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Politik und
Ökonomie
Betrachtung eines
schwierigen Verhältnisses in
Theorie und Wirklichkeit
Politik und Ökonomie
Jürgen Hartmann
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
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1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens. Politische
Ökonomie und Wirtschaftswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1 Klassiker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1.1 Staat, Sicherheit und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1.2 Der Niedergang des Politischen im klassischen
Wirtschaftsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie:
Was nicht passt, wird passend gemacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.2.1 The Scientific Turn: Die Neoklassik . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.2.2 Keynes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.2.3 Die Gegenbewegung: Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.2.4 Der Ordoliberalismus: Regeln und Freiheit. . . . . . . . . . . . 29
2.3 Der politische Gehalt des liberalen Wirtschaftsmodells . . . . . . . . 31
2.3.1 Die Konstruktion der ökonomischen Wirklichkeit. . . . . . . 31
2.3.2 Ideologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.3.3 Öffentliche Güter und Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3 Politikwissenschaft und Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.1 Behavioralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.2 Neue Politische Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.3 Systemtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
3.4 Politik als Arena. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.5 Politikfelder (Policies). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.6 Entscheiden und Entscheidungsverzicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
V
VI Inhaltsverzeichnis
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Abkürzungen
IX
X Abkürzungen
XI
XII Tabellenverzeichnis
Die Wirtschaft gibt der Politik die meisten Themen vor. Die Vertreter der vorherr-
schenden Wirtschaftstheorie und die wenigen Damen und die vielen Herren über
Kapital und Arbeit sind sich darin einig, die Politik hätte der Wirtschaftswelt zu
Diensten zu sein.
Seitdem der gesellschaftspolitische Impuls Marx’schen Gedankenguts in der
Politikwissenschaft so gut wie erloschen ist, wird die Wirtschaft dort als Stein-
bruch für ihre Fallstudien (Policy Studies) ausgebeutet, und meist hat es sich
damit.
Anscheinend haben sich Politikwissenschaft und Ökonomie heutzutage wenig
mitzuteilen. Das Thema der Ökonomen ist der Markt. Demgegenüber kreist das
politische Denken im weitesten Sinne um alles, was mit Regieren zu tun hat, und
das Regieren bedient sich des Arsenals der Fiskal-, Geld- und Regulierungspoli-
tik. Staat und Politik sind an keine bestimmte Art des Wirtschaftens gebunden. Im
historischen Rückblick haben sich beide mit der Staats- wie mit der Marktwirt-
schaft vertragen.
Das Wirtschaftsmodell des Marktes setzt, ohne dies in aller Regel klar auszu-
sprechen, den funktionierenden Staat voraus. Der Wirtschaftshistoriker Douglass
North seziert die Wirtschaftsgeschichte in drei Schnitten: 1) Eigentumsrechte,
2) Staat und 3) Ideologie. Die ersten beiden Punkte hängen unmittelbar zusam-
men. Kaufen, Verkaufen, Kredit, Produktion und Gewinn fußen auf Eigentum.
Das Eigentum ist eine Schöpfung der Politik. Im Laufe der Geschichte wurde
es immer mal wieder revidiert und gelegentlich sogar kassiert. Auch jede Steu-
erforderung ist ein Eingriff in das Eigentum. Eigentum ohne Rechtssicherheit ist
nichts wert. Deshalb gedeiht es am besten in einem politischen Milieu, das diese
Sicherheit zu bieten vermag. Damit kommt der dritte Punkt ins Spiel: Betriebs-
stoff der Politik wie der Wirtschaft sind Anschauungen und Überzeugungen. Sie
Das vierte Kapitel gibt zunächst einen Überblick über Geld, Banken und Kre-
dit als Voraussetzungen für das Funktionieren des Marktes. Es folgt ein histori-
scher Abriss der Entwicklung der Währungen sowie der Weltwirtschaftskrise der
1930er Jahre. Letztere ist bis heute ein Referenzereignis für Fehlentwicklungen
und wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen. Anschließend werden die groben
Linien der Wirtschaftspolitik in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten nachge-
zeichnet. Zuletzt werden die wichtigsten Notenbanken vorgestellt.
Das fünfte Kapitel beginnt mit einer Revue der US-amerikanischen Wirt-
schaftspolitik. Alles, was in den USA geschieht, hat Folgen für den Rest der Welt.
Und nicht nur das: Es setzt Trends, die in der übrigen Welt aufgenommen werden,
hier mehr, dort weniger. Seit Anfang der 1980er Jahre begann dort der Paradig-
menwechsel hin zur angebotsorientierten bzw. neoliberalen Wirtschaftsideologie.
Das Kapitel umreißt zunächst die Grundzüge der Fiskalpolitik. Seit 30 Jah-
ren ist sie von dramatisch steigender Schuldenfinanzierung charakterisiert. Mit
Deregulierung und Interventionsverzicht leisteten Kongress, Regierung und
Notenbank hochriskanten Vorgängen in der Finanzwirtschaft Vorschub. Als
die Finanzkrise im Jahr 2008 ihren Höhepunkt erreichte, zogen Regierung und
Notenbank mit einer gigantischen Staatsintervention die Notbremse. Die unge-
brochene Macht der Finanzindustrie zeigte sich bald erneut. Nach Überwindung
der Krise setzte sie alle Hebel in Bewegung, um ein Regelwerk zu schwächen,
das eigens dazu bestimmt war, einer Wiederholung solcher Krisen vorbeugen.
Vor, in und nach der Krise stand die Notenbank in einer wirtschaftspolitischen
Schlüsselrolle.
Das sechste Kapitel schildert den Wandel der Unternehmenswelt. Er ist
wesentlich von der Neubestimmung des Unternehmenserfolgs durch den Börsen-
wert bestimmt (Shareholder Value).
Das siebte Kapitel zeichnet die Grundlinien der deutschen Wirtschaftspoli-
tik seit 1949 nach. Ihr Grundtenor ist ordoliberal, verträgt sich aber, wie an der
Abfolge der Regierungskoalitionen gezeigt werden soll, mit Ausschlägen hin zur
Nachfrage- und Angebotssteuerung. Seit bald zwei Jahrzehnten ist Deutschland
in die Eurozone eingebunden. Dort ist es ein starker Akteur. Die Bundesregierung
muss aber damit zurechtkommen, dass mehr als ein Dutzend andere Regierun-
gen und last but not least die Europäische Zentralbank den Rahmen für die ver-
bliebene wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit spannen. Dieser Aspekt wird im
neunten Kapitel vertieft.
Das achte Kapitel wendet sich Japan zu. Am Beispiel dieser etablierten asi-
atischen Demokratie sollte sich zeigen, ob sich dort ungeachtet aller kulturellen
Differenz nicht die gleichen Entwicklungen Bahn brechen wie in der westlichen
Welt.
4 1 Einleitung
Das neunte Kapitel setzt sich mit der Eurozone auseinander, und zwar unter
der Frage, ob ein gemeinsamer Währungsraum ohne gemeinsame Fiskalpolitik
überhaupt funktionieren kann. Von der Eurozone wurde erwartet, sie würde über
kurz oder lang zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder
führen. Die Schönwetterländer der Eurozone kommen mit gemeinsamer Währung
und separater Wirtschaftspolitik gut zurecht. Wirtschaftsideologisch liegen sie auf
etwa gleicher Wellenlänge. Das weiter südlich gelegene Schlechtwettergebiet der
Eurozone käme hypothetisch besser mit einer Wirtschaftspolitik klar, die weniger
auf die Befindlichkeit der starken Euroländer zugeschnitten wäre. Die Letzteren
haben die europavertraglichen Bestimmungen auf ihrer Seite.
Im zehnten Kapitel wird abschließend kurz die Frage erörtert, ob nicht auch
das chinesische Einparteienregime, das seine Privatwirtschaft „im Griff“ hat, auf
ökonomische Herausforderungen ähnlich reagieren muss wie eine liberale Demo-
kratie.
Soweit im Folgenden von politischen Systemen und ihren Institutionen die
Rede ist, wird davon ausgegangen, dass sie der Leserin und dem Leser im Großen
und Ganzen geläufig sind. Zu diesen Aspekten werden lediglich sparsame Quel-
lenhinweise eingestreut, hauptsächlich Standardwerke, die sich als Fundus wei-
terführender Literatur eignen.
Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens.
Politische Ökonomie und 2
Wirtschaftswissenschaft
2.1 Klassiker
Politik und Ökonomie galten in der ferneren und noch in der jüngeren Vergangen-
heit als Facetten eines regelbestimmten Ganzen. Für Aristoteles (384–322 v. Chr.)
war der Bürger der antiken Polis Teil einer exklusiven Gemeinschaft. Mit ande-
ren gleichen Standes berät und entscheidet er in Angelegenheiten von gemein-
samem Belang. Alles, was nicht die Gemeinschaft betrifft, gehört zum Bereich
des Oikos: des Hauses. Das Haus steht für den Haushalt. Es umfasst Broterwerb,
Frau, Kinder und Sklaven. Hier ist der Hausherr niemandem verantwortlich. Kein
anderer, auch die Gemeinschaft nicht, hat ihm hineinzureden. Zwischen den
Häusern entsteht ein Wirtschaftsraum, in dem, auch mit Geld, Waren getauscht
und gehandelt werden. Rechte und Pflichten hat der Hausherr lediglich als Teil
des Bürgerkollektivs (Aristoteles 1998). Machen wir es kurz: Der viel und gern
zitierte Aristoteles hat zur Moderne die Begriffe der Politik und der Ökonomie
beigesteuert, nicht mehr.
Thomas Hobbes (1588–1679), der erste große Staatstheoretiker der Neuzeit,
dachte vom Individuum her, dem zentralen Ansatzpunkt der klassischen wie der
modernen Ökonomie. Er begründet den Staatsnutzen mit dem Bedürfnis jedes
Einzelnen. So stellt er sich vor, dass die Menschen ursprünglich ungebunden und
frei existiert haben. Die natürliche und schrankenlose Freiheit des Naturzustands
wird zur Plage. Sie ist auch die Freiheit des Stärkeren und Listigen, vor dem keiner
seines Lebens sicher ist. Um seiner Sicherheit willen überträgt jeder Einzelne die
originäre Freiheit in einem Herrschaftsvertrag auf den Souverän, modern ausge-
drückt: auf den Staat. Der Staat kostet Freiheit, aber er schafft Sicherheit. Er macht
Gesetze, spricht Verbote aus und ahndet Verstöße. Versagt der Staat bei dieser
Aufgabe, fällt die Gesellschaft in den gesetzlosen Kriegszustand der Natur zurück.
Mit der vom Staat eingerichteten Rechtsordnung entsteht nicht nur der Staat. Im
selben Akt konstituiert sich auch die Gesellschaft. Wird der Staat, der selbst keine
Vertragspartei, sondern ausschließlich Begünstigter ist, seiner Aufgabe gerecht,
werden die gesellschaftlichen Beziehungen kalkulierbar. Und haben sie dieses
Stadium erst einmal erreicht, kann sich die Regierungstätigkeit darauf beschrän-
ken, Verstöße zu ahnden und, falls erforderlich, weitere Gesetze zu geben (Hobbes
2000, 1994).
Viel wird in Hobbes hineingedeutet, insbesondere in die Formulierung, dass
der Mensch frei bleibt, wo die Gesetze schweigen. Manche wollen darin erstmals
grünes Licht für die individuelle Wirtschaftsfreiheit erkennen. Die zahlreichen
Deutungsvarianten sind hier ohne Belang. Gewiss ist allemal eines: Hobbes’ Staat
steht über dem Bürger. In dieser Eigenschaft ist er aber im Interesse jedes Herr-
schaftsunterworfenen unterwegs. Er produziert Berechenbarkeit – das Gegen-
teil einer Despotie, die per definitionem den Launen des Herrschers gehorcht
und in einem Klima der Angst und Unsicherheit gedeiht. Damit treffen wir auf
einen Grundgedanken, der allem Denken über wirtschaftliche Zusammenhänge
zugrunde liegt: Rechtssicherheit. Wie es Hirschman formuliert, transformiert der
Staat eine von unkontrollierten Leidenschaften beherrschte Anarchie in eine Ord-
nung berechenbarer Interessen (Hirschman 1987, S. 30–63).
John Locke (1632–1704) kommt der Verknüpfung von Politik und Wirtschaft
ein großes Stück näher. Bei ihm steht nicht mehr der Einzelne an sich im Mit-
telpunkt des Naturzustands, sondern vielmehr der Eigentümer. Die vielen Ein-
zelnen, die noch keinen Staat brauchen, können sich immerhin schon darauf
verständigen, wem was gehört. In den Vorstellungen der Epoche war Eigentum
so gut wie gleichbedeutend mit Land. Indem jemand freies Land bearbeitet, das
Stück Natur also mit seiner Arbeit veredelt, erwirbt er einen Eigentumsanspruch:
Landnahme schafft Eigentum!
Grundstücke und Felder lassen sich unschwer mit Zäunen und Grenzsteinen
markieren. Dieses Eigentum wird gleichwohl zum Problem, weil sich der Eigen-
tümer selbst darum kümmern muss, dass sein Eigentum respektiert wird: er ist ein
Selbstverteidiger! Das geht eine Zeit lang gut. Der Böswilligen, Raublustigen und
Raffgierigen sind aber zu viele. Eigentum wechselt zunehmend unter Begleitum-
ständen wie Raub, Mord und Totschlag den Besitzer. Es kommt hinzu, dass die
Tüchtigen und die von der Natur Begünstigten üppige Ernten einfahren und den
Neid der weniger Erfolgreichen wecken. Selbst der wirtschaftliche Erfolg führt in
ein Dilemma. Was nützt die üppige Ernte, wenn die Früchte des Feldes begrenzt
lagerfähig sind? Kühltechnik hätte Abhilfe schaffen können. Sie ließ aber noch
einige Menschenalter auf sich warten.
2.1 Klassiker 7
Dann der rettende Gedankenblitz eines Gescheiten: Warum nicht die Über-
schüsse, die nach dem gesättigten Appetit der Mehrgenerationenfamilie übrig
bleiben, in Edelmetalle wie Gold und Silber eintauschen? Damit bekommt das
Geld seinen Auftritt im politischen Denken. Dass Geld nicht stinkt, wusste bereits
der römische Kaiser Vespasian. Und vermutlich wusste er auch schon wie Locke
von den Vorteilen des Geldes: Es verdirbt nicht, braucht wenig Lagerplatz und
lässt sich einigermaßen sicher verwahren. Was immer die materielle Grundlage
des Geldes ist, ob Metall, Muscheln oder Papier. Es kommt allein darauf an, dass
es von allen als Zahlungsmittel anerkannt wird. Mit Geld lassen sich Wünsche
erfüllen und Dinge kaufen, die andere produziert haben; man kann es verleihen,
damit andere ihre Wünsche erfüllen können, und man streicht bei der Rückzah-
lung einen Aufschlag ein.
Staat, Eigentum und Geldwirtschaft entstehen bei Locke aus derselben Quelle:
dem Interesse des Eigentümers an dem durch Dieberei, Betrug und Gewalt unge-
trübten Genuss seiner Besitztümer. Das Geld eröffnet neue Möglichkeiten, den
Reichtum zu mehren. Gleichzeitig weitet es die Kluft zwischen Arm und Reich.
Aber die Armen lassen sich etwas einfallen: Vom Reichtum der Anderen nehmen
sie, was sie kriegen können. Der Selbstschutz des Eigentümers gelangt an seine
Grenzen. Eine andere Lösung muss her. Wie bei Hobbes lautet sie auf den Staat.
Die Reichen schließen einen Vertrag. Sie gründen eine Regierungsgewalt. Diese
wird mit geeigneten Mitteln und Personal ausgestattet, um Regeln aufzustellen
und durchzusetzen, die dem wirksamen Schutz von Leben und Eigentum dienen
(Locke 2000).
Hier entsteht aber kein Hobbesscher Leviathan, dem die Untertanen bedin-
gungslosen Gehorsam schulden, solange der Herrscher den Vertragszweck res-
pektiert. Das letzte Wort über die Gesetze haben die Eigentümer selbst. Der
von ihnen eingesetzte Herrscher braucht für jedes Gesetz, das er vorschlägt, die
Zustimmung der Nutznießer. Zu diesem Zweck wählen die Eigentümer ihre Ver-
treter in eine Gesetzgebende Versammlung; heute würde man von einem Parla-
ment sprechen. Diese berät über die Vorschläge des Herrschers, stimmt zu, lehnt
ab oder verlangt Änderungen. Das Gleiche gilt für die Kosten des Staates. Ver-
waltungen und Gerichte wollen finanziert sein. Die Vermögenden finanzieren
die Staatsveranstaltung mit Steuern und Gebühren. Die Vertreter im Parlament
bestimmen, welche Steuern erhoben und für welche Zwecke sie verwendet und in
welchem Umfang Staatsausgaben getätigt werden dürfen.
Bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) leben die Menschen ursprüng-
lich ebenfalls im Naturzustand, und darin sind sie so frei wie alle Lebewesen,
sind aber auch schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert. Aus dieser Erfahrung
heraus gelangen sie zu der Erkenntnis, dass sie besser dran wären, wenn sie
8 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
zusammenarbeiteten. Gemeinsam können sie schaffen, was die Kraft des Ein-
zelnen übersteigt. Diese zunächst harmonische Vergesellschaftung wird gestört,
sobald Menschen auf die Idee kommen, ein Stück Boden zu umzäunen und es
als Eigentum zu reklamieren. Aus diesem Sündenfall entsteht die Zivilisation. Es
kommt zum Streit über Eigentumsrechte, und eine übergeordnete Autorität tritt
auf den Plan. Sie stellt Regeln auf, schlichtet in letzter Instanz Streit und ahndet
Regelverstöße. So kommt es zu einer Hierarchie von Eigentümern und Nicht-
Eigentümern, Herrschenden und Beherrschten.
Leicht erkennbar wandelt Rousseau hier in den Spuren der oben skizzierten
englischen Klassiker. Doch mit dem Auftreten des Staates ist die Sache für ihn
noch nicht abgeschlossen. Die Menschen sind unglücklich und unzufrieden und
deshalb allzu gern bereit, sich in eine neue Ordnung zu fügen, die den Übeln ihrer
Existenz ein Ende bereitet. Aus nicht näher erläuterten Gründen tritt dann ein
Verfassungsgeber auf den Plan. Er schlägt einen Verfassungsrahmen vor, in dem
die Menschen ein besseres Leben führen können. Alle, die dem Vorschlag fol-
gen, gründen eine politische Gemeinschaft bzw. einen Staat. Künftig werden die
Regeln, nach denen sie leben wollen, von allen gemeinsam beschlossen. Diese
Willensäußerungen gelten als verbindliche Anweisungen für ein Verhalten, das im
Dienste des Gemeinwohls steht.
Einige Regeln sind als Eckpunkte für das Funktionieren dieses Staates vorge-
geben. Das Eigentum hat darin seinen legitimen Platz. Aber es wird von vornhe-
rein eng umgrenzt, um es als Quelle von Neid und Streit zu neutralisieren. Jeder
ist frei, aber nur im Rahmen der gemeinsam beschlossenen Gesetze. Spielen sich
ungestrafte Verstöße gegen diese Grundregeln ein, löst sich dieser Staat auf und
die Menschen fallen in den Gesellschaftszustand zurück (Rousseau 2001, 1986).
Hobbes setzt die Staatsaufgabe der Sicherheit, Locke erweitert sie um den
Schutz des Eigentums, und Rousseau stellt das Eigentum unter den Gemeinwohl-
vorbehalt. Das politische Denken kreist bis heute darum, ob der Idee Lockes oder
derjenigen Rousseaus der Vorrang gebührt.
Adam Smith (1723–1790) hat den Ruf des Vaters der Wirtschaftswissenschaft.
Das Funktionieren des Staates in der von Locke thematisierten Funktion ist für
ihn selbstverständlich. Schon sein philosophischer Zeitgenosse Immanuel Kant
(1724–1804) mit seinem Kategorischen Imperativ, dass die Freiheit des Einen
ihre Grenzen in der Freiheit des Anderen findet, räumt mürrisch ein, wenn sich
2.1 Klassiker 9
die Menschen partout nicht vernünftig verhalten wollten, müssten sie eben einen
Staat ertragen, der ihnen die Vernunft eines aufgeklärten Herrschers aufzwingt
(Kant 2009). Das Ego in Smiths Wirtschaftswelt will es sich gut gehen lassen.
Ihm stehen dabei Genussgüter materieller Natur vor Augen, also solche, die durch
Arbeit oder Kauf erworben werden.
Smiths berühmt gewordenes Stecknadelbeispiel illustriert die Bedeutung von
Erfindergeist und Wettbewerb. Darin wird gezeigt, dass sich beim gleichen Auf-
wand von Arbeit und Zeit durch Arbeitsteilung eine deutliche Steigerung der Pro-
duktion erzielen lässt. Werden die Arbeitsschritte, die ein einzelner Arbeiter für
die Herstellung einer Stecknadel benötigt, in 18 separate Arbeitsschritte zerlegt,
lassen sich mehr Stecknadeln herstellen und verkaufen. Der Arbeitgeber erzielt
einen größeren Gewinn.
Läuft das Geschäft durch Arbeitsteilung besser, kann der Produzent zusätzli-
che Arbeiter beschäftigen. Ob die Arbeiter auch besseren Lohn erhalten, bleibt
offen. Was das Ego des Stecknadelkönigs dazu motiviert, mit neuen Herstellungs-
verfahren mehr zu verdienen, so ein weiteres Beispiel, ist in der Sache nichts
anderes als die Mühe des Bäckers, wohlschmeckende Brötchen zu backen, und
die Idee des Fleischers, seine Kunden mit appetitlicher Wurst zu locken. Der
Kunde belohnt Bäcker und Fleischer, indem er Brot und Wurst dort und nicht bei
anderen Vertretern dieser Zünfte kauft. Seine Kaufentscheidung trifft die Absich-
ten des Anbieters, mit dem Erlös sein Vermögen zu mehren. Umgekehrt steigert
die gute Wurst den Genuss des Kunden. Beide Seiten verfolgen ihr Eigeninteresse
und stiften im Spiel von Angebot und Nachfrage Genusserlebnisse für andere
(Smith 1990, S. 9–17). Das Ergebnis ist ein Wohlfahrtsplus für das Ganze. Hier
waltet die berühmte unsichtbare Hand des Marktes.
Smith knüpft hier an den Franzosen Bernard Mandeville (1670–1733) an. Er
wurde mit seiner Bienenparabel berühmt: Ein Volk, das maßvoll und bescheiden
lebt und keinem Böses will, ist schlicht langweilig, und nicht nur das, es tritt auch
auf der Stelle, weil es keinerlei Anreize gibt, mehr zu produzieren, als vorhanden
ist. Ein Volk von Bösewichten indes, in dem jeder nach mehr Genuss strebt, reich
werden will und dabei keine Rücksicht auf andere nimmt, produziert fortwährend
Bedürfnisse, die wiederum das Gewerbe ankurbeln und den allgemeinen Wohl-
stand heben. Menschen ohne Maß und Moral generieren, ohne es überhaupt zu
wollen, ein Wohlfahrtsplus für das Ganze (Mandeville 1980).
Smith hat eine positive Sicht auf die Menschen. Natürlich gibt es auch in sei-
ner schönen Welt Räuber, Betrüger und Mordgesellen, kurz: Regelverächter, die
Genuss ohne ehrliche Arbeit wollen. Vor ihnen zu schützen, Missetaten zu ver-
folgen und sie exemplarisch zu bestrafen, ist die Aufgabe der Regierung bzw. des
Staates. Hier schließt Smith an die Hobbes’schen und Locke’schen Überlegungen
10 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
an. Er geht sogar noch ein Stück darüber hinaus und erwartet von der Regierung
infrastrukturelle Vorleistungen wie Wege und Brücken, die den Warenverkehr
erleichtern, und nicht zuletzt auch Streitkräfte, die potenzielle Eroberer davon
abschrecken, das blühende Gemeinwesen anzugreifen (Smith 1990, S. 601–614).
Der Schlüssel zu dieser Wirtschaftswelt ist Wettbewerb, und dieser Wettbe-
werb kreist um knappe Güter. Der Konsument muss entscheiden, welche Güter
ihm wichtiger sind als andere. Der Wettbewerb spornt den Produzenten dazu an,
Kosten zu sparen und qualitativ mit Herstellern des gleichen Produkts Schritt
zu halten: Im Preis des Produkts drückt sich die zur Herstellung aufgewendete
Arbeit aus. Der Arbeiter, der ein Brot kauft, bringt ein Stück seiner Arbeit, das
ihm als Lohn ausgezahlt wird, für die Arbeit auf, die der Bäcker aufbringt, um
das gemahlene Getreide zu verarbeiten, plus die Arbeit, die der Müller für das
Mahlen, plus die Arbeit, die der Bauer für das Pflanzen und Ernten des Brotge-
treides aufbringt. Hinzu kommt die Arbeit des Schmieds, der Pflüge herstellt, plus
diejenige des Zimmermanns, der die Mühle baut (Smith 1990, S. 28–31). Alle
Arbeit verkörpert den Realpreis. Geld drückt sich lediglich im Nominalpreis aus,
der mit dem wechselnden Wert des Münzmetalls schwankt.
Diese Beispiele sind mit Bedacht gewählt. Die Helden dieser Marktwelt sind
kleine Leute, biedere Handwerker und Landwirte, die vielleicht ein Handvoll
Helfer beschäftigen. Menschen gleicher Lebensart machen Geschäfte untereinan-
der und bedienen überschaubare Märkte. Durch überlieferte Anstandsregeln funk-
tioniert bei alledem die soziale Kontrolle. Diebstahl und Betrug sind Ausnahmen.
Smith zeichnet ein Gesellschaftsidyll, das mit wenig Staatlichkeit auskommt. Das
Moment der Knappheit des Arbeits- und Warenangebots ist noch unterbelichtet.
Deshalb kommt dieser Klassiker auch ohne die Vorstellung kollektiver Anbieter
und Nachfrager aus, also ohne die Idee sozialer Klassen.
Jean-Baptiste Say (1767–1832) ist eine weitere Zelebrität der klassischen
Ökonomie. Er blickt schon nicht mehr bloß auf die Beziehung zwischen individu-
ellem Käufer und Anbieter und wechselt zur gesamtwirtschaftlichen Perspektive.
Der Produktpreis setzt sich aus Arbeit, Boden und Kapital zusammen. Die maß-
gebliche Preisvariable ist Arbeit. Mit dem Produkt kaufen Arbeiter das Ergeb-
nis das Ergebnis der Arbeit Anderer. Jede Produktion wird im Zeitverlauf zur
Gänze verkauft. Hohe Löhne bedeuten geringen Profit. Bei hohen Löhnen senkt
der Produzent seine Kosten und produziert weniger, um seinen Profit zu halten.
Produktion und Verbrauch, so Says Schlüsselbehauptung, stimmen grundsätzlich
überein. Zwischendurch braucht das das Angebot immer mal wieder Zeit, um sich
auf eine veränderte Nachfrage einzustellen (Say 1997, S. 74–80). Dann aber pen-
deln sich beide Größen erneut aufeinander ein (Rosner 1995, S. 35–38). Wichtig
2.1 Klassiker 11
für den Beitrag zum späteren ökonomischen Denken ist diese Idee des Gleichge-
wichts (Kurz 2008a).
Die neoliberale Wirtschaftsideologie dieser Tage zitiert gern Says Satz, jedes
Angebot finde seine Nachfrage. Dabei geht die Tatsache unter, dass Say eine
zeitgenössische Gesellschaft vor Augen steht, in welcher sich der Arbeiter für
das blanke materielle Überleben seiner selbst und seiner Familie, also für Nah-
rung und ein Dach über dem Kopf verdingt. Die Grundnahrungsmittel sind noch
knapp, die verfügbare Menge bestimmt den Preis. Schlechte Ernten treiben den
Brotpreis und damit den Preis der Arbeit (Say 2001, S. 333–340). Die ökonomi-
schen Beziehungen ähneln damit eher – wie bei Smith – einem Tausch physischer
Produkte: Nahrungsmittel gegen das von Arbeitern hergestellte Produkt!
David Ricardo (1772–1823) ist der wirkmächtigste Ökonom des 19. Jahr-
hunderts. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht ebenfalls die Frage, welche
Anteile am Produkt dem Boden, dem Kapital und der Arbeit zukommen. Seine
in Gesetzesform gekleidete Antwort: Je höher der Arbeitslohn, desto niedriger
der Profit. Schrumpft der Gewinn, wird weniger investiert und werden weni-
ger Arbeiter beschäftigt. Steigt die Zahl der Menschen ohne Arbeit, sinken die
Löhne der Arbeiter und steigt der Gewinn. Laufen die Geschäfte wieder besser,
werden wieder mehr Arbeiter beschäftigt. Ihr Einstiegslohn ist der Reallohn, der
vom Existenzminimum definiert ist. Wird das Arbeitsangebot knapp, steigt der
Arbeitsanteil am Produkt, weil mehr Lohn gezahlt wird. Der Lohn mutiert zum
Nominal- oder Geldlohn. Die steigenden Lohnzahlungen drücken den Kapitalan-
teil am Produkt, verhageln also Investition und Gewinn. Deshalb kommt es erneut
zu Entlassungen, und der Lohn sinkt wieder in Richtung auf den Reallohn. Ein
gewisses Maß an Arbeitslosigkeit ist also ökonomisch vernünftig. Arbeit darf
nicht zu knapp werden. Der Preis der Arbeit treibt den Produktpreis (Ricardo
2006, S. 5–13, 75–109).
Geld ist bei Ricardo noch ein reines Bezahlmittel. Preis und Gewinn sind auch
bei ihm noch an den Preis für Brotgetreide gebunden. Viel mehr als zum Beißen
konnten sich die Arbeiter seiner Zeit nicht leisten.
Wie bereits Say intoniert Ricardo die Grundmelodie des Preises, der den
Markt räumt, und er bringt abermals, wie Say, das Ideal des wirtschaftlichen
Gleichgewichts aufs Tapet. Mag ein Produzent auch mit Arbeit sparenden
Maschinen produzieren, wird er den Preis schließlich doch senken müssen. Denn
irgendwann treten Wettbewerber auf, die sein Herstellungsverfahren kopieren und
das gleiche Produkt günstiger anbieten. Der Produzent muss sich etwas einfallen
lassen, um einen Teil des Erlöses in eine kostengünstigere Produktion zu investie-
ren. Auf diese Weise werden vorübergehende Monopolpreise auf ein Niveau her-
12 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
unterkonkurriert, bei dem entweder alle Produzenten einen Gewinn machen oder
einige aus dem Markt gedrückt werden (Kurz 2008b, S. 124–127). Die Räumung
des Produktmarktes stellt sich längerfristig von selbst her. Nur die Räumung des
Arbeitsmarktes ist ungut.
Politik spielt für Ricardo keine Rolle. Die Wirtschaftswelt ist, wie sie ist, von
Gewinnern und Verlierern bevölkert. Am übelsten sind diejenigen dran, die in der
„natürlichen“ Arbeitslosigkeit festsitzen. Diese ist allerdings systemisch notwen-
dig, damit die Arbeit nicht zu teuer wird. Ricardo hat die Verteilungsordnung sei-
ner Zeit vor Augen. Er macht sie aber nicht zum Thema.
Thomas Malthus (1766–1834) ist hauptsächlich mit seiner Bevölkerungstheo-
rie bekannt geworden. Hört die Menschheit nicht endlich damit auf, sich stärker
zu reproduzieren, als Lebensmittel erzeugt werden, löst sich das Übervölkerungs-
problem immer mal wieder durch das Korrektiv großer Hungersnöte.
Ricardos These von der natürlichen Arbeitslosigkeit macht sich Malthus nicht
zu eigen. Nicht die Bearbeitung des Bodens oder die Herstellung materieller
Dinge, auf die seine Klassikerkollegen fixiert sind, schaffen Arbeit und Einkom-
men, sondern auch Luxus, Bedienstetentätigkeit und die Leistung freier Berufe.
Nicht die berufliche Funktion und der Status sind wichtig, sondern die Tatsache,
dass auch „unproduktive“ Arbeiter, die einen Lohn erhalten, am Gütermarkt als
Nachfrager auftreten (Malthus 1989, S. 511). Die Lösung für das Armutsproblem
ist der Einkommenseffekt der Nachfrage. Je intensiver die Nachfrage, desto bes-
ser für die Klassen, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre Arbeit (Malthus
1989, S. 32–38, 43 f.). Frei interpretiert: Mag es nur wenige Reiche geben, mögen
sie als Nachfrager der Lebensgrundlagen auch nicht groß ins Gewicht fallen, ist ihr
Vermögen einfach zu groß, um für Kleidung, Nahrung und Wohnen ausgegeben zu
werden. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die ökonomische Bedeutung des
Luxus, d. h. Dinge, die niemand für seine physische Existenz braucht, die aber von
denen mit genügend Geld nachgefragt werden, um sich das Leben angenehmer zu
machen, Status zur Schau zu stellen und sichtbar den Aufstieg aus den Niederun-
gen der Normalverdiener zu dokumentieren. Heute kommen Statusattribute wie
der SUV, die Rolex oder superteure Designerklamotten in den Sinn. Luxuspro-
duktion trägt Arbeitsplätze und generiert Gewinn (Kurz 2008c, S. 100 ff.). Dieser
Gedanke war für Malthus’ akademische Zeitgenossen noch abwegig.
John Stuart Mill (1806–1873) ist überzeugter Ricardianer. Seine Innovations-
leistung ist die klar benannte Unterscheidung von Produktion und Verteilung.
Mill nimmt die Existenz einer arbeitenden und einer besitzenden Klasse zur
Kenntnis (Mill 1994, S. 130–136, 318 f.). Er erkennt die elende Lage der Arbei-
ter, stellt die Ökonomie aber auf keine grundsätzlich andere Basis.
2.1 Klassiker 13
Der Grund ist derselbe wie bei Ricardo. Die Produzenten haben legitimen
Anspruch auf Gewinn. Indem sie auf den vollständigen Konsum des Ertrags ver-
zichten und einen Teil davon in die Zukunft verschieben, schaffen sie Werte. Sie
investieren diesen Teil, um künftigen Gewinn zu realisieren.
Für Korrekturen an der Verteilungsordnung hat Mill nichts übrig. Er legt aber
großen Wert auf Chancen: Willige aus den unteren Klassen sollen durch Bildung
und Ausbildung dazu befähigt werden, Eigentum zu erwerben und erfolgreich am
Markt teilzunehmen. Mill überwindet damit ein Stück weit die bei seinen Zeitge-
nossen vorherrschende statische Betrachtung der Gesellschaft: Das Chancenange-
bot verfolgt den Zweck, die besitzenden Klassen durch Auslese zu verjüngen und
zu erneuern.
Große Vermögen basieren auf der Leistung früherer Generationen. Außer der
Herkunft haben die Erben oft auch wenig, das ihre gesellschaftliche Stellung
rechtfertigt. Gleichwohl erzieht Reichtum zu Verantwortung und Disziplin. Des-
halb ist es nur legitim, Bildung und Besitz politisch zu privilegieren. Nicht nur
die reichen Platzhalter, sondern auch die durch Arbeit und Leistung qualifizierten
Aufsteiger haben etwas davon. Ihr Platz in der Gesellschaft wird damit belohnt,
dass ihnen bei Wahlen das Mehrfache der Stimmen zugebilligt wird wie den übri-
gen Wahlberechtigten. Die einfachen Bürger, so sie verständig sind und Lesen
und Schreiben können, sollen ebenfalls im Parlament repräsentiert sein. Es wäre
nicht klug, sie von einem Ort fernzuhalten, an dem gebildete und verantwortungs-
bewusste Gentlemen vernünftige Argumente austauschen und eine Entscheidung
treffen. Was es an Vorarbeit für die Entscheidung braucht, ist Expertensache, ganz
so, wie sich auch der Fabrikant von seinen Ingenieuren, Buchhaltern und Ver-
triebsleitern beraten lässt (Mill 1971).
Das in Mills Ideen enthaltene Potenzial für eine Gesellschaftskritik liegt brach
(Bartsch 1982). Also hat auch Mill letztlich die Vorstellung einer Gesellschaft,
die sich selbst reguliert, in der die Verteilung grundsätzlich stimmt und in wel-
cher der Staat hauptsächlich als Ordnungsmacht, Hygieneinspektor und Grund-
buchverwalter auftritt. In späteren Überarbeitungen seines Hauptwerks öffnet er
sich allerdings zunehmend für eine kritische Gesellschaftsbetrachtung und nimmt
sogar sozialistische Ideen auf (Mill 1994, S. 372–436).
Sämtliche hier skizzierten Klassiker denken in der Kategorie des Arbeitswerts.
Die Produzenten schöpfen aus dem Pool des vorhandenen Arbeitspotenzials, das
maßgeblich den Produktpreis und den Gewinn bestimmt. Der Gedanke, dass aus
Waren Güter werden, die individuell stärker gekauft oder nicht gekauft werden,
kurz: dass Produzenten und Konsumenten in Preisen miteinander kommunizieren,
läutete die nächste Etappe im Wirtschaftsdenken ein.
14 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Wenden wir uns zuletzt kurz Karl Marx (1818–1883) zu: Auch er war ein Jün-
ger Ricardos, nur las er ihn seitenverkehrt. Er rezipierte aber auch Mill, dessen
Gedanken sich in Marx’ Mehrwerttheorie niederschlagen (Bartsch 1982, S. 144).
Marx’ politisches und ökonomisches Werk dreht sich um Arbeit, Preis, Gewinn,
Angebot und Nachfrage. Zweierlei Aspekte sind grundlegend innovativ.
Erstens hat Marx im Unterschied zu den referierten ökonomischen Klassikern
überhaupt ein Geschichtsbild und dazu noch ein dynamisches. Das im Ideal der
liberalen Wirtschaftsordnung stillschweigend eingeschlossene Zeitbild der oben
referierten Klassiker ist statisch: eine Momentaufnahme der kapitalistischen Epo-
che. Die auf das Eigentum gegründete Marktgesellschaft ist sich selbst genug,
perfekt und nicht weiter entwicklungsbedürftig.
Zweitens sind im Marx’schen Geschichtsbild Klassen die großen Bewegkräfte
der Geschichte. Die Kapitalistenklasse ist zunächst eine fortschrittliche histori-
sche Kraft, weil sie die vormoderne Feudalklasse ablöst. Je länger sie herrscht,
desto stärker wird sie zum Hemmschuh des Fortschritts. Während die Arbeiter-
klasse in der kapitalistischen Epoche wächst und wächst, gerät die Konkurrenz-
wirtschaft in den Strudel der Selbstzerstörung. Große Kapitalisten fressen die
kleinen, und die Großen selbst versuchen sich gegenseitig aus dem Ring zu wer-
fen, indem sie die Löhne drücken und den Arbeitern weiterhin einen Mehrwert
abpressen. Bei diesem Mehrwert handelt es sich um den Wertanteil der Arbeit,
der über den Reproduktionswert der Arbeit hinaus erwirtschaftet wird und auf
dem Konto superreicher Kapitalisten landet.
Während die einen reicher werden, verelendet die Arbeiterklasse. Diese Ent-
wicklung ist gesetzmäßig. Denn treibende Kraft der Geschichte ist stets das
Ensemble der Produktivkräfte: der Stand von Wissenschaft, Technik und Orga-
nisation. Wie einst das Fabriksystem die Manufaktur überflüssig und das Hand-
werk als Produzentenklasse marginalisiert hat, wird die Selbstorganisation der
Arbeiter dereinst die kapitalistische Produktionsweise verdrängen. Jede Epoche
braucht spezielle Produktionsverhältnisse, d. h. eine eigene Form der Staatlich-
keit, Rechtsformen, Weltanschauung und Religion. Diese Produktionsverhält-
nisse rechtfertigen und sichern die Herrschaft einer neuen Klasse. Der Feudalstaat
kommt mit der Verleihung von Ämtern an den Adel aus, der bürgerliche Staat und
das Fabriksystem brauchen demgegenüber versiertes, in langer Ausbildung rekru-
tiertes und qualifiziertes Personal.
Die Krise des Kapitalismus kündigt das Ende der Herrschaftsbeziehungen
überhaupt an. In der arbeitenden Klasse reift so viel Wissen und Kompetenz,
dass sie nach dem Sieg über den Kapitalismus alles selbst und einvernehmlich zu
regeln versteht. Außerdem: Die bürgerliche Klasse prämiiert das selbstsüchtige
Ego, das stets den Vorteil auf Kosten des Anderen sucht. Die Arbeiter verhalten
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 15
sich, sozialisiert – nach dem Bild der zeitgenössischen Fabrikarbeit – durch das
Erlebnis kollektiver Produktion, solidarisch (Marx 1971, S. 180 f.; Marx und
Engels 1971, S. 462 f., 472 f.). Diese Skizze mag genügen: Staat, Politik und
Recht sind bei Marx Appendizes der Klassenverhältnisse, so wie in der klassi-
schen – liberalen – Ökonomie. Sie laufen thematisch lediglich mit.
Mit dem Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik verabschiedete sich die
Ökonomie des späteren 19. Jahrhunderts vom Erbteil des politischen und sozio-
logischen Denkens. In Mathematik und Statistik entdeckte sie neue Argumentati-
onslinien sowie Darstellungs- und Mitteilungsmöglichkeiten.
Der französische Ökonom Léon Walras (1834–1910) lebte in einer Epoche
spektakulärer Neuerungen. Beispiele: Eiffelturm, Brooklyn Bridge, das – durch
Stahlbeton und Fahrstuhltechnik ermöglichte – Hochhaus und die transkontinen-
talen Wasserstraßen des Suez- und Panamakanals. Walras war Ingenieur und hatte
Mathematik studiert. Dann verschlug es ihn in die Ökonomie. Dort wandte er das
Erlernte auf den Prozess der Preisbildung an: Dem Kaufinteressenten wird ein
Produkt irgendwann zu teuer, dann verzichtet er auf den Kauf, und für den Produ-
zenten lohnt es irgendwann nicht mehr, mit dem Preis noch weiter herunterzuge-
hen, weil er sonst Verlust macht.
Aus diesen Überlegungen entwickelt Walras die Theorie des Grenzwerts. An
irgendeinem Punkt bringt der Erwerb einer weiteren Einheit des Produkts kei-
nen zusätzlichen Nutzen mehr, bei sinkender oder stagnierender Nachfrage sinkt
der Preis für jedes weitere hergestellte Produkt unter die Herstellungskosten.
Grenznachfrage und Grenzangebot spielen sich in einem Anpassungsprozess auf-
einander ein und gelangen in ein Gleichgewicht. Dieser Prozess lässt sich in Glei-
chungen und Diagrammen darstellen (Walras 1972). Walras’ Interesse gilt dem
mathematisierbaren Aspekt des Geschehens. Fragen des Eigentums und der Klas-
sen interessieren ihn nicht. Im Moment des Gleichgewichts bleibt die Kontinuität
mit den Klassikern gewahrt.
Alfred Marshall (1842–1924) greift diese Gedanken auf, die den Preis der
Arbeit, ohne dies groß zu thematisieren, als lediglich einen unter anderen Kos-
tenfaktoren bagatellisieren. Er unterscheidet den Gesamtkomplex des Mark-
tes in Teilmärkte mit je besonderen Eigenschaften. So gibt es Märkte mit hoher
16 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Preiselastizität. Dort werden Güter produziert, auf deren Kauf verzichtet werden
kann, wenn der Preis steigt. Auf Märkten mit geringer Preiselastizität werden
Güter gehandelt, auf die nicht so leicht verzichtet werden kann (Marshall 1949,
S. 78–95). Sämtliche Teilmärkte bewegen sich jeweils auf einen Gleichgewichts-
preis hin. Das Ergebnis ist dann wieder ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht
von Angebot und Nachfrage. Es bildet sich im stabilen Gesamtpreis der Wirt-
schaftsleistung ab. Der Markt reguliert sich selbst. Nach dem Motto „Laissez faire,
laissez aller“ haben Staat und Politik auf dem Marktplatz nichts zu suchen. Der
moralische und soziale Aspekt des Marktgeschehens interessiert nicht (Berg 2010,
S. 134–141). Marshall publiziert noch hauptsächlich im literarischen Format. Aber
sein populäres Standardwerk zur Ökonomie arbeitet bereits mit der mathemati-
schen Darstellung. Das „Marshall-Kreuz“ im Diagramm von Angebots- und Nach-
fragefunktion ist bis heute darstellerischer Standard.
Vilfredo Pareto (1848–1923) gab der Mathematisierung der Wirtschaftswis-
senschaft einen weiteren kräftigen Impuls. Bekannt wurde er mit dem Bild des
Homo oeconomicus, d. h. dem mit der Fähigkeit zum Kostenrechnen begab-
ten Individuum. Dieser Typus kündigte sich, noch verdeckt, bereits in der Wirt-
schaftswelt der Klassiker an. Erst mit Pareto avanciert er zum archimedischen
Punkt einer vollständig von Rationalität durchdrungenen Wirtschaftsbetrachtung
(beschrieben bei Sedláček 2013, S. 216–218). Das Individuum wird soweit seiner
Persönlichkeit entkleidet, bis es nur noch Informationen aufnimmt und verarbei-
tet, die für eine Kostenrechnung taugen. Unterstellt wird der Vollbesitz aller dafür
relevanten Informationen. Wenn sich alle rational verhalten, kommt ein Ergebnis
zustande, das jeden Einzelnen im Rahmen seiner Möglichkeiten zufriedenstellt
und in der gesellschaftlichen Summe, also für alle das Beste ist. Pareto geht es
nicht um die konkrete Wirtschaftswelt, sondern um „pure economics“ (Pareto
2014, S. 77).
Die Individualität dieses Homo oeconomicus drückt sich in der unendli-
chen Vielfalt der Wünsche und Vorlieben, vulgo: Präferenzen aus (Pareto 2014,
S. 125). Rationales Verhalten lässt mit der rationalen Methode schlechthin, der
Mathematik, analysieren. Darstellungstechnisch berauscht sich Pareto an der
Ästhetik von Kurven und Gleichungen. Der Homo oeconomicus wird als Indi-
viduum gedacht. In der gesamtwirtschaftlichen Perspektive wird dieser singuläre
Kostenrechner vom Datenaggregat eines Kollektivs von Rechnern, darunter Ver-
brauchern und Investoren aufgesogen.
Nun zeigt schon der flüchtige Augenschein, dass sich Menschen nicht durch-
weg wie Rechenmaschinen verhalten. Scheinbar stabile Gleichgewichtslagen
scheitern an Arbeitskämpfen, Naturkatastrophen, Regierungswechseln, Kriegen
und Ereignissen in fernen Weltgegenden.
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 17
2.2.2 Keynes
Keynes hält nichts vom Gleichgewichtsmodell der Neoklassiker. Auch mit der
Ceteris paribus-Klausel hat er nichts im Sinn. Er baut seine Theorie um die Beob-
achtung, dass sich die Wirtschaft in Zyklen entwickelt, also unstetig wächst –
ein Phänomen, das die akademische Ökonomie seit ihren Kindertagen beschäf-
tigt. Im Auf und Ab der Konjunktur kommt es immer wieder zu Arbeitslosigkeit
und Inflation. Geld ist bei Keynes nicht mehr nur Zahlungsmittel. Seine Essenz
ist das Vertrauen, dass man für den Nominalbetrag einer Münze, einer Banknote
oder eines Kontoeintrags den indizierten Gegenwert von Gütern und Leistungen
bekommt. Im Vertrauen auf die Wertbeständigkeit des Geldes ist es vernünftig,
Konsumverzicht zu üben. Sparen verschiebt den Konsumgenuss auf später. Der
sparende Konsument wird darüber hinaus mit einem Zinsgewinn belohnt.
Ein Produzent, der sich entschließt, einen Teil seines Ertrags zu investieren,
nimmt typischerweise einen Kredit auf. Der dafür berechnete Zins fließt auf die
Konten der Sparer. Mit der Pflege oder Erweiterung des Kapitalbestandes sichert
die Investition den Gewinn von morgen und übermorgen. Bis hier mochten die
Neoklassiker Keynes noch folgen.
Neue Überlegungen bringt Keynes mit der Alltagspsychologie und dem Beschäf-
tigungseffekt des Sparens ein. Die Sparneigung steckt den Spielraum für Investitio-
nen ab, und die Gewinnerwartung des Unternehmers seine Investitionsbereitschaft.
Die Sparneigung hängt von den Lohneinkommen ab. Keynes distanziert sich von
der Vorstellung der Klassiker und Neoklassiker, die Arbeiter sollten sich am Real-
lohn, d. h. der um den Nennpreis bereinigten Einkommensentwicklung orientieren.
