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Karl-Heinz Naßmacher · Hiltrud Naßmacher

Nachhaltige Wirtschaftspolitik in der


parlamentarischen Demokratie
Karl-Heinz Naßmacher
Hiltrud Naßmacher

Nachhaltige
Wirtschaftspolitik in der
parlamentarischen
Demokratie
Das britische Beispiel
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1. Auflage 2009

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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Frank Schindler

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von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-16376-5
Vorwort

Die Nachhaltigkeit politischen Handelns zu erhöhen ist ein wesentliches Ziel der Politik-
wissenschaft, wenn sie sich nicht nur der Analyse politischen Geschehens widmen, sondern
zugleich als „Policy Science“ Empfehlungen für die konkrete Gestaltung der Politik geben
will.
Wirtschaftspolitik in pluralistischen Demokratien stellt einen besonders interessanten
Gegenstand wissenschaftlicher Analyse dar. Neuerdings wird meist der Begriff „Politische
Ökonomie“ verwendet, um den Untersuchungsfokus näher zu beschreiben, nämlich den
Zusammenhang zwischen Politik und Ökonomie.1 Auch unter Wissenschaftlern wird weit-
hin angenommen, dass in demokratischen Staaten die Regierung einem Trend zur schlei-
chenden Inflation gegenüberstehe. Das politische Ziel wirtschaftlicher Stabilität scheint
gewissermaßen a priori gefährdet zu sein.2 Versucht eine Regierung durch geeignete wirt-
schaftspolitische Maßnahmen die ständige Kaufkraftminderung zu verhindern, dann erge-
ben sich Wachstumsverluste. Solche Einflussnahmen auf den Prozess der stetigen Steige-
rung des Lebensstandards können erhebliche politische Folgen auslösen. Wirtschaftliches
Wachstum ist heute eine wichtige Voraussetzung für politische Stabilität.3
Politikwissenschaftler haben sich seit geraumer Zeit damit beschäftigt, die unter-
schiedliche Performance von institutionellen Arrangements herauszuarbeiten. Dabei wur-
den seit den 1960er Jahren konkordante und korporatistische Entscheidungsmuster als wün-
schenswert für moderne Demokratien empfohlen. In vergleichenden Arbeiten überwiegen
quantitative Forschungszugänge. Seit einiger Zeit wird allerdings gefordert, diese durch
qualitative Longitudinalanalysen zu ergänzen. Eine solche Untersuchung wird hier vorge-
legt. Das Ergebnis ist eine Langzeitstudie im doppelten Sinne.
Erste Arbeiten wurden im Jahre 1968 im Rahmen des Projekts „Politische Vorausset-
zungen wirtschaftlicher Stabilität“ am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und
Europäische Fragen der Universität zu Köln durchgeführt, ein Zwischenergebnis bereits
1969 veröffentlicht.4 Diese Studie knüpft an die damaligen Befunde an und arbeitet die
wissenschaftlichen Ergebnisse und politischen Entwicklungen der letzten vier Jahrzehnte
auf.
Dank gebührt zunächst allen, die in der Zwischenzeit durch studentische Abschlussar-
beiten an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg das Thema weiterverfolgt und
damit Teile dieses Manuskripts vorbereitet haben: Dr. Doris Cordes, Holger Fischer, M.A.,
und Christian Thode, M.A. Hinzu kommen jene, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zu-
stande gekommen wäre: Elisabeth Wiese erledigte in bewährter Weise die Textverarbeitung
und Annegret Kunde sorgte für den Nachschub an Literatur. Prof. Dr. Hiltrud Naßmacher
hat die Informationen zusammengeführt, aktualisiert und um wesentliche Aspekte ergänzt.

Oldenburg, im August 2008

Karl-Heinz Naßmacher

1
Obinger, Kittel, Wagschal 2003, S. 3.
2
Plümper 2003, S. 40.
3
S. d. Hermens 1964, insb. S. 10f. und Kaltefleiter 1968, insb. S. 94, 156f., 169ff.
4
Naßmacher 1969, S. 637ff.
Inhaltsübersicht

Vorwort 5

Inhaltsübersicht 7

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 9

A. Problemstellung 11


1. Makel pluralistischer Demokratie? 11
2. Nachhaltige Wirtschaftspolitik als Anspruch 13
3. Parlamentarische Demokratie als Handlungsrahmen 16
a) Performance demokratischer Systeme in der Wirtschaftspolitik 16
b) Arbeitsweise des parlamentarischen Systems 18
c) Stellung der Verbände im parlamentarischen System 21
4. Hindernis nachhaltiger Wirtschaftspolitik? 22

B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 27


1. Zwischenkriegsperiode (1918-1938) 27
2. Nachkriegszeit (1945-1951) 36
3. Wirtschaftspolitik des Stop-Go (1951-1964) 43
4. Versuche einer Stabilitäts- und Wachstumspolitik (1964-1979) 51
a) Anschluss an den europäischen Markt 52
b) National Plan 53
c) Lohn- und Preiskontrollen/ Einkommenspolitik 55
d) Gewerkschaftsgesetzgebung 60
5. Thatchers „Revolution“ 61
a) Finanzpolitik 63
b) Gewerkschaftspolitik 64
c) Privatisierungspolitik 69
6. Zusammenfassung 75

C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 77


1. Branchenentwicklung in „langen“ Wellen 77
2. Branchen der industriellen Revolution 80
a) Kohlenbergbau 80
b) Textilindustrie 88
c) Stahlerzeugung 95
d) Eisenbahn 103
8 Inhalt

3. Branchen der industriellen Modernisierung 107


a) Automobilbau 108
b) Chemieindustrie 115
c) Elektroindustrie 121
4. Zusammenfassung 127

D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 130


1. Probleme der britischen Wirtschaftspolitik 130
a) Zahlungsbilanzschwächen 131
b) Stop-Go-Verlauf 131
c) Langsames Wachstum 132
2. Vermeintliche Ursachen der Krise 133
a) Veränderte Rolle Großbritanniens in der Welt 133
b) Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1945 135
c) Britisches Wachstumspotenzial 137
d) Britische Wirtschaftsmentalität 138
3. Tatsächliche Ursachen der Krise 139
a) Rolle der Gewerkschaften 140
b) Rolle des Managements 143
c) Überwindung der Krise als politisches Problem 146
4. Retardierende Elemente im politischen Prozess 147
a) Kandidatenaufstellung 148
b) Parteienfinanzierung 152
5. Zusammenfassung 153

