechselte und die SPD vom
großen zum kleinen Koalitionspartner wurde.
Die „Weidener Rede“ des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder,
gehalten Ende 2000 auf der Regionalkonferenz der SPD in der Oberpfalz, gehört
zu den ersten Konkretisierungen der deutschen Vorstellungen von Übergangsre-
gelungen. In seinem Vortrag ging Schröder genauer auf Andeutungen ein, die in
der Koalitionsvereinbarung noch vage formuliert worden waren (vgl. SPD,
Bündnis 90/Die GRÜNEN 1998: 1548).: Damit brachte er Übergangsfristen von
sieben Jahren für die Einführung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer ins Ge-
spräch. Er schlug ein Fünf-Punkte-Programm vor, das er vier Wochen später in
seiner Regierungserklärung nach dem Gipfel von Nizza wortgleich wiederholte:
„Erstens. Eine angemessene Übergangsfrist mit einer Beschränkung der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit für sieben Jahre, also vom gedachten ersten Beitritt 2003 bis zu dem von mir genannten
Punkt 2010.
Zweitens. Ein flexibles Modell, das die Verkürzung der Übergangsfrist für einzelne Beitritts-
länder zulässt. Hierzu sind Pflichtüberprüfungen, also eine Art ‚Besichtigungstermine‘, nach
fünf Jahren erforderlich.
Drittens. Auf Antrag könnte bei geeigneten Kandidaten, wenn die Voraussetzungen vorliegen,
bereits vorher eine Aufhebung der Beschränkungen erfolgen.
Viertens. Bei allgemeinem und fachlichem Arbeitskräftemangel in den alten Mitgliedstaaten
können diese gemäß nationalem Recht, das wir übrigens verbessern werden, bereits während
der Übergangszeit kontrollierte Zugangsmöglichkeiten schaffen.
Fünftens. Parallel brauchen wir für die Dauer der Übergangsfrist eine Einschränkung der
Dienstleistungsfreiheit in Teilbereichen, insbesondere in der Bauwirtschaft und im Handwerk.“
(Schröder 2000: 9, Schröder 2001: 6f)
186 Sylke Nissen

Dieses Programm des Bundeskanzlers enthielt die wesentlichen Bestandteile des


später beschlossenen 2+3+2-Modells und fand in der Folgezeit Eingang in die
Papiere der Kommission (Europäische Kommission 2001; Verheugen 2001).
Sein Vorstoß wurde flankiert von einer politischen Diskussion in der Bundesre-
publik, in deren Zentrum die Risiken standen, die durch eine ungezügelte Erwei-
terung drohten. Übergangsfristen wurden als unverzichtbar erachtet, um angebli-
che Gefahren für die deutsche Wirtschaft, insbesondere für den Arbeitsmarkt und
einzelne Branchen wie die Bauwirtschaft, abzuwenden.
Der Kanzler selbst bettete seine Forderungen nach Übergangsregelungen in
Referenzen an die „Stammtische“ (Höltschi 2001). In seiner Weidener Rede
wandte er sich zunächst an die unmittelbar an der tschechischen Grenze lebende
Klientel:
„Natürlich weiß ich, dass es gerade hier in der Oberpfalz – übrigens in anderen Grenzgebieten
ganz genauso – auch Sorgen und Unsicherheiten aufgrund der bevorstehenden Erweiterung
gibt: Sorgen vor zunehmender Billigkonkurrenz zum Beispiel, Sorgen vor einem Zustrom an
Arbeitskräften, auch von Pendlern, Sorgen vor Lohn-, Sozial- und Umweltdumping. Wir soll-
ten uns da gar nichts vormachen. Auf die Grenzregionen kommen Anpassungsprozesse zu. Das
ist unausweichlich. Zwischen den bisherigen und den zukünftigen EU-Mitgliedern besteht –
Sie wissen es – ein großes Wohlstands- und damit auch Lohngefälle. … Käme es im Zuge der
Erweiterung zu sofortiger voller Arbeitnehmerfreizügigkeit, wären wir mit verstärktem Zuzug
auch nach Deutschland konfrontiert. Das wäre für Teile unseres Arbeitsmarktes, insbesondere
dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, nicht verkraftbar.“ (Schröder 2000: 5, 7)17

Nach dem Gipfel von Nizza vertrat Schröder sein Konzept der Übergangsrege-
lungen mit dem Hinweis auf eine notwendige „Legitimation für den Erweite-
rungsprozess“ (Schröder 2001: 7). Auch die unbeugsame Haltung der Bundesre-
gierung (das heißt: der Kanzlerpartei SPD) in den Verhandlungen mit den Alt-
Mitgliedern der EU im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 unterstreicht die
Orientierung der Erweiterungspolitik an nationalen Belangen (Schneider 2006:
82ff.). Der Koalitionspartner Bündnis90/Die Grünen verfolgte zumindest auf
nationaler Ebene eine eigene Strategie und sprach sich für kurze und vor allem
flexible Transitionsregelungen aus.18
Nach einem anfänglichen Votum für „angemessene Übergangsregelungen“,
die „schnellstmöglich wieder entfallen“ sollten, verbunden mit der Forderung
nach einem nationalen „Programm zur Förderung der Grenzregionen zu den
Beitrittsländern“ und der Warnung vor Freizügigkeit für Kriminelle aus Polen
und Tschechien (CDU 2001: 14f.) schwenkte die CDU/CSU auf die Regierungs-
linie ein. 2004 selbst in der Regierung war die CDU davon überzeugt, dass nur

17 Ähnlich argumentierte die österreichische Regierung, die sich angesichts der vergleichbaren
geographischen Lage dem deutschen Vorgehen anschloss (vgl. Schneider 2006: 71).
18 Eine ähnliche Position vertrat die FDP, wenngleich weniger aus gesellschaftspolitischen denn
aus ökonomischen Gründen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 187

„ausreichend lange Übergangsregelungen … unzumutbare Belastungen für unse-


ren Arbeitsmarkt verhindern“ würden (CDU 2004: 8). Die bayerische CSU hatte
bereits drei Jahre vor Schröders Rede in Weiden Fristen gefordert, die länger als
die bei der Süderweiterung sein sollten: „Die CSU hat ultimativ gefordert, den
deutschen Arbeitsmarkt für die osteuropäischen Beitrittskandidaten nicht vor
dem Jahr 2015 zu öffnen“ (Hamburger Abendblatt vom 16.04.1998, zitiert nach
Belke, Hebler 2002: 170; vgl. Hassel, Kampffmeyer 2006: 3).
Die 2005 von CDU, CSU und SPD geschlossene Koalitionsvereinbarung
verzichtete auf eine strategische Position zur Weiterentwicklung der Übergangs-
regelungen:
„Wir werden dafür Sorge tragen, dass im erweiterten Europa faire Wettbewerbsbedingungen
eingehalten werden und es nicht zu sozialen Verwerfungen, etwa durch Lohndumping und ille-
gale Beschäftigung, kommt. Durch Übergangsfristen bleibt der deutsche Arbeitsmarkt bis zu
sieben Jahre vor dem unkontrollierten Zuzug von Arbeitnehmern geschützt.“ (CDU, CSU, SPD
2005: 151)

Wenige Monate später reagierten die Regierungsparteien verhalten auf den Zwi-
schenbericht der EU-Kommission über die Anwendung der Übergangsregelun-
gen, in dem den Ländern empfohlen wurde, „sorgfältig zu prüfen, ob die Fort-
führung der Übergangsregelungen angesichts der Situation auf ihrem Arbeits-
markt und der Ergebnisse dieses Berichts notwendig ist.“ (Europäische Kommis-
sion 2006: 17). Der damalige Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD)
erklärte, die Kommission trage den besonderen Bedingungen in Deutschland
nicht Rechnung, und die Steuerung der Migration aus den neuen Mitgliedstaaten
bleibe unverändert notwendig. „Deutschland muss weiterhin sicherstellen, dass
der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt im wohlverstandenen arbeitsmarkt- und
wirtschaftspolitischen Interesse kontrolliert bleibt.“ (BMAS 2006: 5) Auch der
ehemalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) betonte anlässlich des
Kommissionsgutachtens den „notwendigen Puffer zum Schutze unseres Ar-
beitsmarktes und unseres Handwerks.“ (Der Spiegel vom 08.02.2006)19
Die deutsche Bundesregierung sah keine Möglichkeit, die Übergangsregeln
schon 2006 aufzuheben, und beschloss erst im August 2007 auf ihrer Sommer-
klausur in Meseberg einen ersten Schritt zur vorsichtigen Öffnung des Arbeits-
marktes für ausländische Fachkräfte und ausländische Absolventen deutscher
Universitäten (vgl. Bundesregierung 2007: 5). Trotz eines entsprechenden Kabi-
nettsbeschlusses erfolgte die Umsetzung dieser Maßnahmen nicht wie geplant
zum 1. November 2007, die Beschlüsse wurden vielmehr im Juli 2008 im Akti-
onsprogramm der Bundesregierung „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung
der Fachkräftebasis in Deutschland“ erneuert. Danach sollte ab Januar 2009 auf

19 „EU und Deutschland streiten über Billigarbeitskräfte“ https://www.spiegel.de/wirtschaft/


0,1518,archiv-2006-039,00.html (letzter Aufruf 22.01.2009).
188 Sylke Nissen

die Vorrangprüfung für diese Personenkreise verzichtet und die Einkommens-


grenze für Hochqualifizierte von 86.600 auf 63.600 Euro gesenkt werden (BMI,
BMAS 2008). Das heißt, die Freizügigkeitsbeschränkungen für Arbeitnehmer
aus den osteuropäischen Mitgliedsländern der EU blieben in der Phase 2 von
Mai 2006 bis April 2009 weitgehend bestehen. Zusammen mit der Ankündigung
der selektiven Arbeitsmarktöffnung für Hochqualifizierte betonte die Bundesre-
gierung in ihrem Aktionsprogramm schon Mitte 2008, die Transitionsregeln für
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den 2004 beigetretenen Ländern auch in
Phase 3 und damit über den gesamten Siebenjahreszeitraum anzuwenden.
„Die Übergangsregelungen für die EU-8 (3. Phase: 01. Mai 2009 – 30. April 2011) und Bulga-
rien und Rumänien (2. Phase: 1. Januar 2009 – 31. Dezember 2011), die eine Ausnahme von
dem Grundsatz der Freizügigkeit für neue Beitrittsstaaten beinhalten, werden verlängert.
Die Umsetzung der Inanspruchnahme der Übergangsregelung für die EU-8 sowie Bulgarien
und Rumänien erfolgt auf nationaler Ebene durch Kabinettsbeschluss (und Veröffentlichung
im Bundesanzeiger) ohne Beteiligung des Bundesrates und auf europäischer Ebene durch Mit-
teilung der Bundesregierung an die Kommission vor dem 1. Mai 2009 für die EU-8 bzw. vor
dem 1. Januar 2009 für Bulgarien und Rumänien.“ (BMI, BMAS 2008: 3)

Der Hinweis, dass eine zweite Fristverlängerung betreffend die EU-8 schwer-
wiegende Störungen auf dem Arbeitsmarkt und die Zustimmung der Kommissi-
on voraussetzt, fehlt.20

Politische Kalküle in der Diskussion um Freizügigkeit


Die in Deutschland geführte Diskussion um Übergangsfristen ist symptomatisch
für die Tatsache,
„dass Zuwanderung in den einzelnen EU-Mitgliedsländern keineswegs als gesamteuropäische
Herausforderung verstanden wurde, sondern vorwiegend als nationale Problematik, die auch
einer nationalen Lösung bedarf.“ (Märker 2001: 6).

Vor allem in den unmittelbar an die neuen Mitglieder grenzenden Ländern


Deutschland und Österreich21 wurden Ängste vor Massenzuwanderung immer
wieder thematisiert und zur Durchsetzung einer restriktiven Zuwanderungspoli-
tik genutzt. Ich sehe drei Gründe für dieses Vorgehen.

20 Die Oppositionsparteien forderten bereits 2006, nach dem ersten Zwischenbericht der EU-
Kommission, die Beschränkungen vollständig aufzuheben (Netzwerk Migration e.V. 2006:
4f.). Während die Grünen bei Fortbestehen der Restriktionen eine Zunahme illegaler Migration
und Beschäftigung erwarteten, verlangte die FDP deren Aufhebung als Reaktion auf die Erfah-
rungen mit der Erweiterung. Die Fraktion Die Linke verknüpfte die Aufhebung der Beschrän-
kungen mit der Forderung nach Mindestlöhnen.
21 Dem „Schutzbedürfnis der österreichischen Arbeitnehmer muß Rechnung getragen werden“,
erklärte Österreichs damalige Außenministerin Benita Ferrrero-Waldner (2001). Zu den öster-
reichischen parteipolitischen Positionen vgl. Petsche, Hinteregger (2001).
Arbeitnehmerfreizügigkeit 189

Erstens ist die staatliche Hoheit über Territorium und Bevölkerung – und
folglich auch Immigration – ein Zeichen nationaler Souveränität, auf das kein
Staat gern freiwillig verzichtet (Märker 2001). Die Interpretation Deutschlands
als Ziel massiver, erweiterungsbedingter Einwanderungsströme bot den politi-
schen Akteuren Gelegenheit, den im europäischen Integrationsprozess verblie-
benen Rest an nationaler Souveränität maximal zur Geltung zu bringen. Diese
Reaktion auf die Frage, inwieweit „die demokratischen Nationalstaaten durch
ihre stärkere Einbindung in supranationale Zusammenhänge einen Teil ihrer
Dispositionsmöglichkeiten, damit ihrer Legitimation verlieren“ (Ganßmann
2000: 13), bediente jene Stimmen, die den Verlust nationaler Eigenständigkeit
im EU-Verbund kritisierten.
Zweitens zeigt Politik zur Begrenzung von Einwanderung in einem Staa-
tenverbund, wie ihn die EU darstellt, Züge eines Gefangenendilemmas. Jedes
Land, das seine Einwanderungspolitik weniger restriktiv als seine Nachbarn
handhabt, muss damit rechnen, verstärkt Ziel von Migrationsprozessen zu wer-
den. Das heißt, jedes Mitgliedsland der EU muss individuell versuchen zu ver-
meiden, die Aufmerksamkeit all jener Migrationswilligen auf sich zu lenken, die
durch restriktive Einwanderungspolitik der anderen Staaten neue Migrationswe-
ge suchen.
„Viele Mitgliedsstaaten der EU befürchten, dass sie an Stelle von Staaten, die sich für eine
restriktive Einwanderungspolitik entscheiden, einen weitaus größeren Anteil der Zuwanderung
erhalten, wenn sie als erste ihren Arbeitsmarkt öffnen.“ (GEFRA et al. 2007: 353)

Kollektiv führt dies zur Verschärfung der Zuwanderungsregelungen. Was


Ganßmann im Bereich europäischer Sozialpolitik als „race to the bottom“ skiz-
ziert, nämlich die Tendenz zu „Konvergenz auf dem kleinsten sozialpolitischen
Nenner“ (2009), wird in derselben Logik für die Einwanderungspolitik als „race
to the top“ bezeichnet. Für Deutschland und Österreich bot der Rückgriff auf
Völkerwanderungsszenarien und Migrationsängste der Bevölkerung die Gele-
genheit, als erste die Zuwanderungsbedingungen für die neuen Mitgliedsländer
zu verschärfen. Dadurch wurden die Sorgen angeheizt, dass die Ströme in andere
EU-Staaten umgelenkt würden (vgl. Boeri, Brücker 2005: 7f.; GEFRA et al.
2007: 80). Entsprechend konnte beobachtet werden, dass ursprünglich eine ver-
gleichsweise große Zahl von Ländern ihre Arbeitsmärkte hatte öffnen wollen,
diese Zahl jedoch mit zunehmender Nähe zum Beitrittstermin spürbar sank.
Schließlich spricht ein drittes Argument für die Deutung und Bearbeitung
von Zuwanderung als nationalstaatlicher Problematik. Die Entscheidung über die
Gestaltung der Zuwanderungsbedingungen im EU-Kontext gibt politischen Ak-
teuren die Möglichkeit, die Wahrung der Belange relevanter Bevölkerungsgrup-
pen zu demonstrieren. Entscheidend dabei ist, dass diese Bevölkerungsgruppen
wahlrelevant sind (vgl. Nissen 2002: 191ff.).
190 Sylke Nissen

„Politische Entscheidungen richten sich nicht an der ökonomischen Größe gesamtwirtschaftli-


che Wohlfahrt aus, sondern sind durch das Wiederwahlinteresse der Regierung bestimmt. Da-
mit unterliegen sie einem starken Einfluss von Interessengruppen und lassen sich am besten
durch die Betrachtung des sogenannten ‚Medianwählers‘ prognostizieren“ (Belke, Hebler
2002: 166).

Das Medianwählertheorem (Downs 1957; vgl. auch Przeworski in diesem Band)


besagt, dass die Mehrheit der Wähler auf einer Skala politischer Präferenzen zur
politischen Mitte tendiert und die extremen Randpositionen meidet. Diese Posi-
tion der politischen Mitte gilt als Medianwählerpräferenz und ist als Orientie-
rungsgröße für politische Akteure entscheidend. Belke und Hebler lokalisieren
den Medianwähler in der Gruppe „der un- und gering qualifizierten Arbeitneh-
mer (mit Job!), … die in Westeuropa mehr als 70% der Erwerbspersonen um-
fasst“ (2002: 166). Auf die Interessen dieser Beschäftigtengruppe und deren
Erwartung, von der Erweiterung negativ betroffen zu werden, musste also unab-
hängig von sachlichen Gründen besonders Rücksicht genommen werden. Dies
konnte mit der weitgehenden Schließung des deutschen Arbeitsmarktes für Ar-
beitnehmer aus den neuen Mitgliedsstaaten geschehen.
„Es sind die Verteilungseffekte der Zuwanderung, die eventuell die relative Lohnsituation des
gering qualifizierten Medianwählers in den auf die Herstellung der Freizügigkeit folgenden
Jahren etwas verschlechtern werden, die zu der momentan betriebenen Abschottungspolitik …
führen.“ (Belke, Hebler 2002: 171; vgl. Schneider 2006).

