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Die Ökonomie
der Gesellschaft
Festschrift für
Heiner Ganßmann
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1. Auflage 2009
ISBN 978-3-531-15783-2
Das Problem der materiellen Existenzsicherung 5
Inhalt
Umverteilungsbarrieren.
Technische Probleme ökonomischer Gleichheit .............................................. 75
Adam Przeworski
III. Transnationalisierungsprozesse
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Gebremste Europäisierung des Arbeitsmarkts ............................................... 173
Sylke Nissen
Das Forschungsprogramm
Trivial ist die Einsicht, dass die Ökonomie in der Gesellschaft stattfindet. Wo
sonst? Noch mit einigermaßen breiter Zustimmung kann die These rechnen, dass
es sich bei der Wissenschaft von der Ökonomie um eine Sozialwissenschaft
handelt. Selten hingegen werden die Konsequenzen ernsthaft verfolgt, die sich
daraus ergeben.
Heiner Ganßmann hat in seinem bisherigen Werk ein Forschungsprogramm
realisiert, welches die Stärken der Soziologie in dem zentralen gesellschaftlichen
Problemfeld der materiellen Existenzsicherung nützt und weiter entwickelt.
Wenn wir von dem Problemfeld der materiellen Existenzsicherung sprechen, um
den Fokus der Arbeiten von Heiner Ganßmann zu bezeichnen, verwenden wir
diesen Terminus in einem weiten Sinn: Er umfasst einerseits alle Interessen und
Anstrengungen, welche die Akteure darauf richten, materielle Knappheit mit
Blick auf ihre je aktuelle Lage und in der Zukunftsperspektive zu bewältigen.
Andererseits schließt der Begriff die systemische Eigenlogik der Ökonomie ein,
auf welche sich die Akteure dabei einstellen müssen und auf die sie in ihrem
Handeln Einfluss nehmen. Im Problemfeld der materiellen Existenzsicherung
geht es um Fragen des effizienten Einsatzes ökonomischer Ressourcen, Proble-
me des Arbeitseinsatzes und der Arbeitsteilung, des Tausches und der Wertauf-
bewahrung, insbesondere zum Zweck der materiellen Zukunftsabsicherung. Und
zwar geht es um diese Fragen in einem doppelten Sinn: Sie sind relevant sowohl
als praktische Fragen, denen sich die im Problemfeld relevanten Akteure zu
stellen haben, als auch als sozialwissenschaftliche Fragen, denen man sich wid-
men muss, wenn man dieses Problemfeld verstehen will. Das Problemfeld der
materiellen Existenzsicherung, dem sich Heiner Ganßmann in seiner Forschung
widmet, hat darum einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaft und einen
prominenten Platz in der soziologischen Gesellschaftstheorie.
Konstitutiv für die Realisierbarkeit dieses anspruchsvollen Programms ist
die Fundierung des Denkens von Heiner Ganßmann bei Karl Marx und Max
Weber (vgl. Bader et al. 1976; Ganßmann 1994). Seine Weber-Ausstattung hat
8 Sylke Nissen, Georg Vobruba
„Als soziale Konstruktion ist der Sozialstaat abhängig von der Art und Wei-
se, wie über ihn kommuniziert wird.“ (Ganßmann 2000a: 169) Ausgestattet mit
Argumenten, die sich aus den Analysen der Sozialpolitik und der Flexibilität der
Arbeit ziehen lassen, hat Ganßmann darum immer wieder die Position verlassen,
von der aus sich politisch relevante Akteursdeutungen beobachten und als Be-
standteile des soziologischen Untersuchungsgegenstandes selbst analysieren
lassen. Insbesondere mit seinen Beweisführungen gegen die „mit der Zähigkeit
von provisionsabhängigen Versicherungsvertretern vorgetragenen Argumentati-
on“ (Ganßmann 2000a: 132), die auf die weitgehende Überantwortung der Da-
seinsfürsorge an den internationalen Kapitalmarkt hinauslaufen, hat er in gerade-
zu dramatischer Weise Recht behalten.
Das Anregungspotential
Was haben die in diesem Band versammelten Beiträge gemeinsam? Die am
nächsten liegende Antwort lautet: Sie alle demonstrieren das Anregungspotenti-
al, das in den Arbeiten von Heiner Ganßmann steckt. Wie aber tun sie das? Alle
Beiträge beziehen ihre Fragestellungen aus der Situierung der Ökonomie in der
Gesellschaft. Sie konzentrieren sich entweder auf die gesellschaftlichen Konsti-
tutionsbedingungen jener Grundgegebenheiten, von denen die Ökonomie immer
schon ausgeht. Oder sie befassen sich mit gesellschaftlichen Folgen, die sich aus
der Ökonomie als einem Ensemble von Handlungsbedingungen ergeben. Die
Beiträge konvergieren in dem Nachweis, dass jene Sachverhalte, welche die
Ökonomie in ihren Basiskategorien fasst, gesellschaftlich konstruiert sind. In
diesem Sinne befassen sie sich mit der Ökonomie der Gesellschaft. Es geht somit
um die soziologische Auflösung von Selbstverständlichkeiten in den epistemi-
schen Grundlagen der ökonomischen Theorie.
Der Nachweis des gesellschaftlichen Konstruktionscharakters aller ökono-
misch relevanten Sachverhalte verschiebt die ökonomische Realität freilich kei-
neswegs in den Bereich intentionaler Gestaltbarkeit, und löst die Ökonomie
weder als eigensinniges System noch als abgrenzbare Fachdisziplin auf. Viel-
mehr lässt sich gerade aus einer soziologischen Beobachtungsperspektive sehen,
dass die Ökonomie ein nach einer eigenen Logik operierendes System darstellt.
Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die Ökonomie als Wissenschaft in einem
eigenartigen Naheverhältnis zur Ökonomie als System bewegt – und warum dies
so ist.
Die gesellschaftliche Konstruktion der Grundgegebenheiten der Ökonomie
erfolgt unter harten Vorgaben. „Hart“ sind diese Vorgaben in dem Sinn, dass sie
für die einzelnen Akteure im System nur marginal verfügbar sind: Wer die Gren-
zen des systemisch definierten Handlungsspielraums überschreitet, muss mit
14 Sylke Nissen, Georg Vobruba
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Das Problem der materiellen Existenzsicherung 15
An diese Facette von Ungewissheit hat während der letzten Jahre insbesondere
Christoph Deutschmann (1999; 2008) angeknüpft. Die Kreativität von Arbeits-
prozessen und unternehmerischem Handeln ist konstitutive Grundlage für die
Dynamik kapitalistischer Akkumulationsprozesse, bringt aber zugleich Unge-
wissheit in Entscheidungen und macht damit die Vorstellung einer restlosen
rationalen Kalkulierbarkeit ökonomischen Handelns gerade für kapitalistische
Ökonomien zu einem unzureichenden theoretischen Modell.
Alle drei hier unterschiedenen Quellen von Ungewissheit führen dazu, dass
sich Entscheidungsprozesse in der Ökonomie nicht einfach als Optimierungs-
handeln verstehen lassen. In Situationen mit Ungewissheit fehlen die Grundlagen
für die notwendigen Kalkulationen, die in den ökonomischen Standardmodellen
immer vorausgesetzt werden (Bandelj 2008: 168ff). Die ökonomische Theorie
Koordination und Verteilung 21
Beckert und Rössel (2004; Rössel 2007) haben in der Untersuchung des Marktes
für zeitgenössische Kunst den Zusammenhang zwischen Preisbildung und Inter-
mediären gezeigt, also Galeristen, Museumskuratoren, Kunstkritikern und Kunst-
hochschulen, die durch ihre Beurteilung von Kunstwerken und Künstlern den
Wert der Werke im Feld der Kunst erst konstituieren. Bestimmte Praktiken der
Preisbildung von Galerien, wie etwa der Verkauf gleichgroßer Bilder zum glei-
chen Preis und der Verzicht auf Preisabschläge bei schwer verkäuflichen Wer-
ken, lassen sich als Strategien der Reduktion von Ungewissheit in einem durch
hochgradige Kontingenz charakterisierten Markt verstehen (Velthuis 2005). Der
Zusammenhang zwischen Status und Qualitätszuschreibung ist von Joel Podolny
(1993) auch für Investmentbanken untersucht worden. Die potenziellen Kunden
der Banken, die nicht in der Lage sind, die Qualität der angebotenen Leistungen
zu vergleichen, interpretieren deren Status als Qualitätssignal:
„If an actor is uncertain of the actual quality of the goods that confront her in the market, or if
she is unwilling or unable to bear the search costs of investigating all the different products in
the market, then the regard that other market participants have for a given producer is a fairly
strong indicator of the quality of that producer’s output.“ (Podolny 1993: 831)
Auf dem Gebiet der Geldtheorie hat Heiner Ganßmann (2008) jüngst die Pro-
blematik der Ungewissheit zum Ausgangspunkt einer soziologischen Geldanaly-
26 Jens Beckert
se gemacht. Geld spielt eine zentrale Rolle für die Handlungskoordination der
Akteure, indem es die Kontingenz wirtschaftlicher Interaktionen reduziert.
„In the economic context of markets and money, [the] fundamental uncertainty involved in in-
teraction in general is both further increased – due to the coexistence of a social division of la-
bor and the ex post coordination of economic activities – and reduced – due to the simultane-
ous functioning of money as a medium of communication, a metric, and an instrument of ap-
propriation.“ (Ganßmann 2008: 2)
1 Ich beziehe mich in dieser Darstellung auf die Ausführungen von Diaz-Bone (2008: 348ff.).
30 Jens Beckert
„Ist der untergebene Trader oder Verkäufer nur derjenige, der den primären Willen seines Vor-
gesetzten zur Aneignung ausführt? Oder ist er in der Lage, als Erster eine Gelegenheit auf dem
Markt zu sehen und zu ergreifen? Das Vorrecht, das auf diese Weise definiert wird, spielt eine
wichtige Rolle bei der Aneignung von Gewinn.“ (Godechot 2007: 274)
Ein Großteil der als Boni ausgeschütteten Vergütungen wird in diesen Banken
von den Aktienhändlern vereinnahmt, wohingegen die Analysten, auf deren
Recherchen die Strategien der Händler aufbauen, sehr viel geringer an den ge-
machten Gewinnen teilhaben. Dies lässt sich als Ausdruck einer etablierten Wer-
tigkeitsordnung verstehen, die bestimmte Handlungen als höherwertig kategori-
siert und damit eine Grammatik der Koordination wirtschaftlichen Handelns
etabliert, zugleich aber auch ungleiche Verteilungen in einer bestimmten Weise
festschreibt.
Bringt man die beiden wirtschaftssoziologischen Überlegungen zusammen,
dass die Koordination wirtschaftlichen Handelns aufgrund der darin enthaltenen
Unsicherheit immer auf die Einbettung in soziale Makrostrukturen angewiesen
ist, diese soziale Einbettung sich aber nie in einer reinen Koordinationsfunktion
erschöpft, sondern immer auch Verteilungsfolgen hat, so lassen sich zwei Er-
kenntnisse gewinnen. Zum einen: „Den Markt“ als einen unabhängig von den
beteiligten Akteuren bestehenden Koordinationsmechanismus gibt es nicht,
vielmehr sind Märkte in kontingenter, von den Machtstrukturen und kognitiven
Rahmungen der Akteure abhängiger Weise organisiert. Märkte sind Kampffelder
um die Verteilung wirtschaftlichen Wohlstands und kein neutraler, allein am Ziel
der Effizienz orientierter Allokationsmechanismus. Aus dem politischen Charak-
ter von Einbettung als Resultat von „Marktkämpfen“ ergibt sich, dass die Struk-
tur von Märkten nicht innerhalb des Wirtschaftssystems als „rationale“ Lösung
von Koordinationsproblemen entsteht, sondern aus bestehenden gesellschaftli-
chen Ordnungsstrukturen und sozialen Kämpfen emergiert.
Zum anderen führt das Verständnis der Organisation von Märkten als Re-
sultat einer Interessenauseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Gruppen
zu der Einsicht, dass wirtschaftliches Handeln immer auch soziales beziehungs-
weise politisches Handeln ist, und der Referenzpunkt der Organisation der Wirt-
schaft daher nicht eine als autonom gedachte ökonomische Ordnung sein kann,
sondern nur die gesellschaftliche Ordnung. In der Auseinandersetzung um die
Ausgestaltung wirtschaftlicher Ordnung treffen an der Maximierung von Gewinn
orientierte Interessen auf abweichende materielle und ideelle Interessen, die sich
im Raum der politischen Öffentlichkeit artikulieren und die institutionelle Ge-
stalt des Wirtschaftssystems ebenso wie die Handlungen der Akteure beeinflus-
sen. Diese Widerständigkeit artikuliert sich sowohl in Arbeitsorganisationen, wo
sie durch Gewerkschaften und Betriebsräte institutionalisiert ist, als auch im
Nachfrageverhalten von Konsumenten auf Märkten, die in ihren Kaufentschei-
Koordination und Verteilung 31
Schluss
Wirtschaftssoziologische Forschung hat einen zentralen Ausgangspunkt in der
Problematik der Ungewissheit wirtschaftlichen Handelns. Empirische Forschun-
gen zeigen, dass die in wirtschaftlichen Beziehungen entstehenden Koordinati-
onsprobleme nicht auf der Grundlage rational kalkulierter Maximierungsent-
scheidungen gelöst werden, sondern auf Grundlage institutioneller, sozialstruktu-
reller und kultureller Makrostrukturen, die zur Reduzierung der Handlungskon-
tingenz der Akteure beitragen. Hierbei hat häufig zu wenig Beachtung gefunden,
dass die Einbettung wirtschaftlichen Handelns nicht nur einen Beitrag zur Koor-
dination leistet, sondern zugleich immer auch Verteilungskonsequenzen hat.
Damit aber darf wirtschaftssoziologische Forschung sich nicht auf die abstrakte
Frage der Funktion sozialer Einbettung für die Koordination wirtschaftlichen
Handelns beschränken, sondern muss gerade das Zustandekommen der konkre-
ten Formen der Einbettung von Märkten untersuchen. Bei der Untersuchung der
gesellschaftlichen Kontextualisierung wirtschaftlichen Handelns geht es sowohl
um die Erklärung der Ausformung von Erwartungssicherheit der Akteure bezie-
hungsweise der Reduktion von Ungewissheit (Beckert 1996; 2009 [im Erschei-
nen]) als zentrale Voraussetzung wirtschaftlicher Ordnung als auch um die Un-
tersuchung der Formen der Regulation wirtschaftlichen Handelns als Resultat
32 Jens Beckert
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Koordination und Verteilung 35
Einleitung:
Kritik der Differenzierung von Soziologie und Ökonomie
Lange Zeit hatte sich die Wirtschaftssoziologie nach dem Weltkrieg auf die
Randbereiche der Ökonomie beschränkt und dabei die Zuständigkeit der Wirt-
schaftswissenschaften für die Analyse der Ökonomie im Grunde akzeptiert
(Stark 2000).1
Damit einher ging in den Wirtschaftswissenschaften eine Entsoziologisierung,
die im neoklassischen Mainstream gipfelte. Dieser konnte sehr erfolgreich ein
Handlungsmodell etablieren, in dem Akteure so gedacht waren, als ob sie mit
gegebenen Präferenzen isoliert handelten und dabei zugleich von kulturellen
Schemata und normativen Vorgaben unbeeinflusst seien. Zudem wurde die Wirt-
schaft als ein sich selbst regulierendes Marktsystem modelliert, dem inhärent
sein sollte, über den Preismechanismus ein Gleichgewicht anzustreben und so
ökonomische Handlungen indirekt zu koordinieren. Trotz dieser Entsoziologisie-
rung der Wirtschaftswissenschaften haben die Wirtschaftswissenschaften immer
wieder versucht, die neoklassischen Modelle über die Ökonomie hinaus auf die
Analyse sozialer Phänomene anzuwenden.
1 David Stark hat eine Art „Pakt“ ausgemacht, den Talcott Parsons mit den Wirtschaftswissen-
schaftlern für die Etablierung und Anerkennung der Wirtschaftssoziologie geschlossen habe.
Die Wirtschaftswissenschaften seien demnach für die Analyse von Wert („value“, der in Prei-
sen bewertet werde) zuständig und die Wirtschaftssoziologie für den sozialen Kontext, für die
Frage, welche Rolle Normen und Werte („values“ als Wertorientierungen) für das wirtschaftli-
che Handeln und ökonomische Beziehungen spielten: „[…] economists study value, economic
sociologists study values; they claim the economy, we claim the social relations in which eco-
nomies are embedded.“ (Stark 2000: 1)
36 Rainer Diaz-Bone
2 Als das Gründungsdokument gilt das Schwerpunktheft 40 (2) der Revue économique aus dem
Jahr 1989: „Économie des conventions“. Die Revue économique ist die wichtigste wirtschafts-
wissenschaftliche Zeitschrift in Frankreich.
3 Salais, Thévenot (1986); Salais et al. (1986); Thévenot (1986b); Eymard-Duvernay (1987);
Boltanski, Thévenot (1989)
Konventionen und Arbeit 37
4 In Frankreich ist „Über die Rechtfertigung“ in einer Vorversion zuerst 1987 („Les économies
de la grandeur“ als Band 31 in der Reihe Cahiers du Centre d’Études de l’Émploi), dann 1991
als „De la justification“ bei Gallimard erschienen.
5 Für eine ausführliche Herleitung dieser Kritik Differenzierung ehemals integrierter sozialwis-
senschaftlicher Disziplinen durch die Aufteilung der Zuständigkeiten von Beziehungsarten
siehe Ganßmann (1979).
Konventionen und Arbeit 39
schlossen sind, weil es immer nur um die Beschaffung von Mitteln, nicht aber
um die Festlegung ‚letzter‘ Ziele geht.“ (Ganßmann 1996: 33)
Für Ganßmann ist der neoklassische Mainstream damit insgesamt bereits in
seinen Grundkonzepten nicht in der Lage wirtschaftliches Handeln angemessen
zu modellieren, da er die Koordinationsproblematik unter der Bedingung doppel-
ter Kontingenz für die Analyse der Wirtschaft schlichtweg ausblendet (Ganß-
mann 2007).
Konventionen
Im Rahmen der Économie des conventions spielt das Konzept der Konvention
im Zusammenspiel mit dem Modell von pragmatisch-kritischen und reflexiv-
kompetenten Akteuren für die Lösung des Koordinationsproblems eine zentrale
Rolle. Konventionen werden hierbei aber nicht als dem Handeln äußerliche und
für dieses bereits vorgegebene Institutionen gedacht. Vielmehr sind Konventio-
nen in das Handeln „eingelagert“, denn Konventionen entstehen als pragmati-
sche Lösungen zunächst situativ und können sich erst von da aus verfestigen –
bis hin zu Institutionen.
„Conventions resemble ‚hypotheses‘ formulated by persons with respect to the relationship be-
tween their actions and the actions of those on whom they must depend to realize a goal. When
interactions are reproduced again and again in similar situations, and when particular courses
of action have proved successful, they become incorporated in routines and we then tend to
forget their initially hypothetical character. Conventions thus become an intimate part of the
history incorporated in behaviors. […] Thus convention refers to the simultaneous presence of
these three dimensions: (a) rules of spontaneous individual action, (b) constructing agreements
between persons, and (c) institutions in situations of collective action; each has a different spa-
tio-temporal extent, and they overlap in complex ways at a given moment in any given situa-
tion. In practice, it is only by initially assuming the existence of a common context and by for-
mulating expectations with respect to the actions of others that it is possible to engage in coor-
dinated collective action: these are the dimensions of inherited, longue durée conventions,
some of which take the form of formal institutions and rules. But at any given moment, the
context is evaluated and re-evaluated, reinterpreted, by the individual who must choose to prac-
tice or not practice according to a given convention.“ (Storper, Salais 1997: 16f.)
6 Siehe zu der Inbezugsetzung dieser Begriffe auch Boltanski, Chiapello (2003: 61f.).
40 Rainer Diaz-Bone
wird (Thévenot 1989). Diese Komplexität wird in der Form des Unternehmens in
unterschiedlicher Weise gehandhabt.
Die verschiedenen Studien der Économie des conventions haben nicht nur
weitere Konventionen identifiziert. Das Konzept der Konvention ist auch so
differenziert worden, dass Formen von Konventionen angenommen werden, die
sich hinsichtlich ihrer „Reichweite“ unterscheiden. Die Konventionen, die von
Boltanski und Thévenot in „Über die Rechtfertigung“ beschrieben werden, sind
dadurch gekennzeichnet, dass sie sich als Handlungslogiken in einer Öffentlich-
keit prinzipiell rechtfertigen bzw. kritisieren lassen. Darüber hinaus werden aber
auch Konventionen angenommen, die eher privaten Charakter haben, die als
Routinen die individuelle Lebensführung strukturieren, und die nicht dem Recht-
fertigungsimperativ in einer Öffentlichkeit unterliegen (Thévenot 2006). Zudem
betonen die verschiedenen Vertreter der Économie des conventions in ihren
Analysen unterschiedliche Leistungen der Konventionen. Für Salais steht aus
institutionalistischer Sicht die Koordinationsleistung von Konvention im Vor-
dergrund, für Orléan eher die Fähigkeit von Konventionen, als kognitive Reprä-
sentationen zu fungieren.
Thévenot und Eymard-Duvernay haben das Konzept der Konvention für die
kollektive Qualitätsdefinition in Produktionsprozessen angewandt und sprechen
daher auch von Qualitätskonventionen (Thévenot 1986a; 1989; Eymard-
Duvernay 1989; 2004). Die Qualitätskonvention bezeichnet dabei die Art und
Weise, wie die konventionenbasierte Vernetzung von Handlungen, Objekten und
Konzepten die Produktion in kohärenter Weise organisiert. Damit ist es nicht
sinnvoll, einzelne Handlungen und Elemente der Produktion zu analysieren, denn
sie sind in der Produktion wechselseitig aufeinander bezogen, und für die Akteu-
re ist das System der Produktion kohärent, weil es mit der Qualitätskonvention
ein wahrnehmbares unterliegendes kollektives Schema gibt, das unternehmens-
übergreifend die Handlungen, die Wahrnehmungen und das Denken in einem
Unternehmen oder gar in einem Branchensegment praktisch aufeinander ab-
stimmt. Der theoretische Bezug auf Qualitätskonventionen soll damit leisten,
dass verschiedene nun als miteinander verbundene Aspekte in empirischen Ana-
lysen erklärbar werden. (1) Zunächst können Qualitätskonventionen zu Produk-
tionsmodellen werden, indem sie kohärente Formen der Organisation und der in
ihr unterschiedlich stattfindenden Produktionsweise vorzeichnen. (2) Mit den
unterschiedlichen Qualitätskonventionen korrespondieren unterschiedliche Defi-
nitionen von Produktqualitäten und Kompetenzen von Personen (Arbeitnehmern,
Arbeitgebern). Aus dieser Sicht kann jeweils (und am besten auch vergleichend)
versucht werden zu zeigen, wie auf eine solche Qualitätskonvention bezogen die
Konstruktion von „Produkten“ und „Arbeit“ erfolgt. (3) Auf Qualitätskonventio-
nen beruht weiter die Differenzierung von Produktionsmärkten und Branchen in
Konventionen und Arbeit 43
7 Boisard und Letablier (1987) haben dies beispielhaft für die Produktion von Camembert
gezeigt, der einmal als „Massenprodukt“ unter dem Regime der industriellen Konvention her-
gestellt wird und einmal als „Spezialität“ unter dem Regime der handwerklichen Konvention.
44 Rainer Diaz-Bone
Materialien (Vor- und Zwischenprodukte). Damit wird die Anordnung der Ob-
jekte und die Zuordnung der auf diese abgestimmten Handlungsabläufe selbst
ein kollektives kognitives Dispositiv der Produktion: Sie strukturieren die Wahr-
nehmung der kollektiven Produktion. Thévenot spricht von Investition in For-
men als von einer Praxis „formgebender Aktivitäten“, also von der Einfassung
und der Vernetzung der Handlungspraxis in der Produktion anhand von kollekti-
ven kognitiven Formen. Er zeigt, wie die Forminvestition als „Formierung der
Produktion“ nicht nur alle Stationen der Produktion übergreift und integriert,
sondern wie sie sich in den Anweisungen für die Qualifizierung, Bewertung und
Standardisierung der Ausbildung und der Produkte selber in kohärenter Weise in
der Konstruktion von Wertigkeiten niederschlägt.
Arbeit
Die Analyse der Arbeit sowie der institutionellen Formen für die Arbeitsorgani-
sation und für Arbeitsmärkte ist trotz der mittlerweile weiten thematischen Diffe-
renzierung der Économie des conventions ein konstantes Anliegen. Im Folgen-
den sollen drei spezifischere Forschungsbereiche skizziert werden, die zeigen,
wie die Forschung zur Arbeitsorganisation und zum Arbeitsmarkt mit diesem
Ansatz integriert werden kann. Insbesondere die Analyse der Einstellungsprakti-
ken stellt ein aktuelles Forschungsfeld am CEE dar, wobei diese Beiträge der
Économie des conventions im deutschsprachigen Raum noch kaum beachtet
werden, so dass dieses ausführlicher eingeführt werden soll.8
Berufe klassifizieren
Ein erster Ausgangspunkt der Économie des conventions war die Überarbeitung
der sozialstatistischen Berufskategorien am Institut National de la Statistique et
des Études Économiques (INSEE). Diese „catégories socioprofessionnelles“
(CSP) sind in Frankreich zugleich auch die in der Gesellschaft etablierten Kate-
gorisierungen, anhand derer sich soziale Milieus im sozialen Raum identifizie-
ren. Die Analyse der Entstehung von Berufskategorien und Berufsklassifikatio-
nen ist nicht nur für die Arbeits- und Industriesoziologie auf der Ebene der be-
trieblichen Arbeitsorganisation bedeutsam, sondern für die Sozialstrukturanalyse
insgesamt. Hier beginnt die Économie des conventions mit der sozial-histori-
schen Analyse der Formierung von Berufsgruppen, die stattfindet, wenn sich
8 Die konventionentheoretische Analyse des Arbeitsvertrages und des Gehalts sind weitere For-
schungsbereiche, die zum Anwendungsspektrum der Économie des conventions zählen, siehe
Reynaud (1994) sowie die Beiträge in Salais, Thévenot (1986) und Eymard-Duvernay (2006a;
2006b).
Konventionen und Arbeit 45
9 Salais et al. (1986) haben in einer weiteren Studie gezeigt, wie die statistische Kategorie der
„Arbeitslosen“ entstanden ist und wie sie im Laufe von hundert Jahren ihre Bedeutung verän-
dert hat, weil sie auf je andere statistische Konventionen bezogen wurde.
46 Rainer Diaz-Bone
philosophies, which they gravitate to in accordance with their social trajectories of their habi-
tus.“ (Boltanski, Thévenot 1983: 657)
abhängigen im Bereich der Produktion berücksichtigen. Es besteht also dort eine Art Ver-
pflichtung (mit ungleichen Erträgen für die einen und die andern) zur Kooperation. Der Punkt,
bis zu dem der Unternehmer sich kompromissbereit zeigen muss, hängt ab vom relativen Ge-
wicht der Paradigmen der Organisation und des Markts.“ (Salais 2007: 103f.)
Eymard-Duvernay und Marchal (1997: 25f.) haben vier Konventionen für die
Beurteilung von Bewerbern unterschieden, die im Zuge von Einstellungsprakti-
ken („Rekrutierungen“) zum Tragen kommen. Wieder handelt es sich um ideal-
typische Unterscheidungen. (Die beiden Autoren greifen hierbei nur die „Markt-
konvention“ von Boltanski und Thévenot auf, die sie nun auf die Einstellungs-
praktiken beziehen und führen drei weitere Konventionen ein.)
48 Rainer Diaz-Bone
1. Die Konvention der Institution: Die Beurteilung erfolgt hier mit Bezug auf
formale Regeln, die die allgemeinen Kategorien der ausgeschriebenen Tä-
tigkeit (Unternehmenskategorien, Kategorien der Arbeitsposition usw.) an
die spezifischen Kategorien der Bewerber (Diplome, Berufserfahrungen)
vermitteln. Aber der Rekrutierende muss als „Regulator“ dennoch für jeden
Bewerber die Anwendung der Regeln interpretieren, denn der Économie des
conventions gelten formale Regeln als unvollständig.
2. Die Konvention des Marktes: Hier betrachtet der Rekrutierende eine mög-
lichst große Auswahl an konkurrierenden Bewerbern als einen Markt und
versucht eine Wahl zu treffen, die einerseits mit wenigen Kosten verbunden
sein soll und andererseits durch den Konkurrenzmechanismus die Qualität
der Bewerber optimieren soll. Im Unterschied zur Konvention der Instituti-
on unterliegt der Rekrutierende hierbei nicht im selben Ausmaß dem Zwang
zur Rechtfertigung. Der Rekrutierende ist hier ein „Selektierer“. Um die
„Eignung“ der Bewerber zu ermitteln, kann der Rekrutierende ein Repertoi-
re von einfachen Regeln bis hin zu psychologischen Eignungstests einsetzen.
3. Die Konvention des Netzwerks: Der Rekrutierende stützt sich in der Aus-
wahl auf ein Netzwerk sozialer Beziehungen, um einen Kandidaten für eine
Stelle zu ermitteln. Hier kommen weder allgemeine Regeln zur Anwendung
(wie bei der Konvention der Institution), noch erfolgt die Mobilisierung ei-
ner möglichst großen Zahl von Bewerbern (wie bei der Konvention des
Marktes). Die Rekrutierung erfolgt vielmehr lokal und die Rolle des Rekru-
tierenden ist hier nur gering institutionalisiert, so dass er als ein „Mediator“
angesehen werden kann. Er verlässt sich hierbei auf die im Netz zirkulie-
rende Reputation von Kandidaten, deren Kompetenz als in ihren Beziehun-
gen „verteilt“ („distribuiert“) betrachtet wird.
4. Die Konvention der Interaktion: Hier ist dem Rekrutierenden der Kandidat
(in einem Bewerbungsgespräch) situativ präsent, und er versucht eine Ver-
trauensbeziehung zu dem Kandidaten herzustellen. Die Beurteilung basiert
auf dem Interaktionsprozess, in dem die Kompetenz des Kandidaten „emer-
giert“. Hierbei ist der Rekrutierende ein Gesprächspartner, der versucht, im
Laufe der Interaktion die Kategorien für die Beurteilung des Bewerbers zu
gewinnen und anzupassen.
Auch bei dieser (analytischen) Unterscheidung von vier Konventionen zeigt sich
die für die Économie des conventions kennzeichnende Position der unterstellten
Pluralität von Konventionen: Es gibt nicht nur eine ökonomische Prozedur für
die Auswahl von Bewerbern, sondern alternative Modi der Beurteilung für „Ar-
beit“ und „Kompetenz“. Zudem ist charakteristisch, dass in den meisten Einstel-
lungsverfahren mehrere dieser Konventionen zu verschiedenen Zeitpunkten mit
Konventionen und Arbeit 49
10 In dieser Dimension stehen einander die Konzepte der formalen Qualifikation und der indivi-
duellen Eignung gegenüber. Eymard-Duvernay und Marchal (1997: 42f.) heben die Rolle der
Psychologie hervor, die die individuellen Dispositionen (Eignungen) von den institutionalisier-
ten Formen der Kompetenz (Qualifikation) dadurch absetzt, dass diese Kompetenzen als Teil
der „naturgegebenen Ausstattung“ von Individuen konzipiert werden. Kompetenzen werden so
als Begabung (1) individualisiert und (2) als dauerhaft gegebene, stabile Eigenschaften aufge-
fasst.