E. Wirkungen der neokonservativen Wende 156


1. Gezielte Reformen in der britischen Wirtschaft 156
a) Unternehmensstruktur 156
b) Management 159
c) Gewerkschaftsstruktur 161
2. Modernisierung innerparteilicher Strukturen 168
a) Parteienfinanzierung 168
b) Kandidatenaufstellung 172
3. Ergebnis 179

Literaturverzeichnis 188
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Abbildung 1: Beschäftigung, Löhne und Preise in Großbritannien (1919-1930) 28


Abbildung 2: Entwicklung des Volkseinkommens in den großen
Industrieländern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA;
1925/1934 = 100) 35
Abbildung 3: Institutionen staatlicher Wirtschaftsplanung 54

Tabelle 1: Wachstumsraten westlicher Industrieländer (realer Zuwachs des


Bruttoinlandsprodukts - BIP - in %) 23
Tabelle 2: Zahlungsbilanz Großbritanniens (1946 bis 1966; in Millionen £) 25
Tabelle 3: „Dollarlücke“ des „Sterling-Gebietes“ (1946-1950; in Mio. US-
Dollar) 39
Tabelle 4: Tatsächliche Salden des britischen Staatshaushalts in der
Nachkriegszeit (Überschüsse +; Defizite -) 41
Tabelle 5: Indikatoren für die Stop-Go-Politik 44
Tabelle 6: Wichtige Positionen der britischen Zahlungsbilanz (1951-1964;
in Mio. £) 46
Tabelle 7: Privatisierungen 72
Tabelle 8: Indices für Produktionszweige (1980=100) 127
Tabelle 9: Investitionsquote westlicher Industrieländer (1956-1965)
(nominale Bruttoinvestition in % des nominalen
Bruttosozialprodukts) 144
Tabelle 10: Ausgewählte soziale Gruppen im britischen Unterhaus (1951-
1979) 148
Tabelle 11: Vertretung einzelner Gewerkschaften im Unterhaus (1945-1979) 149
Tabelle 12: Abschneiden der Konservativen Kandidaten mit
Internatsausbildung (1951-1979) 151
Tabelle 13: Mitglieder- und Organisationsentwicklung der britischen
Gewerkschaften (1960-1995) 163
Tabelle 14: Ausgewählte soziale Gruppen im britischen Unterhaus (1983-
2005) 173
Tabelle 15: Abschneiden der Konservativen Kandidaten (1983-2005) 174
Tabelle 16: Wachstumsraten westlicher Industrieländer (1981-2006) (realer
Zuwachs des BIP in %) 184
Tabelle 17: Gesamtwirtschaftliche Daten im internationalen Vergleich 185
Tabelle 18: Situation der 55- bis 64-Jährigen im Vergleich (2002) 185
Tabelle 19: Anteil der Langzeitarbeitslosen im Vergleich* 186
A. Problemstellung

Als im Oktober 1964 die neue britische Regierung unter Führung von Harold Wilson ihr
Amt antrat, war sie entschlossen, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes zu been-
den. Den Weg zu diesem Ziel glaubten die Labour-Politiker bereits in ihrem Wahlpro-
gramm abgesteckt zu haben: An die Stelle der Stop-Go-Politik der Konservativen sollte ein
zielbewusstes Gesamtkonzept in Gestalt eines nationalen Wirtschaftsplans treten.1 Im No-
vember 1967 sah sich die 1966 durch eine Neuwahl bestätigte Regierung aber gezwungen,
das £ Sterling um 14,3% abzuwerten. Der verantwortliche Ressortminister, Schatzkanzler
Callaghan, trat zurück. Die Meinungsforscher registrierten den seit Jahren niedrigsten Stand
der Wahlchancen einer Regierungspartei. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Im Feb-
ruar 1974 sah sich der Premierminister Heath veranlasst, auf einen Bergarbeiter-Streik mit
dramatischer Energieverknappung („Drei-Tage-Woche“) durch vorzeitige Unterhauswahlen
zu reagieren: „Wer regiert eigentlich das Land, die Regierung oder die Gewerkschaften?“2
Nur fünf Jahre später musste sein Nachfolger Callaghan nach einem „winter of discontent“
ebenfalls die Flucht in Neuwahlen antreten.3
Weder den Konservativen Regierungen noch denen der Labour Party war es gelungen,
die latente Zahlungsbilanzkrise und die ausgeprägte Wachstumsschwäche der Nachkriegs-
zeit zu überwinden. Offenbart sich darin eine Schwäche des politischen Systems? Ist es für
demokratische Regierungssysteme von ihrer Struktur her unmöglich, bestimmte politische
Probleme erfolgreich zu bewältigen? Diese Fragen drängen sich nicht nur dem Beobachter
der britischen Wirtschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg auf, sie stellen sich
auch für andere Länder. In Großbritannien scheint dreißig Jahre später das Problem ge-
bannt; heute ist die damals als „britische Krankheit“ apostrophierte Wachstumsschwäche
nahezu ständiger Gast auf dem europäischen Kontinent.

1. Makel pluralistischer Demokratie?

Die Leistungen einer Regierung im Hinblick auf die Wirtschaftsentwicklung sind für die
Stabilität eines politischen Systems besonders wichtig, denn hierauf beziehen sich die Er-
wartungen der Bevölkerungsmehrheit und mächtiger Interessengruppen.4 Hohes Wirt-
schaftswachstum entschärft soziale Konflikte.5 „Eine vergleichende Untersuchung der Be-
deutung wirtschaftspolitischer Leistungen (gemessen an Vollbeschäftigung, Preisniveau-
stabilität und Einkommenswachstum) für die Unterstützung politischer Parteien in den

1
„The New Britain“, The Labour Party’s Manifesto for the 1964 General Election.
2
Der Slogan „Who governs Britain, H.M. Government or the unions?“ findet sich nicht im Wahlprogramm der
Konservativen. Er ist auch nicht als Zitat von Heath nachweisbar, dominiert aber die kollektive Erinnerung an den
damaligen Wahlkampf.
3
Großbritannien hatte gegenüber Österreich, Deutschland und Schweden zwischen 1974 und 1979 im Durch-
schnitt das geringste Wirtschaftswachstum, die höchste Inflationsrate und die höchste Arbeitslosenquote (Scharpf
1987, S. 66).
4
Lipset 1960, S. 77.
5
Lohneis 1978, S. 289f.
12 A. Problemstellung