Ein Beleg für die eher strategischen denn sachlichen Gründe für die Rücksich-
tnahme auf Medianwählerinteressen findet sich in der Dokumentation des öster-
reichischen Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa. Die Studie referiert
die Einschätzung des damaligen österreichischen Wirtschaftsministers Martin
Bartenstein, die Schätzungen des Migrationspotentials seien „bei weitem über-
trieben. Die Zuwanderung sei vielmehr eine willkommene Entwicklung. Die
Übergangsfrist werde nur zur Beruhigung der Kritiker gebraucht.“ (Petsche,
Hinteregger 2001: 49)
Für differenzierte Analysen, die zum Beispiel in Betracht ziehen, dass sich
vor allem hoch qualifizierte Arbeitnehmer wegen der geringen Beschäftigungs-
chancen in ihrem Heimatland zur Migration entschließen, ist in einem solchen
Kalkül kein Platz. Auch das Problem zunehmender illegaler Migration als Kon-
sequenz des verwehrten legalen Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt (vgl.
Vobruba 2003; 2005) findet keinen Eingang in die Diskussion. Stattdessen wer-
den Ängste vor Massenzuwanderung „zusätzlich geschürt durch populistische
Politiker“ (Höltschi 2001), die in höherem Maße als die (potentiell negativ be-
troffenen) Bürger selbst Migration dämonisieren, um mit dieser Sündenbock-
Strategie Wählerstimmen zu sammeln (vgl. Boeri, Brücker 2005: 38).
Arbeitnehmerfreizügigkeit 191

Das Bedrohungsszenario – Zuzug „nicht verkraftbar“ (Schröder 2000), „un-


zumutbare Belastungen für unseren Arbeitsmarkt“ (CDU 2004), auch: „Schran-
kenlose Arbeitnehmerfreizügigkeit ist soziale Zeitbombe!“ (FPÖ 2006) – bedien-
te die Befürchtungen des Medianwählers. Die politischen Akteure konnten die-
sen Hintergrund auf der EU-Verhandlungsebene als Legitimation für Unnach-
giebigkeit nutzen. Im eigenen Land wiederum konnte demonstriert werden, dass
die Verhandlungsergebnisse die Sorgen von Teilen der Bevölkerung um Arbeits-
plätze und Beschäftigungschancen reflektierten; und die Übergangsregelungen
wurden als Erfolg im Kampf um Interessenwahrung präsentiert. Dementspre-
chend folgerte die Neue Zürcher Zeitung schon 2001, „mag sich der Weidener
Vorstoss des deutschen Kanzlers bei der nächsten Bundestagswahl auszahlen“
(Höltschi 2001).
Dass nationale Akteure die Interessen ihres Landes beziehungsweise ihrer
Wahlklientel auf dem Umweg über die EU-Ebene verfolgen, ist kein neues Phä-
nomen (vgl. Nissen 2004; 2006). Die Freizügigkeitsdebatten zeigten schon bei
der Süderweiterung eine ähnliche Struktur. Auch damals waren, politisch moti-
viert, lange Übergangsfristen zum Schutz heimischer Märkte beschlossen wor-
den, obwohl nur eine moderate Migrationsentwicklung prognostiziert worden
war. Die dann ohne große Diskussion umgesetzte vorzeitige Aufhebung der
Fristen für Spanien und Portugal zeigte, dass die zunächst getroffene Entschei-
dung für eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit „von eigenen politi-
schen Schwierigkeiten“ in den Alt-Mitgliedsländern hatte ablenken sollen (Bartz
2006: 141).
Die zunächst 2007 und nochmals 2008 angekündigten Anpassungsmaß-
nahmen machten erneut deutlich, dass die deutsche Bundesregierung nur zu
geringen Zugeständnissen an die europäische Politik bereit war. Die selektive
Öffnung des Arbeitsmarktes für Hochqualifizierte begünstigt sehr kleine Perso-
nenkreise im Ausland, während der Arbeitsmarkt für Erwerbstätige mit geringen
Qualifikationen grundsätzlich geschlossen bleibt. Negative Folgen im Inland
sind von diesem Ansatz nicht zu erwarten (Straubhaar 2000). Auch diese ersten
Schritte einer Arbeitsmarktöffnung dienen politischem Kalkül. Zum einen rea-
gierte die Bundesregierung auf die Klagen des unternehmerischen Mittelstandes
über die heimische Arbeitsmarktentwicklung und den wachsenden Mangel an
Fachkräften (Bovensiepen 2007; DIHK 2007). In der deutschen Wirtschaft brö-
ckelte nach der ersten Verlängerung der Freizügigkeitsbeschränkungen die Front
der Befürworter von Übergangsregelungen, einige Verbände befürchteten, dass
vor allem qualifizierte Arbeitskräfte weiter an Deutschland vorbei wandern
müssten (vgl. BDA, BDI 2005; DIHK 2008). Zum anderen gab die Bundesregie-
rung den Forderungen der Europäischen Kommission nach Vollendung des Bin-
nenmarktes nach, die seit dem ersten Zwischenbericht der Kommission lauter
192 Sylke Nissen

wurden (Europäische Kommission 2006), und demonstrierte so aktive Beteili-


gung an der europäischen Integrationspolitik. Faktisch handelte es sich ange-
sichts der wenigen begünstigten Hochqualifizierten jedoch um eine symbolische
Öffnungsmaßnahme bei gleichzeitiger strikter Demonstration nationaler Souve-
ränität. Denn der Hinweis, die Übergangsfrist würde bis 2011 verlängert, bleibt
den politisch perzipierten Interessen des Medianwählers, einiger Wirtschafts-
zweige und Gewerkschaften sowie der grenznahen Regionen verbunden.

„Was bedeutet die Europäische Union für Sie persönlich?“


Entspricht aber die nationale Strategie der fortgesetzten Beschränkung der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit neben den Präferenzen des Medianwählers auch denen
der Bevölkerung? Kann die Skepsis der möglicherweise von Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit negativ betroffenen Bevölkerungsgruppe verallgemeinert werden? Wie
sieht die öffentliche Meinung dazu in Deutschland und Europa aus? Um Anhalts-
punkte für die Rückbindung der Politik an die Bevölkerungspräferenzen zu fin-
den, ziehe ich verschiedene Surveys zum Freizügigkeitsthema heran und unter-
suche, ob sich Übereinstimmungen oder Unterschiede zwischen Elitenpositionen
und Einstellungen der Bürger zeigen. Besonders aufschlussreich für meine Fra-
gen sind Eurobarometer-Surveys der Jahre 2002 bis 2008 sowie Untersuchungs-
ergebnisse von Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld und Jürgen Schupp (2007).
Einer der Vorzüge des Eurobarometers besteht in der nun schon über drei-
ßigjährigen Kontinuität der Erhebungen. Die erste Umfrage wurde 1973 durch-
geführt. Für manche Themen stehen Daten zur Verfügung, die seit 1978 zweimal
pro Jahr EG/EU-weit repräsentativ erhoben wurden. Ein Defizit des Eurobaro-
meters liegt dagegen in dessen Theorielosigkeit.
Obwohl die Freizügigkeit der Arbeitnehmer seit 1969 Bestandteil des Ver-
tragswerks ist und der Umfang der Eurobarometer und ihrer Dokumentationen
stetig wächst,22 fehlt bislang eine spezifische Untersuchung der Einstellungen zu
den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Erst seit 2002 enthält jedes Euroba-
rometer mit Ausnahme der Umfragen 58 (Herbst 2002), 66 (Herbst 2006) und 68
(Herbst 2007) eine Frage nach der Relevanz der EU für die Befragten: Was be-
deutet die Europäische Union für Sie persönlich? Eine der 14 vorgegebenen
Antwortmöglichkeiten zitiert die „Freiheit, überall innerhalb der EU reisen, stu-
dieren und arbeiten zu können“.
Das folgende Schaubild zeigt die Verteilung und Entwicklung der Zustim-
mung zu dieser Antwortmöglichkeit in den Jahren 2002 bis 2008 für Deutsch-
land und Österreich. Zum Vergleich enthält die Graphik außerdem die Werte für

22 Die erste Publikation der Umfrageergebnisse hatte mit statistischem Anhang 40 Seiten. Die
englische Dokumentation der Frühjahrsumfrage 2007 (EB 67) umfasst 505 Seiten.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 193

den Durchschnitt der EU-15 sowie für Luxemburg als europafreundliches und
für Großbritannien als Beispiel für ein europaskeptisches Land.

Grafik 1: Was bedeutet die Europäische Union für Sie persönlich?


Die Freiheit, überall innerhalb der EU reisen, studieren und arbeiten
zu können

70

Luxemburg
65

60
Deutschland
55

50
EU-15
45

40
Österreich
35

30 Großbritannien

25

20
Frühjahr Frühjahr Herbst 2003 Frühjahr Herbst 2004 Frühjahr Herbst 2005 Frühjahr Frühjahr Frühjahr
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Quelle: Eurobarometer, verschiedene Jahre

Insgesamt steigt die Zustimmung zur „Bewegungsfreiheit“ in Europa im EU-15-


Durchschnitt von 50 auf 52%,23 in Deutschland von 47 auf 55%, in Österreich
von 39 auf 46%. Zu allen Umfragezeitpunkten und in allen Ländern bekommt
die Freizügigkeit die höchsten oder zweithöchsten Zustimmungswerte, vor allen
anderen angebotenen Antwortmöglichkeiten. Nur in Großbritannien sinkt die
Wertschätzung 2007 unter das Ausgangsniveau von 2002, und in Österreich sind
abwechselnd die ebenfalls angebotenen Kategorien „Der Euro“ oder „Geldver-
schwendung“ etwas stärker besetzt, in Deutschland in den Umfragen vor der
Erweiterung ebenfalls „Der Euro“.
Auffallend ist der starke Sprung in der Zustimmung, der sich in zahlreichen
Mitgliedsländern von der Frühjahrs- auf die folgende Herbstumfrage 2004 voll-
zog. Zwischen diesen beiden Umfragezeitpunkten fand mit dem Beitritt der zehn
ost- und mitteleuropäischen Länder die Implementation der Übergangsregelun-

23 Frühjahr 2007 (EB 67), für Frühjahr 2008 wurde dieser Wert nicht ausgewiesen.
194 Sylke Nissen

gen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit statt. In Öster-


reich stieg die Zustimmung von 38 auf 51%, in Deutschland von 51 auf 57%,
darunter in den neuen Bundesländern von 47 auf 52%. Graphik 2 zeigt für alle
EU-15, um wie viel Prozentpunkte sich die Werte zwischen Frühjahr und Herbst
2004 verändert haben.

Grafik 2: Entwicklung der Voten für „Die Freiheit, überall innerhalb der EU
reisen, studieren und arbeiten zu können“ zwischen Frühjahr 2004
und Herbst 2004 (Prozentpunktdifferenz)
19

14
13
12
11

6 6
4
3 3
2

-1 -1
Österreich

Frankreich

Dänemark
Belgien

Irland

Portugal
Schweden
Griechenland

Niederlande

Deutschland

Finnland

EU-15

-3
Luxemburg

Großbritannien

-6

Italien
Spanien

-15

Quelle: Europäische Kommission 2005: 39

In der Graphik verteilen sich die Mitgliedsländer der EU-15 auf drei Gruppen: In
der ersten Gruppe liegt die Steigerung der Zustimmung im zweistelligen Bereich,
in der mittleren Gruppe sind die Werte positiv aber einstellig, und in der dritten
Gruppe nahm die Zustimmung ab. Bemerkenswert ist die starke Zunahme der
Zustimmung in Belgien, Griechenland und Österreich ebenso wie die starke
Abnahme in Italien.24

24 Das Eurobarometer gibt keine länderspezifischen Erklärungen für diese Sprünge. Aus den
Daten für Italien geht allerdings hervor, dass dort die Zustimmung zu der Antwortmöglichkeit
„Kulturelle Vielfalt“ ebenfalls stark zurückgeht, während die Zustimmung zu den Antworten
Arbeitnehmerfreizügigkeit 195

Betrachtet man nun noch einmal die Übergangsregelungen, die die EU-15-
Länder für die erste Phase nach der Erweiterung 2004 gewählt haben (siehe
Darstellung im Anhang), und sucht in der obigen Graphik die Länder mit starken
Restriktionen beziehungsweise mit früher Freizügigkeit, dann ergibt sich ein
uneinheitliches Bild. Länder, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit stark beschränk-
ten, sind sowohl in der Gruppe mit dem stärksten Anstieg der Zustimmung (Bel-
gien, Griechenland, Österreich) zu finden als auch in der Gruppe, die einen
Rückgang der Zustimmung zur Antwort „Bewegungsfreiheit“ verzeichnete
(Spanien).
Die Länder ohne Freizügigkeitsbeschränkungen sind in allen drei Gruppen
vertreten, nämlich Irland im zweistellig positiven Bereich, Großbritannien im
negativen, Schweden liegt in der Mitte. Auch der Blick auf das Zustimmungsni-
veau im Frühjahr 2004 und die Umfrageergebnisse vor und nach dem Beitritt
von Rumänien und Bulgarien führt zu dem gleichen Ergebnis: Die Wahl der
Freizügigkeitsregeln in den Mitgliedsländern der EU-15 und die im Eurobarome-
ter gemessene öffentliche Meinung in den EU-15 zur Frage der Freizügigkeit
zeigen kein erkennbares Muster von Öffnung und Zustimmung oder Restriktio-
nen und Ablehnung.
Allein für Großbritannien kann die Gestaltung der Übergangsregeln in sinn-
vollem Zusammenhang mit der im Eurobarometer dokumentierten Einstellung
der Bevölkerung zur „Bewegungsfreiheit“ interpretiert werden. Bis zum Frühjahr
2004 steigen die Zustimmungswerte zur Freizügigkeit auf ein Niveau, das nur
wenige Prozentpunkte unter dem Durchschnitt der EU-15 liegt. Getragen von
dieser positiven Entwicklung, so könnte man deuten, öffnete die britische Regie-
rung den Arbeitsmarkt und verlangte von Arbeitnehmern, die aus den Beitritts-
ländern nach Großbritannien kommen, nur die fristgerechte Regis-trierung beim
Innenministerium: „You can come to the UK to work, if you register, but you
cannot claim benefits“ (Home Office 2004). Noch im Jahr 2004 lässt sich im
Eurobarometer die Reaktion der britischen Bevölkerung auf Zuwanderung able-
sen. Die Zustimmungswerte sinken von Umfrage zu Umfrage auf den bisherigen
Tiefstand Anfang 2008 (siehe Graphik 1). Zu diesem Zeitpunkt hat die britische
Regierung bereits reagiert und den Arbeitsmarkt für Zuwanderer aus Bulgarien
und Rumänien weitgehend geschlossen, so dass Großbritannien nicht mehr Ziel-
land für jene Migranten werden kann, für die die Arbeitnehmerfreizügigkeit in
anderen Mitgliedsländern eingeschränkt ist. „… we have decided to take a grad-

„Geldverschwendung“ und „mehr Kriminalität“ um jeweils fünf Prozentpunkte steigt. In Bel-


gien ist der Sprung um 19 Prozentpunkte eingebettet in zweistellige Zustimmungszuwächse
bei insgesamt sieben Antwortmöglichkeiten: Die Freiheit, überall innerhalb der EU reisen,
studieren und arbeiten zu können/ Soziale Absicherung/ Frieden/ Kulturelle Vielfalt/ Mehr
Mitsprache in der Welt/ Demokratie/ Wirtschaftlicher Wohlstand.
196 Sylke Nissen

ual approach this time round, taking account of the needs of our labour market,
the impact of EU expansion and the positions adopted by other Member States.“
(Home Office 2006; vgl. Allen 2008). Die Rückkehr des „wirtschaftlichen Na-
tionalismus“ (Oldag 2009) im Zuge der globalen Finanzkrise lässt vermuten,
dass mit einer vorzeitigen Öffnung des britischen Arbeitsmarktes für Arbeitneh-
mer aus Bulgarien und Rumänien nicht zu rechnen ist. Mit Parolen wie „Put
British workers first“ wandten sich die britischen Gewerkschaften gegen die
Beschäftigung von Italienern und Portugiesen, ganz zu schweigen von Osteuro-
päern (Burns 2009).
Wie belastbar sind diese Ergebnisse des Eurobarometers? Nehmen die Be-
fragten überhaupt wahr, dass sie nicht nur die Reisefreiheit in der EU bewerten,
sondern dass in der Frage auch die Freiheit genannt wird, überall in der EU ar-
beiten zu können? Verbinden sie mit dieser Antwortvorgabe auch das Recht aller
anderen EU-Bürger, in ihrem Land arbeiten zu dürfen? Das Eurobarometer gibt
auf diese Fragen keine Antwort.
Hinweise auf die Belastbarkeit der positiven Einstellungen zur Freizügigkeit
in Europa und auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungseinstellungen und
Regierungshandeln bietet – zumindest für Deutschland – eine repräsentative
Sondererhebung des sozio-oekonomischen Panels (Gerhards et al. 2007). In
dieser Studie sollen die Befragten nicht aus der Distanz alternative Vorgaben
bewerten, sondern sich eine konkrete Arbeitsmarktkonstellation vorstellen, die
im Vorfeld der Erweiterung durchaus als potentielle Verdrängungsgefahr thema-
tisiert wurde:
„Ein Ziel der Europäischen Union ist es, dass jeder Arbeitnehmer in jedem Land der EU arbei-
ten darf. Wie ist Ihre Meinung zu folgender Aussage?
Es ist gerecht, dass Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedsland der EU in Deutschland ar-
beiten dürfen, auch wenn es für manche Deutsche dann schwieriger wird, einen Job zu be-
kommen.“ (Gerhards et al. 2007: 38)

Die Befragten stimmen der Aussage mehrheitlich zu. Das Ausmaß der Zustim-
mung variiert erwartungsgemäß, wenn die Nationalität der potentiellen Zuwan-
derer spezifiziert und wenn nach Bildungsniveau der Befragten differenziert
wird; aber das Niveau liegt in jedem Fall über 50%. Daraus schließen die Auto-
ren, „dass die durch die Freizügigkeitsregel implementierte Idee einer Gleichheit
aller EU-Bürger offenbar große Unterstützung bei den Bürgerinnen und Bürgern
der Bundesrepublik Deutschland findet.“ (ebd.: 39). Gerhards, Lengfeld und
Schupp geben sich mit diesem Befund allerdings nicht zufrieden, sondern weisen
zu recht auf die Unverbindlichkeit normativer Äußerungen hin. Daher legen sie
den Befragten eine hypothetische Entscheidungssituation vor, bei der diese sich
ceteris paribus für die Vergabe eines Auftrags an eine deutsche oder eine polni-
sche Firma entscheiden mussten. Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß aus: Drei
Arbeitnehmerfreizügigkeit 197

Viertel der Befragten würden die deutsche Firma bevorzugen. Im dritten Teil
ihrer Untersuchung führen die Autoren schließlich die Kostendimension ein und
verknüpfen ihre Frage noch stärker mit handlungsrelevanten Aspekten. Würde
der Auftrag unter sonst gleichen Bedingungen an die polnische Firma gehen,
wenn diese 10% oder gar 50% preiswerter ist als die deutsche? Tatsächlich
nimmt der Anteil der Befragten, der sich an die polnische Firma wenden würde,
mit sinkenden Kosten zu: „Von den ursprünglich 74% der Befragten, die die
deutsche Firma unter der Bedingung gleicher Preise beauftragt hätten, bleiben
nur noch 31% übrig“, wenn die polnische Firma um die Hälfte billiger wäre
(ebd.: 41). Besonders bemerkenswert an den Ergebnissen ist, dass dies auch für
jene Befragten gilt, „die der generellen Europäisierung der Arbeitsmärkte kri-
tisch gegenüber stehen.“ (ebd.: 42)25
In den skizzierten Ergebnissen der repräsentativen Eurobarometer- und Pa-
nel-Befragungen kommt eine positive Grundhaltung zur Freizügigkeit in der
Europäischen Union zum Ausdruck. Die Befragten schätzen die Möglichkeit,
überall in Europa reisen, studieren und arbeiten zu können, und zumindest für
die Deutschen gilt diese Position auch bei Simulation realistischer Wettbewerbs-
bedingungen. Tiefgehende Freizügigkeitsskepsis kommt in diesen Ergebnissen
nicht zum Ausdruck.
Nach den Daten des Eurobarometers findet Freizügigkeit in Europa die Un-
terstützung der Bevölkerung. Und auch die Untersuchung von Gerhards, Leng-
feld und Schupp hat für Deutschland gezeigt, dass die Leute – wenn auch über
die Kostenfrage beeinflusst – der europäischen Integration aufgeschlossen ge-
genüberstehen. Daraus lässt sich schließen, dass die politischen Akteure in der
hier untersuchten Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf repräsentative Ein-
stellungen der Bevölkerung zurückgreifen können, die den Integrationsprozess
unterstützen.
Beide Surveys zeigen also andere Einstellungen als jene weiter oben refe-
rierten Positionen des Medianwählers, die der Politik als Legitimationsbasis für
die fortgesetzte Schließung des deutschen Arbeitsmarktes dienten.