50 Rainer Diaz-Bone
Rekrutierender: Rekrutierender:
Selektierender Gesprächspartner
Arbeitnehmern tätig sind. Das können aber auch Mitarbeiter von Behörden,
staatlichen und lokalen Einrichtungen sein, die an der Vermittlung von Arbeit-
nehmern beteiligt sind.
Am CEE sind verschiedene qualitative Studien zu eben diesen vermitteln-
den Tätigkeiten im Rahmen der Rekrutierung von Führungskräften (cadres) durch-
geführt worden. Anhand von Einzelfallstudien wurde hierbei untersucht, wie die
intermédiaires vorgehen, was ihre Handlungskriterien und Routinen sind – und:
wie sie praktisch an der Konstruktion von Kompetenzen und der Definition von
Anforderungen mitwirken. In diesen Untersuchungen wurden die intermédiaires
gebeten in dem Prozess der Einstellung von Führungskräften ihre Vorgehenswei-
se schrittweise zu erläutern. Beratungs- und Einstellungsgespräche wurden dabei
(offen) beobachtet und die verschriftlichten Gespräche ausgewertet.
In einem Fall wurde ein Berater engagiert, der für einen mittelständischen
Unternehmer eine „rechte Hand“ für die Geschäftsführung suchen sollte. Der
Unternehmer hatte aus Sicht des Beraters, der an den Formaten des Marktes
orientiert war, wenig spezifizierte Vorstellungen von der Tätigkeit und der Ar-
beitsplatzdefinition seines zukünftigen Mitarbeiters. Die Organisation des mit-
telständischen Unternehmens war durch wenige Hierarchiestufen und durch
geringe Formalisierung der leitenden Tätigkeiten gekennzeichnet. Der Unterneh-
mer beschrieb, welche charakterlichen Eigenschaften er von dem zukünftigen
Mitarbeiter erwartete, und sah dessen Aufgabe insbesondere darin, selbst flexibel
Probleme zu identifizieren und darauf zu reagieren. Die Schilderung beinhaltete
die Angabe der Arbeitsbeziehungen, in die der neue Mitarbeiter eher wie in ein
Netzwerk denn in eine formale Organisation eintreten sollte. Anfangs stellte für
den Unternehmer die Konvention des Netzwerks dessen Handlungslogik und
Denkschemata dar. Der Berater versuchte nun, nach und nach im Beratungsge-
spräch die Konvention des Netzwerks in diejenige des Marktes „zu übersetzen“.
Er musste im Gespräch Punkt für Punkt die erwarteten Eigenschaften in die
Formate der Marktkonvention umwandeln, wobei er genau hier praktisch inter-
venieren musste. Denn die anfänglich nicht spezifizierten Vorstellungen des
Unternehmers oder die Erwartungen, die mit der Marktkonvention nicht verein-
bar waren, wurden im Beratungsgespräch so umgearbeitet, dass die resultieren-
den Formulierungen in einer Stellenanzeige gedruckt werden konnten. So erwar-
tete der Unternehmer „Charisma“ und „allgemeine Persönlichkeit“, was im Bera-
tungsgespräch zunächst zu „professioneller Kompetenz“ und dann zu „vorhan-
dener Managementerfahrung“ transformiert wurde. Da der Berater die Formate
des Marktes antizipierte, wirkte er aktiv auf die Anzeigengestaltung und sogar
auf die Definition der formalen Arbeitsplatzanforderungen mit ein. So schlug er
die erforderlichen formalen Abschlüsse und eine Eingrenzung des Alters vor.
Der Berater wurde damit nicht nur zum „Übersetzer“ und „Mitkonstrukteur“ für
52 Rainer Diaz-Bone
wurden aufgrund des Zwangs, aus einer großen Zahl schriftlicher Bewerbungen
wenige Kandidaten auszuwählen, im Zuge der Durchsicht – also ex post – Krite-
rien abgeändert und verschärft (beispielsweise wurde die Anforderung an die
Qualifikation erhöht). In einigen der untersuchten Fälle haben die Berater nach
Durchsicht der Bewerbungslage eine Neuausschreibung vorgeschlagen, wenn
ihnen die Bewerberlage nicht angemessen schien. Ex post wurde hierbei das
anvisierte Profil nun „präzisiert“, das heißt umgearbeitet. Auch hier partizipier-
ten die Berater an der Stellendefinition. Die Vorgehensweise der Berater weist so
im Vergleich der (in der Abbildung unterschiedenen) vier Konventionen das
geringste Ausmaß an Rechtfertigungszwang aus.
Sobald Berater eine Auswahl an Bewerbern zur Einladung für Bewerbungs-
gespräche vorschlugen, kam es zum Übergang zwischen Konventionen. Denn
die anschließend durchgeführten Bewerbungsgespräche unterlagen – so Eymard-
Duvernay und Marchal – nun der Konvention der Interaktion. Aus ihrer Sicht
wurde auf diese Weise die Vergleichbarkeit der Bewerber und die Konkurrenzsi-
tuation zwischen ihnen (die die Dispositive der Marktkonvention eingebracht
hatten) geschwächt, da die Gespräche immer nur mit Einzelnen geführt wurden,
diese Gespräche nicht vollständig vorab durchgeplant werden konnten, Stim-
mungen, Körperhaltungen, Verhaltensweisen, Vokabular nicht standardisiert
sind, und es hier (nach Auswahl aufgrund des CV) auf die Validierung der von
den Bewerbern angegebenen Erfahrungen durch die Rekrutierenden ankam.
Diese Erfahrungen wurden aber je individuell und durch Schilderung von je
spezifischen Arbeitssituationen und Arbeitsbeziehungen dargestellt. Die Motive
für Stellenwechsel und die Karriereorientierung wurden erfragt. Der bisherige
Berufsweg wurde insgesamt danach beurteilt, wie seine Dynamik sich in „Erfah-
rungen“ niedergeschlagen hatte. Und die Rekrutierenden waren dann an der
Frage interessiert, wie diese Erfahrungen auf die neue Arbeitssituation übertra-
gen werden konnten. Diese spezifische „Kompetenz“ des Bewerbers trat hier nun
in der Interaktion mit den Beratern „ans Licht“. Diese versuchten im Gespräch
die Dimensionen zu identifizieren, anhand derer sie diese Berufserfahrungen
fallspezifisch beurteilen konnten.
Resümee
Der Ansatz der Économie des conventions integriert die Wirtschaftsanalyse
wieder in die Gesellschaftsanalyse. Das ist hier mit Bezug auf die Analyse der
Arbeit gezeigt worden. Dieser Ansatz stellt die pragmatischen Handlungskompe-
tenzen der Akteure ins Zentrum für die gelingende Handlungskoordination in der
Ökonomie. Ausgehend von der Pluralität der Konventionen – wie sie in den
meisten Situationen wirtschaftlichen Handelns vorliegt – denkt dieser Ansatz
54 Rainer Diaz-Bone
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Konventionen und Arbeit 55
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Williamson, O. 1985. The economic institutions of capitalism. New York: Free Press.
Konventionen und Arbeit 57
Einleitung
Mein Thema ist die Funktion des Geldes im Kontext wirtschaftlichen Wachs-
tums und kapitalistischer Dynamik. Der Kapitalismus ist ein dynamisches Sys-
tem, das sich nicht auf gleicher Stufe reproduzieren, sondern nur wachsen oder
schrumpfen kann (Baumol 2002). Welche Rolle spielt Geld in diesem Prozess?
Ist es ein bloßes „Schmiermittel“, das von außen her (von einem Hubschrauber,
meint Milton Friedman) in eine durch ganz andere Kräfte getriebene ökonomi-
sche Maschine eingefüllt wird? Oder trifft die gegenteilige Ansicht zu, dass Geld
und Kredit selbst die zentralen Faktoren kapitalistischer Dynamik sind? Ich
schließe mich keiner dieser beiden extremen Thesen an und werde versuchen,
eine dritte Position zu entwickeln, die der relativen Autonomie der monetären
Sphäre Rechnung trägt, aber gleichwohl dem Gedanken einer sozialen Konstitu-
tion von Geld und kapitalistischer Dynamik folgt. Der entscheidende Schritt
dazu ist, wie ich zeigen möchte, eine Mehrebenenanalyse des ökonomisch-
technischen Innovationsprozesses und seiner Wechselbeziehung mit den Kredit-
und Kapitalmärkten.
Zunächst einige Erläuterungen zum Hintergrund meiner Überlegungen:
Während der vergangenen 10 bis 15 Jahre ist in der Wirtschaftssoziologie eine
Reihe von Versuchen unternommen worden, die Barrieren zwischen ökonomi-
schen und soziologischen Geldtheorien zu überwinden und das Geld als Thema
soziologischer Analysen neu zu erschließen. Bruce Carruthers, Nigel Dodd,
Heiner Ganßmann, Geoffrey Ingham, Axel Paul, Viviana Zelizer und andere
Autoren haben die Kurzschlüssigkeit der neoklassischen Konzeption des „neu-
tralen“ Geldes kritisiert und alternative Konzeptionen unter Rückgriff teils auf
klassische Autoren (insbesondere Simmel, aber auch Marx und Weber), teils auf
unorthodoxe ökonomische Autoren entwickelt. Ihr Ziel ist es, gegenüber der
individualistischen Sicht der Neoklassik die genuin gesellschaftliche Konstituti-
on des Geldes herauszuarbeiten. Diese Versuche sind nicht nur in der Soziologie,
sondern auch bei Wirtschaftswissenschaftlern auf positive Resonanz gestoßen.
Heute besteht zunehmend Konsens darüber, dass die Existenz und die Funktio-
58 Christoph Deutschmann
nen des Geldes aus dem Blickwinkel einer rein individualistischen Logik ratio-
naler Wahl nicht zureichend erklärt werden können. Adam Smiths alte Geschich-
te vom „natürlichen Hang des Menschen zum Austausch“, auf die die klassische
und neoklassische Sicht zurückgeht, beruht auf einer petitio principii. Geld ist
vielmehr ein genuin sozialer Tatbestand, der nur unter Rekurs auf soziale Struk-
turen und Institutionen erklärt werden kann.
Gleichwohl gehen die Vorstellungen darüber, wie die soziale Konstitution
des Geldes genauer zu denken sei, bis heute weit auseinander. Sie reichen von
eigentumstheoretischen Ansätzen (North 1990; Heinsohn, Steiger 1996), system-
theoretischen Konzeptualisierungen des Geldes als Kommunikationsmedium
(Parsons 1967; Luhmann 1988; Baecker 1988), „politischen“ Theorien des Gel-
des als Herrschaftsmedium (Ganßmann 1996; Ingham 2004) bis hin zu netz-
werktheoretischen Ansätzen (Dodd 1994; Paul 2004) und kultursoziologischen
Interpretationen des Geldes (Zelizer 1997). Es soll hier kein Versuch zur Ver-
mittlung in den teilweise heftigen Kontroversen zwischen den Verfechtern dieser
Ansätze unternommen werden.1 Ich beschränke mich auf einen knappen Vor-
schlag zur Terminologie: Zur Klärung der Begriffe erscheint es mir hilfreich, mit
Dodd (2005) zwischen Geld als abstraktem Medium und Währungen als institu-
tionalisierten Geldformen und monetären Recheneinheiten zu unterscheiden.
Soweit auf die Ebene von Nationalstaaten und nationalen Zentralbanken Bezug
genommen wird, müsste dann von „Währungen“, nicht von „Geld“ gesprochen
werden, wobei der Euro den bis heute singulären Fall einer supranationalen
Währung darstellt. Was sich überdies von Zelizer lernen lässt, ist, dass es „Wäh-
rungen“ nicht nur auf nationaler, sondern auch auf lokaler und sogar privater
Ebene gibt. Geld sollte jedoch nicht mit Währungen gleichgesetzt werden, son-
dern hat auch eine globale Dimension. Es ist diese globale Dimension, auf die
sich die eigentumsrechtlichen und systemtheoretischen Konzeptualisierungen
des Geldes konzentrieren. Auch die Diskussion über die Relation von Finanzde-
rivaten zum Geld (Pryke, Allen 2000; Bryan, Rafferty 2007) nimmt auf den
globalen Markt Bezug. In jedem Fall sollte vermieden werden, die „abstrakten“
und die „individualisierenden“ Seiten des Geldes gegeneinander auszuspielen.
Beide Aspekte des Geldes stehen nur scheinbar in Widerspruch zueinander; in
Wahrheit bedingen sie sich gegenseitig, wie bereits von Simmel (1989) klar
erkannt worden ist: Gerade weil Geld ein „allgemeines Mittel“ ist, bietet es dem
Individuum eine unerschöpfliche Fülle von Optionen und wird so zur Basis „in-
dividualisierter“ Lebensformen.
Neben der Heterogenität soziologischer Geldtheorien gibt es aber noch ein
anderes, schwerwiegenderes Problem: die Vernachlässigung der dynamischen
1 Vgl. die vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Economy and Society“ ausgetragene Kontrover-
se (Lapavitsas 2005; Dodd 2005; Zelizer 2005; Ingham 2006).
Geld und kapitalistische Dynamik 59
Charakteristika von Geld und Kredit. Der Preis, den wir für die Entdeckung der
sozialen Konstitution des Geldes zu zahlen haben, scheint eine strukturalistische
Verkürzung in der Analyse der Geldfunktionen, eine reduktionistische Sicht des
Geldes als institutionalisiertes Tauschmittel beziehungsweise als Medium sozia-
ler „Buchführung“ (Spahn 2003) zu sein. Geld tritt als ein Medium in den Blick,
das den Prozess wirtschaftlicher Wertschöpfung lediglich „ratifiziert“, nicht aber
als Triebkraft wirtschaftlicher Wertschöpfung und Entwicklung selbst. Viele
soziologische Konzeptualisierungen des Geldes teilen insofern die Schwächen
der neoklassischen Idee des „neutralen“ Geldes beziehungsweise des Geldes als
bloßem „Schleier“ über vermeintlich „realen“ Transaktionen. Im Gegensatz zu
diesen Positionen haben Wirtschaftswissenschaftler wie Schumpeter, Keynes
oder Minsky die aktive Rolle des Geldes in der wirtschaftlichen Entwicklung
betont. Die Kreditschöpfung der Banken wird hier als Bedingung innovativer
Kapitalinvestitionen betrachtet. In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem geht
alles Geld auf Kredit zurück, und Kredit entsteht nicht durch die Politik des
Staates, sondern in privaten Verträgen. Geld beziehungsweise Kredit initiieren
somit die wirtschaftliche Wertschöpfung, sie ratifizieren sie nicht nur. Schumpe-
ter konzentriert sich in seiner Analyse auf die Bedeutung des unternehmerischen
Handelns für die wirtschaftliche Dynamik; Keynes und Minsky interessieren sich
vor allem für die funktionalen Mechanismen des monetären Systems selbst. Die
soziale Einbettung von Geld und Kredit wird jedoch von keinem dieser Autoren
näher untersucht. Die Frage ist also: Wie kann die Entdeckung der sozialen
Konstitution des Geldes mit seinem dynamischen, in privaten Kontrakten gene-
rierten Charakter in Einklang gebracht werden?
Ingham (2004) hat den Versuch gemacht, die beiden Betrachtungsweisen im
Rahmen einer historischen Analyse der Genese des Geldes zusammenzuführen.
Folgt man seiner Argumentation, so ist der soziale Ursprung des Geldes doppel-
ter Art. Auf der einen Seite – Ingham folgt hier der Position von Aglietta und
Orléan (1998) – ist das Geld im Rahmen vormoderner Sozialstrukturen entstan-
den, in denen es die Funktionen als Recheneinheit und Zahlungsmittel für indi-
viduelle Steuer- und Opferleistungen an den Staat sowie umgekehrt für staatliche
Transferleistungen an die Mitglieder des Gemeinwesens erfüllte. Der Staat war
Gläubiger und Schuldner in einem: Er erzeugte das Geld selbst, brachte es durch
Transferzahlungen in Umlauf und nahm es in Form von Steuern und religiösen
Opferleistungen entgegen. Der Geldkreislauf behielt unter diesen Bedingungen
einen statischen Charakter. Wie Ingham betont, geht alles Geld historisch auf
„institutionalisiertes“ Rechengeld dieses Typs zurück. Auf der anderen Seite hat
das Geld auch moderne Ursprünge als privates Kreditgeld, das in den Transak-
tionen zwischen Bankiers und Kaufleuten in Süd- und Westeuropa (Italien, Eng-
land, Niederlande) während des 16. Jahrhunderts entstand. Es entwickelte sich
60 Christoph Deutschmann
zwinge“, bleibt unbefriedigend und reduziert sich letztlich auf eine Tautologie.
Die Schwäche von Inghams Analyse liegt in der nur oberflächlichen Betrachtung
der realen sozialen Transformationsprozesse, die der Entwicklung des kapitalisti-
schen Kreditgeldes zugrunde liegen. Inghams Blick bleibt auf die Konflikte
zwischen den bürgerlichen und aristokratischen Klasseninteressen und die Ver-
schiebungen im relativen Gewicht dieser Interessen beschränkt. Die Konstitution
dieser Interessen selbst wird vernachlässigt; in diesem Punkt muss Inghams Ana-
lyse weiter ausgearbeitet werden.
Was sich in dem Aufstieg des privaten Kreditgeldes widerspiegelt, ist zu-
nächst offensichtlich die „Logik“ des Kaufmannskapitals: Händler kaufen, um
die erworbenen Waren mit Profit weiterzuverkaufen. Sie müssen den Kauf durch
Kredit vorfinanzieren, und der Profit muss hoch genug sein, um mindestens die
Zinsen abzudecken. Noch im 16. und sogar im 17. Jahrhundert jedoch stellten
die Banken und der Fernhandel einen relativ kleinen Sektor der europäischen
Wirtschaft dar. Wie kam es zur Verallgemeinerung der kaufmännischen Logik?
Um diese Verallgemeinerung in vereinfachter Form zu beschreiben, bietet sich
der Rückgriff auf Karl Polanyis (1977) bekannte Unterscheidung zwischen mo-
dernen und traditionellen Märkten an. Traditionelle Märkte sind „sozial einge-
bettet“, insofern der Ware-Geldnexus auf den Bereich der Güter und Dienstleis-
tungen beschränkt bleibt; die menschliche Arbeitskraft, der Boden und andere
Produktionsmittel dagegen bleiben aus dem Markt ausgeschlossen. Im Gegensatz
dazu schließen moderne, kapitalistische Systeme nicht nur Märkte für Güter und
Dienstleistungen, sondern auch Arbeits- und Bodenmärkte ein. Wie Polanyi be-
tont, unterscheidet sich diese Konstellation grundlegend von traditionellen Märk-
ten und stellt sich auch aus einer langfristigen historischen Perspektive als einzi-
gartig dar. Ein kapitalistisches System entsteht durch die zirkuläre Schließung
des Ware-Geldnexus, indem nicht mehr nur der Tausch fertiger Produkte und
Dienstleistungen, sondern der Gesamtprozess gesellschaftlicher Reproduktion
von der Produktion, Distribution, dem Konsum und zurück zur Produktion durch
den Markt vermittelt wird. Es entwickelt sich ein selbstreferentiell geschlosse-
nes, durch den Profit reguliertes System von Märkten (Swedberg 2005). Im
Rahmen unserer Fragestellung sind die Konsequenzen der Inklusion der Arbeits-
kraft in den Markt von besonderer Bedeutung. Es ist eben diese Inklusion, die,
wie ich im Folgenden zeigen möchte, den entscheidenden sozialen Makro-
Kontext für die Verallgemeinerung des kapitalistischen Kreditgeldes bildet.
Von vorn herein sollte betont werden, dass wir es mit freier Arbeit zu tun
haben, das heißt, der Arbeiter ist Eigentümer seiner eigenen Arbeitskraft und als
solcher nicht nur, wie der Sklave, objektiv, sondern auch subjektiv in den Markt-
nexus eingebunden. Für Polanyi stellt sich diese Herauslösung der Arbeitskraft
aus ihren sozialen Einbettungen als soziale Katastrophe dar, allein: es ist noch
62 Christoph Deutschmann
etwas anderes daran wichtig: Als freier Eigentümer seiner Arbeitskraft lernt der
Arbeiter, wie jeder andere ökonomische Akteur, sich an seinen finanziellen Ver-
dienstchancen zu orientieren. Dies ist, wie schon Adam Smith erkannte, der
Grund für die im Vergleich zur Sklaverei wesentlich höhere Produktivität der
Lohnarbeit – immer unter der Voraussetzung, dass die Eigentumsrechte des
Arbeiters respektiert werden. Freie Lohnarbeiter sind nicht nur produktiver als
Sklaven, sondern entwickeln auch „kreative“ Fähigkeiten. Der Arbeitsvertrag ist
gemäß der bekannten Definition von March und Simon „offen“; er lässt Raum
nicht nur für Lernprozesse der Arbeiter, sondern auch für die Entwicklung ge-
nuin neuer Ideen, Produkte oder Problemlösungen. Kreativität wird im indus-
triellen Kapitalismus nicht nur von den qualifizierten Angestellten und Experten
in der Forschung und Entwicklung, im Design und Marketing gefordert, sondern
auch in scheinbar trivialen alltäglichen Operationen. Wie Studien des industriel-
len Arbeitsprozesses (zum Beispiel Thomas 1964; Burawoy 1979; Böhle et al.
2004) immer wieder gezeigt haben, besteht die Aufgabe der Arbeiter nicht allein
darin, Anweisungen und Vorschriften „auszuführen“, sondern den erfolgreichen
Ablauf von Operationen zu gewährleisten – wenn notwendig durch „kreative“
Abweichungen von den Vorschriften. Kreativität ist nicht nur eine Eigenschaft
isolierter Individuen, sondern hat auch eine kooperative Dimension, insofern
Kooperation mehr ist als die bloße Addition individueller Potentiale. Indem sie
kooperieren, können Akteure Ergebnisse erzielen, die den Leistungen isolierter
Individuen nicht nur quantitativ, sondern qualitativ überlegen sind – man denke
nur an das Beispiel gelungener Kombinationen im Fußball.
Auf eine pragmatistische Handlungstheorie zurückgreifend, hat Jens Be-
ckert (1997; 2003) gezeigt, dass diese Formen der Kreativität sich mit den gän-
gigen Konzepten „rationalen“, selbst „intentionalen“ Handelns nicht in Einklang
bringen lassen. Ich kann eine Erfindung oder eine neue Problemlösung weder
„planen“ noch mich dazu „verpflichten“, obwohl ausdauernde und disziplinierte
Arbeit die Voraussetzungen dafür schaffen mag. Ebensowenig kann ich Koope-
ration planen, die ja immer auch von den autonomen Entscheidungen der Ande-
ren abhängt. Innovation gehört zu jenen Geisteszuständen, die nach Jon Elster
(1987)„wesentlich Nebenprodukt“ sind. Kreativität geht stets mit Unsicherheit
einher: Durch Kreativität versuchen Akteure, wie John Dewey ([1938] 1998)
gezeigt hat, Situationen der Unsicherheit zu strukturieren; umgekehrt ist der
kreative Akteur eine Quelle der Unsicherheit für seine Umwelt. Kreativität hat
darüber hinaus immer auch die Kehrseite der Zerstörung. Das historisch völlig
einzigartige Wirtschaftswachstum des modernen Kapitalismus seit der Industria-
lisierung (Maddison 2001) lässt sich als Prozess der „Rationalisierung“ und
quantitativer Effizienzsteigerung nicht zureichend verstehen. Schumpeters be-
kannter Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ trifft die Sache besser.
Geld und kapitalistische Dynamik 63
Schulden entstehen lässt. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass die
kapitalistische Dynamik auch noch von einer Reihe anderer gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen abhängt: der Entwicklung der modernen Wissenschaften,
der politischen und rechtlichen Garantie der Eigentumsrechte, der Entwicklung
des Bankensystems, der kulturellen Veränderungen usw. Die Entwicklung von
Arbeits- und – als ihr Gegenstück – Kapitalmärkten ist jedoch die conditio sine
qua non, wie schon der Quantensprung in der Entwicklung der wirtschaftlichen
Wachstumsraten in der Ära der „Großen Transformation“ zu Beginn des 19.
Jahrhunderts anzeigt (Maddison 2001, Baumol 2002).
Märkte für Arbeit und Kapital bilden den Makro-Kontext kapitalistischer
Dynamik in einem doppelten Sinn: Sie „erzwingen“ sie aufgrund der expansiven
Logik des Kapitalkredits und sie „ermöglichen“ sie aufgrund der innovativen
Potentiale der Arbeit. Es ist nicht purer Voluntarismus, sondern der Imperativ
der Kapitalschulden, der den Unternehmer zu innovativen Aktivitäten antreibt.
Gleichzeitig bietet ihm die Institution des Arbeitsmarktes die Chance, diesem
Imperativ durch die Einstellung von Lohnarbeitern und durch die Organisation
ihrer kreativen Fähigkeiten auch nachzukommen. Wenn die Figur des modernen
Unternehmers durch seine Dispositionsgewalt über organisierte freie Arbeit
definiert ist, dann ist es erst die Institution des Arbeitsmarktes, die den Boden für
ihre Entstehung schafft. Der Markt für freie Lohnarbeit ist die Voraussetzung
dafür, dass kapitalistische Unternehmen wachsen können und die für die kapita-
listische Dynamik konstitutive „Innovationskonkurrenz“ (Baumol 2002) sich
entwickeln kann. Aber die Verbindung von Kapital und Arbeit geschieht nicht
von allein, sondern immer nur vermittelt über das Handeln konkreter Akteure.
Deshalb muss die Analyse der Makro-Ebene durch die der Meso- und der Mikro-
Ebene ergänzt werden.
zuhalten und das Projekt zu unterstützen, sind kritische Faktoren auf der monetä-
ren Seite. Gelingt es den Pionieren, eine kritische Masse anderer wichtiger Ak-
teure für die Kooperation und für Investitionen in das ursprünglich meist sehr
vage Paradigma zu gewinnen, beginnt die zweite Phase der Pfadausbildung. In
dieser Phase nährt der Erfolg des Paradigmas sich selbst. Ein „win-win“-Spiel
entsteht: Mehr und mehr Akteure wechseln von der Rolle des distanzierten Be-
obachters in die des engagierten Teilnehmers. Sie investieren frisches Kapital
und neue Ideen in die Weiterentwicklung des Paradigmas, mit der Folge, dass
neue Chancen für weitere Akteure entstehen. Was ursprünglich als vage Utopie
erschien, stellt sich nun als realistisches Projekt dar. Dies stimuliert die Expansi-
on des Kredits und kann zu einer ausgedehnten Phase hohen wirtschaftlichen
Wachstums führen. Schließlich tritt das Paradigma in die dritte Phase der Institu-
tionalisierung ein. Das Paradigma ist nun weitgehend „ausgereift“, die Techno-
logie ist entwickelt und ausgearbeitet, sie repräsentiert nun den „Stand des Wis-
sens“, der in Hochschulen und Ausbildungsstätten gelehrt wird. Das Potential
der Technologie erscheint prinzipiell „ausgereizt“ und lässt nur noch Raum für
kleinere und kosmetische Verbesserungen. Da ein Qualitäts- und Innovations-
wettbewerb in dieser Phase kaum mehr stattfindet und die Marktkonkurrenz sich
auf die Dimension der Preise und Kosten reduziert, ähnelt der Markt zunehmend
einem neoklassischen Wettbewerbsmarkt. Die Marktbewegungen werden immer
kalkulierbarer, aber gleichzeitig schwinden die Profitchancen. Die Institutionali-
sierung kann am Ende in eine Phase der Schließung beziehungsweise des lock-in
münden, in der die ursprüngliche Erfindung sich völlig zu kristallisieren scheint
und jede Weiterentwicklung blockiert wird. Die Folge ist, dass die in der Phase
der Institutionalisierung ohnehin zurückgehende Kreditschöpfung zum Stillstand
kommt, und das System in eine Rezession fällt. Paradoxerweise ist es jedoch
gerade die Phase des lock-in, die Raum für gänzlich neue Pfad erzeugende Inno-
vationen schaffen kann, denn sie macht die strukturellen Grenzen des alten Para-
digmas manifest und bereitet so den Boden für die Entstehung gänzlich neuer
Ideen. Was eine Sackgasse für die Mehrheit der Akteure bedeutet, kann sich für
Minderheiten als Chance darstellen – mit der möglichen Folge, dass ein neuer
Zyklus beginnt.
Soweit nur eine knappe Zusammenfassung einiger im Kontext der evolutio-
nären Ökonomie (zum Beispiel Dopfer 2006) sowie der Techniksoziologie (zum
Beispiel Dosi 1982; Bijker 1995) entwickelter Konzepte. Die Anwendungsmög-
lichkeiten einer derartigen dynamischen Institutionenanalyse beschränken sich
gewiss nicht auf die genannten Bereiche; man könnte sie auch in anderen Fel-
dern, wie der Organisationssoziologie oder der Konsumsoziologie, fruchtbar
machen (Deutschmann 2008). Hier sehe ich vielversprechende Perspektiven für
die Wirtschaftssoziologie.
68 Christoph Deutschmann
Schlussbemerkungen
Es ging mir darum, Inghams Analyse weiterzuentwickeln und die soziale Konsti-
tution des kapitalistischen Kreditgeldes, sowie die seiner Dynamik zugrunde
liegenden gesellschaftlichen Prozesse genauer zu klären. Die entscheidende
Voraussetzung liegt nicht allein, wie ich argumentiert habe, in den Verschiebun-
gen des sozialen Kräfteverhältnisses zwischen den aristokratischen und bürgerli-
chen Klassen, sondern in der Universalisierung und institutionellen „Entbettung“
(Polanyi) des Geldes in der Moderne. Eine institutionell eingebettete Marktwirt-
schaft, in der der Nexus der Ware-Geld-Beziehungen sich nur auf Dienstleistun-
gen und fertige Güter erstreckt, muss kategorial von einem kapitalistischen Sys-
tem unterschieden werden, in dem der Geldnexus den gesamten Prozess gesell-
schaftlicher Reproduktion einschließlich der Produktionsfaktoren Arbeit und
Boden umfasst. Geld, das die kreativen Fähigkeiten freier Arbeit kontrolliert, ist
nicht länger ein harmloses Medium sozialer Buchführung, sondern verwandelt
sich in Kapital. Dem Nexus von Geld und Arbeit kommt, wie Heiner Ganßmann
(1996) mit Recht hervorhebt, konstitutive Bedeutung für den modernen Kapita-
lismus zu. Die Kapitalform des Geldes begründet nicht nur ein soziales Macht-
verhältnis, sondern auch einen gesellschaftlichen Wachstumsimperativ, der
durch die kontinuierliche Ausbeutung der Potentiale der Arbeit auf der einen
Seite, durch Kreditschöpfung auf der anderen Seite zu erfüllen ist. Der Wachs-
tumsimperativ auf der makrogesellschaftlichen Ebene bildet den Rahmen für
pfadabhängige Innovationsprozesse auf den Meso- und Mikroebenen. Diese
Prozesse entwickeln sich im Zuge des zyklischen Aufbaus, der Institutionalisie-
rung und des Niedergangs innovativer Paradigmen durch konkurrierende unter-
nehmerische Akteure. Sie sind in allen Feldern der Wirtschaft zu beobachten, in
der Produktion und Technologie ebenso wie in der Organisation und im Kon-
sum. Daraus entsteht ein ständiger Druck zur Transformation nicht nur der öko-
nomischen Institutionen, sondern des gesamten institutionellen Rahmens der Ge-
sellschaft.