USA, Großbritannien und der Bundesrepublik hat gezeigt, dass die Wähler in angelsächsi-
schen Ländern sensibler auf Veränderungen der wirtschaftspolitischen Leistungsbilanz
reagieren als in Deutschland.“6
Alexis de Tocqueville meinte, „daß die Demokratie nicht im geheimen planen, ihre
Politik stetig verfolgen und die Ergebnisse in Geduld abwarten könne“.7 Dies ist der De-
mokratie in den verschiedensten Formulierungen und unter Anwendung auf einzelne Teil-
bereiche der Politik immer wieder vorgeworfen worden: sie sei von ihrer Struktur her unfä-
hig, bestimmte Probleme angemessen zu lösen.8 Seitdem die Globalisierung immer stärker
erfahrbar wird, trauen Beobachter (demokratischen) Nationalstaaten in der Wirtschaftspoli-
tik immer weniger Problemlösungskompetenz zu.
Als innenpolitische Variante dieser These wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Be-
hauptung formuliert, Demokratien seien zu einer „rationalen“ Wirtschaftspolitik nicht fä-
hig.9 Diese Annahme wird begründet durch Hinweise auf die Vollbeschäftigungspolitik,
den Wohlfahrtsstaat und die ständige Neubewilligung von Subventionen, also die - mög-
lichst gleichzeitige - Befriedigung von Gruppenansprüchen, die zu einer schleichenden
Inflation führen. Diesen Forderungen stehe eine demokratische Regierung machtlos gegen-
über, weil sie fürchten müsse, durch Nichtbewilligung einzelner Ansprüche oder gar durch
gezielte Gegenmaßnahmen große Bevölkerungsgruppen zu verärgern und damit Wähler zu
verlieren. So meinte Dieter Grosser, es sei „in keinem der demokratischen Industrieländer
gelungen, das Streben der Gruppen nach steigenden Einkommen so zu zügeln, dass infla-
tionäre Wirkungen ausblieben“.10 Vielmehr kommt es nach Jöhr in diesem Ländern zu einer
„wirtschaftspolitischen Praxis, die bald diese, bald jene Interessengruppe zufriedenstellen
möchte, die von der augenblicklichen Situation bestimmt ist und die nicht selten Maßnah-
men ergreift, die sich gegenseitig durchkreuzen“.11 Es liegt nahe anzunehmen, dass eine
solche Politik langfristig der Gesellschaft schadet.
Eine wesentliche Ursache dieser Abläufe wird gelegentlich in der „mangelnden Tren-
nung von Partei- und Wirtschaftspolitik“ oder auch – umfassender – in „dem Spiel der
Parteien und dem Einfluss der Lobbies“ gesehen,12 d.h. in dem für eine demokratisch re-
gierte, pluralistische Gesellschaft charakteristischen Prozess politischer Willensbildung.
Dieser Diagnose entspricht die Therapie: Um zu einer nachhaltigeren Gestaltung der Wirt-
schaftspolitik zu gelangen, bedarf es einer Reform der demokratischen Einrichtungen. So
schlug Helmut Arndt vor, die Zuständigkeit für „wirtschaftspolitische Maßnahmen unab-
hängigen Institutionen zu übertragen ..., die so konstruiert sind, daß sie ihre Entscheidungen
unabhängig von wahltaktischen Erwägungen und unabhängig von den Einflüssen der Lob-
bies zu fällen vermögen“.13
In der Diskussion über diesen Vorschlag kritisierte Heiner Flohr u.a. die zugrunde lie-
gende Annahme, die erforderlichen Entscheidungen ließen sich ausschließlich mit Sachver-
stand treffen, wenn man aus dem Bereich politischer Entscheidungen einen Teil herauslöse

6
Kevenhörster 2008, S. 202 unter Verweis auf Hibbs 1987, S. 218ff., 290ff.
7
Tocqueville 1959, S. 264.
8
So wird häufig eine prinzipielle Unterlegenheit demokratisch regierter Staaten gegenüber Diktaturen als „ehernes
Gesetz“ der internationalen Beziehungen angesehen.
9
Vgl. Buchanan 1964, S. 20f.; Leoni 1964, S. 28.
10
Grosser 1967, S. 578.
11
Jöhr 1967, S. 75.
12
Arndt 1967, S. 33, 35.
13
Ebenda, S. 35f.
A. Problemstellung 13

und gleichsam dadurch entpolitisiere, dass parteineutralen Sachverständigen Entschei-


dungsgewalt übertragen werde. Die von Arndt vorgeschlagenen Institutionen wären weder
demokratisch legitimiert noch politisch verantwortlich.14 Die Frage nach den Möglichkeiten
einer angemessenen Wirtschaftspolitik muss für demokratische Regierungssysteme schein-
bar negativ beantwortet werden.15 Insoweit wird der Anfangsverdacht unzureichender
Handlungsfähigkeit demokratischer Systeme auf das wirtschaftspolitische Handeln ihrer
Regierungen konkretisiert.
Der wirtschaftspolitische Alltag in pluralistischen Demokratien zeigt immer wieder,
dass es auf die Dauer nicht gelingt, Stabilität und Wachstum durch entsprechende wirt-
schaftspolitische Maßnahmen gleichzeitig zu realisieren. Die Ursache dieser Situation sah
Goetz Briefs darin, dass sich der demokratische Staat von den „real-befestigten“ Interes-
senverbänden mediatisieren lasse.16 Dabei unterschätzt er jedoch die Unterschiede der poli-
tischen Möglichkeiten von wirtschaftlichen Interessengruppen und ihren Organisationen,
den Verbänden, in einzelnen demokratischen Staaten.
Entgegen solchen, in älteren Arbeiten aufgestellten, Vermutungen betont Obinger,
dass Demokratien „keineswegs notwendigerweise einen Hemmschuh für die ökonomische
Entwicklung darstellen. ... Es besteht somit kein Zielkonflikt zwischen Demokratie und
wirtschaftlichem Erfolg.“17 Auch Krieckhaus weist darauf hin, dass statistische Auswertun-
gen keinen Beweis für die These erbrachten, dass Demokratien Wirtschaftswachstum posi-
tiv oder negativ beeinflussen.18 Die Hypothese eines strukturellen Makels pluralistischer
Demokratien kann also nicht ohne Weiteres akzeptiert werden, sie ist vielmehr eingehend
zu prüfen. Damit wird das Spannungsverhältnis zwischen „pluralistischer Demokratie“ und
„nachhaltiger Wirtschaftspolitik“ zum Gegenstand der Untersuchung.