Die politische Orientierung am Medianwähler


Im Prozess der europäischen Integration haben die Bevölkerungen der EU-
Mitgliedsländer keinen besonders guten Stand. Nachdem sie jahrzehntelang für
die Entwicklung der EU keine Rolle gespielt haben, wird ihnen inzwischen vor-
geworfen, die auf Europäisierung angelegte Politik zu bremsen. Die EU-
politischen Akteure deuten diese Haltung als Folge von Informationsdefiziten,

25 Eine ausführlichere Darstellung dieser Erhebung findet sich in dem Beitrag von Jürgen Ger-
hards und Holger Lengfeld in diesem Band.
198 Sylke Nissen

die beseitigt werden müssen, um dem Integrationsprozess zu größerem Erfolg zu


verhelfen (vgl. Europäische Kommission 2005a; 2005b). Tatsächlich aber bremst
die Bundesregierung selbst mit Verweis auf die Sorgen und Ängste der Leute
den Prozess der Europäisierung.
Diese Zurückhaltung wird erklärungsbedürftig, denn die diskutierten Er-
gebnisse der Meinungsforschung lassen darauf schließen, dass die politischen
Eliten, die das Projekt Europa vorantreiben wollen, mit der Unterstützung der
Bevölkerung rechnen könnten. Warum dominiert nicht eine integrations-affine
Koalition aus politischen Akteuren und öffentlicher Meinung das Bild, sondern
skeptische Bevölkerungen und zurückhaltende Politik?
Der Schlüssel zum Verständnis der beobachteten Diskrepanz liegt in der
Tatsache, dass für die nationalen politischen Akteure als Grundlage für ihre
Entscheidungen nicht jene repräsentativen Bevölkerungsmeinungen relevant
sind, die das Eurobarometer misst. Sie beziehen sich vielmehr auf die Einstel-
lungen des Medianwählers, dessen Präferenzen sich nicht mit denen des Bevöl-
kerungsdurchschnitts decken, sondern der im Fall der hier diskutierten Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ein viel stärkeres Bedürfnis nach Schutz vor Arbeitsmarkt-
konkurrenz aus dem Ausland artikuliert. Da der Medianwähler in der bevölke-
rungsstarken Gruppe gering qualifizierter Beschäftigter verortet wird, reagierten
die politischen Akteure insbesondere in Deutschland und Österreich mit der
Zurückhaltung bei der Arbeitsmarktöffnung auf die Existenzsicherungsinteressen
einer politisch relevanten Klientel und wahrten so zugleich ihre eigenen politi-
schen Bestandsinteressen. Gegen diese politische Eigenlogik können Signale der
Entwarnung, wie moderate Migrationsschätzungen, Daten über geringe Zuwan-
derungssorgen der Bevölkerung oder Hinweise auf die positiven Erfahrungen
jener Mitgliedsländer, die ihre Arbeitsmärkte frühzeitig öffneten, nichts ausrich-
ten (vgl. Brücker 2005).
Vor der Entscheidung über die letztmalige Verlängerung der Einschränkung
der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis 2011 schmilzt die Freizügigkeitstoleranz der
Bevölkerung. Durch die Finanzkrise werden die Leute verstärkt mit Fragen ma-
terieller Existenzsicherung konfrontiert. Obwohl es Anzeichen gibt, dass die
vollständige Freizügigkeit für den deutschen Arbeitsmarkt und die deutsche
Wirtschaft opportun wäre (vgl. DIHK 2007), sinkt nun der politische Handlungs-
spielraum für eine Öffnung. Die Bundesregierung will die Einführung der Frei-
zügigkeit in der Krise vermeiden, trifft allerdings noch auf den Widerstand der
Kommission. Arbeitskommissar Vladimir Spidla stellte im Februar 2009 klar:
„Es gibt aus unserer Sicht derzeit kein wirklich starkes Argument für eine weite-
re Verlängerung der Übergangsfristen. Wir sehen keine sozioökonomischen
Ansatzpunkte, die eine Begrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertigen
könnten.“ (Der Standard, 11.02.2009: 21) Doch aus Österreich und vor allem
Arbeitnehmerfreizügigkeit 199

Deutschland wird der Druck auf die Kommission steigen. Im Europa- und Bun-
destagswahljahr 2009 steht für die politischen Akteure mehr auf dem Spiel als
der Schutz vor vermeintlicher Arbeitsmarktkonkurrenz aus Osteuropa. Es geht
darum, Wählerinteressen zu bedienen, die durch den Medianwähler stärker re-
präsentiert werden als durch den Durchschnittswähler.

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Arbeitnehmerfreizügigkeit 203

Anhang
I. Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den neuen Mitglied-
staaten
Phase I: 2004-2006 Phase II: 2006-2009

Deutschland Zugang zum Arbeitsmarkt für Deutschland3 Arbeitserlaubnisfrist bleibt


Österreich mindestens zwei Jahre stark Österreich bestehen
beschränkt Weitere Einschränkung der
Zugang zum Wohlfahrtsstaat Dienstleistungsfreiheit
beschränkt
Einschränkung der Dienstleis-
tungsfreiheit

Belgien Zugang zum Arbeitsmarkt für Belgien Arbeitserlaubnisfrist bleibt


Finnland mindestens zwei Jahre stark Dänemark bestehen.
Frankreich beschränkt Vereinfachte Verfahren
Griechenland Zugang zum Wohlfahrtsstaat Reduzierung von Beschrän-
Luxemburg beschränkt kungen in bestimmten
Niederlande Sektoren/Berufen

Italien Zugang zum Arbeitsmarkt für Finnland4 Aufhebung der Einschrän-


Portugal mindestens zwei Jahre stark Frankreich kungen zwischen 2006 und
Spanien beschränkt Griechenland 2008
Quoten für Arbeitserlaubnisse1 Italien
Zugang zum Wohlfahrtsstaat Luxemburg
beschränkt Niederlande
Polen
Dänemark Genereller Zugang zum Arbeits- Portugal
markt, aber Auflagen für Arbeits- Slowenien
und Aufenthaltsgenehmigungen. Spanien
Arbeitsgenehmigungen zunächst
auf ein Jahr beschränkt
Aufenthalts- und Arbeitsgenehmi-
gungen können bei Arbeitslosig-
keit entzogen werden

Großbritannien Genereller Zugang zum Arbeits- Großbritannien5 Keine Einschränkung der


Irland markt, aber Auflagen für Arbeits- Irland Freizügigkeit
und Aufenthaltsgenehmigungen2
Arbeitsgenehmigungen zeitlich
beschränkt. Sicherheitsklauseln
Hilfe zum Lebensunterhalt nur bei
dauerhafter Aufenthaltsgenehmi-
gung

Schweden Freizügigkeit für Arbeitnehmer Schweden Keine Einschränkung der


Wohlfahrtsstaatliche Gleichstel- Freizügigkeit
lung mit EU-Bürgern
204 Sylke Nissen

Phase I: 2004-2006 Phase II: 2006-2009

Polen Einschränkung der Freizügigkeit Ungarn Beschränkungen nach


Slowenien für Arbeitnehmer aus den EU-15- dem Gegenseitigkeits-
Ungarn Staaten durch Anwendung des prinzip
Tschechien Grundsatzes der Gegenseitigkeit
1 3
Spanien hat in einem bilateralen Abkommen eine Seit November 2007 keine Arbeitsmarkt-
Quote für die Zuwanderung von polnischen Arbeit- Vorrangprüfung mehr für Bürger der EU-
nehmern festgelegt Beitrittsstaaten mit Qualifikation zum
2
Arbeitnehmer aus den EU-8-Staaten in Großbritan- Maschinen-, Fahrzeugbau- und Elektroin-
nien müssen sich innerhalb von 30 Tagen nach Auf- genieur
4
nahme einer Beschäftigung beim Innenministerium nachträgliche Registrierung der Beschäfti-
anmelden gung
5
Beibehaltung des Meldesystems

II. Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer nach dem Beitritt von
Bulgarien und Rumänien
Phase 1: 2007-2009

Deutschland Zugang zum Arbeitsmarkt für Belgien Freizügigkeit in bestimmten


Österreich mindestens zwei Jahre stark be- Griechenland Branchen, Vereinfachte
schränkt Luxemburg Verfahren der Erteilung von
Einschränkung der Dienstleistungs- Malta Arbeitserlaubnissen bei
freiheit Arbeitskräftemangel

Großbritan- Zugang zum Arbeitsmarkt be- Finnland Freizügigkeit für Arbeitneh-


nien1 schränkt, Arbeitsgenehmigung Zypern mer
Spanien, erforderlich Slowenien Registrierung der Beschäfti-
Portugal gung zu Überwachungszwe-
Irland cken

Niederlande Vorrangregelung für nationale Estland Keine Einschränkung der


Arbeitskräfte bzw. Arbeitskräfte aus Lettland Freizügigkeit
den EU25. Zeitlich begrenzte Litauen
Ausnahmen können für Sektoren Polen
gewährt werden, in denen Arbeits- Schweden
kräftemangel herrscht Slowakei
Tschechien

Italien Freizügigkeit in bestimmten Bran- Bulgarien Keine Einschränkung der


Ungarn chen, Tätigkeitsbereichen oder Rumänien Freizügigkeit für Arbeitneh-
Frankreich Qualifikationen mer aus den EU-25-Staaten,
Dänemark Vereinfachte Verfahren der Ertei- keine Anwendung des
lung von Arbeitserlaubnissen Grundsatzes der Gegenseitig-
keit
1
in Großbritannien darüber hinaus Quotenregelung für
Geringqualifizierte, Highly Skilled Migrant Program-
me für Hochqualifizierte

Quelle: Brücker 2005: 354; BMAS 2007; Bundesregierung 2007; Europäische Kommission 2009
Arbeitnehmerfreizügigkeit 205

Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie


Elmar Altvater

Einleitung:
Entbettung des Marktes, Verselbständigung und Sachzwänge der Ökonomie
Niklas Luhmanns Bemerkung ist für Ökonomen überraschend, aber sie ist rich-
tig: „Eine zureichende Theorie des Marktes fehlt, auch und gerade in den Wirt-
schaftswissenschaften“ (Luhmann 1990: 107). Das Diktum trifft auch für das
Geld oder für die Arbeit zu, und um diese theoretische Lücke zu schließen,
müssten wir sogleich in den Schriften von Heiner Ganßmann lesen, um Einsich-
ten in die Grundkategorien der modernen Wirtschaft zu gewinnen (Ganßmann
1996). Ganßmann ist kein Wirtschaftswissenschaftler, so wie ihn Luhmann vor
Augen hat. Bei weiterem Schürfen würden wir auch auf die Kategorie des Kapi-
tals stoßen – und dann wären wir dort, wo Luhmann nicht hin will und wovon
sich Heiner Ganßmann in den letzten Jahren entfernt hat: bei der Kritik der poli-
tischen Ökonomie und mithin bei Marx. Wenn wir uns dann mit Verselbständi-
gungstendenzen der Ökonomie auseinander setzen, stoßen wir unweigerlich auf
den Fetischcharakter der Ware, des Geldes, des Kapitals, auf das Eigenleben
unserer praktischen und theoretischen Machwerke. Sie verwandeln sich in ver-
selbständigte – und verdinglichte – Kategorien und sie werden zu Sachzwängen,
denen die Marktakteure als ihre Schöpfer nun Rechnung zu tragen haben,
manchmal mit so schmerzhaften Erfahrungen, wie sie der vom verselbständigten
Besen geprügelte Zauberlehrling Goethes machen musste.
In Zeiten der Globalisierung gehen die Sachzwänge vom Weltmarkt aus.
Dass wir mit diesem Gang der Argumentation nicht in der „Mottenkiste des 19.
Jahrhunderts“ zu wühlen beginnen, sondern höchst aktuelle Markttendenzen
ansprechen, führen uns die schweren Finanzkrisen von mehr und mehr globali-
sierten Finanzmärkten seit den 1970er Jahren vor Augen: Der „neoliberale Kri-
senzyklus“ hatte seine Ouvertüre in der Schuldenkrise der Dritten Welt der
1980er Jahre, setzte sich im ersten Akt fort mit den Finanzkrisen der Schwellen-
länder Asiens, Lateinamerikas und Osteuropas in den 1990er Jahren, wurde vom
Zwischenspiel der New economy-Krise in den USA um die Jahrhundertwende
unterbrochen und findet einen furiosen Höhepunkt in der schweren Kreditkrise
206 Elmar Altvater

in den Industrieländern im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Die Krisen


(im Plural, oder ist es nur eine Krise der globalen Finanzmärkte im Singular?)
sind Ausdruck einer Höchstform der Verselbständigung der finanziellen gegen-
über der realen ökonomischen Sphäre, und unter ihren vernichtenden Rückwir-
kungen haben Millionenmassen zu leiden. Die Verluste der Realwirtschaft durch
die Finanzkrisen der 1990er Jahren betragen nach Angaben des IWF und der
Weltbank zwischen etwa 20% des Bruttosozialprodukts im Falle Mexikos 1994
und mehr als 60% in den Jahren nach 2001 in Argentinien (vgl. Luna Martinez
2002). Die Abschreibungen von faulen Immobilienkrediten belaufen sich nach
Angaben des IWF auf bis zu 1.000 Milliarden US-Dollar, die Kosten der nach-
folgenden Finanzkrise auf mindestens 1.400 Milliarden US-Dollar (bis Oktober
2008). Die realen Folgen der Verselbständigung haben ganze Gesellschaften in
die Knie gezwungen. Denn die Sachzwänge der verselbständigten globalen
Märkte sind unerbittlich. Karl Polanyi hatte Recht, als er entbettete Märkte als
„Teufelsmühlen“ bezeichnete (Polanyi 1978: 59f.).
Die Dynamik der Entbettung von Märkten, die Verselbständigung der Öko-
nomie und schließlich die Rückwirkungen auf die reale Ökonomie, die Gesell-
schaft und Natur in der Gestalt von Sachzwängen sind das Thema des nachfol-
genden Beitrags. In der Analyse der Entbettungs- und Verselbständigungsten-
denzen werden deren „hardware“, das fossile Energiesystem in Verbindung mit
dem industriellen Energiewandlungssystem nämlich, und die „software“ des
globalen Finanzsystems, die das finanzgetriebene Akkumulationsregime zum
Laufen bringt, einen bedeutenden Platz einnehmen. Das „finanzgetriebene Ak-
kumulationsregime“ generiert Renditeforderungen und verlangt daher die Pro-
duktion eines realwirtschaftlichen Überschusses, der angesichts der Leistungs-
grenzen der „hardware“, also angesichts der Grenzen von Ressourcen und Depo-
nien von Schadstoffen nicht dauerhaft – und keineswegs in obendrein wachsen-
dem Maße – zu erbringen ist.

Der Markt und seine Hohepriester


Hier deutet sich eine Theorielücke an, die umso breiter klafft, je mehr man sich
vom Markt unserer Alltagsvorstellungen auf den Weltmarkt für Waren, Arbeit,
Geld und vor allem von Kapital begibt, je mehr man also den Kapitalkreislauf im
globalen Raum verortet und nicht nur die reale Ökonomie taxiert, sondern die
treibende Rolle der Finanzmärkte diskutiert. Der Markt könnte in erster Annähe-
rung als funktionaler Ort von Tauschvorgängen begriffen werden. Das lässt ver-
schiedene, und zwar konträre, Deutungen zu. Man könnte erstens mit F. A. von
Hayek (und J. St. Mill) den ökonomischen Prozess als reine Katallaxie, als eine
unendliche Serie von preisgesteuerten Tauschvorgängen konzipieren, die im
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 207