In seiner Kapitalform scheint Geld zu einem Selbstzweck zu werden, zu ei-
nem perfekt formal-rationalen Medium. Es scheint sich auf keine andere Realität
als auf sich selbst zu beziehen. Wie Callon (1998: 23) es formuliert: „The tools
of capitalist calculation do not merely record a reality independent of them-
selves; they contribute powerfully to shaping, simply by measuring it, the reality,
they measure.“ Die qualitative Differenz zwischen dem Zeichen und dem Be-
zeichneten verschwimmt. Das Zeichen scheint zu sein, was es repräsentiert; die
Differenz, die es markiert, ist nicht länger qualitativer, sondern rein quantitativer
Natur. Es ist leicht, das Schild, das vor dem bissigen Hund warnt, von dem Hund
selbst zu unterscheiden: Das Schild beißt nicht. Aber im Fall des kapitalisierten
Geldes ist diese klare Unterscheidung nicht länger möglich. Es „symbolisiert“
Geld und kapitalistische Dynamik 69
Reichtum nicht nur, sondern ist Reichtum, der zwischen Akteuren „transferiert“
und auf Bankkonten „deponiert“ oder „akkumuliert“ werden kann. Kapitalisier-
tes Geld ist folglich nicht nur ein „symbolisches Medium“, wie oft behauptet
wird; es ist vielmehr eine „Chiffre“ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Luh-
mann (1992) führt das Konzept der Chiffre ein, um die Besonderheiten religiöser
Sinnformen gegenüber sprachlichen und anderen Symbolen zu kennzeichnen.
Sie repräsentieren eine Realität, die alle Erfahrung überschreitet und scheinen
daher mit dieser Realität zu verschmelzen. Das Gleiche gilt aber auch für das in
Kapital verwandelte Geld. Die Realität, auf die das kapitalisierte Geld und die
auf ihm begründeten Kalkulationstechniken verweisen, ist als Ganze nicht beob-
achtbar, aber es handelt sich gleichwohl um eine Realität: Die Wirklichkeit men-
schlicher Kreativität, oder, um es mit Friedrich von Hayek zu formulieren, des
„Entdeckungsprozesses“ der Potentiale menschlicher Arbeit. Als Ganzes ent-
zieht diese Wirklichkeit sich der Reichweite wissenschaftlicher Theorien und
rationaler Planung. Auch die Wirtschaftssoziologie kann keine abschließende
Theorie über sie bilden. Aber sie kann die sozialen Prozesse der Entstehung, Ent-
wicklung und Institutionalisierung von Märkten analysieren, und sie kann erklä-
ren, woher der beständige Druck zur Schaffung neuer Märkte kommt. Sie kann
keine „große Theorie“ bieten, wohl aber eine Begründung dafür, warum wir uns
auf historisch eingebettete Theorien „mittlerer Reichweite“ beschränken müssen.
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Geld und kapitalistische Dynamik 73
Umverteilungsbarrieren.
Technische Probleme ökonomischer Gleichheit
Adam Przeworski 1
Einleitung
Dass Demokratie nicht nur politische, sondern auch ökonomische Gleichheit
fördern soll, ist eine unwiderstehliche intuitive Überzeugung. Demokratien ha-
ben es jedoch mit ökonomischen Systemen zu tun, in denen Märkte die Vertei-
lung der meisten Ressourcen regeln, und Märkte (re-)generieren ständig Un-
gleichheit. Deshalb sind wir immer wieder überrascht festzustellen, im welchem
Maße die Demokratie kompatibel ist mit ökonomischer Ungleichheit. Obwohl
für diese Tatsache nahezu jede erdenkliche Erklärung schon vorgeschlagen wur-
de, zielt dieser Beitrag darauf ab, eine weitere, ausschließlich „technische“ Er-
klärung hinzuzufügen. Ungleichheit zu reduzieren ist, so mein Argument, ein
schwieriges Unterfangen. Es stimmt zwar, dass bereits generiertes Einkommen
durch das fiskalische System – also durch Steuern und Transferleistungen –
umverteilt werden kann, aber dieser Mechanismus der Angleichung von Ein-
kommen ist höchst ineffizient. Eine Umverteilung der Fähigkeit, Einkommen zu
erzielen, ist wiederum in Gesellschaften, in denen die wichtigsten produktiven
Ressourcen entweder unveräußerlich („Humankapital“) sind oder verstaatlicht
wurden, aus technischen Gründen entweder sehr ineffektiv oder nur sehr lang-
sam möglich. Tatsächlich ist die politische Rede vom „Umverteilen“ anachronis-
tisch, ein Überbleibsel aus den Tagen, in denen der Boden das wichtigste Pro-
duktionsmittel war. Boden lässt sich leicht umverteilen: Er ist teilbar und kann
von Familienverbänden genutzt werden. Aber keine anderen produktiven Ver-
mögenswerte lassen sich ähnlich leicht umverteilen. Das heißt, dass es mögli-
cherweise ausschließlich technische Barrieren gibt, die eine ökonomische Um-
verteilung behindern. Und weil kein politisches System diese Barrieren überwin-
den kann, sollten wir der Demokratie nicht die Schuld dafür geben, dass sie et-
was nicht leistet, was kein politisches Institutionensystem leisten kann.
2 Forderungen nach einer Umverteilung von Boden wurden immer wieder in Lateinamerika
artikuliert, und zwar vor allem von Hidalgo und Morelos in Mexiko im Jahr 1910 und von Ar-
tigas in Uruguay (damals Banda Oriental) im Jahr 1813.
Umverteilungsbarrieren 77
„Do you wish a republic of equals amid the inequalities which the public services, inheritances,
marriage, industry and commerce have introduced into society? You will have to overthrow
property.“ (zitiert nach Palmer 1964: 230)
Ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, der durch häufiges falsches Zitieren ent-
standen ist (und auch ich bekenne mich hier schuldig3), dachte Madison (1982,
Federalist #10), dass diese Schlussfolgerung nur für direkte, nicht jedoch für
repräsentative Demokratien gültig sei. Nachdem er eine „reine Demokratie“ als
ein System der direkten Herrschaft definiert hat, fährt Madison fort,
„such Democracies have ever been spectacles of turbulence and contention; have ever been
found incompatible with personal security or the rights of property; and have in general been as
short in their lives as they have been violent in their deaths.“ (meine Hervorhebung, AP)
Einmal formuliert, beherrschte dieser Syllogismus seither die Ängste und Hoff-
nungen, die man mit der Demokratie verband. Konservative und Sozialisten5
waren sich darin einig, dass die Demokratie, genauer gesagt: das universelle
Wahlrecht, das Eigentum unterminieren würde. Die Eigennützigkeit der gewun-
denen Argumente, mit denen eine Beschränkung des Wahlrechts auf die besit-
zende Klasse begründet wurde, wurde offenkundig: Das allgemeine Wahlrecht
war gefährlich, weil es das Eigentum bedrohen würde. Der schottische Philosoph
James Mackintosh prognostizierte 1818, „if the laborious classes gain franchise,
a permanent animosity between opinion and property must be the consequence“
(Collini et al. 1983: 98). David Ricardo wollte das Wahlrecht nur gewähren für
„that part of them which cannot be supposed to have an interest in overturning
the right to property.“ (ebd., 107) Thomas Macaulay fasste in einer 1842 gehal-
tenen Rede über die Chartists eindringlich die Gefahr zusammen, die vom uni-
versellen Wahlrecht ausging.
„The essence of the Charter is universal suffrage. If you withhold that, it matters not very much
what else you grant. If you grant that, it matters not at all what else you withhold. If you grant
that, the country is lost… My firm conviction is that, in our country, universal suffrage is in-
3 Das Fehlzitieren besteht darin, dass das englische Wort „such“ im folgenden Zitat ausgelassen
wird; vgl. zum Beispiel Hanson (1985: 57) oder Przeworski und Limongi (1993: 51-69).
4 Diese Notiz wurde zwischen 1821 und 1829 geschrieben.
5 Nach Rosanvallon (2004) tauchte dieses Wort zuerst 1834 in Frankreich auf.
Umverteilungsbarrieren 79
compatible, not only with this or that form of government, and with everything for the sake of
which government exists; that it is incompatible with property and that it is consequently in-
compatible with civilization.“ (Macaulay 1900: 263)
Neun Jahre später äußerte Karl Marx vom anderen Pol des politischen Spektrums
dieselbe Überzeugung, nämlich dass Privateigentum und das universelle Wahl-
recht nicht kompatibel seien.
„Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie [die Konstitution] verewigen soll, Proleta-
riat, Bauern, Kleinbürger, setzte sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politi-
schen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bour-
geoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herr-
schaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg
verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den
einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den
anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“ Marx 1960
[1851]: 43.)
In der Tat: Die Idee, dass Demokratie im Bereich der Politik logischerweise zur
sozialen und ökonomischen Gleichheit führen muss, wurde zu einem Eckpfeiler
der Sozialdemokratie. Wie Beitz (1989: xvi) beobachtet, bestand ein Hauptziel
6 James Mill hat zum Beispiel die politischen Gegner dazu aufgefordert, „to produce an in-
stance, so much as one instance, from the first page of history to the last, of the people of any
country showing hostility to the general laws of property, or manifesting a desire for its sub-
version.“ (zitiert nach Collini et al. 1983: 104)
80 Adam Przeworski
Sollten wir seine Verwunderung teilen? Mein bisheriges Argument war, dass die
Idee der Umverteilung mit der Erbsünde belastet ist: Demokratie war in der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine revolutionäre Idee, aber die
Revolution, die sie anbot, war nur eine strikt politische, keine ökonomische.
Nach meiner Lesart war die Demokratie bei ihrer Entstehung ein Projekt, das,
egal wie revolutionär es politisch gewesen sein mag, gegenüber der ökonomi-
schen Ungleichheit einfach blind war. Moralische Argumente für die Umvertei-
lung oder Abschaffung von Eigentum waren dabei marginal und kurzlebig. Dar-
über hinaus ersetzen Demokratien durch die Einschränkung des Wahlrechts
Aristokratie durch Oligarchie. Dennoch ist die Koexistenz von universellem
Wahlrecht und ungleicher Verteilung von Eigentum schwer zu begreifen. Der
Syllogismus, nach dem die Armen ihren Mehrheitsstatus nutzen würden, um die
Reichen zu enteignen, wurde beinahe universell akzeptiert. Und er macht auch
heute noch Sinn. Betrachten wir einfach das Lieblingsspielzeug der politischen
Ökonomen, das Model des Medianwählers (Meltzer, Richards 1981): Jedes Indi-
viduum ist charakterisiert durch seine Ausstattung mit Arbeitskraft oder Kapital,
und alle Individuen lassen sich in eine Rangfolge bringen, vom Ärmsten zum
Reichsten. Individuen können darüber abstimmen, wie hoch das Einkommen
besteuert werden soll, das durch den produktiven Einsatz von Arbeit oder Kapi-
tal generiert wird. Diese Steuereinkünfte werden entweder gleichmäßig auf alle
Individuen verteilt oder für öffentliche Güter ausgegeben, die für alle gleich
nützlich sind, so dass der Steuersatz das Umverteilungsmaß eindeutig bestimmt.
Ist der Steuersatz einmal festgelegt, maximieren die Individuen ihren Nutzen,
indem sie dezentral entscheiden, wie viel von ihren Ressourcen sie einbringen
wollen. Das Theorem des Medianwählers geht davon aus, dass es aufgrund des
Mehrheitsprinzips ein eindeutiges Gleichgewicht gibt; dieses Gleichgewicht er-
gibt sich aus der Wahlentscheidung des Wählers mit Medianpräferenz, das heißt
des Wählers mit dem Medianeinkommen. Ist die Verteilung der Einkommen
rechtsschief, das heißt, ist das Median-Einkommen niedriger als der Durchschnitt
(was in allen Ländern der Fall ist, für die Daten existieren), dann geht das auf-
82 Adam Przeworski
7 Als Demokratien werden hier Regime definiert, in denen es Wahlen mit einem gewissen Maß
an Opposition gibt (nach ACLP-Daten, vgl. Przeworski et al. 2000). Autokratien sind schlicht
keine Demokratien. Die Daten sind von Deininger und Squire (1996) und beziehen sich auf die
Phase nach 1960, wobei die Zahl der Beobachtungen pro Land stark variiert. Die wichtigsten
Öl exportierenden Länder sind ausgenommen worden.
Umverteilungsbarrieren 83
15
10
5
Demokratien
Q5 / Q1
0 Autokratien
-5
-10
0 10.000 20.000 30.000
BIP/pro Kopf
8 Die USA ist das Land mit dem höchsten Grad an Ungleichheit, gemessen am disponiblem
Realeinkommen, unter den 24 Demokratien mit hohem Einkommen, die Brandolini und
Smeeding untersucht haben (2008, Tabelle 2.1).
84 Adam Przeworski
Hinweis: Die Ergebnisse basieren auf verschiedenen Auswahl-Schätzern. „Beobachtet“ gibt die
beobachteten Mittelwerte an. „Treffer“ basiert auf Imbens’ nnmatch („nearest-neighbor“) mit
einem Treffer. „2SLS“ ist der Schätzer der Instrumentvariablen. „Heckman 2“ ist der Schätzer nach
Heckman, berechnet für nach Regimetypen getrennte Regressionsmodelle. „Heckman 1“ ist ein
zusammengefasster Schätzer mit Interaktionseffekten. Die Auswahlmodelle beinhalten das Pro-
Kopf-Einkommen und in der Vergangenheit gesammelte Erfahrungen mit demokratischen Regi-
men. Folgeregressionen verwenden das Pro-Kopf-Einkommen und dessen zweite Potenz.
gig, um dann stark zuzunehmen (Bartels 2008: 35). Die Betrachtung länge-
rer Zeiträume zeigt, dass Umverteilung in nur sehr begrenztem Maße statt-
fand, obwohl der Anteil der oberen Einkommensgruppe in einigen demo-
kratischen Ländern zurückging.9 Es scheint, als hätte kein Land Marktein-
kommen sehr schnell angleichen können, ohne irgendeiner Art von Umwäl-
zung ausgesetzt zu sein, sei es (1) durch die Vernichtung von großen Men-
gen an Eigentum durch Fremdbesatzung (etwa der Japaner in Korea oder
der Sowjetunion in Osteuropa), durch Revolutionen (in der Sowjetunion)
oder durch Kriege, oder (2) durch die massenhafte Auswanderung der ar-
men Bevölkerung (Norwegen, Schweden).
Da diese Frage höchst brisant ist, gibt es Erklärungen im Überfluss.10 Ich kann
hier nur die Basisvarianten darstellen:
1. Eine Kategorie von Erklärungen behauptet, dass diejenigen, die kein Eigen-
tum haben, aus verschiedenen Gründen den Ausgleich von Eigentum, Ein-
kommen oder sogar von Chancen nicht wollen. Die dafür genannten Gründe
sind unterschiedlicher Art:
1.1 Falsches Bewusstsein aufgrund mangelnden Verständnisses für den Un-
terschied zwischen produktivem und nicht-produktivem Eigentum;
1.2 Ideologische Herrschaft, die darauf zurückzuführen ist, dass die Medien
im Besitz der Begüterten sind (Anderson 1977);
1.3 Die Zersplitterung der Armen aufgrund von Religion oder Rasse (Roe-
mer 2001, Frank 2004);
1.4 Erwartungen, dass die Armen reich werden würden (Benabou, Ok
2001);
1.5 Mangelhafte Information über die Auswirkungen bestimmter politischer
Maßnahmen, auch bei Menschen, die egalitäre Normen vertreten (Bar-
tels 2008);
1.6 Der Glaube, dass die Ungleichheit gerecht sei, weil sie eine Folge von
Leistung, nicht eine Frage des Glücks ist (Piketty 1995).
2. Eine andere Kategorie von Erklärungen behauptet, dass, selbst wenn eine
Mehrheit egalitäre Normen vertritt, formale politische Rechte als Mittel ge-
9 Diese Feststellungen bedeuten keinen Widerspruch in sich: Der Hauptgrund für diesen Rück-
gang besteht darin, dass durch Kriege und schwerwiegende ökonomische Krisen große Ver-
mögen vernichtet wurden und aufgrund der progressiven Einkommensbesteuerung nicht erneut
angehäuft werden konnten. Zu der langfristigen Dynamik der obersten Einkommensanteile
vergleiche die Beiträge in Atkinson und Piketty (2007).
10 Einige dieser Erklärungen finden sich in Bartels (2008); die Darstellung dort ist jedoch sehr
viel komplexer und differenzierter als die hier folgende, schematische Liste suggeriert.
86 Adam Przeworski
gen die Macht des Privateigentums ineffektiv sind. Auch hier gibt es einige
relevante Varianten:
2.1 Reiche Menschen verfügen über einen unverhältnismäßig großen politi-
schen Einfluss, den sie nutzen, um sich gegen ökonomische Umvertei-
lung zu verteidigen (Miliband 1970, Lindblom 1977). Nominell gleiche
politische Rechte reichen nicht aus, um den privilegierten Zugang der
Reichen zur Politik auszugleichen. Anders gesagt: Auch politische Ah-
nungslosigkeit gegenüber den ökonomischen Unterschieden reicht nicht
aus, um die Politik vor dem Einfluss des Geldes zu schützen. Grossman
und Helpman (2001) analysieren die Mechanismen, mit denen sich Rei-
che in den USA politischen Einfluss kaufen. Benabou (2000) behauptet,
dass der politische Einfluss der Reichen mit zunehmender Ungleichheit
der Einkommen ebenfalls zunimmt.
2.2 Unabhängig vom Lobbyismus der Reichen müssen Regierungen jegli-
cher politischer Couleur den Zielkonflikt zwischen Umverteilung und
Wachstum berücksichtigen. Das Umverteilen von produktivem Eigen-
tum oder gar von Einkommen hat für die Armen hohe Kosten. Ange-
sichts der Aussicht, ihr Eigentum zu verlieren, oder der Möglichkeit, die
Früchte des Eigentums nicht genießen zu können, sparen und investie-
ren Eigentümer weniger und reduzieren damit das künftige Vermögen
und das künftige Einkommen von allen. Diese „strukturelle Abhängig-
keit vom Kapital“ setzt der Umverteilung Grenzen, auch bei jenen Re-
gierungen, die Einkommen ausgleichen wollen (Przeworski, Wallerstein
1988).
Keine dieser Erklärungen bleibt unangefochten, wenn man sie Gegenargumenten
und Beweisen aussetzt. Ich bin persönlich nicht überzeugt von dem Argument,
dass die Armen nicht würden besser leben wollen, auch wenn es auf Kosten der
Reichen ginge. Das Verhältnis zwischen Umverteilung und Wachstum wiederum
wird, aus theoretischer Sicht, extrem kontrovers diskutiert, und die empirischen
Belege sind uneindeutig (Banerjee, Dufflo 2003). Einige Formen der Umvertei-
lung – etwa in Form von Bildungsförderung oder von Investitionshilfen für die-
jenigen, deren Zugang zu Krediten sonst begrenzt wäre – sind ganz offensicht-
lich wachstumsfördernd. Eine reine Umverteilung von Konsum wiederum kann
wachstumshemmend wirken.
Umverteilungstechniken
All diese Überlegungen bringen uns zu der Erkenntnis, dass viele Regierungen
mit der Unterstützung der Armen gewählt wurden, dass sie die Absicht hatten,
Einkommen umzuverteilen, und versuchten, dieses Ziel zu erreichen. Wenn
Umverteilungsbarrieren 87
Regierungen damit also gescheitert sind, muss das Gründe gehabt haben, die
nichts mit dem Wollen oder Bemühen zu tun hatten. Da es in dieser Frage um
die Grenzen der Demokratie geht, muss die Argumentation nun sorgfältig entwi-
ckelt werden.
Zunächst muss man beachten, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt,
Einkommen umzuverteilen. Man kann Markteinkommen besteuern und die Erlö-
se nutzen, um entweder den Konsum der Armen zu finanzieren oder sie für öf-
fentliche Güter auszugeben, die für alle gleich nützlich sind. Genau das tun die
meisten Regierungen in unterschiedlichem Maße. Es gibt ferner eine überwälti-
gende Menge an Belegen dafür, dass linke Regierungen stärker umverteilen als
andere.11 Eine Umverteilung mittels Steuern und Transferzahlungen reduziert
jedoch nicht die zugrunde liegende Ungleichheit der Fähigkeit, Einkommen zu
erzielen. Diese Vorgehensweise finanziert den privaten oder öffentlichen Kon-
sum, ohne einen größeren Einfluss auf das Potential zu haben, Einkommen zu
erzielen. Deshalb muss diese Form der Umverteilung immer wieder vollzogen
werden, Jahr für Jahr, nur um die Ungleichheit des Erwerbseinkommens wieder
auszugleichen. Und weil es teuer ist – entweder weil Anreize reduziert werden
oder einfach aufgrund der damit verbundenen Verwaltungsausgaben – bleibt es
eine Ad-hoc-Maßnahme und keine dauerhafte Lösung.
Fast die gesamte Literatur zur politischen Ökonomie konzentriert sich auf
diesen Mechanismus der Umverteilung, obwohl Regierungen die Einkommens-
verteilung nicht nur durch Steuern und Ausgaben, sondern auch noch durch eine
Vielzahl von anderen politischen Maßnahmen beeinflussen. Wie Stigler (1975)
feststellt, wirken alle staatlichen Maßnahmen, von der Anerkennung der Berufs-
ausbildung von Krankenschwestern über die Vergabe von Taxikonzessionen bis
hin zum Verbot giftiger Substanzen, in unterschiedlicher Weise auf die Ein-
kommen. Und sobald wir an Politik jenseits des fiskalischen Systems denken,
wird deutlich, dass diese Interventionen auch regressive Auswirkungen haben
können (Peltzman 1976). Tatsächlich werden in allen Gesellschaften sowohl
politische Maßnahmen implementiert, die Einkommen konzentrieren, als auch
Maßnahmen, die Einkommensunterschiede verringern. So führen zum Beispiel
Patentgesetze zu einer Konzentration von Einkommen, während Gesetze gegen
Monopole Einkommen eher breit verteilen; kostenlose Vorschulbildung verteilt
das Einkommen nach unten, während kostenlose Bildung im Hochschulbereich
es nach oben umverteilt; Mindestlohnregelungen heben niedrige Löhne an, wäh-
rend gewerkschaftsfeindliche Gesetze sie eher senken.
Deshalb hätte Bartels sich nicht wundern sollen, als er beobachtete, dass in
den Vereinigten Staaten „presidents have had less influence on the distribution of
post-tax income than on the distribution of pre-tax income…“ (2008: 58). Märk-
te werden von Regierungen geschaffen. „Markteinkommen“ werden durch ein
System von lohnsetzenden Institutionen, regulatorischen Vorgaben, Handelsbar-
rieren, Monopolgesetzen usw. generiert; die Liste ist endlos. Korporatistische
Arrangements und insbesondere deren Auswirkungen auf die Lohnkompression
sind die Ursache für erhebliche Unterschiede in der Verteilung von Einkommen
in den OECD-Staaten (Beramendi, Anderson 2008).
Haben wir erst einmal erkannt, dass Einkommen unter politisch regulierten
Bedingungen generiert werden, können wir uns dem zweiten Mechanismus zu-
wenden, durch den sie ausgeglichen werden können, nämlich durch die Anglei-
chung der Potentiale, Einkommen zu erzielen. Und da Einkommen durch An-
strengungen auf der Grundlage von Produktionsfaktoren – ob nun Boden, physi-
sches Kapital, Bildung oder Qualifikationen – generiert wird, wird eine Anglei-
chung der Fähigkeit, Einkommen zu erzielen nur durch die Umverteilung dieser
Faktoren zu bewerkstelligen sein.
Aber welche Vermögensarten lassen sich in modernen Gesellschaften
gleichmäßiger verteilen? Als die Vorstellung von gleichem Eigentum entstand,
war Produktivvermögen gleichbedeutend mit Landbesitz. Boden lässt sich ver-
hältnismäßig leicht umverteilen. Es reicht aus, ihn den einen wegzunehmen und
den anderen zu geben. Deshalb fanden Agrarreformen recht häufig in der Ge-
schichte der Welt statt: Allein zwischen 1946 und 2000 gab es mindestens 175
Bodenreformen mit Umverteilungen. Heute spielt jedoch die Verteilung von
Boden eine relativ unbedeutende Rolle bei der Entstehung von ungleichen Ein-
kommensverhältnissen. Andere Vermögensarten entziehen sich dagegen einer
solchen einfachen Operation:
1. Die Kommunisten haben das Industriekapital umverteilt, indem sie es in die
Hände des Staats legten und versprachen, dass die nicht investierten Profite
an alle Haushalte gleichmäßig verteilt werden würden. Zwar hat dieses Sys-
tem ein gewisses Maß an Gleichheit erzeugt, erwies sich aber aus Gründen,
die hier nicht erörtert werden können, als dynamisch ineffizient: Es hat In-
novationen und den technischen Fortschritt behindert.
2. Alternativ könnte man auch Eigentumstitel in Form von Aktien umvertei-
len. Aber diese Art der Umverteilung bringt ganz eigene Probleme mit sich.
So zeigen die Erfahrungen mit der Privatisierung in Tschechien, dass eine
neuerliche rasche Konzentration solcher Anteile in den Händen Weniger
möglich, ja sogar wahrscheinlich ist. Denn die Ärmeren verkaufen ihre Ak-
tien bald an die Wohlhabenderen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass
die Streuung von Eigentum die Anreize für Aktienbesitzer mindert, Mana-
ger zu überwachen. Zwar wurden einige Lösungen für dieses Problem vor-
geschlagen, sie scheinen aber nicht sehr effektiv zu sein.
Umverteilungsbarrieren 89
Wir erinnern uns, dass Babeuf glaubte, die Umverteilung von Eigentum werde
das Problem der Ungleichheit nicht lösen, „since no equal division would ever
last.“ Nehmen wir an, der Besitz von produktivem Vermögen sei ausgeglichen
worden. Gleichwohl haben Menschen unterschiedliche und nicht beobachtbare
Fähigkeiten, daraus Einkommen zu erzielen. Darüber hinaus unterliegen sie den
Unwägbarkeiten des Glücks. Angenommen, bestimmte Menschen oder deren
90 Adam Przeworski
Demokratie beurteilen
In seiner Analyse der Thatcher-Ära stellt Dunn fest, dass
„the state at this point is more plausibly seen as a structure through which the minimally parti-
cipant citizen body (those prepared to take the trouble to vote) select from the meagre options
presented to them those they hope will best serve their several interests. In that selection, the
meagreness of the range of options is always important and sometimes absolutely decisive.“
(Dunn 2000: 147)
Sind diese Optionen eng begrenzt, weil die Logik der Wahlkonkurrenz Parteien
dazu zwingt, sehr ähnliche Politiken anzubieten und zu verfolgen? Oder sind sie
es, weil es wenig gibt, was die Parteien anders machen könnten? Diese Frage ist
wichtig, weil sie unser Urteil über die Demokratie beeinflusst. Nehmen wir an,
ökonomische Ungleichheit könnte weit unter das derzeit in entwickelten Demo-
kratien herrschende Maß reduziert werden, ohne dass künftige Einkommen
schrumpfen würden. Und nehmen wir außerdem an, dass eine solche, mögliche
Minderung der Ungleichheit nicht schon an den institutionellen Merkmalen der
Demokratie scheitert (egal wie man sie sonst beurteilt). Dann gäbe es ganz of-
fensichtlich einen „trade-off“ zwischen Gleichheit und anderen Werten, die wir
aufgeben müssten, wenn wir für ökonomische Gleichheit optierten. Aber es gibt
diesen trade-off nicht.
Das Streben nach ökonomischer und sozialer Gleichheit ist stets ein Merk-
mal von Demokratien gewesen. Moderne repräsentative Institutionen haben den
ökonomischen und sozialen Status ihrer Bürger zunächst ausgeblendet, konnten
aber damit die himmelschreiende Ungleichheit in den Lebensbedingungen der
Menschen nicht überdecken. Spätestens seit Babeuf – um von Marx ganz zu
schweigen – erschien die Begrenzung der Forderung nach Gleichheit auf die
12 Die Annahme, dass es eine Korrelation zwischen jährliche Rendite und individuelle Entwick-
lung über die Zeit gibt, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menschen unterschiedliche, nicht
beobachtbare Eigenschaften haben, die ihre Fähigkeit, Produktivvermögen zu nutzen, beein-
flussen.
13 Andere Spielarten dieses Arguments finden sich in Mookherjee, Ray (2003) und Benhabib,
Bisin (2008).
Umverteilungsbarrieren 91
Sphäre der Politik als „unlogisch“. Und wenn auf der rechten Seite des politi-
schen Spektrums auch immer die Angst umging, wirksame politische Gleichheit
würde das Eigentum bedrohen, wussten jene auf der linken Seite, dass eine
Gleichheit, die nur politisch definiert war, sich angesichts ökonomischer und
sozialer Ungleichheiten nicht aufrecht erhalten lassen würde. „Die Ausweitung
der Demokratie vom politischen in den sozialen Bereich“ war nicht nur eine
Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, sondern auch der Aufruf, im Bereich der
Politik selbst die Demokratie effektiv zu gestalten.
Aber es gibt wohl Grenzen dieses Strebens. Ein gewisser Grad an Un-
gleichheit ist einfach unvermeidbar. Dagegen ist die Demokratie, aber auch jedes
andere denkbare politische Arrangement, machtlos. Denken wir an Brasilien: Im
Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte war das Land eine Kolonie, eine unab-
hängige Monarchie, eine oligarchische Republik, eine populistische Militärdikta-
tur, eine Demokratie mit einem schwachen Präsidenten, eine rechts-gerichtete
Militärdiktatur und eine Demokratie mit einem starken Präsidenten. Dabei hat
sich, so weit wir erkennen können, die Einkommensverteilung überhaupt nicht
verändert. Sogar die Kommunisten, deren Ziel es war, alles einzuebnen, und die
tatsächlich Güter und Vermögen insofern gleich verteilten, als sie alles verstaat-
lichten, mussten die Ungleichheit tolerieren, die aus unterschiedlichen Begabun-
gen und Motivationen entsteht.
Damit ist nicht gesagt, dass alle Demokratien gleich sind. Unter den gegen-
wärtigen Demokratien variiert das Verhältnis des oberen und unteren Fünftels
der Einkommen (das vielleicht intuitiv verständlichste Maß der Ungleichheit)
zwischen etwa 33:1 in Brasilien und weniger als 6:1 in Finnland, Belgien, Spa-
nien und Südkorea. Wir können also sowohl die Angebote, die politische Partei-
en ihren Wählern machen, als auch die Politik bestimmter Regierungen verglei-
chen und beurteilen. Und weil Konflikte über die Verteilung von Chancen, Ar-
beit und Konsum das tägliche Brot der Politik in der Demokratie darstellen,
müssen wir wachsam sein. Aber auch die besten Regierungen arbeiten unter
Beschränkungen, die sie hinnehmen müssen. Die Verhältniszahl „6“ ist noch
immer sehr groß: Sie besagt, dass in einem Land mit einem durchschnittlichen
Pro-Kopf-Einkommen von 15.000 US-Dollar,14 jemandem im obersten Fünftel
ein Jahreseinkommen von 27.000 US-Dollar hat, während jemandem aus dem
untersten Fünftel 4.500 US-Dollar hat. Die Mehrzahl der Befragten in Spanien
und Südkorea empfindet solche Ungleichheiten als exzessiv. Aber vielleicht
stellt dies einfach für jedes politische System die Grenze der möglichen Anglei-
chung von Einkommen oder Vermögen dar.
Mein Punkt ist also, dass wir der Demokratie zu viel aufbürden.
14 In den genannten Ländern etwa der Durchschnitt im Jahr 2002; berechnet in 1995 US-Dollar-
Kaufkraftparitäten.