2. Nachhaltige Wirtschaftspolitik als Anspruch

Pluralistische Demokratien sind gekennzeichnet durch eine entwickelte, hochindustrialisier-


te Wirtschaft, eine marktwirtschaftliche Ordnung, eine intensive internationale Verflech-
tung und unbeschränkte Konvertibilität ihrer Währungen sowie eine „Gesellschaftsord-
nung, die auch den privaten Interessengruppen Einfluss auf die wirtschaftspolitische Wil-
lensbildung einräumt“,19 kurzum eine Vielzahl von Rahmenbedingungen, die sich jeder
einfachen Festlegung von Ziel-Mittel-Relationen in den Weg stellen. Im Allgemeinen gilt
für sie ein Zielkatalog der Wirtschaftspolitik, den das deutsche Stabilitätsgesetz definiert:
Wirtschaftspolitische „Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie ... gleichzeitig zur Stabilität
des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleich-
gewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“.20 Herbert
Giersch brachte dieses Zielsystem, das so genannte „magische Viereck“, auf die Kurzfor-

14
Flohr 1967, S. 61.
15
So auch das Fazit von Johnson (1977) für Großbritannien, der eine umfassende Verfassungsdebatte anregt.
16
Briefs 1966, S. 46, 57.
17
Obinger 2004, S. 86; s.a. ebenda, S. 62.
18
Krieckhaus 2006, S. 317.
19
Giersch 1967, S. 114.
20
§ 1, Satz 2 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. Vom 8. Juni 1967 (BGBl. I,
S. 582).
14 A. Problemstellung

mel „Wachstum und Stabilität in der offenen Gesellschaft“21, wobei sowohl das in beiden
Zielen angelegte Konfliktpotenzial als auch das durch diese Offenheit bedingte „Störpoten-
zial“ bedeutsam sind.
Ungeachtet dieser Zusammenhänge postuliert Giersch: „Rational nenne ich eine Poli-
tik, die planmäßig auf die Verwirklichung eines umfassenden, wohldurchdachten und in
sich ausgewogenen Zielsystems gerichtet ist und dabei den höchsten Erfolgsgrad erreicht,
der unter den jeweiligen Umständen möglich ist“.22 Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus
der Tatsache, dass niemals ein einzelnes Ziel angestrebt wird, sondern stets die Realisie-
rung einer Reihe von wünschbaren Zielen. Weiterhin muß das Zielsystem den "jeweiligen
Umständen" adäquat sein. Hier werden seit Jahren nur die wachsende Globalisierung und
die vielfältigen Umweltbelastungen gesehen. Inzwischen sind auch die alternden Gesell-
schaften eine wesentliche Herausforderung. Die Koordination der Ziele zu einer verbindli-
chen Rangordnung ist Gegenstand von politischen Entscheidungen. Auf das politisch defi-
nierte Zielsystem bezogen, lassen sich dann zieladäquate Maßnahmen formulieren. Als
Maßstab für deren Zieladäquanz müssen die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung auf
den durch die jeweilige Politik betroffenen Gebieten dienen, im Falle der Wirtschaftspolitik
nicht nur solche der Volkswirtschaftslehre. Der Erfolg der Politik ist dann sowohl vom
jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Forschung in unterschiedlichen Disziplinen als
auch von den politischen Entscheidungen über Zielsystem und Mittelwahl sowie der
Durchsetzung aller Maßnahmen, die den angestrebten Zielen adäquat erscheinen, abhängig.
Damit ist allerdings für die Beurteilung einer konkreten Politik nur wenig gewonnen,
da sowohl beim Maßstab als auch beim Bezugspunkt ständige Veränderungen möglich
sind. Politik agiert zukunftsbezogen, also unter Unsicherheit, die auch durch wissenschaft-
liche Einsichten prinzipiell nicht überwunden werden kann. Bereits die Formulierung einer
Wirtschaftspolitik mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse stößt auf erhebliche Schwie-
rigkeiten, ganz abgesehen von dem Problem, eine solche Wirtschaftspolitik im Prozess der
politischen Willensbildung durchzusetzen, also die tatsächlichen politischen Entscheidun-
gen damit in Einklang zu bringen. Der Ansatz, konkrete Politik aufgrund ihrer Überein-
stimmung mit Ergebnissen der Wissenschaft als rational zu beurteilen, erweist sich für die
weitere Untersuchung als nicht fruchtbar. Der Hinweis, dass Politik „zielbewußt und sach-
gerecht“ sein muss,23 verdeckt unterschiedliche Rationalitäten. Wirtschaftspolitik muss die
ƒ ökonomische Rationalität, also die Ausrichtung an einem Zielsystem und die Auswahl
adäquater Mittel/ Maßnahmen zu dessen Erreichung, ebenso beachten wie die
ƒ politische Rationalität, also die kurzfristige Befriedigung wichtiger Wählergruppen
und die langfristige Bearbeitung wichtiger Probleme (Responsivität).
Allzu leicht gerät in den Diskussionen über Tagespolitik die langfristige Dimension aus
dem Blick. Neben kurzfristigen Maßnahmen, die durch die verschiedenen Teilgebiete der
Volkswirtschaftslehre, z.B. Wachstums-, Wettbewerbs-, Konjunktur-, Finanz-, Geld-, Re-
gional- und Sektoralpolitik, nahegelegt werden, müssen die langfristig notwendigen Struk-
turanpassungen einer hoch entwickelten Volkswirtschaft rechtzeitig und angemessen bear-
beitet bzw. begleitet werden. Nur so kann die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes langfris-

21
Giersch 1967, S. 115. Insbesondere wirtschaftliches Wachstum wird als zentrales Ziel moderner Staaten be-
zeichnet (Krieckhaus 2006, S. 317).
22
Giersch 1960, S. 22.
23
Ebenda, S. 23.
A. Problemstellung 15