Endeffekt ein Gleichgewicht hervorbringen, bei dem kein Marktagent Veranlas-


sung hat, seine Pläne zu revidieren. Damit würde sich jede Vorstellung von
Wirtschaft als orts- und zeitgebundener Veranstaltung in jeweils historischen
sozialen Kontexten erledigen. Die Marktwirtschaft wäre eine endemisch entbet-
tete Rationalveranstaltung. Finanzielle Instabilitäten wegen der Unsicherheit der
Zukunft wären in einer zeit- und raumlosen Welt ausgeschlossen und Finanzkri-
sen daher auch. Von Verselbständigung oder von Sachzwängen zu sprechen,
würde der Mechanik dieser Marktökonomie nicht gerecht werden. Doch die
Unterstellung eines Gleichgewichts war schon Cournot ein Gräuel, da im
Gleichgewicht veränderndes Handeln irrational würde und die Geschichte mithin
an ein Ende gerät (vgl. dazu Anderson 1992: 294ff.). Alternativen gibt es nicht
mehr. Margret Thatcher steht mit ihrem berühmten TINA-Wort „There is no
alternative“ am Ende eines Weges, wo kein Fortkommen mehr ist.
Historische Zeit und geografischer Raum haben keinen Platz mehr im Theo-
riegebäude, und jenseits der Befolgung von Sachzwängen gibt es keine Hand-
lungsoptionen. Sachzwänge sind eine mechanische Aufeinanderfolge von Pro-
zessen, wie Bewegungen im Laufwerk einer Uhr, wenn erst einmal eine Batterie
eingesetzt und so für die Stromzufuhr gesorgt ist. Selbst von Hayek wehrt sich
gegen dieses tabula rasa-Denken; denn Ungleichgewichte sind es gerade, die
Innovationen, die Suche nach einem Weiterkommen auf dem Weg der Geschich-
te stimulieren. Der Markt ist keine Gleichgewichtsveranstaltung, auf der alle
Erwartungen erfüllt werden, sondern ein offenes „Entdeckungsverfahren“ durch
Versuch und Irrtum (von Hayek 1968). Nur wenn dieses Verfahren läuft und
durch den unbedingt erforderlichen Eingriff von Marktakteuren in Gang gehalten
wird, ändert sich die Welt. Doch ist die Änderung auch eine Verbesserung? Die
Finanzkrisen der jüngsten Zeit haben gezeigt, dass die „Entdeckungsverfahren“
nicht zu besseren Lösungen führen müssen, sondern in die Irre, ja ins ökonomi-
sche und soziale Desaster leiten. Die „Herde“ von Finanzinvestoren (vom „her-
ding“-Effekt wird spätestens seit der asiatischen Finanzkrise 1997 gesprochen)
verheddert sich in Sackgassen der Entwicklung; die Kosten, da wieder durch ein
„bail-out“ heraus zu kommen, werden denjenigen aufgeladen, die am wenigsten
Macht und Einfluss auf staatliche Entscheidungen haben. Das ist keine Folge
individuell falschen und irrationalen Verhaltens oder von spekulativer Gier (ob-
wohl die unter dem Antrieb der Konkurrenz eine wichtige Rolle spielt), sondern
systemischer Defekt des entbetteten Marktes.
Allerdings ist auch eine andere Interpretation als die Hayek’sche möglich.
Tauschvorgänge finden in sozialen Kontexten statt. Der Jahrmarkt war nicht nur
Ort des Warentausches, sondern auch der Kommunikation, des Austausches von
Neuigkeiten, eine Gerüchteküche, ein Heiratsmarkt, eine Beziehungskiste, also
alles andere als eine reine Tauschveranstaltung, eine Katallaxie. Märkte haben
208 Elmar Altvater

daher, wie in jeder Wirtschaftsgeschichte nachgelesen werden kann, eine lange


Geschichte, die bis in die Anfänge der neolithischen Revolution vor einigen
tausend Jahren zurück reicht. Erst die „Vermarktwirtschaftlichung“ von Grund
und Boden, der Arbeitskraft und des Geldes, das heißt, die Verwandlung von
Natur, Arbeitsvermögen und Geld in Waren und Kapital, sind jüngeren Datums
und eigentlich erst seit der industriellen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhun-
derts zum durchschlagenden, gesellschaftlich dominanten, nämlich kapitalisti-
schen Prinzip der aus ihren sozialen und natürlichen Kontexten entbetteten
Marktwirtschaft geworden (Polanyi 1978). Erst seit der historischen Durchset-
zung der kapitalistischen Produktionsweise kann von „Marktwirtschaft“ als einer
gesellschaftlichen Totalität, als einem System gesprochen werden; vorher han-
delte es sich allenfalls um Marktwirtschaft im Plural, um „Märkte-Wirtschaft“.
Den Markt im Singular gibt es nicht. Daher liegt Walter Eucken mit seiner Typo-
logie von Wirtschaftsordnungen zwischen den Grundprinzipien von „freier Ver-
kehrswirtschaft“ und „Zentralverwaltungswirtschaft“ (Eucken 1959) grund-
falsch. „Freie Lohnarbeit“ gibt es als generalisierte und globalisierte gesell-
schaftliche Form der Verausgabung von Arbeit auch erst seit dieser Zeit. Die
Arbeiter mussten erst dazu gebracht werden, sich wie ein „Produktionsfaktor
Arbeit“ zu verhalten. Im frühen Kapitalismus war die Familie (worauf Hobs-
bawm 1995: 429f. hinweist) eine bedeutsame Institution, die für die Erzeugung
des „natürlichen Hangs zur Arbeit“, für Loyalität und für die Ausbildung der
später so genannten „Sekundärtugenden“ verantwortlich war. Zur „Freiheit“
mussten die „freien“ Lohnarbeiter, wie die Frühgeschichte der kapitalistischen
Produktionsweise zeigt, mit Gewalt (mit „Blutgesetzen“) gezwungen werden.
Wenn erst einmal Arbeitsmärkte mit „freien Lohnarbeitern“ und obendrein
Märkte für Grund und Boden entstanden sind und sich als Märkte gesellschaftli-
cher Regelung entziehen, entwickeln diese sogar das Potential, Geldbeziehungen
zu zerstören1. Die Entbettung der Märkte für Boden, Arbeit und Geld aus dem
gesellschaftlichen Gefüge ist ein historischer Bruch; es handelt sich, wie Karl
Polanyi schreibt, um eine „great transformation“. Mit der Heraufkunft des (in-
dustriellen) Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert entsteht das sich selbst regu-
lierende System der Marktwirtschaft2 mit seinen Ware-Geld-Beziehungen und
dem Wirken des Preismechanismus. Doch Vorsicht ist geboten. Die Selbstregu-
lierung mag für lokale Märkte gelten, auf dem Weltmarkt ist sie eine Illusion,
insbesondere bei der Betrachtung der globalen Finanzmärkte. Marktwirtschaftli-
che Selbstregulation schützt nicht davor, in schwerste Krisen zu geraten, wenn

1 Polanyi (1978) schreibt dies mit Blick auf den Goldstandard und dessen Auflösung nach dem
Ersten Weltkrieg.
2 In der menschlichen Geschichte war „das Wirtschaftssystem im Gesellschaftssystem inte-
griert“, so Polanyi (1978: 102).
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 209

die Kriterien der Selbstregulation diejenigen der Kapitalverwertung sind. Es gibt


keine Möglichkeit, makroökonomischer Rationalität zum Durchbruch zu verhel-
fen. Denn die Marktakteure folgen ihrer betriebswirtschaftlichen, mikroökono-
mischen Handlungslogik.
In der ökonomischen Wissenschaft wird also Wirtschaft nicht mehr als eine
gesellschaftliche Veranstaltung, als Prozess der Ausbeutung von Arbeitskraft zur
Produktion von Profit oder als ein Prozess der Transformation von Stoffen und
Energie zur Produktion von Gebrauchswerten begriffen. Daher rühren die
Schwierigkeiten der Ökonomie, ihre eigenen Grundbegriffe zu begreifen. Die
Ökonomie entsteht als selbständige und verselbständigte, also eine – wenn dies
denn möglich ist – begriffslose Wissenschaft. Es ist daher gut nachvollziehbar,
dass sie die politische Hülle der „politischen Ökonomie“ schon in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts abstreift und sich zur reinen Ökonomie mit verding-
lichten Kategorien mausert (in den Schulen der Neoklassik, die etwa gleichzeitig
entstehen: in England, in Wien, in Lausanne). Nun kann sie sich auch methodo-
logisch von Natur und Gesellschaft lösen und sich – wie Faust dem Mephisto-
pheles – dem Prinzip des methodologischen Individualismus (Schumpeter 1908)
verschreiben. Die Wirtschaftswissenschaft wird zu einer Lehre des reinen Tau-
sches auf der Basis rationaler Erwägungen über den Umgang mit Sachzwängen
(zum Beispiel mit vorgegebener Knappheit). Diese Unterstellung eröffnet viele
Möglichkeiten der Mathematisierung der Ökonomie, die es nicht oder begrenzter
geben würde, wenn Ökonomie als politische und soziale Ökonomie und als öko-
logische Ökonomie verstanden würde. Die Politische Ökonomie wird zur Öko-
nomie, und die Ökonomie verkürzt sich zur Ökonometrie.
Dies ist der Grund, weshalb Friedrich A. von Hayek das Wort „Wirtschaft“
wegen seiner institutionellen Assoziationen meidet und stattdessen – wie schon
erwähnt – auf den bereits von John St. Mill verwendeten Begriff der „Katallaxie“
(der Tauschlehre) zurückgreift:
„Eine Wirtschaft im strengen Sinn des Wortes ist eine Organisation oder Anordnung, in der
jemand planmäßig Mittel im Dienste einer einheitlichen Zielhierarchie verwendet. Die sponta-
ne Ordnung, die der Markt herbeiführt, ist etwas ganz anderes ... die Katallaxie, wie ich, um
den Ausdruck Wirtschaft zu vermeiden, die Marktordnung gerne nenne ...“ (von Hayek 1968: 8).

Die Abstraktion des Ökonomischen vom Sozialen und Natürlichen ist auch der
Hintergrund der Erfindung des „homo oeconomicus“, jener a-sozialen Kunstfi-
gur, die nur der ihr von Ökonomen zugeschriebenen ökonomischen Rationalität
Folge leistet. Die Herauslösung von ökonomischer Theorie aus dem sozialwis-
senschaftlichen Kategorienbestand und dann der umgekehrte Versuch, das „di-
sembedded“ und daher „reine“ Rationalprinzip auf die Gesellschaft zurück zu
projizieren, sind für den ökonomietheoretischen Fundamentalismus verantwort-
lich, der den „Rang von Theologien“ (Hobsbawm 1995: 422) an den Universitä-
210 Elmar Altvater

ten eingenommen hat. Das Interpretationsmonopol ökonomischer Entwicklungen


in der Öffentlichkeit wird von den Hohepriestern der Zunft eifersüchtig bewacht,
alternative Deutungen werden wie Frevel an der ökonomischen Theologie
geahndet; Alternativen sind eine Sünde an der ökonomischen Rationalität, die
gesühnt werden muss. Wegen ihrer autoreferentiell im Rahmen der „scientific
community“ sich selbst zugeschanzten Autorität dürfen sich die Hohepriester der
Zunft so manche abgrundtiefe, sogar gemeingefährliche Dummheit leisten.

Politische Ökonomie der Verselbständigung:


Die Quelle des Wachstumswahns
Fernand Braudel datiert die „great transformation“ zur kapitalistischen Markt-
wirtschaft schon vor die Zeit der industriellen Revolution (Braudel 1986: 44ff.),
Polanyi erst ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, jedenfalls was England
betrifft (Polanyi 1978: 59ff.). Dafür können jeweils gute Gründe ins Feld geführt
werden, deren Qualität davon abhängt, was unter „Marktwirtschaft“ verstanden
wird. Märkte und komplexe, einzelne Regionen übergreifende Prozesse der
Preisbildung sind tatsächlich schon sehr alt; die totale Marktwirtschaft, die Geld,
Natur und Arbeitskraft in Waren verwandelt und unter das Regime der Kapital-
akkumulation wie in eine „Teufelsmühle“ (Polanyi 1978: 59) zwingt, existiert
freilich erst seit der Epoche der industriellen Revolution, seit der von Marx so
genannten „reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital“ (Marx [1867]
1962: 531ff.). Für diese Periodisierung spricht auch, dass erst im industriellen
Kapitalismus die Ökonomie sich von den natürlichen Reproduktionszyklen der
Jahreszeiten, der Tageszeiten, des Wachsens, Alterns und Absterbens löst: Dafür
sind in erster Linie die Überwindung der engen Grenzen biotischer, somatischer
Energien und der Rückgriff auf die fossilen Energieträger, auf exomatische
Energien verantwortlich. Diese erlauben mit den angemessenen technischen
Wandlungssystemen (vgl. Debeir et al. 1989) eine Steigerung der Produktivität
der Arbeit, wie sie in den Jahrtausenden zuvor nicht möglich war. Nun kann die
enorme Steigerung des „Reichtums der Nationen“ (wie Adam Smith 1776 ver-
sprochen hatte) stattfinden. Nun wird lebendige Arbeit durch „tote Maschinen“
ersetzt, es findet also die Freisetzung von Arbeitskräften und die Erzeugung
einer „redundant population“ (Ricardo [1817] 1959: chapter 31) statt. Wenn also
zwischen Braudels und Polanyis Periodisierung der Herausbildung der dominan-
ten Marktwirtschaft zu entscheiden wäre, müsste eher Polanyi als Braudel zuge-
stimmt werden.
Obendrein scheinen die Kräfte der fossilen Energieträger eine Ablösung der
Ökonomie von allen natürlichen Rhythmen zu erlauben. Immerwährendes
Wachstum des Sozialprodukts und eine Ausweitung der individuellen Wahlfrei-
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 211

heiten sind in Reichweite. Der Wachstumsfetischismus, der die verselbständigte


Ökonomie charakterisiert, hat hier seine berauschende Quelle, aus der die Öko-
nomen bis heute mit Vorliebe trinken und einer Halluzination verfallen. Wachs-
tum sei grenzenlos möglich, „growth“ sei „triumphant“ (Easterlin 1998). Der
Wachstumswahn der Ökonomen, der sich nicht auf bestimmte Schulen oder
Richtungen einschränken lässt, ist das Symptom einer Pathologie der verselb-
ständigten Ökonomie. Doch darf nicht unterschlagen werden, dass der Wahnwitz
des ewigen Wachstums einen realen Hintergrund hat: den systemischen Wachs-
tumszwang in der finanzgetriebenen globalisierten Ökonomie.
Die mit dem Wachstum größer werdende Wahlfreiheit von Konsumenten
zwischen Produkten auf dem Markt gibt ebenfalls Anlass für ökonomietheoreti-
sche Konstrukte: für die neoliberale Theorie der Konsumentensouveränität, von
der aus sich die Ideologie der Marktfreiheiten rechtfertigt, und für die Theorie
des „rational choice“, die historisch aseptisch und von natürlichen Verunreini-
gungen gesäubert und gegenüber anderen Motiven als einer rationalen Nutzen-
maximierung abgesichert ist. Auch wird bei der Hervorhebung der positiven
Seiten der Wahlfreiheit unterschlagen, dass diese vor allem für das tatsächlich
größer werdende Ensemble privater Güter (sozusagen „intramodular“) gilt, nicht
aber für die Wahl zwischen öffentlichen und natürlichen Allmendegütern, die im
Wachstumsprozess Schaden leiden oder abgebaut werden, um Räume für private
Kapitalanlagen zu schaffen. Die „intermodulare“ Wahlfreiheit zum Beispiel zwi-
schen öffentlichen Verkehrsträgern und privatem Automobil wird also nicht
ausgeweitet, sondern zu Gunsten des privaten Gutes eingeschränkt.
Die „great transformation“ des „disembedding“ des Marktes aus der Öko-
nomie hat im 19. Jahrhundert nicht ihren Abschluss gefunden. Sie ist als eine
dem kapitalistischen System eigene Tendenz bis heute wirksam. Was Polanyi für
den Übergang zur Marktwirtschaft in England herausarbeitet, setzt sich mit der
Internationalisierung und Globalisierung der Ökonomie in aller Welt fort, und
die commodification des gesellschaftlichen Lebens erfasst immer mehr Bereiche
von Produktion und Reproduktion. Die Entwicklung des globalen Systems ver-
läuft nun markt- und damit geldgesteuert: disembedding global. Die Vermarkt-
wirtschaftlichung drängt nicht nur in noch nicht erfasste geographische Räume,
sondern auch nach innen, in die Refugien des gesellschaftlichen Lebens, in die
Welt der Gene, der persönlichen Informationen. Es handelt sich um jenen Pro-
zess, der von Habermas als „Kolonisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981,
insbes. Bd 2: 489ff.) bezeichnet wird und in seinem gewalttätigen Verlauf als
historische Kolonisierung von Lebenswelten der Völker in Afrika, Lateinameri-
ka, Asien eindringlich von Rosa Luxemburg geschildert worden ist (vgl. Luxem-
burg [1913] 1969, 26. bis 30. Kapitel). Nicht zu vergessen ist freilich auch die
Expansion der Vermarktwirtschaftlichung und Inwertsetzung in die Tiefen des
212 Elmar Altvater

Ozeans, auf die Meeresböden, um dort verwertbare Metalle zu orten oder nach
Öl zu bohren, oder in das erdnahe Weltall, um die Kommunikation zu erleichtern
und Information als Ware anbieten zu können, sowie in die bislang nicht kom-
modifizierten öffentlichen Güter und Dienste mit der Zielsetzung ihrer Privatisie-
rung.
Hier sind Tendenzen der Entbettung angesprochen, die nicht alle schon von
Polanyi überblickt worden sind (vgl. ausführlicher Altvater, Mahnkopf 1996/
2004). Das gilt auch für die Finanzmärkte, die sich gegenüber den Märkten von
Produkten und Arbeitskraft verselbständigen: Die finanzielle Ökonomie entkop-
pelt sich von der „realen Ökonomie“ und wirkt dann mit ihren finanziellen Vor-
gaben (Zinsen und Renditen) zurück. Das sind harte Forderungen, die zu bedie-
nen sind. Das Akkumulationsregime ist „finanzgetrieben“. Diese Tendenz wird
dadurch gestützt, dass die Ökonomie ihre territoriale Bindung abstreift, globale
Reichweite entwickelt und Signalen globaler Märkte gehorcht. Die Wirtschaft
entwächst auf diese Weise der wirtschaftspolitischen Regulierung durch nationa-
le Staaten und durch das internationale System der nationalen Staaten. Erst im
crash der entbetteten Finanzmärkte ertönt der Ruf nach mehr staatlicher Regulie-
rung, und zwar sogar von jenen, die sich als die eigentlichen Sachwalter der Ent-
bettung aufgeführt haben: von Bankmanagern und neoliberalen Ökonomen, die
sich sogar eine Verstaatlichung privater Marktinstitutionen (Banken) vorstellen
können, um nicht nur ihre Verluste sozialisieren, sondern auch ein unkalkulier-
bares systemisches Risiko vermeiden zu können
Nicht unbedeutend für die Dynamik der Entbettung ist, dass sich ein globa-
les Zeit- und Raumregime gegen die lokalen und regionalen, kulturell verwurzel-
ten Zeit- und Raumerfahrungen herausbildet: „time is money“ heißt der kapitalis-
tische Imperativ der Neuzeit. Zeit ist also nichts Natürliches oder Soziales, son-
dern der Ökonomie und ihrer Rationalität angepasst: Ökonomie der Zeit. Es
entsteht eine Weltzeit und in ihr vollzieht sich die Geschichte der Menschheit.
Damit verwandeln sich auch die konkreten Räume, die Grenzen zwischen ihnen
werden bedeutungslos. Unterschiedliche Raumerfahrungen können nicht mehr
gemacht werden. In der von Billigfliegern zugerichteten Welt werden sie irrele-
vant und daher gehen sie verloren.