92 Adam Przeworski
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Umverteilungsbarrieren 95
Einleitung
Bekanntlich kann man sich seine Eltern nicht aussuchen – zumindest nicht die
biologischen. Das ist bedauerlich, denn auch heute noch hängt sehr viel von
ihnen ab, nicht zuletzt der soziale Status. Soziale Ungleichheit wird auf vielfälti-
ge Weise von den Eltern auf die Kinder übertragen. Die Grundlagen dafür mö-
gen zum Teil genetisch vorgegeben sein, sie werden aber jedenfalls frühzeitig
über die unmittelbare Umwelt mit in die Wiege gelegt – etwa über die Komple-
xität von Interaktionen oder sprachlichen Regeln, an denen die heranwachsenden
Kinder sich bilden und einen „Habitus“ herausbilden – und später im Bildungs-
und Erwerbssystem verfestigt, so dass Kinder im Ergebnis typischerweise auf
ähnlichen relativen Positionen im Gefüge der sozialen Ungleichheit anzutreffen
sind wie zuvor ihre Eltern. Schichtungs-, Mobilitäts-, Bildungs- und Sozialisati-
onsforschung haben die Bedeutung dieser biographisch „frühen“ Vererbung
sozialer Ungleichheit hinreichend belegt, die trotz aller Betonung von Chancen-
gleichheit, Eigenleistung und Individualität nach wie vor durchschlägt (vgl. zum
Beispiel Erikson, Goldthorpe 1992; Scherer et al. 2007; für Deutschland jüngst
Habich, Noll 2008: 180ff.).
Dass auch eine biographisch spätere Transmission sozialer Ungleichheit
möglich ist, hat in der Ungleichheits- und Mobilitätsforschung dagegen bisher
kaum Berücksichtigung gefunden (vgl. Kohli et al. 2009). Zu denken ist dabei
vor allem an die materiellen Transfers der Eltern an ihre erwachsenen Kinder.
Sie bilden die familiale Seite des gesellschaftlichen Generationenvertrages (vgl.
Ganßmann 2002). Erbschaften und Transfers inter vivos in späteren Lebenspha-
sen können bestehende Ungleichheiten im Prinzip weiter verschärfen oder auch
abmildern. Im ersten Falle liegt die Forderung nach einer höheren Erbschafts-
und Schenkungssteuer nahe, will man der Verschärfung sozialer Ungleichheit
durch „unverdientes Vermögen“ (Beckert 2004) entgegentreten. Im zweiten
Falle würde damit ein gegenteiliger Effekt erzielt: Wenn Schenkungen und Erb-
schaften eher an weniger gut situierte Kinder gehen und so zu einer Verbesse-
96 Martin Kohli, Harald Künemund
rung ihrer relativen Position im Gefüge der sozialen Ungleichheit führen, haben
sie einen nivellierenden Effekt, und eine höhere (oder gar konfiskatorische) Be-
steuerung hätte lediglich die Folge, dass die Reichen reich und die Armen arm
blieben. Die wenigen Ergebnisse dazu sind bisher nicht eindeutig.
Wir möchten diese Möglichkeiten zunächst theoretisch weiter differenzie-
ren und anschließend ausgewählte empirische Befunde diskutieren, um damit
eine erste Antwort auf diese Frage formulieren und Anregungen für die weitere
Forschung in diesem Bereich geben zu können.1 Die Befunde beziehen sich
überwiegend auf Deutschland; die Prozesse, um die es geht, sind jedoch ähnlich
auch in anderen europäischen und westlichen Gesellschaften zu beobachten (vgl.
Breen 2004; Kohli 2004; Albertini et al. 2007).
1 Wir stützen uns dabei auf verschiedene Forschungsarbeiten, vor allem aus dem Umfeld des
Alters-Survey (Kohli, Künemund 2005), und die daraus hervorgegangenen Publikationen
(Kohli et al. 2006; Künemund et al. 2005; 2006; Künemund, Vogel 2008), sowie auf ein Gut-
achten zu den Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen Erbschaften und Vermö-
gensverteilung (Kohli et al. 2005). Wir möchten daher an dieser Stelle auch jenen Personen
unseren Dank aussprechen, die an diesen Forschungsarbeiten beteiligt waren – im Kontext die-
ses Aufsatzes insbesondere Jürgen Schupp, Marc Szydlik und Claudia Vogel. Unser Dank
richtet sich auch an Heiner Ganßmann, der zwar an den genannten Projekten nicht direkt betei-
ligt war, uns jedoch am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin über Jahrzehnte
hinweg immer wieder mit den grundsätzlichen Fragen nach Ausmaß, Ursachen und Wirkun-
gen sozialer Ungleichheit konfrontiert hat.
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 97
Chance, eine Erbschaft zu erhalten, durch Alter, berufliche Stellung und Ein-
kommen der Erbenhaushalte strukturiert wurde, und schloss daraus, dass Erb-
schaften dazu beitragen, soziale Ungleichheit zu reproduzieren. Neben der Ein-
kommens- ging er auch auf die Vermögenswirkung von Erbschaften ein; er dis-
kutierte die These – ohne sie allerdings weiter zu prüfen –, Erbschaften könnten
die Ungleichheit der Vermögensverteilung vergrößern, da Haushalte mit hohem
bereits vorhandenem Vermögen eine Erbschaft eher dazu nutzen würden, dieses
Vermögen zu vermehren, während Haushalte mit keinem oder wenig Vermögen
damit eher Konsumwünsche befriedigen oder Schulden tilgen würden.
Lauterbach und Lüscher (1996) untersuchten mit den Daten des SOEP von
1988 die Erbschaften, die Westdeutsche zwischen 1960 und 1988 erhielten (vgl.
auch Lauterbach 1998). Die Autoren zeigen, dass höhere Einkommensgruppen
häufiger als niedrigere eine Erbschaft erhielten und diese eher für den Kauf einer
Immobilie einsetzten. Auch beeinflusste eine Erbschaft noch im späteren Le-
bensalter den Lebenslauf der Erben: Sie machte es möglich, eine Immobilie zu
erwerben oder in die vererbte Immobilie zu ziehen, was Einspareffekte bei den
Wohnkosten zur Folge hatte.
Eine Reihe weiterführender Analysen – auch unter Einschluss von Schen-
kungen – ist von der Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf mit Daten des
Alters-Survey 1996 und des SOEP vorgelegt worden (Szydlik 1999; 2000; 2004;
Szydlik, Schupp 2004; Kohli 2004; Künemund et al. 2005). Knapp die Hälfte der
40- bis 85-jährigen Befragten des Alters-Survey von 1996 gab an, sie selbst oder
ihr Partner hätten bereits eine Erbschaft erhalten. Ein großer Teil dieser Erb-
schaften war allerdings relativ niedrig. Ein Viertel aller Erben erhielt mindestens
50.000 Euro, aber nur 5% 250.000 Euro und mehr (Szydlik 2000: 157ff.). Szyd-
liks Analyse umfasste erstmals den Vergleich von Erbschaften in Ost- und West-
deutschland. Es zeigte sich, dass Ostdeutsche seltener und weniger erbten, da die
Vermögen in Ostdeutschland historisch bedingt deutlich niedriger waren. Diese
Studie zeigte auch, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erbschaft mit der Bildung
der Erben stieg, die wiederum stark mit der beruflichen Stellung der Eltern korre-
lierte: Akademiker hatten im Vergleich zu Hauptschulabgängern „eine doppelt so
große Chance, bereits etwas geerbt zu haben und eine über drei Mal so hohe
Wahrscheinlichkeit, zukünftig etwas zu erhalten“ (Szydlik 1999: 97). Szydlik
schloss daraus, dass Erbschaften die soziale Mobilität hemmen und zur Verschär-
fung sozialer Ungleichheiten in der Erbengeneration beitragen, weil diejenigen die
schlechtesten Erbchancen haben, die auch anderweitig benachteiligt sind.
Andere Autoren kommen jedoch zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen.
Westerheide (2004), der mittels des SOEP aus dem Jahr 2002 die Auswirkungen
von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensbildung untersuchte, zeig-
te, dass die Sparneigung aus den erhaltenen Transfers hoch war: Mehr als 80%
98 Martin Kohli, Harald Künemund
ten Vermögen von Erblassern auf Erben übertragen worden. Wenn hypothetisch
pro Erblasser ein einziger Erbe unterstellt wird, hat sich in der Gesamtgesell-
schaft (fast) nichts verändert – das Vermögen hat lediglich den Besitzer gewech-
selt. Eine progressive Erbschaftsbesteuerung wie in der Bundesrepublik würde
dann dazu führen, dass die Ungleichheit geringer wird. Dies ist theoretisch auch
dann der Fall, wenn Vermögen und Kinderzahl positiv korreliert sind und das
Erbe jeweils auf alle Kinder gleichmäßig verteilt wird – große Vermögen wären
dann nach dem Erbfall stärker verteilt als zuvor, die gesamtgesellschaftliche
Vermögenskonzentration wäre niedriger.
Durch statushomogene Familienbildung kann dagegen die Ungleichheit zu-
nehmen, wenn große Erbschaften von Eltern und Schwiegereltern zusammentref-
fen und so zu einer stärkeren Konzentration der Vermögen führen. Dies hängt
jedoch wiederum von der Familienkonstellation ab. Bei zwei Kindern und
Gleichverteilung des Erbes unter den Kindern kommt es im Ergebnis ebenfalls
lediglich zu einer Transmission der sozialen Ungleichheit. Empirisch sind solche
Zusammenhänge in dieser Komplexität bislang noch kaum erforscht, auch weil
entsprechende Längsschnittdaten, die solche Effekte analysierbar machen kön-
nen, erst in Ansätzen vorliegen.
Plausibel ist dagegen die Annahme einer Verschärfung der Ungleichheit in
der Erbengeneration: Eine positive Korrelation von Vermögen und Erbchance
sowie Erbhöhe bedeutet, dass jene Personen im Durchschnitt mehr erhalten, die
schon zuvor über größere Vermögen verfügten. Diesen Befund würde man auch
dann erhalten, wenn Vermögen und Kinderzahl positiv korreliert wären und die
Konzentration der Vermögen dadurch abnehmen würde. Es geht also darum, ob
wir den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Vermögensungleichheit richten
oder auf diejenige in einer Empfängerkohorte.
Selbst in der Perspektive auf eine isolierte Erbengeneration gilt der Befund
einer Zunahme der Ungleichheit zwingend allerdings nur für absolute Vermö-
gensbeträge. Wenn für bereits begüterte Haushalte die Vermögensübertragung
mortis causa nur einen relativ geringen Anteil ihres Vermögens ausmacht, kann
es sein, dass die Vermögenskonzentration in der Erbengeneration trotz einer
Zunahme der absoluten Ungleichverteilung abnimmt. Der Unterschied zwischen
absoluter und relativer Betrachtung lässt sich mit einer hypothetischen Gesell-
schaft mit je zwei Erblassern und Erben verdeutlichen: Nehmen wir einen Er-
blasser A mit einem Vermögen von 1.000 Euro und einen dazugehörigen Erben a
ohne jedes Vermögen, sowie einen Erblasser B mit einem Vermögen von 5.000
Euro und einen Erben b, der bereits vor dem Erbfall über 4.000 Euro verfügt.
Dann waren vor und nach den Erbfällen 90% dieses Vermögens in der Hand der
Familie B konzentriert. Betrachten wir allein die Erben, hat b vor dem Erbfall
100%, danach aber nur noch 90% des Gesamtvermögens (obgleich der absolute
100 Martin Kohli, Harald Künemund
Unterschied zwischen b und a nunmehr von 4.000 auf 8.000 Euro gewachsen ist)
– die relative Ungleichheit hat sich reduziert. Erbschaften haben also je nach
vorheriger Vermögenssituation einen unterschiedlichen relativen Einfluss auf die
Vermögensausstattung der Haushalte und die Vermögenskonzentration in einer
Bevölkerung. Auch dies ist bislang noch kaum empirisch erforscht.
Nochmals komplizieren kann sich die Situation in längerfristiger Perspekti-
ve, wenn sich Spar- und Konsumneigung systematisch zwischen den Vermö-
gensgruppen unterscheiden. Nehmen wir an, b – da er sich schon hinreichend
abgesichert fühlt – würde das Erbe unmittelbar konsumieren, a hingegen anspa-
ren, würde sich (gleiche Verzinsung des Kapitals unterstellt) die relative Kon-
zentration des Vermögens bei 80% in der Hand von b einpendeln, also noch
weiter reduzieren, während die Ungleichheit gemessen in absoluten Beträgen
natürlich mit der Zeit weiter anwächst, sofern das Kapital Zinsen abwirft.
Es wird also deutlich, dass die Wirkungen von Erbschaften je nach Perspek-
tive und Modellannahmen unterschiedlich ausfallen und deshalb nur empirisch
ermittelt werden können. Wir können an dieser Stelle – auch mangels geeigneter
Längsschnittdaten – nicht all diese Probleme auf empirischer Basis angehen,
möchten im Folgenden jedoch einige unserer Befunde zusammenfassen und im
Hinblick auf die Verteilungsfrage interpretieren.
dass das Erbe typischerweise gleichmäßig auf alle Kinder verteilt wird. Das gilt
auch für die USA, wo der Testierfreiheit praktisch keine Grenzen gesetzt sind;
die ökonomische Literatur spricht deshalb vom „equal division puzzle“ (Bern-
heim, Severinov 2000). Im Vergleich zu Einzelkindern haben sowohl Töchter
mit einem Bruder als auch Söhne mit einer Schwester gleich hohe Chancen, eine
Erbschaft zu erhalten, und die durchschnittliche Erbhöhe unterscheidet sich
ebenfalls nicht signifikant zwischen Töchtern und Söhnen (Künemund et al.
2006). Auch die Position in der Geburtenfolge ist für die Erbchance und die
Erbhöhe irrelevant: Die ältesten Söhne erben ebenso häufig und im Schnitt eben-
so hohe Beträge wie jüngste Söhne, älteste oder jüngste Töchter oder Personen in
der Mitte zwischen älteren und jüngeren Geschwistern (Künemund, Vogel
2008). Erbschaftshöhe und Geschwisterzahl sind negativ korreliert – ab vier
Kindern fallen Erbschaften durchschnittlich geringer aus (Kohli et al. 2005). Auf
die Gesamtbevölkerung bezogen können wir festhalten, dass Geschlecht und
Position in der Geburtenfolge für Erbhöhe und Erbchance keine wesentliche
Rolle spielen.
So weit wäre also davon auszugehen, dass die Ungleichheit der Elterngene-
ration auf die nachfolgende Generation wenig verändert übertragen wird. Zwei
Kinder2 teilen sich das Vermögen der Eltern und erhalten – so sie wiederum dem
Normalfall entsprechend einen Partner haben – in ihrer Ehe zusätzlich eine Hälf-
te des Erbes der Eltern ihres Partners. Die an dieser Stelle entstehenden Vertei-
lungswirkungen sind theoretisch ausgesprochen vielfältig und empirisch noch
kaum erforscht. Aufgrund der empirischen Tendenz zu statushomogenen Part-
nerschaften sind die Wirkungen im Hinblick auf die Vermögenskonzentration in
der Gesamtgesellschaft wahrscheinlich unsystematisch und gering; lediglich im
Falle einer negativen Korrelation zwischen Vermögen und Kinderzahl ergäbe
sich eine Tendenz zu einer stärkeren Konzentration.
Klarer sind die Befunde auf der Ebene der Erbenden. Hier ist – wie oben
angeführt – wiederholt gezeigt worden, dass Personen mit höherer Bildung eine
deutlich höhere Erbchance haben (hinsichtlich der Erbhöhe sind die Befunde
weniger eindeutig; die Daten des Alters-Survey ergeben hier keinen zusätzlichen
Effekt, vgl. Kohli et al. 2005). Tabelle 1 zeigt exemplarisch die Ergebnisse einer
logistischen Regression des Erbschaftserhalts auf ausgewählte Merkmale der
Erbenden im mittleren Erwachsenenalter mit den Daten der zweiten Welle des
Alters-Survey aus dem Jahr 2002.3
2 Das entspricht der durchschnittlichen Kinderzahl in den älteren Kohorten, deren Erbschaften
gegenwärtig anstehen.
3 Der Alters-Survey ist eine repräsentative Befragung der 40- bis 85-jährigen Deutschen, die
1996 begonnen und 2002 mit einer zweiten Welle fortgesetzt wurde. Der Datensatz ist beim
Zentralarchiv für empirische Sozialforschung verfügbar. Die Frageformulierung lautete „Ha-
102 Martin Kohli, Harald Künemund
bivariat multivariat
a
Logistische Regression, odds ratios, nur 40- bis 54-Jährige
Quelle: Alters-Survey 2002; n= 763; *= p< 0,05; **= p< 0,01
Zunächst ist festzustellen, dass der Erhalt von Erbschaften nicht mit dem Bedarf
korreliert, wie er über die Arbeitslosigkeit des Befragten oder die des Partners,
über eine Scheidung oder über Schulden indiziert wird. Dies entspricht den be-
reits genannten Befunden zur Gleichverteilung von Erbschaften auf die Nach-
kommen. Der bivariat noch deutliche Zusammenhang mit dem Einkommen
verringert sich erheblich bei Einbezug des Vermögens: Auf Haushaltsebene ist
ben Sie oder Ihr (Ehe-)Partner schon einmal etwas geerbt? Bitte denken Sie dabei auch an
kleinere Nachlässe“. Einbezogen wurden Erbschaften von den eigenen Eltern oder Großeltern
und den Eltern oder Großeltern der Partner. Dieses Modell repliziert eine Analyse mit den Da-
ten der ersten Welle (Künemund et al. 2005).
Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 103
4 Für Detailfragen zur Repräsentativität der Daten und Verlässlichkeit der Messungen vgl. Kohli
et al. (2005).
104 Martin Kohli, Harald Künemund
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Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? 109
1 Wir bedanken uns bei Jürgen Schupp, mit dem zusammen wir eine der beiden Umfragen, von
denen hier berichtet wird, durchgeführt haben (vgl. Gerhards et al. 2007).
110 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
2 Dass die europäische Sozialpolitik trotz aller großen politischen Rhetorik nicht sehr weit
entwickelt ist, ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur hinreichend beschrieben worden.
Fritz Scharpf (1996) hat versucht zu erklären, warum es nicht zur Entwicklung eines europä-
ischen Sozialstaates gekommen ist und wahrscheinlich nicht kommen wird. Die ärmeren Län-
der in der EU haben kein Interesse an hohen europaweiten sozialen Standards. Die Faktorpro-
duktivität (die Produktivität von Arbeit und Kapital) ist in diesen Ländern deutlich geringer als
in den ökonomisch entwickelten Ländern der EU. Wenn diese Länder trotzdem konkurrenzfä-
hig sein wollen, dann müssen die Faktorkosten – also vor allem die Löhne, die Lohnnebenkos-
ten und die Umweltkosten – recht niedrig sein. Eine Angleichung der Löhne und der Sozial-
standards wäre für diese Länder wahrscheinlich mit einer Vernichtung von Arbeitsplätzen ver-
bunden. Die ärmeren Länder der EU werden entsprechend vor allem für die Beibehaltung ihrer
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 111
Dem muss man zustimmen, wenn man unter einem europäischen Wohl-
fahrtsstaat ein supranationales Gebilde versteht, das mit ähnlichen Ressourcen,
Kompetenzen und Rechten ausgestattet ist wie die nationalstaatlichen Systeme
und zugleich diesen hierarchisch vorgeordnet ist. Im Kontext des europäischen
Einigungsprozesses haben sich allerdings die Zugangsbedingungen der europä-
ischen Bürger zu den Institutionen der sozialen Sicherheit der jeweiligen Mit-
gliedsländer geändert. Der mit der Entstehung nationaler Sicherungssysteme
institutionalisierte nationale Partikularismus ist aufgeweicht und ersetzt worden
durch einen europäischen Partikularismus aller europäischen Marktbürger. Es
handelt sich dabei um eine partikularistische und nicht um eine universalistische
Gleichheitsvorstellung, weil die Rechte an den Status, Bürger eines Mitglieds-
landes der EU zu sein, gebunden sind. Mit der Institutionalisierung der so ge-
nannten Freizügigkeitsregel für Arbeitnehmer haben alle Bürger das Recht erhal-
ten, in allen anderen Ländern der EU zu arbeiten und damit auch das Recht, an
den sozialen Sicherungssystemen des jeweiligen Landes zu partizipieren. Die
Europäische Union hat damit schrittweise die Idee einer nationalstaatlich be-
grenzten Vorstellung von Gleichheit der Bürger ersetzt durch die Idee einer eu-
ropäischen Gleichheit.
Ob und in welchem Maße die Bürger diese Umcodierung akzeptieren, ist
die zentrale Forschungsfrage der folgenden Ausführungen. Dazu werden wir in
einem ersten Schritt kurz beschreiben, wie die Europäische Union die Idee einer
allein binnennationalen Gleichheit transnationalisiert und ersetzt hat durch die
Idee einer Gleichheit aller Bürger Europas. Manche Autoren gehen davon aus,
dass sich mit einer Europäisierung der Politikfelder und einer Strukturierung
eines europäischen gesellschaftlichen Raumes auch die Wahrnehmungen der
Bürger verändern, so dass man von einer Europäisierung von Einstellungen und
Wertorientierungen sprechen kann (Beck, Grande 2004: 266). Ob dies wirklich
der Fall ist, wollen wir zumindest für Deutschland durch die Auswertung zweier
Umfragen prüfen. In welchem Maße unterstützen die Bürger die Vorstellung,
dass ausländische Bürger auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Zugangsmöglich-
keiten und Rechte genießen sollen wie die eigenen Bürger, und in welchem Ma-
ße unterstützen sie die Vorstellung, dass die europäischen Ausländer einen glei-
chen Zugang zu Sozialleistungen haben wie deutsche Bürger? Die Frage nach
einer Unterstützung der EU-Politik durch die Bürger ist für die Legitimität der
EU nicht unerheblich. Demokratien sind strukturell auf die Unterstützung ihrer
Bürger angewiesen. Bleibt diese aus, kann es zu Legitimitätsproblemen der Insti-
tutionen selbst kommen.
landesspezifischen Standards plädieren und ihr Veto gegen eine einheitliche Regelung geltend
machen.
112 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
sucht, nicht aber zu sozialen Rechten. Und drittens beziehen sich die Daten auf
den Zeitpunkt 1999/2000 und mögen in der Zwischenzeit etwas veraltet sein.
Wir haben in zwei kleineren Pilotstudien versucht, erste Erkenntnisse über
Ausmaß, Struktur und Ursachen der Legitimität europäisierter Gleichheitsrechte
zu gewinnen. In der ersten Studie wurden die Einstellungen der Bürger der Bun-
desrepublik zur Akzeptanz des Zugangs anderer europäischer Bürger zum deut-
schen Arbeitsmarkt erhoben, in der zweiten Umfrage die Einstellungen zur Ak-
zeptanz des Zugangs zu Sozialleistungen.
Kosten verbunden sein kann, da sie die Arbeitsmarktlage der Deutschen ver-
schlechtern könnte. Dieser Bezug auf die Kosten der Wertbefolgung führt dazu,
dass wir keine „sunshine beliefs“ erheben, sondern dass die Gleichheitsvorstel-
lungen in gewissem Maße handlungsrelevant sind.
Die Formulierung der Frage wurde nun mehrmals variiert. Das zweite Item
fragte nach der Chancengleichheit für deutsche Arbeitnehmer im EU-Ausland.
Damit sollte geprüft werden, in welchem Ausmaß sich die Deutschen mögli-
cherweise stärkere Rechte im Zugang zum Arbeitsmarkt im EU-Ausland ein-
räumen als sie analoge Rechte EU-Ausländern zubilligen. Die Items 3 bis 5 frag-
ten nach der Chancengleichheit für Arbeitnehmer aus Frankreich, Polen und der
Türkei. Die jeweiligen Länder wurden als stellvertretend für Ländergruppen
ausgewählt: Frankreich als altes, wohlhabendes EU-Land, Polen als neues EU-
Land und die Türkei als aktueller Beitrittskandidat. Da diese Länder für unter-
schiedliche Wohlstandspositionen innerhalb der EU stehen, sollte geprüft wer-
den, in welchem Ausmaß die Befragten zwischen der nationalen Herkunft der
EU-Arbeitnehmer unterscheiden.
Tabelle 1 gibt die relativen Häufigkeiten zu den fünf Items zur Chancen-
gleichheit auf dem Arbeitsmarkt wieder. Die beiden Zustimmungs- und Ableh-
nungskategorien wurden jeweils zusammengefasst.
Zustimmung in % N
EU-Arbeitnehmer in Deutschland 63,5 618
Deutsche Arbeitnehmer im EU-Ausland 69,3 674
Französische Arbeitnehmer in Deutschland 74,3 723
Polnische Arbeitnehmer in Deutschland 63,9 622
Türkische Arbeitnehmer in Deutschland 55,3 538
Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Fast zwei Drittel der Befragten stimmen der
Chancengleichheit für EU-Ausländer zu. Zugleich billigen sich die Deutschen
zwar durchschnittlich höhere Rechte zu, als sie dies den EU-Ausländern gegen-
über tun; die Zustimmungsdifferenz fällt aber mit rund sechs Prozentpunkten
relativ gering aus. Die Korrelation zwischen beiden Fragen beträgt .83 (signifi-
kant auf dem 1% Niveau). Die Vorstellung einer europäischen Gleichheit ist
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 119
Auch hier wurde die Frageformulierung mehrfach variiert, indem wir nicht nur
nach ausländischen EU-Bürgern im Allgemeinen, sondern nach den Zugangs-
chancen zu Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus Frankreich, aus Polen und aus
der Türkei gefragt haben. Die beiden Zustimmungs- und Ablehnungskategorien
wurden für die folgenden Analysen wiederum zusammengefasst.
120 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
Zustimmung in % N
Anspruch auf Sozialleistungen von EU-Bürgern in Deutschland 81,6 795
Anspruch auf Sozialleistungen von Franzosen in Deutschland 83,0 811
Anspruch auf Sozialleistungen von Polen in Deutschland 81,1 795
Anspruch auf Sozialleistungen von Türken in Deutschland 80,1 778
Über 80% der Befragten unterstützen die Idee, dass EU-Ausländer in Deutsch-
land die gleichen Rechte auf Sozialleistungen haben wie Deutsche. Das ist eine
enorm hohe Quote und spricht für die These, dass der nationale Partikularismus
im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten zum Sozialstaat aufgebrochen und
europäisiert wurde. Die Akzeptanzquote übertrifft zudem deutlich die des freien
Zugangs zu den Arbeitsmärkten. Weiterhin zeigt sich, dass die Bürger kaum zwi-
schen den verschiedenen Ausländergruppen unterscheiden. Die Zustimmungsra-
ten für Franzosen, Polen und Türken liegen sehr nahe bei einander. Wenn es um
den Zugang zu Sozialleistungen geht, machen die Bürger offensichtlich keinen
Unterschied nach dem Wohlstandsniveau des Landes, aus dem die Menschen
kommen. Dies deutet darauf hin, dass es sich um eine nicht nur europäisierte,
sondern um eine universalisierte Norm handelt.
Tabelle 3: Einstellung zur Gleichheit von Polen und Deutschen auf dem
Arbeitsmarkt und deren Einfluss auf die Auswahl einer Firma
(relative Häufigkeiten in %)
Wie die zweite Spalte in Tabelle 3 zeigt, würden drei Viertel aller Befragten eine
deutsche Firma bevorzugen. Nur knapp ein Viertel sagt, dass es egal sei, welche
der beiden Firmen die Reparatur übernimmt. Diese Befragten machen also kei-
nen Unterschied zwischen einer deutschen und einer polnischen Firma. Bedenkt
man, dass sich 64% der Befragten für eine Gleichheit von Polen und Deutschen
auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgesprochen haben (siehe Tabelle 1), dann
fällt der Unterschied zwischen der Werteeinstellung einerseits und der (simulier-
ten) Handlung der Befragten doch sehr deutlich aus. Auch wenn sich die Bürger
mehrheitlich für einen gleichen Zugang der EU-Ausländer zum deutschen Ar-
beitsmarkt aussprechen, heißt dies offenbar noch lange nicht, dass sie deutsche
und polnische Dienstleister gleich behandeln würden. Die Gründe dafür können
vielfältig sein. Wir haben versucht, durch die Frageformulierung zu suggerieren,
dass beide Firmen in ihrer Leistung gleich gut sind, so dass die Präferenz für die
deutsche Firma nicht auf antizipierbare Qualitätsunterschiede zurückzuführen ist.
Insofern vermuten wir, dass kulturelle Vorurteile den Ausschlag geben für die
Präferenz für die deutsche Firma.
Zugleich zeigt die Tabelle 3 aber auch, dass sich die generalisierten Werte
durchaus auf die Handlungen der Akteure auswirken können. Wir haben die
Einstellungen zu einem gleichberechtigten Zugang für Polen zum deutschen
Arbeitsmarkt mit den Antworten zur Auswahl der Handwerkerfirma kreuztabel-
liert. Den Spalten 3 und 4 der Tabelle 3 ist zu entnehmen, dass unter denjenigen
Befragten, die auf der generalisierten Ebene für eine europäische Gleichheit auf
dem Arbeitsmarkt plädieren, sich doppelt so viele Personen befinden, denen es
egal ist, ob sie eine deutsche oder polnische Firma beauftragen (knapp 30 gegen-
über 14%). Insofern gilt zwar, dass abstrakte Werte und konkrete Handlungsent-
scheidungen voneinander entkoppelt sein können, die Überzeugungssysteme
sind aber nicht völlig folgenlos für die Strukturierung von Handlungsentschei-
dungen.
Wir haben nun im nächsten Schritt versucht, die Kosten der Handlungsent-
scheidung zu variieren. Wie vor allem Studien im Kontext der so genannten
„Low Cost“-These gezeigt haben (vgl. Diekmann, Preisendörfer 2003), hängt die
Handlungsrelevanz der Wertorientierungen entscheidend von den Kosten der
Wertbefolgung ab. Je höher die Kosten der Befolgung der eigenen Wertorientie-
rungen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Werte wirklich
handlungsrelevant werden. Die Kosten wurden in der Befragungssituation drei-
fach verändert, indem die Preise für die Reparatur der Waschmaschine der polni-
schen Firma verändert wurden. Neben der bereits zitierten Frage, in der die Kos-
ten für die Reparatur der Waschmaschine bei der deutschen und polnischen Fir-
ma gleich waren, wurden in zwei weiteren Entscheidungssituationen verschiede-
ne Preisdifferenzen simuliert:
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 123
„Nehmen wir jetzt einmal an, die polnische Firma ist für die gleiche Leistung 20 Euro preis-
günstiger als die deutsche Firma. Die Qualität der Leistung und die Zuverlässigkeit sind bei
beiden Firmen wieder absolut gleich. Wie würden Sie sich nun entscheiden?“
„Wir wollen Sie noch nach einer dritten Möglichkeit fragen: Nehmen Sie an, dass die polni-
sche Firma für die gleiche Leistung nur die Hälfte des Preises verlangt wie die deutsche Firma,
also 100 Euro weniger. Wenn Qualität und Zuverlässigkeit wieder absolut gleich sind: Welche
Firma würden Sie jetzt beauftragen?“
Deutsche
74,2 62,4 31,1
Firma
Egal 24,1 12,8 7,4
Polnische
1,7 24,8 61,5
Firma
N 1.053 1.046 1.034
Cramers V .199 .181 .159
Die Kosten einer Reparatur schlagen aber offenbar nicht für alle Befragten glei-
chermaßen zu Buche. Dies wird deutlich, wenn man die Befragten danach ein-
teilt, ob sie sich bei der oben erläuterten Frage für oder gegen die europäisierte
Freizügigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt aussprechen.
Tabelle 5 zeigt, dass die Befragten umso eher bereit sind, für ihre generalisierte
Wertorientierung in der konkreten Entscheidungssituation die Kosten zu über-
nehmen, wenn sie sich auf der Ebene der generalisierten Wertorientierungen
gegen die europäische Gleichheitsidee aussprechen. Allerdings entscheidet sich
auch die Mehrheit der Gegner der europäischen Chancengleichheit für die polni-
sche Firma, wenn der Preisunterschied zwischen den Firmen 50% beträgt.