Die Erfahrung zeigt, dass sich Lohnforderungen allein auf die Entwicklung des
Nominallohns beziehen. Im Nominallohn ist die Preissteigerung abgebildet. Arbei-
ter und Gewerkschaften verteidigen diesen nominalen Lohn, aber nicht den von
liberalen Ökonomen für richtig gehaltenen realen Lohn auch dann, wenn viele Men-
schen keine Arbeit haben. Wie Keynes es ausdrückt, sind Löhne „klebrig.“
Das wirtschaftliche Gleichgewicht ist abstrakt, die Kaufkraft in der Lohntüte
aber real und höchst alltagsrelevant. Die Erfahrung lehrt, dass der Nominallohn
keineswegs vollständig verbraucht, sondern ein Teil davon als Ersparnis für künf-
tigen Konsum zurückgehalten wird (Keynes 2006, S. 102, 179 f.). Im Lohnarbei-
ter sieht Keynes nicht einfach den Kostenfaktor, sondern auch den Kunden, der
Nachfrage erzeugt und die Produktion in Schwung bringt. Lebt er am Minimum,
kann er weder sparen noch ordentlich konsumieren. Ließe er seinen Lohn mit
einem Inflationsabschlag berechnen, bliebe für beides weniger (Keynes 2006,
S. 81, 83, 95).
Keynes folgert daraus, bei schwachem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit
müsse die Beschäftigung gefördert werden, um Nachfrage und Investitionsbereit-
schaft zu stimulieren. Er kritisiert, die Ökonomie sei bisher stur Ricardo gefolgt,
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 19
der das ökonomische Geschehen allein von der Angebotsseite her betrachtet habe.
Klüger wäre es gewesen, sich an Malthus zu halten; er habe bereits die Bedeu-
tung der Nachfrage erkannt (Kates 2010, S. 36–38).
Die Nachfrage ist der Schlüssel für die Beurteilung der Zukunft. Das für
Kredite verfügbare Sparvolumen und konsumfreudige Arbeiter steigern die
Gewinnerwartung und kurbeln Investitionen an. Die Investitionsgüter produzie-
renden Industrien stellen mehr Arbeiter ein, die am Markt wiederum als Konsu-
menten auftreten. Öffentliche Aufträge, also Fiskalpolitik bietet sich als Hebel
an, um die Investitionstätigkeit anzuregen und mehr Arbeiter zu beschäftigen
(Keynes 2006, S. 81). Die Zinspolitik, die Keynes noch als Instrument der Regie-
rungspolitik kannte, flankiert diese Impulse mit billigem Notenbankgeld. Über-
hitzt die Nachfrage, hält die Produktion mit den wachsenden Geldeinkommen
also nicht mehr Schritt, ist es an der Zeit, die Kredite zu verteuern und die investi-
ven öffentlichen Aufgaben zurückzufahren.
Geld drückt Zukunftserwartungen aus, für den Investor die Aussicht auf künf-
tigen Gewinn, für den Lohnempfänger die Aussicht auf künftigen Konsum. Bei-
des hängt von der Sparneigung ab. Zwar können nicht mehr Kredite vergeben
werden, als Sparvermögen vorhanden ist. Die Regierung hat aber die Möglich-
keit, Schulden zu machen, d. h. ein Haushaltsdefizit in Kauf zu nehmen (deficit
spending), um öffentliche Aufträge zu vergeben. Der Zweck: einem von Massen-
arbeitslosigkeit verursachten Elend vorzubeugen und es ggf. zu bekämpfen!
Schon kleine Veränderungen im Sparverhalten und bei den Kreditzinsen mul-
tiplizieren sich durch die schiere Masse der Sparer und des Kreditvolumens zu
beträchtlichen Größen (Keynes 2006, S. 100 f.). Tritt verstärkt Arbeitslosigkeit
auf, ist es an der Zeit, mit dem Multiplikationseffekt bereits kleiner Drehungen
an den wirtschaftspolitischen Stellschrauben Impulse zu geben. Letztlich kommt
alles darauf an, dass es sich für die Unternehmer wieder lohnt zu investieren.
Der gemeinsame Nenner von alledem ist Geld. Wie alles von Wert will Geld
gepflegt sein. Schwindet das Vertrauen, dass ich auch morgen den gleichen
Warenwert für mein Geld bekomme wie heute, ist es ratsamer, das verdiente Ein-
kommen gleich zu verjubeln und es nicht in Ersparnissen anzulegen. Diese Gefahr
droht, wenn die Nachfrage der Produktionskapazität davonläuft. In einer inflatio-
nären Phase ist Schubumkehr angezeigt. Der Staat fährt seine Ausgaben zurück
und baut Schulden ab. Der steigende Leitzins drosselt die Kreditaufnahme, der
Arbeitsmarkt wird eventuell auch nicht mehr vollständig geräumt. Im konjunktu-
rellen Abschwung wird es schwieriger, Lohnsteigerungen zu realisieren.
Für die Außenwirtschaft rät Keynes dazu, auf das Instrument einer Abwer-
tung der Landeswährung zu verzichten, um damit – also mit der Verbilligung
der Export- und der Verteuerung der Importpreise – einen kurzfristigen Vorteil
20 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
auf Kosten der Nachbarn zu erzielen. Dabei stand ihm der Kaskadeneffekt des
Abwertungswettlaufs in der Großen Weltwirtschaftskrise vor Augen. Am besten
tun Regierungen und Notenbanken daran, eine feste Tauschrelation zwischen den
Währungen zu verabreden und diese solidarisch gegen den Abwertungsdruck auf
schwache Währungen zu verteidigen. Im Währungssystem von Bretton Woods
(siehe unten, Abschn. 4.2.4) fand diese Idee ihren Niederschlag, wenn auch nicht
ganz in der Weise, wie Keynes sie sich vorgestellt hatte.
Keynes’ Modell befasst sich nicht mit Politik. Aber es fußt auf einer poli-
tischen Präferenz: Hohe Beschäftigung bei stabilem Geld (Hession 1986,
S. 401 f.)! Wie es der Wirtschaftswissenschaftler Alban Phillips (1914–1975)
nachfolgend, aber nicht ganz auf einer Linie mit Keynes, griffig formuliert hat,
muss die Politik entscheiden, mit welcher Priorität sie in das Marktgeschehen
interveniert: Geht es darum, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, entscheidet sie sich
für eine gelockerte Geldpolitik; nimmt der Preisauftrieb überhand, ist eine strik-
tere Geldpolitik angezeigt, mag sie auch zu höherer Arbeitslosigkeit führen (Phil-
lips 1958).
Diese Gedanken spielten bei der Überwindung der Großen Depression von
1929 in den USA eine bedeutende Rolle. Eher instinktiv als aus dem Verständ-
nis der Keynes’schen Theorie heraus steuerte Präsident F. D. Roosevelt die USA
nach 1933 aus der Krise heraus. In Europa begann Keynes’ Siegeszug nach 1950.
Die von Regierung, Gewerkschaften und Unternehmern gemeinsam getragene
Fiskal-, Lohn- und Preispolitik, der sogenannte Korporatismus oder Tripartis-
mus, hatte seine besten Zeiten in den 1950er und 1960er Jahren (siehe unten,
Abschn. 7.2.1). Es handelte sich um zeitweise erfolgreiche Versuche, Stabilität
und Vollbeschäftigung zu kombinieren.
Für gut drei Jahrzehnte war Keynes der Referenzdenker des wirtschaftswis-
senschaftlichen Mainstream. Nach dem Krieg wurde er zum Lieblingsökonomen
der Sozialdemokratie. Markt und Staat erschienen nicht mehr als Gegensätze.
Wo es der Politik gelingt, die Menschen in Arbeit zu halten und ihnen das Sparen
zu ermöglichen, wo dies auch noch mit Systemen der sozialen Sicherung daher-
kommt, braucht es weder Verstaatlichung noch zentrale Wirtschaftslenkung.
Mit den Währungs- und Ölpreiskrisen der 1970er Jahre geriet Keynes bei
Ökonomen in Verruf. Explodierende Energie- und Rohstoffkosten trieben die
Preise, das Wachstum verlangsamte sich. Die Gewerkschaften kalkulierten ihre
Forderungen in Erwartung steigender Preise. Nach Keynes hätten zur Inflati-
onsbekämpfung jetzt geld- und haushaltspolitische Bremsmanöver eingeleitet
werden müssen. Diese blieben jedoch aus. Die Regierungen wären am Wahltag
absehbar dafür abgestraft worden.
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 21
Ein weiterer Faktor, mit dem Keynes diskreditiert wurde, der jedoch abermals
eigentlich nichts mit ihm zu tun hatte, war der großzügige Ausbau des Sozialstaa-
tes in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten. Als in den 1970er Jahren Wachs-
tum und Steuereinnahmen nachließen, gingen die Regierungen, die bis dahin an
kontinuierliche Einnahmen für den Wohlfahrtsstaat gewöhnt waren, dazu über,
ihre Haushalte in wachsendem Maße am Kapitalmarkt zu finanzieren. Vor die-
sem Hintergrund bekamen alternative Wirtschaftsmodelle Konjunktur. Unter den
meisten Ökonomen dieser Tage gilt Keynes immer noch als Unperson. Keynes
selbst hatte für den Sozialismus nichts übrig, und er tat sich auch nicht als Apo-
loget des Sozialstaates hervor. Aber mit der Sorge um die Arbeit als Grundlage
individueller Wohlfahrt holte er ein Stück Gerechtigkeitsdenken in die Modell-
welt der Ökonomen (Carabelli und Cedrini 2014, S. 108, 129).
schon um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht (mehr) an die Große Revolution.
Sie setzten stattdessen auf soziale Verbesserungen im Rahmen des parlamenta-
risch-bürgerlichen Staates.
Die jüngere Variante der Österreichischen Schule um Ludwig von Mises
(1881–1973) rüstete methodologisch-mathematisch auf. Wichtiger aber: sie war
auch politisch motiviert: Die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg passten von
Mises nicht. In der schwierigen Zwischenkriegszeit stellten sozialdemokratische
Regierungen in Skandinavien, in Österreich und in Deutschland den ersten sozia-
len Wohnungsbau auf die Beine, sie bauten die Renten- und Sozialversicherungen
aus und nahmen die Infrastruktur in öffentliche Regie. Das Projekt einer sozialen
Demokratie, d. h. eines weiterhin von privatem Kapital beherrschten, aber poli-
tisch moderierten Marktes nahm Gestalt an. Demgegenüber krempelte der leni-
nistische Marxismus in der jungen Sowjetunion rabiat die alte Eigentumsordnung
um und baute eine staatsgelenkte Planwirtschaft auf, in der privates Kapital kei-
nen Platz mehr hatte.
Von Mises’ Werk steht im Zeichen dieser Umbrüche. Er hat einen Horror vor
der Politisierung des Wirtschaftslebens: Die Wirtschaftsfreiheit des Einzelnen setzt
von Mises’ absolut. Aber keineswegs blind für die Wirklichkeit, konzediert er, dass
dieses Gleichgewicht immer wieder von Krisen gestört wird. Darin stimmt er mit
Keynes überein. Weil sich die Menschen letztlich aber stets vernünftig verhalten,
heilt sich der Markt wie ein gesunder Organismus von gelegentlich auftretenden
Krankheiten selbst. Dazu müssen die Menschen nicht groß kommunizieren. Es
genügt, dass sie ihrem Eigeninteresse folgen (Brodbeck 2015, S. 37–40).
Von Mises’ Ausgangspunkt ist das Handeln des Einzelnen. Er hat kein Problem
damit, dass dieses Handeln von den verschiedensten Einflüssen, auch von histori-
schen Entwicklungen, bestimmt wird. Das Vorgehen der Historischen Schule kriti-
siert er jedoch als diffus: ohne theoretischen Kern, der Erklärungen unabhängig von
Zeit und sozialem Ort erlaubt (von Mises 2010, S. 48 f., 59 f.)! Ungeachtet der Tat-
sache, dass die Psyche das Handeln mitbestimmt, handelt der Mensch doch letzt-
lich bewusst und damit vernünftig. Zwar sind die Wünsche denkbar verschieden.
Aber die Entscheidung, sie zu verwirklichen und sie auch aufzugeben, wenn die
sprichwörtlichen Aesop’schen Trauben zu hoch hängen, hat mit Gefühlsaufwallung
und Unbewusstem nichts zu tun (von Mises 2010, S. 11–16).
Im rationalen Handeln, das sich auf andere richtet, die sich in gleicher Weise
vernunftgemäß verhalten, konstituiert sich die Gesellschaft. Die ideale Gesell-
schaft ist ein freier Markt, auf dem keiner dem anderen vorschreiben darf, wie er
sich zu verhalten hat (von Mises 2010, S. 115, 134–136). Der Markt bietet auch
alle Möglichkeiten, dem Übel der Arbeitslosigkeit zu entrinnen. Die Menschen
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 23
müssen nur bereit sein, Arbeit aller Art, zu jedem Preis und an jedem Ort anzu-
nehmen (von Mises 2010, S. 546–548, 721).
Die Rolle des Staates im Marktgeschehen ist es, dafür zu sorgen, dass dieser
Markt funktioniert, sodass z. B. die Geltung von Verträgen erzwungen wird. Wenn
er Steuern erhebt, um Beamte, Richter und Polizisten zu bezahlen, ist das ver-
nünftig und legitim. Jegliche Staatstätigkeit aber, die darüber hinausgeht, bedeu-
tet Freiheitsverlust. Ein Staat, der wirtschaftlich selbst aktiv wird, verdrängt den
Markt durch ein Stück Befehlswirtschaft: Wenige in Regierung und Verwaltung
bestimmen dann, was zu welchem Preis und in welcher Menge produziert wird
(von Mises 2012, S. 65 f., 2010, S. 183 f., 250 f., 640 f., 646–659). Der Sozialis-
mus im post-revolutionären Russland ist die perfekte Befehlswirtschaft. Sein Bei-
spiel hält den freien Gesellschaften einen Spiegel vor, was sie zu erwarten haben,
wenn sie erst damit anfangen, den Marktkräften ins Handwerk zu pfuschen.
Kurz: Das wunderbare Gebilde des Marktes verträgt keine Eingriffe von
außen. Es gibt Anreize für die weniger Glücklichen, sich aus eigener Kraft aus
der persönlichen Misere herauszuarbeiten. Der Markt nimmt es aber auch hin,
dass es die Trägen und vom Schicksal allzu sehr Gebeutelten zu nichts bringen.
Reich und Arm sind von der Natur gegeben.
Von Mises, seine Kollegen und Schüler waren in der österreichischen Heimat
angesehene Wirtschaftsforscher. Diese Heimat wurde allmählich zu eng und in
Anbetracht des in Mitteleuropa ins Kraut schießenden Autoritarismus schließ-
lich auch zu gefährlich. Ihre grundliberalen Ideen nahmen von Mises und seine
Epigonen in die zweite angelsächsische Heimat mit. Dort entfalteten sie unver-
gleichlich größere Wirkung als in der deutschsprachigen Universitäts- und For-
schungslandschaft.
Mit der Offenheit für die mathematische Darstellung, die damals auch schon der
eine oder andere Psychologe und Soziologe übernahm, lagen die Österreicher im
wissenschaftlichen Trend. Ihre politische Botschaft – Wirtschaft heißt Markt, und
der Markt verträgt keine Politik – unterschied sich lediglich in stilistischer Hinsicht
vom krachledernen Liberalismus der Angelsachsen. Namentlich an der University
of Chicago wurde ihr Werk begeistert aufgenommen. Die noch junge Hochschule
wurde bereits in den 1920er Jahren zum Mekka von Ökonomen und Sozialwissen-
schaftlern, denen es um Methoden, Daten und logische Erklärungen ging.
Das Schreckensbild des sowjetischen Sozialismus vor Augen, wollte Fried-
rich August von Hayek (1899–1992), ein Spross der Österreichischen Schule, den
scheinbar harmlosen Anfängen des Sozialismus wehren: Sozialismusverdacht
ist bereits angezeigt, wenn der Staat Tätigkeitsfelder reklamiert, die besser dem
Markt überlassen wären. Publizistisch hervorragend gemacht und vor allem für
ein Laienpublikum eingängiger ausgedrückt als dieselben Ideen in Formeln und
24 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Diagramme gekleidet, verkündet von Hayek seine Botschaft: Der Markt lebt von
der Freiheit des Einzelnen, sich mit der Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg kre-
ativ zu betätigen und damit auch anderen Gutes zu tun. Von Hayek spielt also die
klassische Melodie von Eigennutz des Homo oeconomicus, der dank einer von
Vernunft durchwalteten Welt zum gesellschaftlichen Wohltäter wird. Die Erfolg-
reichen mögen getrost zeigen, was sie sich alles leisten können. Doch existiert
erst einmal ein Markt für die Bedürfnisse der Reichen, wird es nicht lange dau-
ern, bis daran getüftelt wird, diesen Markt mit preisgünstigen Produktvarianten
für das kleine Portemonnaie erschwinglich zu machen. Wie viel Potenzial für
Erfindung und Genuss gingen verloren, wenn Steuern die Motivation lähmten,
mit guten Ideen Geld zu verdienen (von Hayek 1991, 1978)?
Joseph A. Schumpeter (1883–1950) schlägt in dieselbe Kerbe. Ein naher Ver-
wandter der Österreichischen Schule, bietet er sogar eine politische Theorie an.
Demokratie ist ein System zur Führerauslese. Der Politiker denkt in den Katego-
rien der Macht, der Unternehmer in denen des Marktes. Wir treffen hier abermals
auf das Postulat der wirtschaftsabstinenten Politik (Schumpeter 2005). Der demo-
kratische Wettbewerb entscheidet, wer regieren soll. Politische Programme sind
nichts anderes als Werbeplattformen. Die Parteien haben keine andere Aufgabe,
als Kandidaten für politische Ämter auszubrüten. Verwaltung hingegen, und zwar
sowohl in der politischen Variante, die den Regierenden Lösungen souffliert, als
auch in der rein exekutiven Variante ist Expertensache. Die Politik hat bloß zu
beraten und zu entscheiden, welche der Optionen, die ihr präsentiert werden, gel-
ten soll. Wird Macht zu dem Zweck ausgeübt, verteilungsgerechtere Verhältnisse
herbeizuführen, wird also versucht, auf marktwidrige Weise das Ergebnis des
Marktes zu korrigieren, steht das politische Ideal gegen das des Marktes. Schum-
peter räumt immerhin ein, dass sich die Wähler auch für ein Programm entschei-
den können, das den Staat in die Wirtschaft holt. Der Soziologe Niklas Luhmann
(1927–1998) hat es sich nicht nehmen lassen, die Politik ganz ähnlich in den
Bezirk der Macht zu verweisen und das Hineinregieren der Macht in das soziale
Ereignisfeld der Gewinnerwirtschaftung zu kritisieren (Luhmann 2002, 1988).
Bei alledem stellt sich die Frage, wozu im demokratischen System Macht um
ihrer selbst willen überhaupt gut sein soll, wenn sich die Politik von ausgerech-
net dem Lebensbereich fernzuhalten hat, der die Menschen mit Einkommen und
Arbeit existenziell betrifft.
Geld ist für Milton Friedman (1912–2006) das A und O des freien und sta-
bilen Marktes. Die Geldmenge darf nicht stärker wachsen als die durchschnitt-
liche Wirtschaftsleistung der Vorjahre. Die Arbeitgeber halten die Lohnsumme
klein. Kommt es zu großen Lohn- und Preissteigerungen, wird der Preisauftrieb
durch den Geldmengenautomatismus gebremst; es kommt zu Entlassungen. Unter
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 25
nur, wie wenig die Keynesianer auf das Ideal des ökonomischen Gleichgewichts
geben. Nominale Löhne und Gehälter verfälschen den Wertverlust des Einkom-
mens optisch durch steigende Preise. Wenn sich die Lohnentwicklung am realen
Einkommenszuwachs orientiert, wird die Alternative „Inflation oder Arbeitslosig-
keit“ gegenstandslos. Arbeitslosigkeit über das „natürliche“ Maß hinaus lässt sich
also allein durch die Orientierung an den Realeinkommen vermeiden (Friedman
1977, S. 29–31). Für die „richtige“ Kalkulation der Geldmenge zählt die reale
Preissteigerung der Vorjahre. Deshalb bedarf es eigentlich nicht einmal einer
Notenbank. Als staatliche Institution, deren Personal in einem politischen Prozess
bestellt wird, gerät sie allzu leicht in Versuchung, nach politischem Kalkül zu ent-
scheiden. Allein Daten sollen entscheiden. Perfekt wäre ein Computer, der so pro-
grammiert ist, dass er je nach Datenlage das Geldventil aufdreht oder drosselt.
Am Anfang der 1980er Jahre ließ sich die US-Notenbank auf die Friedman-
sche Geldmengensteuerung ein. Das Experiment wurde wieder aufgegeben. Zu
viele intervenierende Ereignisse kamen ins Spiel. Die US-Notenbank kehrte zur
klassischen Leitzins- und Offen-Markt-Politik nach aktueller Wirtschaftswetter-
lage zurück. Der politisch-publizistischen Wirkung Friedmans tat dieser Flop kei-
nerlei Abbruch. Sein großes Thema, einem Kritiker zufolge „Friedman’s folly“
(Madrick 2014, S. 79), fand weiterhin Resonanz: die Vernunftwidrigkeit des his-
torisch gewachsenen Interventions- und Sozialstaates des 20. Jahrhunderts.
Friedman war ein höchst begabter Ideenverkäufer. In der wirtschaftsliberalen
Grundstimmung der US-amerikanischen Gesellschaft traf er den richtigen Ton.
Das mit seiner Frau Rose verfasste Buch „Freedom to Choose“ ist ein Plädoyer
für die vom Staat unbehelligte Freiheit, mit seinem Geld machen zu dürfen, was
man will. Die Friedmans verfassten es im Stil der Federalist Papers, einer Stan-
dardkost der politischen Bildung (Friedman und Friedman 1990). Sie beriefen
sich auf das Zeugnis Verfassungsheiliger wie Hamilton und Madison: Die Ideale
der Gründerväter finden im freien Markt ihre Erfüllung. Leider werden sie von
Regierungsbürokraten und Sozialpolitikern seit Jahrzehnten mit Füßen getreten.
Kommen wir noch einmal auf das Kredo des gesamtwirtschaftlichen Gleich-
gewichts zurück. Auch Keynes war der Auffassung, es gelte ein Gleichgewicht
von Angebot und Nachfrage anzustreben. Nur glaubte er nicht daran, dass dieses
Gleichgewicht lange hält (Madrick 2014, S. 55). Über Kurz oder Lang geraten
Angebot und Nachfrage wieder aus dem Lot. Friedman hingegen – und mit ihm
die Neoliberalen – glauben, dass ein dauerhaftes Gleichgewicht durchaus erreich-
bar ist, wenn der Markt nur sich selbst überlassen bleibt und sich eine politisch
blinde Instanz um den Geldwert kümmert.
Die wenigsten Wirtschaftstheoretiker dürften an der missionarischen Attitüde
Friedmans Gefallen gefunden haben. Doch die Grundidee des stets aufs Neue ins
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 27
Gleichgewicht findenden Marktes ist weithin fachlicher Konsens. Für den Beob-
achter, der diese Sicht auf die Welt nicht teilt, stellt sich die Frage, was dieses
Modell überhaupt taugt, wenn allzu viele Phänomene der unschönen ökonomi-
schen Wirklichkeit ausgeblendet werden.
Dazu eine Auswahl:
1. Sparer, die ihre Konten als Mittel zur Wertaufbewahrung führen, verhalten
sich demnach ökonomisch unvernünftig. Sie horten das Ersparte auf gering
verzinsten Konten statt Aktien zu kaufen oder ihr Geld in Renten- oder Vermö-
gensfonds oder in Schatzbriefen anzulegen. Der Sparer als ein Homo oecono-
micus wäre besser beraten, sich wie ein Kleinkapitalist zu verhalten und sein
Vermögen als Risikokapital einzusetzen. Der Notgroschen und die Rücklage
für Krankheit und Alter, für Kleinsparer wichtige Teile der Lebensplanung,
sind gleichwohl Realität.
Die Einkommensverteilung selbst kann nicht falsch sein. Wenn sie den idealen
Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage, also einen stabilen Preis generiert, ist
sie schon legitim. Wenn sinkende Nachfrage den Preis nach unten zieht, ist es
an der Zeit, den uneinsichtigen Sparer durch die drastische Senkung der Zinsen
auf sein Sparvermögen zur Vernunft zu bringen, oder aber die Werbetrommel
zu rühren, um risikoscheue Zeitgenossen mit grandiosen Renditeversprechen
aus der altmodischen Kleinsparerecke zu locken. Die Vorsorge für das Alter
und die Wechselfälle des Lebens machen sich besser in der Kapitaldeckung pri-
vater Renten- und Gesundheitsfonds. Die Regierung soll sich ja eigentlich aus
dem Wirtschaftsgeschehen heraushalten. Aber wenn sie hier nachhilft, etwa
mit neuen Rentenberechnungsformeln oder mit der Steuerbefreiung für private
Altersrücklagen, hat der „Markt“ nichts dagegen: ganz im Gegenteil!
2. Der Investor dieser Tage, der nicht in Anlagen investiert, um die Produktion zu
verbessern, oder der darauf verzichtet, Geld in Forschung und Entwicklung zu
stecken, hat im Marktmodell eigentlich nichts zu suchen. Der Finanzmarktin-
vestor, leider eine höchst reale Figur, hantiert mit Geld allein in der Absicht,
sein Vermögen ohne die Investition in Sachwerte zu mehren. An Unternehmen
interessiert ihn allein der Börsenwert. Er schafft keine materiellen Werte, keine
Arbeitsplätze und kein Wachstum, das sich in greifbaren Leistungen und Pro-
dukten niederschlägt.
3. Im Staatshaushalt wird viel Geld für öffentliche Investitionen ausgegeben, für
Amtsgebäude, Schulen, Straßen, Wasserwege, Sicherheit und Forschungsins-
titute. Liberale Ökonomen halten Staatsausgaben – mit einigen Ausnahmen –
schon als solche für schädlich. Der Schaden ist noch größer, wenn Mehraus-
gaben am Kapitalmarkt finanziert werden. Die Regierung konkurriert dann
28 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
mit privaten Investoren um Kapital. Viele Aufgaben, die von staatlichen oder
öffentlichen Diensten besorgt werden, vom Krankenhaus bis zum hin Hafen,
lassen sich ebenso gut von privaten Anbietern leisten. Die Regierung arbei-
tet mit dem Geld der Steuerzahler. Sie gibt großzügiger aus, als es sich ein
Unternehmer leisten könnte. Unternehmer wollen einen Gewinn erwirtschaf-
ten und blicken auf Effizienz und Sparsamkeit. Auch die Aufsichtsfunktion
der Regierung ist suspekt. Aufsicht bedeutet Regulierung, und Regulierung
(z. B. Sicherheitsbestimmungen, Umweltauflagen, Verbraucherschutz) engt
die Gestaltungsfreiheit der Regulierten ein und verhagelt ihnen den Gewinn.
Wie man es auch dreht, die Regierung ist ein Störfaktor. In der Modellwelt des
Marktes hat sie einfach keinen Platz.
Robert Reich erinnert daran, dass kein Markt ohne staatlich gesetzte Regeln
funktioniert. Das Mantra der „Deregulierung“, welches die Abschaffung von
Regeln suggeriert, setzt tatsächlich neue Regeln in die Welt, die den Freiraum
einiger Wirtschaftsakteure erweitern. Demzufolge wäre „Re-Regulierung“ der
ehrlichere Begriff (Reich 2016, S. 28). Neben der förmlichen Revision der
Spielregeln gibt es noch die „weiche“, um nichts weniger effektive Masche,
existierende Regeln einfach stehen zu lassen, die Etats der zuständigen Auf-
sichtsbehörden aber zusammenzustreichen, sodass z. B. weniger Steuerprüfer
und Schadstoffkontrolleure unterwegs sind.
4. Dem Marktmodell zufolge sinkt das Lohnniveau mit steigender Arbeitslosig-
keit, und weniger Beschäftigung bremst den Preisanstieg. Es fehlt aber nicht
an Beispielen, dass sich das Lohnniveau im Großen und Ganzen auch bei
hoher Arbeitslosigkeit hält und auch die Preise noch steigen. Gut verdienende
Firmen bezahlen ihre Mitarbeiter anständig, um das knappe Gut qualifizierter
Arbeiter und Angestellter nicht an die besser bezahlende Konkurrenz zu ver-
lieren. Gering Qualifizierte werden eher geopfert, zumal sich einfache Tätig-
keiten zunehmend durch Automaten bzw. Roboter ersetzen lassen. Weder die
Ökonomiepäpste und leider auch nicht allzu viele Wirtschaftspolitiker haben
diese Beschäftigten überhaupt auf dem Schirm. Unternehmen mit großer
Marktmacht können es sich leisten, die Preise ungeachtet der tatsächlichen
Nachfrage anzuheben, solange sich die großen Anbieter im selben Produktseg-
ment darin einig sind, mitzumachen.
Das Standardmodell des Marktes verfehlt beide Phänomene: Die Spaltung des
Arbeitsmarktes in hoch und gering Qualifizierte sowie die Realität weniger gro-
ßer Unternehmen, welche die Märkte unter sich aufteilen und die Souveränität
des Konsumenten Lügen strafen. Beides, das Abhängen des Niedriglohnsektors
und das Oligopol weniger Anbieter sind Ergebnisse des Marktgeschehens und
2.2 Die Modellwerkstatt der Wirtschaftstheorie: Was nicht … 29
lassen sich als solche logischerweise vom Markt selbst nicht korrigieren. Folg-
lich ist die Politik gefordert, Missstände zu bekämpfen, für die der ökonomische
Begriffsapparat überhaupt keine Worte hat: Ungerechtigkeit. Für den Niedrig-
lohnsektor bieten sich Mindestlöhne und Qualifizierung an, für überschießende
Marktmacht Wettbewerbskontrolle und wirksame Sanktionen, also die als Teu-
felszeug verschriene Regulierung.
Die wirtschaftsideologische Wasserscheide verläuft am Arbeitsmarkt und
generell am Wert der Lohnarbeit. Nachfragetheoretiker, letztlich Keynes und
Gleichgesinnte, setzen die Arbeit im Wirtschaftsgeschehen zentral, mögen sie
auch das Eigeninteresse des Investors als Hebel benutzen, um für Arbeit und
damit für die Haupterwerbsquelle aller Menschen zu sorgen, die keine einträg-
liche selbstständige Existenz führen oder große Vermögen geerbt haben. Arbeit
ist für die Neoliberalen ein Kosten-, ja eigentlich ein Störfaktor, der Ertrag und
Gewinn drückt. Beide Richtungen der Wirtschaftstheorie nehmen Partei, die Ers-
tere hält es mit Arbeit, d. h. der Voraussetzung für Subsistenz und Wohlstand, die
Letztere mit dem Kapital, d. h. mit Früchten, die weit oben am Wirtschaftsbaum
wachsen.
Der neoliberalen Orthodoxie zufolge braucht der ökonomische Prozess keine von
außen auferlegten Regeln. Der Markt produziert seine Regeln fortwährend selbst.
Legitim sind sie – sauber tautologisch – allemal, weil sie ja ein Ergebnis des
Marktes sind. Allein Regeln, die nach Rasse, Herkunft und Religion diskriminie-
ren, sind, wie sogar Friedman betont, abzulehnen. Wirtschaftliche Ungleichheit
hingegen ist von der Natur gegeben. Allein als starke Hand wird die Regierung
gebraucht, um ggf. die Einhaltung der Verträge zu erzwingen sowie die Sicherheit
der Person und des Wirtschaftsverkehrs zu gewährleisten.
Der Ordoliberalismus stimmt auf weiteren Strecken mit der neoliberalen Ideo-
logie überein. Er weist Staat und Regierung aber eine positive Rolle zu. Die mit
dem Namen Walter Eucken (1891–1950) verbundene so genannte „Freiburger
Schule“ bildete sich in den 1930er und 1940er Jahren. Sie kommuniziert ihre
Ideen in dem seit 1948 erscheinenden Jahrbuch „Ordo.“ Wirkung erzielte der
Ordoliberalismus hauptsächlich in Deutschland. Wirtschaftsfreiheit und Markt
stehen bei Eucken, der als Begründer dieser Schule gilt, im Mittelpunkt (Eucken
2004, S. 43–55, 291–299, 334–337). Ein wichtiger Anstoß für diese Richtung, die
sich in den vom Dritten Reich weniger beachteten akademischen Nischen ent-
faltete, war der wilde Kapitalismus im Deutschland der 1920er Jahre. In den IG
30 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Farben bildeten die Chemieriesen ein Kartell, und die Flicks und Stinnes stampf-
ten scheinbar aus dem Nichts neue Industrieimperien aus dem Boden. Sie traten
neben die Industriekomplexe der Krupps und Thyssens, die noch in der „guten
alten“ Zeit groß geworden waren. Daneben hatten auch mittelständische Betriebe
noch Platz. Für sie wurde die Luft nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere
in der Weltwirtschaftskrise dünner.
Nach Ansicht der Ordoliberalen ist das Ersticken des Wettbewerbs das wirt-
schaftliche Übel der Zeit (Ptak 2015, 2016). Den regellosen Markt lehnen sie
ebenso ab wie einen Staat, der in den Markt hineinregiert. Doch der Staat hat die
legitime Aufgabe, Regeln für den Wettbewerb aufzustellen. Die Erzwingung dieser
Regeln soll verhindern, dass sich die Starken ob ihrer Stärke und die Listenreichen
ob ihrer Tricks und Täuschungen durchsetzen (Kromphardt 2015, S. 222–226).
Wie das politische System beschaffen ist, das sich dieser Aufgabe annimmt, inte-
ressiert nicht weiter. Von Demokratie halten die Gründer der Freiburger Schule
eher wenig, bedeutet sie doch Parteienherrschaft, und die Parteien gelten ihnen als
Vehikel für die Einflussnahme der Interessengruppen. Die frühen Ordoliberalen
waren Kinder ihrer Zeit und politisch eher vom Zuschnitt der konservativen Repu-
blikskeptiker der Weimarer Epoche, teils auch der frühen Bundesrepublik geprägt:
Der Staat ist zu wichtig, um ihn Partikularinteressen auszuliefern.
Der Unterschied zum liberalen Modell der Angelsachsen liegt in der Ableh-
nung eines ökonomischen Darwinismus. Der Wettbewerb muss beobachtet und
unlautere Wettbewerbspraktiken müssen sanktioniert werden. Nimmt der Staat
diese Aufgabe ernst, hält er sich im Übrigen aber fern vom Wirtschaftsgeschehen,
wird eigentlich auch Sozialpolitik überflüssig (Nass und Müller 2013, S. 168–
170). Der Wettbewerb erzeugt Wohlfahrt für alle. Regeltreues Wirtschaften nützt
dem Verbraucher, das Wettbewerbsmoment fördert die Innovation.
Sieht man von der Idee der staatlich gesetzten Wettbewerbsverfassung ab, ist
hier viel Übereinstimmung mit den angelsächsischen Marktadvokaten zu kons-
tatieren (Kolev 2013; Wohlgemut 2013). Einige Autoren ordnen die Freiburger
Schule inzwischen dem breiten Strom des Neoliberalismus zu (etwa Willke 2003,
S. 86–89).
Nicht alle Ordoliberalen trauen dem Wettbewerb die Lösung der Gerechtig-
keits- und Verteilungsprobleme zu. Was der Markt nicht richten kann, wird für
Alfred Müller-Armack (1901–1978) und Wilhelm Röpke (1899–1966) zur Auf-
gabe der Politik. Sozialpolitik, Wettbewerb und Marktwirtschaft sind keine
Gegensätze, sondern ergänzen einander (Müller-Armack 1990, S. 103–107, 116–
121). Grundgedanke dieser „Dissidenten“ ist die staatliche Hilfe, aber auch die
Hilfe zur Selbsthilfe für alle, die sonst unter die Räder kommen (Röpke 2009,
S. 233–246). Das Gleiche besagt die Leitidee der Subsidiarität, eine tragende
Säule der Katholischen Soziallehre (Nass und Müller 2013).
2.3 Der politische Gehalt des liberalen Wirtschaftsmodells 31
der Jahrhundertkatastrophe der Weltkriege. In den 1930er Jahren wurde die Zeit
reif für ein Umdenken. Es trug erst auf den Trümmerfeldern des letzten Welt-
kriegs Früchte.
2.3.2 Ideologie
Wer durch die ökonomischen Periodika blättert, gewinnt leicht den Eindruck,
dass sich darin Anhänger eines okkulten Zirkels austauschen. Die Eingeweihten
wissen Bescheid. Doch schon Ökonomen, die Phänomene der Realwirtschaft
analysieren, dürften damit wenig anfangen können. Der Grund ist einfach: Sie
arbeiten sich von Daten, Fakten und Hypothesen zu vorsichtigen Verallgemeine-
rungen vor. Die Theorie hat demgegenüber die liberale Modellwelt vor Augen.
Das wäre an sich kein Problem. Was heute in der Politikwissenschaft als moderne
politische Theorie gehandelt wird, ist so hochgestochen philosophisch, dass sich
auch hier die Frage stellt, was diese Theorie mit dem Treiben einer Politikwis-
senschaft verbindet, die sich mit den Facetten der platten politischen Wirklichkeit
auseinandersetzt (Hartmann 2013a). Die wenigsten würden es zwar zugeben, aber
die meisten nehmen diese Art von Theorie gar nicht erst zur Kenntnis und wenn
doch, quittieren sie es mit Achselzucken.
Die Theorie hat in der akademischen Ökonomie indes einen so großen Stel-
lenwert, dass ihr kaum jemand, der dort Karriere machen will, seine Reverenz
zu verweigern wagt. Das Eintauchen in das modellierwütige Milieu hinterlässt
Spuren. Es drückt auch denen, deren Métier gar nicht so sehr die Wirtschaftsthe-
orie ist, einen intellektuell eingebläuten Maßstab in die Hand, an dem die reale
Wirtschaftswelt beurteilt werden kann. Schon um der mathematischen Darstell-
barkeit willen, die über akademische Karrieren mit entscheidet, ist radikale Ver-
einfachung die erste Pflicht des theoretischen Ökonomen (Hodgson 1999).
Gabriel Almond und Stephen Genco haben in der Auseinandersetzung mit
einer auf die Datenanalyse fixierten Richtung der Politikwissenschaft vor lan-
ger Zeit zwischen Wolken und Uhren unterschieden. Uhren stehen für Präzi-
sion, Messbarkeit und mechanisches Antriebsprinzip, metaphorisch also für den
Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft. Wolken hingegen versinnbildlichen
soziale Tatsachen. Sie ändern ständig ihre Form, ohne dass sie ihre Erkennbar-
keit als Wolken verlieren. Sie lassen sich beschreiben und aus ihrer Gestalt und
Bewegung lassen sich Schlüsse ziehen. Präzise vermessen kann man sie aber
nicht (Almond und Genco 1977). Ähnlich verhält es sich mit der Wirtschaftswelt.
Sie ist immer da, zeigt aber heute schon ein anderes Bild als gestern und morgen
wieder ein anderes.
34 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
nun gar nichts am Hut hatte, ließ sich von einem krachliberalen Notenbankpräsiden-
ten zu diesem Preis überreden, um ihm seine Niederlage in einem Machtkampf um
die Zinspolitik zu versüßen. Einer der ersten Preisträger, der Sozialdemokrat Gun-
nar Myrdal, bekannte in später Einsicht, es sei ein Fehler gewesen, den Preis über-
haupt angenommen zu haben, dazu noch gemeinsam mit F. A. von Hayek, für den
er nichts als Verachtung übrig hatte.
Über die Preisverleihung befinden Fachökonomen. Zweidrittel der Preise gingen
bislang an Modellbastler, die Hälfte an Ökonomen der University of Chicago – seit
Jahrzehnten eine Hochburg neoliberalen Denkens. Gleichzeitig gibt es eine starke
Überschneidung vieler Preisträger mit dem in der Mont Pélerin Society versam-
melten Exklusivzirkel neoliberaler Ökonomen. Sie alle denken auf derselben Wel-
lenlänge. Kaum ein Großideologe des politikfreien Marktes, der sich nicht früher
oder später mit diesem politisierten Preis hat schmücken dürfen. Um nur einige der
bekanntesten zu nennen: Hayek, Friedman, Becker, Stigler, Buchanan.
Gelegentlich wird eingeworfen, schließlich sei auch der – vom Stifter selbst
ins Leben gerufene – Nobelpreis für Literatur eine Ehrung, die nichts mit Wis-
senschaftlichkeit zu tun habe. Stimmt: Doch neben zahlreichen Preisträgern, die
keiner kannte und deren Bücher auch kaum jemand kaufte, gab es doch immerhin
Autoren, die es verstanden, den Geist ihrer Epoche einzufangen und noch Jahr-
zehnte später begeisterte Leser zu finden. Die Entdeckungen der großen Chemi-
ker, Mediziner und Physiker haben die Welt nicht schlechter gemacht. Aber die
Nobelökonomen?
Ökonomen, die sich mit konkreten Problemen befassen und deren Arbeit für
die Beurteilung des gesellschaftlichen und politischen Alltags relevant ist, können
vom Prestige der Theoretiker nur träumen. Aber selbst die Theoretiker kommen
nicht daran vorbei, eine Reihe von Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die in kei-
nem Modell Platz finden (Galbraith 2012c, S. 17 f.). Unverdünnte, „irrationale“
Empfindungen, Tatsachen der rauen ökonomischen Wirklichkeit, vertragen sich
mit keinem Modell (Dietz 2011, S. 292). Es sei nur an die Enttäuschung erinnert,
die sich einstellt, wenn der Markt trotz aller Mühen nicht das erhoffte Resultat
liefert. Dann mag es sein, dass die Enttäuschten nicht einfach den Exit wählen,
d. h. sich zurückziehen, sondern dass sie versuchen, das Marktergebnis durch
„Voice“, Widerspruch, d. h. politisches Handeln zu korrigieren (Hirschman 1988,
S. 17–31, 70–76).
Historie und Erfahrung passen nicht in die Theorie. Sie werfen methodische
Probleme auf, denen mit Logik nicht beizukommen ist (Hodgson 2001, S. 6 f.).
Stigler, Becker und Tullock, große Namen in der Ökonomenzunft, setzen in Fort-
führung der neoklassischen Tradition individuelle Präferenzen mit Geschmäckern
gleich. Sie sind da, unabänderlich und drängen auf Realisierung im Genuss. Der
36 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Inhalt der Präferenz interessiert nicht, es zählt allein die Rationalität, mit der sie
angestrebt wird (Texeira 2014, S. 17). Welche Ordnung wäre auch besser als jene,
in der es vernünftig zugeht (Wagner 2015, S. 17; Stigler und Becker 1977)?
Aber was ist mit denen, die ihre Vernunft darauf verwenden, die kalkulierba-
ren Risiken einer Straftat einzugehen? Selbst der Soziopath mit seiner gottlob
nicht alltäglich anzutreffenden Präferenz verhält sich zweckrational (Asjoma
2015, S. 314). Risiko ist Risiko, ob kriminell oder legal-geschäftlich. Damit der
Unterschied gewahrt bleibt, braucht es den strafenden Staat. Bei der Wirtschafts-
kriminalität mit Betrug und Finanzwaffen, die im DesignerOutfit begangen wird,
wird es aber schwierig, überhaupt noch die Grenze zu erkennen.
Um die Anpassung der Wirklichkeit an das Marktideal mit Erfolg zu kommu-
nizieren, bedarf es einer breit vermittelbaren Sprache, die den gesellschaftlichen
Erfahrungs- und Wertekanon trifft. Deshalb avancierten Hayek und Friedman zu
Prominenz (Egidi 2005).
Seit den 1960er Jahren setzt die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaft
den weltweiten Standard. Gleichzeitig wurde es chic und der Karriere förderlich,
den mit Mathematik gespickten Gestus der US-Ökonomie zu übernehmen (Galb-
raith 2012c, S. 17 f.; Krugman 2011, S. 311). Keynes galt nicht mehr viel, als es
Mode wurde, ihm die Stagflation der 1970er Jahre in die Schuhe zu schieben.
Politiker und Wirtschaftspublizisten retteten sich ans neoliberale Ufer, als sein
Ansehen in den Keller ging. Berühmt ist der Ausspruch Ronald Reagans in seiner
Inaugurationsrede von 1981, die Regierung biete keine Lösung der Probleme, sie
selbst sei das Problem – eine Einstellung, die sich bei Ultraliberalen hartnäckig
behauptet hat.
Mit dieser Entwicklung gerieten Steuern, Staatsausgaben, Regulierungen und
vieles andere mehr unter steigenden Rechtfertigungsdruck. Der Markt wird mit
Verbotsschildern umstellt, die der Politik den Zutritt verwehren. Letzter Schrei
sind Schuldenbremsen und Schuldengrenzen. In der Kombination mit einer
öffentlichen Stimmung, die von Steuern nur hören will, wenn es darum geht, sie
zu senken, kommt dies dem Einfrieren einer schiefen Verteilungsordnung gleich.
Entgegen dem Eindruck, den die Neoliberalen verbreiten, ist der Staat auf dem
Marktplatz immer dabei. In Keynes Wirtschaftsbild appelliert er mit der Aussicht
auf Gewinn qua öffentliche Aufträge und attraktive Kredite an Investoren und
Banken. Die Investoren sorgen damit als Nebeneffekt, der für sie selbst nicht groß
zählt, für Beschäftigung (Kromphardt 2015, S. 222). Die Neoliberalen wiederum
brauchen politisches Handeln, um öffentliche Ausgaben und Regulierung zurück-
zufahren – und dafür zu sorgen, dass es dabei bleibt (exemplarisch: Stigler 1982).
Hätten die meisten Ökonomen die Geschichte nicht vollständig aus ihrem Wissen
2.3 Der politische Gehalt des liberalen Wirtschaftsmodells 37
getilgt, wüssten sie, dass es den Staat schon vor dem Markt gegeben und dass die
Politik dem Markt auch den Weg gebahnt hat (Polanyi 1978, S. 196).
Der politikfreie Markt wird rundum verteidigt: Albert O. Hirschman nennt
drei typische Defensivargumente. a) Selbst gut gemeinte Eingriffe in den Markt
sind pervers und verschlimmern das vermeintliche Übel nur. Es wird sich sowieso
nichts ändern. b) Am Ende kann es nicht gelingen, dem Markt etwas aufzuzwin-
gen, das er nicht will. c) Sollte die Politik eine Korrektur erzwingen, setzt sie nur
ein neues Übel in die Welt (Hirschman 1991).
So und ähnlich lassen sich auch alle Konservativen vernehmen, seitdem
Edmund Burke mit der von Gott gewollten Ordnung gegen die Ideale der Franzö-
sischen Revolution gewettert hat (Burke 1987).
Der vollständige Markt, so vor langer Zeit bereits der Ordoliberale Alexander
Rüstow, wird wie ein von höherer Vernunft geschaffener Organismus beschwo-
ren, wie eine Schöpfung mit der Fähigkeit zur Selbstheilung. In diese Schöpfung
dürfen Menschen nicht mit ihren eigenen Absichten hineinpfuschen (Rüstow
2001, S. 40).
Bei allem Abwehrgetöse der Liberalen gegen die sozialistische Staatswirtschaft
geriet ihre Polemik gegen Ökonomen, die sich mit dem Gedanken des umver-
teilenden Sozialstaates anfreundeten, fast noch heftiger als die Attacken auf den
Sozialismus. Jetzt ging es gegen Abtrünnige und Kompromissler. Sie sind genauso
schlimm wie die offenen Feinde des Marktes, zersetzen sie doch die wahre Lehre
von innen her. Sie unterminieren die Fundamente des liberalen Prachtbaus mit
revisionistischem Denken. Hier drängt sich die Parallele mit der anderen großen
Gesellschaftstheologie des Marxismus-Leninismus auf. Schlimmer als der offene
Feind, als Liberale und Konservative, galten ihr Sozialdemokraten, die da ver-
meinten, mit demokratischem Parlamentarismus, Sozialpolitik und arbeiterpartei-
lichem Programm noch in sozialistischen Gewässern zu segeln, während es doch
darauf ankam, die Krise des Kapitalismus auf die Spitze zu treiben, um im großen
Kladderadatsch die Geburt einer neuen Gesellschaft zu erleben.
Im liberalen Weltbild ist der Primat privater Güter gesetzt. Nun gibt es aber
auch öffentliche Güter. Sie sind ein Ergebnis der Politik, niemand darf von ihrer
Nutzung ausgeschlossen werden. Ausgehend von der Absolutheit des Rechts auf
Eigentum – das historisch übrigens nicht haltbar ist, da originär als Inbesitznahme
entstanden (siehe auch oben, Abschn. 2.1.1) –, behauptet Kenneth Arrow, es gebe
kein überzeugendes Kriterium, wonach eine Mehrheit von Individuen eine Ent-
scheidung treffen dürfe, die gerechter wäre als der Status quo (Arrow 1951).