Die „Hardware“ der Entbettung: das Energiesystem


Möglich war die Fortsetzung und Ausweitung der Entbettungsprozesse im globa-
len Raum nur deshalb, weil sie mit einem kraftvollen Treibstoff vorangetrieben
wurden: die biotischen, in ihrer Wirkung räumlich und zeitlich eng begrenzten
Energieträger sind durch die fossilen (und später zum Teil durch die nuklearen
Energien) ersetzt worden. Mit ihnen wurde es möglich, die räumliche Reichweite
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 213

der Marktaktivitäten auf den ganzen Globus auszudehnen und zugleich die Zei-
ten aller Produktions- oder Transportprozesse zu verkürzen. Über eine „Verdich-
tung von Zeit und Raum“ (Harvey 1989) ist daher nur sinnvoll zu reden, wenn
die energetischen Voraussetzungen (sozusagen die „hardware“) in Rechnung ge-
stellt und wenn der Antrieb der Beschleunigung, heute vor allem durch die Ren-
diteerwartungen globaler Finanzmärkte (also die „driver-software“) betrachtet
werden. Das Raum- und Zeitregime der entbetteten Marktökonomie im globalen
Raum läuft also auf der „hardware“ fossiler Energieträger und der ihnen ange-
messenen industriellen Wandlungssysteme und mit der „software“ globaler Fi-
nanzmärkte, die seit der Liberalisierung der globalen Finanzmärkte in den
1970er Jahren ein mächtiger „Treiber“ des kapitalistischen Systems und seines
Wachstums sind.
Mit der Nutzung fossiler Energien seit dem 18. Jahrhundert wird die vom
kapitalistischen Verwertungsprinzip geforderte Beschleunigung in der Zeit tech-
nisch und energetisch möglich. Das moderne Zeitregime wird kreiert. Der Raum
kann mit den neuen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln erschlossen werden.
Der Markt entwächst dem gesellschaftlichen „Bett“, angetrieben von Tausend-
PS-Motoren, was ihm zuvor in der langen Menschheitsgeschichte, abhängig von
den paar Pferdestärken, die gerade mobilisiert werden konnten, nie gelungen ist.
Mit den fossilen Energien und der Dampfmaschine kann auch der Übergang von
der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion erfolgen. Die Unterordnung von
Arbeit (und, so können wir hinzufügen, von natürlichen Bedingungen) unter das
Regime des Kapitals eröffnet zuvor unbekannte Möglichkeiten einer Steigerung
der Produktivität der Arbeit. „In demselben Maß, worin die Industrie vortritt,
weicht (die) Naturschranke zurück“, resümiert Marx im „Kapital“ (Marx [1867]
1962: 537), das heißt, die Produktion von Überschuss in der gesellschaftlichen
Form des Profits überwindet die Grenzen, die biotische Energien und daher das
natürliche Raum- und Zeitregime setzen. Innovationen werden, im Gegensatz zur
vorkapitalistischen und vorindustriellen Geschichte, zum Prinzip; das hatte von
Hayek sehr wohl begriffen. Die Projekte abstrakter Vernunft können mit fossilen
Energieträgern und den angemessenen technischen Energiewandlungssystemen
leicht in die Realität umgesetzt werden.
Mit diesen Erfahrungen, die gleichzeitig Möglichkeitsräume der Produktiv-
kraftsteigerung und der Profiterzielung eröffnen, werden nun die Grenzen der
„embeddedness“ der Ökonomie in Natur und Gesellschaft als Prokrustesbett
empfunden. Der Prozess des „disembedding“ der Märkte, also des ökonomischen
Raums einer gesellschaftlich nicht behinderten und die Naturschranken zunächst
und scheinbar maßlos überschreitenden Verwertung und Akkumulation von
Kapital, wird als Weitung des Horizonts, als Modernisierung, als Fortschritt
erfahren. So kommt jene „soziale Revolution“ zustande, die in der zweiten Hälf-
214 Elmar Altvater

te des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss finden sollte
– mit dem „Untergang des Bauerntums” (Hobsbawm 1995: 365ff.). Die indus-
trielle Revolution triumphiert mit der Vernichtung jener Klasse, die mit der neo-
lithischen Revolution entstand und die nächsten Jahrtausende der Menschheits-
geschichte bestimmte, des sesshaften Bauerntums. Alle Kultur stammte bis dahin
aus der Agrikultur, wie Georgescu-Roegen (1971) bemerkt. Doch seit der „great
transformation“ kann sie nur noch aus der kapitalistischen Industrie stammen.
Selbst die Bearbeitung des Bodens wird industrialisiert. „Die industrielle Revo-
lution war ... der Anfang einer Revolution, so extrem und radikal, wie sie nur je
den Geist von Sektierern befeuerte ...“, formuliert Polanyi (1978: 68) pointiert,
um den revolutionären Charakter dieser sozialen Transformation zu unterstrei-
chen. Der Preis dieses „Entbettungsmechanismus” ist nicht gering: Es ist die
Krise der Evolution durch Vernichtung der Artenvielfalt, der Verlust von Böden
durch Übernutzung, die Vereinseitigung der Ernährung, wenn – wie bei anderen
industriell erzeugten Produkten – der Massenkonsumtion eine Massenproduktion
entsprechen muss. Und es geht in dieser „sozialen Revolution“ das in Jahrtau-
senden angereicherte Wissen der Menschheit über die angemessene Bearbeitung
des Bodens verloren, beziehungsweise es verwandelt sich in das hochspeziali-
sierte und durch „intellectual property rights“ monopolisierte Expertenwissen der
agroindustriellen transnationalen Konzerne. Nicht zuletzt ist dieser Übergang
auch für die Veränderung des Zeitregimes von der zyklischen Zeit der agrari-
schen Aussaat-, Wachstums- und Erntezyklen zur fragmentierten Zeit unter-
schiedlicher Beschleunigung in verschiedenen funktionalen Räumen (Zinstermi-
ne auf den Finanzmärkten, Steuertermine und Wahlzyklen im politischen Ge-
meinwesen, Abschreibungszeiten von Maschinerie in der Industrie, Lieferfristen,
Schulzeiten und Mittagspausen etc.) verantwortlich.
Die dunkle Seite der fossil-industriellen Revolution, also der Entbettung des
Wirtschaftens aus Gesellschaft und Natur, hatte Karl Marx verstanden:
„Große Industrie und industriell betriebene große Agrikultur wirken zusammen. Wenn sie sich
ursprünglich dadurch scheiden, daß die erste mehr die Arbeitskraft und daher die Naturkraft
des Menschen, die letztere mehr direkt die Naturkraft des Bodens verwüstet und ruiniert, so
reichen sich später im Fortgang beide die Hand, indem das industrielle System auf dem Land
auch die Arbeiter entkräftet und Industrie und Handel ihrerseits der Agrikultur die Mittel zur
Erschöpfung es Bodens verschaffen.“ (Marx [1894] 1969: 821)

Denn „die kapitalistische Produktion“, erklärt Marx an anderer Stelle,


„entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozes-
ses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbei-
ter.“ (Marx [1867] 1962: 530)

Inzwischen dämmert die Erkenntnis, dass im Zuge der Entbettungsprozesse die


Naturschranke, wie Marx schreibt, zwar zunächst „zurückweicht“, sich aber
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 215

dann doch mit unerbittlicher Härte meldet. Dass die Verselbständigung gegen-
über den sozialen Belangen über ein bestimmtes, historisch und kulturell gesetz-
tes Maß nicht hinausgeht, haben die sozialen Konflikte seit der Heraufkunft des
industriellen Kapitalismus gezeigt. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat war darauf
eine Antwort, die von der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen den herrschenden
Klassen abgetrotzt worden ist und die die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts
bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein charakterisiert. Doch infolge der Globalisie-
rung der Märkte und ihrer Sachzwänge ist diese Antwort immer weniger über-
zeugend und immer schwieriger geworden. Der Sozialstaat gerät unter den
Druck der globalen Märkte. Konkurrenzfähigkeit und Sozialstaatlichkeit passen
fast niemals zusammen.
Auch die Naturschranken, die zunächst „zurückzuweichen“ schienen, zei-
gen sich erneut. Denn die fossilen Energieträger und andere mineralische und
agrarische Rohstoffe sind endlich, sie gehen irgendwann zur Neige. Auch wenn
der Club of Rome 1972 in seiner Warnung vor den „Grenzen des Wachstums“
apodiktisch und alarmistisch argumentiert und daher übertrieben haben mag,
hatte er doch, auch gegenüber seinen Kritikern, Recht: Auf Erden ist alles end-
lich und es ist ausschließlich eine Frage der Zeit, wann dies als mangelnde Ver-
fügbarkeit, als Angebotsbeschränkung auf dem entsprechenden Markt und als
Druck auf Profitrate und Renditen von eingesetztem Kapital erscheint. Auch die
Belastbarkeit der Natur mit den „Exkrementen“ des Industriesystems, vor allem
mit den Emissionen von Treibhausgasen in die Atmosphäre, ist begrenzt, wie
heute allgemein bekannt ist. Nur einige notorische Leugner neigen implizit der
Auffassung zu, die Entbettung der Ökonomie aus Natur und Gesellschaft könne
endlos und ohne Schranken fortgesetzt werden. Die „hardware“ des Systems der
Entbettung funktioniert mit der Zeit also immer schlechter, weil sie einen Kon-
struktionsfehler aufweist: den der Begrenztheit der Natur. Dies erfordert unbe-
dingt die Berücksichtigung der thermodynamischen Gesetze von Stoff- und
Energietransformationen und der Komplexität von sozialen Systemen beim De-
sign der Hardware.
Der historische Nachteil fossiler Energieträger im Vergleich zu solaren
Energien besteht darin, dass nun die äußeren Grenzen der natürlichen Energiebe-
stände (Kohlenflöze, Ölreserven, Erdgasvorkommen etc.) zu inneren sozialen
und ökonomischen Grenzen des Akkumulationsprozesses werden. Der „Verwer-
tungstrieb“ des Kapitals kennt keine Grenzen, die Verfügbarkeit der fossilen
Energieträger aber sehr wohl. Dieser Widerspruch bestimmt nun den Akkumula-
tionsprozess, der sich ursprünglich mit dem Übergang zur „Großen Industrie“
aus den engen Grenzen der vorindustriellen Energie- und Rohstoffversorgung
herauslösen sollte. Beim Öl, dem wichtigsten Treibstoff des modernen Kapita-
lismus, ist dieser Widerspruch offensichtlich und daher bekannt: Gegenwärtig
216 Elmar Altvater

werden etwa 84 Millionen barrels per day (b/d) gefördert und konsumiert. Die
International Energy Agency (IEA) geht davon aus, dass diese Menge in den
nächsten Jahrzehnten auf 117 Millionen b/d gesteigert werden könnte – und
angesichts des zunehmenden Verbrauchs gesteigert werden müsste. Doch der
Chefökonom der IEA, Fatih Birol, hat Anfang 2008 in einem Interview erstens
zugegeben, dass die noch ausbeutbaren Ölreserven und daher auch die Tagesför-
derung von der IEA in aller Regel zu hoch eingeschätzt würden und daher, wie
die „Association for the Study of Peakoil“ (ASPO) unter anderem schon seit
langem einklagt, nach unten korrigiert werden müssten, und dass zweitens Zwei-
fel an der Vorstellung gerechtfertigt seien, dass „Märkte allein die Probleme
lösen können“ (Birol 2008: 38). Er schlussfolgert: „…ich denke, wir sollten das
Öl verlassen, bevor das Öl uns verlässt…“ (Birol 2008: 41). Wenn der Höhe-
punkt der Ölförderung (peak oil) entweder schon erreicht ist oder sehr bald er-
reicht sein wird, stellt sich die Frage, ob heute noch wie zu Beginn der Industria-
lisierung gilt, dass „in demselben Maß, worin die Industrie vortritt, … (die) Na-
turschranke zurück(weicht)“ (Marx [1867] 1962: 537). Den Entbettungstenden-
zen erwachsen natürliche Grenzen gerade durch die Art und Weise, wie sie
überwunden werden – und die natürlichen Grenzen drücken sich als eine Krise
der Kapitalverwertung aus, die auf den sensibelsten Märkten, den globalisierten
und am meisten entbetteten Finanzmärkten zum crash führt.
Noch deutlicher tritt diese Grenze zutage, wenn die Wirkung der Emissio-
nen bei der Verbrennung von fossilen Energieträgern, wenn also die Klimafolgen
der Nutzung fossiler hardware betrachtet werden. Für die Konzentration von CO2
in der Atmosphäre gibt es harte Obergrenzen, wenn der Klimakollaps vermieden
werden soll. Denn Kohlendioxid und die anderen im Kyoto-Protokoll explizit
erwähnten sechs Treibhausgase sind für den Strahlenhaushalt der Erde verant-
wortlich. Die Bestände von CO2 in der Atmosphäre, gemessen in parts per milli-
on Luftmolekülen (ppm), sind seit der industriellen Revolution von ca. 280 ppm
auf mehr als 380 ppm gestiegen. Höher als 450 ppm sollten sie nicht steigen (so
die OECD 2008), um den Anstieg der Erdmitteltemperatur gerade noch tolerabel
auf 2°C zu begrenzen. Aber es gibt auch Untersuchungen, die zu dem Ergebnis
kommen, dass vielmehr eine Reduktion der Konzentration von CO2 in der At-
mosphäre auf etwa 350 ppm notwendig sei. Dies könnte nur mit einem radikalen
Ausstieg aus dem fossilen Energiesystem, begleitet von einem ebenso radikalen
Umbau der industriellen und post-industriellen Wirtschaft (Produktion und Kon-
sumtion gleichermaßen) erreicht werden, also wenn eine neue post-industrielle
und post-fossile „great transformation“ eingeleitet wird.
Die natürlichen Grenzen der Nutzung von fossilen Energieträgern sind zu-
gleich Grenzen der Entbettungsprozesse. Es gibt also doch Schranken der Natur
für die Verselbständigung der Ökonomie, für die Verwertungsdynamik des Kapi-
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 217

tals, für den Wachstumswahn. Die hardware der „Entbettungsmechanismen“


müsste also ausgetauscht werden, zum Beispiel im Zuge des Übergangs zu er-
neuerbaren Energien und zu nachhaltiger Rohstoffnutzung. Doch gibt es dazu die
passende „driver-software“?

Die „Software“ der Entbettung: „finanzielle Repression“


Zwar ist die Herauslösung der Wirtschaft aus der Gesellschaft gar nicht möglich,
wenn sich nicht auch eine Geldwirtschaft entwickelt, also auch das Geld aus der
Gesellschaft entbunden wird und zum „Geldfetisch“ werden kann. Der Markt
ohne Waren ist ein undenkbares Unding, aber die Ware ohne Geld erst recht.
Doch das Geld ist nicht nur ein Medium der Kommunikation oder der Zirkulati-
on, das als solches vollkommen den Gesetzen des Warentausches gehorcht. Es
entwickelt vielmehr „als Geld“ ein Eigenleben, das es rechtfertigt, von einer
„zweiten Stufe“ des disembedding von Märkten aus der Gesellschaft zu spre-
chen, wenn Geld als Geld zirkuliert und nicht mehr als Vehikel des Warentau-
sches. Es handelt sich hier um das bereits von Aristoteles beargwöhnte abstrakte
„Kapitalerwerbsstreben“, das sich den Kriterien des „guten Lebens“ in der Ge-
sellschaft verweigert. Für den Fortgang des Entbettungsprozesses gibt es mehre-
re Gründe, sobald das Geld im Spiel ist und sich nun das finanzielle System
gegenüber der „realen“ Ökonomie verselbständigen kann (vgl. Aristoteles 1969).
Das Geld in Verbindung mit den fossilen Energieträgern hebt erstens die
„great transformation“, die in der „Nationalökonomie“ Englands ihren Anfang
nahm, auf die globale Ebene. Dort bildet sich die von den realökonomischen
Prozessen scheinbar entkoppelte monetäre Sphäre des globalen Finanzsystems.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass vieles bereits in vorindustriellen Zeiten, in der
Epoche der Segelschiffe seinen Ursprung hat, aber dann doch erst mit der Revo-
lution des fossil-industriellen Systems und mit der Verbreitung des Dampfschif-
fes Tempo gewinnen konnte. Zweitens machte schon Keynes mit der klassisch-
neoklassischen Annahme Schluss, dass Märkte prinzipiell gleichartig und jeweils
durch den Preismechanismus zu einem Marktgleichgewicht der Vollbeschäfti-
gung aller Faktoren gesteuert würden. Vielmehr weist eine kapitalistische Öko-
nomie eine spezifische hierarchische Anordnung von Märkten auf: Der Geld-
markt steuert den Gütermarkt, und dessen Entwicklung ist für die Nachfrage auf
dem Arbeitsmarkt, also auch für Beschäftigung und Lohneinkommen, entschei-
dend. Marktwirtschaften sind Geldwirtschaften und vom Geld her entschlüsseln
sich ihre Bewegungsgesetze, die auch für die Arbeit und ihre Entlohnung Gel-
tung beanspruchen und sich als Sachzwänge durchsetzen. Dies zeigt sich drittens
darin, dass das Geld als eine „harte Budgetrestriktion“ fungiert, also als ein Me-
dium, das den rationalen Umgang mit knappen Ressourcen erzwingt, da Geld zur
218 Elmar Altvater

Finanzierung von Investitionen nur gegen ein Zinsversprechen geliehen werden


kann. Die Bedienung der Schulden (Tilgung und vor allem Zins) verlangt die
Überschussproduktion, also möglichst hohes Wachstum und vor allem: eine
Profitrate des in der realen Wirtschaft akkumulierten Kapitals, aus der der Profit
des industriellen Kapitalisten, aber auch die Renditen der Finanzinvestoren abge-
leitet werden können. Je höher Zinsen und finanzielle Renditen sind, desto höher
müssen auch die realwirtschaftlichen Überschüsse sein beziehungsweise anders
ausgedrückt: die wirtschaftlichen Wachstumsraten. Die „software“ für die Trei-
ber des entbetteten Systems ist also auf hohes Wachstum programmiert, fördert
also den Wachstumszwang der verselbständigten Ökonomie.
Doch ist diese software schädlich, wenn die realwirtschaftlichen Überschüs-
se zu gering ausfallen, um damit die Renditeforderungen von Finanzanlegern zu
befriedigen und obendrein eine vergleichbare Rendite auf reale Investitionen zu
erzielen. In dieser Situation sollten die Renditen und Zinsen auf Finanzanlagen
abgesenkt werden, um beschäftigungspolitisch wünschenswerte Investitionen
nicht zu blockieren. Die Zentralbank sollte hier den Hebel ansetzen und die Leit-
zinsen senken. So argumentierte Keynes, und dies fordern heute Neo- oder Post-
Keynesianer. Doch die Entbettung des Geldes kommt auch im Wandel zum
Ausdruck, dem die Zentralbanken institutionell unterworfen sind. Die Zins- und
Wechselkurssouveränität ist im Zuge der Deregulierung und Liberalisierung der
Finanzmärkte verloren gegangen. Die Finanzmärkte sind geöffnet und nationale
Währungen geraten in Währungskonkurrenz zueinander und gegeneinander. Für
Geldvermögensbesitzer, die weltweit ihre Vermögen in allen Währungen anle-
gen können, weil die Finanzmärkte seit den 1970er Jahren fast vollständig libera-
lisiert worden sind, zählen vor allem die Stabilität des Geldwerts nach innen
(keine Inflation) und außen (stabiler Wechselkurs mit Aufwertungstendenz) und
die am „Finanzplatz“ erzielbaren Renditen. Je höher diese und daher auch die
Zinsen auf Finanzanlagen sind, desto attraktiver die jeweilige Währung. In den
globalisierten Finanzmärkten ist folglich ein Mechanismus „eingebaut“, der die
Zinsen eher nach oben drückt, als einen Spielraum nach unten (aus beschäfti-
gungspolitischen Erwägungen beispielsweise) zu eröffnen. Die Geldvermögen
der wichtigsten Akteure auf den globalen Währungsmärkten (private Banken
oder institutionelle Anleger wie Versicherungsgesellschaften oder Fonds, also
Pensionsfonds, Hedgefonds, Private equity-funds) werden in jenen Währungen
gehalten, die höchste Sicherheit und Renditen auf den globalen Märkten verspre-
chen.
Die Aufgabe der Zentralbank verändert sich in der Währungskonkurrenz al-
so radikal: von der geldpolitischen Unterstützung der Regierungen bei der Ver-
folgung ihrer wirtschaftspolitischen Ziele zur Sicherung und Verwertung von
Geldvermögen privater Geldvermögensbesitzer. Die Zentralbank als „Bank der
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 219