tig gesichert und dadurch die Überforderung der Allgemeinheit und zukünftiger Generatio-
nen mit sozialen Kosten vermieden werden.
Damit nähert sich der Diskurs um „rationale“ Politik einem Diskussionsstrang, der
sich in den letzten Jahren als Debatte über „Nachhaltigkeit“ auf Umweltbelastung und
Umweltzerstörung bezog.24 Auch hier geht es um die Langfristperspektive in der Politik,
die Sicherung der Lebensgrundlagen für die nächste Generation. Allerdings kamen dabei
wichtige Fragen zu kurz. So ist es genauso bedeutsam, in einer alternden Gesellschaft die
zukünftige Generation nicht mit einem Übermaß an sozialen Kosten zu belasten. Der Be-
griff „nachhaltige Wirtschaftspolitik“ bezeichnet also eine Zweck-Mittel-Beziehung, die
dadurch charakterisiert ist, dass versucht wird, bestimmte Ziele mit den geringsten langfris-
tigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten zu erreichen.
Es ist daher angemessen, den gemeinten Anspruch an Wirtschaftspolitik nicht ledig-
lich als „rationale“, sondern als „nachhaltige“ Politik zu bezeichnen. Nachhaltige Politik ist
langfristig rationale Politik. Sie will nicht nur die Lebensqualität der heutigen Generation
befriedigen, sondern auch die Lebenschancen zukünftiger Generationen nicht gefährden.
Die Verknüpfung dieser drei Begriffe (Politik, langfristig, rational) mag für manche auf die
Quadratur des Kreises, eher noch auf die Verkugelung des Kubus, hinauslaufen. Tatsäch-
lich ist die gesteigerte Zukunftsfähigkeit von Politik das ständige Ziel jeder Politikberatung
auf wissenschaftlicher Grundlage. Politik, die von den langfristigen Wirkungen ihres Han-
delns abstrahiert, ist a priori schlechte Politik, weil sie künftigen Generationen ohne weitere
Erwägung die Folgen aktuellen Handelns aufbürdet. Dies betrifft in einer alternden Gesell-
schaft vor allem die sozialen Kosten, die bisher eher ausgeblendet wurden. Dazu gehören
auch Lasten aus dem Rückbau von Branchen, die am Markt keine Zukunft haben.
Damit dies keine Wunschvorstellung bleibt, darf nicht aus dem Blick geraten, dass
verschiedene Bereiche menschlichen Handelns (etwa Wirtschaft und Politik) durchaus
unterschiedlichen Prioritäten unterliegen können. Was ökonomisch zukunftsfähig ist, kann
politisch höchst irrational sein und umgekehrt. Deshalb soll hier ein differenzierterer Maß-
stab für die Beurteilung wirtschaftspolitischer Maßnahmen angewendet werden. Sie müssen
ebenso wirtschaftlich aussichtsreich (also nachhaltig) als auch politisch durchsetzbar sein.
Anders als mit der traditionellen Bezeichnung „rationale“ Wirtschaftspolitik werden mit
dem Begriff der Nachhaltigkeit sowohl die langfristigen wirtschaftlichen Folgen als auch
die sozialen und ökologischen Entwicklungen berücksichtigt. Eine Wirtschaftspolitik, die
langfristige Veränderungen der Weltwirtschaft außer Acht lässt, kann für keine entwickelte
Volkswirtschaft zukunftsfähig sein. Daneben muss für eine zügige und kontinuierliche
politische Durchsetzung, also für das politisch Machbare und die strategische Interventions-
fähigkeit, kurzum für Handlungsfähigkeit, gesorgt werden.
Als Träger dieses Anspruchs kommt von den am politischen Willensbildungsprozess
Beteiligten nur die politische Führung in Betracht. Sie ist in demokratischen Staaten darauf
angewiesen, sich bei der nächsten Wahl der Entscheidung der gesamten Bevölkerung zu
stellen und in der Wahl die Zustimmung einer Mehrheit der Wähler zu finden. In dieser
Situation wird die Regierung, um auch nach der nächsten Wahl an der Macht zu bleiben,
bei ihren politischen Entscheidungen versuchen, die Interessen möglichst großer Teile der
Bevölkerung zu berücksichtigen. Andererseits kann das aktuelle Interesse der Bevölke-

24
Die einseitige Betonung dieses Aspekts lässt sich seit den 1980er Jahren beobachten. Zur kritischen Auseinan-
dersetzung mit dem Einfluss der Technikentwicklungen auf die ökonomische Entwicklung s. Erbrich 2004, S. 22f.
16 A. Problemstellung

rungsmehrheit nicht als Rechtfertigung dazu dienen, die langfristigen Probleme des Landes
(wettbewerbsfähige Wirtschaft, leistungsfähige Sozialsysteme) zu vernachlässigen.
Der Anspruch auf nachhaltige Politik richtet sich in jedem politischen System vorran-
gig an die jeweilige Regierung. In Demokratien agiert jede Regierung in einem politischen
Kräftefeld, das durch die Gesamtheit der Bürger (Wähler) einerseits und den Wettbewerb
von Agenten der öffentlichen Meinung andererseits gekennzeichnet ist. Im öffentlichen
Diskurs über politische Themen (also auch die Wirtschaftspolitik) haben drei Gruppen von
„intermediären Institutionen“ eine herausgehobene Position inne: Medien, Verbände, Par-
teien. Für unsere Fragestellung ergibt sich aus dieser Einordnung ein wichtiger Hinweis:
Die Stellung der Regierung in diesem politischen Kräftefeld (Wähler, Medien, Verbände,
Parteien) entscheidet über ihre Möglichkeiten nachhaltige Wirtschaftspolitik zu gestalten.
Für die Gestaltung von politischen Entscheidungen durch Regierungen und Verbände
kommt es nicht auf die tatsächlichen Erwartungen der Betroffenen, sondern gerade auf
deren Perzeption durch die Entscheidungsträger an.25 Verbände gehen meist davon aus,
dass ihre Mitglieder vor allem an der baldigen Befriedigung ihrer Ansprüche bei der Vertei-
lung des Sozialprodukts interessiert sind, d.h. der Verbandspolitik in Einzelfragen liegt eine
kurzfristige Zielsetzung zugrunde. Hinzu kommt auch das von der Verbandsführung defi-
nierte „autonome Verbandsinteresse“, auf dessen Bedeutung Götz Briefs eindringlich hin-
gewiesen hat.26 Demgegenüber wird von jeder Regierung erwartet, dass sie alle durch eine
bestimmte Maßnahme verursachten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten bei
ihren Entscheidungen berücksichtigt. Die politische Führung kann also, wenn sie nachhaltig
handeln will, nicht nur die kurzfristigen Kosten berücksichtigen, sie darf auch die langfris-
tigen Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf die gesamte Volkswirtschaft nicht vernachlässi-
gen. Die Gestaltung einer solchermaßen „nachhaltigen Wirtschaftspolitik“ ist stets geprägt
durch die spezifischen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen des jeweiligen politischen
Systems.