Übersetzen wir dieses Theorem, das die Idee der Gerechtigkeit mit der Macht
der Logik abwehrt, in die platte Wirklichkeit. Eine Mehrheit will den Reichen ans
Portemonnaie, um das Los der Armen zu verbessern. Ihre Motivation ist diffus:
38 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Einige Arme sind schlicht neidisch, andere wollen die Reichen ärgern. Idealis-
ten, denen es selbst gut geht, befinden die Lage der Armen für unwürdig. Viele
Arme wollen einfach nur mehr zum Leben. Diese Mehrheit blockiert mit diffusen
Motiven die Präferenz der Reichen, alles so zu lassen, wie es ist. Werden die Rei-
chen majorisiert, wird ihnen also ein Stück ihres Reichtums genommen, mag dies
den Armen nützen. Die Reichen selbst aber haben weniger als vorher. Der Akt ist
somit ein flagranter Verstoß gegen das Pareto-Optimum. Den Einwand, dass den
Happy few auch nach dem Steuerabzug noch genug übrig bleibt, um ein angeneh-
mes Leben zu führen und weiterhin Geschäfte zu machen, sticht nicht. Es geht
ums Prinzip: Keinem soll von dem genommen werden, was er hat! Dazu passt
der geistvolle Ausspruch des ultralibertären Ökonomen Murray Rothbard: „Steu-
ern sind Diebstahl.“ Keiner zahlt sie freiwillig und allein deshalb, weil sie mit
Zwangsandrohung bewehrt sind (Rothbard 1982).
Bei diesem Denken spielt es keine Rolle, dass es realiter mehr oder weniger
große Schnittmengen individueller Interessen gibt, die sich auf soziale Klassen,
ethnische Minderheiten oder Religionsgemeinschaften reimen. Immerhin arbeitet
die Werbung, ein gemeinhin als marktkonform geltendes Treiben, mit eben diesen
Größen. Sorry, aber das ist etwas ganz anderes! Denn hinter aller Werbung steht
schließlich der Inhaber einer Werbeagentur. So stimmt’s dann wieder mit der
Behauptung, dass es nichts von Bedeutung gibt außer dem Ego!
Verlassen wir die Ökonomie und werfen wir einen Seitenblick auf John Rawls
(1921–2002), einen der bekanntesten Philosophen der letzten Jahrzehnte, um kurz
zu zeigen, dass eine auf den individuellen Vorteil abzielende Sozialethik zu fast
demselben Ergebnis führt. Rawls’ Thema ist die Verteilungsgerechtigkeit, also
eben das Phänomen, mit dem die ökonomische Theorie so gar nichts anzufangen
weiß. Hinter einem fingierten Zustand, der die soziale Identität vorübergehend
hinter einem Schleier des Nichtwissens verschwinden lässt, einigen sich Reiche
und Arme, die jetzt nicht mehr wissen, woher sie kommen, dass ihre Freiheit
künftig nur eingeschränkt werden darf, wenn dies dem Zweck dient, mindestens
den Ärmsten aus seinem Elend herauszuholen. Dem Krachliberalen, der momen-
tan vergessen hat, dass er zu den Siegern der Geschichte gehört, dürfte dieses
Anliegen in seiner Herkunftswelt vollkommen fremd gewesen sein. Er wird mit
diesem Postulat leben können. Schließlich ist auch diese einzige Bedingung für
den Eingriff in die persönliche Freiheit ein Resultat kühler Berechnung. Der Mul-
timilliardär weiß ja nicht, ob er wieder auf die Kommandohöhen der Wirtschaft
zurückkehrt oder aber im Schlafsack unter einer Brücke aufwacht, sobald sich der
Schleier des Nichtwissens hebt (Rawls 1979).
2.3 Der politische Gehalt des liberalen Wirtschaftsmodells 39
Für James Buchanan (1919–2013) und Gordon Tullock (1922–2014) sind öffent-
liche Leistungen wie Sicherheit sowie Rechts- und Vertragserzwingung legi-
time Public Goods. Greift die Regierung aber durch Steuern oder Vorschriften
in Eigentumsrechte ein, erzeugt sie öffentliche Übel: Public Bads. Um Letzteres
so schwer wie möglich zu machen, braucht es eine Verfassung mit sehr hohen
Anforderungen an den Mehrheitsentscheid (Buchanan 1984; Buchanan und Tul-
lock 1965).
Freiheit ist grundlegend ökonomische Freiheit, entfaltet sie sich doch erst,
wenn die Mittel zur Verfügung stehen, um zu entscheiden, ob sie zum Sparen,
zum Genießen, zur Unternehmensgründung oder für gute Zwecke verwendet
werden. Die blanke politische Freiheit ist etwas für Intellektuelle, Künstler und
Habenichtse. Sie leisten nichts und verachten den Genuss wirtschaftlicher Frei-
heit. Um den eventuellen Übermut der politischen Romantiker und der so viel
zahlreicheren Leistungsschwachen zu dämpfen und Eingriffe in das Eigentum
abzuwehren, ist eine gewaltenteilige Ordnung einzurichten. So lassen sich die
essenziellen Freiheitsgüter mit hohen Verfassungshürden schützen.
In der freiheitsphilosophischen Verkleidung der neoliberalen Ökonomie steckt
eine sozialdarwinistische Wirtschaftsordnung. Sie erlaubt es den Reichen, noch
reicher zu werden, und einigen Tüchtigen, sich ihnen mit findigen und erfolg-
reichen Geschäftsideen hinzuzugesellen. Wie steht es aber mit der politischen
Ordnung, dem Staat, dessen Unentbehrlichkeit auch die Marktradikalen nicht
leugnen? Demokratie und Kapitalismus sind für Neoliberale kongenial. Damit
stellt sich die Frage, wie denn eine dem Kapitalismus förderliche Demokratie
auszusehen hat.
Nach von Hayek hat sich die Demokratie als Herrschaftsform bewährt, weil
sie die politische Entscheidung auf Bereiche beschränkt, die das Marktgeschehen
nicht stören (von Hayek 1991, S. 98). Was es dort zu regeln gibt, ist Vertragssache
Einzelner. Dass auf dem Arbeitsmarkt Vertragsparteien unter höchst ungleichen
Voraussetzungen kontrahieren, lässt von Hayek als Gegenargument nicht gelten.
Außerhalb der Politik ist der Reiche mächtiger als der Arme. Aber was ist falsch
daran? In einem System politischer Freiheit und wirtschaftlicher Ungleichheit ist
der Arme immer noch freier als der Reiche in einem System, das politische Frei-
heiten verweigert (von Hayek 1991, S. 136). Zählt politische Freiheit also mehr
als eine wirtschaftliche Freiheit, die urwüchsige Unterschiede zwischen Arm
und Reich legitimiert? Was hat der Arme von seinen politischen Rechten, wenn
40 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
diese nicht dazu gebraucht werden dürfen, den Markt zu seinen Gunsten zu kor-
rigieren? Margaret Thatcher, die einstige britische Premierministerin, brachte die
Logik dieses Freiheitsverständnisses 1987 mit den Worten auf den Punkt: „There
is no such thing as society. There are individual men and women, and families.“
Demokratie kann für die wirtschaftliche Freiheit zur Gefahr werden. Reiche
und Arme haben jeder eine Stimme. Es gibt aber viele Arme und auch andere,
die zwar nicht arm sind, aber mit dem Risiko leben, durch Jobverlust, Krankheit
und andere Unwägbarkeiten aus der Mittelschicht abzusinken. Das 19. Jahrhun-
dert und noch das frühe 20. Jahrhundert hatten dafür eine Lösung: Revolution!
Die Zeit der klassenbasierten Revolutionen ist passé. Die Freiheit im Wirtschaf-
ten, die der Ungleichheit den Rücken stärkt, ist ein hohes Gut. Deshalb darf die
Demokratie nur mit der Einschränkung als ein vernünftiges Entscheidungsprin-
zip gelten, dass sie nicht daran rührt. Der nicht ganz so marktgläubige Betrachter
fragt sich allerdings, was Demokratie dann noch für Menschen wert ist, denen das
Schicksal Armut und Krankheit zudiktiert und Chancen verweigert.
Mit der gleichen Stoßrichtung definiert Friedman Freiheit als den Verzicht
auf Zwang. Der Staat hat allerdings sogar im Marktgeschehen einen legitimen
Platz. Seine Erzwingungsmacht ist unverzichtbar, um den Markt als zwangsfreies
Geschehen überhaupt zu ermöglichen (Friedman 1984, S. 36). Aha, der Markt ist
also doch nicht voraussetzungsfrei! Aber zurück zu Friedman: Die Unternehmen
wollen mehr verdienen, der Konkurrenz Märkte abspenstig machen, die Erfin-
dungen anderer kopieren und damit Entwicklungskosten sparen. Sie neigen dazu,
den Konsumenten zu täuschen und mit unfairen Methoden die Konkurrenz auszu-
stechen. Am Markt ist jeder Akteur Partei. Es braucht einen Unparteiischen, der
dafür sorgt, dass die Markthygiene beachtet wird. Im Marktgeschehen selbst hat
er nichts zu suchen. Wer sonst, wenn kein Agent im Auftrag des Staates, sollte
dies – wie im Marktbild der Ordoliberalen – leisten?
Selbst wenn sich der Staat auf die Rolle der Marktaufsicht beschränkt, bleibt
immer noch die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um seine Tätigkeit zu finan-
zieren, und welche Rechte er braucht, um seine Schiedsrichterrolle am Markt
mit Biss zu versehen. Schließlich ist jede Steuerforderung, auch jede staatliche
Anordnung zur Bekämpfung von unlauterer Konkurrenz, von Anlegertäuschung
und Wucher, sind Gesundheitsvorschriften und Sicherheitsstandards Eingriffe in
Eigentumsrechte, und zwar unabhängig davon, ob sie von einem demokratischen
Staat oder von einer autoritär herrschenden Elite verordnet werden. Hier konzediert
Friedman ein kniffliges Problem. Es fällt ihm nicht mehr dazu ein, als dass der-
lei möglichst im Konsens zwischen Unternehmen und Staat entschieden werden
sollte. Erklärtermaßen fand er trotz allem, was er sonst schrieb, den chilenischen
2.3 Der politische Gehalt des liberalen Wirtschaftsmodells 41
Diktator Augusto Pinochet persönlich ganz in Ordnung, der 1973 dem Spuk einer
demokratisch einigermaßen legitimierten linken Regierung gewaltsam ein Ende
machte und sein Land anschließend entstaatlichte, was das Zeug hielt.
Einstimmigkeit wäre eigentlich ideal, um Eingriffe in das Eigentum zu recht-
fertigen. Weil sie aber nicht praktikabel ist, führt am Mehrheitsentscheid kein
Weg vorbei. Damit die Mehrheit nicht gleich das Porzellan der Eigentumsord-
nung mit zerschlägt, muss die staatliche Willensbildung so eingerichtet sein, dass
sie den Mehrheitswillen durch ein Filtersystem von Institutionen zwingt. Diese
Institutionen fassen jeweils für sich einen Mehrheitsbeschluss. Am Ende mag ein
gleichlautendes Endergebnis dabei herauskommen. Mit größerer Wahrscheinlich-
keit werden jedoch zahlreiche Änderungen verhandelt. Eventuell gibt es aber gar
keine Einigung und alles bleibt wie gehabt.
Friedman fügt hinzu, wenn es um nicht sonderlich wichtige Dinge gehe,
sollten sie mit einfacher Mehrheit entschieden werden. Regt sich bei einer Min-
derheit jedoch starker Widerspruch, muss mit größerer Mehrheit entschieden
werden. Ohne damit allzu kühn zu interpretieren, lässt sich resümieren, dass es
Friedman nicht so sehr um die allgemeinen Freiheitsrechte geht, sondern vor
allem um das Recht auf Eigentum – die großen Eigentümer sind nun einmal eine
Minderheit! Diesen Punkt belässt Friedman im Vagen.
Die Denkschule um Buchanan und Tullock wird deutlicher. Sie konstruiert die
Mehrheitsherrschaft zweiphasig. In einem Basisvertrag kommen alle Beteiligten
einstimmig überein, die Grenzen ihrer Freiheit zu definieren, jenseits dieser Gren-
zen aber den Mehrheitswillen gelten zu lassen. Für die Neudefinition der grund-
legenden Freiheiten muss wieder Einstimmigkeit verlangt werden (Buchanan und
Tullock 1965).
Für von Hayek und Friedman ist Demokratie ein unvermeidbares Übel. Eine
autoritäre Elite oder eine Diktatur, die den Markt als Gesellschaftsmodell verin-
nerlicht, könnte das Gleiche leisten. Beide trauen einem autoritären Regime aber
größeres Potenzial zu, die Staatsgewalt zum Schaden des Marktes zu missbrau-
chen. Die Demokratie ist schon in Ordnung, wenn nur der Mehrheitswille gebän-
digt wird.
Der Publizist Fareed Zakaria schöpfte 2004 den Begriff der „Illiberal Demo-
cracy.“ Wie aber kann Demokratie illiberal sein? Auch für Zakaria ist Freiheit
der alles überragende politische Wert. Verstöße gegen die Freiheit gewanden sich
in zweierlei Weise als Demokratie: In der einen Variante als ein System, das mit
Wahlen und Parteien eine Fassade der Demokratie aufbaut. Hinter dieser Fassade
führen Akteure die Regie, die den Mehrheitswillen lediglich vortäuschen, die ihn
offen manipulieren oder unter Berufung auf den Volkswillen Freiheiten kassieren
oder einschränken.
42 2 Die Wertewelt des Wirtschaftsdenkens …
Fragen wir jetzt, welche Größen das politische Handeln bestimmen. Politikwis-
senschaftlich informierte Leserinnen und Leser seien um Nachsicht gebeten, was
die folgenden Passagen betrifft. Diese referieren kurz, was aus Studium und Lehr-
buchliteratur bekannt sein sollte.
Nehmen wir zunächst die Grundbegriffe der Macht (power) und der Herr-
schaft (rule). Macht gilt nach Max Weber als die Fähigkeit, anderen den eige-
nen Willen aufzuzwingen. Herrschaft bedeutet mit Weber und Georg Jellinek
Machtausübung im politischen Raum, d. h. in einem Gebiet, über eine bestimmte
Anzahl von Menschen und mit legitimer Gewalt (Weber 2002; Jellinek 1976,
S. 394, 406 f., 427, 429). Wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob regelgebun-
den, also konstitutionell oder demokratisch oder aber willkürlich, ist eine andere
Frage. Je nach dem Regime, also der politischen Ordnung, ob demokratisch oder
autoritär, bedarf Herrschaft der Anerkennung durch die Regierten, im ersten Fall
durch freiwillige Anerkennung, wie sie sich in der Teilnahme an Wahlen und im
Gebrauch bürgerlicher Rechte ausdrückt, im zweiten Fall durch die Beugung
unter Zwang und drohende Repression. Legitimität ist als solche eine zwar not-
wendige, aber im Prinzip wertneutrale politische Ressource.
Demokratische Herrschaft steht in der Herausforderung, das Vertrauen der
Regierten zu gewinnen und es auch in schlechten Zeiten nicht zu verlieren. Geht
es verloren, steht nicht zwangsläufig das Regime infrage. Meist wechselt dann
lediglich die Regierung. Wird einem autoritären Regime der passive Gehorsam
verweigert, steht es gleich selbst auf dem Spiel.
Das autoritäre Regime gibt erst nach, wenn es im Bürgerkrieg auf die Verlie-
rerseite gerät oder mit Massenprotesten nicht mehr fertig wird oder wenn selbst
auf die Repressionsorgane kein Verlass mehr ist. Im demokratischen Regime kann
der Fall eintreten, dass die Regierung von sich aus aufgibt, wenn sie gefordert ist,
um des Machterhalts willen die Prinzipien ihrer Partei oder aber die Interessen
ihrer treuesten Wähler zu opfern.
Macht und Herrschaft basieren also auf komplexen Beziehungen zwischen
Regierenden und Regierten. In der Politik zählen Ängste, Interessen, Stimmungen
und Hoffnungen als kollektive Größen, aber nicht als die Befindlichkeiten eines
Einzelnen. Sie werden durch Parteien, Verbände und Medien als Programme, For-
derungen und Erwartungen kommuniziert. Der Homo oeconomicus, ein Einzel-
gänger, kommuniziert über Preise.
Weil der Markt perfekt ist, kann alles, was ihm von außen aufgezwungen wird,
nur von Übel sein. Das lässt, wie oben erläutert, durchaus Raum für Institutio-
nen wie Polizei, Militär und Gerichte. Solange die kleine Rolle der Politik dem
Machterwerb und Machterhalt nicht im Wege steht, dürften auch die Regierungen
keine Probleme damit haben. Stören aber ökonomische Verwerfungen die Legi-
timität der Politik, kommt es zu Massenarbeitslosigkeit und wird die wachsende
Kluft zwischen Arm und Reich zum öffentlichen Skandal, ist Handeln geboten –
Markthygiene hin, Markthygiene her! Um nicht den Boden unter den Füßen zu
verlieren, polstert die Politik ihre Legitimität auf, indem sie den Markt mit Regu-
lierungen, Steuern, Staatsausgaben und Kredit korrigiert. In Zeiten des Umbruchs
fallen diese Korrekturen unter Umständen drastisch aus. In „normalen“ Zeiten
gehen sie gemächlicher vonstatten und versuchen, „die Wirtschaft“ selbst mit ins
Boot zu holen.
Auch die Wirtschaft ist, wie oben thematisiert, bei Weitem nicht so politik-
frei, wie es ihre Advokaten und Profiteure behaupten. Regulierung ist eine politi-
sche Tatsache, die sich nur im Modell ausblenden lässt. Durch die Gestaltung der
politisch gesetzten Regeln lassen sich Konkurrenten ins Abseits drängen, Steuern
sparen etc. pp. Umgekehrt setzt sich Geld als Medienkapital, Parteispende oder
Standortentscheidung in politischen Einfluss um. Ein Dauerthema der Politikwis-
senschaft seit bald 70 Jahren: Bei Wahlen und Abstimmungen gibt die große Zahl
den Ausschlag. Im politischen Alltagsbetrieb aber zählt eher die Stimme einfluss-
reicher, medienstarker und geldschwerer Minderheiten. Sie warten mit Experti-
sen auf, tragen im Kontakt mit Ministerialbeamten und Parlamentariern ihre Sicht
der Dinge vor, kredenzen schon einmal vorformulierte Gesetzentwürfe und geben
politischen Entscheidungen einen Drall, sodass sie damit einigermaßen leben
können (Schattschneider 1960, siehe auch Hacker 2014).
Wie es die Wirtschaftswissenschaft mit der Politik hält, dürfte klar geworden
sein: denkbar wenig! Wie aber steht es mit der Sicht der Politikwissenschaft auf
die Ökonomie? Diese Frage lässt sich erstens ungleich schwerer beantworten,
und zweitens fällt die Antwort mager aus.
3.2 Neue Politische Ökonomie 45
3.1 Behavioralismus
dieser Richtung. Anthony Downs (1930-) entwickelt eine Theorie der Demokratie
mit den Variablen der Parteien und des Wählers. Er sagt im Kern nichts anderes
als bereits Schumpeter, der noch einer Generation angehörte, die es vorzog, ver-
ständlich zu schreiben. Downs traf den Stil des modellorientierten Argumentie-
rens: Programm und Auftreten der Parteien folgen den Gesetzen kommerzieller
Werbung. Die Parteien appellieren mit programmatischen Angeboten an Ziel-
gruppen, und der Wähler entscheidet, welches Programm seinen Präferenzen am
nächsten kommt.
Downs orientiert sich am Modell des Ökonomen Harold Hotelling (1895–1973).
Dieser erklärt das Konsumentenverhalten in einer hypothetischen Straße mit mehre-
ren Läden, die das gleiche Sortiment führen, mit der Anzahl der Gehminuten, derer
es bis zum nächstgelegenen Geschäft bedarf. Der rationale Konsument wird den
Laden wählen, zu dem der kürzeste Weg führt. So ist es auch mit den Wählern. Für
sie ist das nächstgelegene Geschäft eine Partei und/oder ein politisches Programm,
in dem sie die größte Übereinstimmung mit dem eigenen Vorteil erkennen. Ein allzu
starkes Eingehen auf Rand- oder Wechselwähler – Stichwort: Grenzkosten – läuft
Gefahr, einen Teil der Treuewähler abspenstig zu machen. Um wieder auf das Bild
der Straße zurückzukommen: Wer ganz am Ende der Straße ein weiteres Geschäft
derselben Art eröffnet, muss sich darauf gefasst machen, dass nicht viele Kunden
den Weg zu ihm finden. Wähler und Parteien operieren unter Nullsummenprämissen.
Was die eine Partei dazu gewinnt, verliert unter der stillschweigenden Voraussetzung,
dass alle zum Wählen gehen, die andere. Sind mehrere Parteien und eine breitere
Streuung der Wählerpräferenzen im Spiel, wird das Parteien- und Wählerkalkül
schwieriger. Der Wettbewerb erweitert sich zum Mehrsummenspiel (Downs 1968).
Das Bild des rationalen Konsumenten wird hier konsequent auf den politi-
schen Markt übertragen. Es erlaubt, eine Präferenz mit unterschiedlichen Inhalten
zu füllen: ökonomischer Vorteil, Konfession, kulturelle Identität, was auch immer.
Der nächste Klassiker dieser Neuen Politischen Ökonomie ist Mancur Olson
(1932–1998). Der Einzelne schließt sich einer Interessengruppe an, weil er davon
ausgeht, dass viele mit demselben Interesse mehr erreichen als er allein. Dabei
gilt: In kleinen und überschaubaren Gruppen sehen die Teilnehmer einander auf
die Finger. Will sich jemand mit einem Ergebnis zufrieden geben, das unterhalb
der gemeinsamen Ursprungsforderung liegt, riskiert er die Missbilligung der
Anderen. Er wird es sich zweimal überlegen, ob ihm dieser soziale Preis das Ziel
wert ist, eine Kampf- oder Hängepartie zum Ende zu bringen.
Gruppen mit vielen Mitgliedern sind zu groß, als dass der Einzelne überhaupt
noch Einfluss nehmen könnte. Die Wahrung des gemeinsamen Interesses wird an
Funktionäre delegiert. Dessen ungeachtet bleiben die Mitglieder dabei und zahlen
3.2 Neue Politische Ökonomie 47
brav ihre Beiträge. Die Mitgliedschaft ist mit einer Reihe individueller Vorteile
verbunden, die mit dem eigentlichen Gruppenzweck nichts zu tun haben (Versi-
cherung, Rechtsberatung) (Olson 1985).
Das Quantum soziologischer Realität, das darin stecken mag, ist irrelevant.
Wichtig ist allein der behauptete Nachweis, dass für kollektives Handeln letzt-
lich die individuelle Präferenz den Ausschlag gibt. Dem Homo oeconomicus ist
keine andere Erklärungsfigur gewachsen! Das Argument hat freilich den gleichen
Schwachpunkt wie die wirtschaftswissenschaftlichen Großmodelle: Es argumen-
tiert strikt deduktiv. Das Ergebnis steht von vornherein fest.
Der Investor oder Konsument zahlt mehr, wenn die Produzenten oder Arbei-
ter Kraft ihrer organisatorischen Stärke und Absprachen höhere Preise oder
Löhne erzwingen, als beim freien Spiel von Arbeitsangebot und Arbeitsnach-
frage herauskämen. Das Ergebnis liegt entsprechend unter dem Pareto-Optimum.
Große und starke Gruppen mit zahlreichen Mitgliedern sind in Pareto-optimaler
Betrachtung weniger schädlich als kleinere. Das professionelle Verbandsmanage-
ment blickt über den Tellerrand und drückt keine Forderungen durch, die gesamt-
wirtschaftlich und damit auch für jedes Verbandsmitglied objektiv nachteilig
wirken würden (Olson 1991). Ökonomisch vernünftige Menschen werden doch
das Huhn nicht schlachten wollen, das noch Eier legen soll!
Im Vergleich mit den zuvor besprochenen Autoren wechselt Olson die Pers-
pektive. Das Nutzenmaximieren Einzelner wirkt sich nachteilig für den Markt
aus, wenn es sich im kollektiven Gleichtakt vollzieht. Unter den allesamt uner-
freulichen Varianten kollektiven Handelns gibt es einige, die erträglicher sind.
Fazit: Nutzenorientiertes Verhalten schlägt ins Negative um, sobald es sich im
Kollektiv geltend macht. Und wo erzielt das Kollektiv die größte Wirkung? – Bei
der Parteienwahl und in der Tarifverhandlung. Damit sind die Hauptschurken der
wirtschaftsliberalen Dämonologie benannt – der Staat und die Gewerkschaften.
Letztere treten zwischen den freien Kontrakt zwischen Arbeitgeber und Beschäf-
tigten. Und der demokratische Staat gibt das Geld aus, das er seinen Bürgern auf
dem Wege der Besteuerung wegnimmt. Olson landet beim gleichen Thema wie
die übrigen Marktgläubigen.
Ein weiteres Beispiel: Mit öffentlichen Gütern entstehen staatliche Bürokra-
tien. Die Bürokraten agieren faktisch wie die Eigentümer jener Ressourcen, die
sie verwalten, mögen sie ihnen auch nur treuhänderisch anvertraut sein. Wir tref-
fen hier auf das Principal agent-Dilemma. Es gehört zum Standardrepertoire der
ökonomischen Literatur und hat seinen Ursprung in der Unternehmensforschung
(Pratt und Zeckhauser 1985). Es beschreibt die Macht des Managements und die
Ohnmacht der Aktionäre. Der Staat, so W. A. Niskanen (1933–2011), diktiert dem
Bürger, welches Quantum des Lohns seiner Arbeit er an ihn abtreten muss, um
48 3 Politikwissenschaft und Ökonomie
3.3 Systemtheorie
Der politische Prozess ist fachpolitisch segmentiert. In jedem Segment läuft die
Politikmaschine ohne Unterbrechung, mal laut, mal leise, mal schnell, mal lang-
sam. Selten gönnt sie sich eine Pause. Die Politikfelder selbst lassen sich nach
ihrer Wirkungsrichtung in umverteilende, verteilende, regulierende und kon-
stitutive Politik unterscheiden. Jedes davon hat eine wirtschaftliche Dimension,
am stärksten die umverteilende Politik, die Nutzen und Lasten zwischen den
Einkommen neu verteilt, unter Umständen aber auch eine regulierende Politik,
die den Produzenten und Konsumenten Vorschriften macht und ihnen Kosten
verursacht. Selbst die konstitutive, die Verfassungspolitik entfaltet ökonomische
Wirkung, wenn sie die Grenzen zwischen der Verfügungsmacht privater und
staatlicher Institutionen verschiebt (Lowi 1972). Eine üppige Literatur ist um den
Politikzyklus entstanden: Wie gelangen Themen auf die politische Agenda, wel-
che Alternativen stehen zur Debatte, wer tritt für welche Option ein, erzielt die
Entscheidung die erwartete Wirkung (exemplarisch Kingdon 2011)?
Auch die Art des politischen Systems spielt eine Rolle: Handelt es sich um ein
parlamentarisches System, um eine allein regierende Partei oder um eine Koali-
tion oder um ein präsidiales System mit schwachen Parteien und fluktuierenden
Parlamentsmehrheiten?
Regierungen, die einem neuen wirtschaftspolitischen Paradigma folgen, arbei-
ten die Richtungsänderung Politikfeld für Politikfeld ab. Sie delegieren den Wan-
del in Tranchen an fachpolitische Zirkel, in denen sich Befürworter und Gegner,
Regierungsparteien und Opposition sowie Lobbyisten aller Provenienz ins Zeug
legen, um diesen Wandel zu unterstützen oder ihn zu bremsen. Eine parlamen-
tarische Regierung oder ein Präsident, mag die Erstere sich auch mit Koaliti-
onspartnern plagen müssen und der Letztere mit unsicheren oder feindseligen
parlamentarischen Mehrheiten konfrontiert sein, können einiges bewegen, wenn
52 3 Politikwissenschaft und Ökonomie
Der Verzicht auf politisches Handeln kommt unter Umständen einer politischen
Entscheidung gleich, ganz so wie eine Entscheidung, die den politischen Inter-
ventionsraum verkleinert und den Gestaltungsraum des Marktes erweitert. Die
3.6 Entscheiden und Entscheidungsverzicht 53
auf die einzig plausible Antwort. Geld basiert in gleicher Weise auf dem Glau-
ben an seine Funktionalität und Wertbeständigkeit wie der Anspruch des Staates
auf sein Gewaltmonopol. Ideen werden nach Berger und Luckmann zur sozialen
Realität, sobald sie qua Konvention und Medienkonsum als Wahrheiten geglaubt
werden (Berger und Luckmann 2007, S. 58). Habermas zum Trotz entsteht diese
Wahrheit weniger in diskursiven Prozessen. Sie entscheidet sich in historischen
Umwälzungen, auch durch rohe Gewalt und in politischen Kämpfen. Verschleißt
sich eine Wahrheit dieser Art, weil sie mit der kollektiven Erfahrung nicht mehr
übereinstimmt, ist es an der Zeit, eine neue zu erfinden. Eine Regierung, deren
Durchsetzungsvermögen nachlässt, verliert ihre Autorität. Eine Währung, die in
den Strudel von Inflation und Hyperinflation gerät, wird von stabileren Währun-
gen wie dem Dollar oder Euro überwuchert.
Der US-Dollar, der Euro, der japanische Yen, das britische Pfund, der Schwei-
zer Franken und die schwedische Krone sind veritables Geld. Der Neue Bolivar
im gegenwärtigen Venezuela, die Landeswährungen des Kongo, Somalias und
Angolas sind demgegenüber so gut wie wertlos – Notgeld für all diejenigen, die
keine Devisen haben. Im inflationsgeplagten Argentinien steht das heimische
Geld immer mal wieder auf der Kippe. China und Russland setzen alle Hebel in
Bewegung, um das Vertrauen in ihr Geld zu verteidigen. Notorisch inflationsge-
plagte Länder verzichten sogar auf eine eigene Währung und hängen sich an den
US-Dollar.
Geldschöpfung entsteht durch Schulden. Damit kommen die Banken ins Spiel.
Kredit verheißt künftigen Genuss oder Gewinn: etwa eine Wohnung kaufen, die
nur teilfinanziert sein muss, auf einem engen Immobilienmarkt aber ständig an
Wert gewinnt. Oder eine im Labor entwickelte Technologie lässt sich auf Kredit-
basis zum industriellen Produkt veredeln, aus dessen Erträgen der Kredit abge-
zahlt wird.
Die Banken operieren mit dem Geld der Sparer. Brauchen sie selbst Geld, um
große Kredite zu vergeben, nehmen sie Kredite bei der Zentralbank auf. Die Zen-
tral- oder Notenbank gilt aus diesem Grund als Bank der Banken. Der größte Teil
der Kreditgeschäfte findet ohne den Rekurs auf die Notenbank statt. Doch die
Notenbank darf einen Teil des Bankenkapitals als Reserve einfrieren. Wichtiger
aber: Als Kreditgeber für die Banken ist sie ein geldpolitischer Schlüsselakteur.
Mit dem Preis des Zentralbankkredits, dem sogenannten Leitzins, nimmt sie Ein-
fluss auf das Zinsgebaren der Geschäftsbanken.
Zins und Geldmenge werden mit der Absicht variiert, die Preisentwicklung
und das Beschäftigungsniveau zu beeinflussen. Die wichtigsten Notenbanken
orientieren sich an einer jährlichen Inflationsrate von zwei Prozent. So haben
sie Luft nach unten, wenn die Kauflust und das Wachstum nachlassen, wenn die
4.2 Historische Wegmarken des ökonomischen Systems 57
Unternehmen wenig verdienen und wenn sich das Investieren nicht mehr lohnt,
kurz: wenn die Gesamtwirtschaft Symptome zeigt, die im schlimmsten Fall auf
eine Deflation zulaufen. Wenn die Preisentwicklung der Produktivität davonläuft,
bleibt allemal das Anheben des Leitzinses, um eine überhitzte Nachfrage abzu-
kühlen.
Geldpolitik und Notenbank werden von der Politikwissenschaft kaum zur
Kenntnis genommen. Scheinbar treten hier keine politischen Spieler auf, und
hier wird auch nichts verteilt. Doch natürlich findet auch im Finanzsektor Politik
statt. Dennoch steckt in der Wahrnehmung der Geldpolitik als nicht-politisches
Geschehen ein Stück richtige Beobachtung. Die Geldpolitik spielt sich nicht im
üblichen politischen Betrieb mit seinen parlamentarischen Auseinandersetzungen
und mit den Standardakteuren der Interessengruppen, Parteien und Ministerial-
verwaltungen ab. Hier handeln andere Akteure als die sonst vertrauten: Investo-
ren, Vermögensfonds und natürlich Banken. Sie kommunizieren – auch mit der
Politik – in einer finanz- und börsentechnischen Sprache und mit Denkfiguren,
die in der politischen Öffentlichkeit den Wenigsten geläufig sind.
Die folgende Darstellung hat keinerlei wirtschaftshistorischen Ehrgeiz. Sie
ignoriert etliche Aspekte und stellt – bewusst vereinfachend – Verbindungen zu
den oben geschilderten Ideologiesträngen der Wirtschaftstheorie her.
Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die neoklassische Schule flügge wurde, war
die Weltwirtschaft eine Gold- und Silberwirtschaft, und sie blieb es noch für gut
fünf Jahrzehnte. Papiergeld hatte einen schlechten Ruf. Das änderte sich erst mit
der Garantie, Banknoten in einem amtlich definierten Verhältnis jederzeit in Gold
einzutauschen. Der Staat bestimmte eine Deckungsquote, etwa eine Goldquote
von 35 % (Frankreich, III. Republik) oder 40 % (wilhelminisches Deutsches
Reich), die für ausreichend befunden wurde, einem vorübergehenden Run auf den
Goldvorrat standzuhalten.
Das Silber verlor als Währungsbasis schon im 19. Jahrhundert an Bedeutung.
Als erstes Land stellte Großbritannien 1816 erfolgreich auf Gold um. Andere
Länder blieben beim Silber, wieder andere hielten es mit einer Mischung von
Silber- und Goldbeständen. Silber war zwar reicher vorhanden, es hatte deshalb
58 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
geringeren Wert und verursachte große Transport- und Lagerkosten. Gold als ein
knappes Gut ist nur bescheiden vermehrbar. Mit der Entdeckung neuer Vorkom-
men expandierten die weltweiten Goldvorräte in unregelmäßigen Abständen, so
etwa mit Funden in den USA und Australien (1848, 1851). Immer mehr Länder
gaben den Silberstandard auf und stellten auf Gold um.
Preußen erlegte Frankreich im Friedensschluss von 1871 Goldzahlungen
auf. Bis dahin hatten es die deutschen Staaten mit dem Silber gehalten. Das neu
gegründete wilhelminische Reich stellte auf den Goldstandard um. Im letzten
Quartal des 19. Jahrhunderts hatten die größten Staaten der Epoche eine Gold-
währung. Es handelte sich gleichzeitig um die Epoche der stürmischen Indust-
rialisierung Europas und Nordamerikas. Die Goldbindung des Geldes engte die
Vermehrung der Geldmenge gerade zu einer Zeit ein, als sie mit der fortschrei-
tenden Industrialisierung hätte expandieren sollen. Mit Goldfunden in Südafrika
und Alaska (1888, 1896) kam der Zufall zu Hilfe. Dessen ungeachtet kam es zu
sporadischen Wachstumskrisen.
Die Knappheit des Goldes stabilisierte allemal den Geldwert. Den Besitzern
großer Geldvermögen, namentlich in der wachsenden Mittelklasse, war es recht.
Ein vermögensbasiertes Wahlrecht sorgte dafür, dass keine Regierung ohne die
von ihnen bevorzugten liberalen und konservativen Parteien gebildet werden
konnte.
In den USA des späten 19. Jahrhunderts lagen die Dinge anders. In weit grö-
ßerem Ausmaß als im zeitgenössischen Europa entsprach ihr politisches System
in Ansätzen bereits dem, was heute als Demokratie gilt. Entsprechend groß war
das Gewicht der kleinen Leute. Noch 1896 entschied ein erbitterter Streit um die
Währungsbasis eine Präsidentschaftswahl. Von Verschuldung bedrohte Farmer
und die Vertreter der wachsenden Industriearbeiterschaft machten sich für die
Wiedereinführung des erst 1872 aufgegebenen Silberstandards stark. Vom Sil-
berdollar versprachen sie sich eine erträglichere Existenz. Mit der Niederlage des
„Silberkandidaten“ W. J. Bryan behielten die Industrie- und Bankbarone und das
kommerzielle Bürgertum die Oberhand. Schulden waren nicht ihr Problem. Kal-
kulierbare Kredit- und Investitionskosten hatten Vorrang.
Die Goldwährungen hatten den Vorteil, dass es im internationalen Zahlungs-
verkehr keines Wechselkurskalküls bedurfte. Die stärkste goldbasierte Währung
war das britische Pfund. Wirtschaftlich schwache Staaten mussten sich bei euro-
päischen Banken verschulden. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf die
Forderung der Gläubiger einzulassen, etwa die an ihren Grenzen erhobenen Zölle
kassieren zu lassen, so im Osmanischen Reich (1881). Schuldnerstaaten, die ihren
Zahlungspflichten nicht nachkamen, rückten die Gläubigernationen auch schon
4.2 Historische Wegmarken des ökonomischen Systems 59
einmal mit militärischen Expeditionen auf den Pelz, so etwa in Mexiko (1861)
und Venezuela (1902).
die Kaufkraft einen kräftigen Dämpfer, und die Arbeitslosenzahlen schossen nach
oben. Die 1920er Jahre waren eine Zeit heftigster sozialer Kämpfe.
Ab 1929 steckte ganz Europa in einer weltweiten Wirtschaftskrise. Sie war
maßgeblich in den USA verursacht. Das goldbasierte Pfund stand der interna-
tionalen Konkurrenzfähigkeit im Wege. Es hatte ein Scheunentor für Importe
geöffnet, durch die britisches Geld und Zentralbankgold ins Ausland abflos-
sen (Eichengreen und Temin 2010, S. 7–10). Schon 1931 wurde die Goldparität
des britischen Pfund wieder aufgehoben. Die USA zogen 1933 nach, 1936 auch
Frankreich. Den Regierungen stand jetzt nichts mehr im Wege, am Wechselkurs
und am Leitzins zu drehen, um unerwünschte ökonomische Effekte abzuwehren.
Mit der Weltwirtschaftskrise begann ein Abwertungswettlauf, der als Beggar my
Neighbour Policy in die Geschichte eingegangen ist. Wenn Zölle und Abwer-
tung nicht die erwünschte Wirkung erzielten, die ausländischen Konkurrenten
fernzuhalten und die heimischen Produzenten – und Arbeitsplätze – zu schützen,
stand immer noch das Instrument der Mengenquotierung (Importkontingentie-
rung) bereit. Der Export japanischer Textilien, damals die Hälfte der japanischen
Exportleistung, schmolz zu einem Rinnsal, als London 1930 die Textilimporte in
sein Kolonialimperium drastisch drosselte, damit die wesentlich teureren Erzeug-
nisse der englischen Textilfabriken weiterhin Absatz fanden. Nebenwirkungen
waren die Radikalisierung der japanischen Politik, die auf die militärische Erobe-
rung ihrer asiatischen Märkte umschaltete, und das Ausbleiben einer Modernisie-
rung der britischen Industrie, die sich nach dem Verlust des Empire empfindlich
bemerkbar machen sollte.
Die USA produzierten lange vor ihrem Kriegseintritt im Jahr 1917 auf Kredit für
den Rüstungsbedarf der Entente. Nach Kriegsende gerieten sie kurz in eine Krise.
Die Waffenschmieden hatten keine Aufträge. Doch die amerikanische Industrie
passte sich rasch an. Das Land wandelte sich zu einem gewaltigen Konsumenten-
markt. Konnte sich in Europa allenfalls das gehobene Bürgertum allmählich Auto,
Waschmaschine, Kühlschrank und Elektroherd leisten, wurden die USA schon in
den 1920er Jahren zu einer Autofahrernation, die auch die Arbeiterschaft nicht
aussparte. Neue Jobs entstanden, und mit diesen Jobs wuchs die Nachfrage. Geld
war reichlich vorhanden. Banken und Börsen waren so gut wie überhaupt nicht
reguliert. Selbst windige Finanztricks hatten die Straflosigkeit auf ihrer Seite.
Mit den immer besser laufenden Geschäften schossen die Aktienkurse durch
die Decke. Aggressive und trügerische Werbung versprach selbst kleinen Leuten
62 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
die sichere Chance, mit dem Erwerb von Aktien, die anscheinend nur die Rich-
tung nach oben kannten, reich zu werden, ohne den lästigen Umweg über ein
Geschäft oder einen gut bezahlten Job nehmen zu müssen. Wenn es an Barem
oder Buchgeld fehlte, wurden Aktien sogar auf Kredit gekauft. Insidergeschäfte,
bei denen sich erfahrene Finanzleute die Bälle zuwarfen, um Anleger zu locken,
während Kleinanleger in die Röhre guckten, waren an der Tagesordnung. Invest-
mentgesellschaften, die Vorläufer der heutigen Investmentbanken, hatten ihren
ersten großen Auftritt in der Wirtschaftsgeschichte.
Für die Leserin und den Leser, die sich inzwischen fragen mögen, wozu dieser
Abstecher in die Historie gut sein soll: Die Ursachen der großen Finanzkrise des
Jahres 2008 in den USA lagen ganz ähnlich (Kirsher 2014). Es handelte sich um
eine Blasenbildung durch ein Kreditvolumen, das in keinem Verhältnis zur Leist-
barkeit der Schuldner mehr stand (dazu und im Folgenden: Pressler 2013, sowie
die klassische Studie zur Großen Depression: Galbraith 2012e).
Bis 1929 ging die Sache gut. Dann flog der Schwindel auf. Nach den ersten
durch Kreditausfall verursachten spektakulären Pleiten warfen Aktionäre ihre
Papiere mit beiden Händen von sich. Banken, die mit in den Strudel gerieten,
machten die Schalter dicht, was die Sparer wiederum dazu veranlasste, die Filia-
len zu stürmen. Das Ergebnis war der Great Crash.
Die Amerikaner blickten düster in die Zukunft. Sie hielten ihr Geld zusam-
men, kauften nur noch das Nötigste und ließen den vor kurzem noch florieren-
den Markt für Gebrauchsgüter, der das Leben so viel schöner und bequemer
gemacht hatte, zusammenbrechen. Die Produzenten unterboten sich gegenseitig,
um wenigstens einen Teil ihrer Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen.
Viele gerieten dabei in die Verlustzone und gingen in die Insolvenz. Das Heer der
Arbeitslosen schwoll dramatisch an – in einem Land, das damals nicht einmal
minimale soziale Sicherungen kannte. Das Ergebnis war eine Deflation bisher
unbekannten Ausmaßes!
Um ihre Zahlungsausfälle auszugleichen, kündigten die US-Banken ihre Kre-
dite und verlangten Rückzahlung. Auch die nach Europa vergebenen Kredite wur-
den zurückgefordert. Sie wurden gebraucht, um eine Liquidität zu beschaffen,
die von der US-Notenbank verweigert wurden. Als Folge trocknete die Kreditfä-
higkeit des europäischen Bankensystems aus. Den Anfang machte im Jahr 1931
Österreich mit dem Zusammenbruch der Creditanstalt: die Bank der österreichi-
schen Industrie. In einem Kraftakt musste sie vom Staat gerettet werden. Auch
in Deutschland, wo die Banken die Deflation heftig zu spüren bekamen, wurden
ausländische Anleger nervös; sie zogen ihre Guthaben ab. Der Liquiditätsentzug
und die deflationsbedingten Kreditausfälle ließen 1931 die Darmstädter und Nati-
onalbank zusammenbrechen, die zweitwichtigste Kreditadresse der deutschen
4.2 Historische Wegmarken des ökonomischen Systems 63
Industrie. Gekauft wurde nur noch das Notwendigste, viele Fabriken blieben auf
ihrer Produktion sitzen. Regierung, Banken und Firmen reagierten auf diesen
deflatorischen Absturz mit Entlassungen, Gehalts- und Lohnkürzungen und dem
Zurückstellen von Investitionen. Als weiterer treibender Faktor kam hinzu, dass
die Regierung Heinrich Brüning diese Einschränkungen von sich aus mit einer
brutalen Sparpolitik noch verschärfte, um London und Paris zu demonstrieren,
dass Deutschland selbst die verbliebene Reparationslast nicht mehr tragen konnte.
Das Schrumpfen der US-amerikanischen Nachfrage veranlasste 1930 den
Kongress, den protektionistischen Smoot Hawley Act zu verabschieden. Die Idee
dahinter: Würden Importe aus Europa durch prohibitive Einfuhrzölle abgeblockt,
stiege die Konkurrenzfähigkeit der im eigenen Land hergestellten Produkte. Die
europäischen Länder wehrten sich mit Währungspolitik. Sie werteten ihre Wäh-
rungen ab, um die US-amerikanischen Zollschranken preislich zu unterlaufen.
Das Spiel am Währungshebel war erfunden.
Die US-amerikanische Notenbank hätte die Mittel gehabt, um die Misere im
eigenen Land zu bekämpfen. Sie hätte sich bloß dazu entschließen müssen, den
Leitzins abzusenken und Staatspapiere zu kaufen. Dies war aber nicht der Fall.
Ganz im Geist des sich selbst regulierenden Marktes entschieden sich Präsi-
dent Herbert Hoover (1929–1933) und der Bank-Milliardär Andrew Mellon, der
schon seinen Vorgängern als Finanzminister gedient hatte (1921–1932), sowie die
damals noch mächtige zuständige Regionalnotenbank von New York, nichts zu
unternehmen – nach der Devise, der Markt würde sich schon aus eigenen Kräften
erholen! Nicht viel anders dachten unter dem Einfluss der weltweit vorherrschen-
den Laissez faire-Ideologie die europäischen Regierungen. In dem Zeitpunkt,
da in den USA Roosevelt und in Deutschland Hitler ins Amt kamen (1933), war
nach den Erkenntnissen der späteren Wirtschaftsforschung der Tiefpunkt der
Krise zwar überwunden. Die zeitgenössischen Akteure konnten es aber nicht wis-
sen. Beide, Roosevelt wie Hitler, suchten und fanden die Antwort auf die Krise
im Handeln, Roosevelt mit Arbeitsbeschaffung, Sozialpolitik und einem gewerk-
schaftsfreundlichen Arbeitsrecht, Hitler mit einer abenteuerlich finanzierten Rüs-
tungspolitik (MEFO-Wechsel), die gleichwohl Arbeit generierte und mit breiter
Zustimmung zum nationalsozialistischen Regime quittiert wurde. Bis sich die
Dinge allmählich wieder besserten, wurde für das Laissez faire ein hoher Preis
entrichtet: Massenelend, vernichtete Existenzen und in Deutschland die Radikali-
sierung von rechts mit den bekannten Ergebnissen.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 ist für die wenigen Ökonomen, die über
den Tellerrand ihrer Modelle blicken, bis heute ein Referenzereignis. Diese erste
wirklich globale Wirtschaftskrise zeigte, was geschehen kann, wenn die Politik
mit dogmatischer Blindheit einen dicken Strich zwischen Markt und Politik zieht.
64 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
In diesem Fall verhielt es sich so, dass noch keine Rezeptur bekannt war, wie die
Krise hätte bewältigt werden können. Roosevelts New Deal war das schlagende
Beispiel, wie das hätte geschehen können. Aber Keynes war in der Wirtschafts-
wissenschaft noch gar nicht richtig angekommen. Immerhin wurde den politisch
Verantwortlichen klar, dass der Staat als Arbeitsbeschaffer einspringen muss,
wenn das private Kapital in dieser Eigenschaft versagt. Selbst in Deutschland
waren Länder und Kommunen – noch vor Roosevelt – auf diese Idee gekommen.
Um die Unsitte nicht wieder aufleben zu lassen, sich Handelsvorteile auf Kosten
der Nachbarn zu verschaffen, unternahmen die Regierungen des Gemeinsamen
Marktes – damals noch die Europäische Gemeinschaft (EG) – zunächst den Ver-
such, die Wechselkursschwankungen in den Griff zu bekommen.