Banken“ wird auf den Finanz- und Währungsmärkten zu einem Akteur wie ande-
re degradiert, wenn auch mit besonderer Macht ausgestattet. Dies ist ein Akt der
Privatisierung einst öffentlicher Aufgaben, ein bedeutsamer Aspekt der privat-
wirtschaftlichen Verselbständigung gegenüber sozialen und natürlichen Belan-
gen und politischen Zielen. Die Funktion der Zentralbank ist es, in der Wäh-
rungskonkurrenz den relativen Wert der je nationalen Währung zu verteidigen.
Dies kann aber nur geschehen, wenn den Signalen der globalen Finanzmärkte
unbedingt gehorcht wird, und nicht den Anforderungen von Regierungen, die
andere Ziele verfolgen müssen als das der strikten Verteidigung des inneren und
äußeren Geldwerts einer nationalen Währung. Unter Bedingungen der Wäh-
rungskonkurrenz gibt es die Möglichkeit der politischen Beeinflussung der
Geldpolitik zur Verfolgung von sozialen und arbeitsmarktpolitischen Zielen
nicht mehr. Entbettung findet ihren Ausdruck als eine Autonomisierung der
Zentralbank gegenüber Politik und Gesellschaft. Zugleich wird diese Autonomie
aufgehoben durch die heteronome Bestimmung der Zentralbankpolitik einer
Nation (oder eines Währungsraums wie im Falle des Euro) durch die globalisier-
ten Finanzmärkte. Für Marx ist „das Geld … damit unmittelbar zugleich das
reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehens für alle
ist, und zugleich das gemeinschaftliche Produkt aller“ (Marx 1953: 137) – und
zwar auf globaler Ebene und unabhängig von den politischen Vorgaben.
Der Fortgang des Prozesse des „disembedding“ kann daher als Errichtung
eines grandiosen Fetisches interpretiert werden, der mit seiner als „Sachzwang“
getarnten Gewalt, mit dem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“
(Marx [1867] 1962: 765) Menschen beherrscht und Gesellschaften seinem Diktat
unterwirft. Einmal dem Marktmechanismus ausgeliefert, dem globalen Zeit- und
Raumregime unterworfen, von den Preisen des Geldes (Zinsen und Wechsel-
kurs) abhängig, müssen sich Gesellschaften den entbetteten Mechanismen der
Wirtschaft anpassen. Sie führen also „structural adjustment programs“ durch, um
die Wettbewerbsfähigkeit zu halten. Sollten sie dazu auf externe Kredite ange-
wiesen sein, müssen sie internationalen Institutionen wie Weltbank oder IWF
gehorchen und sich an den „Konsens von Washington“, das Regelwerk der
Strukturanpassung, halten (vgl. dazu Enquete Kommission 2002). Es gibt also
nicht nur die „Entbettungsmechanismen“, sondern auch „Sachzwangmechanis-
men“, und diese sind auf globaler Ebene als Treiber-software institutionalisiert.
Die entbetteten Finanzmärkte erzwingen, politisch unterstützt von den Institutio-
nen des Weltmarkts, die Abzweigung der Überschüsse zu Gunsten der Finanzin-
vestoren. Das geht an die Substanz von Gesellschaft, das überschreitet die Ver-
fügbarkeit von Ressourcen und die Tragfähigkeit der Senken für die Emissionen
von Produktion, Konsumtion oder Transport in die Sphären der Erde. Die Fi-
nanzkrisen der vergangenen drei Jahrzehnte seit der Liberalisierung der Finanz-
220 Elmar Altvater

märkte und deren Globalisierung haben „verbrannte Erde“ hinterlassen, viel


Armut, Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Formveränderungen in Richtung
der informellen Ökonomie und viel ökologische Zerstörung. Das betraf bislang
vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer. Nun ist die Schädlichkeit der
Treiber-software auf Finanzmärkten auch in den Industrieländern zum Thema
geworden. Die positive Wirkung der „harten Budgetrestriktion“ des Geldes ver-
kehrt sich ins Gegenteil der finanziellen Repression; die Treiber-software wirkt
so, dass die finanziellen Sachzwänge globaler Märkte wie ein Alp auf Gesell-
schaft und Natur liegen. Die fossile hardware kann nicht mithalten, und wenn
diese durch die Nutzung erneuerbarer Energieträger ausgetauscht wird, ist die
software auf einmal wertlos und funktionslos. Auch sie muss ersetzt werden.
Aber ob dies so einfach geht, wie man ein neues Programm auf den PC lädt,
muss bezweifelt werden.

Vom entbetteten Weltmarkt zum „Re-embedding“


Nur selten macht es Sinn, die Dialektik des Dreischritts von der These und Anti-
these zur Synthese zu bemühen. Die Welt funktioniert nicht so einfach, dass sie
sich auf diese Weise ordnen ließe. Doch der Orientierung kann der Dreischritt
dienen, um in der Wirklichkeit die darin schlummernden Möglichkeiten zu ent-
decken und, wie Robert Musil bemerkt, diese zu „erwecken“. Bis zur „great
transformation“ der fossil-industriellen Revolution sind die Menschen in engen
„Naturschranken“ befangen, könnte die „These“ formuliert werden. Diese „wei-
chen zurück“, als mit den fossilen Energieträgern und den ihnen angemessenen
industriellen Energiewandlungssystemen die natürlichen Grenzen der biotischen
Energien ausgehebelt werden konnten und nun die enorme Beschleunigung aller
Prozesse möglich wurde, so dass mit der Produktivkraft der Arbeit auch der
Wohlstand der Nationen enorm gesteigert werden konnte. Die Energiequelle der
Ökonomie befand sich nun nicht mehr außerhalb des Planeten Erde, sondern auf
der Erde selbst. Das einst offene, „solare“ Energiesystem wurde durch das ge-
schlossene, fossile Energiesystem abgelöst. Das wäre die Antithese. Aber die
fossilen Energieträger sind keineswegs so grenzenlos wie das „Gelderwerbsstre-
ben“, von dem Aristoteles schreibt, oder der Verwertungsmechanismus des Ka-
pitals und dessen Akkumulationsprozess beziehungsweise die Gier seiner „Cha-
raktermasken“, wie Marx sie entschlüsselt. Die Ressourcenbestände sind endlich
und diese Endlichkeit kommt zu Bewusstsein und bestimmt politische Diskurse
(„Peak-oil“). Auch die Senken für die im industriellen Prozess der Stoff- und
Energietransformation produzierten Schadstoffe haben nur eine begrenzte Auf-
nahmekapazität („carrying capacity“), wenn für die Menschheit desaströse Ef-
fekte vermieden werden sollen (der Klimakollaps). Die antithetische Überwin-
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 221

dung von Naturschranken resultiert also paradoxerweise in der Errichtung neuer


Naturschranken.
Aus diesem Dilemma ist nicht herauszukommen, indem die Entwicklung
zurückgedreht wird, weil dann doch nur wieder die menschliche Entfaltung ge-
hemmt und emanzipatorische Potentiale unterbunden würden. Ein Ausweg ist
nur zu finden, wenn die Produktions- und Lebensweisen so organisiert werden,
dass die Bedingungen der Natur des Planeten Erde respektiert werden. Das ge-
schlossene fossile Energiesystem muss also in Richtung eines solaren erneut
geöffnet werden. Aus den Ressourcenbeständen kann nur eine bestimmte Weile
geschöpft werden, bis sie erschöpft sind, es sei denn, man nutzt die Flussenergie
der Sonne, indem sie mit intelligenten Wandlungssystemen in Nutzenergie für
den Transport, die Erzeugung von Wärme (und in heißen Regionen und Jahres-
zeiten: von Kühlung) und die vielfältig nutzbare Elektroenergie transformiert
wird. Das Problem dabei ist nicht das Energiedargebot der Sonne; dieses über-
steigt um ein vielfaches den Energiebedarf der Menschheit, ja des Lebens auf
dem Planeten Erde insgesamt. Das Problem ist die geringe Energiedichte der
energetischen hardware, die eine ganz andere „software“ des ökonomischen
Systems verlangt, als auf den globalisierten Märkten zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts zur Verfügung steht. Es kommt darauf an, die Ökonomie wieder in die
Stoff- und Energiekreisläufe „einzubetten“ und dementsprechend auch die Ge-
sellschaft zu gestalten, die Arbeit ebenso wie das Geld und die Finanzen. Das
aber ist kein technisches Problem, dessen Lösung Naturwissenschaftlern zu über-
lassen wäre, sondern ein politisches und soziales Problem von ökonomischer und
gesellschaftlicher Macht, von hegemonialen Prozessen und politischer Regulati-
on. Denn die Verfügung über Energie, über deren Quellen und über die Netze
der Distribution der Energie (Pipelines, Tankerflotten, Hochspannungsnetze etc.)
ist ein Machtfaktor, der in den Auseinandersetzungen um die Energieversorgung
politisch eingesetzt und militärisch gestützt wird (Altvater 2005; Klare 2008).
Dies wäre die Synthese. Die „hardware“ der post-industriellen und post-
fossilen Epoche sind die erneuerbaren Energieträger. Mit ihnen ist es schon heu-
te möglich, die fossilen und nuklearen Energieträger vollständig zu ersetzen,
ohne in eine Situation des Energiemangels zu geraten. Dies könnte rascher ge-
schehen, wenn auch in Zukunft an den fossilen Energieträgern festgehalten wür-
de. Dann würde es nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen in wachsender
Wirtschaft gehen, sondern um die Verwaltung des energetischen Mangels, und
dabei würde gerade die aus der Verfügung über Energiequellen und Verteilungs-
netze von Energie quellende Macht eine entscheidende Rolle spielen und mit
großer Wahrscheinlichkeit Anlass zu geopolitischen Konflikten sein. Schwieri-
ger als die Etablierung der „hardware“ erneuerbarer Energien ist aber der Aus-
tausch der „software“, um wegen der geringeren Energiedichte der erneuerbaren
222 Elmar Altvater

im Vergleich zu den fossilen Energieträgern „Tempo“ aus dem System zu neh-


men. Gelingen könnte dies nur durch ein „reembedding“ der Ökonomie in Poli-
tik und Gesellschaft. Dazu gehörte in erster Linie eine Regulation der globalen
Finanzmärkte, um deren Verselbständigung gegenüber der realen Ökonomie
geordnet und nicht in Gestalt des desaströsen crash aufzuheben, um den politi-
schen Spielraum der Zentralbanken in der Geld- und Wechselkurspolitik zu
vergrößern und vor allem, um das Niveau der Zinsen zu senken, damit der Druck
der globalen Finanzmärkte auf die reale Ökonomie gemindert wird.
Erneuerbare Energien haben eine territoriale Dimension, haben also Raum-
und Zeitkoordinaten, die im Zuge der kapitalistischen Raum-Zeit-Kompression
zur Bedeutungslosigkeit verdichtet worden sind. Daher konnten und können
Standortentscheidungen fast völlig unabhängig von natürlichen Faktoren und
sozialen Bedingungen nach ökonomischen Kriterien der besten Renditeaussich-
ten getroffen werden. Diese Möglichkeiten haben dem Kapital und seinen Agen-
ten „Exit-Optionen“ verschafft, die ihnen gegenüber den weniger mobilen Pro-
duktionsfaktoren, also vor allem gegenüber der Arbeit und ihren Organisationen
einen beträchtlichen Vorteil verschafft haben, der unter der Konkurrenz von
„Standorten“ weidlich ausgenutzt worden ist. Eine Strategie des disembedding
ist daher nur möglich als eine Strategie der „De-Kompression“ von Raum und
Zeit, der „Deglobalisierung“ der globalisierten Märkte.
Die „Synthese“ des re-embedding hat also nichts zu tun mit einer Retour zur
Natur und zu einem Leben in und mit ihr wie im vorindustriellen Zeitalter. Es
handelt sich um Fortschritt, um ein zukunftsweisendes Projekt, gerade weil so-
wohl die hardware als auch die software des Kapitalismus der 21. Jahrhunderts
gezeigt haben, dass sie nicht mehr laufen und ausgewechselt werden können, in
einer neuen „great transformation“, die schneller sein muss als die „great trans-
formation“ zum industriegesellschaftlichen Kapitalismus, zur entbetteten Markt-
wirtschaft. Sonst könnten drohende Katastrophen eventuell nicht vermieden
werden….
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 223

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Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 225

Globalisierung und ihre Interpretationen.


Soziologie der Transnationalisierung als Beobachtung zweiter
Ordnung.
Georg Vobruba

Die Beobachtung einer Begriffskonjunktur


Heiner Ganßmann hat überzeugend argumentiert, dass die öffentliche Kommu-
nikation über politisch relevante Sachverhalte diese mit bestimmt und also als
deren Bestandteil zu behandeln ist (Ganßmann 2000: 169). Diese Einsicht mache
ich mir im Folgenden für die soziologische Analyse ökonomischer Globalisie-
rung zu Nutze.
Was ist der Gegenstand der Globalisierungsforschung? Gegenstand der so-
zialwissenschaftlichen Globalisierungsforschung sind die transnationalen öko-
nomischen und sozialen Prozesse in einer nationalstaatlich verfassten Welt, die
weiträumigen Verknüpfungen und lokalen Folgen, die sich daraus ergeben, und
die Beobachtung und Interpretation Thematisierung all dieser Prozesse in der
Gesellschaft als „Globalisierung“. Damit erübrigt sich die Frage, ob man an
Stelle von „Globalisierung“ von „Transnationalisierung“, „Denationalisierung“
oder Ähnlichem sprechen sollte. Es ist als empirisches Datum zu nehmen, dass
sich der Begriff „Globalisierung“ durchgesetzt hat. In diesem Beitrag geht es um
die Anlage einer Soziologie der Transnationalisierung, die diesen Sachverhalt
handhaben und theoriegeleitete Vermutungen dazu entwickeln kann, was daraus
folgt.
Die Begriffsverwendung erfolgt öffentlich und in politischer Absicht. Der
Begriff „Globalisierung“ bündelt eine Vielzahl an unterschiedlichen Entwick-
lungen unter dem Gesichtspunkt von Handlungsanforderungen.
„Man soll mit Leuten konkurrieren, die für Hungerlöhne arbeiten, man soll lebenslang lernen,
man soll die vertraute Lebensumwelt gegen eine unübersichtliche Multi-Kulti-Szene tauschen,
man soll schnell, weltoffen, tolerant, innovationsfreudig und vor allem flexibel sein.“ (Ganß-
mann 2000: 148)

Dem entsprechend dient der Begriff „Globalisierung“ auch als Kristallisations-


kern für Widerstand gegen solche Anforderungen und als tragendes Element von
226 Georg Vobruba

Feindkonstruktionen. All diese Interpretationen finden in der Praxis statt, wirken


auf die Entwicklungen, welche sie bezeichnen, und auf die in sie involvierten
Interessen in unterschiedlicher Weise zurück, und sind darum Gegenstand von
Interpretationskämpfen. Thema der Globalisierungsforschung sind also transna-
tionale soziale Prozesse und ihre Interpretationen (vgl. analog Bohmann, Vobru-
ba 1994; Vobruba 1991: 103). Der Zeitpunkt, Globalisierung in diesem komple-
xen Sinn zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlich Analyse zu machen, also:
die Entwicklung der Globalisierung und die Entwicklung der Interpretationen
von Globalisierung zum Thema zu machen, ist deshalb günstig, weil sich ge-
genwärtig das Ende der stürmischen Expansion der Globalisierungsrhetorik und
der Globalisierungsforschung abzeichnet.
Ein paar Daten können diesen Ausgangspunkt meiner Überlegung plausibel
machen. Die Zahl der Veröffentlichungen, die in der Deutschen Nationalbiblio-
thek und in der Library of Congress unter „Globalisierung“ beziehungsweise
„globalization“ verschlagwortet wurden, hat sich von 1990 bis 2009 so entwi-
ckelt: Die Zahl der im Katalog der deutschen Nationalbibliothek registrierten
Texte nahm von 4 im Jahr 1990 kontinuierlich auf 281 im Jahr 2005 zu. Seitdem
gehen die Zuwächse wieder langsam zurück. 2008 wurden 212 neue Texte mit
dem Schlagwort „Globalisierung“ erfasst. Der online-Katalog der Library of
Congress weist für das Jahr 1990 17 Texte mit dem Schlagwort „globalization“
aus, der stärkste Zuwachs war 2003: 716 Texte. Seitdem haben die jährlichen
Zuwächse wieder deutlich abgenommen. 2008 wurden 359 neue Texte mit dem
Schlagwort „globalization“ registriert. Die Zahlen bieten starke Anhaltspunkte
dafür, dass sowohl in der deutschsprachigen als auch in der englischsprachigen
Diskussion die Zeit der höchsten Zuwachsraten in der Textproduktion zum The-
ma vorüber ist, dass aber von einem Ende der Diskussion keine Rede sein kann.
Dazu kommt ein Wandel der Schwerpunkte innerhalb der Genres, der sich frei-
lich nur schätzen lässt: Die Schwerpunkte wechseln von Beschreibungen und
Ratgeberliteratur zu affirmativen Theorieversuchen und dann zu Kritik. In jüngs-
ter Vergangenheit mehren sich in der Globalisierungsforschung die systematisie-
renden, rückblickenden Beiträge (vgl. Yeates 2001; Genschel 2004; Brady et al.
2005). Bis zum Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2008f. jedenfalls hat-
ten in der öffentlichen Diskussion um notwendige Reformen Problemformeln
wie die „alternde Gesellschaft“ die Globalisierung als Hauptproblemgenerator
längst überflügelt. Und in der affirmativen politischen Rhetorik wird der Begriff
„Globalisierung“ zunehmend vermieden, nachdem er sich von einem stabilen
Fundament für die Konstruktion von Sachzwangpolitik (vgl. Watson, Hay 2003)
zum „hate term“ und damit zum Kristallisationskern des Widerstand gegen diese
Politik entwickelt hat (vgl. Roddick 2001; Notes from Nowhere 2003).
Globalisierung und ihre Interpretationen 227