3. Parlamentarische Demokratie als Handlungsrahmen

In allen Demokratien sind nicht nur Parteien und Medien, sondern auch Verbände in den
Prozess der politischen Willensbildung eingegliedert, weil jene eine wesentliche Rolle bei
der Artikulation und Aggregation der einzelnen Gruppeninteressen spielen. Die Art der
Eingliederung ist unterschiedlich; die konkreten Einflussmöglichkeiten der Verbände in
einem Lande hängen von der Struktur seines politischen Systems ab.

a) Performance demokratischer Systeme in der Wirtschaftspolitik

Seit Lijphart ist es üblich, beim Vergleich politischer Systeme zwischen Mehrheits- und
Konkordanzdemokratien zu unterscheiden. Bei Ersteren ist der Wettbewerb zwischen Par-
teien und (Teil-)Eliten entscheidend, für Letztere die Einbindung aller wichtigen Gruppen
in Entscheidungsprozesse typisch. „Je stärker die konkordanzdemokratischen Strukturen
ausgebaut sind, desto tendenziell stärker ist der Neokorporatismus, d.h. die mehr oder min-

25
Die Bedeutung der Perzeption für das politische Handelns hat Werner Kaltefleiter (1968, S. 108f.) am Beispiel
des Wahlverhaltens aufgezeigt.
26
Briefs 1931, S. 162.
A. Problemstellung 17

der formelle Kooperation zwischen Staat und Verbänden bei der Politikformulierung und
Politikdurchführung über mehrere Politiksektoren hinweg.“27 Die wissenschaftliche Debat-
te kreist nicht nur um die Zuordnung der einzelnen politischen Systeme, über die allerdings
inzwischen ein breiter Konsens erzielt wurde (wobei Lijphart einflussreich ist),28 sondern
auch um die Entscheidungsfähigkeit, oder neuerdings Performance, der politischen Syste-
me, u.a. in wirtschaftspolitischen Fragen.
Da nur eine begrenzte Anzahl von empirischen Studien vorliegt, die zudem metho-
disch nicht vergleichbar sind, können Befürworter von konkordanten Entscheidungsprozes-
sen auf Ergebnisse verweisen, in denen Konkordanzdemokratien im Vergleich zu Konkur-
renzdemokratien gut abschneiden. „Zum Beispiel sind in den Konkordanzdemokratien
Konflikte zwischen Arbeitsmarktparteien insgesamt weniger heftig und weniger zahlreich
als in den typischen Konkurrenzdemokratien.“29 Auch der inkrementelle Reform- und Poli-
tikstil in Konkordanzdemokratien wird als vertrauensbildend für die Wirtschaftstätigkeit
gesehen.30 Dagegen wächst die Wirtschaft in Konkurrenzdemokratien tendenziell schneller
als in Konkordanzdemokratien.31 Die Konkordanzdemokratie tut sich in Situationen mit
Herausforderungen, die rasche Anpassung, Innovation und größere Kurswechsel in kurzer
Frist verlangen, schwerer. „Reformen ... lassen sich gegen den Widerstand mächtiger
Großgruppen kaum durchsetzen.“32
Die Vergleichbarkeit von Ergebnissen der Performance-Forschung ist – wie Roller
aufzeigt – auch dadurch nicht gegeben, dass willkürlich Kriterien für die Messung einge-
setzt werden.33 Von Lijphart wird u.a. das makroökonomische Management als Indikator
verwendet. Es beinhaltet „die geläufigen ökonomischen Performance-Indikatoren wie
Wachstumsrate, Inflationsrate, Arbeitslosigkeit, aber auch Streikaktivitäten, Budgetdefizit
und Indices, die den Grad der ökonomischen Freiheit in einem Land messen.“34 Manfred G.
Schmidt hat acht Kriterien für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie als Maßstab für die
Performance von Staaten gewählt, darunter das langfristige Wirtschaftswachstum, die Infla-
tionsrate, die Arbeitslosenquote, das Arrangement in Bildung und Ausbildung, die Förde-
rung von Forschung und Entwicklung, die familienfreundliche Politik und den Umwelt-
schutz. „Die Liste der zukunftsfähigsten Staaten wird von Norwegen angeführt; auf den
nächsten Plätzen folgen Schweden, Österreich, USA, Japan, Finnland und die Schweiz.“35
Bezeichnenderweise handelt es sich um Länder, die mit Ausnahme der USA verhandlungs-
demokratische Entscheidungsprozesse haben, also den Konkordanzdemokratien mit hohem
korporatistischen Politikvermittlungsanteil zuzurechnen sind. Schmidt nimmt den denkba-
ren Einwand vorweg, dass die Einbeziehung der Sozialpolitik andere Befunde hervorbrin-
gen könnte. Wie so oft sieht er bei Berücksichtigung dieses Aspekts dennoch die nordeuro-
päischen und kontinentaleuropäischen Staaten in überdurchschnittlicher Position. Ein ande-

27
Schmidt 1995, S. 234 unter Bezug auf Lijphart/ Crepaz 1991, Lehmbruch 1993, Schmitter/ Lehmbruch 1979
und Lehmbruch/ Schmitter 1992.
28
Lijphart 1999.
29
Schmidt 1995, S. 239.
30
Obinger 2004, S. 96.
31
Ebenda. Bei diesen Aussagen kommt es sehr stark auf den Analysezeitraum an. So war zum Zeitpunkt des
Abstiegs Großbritanniens, das üblicherweise den Konkurrenzdemokratien zugerechnet wird, die positive wirt-
schaftspolitische Performance von Österreich bemerkenswert (Scharpf 1987, S. 66).
32
Kevenhörster 2003, S. 232.
33
Roller 2004, S. 306.
34
Ebenda, S. 300 unter Bezug auf Lijphart 1999, S. 258.
35
Schmidt 2005, S. 77f.
18 A. Problemstellung

rer Weg zur Beurteilung der Zukunftsfähigkeit scheint über die Freiheitsgrade wirtschaftli-
chen Handelns zu führen (Index of Economic Freedom).36
Die These von Olson rückt das Alter der Demokratie ins Zentrum der Betrachtung.37
Mit zunehmendem Alter wachse eine nach Zahl und Gewicht größer werdende Gruppe von
Verteilungskoalitionen heran, die ihre Sonderinteressen erfolgreich – jedoch zum Schaden
der Gesamtwirtschaft – durchsetzten. Dadurch werde die Möglichkeit herabgesetzt, neue
Techniken zu nutzen, und die Chance zur Anpassung der Ressourcenallokation unter neuen
Bedingungen vermindert. Dies ist besonders dann der Fall, wenn kleine Interessengruppen
dominant sind, während größere Interessenorganisationen eher das Allgemeinwohl mit
beachten.38 Dieser Aspekt scheint bei der Analyse der Entwicklung in Großbritannien von
ganz besonderer Bedeutung zu sein.
Abgesehen vom Einfluss auf die öffentliche Verwaltung haben die Verbände den
größten Einfluss in einem Regierungssystem, dessen Parteien sich als Interessenparteien
begreifen und gemeinsam in einer permanenten „großen Koalition“ den Staat verwalten. In
einem solchen, erstmalig von Otto Kirchheimer beschriebenen, Regierungssystem tritt der
Kompromiss der Interessenparteien an die Stelle einer verantwortlichen und wirksam kon-
trollierbaren politischen Entscheidung.39 Die dominierende Rolle der Interessenten ist gesi-
chert, ihre Organisationen erweisen sich als „real-befestigt“ im Sinne von Briefs.
Völlig anders sind aber die politischen Möglichkeiten der wirtschaftlichen Interessen-
gruppen in einem funktionsfähigen parlamentarischen System. Die Verbände können auch
hier versuchen, die politischen Parteien, die Regierung und die Mitglieder des Parlaments
zu beeinflussen. Die politischen Parteien müssen aber viele Interessen integrieren, um eine
Mehrheit zu erhalten. Die Regierung ist nicht von verschiedenen Koalitionsparteien, son-
dern nur von einer Mehrheitspartei abhängig. Schließlich verdanken die Abgeordneten ihr
Mandat den Wählern eines Wahlkreises, nicht einem für Vertreter bestimmter Interessen
reservierten Listenplatz. Parteien, Regierung und Abgeordnete stehen also in einem völlig
anderen Verhältnis zu den Verbänden.