Die Antwortalternativen waren „Stimme voll zu“, „Stimme eher zu“, „Lehne
eher ab“ und „Lehne voll ab“. Wir haben die beiden Zustimmungs- und Ableh-
nungseinstellungen für die Analyse wieder zusammengefasst.
Wir hatten weiter oben (vgl. Tabelle 2) gesehen, dass 81,6% der Befragten
der Ansicht sind, dass Menschen aus dem europäischen Ausland die gleichen
Rechte auf Sozialleistungen haben sollen wie deutsche Bürger. Die Unterstüt-
zungsrate für diesen Gleichheitsgrundsatz sinkt auf 66,2%, wenn der Zugang zu
den Sozialleistungen mit Kosten verbunden ist, in diesem Fall mit einer Redukti-
on von 20 Euro für alle Anspruchsberechtigten (vgl. Spalte 2 in Tabelle 6). Die
Zustimmungsraten verringern sich nochmals um gut 18 Prozentpunkte und sin-
ken auf 48%, wenn die Erweiterung des Kreises der Zugangsberechtigten zu
einer Absenkung des Kindergeldes um 100 Euro führen würde.
126 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
Ähnlich wie bei dem oben diskutierten Waschmaschinenszenario, mit dem wir
die Kosten für den Bereich des Arbeitsmarktes simuliert haben, gilt auch für den
Bereich der Sozialleistungen, dass die abstrakte Unterstützung der Idee einer
europäischen Gleichheit beziehungsweise die Bevorzugung der Mitbürger eige-
Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 127
ner Nationalität „käuflich“ ist. Wenn die Befragten antizipieren, dass ihre Wert-
entscheidung mit konkreten Folgekosten verbunden ist, dann weichen sie von
ihrer Grundüberzeugung ab. Diese Abweichung ist aber begrenzt. Immerhin blei-
ben 48% der Befragten, die eine Reduktion des Kindergeldes akzeptieren wür-
den. Und dem Waschmaschinenbeispiel vergleichbar zeigt sich auch hier, dass
die Ausrichtung der generalisierten Werteinstellung Einfluss auf die Bereitschaft
hat, die Kosten für die eigene Wertorientierung zu übernehmen. In den Spalten 3
und 4 der Tabelle 6 haben wir die Einstellung zum gleichen Zugang zu Sozial-
leistungen für alle Europäer mit der Bereitschaft kreuztabelliert, auch die Kosten
für diese Einstellung zu übernehmen. Diejenigen, die sich auf der generalisierten
Werteebene für den gleichen Zugang von Deutschen und Europäern zu sozialen
Leistungen aussprechen, sind auch häufiger bereit, die Kosten für diese Werte-
festlegung in Form einer Reduktion des Kindergeldes zu tragen, als diejenigen,
die den Europäern keinen Zugang zu den nationalen Sozialleistungen zubilligen.
Auch hier gilt der Befund, den wir bereits oben konstatiert haben. Die Werte-
orientierungen der Menschen sind in gewisser Weise käuflich, sie sind dies aber
nur in einem begrenzten Maße. Auf eine Unstimmigkeit unserer Analyse muss
allerdings hingewiesen werden. Leider enthält der Datensatz keine Informationen
darüber, ob die Befragten selbst Kinder haben bzw. Kindergeld beziehen oder
nicht. Geht man davon aus, dass die möglichen Kosten einen Einfluss auf die
Werthaltung der Menschen haben, dann müssten Personen, die selbst Kinder
haben und Kindergeld beziehen, sich eher gegen einen Zugang zum Kindergeld
für EU-Bürger aussprechen, wenn damit eine Reduktion des Kindergelds insge-
samt verbunden ist, als Personen, die keine Kinder haben. Da wir dies mit unse-
ren Daten nicht prüfen können, kann es sein, dass die Zustimmungsraten in der
Tabelle 6 zu hoch ausfallen.3 Eine Überschätzung der absoluten Werte ändert
aber nichts an dem sich aus der Analyse ergebenden Zusammenhang zwischen
den generalisierten Werthaltungen einerseits und den Kosten einer Handlungssi-
tuation andererseits.
Bilanz
Der europäische Einigungsprozess hat die Gesellschaften der Mitgliedsländer der
EU tiefgreifend verändert (Lepsius 1990; Münch 1993; 2000; Flora 2000; Del-
hey 2003; Kaelble 2007; Mau 2006; 2007; Immerfall 2006; Heidenreich 2006;
Vobruba 2005). Die Herstellung des europäischen Binnenmarkts sowie die damit
verbundene Freizügigkeit für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte
hat grenzüberschreitende Wirtschaftsprozesse befördert und entscheidend das
3 Die Größe des Haushalts wurde in der Untersuchung erhoben. Diese hat keinen statistisch
signifikanten Einfluss auf die Gleichheitseinstellungen.
128 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
Firma zu erteilen, entscheidet sich die große Mehrheit für die deutsche Firma.
Liegt das Angebot der polnischen Firma aber preislich deutlich unter dem der
deutschen Firma, entscheidet sich die Mehrheit der Befragten für das Angebot
des polnischen Dienstleisters. Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich die
deutsche Bevölkerung in hohem Maße für Chancengleichheit von ausländischen
Arbeitnehmern und Dienstleistungsunternehmen auf den inländischen Märkten
ausspricht, diese Dienstleistungen aber nur in Anspruch nehmen würde, wenn
die ausländischen Anbieter wesentlich preiswerter sind als die deutsche Konkur-
renz. Zugleich zeigte sich, dass diejenigen, die der europäischen Gleichheit gene-
rell zustimmen, auch häufiger bereit sind, den Auftrag an die polnische Firma zu
vergeben.
Ähnlich ist die Situation im Hinblick auf den Zugang zu sozialen Siche-
rungsleistungen. Diejenigen, die sich auf der Ebene generalisierter Werte für den
gleichen Zugang von Deutschen und Europäern zu sozialen Leistungen ausspre-
chen, sind auch häufiger bereit, die Kosten für diese Wertfestlegung in Form
einer Reduktion von Sozialleistungen zu tragen, als diejenigen, die den Euro-
päern keinen Zugang zu den nationalen Sozialleistungen zubilligen. Zwar gilt
auch hier, dass die generalisierten Werte bei steigenden Kosten an Handlungsre-
levanz verlieren. Dennoch sind immer noch fast 50% der Befragten bereit, eine
radikale Kürzung der Sozialleistungen zugunsten der EU-Ausländer zu akzeptie-
ren.
In der Summe weisen unsere Befunde auf eine relativ hohe Zustimmung
zum Konzept der europäisierten Sicherheit in der deutschen Bevölkerung hin
und zwar auch dann, wenn die Europäisierung den Inländern Nachteile in Form
von verringerten Arbeitsmarktchancen oder gekürzten Sozialleistungen bringen
würde. Angesichts der in den letzten Jahren zahlreich gewordenen Krisener-
scheinungen des europäischen Integrationsprozesses ist dies sicherlich kein
schlechtes Zeichen für die Zukunft der europäisierten Chancengleichheit. Ob
dieses Ergebnis allerdings auch für die anderen Länder Europas gilt, können wir
mit den von uns erhobenen Daten leider nicht sagen.
130 Jürgen Gerhards, Holger Lengfeld
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Von der nationalen zur europäischen sozialen Sicherheit? 133
Einleitung
War in den 1970er Jahren die Rede vom Ende des ‚Keynesianischen Kompro-
misses‘ infolge der politischen Zeitenwende zugunsten eines marktradikalen
Liberalismus, so waren die 1980er und noch mehr die 1990er Jahre von der Rede
des Absterbens des Sozialstaates infolge der ungebremsten Macht ökonomischer
Globalisierung geprägt. Das Argument, demzufolge die hohe grenzüberschrei-
tende Mobilität des Faktors Kapital die traditionellen westeuropäischen Formen
von Sozialstaatlichkeit durch Produktionsverlagerung und Währungsdestabilisie-
rung in Frage stelle, wurde bezeichnenderweise von rechts als Warnung und
Aufforderung zu einem radikalen retrenchment des Sozialstaates (Sinn 2002)
und von links als systematische Bedrohung von sozialen Rechten der arbeitenden
Bevölkerung gebrandmarkt (Altvater, Mahnkopf 2004). Gegenüber den lauten
Tönen dieser Literatur blieben die enger auf den Zusammenhang von Sozialstaat
und Globalisierung fokussierten Untersuchungen vergleichsweise kühl oder
jedenfalls reserviert. So vermerkte beispielsweise Genschel (2004: 633), dass das
simple Faktum beschleunigter ökonomischer Globalisierung nicht mit einer
Abwärtskonvergenz sozialstaatlicher Formen verwechselt werden sollte; freilich
weist er mit Recht auch darauf hin, dass die nach wie vor vorfindbare Existenz
und teilweise sogar der quantitative Ausbau von Sozialstaatlichkeit nicht bedeu-
te, dass ökonomische Globalisierung keine (negativen) Auswirkungen auf Sozi-
alstaaten zeitige. Diese ambivalente und vorsichtig abwägende, auf empirische
und analytische Zusammenhänge bauende Einsicht durchzieht auch die Analysen
des Sozialstaates und nationaler Lohnregimes, wie sie in den letzten Jahren von
Ganßmann vorgelegt wurden (vgl. Ganßmann, Haas 1999; Ganßmann 2000).
Mein Beitrag nimmt diese in der Fachliteratur heute weithin geteilte Sichtweise
ein Stück weit auf und diskutiert ein Kernstück ökonomischer Globalisierung,
den Prozess der Financialization, und dessen Implikationen für die Einkom-
mensverteilung. Dabei geht es mir nicht um die technischen Details oder die
makroökonomischen Implikationen der Financialization als vielmehr um den
134 Kurt Hübner
In den 1990er Jahren, so bereits dieser oberflächliche Befund, hat sich eine
Einkommensstrukturdifferenzierung eingestellt, die manche Beobachter von
einer Rückkehr der 1920er Jahre, also einem neuen ‚gilded age‘ sprechen lassen
(Acs, Dana 2001). Die 1990er und 1920er Jahre teilen in der Tat eine Gemein-
samkeit, die eine solche These berechtigt sein lässt: Beide Perioden sind durch
ausgeprägte Innovationsaktivitäten und damit durch die Existenz enormer tech-
nologischer Renten gekennzeichnet. Es ist aus wirtschaftstheoretischer Sicht
keineswegs überraschend, dass die Aneignung solcher Renten mit Einkommens-
ungleichheiten einhergeht, ja diese gleichsam auf natürliche Weise generiert
werden, wenn einzelne Unternehmen oder Innovatoren mit Neuerungen vorpre-
schen. Derartige Ungleichverteilungen sollten politisch-normativ eigentlich kei-
nen Grund zur Unruhe darstellen, sind sie doch, wenn die These richtig sein
sollte, marktendogen und werden, genügend Wettbewerb vorausgesetzt, durch
imitatorische Praktiken im Zeitablauf abgebaut. Markttheoretisch lässt sich er-
warten, dass im Zuge der ,Normalisierung‘ von Innovationsprozessen nicht nur
technologische Renten, sondern auch dadurch ausgelöste einkommensmäßige
Ungleichverteilungen gleichsam automatisch korrigiert werden. Empirische
Untersuchungen zeigen, dass im Zuge innovatorischer Prozesse und des dadurch
ausgelösten sektoralen Strukturwandels ein skill-biased technischer Fortschritt
dominiert, der dann wiederum Einkommensverteilungseffekte zeitigt. Dieser
Effekt kann in der Regel die Verschiebungen in der Verteilung besser erklären
als die Variable ,Globalisierung‘ respektive internationaler Handel (Hornstein et
al. 2005)3.
Ausgeblendet wird in den meisten Untersuchungen allerdings der Umstand,
dass Innovationen in einen Finanznexus eingebettet sind, der überhaupt erst
technische Renten und skill premiums erlaubt, aber auch das Potential in sich
birgt, die Einkommenseffekte auf Dauer zu stellen. Ich werde im Weiteren zu
zeigen versuchen, dass der spezifische Finanznexus zu einem gesellschaftspoliti-
schen Klima beigetragen hat, das die zunehmenden Einkommensungleichvertei-
lungen als gleichsam ‚gerecht‘ und ‚notwendig‘ darstellt und akzeptabel macht.
Makroökonomisch hat dieser Finanznexus freilich eine Dimension von Instabili-
tät zur Folge, die unter bestimmten Bedingungen Innovations- wie überhaupt
ökonomische Wachstumsfaktoren zu unterminieren droht. Diese Instabilität kann
dann, sollten sich fundamentale ökonomische Krisen einstellen, die neu etablier-
ten Gerechtigkeitsnormen in Frage stellen.
Der konkrete Finanznexus des letzten Innovationszyklus lässt sich ange-
messen als financialization beschreiben, also als ein Vorgang, bei dem die natio-
nalen und internationalen Finanzmärkte die Führungsrolle im Akkumulationsge-
3 Jaumotte et al. (2008) zeigten jüngst, dass ein hoher Grad finanzwirtschaftlicher Offenheit die
Ungleichverteilung verstärkt.
136 Kurt Hübner
4 Bei strukturierten Finanzprodukten handelt es sich um die Kombination von zwei oder mehre-
ren Finanzinstrumenten, wobei eines der Elemente ein Derivat darstellt. Entstanden sind sie als
ein Instrument zur Risikominimierung durch Bündelung verschiedener gegenläufiger Risiken.
Freilich stellte sich heraus, dass diese Instrumente wegen ihres opaken Charakters sensibler
auf ‚Störungen’ reagieren und im Falle von auflaufenden Verlusten eine große Zahl von
Marktagenten betreffen (Borio 2008).
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 137
ten, und wurden dafür auf der einen Seite mit einem Anstieg der Reallöhne und
auf der anderen Seite mit einer sozialstaatlichen Dekommodifizierung der Ar-
beitskraft entlohnt. Integraler Bestandteil dieses Kontraktes war die Vorstellung
einer als gerecht empfundenen und akzeptierten Ungleichverteilung der Ein-
kommen. Demgegenüber gab es einen derartigen Sozialkontrakt und organisier-
ten Interessenausgleich in den USA nie. Die Einkommensungleichheit hat zwar
auch dort, nicht zuletzt dank kampfstarker Gewerkschaften, in den 1950-1970er
Jahren leicht abgenommen, war aber auch während des golden age des Nach-
kriegskapitalismus ausgeprägter als im westlichen Kontinentaleuropa. Einkom-
mensungleichheit wurde und wird in Nordamerika weniger als Problem als viel-
mehr als ein legitimer (und attraktiver) Anreiz für die weniger Gutbestellten
gesehen, ihre Leistungen zu erhöhen und auf diese Weise in die Gruppe der
Bessergestellten aufzusteigen. Der ,amerikanische Traum‘ erwies sich als die
nachhaltige legitimatorische Basis, die auch während der langen Phase der Zu-
nahme der Einkommensungleichverteilung das systemische Gleichgewicht in
den USA sicherte.
kannt ist7. Ich sehe in diesem Prozess den eigentlichen Motor der Umdeutung
des Sozialkontraktes in der Mehrzahl der OECD-Ländern. Es ist bekannt, dass in
den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sich die Entkoppelung der Spitzengehälter
von den Durchschnittseinkommen in den westlichen Gesellschaften stark be-
schleunigt hat. Dieser Vorgang hat zwar immer wieder Unmut erzeugt, dies
wurde aber im Wesentlichen als Ausdruck von Einkommensneid gedeutet, und
zeitigte entsprechend wenig gesellschaftspolitische Relevanz: Über die Acker-
männer wurde gesprochen, aber sie wurden zur gleichen Zeit als erfolgreiche
,Macher‘ gesehen, ohne die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit nicht sicherge-
stellt werden könne.8
Die Einkommen von Chief Executive Officers (CEOs) der im Standard &
Poor’s gelisteten 500 größten US-amerikanischen Unternehmen sind zwischen
1980 und 2000 steil angestiegen.9 Vergleicht man die Einkommen der CEOs mit
den durchschnittlichen Lohneinkommen der Beschäftigten dieser Unternehmen,
dann stieg der Quotient von 42 im Jahr 1980 über 102 im Jahr 1990 bis auf 525
im Jahr 2000. Seitdem ist zwar ein Rückgang zu beobachten, doch betragen die
CEO-Einkommen noch immer das 425fache des durchschnittlichen Lohnein-
kommens eines Arbeiters.10 Die Medianentlohnung für Spitzenmanager11 ist
nach Jahren von Zuwächsen, die in Einklang mit der allgemeinen Einkommens-
entwicklung lagen, in den 1990er Jahren geradezu explodiert und bewegte sich
im Jahr 2000 auf einem Durchschnittsniveau von 4,6 Millionen US-Dollar. Die
Managerentlohnung fiel in vielen New Economy-Companies in dieser Phase
noch weit höher aus – Bill Gates von Microsoft stellt nur die Spitze des Eisber-
ges dar. Definiert man, adäquaterweise, die Spitzeneinkommen von CEOs als
Summe aus Gehalt, Bonuszahlungen, langfristigen Anreizzahlungen, Aktienop-
tionen und ähnlichen Gratifikationen, fallen die durchschnittlichen Entlohnungen
noch drastischer aus. Für die 500 Unternehmen des S&P-Index stieg die CEO-
Entlohnung von 3,7 Millionen US-Dollar (2002-Dollarwerte) im Jahr 1993 auf
einen Spitzenwert von 17,4 Millionen US-Dollar im Jahr 2000. Bis zum Jahr
2003 ist ein Rückgang auf 9,1 Millionen US-Dollar zu beobachten, der anekdoti-
7 Der Vergleich mit dem ,Nachbarn’ wird diesem Theorem zufolge als treibendes Motiv für
Konsumentscheidungen gesehen. Eine Variante dieser Aufwärtsorientierung sehe ich auch im
Bereich der Einkommensnormen am Werke.
8 Besonders deutlich wird diese Ambivalenz bei Wendelin Wiedeking, CEO von Porsche,
dessen enorm hohes Einkommen selbst vom IG Metall-Betriebsratsvorsitzenden als angemes-
sen bezeichnet wird.
9 Empirische Daten nach Bebchuk, Grinstein (2005).
10 Diese Daten stammen vom Institute for Policy Studies, das seit den 1990er Jahren einen
jährlichen Überblick über die CEO-Einkommen veröffentlicht.
11 Für diesen Zweck definiert als die drei am höchsten bezahlten Angestellten jener Unterneh-
men, die in den 1940er, 1960er und 1990er Jahren zu den 50 größten Unternehmen der USA
zählten.
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 141
schen Angaben zufolge aber seitdem zum Halt beziehungsweise zur Umkehr
gekommen ist (Bebchuk, Grinstein 2005).12 Alle Anzeichen sprechen dafür, dass
eine Rückkehr zur historischen ‚Normalität‘ nur zu erwarten ist,13 wenn die öko-
nomische Grundlage dieser neuen Form von Ungleichheit, die financialization,
in einem ‚Platzen der Blase‘ mündet, und es zu negativen makroökonomischen
Effekten kommt, die dann wiederum eine Politisierung der Einkommensvertei-
lung antreibt.14
Was für den Normalbürger moralisch schwer auszuhalten sein mag, ist für
einen theoretischen Ökonomen nicht unbedingt ein Problem. Neoklassisch aus-
gebildete Ökonomen wissen, dass die Entlohnung sich nach der Grenzprodukti-
vität der Anstrengung bemisst. Hohe Entlohnungen drücken so gesehen allein
überdurchschnittliche Anstrengungen ökonomischer Akteure aus. Diese über-
durchschnittlichen Anstrengungen wiederum reflektieren überdurchschnittliche
Bildungsinvestitionen, die sich entlohnungsmäßig auszahlen. Es ist bekannt, dass
die Lebenseinkommen von Arbeitskräften mit höherer Schulbildung höher aus-
fallen als die von Arbeitskräften mit unterdurchschnittlicher Bildung. Hohe Ent-
lohnungen können aber auch das Ergebnis knapper und stark nachgefragter Bil-
dungsqualifikationen sein. So kann man beispielsweise die Einkommen von
Tennisspielern wie Roger Federer oder Golfern wie Tiger Woods erklären, ver-
fügen beide doch über seltene und hochgradig überdurchschnittliche sowie nach-
gefragte Fähigkeiten, die es erlauben, nach dem Knappheitskriterium entlohnt zu
werden.
Übertragen auf die CEO-Entlohnung würde dies bedeuten, dass die über-
durchschnittlich hohen Zuwachsraten das Ergebnis überdurchschnittlich hoher
Leistungen beziehungsweise einer relativen Verknappung von Managementqua-
lifikationen sind. Das Problem ist, dass sich ein solcher Zusammenhang empi-
risch nicht belegen lässt. Abseits der immer wieder zu machenden Beobachtung,
dass Firmen wenig Sensibilität zeigen, wenn zeitgleich oder in kurzer Folge
Meldungen über Steigerungen der CEO-Gehälter und notwendige Einsparmaß-
nahmen auf Seiten der Belegschaften öffentlich gemacht werden, zeigen sorgfäl-
tige Untersuchungen, dass in der Tat kein systematischer Zusammenhang zwi-
schen Spitzenentlohnung und ökonomischem Wertzuwachs der Unternehmen
besteht. Die ausgeprägte ‚Kultur‘ von golden parachutes auf Seiten dieser Klien-
tel dementiert auch das Argument, CEOs müssten solche Gehälter beziehen, weil
12 Ich beschränke mich hier auf die USA. Die Zahlen für kontinentaleuropäische Länder fallen
niedriger aus, doch ist der Trend identisch.
13 Frydman, Saks (2005) geben einen hilfreichen Überblick über die CEO-Entlohnung seit Mitte
der 1930er Jahre.
14 Diese Bedingung ist wichtig, hat doch die letzte geplatzte Blase, die New Economy (siehe
Hübner 2006b), am Trend zur Ungleichverteilung der Einkommen nichts geändert.
142 Kurt Hübner
15 Ich hörte Mitte der 1990er Jahre erstmals aus dem Mund eines US-amerikanischen Deutsch-
landexperten, dass es den Deutschen an einer adäquaten Aktienkultur mangele. Die Verbin-
dung der Worte ,Aktie‘ und ,Kultur‘ war damals für mich schockierend, indiziert aber nur den
hegemonialen Diskurs der Zeit.
144 Kurt Hübner
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Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 147
III. Transnationalisierungsprozesse
Sozialer Kontrakt, Financialization und Ungleichheitsnormen 149
Einleitung
Der deutsche Wohlfahrtsstaat steht in seinem Kernbereich der sozialen Siche-
rung mittels Sozialversicherungen insbesondere vor drei großen Herausforderun-
gen:
Finanzierungsprobleme durch eine ungünstige Entwicklung der Relation
von Beitrags- und Ausgabenvolumen,
Sicherungsprobleme durch eine wachsende Zahl von Personen, die in Le-
bensverläufen und Erwerbsformen nicht mehr den Normvorstellungen der
Sozialversicherungen entsprechen und daher keine ihren Lebensunterhalt
deckenden Ansprüche erreichen können,
Souveränitätsprobleme durch ein zunehmendes Unvermögen des nationalen
Wohlfahrtsstaates, die Leistungsträger und die Gruppe der Leistungsberech-
tigten zu kontrollieren.
Diese Herausforderungen sind zwar alles andere als neu1 und stellen sich in
Teilen oder insgesamt auch anderen Wohlfahrtsstaaten. Das deutsche Modell des
„lohnarbeitszentrierten“ (Vobruba 1990; Bleses, Vobruba 2001) „Sozialversiche-
rungsstaates“ (Riedmüller, Olk 1994) gilt aber infolge seiner Gestaltungsprinzi-
pien als besonders krisenanfällig – vor allem was die Herausforderungen durch
Sicherungs- und Finanzierungsprobleme anbelangt.
Dem Sozialversicherungsstaat wurde in den Sozialwissenschaften lange
Zeit eine weitreichende „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2004: 10) und mangelhafte
2 Auch in der Krankenversicherung findet sich das Element der Mitversicherung von (nicht oder
nur geringfügig erwerbstätigen) Ehepartnern und Kindern.
3 Zum sich gegenseitig ergänzenden Verhältnis von Normalarbeitsverhältnis und Normalfamilie
vgl. zum Beispiel Bleses, Rose 1998a; Bleses, Seeleib-Kaiser 2004; 1999; Hinrichs 1996; Les-
senich 1996.
152 Peter Bleses
Finanzierungsprobleme
Zu Finanzierungsproblemen kommt es im lohnarbeitszentrierten Sozialversiche-
rungsstaat vor allem dann, wenn die Beitragszahlungen nicht mehr ausreichen,
um die Leistungsansprüche zu befriedigen. Das kann verschiedene Gründe ha-
ben: In Deutschland sind hohe Arbeitslosigkeit, Wandel der Erwerbsformen und
demographische Veränderungen die wichtigsten Faktoren.
Über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland müssen nicht
mehr viele Worte verloren werden. Bis jüngst war seit mehr als drei Jahrzehnten
von Wirtschaftskrise zu Wirtschaftskrise ihr stufenförmiger Anstieg zu beobach-
ten. Zwischenzeitlich sank die Arbeitslosigkeit zwar immer wieder ein wenig ab,
erreichte aber nicht mehr das jeweilige Niveau vor der Krise: Mitte der 1970er
Jahre stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt schnell
über die Millionengrenze, zu Beginn der 1980er Jahre wurde die Zweimillionen-
154 Peter Bleses
grenze genommen, Mitte der 1990er Jahre im vereinten Deutschland zuerst die
Dreimillionengrenze und kurz darauf die Viermillionengrenze, 2005 wurde die
Fünfmillionengrenze nur knapp verfehlt. Seitdem sank die Zahl der Arbeitslosen
– im Vergleich der vergangenen Jahrzehnte – sehr schnell. Im Jahre 2007 betrug
der Jahresdurchschnitt knapp 3,8 Millionen und damit über eine Millionen Ar-
beitslose weniger als noch zwei Jahre zuvor. Im Jahre 2008 lag der Jahresdurch-
schnitt deutlich unter dreieinhalb Millionen. 4 Das ist sicher ein Erfolg. Aber er
sollte nicht überbewertet werden. Zum einen bleibt der Durchschnitt über drei
Millionen. Zum anderen zeigt sich im Zuge der Finanzkrise seit Ende 2008 be-
reits eine deutliche Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Damit wird der
Abbau der Arbeitslosigkeit bei mehr als drei Millionen Arbeitslosen zum Still-
stand kommen und mit gewisser zeitlicher Verzögerung von diesem sehr hohen
Sockel erneut ansteigen.
Von hoher Arbeitslosigkeit ist vor allem die Arbeitslosenversicherung be-
troffen. Denn hier schlägt sich Arbeitslosigkeit direkt in höheren Ausgaben und
geringeren Einnahmen nieder. Nicht ganz so unvermittelt, aber immer noch stark
ist auch die Rentenversicherung betroffen, da für Arbeitslose im Arbeitslosen-
geldbezug geringere Beiträge als von Beschäftigten abgeführt werden. Von Ar-
beitslosen ohne Leistungsanspruch werden überhaupt keine Beiträge abgeführt.
Es ist eigentlich bemerkenswert, dass es die Arbeitslosenversicherung angesichts
der auf ihr lastenden Anforderungen bereits mehr als dreißig Jahre geschafft hat,
ihre eigene Existenz zu sichern. Das ging oftmals nicht ohne Zuschüsse aus
Steuergeldern. Es ging aber vor allem nicht ohne Veränderungen des Leistungs-
rechts und der Beitragshöhen. Dazu später mehr. Derzeit steht der Haushalt der
Arbeitslosenversicherung erstens aufgrund der gesunkenen Arbeitslosigkeit und
zweitens aufgrund einer geringen Quote von Beziehern von Arbeitslosengeld I
relativ gut da.
Da der Anspruch auf Arbeitslosengeld I zeitlich eng befristet ist, macht sich
anhaltende Arbeitslosigkeit und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit nach ei-
nem gewissen Zeitraum auch in den nachgelagerten, steuerfinanzierten Siche-
rungsinstitutionen durch einen starken Ausgabenanstieg bemerkbar: früher ins-
besondere in der Sozialhilfe (vorwiegend kommunal finanziert) und der Arbeits-
losenhilfe (Bundesmittel), heute im Arbeitslosengeld II und dem Sozialgeld
(vorwiegend Bundesmittel), die seit 2005 als neue Grundsicherung für Arbeit-
suchende die Sozialhilfe für Erwerbsfähige und die Arbeitslosenhilfe ersetzen.
Ein weiteres großes Finanzierungsproblem für die lohnarbeitszentrierten
Sozialversicherungen stellt der Wandel der Erwerbsformen von vollzeitiger, un-
befristeter und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei einem Arbeit-
4 Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit siehe BMAS 2007, Tab. 2.10 und Bundesagentur für
Arbeit 2008, Tab. 07.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 155
5 Alle Zahlen aus Fachinger 2007: 8ff. Zu den verschiedenen Formen der Alleinselbstständig-
keit vgl. Bleses 2008. Vor allem die Alleinselbstständigkeit im Dienstleistungssektor nimmt
zu, die mit traditionellen Formen der Selbstständigkeit (Ärzte, Anwälte usw.) nur noch wenig
gemein hat und ein hohes Prekaritätspotenzial besitzt.
156 Peter Bleses
beschäftigt waren, von 1995 bis 2006 von 15% auf 22,2%. Das war ein Zuwachs
von 43% in elf Jahren. Die Gesamtzahl der im Niedriglohnsektor Beschäftigten
betrug 2006 ca. 6,5 Millionen (Kalina, Weinkopf 2008: 4).
Die Lücke zwischen Beitrags- und Leistungsvolumen in der Rentenversi-
cherung wird durch die demographische Entwicklung weiter verschärft. Das
Problem ist mittlerweile hinreichend debattiert worden (siehe zum Beispiel
Ganßmann 2000: 132ff.; Marschallek 2004) und muss daher hier nicht erneut mit
Daten veranschaulicht werden (aktuell: Statistisches Bundesamt 2006). Auch
wenn sich nicht verlässlich klären lassen wird, wie groß die Belastungen der
Beitragszahler in den Spitzenzeiten des ‚Rentner-‘‚ oder besser ‚Rentenberges‘
sein werden – sehr viel hängt beispielsweise von der Entwicklung der Erwerbstä-
tigkeit und des Leistungssystems ab – es ist jedenfalls einigermaßen sicher, dass
die finanziellen Aufwendungen hoch sein werden.
Sicherungsprobleme
Die zur finanziellen Stabilisierung der Rentenversicherung und zur Begrenzung
des Beitragssatzes ergriffenen Maßnahmen haben die Lohnersatzrate der Ren-
tenversicherung erheblich abgesenkt. Interessant ist nun vor allem das Zusam-
mentreffen von abgesenktem Sicherungsziel in der Rentenversicherung und der
wachsenden Zahl derer, die – wie oben geschildert – kein Normalarbeitsverhält-
nis mehr erreichen können. Hier treffen dann niedrige Lohnersatzraten mit ge-
ringen Beitragshöhen und kurzen Versicherungszeiten zusammen. Das Ergebnis
kann kein lebensunterhaltssichernder Anspruch mehr sein. Das bedeutet, dass es
noch mehr als in der Vergangenheit zu einer Verschiebung des ursprünglich
angestrebten Sicherungsarrangements kommen wird: Die soziale Absicherung
neben oder anstelle der Sozialversicherungen wird vom Ausnahme- zum Nor-
malfall. Und davon sind – nach wie vor – vor allem Frauen betroffen, denn die
vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Erwerbsformen sind vielfach von
Frauen dominiert (insbesondere die geringfügige und die sozialversicherungs-
pflichtige Teilzeitbeschäftigung). Die Steigerung der Frauenerwerbsquote ergab
sich in großen Teilen aus Nicht-Normalarbeitsverhältnissen.
Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit zeigt das bereits deutlich: Im Rechts-
kreis des SGB III, also der Sozialversicherung mit dem Arbeitslosengeld I als
Hauptleistung, wurden im August 2008 von den knapp 3,2 Millionen Arbeitslo-
sen 965.000 oder 30% betreut; im Rechtskreis des SGB II, also der steuerfinan-
zierten Grundsicherung mit dem Arbeitslosengeld II als Hauptsicherung, wurden
ca. 2,23 Millionen oder 70% betreut (Bundesagentur für Arbeit 2008: 13). Der
Bedeutungsverlust des Arbeitslosengeldes im Vergleich zu den steuerfinanzier-
ten Hilfeleistungen ist ein langfristiger Trend und zeichnete sich schon zu Zeiten
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 157
der Arbeitslosenhilfe ab (vgl. Bleses, Seeleib-Kaiser 2004: 54). Für die aus dem
Arbeitslosengeld I ausgegrenzten Arbeitslosen resultiert daraus ein Absinken
ihrer möglichen Sicherungsansprüche, weil das Arbeitslosengeld II nicht mehr
den Anspruch der Lebensstandardsicherung, sondern nur noch den einer Lebens-
unterhalt sichernden Basisabsicherung hat.
Für die ca. 6,5 Millionen Beschäftigten im Niedriglohnbereich (2006) wer-
den die Sozialversicherungen weder im Alter noch bei Arbeitslosigkeit ausrei-
chende Leistungen bereitstellen, weil die individuelle Beitragsleistung dazu nicht
ausreichen wird. Während das Arbeitslosengeld eine Nettolohnersatzquote von
67% für Arbeitslose mit Kindern und 60% für Arbeitslose ohne Kinder vorsieht,
strebt die Rentenversicherung – 45 Beitragsjahre vorausgesetzt – für das Jahr
2021 ein Versorgungsniveau von 46,1% und für das Jahr 2030 von 43% vor
Steuern an; 2007 lag dieses Niveau noch bei 51% (Rentenversicherungsbericht
2007: 39). Während ein Durchschnittsverdiener heute ca. 28 Beitragsjahre benö-
tigt, um den Grundsicherungsbedarf durch die gesetzliche Rentenversicherung in
Höhe 664 Euro im Monat zu decken, werden es 2030 nach heutigen Werten (also
ohne weitere Niveauabsenkungen) 34 Jahre sein. Bei 75% des Durchschnittsent-
gelts benötigt er heute gut 37 Jahre, 2030 werden es 45 Jahre sein (Steffen
2008b: 3).
Souveränitätsprobleme
Obwohl die Europäische Integration voranschreitet, gibt es nach wie vor keinen
europäischen Wohlfahrtsstaat beziehungsweise keine explizite von der Europä-
ischen Union betriebene Sozialleistungspolitik. Der nationale Wohlfahrtsstaat ist
daher auch in der Europäischen Union noch weitgehend intakt geblieben. Dazu
kommt der überwiegende Wunsch der Bevölkerung der Mitgliedsländer der EU,
Sozialpolitik in nationalstaatlicher Kompetenz zu belassen (vgl. Mau 2003, Eu-
ropäische Kommission 2008: 109). Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass
es sich eher noch um eine intakte nationalstaatliche Hülse des Wohlfahrtsstaates
handelt, die nicht aufgelöst, sondern ausgehöhlt wird. Dazu tragen vor allem die
veränderten, durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) garantierten Wettbe-
werbsregeln und die Mobilität von Personen, Kapital, Arbeit und Dienstleistun-
gen bei.
Das führt zu Veränderungen auf der Einnahmen- wie der Ausgabenseite des
nationalen Wohlfahrtsstaates. Die Einnahmenseite wird vor allem durch die
Mobilität des Kapitals tangiert. Die freie Wahl des Unternehmensstandortes hat
insbesondere die wohlfahrtstaatlich induzierten Lohnnebenkosten (insbesondere
die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge) zum Dauerthema werden lassen. Zu
hohe Lohnnebenkosten – so das Argument – trieben die Unternehmen ins Aus-
158 Peter Bleses
land. Eine Senkung dieser Kosten wird deshalb als unmittelbar wirksam für die
Sicherung von Arbeitsplätzen angesehen, führt aber zu Einnahmeverlusten der
Sozialversicherungen. Die Ausgabenseite wird durch die Rechtsprechung des
EuGH zum Beispiel hinsichtlich der Portabilität von Leistungen beziehungswei-
se Leistungsansprüchen zwischen EU-Staaten beeinflusst.
Der nationale Wohlfahrtsstaat hat sich deshalb immer mehr nach Regeln zu
richten, die er nicht mehr selbst setzen kann. Die zunehmende Europäisierung
schränkt die souveräne Handlungsfähigkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates ein:
Er kann weder die Leistungserbringer noch die Gruppe der Leistungsberechtig-
ten abschließend festlegen; dadurch kommen Probleme der Kontrollierbarkeit
von Ausgaben und Leistungserbringung einerseits und unkalkulierbare finanziel-
le Risiken andererseits auf ihn zu. Der EuGH spielt in dieser Entwicklung auf-
grund seiner rechtsschöpferischen Kraft eine zentrale Rolle als sozialpolitischer
Motor der europäischen Integration – und zwar unabhängig davon, ob er seine
Entscheidungen auf soziale Aspekte oder auf die Freiheit von Wettbewerb,
Dienstleistungen und Arbeitskräften abstellt (vgl. Münch 2008).
An wen richten sich die Herausforderungen durch die europäische Integra-
tion besonders? Die Sozialversicherungen sind vor allem im Bereich der sozialen
Dienstleistungen und der Sachleistungen, speziell im Bereich der Gesetzlichen
Krankenversicherung betroffen. Denn hier sind bereits viele wettbewerbliche
Elemente eingeführt worden, die den EuGH in seiner wettbewerbsbezogenen
Rechtsprechung dazu veranlasst haben und zukünftig noch mehr dazu veranlas-
sen könnten, auch (private) Konkurrenz zu den nationalen Leistungsanbietern
von jenseits der Grenzen zuzulassen. Die gesetzliche Krankenversicherung
müsste dann auch für die (Dienst-)Leistungen dieser Anbieter aufkommen (Mau
2008: 95ff., 104).
Bei der Einkommensersatzfunktion sind die Sozialversicherungen bislang
weniger betroffen, wie eine Reihe von Entscheidungen des EuGH etwa im Be-
reich der Arbeitslosenversicherung gezeigt hat (Mau 2008: 74ff.). Hier gibt es
Probleme eher bei den voraussetzungslosen Grundsicherungsleistungen, die ohne
jede Form der Vorleistungsbindung sind. Der EuGH bezieht sich hier nicht auf
die Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit, sondern strebt explizit sozialpoli-
tische Ziele an, indem er „erstmalig auch die solidarische Verpflichtung der Mit-
gliedstaaten gegenüber allen EU-Bürgern anerkennt“ (Mau 2008: 115). Zwar
darf sich niemand nach Deutschland begeben, nur um Grundsicherungsleistun-
gen zu beanspruchen. Aber bereits nach relativ kurzer Zeit der Erwerbstätigkeit
oder für die Suche nach einer Erwerbstätigkeit steht ein (zumindest dreimonati-
ger) Anspruch zu. Souveränitätsverluste und finanzielle Risiken drohen deshalb
also nicht bei den Einkommensleistungen der Sozialversicherungen, sondern
eher bei den Grundsicherungen.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 159
Arbeitsmarktpolitik
In der Arbeitsmarktpolitik bildet das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969
die Referenzfolie, vor der die späteren Veränderungen gespiegelt werden müs-
sen. Im AFG übernahm der Staat beziehnungsweise die Bundesanstalt für Arbeit
eine weitgehende Verantwortung für die Absicherung Arbeitsloser sowie deren
Reintegration in den Arbeitsmarkt (vgl. Kühl 1982; Bleses, Seeleib-Kaiser 2004;
Bleses, Rose 1998). Hauptinstrumente der Einkommenssicherung bei Arbeitslo-
sigkeit waren das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe. Während das Ar-
beitslosengeld eine rein aus Beiträgen finanzierte Versicherungsleistung war,
stellte die aus dem Bundeshaushalt steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe eine Mi-
schung von Vorleistungsbezug und Bedürftigkeitsabhängigkeit dar: Sie wurde
entweder im Anschluss an das Auslaufen des Arbeitslosengeldes (Anschluss-
Arbeitslosen-hilfe) oder dann gewährt, wenn man die strengeren Voraussetzun-
gen des Arbeitslosengeldes nicht erfüllen konnte (originäre Arbeitslosenhilfe). In
beiden Fällen wurde die Bedürftigkeit geprüft; der Leistungsanspruch richtete
sich aber nicht nach Bedarfskriterien, sondern wurde als Lohnersatzrate am vor-
angegangenen Einkommen bemessen (zur ‚Zwittergestalt‘ der Arbeitslosenhilfe
vgl. Bleses 1994a).
Arbeitslosengeld Arbeitslosenhilfe
1975 68% 58%
68% für Eltern 58% für Eltern
1983
63% für Kinderlose 53% für Kinderlose
67% für Eltern 57% für Eltern
1994
60% für Kinderlose 53% für Kinderlose
Einen erheblichen Einfluss auf das Leistungsniveau der folgenden zwei Jahr-
zehnte hatte das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) aus dem
Jahre 1981 (Seeleib-Kaiser 2001: 134). Das AFKG nahm Einmalzahlungen (wie
Weihnachts- und Urlaubsgeld) und Überstundenentgelte aus der Bemessung des
Leistungsanspruchs heraus, obwohl diese Zahlungen der Beitragspflicht unterla-
gen. Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht diese Praxis als verfassungs-
widrig eingestuft hatte, wurden die Einmalzahlungen ab 2000 (gesetzlich festge-
schrieben seit 2001) bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes wieder berück-
sichtigt. Bei der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe blieben sie weiterhin ohne
Berücksichtigung.
Im Jahre 2005 kam es mit der Einrichtung der Grundsicherung für Arbeit-
suchende zu einer Verschmelzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Be-
reich der Hilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Personen. Für viele Ar-
beitslosenhilfe-Empfänger bedeutete die Einführung der Grundsicherung, die
sich ungefähr auf dem Niveau der vorangegangenen Sozialhilfe bewegte, eine
erhebliche Verschlechterung des vorangegangenen Leistungsniveaus. Für alle
zukünftigen Langzeitarbeitslosen, die aus dem Arbeitslosengeld-Anspruch he-
rausfallen, ergibt sich eine deutliche Einschränkung ihres vorher möglichen
Sicherungsniveaus. Schon die Rücknahme der Lohnersatzraten beim Arbeitslo-
sengeld in den 1980er und 90er Jahren hatte Zweifel am Ziel der Lebensstan-
dardsicherung aufkommen lassen. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende zeigt
jetzt explizit die Orientierung an einer Mindestsicherung.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 161
Adressaten
In der Arbeitslosenversicherung kam es erst jüngst zu einem doppelten Ausbau
des Kreises der einbezogenen Personen: Seit dem 1. Februar 2006 können sich
auch Selbstständige freiwillig in der Arbeitslosenversicherung versichern. Sie
müssen sich allerdings binnen einer Frist von einem Monat nach Gründung der
Selbstständigkeit für die Versicherungspflicht entscheiden. Die Versicherungs-
möglichkeit für Selbstständige ist zunächst bis zum Ende des Jahres 2010 befris-
tet. Die öffentlich wenig beachtete Regelung, die Bestandteil des Dritten Geset-
zes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt war, steht im Zusammenhang
mit der Förderung der so genannten Ich-AG. Das Interessante an der Arbeitslo-
senversicherung für Selbstständige ist die weitgehende Entkopplung von Beitrag
und Leistung. Die Beiträge werden unabhängig vom tatsächlichen Einkommen
nach festen Sätzen erhoben (2008: 20,50 Euro in den alten und 17,32 Euro in den
neuen Bundesländern), die Leistungen hingegen variieren unabhängig vom Bei-
trag nach den Qualifikationsstufen der Selbstständigen: Sie pendeln zwischen ca.
550 Euro in der niedrigsten Stufe bis knapp 1.380 Euro in der höchsten Qualifi-
kationsstufe in den alten Bundesländern.
Auch die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist als eine er-
hebliche Erweiterung des in die Arbeitsförderung einbezogenen Personenkreises
anzusehen. Zwar werden die Leistungsberechtigten nicht in den Bereich der
Arbeitslosenversicherung aufgenommen; für sie stehen aber die Instrumente der
Arbeitsförderung zur Verfügung, und sie sind in den anderen Zweigen der Sozi-
alversicherung versichert. Dies stellt eine bemerkenswerte Verbesserung für alle
jene dar, die zuvor keine Arbeitslosenhilfe, sondern nur Sozialhilfe bezogen
hatten. Die Bezeichnung ‚Grundsicherung für Arbeitsuchende‘ ist allerdings
irreführend, denn sie deutet nur auf einen Teil der einbezogenen Personen hin:
Neben den Arbeitsuchenden werden in die Grundsicherung auch jene einbezo-
gen, die erwerbstätig sind, mit ihren Erwerbseinkommen aber unterhalb der
Bedarfsgrenzen der Grundsicherung liegen.
Sieht man von diesen Erweiterungen des Personenkreises ab, war die Ent-
wicklung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe hinsichtlich der er-
fassten Personen wenig eindeutig: Ausweitungen der Leistungsberechtigungen
standen Einschränkungen gegenüber. Bei der Arbeitslosenhilfe ist vor allem die
im Jahre 2000 umgesetzte Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe zu nen-
nen, die jene aus der Arbeitsförderung in die Sozialhilfe überwies, die die höhe-
ren Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld nicht erfüllten. Beim Arbeitslo-
sengeld haben die zwischen 1985 und 1987 zunächst vorgenommene Auswei-
tung der maximal möglichen Bezugsdauer und deren radikale Kürzung ab dem
Jahre 2004 den einbezogenen Personenkreis jeweils stark verändert. Die 2008
erfolgte erneute Ausdehnung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I (wie die
162 Peter Bleses
* Arbeitslose, die die jeweiligen Altersgrenzen unterschreiten, erhalten weiterhin (wie alle Arbeits-
losen vor 1985) maximal 12 Monate Arbeitslosengeld
zwar mittlerweile ausgelaufen ist, was aber nicht zu einer generellen Einstellung
der Förderung durch Existenzgründerzuschüsse geführt hat.
Verlässt man den engeren Kreis der Arbeitslosenversicherung und erweitert
den Blick auf die gesamte Arbeitsförderung, ist vor allem die Grundsicherung
für Arbeitsuchende ein Beispiel für die Lösung von ehemaligen Vorstellungen
sozialversicherungszentrierter Absicherung. Die Grundsicherung für Arbeitsu-
chende ist – wie die oben genannten Zahlen belegen – zu einem der Hauptin-
strumente der Arbeitsförderung und der Absicherung bei Arbeitslosigkeit ge-
worden. Zudem unterstützt sie Erwerbstätige unabhängig davon, in welcher
Erwerbsform sie tätig sind. Beides zeigt, dass sich die Arbeitsmarktpolitik von
den Charakteristika eines lohnarbeitszentrierten Sozialversicherungsstaates in
weiten Teilen verabschiedet hat.
Rentenpolitik
Mit den Rentenreformen 1957 waren in der Gesetzlichen Rentenversicherung ein
ausgabenintensiver Expansionskurs und ebenso ein Orientierungsstandard be-
züglich ihres Sicherungsziels definiert worden: Die Anpassung der Rentenhöhen
richtete sich seit 1957 nach der Entwicklung der Bruttolöhne in den vorangegan-
genen (drei) Jahren. Das bedeutete, dass sich die Anpassung in der plötzlich
einsetzenden wirtschaftlichen Krise ab 1972/73 nicht an den aktuellen Reallöh-
nen orientierte, sondern an den hohen Steigerungsraten der Bruttolöhne vor der
Krise. Das Ziel der Gesetzlichen Rentenversicherung lautete: Lebensstandardsi-
cherung unter dynamischer Berücksichtigung der Steigerung des Lebensstan-
dards der Versicherten.
Sicherungsziel
Die Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung ist seit Ende der 1970er
Jahre dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber immer wieder versucht hat,
die Anpassung der Renten an die Entwicklung der Einkommen der Versicherten
zu unterlaufen. Seit Ende der 1980er Jahre steht auch ihr Sicherungsziel ständig
zur Debatte und ist vor allem in jüngster Zeit erheblich eingeschränkt worden.
Die gesetzlichen Eingriffe sind so zahlreich, dass hier nur wenige angesprochen
werden können.
Bereits die sozialliberale Koalitionsregierung verschob und deckelte die
Rentenanpassungen verschiedentlich zwischen 1977 und 1979 um zu verhindern,
dass sich die Rente dem starken Anstieg der Bruttolöhne entsprechend entwi-
ckelte (Nullmeier, Rüb 1993: 125). Die christlich-liberale Koalition führte dann
diese Maßnahmen 1983 und 1984 fort. Seit 1984 wurde nur noch die Entwick-
164 Peter Bleses
7 Vgl. eingehend zur Rentenreform 1992 und der ihr vorausgehenden politischen Debatte Null-
meier, Rüb (1993).
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 165
Adressaten
1972 wurde die gesetzliche Rentenversicherung für neue Personengruppen
(Hausfrauen und einige Selbstständige, die bereits zuvor als Beschäftigte in der
Gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren) geöffnet. 1986 wurde das
Prinzip der Lohnarbeitszentriertheit der Rente mit der Anerkennung von Kinder-
erziehung als rentenbegründende Zeiten erstmalig systematisch durchbrochen
(Götting 1992). Diese Zeiten wurden anschließend zügig ausgebaut: Für Gebur-
ten ab 1992 werden 3 Jahre Kindererziehungszeiten rentenbegründend aner-
kannt. Während die Zeiten der Kindererziehung zunächst nur mit 75% des
Durchschnittsverdientes der Versicherten anerkannt wurden, stieg diese Quote
bis zum Jahr 2000 sukzessive auf 100% an, wobei diese Zeiten bis zur Beitrags-
bemessungsgrenze kumulativ mit Ansprüchen aus eigener Erwerbstätigkeit zu-
sammengerechnet werden.
8 Im Rahmen des Vertrauensschutzes erhalten Personen, die vor dem 1. Januar 2002 geheiratet
haben und bei denen mindestens einer der Ehegatten vor dem 2. Januar 1962 geboren worden
ist, die alte Witwen-/Witwenrente.
Die dreifache Herausforderung des deutschen Wohlfahrtsstaates 167
zung durch die kapitalgedeckte Riesterrente, die anders als die Gesetzliche Ren-
tenversicherung nicht einmal obligatorisch ist. Schließlich muss die Grundsiche-
rung im Alter als steuerfinanzierte Absicherung alter Menschen unabhängig von
Vorleistungen als weitere Einschränkung des Anspruchs der gesetzlichen Ren-
tenversicherung gesehen werden, vorrangige Sicherungsinstitution zu sein.
Durch die Grundsicherung im Alter werden Beiträge zur gesetzlichen Rentenver-
sicherung, die zu einem Rentenanspruch unterhalb des Grundsicherungsniveaus
führen, unsinnig.
Lohnarbeitszentrierter Sozialversicherungsstaat?
Bewertung der Anpassungsleistungen des deutschen Wohlfahrtsstaats
Komplexe Entwicklungen verbieten einfache Beurteilungen. Deshalb kann ich in
diesem Fazit ein ‚Sowohl-als-auch‘ nicht völlig vermeiden. Ich orientiere mich
zunächst an der Dreiteilung in der vorangegangenen Systematisierung der sozi-
alpolitischen Entwicklung (Sicherungsziele, Adressaten und Finanzierungs-
beziehungsweise Regulierungsweise), ziehe dann ein zusammenfassendes Fazit
zur Entwicklungsgeschichte und -richtung der Sozialpolitik, um anschließend
sagen zu können, ob der deutsche Wohlfahrtsstaat angemessen auf die Heraus-
forderungen reagiert hat, die Finanzierungs- und Sicherungsprobleme sowie der
Souveränitätsverlust durch die Europäische Integration an ihn stellen.
Hinsichtlich der Sicherungsziele (und Leistungsniveaus) zeigt sich in den
betrachteten Sozialpolitikfeldern ein deutlicher Trend, nämlich eine sukzessive
Absenkung über die vergangenen Jahrzehnte hinweg, die ergänzende Absiche-
rungen ebenso vorbereitet wie erforderlich gemacht hat. Das betrifft sowohl –
nach unten – die Einführung bedarfsdeckender Sicherungen als auch – nach oben
– die Einführung der Riester-Rente zur Absicherung eines höheren Sicherungs-
niveaus. Durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie jene im Alter und
bei Erwerbsunfähigkeit wird das Sicherungsniveau der Sozialversicherungen
ebenso wie bei der Riester-Rente allerdings nicht innerhalb der Sozialversiche-
rungen selbst, sondern durch besondere Leistungssysteme ergänzt.
Die neuen Grundsicherungen bedeuten eine Tendenz zur Universalisierung
der Sicherungsziele in der Arbeitsmarkt- und Alterssicherungspolitik. Eine sol-
che Universalisierungstendenz lässt sich auch bei den grundsicherungsberechtig-
ten Personengruppen feststellen. Die Grundsicherungen sind absolut vorleis-
tungsunabhängig und auch unabhängig davon, welchen Erwerbsstatus man vor
dem Leistungsbezug innehatte. Wie die Riester-Rente in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung aber zeigt, bietet die Universalisierung von Mindestsicherung
neuen Raum für Differenzierung nach oben für jene, die sich eine private Zu-
satzabsicherung leisten wollen und können. Privat werden sich aber nicht alle
168 Peter Bleses
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172 Peter Bleses
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Gebremste Europäisierung des Arbeitsmarkts
Sylke Nissen
Die Debatte und Regelung der Freizügigkeitsfrage ist daher ein geeigneter
Gradmesser des politischen Integrationswillens in den Mitgliedstaaten der EU.
Die Haltung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist zugleich ein harter Test für den
Integrationswillen der EU-Bürger, weil über den Arbeitsmarkt Existenzfragen
geregelt werden (vgl. Ganßmann 1996) und angenommen werden kann, dass die
Leute (Vobruba 2009) ihre Interessen kennen und verfolgen. Man kann nun
erwarten, dass Politiker in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit zurückhal-
tend agieren, weil ihr Blick auf die Bevölkerungsmehrheit gerichtet ist, die durch
die vollständige Freizügigkeit im Zuge der Osterweiterung Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt befürchtet.
In den folgenden Abschnitten werde ich die Positionen zur Arbeitnehmer-
freizügigkeit näher untersuchen. Ich konzentriere mich in erster Linie auf die
Entwicklung in Deutschland, da hier (ähnlich wie in Österreich) die Frage der
vollständigen Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit intensiv diskutiert wor-
den ist. Zunächst werde ich die Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und
die in den EU-Mitgliedstaaten gewählten Varianten ihrer Einschränkung skizzie-
ren. Da für die Einschränkung der Freizügigkeit in der Regel mit Verweis auf ein
drohendes Migrationspotential argumentiert wurde, werde ich anschließend
Gründe für die Migration von Arbeitskräften in der EU sowie einige Schätzun-
gen von Wanderungsbewegungen in Folge der Osterweiterung darstellen. Die
folgende Analyse der parteipolitischen Diskussion über die Ausgestaltung der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird zeigen, wie die Erweiterungsdiskussion
politisch instrumentalisiert wurde. Abschließend werde ich auf die öffentliche
174 Sylke Nissen
Meinung eingehen, die unter anderem mit dem Eurobarometer erhoben wird.
Angesichts der erkennbaren Unterschiede zwischen politischer Elitenposition
und den Einstellungen der Bevölkerung muss jedoch angenommen werden, dass
die Position politischer Eliten von anderen Faktoren als der durchschnittlichen
Bevölkerungsmeinung beeinflusst wird.
fixiert. Wenige Jahre nach der Unterzeichnung des Gründungsvertrags legte der
Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1961 mit der Verordnung Nr. 15
die Grundlagen der Arbeitnehmerfreizügigkeit fest und schuf für alle Mitglied-
staaten unmittelbar geltendes Recht. Danach hatte jeder Arbeitnehmer eines
Mitgliedstaates das Recht, nach Ablauf einer Vorrangfrist für inländische Ar-
beitnehmer von maximal drei Wochen nach Registrierung der offenen Stelle in
einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung auszuüben (vgl.
Werner 1973: 327). 1964 schaffte die EWG den Vorrang inländischer Bewerber
ab und sprach Arbeitnehmern ein grundsätzliches Recht auf Arbeitserlaubnis in
allen Mitgliedstaaten zu (Verordnung Nr. 38/64/EWG2). Weitere vier Jahre spä-
ter und mehr als ein Jahr vor dem geplanten Ende der Übergangsfristen wurde
die Bindung der Freizügigkeitsregelung an die bei den Arbeitsämtern registrier-
ten offenen Stellen aufgehoben und jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates
erhielt den gleichen Anspruch auf Zugang zu verfügbaren Stellen wie ein Ange-
höriger des Staates, in dem die Beschäftigungsmöglichkeit angeboten wurde.
Nur eine „Störung auf dem Arbeitsmarkt“ und deren Folgen können seitdem
dieses Recht noch einschränken. Eine Arbeitserlaubnis ist nicht mehr erforder-
lich und der Vorrang vor Arbeitnehmern aus Drittstaaten wird explizit verankert
1 Als Ende der Übergangszeit wurde der 31. Dezember 1969 festgelegt.
2 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. 62 vom 17.04.1964.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 175
(Verordnung EWG 1612/683). Damit war 1968 im Wesentlichen die bis heute
gültige Interpretation der Arbeitnehmerfreizügigkeit erreicht. 1992 wurde Artikel
48 des EWG-Vertrages in den Vertrag von Maastricht als eine der vier Grund-
freiheiten des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapi-
tal übernommen:
Artikel 39: Freizügigkeit der Arbeitnehmer
(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedli-
chen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Ent-
lohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Ge-
sundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer die-
ses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung aus-
zuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter
Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen
festlegt.4
schritte Kosten für die Mitglieder verursachen (Vobruba 2001). So stellte sich
spürbare Zurückhaltung bei der Beseitigung aller Europa trennenden Schranken
vor allem bei der Süderweiterung 1981/1986 und bei der Osterweiterung
2004/2007 ein. Nach vollzogener Erweiterung blieb die Freizügigkeit der Ar-
beitnehmer zunächst eingeschränkt.
Süderweiterung
Mit der Erweiterung der EWG um Griechenland 1981 und um Spanien und Por-
tugal 1986 traten der Gemeinschaft drei relativ arme und ökonomisch gering
entwickelte Staaten bei. Die neun Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschland
(vgl. Preston 1997: 59f.) waren an der Aufnahme dieser drei Länder vor allem
aus politischen Gründen interessiert. „Der Übergang zur Demokratie im An-
schluss an die Ablösung autoritärer Regimes sollte abgesichert und eine be-
schleunigte Konsolidierung erreicht werden.“ (Pfetsch 1997: 53; siehe auch
Musto 1977; Leggewie 1979) Die Alt-Mitgliedsländer erwarteten allerdings
spürbare Migrationströme wegen der hohen Arbeitslosigkeits- und Inflationsra-
ten und unausgeglichenen Zahlungsbilanzen in den Beitrittsländern. Angesichts
der in Kerneuropa bereits seit Mitte der 1970er Jahre steigenden Arbeitslosigkeit
wurde daher der Beitritt der entwicklungsschwachen Südländer einseitig mit
Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (und für mediterrane
Agrarprodukte) gekoppelt. Die Einführung der vollen Freizügigkeit war erst
sieben Jahre nach dem Beitritt vorgesehen.7 Während des Übergangszeitraums
galten die bilateralen Abkommen zwischen alten und neuen Mitgliedsländern
weiter. Nachdem die befürchteten Migrationsströme ausgeblieben waren, wurden
die Übergangsfristen für Spanien und Portugal zum 1. Januar 1992, im Verhält-
nis zu Luxemburg ein Jahr später aufgehoben.8
Die alten Mitgliedstaaten waren dagegen vom Tag des Beitritts der drei
Mittelmeerländer in den Genuss der vollen Freizügigkeit gekommen, so dass
Becker resümierte, „that especially the transitional arrangements as to free mo-
vements of workers were, first of all, made in order to protect the old Member
States.“ (2001: 4)
7 Im Verhältnis zu Luxemburg galt sogar eine Frist von zehn Jahren (Bartz 2006: 129).
8 Dies konnte geschehen, weil die Beitrittsakte für Spanien und Portugal eine Prüfung der
Maßnahmen durch die Kommission in den letzten zwei Jahren des Übergangszeitraums und
daran anschließend die Möglichkeit der vorzeitigen Beendigung enthielt (Becker 1999: 17f.).
Eine solche Regelung war für Griechenland nicht vorgesehen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 177
Osterweiterung
Erneut war es der Druck der Bundesrepublik Deutschland, unterstützt von Öster-
reich und diesmal mit Verweis auf die räumliche Nähe zu den Bewerberländern,
der zu Übergangsfristen für die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit führ-
te. Mit dem Beitritt von zunächst zehn mittel- und osteuropäischen Staaten im
Jahr 2004 und dem 2007 anschließenden Beitritt Rumäniens und Bulgariens
wurde der gemeinsame Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten auf alle Mit-
gliedsländer ausgedehnt. Obwohl die Kommission Arbeitnehmerfreizügigkeit als
„vielleicht das wichtigste Recht, das Einzelpersonen aus den Gemeinschaftsvor-
schriften herleiten können“ bezeichnet (Europäische Kommission 2002: 3), zö-
gerte die EU die vollständige Binnenmarktöffnung in dieser Frage hinaus. Die so
genannte 2+3+2-Regelung gilt für alle Neu-Mitglieder mit Ausnahme von Malta
und Zypern, von deren Migrationspotential keine wesentlichen Einflüsse auf die
Arbeitsmärkte der EU-15 erwartet wurden.
Mit der 2+3+2-Staffelung wurde der Übergang zur vollen Freizügigkeit in
einem dreistufigen Prozess geplant, der sich über sieben Jahre erstrecken sollte.
Grundsätzlich sahen die Übergangsregelungen vor, dass jeder alte Mitgliedstaat
in den beiden ersten Jahren nach dem Beitritt nationale Bestimmungen anzu-
wenden hatte. Die bis dahin bestehenden bilateralen Vereinbarungen behielten
dementsprechend ihre Gültigkeit.10 Vor Ablauf der ersten Zweijahresfrist Ende
April 2006 sollte die Kommission einen Bericht erstellen, und der Rat die Über-
9 Die so genannte Norderweiterung der EU Mitte der 1990er Jahre um Schweden, Finnland und
Österreich muss hier nicht weiter betrachtet werden, da aufgrund ähnlicher Wohlstandsniveaus
bei Alt- und Neu-Mitgliedern keine nennenswerten Migrationsströme erwartet und folglich
keine Einschränkungen der Freizügigkeit vorgenommen wurden.
10 Eine Verschlechterung der bilateralen Regelungen wurde explizit ausgeschlossen. Die Über-
gangsregeln gelten nicht für Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Beitritts in einem der alten
Mitgliedstaaten bereits beschäftigt waren oder dort seit mindestens zwölf Monaten zugelassen
waren, sowie für deren Angehörige.
178 Sylke Nissen
In der Praxis führten die Staaten der EU-15 respektive EU-25 sehr unterschiedli-
che Formen der Freizügigkeit für Arbeitnehmer ein (vgl. die Übersicht im An-
hang). Die Transitionsregeln für die osteuropäischen Beitrittsstaaten variieren
zwischen sofortiger uneingeschränkter Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt mit
gleichberechtigtem Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen auf der einen
und dem Erfordernis von Arbeitserlaubnissen wie auch der Einschränkung der
Dienstleistungsfreiheit für ausgewählte Branchen auf der anderen Seite des
Spektrums.