Die eingangs vorgeschlagene Definition ermöglicht es, diese Thematisie-


rungswelle selbst als Bestandteil des Prozesses zu konzipieren, der in den letzten
15 Jahren als „Globalisierung“ bezeichnet wurde. Soziologie der Globalisierung
betreibt also sozialwissenschaftliche Globalisierungsforschung als Beobachtung
zweiter Ordnung: Sie beobachtet und analysiert Beobachtungen, deren Voraus-
setzungen und Folgen. Das ist ein nicht ganz unkomplizierter Ausgangspunkt.
Ich will ihn hier weder einfach postulieren, noch mich auf seine epistemologi-
schen und gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen zu tief einlassen. Insbe-
sondere muss ich hier auf eine Abgrenzung und Auseinandersetzung mit ähnlich
klingenden Ansätzen der soziologischen Systemtheorie verzichten, da dies zu
weit in grundlegende Probleme der Theoriekonstruktion führen würde (vgl. Vob-
ruba 2009).
Freilich ist mein Ausgangspunkt auch wieder nicht allzu ungewöhnlich. Im
Kern ist am Verstehen von Kausalitäten interessierte Soziologie (Weber 1972:
3ff.) immer auf Beobachtungen zweiter Ordnung festgelegt. Das liegt daran, dass
die Soziologie in ihrem Beobachtungsbereich Gesellschaft immer mit beobach-
tenden, interpretierenden Akteuren rechnen muss, sowie damit, dass diese Ak-
teure angeleitet durch ihre Beobachtungen und Interpretationen agieren, dass sie
selbst Kausalitäten konstruieren, und dass sich daraus soziale Effekte ergeben.
Die Soziologie beobachtet also Prozesse, in denen und als deren Teil Beobach-
tungen stattfinden.
Zwingende Konsequenz davon ist, dass die Soziologie Gesellschaft und die
Prozesse in ihr als Konstruktionen fasst. Daraus ergibt sich aber keineswegs,
dass man den Ansatz der Beliebigkeit – etwa nach der Art des radikalen Kon-
struktivismus – ausliefert. Denn der Ansatz der Soziologie als Beobachtung
zweiter Ordnung rekurriert auf Beobachtungen, die in der Praxis gemacht wer-
den; und diese Interpretationen haben sich an harten Realitätsbedingungen zu
bilden und zu bewähren (Dux 2000: 205ff.) – die Bedingungen sind hart in dem
Sinn, dass sie der individuellen Verfügbarkeit in aller Regel entzogen sind; und
die Beobachtungen haben sich zu „bewähren“ in dem Sinn, dass sie möglichst
Realitätstüchtigkeit vermittelt müssen, zumindest entsprechend der Minimalbe-
dingung, dass man in der Realität nicht untergehen will. Es sind in dem Ansatz
also weder Narren noch Helden als Akteure vorgesehen. Konsequenz des Kon-
struktionscharakters ist, dass die praktischen akteursrelevanten Beobachtungen
weder beliebig noch eindeutig sind. Genau das macht sie zum eigenständigen
sozialen Sachverhalt und zum lohnenden Objekt soziologischer Beobachtung.
Daran lässt sich mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand „Globalisierung“
unmittelbar die These anschließen: Wir beobachten im Zuge der Globalisierung
einen Beobachtungs- und Interpretationswandel und dazu zugleich Interpreta-
tionskonflikte.
228 Georg Vobruba

Selbstverständlich kann sich die Soziologie auf all das unterschiedlich ein-
stellen. Sie findet ja selbst in der Gesellschaft statt und ist mit Akteuren besetzt.
Entweder kann sie Beobachtungen und dazu ihrer Ansicht nach angemessene
Interpretationsangebote machen und so in Interpretationskonflikte eintreten. Man
erkennt diese Strategie vor allem an dem vereinnahmenden „wir“, das als Adres-
sat für solche kategorialen Innovationen angesprochen wird (vgl. Youngs 1996:
58). Die Kosten dieser Strategie bestehen darin, dass man in dieser Perspektive
die in der Praxis stattfindenden Beobachtungen nicht systematisch in den Blick
bekommt, weil man in ihnen drin steckt. Oder man kann versuchen, möglichst
Distanz zum Gegenstand zu gewinnen, also Beobachtung zweiter Ordnung zu
betreiben. Dann ist man zwar letztlich im Gegenstand immer noch verfangen,
auch entgeht man Interpretationskonflikten nicht. Aber man sieht mehr und an-
ders: Die wissenschaftliche Rollendisziplin ermöglicht eine distanzierte Positio-
nierung zum Gegenstand und damit die empirische Erfassung von Beobachtun-
gen. Das hat für sozialwissenschaftliche Erkenntnis entscheidende Vorteile, die
sich dann wiederum möglicherweise in Vorteile in politischen Interpretations-
konflikten ummünzen lassen. – Aber das ist eine praktische Frage.
Ich wende mich hier dieser zweiten Möglichkeit zu. Ich werde im ersten
Schritt eine Definition von „Globalisierung“ anbieten, die sich vom mehrheitli-
chen Sprachgebrauch absetzt. Dann werde ich anhand eines kurzen historischen
Rückblicks versuchen, einige Besonderheiten des gegenwärtigen Globalisie-
rungsschubs zu beschreiben. Und schließlich will ich eine knappe Systematisie-
rung der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Globalisierung – also: Beob-
achtung bisherigen sozialwissenschaftlichen Beobachtungen der Globalisierung
– versuchen.

Eine zweistufige Definition


Was ist Globalisierung? Jede Definition von Globalisierung sollte den folgenden
Kriterien genügen: Sie muss institutionelle Entwicklungen erfassen, und sie
muss die Möglichkeit bieten, den institutionellen Wandel mit individuellem und
kollektivem Handeln zu verknüpfen, entweder als seine Voraussetzung oder als
seine Konsequenz. Um institutionellen Wandel mit Handeln zu verknüpfen,
muss die Definition zugleich die Möglichkeit bieten, die handlungsleitende Be-
obachtung und Interpretation der institutionellen Gegebenheiten durch die rele-
vanten Akteure zu erfassen. Ich schlage darum die folgende Definition von Glo-
balisierung vor (vgl. Vobruba 2005): Globalisierung besteht aus unterschiedli-
chen Strängen institutionellen Wandels, aus dem sich wechselseitige Beeinflus-
sungen und intensivierte Abhängigkeiten räumlich weit entfernter Lebensver-
hältnisse ergeben. Diese Vorgänge und Zusammenhänge werden von den invol-
Globalisierung und ihre Interpretationen 229

vierten Akteuren beobachtet und führen zur Ausbildung potentiell handlungsre-


levanter spezifischer Interpretationen und Interessenprofile. Mein Definitions-
vorschlag umfasst im Kern also zwei Ebenen: die Ebene institutioneller Entwick-
lung und die Ebene individueller und kollektiver Beobachtungen, Interpretatio-
nen und Aktionen. Eine solche Definition ist eher unüblich. Die meisten Defini-
tionsangebote von „Globalisierung“ konzentrieren sich auf ökonomische und
institutionelle Entwicklungen. Die Ebene der praktischen Beobachtung von Glo-
balisierung wird nur selten mit zum integrierten Bestandteil des Untersuchungs-
gegenstandes „Globalisierung“ gemacht.1 Dies zeigt, dass es eigentlich kaum
soziologische, dagegen viel ökonomische und politikwissenschaftlich-institutio-
nalistische Globalisierungsforschung gibt.
In nächsten Schritt geht es nun darum, die Eigenständigkeit der Ebene öko-
nomischer Zusammenhänge und der Interpretationsebene im Globalisierungs-
prozess deutlich zu machen. Ich werde dabei gleichsam ex negativo argumentie-
ren: In einem kurzen historischen Rückblick auf die Transnationalisierung ohne
Globalisierungsbegriff sollte dies deutlich werden.

Transnationalisierung vor der Globalisierung


Im politiknahen öffentlichen Diskurs und in Teilen der sozialwissenschaftlichen
Globalisierungsforschung war es in den 1990er Jahren üblich, Globalisierung als
einen Prozess anzusehen, der plötzlich und als etwas ganz Neues über die Ge-
sellschaft herein bricht, den Charakter einer Art Naturgewalt hat und irreversibel
ist. Dem gegenüber wurde – in den Geschichts- und Sozialwissenschaften früher,
in der öffentlichen Diskussion später – darauf aufmerksam gemacht, dass Trans-
nationalisierung ein langfristiger historischer Trend ist, in Wellen oder Schüben
verläuft und deshalb keineswegs irreversibel ist, weil er von gesellschaftlichen
Interessen- und Machtkonstellationen abhängt. Wichtig dafür sind vor allem
historische Arbeiten. Robbie Robertson hat „Three Waves of Globalization“
(Robertson 2003) unterschieden, die erste in das Zeitalter der Völkerwanderun-
gen, die zweite in die Zeit der Industrialisierung und die dritte in die Gegenwart
(nach dem 2. Weltkrieg) gelegt. Immanuel Wallerstein (1974) analysiert die dem
Kapitalismus inhärente Tendenz, sich global auszubreiten. Carlo Cipolla (1985)
hat die Transnationalisierungswellen seit Beginn der Neuzeit unter dem Ge-
sichtspunkt ihrer zunehmenden Inklusivität und der Herstellung zunehmender
weltweiter Dependenzen beschrieben. Knut Borchardt (2001) hat mit Blick auf
die populären Thesen über den exzeptionellen Charakter der gegenwärtigen
Globalisierung die Welle ökonomischer Transnationalisierung im 19. und frühen

1ȱȱ Andeutungen dazu findet man bei Therborn 2001; die einzige mir bekannte Ausnahme ist
Holstein 2004: 102.
230 Georg Vobruba

20. Jahrhundert untersucht und Ergebnisse der historischen Forschung mit dem
Globalisierungs-common-sense kontrastiert. Harold James (2001) hat (in An-
schuss an Borchardt) den Zusammenbruch dieser Transnationalisierungswelle in
der Weltwirtschaftskrise 1929ff. ausführlich analysiert.
Zentrale Ergebnisse dieser Untersuchungen sind: Transnationalisierungs-
prozesse, die – retrospektiv – fallweise als „Globalisierung“ bezeichnet werden,
sind keineswegs neu. Je nachdem, welches Verständnis des Horizonts von
„Welt“ man zugrunde legt, lassen sie sich bis in die Antike zurück verfolgen.
Jedenfalls aber bestehen zwischen der Transnationalisierungswelle der indus-
triellen Revolution bis zum ersten Weltkrieg und der Gegenwart bemerkenswerte
Parallelitäten, genauer: Weltweite Informationsnetze, weltweiter intensiver Han-
del, transnationale Kapitalströme – all das hatte bis 1914 ein Ausmaß und eine
Intensität erreicht, die wesentliche Aspekte der Auffassung, die Globalisierung in
der Gegenwart sei etwas völlig Neues, als unhaltbar erscheinen lässt (vgl. Hirst,
Thompson 1996). Ebenso zeigen die Untersuchungen von James (2001), ähnlich
wie die von Kindleberger (1989), dass auch intensive transnationale Wirtschafts-
verflechtungen aller Art bei entsprechendem politischem Druck reversibel sind,
und dass diese Reversibilitätsprozesse aufgrund der vordem entwickelten De-
pendenzen wirtschaftlich und politisch extrem hohe Kosten verursachen können.
Die empirischen Belege und Analysen, die auf die These hinauslaufen, dass
Globalisierung nichts Neues und reversibel ist, sind so überzeugend und mittler-
weile so weit verbreitet, dass es sinnvoll erscheint, den Spieß umzudrehen und
danach zu fragen, ob sich nicht doch Besonderheiten der gegenwärtigen Globali-
sierungswelle finden lassen, und – wenn ja – welche. Dazu ein paar Beobachtun-
gen.
1. Die gegenwärtige Globalisierungswelle ist hinsichtlich der involvierten
Weltregionen exklusiver und hinsichtlich der involvierten Bevölkerungen
inklusiver als alle vorhergegangenen Transnationalisierungswellen. Das
heißt: Die Globalisierung heute erfasst nicht alle Weltregionen, aber in den
Regionen, die sie erfasst, die Lebensverhältnisse der gesamten Bevölkerun-
gen. Ersteres verweist auf spezifische Konstellationen in den internationalen
Beziehungen: zum Beispiel Forderungen nach Beteiligung an der Globali-
sierung (Dohan-Runde, Afrika) oder neuer Nationalismus (Lateinamerika);
letzteres verweist auf spezifische Konstellationen im Verhältnis zwischen
der nationalen und der transnationalen Ebene von Gesellschaft: zum Bei-
spiel auf Fragen nach transnationalen Gründen der Entwicklung sozialer
Ungleichheit in einzelnen Ländern. Die Inklusivität der gegenwärtigen Glo-
balisierung bedingt eine bisher unbekannt breite soziale Involviertheit –
durch Vorteile oder Nachteile, die sie bringt – und entsprechend breite und
inhaltlich breit streuende Interessen an Globalisierung. Die Gleichzeitigkeit
Globalisierung und ihre Interpretationen 231

von regionaler Exklusivität und sozialer Inklusivität der gegenwärtigen


Globalisierungswelle könnte darüber hinaus eine strukturelle Voraussetzung
für moralisches Engagement mit Bezug auf Globalisierung sein.
2. Die Bezeichnung „Globalisierung“ für frühere Wellen erfolgt ausschließlich
retrospektiv. Zeitgenössisch war der Begriff nicht verfügbar. Ohne dieses
Problem zu reflektieren spricht Robertson zwar von drei Globalisierungs-
wellen, nennt die erste dann aber „Early Global Transformations“ (Robert-
son 2003: 49ff.). Borchardt (2001: 3; ähnlich Scholte 1996) macht explizit
darauf aufmerksam, dass gegenwärtig nicht das Phänomen, sondern der Be-
griff das Neue ist, belässt es aber bei dieser Anmerkung und erwägt keine
Rückwirkungen der Verwendung dieses neuen Begriffs im Prozess auf ihn
selbst. Die hier vorgeschlagene Sicht dagegen ermöglicht, ja erzwingt gera-
dezu, die Begriffe, anhand derer die involvierten Akteure Globalisierung
interpretieren, mit zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Wie könnte
man das anlegen? Wenn man die Verfügbarkeit des Begriffs „Globalisie-
rung“ als neuen sozialen Sachverhalt mit potentiellen Folgen für die Globa-
lisierung einführt, empfiehlt es sich erst einmal, empirische Evidenz für die
relative Eigendynamik der Begriffsausbreitung zu sammeln. Daran an-
schließend kann man Vermutungen über Wirkungen der Begriffsverwen-
dung im Prozess der Globalisierung entwickeln.
Die gegenwärtige Globalisierungswelle ist also die historisch erste, die wissen-
schaftlich und in der Praxis als „Globalisierung“ bezeichnet wird. Der Begriff
„Globalisierung“ wurde vermutlich in betriebswirtschaftlichen Zusammenhän-
gen geprägt. Der Begriff „Global“ mit seiner gegenwärtigen Bedeutung wurde
durch das Buch „War and Peace in the Global Village“ von McLuhan (1968)
populär gemacht. „Globalisierung“ als Bezeichnung für jenes Bündel an Phäno-
menen, für die der Begriff heute selbstverständlich geworden ist, erlebte seit der
Mitte der 1980er Jahre einen erst langsamen und dann rasanten Aufstieg. Das gilt
sowohl für die wissenschaftliche Begriffsverwendung (vgl. Holstein 2004) als
auch für die öffentliche, gemessen an der Häufigkeit, in der das Wort in deut-
schen Tageszeitungen Gebrauch findet (Bernauer 2000).
Wir haben es also nicht mit dem plötzlichen Auftauchen des neuen Phäno-
mens „Globalisierung“ zu tun, wohl aber mit einem explosionsartig zunehmen-
den wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse an einem komplexen und viel-
schichtigen Phänomen, für dessen Erfassung seit wenigen Jahrzehnten ein kom-
pakter Begriff – „Globalisierung“ – verfügbar ist.
Was folgt aus dem Auftreten eines solchen Begriffs, wenn man von der
vorgeschlagenen Zwei-Ebenen-Definition ausgeht und Globalisierung samt ihrer
praktischen Beobachtung als einen integrierten Untersuchungsgegenstand nimmt,
232 Georg Vobruba

in dessen Rahmen es Rückkoppelungen zwischen beiden Ebenen gibt (Holstein


2004: 102)?
Wenn der Begriff „Globalisierung“ neu ist, und wenn also ein neuer Begriff
verfügbar ist, der die Beobachtung des institutionellen Phänomens organisiert,
dann stellt sich die Frage, wie dieser Sachverhalt die gegenwärtige Globalisie-
rungswelle von früheren abhebt. Mit anderen Worten: In welcher Weise führt die
durch den Begriff „Globalisierung“ organisierte Beobachtung zu Interpretatio-
nen, welche handlungsleitend werden, so dass die Begriffsverwendung zum
konstruktiven Anteil am Phänomen selbst wird?

Ich halte die folgenden Vermutungen dazu für plausibel und überprüfenswert:
Der Begriff „Globalisierung“ wirkt in räumlicher und sachlicher Hinsicht
integrierend. Er ermöglicht zum einen die Konstruktion von Kausalzusammen-
hängen über weite räumliche Distanzen (vgl. den Erlebnisbericht von Stiglitz
2003: 53), und er bringt zum anderen heterogene, bisher separat beobachtete und
behandelte Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner. Transnationale Handels-
beziehungen, die Standardisierung von Maßeinheiten, kulturelle Angleichungspro-
zesse, spekulative Finanzströme, die Vogelgrippe, internationale Migration,
Terrorismus und der Krieg gegen ihn (vgl. Aronowitz, Gautney 2003) – all diese
Phänomene werden zu Teilaspekten von Globalisierung. Dies kann zur Entde-
ckung bisher nicht beobachteter Zusammenhänge führen und wieder zu überra-
schenden Kausalitätskonstruktionen einladen, aus denen sich historisch neuartige
Handlungsstrategien ergeben: Die mit dem Begriff ermöglichte kognitive Reor-
ganisation der Realität hat reale Konsequenzen.
Dabei lässt sich deutlich eine Abfolge beobachten: In der früheren Phase
des gegenwärtigen Globalisierungsschubs entstanden auf der Grundlage des
Globalisierungsbegriffs Sachzwangkonstruktionen zur Legitimation unpopulärer
aber „notwendiger“ policies. Als Reaktion darauf wurde über den Begriff die
Realität so angeordnet, dass sich neue gemeinsame Grundlagen bisher heteroge-
ner sozialer Bewegungen ergaben. Dies hat zwei Folgen:
ƒ Soziale Bewegungen sprengen in der gegenwärtigen Globalisierungswelle
den nationalen Rahmen, an dem sie 1914 so dramatisch gescheitert waren.
Ich meine damit folgendes: Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten
(vgl. Groh 1973: 675ff.; Vogt 2000) hatte die deutsche Sozialdemokratie
mit ihrer internationalistischen Interpretation von Gesellschaftskonflikt
(„Klassenkampf“) vor der nationalistischen Interpretation („Krieg“) kapitu-
liert. Die historische Abstimmung im Reichstag im August 1914 war in ers-
ter Linie ein Votum gegen internationale und für national verfasste Interes-
senprofile.
Globalisierung und ihre Interpretationen 233

ƒ Soziale Bewegungen sind in der Lage eine viel größere Heterogenität zu


integrieren als bisher. Dies ist als Charakteristikum der Globalisierungsgeg-
ner mittlerweile ausführlich beschrieben und diskutiert worden (vgl. Leg-
gewie 2003). Möglicherweise liegt hier auch der Schlüssel zu einer Antwort
auf die Frage nach den Ursachen für die starke Affinität von globalisie-
rungskritischen Bewegungen zu Moralmotiven. Sie sind deshalb moralaffin,
weil sich Moral aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit gut zur Selbst-
versorgung heterogener Gruppen und Strömungen mit Protest- und Hand-
lungsmotiven eignet (vgl. Keck, Sikkink 1998).
Wir finden also Argumente dafür, dass die durch den Begriff „Globalisierung“
organisierte Beobachtung der Globalisierung die soziale Basis der Auseinander-
setzung mir Globalisierung dramatisch erweitert: Globalisierung betrifft nun
virtuell alle.
Dazu kommt ein weiterer Unterschied zwischen dem Globalisierungsschub
ab 1850 und dem gegenwärtigen. Der Globalisierungsschub im Zusammenhang
mit der industriellen Revolution fand vor, oder bestenfalls parallel zur Ausbrei-
tung des allgemeinen Wahlrechts statt. Die zeitgenössische Globalisierung unter
demokratischen Bedingungen dagegen eröffnet neue Möglichkeiten der Artikula-
tion von Interessen und begründet eine neue Form staatlicher Resonanzfähigkeit
dafür. Ich schließe daraus, dass die Akzeptanz von Globalisierung heute politisch
ungleich voraussetzungsvoller ist als früher. Unter den politischen Voraussetzun-
gen für die Akzeptanz von Globalisierung sticht Sozialpolitik besonders hervor.
Ich fasse zusammen. Gemeinsam scheinen die drei Charakteristika: Exklu-
sivität/Inklusivität, breite soziale Involviertheit und eine Disposition zu morali-
schem Engagement eine historisch neue Qualität der gegenwärtigen Globalisie-
rung zu ergeben. Dies könnten zugleich Gründe für einen anderen Verlauf als
den früherer Globalisierungsschübe sein.