b) Arbeitsweise des parlamentarischen Systems

Das politische System Großbritanniens stellt eine Form parlamentarischer Regierungsweise


dar, die weitgehend als dessen reine Form (Idealtyp) angesehen wird. Die konkrete Wir-
kungsweise des parlamentarischen Systems beruht auf einer bestimmten Zuordnung ver-
schiedener Systemelemente unter dem Gesichtspunkt, dass jedes Element für das System
eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat, wenn dessen Arbeitsfähigkeit sichergestellt wer-
den soll.40 In die politische Wirklichkeit übersetzt heißt das: Die Bevölkerung entscheidet
in einer Unterhauswahl, welche von zwei Eliten (Parteien), die sich um die Macht bewer-
ben, für eine bestimmte Zeit das Land regiert. Die Zeit, für die diese Entscheidung gelten
soll, ist nicht genau fixiert, wohl aber auf maximal fünf Jahre begrenzt. Innerhalb dieser
fünf Jahre kann der Regierungschef (Premierminister) durch Anwendung des königlichen

36
Ebenda, S. 78, 80f., 88.
37
Olson 1982.
38
Obinger 2004, S. 177.
39
Kirchheimer 1957, S. 59ff. Zur Auseinandersetzung mit Kirchheimers Thesen s. Naßmacher 1968, S. 16ff.
40
Eine ausführliche Analyse der funktionalen Beziehungen im parlamentarischen Systemen gibt Bagehot 1961.
A. Problemstellung 19

Auflösungsrechtes jederzeit eine Neuwahl ansetzen, bei der dann wiederum zwei Eliten zur
Wahl stehen.
Diese Eliten treten zwar in der Regel unter den gleichen Bezeichnungen (Konservative
und Labour Party) auf, brauchen aber personell nicht mit ihren Vorgängern identisch zu
sein und sind es erfahrungsgemäß auch nur teilweise.41 Vor allem bei der unterlegenen
Partei besteht ein sehr starker Anreiz, die geschlagene Mannschaft abzulösen in dem Be-
streben, beim nächsten Wahlgang mit neuem Personal (und anderen Politikentwürfen) er-
folgreich zu sein. Aber auch bei der siegreichen Partei ist der Personalverschleiß beachtlich.
Dies galt zunächst für die Premierminister, die nach 1945 bis Ende der 1960er Jahre weni-
ger als sieben Jahre im Amt blieben. Erst Wilson, Thatcher und Blair schafften längere
Regierungszeiten.42 Den übrigen Regierungsmitgliedern ergeht es nicht viel besser, auch sie
erreichen nicht die Amtszeiten ihrer deutschen Kollegen.43
Wesentlich ist, dass diese Mobilität der politischen Elite sich nicht nachteilig auf die
Entscheidungsfähigkeit der Regierung auswirkt. Ein Wechsel des Personals wird nicht
durch einen Wechsel der Regierungskoalition veranlasst und bewirkt auch keinen radikalen
Wechsel des politischen Kurses: Während der Legislaturperiode verfügt nämlich eine Partei
über die Mehrheit im Unterhaus. Diese Mehrheit ist weniger eine Folge des Wahlverhaltens
als vielmehr seiner Umsetzung in politische Macht durch die in Großbritannien geltenden
Regeln der Machtbildung, vor allem des mehrheitsbildenden Wahlrechts in Form der relati-
ven Mehrheitswahl in Einer-Wahlkreisen. Sie ermöglichen es, eine (relativ) homogene
Regierung (Kabinett) zu bilden, die ihre Politik mit Hilfe ihrer Mehrheit durchsetzen kann.
Damit werden auch die Bürger in die Lage versetzt, die Verantwortlichen für die Entschei-
dungen zu identifizieren, „um daraus Handlungskonsequenzen wie vor allem die Abwahl
oder Wiederwahl einer Regierung zu ziehen. Die Zurechenbarkeit, die ... bei Ein-Parteien-
Regierungen größer ist als bei Koalitionsregierungen, erhöht die Chancen auf Responsivi-
tät, weil die Bürger bei ihrer Wahlentscheidung besser in der Lage sind, diejenige Partei zu
identifizieren, die ihren politischen Zielvorstellungen entspricht.“44 Die Wahlentscheidung
bedeutet auch, ein Urteil über die Erfolge in der Wirtschaftspolitik abgeben zu können.
Im Mehrheitssystem existiert idealtypisch ein diszipliniertes Zwei-Parteiensystem,
wobei die Mehrheitspartei auf Gedeih und Verderb mit der Regierung verbunden ist. Dies
bildet „die Grundlage für die Durchsetzung auch äußerst umstrittener Regierungsvorhaben.
Natürlich bedarf es auch in einem solchen System des ‚Managements’ der Partei oder Frak-
tion, .... Doch erlauben Wahlerfolge ein Maximum an Rücksichtslosigkeit“ seitens der
Regierung.45 Dies sind wichtige Voraussetzungen für eine nachhaltige Politik, während in
der Konkordanzdemokratie die Wahrscheinlichkeit der Nichteinigung oder der Entschei-
dungsblockaden besteht. Die Parlamentsfraktion im Parlament hält sich teils aus Loyalität
zu ihren politischen Führern, teils wegen der im Auflösungsrecht liegenden Drohung
grundsätzlich an die Beschlüsse des Kabinetts. Diese Situation sichert die Handlungsfähig-
keit eines entschlossenen Kabinetts, bedeutet aber keinen Verzicht auf Kontrolle seiner

41
Das betont z.B. Wildenmann (1960, S. 205, 223) bei seiner Analyse der Unterhauswahl von 1959.
42
Helms 2006, S. 217.
43
Jedenfalls nicht im gleichen Amt. Eine wichtige Ausnahme war der jetzige Premierminister Gordon Brown als
Schatzkanzler (Finanzminister).
44
Roller 2004, S. 305.
45
Shell 1989, S. 251.
20 A. Problemstellung