Während die Entscheidung des Rates über das Ende der Übergangsfristen
(Verordnung 2195/9111) bei der Süderweiterung die Einschränkungen für alle
„alten“ Mitgliedstaaten zugleich aufhob, gibt es im Rahmen der Osterweiterung
keinen einheitlichen, verbindlichen Zeitpunkt für das EU-weite Ende der Über-
gangsfristen. Vielmehr orientiert sich jedes Mitgliedsland an je eigenen Kriterien
für die Fortsetzung oder Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen, so dass
bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Termine für die Einführung der Freizü-
gigkeit zustande gekommen ist. Allerdings kann eine nationale Regierung nicht
allein über einen eventuellen Eintritt in Phase 3 des Übergangsmodells entschei-
den, sondern
„jeder Mitgliedstaat, der sich besonderen Schwierigkeiten gegenübersieht, die zu ‚Störungen
des Arbeitsmarktes führen oder die Gefahr solcher Störungen‘ heraufbeschwören könnten,
(muss) bei der Kommission eine weitere Verschiebung um zwei Jahre beantragen, was mit
Ausnahmebedingungen bzw. unerwarteten Umständen zu begründen wäre.“ (Europäisches
Parlament, o. J.)12
cengleichheit findet sich der Hinweis: Nach fünf Jahren „kann einem Mitgliedstaat, der natio-
nale Maßnahmen anwendet, die Genehmigung erteilt werden, weiterhin diese nationalen Maß-
nahmen anzuwenden, jedoch nur dann, wenn sich sein nationaler Arbeitsmarkt mit schwerwie-
genden Problemen konfrontiert sieht.“ (http://ec.europa.eu/employment_social/free_movement/
enlargement_de.htm; Aufruf 22.01.2009). Sabine Bartz stellt – allerdings ohne Angabe von
Quellen – sogar fest: „die europäischen Regierungen gemeinsam befinden über eine Verlänge-
rung der Übergangsfrist. In jedem Fall ist eine einstimmige Entscheidung erforderlich.“ (2006:
140) (sämtliche Hervorhebungen von mir)
13 Allerdings kann erwartet werden, dass die Kommission den Interessen wichtiger Mitgliedslän-
der entgegenkommt.
180 Sylke Nissen
verkürzen. Durch die Herstellung der Freizügigkeit sollten nun umgekehrt An-
reize für innereuropäische Mobilität geschaffen werden. Aber für
„die südeuropäischen Herkunftsländer war oft auch nach EU-Beitritt bzw. Gewährung der
Freizügigkeit das Volumen der Wanderungsströme sehr viel niedriger als in den 60er oder frü-
hen 70er Jahren.“ (Brücker et al. 2003: 38)
Jon Kvist sah überhaupt kein Muster in den Erfahrungen mit der Erweiterung um
Griechenland, Spanien und Portugal:
„In all three instances, there were discernible variations in the migration patterns across coun-
tries and between years just as there was significant return migration, especially in the Spanish
and Portuguese cases. This led a Eurostat study to conclude that ‚there has been no clear,
common or consistent relationship between changing patterns of population and labour stocks,
or immigration, and the accession of Greece, Spain and Portugal‘.“ (Kvist 2004: 307)
Gleichwohl wurden Erfahrungen aus der Süderweiterung mit Blick auf die Ost-
erweiterung diskutiert (vgl. unter anderem Becker 1999; Brücker et al. 2000;
BMWA 2004; Bartz 2006; Hatala 2006). Herbert Brücker et al. (2003) schlossen
auf ein größeres osteuropäisches Migrationspotential, da bereits vor dem Beitritt
Griechenlands, Spaniens und Portugals 3% der Bevölkerung dieser Länder in der
EU lebten, während sich nur 0,8% der Bevölkerung der osteuropäischen Kandi-
datenländer schon vor der Erweiterung in der EU-15 aufhielt. Kvist ging davon
aus, dass das Migrationspotential der drei südeuropäischen Länder vor deren
Beitritt bereits erschöpft gewesen war, während in Osteuropa der Eiserne Vor-
hang Wanderungsbewegungen nahezu vollständig unterbunden hatte (Kvist
2004: 307). Auch das Einkommensgefälle zwischen Osteuropa und dem EU-
Durchschnitt war deutlich größer, als es das Gefälle zu den drei Südländern ge-
wesen war (Brücker et al. 2003: 13). Diese Unterschiede allein reichten aber
nicht aus, um „tatsächliche Migrationspotentiale“ (BMWA 2006)14 und Migrati-
onsraten nach der Osterweiterung sicher zu prognostizieren. Angesichts erhebli-
cher Migrationskosten „müssen auch die Einkommensunterschiede deutlich sein,
um ökonomisch motivierte Wanderung hervorzurufen.“ (Brücker et al. 2003: 42)
Und selbst dann wandert immer nur ein Teil der Bevölkerung.
Vor allem die ungewisse Entwicklung des Wohlstandsgefälles zwischen den
mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) und den Ländern der EU-15
machte Wanderungsprognosen im Vorfeld der Erweiterung schwierig. In einer
Push-Faktoren Pull-Faktoren
Niedriger Lebensstandard und Hoher Lebensstandard
geringe Wachstumsraten
Hohe Arbeitslosigkeit, Geringe Arbeitslosigkeit
insbesondere bei Jugendlichen
Rasches Bevölkerungswachstum Alternde und schrumpfende Bevölkerung
Fehlende oder geringe soziale Sicherung Gute soziale Sicherungssysteme
Hohe Besteuerung Geringe Besteuerung
Mangel an Wohnraum Niedrige Mieten für gute Wohnungen
Geringe Umweltqualität Hohe Umweltqualität
Schlechte Infrastruktur Gute Infrastruktur
Gute Beschäftigungsmöglichkeiten für
Zuwanderer
Bestehende Netzwerke von Ausländern
Julianna Traser verwies zusätzlich auf geographische Nähe als eine, Migration
fördernde Bedingung (2006: 9) und wurde in dieser Einschätzung vom österrei-
chischen Wirtschaftsministerium unterstützt. Angesichts der rund fünf Millionen
Menschen in den vier Beitrittsländern Tschechien, der Slowakei, Ungarn und
Slowenien, die entlang der 1.300 km langen Grenze mit Österreich leben, rech-
nete die österreichische Regierung mit erheblichen Pendlerströmen (BMWA
2006).15 Traser zählte eine Reihe weiterer Gründe für Migrationsabsichten auf.
„Apart from economic reasons (including better quality of employment), there is also a whole
array of other potential incentives to migration: better housing conditions, better local envi-
ronment, the advantage of discovering new places and meeting new people, and other less ob-
vious reasons, like better climate.“ (Traser 2006: 9; vgl. auch Brücker et al. 2003: 28ff.)
Neben diesen Faktoren, die die Entscheidung zur Migration unterstützen, müssen
für Schätzungen des Migrationspotentials jene Gründe berücksichtigt werden,
die eine Person davon abhalten können, sich in ein anderes Land zu begeben.
Dazu gehören Kenntnisse und Fähigkeiten, die räumlich nicht transferierbar sind,
die durch Migration also entwertet würden. Ebenso wirken sich die Bindung an
das vertraute soziale Umfeld, Risikoscheu oder die Gefahr von Diskriminierung
im Zielland negativ auf Migration aus (Werner 2001: 15f.). Desweiteren können
mangelnde oder falsche Informationen über Migrationsvoraussetzungen und über
das Zielland ebenso wie Wohnungs- oder Hauseigentum, familiäre Bindungen,
sowie kulturelle oder Sprachbarrieren von Migration abhalten (vgl. Traser 2006:
9f).
Aus der Art und der Vielzahl der Bedingungen, die das Migrationspotential
beeinflussen, wird deutlich, dass einfache Analogien zur Süderweiterung oder
zur Phase der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren kaum brauch-
bare Ergebnisse erwarten lassen. Darüber hinaus variieren Migration begünsti-
gende Aspekte in ihrer Intensität in den Beitrittsländern, und Hinderungsgründe
für die Migration Arbeit Suchender tragen stark individuelle Züge. Wanderungs-
entscheidungen hängen von der Nähe zur westlichen Grenze und der zukünftigen
ökonomischen Entwicklung im Beitritts- und im Zielland ab. Und schließlich
liegt zwischen der vagen Äußerung von Migrationsabsichten und der Realisie-
rung von Migrationsentscheidungen eine große Bandbreite von Migrationsnei-
gungen, die als wahrscheinliches oder tatsächliches Wanderungspotential kaum
zu beziffern sind.
Die zahlreichen Migrationsfaktoren und die noch zahlreicheren möglichen
Deutungen dieser Faktoren machten große Unterschiede in den Prognosen mög-
15 Die Grenzsituation stellt einen weiteren Unterschied zur Süderweiterung dar. Keines der
damaligen Beitrittsländer grenzte unmittelbar an Pendlerzielgebiete. Die Grenze in den Pyre-
näen zwischen dem strukturschwachen Südfrankreich und Nordspanien bildet die einzige di-
rekte Grenze.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 183
lich, die ich wegen ihres erheblichen politischen Einflusses deshalb kurz auf die
zugrunde liegenden Methoden überprüfen werde. Auf der Basis der genannten
Unwägbarkeiten kann im Grunde nur als gesichert gelten, dass „die Ungewiss-
heit über die Zuwanderung aus den Kandidatenländern Mittel- und Osteuropas
hoch“ war (Brücker et al. 2003: 14). Gleichwohl wurden im Vorfeld der Oster-
weiterung mehrere Potentialanalysen und Migrationsschätzungen erstellt, die
makroökonomische Faktoren und individuelle Aspekte herangezogen haben. Die
meisten Migrationsstudien basierten auf ökonometrischen Modellen, differierten
aber in den gewählten Schätzverfahren und den Datengrundlagen, was zu er-
kennbaren Unterschieden in den Ergebnissen führte (vgl. GEFRA et al. 2007:
109ff.). So schätzte beispielsweise das ifo-Institut das Migrationspotential bezo-
gen auf nur fünf der osteuropäischen Beitrittsländer langfristig rund dreimal so
hoch wie andere Modelle, die ihren Rechnungen alle zehn neuen Mitgliedstaaten
zugrunde legten (Sinn et al. 2001; vgl. GEFRA et al. 2007: 137). Manche Stu-
dien wiesen darauf hin, dass sie nicht tatsächliches Migrationspotential berech-
neten, sondern „reine Absichtserklärungen“ bezifferten (Dietz 2004: 46, BMWA
2006).16 Trotz methodischer Unterschiede rechneten viele Arbeiten in einem
Zeitraum von 15 bis 20 Jahren mit einem Migrationspotential aus den zehn neu-
en Mitgliedstaaten von 3 bis 4% der dortigen Bevölkerung. Für die ersten Jahre
nach der Erweiterung wurde eine kurzfristige Nettozuwanderung von 250.000
bis 400.000 Personen in die EU-15 erwartet. Brücker et al. hielten – auch in
Bezug auf ihre eigene Arbeit – fest:
„Alle diese Simulationen sind nicht als exakte Prognose zu verstehen, sondern sollen nur einen
Hinweis auf die Größenordnung des Migrationspotentials geben. Die verwendeten Modelle
stellen zwangsläufig erhebliche Vereinfachungen komplexer Migrationsentscheidungen dar, so
dass die Schätzergebnisse nur vorsichtig interpretiert werden können.“ (Brücker et al. 2003: 17)
Für die Migrationseffekte der Osterweiterung gaben die Autoren darüber hinaus
zu bedenken, dass die Prognosen nicht aus der Extrapolation von Erfahrungswer-
ten ermittelt werden konnten, sondern Schätzergebnisse aus anderen Ländern
übertragen werden mussten (ebd.: 51). Auch Thomas Straubhaar warnte davor,
zu dramatische Konsequenzen aus Migrationsprognosen zu ziehen:
„Zusammengefasst zeigt sich, dass trotz sehr unterschiedlicher Annahmen, Vorgehensweisen
und Schätzverfahren die ‚Faustregel‘ von Layard et al. (1992) gar nicht schlecht bestätigt wird,
nämlich, dass insgesamt etwa 3% der mittel- und osteuropäischen Bevölkerung über eine län-
gere Periode von 1-2 Dekaden nach den heutigen EU-Ländern umziehen dürfte. … Über eine
sehr lange Zeitspanne von 10 bis 20 Jahren dürften demgemäß zwischen 2 und 3 Millionen
Menschen aus den MOEL-8 nach Westen wandern. Wird die Rückwanderung mit berücksich-
tigt, dürfte etwa die Hälfte davon – also 1 bis 1,5 Millionen Menschen aus den MOEL in der
16 Für eine Übersicht von Modellen, Methoden und Schätzungen vgl. GEFRA et al. 2007; Belke,
Hebler 2002.
184 Sylke Nissen
heutigen EU bleiben. Von einer ‚Völkerwanderung‘ kann also keine Rede sein!“ (Straubhaar
2002: 33; Hervorhebung im Original)
Nach dem Gipfel von Nizza vertrat Schröder sein Konzept der Übergangsrege-
lungen mit dem Hinweis auf eine notwendige „Legitimation für den Erweite-
rungsprozess“ (Schröder 2001: 7). Auch die unbeugsame Haltung der Bundesre-
gierung (das heißt: der Kanzlerpartei SPD) in den Verhandlungen mit den Alt-
Mitgliedern der EU im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 unterstreicht die
Orientierung der Erweiterungspolitik an nationalen Belangen (Schneider 2006:
82ff.). Der Koalitionspartner Bündnis90/Die Grünen verfolgte zumindest auf
nationaler Ebene eine eigene Strategie und sprach sich für kurze und vor allem
flexible Transitionsregelungen aus.18
Nach einem anfänglichen Votum für „angemessene Übergangsregelungen“,
die „schnellstmöglich wieder entfallen“ sollten, verbunden mit der Forderung
nach einem nationalen „Programm zur Förderung der Grenzregionen zu den
Beitrittsländern“ und der Warnung vor Freizügigkeit für Kriminelle aus Polen
und Tschechien (CDU 2001: 14f.) schwenkte die CDU/CSU auf die Regierungs-
linie ein. 2004 selbst in der Regierung war die CDU davon überzeugt, dass nur
17 Ähnlich argumentierte die österreichische Regierung, die sich angesichts der vergleichbaren
geographischen Lage dem deutschen Vorgehen anschloss (vgl. Schneider 2006: 71).
18 Eine ähnliche Position vertrat die FDP, wenngleich weniger aus gesellschaftspolitischen denn
aus ökonomischen Gründen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 187
Wenige Monate später reagierten die Regierungsparteien verhalten auf den Zwi-
schenbericht der EU-Kommission über die Anwendung der Übergangsregelun-
gen, in dem den Ländern empfohlen wurde, „sorgfältig zu prüfen, ob die Fort-
führung der Übergangsregelungen angesichts der Situation auf ihrem Arbeits-
markt und der Ergebnisse dieses Berichts notwendig ist.“ (Europäische Kommis-
sion 2006: 17). Der damalige Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD)
erklärte, die Kommission trage den besonderen Bedingungen in Deutschland
nicht Rechnung, und die Steuerung der Migration aus den neuen Mitgliedstaaten
bleibe unverändert notwendig. „Deutschland muss weiterhin sicherstellen, dass
der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt im wohlverstandenen arbeitsmarkt- und
wirtschaftspolitischen Interesse kontrolliert bleibt.“ (BMAS 2006: 5) Auch der
ehemalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) betonte anlässlich des
Kommissionsgutachtens den „notwendigen Puffer zum Schutze unseres Ar-
beitsmarktes und unseres Handwerks.“ (Der Spiegel vom 08.02.2006)19
Die deutsche Bundesregierung sah keine Möglichkeit, die Übergangsregeln
schon 2006 aufzuheben, und beschloss erst im August 2007 auf ihrer Sommer-
klausur in Meseberg einen ersten Schritt zur vorsichtigen Öffnung des Arbeits-
marktes für ausländische Fachkräfte und ausländische Absolventen deutscher
Universitäten (vgl. Bundesregierung 2007: 5). Trotz eines entsprechenden Kabi-
nettsbeschlusses erfolgte die Umsetzung dieser Maßnahmen nicht wie geplant
zum 1. November 2007, die Beschlüsse wurden vielmehr im Juli 2008 im Akti-
onsprogramm der Bundesregierung „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung
der Fachkräftebasis in Deutschland“ erneuert. Danach sollte ab Januar 2009 auf
Der Hinweis, dass eine zweite Fristverlängerung betreffend die EU-8 schwer-
wiegende Störungen auf dem Arbeitsmarkt und die Zustimmung der Kommissi-
on voraussetzt, fehlt.20
20 Die Oppositionsparteien forderten bereits 2006, nach dem ersten Zwischenbericht der EU-
Kommission, die Beschränkungen vollständig aufzuheben (Netzwerk Migration e.V. 2006:
4f.). Während die Grünen bei Fortbestehen der Restriktionen eine Zunahme illegaler Migration
und Beschäftigung erwarteten, verlangte die FDP deren Aufhebung als Reaktion auf die Erfah-
rungen mit der Erweiterung. Die Fraktion Die Linke verknüpfte die Aufhebung der Beschrän-
kungen mit der Forderung nach Mindestlöhnen.
21 Dem „Schutzbedürfnis der österreichischen Arbeitnehmer muß Rechnung getragen werden“,
erklärte Österreichs damalige Außenministerin Benita Ferrrero-Waldner (2001). Zu den öster-
reichischen parteipolitischen Positionen vgl. Petsche, Hinteregger (2001).
Arbeitnehmerfreizügigkeit 189
Erstens ist die staatliche Hoheit über Territorium und Bevölkerung – und
folglich auch Immigration – ein Zeichen nationaler Souveränität, auf das kein
Staat gern freiwillig verzichtet (Märker 2001). Die Interpretation Deutschlands
als Ziel massiver, erweiterungsbedingter Einwanderungsströme bot den politi-
schen Akteuren Gelegenheit, den im europäischen Integrationsprozess verblie-
benen Rest an nationaler Souveränität maximal zur Geltung zu bringen. Diese
Reaktion auf die Frage, inwieweit „die demokratischen Nationalstaaten durch
ihre stärkere Einbindung in supranationale Zusammenhänge einen Teil ihrer
Dispositionsmöglichkeiten, damit ihrer Legitimation verlieren“ (Ganßmann
2000: 13), bediente jene Stimmen, die den Verlust nationaler Eigenständigkeit
im EU-Verbund kritisierten.
Zweitens zeigt Politik zur Begrenzung von Einwanderung in einem Staa-
tenverbund, wie ihn die EU darstellt, Züge eines Gefangenendilemmas. Jedes
Land, das seine Einwanderungspolitik weniger restriktiv als seine Nachbarn
handhabt, muss damit rechnen, verstärkt Ziel von Migrationsprozessen zu wer-
den. Das heißt, jedes Mitgliedsland der EU muss individuell versuchen zu ver-
meiden, die Aufmerksamkeit all jener Migrationswilligen auf sich zu lenken, die
durch restriktive Einwanderungspolitik der anderen Staaten neue Migrationswe-
ge suchen.
„Viele Mitgliedsstaaten der EU befürchten, dass sie an Stelle von Staaten, die sich für eine
restriktive Einwanderungspolitik entscheiden, einen weitaus größeren Anteil der Zuwanderung
erhalten, wenn sie als erste ihren Arbeitsmarkt öffnen.“ (GEFRA et al. 2007: 353)
Ein Beleg für die eher strategischen denn sachlichen Gründe für die Rücksich-
tnahme auf Medianwählerinteressen findet sich in der Dokumentation des öster-
reichischen Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa. Die Studie referiert
die Einschätzung des damaligen österreichischen Wirtschaftsministers Martin
Bartenstein, die Schätzungen des Migrationspotentials seien „bei weitem über-
trieben. Die Zuwanderung sei vielmehr eine willkommene Entwicklung. Die
Übergangsfrist werde nur zur Beruhigung der Kritiker gebraucht.“ (Petsche,
Hinteregger 2001: 49)
Für differenzierte Analysen, die zum Beispiel in Betracht ziehen, dass sich
vor allem hoch qualifizierte Arbeitnehmer wegen der geringen Beschäftigungs-
chancen in ihrem Heimatland zur Migration entschließen, ist in einem solchen
Kalkül kein Platz. Auch das Problem zunehmender illegaler Migration als Kon-
sequenz des verwehrten legalen Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt (vgl.
Vobruba 2003; 2005) findet keinen Eingang in die Diskussion. Stattdessen wer-
den Ängste vor Massenzuwanderung „zusätzlich geschürt durch populistische
Politiker“ (Höltschi 2001), die in höherem Maße als die (potentiell negativ be-
troffenen) Bürger selbst Migration dämonisieren, um mit dieser Sündenbock-
Strategie Wählerstimmen zu sammeln (vgl. Boeri, Brücker 2005: 38).
Arbeitnehmerfreizügigkeit 191
22 Die erste Publikation der Umfrageergebnisse hatte mit statistischem Anhang 40 Seiten. Die
englische Dokumentation der Frühjahrsumfrage 2007 (EB 67) umfasst 505 Seiten.
Arbeitnehmerfreizügigkeit 193
den Durchschnitt der EU-15 sowie für Luxemburg als europafreundliches und
für Großbritannien als Beispiel für ein europaskeptisches Land.
70
Luxemburg
65
60
Deutschland
55
50
EU-15
45
40
Österreich
35
30 Großbritannien
25
20
Frühjahr Frühjahr Herbst 2003 Frühjahr Herbst 2004 Frühjahr Herbst 2005 Frühjahr Frühjahr Frühjahr
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
23 Frühjahr 2007 (EB 67), für Frühjahr 2008 wurde dieser Wert nicht ausgewiesen.
194 Sylke Nissen
Grafik 2: Entwicklung der Voten für „Die Freiheit, überall innerhalb der EU
reisen, studieren und arbeiten zu können“ zwischen Frühjahr 2004
und Herbst 2004 (Prozentpunktdifferenz)
19
14
13
12
11
6 6
4
3 3
2
-1 -1
Österreich
Frankreich
Dänemark
Belgien
Irland
Portugal
Schweden
Griechenland
Niederlande
Deutschland
Finnland
EU-15
-3
Luxemburg
Großbritannien
-6
Italien
Spanien
-15
In der Graphik verteilen sich die Mitgliedsländer der EU-15 auf drei Gruppen: In
der ersten Gruppe liegt die Steigerung der Zustimmung im zweistelligen Bereich,
in der mittleren Gruppe sind die Werte positiv aber einstellig, und in der dritten
Gruppe nahm die Zustimmung ab. Bemerkenswert ist die starke Zunahme der
Zustimmung in Belgien, Griechenland und Österreich ebenso wie die starke
Abnahme in Italien.24
24 Das Eurobarometer gibt keine länderspezifischen Erklärungen für diese Sprünge. Aus den
Daten für Italien geht allerdings hervor, dass dort die Zustimmung zu der Antwortmöglichkeit
„Kulturelle Vielfalt“ ebenfalls stark zurückgeht, während die Zustimmung zu den Antworten
Arbeitnehmerfreizügigkeit 195
Betrachtet man nun noch einmal die Übergangsregelungen, die die EU-15-
Länder für die erste Phase nach der Erweiterung 2004 gewählt haben (siehe
Darstellung im Anhang), und sucht in der obigen Graphik die Länder mit starken
Restriktionen beziehungsweise mit früher Freizügigkeit, dann ergibt sich ein
uneinheitliches Bild. Länder, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit stark beschränk-
ten, sind sowohl in der Gruppe mit dem stärksten Anstieg der Zustimmung (Bel-
gien, Griechenland, Österreich) zu finden als auch in der Gruppe, die einen
Rückgang der Zustimmung zur Antwort „Bewegungsfreiheit“ verzeichnete
(Spanien).
Die Länder ohne Freizügigkeitsbeschränkungen sind in allen drei Gruppen
vertreten, nämlich Irland im zweistellig positiven Bereich, Großbritannien im
negativen, Schweden liegt in der Mitte. Auch der Blick auf das Zustimmungsni-
veau im Frühjahr 2004 und die Umfrageergebnisse vor und nach dem Beitritt
von Rumänien und Bulgarien führt zu dem gleichen Ergebnis: Die Wahl der
Freizügigkeitsregeln in den Mitgliedsländern der EU-15 und die im Eurobarome-
ter gemessene öffentliche Meinung in den EU-15 zur Frage der Freizügigkeit
zeigen kein erkennbares Muster von Öffnung und Zustimmung oder Restriktio-
nen und Ablehnung.
Allein für Großbritannien kann die Gestaltung der Übergangsregeln in sinn-
vollem Zusammenhang mit der im Eurobarometer dokumentierten Einstellung
der Bevölkerung zur „Bewegungsfreiheit“ interpretiert werden. Bis zum Frühjahr
2004 steigen die Zustimmungswerte zur Freizügigkeit auf ein Niveau, das nur
wenige Prozentpunkte unter dem Durchschnitt der EU-15 liegt. Getragen von
dieser positiven Entwicklung, so könnte man deuten, öffnete die britische Regie-
rung den Arbeitsmarkt und verlangte von Arbeitnehmern, die aus den Beitritts-
ländern nach Großbritannien kommen, nur die fristgerechte Regis-trierung beim
Innenministerium: „You can come to the UK to work, if you register, but you
cannot claim benefits“ (Home Office 2004). Noch im Jahr 2004 lässt sich im
Eurobarometer die Reaktion der britischen Bevölkerung auf Zuwanderung able-
sen. Die Zustimmungswerte sinken von Umfrage zu Umfrage auf den bisherigen
Tiefstand Anfang 2008 (siehe Graphik 1). Zu diesem Zeitpunkt hat die britische
Regierung bereits reagiert und den Arbeitsmarkt für Zuwanderer aus Bulgarien
und Rumänien weitgehend geschlossen, so dass Großbritannien nicht mehr Ziel-
land für jene Migranten werden kann, für die die Arbeitnehmerfreizügigkeit in
anderen Mitgliedsländern eingeschränkt ist. „… we have decided to take a grad-
ual approach this time round, taking account of the needs of our labour market,
the impact of EU expansion and the positions adopted by other Member States.“
(Home Office 2006; vgl. Allen 2008). Die Rückkehr des „wirtschaftlichen Na-
tionalismus“ (Oldag 2009) im Zuge der globalen Finanzkrise lässt vermuten,
dass mit einer vorzeitigen Öffnung des britischen Arbeitsmarktes für Arbeitneh-
mer aus Bulgarien und Rumänien nicht zu rechnen ist. Mit Parolen wie „Put
British workers first“ wandten sich die britischen Gewerkschaften gegen die
Beschäftigung von Italienern und Portugiesen, ganz zu schweigen von Osteuro-
päern (Burns 2009).
Wie belastbar sind diese Ergebnisse des Eurobarometers? Nehmen die Be-
fragten überhaupt wahr, dass sie nicht nur die Reisefreiheit in der EU bewerten,
sondern dass in der Frage auch die Freiheit genannt wird, überall in der EU ar-
beiten zu können? Verbinden sie mit dieser Antwortvorgabe auch das Recht aller
anderen EU-Bürger, in ihrem Land arbeiten zu dürfen? Das Eurobarometer gibt
auf diese Fragen keine Antwort.
Hinweise auf die Belastbarkeit der positiven Einstellungen zur Freizügigkeit
in Europa und auf den Zusammenhang zwischen Bevölkerungseinstellungen und
Regierungshandeln bietet – zumindest für Deutschland – eine repräsentative
Sondererhebung des sozio-oekonomischen Panels (Gerhards et al. 2007). In
dieser Studie sollen die Befragten nicht aus der Distanz alternative Vorgaben
bewerten, sondern sich eine konkrete Arbeitsmarktkonstellation vorstellen, die
im Vorfeld der Erweiterung durchaus als potentielle Verdrängungsgefahr thema-
tisiert wurde:
„Ein Ziel der Europäischen Union ist es, dass jeder Arbeitnehmer in jedem Land der EU arbei-
ten darf. Wie ist Ihre Meinung zu folgender Aussage?
Es ist gerecht, dass Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedsland der EU in Deutschland ar-
beiten dürfen, auch wenn es für manche Deutsche dann schwieriger wird, einen Job zu be-
kommen.“ (Gerhards et al. 2007: 38)
Die Befragten stimmen der Aussage mehrheitlich zu. Das Ausmaß der Zustim-
mung variiert erwartungsgemäß, wenn die Nationalität der potentiellen Zuwan-
derer spezifiziert und wenn nach Bildungsniveau der Befragten differenziert
wird; aber das Niveau liegt in jedem Fall über 50%. Daraus schließen die Auto-
ren, „dass die durch die Freizügigkeitsregel implementierte Idee einer Gleichheit
aller EU-Bürger offenbar große Unterstützung bei den Bürgerinnen und Bürgern
der Bundesrepublik Deutschland findet.“ (ebd.: 39). Gerhards, Lengfeld und
Schupp geben sich mit diesem Befund allerdings nicht zufrieden, sondern weisen
zu recht auf die Unverbindlichkeit normativer Äußerungen hin. Daher legen sie
den Befragten eine hypothetische Entscheidungssituation vor, bei der diese sich
ceteris paribus für die Vergabe eines Auftrags an eine deutsche oder eine polni-
sche Firma entscheiden mussten. Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß aus: Drei
Arbeitnehmerfreizügigkeit 197
Viertel der Befragten würden die deutsche Firma bevorzugen. Im dritten Teil
ihrer Untersuchung führen die Autoren schließlich die Kostendimension ein und
verknüpfen ihre Frage noch stärker mit handlungsrelevanten Aspekten. Würde
der Auftrag unter sonst gleichen Bedingungen an die polnische Firma gehen,
wenn diese 10% oder gar 50% preiswerter ist als die deutsche? Tatsächlich
nimmt der Anteil der Befragten, der sich an die polnische Firma wenden würde,
mit sinkenden Kosten zu: „Von den ursprünglich 74% der Befragten, die die
deutsche Firma unter der Bedingung gleicher Preise beauftragt hätten, bleiben
nur noch 31% übrig“, wenn die polnische Firma um die Hälfte billiger wäre
(ebd.: 41). Besonders bemerkenswert an den Ergebnissen ist, dass dies auch für
jene Befragten gilt, „die der generellen Europäisierung der Arbeitsmärkte kri-
tisch gegenüber stehen.“ (ebd.: 42)25
In den skizzierten Ergebnissen der repräsentativen Eurobarometer- und Pa-
nel-Befragungen kommt eine positive Grundhaltung zur Freizügigkeit in der
Europäischen Union zum Ausdruck. Die Befragten schätzen die Möglichkeit,
überall in Europa reisen, studieren und arbeiten zu können, und zumindest für
die Deutschen gilt diese Position auch bei Simulation realistischer Wettbewerbs-
bedingungen. Tiefgehende Freizügigkeitsskepsis kommt in diesen Ergebnissen
nicht zum Ausdruck.
Nach den Daten des Eurobarometers findet Freizügigkeit in Europa die Un-
terstützung der Bevölkerung. Und auch die Untersuchung von Gerhards, Leng-
feld und Schupp hat für Deutschland gezeigt, dass die Leute – wenn auch über
die Kostenfrage beeinflusst – der europäischen Integration aufgeschlossen ge-
genüberstehen. Daraus lässt sich schließen, dass die politischen Akteure in der
hier untersuchten Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf repräsentative Ein-
stellungen der Bevölkerung zurückgreifen können, die den Integrationsprozess
unterstützen.
Beide Surveys zeigen also andere Einstellungen als jene weiter oben refe-
rierten Positionen des Medianwählers, die der Politik als Legitimationsbasis für
die fortgesetzte Schließung des deutschen Arbeitsmarktes dienten.