Die transatlantische Stagflation leistete der Absetzbewegung vom Keynesi-
anismus Vorschub. Sie widersetzte sich allen Versuchen einer Überwindung mit
den klassischen Instrumenten. Die Fürsprecher des neoklassischen Paradigmas,
heute bekannter als Neoliberale (siehe oben, Abschn. 2.2.3), bekamen Aufwind.
Die Ursachen der Stagflation wurden nicht der Weltpolitik und den sich verschie-
benden Koordinaten der Weltwirtschaft, sondern einer Wirtschaftspolitik ange-
lastet, die der falschen Idee folgte: Marktintervention als Sünde wider die freie
Entfaltung der Marktkräfte.
Bei dieser Gelegenheit wurde gleich auch noch der Wohlfahrtsstaat diskre-
ditiert, obgleich er sich keineswegs Keynes’ zuschreiben ließ. Keynes war kein
Apologet des Wohlfahrtsstaates. Sein Anliegen war Beschäftigung als Grundlage
individueller Wohlfahrt. Die globale Wirtschaftssteuerung à la Keynes sowie der
Auf- oder Ausbau des Wohlfahrtsstaates vollzogen sich nach dem letzten Welt-
krieg hauptsächlich in zeitlicher Koinzidenz. Sie gingen ursächlich nur soweit
zusammen, als ein stetiges Wirtschaftswachstum und ein passables Steuerauf-
kommen staatliche Transferprogramme bezahlbar machten.
Sozialausgaben verringern die Elastizität der Staatshaushalte. Öffentliche
Investitionen lassen sich zurückfahren, wenn sie zur Preissteigerung beitragen.
Für Sozialleistungen gilt dies – jedenfalls in kurzer Frist – nicht, ohne dass die
Regierungen am Wahltag krachende Niederlagen provozieren. In schlechten Zei-
ten mag sich der Wohlfahrtsstaat stärker verschulden als sonst, seine Basis blei-
ben jedoch Steuern. In der andauernden Stagnation gerieten Kredite zu einem
üblichen Mittel der Haushaltsfinanzierung, und um laufende Kredite abzutragen,
wurden oft nicht etwa höhere Steuern beschlossen, sondern vielmehr neue Kre-
dite aufgenommen.
Das Ziel der Vollbeschäftigung, so eine weitere Kritik der Neoliberalen, lässt
die Arbeitsmärkte erstarren, es stärkt die kollektive Verhandlungsmacht der
Arbeitnehmer und es verhindert, dass der Produktionsfaktor Arbeit marktkonform
und mit größerer Produktivität ausgeschöpft wird. Als Vorbild und Beweis, dass
eine entschlossene Politik die Umkehr schaffen kann, wurde gern auf die rabiat
neoliberale Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher verwiesen.
4.2 Historische Wegmarken des ökonomischen Systems 67
Zum Hintergrund: Großbritannien war seit den 1960er Jahren der „kranke
Mann Europas.“ Die Hauptsorge der Regierungen beider großer Parteien war
die hohe Inflation. Sie hatte verschiedene Ursachen: eine alte, wenig produktive
Industrie, die hinter den jahrzehntelang schützenden Mauern des British Empire
träge geworden war; starke Gewerkschaften eines Typs, den es im übrigen
Europa kaum noch gab: Berufs- und keine Industriegewerkschaften; immer wie-
der aufflammende Arbeitsniederlegungen kleiner Berufsgruppen, die eine ganze
Produktion zum Stillstand brachten; das fruchtlose Experimentieren mit gesetz-
lichen Lohn-Preis-Kontrollen; Überkapazität in der Montanindustrie und immer
wieder der vergebliche Versuch, mit der Abwertung des Pfunds zu bewirken, was
die konkurrenzschwache Industrie nicht zuwege brachte. Vorübergehend musste
sogar der Internationale Währungsfonds einspringen, um die Kreditfähigkeit des
Landes zu stabilisieren (1976).
Die Labour Party und ein Teil der Konservativen standen weiterhin zum Sozi-
alstaat, der in den ersten Nachkriegsjahren aufgebaut worden war. In der konser-
vativen Partei jedoch bildete sich eine Fraktion, die den sorgenden Staat und die
Macht der Gewerkschaften für die Schwierigkeiten verantwortlich machte. Sie
folgte den Ideen von Hayeks und Friedmans. Mit der Wahl Thatchers zur kon-
servativen Parteichefin im Jahr 1975 und ihrer Wahl zur Premierministerin im
Jahr 1979 verabschiedeten sich die Konservativen vom Erbe eines sozialpflich-
tigen Konservatismus. In wirtschaftspolitischer Hinsicht wandten sie sich einem
rigorosen Marktliberalismus zu. Die Macht der Gewerkschaften wurde gesetzge-
berisch und mit Polizeieinsätzen und Gerichten gebrochen, das Arbeitsrecht libe-
ralisiert, Subventionen gestrichen und die sozialen Leistungen reduziert. Diese
Wende wurde weltweit beachtet. Besonders großen Eindruck hinterließ sie beim
1980 gewählten US-Präsidenten Reagan, der es Thatcher am liebsten gleichgetan
hätte. Dies gelang ihm nicht ganz. Das komplizierte Regierungssystem und die
Macht des von der demokratischen Opposition kontrollierten Kongresses standen
im Wege.
Noch die republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und Richard
M. Nixon hatten gegen den von F. D. Roosevelt aufgebauten Sozial- und Inter-
ventionsstaat im Prinzip nichts einzuwenden gehabt. Nixon hatte sogar die Ambi-
tion, dieses Erbe zu reformieren und es fortzuentwickeln (Hacker und Pierson
2010, S. 9–698). Er hatte das Pech, in einer Zeit zu amtieren, da auch in den
USA die goldenen drei Nachkriegsjahrzehnte zu Ende gingen (Ippolito 2012,
S. 96–101). Erst Ronald Reagan verabschiedete sich vom Erbe seiner Vorgänger.
Als seine Amtszeit endete, dauerte es nicht mehr lange, bis auch im kontinenta-
len Europa das Eis brach. Dies alles, um noch einmal daran zu erinnern, vor dem
68 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
Mit einem Markt, auf dem Konsumenten und Produzenten interagieren, hat
das alles nur noch wenig zu tun. Die Gier nach schnellem und großem Gewinn
beherrscht die Köpfe. Die vom Computer gestützte Rational choice ist Trumpf.
Die Rational choice ist so moralfremd wie das Streben nach regeltreu erarbei-
tetem unternehmerischen Gewinn (Crouch 2015, S. 14 f.). Während Letzteres
aber den Kunden braucht, der ein Produkt oder eine Leistung kauft, braucht die
„Finanzindustrie“ einfach nur Leute mit viel Geld, die schon einmal einen Ver-
lust verkraften können, oder aber Menschen mit bescheidenen Einkommen, die
sich wie beim Glücksspiel darauf verlassen, dass sich ihr Einsatz wie verspro-
chen in wundersam hohen Renditen auszahlen wird. Dieses Phänomen sprengt
das herkömmliche Wirtschaftsdenken. Ihm wäre allein mit der dem neoliberalen
Wirtschaftsdenken verhassten stärkeren Regulierung und Kontrolle des Staa-
tes – vielleicht sogar, horribile dictu, mit Steuern auf Kapitalgeschäfte! – beizu-
kommen, also durch politisches Handeln. Lassen Regierung und Notenbank den
Dingen ihren Lauf, machen sie materiell genauso Politik, als wenn sie einschrei-
ten würden.
Die internationale Wirtschaft war für die ökonomischen Klassiker noch kein
großes Thema. Ihre große Entdeckung war der Markt mit all seinen Freiheiten.
Die Klassiker rieben sich an der merkantilistischen Ideologie des 18. Jahrhun-
derts. Der Merkantilismus setzte auf Steuern und Binnenzölle als Grundlagen für
verlässliche Einnahmen. Außenzölle dienten neben dem Einnahmenmotiv dem
Schutz des heimischen Ackerbaus und Gewerbes. Beginnend mit Adam Smith,
waren die Klassiker Protagonisten auch des freien internationalen Handels (Smith
1989, S. 558 f.).
Die Lockerung und schließlich die Beseitigung der merkantilischen Regime
Europas entwickelte sich im 19. Jahrhundert zeitgleich mit der Bildung des
Nationalstaates. Der Zusammenhang drückt sich noch in Bezeichnungen wie
„Volkswirtschaft“ oder „Nationalökonomie“ aus. Die Klassiker (siehe oben,
Abschn. 2.1.1) hingen zwar der Idee des grenzüberschreitenden freien Warenaus-
tauschs an. Ihre Theorien, Beispiele und Daten waren nach Lage der Dinge aber
von der Anschauung des Nationalstaates bestimmt, ging es in dieser Zeit doch
erst einmal darum, die noch bestehenden lokalen und regionalen Rechtssysteme
durch einheitliche Regelwerke abzulösen. Funktionierende Märkte brauchten ein-
heitliche Maße, Gewichte und Produktbezeichnungen. Heute wird im Weltmaß-
stab daran gearbeitet, die nationalstaatlichen Unterschiede auf diesen Gebieten zu
4.2 Historische Wegmarken des ökonomischen Systems 71
nivellieren. Sie tragen das Etikett nicht-tarifärer Handelshemmnisse, die den welt-
weiten freien Warenverkehr behindern und verteuern.
Als Referenzdenker des freien Handels gilt David Ricardo. In seiner Epoche
stieg Großbritannien zur treibenden Kraft des Welthandels auf: Jeder Unterneh-
mer mache im Lande selbst das Beste aus dem, was er hat, um es anderen zu
verkaufen! In gleicher Weise sind Produzenten anderer Länder gut beraten, Dinge
herzustellen, die sie unter den Voraussetzungen der Natur, des Klimas und der
örtlichen Bevölkerung günstiger produzieren können als andere. Ricardo entwi-
ckelt daraus das Postulat der komparativen Kostenvorteile (Ricardo 2006, S. 109–
128). Wie selbstverständlich geht er dabei von einem Marktgeschehen aus, in
dem sich die Regierung mit der Rolle des Stadtbüttels begnügt, der zwischen den
Marktständen seine Runden dreht, gelegentlich Maße und Gewichte prüft, sonst
aber dem Treiben seinen Lauf lässt. Im historischen Kontext der Frühindustriali-
sierung nachvollziehbar, hielt der viktorianischen Gentleman den technologischen
Vorsprung Großbritanniens für dauerhaft. Von Markthindernissen wie Zöllen hielt
er nichts.
Die übrige Welt hielt es eher mit dem schwäbischen Ökonomen Friedrich List
(1789–1846). List lebte eine Generation nach Ricardo. Er war durchaus kein Geg-
ner des Marktes, ganz im Gegenteil. Doch im Verhältnis der Staaten zueinander
sprach er sich für wirksame Grenzen aus. So plädierte er während seines zeit-
weiligen Wirkens in den USA dafür, diese sollten ihre Industrialisierung fördern,
indem sie Zollschranken errichteten, hinter denen eine industrielle Eigenproduk-
tion reifen konnte. Ohne sich Lists wohl bewusst zu sein, aber ganz nach seiner
Logik reiften im späteren 19. Jahrhundert Deutschland, Japan und die USA hinter
Zollmauern zu Industriestaaten. Zölle hatten zu dieser Zeit aber noch einen wei-
teren Zweck: Bis sich die Regierungen zur Einführung von Einkommensteuern
durchrangen, waren Zölle ein wichtiges Instrument der Staatsfinanzierung. Auch
maßgeschneiderte Schutzmaßnahmen erfreuten sich einiger Beliebtheit. Einfuhr-
kontingente beschränkten die Importe auf ein Quantum, das den Bedürfnissen
gerecht wurde und den heimischen Produzenten nicht weh tat. Als die größeren
Länder der Epoche die Schwelle zum Industriestaat erreicht hatten und im Gold-
standard auch ein Währungsmaßstab vorhanden war, mit dem sie gut leben konn-
ten, kam trotz allem der Welthandel in Schwung.
Die oben beschriebenen Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er
Jahre werteten die nationalen Wirtschaftsgrenzen wieder auf. Neben das grobe
Instrument der Einfuhrzölle und Mengenquotierungen trat die jetzt die Wäh-
rungspolitik. Das „weichere“ Instrument der Abwertung wurde gern gewählt, um
den Importstrom zu drosseln und die eigene Produktion für den Export zu verbil-
ligen. Die wichtigsten Akteure kamen erst 1936 überein, den Abwertungswettlauf
72 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
zu beenden. Nach 1945 und besonders in den 1970er und 1980er Jahren werteten
europäische Regierungen ihre Währungen des Öfteren ab, um Handelsbilanzdefi-
zite zu reduzieren und die Inflation zu bekämpfen.
Mit den Vereinten Nationen, die im Kern auf kollektive internationale Sicher-
heit abzielten, fasste auch die Idee Fuß, mit einem freien Handelsverkehr und
einem internationalen Währungssystem Fehlentwicklungen zu korrigieren, die
vor dem letzten Weltkrieg in der Weltwirtschaftskrise kulminiert waren. Das
GATT, Vorläufer der heutigen Welthandelsorganisation (WHO), steckte einen
Rahmen ab, in dem die Staaten über Zollsenkungen und den Abbau nicht-tarifä-
rer Handelshemmnisse verhandelten. Im dollarbasierten Goldstandard verlor der
Internationale Währungsfonds zwar eine seiner Grundlagen. Er blieb aber ein
wichtiger Akteur, weil er als internationale Finanzfeuerwehr eingreift, wo ver-
schuldete Staaten in Insolvenz zu geraten drohen. Bei diesen handelt es sich in
der Regel um afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten. Über das
Schuldendilemma wurde ihnen der Neoliberalismus übergestülpt.
Der US-Wirtschaftswissenschaftler John Williamson – er arbeitete für die
Weltbank – prägte 1990 den Begriff des Washington-Konsenses. Williamson war
eng mit neoliberalen Denkfabriken wie der Mont Pélerin Society, der Heritage
Foundation und dem Cato Institute verbandelt. Sie rühmten sich prominenter
Sponsoren wie Milton Friedman, Barry Goldwater, Ronald Reagan und Margaret
Thatcher. Die Bedeutung des Washington-Konsenses als Wirtschaftstherapie für
die Krisenländer der Dritten Welt kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Damals gab es Befürchtungen, das internationale Kreditsystem nähme Schaden,
sollte es nicht gelingen, die Schuldenländer Lateinamerikas, Afrikas und Asiens
zu größerer Ausgabendisziplin zu zwingen. Der Washington-Konsens war in ins-
titutioneller Hinsicht eine Übereinkunft des IWF mit der Weltbank. Er bestimmte
die Eckpunkte, nach denen sich die Gläubigerbanken überzeugen ließen, Schul-
den zu erlassen, sie zu strecken und Neukredite in Aussicht zu stellen.
Die erste und überragende Komponente des Washington-Konsenses war die
knappe Botschaft: Schuldenabbau vor neuen Krediten (Corrales 2012, S. 137 f.).
Was nach dieser Devise im Einzelnen zu geschehen hatte, wurde in einem maß-
geschneiderten Strukturanpassungsprogramm festgelegt. Generelles Merkmal
dieser Programme: Weitere Kredite und Schuldenerlass nur unter den folgenden
Voraussetzungen: 1) Ausgabendisziplin, 2) Steuerreform bzw. Steuersenkungen,
3) Konzentration der Staatsaufgaben auf Bildung, Gesundheit und Infrastruktur,
4) ein an den Markt angepasstes Zinsniveau, 5) Liberalisierung des Außenhan-
dels, 6) Öffnung für ausländische Direktinvestitionen, 7) Bürokratieabbau und 8)
Schutz des privaten Eigentums. Von sich aus fügte die Weltbank noch 9) das Kri-
terium des Regimes hinzu, ob demokratisch oder nicht, ferner Good Governance
4.3 Die Notenbanken 73
diese Aufsicht schlecht. Erst die eine oder andere Beinahe-Katastrophe scheint
die Einsicht zu fördern, dass Verbesserungsbedarf besteht. Geschäftsbanken sind
weit überwiegend private Institute.
Mit Steuern schöpft die Fiskalpolitik Einkommen, Gewinne und Umsätze ab.
Durch Steuersenkungen und die Verringerung der öffentlichen Ausgaben kann sie
Signale in die gleiche Richtung ausstrahlen wie die Notenbank. Der steuerungs-
politische Vorteil der Fiskalpolitik liegt darin, dass sie mit der Zweckwidmung
öffentlicher Ausgaben imstande ist, privates Kapital in eine erwünschte Richtung
zu lenken.
Wo die Notenbanken an der kurzen Leine der Regierungen bzw. der Finanz-
minister laufen, ist es ein Leichtes, die Geld- und Fiskalpolitik gleichzurichten.
Wo aber unabhängige Notenbanken operieren, werden Zielkonflikte mit der
Regierungspolitik wahrscheinlicher. Mag eine mächtige Notenbank wie die US-
amerikanische „Fed“, wie unten zu erörtern sein wird, auch auf Vollbeschäftigung
verpflichtet sein, ist sie „genetisch“ doch darauf programmiert, dem Stabilitätsziel
den Vorzug zu geben.
Demokratisch legitimierte Politiker denken in der Logik des Wahlkalenders,
d. h. in kurzen Zeithorizonten. Notenbanker hingegen müssen sich um ihre Sattel-
festigkeit keine Sorgen machen. Meist kommen sie aus der Bankenwelt und der
Wirtschaftswissenschaft, und nach der Notenbankkarriere findet sich allemal ein
Platz bei einer großen Bank, einer Consulting-Firma oder einem Forschungsins-
titut.
Unabhängige Notenbanken sind niemandem verantwortlich. Der demokrati-
sche Gesetzgeber hätte es in der Hand, das Notenbankgesetz so zu ändern, dass
die Bank wieder an die Direktive der Regierung gebunden wird. Aber der Kon-
trollverzicht der Regierung ist praktisch irreversibel. Die hypothetische Mög-
lichkeit, die Unabhängigkeit einer großen Notenbank zu kassieren, wird von
der Aussicht auf Turbulenzen und Proteste in der Finanzwelt unterlaufen. Dietz
bezeichnet die Notenbank denn auch als „Monetative Staatsgewalt“ (Dietz 2011,
S. 82). Bei den Notenbankern handelt es sich nach Naturell und Profession um
Hohepriester des Kapitalismus.
Blicken wir noch kurz auf den Kontext des politischen Systems. Bis zur
Einführung des Euro waren die Notenbanken mit Ausnahme der Niederlande,
Schwedens und der Schweiz Instrumente regierender Parteien und Parteienkoa-
litionen. Frankreich und Italien, um nur die größeren Länder zu nennen, drehten
das Ausgabenventil auf, wenn die Beschäftigungsziffern Ungemach meldeten.
Sie behalfen sich mit einer Abwertung, um mit der Verteuerung der Importe
Kaufkraft zu absorbieren. Ging es gar nicht anders, besorgten sie sich Geld mit
Staatsanleihen, die auf dem internationalen Kapitalmarkt angeboten wurden. Die
4.3 Die Notenbanken 75
Notenbanker mochten murren oder die Nase rümpfen. Es blieb ihnen nichts ande-
res übrig, als sich zu fügen. Notenbanken dieses Typs sind selten geworden. Auch
EU-Länder, die sich später entschieden, außerhalb des Euro-Raums zu bleiben,
wie 1994 etwa Großbritannien, gaben ihrer Notenbank einen unabhängigen Sta-
tus. Wenig später reihte sich auch Japan in die Riege der Länder mit unabhängi-
ger Notenbank ein (1998).
sich um fragile Koalitionen bürgerlicher Parteien, die sämtlich auf Laissez faire-
Kurs lagen. Eine Volksfrontregierung der Linken und der linken Mitte verpflich-
tete die Bank 1936 auf die Politik des Finanzministers. 1946 wurde die Bank
verstaatlicht. Bis zur Ablösung der Landeswährung durch den Euro funktionierte
sie als Instrument der Regierungspolitik.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Reichsbank der wilhelminischen Ära.
Sie hatte zwar einen öffentlichen Status, weil sie unter anderem – zunächst noch
gemeinsam mit den Notenbanken einiger Gründerstaaten des Reiches – Bank-
noten ausgab. Aber auch sie arbeitete mit dem Kapital großer Banken, die ihre
Vertreter in das Direktorium delegierten. Der Reichskanzler hatte ein Interventi-
onsrecht, machte aber keinen Gebrauch davon. Auf der Basis des Goldstandards
gab es auch wenig, was die Bank in die Politik hätte involvieren können.
Nach der Hyperinflation wurde die Reichsbank 1923 neu konstituiert.
Abweichend von ihrer Tradition war sie jetzt autonom. Deutschlands Gläubiger
bestanden darauf. Im Zentralbankrat, dem Kontrollgremium der Bank, saßen
internationale Finanzexperten. Nach der Stabilisierung der Reichsmark sollte ver-
hindert werden, dass es zu einer erneuten Inflation kam, von der auch die noch
ausstehenden Reparationsforderungen abgewertet worden wären. Die Rolle
der Reichsbank in der Weimarer Ära blieb bescheiden, obgleich sie in Hjalmar
Schacht (1923–1930) einen starken Präsidenten hatte, dessen Stimme im Klub
der Notenchefs zählte. Im Dritten Reich wurde die Bank – abermals unter Lei-
tung Schachts (1933–1939) – zum Alibi einer Schattenfinanzierung der deutschen
Aufrüstung.
Die wichtigste Notenbank der Welt ist das US-amerikanische Federal Reserve
System, kurz „Fed.“ Weltweites Gewicht hat sie schon deshalb, weil die USA
die größte Volkswirtschaft der Welt sind. Über 85 % des internationalen Zah-
lungsverkehrs wurden 2010 in Dollars abgerechnet, 62 % aller nationalen Wäh-
rungsreserven waren in Dollars angelegt (Oatley 2014, S. 56). Die Probleme der
US-amerikanischen Innenpolitik und der US-Binnenwirtschaft, die Stimmungen
an der Wall Street und die Geldpolitik der Fed bestimmen das wirtschaftliche und
politische Geschehen in der übrigen Welt mit.
Der Fed war ihre gegenwärtige Bedeutung nicht an der Wiege gesungen.
Bis zur Gründung des Federal Reserve System im Jahr 1913 kam das Land
meist ohne Notenbank durch die Geschichte. Das Gründungsmotiv war auch
hier zunächst geldtechnischer Natur. Die Idee einer im Auftrag der Regierung
4.3 Die Notenbanken 77
arbeitenden Bank war zwar keineswegs neu, bis dahin aber notorisch umstrit-
ten. Die erste, im Jahr 1791 gegründete Bank der Vereinigten Staaten ging auf
die Initiative Alexander Hamiltons, des ersten Finanzministers der USA (1789–
1793), zurück. Die Bank hatte ein staatliches Privileg, aber sie war – wie die
europäischen Notenbanken – mit dem Kapital ausgesuchter Geschäftsbanken
ausgestattet, die ihre Vertreter in die Leitung der Bank entsandten. Hamilton
hatte das Interesse der Gläubiger im Auge. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert
waren die USA eine Nation kleiner Bauern, von denen viele mit Bankkredi-
ten wirtschaften mussten. Ein Wertverlust des Dollar lag ganz im Interesse
dieser Schuldner. Thomas Jefferson, dritter Präsident der USA (1801–1809),
ein Anwalt der kleinen Leute, übte heftige Kritik an der Bank. Der Kon-
gress lehnte es ab, die auf 20 Jahre erteilte Bankkonzession zu erneuern. Im
Jahr 1816 wurde eine zweite Bank der Vereinigten Staaten gegründet. Die in
sie gesetzte Erwartung, sie könnte das chaotische Bankensystem stabilisieren,
wurde enttäuscht. Ganz im Gegenteil wurde sie inkompetent gemanagt und
galt als korrupt und leichtfertig bei der Kreditvergabe. Das Recht der übrigen
Banken, Banknoten auszugeben, blieb von dieser Gründung unberührt. Präsi-
dent Andrew Jackson (1829–1837), der sich ebenfalls als Interessenwahrer der
kleinen Leute inszenierte – er gilt neben Jefferson als zweiter Gründervater der
Demokratischen Partei – machte sich dafür stark, dass die Lizenz auch dieser
Bank nicht erneuert wurde (Landauer 1981, S. 36 f., 53–55, 66). Seit 1836
gaben die Geschäftsbanken in eigener Regie und ohne die Konkurrenz einer
zentralen Institution Banknoten aus. Diese wurden hier akzeptiert, dort aber
abgelehnt. Bei Bankenpleiten hatten die Besitzer der Banknoten einfach Pech.
Dieser Zustand dauerte gut 30 Jahre an. Im Versuch, die Geldwirtschaft in
den Griff zu bekommen, beschränkte der Kongress das Recht zur Geldausgabe
1863/1864 auf privilegierte Nationalbanken. Bei ihrer Geldschöpfung hatten
sie künftig die vom Kongress beschlossenen Obergrenzen zu beachten. Danach
vagabundierte das Geld der Nationalbanken auf dem Wege zu den zahlreichen
Kleinbanken durch die Einzelstaaten – eine Einladung an Kriminelle, die bei den
Banken eingelagerten Barbestände zu rauben und Geldtransporte zu überfallen.
Im Western-Genre sollte Hollywood an den Ereignissen dieser Zeit noch hundert
Jahre später gut verdienen.
Knapp vor Beginn des 20. Jahrhunderts überschritten die USA die Schwelle
zum Industriestaat. Das bäuerliche Amerika verlor an Bedeutung. Umso mehr
machte das rückständige Bankensystem der expandierenden Finanzwelt und
Industrie zu schaffen. Die Europäer, die in alle Welt exportierten und Kolonien
gründeten, waren beim Management der Währungen haushoch überlegen. Als die
USA 1907 wieder einmal an einer Wirtschaftskrise laborierten, die das Fehlen
78 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
Nationale und internationale Geschäfte der Fed werden über diese Zweigbank
abgewickelt (dazu und im Folgenden: Gosling und Eisner 2013, S. 57–76). Die
Regionalbanken besorgen die übrigen Geschäfte der Fed; sie arbeiten mit dem
Kapital regionaler Teilhaberbanken, die entsprechend auch am Notenbankgewinn
beteiligt werden. Die Teilhaberbanken stellen die Mehrheit der Vorstände der Regi-
onalbanken und haben entsprechendes Gewicht bei der Wahl ihrer Präsidenten.
Erst spät, in den 1970er Jahren, wurde das politische Potenzial des Fed-Mandats
aktuell. Den Wähler hat die Fed nicht zu fürchten, sie sitzt fest im Sattel. Präsident
und Kongress wollen wiedergewählt werden. Sie schlagen ökonomische Empfeh-
lungen in den Wind, wenn sie davon politische Nachteile befürchten. Die Amtszeit
des Fed-Vorsitzes überlappt sich mit derjenigen eines wiedergewählten Präsidenten.
Ein Präsident muss in der Regel also einige Jahre mit einer oder einem Fed-Vor-
sitzenden leben, die oder den er nicht selbst vorgeschlagen hat. Schließlich über-
schneidet sich die Amtsdauer der übrigen Mitglieder des FOMC mit derjenigen
des Chair. Wir haben es mit einem Musterfall temporaler Gewaltenteilung zu tun.
Die von demokratischen Präsidenten ernannten Mitglieder des FOMC favorisierten
in der Vergangenheit eher einen niedrigen, die von republikanischen Präsidenten
Ernannten eher einen höheren Leitzins (Stella und Vandenbussche 2010, S. 151).
Abschließend sei noch einmal daran erinnert, dass die Unabhängigkeit der Fed
einfach ein behördliches Konstrukt wie so viele andere ähnlicher Art ist, die der
Kongress ursprünglich der Verfügung des Präsidenten entzogen hat. Davor lie-
gende Beispiele sind die Verkehrsnetz- und Handelsbehörden (Federal Commerce
und Federal Trade Commission). Die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank
und der Europäischen Zentralbank war, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein
wird, im Ursprung stärker ideologisch aufgeladen.
Noch vor Gründung der Bundesrepublik 1948 kam es unter amerikanischem Ein-
fluss zur Einrichtung einer Bank Deutscher Länder. Sie besaß eine zentrale Struk-
tur mit Direktorium und Zentralbankrat und sowie die untergeordnete Struktur der
Landeszentralbanken, welch letztere aber keine geldpolitische Entscheidungskom-
petenz besaßen. Der Aufbau der Bank Deutscher Länder knüpfte alles in allem an
die frühere Reichsbank an. Er wurde auch von der Nachfolgeinstitution Bundes-
bank übernommen. Ebenso blieb die personelle Kontinuität von der Reichsbank
zur Bundesbank gewahrt (zur Geschichte der Bundesbank: Marsh 1992).
Konstitutionell war die Bundesbank einer Kapitalgesellschaft nachgebildet.
Das operative Geschäft war Aufgabe des Direktoriums. Die Direktoren wurden
80 4 Die Wirtschafts- und Geldpolitik
von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates bestellt. Die damals
elf, später 16 Länder stellten jeweils den Präsidenten einer Landeszentralbank.
Trotz ihres wohlklingenden Namens waren die Landeszentralbanken lediglich
Unterverwaltungen der Bundesbank. Beschlüsse fasste der Zentralbankrat. Dort
allerdings hatten auch die Präsidenten der Landeszentralbanken eine Stimme.
Durchaus nicht unumstritten war die große Innovation, dass die Bundesbank, als
sie 1957 ihre Arbeit aufnahm, eine gesetzliche Garantie auf ihre Unabhängigkeit
bekam.
Die Institution Bundesbank stimmte mit den Ideen der ordoliberalen Freibur-
ger Schule von einer Wirtschaftsverfassung überein (siehe oben, Abschn. 2.2.4).
Die Geldschöpfung, so die Devise, ist zu wichtig, als dass sie in den Händen der
Regierung gut aufgehoben wäre. Deshalb einziger Auftrag der Bank: die Garantie
einer stabilen D-Mark.
Mit erfolgreicher Geldpolitik avancierte die Bundesbank zu einer Vorzeigeins-
titution. Ihre Unabhängigkeit wurde aber erst richtig wahrgenommen, als sie sich
auf Konflikte mit der Bundesregierung einließ. Während die britischen und fran-
zösischen Notenbanken jeden wirtschaftspolitischen Schlenker ihrer Regierungen
flankieren mussten, häuften sich in den 1970er Jahren Differenzen mit der Bun-
desregierung. Hintergrund war die oben beschriebene Stagflation: steigende Ener-
giepreise, rückläufiges Wachstum und steigende Arbeitslosenzahlen.
Nach Ablauf der Amtszeit eines Bundesbankpräsidenten wurde der Nachfol-
ger in Übereinstimmung mit der stärksten Regierungspartei ernannt. Beim Vize
und den Direktoren kamen der Juniorpartner in der Koalition oder eine Regie-
rungspartei in den Ländern zum Zuge. Die Bundesbanker kamen zumeist aus der
Ministerialbürokratie oder dem Bundes- und Landeszentralbankensystem.
Von vergleichbarem Gewicht wie die Fed ist weltweit nur noch die EZB. Ihre Vor-
geschichte verweist auf die Deutsche Bundesbank (siehe oben, Abschn. 4.3.4).
Die laufenden Geschäfte führt ein Direktorium. Es besteht aus dem Präsiden-
ten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern, die jeder vom Europä-
ischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union
gewählt werden. Die Amtszeit beträgt acht Jahre, Wiederwahl ist ausgeschlossen.
Beschlüsse fallen in gemeinsamer Sitzung mit dem Rat der EZB.
In diesem Rat ist jedes Land mit seinem Notenbankpräsidenten – derzeit 19 –
vertreten. Diese Mitglieder sind unabhängig, also im rechtlichen Sinne keine
Repräsentanten ihrer Staaten. Im Übrigen ist die Eurozone als Staatensemble
4.3 Die Notenbanken 81
viel zu heterogen, als dass parteipolitische Gesichtspunkte bei der Bestellung des
Bankpräsidenten eine Rolle spielen könnten. Um das Organ entscheidungsfähig
zu halten, wurde beschlossen, die Stimmrechte entsprechend dem wirtschaftli-
chen Gewicht der Länder zu differenzieren. Bei Abstimmungen zählt die einfa-
che Mehrheit. Vier der für die Abstimmungen zählenden 15 Stimmen rotieren seit
2015 monatlich zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und
Spanien, elf Stimmen monatlich zwischen den übrigen 14 Staaten. Die nationalen
Notenbanken sind – wie vormals die Landeszentralbanken im deutschen Bundes-
banksystem – nichts anderes mehr als hochwertige Zweigstellen. Sie führen die
von der EZB beschlossenen Geschäftsvorgänge aus.
Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der
Finanzsektor und die Finanzkrise 5
Darüber hinaus wurde 1946 ein Council of Economic Advisors (CEA) einge-
richtet, der später zum Vorbild für den Sachverständigungrat in Deutschland
werden sollte. In den 1950er, 1960er und noch in den frühen 1970er Jahren ver-
abschiedete der Kongress zahlreiche bundesfinanzierte Grants, die als Zuschüsse
an die Staaten ausgezahlt werden, sofern diese die vom Bund gewollte Verwen-
dung garantierten. Mit dem häufig abgewandelten Instrument dieser Zuschüsse
wurde die Bundesregierung in vielen Politikbereichen, für die sie keine förmliche
Zuständigkeit besitzt, zum Taktgeber einer stärker gleichgerichteten Aktivität der
dafür förmlich zuständigen Einzelstaaten. Ob und wie stark der Bund damit die
von der Verfassung gewährleistete Autonomie der Einzelstaaten aushöhlt, ist seit
Jahrzehnten ein kontroverses Thema.
Tab. 5.3 Politische und Wirtschaftsdaten der USA (in v. H.). (Quellen: Labor Force Stati-
stics from the current population survey, employment status of the civilian non-institutional
population since 1945; us gdp growth by year compared to recessions and major events,
https://www.thebalalancecom/gdp; Annual inflation rate, gdp growth, unemployment rate
in the united states from 1999 to 2016, statista, https://statista.com)
BIPa Inflationa Arbeitslosig- Federal Fed-Vorsitz Präsident Kon-
Keit Funds rateb gress
2016 1,6 1,2 4,9 0,5–0,75 Yellen Obama DGc
2015 2,6 0,1 5,3 0,25–0,50
2014 2,4 1,6 6,2
2013 1,7 1,5 7,4 Bernanke
2012 2,2 2,1 8,1
2011 1,6 3,2 8,9
2010 2,5 1,6 9,6 UPGd
2009 –2,8 –0,4 5,3
2008 –0,3 3,8 6,2 0–0,25 G.W. Bush DGc
2007 1,8 2,8 7,4 4,25 Greenspan
2006 2,7 3,2 8,1 5,25 UPGd
2005 3,3 3,4 8,9 4,25
2004 3,8 2,7 9,6 2,25
2003 2,8 2,3 6,0 3,00
2002 1,8 1,6 5,8 1,25
2001 1,0 2,8 4,7 1,75
2000 4,1 3,4 4,0 6,50 Clinton DGc
1999 4,7 2,7 4,2 5,00
1998 4,5 2,3 4,5 4,75
1997 4,5 2,3 4,9 5,50
1996 3,8 3,0 5,4 5,25
1995 2,7 2,8 5,6 5,50
1994 4,0 2,6 6,1 UPGd
1993 2,7 3,0 6,9
1992 3,6 3,0 7,5 3,00 G.H. Bush DGc
1991 1,9 6,1 5,6
1990 –0,1 3,1 6,9 7,00
(Fortsetzung)
5.1 Das politische System 89
Tab. 5.3 (Fortsetzung)
BIPa Inflationa Arbeitslosig- Federal Fed-Vorsitz Präsident Kon-
Keit Funds rateb gress
1989 3,7 4,6 5,3 8,25
1988 4,2 4,4 5,5 9,75 Reagan
1987 3,5 4,4 6,2 6,75
1986 3,5 1,1 7,0 6,00 Volcker
1985 4,2 3,8 7,75
1984 7,3 3,9 7,5 8,25 UPGd
1983 4,6 3,8 9,25
1982 4,9 3,8 9,7 8,50
1981 2,6 8,9 12,0
aJahreszuwachs in v. H.
bJahresende, zur Erläuterung der Federal funds rate siehe unten, Abschn. 5.4
cDG: Divided Government, die Partei des Präsidenten ohne Mehrheit in mindestens einer
Der Finanzsektor ist heute die spendabelste Wirtschaftssparte mit für das
Jahr 2016 allein 111 Mio. US$ von Versicherungen, 74 Mio. US$ von Investment-
banken und Fonds, und lediglich 44 Mio. US$ von den Geschäftsbanken. In den
Vorjahren erreichte der Spendenbeitrag der Versicherungen und des Investmentsek-
tors sogar 150 bzw. 100 Mio. US$ (Open Secrets 2016). Die Brüder Charles und
David Koch, Eigentümer des zweitgrößten Industrievermögens des Landes (Koch
Industries), sind eine politische Großmacht, libertär bis auf die Knochen und stets
dabei, wenn es darum geht, die politische Rechte finanziell zu unterstützen.
Das Haushaltsbeschließungsverfahren ist Gegenstand einer Dauerreform. Sie
zieht sich seit mehr als 30 Jahren hin. Der Grund liegt in der wachsenden Schul-
denfinanzierung des Bundeshaushalts. Aus den verschiedensten Gründen – den
liberalen Demokraten sind die Sozialausgaben, den konservativen Republikanern
die Rüstungsausgaben wichtiger – tut sich der Kongress schwer, die Gesamtaus-
gaben zu verringern (Tab. 5.4).
Gleichzeitig weigert sich eine Mehrheit der Kongressmitglieder beider Par-
teien, über höhere Steuern überhaupt nachzudenken, um auf diese Weise das
notorische Haushaltsdefizit in Angriff zu nehmen. Beide Parteien wollen zwar
90 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
kein noch größeres Defizit, keine will aber auch Abstriche an Haushaltspositio-
nen, die ihr lieb und teuer sind.
Seit 1985 wird mit Gesetzen zur Haushaltskappung experimentiert, zunächst
wie folgt: Überstiegen die Ausgabenbeschlüsse eine vorweg bestimmte Ober-
grenze, war der Finanzminister ermächtigt, die Ausgaben sämtlicher Haushalts-
kapitel mit einer einheitlichen Quote zurückzuhalten, sodass die Gesamtausgaben
im beschlossenen Rahmen blieben. Der Kongress selbst unterlief diese strenge
Regelung. Im Jahr 1990 ersetzte er sie durch ein weiches Surrogat, und in der
Folge wurde die Obergrenze gern nach oben korrigiert, um schmerzhafte Ein-
schnitte zu vermeiden.
Die Mehrausgaben für Banken- und Firmenrettungen erreichten im Gefolge
der Finanzkrise von 2008/2009 solche Größenordnungen, dass der Kongress 2011
einer neuen Kappungsregelung zustimmte. Der Budget Control Act bestimmt einen
Zehnjahresplan zur Schuldenreduzierung nach dem Motto „Pay as You Go“: keine
Ausgaben, deren Finanzierung nicht von vornherein gesichert ist! Auf Empfehlung
5.2 Entscheiden in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik … 91
Wenden wir uns jetzt dem wirtschaftspolitischen Treibstoff zu, mit dem die Poli-
tikmaschine betankt wird. Noch bis in die 1960er Jahre wirkten die Impulse des
für amerikanische Verhältnisse geradezu sozialdemokratisch anmutenden Roo-
seveltschen New Deal. Präsident Harry S. Truman (1945–1953) hatte den Ehr-
geiz, den New Deal weiter auszubauen. Er wurde prompt von einem Kongress
ausgebremst, der inzwischen von konservativen Demokraten und Republikanern
beherrscht war. Immerhin gelang es Truman noch, den von Franklin D. Roose-
velt initiierten Employment Act (1946) verabschieden zu lassen. Er verpflichtet
Regierung und Notenbank auf das Ziel der Vollbeschäftigung. Trumans republi-
kanischer Nachfolger Dwight D. Eisenhower (1953–1961) respektierte die Errun-
genschaften des New Deal. Er folgte der Stimmung in seiner Partei aber insoweit,
als er es beim Status quo beließ. Beide Präsidenten wandten sich entschieden
gegen Forderungen aus Kongress und Öffentlichkeit, die Steuern zu senken; beide
92 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Die Mehrverschuldung ist zwar auch vom Bund nicht gewollt, der einen
beträchtlichen Teil der einzelstaatlichen Ausgaben durch Zuschussprogramme
mitfinanziert. Doch wenn es darauf ankommt, Schulden abzubauen, scheut man
davor zurück. Die Republikaner wehren sich, wie oben erwähnt, gegen Ein-
schnitte im Verteidigungs-, die Demokraten gegen solche im Sozialhaushalt.
Diesem Dilemma wurde in der Vergangenheit allzu häufig das Ziel geopfert, den
Schuldenberg abzutragen.
Das Verhältnis von Regierung und Fed war bis in die 1970er Jahre noch
unspektakulär (Lindsay 2016, S. 33–43). Präsident Richard Nixons Experiment
der Lohn-Preiskontrollen (1971) mochte von der Fed kritisch als Experiment
beäugt werden, ihr die Butter vom Brot der Inflationsbekämpfung zu nehmen.
Die Lohn-Preis-Kontrollen erwiesen sich aber schon bald als untauglich– genauso
wie in Europa, wo derlei schon häufiger versucht worden war. Als die Preise nach
Aufhebung der Kontrollen (1973) wieder stiegen, gabelten sich die Wege der Fis-
kal- und Geldpolitik.
Seit den 1970er Jahren türmten sich immer mehr Schulden auf (Tab. 5.6).
Der Dollar, die Währung im internationalen Ölgeschäft, vagabundierte auf der
Suche nach Anlagen rund um den Globus, landete als „Euro-Dollar“ auf dem
europäischen Markt und zog die US-Währung allein schon mit dem weltweiten
Dollarvolumen nach unten. Jimmy Carter (1977–1981), der erste konservative
demokratische Präsident nach dem Reformer Franklin D. Roosevelt, ernannte
Paul Volcker (1979–1987) zum neuen Chairman der Fed.
Volcker bekämpfte die Inflation mit aller Härte (zum Folgenden Gosling und
Eisner 2013, S. 52–55; Ippolito 2012, S. 53–82). Erst mit dem konfliktbereiten
Volcker machte sich die Fed als politisch unbequeme Institution bemerkbar.
Im Jahr 1981 trat Präsident Reagan (1981–1989) sein Amt an. Sein großes
Projekt war Angebotspolitik: Wachstumsimpulse durch Staatsrückbau. Gleich-
zeitig kurbelte Reagan die Rüstungsausgaben hoch, um die zwar marode, aber
immer noch stark aufrüstende Sowjetunion endgültig in die Knie zu zwingen. Der
Verteidigungshaushalt produzierte Einkommen und Beschäftigung hauptsächlich
in der Rüstungsforschung und -industrie. Die Bruttomehrausgaben wurden mit
Krediten finanziert – also mit einer in neoliberaler Sicht wirtschaftspolitischen
Sünde. Die heimische Konsumgüterindustrie hatte nichts von alledem. Umso
mehr freute man sich in Ostasien. Japanische Firmen warfen hochwertige und
preisgünstige Autos und Unterhaltungselektronik auf den US-Markt. Auf Import-
produkte wirkte der – in Anbetracht der notorisch defizitären Zahlungsbilanz –
überbewertete Dollar wie ein Staubsauger (Tab. 5.7).
Amerikanischen Produzenten fiel es schwer mitzuhalten. Der Dollarkurs
schwächte ihre Konkurrenzfähigkeit. Den Konsumenten waren die günstigen
5.2 Entscheiden in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik … 95
(Fortsetzung)
96 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Tab. 5.6 (Fortsetzung)
Gesamtschuldena Haushaltsüber- Präsident Ereignis
schuss/-defizit
1989 50 –2,7
1988 49 –3,0 R. Reagan
1987 48 –3,1
1986 46 –4,9
1985 41 –5,0
1984 38 –4,7
1983 37 –5,9 Aufrüstung
1982 34 –3,9 2. Kalter Krieg
1981 31 –2,5
1980 32 –2,6 J.E. Carter Sowjetinter
vention
1979 33 –1,6 in Afghanistan
1978 35 –2,6
1977 36 –2,6
Importe nur recht. Ihre Dollars landeten auf den Konten japanischer Banken. Um
das Haushaltsdefizit am Kapitalmarkt zu finanzieren, lockte der Finanzminister
mit neu emittierten Treasury bonds. Zahlungskräftige Anleger ließen sich nicht
lange bitten.
Reagan trat sein Amt mit dem Vorsatz an, die Steuern zu senken. In der Tat
wurde 1986 ein Steuergesetz verabschiedet. Es brachte eine Querbeetsenkung der
Einkommensteuern um mehr als 20 % (Ippolito 2012, S. 134, 138). Die Regie-
rung hielt sich viel darauf zugute, dass dieses Gesetz einkommensneutral geriet,
weil es durch die Streichung von Steuerprivilegien gegenfinanziert war (Tab. 5.8).
Die Steuerzahler gaben in der Tat mehr aus und belebten die Nachfrage.
Auf der Ausgabenseite ging Reagans Rechnung nicht auf. An die größten
Ausgabenposten, die sog. „entitlements“, darunter die Sozialversicherung (siehe
oben, Abschn. 5.1), wagte sich der Präsident nicht heran. Er hatte vielmehr Aus-
gabenkürzungen im Auge, die der Mittelklasse nicht weh taten (Ippolito 2015,
S. 219–230). Gegen die garantierte Altersrente und die Rentnerkrankenversiche-
rung hatte die republikanische Wählerklientel durchaus nichts einzuwenden.
5.2 Entscheiden in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik … 97
Reagans Budgetdirektor Stockman, der aus Protest sein Amt aufgab, quittierte
diesen „Verrat“ am versprochenen Staatsrückbau mit einem zeitweise populären
Buch, das unter dem schönen Titel „Triumph der Politik“ erschien (Stockman
1986). Die Klage besagt mehr über die Naivität des Autors als über die man-
gelnde Prinzipientreue des damals amtierenden Präsidenten, der doch allemal
so viel vom politischen Geschäft verstand, dass man der eigenen Wählerklientel
nicht vor den Kopf stößt.
Aber nicht einmal die übrigen, auf Arme und Randgruppen gemünzten Kür-
zungen machten sich gleich bemerkbar. Kürzungsbeschlüsse im Sozialbereich
haben den Bremsweg eines mit Höchstgeschwindigkeit fahrenden Zuges. Ausge-
rechnet dieser erste neoliberale Präsident der USA verzeichnete Rekordausgaben
im Sozialetat, aber auch den bis dahin größten Schuldenstand in der Geschichte
98 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
(Fortsetzung)
5.2 Entscheiden in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik … 99
Tab. 5.8 (Fortsetzung)
Maximaler Steuersatz Erreicht bei (Jahres- Kapitalgewinnsteuer
für Einkommen (v. H.) Kommen)a (v. H.)
1970 71,5 32,3
1969 77,0 27,5
L.B. Johnson
1968 72,2 29,6
1965 70,0 200.000
1964 77,0
J.F. Kennedy
1961 91,0 400.000 35,0
aNur für die Jahre mit veränderten Spitzensteuersätzen ausgewiesen, siehe auch Tabelle
Einkommensquintile (Tab. 5.11). Im Jahr 2010 fielen zwei Prozent der Steuerpflichtigen
unter den Spitzensteuersatz.
der Vereinigten Staaten (Morgan 2009, S. 78–129). Die gewaltige Zinslast des
Bundeshaushalts erlaubte es auch nicht, den Steuerertrag weiter zu verringern.
So begleitete der Teufelskreis von Inflation, schwachem Wachstum und Ver-
schuldung die Amtszeit dieses ersten selbsterklärten Advokaten eines Staates,
der eigentlich doch zugunsten des Marktes stärker hätte in den Hintergrund treten
sollen.
Der Demokrat Bill Clinton (1993–2001) gewann seine erste Wahl ins Präsi-
dentenamt mit dem üblichen Versprechen, das Wachstum zu fördern und Jobs
zu schaffen. Ungewöhnlich für einen Demokraten, förderte die Wall Street sei-
nen Wahlkampf nach Kräften. Dafür hatte sie gute Gründe. Sein Vorgänger
G. H. W. Bush (1989–1993) hatte im Zeichen einer anhaltenden wirtschaftlichen
Misere sein Versprechen gebrochen, keine neuen Steuern zu erheben. Clinton
war eng mit dem 1985 gegründeten konservativen Democratic Leadership Coun-
cil verbunden. Dieser suchte die Zukunft der Partei – nicht gerade in Roosevelt-
Tradition – in der Annäherung an die Geschäftswelt (Grover und Peschek 2014,
S. 26–40; Hacker und Pierson 2010, S. 190–192). Eine wirtschaftliche Belebung
mit Haushaltsmitteln war von Clinton so wenig gewollt wie von seinen republi-
kanischen Vorgängern. Wie diese positionierte er sich gegen das Big government.