Die soziologische Beobachtung der sozialwissenschaftlichen Globalisierungs-


forschung
Dabei handelt es sich um eine wissens- und wissenschaftssoziologische Aufgabe.
Spätestens seit Karl Mannheim (1985) weiß man um die „Seinsgebundenheit“
von Wissen. Dies hat zur Folge, dass sich die Frage nach außerhalb von Wissen
liegenden Ursachen von Wissen stellen lässt. Auch sozialwissenschaftlich gene-
riertes Wissen kann darum soziologisch beobachtet und als unabhängige oder
abhängige Variable zum Gegenstand empirischer Forschung gemacht werden.
Was sieht man, wenn man die sozialwissenschaftliche Globalisierungsfor-
schung beobachtet?
234 Georg Vobruba

Anders als die Forschung unter dem Stichwort „Weltgesellschaft“, welche


den Staat als historisch überkommene und unangemessene Selbstbeschreibung
des politischen Systems ansieht, sind für die empirische Globalisierungsfor-
schung zwei Realitätsebenen, die staatliche und die globale, konstitutiv. Aller-
dings wandelten sich im Laufe der Forschung, die den gegenwärtigen Globalisie-
rungsschub begleitet, die Verknüpfungen zwischen den beiden Ebenen.
Ökonomische Globalisierung wurde – in weitgehendem Einklang mit der
Publizistik – erst einmal als eine plötzliche, völlig neue, von außen kommende
quasi Naturkraft angesehen. Diese Deutung wurde maßgeblich von Ökonomen
bestimmt und beeinflusste den Interpretationsrahmen für Globalisierungsfor-
schung stark: Der Schwerpunkt der empirischen Forschung lag und liegt auf
Untersuchungen des Einflusses von Globalisierung auf die staatliche Ebene und
ist von einer Destruktionsvermutung präokkupiert. Als empirisch offen wird nur
die Frage nach Spezifikationen und Reichweite der Destruktion staatlicher Hand-
lungsfähigkeit gesehen. Insgesamt entspricht dies dem Interpretationssyndrom
derer, die Held et al. (2003) „Hyperglobalists“ genannt haben. In all diesen Bei-
trägen wird Globalisierung extern eingeführt und fungiert als unabhängige Va-
riable (Globalisierung hat hier fast Akteursqualitäten), die staatliche Ebene fun-
giert als abhängige Variable, der Zusammenhang ist prinzipiell destruktiv.
In der zweiten Phase wurde Globalisierung internalisiert: Dies war die Fol-
ge der Entdeckung, dass Globalisierung sich selbst staatlichen Entscheidungen
und Nichtentscheidungen verdankt. Die Destruktionsvermutung im Zusammen-
hang globale Ebene – staatliche Ebene wurde beibehalten. Aus der Zusammen-
schau des konstitutiven Anteils des Staates an der Globalisierung mit destrukti-
ven Wirkungen der Globalisierung auf den Staat ergab sich dann die These staat-
licher Selbstdestruktion. Im nächsten Schritt wurde die These vom konstitutiven
Anteil des Staates an der Globalisierung erweitert: Er sei nicht nur für die Ent-
stehung sondern auch für die Nachhaltigkeit der Globalisierung ausschlagge-
bend. Mit dieser Wendung war die Innovation verbunden, dass erstmals nicht nur
destruktive Wirkungen für den Staat, sondern auch ebensolche Rückwirkungen
auf die globale Ebene denkbar wurden (vgl. Altvater, Mahnkopf 1996; Rieger,
Leibfried 2003). Aus der Zusammenschau von destruktiven Wirkungen der glo-
balen Ebene auf den Staat und abnehmender staatlicher Handlungsfähigkeit
ergab sich das „Globalisierungsdilemma“ (vgl. Vobruba 2001; dazu Zürn 2003):
Globalisierung bedarf wohlfahrtsstaatlicher Flankierung, schwächt zugleich aber
die Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats. Neuerdings finden sich Untersu-
chungen von Einflüssen der staatlichen Ebene auf die globale Ebene, welche
wiederum komplementäre oder substitutive Wirkungen für die staatliche Ebene
haben. Eine solche neue Perspektive, die sich von der aprioristischen Destrukti-
vitätsvermutung emanzipiert hat, ermöglicht die Beobachtung und das Sammeln
Globalisierung und ihre Interpretationen 235

von empirischen Informationen zu Wandlungsprozessen bestehender supranatio-


naler Institutionen (vgl. Vetterlein 2006) und zu Vorformen und neuen Formen
supranationaler Institutionen, die neue Verbindungen mit Staatstätigkeit einge-
hen oder jenseits von Staatseinfluss stehen (zur Rechtsprechung vgl. Zangl 2006;
zur sozialen Sicherheit vgl. Leisering et al. 2006). Und schließlich finden wir
Untersuchungen, welche das Grundmuster der zwei Ebenen aufgeben und sich
für Wechselwirkungen zwischen globalen (beziehungsweise global vernetzten)
Akteuren und globalen Institutionen interessieren.
Wie gesagt: Die Untersuchung des Wandels von sozialwissenschaftlichen
Interpretationen fällt in den Zuständigkeitsbereich der Wissenssoziologie. Wis-
senssoziologische Untersuchungen müssen immer Zweierlei ins Auge fassen:
Zum einen müssen sie nach geeigneten unabhängigen Variablen für die Erklä-
rung von Wissensbeständen suchen; und zum anderen müssen sie die Eigensin-
nigkeit der Logiken von Interpretationen in Rechnung stellen. Der kurze Durch-
gang hat gezeigt: Die Inhalte der Interpretationen werden durch einen Interpreta-
tionsrahmen präformiert, welcher zwar nicht unwandelbar, den einzelnen Inter-
pretationen aber vorausgesetzt ist (Dux 1976). Die Interpretationsrahmen fungie-
ren also als operative Logiken, welche das Spektrum möglicher Antworten ein-
schränken, indem sie schon das Spektrum stellbarer Fragen begrenzen. Wand-
lungen eines Interpretationsrahmens (sozusagen Kuhn’sche Minirevolutionen)
finden statt, wenn ausreichend viele Beobachtungen gemacht werden, welche er
nicht zu integrieren vermag – ein Prozess, der durch Interpretationskonflikte und
die damit verbundenen Dauerangebote an Alternativinterpretationen beschleu-
nigt werden kann.
Insgesamt: Das Zusammenwirken von Außeneinflüssen und Eigendynamik
in sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Beobachtungs- und Interpretations-
prozessen muss zu institutionellen Entwicklungen in Relation gebracht und so
als Bestandteil von Globalisierung begriffen werden.

Was könnte der Ertrag sein?


Ich will auf zwei Konsequenzen aufmerksam machen, eine für die empirische
Forschung und eine zweite für das Selbstverständnis einer sozialwissenschaftli-
chen Globalisierungstheorie.
Viele Jahre empirische Forschung haben ergeben, dass Globalisierung kein
brauchbarer Prädiktor für Staats- und insbesondere Wohlfahrtsstaatsentwicklung
ist. Die Effekte sind in ihrer Richtung uneindeutig (vgl. Seeleib-Kaiser 2001;
2002) und in ihrer Wirkung relativ – das heißt: in Relation zu anderen Prädikto-
ren – schwach (vgl. Brady et al. 2005). Es besteht kein Zweifel mehr daran,
„dass sich zwar vieles verändert, aber nur wenige Änderungen einigermaßen
236 Georg Vobruba

schlüssig als Auswirkungen von Globalisierungsprozessen angesehen werden


können.“ (Ganßmann 2000: 149) Diesem eher unaufgeregten vorläufigen Ende
der früher mit wesentlich dramatischeren Diagnosen (vgl. Cerny 1996; Strange
1996; und als Nachzügler Sinn 2004) handelnden Debatte entspricht ein Wandel
der öffentlichen Interpretationen: Sie entwickelten sich von der – mit oder ohne
klammheimliche Freude vorgetragenen – These von der Globalisierung als Ge-
fahr für den Wohlfahrtsstaat zur Sorge, dass die „Globalisierung in Gefahr“
(Süddeutsche Zeitung 12./13. 8. 2006: 4) sei. Diese sorgenvolle Sicht wird durch
die internationale Finanzkrise 2008f. extrem verstärkt (vgl. Helleiner 2009).
Die offenkundige Uneindeutigkeit der Zusammenhänge zwischen Globali-
sierung und staatlicher Ebene wird mittlerweile gesehen und hat eine Wendung
der Fragestellung eingeleitet: Es geht nicht mehr darum, das methodische In-
strumentarium weiter zu schärfen, um die Uneindeutigkeiten empirisch aufzulö-
sen, es geht viel mehr um die Frage nach ihren systematischen Ursachen. Indem
so die Uneindeutigkeit des Zusammenhangs von Globalisierung und Wohlfahrts-
staat von einer empirisch lösbaren Fragestellung selbst zum erklärungsbedürfti-
gen Phänomen wird, macht die empirisch vergleichende Globalisierungsfor-
schung den eingangs geforderten Schritt zur Globalisierungsforschung als Beob-
achtung zweiter Ordnung: Sie begibt sich zu der sie begleitenden Textproduktion
(wobei sie die einschlägigen soziologischen Texte mit einbezieht) in eine distan-
zierte Beobachtungsposition und fragt nach deren Entstehungsbedingungen und
Wirkungen auf ihren Gegenstand. Soweit die soziologische Beobachtung der
Textproduktion dabei auch Texte aus der soziologischen Globalisierungsfor-
schung in den Blick bekommt, könnte dies zur Auflösung von Uneindeutigkeiten
in ihren bisherigen Ergebnissen führen.
Zu den Konsequenzen für eine Theorie. Der mainstream der sozialwissen-
schaftlichen Globalisierungsforschung hat sich für die Entwicklung einer Globa-
lisierungstheorie bisher nur wenig interessiert. Gefragt waren allenfalls Vorstel-
lungen über Makrozusammenhänge, aus denen sich empirisch testbare Vermu-
tungen über die Entwicklung der Handlungsspielräume von Staaten ableiten
ließen. Die individuellen Akteure („die Leute“) wurden überwiegend als durch-
laufender Posten behandelt. Ein solches handlungstheoretisches Defizit muss
spätestens als Problem erkennbar werden, wenn man vor unauflösbaren Unein-
deutigkeiten auf der Makroebene, insbesondere im Verhältnis zwischen Ökono-
mie und Wohlfahrtsstaat, steht. Denn diese Uneindeutigkeiten können im Kern
nur daran liegen, dass ökonomische Globalisierungsphänomene das Handeln der
politischen Akteure wie auch der Leute keineswegs determinieren.
Wenn also „Soziologen und Ökonomen offene Handlungssituationen erklä-
ren sollen“ (Ganßmann 1996: 49), erfordert dies die Einführung einer handlungs-
theoretischen Ebene der Analyse von Globalisierungsprozessen. Der Abbau der
Globalisierung und ihre Interpretationen 237

rein institutionalistischen Fragerichtung zugunsten der Konzeptualisierung von


Globalisierung als Wechselwirkung von institutioneller Entwicklung einerseits
und Beobachtungen, Interpretationen und Handeln andererseits impliziert, die
Leute nicht als Reaktionsautomaten oder Opfer, sondern als aktive Teilnehmer
an Globalisierung zu behandeln. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, ihre eigen-
sinnigen Beobachtungen und Interpretationen von Globalisierung: Akzeptanz,
Indifferenz und Kritik samt daraus resultierendem individuellem und kollekti-
vem Handeln systematisch in den Blick zu bekommen und in eine soziologische
Theorie der Globalisierung einzubauen. Daraus ergibt sich keine Kritische Theo-
rie der Globalisierung, aber eine Soziologie der Transnationalisierung, welche
affirmative und kritische Deutungen der Globalisierung integriert. Mehr ist oh-
nehin nicht zu haben.

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Autorinnen und Autoren

Elmar Altvater, Professor im Ruhestand für Internationale Politische Ökono-


mie, vormals am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte
in Forschungs- und Lehrtätigkeit: Globale Finanzmärkte, Europäische Integrati-
on, Global Environmental Governance. Veröffentlichung: Elmar Altvater, Birgit
Mahnkopf. Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in
der globalisierten Welt. Münster 2007: Westfälisches Dampfboot.

Jens Beckert, Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für


Gesellschaftsforschung in Köln. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theo-
rie, Wirtschafts- und Organisationssoziologie, Soziologie der Erbschaft. Veröf-
fentlichung: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt a. M.,
New York 2004: Campus.

Peter Bleses, Dr. rer. pol., artec-Forschungszentrum Nachhaltigkeit an der Uni-


versität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Entwicklung von Sozialpolitik und
Wohlfahrtsstaat; Arbeitsforschung und Organisationsentwicklung. Letzte Buch-
veröffentlichung: The Dual Transformation of the German Welfare State. Ba-
singstoke, New York 2005: Palgrave/Macmillan (gemeinsam mit Martin Seeleib-
Kaiser).

Christoph Deutschmann, Professor für Soziologie in Tübingen. Forschungs-


schwerpunkte: Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie. Letzte Veröf-
fentlichung: Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspekti-
ve. Wiesbaden 2008: VS.

Rainer Diaz-Bone, Professor für Soziologie an der Universität Luzern. For-


schungsschwerpunkte: sozialwissenschaftliche Methoden und Statistik, Wirt-
schaftssoziologie (insbesondere Marktsoziologie und Économie des conventi-
ons). Veröffentlichung: Rainer Diaz-Bone, Gertraude Krell (Hrsg.). Diskurs und
Ökonomie. Diskursanalytische Perspektiven auf Organisationen und Märkte.
Wiesbaden 2009: VS.
242 Autorinnen und Autoren

Jürgen Gerhards, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin.


Forschungsschwerpunkte: Komparative Kultursoziologie, Europaforschung,
Soziologie der Öffentlichkeit. Letzte Buchveröffentlichung: Cultural Over-
stretch? The enlargement of the European Union and the cultural differences
between old and new member states and Turkey. London und New York 2007:
Rotledge.

Kurt Hübner, Chair for German and European Studies, Direktor des Instituts
für European Studies an der University of British Columbia. Forschungsschwer-
punkte: Währungskooperation und Währungskonkurrenz, Ökonomie der europä-
ischen Integration, Institutionen und Ökonomie, Globalisierung, Comparative
Political Economy. Letzte Veröffentlichung: Innovationssysteme und ‚Varieties
of Capitalism‘ unter Bedingungen ökonomischer Globalisierung. In Birgit Blät-
tel-Mink, Alexander Ebner (Hrsg.). Innovationssysteme. Technologie, Institutio-
nen und die Dynamik der Wettbewerbsfähigkeit. Wiesbaden 2008: VS.

Martin Kohli, Professor für Soziologie am European University Institute in


Florenz. Forschungsschwerpunkte: Lebenslauf, Generationen, Altern; intergene-
rationelle Transfers und Erbschaften; Familie, Verwandtschaft, Wohlfahrtsstaat;
Gesellschaftsvergleich und Europäisierung. Letzte Veröffentlichung: Pension
reform in Europe: Politics, policies and outcomes (hrsg. mit Camila Azra). Lon-
don 2008: Routledge.

Harald Künemund, Professor für Gerontologie an der Hochschule Vechta.


Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftliche Partizipation älterer Menschen,
Generationenbeziehungen, Methoden der empirischen Sozialforschung. Letzte
Veröffentlichung: Generationen – Multidisziplinäre Perspektiven (hrsg. mit
Marc Szydlik). Wiesbaden 2009: VS.

Holger Lengfeld, Professor für Soziologie und Inhaber der Ernsting’s family-
Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnose an der FernUniversität
in Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheitsforschung, Europasozio-
logie, Organisationssoziologie. Letzte Buchveröffentlichung: Klasse, Organisati-
on und ungleiche Lebenschancen. Wiesbaden 2009: VS (im Erscheinen).

Sylke Nissen, Privatdozentin, Universität Frankfurt am Main und Universität


Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Stadtsoziologie, Europasoziologie. Letzte
Veröffentlichung: Hybridräume. Zum Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit
in der Stadt. Archives Européennes de Sociologie, XLIX (2), 2008, 277-306.
Autorinnen und Autoren 243

Adam Przeworski, Professor für Politikwissenschaft und Europastudien an der


New York University. Forschungsschwerpunkte: Politische Ökonomie, Demo-
kratietheorie, methods of cross-national research. Veröffentlichung: The Poor
and the Viability of Democracy. In Anirudh Krishna (Hrsg.), Poverty, Participa-
tion and Democracy. New York 2008: Cambridge University Press.

Georg Vobruba, Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. For-


schungsschwerpunkte: Soziologie der sozialen Sicherheit, Europasoziologie,
soziologische Gesellschaftstheorie. Letzte Veröffentlichung: Die Gesellschaft
der Leute. Kritik und Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Wiesbaden 2009: VS.

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