25 Eine ausführlichere Darstellung dieser Erhebung findet sich in dem Beitrag von Jürgen Ger-
hards und Holger Lengfeld in diesem Band.
198 Sylke Nissen
Deutschland wird der Druck auf die Kommission steigen. Im Europa- und Bun-
destagswahljahr 2009 steht für die politischen Akteure mehr auf dem Spiel als
der Schutz vor vermeintlicher Arbeitsmarktkonkurrenz aus Osteuropa. Es geht
darum, Wählerinteressen zu bedienen, die durch den Medianwähler stärker re-
präsentiert werden als durch den Durchschnittswähler.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit 203
Anhang
I. Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den neuen Mitglied-
staaten
Phase I: 2004-2006 Phase II: 2006-2009
II. Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer nach dem Beitritt von
Bulgarien und Rumänien
Phase 1: 2007-2009
Quelle: Brücker 2005: 354; BMAS 2007; Bundesregierung 2007; Europäische Kommission 2009
Arbeitnehmerfreizügigkeit 205
Einleitung:
Entbettung des Marktes, Verselbständigung und Sachzwänge der Ökonomie
Niklas Luhmanns Bemerkung ist für Ökonomen überraschend, aber sie ist rich-
tig: „Eine zureichende Theorie des Marktes fehlt, auch und gerade in den Wirt-
schaftswissenschaften“ (Luhmann 1990: 107). Das Diktum trifft auch für das
Geld oder für die Arbeit zu, und um diese theoretische Lücke zu schließen,
müssten wir sogleich in den Schriften von Heiner Ganßmann lesen, um Einsich-
ten in die Grundkategorien der modernen Wirtschaft zu gewinnen (Ganßmann
1996). Ganßmann ist kein Wirtschaftswissenschaftler, so wie ihn Luhmann vor
Augen hat. Bei weiterem Schürfen würden wir auch auf die Kategorie des Kapi-
tals stoßen – und dann wären wir dort, wo Luhmann nicht hin will und wovon
sich Heiner Ganßmann in den letzten Jahren entfernt hat: bei der Kritik der poli-
tischen Ökonomie und mithin bei Marx. Wenn wir uns dann mit Verselbständi-
gungstendenzen der Ökonomie auseinander setzen, stoßen wir unweigerlich auf
den Fetischcharakter der Ware, des Geldes, des Kapitals, auf das Eigenleben
unserer praktischen und theoretischen Machwerke. Sie verwandeln sich in ver-
selbständigte – und verdinglichte – Kategorien und sie werden zu Sachzwängen,
denen die Marktakteure als ihre Schöpfer nun Rechnung zu tragen haben,
manchmal mit so schmerzhaften Erfahrungen, wie sie der vom verselbständigten
Besen geprügelte Zauberlehrling Goethes machen musste.
In Zeiten der Globalisierung gehen die Sachzwänge vom Weltmarkt aus.
Dass wir mit diesem Gang der Argumentation nicht in der „Mottenkiste des 19.
Jahrhunderts“ zu wühlen beginnen, sondern höchst aktuelle Markttendenzen
ansprechen, führen uns die schweren Finanzkrisen von mehr und mehr globali-
sierten Finanzmärkten seit den 1970er Jahren vor Augen: Der „neoliberale Kri-
senzyklus“ hatte seine Ouvertüre in der Schuldenkrise der Dritten Welt der
1980er Jahre, setzte sich im ersten Akt fort mit den Finanzkrisen der Schwellen-
länder Asiens, Lateinamerikas und Osteuropas in den 1990er Jahren, wurde vom
Zwischenspiel der New economy-Krise in den USA um die Jahrhundertwende
unterbrochen und findet einen furiosen Höhepunkt in der schweren Kreditkrise
206 Elmar Altvater
1 Polanyi (1978) schreibt dies mit Blick auf den Goldstandard und dessen Auflösung nach dem
Ersten Weltkrieg.
2 In der menschlichen Geschichte war „das Wirtschaftssystem im Gesellschaftssystem inte-
griert“, so Polanyi (1978: 102).
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 209
Die Abstraktion des Ökonomischen vom Sozialen und Natürlichen ist auch der
Hintergrund der Erfindung des „homo oeconomicus“, jener a-sozialen Kunstfi-
gur, die nur der ihr von Ökonomen zugeschriebenen ökonomischen Rationalität
Folge leistet. Die Herauslösung von ökonomischer Theorie aus dem sozialwis-
senschaftlichen Kategorienbestand und dann der umgekehrte Versuch, das „di-
sembedded“ und daher „reine“ Rationalprinzip auf die Gesellschaft zurück zu
projizieren, sind für den ökonomietheoretischen Fundamentalismus verantwort-
lich, der den „Rang von Theologien“ (Hobsbawm 1995: 422) an den Universitä-
210 Elmar Altvater
Ozeans, auf die Meeresböden, um dort verwertbare Metalle zu orten oder nach
Öl zu bohren, oder in das erdnahe Weltall, um die Kommunikation zu erleichtern
und Information als Ware anbieten zu können, sowie in die bislang nicht kom-
modifizierten öffentlichen Güter und Dienste mit der Zielsetzung ihrer Privatisie-
rung.
Hier sind Tendenzen der Entbettung angesprochen, die nicht alle schon von
Polanyi überblickt worden sind (vgl. ausführlicher Altvater, Mahnkopf 1996/
2004). Das gilt auch für die Finanzmärkte, die sich gegenüber den Märkten von
Produkten und Arbeitskraft verselbständigen: Die finanzielle Ökonomie entkop-
pelt sich von der „realen Ökonomie“ und wirkt dann mit ihren finanziellen Vor-
gaben (Zinsen und Renditen) zurück. Das sind harte Forderungen, die zu bedie-
nen sind. Das Akkumulationsregime ist „finanzgetrieben“. Diese Tendenz wird
dadurch gestützt, dass die Ökonomie ihre territoriale Bindung abstreift, globale
Reichweite entwickelt und Signalen globaler Märkte gehorcht. Die Wirtschaft
entwächst auf diese Weise der wirtschaftspolitischen Regulierung durch nationa-
le Staaten und durch das internationale System der nationalen Staaten. Erst im
crash der entbetteten Finanzmärkte ertönt der Ruf nach mehr staatlicher Regulie-
rung, und zwar sogar von jenen, die sich als die eigentlichen Sachwalter der Ent-
bettung aufgeführt haben: von Bankmanagern und neoliberalen Ökonomen, die
sich sogar eine Verstaatlichung privater Marktinstitutionen (Banken) vorstellen
können, um nicht nur ihre Verluste sozialisieren, sondern auch ein unkalkulier-
bares systemisches Risiko vermeiden zu können
Nicht unbedeutend für die Dynamik der Entbettung ist, dass sich ein globa-
les Zeit- und Raumregime gegen die lokalen und regionalen, kulturell verwurzel-
ten Zeit- und Raumerfahrungen herausbildet: „time is money“ heißt der kapitalis-
tische Imperativ der Neuzeit. Zeit ist also nichts Natürliches oder Soziales, son-
dern der Ökonomie und ihrer Rationalität angepasst: Ökonomie der Zeit. Es
entsteht eine Weltzeit und in ihr vollzieht sich die Geschichte der Menschheit.
Damit verwandeln sich auch die konkreten Räume, die Grenzen zwischen ihnen
werden bedeutungslos. Unterschiedliche Raumerfahrungen können nicht mehr
gemacht werden. In der von Billigfliegern zugerichteten Welt werden sie irrele-
vant und daher gehen sie verloren.
der Marktaktivitäten auf den ganzen Globus auszudehnen und zugleich die Zei-
ten aller Produktions- oder Transportprozesse zu verkürzen. Über eine „Verdich-
tung von Zeit und Raum“ (Harvey 1989) ist daher nur sinnvoll zu reden, wenn
die energetischen Voraussetzungen (sozusagen die „hardware“) in Rechnung ge-
stellt und wenn der Antrieb der Beschleunigung, heute vor allem durch die Ren-
diteerwartungen globaler Finanzmärkte (also die „driver-software“) betrachtet
werden. Das Raum- und Zeitregime der entbetteten Marktökonomie im globalen
Raum läuft also auf der „hardware“ fossiler Energieträger und der ihnen ange-
messenen industriellen Wandlungssysteme und mit der „software“ globaler Fi-
nanzmärkte, die seit der Liberalisierung der globalen Finanzmärkte in den
1970er Jahren ein mächtiger „Treiber“ des kapitalistischen Systems und seines
Wachstums sind.
Mit der Nutzung fossiler Energien seit dem 18. Jahrhundert wird die vom
kapitalistischen Verwertungsprinzip geforderte Beschleunigung in der Zeit tech-
nisch und energetisch möglich. Das moderne Zeitregime wird kreiert. Der Raum
kann mit den neuen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln erschlossen werden.
Der Markt entwächst dem gesellschaftlichen „Bett“, angetrieben von Tausend-
PS-Motoren, was ihm zuvor in der langen Menschheitsgeschichte, abhängig von
den paar Pferdestärken, die gerade mobilisiert werden konnten, nie gelungen ist.
Mit den fossilen Energien und der Dampfmaschine kann auch der Übergang von
der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion erfolgen. Die Unterordnung von
Arbeit (und, so können wir hinzufügen, von natürlichen Bedingungen) unter das
Regime des Kapitals eröffnet zuvor unbekannte Möglichkeiten einer Steigerung
der Produktivität der Arbeit. „In demselben Maß, worin die Industrie vortritt,
weicht (die) Naturschranke zurück“, resümiert Marx im „Kapital“ (Marx [1867]
1962: 537), das heißt, die Produktion von Überschuss in der gesellschaftlichen
Form des Profits überwindet die Grenzen, die biotische Energien und daher das
natürliche Raum- und Zeitregime setzen. Innovationen werden, im Gegensatz zur
vorkapitalistischen und vorindustriellen Geschichte, zum Prinzip; das hatte von
Hayek sehr wohl begriffen. Die Projekte abstrakter Vernunft können mit fossilen
Energieträgern und den angemessenen technischen Energiewandlungssystemen
leicht in die Realität umgesetzt werden.
Mit diesen Erfahrungen, die gleichzeitig Möglichkeitsräume der Produktiv-
kraftsteigerung und der Profiterzielung eröffnen, werden nun die Grenzen der
„embeddedness“ der Ökonomie in Natur und Gesellschaft als Prokrustesbett
empfunden. Der Prozess des „disembedding“ der Märkte, also des ökonomischen
Raums einer gesellschaftlich nicht behinderten und die Naturschranken zunächst
und scheinbar maßlos überschreitenden Verwertung und Akkumulation von
Kapital, wird als Weitung des Horizonts, als Modernisierung, als Fortschritt
erfahren. So kommt jene „soziale Revolution“ zustande, die in der zweiten Hälf-
214 Elmar Altvater
te des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss finden sollte
– mit dem „Untergang des Bauerntums” (Hobsbawm 1995: 365ff.). Die indus-
trielle Revolution triumphiert mit der Vernichtung jener Klasse, die mit der neo-
lithischen Revolution entstand und die nächsten Jahrtausende der Menschheits-
geschichte bestimmte, des sesshaften Bauerntums. Alle Kultur stammte bis dahin
aus der Agrikultur, wie Georgescu-Roegen (1971) bemerkt. Doch seit der „great
transformation“ kann sie nur noch aus der kapitalistischen Industrie stammen.
Selbst die Bearbeitung des Bodens wird industrialisiert. „Die industrielle Revo-
lution war ... der Anfang einer Revolution, so extrem und radikal, wie sie nur je
den Geist von Sektierern befeuerte ...“, formuliert Polanyi (1978: 68) pointiert,
um den revolutionären Charakter dieser sozialen Transformation zu unterstrei-
chen. Der Preis dieses „Entbettungsmechanismus” ist nicht gering: Es ist die
Krise der Evolution durch Vernichtung der Artenvielfalt, der Verlust von Böden
durch Übernutzung, die Vereinseitigung der Ernährung, wenn – wie bei anderen
industriell erzeugten Produkten – der Massenkonsumtion eine Massenproduktion
entsprechen muss. Und es geht in dieser „sozialen Revolution“ das in Jahrtau-
senden angereicherte Wissen der Menschheit über die angemessene Bearbeitung
des Bodens verloren, beziehungsweise es verwandelt sich in das hochspeziali-
sierte und durch „intellectual property rights“ monopolisierte Expertenwissen der
agroindustriellen transnationalen Konzerne. Nicht zuletzt ist dieser Übergang
auch für die Veränderung des Zeitregimes von der zyklischen Zeit der agrari-
schen Aussaat-, Wachstums- und Erntezyklen zur fragmentierten Zeit unter-
schiedlicher Beschleunigung in verschiedenen funktionalen Räumen (Zinstermi-
ne auf den Finanzmärkten, Steuertermine und Wahlzyklen im politischen Ge-
meinwesen, Abschreibungszeiten von Maschinerie in der Industrie, Lieferfristen,
Schulzeiten und Mittagspausen etc.) verantwortlich.
Die dunkle Seite der fossil-industriellen Revolution, also der Entbettung des
Wirtschaftens aus Gesellschaft und Natur, hatte Karl Marx verstanden:
„Große Industrie und industriell betriebene große Agrikultur wirken zusammen. Wenn sie sich
ursprünglich dadurch scheiden, daß die erste mehr die Arbeitskraft und daher die Naturkraft
des Menschen, die letztere mehr direkt die Naturkraft des Bodens verwüstet und ruiniert, so
reichen sich später im Fortgang beide die Hand, indem das industrielle System auf dem Land
auch die Arbeiter entkräftet und Industrie und Handel ihrerseits der Agrikultur die Mittel zur
Erschöpfung es Bodens verschaffen.“ (Marx [1894] 1969: 821)
dann doch mit unerbittlicher Härte meldet. Dass die Verselbständigung gegen-
über den sozialen Belangen über ein bestimmtes, historisch und kulturell gesetz-
tes Maß nicht hinausgeht, haben die sozialen Konflikte seit der Heraufkunft des
industriellen Kapitalismus gezeigt. Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat war darauf
eine Antwort, die von der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen den herrschenden
Klassen abgetrotzt worden ist und die die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts
bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein charakterisiert. Doch infolge der Globalisie-
rung der Märkte und ihrer Sachzwänge ist diese Antwort immer weniger über-
zeugend und immer schwieriger geworden. Der Sozialstaat gerät unter den
Druck der globalen Märkte. Konkurrenzfähigkeit und Sozialstaatlichkeit passen
fast niemals zusammen.
Auch die Naturschranken, die zunächst „zurückzuweichen“ schienen, zei-
gen sich erneut. Denn die fossilen Energieträger und andere mineralische und
agrarische Rohstoffe sind endlich, sie gehen irgendwann zur Neige. Auch wenn
der Club of Rome 1972 in seiner Warnung vor den „Grenzen des Wachstums“
apodiktisch und alarmistisch argumentiert und daher übertrieben haben mag,
hatte er doch, auch gegenüber seinen Kritikern, Recht: Auf Erden ist alles end-
lich und es ist ausschließlich eine Frage der Zeit, wann dies als mangelnde Ver-
fügbarkeit, als Angebotsbeschränkung auf dem entsprechenden Markt und als
Druck auf Profitrate und Renditen von eingesetztem Kapital erscheint. Auch die
Belastbarkeit der Natur mit den „Exkrementen“ des Industriesystems, vor allem
mit den Emissionen von Treibhausgasen in die Atmosphäre, ist begrenzt, wie
heute allgemein bekannt ist. Nur einige notorische Leugner neigen implizit der
Auffassung zu, die Entbettung der Ökonomie aus Natur und Gesellschaft könne
endlos und ohne Schranken fortgesetzt werden. Die „hardware“ des Systems der
Entbettung funktioniert mit der Zeit also immer schlechter, weil sie einen Kon-
struktionsfehler aufweist: den der Begrenztheit der Natur. Dies erfordert unbe-
dingt die Berücksichtigung der thermodynamischen Gesetze von Stoff- und
Energietransformationen und der Komplexität von sozialen Systemen beim De-
sign der Hardware.
Der historische Nachteil fossiler Energieträger im Vergleich zu solaren
Energien besteht darin, dass nun die äußeren Grenzen der natürlichen Energiebe-
stände (Kohlenflöze, Ölreserven, Erdgasvorkommen etc.) zu inneren sozialen
und ökonomischen Grenzen des Akkumulationsprozesses werden. Der „Verwer-
tungstrieb“ des Kapitals kennt keine Grenzen, die Verfügbarkeit der fossilen
Energieträger aber sehr wohl. Dieser Widerspruch bestimmt nun den Akkumula-
tionsprozess, der sich ursprünglich mit dem Übergang zur „Großen Industrie“
aus den engen Grenzen der vorindustriellen Energie- und Rohstoffversorgung
herauslösen sollte. Beim Öl, dem wichtigsten Treibstoff des modernen Kapita-
lismus, ist dieser Widerspruch offensichtlich und daher bekannt: Gegenwärtig
216 Elmar Altvater
werden etwa 84 Millionen barrels per day (b/d) gefördert und konsumiert. Die
International Energy Agency (IEA) geht davon aus, dass diese Menge in den
nächsten Jahrzehnten auf 117 Millionen b/d gesteigert werden könnte – und
angesichts des zunehmenden Verbrauchs gesteigert werden müsste. Doch der
Chefökonom der IEA, Fatih Birol, hat Anfang 2008 in einem Interview erstens
zugegeben, dass die noch ausbeutbaren Ölreserven und daher auch die Tagesför-
derung von der IEA in aller Regel zu hoch eingeschätzt würden und daher, wie
die „Association for the Study of Peakoil“ (ASPO) unter anderem schon seit
langem einklagt, nach unten korrigiert werden müssten, und dass zweitens Zwei-
fel an der Vorstellung gerechtfertigt seien, dass „Märkte allein die Probleme
lösen können“ (Birol 2008: 38). Er schlussfolgert: „…ich denke, wir sollten das
Öl verlassen, bevor das Öl uns verlässt…“ (Birol 2008: 41). Wenn der Höhe-
punkt der Ölförderung (peak oil) entweder schon erreicht ist oder sehr bald er-
reicht sein wird, stellt sich die Frage, ob heute noch wie zu Beginn der Industria-
lisierung gilt, dass „in demselben Maß, worin die Industrie vortritt, … (die) Na-
turschranke zurück(weicht)“ (Marx [1867] 1962: 537). Den Entbettungstenden-
zen erwachsen natürliche Grenzen gerade durch die Art und Weise, wie sie
überwunden werden – und die natürlichen Grenzen drücken sich als eine Krise
der Kapitalverwertung aus, die auf den sensibelsten Märkten, den globalisierten
und am meisten entbetteten Finanzmärkten zum crash führt.
Noch deutlicher tritt diese Grenze zutage, wenn die Wirkung der Emissio-
nen bei der Verbrennung von fossilen Energieträgern, wenn also die Klimafolgen
der Nutzung fossiler hardware betrachtet werden. Für die Konzentration von CO2
in der Atmosphäre gibt es harte Obergrenzen, wenn der Klimakollaps vermieden
werden soll. Denn Kohlendioxid und die anderen im Kyoto-Protokoll explizit
erwähnten sechs Treibhausgase sind für den Strahlenhaushalt der Erde verant-
wortlich. Die Bestände von CO2 in der Atmosphäre, gemessen in parts per milli-
on Luftmolekülen (ppm), sind seit der industriellen Revolution von ca. 280 ppm
auf mehr als 380 ppm gestiegen. Höher als 450 ppm sollten sie nicht steigen (so
die OECD 2008), um den Anstieg der Erdmitteltemperatur gerade noch tolerabel
auf 2°C zu begrenzen. Aber es gibt auch Untersuchungen, die zu dem Ergebnis
kommen, dass vielmehr eine Reduktion der Konzentration von CO2 in der At-
mosphäre auf etwa 350 ppm notwendig sei. Dies könnte nur mit einem radikalen
Ausstieg aus dem fossilen Energiesystem, begleitet von einem ebenso radikalen
Umbau der industriellen und post-industriellen Wirtschaft (Produktion und Kon-
sumtion gleichermaßen) erreicht werden, also wenn eine neue post-industrielle
und post-fossile „great transformation“ eingeleitet wird.
Die natürlichen Grenzen der Nutzung von fossilen Energieträgern sind zu-
gleich Grenzen der Entbettungsprozesse. Es gibt also doch Schranken der Natur
für die Verselbständigung der Ökonomie, für die Verwertungsdynamik des Kapi-
Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 217
Banken“ wird auf den Finanz- und Währungsmärkten zu einem Akteur wie ande-
re degradiert, wenn auch mit besonderer Macht ausgestattet. Dies ist ein Akt der
Privatisierung einst öffentlicher Aufgaben, ein bedeutsamer Aspekt der privat-
wirtschaftlichen Verselbständigung gegenüber sozialen und natürlichen Belan-
gen und politischen Zielen. Die Funktion der Zentralbank ist es, in der Wäh-
rungskonkurrenz den relativen Wert der je nationalen Währung zu verteidigen.
Dies kann aber nur geschehen, wenn den Signalen der globalen Finanzmärkte
unbedingt gehorcht wird, und nicht den Anforderungen von Regierungen, die
andere Ziele verfolgen müssen als das der strikten Verteidigung des inneren und
äußeren Geldwerts einer nationalen Währung. Unter Bedingungen der Wäh-
rungskonkurrenz gibt es die Möglichkeit der politischen Beeinflussung der
Geldpolitik zur Verfolgung von sozialen und arbeitsmarktpolitischen Zielen
nicht mehr. Entbettung findet ihren Ausdruck als eine Autonomisierung der
Zentralbank gegenüber Politik und Gesellschaft. Zugleich wird diese Autonomie
aufgehoben durch die heteronome Bestimmung der Zentralbankpolitik einer
Nation (oder eines Währungsraums wie im Falle des Euro) durch die globalisier-
ten Finanzmärkte. Für Marx ist „das Geld … damit unmittelbar zugleich das
reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehens für alle
ist, und zugleich das gemeinschaftliche Produkt aller“ (Marx 1953: 137) – und
zwar auf globaler Ebene und unabhängig von den politischen Vorgaben.
Der Fortgang des Prozesse des „disembedding“ kann daher als Errichtung
eines grandiosen Fetisches interpretiert werden, der mit seiner als „Sachzwang“
getarnten Gewalt, mit dem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“
(Marx [1867] 1962: 765) Menschen beherrscht und Gesellschaften seinem Diktat
unterwirft. Einmal dem Marktmechanismus ausgeliefert, dem globalen Zeit- und
Raumregime unterworfen, von den Preisen des Geldes (Zinsen und Wechsel-
kurs) abhängig, müssen sich Gesellschaften den entbetteten Mechanismen der
Wirtschaft anpassen. Sie führen also „structural adjustment programs“ durch, um
die Wettbewerbsfähigkeit zu halten. Sollten sie dazu auf externe Kredite ange-
wiesen sein, müssen sie internationalen Institutionen wie Weltbank oder IWF
gehorchen und sich an den „Konsens von Washington“, das Regelwerk der
Strukturanpassung, halten (vgl. dazu Enquete Kommission 2002). Es gibt also
nicht nur die „Entbettungsmechanismen“, sondern auch „Sachzwangmechanis-
men“, und diese sind auf globaler Ebene als Treiber-software institutionalisiert.
Die entbetteten Finanzmärkte erzwingen, politisch unterstützt von den Institutio-
nen des Weltmarkts, die Abzweigung der Überschüsse zu Gunsten der Finanzin-
vestoren. Das geht an die Substanz von Gesellschaft, das überschreitet die Ver-
fügbarkeit von Ressourcen und die Tragfähigkeit der Senken für die Emissionen
von Produktion, Konsumtion oder Transport in die Sphären der Erde. Die Fi-
nanzkrisen der vergangenen drei Jahrzehnte seit der Liberalisierung der Finanz-
220 Elmar Altvater
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Globalisierung als Verselbständigung der Ökonomie 225
Selbstverständlich kann sich die Soziologie auf all das unterschiedlich ein-
stellen. Sie findet ja selbst in der Gesellschaft statt und ist mit Akteuren besetzt.
Entweder kann sie Beobachtungen und dazu ihrer Ansicht nach angemessene
Interpretationsangebote machen und so in Interpretationskonflikte eintreten. Man
erkennt diese Strategie vor allem an dem vereinnahmenden „wir“, das als Adres-
sat für solche kategorialen Innovationen angesprochen wird (vgl. Youngs 1996:
58). Die Kosten dieser Strategie bestehen darin, dass man in dieser Perspektive
die in der Praxis stattfindenden Beobachtungen nicht systematisch in den Blick
bekommt, weil man in ihnen drin steckt. Oder man kann versuchen, möglichst
Distanz zum Gegenstand zu gewinnen, also Beobachtung zweiter Ordnung zu
betreiben. Dann ist man zwar letztlich im Gegenstand immer noch verfangen,
auch entgeht man Interpretationskonflikten nicht. Aber man sieht mehr und an-
ders: Die wissenschaftliche Rollendisziplin ermöglicht eine distanzierte Positio-
nierung zum Gegenstand und damit die empirische Erfassung von Beobachtun-
gen. Das hat für sozialwissenschaftliche Erkenntnis entscheidende Vorteile, die
sich dann wiederum möglicherweise in Vorteile in politischen Interpretations-
konflikten ummünzen lassen. – Aber das ist eine praktische Frage.
Ich wende mich hier dieser zweiten Möglichkeit zu. Ich werde im ersten
Schritt eine Definition von „Globalisierung“ anbieten, die sich vom mehrheitli-
chen Sprachgebrauch absetzt. Dann werde ich anhand eines kurzen historischen
Rückblicks versuchen, einige Besonderheiten des gegenwärtigen Globalisie-
rungsschubs zu beschreiben. Und schließlich will ich eine knappe Systematisie-
rung der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Globalisierung – also: Beob-
achtung bisherigen sozialwissenschaftlichen Beobachtungen der Globalisierung
– versuchen.
1ȱȱ Andeutungen dazu findet man bei Therborn 2001; die einzige mir bekannte Ausnahme ist
Holstein 2004: 102.
230 Georg Vobruba
20. Jahrhundert untersucht und Ergebnisse der historischen Forschung mit dem
Globalisierungs-common-sense kontrastiert. Harold James (2001) hat (in An-
schuss an Borchardt) den Zusammenbruch dieser Transnationalisierungswelle in
der Weltwirtschaftskrise 1929ff. ausführlich analysiert.
Zentrale Ergebnisse dieser Untersuchungen sind: Transnationalisierungs-
prozesse, die – retrospektiv – fallweise als „Globalisierung“ bezeichnet werden,
sind keineswegs neu. Je nachdem, welches Verständnis des Horizonts von
„Welt“ man zugrunde legt, lassen sie sich bis in die Antike zurück verfolgen.
Jedenfalls aber bestehen zwischen der Transnationalisierungswelle der indus-
triellen Revolution bis zum ersten Weltkrieg und der Gegenwart bemerkenswerte
Parallelitäten, genauer: Weltweite Informationsnetze, weltweiter intensiver Han-
del, transnationale Kapitalströme – all das hatte bis 1914 ein Ausmaß und eine
Intensität erreicht, die wesentliche Aspekte der Auffassung, die Globalisierung in
der Gegenwart sei etwas völlig Neues, als unhaltbar erscheinen lässt (vgl. Hirst,
Thompson 1996). Ebenso zeigen die Untersuchungen von James (2001), ähnlich
wie die von Kindleberger (1989), dass auch intensive transnationale Wirtschafts-
verflechtungen aller Art bei entsprechendem politischem Druck reversibel sind,
und dass diese Reversibilitätsprozesse aufgrund der vordem entwickelten De-
pendenzen wirtschaftlich und politisch extrem hohe Kosten verursachen können.
Die empirischen Belege und Analysen, die auf die These hinauslaufen, dass
Globalisierung nichts Neues und reversibel ist, sind so überzeugend und mittler-
weile so weit verbreitet, dass es sinnvoll erscheint, den Spieß umzudrehen und
danach zu fragen, ob sich nicht doch Besonderheiten der gegenwärtigen Globali-
sierungswelle finden lassen, und – wenn ja – welche. Dazu ein paar Beobachtun-
gen.
1. Die gegenwärtige Globalisierungswelle ist hinsichtlich der involvierten
Weltregionen exklusiver und hinsichtlich der involvierten Bevölkerungen
inklusiver als alle vorhergegangenen Transnationalisierungswellen. Das
heißt: Die Globalisierung heute erfasst nicht alle Weltregionen, aber in den
Regionen, die sie erfasst, die Lebensverhältnisse der gesamten Bevölkerun-
gen. Ersteres verweist auf spezifische Konstellationen in den internationalen
Beziehungen: zum Beispiel Forderungen nach Beteiligung an der Globali-
sierung (Dohan-Runde, Afrika) oder neuer Nationalismus (Lateinamerika);
letzteres verweist auf spezifische Konstellationen im Verhältnis zwischen
der nationalen und der transnationalen Ebene von Gesellschaft: zum Bei-
spiel auf Fragen nach transnationalen Gründen der Entwicklung sozialer
Ungleichheit in einzelnen Ländern. Die Inklusivität der gegenwärtigen Glo-
balisierung bedingt eine bisher unbekannt breite soziale Involviertheit –
durch Vorteile oder Nachteile, die sie bringt – und entsprechend breite und
inhaltlich breit streuende Interessen an Globalisierung. Die Gleichzeitigkeit
Globalisierung und ihre Interpretationen 231
Ich halte die folgenden Vermutungen dazu für plausibel und überprüfenswert:
Der Begriff „Globalisierung“ wirkt in räumlicher und sachlicher Hinsicht
integrierend. Er ermöglicht zum einen die Konstruktion von Kausalzusammen-
hängen über weite räumliche Distanzen (vgl. den Erlebnisbericht von Stiglitz
2003: 53), und er bringt zum anderen heterogene, bisher separat beobachtete und
behandelte Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner. Transnationale Handels-
beziehungen, die Standardisierung von Maßeinheiten, kulturelle Angleichungspro-
zesse, spekulative Finanzströme, die Vogelgrippe, internationale Migration,
Terrorismus und der Krieg gegen ihn (vgl. Aronowitz, Gautney 2003) – all diese
Phänomene werden zu Teilaspekten von Globalisierung. Dies kann zur Entde-
ckung bisher nicht beobachteter Zusammenhänge führen und wieder zu überra-
schenden Kausalitätskonstruktionen einladen, aus denen sich historisch neuartige
Handlungsstrategien ergeben: Die mit dem Begriff ermöglichte kognitive Reor-
ganisation der Realität hat reale Konsequenzen.
Dabei lässt sich deutlich eine Abfolge beobachten: In der früheren Phase
des gegenwärtigen Globalisierungsschubs entstanden auf der Grundlage des
Globalisierungsbegriffs Sachzwangkonstruktionen zur Legitimation unpopulärer
aber „notwendiger“ policies. Als Reaktion darauf wurde über den Begriff die
Realität so angeordnet, dass sich neue gemeinsame Grundlagen bisher heteroge-
ner sozialer Bewegungen ergaben. Dies hat zwei Folgen:
Soziale Bewegungen sprengen in der gegenwärtigen Globalisierungswelle
den nationalen Rahmen, an dem sie 1914 so dramatisch gescheitert waren.
Ich meine damit folgendes: Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten
(vgl. Groh 1973: 675ff.; Vogt 2000) hatte die deutsche Sozialdemokratie
mit ihrer internationalistischen Interpretation von Gesellschaftskonflikt
(„Klassenkampf“) vor der nationalistischen Interpretation („Krieg“) kapitu-
liert. Die historische Abstimmung im Reichstag im August 1914 war in ers-
ter Linie ein Votum gegen internationale und für national verfasste Interes-
senprofile.
Globalisierung und ihre Interpretationen 233
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