Ein moderneres Lean government sollte sich die Arbeit der Unternehmen zum
Vorbild nehmen, private Investoren unterstützend flankieren und statt wie bisher
mit Wohlfahrtszahlungen nunmehr qua Bildung und Ausbildung Wege aus der
Armut bahnen.
100 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Clintons Kurs warb um eine Mittelschicht, die mehrheitlich schon lange nicht
mehr auf eine der beiden Traditionsparteien festgelegt war. Sie bildete das Gros
der Wähler, die sich überhaupt noch an der Wahl beteiligten, darunter akademisch
gebildete Familien, die ihren Kindern den gleichen Standard sichern wollten, und
gut verdienende Angestellte, also durchweg Amerikaner, die überhaupt etwas zu
verlieren hatten. Wollte man für sie etwas tun, blieb nichts anderes, als mit den
neoliberalen Wölfen zu heulen. Die Verlierer dieser Politik waren leicht auszu-
machen, vor allem das stark afro-amerikanisch geprägtes Subproletariat, das sich
mangels Masse nie hatte Sorgen machen müssen, ob es sich das College für die
Kinder, eine teure Krankenversicherung und dazu noch die Hypothek für ein
Haus leisten konnte (Tab. 5.11).
Russland, das nach dem Zerfall der Sowjetunion am Boden lag, spielte der
Clinton-Administration die lange erhoffte Friedensdividende zu. Clinton ließ
sich von seinem Finanzminister Robert Rubin (1995–1999), zuvor Chef der
Investmentbank Goldman & Sachs, überzeugen, die eigentlich gewollten Inves-
titionen in die öffentliche Infrastruktur und Bildung zurückzustellen und einen
ausgeglichenen Haushalt zu bewerkstelligen. Vom Verzicht auf die Regulierung
Kongress grünes Licht für sein Programm geben. An Interessenten dürfte es nicht
fehlen. Viele Staatspapiere landen im Depot der reichsten Amerikaner. Ihr lang-
fristiger Ertrag ist garantiert. Was wunder, dass die Bewohner des Penthouse im
Gesellschaftsbau gut mit einem Schulden machenden Staat leben können, Steuern
würden sie immerhin einen Bruchteil ihrer Einkommen und Vermögen kosten.
Die Wirtschaftspolitik Ronald Reagans könnte mit Trump wieder aufleben.
Von seinem innerparteilichen Rivalen G. H. W. Bush wurde sie 1980 als „voodoo
economics“ verspottet: eine Mischung von Angebotspolitik – Stichwort Steuer-
senkungen – und schuldenfinanzierter Ausgabenpolitik. Der Einflüsterer die-
ser Idee, der Ökonom Arthur Laffer (siehe oben, Abschn. 2.3.2), klatschte den
Ankündigungen Donald Trumps denn auch noch im gereiften Alter Beifall (Inter-
view: SZ, 14.02.2017, S. 22).
Trump hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, die allgemeine Krankenver-
sicherung Obamacare alsbald wieder zu beseitigen. Acht Wochen nach seiner
Amtseinführung legte er einen entsprechenden Entwurf vor, der an die 20 Mio.
Bürger den Versicherungsschutz wieder nehmen würde. Das Vorhaben kam im
Repräsentantenhaus erst im zweiten Anlauf durch. Seine Mehrheitsfähigkeit
ist offen; republikanische Senatoren hegen Bedenken. Moderate Republikaner
dachten nicht daran, ihre Wähler zu verprellen, die sich durch Obamacare erst-
mals eine bezahlbare Krankenversicherung leisten konnten. Demgegenüber
ging Trumps Entwurf, der immerhin Reste von Obamacare bewahren wollte,
der libertären Mehrheit der im Freedom Caucus (Tea Party) organisierten repu-
blikanischen Abgeordneten und ihrer Paten, der Koch-Brüder, nicht weit genug.
Sie wollten Tabula rasa! Auch die Krankenversicherung Medicaid für Arme und
Bedürftige, die von den Staaten mitfinanziert wird, rangiert in Trumps Abrissplan
für den schmalen US-Sozialstaat ganz weit oben. Auf der anderen Seite schlägt
Trump eine Steuerreform vor, mit der die reichsten Amerikaner massiv entlastet
würden. Ob diese auch nur in Teilen realisiert werden, steht in den Sternen. Eine
ungelenke und beratungsresistente, mit Skandalen gepflasterte Amtsführung ließ
schon wenige Wochen nach der Ankündigung dieser radikalen Vorhaben etliche
um ihre Wiederwahl besorgte Republikaner auf Distanz zum Präsidenten gehen.
Als Lehre aus der großen Depression (siehe oben, Abschn. 4.3.2) verabschiedete
der Kongress 1933 den Glass Stegall Act. Er etablierte ein Trennbankensystem.
Geschäftsbanken durften keine Aktien- oder Spekulationsgeschäfte mehr tätigen
und damit die Einlagen ihrer Kunden aufs Spiel setzen. Zum Schutz der K
unden
5.3 Entscheidungen: Deregulierung im Finanzsektor 105
Geld verdient wurde. Gewinne im Finanzsektor boten die Aussicht, die negative
Leistungsbilanz der USA aufzupolieren. Die Geschäftsbanken drängten darauf,
das Trennbankensystem von 1933 zu beseitigen. Und in der Tat wurde das Regel-
werk, das sich mehr als 60 Jahre lang bewährt hatte, abgewrackt. Die Politik folgte
bei der in den 1980er Jahren einsetzenden Liberalisierung der Finanzindustrie der
Erwartung, der Einstieg der Geschäftsbanken in das Investment-Geschäft würde
die exorbitanten Gewinne der Investmenthäuser drücken, das Potenzial für große
Investments steigern, und in einem Prozess des Trickle down würden dabei auch
Arbeitsplätze entstehen (Cohen und DeLong 2016, S. 181).
Die Fed war eine treibende Kraft bei der Deregulierung des Bankensektors.
Vor Gericht erreichte sie das Absenken der Schwelle zwischen Geschäfts- und
Investitionsbanken. Als Aufsichtsbehörde erlaubte sie 1989, dass die Geschäfts-
banken zehn Prozent ihres Eigenkapitals für Investment-Geschäfte einsetzen durf-
ten. Diese Quote wurde 1996 auf 25 % erweitert (http://www.investopia.com/ask/
answers/042815/how-was-glasssteall-weakened. Zugegriffen 24.10.2016). Mehr
wollte die Fed selbst nicht tun. Für weitere Schritte war die Politik gefordert.
ausgestaltet sind, gehört der Handel mit Aktien und Anleihen seit je zum Kern-
geschäft. Die Bezeichnung Investmentbank zeigt dort lediglich an, wie weit das
betreffende Institut noch klassische Bankgeschäfte betreibt.
Deregulierte Märkte, so der langjährige Fed-Chef Alan Greenspan, der in der
hier referierten Epoche seines Amtes waltete, brächten größeren Profit als regu-
lierte Märkte. Profite am Finanzmarkt zahlten sich in Innovation und Arbeitsplät-
zen aus. Finanzrüpel, die es natürlich gebe, würde der Markt schon zur Räson
bringen (DeMartino 2011, S. 29 f.).
Viel vom im Finanzsektor verdienten Geld wurde gleich wieder in Krediten
und Anleihen angelegt. Gut und supergut bezahlte Arbeitsplätze entstanden haupt-
sächlich dort (Pressman 2011, S. 84 f.). Das Gegenbild: Die verarbeitende Indus-
trie fand bei Anlegern und Investoren immer weniger Interesse (Weisman 2013).
Der Maschinenbau hat sich so weit zurückentwickelt, dass für die Produktion
wichtige Komponenten schon gar nicht mehr im Lande selbst hergestellt, sondern
aus Hochtechnologieländern importiert werden (SZ, 30.01.2017, S. 18). Allein
zwischen 2001 und 2015 verlor die verarbeitende Industrie 28 % der Jobs, 2014
waren dort nur noch 8,1 % Amerikaner beschäftigt (2004: 9,9 %). Diese acht Pro-
zent steuerten allerdings zwölf Prozent zur Bruttowertschöpfung bei. Was dort
also an Beschäftigten übrig geblieben ist, arbeitet in der Summe höchst effizient.
Statt in „alte“ Technologie wird massiv in die neuen IT-basierten Branchen mit
ihrem großen Wachstumspotenzial investiert, also in die Technologien des Silicon
Valley mit ihren hohen Renditen. Ihre Anschubfinanzierung wurde ursprünglich
vom Pentagon geleistet.
Am Vorabend der großen Finanzkrise (2007) wurden 40 % aller gesamtwirt-
schaftlichen Gewinne im Finanzsektor erzielt. Die obersten 0,1 % aller Amerika-
ner steigerten ihr Vermögen um mehr als das Doppelte (Quiggin 2016, S. 334).
Anfang der 1980er Jahre konzentrierten sich neun Prozent der Einkommen bei
einem Prozent der Bevölkerung, um 2010 hatte sich die Konzentration auf 20 %
verdoppelt. Zum Vergleich: Lag der Anteil des einkommensstärksten Prozents
Anfang der 1980er Jahre in Frankreich und Japan bei etwa sieben Prozent und in
Deutschland bei neun, so gab es zwar auch dort eine Verschiebung, aber doch in
deutlich geringerem Ausmaß: in Frankreich und Japan auf neun, in Deutschland
auf elf Prozent (Piketty 2015a, S. 418–420).
Fazit: Die US-Regierungen waren an der Entstehung des neuen Finanzmarktes
und der weiteren Spreizung der Einkommensverteilung maßgeblich beteiligt. Par-
teiliche Färbungen spielten keine Rolle. Anschließend glänzten dieselben Regie-
rungen durch Nichtstun.
Neben Staatsausgaben und Steuern ist Regulierung das zweite rote Tuch der
neoliberalen Ideologie. Bereits der Demokrat Carter und erst recht der Demo-
krat Clinton machten beim Tanz um die Deregulierung munter mit. Die Welt des
108 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Business und der Wall Street nahm es mit Wohlgefallen zur Kenntnis. Größen des
Silicon Valley wie Elon Musk (u. a. Gründer von Paypal, Besitzer von SpaceX
und Tesla) und und Peter Thiel (u. a. Gründer und Mitgründer von Paypal und
Facebook), die das Netz als freies Geschäftswelt bewahren wollen, haben sich
ihr hinzugesellt. In der Ära des Demokraten Obama gab es schon nicht mehr
viel zu deregulieren. Der neue Präsident hatte andere Prioritäten, die Kranken-
versicherung und den Klimaschutz. Sein ökonomisches Team, darunter als Wirt-
schaftsberater Clintons früherer Finanzminister Rubin, der neue Finanzminister
Timothy Geither – vormals ein enger Mitarbeiter Rubins in G. W. Bushs Finanz-
ministerium, danach Leiter des New Yorker Zweigs der Fed – pflegte auch im
Regierungsamt die freundschaftlichen Kontakte zur Wall Street (Bartels 2016,
S. 301–305). Das neue Wirtschaftsteam hatte den Charme eines Déjà vue. Was
nach der großen Finanzkrise von 2008/2009 an neuer Regulierung kam, wurde
nach dem Blick in den Abgrund der Finanzkatastrophe – zur Bereinigung des
Marktes wurden immerhin 400 kleinere Banken geschlossen – zunächst selbst
von Republikanern gutgeheißen. Das politische Gedächtnis ist jedoch kurz.
Nach der Verabschiedung des Dodd-Frank Act, der künftige Finanzkrisen mit
stärkerer Regulierung zu verhindern suchte, aber bereits im Gesetzgebungspro-
zess gehörig gefleddert worden war, setzte die Lobbying-Maschinerie des Finanz-
sektors alle Hebel in Bewegung, um die neuen Regularien wieder zu schwächen
oder sie ganz zu beseitigen. Im Umfeld des 2016 gewählten Präsidenten Trump
hieß es schon kurz nach dem Wahltag, die Regulierungen im Finanzsektor sollten
zurückgenommen werden.
In der hier beschriebenen Epoche blieb die Erwartung, gesamtwirtschaftliche
Unwuchten auszugleichen, an der Fed hängen. Die Fed ist mit dieser Aufgabe
überfordert. Erstens besitzt sie kein demokratisches Mandat für die Wirtschafts-
politik, zweitens ist die Geldpolitik dem breiteren Publikum kaum vermittelbar
und drittens eignet sie sich damit schlecht als Arena partei- und sachpolitischer
Auseinandersetzungen.
Die Fed kann mit ihrem Instrumentarium kann gar nicht anders, als Geld von
Top nach Down zu schaufeln.
Der Employment Act von 1946 verpflichtet die Fed, das Ziel der Vollbeschäf-
tigung zu unterstützen. Bereits in der Truman-Administration kam es zu ersten
Differenzen mit der Fed. Der Grund lag in der Abwägung, welche die Fed jetzt
5.4 Entscheiden in der Geldpolitik: Der Niedrigzins als Wachstumsarznei 109
sind Mindestreserven, die jede Bank bei der Fed parken muss. Verringert sich
das Reservevolumen, wenn die Bank einen Kredit oder eine Anleihe finanziert,
ist es üblich, dass sie sich kurzfristig Geld bei einer anderen Bank leiht, deren
Fed-Einlagen zur gleichen Zeit über dem Soll liegen. Andernfalls hätte die lei-
hende Bank nächsten Tages einen Liquiditätsengpass. Die leihende Bank zahlt
diesen Interbankkredit mit Schatzbriefen zurück, die sie zum aktuellen Tageszins
bei der Fed erwirbt. Diese Zinsen sind das geldpolitische Regulativ der Fed. Die
An- und Verkaufspreise der Fed werden zur bestimmenden Größe für den Preis,
den sich die Banken im Eigenhandel berechnen. Die Fed gibt ihre Zinsmarke im
Voraus öffentlich bekannt, sodass Banken und Investoren mit dieser Größe planen
können. Damit setzt die Notenbank einen Kontrapunkt zur gelegentlich grotesken
Kurzatmigkeit des Finanzmarktes (Blinder 1998, S. 61).
Von der Federal funds rate leitet sich die Prime rate her. Es handelt sich um
den Zins, den die Geschäftsbanken Kunden mit guter Bonität berechnen. Kredit-
nehmer mit größerem Ausfallrisiko bilden den Subprime-Markt. Es handelt sich
um Kreditkunden mit geringem Eigenkapital, auch um Kreditnehmer, bei denen
Erkrankungs- und Unfallrisiko, Einkommen, Adresse und ethnische Herkunft als
Risiken zu Buche schlagen. An Bankkredite kommen sie überhaupt nur mit ent-
sprechenden Aufschlägen heran. Solange die meisten Schuldner in diesem Seg-
ment zahlungsfähig sind, bieten Subprimes große Gewinnchancen. Kommt es
aber zu einer unerwarteten Welle von Privatinsolvenzen, geraten die Gläubiger
und ihre Versicherungen schnell an ihre Grenzen. So geschehen im Vorfeld und
auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise.
Die Fed kalkuliert den Leitzins nach Taylor’s Rule: Sie erwartet eine Inflation
von nominell x Prozent und kalkuliert die Federal Rate für den angekündigten
Zeitraum mit x Prozent der erwarteten realen Preissteigerung (konstanter Preis
auf der Basis eines Stichjahres, also Preissteigerung minus Inflation). Für den
Investor soll genügend Anreiz bleiben, einen Kredit aufzunehmen, ohne dass die
Kredite selbst als Preistreiber wirken.
Nach dieser Devise, die allein auf die Preisstabilität abhebt, bedient die Fed
ihren Vollbeschäftigungsauftrag legitimatorisch mit, indem sie implizit argu-
mentiert, dass erschwingliche Kredite Arbeit schaffende Investitionen auslösen.
Tatsächlich gilt dabei, wie oben geschildert, das Prinzip Hoffnung, ist doch kei-
neswegs sicher, ob das Geld wirklich am Arbeitsmarkt ankommt! Meldet der
Arbeitsmarkt rückläufige Beschäftigung und sinkt die nominelle Preissteigerung
unter ein kritisches Niveau, wird die Federal funds rate stärker auf die nominelle
Preissteigerung eingestellt, um einer Deflation vorzubeugen. Vollbeschäftigung bei
5.4 Entscheiden in der Geldpolitik: Der Niedrigzins als Wachstumsarznei 111
der üblichen Definition von drei bis fünf Prozent Arbeitslosigkeit war in den letz-
ten Jahrzehnten keineswegs die Ausnahme (Tab. 5.3).
In Anbetracht der unkontrollierbaren Inflation der 1980er Jahre schraubte die
Fed unter Vorsitz Paul Volckers den Leitzins bis an zeitweise 20 % heran. In der
Sache kündigte sie damit ihren Auftrag, die Arbeitslosigkeit gering zu halten
(Madrick 2014, S. 121). Unter diesen Auspizien verdienten die von der europäi-
schen und ostasiatischen Konkurrenz ohnehin schwer bedrängten, teils veralteten
klassischen Industrien, insbesondere die Stahl-, Geräte- und Autoindustrie immer
schlechter. Für die Zukunft erwarteten sie keinen Gewinn, der Investitionsrück-
stau war zu groß, und im Übrigen die Kredite zu teuer. In Massen wurden Arbei-
ter entlassen, teilweise sogar die Produktion aufgegeben. Der einst prosperierende
Manufacturing belt, das Herz des industriellen Amerika von der mittleren Ost-
küste bis an die südlichen Großen Seen, verkam im Laufe der Jahre zum Rust
Belt (Galbraith 2012d, S. 344 f.; Galbraith 2008, S. 43 f.). Der Niedergang brach
auch den großen Industriegewerkschaften das Kreuz. Der gesamtwirtschaftliche
Organisationsgrad der Gewerkschaften sank von 20 % im Jahr 1980 auf 1990
nur noch zehn Prozent; 2010 stand er bei sieben Prozent, ihr Rückgrat war jetzt
hauptsächlich der öffentliche Dienst (Lind 2012, S. 381 f.).
Unter Reagans Nachfolger George H. W. Bush behielt die Fed ihren Kurs bei.
Die Friedensdividende des zu Ende gehenden Kalten Krieges machte sich noch
nicht in sinkenden Rüstungsausgaben bemerkbar. Sie wurde ganz im Gegenteil
durch Militäraktionen in der neu auflebenden Krisenregion des Nahen Ostens ver-
zögert. Später klagte Bush darüber, die Fed habe 1992 seine Wiederwahl verhin-
dert, weil ihre Zinspolitik den Plan durchkreuzt hätte, für mehr Jobs zu sorgen.
Seit 1987 amtierte Alan Greenspan als Chef der Fed. Er behielt die Hoch-
zinspolitik des Vorgängers bei. Dann schließlich, im Zeichen wirtschaftlicher
Erholung, die unter anderem vom Aufstieg der IT-Industrie begünstigt war,
zeigte die Inflationsbekämpfung Wirkung. In den 1990er Jahren, also in der
Ära Clinton, schaltete die Fed auf Niedrigzinsen um (Tab. 5.3). Darüber hinaus
überschwemmte sie den Geldmarkt mit Offenmarkt-Verkäufen. Nachdem das
Gespenst der Inflation gebannt war, sollte kräftig investiert werden. Clinton legte
größten Wert auf das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts. Entsprechend niedrig
fiel die Verzinsung der auf dem Markt geworfenen US-Schatzbriefe aus. Besser
verzinste Anleihen anderer Staaten wurden attraktiver.
Der kombinierte Effekt von Niedrigzins und Steuersenkungen kam einem Gel-
dregen auf bereits supergroße Einkommen und Vermögen gleich, der den Finanz-
sektor weiter aufpumpte!
112 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Der Abstieg der klassischen Industrien (Autos, Stahl, Maschinen) mit ihren
Mega-Belegschaften (Tab. 5.12) zwang die US-amerikanischen Industriegewerk-
schaften in die Knie. In der Vergangenheit hatten sie eine betriebliche Altersver-
sorgung erstritten. Im Alter erlaubte sie einen besseren Lebensstand als allein mit
dem Bezug der gesetzlichen Altersversicherung. Diese Zusatzrenten fielen dem
Niedergang der Industrie zum Opfer. Gewinnorientierte Pensionsfonds warben
künftig mit hohen Renditeversprechen für die verschiedensten Berufsgruppen um
Kundschaft. Viele Amerikaner ließen sich nicht lange bitten und investierten dort
Teile des Ersparten (Lind 2012, S. 364). Die Fondsmanager wiederum tummel-
ten sich am Geldmarkt und richteten ihre Investments nach dem Börsenwert. Die
Unternehmen, die auf den Kurs ihrer Aktien blickten, rationalisierten und lager-
ten Jobs an Subunternehmer aus, die schlechter bezahlten; sie schlossen Stand-
orte und entließen, um die lästigen Personalkosten zu senken. So mancher kleine
Anleger, der auf seine Altersbezüge blickte, kam dabei unter die Räder, bevor er
ins Rentenalter gelangte. Er verlor dank des Profitdenkens der Fondsmanager den
Job (Foroohar 2016, S. 237–243).
Geldmarktfonds, im Einzelnen Pensionsfonds, Investmentfonds, Invest-
mentbanken, Versicherungen und Rückversicherungen beherrschten die Wirt-
schaftsnachrichten der 1990er und 2000er Jahre. Zeitweise stiegen sogar große
Industriekonzerne in das Finanzgeschäft ein und vernachlässigten darüber ihr
sich, so gut er kann, dass sie sich auszahlen wird. Er trifft eine klassische Ent-
scheidung Ceteris paribus. In der Zukunft lauert womöglich jedoch der schmut-
zig grinsende Teufel. Vielleicht schlägt er zu und vermasselt die Tour, auf der
das Investment Früchte tragen soll. Vielleicht wartet er aber noch eine Weile, um
seinen Streich zu spielen. Die klassische Investition gilt konkreten Gütern und
Leistungen sowie der Forschung und Entwicklung neuer oder preisgünstigerer
Produkte, kurz: sie richtet sich auf die Realwirtschaft. Das Gleiche gilt für die
Indexfonds, die den Wert eines Portfolios für die Anleger transparent machen,
indem sie die darin enthaltenen Werte nach Dow Jones oder DAX in einem
Gesamtwert abbilden.
Stellen wir dem die Ökonomie des schnell und risikoreich verdienten Geldes
gegenüber. Sie führte 2008 in die größte Krise der Weltwirtschaft seit 80 Jahren.
Sie kreist unter anderem um den Eigenhandel der Banken, d. h. um Geschäfte,
die durch keinerlei Kundenauftrag ausgelöst sind. Dieser Interbankenhandel fin-
det zwischen Banken oder zwischen Banken und anderen Finanzinstitutionen,
z. B. Kapitalfonds statt. Aktivitäten dieser Art stehen seit der Finanzkrise unter
kritischer Beobachtung. Ein übliches Instrument dieses Handels ist das Pensions-
geschäft, kurz Repo genannt: Ein Finanzakteur überlässt einem anderen zwecks
Liquiditätsbeschaffung für eine vereinbarte Laufzeit Werte, meist Wertpapiere,
mit der Garantie, dass er sie nach Ende der Laufzeit mit Zinsen zurückkaufen
darf. Die „Pension“ beträgt in der Regel höchstens ein Jahr, oft nur wenige Tage,
auch Übernachtgeschäfte sind üblich. Beide Seiten erzielen einen kurzfristigen
Vorteil. Der Pensionsgeber steigert seine Liquidität, der Pensionsnehmer seiner-
seits kann mit den überlassenen Werten selbst Geschäfte machen.
Finanzwetten CDS, die nur so heißen, in der Substanz aber ein Wettgeschäft sind,
spielen in einer anderen Liga. Sie laufen auch unter der Bezeichnung syntheti-
scher CDSs (siehe auch unten, Abschn. 5.6). Es handelt sich um Wetten, die einen
Wert oder ein Eigentum lediglich simulieren. Irgendwo in Manhattan, Dallas oder
San Francisco beobachtet ein Händler den Markt und setzt die Behauptung in die
Welt, dass ein Kredit platzt und für den Kreditgeber der Versicherungsfall ein-
tritt. Damit deckt er den Tisch für eine Gegenwette, die behauptet, dass der Kredit
hält. Beide Wettparteien müssen einander nicht kennen, und auch das Unterneh-
men, das Gegenstand dieser Wette ist, muss nichts davon wissen. Die Wettpartner
besitzen keine Aktie des betreffenden Unternehmens. Das Unternehmen, um das
sich die Wette dreht, hat mit alledem nur so viel zu tun, dass der von den Wett-
parteien vereinbarte Gewinn von seinem Wert abgeleitet ist. Die Wettpartner wer-
den – anonym oder auch nicht – von einer Investmentfirma zusammengebracht,
die unabhängig vom Ausgang der Wette Gebühren in Rechnung stellt. Das Ganze
ist ein Nullsummenspiel. Nur einer kann gewinnen. Die Long-Wette setzt auf
5.5 Entscheidungsverzicht: Spekulativer Wildwuchs im Geldgeschäft 117
das Eintreffen, die Short-Wette auf das Verfehlen einer erwarteten Wertentwick-
lung (dazu folgende Schilderungen: Asjoma 2015, S. 439–444; Blinder 2014,
S. 65–67).
Diese Art des CDS dient also nicht wie die gleichnamigen klassischen CDS
der Risikominderung. Sie produziert vielmehr ein Risiko, um daran zu verdienen.
Mit einem guten Schuss Kriminalität hatte die Investmentfirma Goldman & Sachs
kurz vor dem Ausbruch der großen Finanzkrise die Chuzpe, mit zwei von ihr kon-
trollierten Fonds einmal auf Long, dann auf Short zu setzen. Wie es auch kam,
stets war die Bank der Gewinner.
Typische Wettpartner sind Investmentbanken, Hedgefonds, Vermögensverwal-
tungen und klassische Versicherungen. Wer die Wette anbahnt, arbeitet mit dem
Geld von Anlegern, die mit einer hohen Rendite gelockt werden, in einen Fonds
einzuzahlen. Wenn der Wetter mit dem geliehenen Kapital einer Bank arbeitet,
sitzt er ohnehin auf einem Berg von Geld. Gerade laienhafte Anleger – Kleinan-
leger – rechnen fest mit einem Gewinn. Tatsächlich setzen sie ihr Geld für eine
Wette aufs Spiel, wenn der Händler die Einlagen entsprechend verwendet. Wird
die Wette verloren, zahlt jeder Geldgeber bis zum Komplettverlust drauf. Finanz-
profis, die einsteigen, glauben zu wissen, was sie tun. Sie sichern sich so gut wie
möglich ab, etwa durch Marktprognosen und Expertisen aller Art. Aber sie frisie-
ren ihre Produkte auch kräftig, um sie attraktiv zu machen.
Derivate Bei den vielfältig variierten Derivaten gilt das Interesse den Zahlungen,
die aus dem steigenden Wert von Aktien, Anleihen oder Krediten fließen. Diese
Werte verbleiben im Besitz der Erwerber. Um aber das Risiko zu mindern, dass
sie wider Erwarten doch Verlust bringen, wird ein Partner als Sicherungsgeber
engagiert. Das Derivat beteiligt den Partner ausschließlich an den Zahlungen, ob
positiv oder negativ, die vom Basiswert generiert werden. Auch hier wird munter
gehebelt (siehe oben, CDS), und zwar mit der Spekulation auf die erwartete Wer-
tentwicklung.
Allein im Basiswert gibt es eine Verbindung zur Realwirtschaft, sofern das
Investment überhaupt dazu dient, Firmen oder Firmenanteile zu kaufen, neue
Technologien zum Einsatz zu bringen oder Kosten zu senken. Das Investment
kann auch einfach bezwecken, Finanzmarktgläubigern Schuldtitel, also Zahlungs-
pflichten abzukaufen. Treffen die Voraussetzungen für eine Gewinnauszahlung
ein, kassiert der Sicherungsgeber. Der Besitzer des Derivats kassiert also über-
proportional, haftet aber auch stärker, wenn die Sache schiefgeht. Der Kleinan-
leger kann dabei schmerzliche Verluste erleiden. Die größten Spieler auf diesem
Feld sind Banken und Fonds, die Kredite und andere Werte mit großen Summen
besichern. Die Hebelrisiken werden immer weiter nach oben verlagert, d. h. das
118 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Erstderivat trägt ein zweites etc. etc. So entsteht eine Besicherungs- und Gewinn-
kaskade, im Ernstfall aber eine Ausfallkaskade, die auch die Existenz ganz großer
Spieler auf diesem Feld gefährden kann. Das Eigenkapital des Investmenthauses
Lehman Brothers war kurz vor der großen Finanzkrise 2008 mit 44 % gehebelt.
Schon bei einem Wertverlust des Kreditvolumens von bloß zwei bis drei Prozent
war das gesamte Eigenkapital der Bank dahin (Asjoma 2015, S. 446 f.). Der US-
Versicherungsriese AIG, der beim Run auf schnellen Gewinn sämtliche Versiche-
rungsprinzipien über Bord warf, war sogar mit einem Faktor 75 gehebelt, bevor
er von der Regierung gerettet wurde. Hier war das Eigenkapital schon bei einem
Kreditausfall von 1,4 % des Gesamtkapitals verbraucht (Blinder 2014).
Was hier geschah, war nichts anderes als Kapitalmarktroulette, ein Phänomen,
das nicht einmal im Wirtschaftsbild der Neoliberalen Platz findet. Fragen wir wie-
der einmal, was das alles mit der Politik zu tun hat. Eigentlich nichts, und eigent-
lich doch wieder eine ganze Menge. Die scheinbare Paradoxie löst sich durch
die Weigerung der Politik auf, das Spielkasino trotz einschlägiger Warnungen zu
schließen oder es doch wenigstens strenger zu beaufsichtigen.
Hedge Fonds Hedge fonds sind in diesen Geschäften besonders verschrien. Oft
stehen Banken dahinter, weil ihnen selbst Geschäfte dieser Art nicht erlaubt sind.
Deshalb sind die wildesten Spekulanten und Risikotreiber letztlich doch Banken
aller Art und Versicherungen. Hedge fonds betreiben Hochrisikogeschäfte, d. h.
sie setzen auf terminiert steigende Werte, sichern sich aber möglichst gegen Ver-
lustrisiken ab (Hedging). Sie handeln mit Derivaten, tätigen Leerverkäufe, hebeln
Kredite und nutzen die Kursdifferenzen zwischen verschiedenen Handelsplätzen
aus. Hedgefonds werden als Gesellschaften mit beschränkter Haftung geführt
(Blinder 2014, S. 82 f.).
Die Private equity firms sind Vermögensverwaltungen und unterliegen behörd-
licher Aufsicht. Sie halten Firmenanteile längerfristig und investieren, um nach-
haltigen Gewinn abzuschöpfen. Auch sie agieren oft als verlängerter Arm einer
Bank. Das bekannteste Beispiel ist der Vermögensgigant Blackrock, der beider-
seits des Atlantik operiert.
Etliche Fonds – die sogenannten Heuschrecken (corporate raiders) – haben die
dunkle Seite, dass sie Unternehmen kaufen und ein neues Management einsetzen,
welches das Unternehmen auseinandernimmt. Es hübscht profitable Teile auf, um
sie bei steigendem Börsenwert mit Gewinn schnell wieder zu verkaufen, und es
verramscht den unansehnlichen Rest. Oder das Management will bloß Gewinn
abschöpfen, bis das Unternehmen ausgelaugt ist. Mit dem Gewinn saniert es
andere Erwerbungen, die anschließend höher bepreist ins Schaufenster gestellt
werden; das skelettierte Unternehmen wird dicht gemacht.
5.5 Entscheidungsverzicht: Spekulativer Wildwuchs im Geldgeschäft 119
Leerverkäufe Auch Leerverkäufe spielen auf dem Finanzmarkt eine Rolle. Hier
leihen Händler Schuldtitel, Aktien, Derivate oder andere Finanzprodukte in
Erwartung fallender Kurse bis zu einem vereinbarten Termin aus, oder sie ver-
einbaren bei einem Auslandsgeschäft, dass die Kaufsumme durch einen fallen-
den Wechselkurs sinkt. Mit dem entliehenen Wert werden Geschäfte gemacht.
Bei Rückgabe ist aber bestimmt, dass beim Entleiher nicht der gesamte Verlust
zu Buche schlägt, sondern nur die vereinbarte Quote. Vorweg wird bestimmt, wie
groß der Verlust für den Entleiher bei der Rückgabe ausfallen darf. Beide haben
etwas davon, der Leiher Kredit, der Entleiher minimierten Schaden. Händler
bekommen auch den Auftrag, Aktien eines Unternehmens zunächst zu kaufen und
sie in merklichem Umfang abzustoßen, um den Börsenwert zu drücken. Gelingt
diese Operation, wird ein Kaufangebot für das Unternehmen platziert, das die
Aktionäre ins Nachdenken bringt, um mit weiterem Kursverfall nicht noch mehr
Geld zu verlieren. Das Schlechtreden des größten Konkurrenten, Gerüchte unter
Insidern, und das Lancieren ungünstiger Mitteilungen in den Wirtschaftsmedien
tragen dazu bei, dass dieses Kalkül aufgeht.
Tab. 5.13 Beitrag des Finanzsektors – Banken und Versicherungen – zum BIP im Ver-
gleich (in v. H.). (Quellen: Bureau of Economic Analysis, Value Added by Industry as a
Percentage of GDP, 1947–2015: Up to 71 Industries, http://www.bea.gov/table. Zugegrif-
fen: 05.04.2017; Statistical Yearbook of Japan 2017, GDP Classified at Current Prices,
Table 3–4; 2013, Table 3–8; Statista. Anteil an der Bruttowertschöpfung, Deutschland,
Frankreich, Großbritannien. https://statista.com)
USA GB D F J
2015 7,1 7,2 3,9 4,5
2014 7,2 7,5 4,1 4,6 4,3
2013 7,2 7,6 4,1 4,4 4,5
2012 7,2 7,5 4,2 4,2 4,7
2011 6,7 7,9 4,2 4,3 4,9
2010 6,7 8,2 4,6 4,5 5,0
2009 6,7 9,1 4,6 4,0 5,0
2008 6,2 7,7 4,1 3,6 6,0
2007 7,2 8,6 4,6 3,9
2006 7,8 5,1 3,9
2005 7,6 7,6 5,3 3,8 6,1
2000 7,3 5,1 4,4 4,1
1995 6,4 6,3 4,7 4,0
5.5 Entscheidungsverzicht: Spekulativer Wildwuchs im Geldgeschäft 121
Wir stoßen hier wieder auf das oben, im ersten Kapitel beschriebene Wirt-
schaftsdenken im Modus ceteris paribus (Maier-Rigaud und Maier-Rigaud 2001,
S. 232). Nun ist die Unvorhersehbarkeit künftigen Geschehens in jeder Hinsicht
eine der wenigen Gewissheiten im Leben überhaupt. Der neoliberale Mainstream
des Wirtschaftsdenkens verweigert sich dieser Tatsache.
Das Denken in dieser Spur ist ein Ausdruck der Überzeugung, das Wirt-
schaftsgeschehen vollziehe sich nach unveränderlichen Gesetzen. Es stößt weni-
ger an die harte Wand naturgesetzlicher Tatsachen, als dass es immer mal wieder
im Sumpf einer klebrigen sozialen Wirklichkeit steckenbleibt, die der Finanz-
mathematik die Zunge zeigt. Reumütig räumte Fed-Chef Greenspan vor einem
Kongressausschuss ein, der die Finanzkrise von 2008 untersuchte, er habe nicht
damit gerechnet, dass alle vermeintlichen Gewissheiten über die Entwicklung des
Finanzmarktes dermaßen hätten versagen können (DeMartino 2011, S. 28; siehe
auch Colander et al. 2009, S. 250–255). Dabei hatten es sein Vorgänger Paul Vol-
cker und selbst Warren Buffett, der multimilliardenschwere Guru der Wall Street,
nicht an Warnungen fehlen lassen; Buffett sprach bereits 2002 von Derivaten als
finanziellen Massenvernichtungswaffen.
Die Finanzpraktiken haben die Geschäftskultur massiv verändert. Der Öffent-
lichkeit so gut wie unbekannte Fondsgesellschaften sind Mehrheitsaktionäre
weltweit bekannter Banken und Unternehmen. Der Fonds Blackrock, ein Konglo-
merat in den USA und Europa operierender Investmentfonds, die auch Risiko-
geschäfte tätigen, ist mit seinem Vermögen Großaktionär von JP Morgan Chase,
Bank of America und Citigroup, ferner bei der Deutschen Bank, BNP Paris Bas
und Santander; er hat ein Volumen von fünf Billionen Dollar und hält im Schnitt
allein fünf Prozent an allen DAX-Unternehmen (SZ, 14.03.2017, S. 22). Weitere
Fondsgiganten wie Vangard und State Street halten große Aktienpakete bei den-
selben Adressen (Der Spiegel, Nr. 34, 2016, S. 72 f.).
Ist das ein Problem für die Politik? Ja schon, ein paar Dutzend hochbegabte
Fondsmanager mit Prädikatsabschlüssen der weltweit führenden Wirtschaftsfa-
kultäten entscheiden über das Schicksal von Unternehmen und ganzen Branchen
mit. Die Politik kann nur zuschauen, wie die Betreiber dieser und anderer Schat-
tenbanken, auf die sich Finanzminister und Analysten mystisch anmutend als „die
Märkte“ berufen, Dinge tun, die, wenn sie denn schief gehen, Regierungen und
Parlamentarier als Brandbekämpfer auf den Plan rufen.
122 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
Der Immobilienmarkt ist einer der lukrativsten Teilmärkte überhaupt. Das Dach
über dem Kopf ist ein Essential. Wohneigentum verbraucht Boden, und Boden
ist so gut wie unvermehrbar und deshalb teuer. Die eigenen vier Wände sind der
Traum vieler Familien, möglichst in Gestalt des Eigenheims. Es kommt hinzu,
dass ein neues, größeres Haus Aufstieg und Zugehörigkeit zur Mittelklasse sig-
nalisiert, aber auch das Motiv, ein absteigendes Wohnmilieu hinter sich zu lassen.
Die Anschaffung belastet das persönliche Einkommen auf Jahre und Jahrzehnte
hinaus. Die Administrationen Clinton und G. W. Bush standen der Expansion des
Häusermarktes mit größtem Wohlwollen gegenüber. Auch die weniger betuchte
Mittelschicht sollte vom Wirtschaftswachstum etwas haben. Das effiziente
Management der Finanzmärkte würde schon dafür sorgen, dass Hauskäufer ihre
Schuldenlast würden schultern können (Lewis 2011, S. 26).
Auf dem Häusermarkt gibt es für Banken und Bauunternehmen viel zu verdie-
nen. Das Grundstück und die Immobilie besichern die Hypothek, die den Hau-
serwerb finanziert. Die Bauindustrie ist zwar nicht sonderlich produktiv, aber
ihre Erzeugnisse versprechen kurzfristigen, verlässlichen Gewinn, und sie bie-
ten darüber hinaus greifbare Sicherheiten, die sich leicht verkaufen lassen und
Liquidität erzeugen. Demgegenüber basieren Investitionen in eine verarbeitende
Industrie, die Jobs trägt und über künftiges Wachstum entscheidet, auf Langfrist-
entscheidungen, und diese bergen wiederum das Risiko, bei der Beurteilung künf-
tiger Märkte daneben zu liegen (Foroohar 2016, S. 33). Durch die Wechselfälle
des Lebens kommt es immer mal wieder vor, dass eine Hypothek platzt. Kann
die Grundschuld nicht mehr bedient werden, droht die Zwangsräumung, und das
war’s dann mit dem Traum vom eigenen Dach über dem Kopf!
Für die Finanzkrise von 2008, von der hier die Rede ist, hat sich inzwischen
die Bezeichnung der Großen Rezession (Great Recession) eingebürgert. Ihr
Auslöser war das Finanzinstrument der CDO (Collateral Debt Obligation, Besi-
cherte Gläubigerforderung). Es wurde bereits 1987 erfunden und gelangte durch
die Investmenthäuser Lehman und Merill Lynch zu Bedeutung. Investoren kauf-
ten Gläubigern ihre Forderungen ab oder sie erwarben Schuldtitel verschiedener
Güteklassen, zerlegten sie anschließend in Risikotranchen, stapelten die Tranchen
übereinander und verkauften sie wie Stücke einer Schichttorte von Verbindlich-
keiten. Dieses Modell, das sich für jede Art von Verbindlichkeiten eignet, wurde
ab 2000 im großen Stil auf den Hypothekenmarkt ausgedehnt. Ganz unten im
Angebot standen die Subprime, ganz oben die Premium Werte.
5.6 Die Finanzkrise (Große Rezession) und ihre Folgen 123
die Hypotheken steigende Zinsen verlangt werden. Mit der Schonfrist wurden
Käufer gelockt, die nur mit Mühe einen Hauskredit hatten aufnehmen können.
Gern wird der Fall zweier mexikanischer Landarbeiter in Kalifornien zitiert,
die praktisch von der Hand in den Mund lebten, aber von einem gewissenlosen
Verkäufer eine Immobilie im Wert von einer Dreiviertelmillion Dollar aufge-
schwatzt bekamen. Der variable Zins lockt die Käufer. Platzt die Hypothek, nach-
dem einige Jahre Zinsen geflossen sind, kann der Schuldner die Hypothek einfach
kündigen, und der Gläubiger bleibt auf dem noch weitgehend unbezahlten Haus
sitzen, das dann in einer Art Resteverwertung zur Versteigerung ausgeschrieben
wird.
Die Niedrigzinspolitik der Fed ermunterte die Investoren, Häuser auf Kre-
ditbasis an eine Klientel zu verkaufen, die sich ein Haus eigentlich nicht leis-
ten konnte. Weit mehr Amerikaner, als der Immobilienmarkt verkraften konnte,
ließen sich auf den Traum von den eigenen vier Wänden ein. Finanzberater, die
dabei ihren Schnitt machten, redeten alle Risiken klein. Unter einem wirtschaft-
lichen Schönwetterhimmel ließen sich die Käufer von der Vertragsklausel des
variablen Hypothekenzinses nicht beeindrucken. Auch europäische Banken lie-
ßen sich nicht lange zum Geschäft mit den Subprimes bitten. Die Deutsche Bank
brachte es im US-Immobiliengeschäft zu fragwürdiger Meisterschaft. Sie wurde
neben Goldman & Sachs zum zeitweise zweitgrößten Akteur auf diesem Markt.
Sie kaufte, was das Zeug hielt, ohne die Risiken überhaupt zu prüfen, und reichte
die Risiken dann an Pensionsfonds und große deutsche Landesbanken weiter.
Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Finanzkrise ausbrach, vergab sie auch
selbst Hauskredite (SZ, 27.10.2016, S. 23). In dieser Zeit wandelte sie sich zu
einer Investmentbank, vernachlässigte in ihrer Hybris die deutschen Kunden und
hatte Augen nur noch für die Finanzplätze der Londoner City und der Wall Street,
die Weltzentren spekulativer Finanzgeschäfte.
Der Auslöser, aber nicht der tiefere Grund der sich zuspitzenden Krise war
die Entscheidung der Bank BNP Paris Bas, ihre verlustreichen Fonds zu schlie-
ßen, die mit US-Hypotheken gehandelt hatten. Das Ereignis trat in den USA eine
Lawine los.
Ein längerfristig himmelhoher Immobilienpreis bildet eine Blase. Irgendwann
findet sich keine Massenkundschaft mehr, der Preis stürzt ab und die Blase platzt
mit einem lauten Knall. Dieser Punkt kündigte sich ab Mitte 2007 an. Bereits
2005 waren 75 % der Subprime-Darlehen aus der Bindung an den Einstiegszins
gefallen (Lewis 2012, S. 44). Um den Häusermarkt abzukühlen, hob die Fed den
Leitzins an. Die Hausfinanziers korrigierten jetzt, nach Ablauf der Schonfrist, den
Hypothekenzins nach oben, um die sinkenden Gewinne aus dem nachlassenden
5.6 Die Finanzkrise (Große Rezession) und ihre Folgen 125
Geld aus, um sie vor der Insolvenz zu retten. Der Fed genügten für diese Ent-
scheidungen einige Unterschriften. Der Kongress mit seinen zeitraubenden Ver-
fahren hätte gar nicht so schnell handeln können. Nach dieser Kapitalspritze
übernahm die Regierung in einer Art soften Verstaatlichung das Management, bis
Fannie Mae und Freddy Mac wieder auf eigenen Beinen stehen konnten.
Als nächstes Großinstitut geriet das Investmenthaus Lehman Brothers ins
Trudeln. In einer Operation, die bis heute Gerüchte nährt, kamen Regierung und
Fed überein, Lehman in einer geordneten Insolvenz absaufen zu lassen. Schließ-
lich wackelte auch der gigantische Rückversicherer AIG. Auch hier reichte das
Kapital nicht annähernd aus, um die Ausfälle zu schultern. Verschiedene Banken,
darunter Goldman & Sachs, die Deutsche Bank und die Société Générale verlang-
ten von AIG, vorsorglich Milliarden von Dollar zu beschaffen, um ihre abseh-
baren Verluste ausgleichen zu können. Der Konzern beantragte Direkthilfen der
Regierung. Jetzt sprang sogar der Kongress über seinen neoliberalen Schatten. Er
ermächtigte den Finanzminister, Anteile an den gefährdeten Finanzinstituten zu
erwerben. Auch bei AIG ging das Management vorübergehend an einen Regie-
rungsvertreter.
Die zwar nicht größte, am Finanzmarkt und im Regierungsbetrieb aber bestens
vernetzte Investmentbank Goldman & Sachs überstand die Katastrophe unbescha-
det. Sie hatte den richtigen Riecher für das aufziehende Gewitter gehabt und die
Masse fauler Papiere an Käufer abgestoßen, die noch nicht im Bilde waren. Kri-
tisch wurde kommentiert, die Firmenverbundenheit früherer Goldman-Manager,
die jetzt im Weißen Haus als Wirtschaftsberater und in der Treasury als Finanz-
minister, aber auch bei der Fed tätig waren, hätte den Ausschlag gegeben, den
lästigen Konkurrenten loszuwerden. Neben Goldman & Sachs blieben nach dem
Finanzgewitter als einzige große Banken nur noch Morgan Stanley, JP Morgan
Chase, Citigroup und Bank of America Merrill Lynch übrig. Citigroup hat 2016
die bisher weltgrößte Bank HSBC (Hongkong and Shanghai Banking Company)
überholt. Unverändert beherrschen US-Unternehmen das heimische und interna-
tionale Investmentbanking. Ihr Anteil am weltweiten Gebührenvolumen stieg von
58 % im Jahr 2010 auf 62 % im Jahr 2015. Der Anteil europäischer und schwei-
zerischer Banken entwickelte sich im selben Zeitraum von 35 auf 30 % zurück
(http://bruegel.org/2016/03/the-united-states-dominates-global-investment-ban-
king-does. Zugegriffen 24.10.2016).
Goldman & Sachs ist eine Legende. Die Bank wird kompetent und listen-
reich gemanagt. Ihr Kapital ist aber nicht allein Geld, sondern die vielfältige
Vernetzung mit Spitzenpolitikern und Notenbankern in aller Welt. Clintons
Finanzminister Rubin war einst Chef von GS und gehörte zu den Erfindern des
5.6 Die Finanzkrise (Große Rezession) und ihre Folgen 127
Derivatehandels. Er machte sich für die Aufhebung des Glass-Steagall Act stark.
Pikanterweise geschah das nach der Fusion der Geschäftsbank Citi Corporation
mit anderen Finanzfirmen zur Citigroup, die sich damit auf neue und größere
Geschäfte freuen durfte. Anschließend verließ Rubin den Regierungsdienst und
wechselte in den Verwaltungsrat der Citigroup (Foroohar 2016, S. 280). Ein wei-
terer Ex-Chef von Goldman & Sachs, Henry Paulson, diente G. W. Bush in der
zweiten Amtszeit als Finanzminister (zum Drehtüreffekt zwischen Administra-
tion, Fed und Finanzwirtschaft: Reich 2016, S. 71, 229 f.).
Der gegenwärtige Präsident der EZB, Draghi, der vormalige EU-Kommis-
sionspräsident Barroso und der frühere Bundesbankpräsident Issinger, um nur
einige zu nennen, haben früher für GS gearbeitet. Die Firma rekrutiert ihre Mitar-
beiter aus den besten Absolventen der Wirtschaftsfakultäten, bindet sie mit Spit-
zengehältern und verlangt bedingungslose Loyalität.
Ein Nebeneffekt der ungeheuren Verdienstmöglichkeiten am Finanzmarkt
war seine Attraktivität für kluge Köpfe. Harvard-Absolventen, die sich für eine
Karriere im Finanzsektor entschieden, verdienten zwischen 1950 und 1980 etwa
so viel wie Absolventen, die Arzt- oder Anwaltspraxen eröffnet hatten. In den
2000er Jahren verdienten sie doppelt so viel (Lind 2012, S. 440).
Die Finanzkrise zog ihre Kreise bis weit in andere Branchen. Solange der Bau
floriert, trägt er viele Aufträge und Arbeitsplätze. Sind die Hauskredite abge-
räumt, kommen also weniger Bauaufträge herein, gibt es kein anderes Geschäfts-
feld, mit dem sich in der Bauindustrie Geld verdienen lässt. Aus diesem Grund
gerieten Zimmerleute, Dachdecker, Installateure, Elektriker sowie Straßen- und
Landschaftsbaubetriebe in den Abwärtssog. Konsumentenkredite, die zuvor ein-
zigartig günstig waren, zogen an. Viele Konsumenten verzichteten mit Blick auf
die miesen Zeiten auf übliche Anschaffungen. Prominente Sekundäropfer der
Krise waren die Automobilkonzerne Chrysler und General Motors. Sie wurden
ihre Autos nicht mehr los. Um die Arbeitsplätze zu retten, übernahm auch hier die
Regierung die Regie, bis die Firmen wieder auf eigenen Beinen stehen konnten.
Regierung und Fed bezogen für ihre Rettungsaktionen heftige Prügel (Tognato
2012, S. 128). Marktapologeten klagten, die Fed hätte nie eingreifen dürfen.
Kongress und Fed quittierten diese Großkrise mit stärkerer Regulierung. Der
Dodd-Frank Act schränkte 2010 den Handlungsrahmen der Notenbank ein. Er
folgt ein Stück weit der Volcker’s rule, einem Postulat des früheren Fed-Vorsit-
zenden. Sie fußt auf der Idee, dass es für die Stabilität der Wirtschaft und des
Finanzsystems notwendig ist, das übliche Bankengeschäft wieder vom Risikoge-
schäft zu trennen. Jedes Institut soll nur soviel Risikogeschäft eingehen, dass es
das Risiko auch tragen kann. Der Dodd-Frank Act zwingt die Geschäftsbanken
128 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
landeten beim reichsten Prozent der Bevölkerung (SZ, 24.10.2015, S. 17). Das
Wachstum findet immer noch in starkem Maße im Finanzsektor statt. Es steigert
die Vermögen der Wenigen an der hauchdünnen Spitze der Einkommenspyra-
mide und sickert sehr bescheiden nach unten. Die Ausgaben für Gesundheit und
die Ausbildung der Kinder nagen währenddessen an den Einkommen der Mittel-
schicht.
Nach Überwindung der Krise schaltete die Fed auf Niedrigzinspolitik zurück,
kaufte mit ihrem Bankgewinn aber weiterhin Wertpapiere, um den Markt mit Geld
zu füttern. Ihr Wertpapierbestand stieg von 900 Mrd. US$ im Jahr 2007 auf heute
4,5 Billionen US$. Die Käufe sollen aber eingestellt werden, sobald die Federal
Rate merklich angehoben wird (SZ, 27.04.2017, S. 18). Weil Staatsausgaben und
Umverteilung weiterhin nicht zur Debatte stehen und die neoliberale Wirtschafts-
ideologie trotz allem keinen bleibenden Schaden genommen hat, ist es wieder an
der Fed, einen Job zu machen, den der politische Betrieb verweigert (Jacobs und
King 2016, S. 12). Das Basisproblem bleibt: Das Geld, das durch den Notenbankt-
richter geschüttet wird, düngt weiterhin die fetten Wiesen der Reichen.
Derweil verrostet das Werkzeug Keynesscher Politik in einem verstaubten
Winkel des politischen Hinterhofs. Seine Brauchbarkeit ist nicht widerlegt. Um
einen Klassiker sozialistischen Denkens zu bemühen, zeigt sich hier mit dem
heterodoxen Marxisten Antonio Gramsci (1891–1937), dass der „Überbau“ einer
Epoche kaum weniger wichtig ist als ihre „Basis“ in Technologie und Produkti-
vität (Gramsci 1980, S. 228 f.) Die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus ist
ungebrochen.
Inzwischen haben sich frühere Investmentbanker im engsten Beraterstab des
jüngst gewählten Präsidenten und im Finanzministerium eingerichtet, darunter
etliche mit Karrierestationen bei Goldman & Sachs. Trump gab nach erst weni-
gen Wochen im Amt ein Startsignal zum Versenken des Dodd-Frank Act, bei
dem allerdings der Kongress mitzuspielen hätte. Der Tisch für finanzspekulativen
Übermut bis hin zu einer neuen Finanzkrise wäre gedeckt, wenn es dazu kommen
sollte. Ein Grund für den Eifer des neuen Präsidenten: Freunde Trumps in der
Finanzwirtschaft klagten, dass ihnen die Regulierung noch größeren Gewinn ver-
hagele (SZ, 07.02.2017, S. 15). Immerhin ein ehrliches, nicht vom Gewese neoli-
beraler Phrasen vernebeltes Motiv. Die Chancen, den politischen Einfluss auf die
Fed zu vergrößern, stehen so gut wie lange nicht. Der Zufall will es, dass Vakan-
zen und auslaufende Mandate in absehbarer Zeit die Aussicht auf eine weitge-
hende personelle Neubesetzung – fünf von sieben Stellen – im Führungsgremium
der Fed eröffnen (SZ, 03.02.2017, S. 15).
130 5 Die USA: Fiskalpolitik, Geldpolitik, der …
5.7 Schlussfolgerungen
Die Kunstfigur des Homo oeconomicus hätte nach diesen Ereignissen ein kühles
Grab auf dem Friedhof gescheiterter Utopien verdient gehabt. Die Hauptakteure
im großen Wettbüro der 2000er Jahre waren nicht einmal kühl kalkulierende Indi-
viduen, sondern von Gier und Spielleidenschaft getriebene Egomanen. Sie pas-
sen schon eher ins Menschenbild des Rational choicers à la Gary Becker, dem
es herzlich egal ist, was der Mensch denn eigentlich will, Hauptsache, auf dem
Wege dorthin verrechnet er sich nicht.
Die Hofsänger des Neoliberalismus in Universitäten, Forschungseinrichtun-
gen und Wirtschaftsmedien gefallen sich immer noch darin, all das, was der Staat
unternimmt, um Gewinn abzuschöpfen und umzuverteilen, als Sozialismus zu
brandmarken. Krachliberale Politiker tun es ihnen gern gleich, solange sie von
günstigen Wirtschaftsdaten beregnet werden. Wendet sich die Wirtschaftslage
zum Schlechteren, gilt es – nicht zuletzt mit dem Blick auf die rote Karte des
Wählers – zu handeln, mag es auch das Gegenteil von dem sein, was gestern noch
verteufelt wurde. Erschreckend daran ist das kurze Gedächtnis. Kommt die Sonne
hinter den abziehenden dunklen Wolken hervor, werden wieder die Phrasen von
gestern gedroschen.
Die akademische Ökonomie ist außerstande, diese Inkonsistenz zu erklären,
die Politikwissenschaft schon eher. Es geht nicht um die vermeintlichen Wohl-
fahrtseffekte einer möglichst staatsfreien Gesellschaft, sondern um handfeste
Interessen, um Gewinner und Verlierer. Die Engel im pluralistischen Himmel
singen, wie es Schattschneider einmal drastisch formuliert hat, mit Oberklassen-
akzent (Schattschneider 1960). Oder wie es einst der prominente Römer Cicero
ausgedrückt hat, dringt man zu den Motiven des Handelns am besten mit der
Frage vor, wem sie nützen (Cui bono). So reimt es sich, dass trotz drohender Vor-
zeichen vor der Krise Handlungsverzicht geübt wurde, in der Krise dankend zig-
Milliarden schwere Rettungsprogramme auf Kosten der Steuerzahler gutgeheißen
wurden und dass sich nach der Krise wieder wachsende Unlust regte, die zur
künftigen Krisenvermeidung bestimmten Regelwerke ernst zu nehmen.
Die Folgen des neuen Finanzmarktes:
Unternehmen unter dem Diktat des 6
Börsenwerts
Die Entfremdung des Finanzmarktes von der Realwirtschaft hinterlässt ihre Spu-
ren in der Unternehmenskultur. Dieser Wandel machte sich zuerst in den USA
selbst bemerkbar. Heute ist er in allen Ländern wirksam. Die folgenden Passagen
gelten insofern nicht nur für das US-amerikanische Beispiel.
Dem Ur-Klassiker Adam Smith stand die Welt kleiner Handwerker und Manu-
fakturbetreiber vor Augen. Bei Say, Mill und Ricardo dürften es bereits Fabrikan-
ten gewesen sein, die sich mit anderen Familienunternehmen einen Wettbewerb
um Marktanteile lieferten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging die Bedeutung
familiärer Unternehmen zurück. Kapitalgesellschaften liefen ihnen den Rang ab.
Um die Folgen einer möglichen Insolvenz für ihr Privatvermögen klein zu hal-
ten, retteten sich Familienbetriebe gern in den Hafen einer Gesellschaft mit
beschränkter Haftung.
Der juristische Vorteil der Aktiengesellschaft liegt im Haftungsausschluss der
Anteilseigner. Sie sammelt beim Publikum Kapital ein und verschiebt die förm-
liche Betriebsverantwortung von der Eigentümerfamilie auf professionelle Mana-
ger, die sich auf Unternehmensführung, Produkte und Märkte verstehen. In der
von Kapitalgesellschaften beherrschten Wirtschaft konzentrierte sich der maßgeb-
liche Wettbewerb auf eine überschaubare Zahl von Großunternehmen.
Diese neue Corporate economy prägte das Bild bereits um die Wende zum
20. Jahrhundert. Die ganz Großen sprachen sich über Preise und Märkte ab. Sie
bildeten Trusts, d. h. Oligopole. Und diese verdienten passabel, ohne sich ständig
belauern und um Marktanteile streiten zu müssen. Neben das Aktienkaufmotiv,
auf den Produktmärkten am Unternehmenserfolg mitzuverdienen, trat das neue
Die Ökonomie der Institution setzt andere Akzente. Die „neuen“ Institutio-
nen bringen das rationale Ego mit der Alltagsbeobachtung zusammen. Herbert
A. Simon (1916–2001) kann weder mit dem Homo oeconomicus noch mit dem
Rational choicer etwas anfangen. Das Ego der Gegenwart bewohnt eine Organisa-
tionswelt: den fabrikmäßigen Betrieb, die in Fachabteilungen gegliederte Verwal-
tung, Forschungseinrichtungen, auch öffentliche Verwaltungen, Parlamente und
Ministerien. Vom Chef bis zum Sachbearbeiter wird erwartet, dass sie Entschei-
dungen treffen, weiter oben auch Programme entwickeln, Handlungsszenarien
entwerfen und Risiken abschätzen. Der perfekte Kostenrechner der Wirtschafts-
theorie ist in Simons Worten ein Maximierer. Er handelt im Vollbesitz aller rele-
vanten Informationen. Diesen Maximierer, so Simon, gibt es nur als Kunstfigur.
Der Mensch müsste schier verzweifeln ob der Fülle und der Zuverlässigkeit der
Informationen, die auf ihn einströmen. Allein der Zeitaufwand für Informations-
beschaffung und Abwägung wäre kontraproduktiv für das, worauf es eigentlich
ankommt: die Entscheidung.
Als Gegenbild entwickelt Simon die Figur des Satisficers. Dieser Satisficer
sammelt nur so viel Information, bis er sich sicher wähnt, eine situationsgerechte
Entscheidung treffen zu können. Dazu kramt er in seiner Erinnerung, was in einer
ähnlichen Situation üblicherweise getan wurde. Er konsultiert Kollegen, sichtet
den Aktenbestand und fragt vielleicht den Vorgänger. Auf diese Weise integriert
er sich in bewährte Praktiken, oder: um es profan auszudrücken, in bewährte
Routinen. Im Zusammenspiel des vielfältigen Standardverhaltens entsteht Bere-
chenbarkeit. Im Organisationszusammenhang mag man sie auch als Institution
bezeichnen (Simon 1985, 1997).
Simon bleibt also beim Ausgangspunkt des Egos. Er stellt es jedoch in einen
sozialen und historischen Kontext. Die Ratio zieht vom isolierten Individuum in
Organisationspraktiken und Verfahren um (Immergut 1998).
Am Anliegen der Wirtschaftstheorie gehen beide Theoreme vorbei. Für die
Modellwelt der Ökonomen, die bereits mit der Figur des Homo oeconomicus
operiert, hat die Rational choice keine weitere Bedeutung. Der Satisficer mag
sympathischer wirken. Simon betrachtet das Unternehmen plausibel als Institu-
tion und korrigiert insoweit den Homo oeconomicus. Was daraus für das Bild der
Gesamtwirtschaft folgt, bleibt offen. Simon kommt in der Wissenschaftsabteilung
der Business Administration – Betriebswirtschaftslehre – nicht gut an. Dort ist
die Theorie des Efficient Management angesagt: Das Unternehmen braucht alle
Informationen, um seine Kosten zu senken, ohne dabei Marktchancen zu verge-
ben. Jede Information und jede Chance auf Kostensenkung muss umgehend in die
fortlaufende Neustrukturierung – Optimierung – des Unternehmens einfließen.
Blicken wir dazu abermals ein Stück zurück.
134 6 Die Folgen des neuen Finanzmarktes: Unternehmen unter …
Der Ökonom Ronald Coase (1910–2013) ist ein Klassiker der Unternehmens-
literatur. Das Unternehmen, für den ökonomischen Mainstream bis dahin eine
Black box, gewinnt Struktur (Chassagnon 2013, S. 46). Den Aufwand für die Rea-
lisierung des Unternehmensziels definiert Coase als Transaktionskosten. Kreative
und neue Organisationslösungen verringern die Herstellungskosten und ermög-
lichen es, die Endprodukte preisgünstiger anzubieten. Was das Unternehmen an
Leistungen und Vorprodukten bei anderen Unternehmen einkauft, kann es mit
vielleicht geringeren Kosten selbst herstellen. Unter eventuell veränderten Bedin-
gungen mag sich zeigen, dass es zu teuer wird, wirklich alles unter dem Dach des
eigenen Unternehmens zu erledigen. Kauft das Unternehmen seine Rohstoffe,
Transportleistungen, Laboruntersuchungen und Rechtsberatung bei Fremdfirmen
ein, mag dies zur Senkung der Gesamtkosten beitragen. Das Unternehmen ist ein
Produktionsorchester. Es verlangt nach einem Dirigenten, der sich von Fachab-
teilungen und Assistenten zuarbeiten lässt. Alle zusammen stellen das Manage-
ment dar. Gelangt das Management zur Auffassung, dass Firmenteile, die nicht
unmittelbar an der Herstellung des Produkts beteiligt sind, zu hohe Kosten ver-
ursachen, schließt es Verträge mit anderen Firmen. Es spezifiziert die Qualität der
erwarteten Leistungen, vereinbart einen Kostenrahmen und überlässt alles Übrige
dem Vertragspartner (Coase 2012). Der im Unternehmen entstehende Druck auf
Kostensenkung wird an die Partner weitergereicht. Und diese stehen wiederum im
Wettbewerb mit anderen Firmen, welche die gleiche Leistung anbieten könnten.
Im Management der Transaktionskosten sieht Douglass North (1920–2015)
die Macht der Institutionalisierung wirksam. Inspiriert von Herbert Simon,
schreibt er dem Unternehmen wie jeder anderen Organisation den Vorteil zu, dass
es in bewährter Routine arbeitet, solange das Management mit dem wirtschaftli-
chen Ergebnis zufrieden ist (North 1990). Erst wenn der Markt das Signal aus-
strahlt, dass an der Kostenschraube gedreht werden muss, um im Wettbewerb zu
bestehen, wird das Management die Firma umorganisieren. Nicht alle im Unter-
nehmen müssen wissen, welchen Stellenwert ihre Arbeit im Gesamtgefüge hat.
Es genügt, wenn sie im Rahmen ihrer Aufgaben gut funktionieren. Aber das
Management muss auf der Hut sein. Es darf sich nicht auf ausgetretenen Pfaden
bewegen und muss vorausschauend Marktentwicklungen und Chancen der Kos-
tenreduzierung beobachten.
Mit wachsender Unternehmensgröße spitzt sich der Kampf um den Kunden
auf zwei oder drei Megaproduzenten zu. Nach dem Motto „leben und leben las-
sen“ treffen sie vielleicht sogar Absprachen, um sich im Wettbewerb nicht wirk-
lich wehzutun. Alfred Chandler (1918–2007) kommentiert diese Entwicklung,
wohl um die Wettbewerbsidee zu retten, dahin, dass sich das Marktgeschehen
im stetigen Bemühen, Transaktionskosten zu senken, in hochgradig integrierte
6.1 Die alte Unternehmenswelt 135
Unternehmen verschoben hat, und zwar in Gestalt einer Konkurrenz auf der
Ebene der Unternehmenssparten (Chandler 1977, S. 6–11). Dieser Wettbewerb
wird vom Topmanager entschieden. Das Bild ist schief. In der Theorie des Mark-
tes ist letztlich der Kunde das Objekt der Begierde. Rangeln Forschung und Ver-
trieb um Budgetanteile und suchen sie die Gunst des Finanzvorstands, handelt es
sich um bürokratietypisches, aber nicht um Marktverhalten.
Die Kapitalgesellschaft wird im amerikanischen Recht als Public Corporation
bezeichnet. Mit „public“ ist das Publikum der Anteilseigner gemeint. Niemand
ist vom Erwerb eines Unternehmensanteils ausgeschlossen, mag das Aktionärspu-
blikum in der Realität auch auf wenige Großaktionäre, ja Familien zusammen-
schrumpfen, in deren Schatten die Kleinanleger nicht wirklich zählen.
Die Anteilseigner wählen ihr Management, und dieses Management schlägt
im Statut wiederum eine Unternehmensverfassung vor, die von der Aktionärsver-
sammlung abgesegnet werden muss. Im Rahmen des Statuts hat das Management
nahezu unbegrenzte Macht. Es muss sich lediglich vor der Vertretung der Anteils-
eigner verantworten. Im deutschen Recht handelt es sich um den Aufsichtsrat.
Im angelsächsischen Raum ist das Board üblicher. Hier handelt es sich um ein
Einheitsorgan, dem das engere Management und Aktionärsvertreter angehören.
Die Analogie mit Aktionärsvolk, Aktionärsparlament und Firmenregierung ist
offensichtlich. Sie endet beim fundamentalen Unterschied, dass sich das Stimm-
gewicht der Anteilseigner nach dem Aktienpaket richtet. Großaktionäre, meist
Banken und Investment-Fonds, geben den Ton an.
Das Management darf Unternehmensteile veräußern, Unternehmen dazukau-
fen, eine Dividende zahlen oder auch nicht, Mitarbeiter entlassen oder in Erwar-
tung guter Geschäfte neu einstellen. Lediglich Arbeitsrecht und Rechtsprechung
ziehen dem Management Schranken. Was das Produkt betrifft, müssen gesetz-
liche Standards wie Sicherheit sowie Gesundheits- und Umweltverträglichkeit
eingehalten werden. Hier handelt es sich um Transaktionskosten politischer Art,
die durch politische Akte auch wieder verändert oder ganz aus der Welt geschafft
werden können. Mit Blick auf das Wie und Wo einer Standortentscheidung
kommen als politische Transaktionskosten beispielsweise Vorleistungen wie
Erschließungskosten, Verkehrsanbindung und Gewerbesteuersatz in den Sinn.
Die Arbeitsmarkt- und Regulierungspolitik betrifft die Kosten und die Wettbe-
werbsfähigkeit des Unternehmens unmittelbar. An dieser Stelle ein Gruß an die
Politikwissenschaft: Es handelt sich hier um eine ergiebige Futterstelle für die
Policy-Forschung: Markt und Staat!
Das Wahl- und Vertretungsrecht der Aktionäre bemisst sich nach dem Vermö-
gensanteil. Die Beschäftigten haben – mit Ausnahmen – keine Mitbestimmungs-
rechte. Hält es das Management für opportun, sie zu entlassen, werden sie aus
136 6 Die Folgen des neuen Finanzmarktes: Unternehmen unter …
Vizekanzler Sigmar Gabriel stellte Beobachter und Parteifreunde 2013 vor das
Rätsel, was ein Sozialdemokrat im Geschäftsbereich des Wirtschaftsministers
eigentlich wollte. Dann ist da seit 1963 noch ein Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sein Jahresgutachten versorgt
die Wirtschaftsmedien mit schöner Regelmäßigkeit für ein paar Tage mit Stoff.
Diese Institution, bei der das Vorbild des US-amerikanischen CEA vor Augen
stand, mutet heutzutage geradezu rührend an. In der übergroßen Mehrheit sind
sich die Mitglieder des Gremiums in der grundliberalen Überzeugung einig. Wirt-
schaftspolitischer Rat wird bis in die flachen Landschaften des politischen Talks
im Übermaß angeboten.
Ganz ähnlich verhielt es sich nach 1945 mit der österreichischen Sozial-
partnerschaft. Das „rote Österreich“, das Milieu der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften, sollte mit dem Milieu des „schwarzen“, christlich-konservativen
Österreich versöhnt werden. Nie wieder sollte es zum Klassenkampf von oben
und zum Bürgerkrieg kommen. Beides hatte das Vorkriegsösterreich zerrüttet.
Auch hier verabredeten Sozialpartner und Staat eine Lohn- und Preispolitik, um
das Doppelgespenst von Inflation und Arbeitslosigkeit zu bannen. Eine dauerhafte
Große Koalition der Sozialisten und Christsozialen untermauerte diese Politik.
Die Niederlande praktizierten ähnliche Arrangements, um nach den Verwerfun-
gen von Krieg und Besatzung die alte Stärke als Handelsstaat zurückzugewinnen.
Bei allen Unterschieden dieser sogenannten Einkommenspolitik, die später
unter den Schlagworten des Neokorporatismus und der Konsensdemokratie dis-
kutiert wurde, kam den Gewerkschaften der Part zu, für Lohndisziplin zu sorgen.
Die Gewerkschaftsführungen waren einsichtig, handelte es sich doch durchweg
um kleine Länder, deren Produktion stark auf die Exportmärkte ausgerichtet war
(Esping-Andersen 1985, S. 88–113; Katzenstein 1984, 1985).
Anders verhielt es sich in Großbritannien. Den Konservativen und der Labour
Party steckten noch die sozialen Kämpfe der 1920er und 1930er Jahre in den
Knochen. Höchste Priorität hatte die Sicherung der Beschäftigung. Im barrie-
refreien kolonialen Wirtschaftsraum des vormaligen Empire hatte die britische
Industrie ihre Modernisierung versäumt. Als Partner einer Einkommenspolitik,
wie sie in Nord- und Mitteleuropa betrieben wurde, kamen die Gewerkschaften
nicht infrage. Sie waren nach Berufen und Betrieben zersplittert und streikten
häufig. Nach 1964 wurden sie sogar der Labour Party zur Last. Die konservati-
ven und Labour-Vorgängerregierungen hatten mit Stop-and-Go gearbeitet, mal
die Budget- und Zinsschleusen geöffnet, um die Beschäftigung zu halten, aber die
Schleusentore dann wieder großes Stück zu schließen, wenn die Preisentwicklung
außer Kontrolle geriet (Beer 1965). Bis 1979 folgte eine Phase verschiedener
Experimente mit Lohn-Preis-Kontrollen, Abwertungen und Gewerkschaftsrefor-
men. Für eine grundlegende Remedur taugten sie nicht.
Frankreich versuchte sich nach 1946 in weicher Planwirtschaft. Es handelte
sich um eine Indikativplanung, bei welcher die Regierung lediglich langfristige
Zielmarken definierte. Öffentlichen Investitionen und großen Staatsunternehmen
war die Aufgabe zugedacht, die privaten Unternehmen in die erwünschte Rich-
tung zu lenken. Die Gewerkschaften indes waren streikfreudig, weltanschaulich
gespalten und die größten darunter mit der äußersten Linken liiert. Stark waren
sie in den öffentlichen Infrastrukturbetrieben, den staatsnahen Konzernen und
den wenigen privaten Großunternehmen. Dort ließen sie in Arbeitskämpfen gern
146 7 Wirtschaftspolitik in Deutschland und seinem europäischen Umfeld
die Muskeln spielen. Mit dem Übergang zur V. Republik wurde die Modernisie-
rung beschleunigt. Das sozialstaatliche Leistungsprogramm wurde erweitert, die
öffentliche Beschäftigung stieg. Die Produktivität kam nicht ganz mit; Inflation
wurde zum Dauerproblem. Mehrmals zog die Regierung die Notbremse und wer-
tete den Franc ab.
Eine in dieser Zeit beachtete Studie beschrieb die Situation bei diesen europäi-
schen Nachbarn als „geplanten Kapitalismus“ (Shonfield 1965).
Die erste Große Koalition der Republik beschritt 1966 neue Wege. Die Finanzbe-
ziehungen zwischen Bund und Ländern wurden neu und in bis heute erkennbarer
Weise geregelt. Die Regierung ließ sich erstmals auf Keynes'sche Politik ein. Der
Wirtschaftsprofessor und sozialdemokratische Wirtschaftsminister Karl Schiller
(1966–1972) wurde zum Markenzeichen der neuen Politik. Um die Rezession
zu bekämpften und die Nachfrage mit Mehrhausgaben zu beleben, verschuldete
sich der Bund. Schiller schwebte das Ideal des von den Ökonomenkollegen so
geschätzten, kontinuierlichen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor (Ander-
sen 2001b). Das war zwar nicht ganz Keynes, aber doch so weit, dass der Fiskal-
politik im Marktgeschehen eine konstruktive Rolle zuerkannt wurde.
Um das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht haushaltspolitisch abzusichern,
wurde 1969 ins Grundgesetz hineingeschrieben, dass die Neuverschuldung das
Volumen der investiven Ausgaben nicht überschreiten dürfe – es sei denn, in
wirtschaftlichen Notlagen. In „normalen Zeiten“ sollte sich die Regierung nicht
verschulden. Demzufolge hätte konsumptive Mehrausgaben im Haushalt durch
Steuern finanziert werden müssen. Wir erkennen hier einen Vorboten der seit
2010 installierten „Schuldenbremse“ (siehe unten, Abschn. 7.2.6: Tab. 7.1).
Der Effekt dieser hehren Absichten war gleich Null: Es folgten vier Jahr-
zehnte defizitärer Staatsfinanzierung, eine Serie von Nachtragshaushalten und
wachsende Bundesschulden. Schiller rief zusätzlich eine Konzertierte Aktion ins
Leben. Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten an einen Tisch, um
sich auf lohnpolitische Richtwerte zu verständigen. Auf diese Weise sollten über-
mäßige Konjunkturausschläge nach oben oder unten verhindert werden. Offen-
sichtlich stand hier die Einkommenspolitik der Nachbarländer Modell (siehe
oben, Abschn. 7.2.1).
Auf diesem Gebiet war die Bundesrepublik ein Latecomer. Bei den skandina-
vischen Gewerkschaften nahm die Akzeptanz der auf Konsens getrimmten, preis-
dämpfenden Einkommenspolitik bereits ab.
Tab. 7.1 Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland (in v. H.). (Quellen: Historische Inflation Deutschland, de.inflation.
eu/inflationsraten/deutschland/historische inflation/deutschland. IWS Papier Nr. 1 – Das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft. BIP
1950–2002. www.wachstumsstudien.de/Inhalt/Papiere. IWS Papier 1. Deutsche Bundesbank – Bundesbank – Historische Zinssätze,
https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/…/Bundesbank/…/historische_zinssätze. Alle Zugegriffen: 24.02.2017).
Die erste Große Koalition wurde 1969 von einer sozialliberalen Koalition unter
Führung Willy Brandts (1969–1974) abgelöst. Die bereits von der Großen Koa-
lition begonnenen Reformen wurden fortgeführt. Darüber hinaus wurden eine
Reihe neuer, ausgabenwirksamer Programme aufgelegt. Sie waren darauf ange-
legt, die Infrastruktur zu verbessern (Straßenbau), weitere Bevölkerungsgruppen
in die Sozialversicherungssysteme zu integrieren, die Gründung neuer Hochschu-
len zu fördern und mit Beihilfen und Stipendien die Bildungschancen zu ver-
bessern. Diese Neuerungen schlugen sich in signifikanten Mehrausgaben nieder
(Tab. 7.2). Wie der Blick auf die Entwicklung der Staatsquote in den Nachbarlän-
dern zeigt, lag Deutschland dabei im europäischen Trend (Tab. 7.3).
Die Zeiten waren diesem Reformelan nicht mehr recht gewogen. Zunächst
krachte 1973 endgültig das Bretton Woods-System zusammen (siehe oben,
Abschn. 4.2.4). Dieses Ereignis zog die unvermeidlichen Währungsturbulenzen
nach sich; es machte die Wachstumsprognosen, auf welche die die Haushaltspoli-
tik ausgerichtet war, kurzerhand zunichte. Nicht genug damit, ereilten die Indus-
trieländer kurz darauf in rascher Folgen die drastischen Preisschübe des Kartells
der Öl produzierenden Länder (1973, 1978). Die Arbeitslosigkeit erreichte Nach-
kriegsrekorde. Die Inflation rastete auf deutlich höherem Niveau als in der Ver-
gangenheit ein (Tab. 7.1).
152 7 Wirtschaftspolitik in Deutschland und seinem europäischen Umfeld
Die Konzertierte Aktion war keine zwei Jahre, nachdem sie mit großem Bohei
gestartet war, schon wieder erledigt. Ab 1969 streikten einige Gewerkschaften
ohne Rücksicht auf die Gespräche in der Konzertierten Aktion für höhere Lohn-
abschlüsse. Die Gewerkschaften orientierten sich an der mit Blick auf die Vor-
jahre zu erwartenden Preissteigerung. Förmlich zogen sich die Gewerkschaften
erst 1976 aus der obsoleten Konzertierten Aktion zurück.
Kanzler Brandt geriet bei der Bundesbank spätestens 1974 in Misskredit, als
die damalige Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (ÖTV) einen Tarifvertrag
erstreikte, der nach Auffassung der Bundesbanker eklatant gegen alle Vernunft
verstieß. Die Geld- und die Fiskalpolitik drifteten auseinander (Scharpf 1987,
S. 165–177). Im selben Jahr kündigte die Bank als erste Notenbank überhaupt an,
künftig mit einer restriktiven Geldpolitik (siehe Abschn. 2.2.3) dagegen halten zu
wollen.
Kanzler Helmut Schmidt (1974–1982), der ökonomisch sachkundigste unter
den Kanzlern, ein hemdärmeliger Keynesianer, trat für mehr Wachstum ein, um
die Beschäftigung zu sichern, und er war wohl auch bereit, dafür mehr Inflation
in Kauf zu nehmen, als die Bundesbank es für richtig hielt (Soell 2001, S. 601,
606). In diesen weltweit inflationsstarken Jahren zeigte sich das Wirken der Bun-
desbank darin, dass der jährliche Preisanstieg deutlich hinter demjenigen in den
Nachbarländern zurückblieb (Tab. 7.4).
7.2 Wirtschaftspolitische Etappen und ihre Konzepte 153
Tab. 7.4 Historische Inflation in Europa bis zur Einführung des Euro (jährliche Steigerung
in v. H.). (Quelle: Inflation – up to date info on current and historic inflation, by country.
www.inflation.eu/, Zugegriffen. 24.02.2017.)
D F GB I E NL A S DK
2000 1,4 1,7 0,8 2,5 3,4 2,3 2,3 2,4c 2,9
1995 1,7 1,8 2,6 9,2 4,7 1,9 2,2 7,4 2,0
1990 2,7 3,2 7,0 6,4 6,7 2,4 3,2 10,3 2,6
1985 2,0 5,8 6,0 9,2 8,8 2,2 3,1 7,4 4,7
1980 5,4 13,5 18,1 21,0 15,6 6,5 6,3 13,7 12,3
1975 5,9 11,7 24,1 17,2 17,0 10,2 8,4 9.8 9,7
1970 3,4 5,3 6,3 5,0 5,7 3,6 4,3 7,0 6,5
1965 3,2 2,7 4,7 4,5 13,3 3,9 4,9 5,0 8,1
1960 1,5 15,3a 1,0 2,3 1,2 2,4b 2,0 4,1
1956 2,6 1,9 5,0 3,4 5,8 5,0
a1958
b1962
c2001
Tab. 7.7 Historische Ereignis
Entwicklung der deutschen
Staatsverschuldung 2015 66,7
(öffentlicher 2010 82,8 Finanzkrise, Bankenrettung
Gesamthaushalt im
Verhältnis zum BIP 2005 64,8
1950 bis 2015, in v. H.). 2000 59,1
(Quelle: Entwicklung der
1995 55,1
Staatsverschuldung in
Deutschland 1950 bis 2015, 1990 41,2 Wiedervereinigung
https://de.statista.com. 1985 39,5
Zugegriffen: 24.02.2017)
1980 30,3
1975 23,6 Energiekrisen, Stagflation
1970 17,8
1965 19,0
1960 18,7
1955 23,2
1950 19,3
Schon in der ersten Amtszeit Schröders zollte die Koalition der neolibera-
len Politikmode ihren Tribut (Wagschal 2007). Gleich zu Beginn von Schröders
Kanzlerschaft entschied sich in einem Machtkampf mit Finanzminister Oskar
Lafontaine (1998/1999), dass eine Nachfragepolitik à la Keynes nicht wieder
auflebte (Oberreuter 2008, S. 237). Der Kanzler und Lafontaines Nachfolger
Hans Eichel (1999–2005) suchten die Nähe der Unternehmenslenker. Die Steu-
erlast wurde insgesamt um zehn Prozent verringert (Furtak 2008, S. 175–177).
Die Besteuerung des Kapitalerwerbs wurde mit abgesenkten Tarifen vor der
Lohn- und Einkommensteuer privilegiert, und der Spitzensteuersatz wurde in der
Ära Schröder von 51 auf zuletzt 45 % gesenkt (Tab. 7.6). Nach 2002 wurde die
Reform des Arbeitsmarktes zum Kernvorhaben. Ein Kraftakt sollte die beim Staat
und bei den Sozialversicherungen auflaufenden Kosten der untraktierbar erschei-
nenden hohen Arbeitslosigkeit verringern (Kempf 2008, S. 326–330).
Nach dem Vorschlägen des VW-Managers Peter Hartz wurden mit Schröders
hochumstrittener „Agenda 2010“ im Jahr 2003 Sozialhilfe und Lohnersatzleis-
tungen für Arbeitslose zurückgeschnitten. Restriktivere Voraussetzungen für
Sozialhilfe und Arbeitslosengeld sollten darüber hinaus die Anreize verstärken,
überhaupt eine Arbeit anzunehmen (Schmid 2007). Die Idee eines Mindestlohns
für Geringverdiener blieb liegen.
Die Agenda war ein Stück Angebotspolitik pur. Sie wurde in einer für
Deutschland schlechten ökonomischen Großwetterlage durchgeboxt und empörte
die Gewerkschaften und Teile der SPD. Anhänger des linken Flügels verabschie-
deten sich von der Partei und bahnten der Erweiterung der noch ganz auf Ost-
deutschland beschränkten PDS – der späteren Linken – nach Westdeutschland
den Weg. Als Schröder auf dem Höhepunkt der Querelen mit seiner Partei 2005
den Rücktritt anbot und die Vertrauensfrage stellte, war es mit Rot-Grün vorbei.
Auch anderswo in Europa setzten die Regierungen stärker angebotspolitische
Akzente. Diese Umorientierung ging allenthalben, nicht nur in Deutschland, mit
sinkender Zustimmung zu den noch regierenden sozialdemokratischen Parteien
einher.
Die erste Große Koalition unter Führung der Unionsvorsitzenden Angela Merkel
(2005–2009) machte mit dem sozialdemokratischen Finanzminister Peer Stein-
brück (2005–2009) wirtschaftspolitisch dort weiter, wo die Regierung Schröder
aufgehört hatte (Kempf 2015, S. 221–224). Im Einvernehmen mit der Union wur-
den die Körperschaftssteuern von 25 auf 15 % gesenkt. Deutschland, das gern ein
7.2 Wirtschaftspolitische Etappen und ihre Konzepte 159
Vorturner in der Eurozone sein wollte, kämpfte aber weiterhin darum, überhaupt
die Schuldengrenze von maximal 60 % des Bruttoinlandsprodukts, eines der
tragenden Konvergenzkriterien der Währungsunion, zu erreichen. Während die
Wirtschaft in den Nachbarländern recht gut lief, laborierte Berlin an schwachem
Wachstum und hohen Arbeitslosenzahlen. Um den Verschuldungsdruck zu min-
dern, wurden als kleine angebotspolitische Sündentaten sogar Steuerprivilegien
gestrichen und die Mehrwertsteuer erhöht.
Ab 2007 vermeldeten die Wirtschaftsdaten eine Erholung. Endlich ging die
Arbeitslosigkeit zurück, auch das Ausmaß der Neuverschuldung. Die Agenda
2010 wurde zum Narrativ dieses Erfolgs, zum schlagenden Beweis, dass die
Dämpfung der Arbeitskosten maßgeblich dazu beigetragen hat. Dass die Dinge
so simpel nicht waren und auch andere Gründe, insbesondere die Bewältigung
der ökonomischen Vereinigungsfolgen, zur Erholung beigetragen haben, war kein
Thema (dazu Peter Bofinger: SZ, 12.12.2016, S. 18; siehe auch SZ, 01.03.2017,
S. 17). Die Agenda-Reformen ließen einen Niedriglohnsektor entstehen, begüns-
tigten die Teilzeitbeschäftigung, die Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit. Erst
die zweite Große Koalition unter Merkel'scher Führung (seit 2013) korrigierte das
Agendaprogramm in Richtung auf einen gesetzlichen Mindestlohn. Eine mode-
rate Lohnpolitik, also ein Verdienst der Gewerkschaften, trug wesentlich zur Ver-
besserung der Situation bei, sodass der behauptete Heilungseffekt der Agenda
2010 letztlich auf Schätzung und Interpretation beruht. Die Interpretation, die
sich durchsetzte, wurde nicht zuletzt von der intellektuellen Lufthoheit der neoli-
beral gestimmten Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspresse entschieden.
In dieser Erholungsphase brachte die Weltfinanzkrise einen Rückschlag. Ganz
undogmatisch ließ die Bundesregierung nach 2008 – wie seinerzeit die Regierung
Kohl in der Herausforderung der Wiedervereinigung – alle Sparvorsätze sausen
und gab grünes Licht für eine superteure Bankenrettung. Nach Beruhigung der
Lage steuerte die Regierung auf den alten Kurs zurück, jetzt aber in der neuen
Rolle des Klassenprimus in der Eurozone. Die Länder auf der Südschiene Euro-
lands fielen zurück (Bandau und Dümig 2015).
Die Zentralfigur in der zweiten und dritten Merkel-Regierung (2009–2017)
war Finanzminister Wolfgang Schäuble. Nach fünf Jahren Amtszeit ging die Neu-
verschuldung in Richtung Null (Tab. 7.5). Dieser Minister, eigentlich der „Kanz-
ler fürs Wirtschaftliche“, vereinbarte 2009 mit den Ländern eine Schuldenbremse,
die dann auch ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Die Haushaltsdefizit ist
durch die europäischen Verträge auf maximal drei Prozent des BIP begrenzt. Für
Deutschland werden die Schulden für Bund und Länder zusammengerechnet.
Nach der deutschen Schuldenbremse dürfen die Länder ab 2020 überhaupt keine,
der Bund seit 2016 nur noch Schulden im Umfang von maximal 0,35 % des BIP
160 7 Wirtschaftspolitik in Deutschland und seinem europäischen Umfeld
Das Beispiel der USA zeigt, dass die von der Legislative beschlossenen Haus-
haltsobergrenzen ohne große Bedenken nach oben korrigiert werden, wenn die
Schuldengrenze extrem schmerzhaft zu wirken droht und den einen oder anderen
Parlamentarier sein Mandat kosten könnte (siehe oben, Abschn. 5.1). Die Politik
hat also das letzte Wort. Auch in der Eurozone zeigt sich, dass die harten Daten-
grenzen für das Schuldenvolumen und die Neuverschuldung wenig gelten, wenn
die Rache der Bürger droht (dazu Mause 2012; siehe auch unten, Abschn. 9.5).
Seit Langem steht die Bundesregierung unter dem Erwartungsdruck ihrer Nach-
barn, mehr zu investieren, um die Nachfrage im gesamten Europaraum zu bele-
ben (siehe unten, Tab. 9.15). Das sture Beharren des deutschen Finanzministers
Wolfgang Schäuble auf den Schuldengrenzen des Maastricht-Vertrags atmet
denselben Geist wie die deutsche Schuldenbremse: Regeln als das A und O einer
politischen Ökonomie, mit der die Politik auf einen vorweg definierten Kurs
gezwungen wird.
Für Deutschland wie für alle übrigen Mitglieder der Eurozone lassen sich drei
Entscheidungsebenen unterscheiden. In Brüssel fallen die Primärentscheidun-
gen. Sie werden geld- und bankenpolitisch von der EZB getroffen, sonst von den
europäischen Institutionen: Parlament, Rat und Kommission. Danach kommen
die Sekundärentscheidungen, die unter Beachtung der europäischen Maßgaben in
Berlin getroffen werden dürfen. Dann gibt es immer noch den großen Komplex
der nationalen Entscheidungen, der an der einen oder anderen Stelle aber auch
schon europäisch konditioniert ist (Sturm und Pehle 2012). In nationaler Regie
bleiben alles in allem noch die Verteidigung, die zwar große Ausgaben involviert,
hier aber nicht weiter interessieren soll, sowie die Arbeitsmarkt-, Sozial- und
Steuerpolitik. Es ist also noch einiges da, um sich ohne Brüsseler Maßgaben für
die Optionen einer vom Angebot oder von der Nachfrage her ansetzenden Politik
zu entscheiden. Je enger dabei der Rahmen für das Finanzierungsinstrument des
Kredits gezogen ist, desto wahrscheinlicher wird eine Politik, die inkrementell am
Status quo herumschnitzt. Große Einschnitte in den Status quo verheißen Ärger,
Konflikte mit Interessen- und Statusgruppen, wachsende Unzufriedenheit und
die Chance neuer politischer Parteien und Bewegungen, die sich euroskeptische
Stimmungen zunutze machen.
Mit der Eurokrise wird dieses Thema im übernächsten Kapitel wieder aufge-
griffen.
Japan: Von der staatlich moderierten
Exportmaschine zur Marktwirtschaft 8
Das Erfolgsmodell Bis an die Schwelle der 1990er Jahre hatte das Land den
Ruf einer höchst effizienten Wirtschaftsmacht. Politisch wurde es nach dem
Krieg rein parlamentarisch rekonstruiert. Der Kaiser ist zur zeremoniellen Figur
geschrumpft, der Premierminister aber der Form nach – wie in so mancher euro-
päischen Parlamentarismusvariante – die Zentralfigur im Regierungsgeschehen.
Durch die Besonderheiten des Parteiensystems konnte sich dieses Format erst
spät entfalten.
Nach 1955 regierte dauerhaft die Liberaldemokratische Partei (LDP). Sie kam
durch die Fusion zweier Parteien, der Liberalen und der Demokraten, zustande.
Unter anderen Namen hatten sie das Land vor dem letzten Krieg mitregiert. Die
LDP war in Gefolgschaften prominenter Parteigrößen fragmentiert. Teils rivali-
sierten sie miteinander, teils gingen sie auch Zweckbündnisse ein, stets mit dem
Ziel, Zugriff auf Ministerien und Budgetanteile zu gewinnen. Das Wahlsystem
selbst war so beschaffen, dass in den Wahlkreisen nicht nur die LPD und die
Oppositionsparteien, sondern auch rivalisierende Kandidaten der LDP-Faktionen
gegeneinander antraten. Der Wahlkreiszuschnitt begünstigte die Stimmen der
ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung. Die Regierungsbürokratie arbei-
tete eng mit der LDP-Führung zusammen. Das Finanzministerium (MOF) hatte
Zugriff auf die Banken, und die Banken machten große Geschäfte mit den Kei-
retsu, den großen, weltweit operierenden Edelfirmen. Das Handels- und Tech-
nologieministerium (MITI, heute METI) beobachtete die internationalen Märkte
und wies den großen Unternehmen bei Forschung und Entwicklung den Weg
zur Expansion (zur Struktur des Japan-Modells auf seinem Zenit: Kevenhörster
1969, 1973).
Nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst schlugen die mächtigen Spitzen-
bürokraten eine Zweitkarriere als Abgeordnete der Regierungspartei oder in den
Führungsetagen der Unternehmen ein. Die LDP kommunizierte den Budget- und
Programmverantwortlichen im Regierungsapparat, wo Effizienz zurückzustehen
hatte, um die Klienten der Staatspartei, namentlich Bauern, Kleinunternehmer
und die Bauwirtschaft bei der Stange zu halten. Die Beschäftigten der großen
Unternehmen erfreuten sich der Aussicht auf eine großzügige betriebliche Alters-
versorgung.
Schon diese Skizze zeigt, dass die japanische Ökonomie stark von politischen
Interessen konditioniert, dabei aber ganz auf das Exportgeschäft mit der übrigen
Welt ausgelegt war. Eine Wirtschaftsideologie à la Keynes, wie sie zu dieser Zeit
in der westlichen Welt en vogue war, ließ sich darin nicht erkennen. Eine mit viel
Bewunderung gewürzte Literatur prägte die Rede vom beispielhaften modernen
Entwicklungsstaat (beispielhaft: Johnson 1982).
166 8 Japan: Von der staatlich moderierten Exportmaschine …
Die Japan AG wurde erstmals vom Nixon-Schock, der Abwertung des US-Dollars
im Jahr 1971 erschüttert. Die Abwertung drohte den extrem wichtigen US-ame-
rikanischen Exportmarkt ein Stück weit auszutrocknen. In Tokio ließ man sich
etwas einfallen. Zu dieser Zeit war der Politiker Tanaka Kakuei die beherrschende
politische Figur des Landes. Damals noch zählte allgemein weniger, wer gerade
Regierungschef war, als welche innerparteiliche Gruppierung hinter den Kulissen
die Regie führte. Von der Mitte der 1960er bis in die Mitte der 1980er Jahre war
der hemdsärmelige Tanaka, ein Self-made man und Bauunternehmer mit gleich-
wohl feinem Gespür für die richtigen Manöver zum Machterhalt, einer der mäch-
tigsten Spielmacher in den politischen Kämpfen. Er war aber auch ein typischer
Exponent der Verknüpfung von Politik und Wirtschaft, die sich in den Vorjahren
gut bewährt hatte.
Von 1972 bis 1974 bekleidete Tanaka das Amt des Regierungschefs. Um
das gewohnte Wirtschaftswachstum in noch ungemütlicher gewordener Zeit –
19734/74 der erste weltweite Ölpreisschock – zu bewahren, entschied er sich
gegen den ausdrücklichen Rat der Notenbank gegen die Aufwertung des Yen.
Sehenden Auges nahm er das Inflationsrisiko in Kauf. Denn weiterhin strömten
im Exportgeschäft verdiente Dollars ins Land. Tanaka hatte große Pläne für die
Modernisierung des Landes. Er schob zahlreiche Infrastrukturprojekte an. Bei
aller Sinnhaftigkeit – Entwicklung eines stärkeren Binnenmarktes – verfolgten
diese Projekte auch den edlen Zweck, die Mehrheitsfähigkeit der LDP zu stabi-
lisieren. So wurden die Landgebiete verkehrstechnisch besser an die Metropolen
angebunden; ganz allgemein der Nahverkehr noch weiter verbessert; die Reis-
bauern durften sich über Subventionen freuen; die bescheidene Alterssicherung
wurde ausgebaut und auch der Bildungssektor kam nicht zu kurz. Die Bauindust-
rie, also Tanakas ureigene Branche, boomte wie nie zuvor.
Der Dank hielt sich in Grenzen. Die LDP war ein Haifischbecken, ihre Grup-
pierungen kämpften mit härtesten Bandagen. Die meisten Regierungschefs
hielten selten mehr als ein, zwei Jahre durch. Dann machten sie einem anderen
Parteigranden Platz. Die Verweildauer im Amt ist erst seit einer grundlegenden
Reform des politischen Systems zu Beginn der 1990er Jahre gestiegen. Tanaka
selbst stolperte 1974 aus dem Regierungsamt, als seine Verwicklung in Schmier-
geldskandale ruchbar wurde. Im Hintergrund zog er noch für einige Jahre die
Fäden.
Die Tanaka-Politik markiert die erste Holperstrecke in der Nachkriegsent-
wicklung. Die Inflation stieg von 1972 noch knapp fünf auf 1973 über elf und
dann noch einmal bis 1974 auf 23 %. Erst am Ende der turbulenten 1970er Jahre
8.2 Das Japan-Modell kollabiert 167
renkten sich die Dinge einigermaßen ein. Sehr zum Missvergnügen der USA lief
die Exportmaschine wieder rund. Das Land trotzte allen Appellen, Reformen in
Angriff zu nehmen, um den Handelsüberschuss abzubauen. Von amerikanischer
Seite wurde er der unfairen Verknüpfung von Staat und Wirtschaft zugeschrieben.
Im Verhältnis zum Yen verlor der Dollar zwischen 1980 und 1985 rund ein
Drittel seines Werts (Tab. 8.1). Zur gleichen Zeit ging es – auch wegen der seit
Reagan in Washington angesagten neoliberalen Politik – mit den klassischen US-
Industrien abwärts (siehe oben, Abschn. 5.2). Die US-Administration erhöhte den
Druck auf Tokio, und amerikanische Industrielle rannten Kongressmitgliedern die
Türen ein, um etwas gegen die konkurrenzstarken Importe aus Ostasien zu unter-
nehmen.
Ab 1982 amtierte Premierminister Nakasone Yasuhiro. Nakasone gelangte
ganz so, wie er früher Tanaka unterstützt hatte, mit dessen Unterstützung an
die Spitze von Regierung und Regierungspartei. Er amtierte für die sensationell
lange Dauer von fünf Jahren (bis 1987). Um zu verhindern, dass Washington
die Importe aus Asien und Europa mit groben administrativen Mitteln abwürgte,
ließ sich Tokio 1985 auf das Plaza-Abkommen ein. Darin verpflichteten sich die
Regierungen Japans, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, die von
ihren Notenbanken gehaltenen Dollars auf den Devisenmarkt zu werfen, um den
Dollarkus zu drücken (Tab. 8.1).
Die Beteiligten schalteten mit dem Louvre-Abkommen 1987 wieder einen
Gang zurück. Nach Auffassung Washingtons war der Dollar jetzt allzu schlecht
bewertet. Die Notenbanken der wichtigsten Partnerländer nahmen Dollars vom
Markt. Ab 1990 flachte das japanische Wachstum ab (Tab. 8.2). Die von Washing-
ton erhofften größeren Exporte amerikanischer Produkte nach Japan – nach Lage
der Dinge hauptsächlich solche agrarischer Art – blieben aus (Tab. 8.3, siehe auch
oben, Tab. 5.9 und 5.10).
Immer noch scheute Tokio davor zurück, die administrativen Importschwel-
len zu senken. Es blieb bei Nakasones lauten und gleichwohl leeren Appellen,
Tab. 8.3 Importe Japans, Chinas und Deutschlands aus den USA im Vergleich (Anteil am
Gesamtimport in v. H.). (Quelle: Fischer Weltalmanach, diverse Jahrgänge)
2015 2010 2005 2000 1991
Japan 11 10 12 19 22
China 9 7 7 10 13
Deutschland 6 6 7 8 6
Tab. 8.4 Exporte Japans, Chinas und Deutschlands Exporte in die USA im Vergleich
(Anteil am Gesamtexport in v. H.). (Quelle: Fischer Weltalmanach, diverse Jahrgänge)
2015 2010 2005 2000 1991
Japan 23 15 23 30 32
China 18 18 21 21 9
Deutschland 10 7 9 10 7
fünf Prozent – durchgebracht worden. Das Land kannte diese Steuerart bisher
nicht. Allein diese Tatsache besagt einiges über die Finanzprobleme des Landes.
In der übrigen Welt waren Verbrauchssteuern seit Langem Standard. Gleichzeitig
betrieb die Bank von Japan 1986 Niedrigzinspolitik, um Investitionen in die hei-
mische Wirtschaft anzuregen (Tab. 8.2).
Der letzte verbliebene Königsmacher in der LDP, der mächtige Kanemaru Shin
(1914–1996), war darin verwickelt; er verlor 1993 seine hergebrachte Rolle. Die
Skandalisierung und strafrechtliche Verfolgung zahlreicher Partei- und Regie-
rungsgrößen, die in die Großkorruption verwickelt waren, brachte die LDP aus
dem Gleichgewicht. Innerparteiliche Dissidenten und Reformer bekamen Ober-
wasser. Schon lange hatten sie mit den Hufen gescharrt, um die Plätze der alten
Garde einzunehmen. Ein Mehrheitsverlust der LDP im Oberhaus gab ihnen
Rückenwind. Unter Führung des Neuerers Hosokawa Morihiro verselbstständigten
sich LDP-Reformer als eigene Partei. Die Dissidenten paktierten mit den ewigen
Oppositionsparteien. So geriet die LDP 1993 – nach 38 Jahren – in die Opposition
(Tab. 8.5).
Die neue Regierungskoalition erzwang eine Wahlrechtsreform. Sie machte den
bisherigen Vorteil der stark ländlich basierten LDP zunichte. Die Koalition war
ein disparater und bald zerstrittener Haufen, bedeutete aber gleichwohl einen Ein-
schnitt. Gegenüber der neuen Regierung Hosokawa (1993/1994) gaben sich die
Spitzenbürokraten unerwartet loyal und ließen die nunmehr oppositionelle LDP
Distanz verspüren (Hori 2005, S. 72–74). Die LDP selbst veränderte ihren Cha-
rakter. Durch das neue Wahlsystem, das nach deutschem Muster einen Mix von
Direkt- und Listenkandidaturen einführte, verloren die innerparteilichen Strömun-
gen an Einfluss (Stockwin 2008, S. 48–75).
Schon 1996, nachdem sie drei Regierungschefs verschlissen hatte, wurde die
neue Regierungskoalition wieder abgewählt. Fortan regierte erneut die LDP, jetzt
aber mit einem gestärkten Premierminister. Neben der LDP schälte sich, ebenfalls
begünstigt durch das neue Wahlsystem, die DPJ als zweite große Kraft heraus
(Tab. 8.5). Programmatisch so ambivalent wie die LDP, war auch sie von Quere-
len und innerparteilichen Rivalitäten der verschiedenen Gruppen und Strömungen
geplagt, die sich zum politischen Sammelsurium der DPJ zusammengefunden
hatten (Park 2015).
Durch das neue Wahlsystem waren die Liberaldemokraten gehalten, dort um
Wähler zu werben, wo bisher die Opposition erfolgreich war, namentlich in den
großen Städten. Nach der kurzen Durststrecke in der Opposition konnte die LDP
jetzt aber nur noch mit Koalitionspartnern regieren. Die Regierungsbürokratie
war immer noch mächtig. Die politische Richtung wurde jetzt aber nicht mehr
von dort maßgeblich mitbestimmt. Ab 1997 wurde das Finanzministerium stufen-
weise entmachtet. Heute ist es nur noch für den Haushalt zuständig (Hori 2005,
S. 117 f.).
Zeitgleich wurden die noch verbliebenen Finanzmarktregularien bis 1998 mit
einem „Big Bang“ kassiert. Die Schwelle zwischen Bank- und Versicherungsge-
schäften wurde abgesenkt, die Kreditbeschaffung durch Anleihen weiter erleich-
tert, und schließlich wurden auch größere Ausfallrisiken zu Lasten der Banken
erlaubt; Geschäfte durften in beliebiger Währung abgewickelt werden. Auslän-
dische Finanzinstitutionen brauchten keine japanischen Partner mehr, um im
Lande Geschäfte zu machen. Zweck der Übung: Die Mobilisierung von mehr
bankfernem Kapital in der inzwischen üblichen Erwartung, damit realwirtschaft-
liches Wachstum zu stimulieren (Tab. 8.1). Der Grund: Internationale Anleger
lassen kein anderes als das neoliberale Schönheitsideal gelten. Für die werbende
Standortbraut kommt es darauf an, sich für potenzielle Interessenten hübsch zu
machen, insbesondere für die Akteure auf dem weltweit den Trend bestimmen-
den US-Finanzmarkt (Nakano 2016, S. 42–46). Dies mag erklären, warum Japan
als ein Land asiatischer Kultur, das nicht im Strom der westlich-liberalen Wer-
tewelt schwimmt, doch denselben Weg eingeschlagen hat wie so viele europäi-
sche Länder und die USA. Premierminister Mori Yoshiro (2000/2001) holte die
Zuständigkeit für den Finanzmarkt vom Finanzministerium 2000 ins Amt des
Regierungschefs (Nakano 2016, S. 34). Sein Nachfolger Koizumi siedelte dar-
über hinaus einen Wirtschafts- und Finanzrat in der Regierungszentrale an. Das
MOF war der große Verlierer dieser Veränderungen (Stockwin 2008, S. 149 f.;
Hori 2005, S. 119–134). Finanzpolitik avancierte zur politischen Chefsache.
8.4 Neoliberale Politik 173
Die beschämten Armen verstecken sich in den verborgenen Winkeln der Met-
ropolen. Selbst in diesen Zeiten geringen Wachstums suchen die Firmen hände-
ringend Mitarbeiter. Einfache Arbeiten werden bereits von schlecht bezahlten
Arbeitsmigranten geleistet.
Der Arbeitskräftemangel und die Überalterung sind zwei Seiten derselben
Medaille. Die Ruheständler, von denen immer weniger eine großzügige Firmen-
pension aus vergangenen Zeiten beziehen, leben vom öffentlich finanzierten
Rentenbudget. Die beruflich Aktiven konsumieren, sparen aber deutlich weniger
(Kushido und Shimizu 2013b, S. 21–27).
Die Regierung sitzt auf den Kosten der steigenden Rentenzahlungen, sie finan-
ziert mit die beste und anspruchsvollste Infrastruktur der Welt. Hin und wieder
muss sie tief in die Tasche greifen, um Nothilfe bei Naturkatastrophen des extrem
von Erdbeben und zerstörerischen Fluten bedrohten Landes zu leisten.
Die Staatsquote liegt mit heute gut 42 % immer noch etwas unter derjenigen
der meisten EU-Staaten. Sie stieg aber allein von 2000 bis 2005 um satte zwölf
Prozentpunkte auf 38 % (Tab. 8.2). In dieser Steigerung bilden sich die Pro-
gramme zur Konjunkturbelebung und zur Bankenrettung, aber auch die wachsen-
den Kosten für die Alterseinkommen ab.
Der Leerlauf der Abenomics ist unter anderem dadurch bedingt, dass sich
die Demografie nicht überlisten lässt. Ältere konsumieren weniger als Jüngere,
und der nachwachsenden Jüngeren gibt es zu wenige, als dass sie den sparsamen
Konsum der Älteren ausgleichen könnten. Das von der Notenbank auf den Markt
geworfene Geld landet bei großen Investoren. Sie blicken wie ihresgleichen überall
weniger auf den heimischen Markt als auf die internationalen Märkte. Zuwande-
rung könnte Linderung bringen. Doch Japan ist eine Inselgesellschaft. Seine Iden-
tität wurzelt in jahrhundertelanger Isolation und in einer Kollektivbefindlichkeit,
die Fremden mit Skepsis und Misstrauen begegnet (SZ-NYT 24.02.2017, S. 5).
8.5 Die Politikfalle einer alternden Gesellschaft 177
In Japan lebende Ausländer, etwa zwei Millionen, entsprechend 1,7 % der Bevöl-
kerung (Deutschland 9,5, dazu 20,5 % Deutsche mit Migrationshintergrund), sind
inzwischen unverzichtbar, mit fehlender sozialer Akzeptanz aber keine Erfolgss-
tory.
Die Verzahnung von Staatspartei, Regierungsbürokratie und Weltkonzernen
in der vormaligen Japan AG hat sich so gründlich aufgelöst wie in einigen euro-
päischen Ländern die einkommenspolitische Kooperation der 1950er bis 1970er
Jahre (siehe oben, Abschn. 7.2.1). Alle Versuche der Regierung, der seit mehr als
zwei Jahrzehnten herrschenden Deflation mit angebotspolitischen Lockungen
Herr zu werden, sind im Sande verlaufen. Spielplatz der japanischen Edelkon-
zerne ist der Globus, kein singulärer Nationalstaat. Die politisch-ökonomischen
Strukturen und Probleme unterscheiden sich in allerlei Details, aber nicht mehr
grundlegend von denen, die im Europa der EU anzutreffen sind. Und mag die
Ideologie im kulturell so anders geprägten Japan auch keine so große Rolle spie-
len wie im vom Liberalismus durchtränkten Europa und Nordamerika, versucht
die Regierung gleichwohl mit neoliberalen Rezepturen aus der jahrzehntelangen
Stagnation herauszukommen. Das gigantische Staatsdefizit lässt wenig Raum für
Alternativen, die den öffentlichen Haushalt weiter belasten.
Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Vorteile, die Deutschland mit einer
ähnlichen demografischen Entwicklung und mit ebenfalls starker Exportorien-
tierung aus dem europäischen Binnenmarkt, aus der Gemeinschaftswährung des
Euro und aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit erwachsen. Es hat sichere Märkte
und das Potenzial der bei weitem nicht ausgeschöpften südeuropäischen Arbeits-
märkte vor seiner Haustür.
Die Eurozone, die europäische
Wirtschaftspolitik und die EZB 9
Die Europäische Union (EU) teilt sich in zwei Politikräume, zum einen in die
Union als solche, mit gemeinsamem Agrar- und Binnenmarkt, gemeinsamer Ver-
braucher- und Umweltpolitik, aber nationalen Währungen, und zum anderen in
den Euroraum mit zusätzlich einer gemeinsamen Währung. Letztere gilt heute in
19 der demnächst wohl nur noch 27 Mitgliedstaaten. Man könnte den Europäi-
schen Wirtschaftsraum (EWR) hinzurechnen, Länder wie Norwegen und Island,
eingeschränkt auch die Schweiz, die der Union nicht angehören, sich aber ver-
pflichtet haben, als Gegenleistung für den freien Zugang zum Binnenmarkt die
in Brüssel beschlossenen Regelwerke zu akzeptieren und Zahlungen in den EU-
Haushalt zu leisten. Beim Thema, um das es in diesem Kapitel geht, werden der
Europäische Wirtschaftsraum und die EU-Mitglieder außerhalb der Eurozone
lediglich am Rande berücksichtigt.
Der Idee nach ist die Eurozone mehr als ein gemeinsamer Währungsraum.
In dieser Abteilung der Union sollen die Grundsätze einer gemeinsamen Wirt-
schaftspolitik gelten.
Für die Eurozone wie für die Union als Ganze entscheiden dieselben Instituti-
onen des europäischen politischen Systems. In den EU-Institutionen, in denen die
nationalen Regierungen repräsentiert sind, also dem Europäischen Rat und dem
Rat der Union, ist jeweils ein Euro-Klub angesiedelt. Er schließt die übrigen Mit-
gliedsregierungen von den zu treffenden Entscheidungen aus. Die Europäische
Kommission ist von der Differenzierung zwischen Eurozone und weiterhin nati-
onalen Währungsräumen ausgespart. Sie verwaltet auch die Beschlüsse der Euro-
zone und nimmt bei ihrer Ausführung eine Aufsichtsfunktion wahr.
Vor Einführung des Euro war die Deutsche Mark die wichtigste Währung in
der Union. In den 1970er Jahren stieg sie zu einer – informellen – europäischen
Leitwährung auf. In einer „Währungsschlange“ sollten die Währungen der EG-
Länder ab 1973 lediglich innerhalb eines vereinbarten Korridors variieren. Dieser
Schritt war als Auffanglösung für das kurz zuvor endgültig zusammengebrochene
Bretton-Woods-Systems gedacht. Die Währungsschlange funktionierte schlecht.
9.2 Das Euro-Problem und das politische System der EU 181
Wie in der Vergangenheit war die D-Mark bärenstark. Die Bundesbank betrieb
weiterhin Hochzinspolitik (Tab. 7.1). Sie setzte den Französischen Franc und die
italienische Lira unter Druck, bis die Bundesregierung einschritt und 1981 die
D-Mark aufwertete. Der Wirkung war bescheiden. Weiterhin nahmen Paris und
Rom Zuflucht zur Abwertung ihrer Währungen, um die defizitäre Außenhandels-
bilanz zu entlasten.
Nächster Lösungsversuch war der Europäische Währungsmechanismus. Er
wurde 1986 zeitgleich mit der Einführung des Binnenmarktes vereinbart. Wech-
selkursänderungen mussten sich künftig an Schwankungsbreiten von plus/minus
15 % halten. Der Währungsmechanismus war als Vorstufe zu einer gemeinsamen
Währung konzipiert.
Kanzler Helmut Kohl opferte D-Mark und Bundesbank auf dem Altar der
Wiedervereinigung, unter anderem, um die Bedenken des französischen Staats-
präsidenten François Mitterrand (1981–1996) gegen ein stärkeres Deutschland
zu entkräften. Der Euro beließ zwar die Notenbanken der Euro-Länder an ihrem
Platz, nahm ihnen jedoch ihre Bedeutung. Immerhin versuchte die Bundesregie-
rung, in der Mitgestaltung der Europäischen Zentralbank (EZB) das Modell der
alten Bundesbank zu retten (Grauwe 2016, S. 156 f.). Der Euro und die EZB wur-
den der deutschen Öffentlichkeit mit dem unterschwelligen Versprechen verkauft,
hier finde nichts anderes statt als die Wiederauferstehung der guten alten D-Mark
unter neuem Namen (Gretschmann 2016, S. 37; Weinacht 2001, S. 719). Exem-
plarisch ist der Ausspruch des damaligen deutschen Finanzministers Theodor
Waigel: „Der Euro spricht Deutsch.“
Die EZB hat den exklusiven Auftrag, die Stabilität des Euro zu wahren. Ergän-
zend wurden fiskalpolitische Eckpunkte – die sog. Konvergenzkriterien – für die
nationale Haushaltspolitik in die Verträge geschrieben, darunter Vorgaben zur
Haushaltsdefizit und zur maximalen Verschuldung.
Der erste EZB-Präsident, der Niederländer Win Duisenberg (1998–2003) wal-
tete noch recht entspannt seines Amtes. Die Amtszeit seines Nachfolgers, des
Franzosen Jean-Claude Trichet (2003–2011), war von den Folgen der großen
Finanzkrise in den USA bestimmt. Er führte das Amt selbstbewusst und wies alle
Kritik an der Politik seiner Bank, insbesondere aus Berlin und Paris, von sich.
Der Italiener Mario Draghi trat 2011 sein Amt im Zeichen drohender Staatsinsol-
venz und Bankenzusammenbrüche in Griechenland, Irland und Spanien an; auch
Italien steckte in der Krise, selbst Frankreich zeigte Schwächen.
182 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
1. Die Euro-Zone entstand als eine enge, technische Währungsunion. Die Wirt-
schafts- und Finanzpolitik verblieb in der Regie der nationalen Regierungen.
In der Hybridkonstruktion des Euro-Raumes kamen also Zentralismus beim
Geldmanagement und fiskalpolitischer Pluralismus zusammen.
2. Diese Konstruktion zeigte bald alle Probleme, vor denen Kritiker früh gewarnt
hatten: Sie haben ihre Ursache in der faktischen Spaltung der Euro-Zone in
wirtschaftlich starke und in schwache Länder. Der französische Ökonom Tho-
mas Piketty umschreibt das Problem ebenso kurz wie treffend: Es „fiel die
Entscheidung, zum ersten Mal in der Geschichte eine Währung ohne Staat und
eine Zentralbank ohne Regierung ins Leben zu rufen (Piketty 2015b, S. 14).“
Die Initialzündung für den Euro war nicht ökonomisches, sondern politisches
Kalkül. Seit 1999 gilt der Euro als Währung, seit 2002 auch als Zahlungsmittel.
Beim Wechsel zum Euro ging es auch um das Schicksal der Bundesbank. Sie
wurde mit Gründung der Europäischen Zentralbank zu einer Zweigverwaltung
ohne eigenes politisches Gewicht degradiert. Seit 2013 kritisiert Bundesbankprä-
sident Jens Weidmann unisono mit Regierungspolitikern lauthals die Geldpolitik
der EZB, richtet damit aber nicht mehr aus, als dass er zum Gerede über die Legi-
timität der Bank beiträgt. Bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für
einen scheidenden Präsidenten wird zwar beharrlich geleugnet, dass seine Nati-
onalität eine Rolle spielt. Tatsächlich ist das aber sehr wohl der Fall. So schlug
Draghi insbesondere aus Deutschland Skepsis entgegen, ob er als ehemaliger
Notenbankpräsident des hoch verschuldeten Italien der Richtige sei. Die Attitüde
des deutschen Klassenbesten bewirkte dann genau das Gegenteil.
Die Augen der Öffentlichkeit richten sich auf den Präsidenten der EZB. Im
Wissen, dass die Regierungen und die Finanzwelt klare Signale erwarten, gibt
der Präsident der EZB Gesicht. Nicht nur darin nimmt sich die EZB anscheinend
an der US-amerikanischen Fed ein Beispiel. Sie übernimmt auch deren Usance,
mit großer Publicity Prognosen und Zielmarken für die Zinsentwicklung im
Euroraum in die Welt zu setzen.
Die europäische Notenbank hat einen einzigen Auftrag: die Stabilität des
Euro! Ihre Unabhängigkeit ist sogar noch größer als die der früheren Bundes-
bank. Deren Unabhängigkeit basierte auf einfachem Gesetz, wobei einzuräumen
ist, dass sie aufgrund ihres Prestiges so bestandsfest war wie eine Verfassungs-
bestimmung. Rechtliche Grundlage der EZB ist der Maastrichter Vertrag in der
weiterentwickelten Version des Vertrags von Lissabon (in Kraft seit 2009). Ohne
9.2 Das Euro-Problem und das politische System der EU 183
Bis auf den Regierungschef selbst ist das Finanzressort der stärkste Akteur in
der nationalen Politik. Es erstellt den Haushaltsentwurf, erarbeitet steuerpoliti-
sche Vorhaben und tritt als Adressat der Ausgabenforderungen und personalpo-
litischen Bedürfnisse der Fachressorts auf. Diejenigen europäischen Länder, die
der Eurozone angehören, kommunizieren hauptsächlich über ihre Finanzressorts
sowohl mit der europäischen Kommission als auch in der Eurogruppe.
Wenn es in der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik um das politisch
Eingemachte geht, d. h. um die Zukunft der Regierung, setzt sich das Kalkül der
regierenden Partei(en) durch. Ob Nachfrage- oder Angebotspolitik, entscheidet
sich an der Frage, welche Koalition regiert und ob sie den Mut aufbringt, Ent-
scheidungen zu treffen, die das Mantra liberaler Fachökonomen an Universitäten,
Forschungsinstituten und in Sachverständigenräten an sich abprallen lassen.
Im Entscheidungsprozess der EU stellt sich ein aus der Diplomatie geläufi-
ges Problem. Robert D. Putnam verdeutlicht es mit einer Verhandlungssituation,
in der zahlreiche Regierungen versuchen, ein Ergebnis zustande zu bringen. Die
Regierungsvertreter erklären ihre Positionen und und modifizieren und räumen
sie gegebenenfalls. Sie nehmen einander ernst, weil sie an einem Ergebnis inte-
ressiert sind. Aber sie werden keinem Ergebnis zustimmen, dass ihnen innenpo-
litisch schadet. So wechselt ihre Perspektive stets zwischen der Zumutbarkeit für
die Verhandlungspartner und der innenpolitischen Vertretbarkeit gemeinsamer
Lösungen. Nichts anderes passiert in jeder Koalitionsregierung. Während die
Regierung in der der nationalen Politik aber den Spagat über ideologische Diffe-
renzen und verschiedene Wählerklientelen hinbekommen muss, gleicht das euro-
päische Verhandlungsgeschehen einer internationalen Superkoalition (Putnam
1988).
Weil der Beitrag individueller Regierungen im europäischen Verhandlungser-
gebnis kaum erkennbar ist, fällt es leicht, für das heimische Publikum mit dem
Finger auf die uneinsichtigen Partner zu zeigen, denen hatte nachgegeben wer-
den müssen, um ein Scheitern zu verhindern. Nach außen wird gern gepoltert,
unter der Oberfläche waltet der Kompromiss, der die Veranstaltung am Laufen
hält (Mény 2014). Entscheidungen, die nicht klar zugerechnet werden können,
nähren Skepsis gegenüber dem Brüsseler Politikbetrieb. Vor diesem Hintergrund
gerät „Europa“ zur Projektionsfläche für alle möglichen Klagen über die natio-
nale Politik, z. B. Einwanderung, drohende Jobverluste, Kriminalität etc. – also
für Beschwerden, die streng besehen nichts mit Brüssel und schon gar nichts mit
dem Euro zu tun haben. Läuft es in den Mitgliedstaaten schlecht, sinkt das Ver-
trauen in die Problemlösungsfähigkeit der Regierungen. Brüssel ist stets mitbe-
troffen (Armingeon und Ceka 2014).
9.2 Das Euro-Problem und das politische System der EU 185
auseinander. Die EZB hält es mit den Ländern auf der geplagten Südschiene, aber
sie darf es nicht laut sagen, weil die Nordschiene auf den Regeln beharrt, die in
der Vertragsbasis der Notenbank verankert sind.
Stellen wir dazu eine kontrafaktische Überlegung an: Wären die USA ein
konföderationsähnliches Gebilde souveräner Staaten mit gemeinsamer Noten-
bank, aber separater Fiskalpolitik, gäbe es dort wohl ähnliche Konflikte wie in
der Eurozone. Und umgekehrt: Denkt man sich für die Eurozone nicht nur eine
gemeinsame Geld-, sondern auch eine gemeinsame Fiskalpolitik, hätte es die
EZB mit einer singulären eurozonalen Wirtschaftsregierung zu tun. Dass es in
absehbarer Zeit dazu kommt, ist heute unrealistischer denn je.
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007
Eurozone 89,2 90,4 92,0 91,3 89,5 86,1 82,8 78,4 68,6 65,0
Deutschl. 68,3 71,2 74,9 77,5 79,9 78,7 81,0a 72,6 85,1 63,7
Österreich 84,6 85,5 84,4 81,3 82,0 82,6 82,8a 80,a 66,8 65,1
Finnland 63,6 63,6 60,2 56,5 53,9 48,5 47,1 41,7 32,7 34,0
9.3 Die Dauerkrise des Euro
Belgien 105,9 105,8 106,5a 105,4 104,1a 102,3a 99,7a 99,5a 92,5 87,0
Niederlande 62,3 65,1 67,9 67,7 66,4a 61,6a 59,3 56,9 54,8 42,7
Irland 75,4 78,6 105,2a 119,5a 119,5a 109,6a 86,3a 61,7a 42,4 23,9
Frankreich 96,0 96,2a 95,3a 92,3a 89,5a 85,2a 81,6a 78,9a 66,0a 64,3
Italien 132,6 132,3 131,0 129,0 123,3 119,5a 115,4a 112,5a 102,4a 99,8a
Spanien 99,4 99,8a 100,4a 95,4a 85,7a 69,5a 60,1a 52,7 39,4 35,5
Portugal 130,4 129,0a 130,6a 129,0a 126,2a 111,4a 96,2a 83,6a 71,7a 68,4
Griechenl. 179,0 177,4a 179,7a 177,4a 156,9a 172,0a 146,2a 126,7a 109,4a 103,1a
Übrige EU
Großbrit. 89,3 89,1 88,1 86,2 85,1 81,6 76,0 64,5 50,2 42,0
Schweden 41,6 43,9 45,2 40,4 37,8 37,5 38,3 41,0 37,5 39,0
Dänemark 37,8 40,4 44,8 44,7 45,2 46,4 42,9 40,4 33,4 27,3
Polen 54,4 51,1 50,2 55,7 53,7 54,1 53,1 49,4 46,3 44,2
Tschechien 37,2 40,3 42,2 44,9 44,5 39,8 38,2 34,1 28,7 27,8
Slowakei 51,9 52,5 53,6 54,7 52,2 43,7 41,2 36,3 28,5 30,1
189
aKonvergenzkriterium Staatsschulden von nicht mehr als 60 % verfehlt, ebenso das Kriterium von um die 3 % Neuverschuldung
Tab. 9.5 Haushaltsüberschuss/-defizit ausgewählter EU-Länder (gemessen am BIP, in v. H.) (Konvergenzkriterium Nettokreditauf-
190
nahme von 3 % bei geringfügiger Überschreitung, überschreitende Werte markiert). (Quelle: Eurostat general government deficit (-) and
surplus – European Commission, ec.europa.eu/eurostat/gm/table/do/tab=table&plugin=1, Zugegriffen: 24.02.2017. www.government-
spending.com/historicaltables/the white house, Tab. 1.2, Zugegriffen: 04.04.2017)
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007
Eurozone −1,7 −2,1 −2,6 −3,0 −3,6 −4,2 −6,2 −6,3 −2,2 −0,6
Deutschl. 0,8 0,7 0,3 −0,2 0 −1,0 −4,2 −3,2 −0,2 0,2
Österreich −1,6 −1,0 −2,7 −1,4 −2,2 −2,6 −4,5 −5,4 −1,5 −1,4
Finnland −1,9 −2,8 −3,2 −2,6 −2,2 −1,0 −2,6
Belgien −2,6 −2,5 −3,1 −3,0 −4,2 −4,1 −4,0 −5,4 −1,1 0,1
Niederlande 0,4 −1,9 −2,3 −2,4 −3,9 −4,3 −5,0 −5,4 0,2 0,2
Irland −0,6 −1,9 −3,7 −5,7 −8,0 −12,6 −32,1 −13,8 −7,0 0,3
Frankreich −3,4 −3,5 −4,0 −4,0 −4,8 −5,1 −6,8 −7,2 −3,2 −2,5
Italien −2,4 −2,6 −3,0 −2,7 −2,9 −3,7 −4,2 −5,3 −2,7 −1,5
Spanien −4,5 −5,1 −6,0 −7,0 −10,5 −9,6 −9,4 −11,0 −4,4 2,0
Portugal −2,0 −4,4 −7,2 −4,8 −5,7 −7,4 −11,2 −9,8 −3,8 −3,0
Griechenl. 0,7 −7,5 −3,6 −13,2 −8,8 −10,3 −11,2 −15,1 −10,2 −6,7
Übrige EU
Großbrit. −3,0 −4,3 −5,7 −5,7 −8,3 −7,6 −9,6 −10,2 −4,9 −2,9
Schweden 0,9 0,2 −1,6 −1,4 −1,0 −0,2 −0,1 −0,7 1,9 3,3
Dänemark −0,9 −1,7 1,5 −1,1 −3,5 −2,1 −2,7 −2,8 3,2 5,0
Polen −2,4 −2,5 −3,4 −4,1 −3,7 −4,8 −7,3 −7,3 −3,6 −1,9
Tschechien 0,6
9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007
Eurozone
Österreich −0,4 −0,7 −1,0 -0,4 0,2 -0,9 −2,2 −1,8 0,4 0,3
Finnland −0,5 −1,5 −0,9 0,3 −0,9 −0,9 −0,9 −2,7 −0,4 1,9
Belgien −0,7 −0,3 −0,3 −0,5 0,2 1,8 2,7 −2,3 0,7 3,4
9.3 Die Dauerkrise des Euro
Niederlande 0,3 2,0 1,4 −0,2 −0,6 −2,0 −2,7 −1,8 0,6 0,4
Irland 3,3 24,6 6,9 0,6 −0,6 −3,7 −2,1 −1,0 −3,3 0,5
Frankreich −0,7 −0,4 −1,0 0,1 −0,3 −1,6 −1,7 −2,9 −0,2 −2,3
Italien −1,0 −0,9 −0,3 −1,2 −2,3 −3,1 1,7 −5,5 −1,1 −1,5
Spanien 1,3 1,5 −0,2 −1,5 −2,1 −2,7 −4,1 −2,0 0 0,5
Portugal −0,5 −0,2 0,7 −0,6 −0,1 −1,9 −2,2 −2,6 −0,9 −0,8
Griechenl. −1,9 −1,5 −2,1 −2,7 −6,7 −5,4 −1,4 −1,3 −0,8 0
Übrige EU
Großbrit. −0,1 0,5 1,5 1,4 0,8 −2,2 −0,2 −1,3 −0,6 −0,7
Schweden 1,4 2,6 0,5 0,7 −0,2 −1,0 1,9 −0,4 −0,5 0,1
Dänemark −0,6 −0,7 −0,3 −0,3 −0,4 −2,5 −2,5 −0,4 −0,4 −2,5
Polen 0,8 1,9 1,7 0,8 1,1 1,3 −0,5 2,8 3,1 4,7
Tschechien 0,7 2,8 1,1 0 0,3 1,7 2,3 1,6 1,6 2,2
Slowakei 1,4 2,1 0,9 0,9 1,0 0,9 1,0 0,1 3,7 7,5
191
192 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
seit 1997 neoliberale Politik, und das mit einer Labour Party, die im europäischen
Vergleich eine starke Linke beheimatete. In der Einschätzung, dass mit linker
Politik kein Blumentopf mehr zu gewinnen sei, setzte Blair in zwar weicherer
rhetorischer Verpackung, substanziell jedoch kaum verändert die neoliberale Poli-
tik seiner konservativen Vorgänger Margaret Thatcher und John Major fort: Das
Kalkül dahinter war es, Mittelschichtwähler für die Labour Party zu gewinnen,
die in mehreren aufeinander folgenden Wahlen die Konservativen gewählt hatten.
Wie bereits Clinton in den USA wählte Blair den Überholstreifen, um die
regierenden Konservativen einzuholen. Er selbst kassierte damit gloriose Wahl-
erfolge. Die Mittelschicht wusste diesen in der Wolle gefärbten bürgerlichen
Menschen zu schätzen, seine Partei stieß er aber laufend vor den Kopf. Der linke
Labour-Flügel lehnte den Rückzug der Regierung aus Wirtschaft und Gesell-
schaft ab; der rechte Flügel war weniger an politischer Substanz interessiert und
erfreute sich eines Regierungschefs, der mit dem Rückenwind der Medien Wah-
len gewann. Nach dem Rückzug Blairs aus der Politik nahm die Zerrüttung der
Labour Party ihren Lauf. Die Partei verlor in der Folge massiv an Wählerstim-
men.
Ähnliches geschah in Deutschland. Kanzler Schröder war politikinhaltlich
pragmatisch bis opportunistisch. Mit seiner SPD, die ihn allein deshalb auf den
Schild gehoben hatte, weil er ein exzellenter Wahlkämpfer und Stimmenbringer
war, lag er notorisch über Kreuz. Sichtlich genoss er den Umgang mit Spitzen-
managern, Kapital wurde steuerlich vor Arbeit begünstigt. Transferzahlungen an
Arme und Arbeitslose wurden mit den Hartz-Reformen drastisch eingeschränkt.
Der grüne Koalitionspartner machte mit zunächst schmerzverzerrter Miene mit,
während Schröder von der SPD-Linken und dem Gewerkschaftsflügel mit Stei-
nen beworfen wurde, bis es dem Kanzler zuviel wurde und er 2005 die Entschei-
dung des Wählers suchte – und verlor! Ein Teil der Funktionäre, Mitglieder und
Wähler, die eine nachfrageorientierte und soziale Politik erwartet hätten, nahmen
Schröders Politik als Casus Belli und setzen sich zur heutigen Linkspartei ab. Die
Wählermehrheit hielt sich 2005 an die Unionsparteien und die Liberalen.
In Deutschland wie in Großbritannien übernahmen sozialdemokratische
Regierungschefs also Kernelemente neoliberaler Angebotspolitik. Nach ihrem
Abgang hinterließen sie zerrüttete Parteien, die in der Wählergunst deftig abstürz-
ten. Ein Teil der verlorenen Stammwähler machten sich erst gut zehn Jahre später
als „Modernisierungsverlierer“ wieder bemerkbar, indem sie jetzt rechtspopulisti-
schen Parteien wie in Großbritannien der UKIP und in Deutschland der AfD ihre
Stimme gaben (siehe Hobolt 2016). Einige seit Jahrzehnten existierende Parteien
kaperten die EU-feindliche Stimmung, so der französische FN und die österrei-
chische FPÖ. Die meisten Parteien dieses Genres erhielten den größten Auftrieb
9.3 Die Dauerkrise des Euro 193
erst nach der großen Weltfinanzkrise und mit den Härten der Rettungs- und Stabi-
lisierungspolitik im Euroraum (Tab. 9.7).
Die rot-schwarze Merkel-Koalition setzte Schröders Politik fort und nahm dar-
über hinaus die Sanierung des Haushalts in Angriff. Die britischen Konservati-
ven mussten nicht groß gebeten werden, dort weiterzumachen, wo Blair aufgehört
hatte. Auch die Niederlande überstanden die Krise, und auch dort hatte zuvor eine
Revision der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik gegeben. Ob diese Länder
auch ohne Angebotspolitik reüssiert hätten, sei der Spekulation überlassen.
In Frankreich und Italien, ebenso in Spanien gingen industrielle Arbeits-
plätze verloren, immer mehr gut ausgebildete junge Leute drängten auf den
Arbeitsmarkt, fanden aber keine Arbeit (Tab. 9.8). Einige suchten ihr Glück mit
Jobs in Deutschland oder im britischen Euro-Ausland. Etliche landeten im Pool
der bereits arbeitslosen Landsleute. Jobholders und Rentner indes waren einen
gewissen Einkommens- und Lebensstandard, nicht zuletzt einen sozialen Schutz
gewohnt (Tab. 9.9). Politisch verfügte Einschränkungen hätten Proteste und ver-
mutlich die Abwahl der Regierungen zur Folge gehabt. Seither ist das Ignorieren
der fiskalischen Vorgaben, die zur Stabilisierung des Euro beitragen sollen, ein
Dauerthema.
Die Wertschöpfung je Prozent der in der Industrie Beschäftigten zeigt gewal-
tige Unterschiede und unterstreicht die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften
im Norden des Kontinents (Tab. 9.10).
Blicken wir auf Frankreich: Als mit Präsident Mitterrand 1981 zugleich eine
sozialistische Parlamentsmehrheit gewählt wurde, kam es zur letzten großen Nati-
onalisierungswelle in Europa. Große Geldhäuser und Privatunternehmen wur-
den in staatliche Regie genommen, und zwar in der Hoffnung, sie würden tun,
was die Regierung dringend erwartete: unternehmerische Entscheidungen, die
Arbeitsplätze stabilisieren und neue Jobs schaffen würden. Balsam für die linke
Parteiseele! Die erhoffte Wirkung blieb aus, und der Präsident musste fünf Jahre
später zusehen, wie eine liberal-konservative Regierungsmehrheit diese Nationa-
lisierungen rückgängig machte. Vom Arbeits- und Sozialsystem und den bevor-
zugten Instrumenten der Ausgabenpolitik ließ aber auch sie – wie sämtliche
Vorgängerregierungen – die Finger. Erst mit dem hyperagilen Präsidenten Nico-
las Sarkozy (2007–2012) wehte neoliberaler Wind in die französische Wirtschaft.
Aber Frankreich tickt anders als Deutschland oder Großbritannien. Die Kräfte,
die sich gegen Arbeitsmarktreformen, Staatsrückbau, Überprüfung der Sozialleis-
tungen und Privatisierung wehrten, waren und sind dort bis heute ungleich stärker
(Kempf 2016, S. 309–319). Bei Sarkozy machten sie außerparlamentarisch mobil.
Sein glückloser sozialistischer Nachfolger François Hollande (2012–2017) mobi-
lisierte geradezu in Echtzeit innerparteilichen Protest, sobald er nur anklingen
194
Tab. 9.7 Europafeindliche und -kritische Parteien (Wahlergebnisse bei nationalen Parlamentswahlen, in v. H.)
Partei Gründung 2016 2015 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006
D AfD 2013 24,3a 4,1b
NL PVV 2006 10,0 15,5 5,9
A FPÖ 1945 20,5 17,5
SF PS 1995 17,7 19,1 4,1
F FN 1972 13,6 4,2
I MS5 2009 25,5
E UP 2014 21,1
GR Syriza 2004 16,8 26,8 4,6 5,0
GB UKIP 1991 12,6 3,1
S SD 1988 5,7 2,9
DK DF 1995 21,1 12,3 13,9
aSachsen-Anhalt
bHessen
9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
9.3 Die Dauerkrise des Euro 195
Die Wirksamkeit des Regimes hängt von der Erzwingungsmacht der nationa-
len Regierungen, Gerichte und Verwaltungen ab. Oft wird ein Regelverstoß, wenn
überhaupt, längst nicht so streng sanktioniert wie der Verstoß gegen das nationale
Recht. Internationale Regime sind im Vergleich mit dem herkömmlichen Natio-
nalstaat „second best.“ Am besten funktionieren sie noch zwischen ähnlich struk-
turierten und benachbarten Staaten.
Die EU ist ein Hybride von europäischem Staat und europäischem Regime.
Beim Binnenmarkt, dem Wettbewerb, dem Verbraucherschutz und der Agrarpoli-
tik sowie in einigen anderen Bereichen haben die Mitgliedstaaten ihre Kompeten-
zen unwiderruflich an die Union abgetreten.
9.3 Die Dauerkrise des Euro 197
Hier gibt es einen realen Eurostaat. Viele andere Bereiche – Sicherheit, Justiz,
Grenzschutz, Bildung – sind regimeförmig organisiert. Bis heute ziehen es neun
Mitgliedstaaten vor, die eigene Währung und die volle Budgetsouveränität zu
behalten.
Die Euro-Zone ist noch einmal ein Hybride in der hybriden Gesamtkonstruk-
tion. Ihr fiskalpolitischer Unterbau gleicht einem Regime. Eine eurozonale Wirt-
schaftsregierung, die einen eurozonalen Haushalt beschließen könnte, in ganz
ähnlicher Weise, wie die EZB einen gemeinsamen europäischen Leitzins verord-
net, gibt es nicht, obgleich die Idee immer mal in die Debatte gelangt. Zuletzt
wurde sie vom jüngst (2017) gewählten französischen Präsidenten Macron in der
Variante eines eurozonalen Investitionshaushalts und eines europäischen Finanz-
ministers ins Spiel gebracht. Doch tatsächlich sind jeder Regierung die Bürger,
Tab. 9.11 Anteil der Staatsausgaben am BIP (in v. H., über 50 % markiert). (Quellen: Staatsausgaben im Verhältnis zum BIP, tradinge-
198
die sie zu vertreten hat, wichtiger als europäische Gesamtlösungen, und diese las-
sen sich meist schon wegen ihrer Komplexität nicht bürgernah kommunizieren.
Europäische Lösungen nützen aus der Natur der Sache heraus einigen Staaten
mehr als anderen. Die mühsamen Beschlüsse, die für den Fiskalraum der Euro-
zone überhaupt zustande kommen, sind das Ergebnis zäher und langer Verhand-
lungen (dazu: Bilbao-Ubillos 2014).
Der eurozonale Berg kreißt und gebiert selten mehr als die sprichwörtliche
Maus. Europäische Politik ist also eine Abfolge minimaler Schnittmengen natio-
naler Interessen. Und selbst das Beschlossene lässt noch Raum für Verstöße, die
politisch nicht viel kosten. Harte Sanktionen der Unionsorgane bergen stets das
Risiko, in den betroffenen Ländern – noch stärker – anti-europäische Stimmun-
gen anzuheizen.
Die Strukturen der Eurozone sind auf Konflikt abonniert – auf der budgetä-
ren Seite das dauerhafte Balancieren am Rande der Anwendungsverweigerung
gemeinsamer Beschlüsse, auf der monetären Seite die europäische Notenbank mit
all ihrer Ellbogenfreiheit.
Warum dem so ist, erklärt sich aus den grundlegenden Zielen der nach außen
gerichteten Politik jedes Staates. Hier handelt es sich um die äußere Sicherheit,
die innergesellschaftliche Wohlfahrt und die Integrität des politischen Systems
(exemplarisch: Czempiel 2012, S. 6 f.). In der Union als demokratische Werte-
gemeinschaft dürften die Ziele der Mitgliedsländer und die der Union als Gan-
zes übereinstimmen. In Fragen der Sicherheit sieht es schon etwas anders aus,
insbesondere in Hinsicht auf die sorgenvollen Blicke Polens, der baltischen Staa-
ten, Schwedens und Finnlands auf den russischen Nachbarn. Die Probleme der
Eurozone sind in der Dimension der gesellschaftlichen Wohlfahrt angesiedelt.
Maßgeblich entscheidet die kollektive Wahrnehmung von Wohlfahrtsgewinn und
Wohlfahrtsverlust darüber, welche Parteien in der nationalen Politik den Regie-
rungszuschlag erhalten. Ausgerechnet der europäische Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt und der Fiskalpakt, die dazu bestimmt sind, die gemeinsame Währung
fiskalpolitisch zu flankieren, beanspruchen ein hohes Maß an Integration. In der
Demokratie gibt es kein kurzfristigeres Kalkül als das der nächsten anstehenden
Wahl. Droht den Regierenden die rote Karte, weil die Lebensumstände teurer
oder unsicherer werden, wird es schwierig mit europäischen Maßgaben, die keine
Besserung verheißen. Die Eurozone ist das ambitionierteste Integrationsprojekt
der EU, gleichzeitig derzeit aber auch dasjenige mit dem größten Bremspotenzial
und der drohenden Gefahr eines Scheiterns.
Die schier unüberschaubare Literatur zur Europäischen Union stimmt darin
überein, dass die EU selbst dort, wo es um die „europastaatlichen“ Politikberei-
che geht, weniger in der Art innerstaatlicher Politik funktioniert als in derjeni-
gen einer Regierungszusammenarbeit. Der Grund liegt in der starken Stellung des
200 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
Die Spekulationskrise in den USA zog nach 2008 auch die europäische Wirt-
schaft nach unten. Europäische Geldhäuser bis hinunter zu deutschen Landes-
banken und größeren Sparkassen hatten sich bis dahin – unabhängig von den
Entwicklungen in den USA – im gleichen Spiel versucht wie die risikofreudigen
Finanzakteure. Der Finanzplatz London ist (noch) der Tummelplatz spekulativer
Finanzaktivitäten in Europa. US-Institute mit ihren Niederlassungen im regulie-
rungsschwachen London haben das Anrecht auf eine EU-Banklizenz, mit der sie
im Euroraum munter Geschäfte machen dürfen. Kontinentaleuropäische Groß-
banken drehten an der Wall Street und in der britischen Hauptstadt mit am großen
Rad und scheffelten mit den dortigen Investmentbank-Niederlassungen eine Zeit
lang großes Geld. Im deutschen Börsenhandel sind heute 30 bis 40 Computer-
virtuosen aktiv. Sie kontrollieren im Hochgeschwindigkeitshandel die Hälfte des
Gesamthandels (SZ, 23.10.2016, S. 21).
Die große Krise in den USA verhagelte den europäischen Finanzakroba-
ten gründlich das Geschäft. In Europa trat die Krise als allgemeine Bankenkrise
zutage (Schwartz 2016, S. 224–229). Europa gab sogar den Startschuss für den
weltweiten Krisentanz. BNP Paribas, die größte französische und eine der drei
9.4 Die Banken- und Eurokrise 201
Die vorerst letzte Stufe der europäischen Krise zündete, als Banken, darunter
auch große deutsche Banken und Versicherungen keine griechischen Staatsanlei-
hen mehr zu kaufen oder das Ausfallrisiko nicht mehr zu besichern drohten. Das
Land stand hoffnungslos überschuldet da. In der Vergangenheit hatten europäi-
sche, teils auch außereuropäische Banken großzügig griechische Staatsanleihen
erworben, mit denen sich das bereits maßlos überschuldete Land von Jahr zu Jahr
über die Runden brachte. Die Bonität des Euro, hinter dem als Garantiemächte
die starken Volkswirtschaften im Norden der Union standen, verhieß kein großes
Ausfallrisiko. Als Athen trotz allem in Zahlungsschwierigkeiten geriet, wurden
die europäischen Banken und Regierungen hellhörig. Die Geschehnisse in den
USA waren in frischer Erinnerung. Als die Kreditwürdigkeit großer, aber kriseln-
der Volkswirtschaften wie Italien und Spanien ins Gerede kam, rauschten grie-
chische Staatspapiere in die Ramschzone. Nach den Verlusten in den USA drohte
den Banken eine weitere Abschreibungswelle, wenn Griechenland seine Kredit-
zinsen nicht mehr aufbringen konnte (Lewis 2012, S. 62–87).
Wie erst 2009 offenbar wurde, als die griechische Regierung ihre Finanzen
offenlegen musste, hatte sich das Land mit falschen Daten in die Euro-Zone
gemogelt. Steuern wurden so gut wie keine gezahlt, öffentliche Verwaltungen
und Unternehmen beschäftigten Massen von Mitarbeitern, die eigentlich nur
aufgabenfrei alimentiert wurden. Mangels sonst unzureichender sozialer Siche-
rungssysteme war die Rente Einkommensquelle auch jüngerer und arbeitsloser
Familienmitglieder. Mit dem Eintritt in die Euro-Zone, der einer Aufwertung der
Landeswährung gleichkam, konnten die Griechen günstig Importprodukte ein-
kaufen, waren aber außerstande, das dafür verausgabte Geld durch eine entspre-
chende Wirtschaftsleistung zu verdienen.
Eine Möglichkeit, der Situation kurz und schmerzhaft Herr zu werden, wäre
es gewesen, Griechenland aus dem Euro-Raum zu entlassen. Die Rückkehr zur
Drachme hätte die Wirkung einer massiven Abwertung gehabt. Athen hätte seine
Schuldenlast mindern und vorteilhafter mit den mediterranen Agrarprodukten Ita-
liens und Spaniens konkurrieren können. Für diese Rosskur hätten die Griechen
indes mit steigenden Konsumentenpreisen zahlen müssen. Längst hatte sich der
Lebensstandard auf den qua Euro preisgünstigen Konsum von Produkten einge-
pendelt, die im industriestarken Teil des Euro-Raumes hergestellt wurden. Die
Athener Regierung verwahrte sich gegen ein Ausscheiden aus dem Euro-Raum.
Auch die übrigen Regierungen wollten das Ausscheiden aus der Eurozone ver-
hindern, um einer Ansteckung anderer schwacher Euroländer vorzubeugen: Grie-
chenland als Nagelprobe für die internationalen Banken, dass Euroland seine
angeschlagenen Mitglieder nicht fallen ließ!
204 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
Banken und Regierungen ließen sich 2010 überzeugen, die griechische Regie-
rung mit Stützungskrediten solvent zu halten. Als Gegenleistung sollten Staat und
Wirtschaft grundlegend reformiert werden. Mit großen Mühen organisierten euro-
päische Regierungen, die EZB und auch der Internationale Währungsfonds eine
Rettungsaktion. Sie half in erster Linie den Banken und der griechischen Regie-
rung. Bei den griechischen Bürgern machten sich die Bedingungen für diese Hilfe
in Entlassungen, drastischen Kürzungen und Gehaltsminderungen im öffentlichen
Dienst, in steigenden Steuern und Lebenshaltungskosten, in Firmenpleiten und in
extremer Jugendarbeitslosigkeit bemerkbar.
Drastisch fielen auch die Konsequenzen der Rettungsprogramme für Irland
und Spanien aus, unter anderem mit harten Einschnitten in die Sozialbudgets.
Diese Länder waren im Prinzip besser aufgestellt als Griechenland (Pavolini et al.
2015). Hier lagen die Ursachen bei den Banken und den allzu späten Versuchen
der Regierungen, eine weitere Zuspitzung längst bekannter Probleme noch abzu-
biegen. Irland schwamm sich recht schnell frei, Spanien brauchte etwas länger.
Das griechische Problem war ungleich größer. Mit den griechischen Banken
hat es nichts, sehr viel aber mit einer gewachsenen politischen Kultur und mit
dem jahrzehntelangem Fehlverhalten der Regierungen zu tun. Beide Gefahren-
quellen sind sogar in Italien aktiv. Lasche Bankenaufsicht und leichtfertige Kre-
ditvergabe ließen 2016 das Reden über eine weitere Bankenkrise aufkommen.
Italien beantragte und erhielt von der EU-Kommission die Erlaubnis zur Rettung
einer Traditionsbank, die nach den Kriterien der erst kurz zuvor beschlossenen
europäischen Bankenunion keine systemische Bedeutung hatte, aber als Pars pro
toto in den gleichen Problemen steckte wie die übrigen Banken des Landes. Die
Bank Monte del Paschi di Siena hatte sich selbst in die Tinte geritten, als sie aus
Gefälligkeit zahlreiche Kredite an meist kleinere Kunden vergeben hatte, ohne
sich groß um Sicherheiten zu kümmern und ernsthaft die Risiken abzuschätzen.
Wegen einiger Besonderheiten des italienischen Bankenrechts hätten eigentlich
zunächst die Sparer herangezogen werden müssen, die nicht einfach nur als Spa-
rer, sondern auch als Anteilseigner geführt wurden. Somit fehlten auch die forma-
len Voraussetzungen für den Einsatz öffentlicher Gelder, um die Bank zu retten
(SZ, 26.10.2016, S. 18; 07.12.2016, S. 19). Der Zusammenbruch der Bank hätte
allerdings die regionale Wirtschaft und zahlreiche Sparer/Anleger hart getrof-
fen, und das in einer politischen Stimmungslage, in der die Regierung, bedrängt
von euroskeptischen Parteien, neue Probleme schwerlich verkraften konnte (SZ,
30.12.2016, S. 4). Die EZB und die Europäische Kommission erlaubten einen
innenpolitisch vernünftigen und nachvollziehbaren Rettungsplan. Mit Blick auf
die Eurozone als Regelgemeinschaft war er nur ein weiteres Beispiel für das Aus-
fasern der Eurozone in eine Ausnahmengemeinschaft.
9.4 Die Banken- und Eurokrise 205
Zahlungskrise zusteuert. Das Empfängerland muss dafür die von den eurozona-
len Regierungen aufgetragenen Bedingungen erfüllen. Es handelt sich bei diesem
Mechanismus um eine eurozonale Spielart des Internationalen Währungsfonds
(siehe oben, Abschn. 4.2.6).
Im Fall Griechenland handelte es sich bei den Vorbedingungen für Rettungs-
kredite und den Verbleib im Euroraum um die im Großen und Ganzen gleiche
liberale Rezeptur, wie sie das Programm des Washington-Konsenses vorschreibt,
bevor der IWF Geld locker macht, damit eine hoffnungslos verschuldete Regie-
rung wieder zahlungsfähig wird. Wenn der IWF überschuldeten Ländern auf der
südlichen Halbkugel aus der Klemme hilft, achtet er darauf, dass den Gläubigern
ein Teil der Schulden erlassen wird, sodass der Patient imstande bleibt, den Zins
für die Restschuld zu bezahlen (Schuldentragfähigkeit).
Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass der ESM zu einem Stabilisierungs-
fonds für die Eurozone ausgebaut werden könnte. Schon jetzt heißt es, der ESM
besitze genügend Mittel, um künftige Krisen ohne die Fremdbeteiligung des IWF
bewältigen zu können (SZ, 20.02.2017, S. 17; 22.02.2017, S. 17). Weil der ESM
als ein Instrument, das auf restriktive Haushaltsführung ausgelegt ist, dem Veto-
vorbehalt Deutschlands unterliegt, das von der Idee einer Schuldentragfähigkeit
wenig hält, zeigen die eurozonalen Partner wenig Begeisterung (SZ, 03.05.2017,
S. 15).
Bei der Griechenland-Rettung schalteten die größten Geberländer, allen
voran Deutschland, auf stur, um nicht auf dem Versprechen sitzen zu bleiben,
der nationale Steuerzahler – und Wähler – bekomme sein Geld auf Heller und
Pfennig zurück und auf keinen Fall werde Deutschland für die Schulden ande-
rer Euroländer aufkommen. Aus eben diesem Grund weigert sich der Internati-
onale Währungsfonds seit 2016, wie von der Bundesregierung gewünscht, sich
an den notwendigen weiteren Griechenland-Hilfen zu beteiligen – eine Idee, mit
der sich sogar der Chef des ESM, Klaus Regling, anzufreunden vermochte (SZ,
02.12.2016, S. 17; 07.12.2016, S. 1). Der IWF wurde anfänglich überhaupt nicht
nur beteiligt, um Geld zuzuschießen, sondern auch deshalb, weil er das Image des
„harten Sanierers“ hatte. Die Aufwertung des ESM zu einem Europäischen Wäh-
rungsfonds, so die Erwartung, würde Schuldenländern mit den gepoolten Mitteln
der Eurozone in gleicher Weise aus der Klemme helfen und sie als Gegenleistung
auf defizitminderne Schritte verpflichten. Idealerweise wäre ein Europäischer
Währungsfonds also ein Automatismus in der Regie europäischer Finanzexper-
ten, der Politiker aus der Schusslinie nimmt und mit dem die Fiskalpolitik im
Euroraum selbsttätig gleichgerichtet wird! Wir stoßen wieder auf das ideologi-
sche Moment in aller Wirtschaftspolitik.
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 207
Blicken wir noch auf die großen Altmitglieder der EU, Frankreich und aber-
mals Italien. Ersteres ist ökonomisch im Prinzip gesund, Letzteres auch, aber
nicht in seiner südlichen Peripherie (Mezzogiorno). Frankreich hat das Problem
sozialer Besitzstände, die das Budget belasten und Reformen zur politischen Risi-
kotour machen (Kempf 2017, S. 312 f.), Italien das Problem chronisch labiler
Regierungen und eines seit mehr als zwei Jahrzehnten volatilen Parteiensystems,
das den rasch wechselnden Regierenden zu wenig Zeit für einen aussichtsreichen
Reformkurs lässt (Köppl 2007, S. 80–100, 149–154). In Anbetracht der Tatsache,
dass diese politischen Schwergewichte gleich zweimal die fiskalische Latte der
Staatenunion reißen (Tab. 9.4, 9.5 und 9.12), drückt die Europäische Kommission
beide Augen zu. Lässt sie die Dinge laufen, rücken ihr bald die Klassenbesten auf
den Pelz. Diese hätten es am liebsten, wenn sich per Vertragsautomatismus alles
von selbst regeln würde. Aber die Dinge liegen anders und provozieren fortlau-
fend politische Abwehrreflexe.
Die deutsche Politik für die Eurozone folgt dem ordoliberalen Paradigma:
Beständigkeit und Regeltreue als Basis aller Wirtschaftspolitik (Nedergaard
und Holly 2015, S. 1107 f.). Um das Marktergebnis selbst hat sich die Regie-
rung nicht zu kümmern. Bedeutung hat der Ordoliberalismus überhaupt des-
halb, weil Deutschland in der EU ein so großes Gewicht hat (Nedergard und
Snaith 2015). Deutschland kann mit dieser Devise gut leben. Die meisten übri-
gen Euroländer – Südländer – sind aber erstens wirtschaftlich schwächer und
zweitens haben sie eine andere wirtschaftspolitische Tradition (siehe auch Hall
2014). Deutschland hatte die D-Mark bis zur Einführung des Euro dreimal
aufgewertet (1961, 1969, 1981). Das Frankreich der V. Republik verzeichnete
vier Abwertungen (1958, 1969, 1981, 1983). Italien brachte es selbst noch im
Rahmen des Vorläuferregimes des Euro auf drei Abwertungen (1981, zweimal
1992). In den fast schon notorischen Abweichungen von den harten Konver-
genzkriterien der Währungsunion zeigt sich, dass die Spannungen, die früher
durch eine Abwertung gelöst wurden, unter der Oberfläche nach wie vor viru-
lent sind.
Die strukturellen Anpassungen, die von den Problemländern der Eurozone
erwartet werden, stehen im Zeichen der neo- und ordoliberalen Hegemonie. Hier
und dort wird sie noch von schwachen linken und rechten Gegenentwürfen kon-
terkariert, die europakritisch oder gar EU-feindlich daherkommen (Wörth 2016).
Tab. 9.12 Defizitentwicklung ausgewählter Länder in der Eurozone, Überschreitung der Dreiprozentgrenze (in v. H.). (Quelle: siehe
208
Tab. 9.11)
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007
Eurozone −3,6 −4,2 −6,2 −6,3
Deutschland −4,2 −3,2
Österreich −4,5 −5,4
Belgien −3,1 −4,2 −4,1 −4,0 −5,4
Niederlande −3,9 −4,3 −5,0 −5,4
Irland −3,7 −5,7 −8,0 −12,6 −32,1 −13,8 −7,0
Frankreich −0,4 −3,5 −4,0 −4,0 −4,8 −5,1 −6,8 −7,2 −3,2
Italien −3,7 −4,2 −5,3
Spanien −1,5 −5,1 −6,0 −7,0 −10,5 −9,6 −9,4 −11,0 −4,4
Portugal −4,4 −7,2 −4,8 −5,7 −7,4 −11,2 −9,8 −3,8
Griechenland −7,5 −3,6 −13,2 −8,8 −10,3 −11,2 −15,1 −10,2 −6,7
Übrige EU
Großbritannien −1,3 −2,7 −2,7 −5,3 −4,6 −6,6 −7,2 −1,9
Schweden −0,3
Dänemark −0,5 −0,2 −2,0
Polen −0,4 −1,1 −0,7 −1,8 −2,3 −2,3 −0,6
Tschechien −0,9 −1,4 −2,5
Slowakei −1,3 −1,3 −4,5 −4,8
9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 209
Die EZB errechnet eine gemeinsame Inflationsrate für den Euro-Raum. Sie
nivelliert Preisniveaus, die sich ohne den Euro von Land zu Land erheblich unter-
scheiden würden. Ein „weicher“, unterbewerteter Euro würde den Export der
Südländer in die Länder des Nordens begünstigen, Arbeitsplätze schützen, die
Importkosten drücken und Steuern produzieren (Nowak und Ryc 2015, S. 243 f.).
Einerseits erzielt der „harte“ Euro die gegenteilige Wirkung. Um ihr auszu-
weichen, suchen die Regierungen Wege, um ungeachtet des hart gemanagten
Euro das Leben erträglicher zu machen. Teils ignorieren sie souverän die vertrag-
lichen Verschuldungsgrenzen, um ihre Haushalte ohne – noch schmerzlichere –
Einschränkungen für die Bürger zu finanzieren. Der Euro ist aber andererseits
nicht mehr so hart wie früher die D-Mark. Neben Gründen struktureller Art
begünstigt der für Deutschland „weichere Euro“ zusätzlich die Exportleistung des
traditionell exportstarken Landes (Tab. 9.12, 9.13 und 9.14).
Die Bundesregierung verweigert sich konstant dem Wunsch der Partnerländer,
mehr öffentliche Investitionen zu tätigen, von denen auch Unternehmen in ande-
ren Euroländern profitieren könnten. Für die Bundesregierung hat die „schwarze
Null“ Priorität. Die Beispiele wirtschaftlich florierender Nicht-Euroländer wie
Dänemark und Schweden, die es vorgezogen haben, der Eurozone fernzublei-
ben, zeigen indes, dass sich öffentliche Investitionen und maßvolle Verschuldung
keineswegs im Wege stehen (Tab. 9.15). Die nordischen Staaten folgen aller-
dings einer anderen Wirtschaftsphilosophie. Steuern sind dort kein Unwort, das
Einkommen ist gleicher verteilt. Das mittlere Einkommen des im Export super-
starken Deutschland liegt deutlich unter demjenigen anderer starker Euroländer
(Tab. 9.16). Die Ursachen dieser Unterschiede deuten auf egalitäre politische Kul-
turen und die allgemeine Akzeptanz hoher Sozialstaatsstandards. Ein Ausgleich
der Preis- und Beschäftigungsschwankungen wird bei den nördlichen Nachbarn
Deutschlands mit einer Art automatischen Stabilisatoren gesucht, d. h. mit Pro-
grammen, die bei steigender Arbeitslosigkeit die Haushaltsprioritäten verschie-
ben und bei allzu starkem Preisauftrieb steuerlich Kaufkraft abschöpfen (Jochem
2012, S. 163). Letztlich beherzigen sie konsequent den alten Keynes, der im Kri-
terienkatalog der Eurozone wenig Platz findet.
Ein egalitärer wirkendes Steuersystem könnte in der Eurozone helfen, öffent-
liche Investitionen ohne neue Schuldenaufnahme zu steigern. In Berlin ist es kein
Thema, ganz im Gegenteil: Kommt die Rede auf Steuern, geht es meist darum,
sie zu reduzieren. Nirgendwo sonst im europäischen Raum ist die Eintritts-
schwelle in die Spitzenbesteuerung so großzügig bemessen wie in Deutschland
(Tab. 9.17).
Vor diesem Hintergrund hat sich ein Dauerstreit entwickelt, ob die EU eine
Solidargemeinschaft ist, in der die Starken für die Schwachen einstehen, oder
210
Tab. 9.13 Inflation, jährliche Steigerung in den Ländern der Eurozone (in v. H.). (Quelle: Eurostat consumer prices – inflation and
comparative price levels, ec.europa.eu/eurostat/…/Index…consumer_prices_-_inflation_and_comparative_prices; Zugegriffen:
24.02.2017. wko.at/statistik/eu/europa-inflationsraten.pdf, Zugegriffen: 01.05.2017)
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007
Eurozone 0,2 0 0,4 1,4 2,5 2,7 1,6 0,3 3,3 2,1
Deutschland 0,4 0,1 0,8 1,6 2,1 2,5 1,1 0,2 2,8 2,3
Österreich 1,0 0,8 1,5 2,1 2,6 3,6 1,7 0,4 3,2 2,2
Finnland 0,4 −0,2 1,2 2,2 3,2 3,3 1,7 1,6 3,9 1,9
Belgien 1,8 0,8 0,5 1,2 2,6 3,4 2,3 0 4,5 1,8
Niederlande 0,1 0,2 0,3 2,6 2,8 2,5 0,9 1,0 2,2 1,6
Irland −0,2 0 0,3 0,5 1,9 1,2 −1,6 −1,7 3,1 2,9
Frankreich 0,3 0,1 0,6 1,0 2,2 2,3 1,7 0,1 3,2 1,6
Italien −0,1 0,1 0,2 1,2 3,3 2,9 1,6 0,8 3,5 2,0
Spanien −0,3 0,6 1,2 1,5 2,4 3,0 2,0 −0,2 4,1 2,8
Portugal 0,6 0,5 −0,2 0,4 2,8 1,6 3,4 0,9 2,7 2,4
Griechenland 0 −1,1 −1,4 −0,9 1,0 3,1 4,7 1,3 4,2 3,0
9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
Tab. 9.14 Leistungsbilanzen der Länder der Eurozone (in Mrd. Euro) (Im Verhältnis zum BIP (in v. H.)). (Quelle: Balance of pay-
ments statistics, Tab. 2, ec.europa.eu/eurostat/statistics…/Balance_of_payments_statistics. Zugegriffen 24.02.2017)
2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008
Eurozone 329,5 251,3 215,2 128,5 39,9 36,1 17,3 −105,7
Deutschland 8,5 257,0 212,9 190,4 193,6 164,8 144,9 141,2 143,3
Österreich 2,6 −1,0 −0,7 6,3 4,7 5,1 8,4 7,5 13,2
Finnland 0,1 0,3 −1,9 −3,3 −3,9 −3,5 2,3
Belgien 0 0,1 −0,9 −0,2 −0,2 −4,1 6,4 −3,8 −3,5
Niederlande 9,1 61,9 62,7 65,8 69,6 58,6 46,4 35,9 26,0
Irland 4,4 9,5 6,8 5,6 −0,4 −2,0 −1,3 −7,0 −10,8
Frankreich 0 0,9 −19,7 −17,1 −25,5 −21,2 −16,7 −16,9 −19,0
Italien 2,2 35,8 29,7 14,1 −6,9 −50,4 −55,8 −30,5 −46,8
Spanien 1,4 15,1 10,2 15,6 −2,4 −34,0 −42,4 −46,2 −103,3
Portugal 0,5 0,8 0,2 2,5
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien
Tab. 9.15 Aufteilung des Investitionsanteils nach Anteil am BIP in der Eurozone und ausgewählten weiteren EU-Ländern (in v. H.).
(Quelle: National accounts and gdp, Tab. 5, ec.europa.eu/eurostat/statistics…/National_accounts_and_gdp. Zugegriffen 24.02.2017)
Staat Unternehmen Privathaushalte
2005 2010 2015 2005 2010 2015 2005 2010 2015
D 1,9 2,3 2,2 11,5 11,4 11,5 5,7 5,8 6,4
A 2,9 3,2 2,9 14,8 13,0 14,2 5,4 5,4 5,2
B 2,1 2,3 2,4 13,9 13,4 15,0 6,2 6,2 5,9
NL 3,7 4,2 3,5 9,5 10,3 10,9 7,4 5,3 5,1
FIN 3,7 3,7 3,9 15,2 14,7 17,1 7,0 6,5 5,6
IRL 3,5 3,4 2,0 12,9 10,6 14,0 13,5 3,8 4,0
F 4,0 3,2 3,5 11,3 11,8 12,5 6,4 6,1 5,6
I 3,0 2,9 2,3 10,7 9,9 8,5 7,5 7,2 5,8
E 4,2 4,7 2,1 16,4 12,5 14,4 9,3 5,3 3,1
P 4,1 5,3 2,2 12,5 10,4 9,8 5,8 4,5 3,1
GR 4,4 3,7 3,9 5,8 6,6 4,8 10,6 7,3 3,0
GB 1,5 3,2 2,6 10,3 8,4 9,4 5,7 4,1 4,9
S 4,1 4,5 4,3 15,2 14,7 17,1 2,9 2,0 3,8
DK 2,7 3,3 3,8 11,7 10,5 11,2 6,7 4,5 4,1
9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 213
aber eine blanke Regelgemeinschaft, deren Regeln von den Starken bestimmt
werden. Keine zehn Jahre, nachdem der Euro auch als Zahlungsmittel eingeführt
war, zeigte sich ein Missverständnis, das bereits in der Konstruktion des Eurorau-
mes angelegt war.
Deutschland wollte und will entschieden keine „Transferunion“, sondern
vielmehr fiskalpolitisch den Maßstab für die übrigen Euroländer setzen. In den
Krisenjahren nach 2010/2011 machte die Bundesregierung das noch einmal deut-
lich. Mit Unterstützung gleichgesinnter Regierungen wurden die Maastricht-Kri-
terien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Rahmen eines Fiskalpaktes mit
Sanktionsmöglichkeiten gegen Verstöße angespitzt. Der Fiskalpakt ist seit 2012
in Kraft. Darin haben sich die Regierungen verpflichtet, jährlich nicht mehr als
0,5 % Neuschulden aufzunehmen, um mittelfristig auf das Maastricht-Kriterium
von maximal drei Prozent Haushaltsdefizit zu kommen. Für die Realisierung die-
ser sogenannten Schuldenbremse müssen die Verfassungen angepasst werden.
214 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
Der Strafkatalog bei Verstößen reicht vom Shaming durch eine offizielle Beob-
achtung der Europäischen Kommission bis hin zu Strafzahlungen. Wie immer
man das bewerten mag, zeigt das Bild der Nettoschuldenaufnahme der Länder der
Eurozone, dass in den letzten Jahren immer mehr Länder unter der Dreiprozent-
grenze bleiben (Tab. 9.12).
Das zweite Schwergewicht in der Eurozone, Frankreich, erwartet beim Errei-
chen der Wachstums- und Haushaltsziele eine langsamere und flexiblere Gangart
(Kuttner 2013, S. 129 f.). Es hat eine der seit Jahren höchsten Staatsquoten im
Euroraum abzubauen (Tab. 9.11). Zwar bewegt sich Frankreich bei der Reform
seiner sozialstaatlichen Strukturen in die vom Fiskalpakt verlangte Richtung.
Ungeachtet der Tatsache, ob die Gründe in der innerfranzösischen Entwicklung
oder aber darin liegen, sich nicht ohne Not einer dem Ansehen abträglichen Kri-
tik aus Brüssel auszusetzen, ist doch immerhin bemerkenswert, dass es die Pari-
ser Regierung sorgsam vermieden hat, bei diesen Reformen Europa überhaupt zu
erwähnen (Hassenteufel und Palier 2015). Ein schönes Beispiel dafür, dass sich
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 215
Institutionen zählt bei der EZB nicht, was sie darf, sondern was sie tut (V. A.
Schmidt 2016).
Im Rahmen der OMTs (Outright Monetary Transactions) kauft die Europa-
bank seit 2012 Staatsanleihen. Sie versorgt die Krisenländer so mit Geld, greift
damit in den fiskalpolitischen Bereich über und konterkariert im Übrigen den
Zweck des ESM, der mit seinen strikten Bedingungen ja eigentlich Haushaltsdis-
ziplin erzwingen soll (Illing 2017, S. 181–189) Die Prinzipienreiter in der euro-
päischen Beletage sehen es nicht gern. Zumindest kostet diese Eigenmächtigkeit
den deutschen Finanzminister und seine gleichgesinnten Kollegen zunächst nichts
(Steinberg und Vermeiren 2016).
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 217
Das Dilemma der ordoliberalen Rezeptur ist offensichtlich: Falls sie denn
wirkt und bis sie wirkt, und falls sie denn überhaupt die richtige ist, haben die
Bürger der betroffenen Länder zunächst noch größere Härten zu gewärtigen. Die
unmittelbaren Lasten werden von Familien getragen, deren Einkommen sinken,
von Rentnern, die den Gürtel noch enger schnallen müssen, und von Arbeitern,
die im Zuge von Rationalisierung und Privatisierung ihre Jobs verlieren. Ob die
Rechnung dann schließlich aufgeht, ist noch eine andere Frage.
In diesem Dilemma steht Ideologie gegen Ideologie: der ordnende, sonst
aber passive Staat gegen den Staat, der mit seinen – geliehenen – Finanzmitteln
Anreize setzt, damit potenzielle Investoren in Produktion und Mitarbeiter inves-
tieren. Würde den schwächeren Ländern die Möglichkeit belassen, ihre Ver-
schuldungslinien zu überschreiten und beschäftigungswirksame Programme
aufzulegen, und hätte dies tatsächlich die gewünschte Wirkung, wäre ein größe-
rer Preisauftrieb im gesamten Euroraum kaum zu verhindern. Die Wirtschaftspo-
litik der Euro-Zone stünde vor der Phillips-/Schmidtschen Alternative, weniger
Arbeitslosigkeit oder weniger Preisstabilität (siehe oben, Abschn. 2.2.2).
In dieser Situation kommt es auf die EZB an. Im Rat der EZB haben die Kri-
senländer und ihre Sympathisanten eine Mehrheit (siehe oben, Abschn. 4.2.5).
Seit einigen Jahren bietet sie mit einem mit einem Leitzins von zuletzt null Pro-
zent den Banken billigste Kredite an – in der Hoffnung, dass Konsumenten und
Investoren zugreifen. Sie berechnet sogar Abschläge auf Zentralbankkredit, der
von den Banken nicht abgerufen wird. Zuletzt hat die EZB, wie oben beschrie-
ben, sogar etwas getan, das sie eigentlich gar nicht darf: Seit 2012 kauft sie
Staatsanleihen der Schuldenländer, um dem eurozonalen Süden die Finanzierung
seiner Haushalte zu erleichtern (Grauwe 2016, S. 124). Seit Juni 2016 kauft sie
ferner Anleihen großer europäischer Unternehmen. Diese kommen damit noch
günstiger an Geld als mit den niedrig verzinsten Bankkrediten (SZ, 01.09.2016,
S. 14; 08.11.2016, S. 17).
Über allem steht das Ziel, die Inflation im Euro-Raum auf die Zielmarke von
zwei Prozent zu bringen, also eine Nachfrage zu generieren, die den Markt bes-
ser räumt. Weil das partout nicht klappt, hagelt es Warnungen an die EZB, die
Nullzinspolitik aufzugeben, weil sonst die Gefahr einer Preisblase an den Immo-
bilien- und Aktienmärkten drohe (SZ, 01.10.2016, S. 21; 31.01.2017, S. 15).
Die effektivere Art der Nachfrageförderung wären öffentliche Investitionen. Sie
sind aber Sache der Regierungen, und die Regierungen der Länder, bei denen sie
angebracht wären, werden wiederum bedrängt, die Verschuldungsgrenzen der
europäischen Verträge einzuhalten. Die Europäische Kommission begleitet das
Geschehen zunehmend mit einem Augenzwinkern, wenn diese Länder dann doch
wieder am Kapitalmarkt anschreiben lassen.
218 9 Die Eurozone, die europäische Wirtschaftspolitik und die EZB
Die EZB ist für stabile Preise verantwortlich. An der Stabilität der Preise kann
es in der Eurozone keine Zweifel geben. Schließlich arbeitet die Notenbank bei
einer Inflation von zuletzt null Prozent darauf hin, überhaupt auf zwei Prozent
Inflation zu kommen (SZ, 27./28.08.2016, S. 23). Deutschland mit seiner starken
Wirtschaft weigert sich um des ausgeglichenen Bundeshaushalts willen konstant,
öffentliche Investitionen zu tätigen, die im eigenen Land und bei den Nachbarn
Kaufkraft erzeugen könnten (SZ, 27./28.08.2016, S. 4). Das Argument wird neu-
erdings dadurch unterfüttert, Geld sei schon da, man könne es nur nicht ausgeben,
weil es an Verwaltungskapazität fehle (Böll et al. 2017). Ein schönes Argument,
fehlt es an Fachleuten doch schließlich deshalb, weil ihre Stellen den Spardikta-
ten für den öffentlichen Dienst zum Opfer gefallen sind!
Vor diesem Hintergrund fährt die EZB ein Ersatzprogramm für wirtschafts-
politische Entscheidungen, die eigentlich von Regierungen getroffen werden
müssten (SZ, 16.08.2016, S. 19; 02.11.2016, S. 4). Selbst ein Aktienkauf durch
die EZB ist mittlerweile im Gerede. Mit dem Kauf würde die EZB nicht nur ein-
fach Geld schöpfen wie mit dem Erwerb von Anleihen aller Art, sondern auch
Gewinn erwirtschaften. Die schweizerische Notenbank praktiziert diesen Ankauf
bereits, auch die japanische Notenbank; er galt lange als geldpolitisches Tabu
(SZ, 25.10.2016, S. 17). Mit Blick auf die sich erholende Wirtschaft der Euro-
zone setzte EZB-Chef Draghi bewusst ein Signal, als er vom Aktienkauf seines
Instituts „vorläufig“ Abstand nahm (SZ, 10.03.2017, S. 19). In Beobachterkreisen
wurde gemunkelt, es werde nicht mehr lange dauern, bis die EZB ihre Kaufpro-
gramme einstelle und den Zins anhebe.
Die „harte“ Position Deutschlands, Österreichs, der Niederlande und Finn-
lands wird vielerorts als eine „deutsche“ Politik für Europa wahrgenommen
(Bulmer 2013, S. 1396 f.). Im Süden der EU kommt sie schlecht an. Die harte
Position ist durch die Verträge gedeckt. Eine Veränderung der Verträge ist aus-
sichtslos, schon aus mehrheitstechnischen Gründen: es gilt die Einstimmigkeit.
Die EZB kann zwar nicht die Verträge ändern. Bei Beschlüssen zählt im Lei-
tungsgremium allerdings die rechnerische Mehrheit. Nur nützt diese Mehrheit
bislang wenig. Trotz null Zinsen und Offenmarkt-Geldschöpfung hält die Arbeits-
losigkeit in der Euro-Zone eine politisch kritische Marke. Fazit: Die lose politi-
sche Struktur der EU eignet sich schlecht für ein Krisenmanagement (Orphanides
2014, S. 23 f.).
Als Folge sinkt die öffentliche Akzeptanz der Union. Die politisch maßgebliche
Handlungsgröße der nationalen Regierungen ist schließlich nirgendwo die Union,
erst recht kein abstraktes Ordnungsprinzip, sondern das Wohlergehen ihrer Bürger
(Bohle 2014). Die Kommission und die EZB erkennen die Gefahren dieser Spal-
tung und plädieren für eine „weiche“ Ordnungspolitik (Schäfer 2016, S. 967–969).
9.5 Der Widerstreit wirtschaftspolitischer Ideologien 219
Allein die EZB tut mehr, als sie eigentlich darf. Sie erobert sich im Euro-Raum
eine ähnliche Statur wie die Fed in den USA.
Dem früheren Fed-Chef Bernanke wird der nicht ganz ernst gemeinte Einfall
zugeschrieben, per Hubschrauber Geld abwerfen zu lassen, um die Menschen zu
Geldausgeben zu animieren. Wenig originell zwar, aber doch ein Zeugnis gleicher
Denkweise, machte sich EZB-Chef Draghi diesen Spruch zu eigen.
Wozu sollte das gut sein! Es mangelt ja jetzt schon nicht am Geldangebot. Es
fehlt wohl eher an eurozonaler Nachfrage. Mit der hapert es nicht nur wegen der
Hegemonie ordoliberaler Ideen im Regierungskonzert, sondern auch, weil dieses
Konzert ohne Dirigenten stattfindet.
Weiterhin ist Durchwursteln angesagt: Solange es gut geht!
China: Kontrollierter Kapitalismus
10
China war die historische Leitkultur des ostasiatischen Raumes. Sie wird heute
nonchalant, aber auch ganz nicht falsch als neokonfuzianisch charakterisiert.
Wie Hobbes seine Theorie des gesellschaftlichen Friedens aus der Anschauung
seiner Zeit entwickelt hat, war auch Konfuzius (551–479 v. Chr.) tausend Jahre
zuvor von den kriegerischen Wirren seiner Zeit inspiriert. Konfuzius’ Friedens-
vorschlag ist die moralische Wirkung des Vorbilds. Das Vorbildprogramm ist die
Verehrung des integren Herrschers, der Gehorsam der Kinder gegenüber dem
Vater, der Vorrang des Mannes vor der Frau und des ältesten vor dem jüngeren
jüngeren Bruder. Allein zwischen Freunden zählt wechselseitiges Vertrauen. Kon-
fuzius schwebt eine auf Autopilot programmierte Gesellschaft vor. Damit klappte
es nicht. Zur gleichen Zeit kam die Gegenbewegung des Legalismus auf. Er hat
ein Hobbessches Menschenbild. Nur Verbote und Strafen hindern die Menschen
daran, ihre schlechten Eigenschaften auszuleben. Beides setzt den Staat voraus.
Eine weitere, wieder von Konfuzius inspirierte Schule stellt die Moralität des
Kaisers – die Verkörperung des Staates – in den Mittelpunkt. Sie rekurriert auf
den Volksglauben des Daoismus. Er sieht die Natur von höheren Mächten durch-
waltet. Menzius (370–290 v. Chr.) stellt den Kaiser unter den Willen einer höhe-
ren, immerwährenden Macht: den Himmel. Die Himmelsmacht will das Gute und
Gerechte. Ihr Werkzeug ist der Kaiser, der „Sohn des Himmels.“ Verlässt der Kai-
ser den Pfad der Tugend, ereilt ihn über Kurz oder Lang die Strafe des Himmels.
Naturkatastrophen, Hungersnöte, Aufstände und Kriege lassen das Volk wissen,
dass der Herrscher das Himmelsmandat verloren hat. Das überragende Ziel aller
Herrschaft ist Stabilität.
Das alles liegt weit in der Vergangenheit. Es hat im Laufe der Jahrhunderte indes
die Mentalität geprägt. Um ein russisches Sprichwort abzuwandeln: Der Kaiser ist
mächtig, doch China ist groß. Um die Pfeiler des imposanten Staatsgebäudes exis-
tiert eine Gegenrealität informeller Praktiken, die sich am besten mit dem Schlagwort
der „Beziehungen“ charakterisieren lassen. Ein Schlüsselelement dieser Beziehun-
gen ist die Familie; Familienloyalität erstreckt sich auf eine großzügig verstandene
Verwandtschaft. Wie in der vorsozialistischen Vergangenheit ist das Familienun-
ternehmen vom Klein- bis zum Großbetrieb wieder höchst vital. Persönliches Ken-
nen, Gefälligkeiten, Freundschaftsdienste und Gegenleistungen in Partei, Staat und
Wirtschaft durchbrechen oder unterlaufen die hierarchische Ordnung. Persönliche
Beziehungen – Guanxi – ermöglichen oft erst das Funktionieren der Institutionen.
In westlicher Wahrnehmung gilt vieles bereits als Korruption, was in China – und
teils darüber hinaus in ganz Ostasien – als Ausdruck persönlicher Wertschätzung
und Rücksichtnahme praktiziert wird. Die Grenzen zu wirklich korruptivem Verhal-
ten mit Amtsmissbrauch und massiver Bereicherung sind unscharf (Hartmann 2006,
S. 61–70). Was das System so als Ganzes überhaupt flexibel macht, eignet sich, weil
es Alltagspraxis ist, für die politische Disziplinierung, wenn es die politische Führung
für opportun hält, ein Exempel zu statuieren. Die Bedeutung für die Wirtschaft liegt
darin, dass dem Recht materiell weniger Bedeutung zukommt als in den westlichen
Gesellschaften üblich.
Der förmliche Zentralismus des Parteistaates wird von einem regionalen Poly-
zentrismus konterkariert. Im 19. Jahrhundert wurde das noch kaiserliche China
von den großen westlichen Staaten in halbkoloniale Einflusszonen gefleddert,
die sich um große Handelsplätze wie Guangdong, Shanghai und Tientsin und
die rohstoffreiche Mandschurei gruppierten. Nach dem Ende des Kaisertums
(1911) begann die Ära der Warlords. Militärführer beherrschten eine oder meh-
rere Provinzen de facto als eigene Staaten. Der Nationalist Chinag Kai-shek und
sein kommunistischer Gegenspieler Mao Zedong balgten sich in den 1930er Jah-
ren darum, in diesem Wirrwarr eine zentrale Staatsgewalt zu restaurieren. Noch
komplizierter wurden die Dinge, als sich beide gemeinsam gegen die Aggression
Japans wandten, das seit 1937 Teile des Landes eroberte. Selbst in der Volksre-
publik mit ihrer zentralistischen Struktur sind Politik und Wirtschaft unter der
Hand stark regionalisiert. Viele, gerade bevölkerungsreiche und wirtschaftsstarke
Provinzen sind einfach zu groß und zu kompliziert, um im Detail von Beijing
aus regiert zu werden. Entsprechend groß ist die Macht der Provinzregierungen.
Schließlich ist zu bedenken, dass es zwar eine gemeinsame Schriftsprache gibt,
aber eine Vielzahl von Dialekten, die außerhalb einer Provinz oder Region gar
nicht verstanden werden.
Das zentralistische Staatsmodell der einstigen Sowjetunion wurde 1949 kopiert.
Es hat in China keine so tiefe Spuren hinterlassen hat wie im heutigen Russland.
Erstens dauerte es gerade einmal 17 Jahre, bis Mao Zedongs K ulturrevolution über
10.2 Einparteisystem 223
das Land hereinbrach. Sie dauerte geraume zehn Jahre und hinterließ einen zer-
rütteten Staat. Maos Nachfolger Deng Xiaoping päppelte auf, was von der ange-
schlagenen Kommunistischen Partei noch übrig geblieben war. Er ließ sich ganz
allmählich, im Laufe der Jahre aber immer schneller auf Reformen in Richtung auf
Markt und private Initiative ein.
Nicht nur der quälende Zerfall des sowjetischen Regimes, auch der holprige
Start des russischen Nachfolgestaates war für die chinesische Parteiführung ein
Lehrstück. Boris Jelzin, der erste Präsident Russlands war ein begnadeter Sys-
temvernichter. Er hatte aber keinen Plan, wie Demokratie und Marktwirtschaft in
einer vom Sowjetsystem geformten Gesellschaft funktionieren könnten.
Vielmehr hielt er sich an den Rat US-amerikanischer Ökonomen, die markt-
theoretisch bestens beschlagen waren, von der russischen Gesellschaft und sowje-
tischen Vergangenheit aber so gut wie nichts wussten. Das neue Russland wurde
zum urkapitalistischen Bolzplatz, auf dem in kurzer Zeit gewaltige Vermögen
gemacht wurden. Krisengewinnler waren die sogenannten Oligarchen. Bei Jelzins
Nachfolger Wladimir Putin durften sie weiterhin Geld verdienen. Aber den Weni-
gen, die politischen Ambitionen zeigten, wurden umgehend die Zähne gezogen.
Zwar gibt es in Russland keine förmliche Staatswirtschaft, wohl aber eine Reihe
kapitalgesellschaftlich aufgezogener Megakonzerne mit staatlicher Mehrheitsbe-
teiligung, vor allem im Rohstoffsektor.
Die chinesische Elite, selbst ein Produkt des alten sowjetischen Herrschafts-
modells, beobachtete diese Entwicklungen sehr genau und zog ihre Lehren
daraus. Die Reformer warfen zuerst den sozialen Kollektivismus des landwirt-
schaftlichen Genossenschaftswesens über Bord. Dann erlaubten sie lokale Märkte
und Kleinkapitalismus, schließlich sogar gewinnorientierte Unternehmen größe-
ren Formats. Dies aber nicht, um nun dem ungezügelten Kapitalismus den Weg
zu bahnen. Die Partei hält den Daumen auf die neuen Reichen, weniger um die
Ideologie zu retten, als um eine auf Geld und Kapital basierte Gegenmacht zu
verhindern.
10.2 Einparteisystem
Das politische System ist zentralistisch. Die höchste politische Autorität ist die
Parteiführung, verkörpert im Generalsekretär und dem engeren Politbüro. Der
Politbürokomplex gliedert sich wieder in kleinere Führungsgruppen, die für ein-
zelne Sachgebiete verantwortlich zeichnen. Gewicht haben auch das erweiterte
Gesamtpolitbüro und das Zentralkomitee, die in längeren Intervallen zusam-
mentreten. In den Führungsgremien der Partei sind die wichtigsten Apparate, die
224 10 China: Kontrollierter Kapitalismus
Die Öffnung für privates Kapital und der Übergang zu Marktbeziehungen haben
das Land seit 1987 auf den Stand einer globalen Wirtschaftsmacht gebracht
(Tab. 10.1). Anschubhilfe leisteten die Auslandsinvestitionen. Ausländisches
Kapital nutzte China zunächst als billige Werkbank. Später stellte China selbst
anspruchsvolle Produktionen im Lande auf die Beine. Für Auslandsinvestoren
wurden Joint Ventures vorgeschrieben, die wiederum als Vehikel für den Techno-
logietransfer dienen. In den Bereichen aber, aus denen sich der Staat als Produ-
zent zurückgezogen hat, entstanden große private Firmen und Vermögen. China
zählt inzwischen 600 Milliardäre, mehr als die USA.
„developmental state.“ In Japan hat sich dieses Modell verflüchtigt. Gründe für
das Scheitern waren die übermäßige Orientierung auf den Export und die Inte-
gration in die internationale Finanzwirtschaft. Auch China nutzt den Export als
Geldquelle und Anschubhilfe für wirtschaftliche Großprojekte, aber im Unter-
schied zu Japan hat es hat einen großen und stark entwicklungsfähigen Binnen-
markt im Rücken.
China vollzieht den Wandel vom quantitativen zum qualitativen Wachstum
(Tab. 10.2). Die regionale Billiglohnproduktion wandert in Nachbarländer wie
Myanmar, Indonesien und Philippinen ab. Auch chinesische Firmen lassen inzwi-
schen dort produzieren. Wachstum und Arbeitsplätze entstehen in Sektoren, die es
mit den Hochtechnologieländern in Europa, Japan und den USA aufnehmen.
Kapitalisten haben nicht mehr Freiraum, als von der Partei zugestanden wird
(Yang 2013). Werden sie übermütig und will die Partei ein Exempel statuieren,
haben sie mit dem Verlust der persönlichen Freiheit zu rechnen (SZ, 16.02.2017,
S. 3). Das Gleiche gilt erst recht für Parteikader, die sich bei eklatanter Berei-
cherung erwischen lassen (Heilmann 2016c). An Vorwänden mangelt es nicht.
Private Unternehmer bewegen sich in einem Vorschriftendschungel. Kleine und
große Geschenke, Gefälligkeiten aller Art und Einladungen in exquisite Restau-
rants beschleunigen Vorgänge. Die spektakuläre Verhaftung von Unternehmern
ruft immer mal wieder in Erinnerung, dass privates Kapital nicht unter Natur-
schutz steht (SZ, 25./26.02.2017, S. 25).
China mag überwiegend eine Marktwirtschaft sein, aber eingeschränkt eine
kapitalistische. Sie lässt sich auch nicht den in diesem Buch erörterten Wirt-
schaftsideologien zuordnen. Keynesianer wie Neoliberale setzen gleichermaßen
den souveränen Investor voraus, der mit geeigneten Anreizprogrammen gelockt
erden will. Beide positionieren sich im Spannungsfeld von Kapital und Arbeit.
w
Die chinesische Führung will aber keine Investoren beglücken, sondern das Land
weiter entwickeln. Dafür zieht sie mithilfe der Banken und vieler Staatsunterneh-
men den passenden Rahmen.
Dieser kontrollierte Kapitalismus sichert zunächst die Macht der Partei. Im
Übrigen blockiert er, was in liberaldemokratischen und auch in autoritären Regi-
men Standard ist: eine Klasse superreicher Unternehmer, die mit ihrem Geld auf
vielerlei Weise in die Politik eingreifen.
Das Leitthema dieses Buch ist die Frage nach einer Wirtschaftsideologie, die
sich im politischen Handeln manifestiert. Bei China ist diese Frage ins Leere
gestellt. China führt einen Markt mit kleinem, hybridem Kapitalismus an der kur-
zen Leine der Politik vor. Dass es an Freiheit und Demokratie mangelt, steht auf
einem anderen Blatt.
Fazit
11
Die große Finanzkrise in den USA, die Eurokrise und die japanische Dauerdefla-
tion spielten sich in denkbar unterschiedlichen institutionellen Kontexten ab. In
den USA ein hoch kompliziertes, gewaltenteiliges politisches System, aber doch
ein Nationalstaat mit allem Drum und Dran, in dem nach langwierigen politi-
schen Prozessen und wirtschaftspolitischen Abschätzungen schließlich angewandt
wird, was haushalts- und währungspolitisch beschlossen ist. Im Euroland dem-
gegenüber eine multistaatliche Veranstaltung, die fiskalpolitisch in 19 Versionen,
aber bei gemeinsamer Währung stattfindet, eher ein europäisches Regime als ein
Stück Europastaat. Und in Japan ein demokratisches politisches System, dass sich
von alten Kumpaneien zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaftswelt abge-
kehrt hat, seit einem Vierteljahrhundert aber an Lösungen werkelt, um die Staats-
finanzierung, den Sozialstaat und eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung unter
einen Hut zu bringen.
Amerikanische Präsidenten und Kongressmitglieder führen die neolibera-
len Phrasen von der Entstaatlichung im Munde, kümmern sich aber nicht mehr
darum, sobald Wahlniederlagen und Popularitätsverlust akut werden. Insoweit
herrscht selbst dort ein Primat der Politik. Aber es handelt sich um Löschaktio-
nen, danach herrscht wieder ein Business as usual, bei dem die starken Marktak-
teure auf ihre Kosten kommen. In Europa wird die Werbung mit „mehr Markt,
weniger Staat“ immerhin durch die Tatsache relativiert, dass Rücksichten auf ein
Elektorat walten, das auch bei „weniger Staat“ mehrheitlich partout nicht den
Abschied vom Sozialstaat will.
Die Legitimation der Wirtschaftspolitik durch den Mehrheitsentscheid ist eine
Sache, die Orientierung gebende Modellwelt der Ökonomen eine andere. Letztere
arbeitet sich am Trägheitsmoment einer historisch gewachsenen Staatsrolle ab,
die für Abermillionen einen Fixpunkt der Lebensplanung bedeutet. Soweit dieses
Essential nicht infrage gestellt ist, bleibt viel politischer Raum für ein Handeln
nach Maßgaben der Wirtschaftsideologie. Ihre Wirkungsmacht zeigt sich darin,
dass nach der Erschöpfung des Keynes’schen Paradigmas wechselnde Regie-
rungen der größten Parteien in Europa wie auch in den USA gleichermaßen auf
neo-neoliberalen Kurs gegangen sind oder aber das ordoliberale Credo stärker
neoliberal akzentuiert haben.
Der fiskalpolitische Pluralismus der Eurozone lässt Platz für nationale Prio-
ritäten, die mit der offiziell vereinbarten konvergierenden Haushalts- und Schul-
denpolitik kollidieren. Allein auf den deutschen Zinnen wird noch begeistert die
Fahne der ordoliberalen Wirtschaftsideologie geschwenkt. Mit dem Konsens über
das wirtschaftspolitische Leitbild ist es in der Eurozone nicht weit her. Die Euro-
päische Kommission und die EZB, eigentlich die Hüter des eurozonalen Regel-
werks, agieren flexibel und nachgiebig. Sie sind daran interessiert, den Euroraum
gerade wegen seiner starken Fliehkräfte zusammenzuhalten. Besser eine weiche
Eurozone als eine Eurozone, deren haushaltspolitische Maßgaben die Gesell-
schaften und ihre Regierungen aus der Union treiben! Darin zeigt sich abermals
ein Primat der Politik. Seine Wirkung ist bescheiden. Die Prioritäten insbesondere
der starken Euroländer weisen in die Gegenrichtung.
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