Tätigkeit durch die eigene Partei oder die Bevölkerung.46 Diese verfügt nämlich im Ver-
hältnis zur Regierung über ein wirksames Sanktionsmittel, die Möglichkeit der Abwahl,
von der sie in der nächsten Unterhauswahl Gebrauch machen kann.
Entscheidend sind dabei die Grenz- oder Wechselwähler, die nicht mit einer der bei-
den Parteien fest verbunden sind, sondern in der jeweiligen politischen Situation für die
eine oder andere Regierungsmannschaft und deren Politikentwürfe stimmen. Relativ kleine
Gruppen dieser Wähler können bereits einen Wechsel der Mehrheitsverhältnisse herbeifüh-
ren. Deshalb ist die Regierungspartei gezwungen, Anregungen und Wünsche auch kleinster
Wählergruppen zu berücksichtigen.47 Das heißt aber nicht, dass sie den Gruppeninteressen
hilflos ausgeliefert wäre. Sie muss zwar die von einzelnen Interessen-, und d.h. immer auch
Wählergruppen, vorgetragenen Probleme zu lösen versuchen, ist aber nicht gezwungen, den
Lösungsvorschlag dieser Gruppe zu verwirklichen.
Da in relativ langen Abständen und in der Regel zu einem der Regierung günstig er-
scheinenden Zeitpunkt gewählt wird, hat das Kabinett die Möglichkeit, eine Politik einzu-
leiten und deren Resultate abzuwarten. Obendrein kann es die öffentliche Meinung gegen
Sonderinteressen mobilisieren und sich durch Neuwahl bestätigen lassen. Das Urteil der
Wählerschaft ist aber kein „tägliches Plebiszit“, sondern eine zeitverzögerte Handlung des
demokratischen Souveräns. Dem „time-lag“ zwischen politischer Entscheidung und Poli-
tikwirkung entspricht ein „time-lag“ zwischen Entscheidungen bei Regierungsantritt und
Entscheidung am Ende der Wahlperiode.48 Die neue Regierung kann also darauf warten,
dass die von ihr erhofften positiven Folgen der eigenen Politik tatsächlich eintreten oder
sich auch den Wählern erschließen. Das mit parlamentarischer Regierungsweise untrennbar
verbundene repräsentative Mandat hat nicht nur eine Raumüberbrückungs- und Interessen-
bündelungsfunktion, es wirkt auch als nützlicher Zeitpuffer für spontanes Unbehagen, das
während der Wahlperiode in die Einsicht politischer Nützlichkeit und/ oder Notwendigkeit
umschlagen kann. Hat die Regierung den Erfolg ihrer Politik überschätzt, bleibt Unzufrie-
denheit und die Regierung wird abgewählt. Die bisherige Oppositionspartei bildet dann die
nächste Regierung. Die im britischen Regierungssystem verwirklichte Kombination von
repräsentativen und plebiszitären Elementen schafft einerseits der Regierung eine gewisse
Autonomie, die es dem Kabinett ermöglicht, seine Politik durchzusetzen, und sichert ande-
rerseits die Kontrolle der Regierung durch die Regierten, also eine demokratische Politik,
ohne die einheitliche Willensbildung zu zerstören.49
Die hier kurz skizzierte parlamentarische Regierungsweise bildet ein System von labi-
len Gleichgewichten und Anpassungsprozessen,50 in dem z.B. die Bevölkerung durch die
Ansichten des Unterhauses und der Regierung beeinflusst wird und umgekehrt.51 Es handelt
sich um ein kybernetisches System, das aus verschiedenen, aufeinander einwirkenden Re-
gelkreisen besteht. Wesentliche Regulatoren sind das Repräsentativprinzip, das Wahl-

46
Bernard Crick (1967, S. 208) weist treffend darauf hin, dass das britische Regierungssystem eine starke Regie-
rung mit wirksamer öffentlicher Kritik verbindet.
47
Vgl. Hermens 1968b, S. 193f.
48
Repräsentative Demokratie ist nicht nur ein nützlicher Notbehelf, sie ist auch in ihren praktischen Möglichkeiten
jeder direkten Demokratie überlegen. S.d. Hermens 1968b, S. 157ff.
49
Fraenkel 1973, S. 121f.
50
Zu dieser Interpretation s.a. das Schaubild bei Naßmacher 2004, S. 163.
51
Auch die Funktionsverteilung ist nicht starr. Die Darstellung entspricht dem gegenwärtigen Stand, nach dem
beispielsweise die Auswahl des Regierungschefs nicht durch das Parlament, sondern in der Regel durch die Wäh-
ler erfolgt.
A. Problemstellung 21

system (relative Mehrheitswahl im Einer-Wahlkreis), das Auflösungsrecht des Premiermi-


nisters und der Grundsatz, dass jede Regierung vom Vertrauen des Unterhauses getragen
sein muss. Diese Regulatoren lenken die politische Willensbildung so, dass Handlungsfä-
higkeit und Kontrolle der Regierung gesichert sind. Die Wirkung der Regulatoren beruht
weniger auf ihrem tatsächlichen Einsatz oder ihren konkreten Ergebnissen als vielmehr auf
dem „Gesetz der antizipierten Reaktion“,52 d.h. dem Bemühen der Akteure im politischen
Prozess, den Einsatz von Sanktionen zu vermeiden.
Im Gegensatz zu dieser positiven Einschätzung der Mehrheitsdemokratie in Großbri-
tannien sehen andere diese kritisch. So verhindere die öffentliche Festlegung der Parteien
auf radikale Politikwechsel nämlich üblicherweise, dass sich wirklich „etwas tut“, dass es
zu echter Innovation komme, die notwendigerweise auf durchdachten, konsistenten, län-
gerfristigen Programmen beruhe; denn diese würden umso weniger entwickelt, je mehr die
Neigung zu „adversary politics“53 bestehe. Die für parlamentarische Systeme ohnehin typi-
sche Kurzfrist-Orientierung der Politiker werde radikalisiert. Was darum von den meisten
verheißenen Politikwechseln blieb, seien „Reformen ohne Veränderung.“54 In der Praxis
seien radikale Politikwechsel eher abgeschwächt worden.55 Es ist naheliegend, hier die
Wirkungen des Regierungshandelns und Führungsstils unterschiedlicher Regierungschefs
zu sehen, was zu prüfen ist.
Die Frage ist auch, wie sich das System bei Rückgang der wirtschaftlichen Prosperität
verhält. Da alle westlichen Demokratien Wohlfahrtsstaaten sind, ist in dieser Situation mit
Politiküberlastungen und Verteilungskämpfen zu rechnen, wobei für die Krisenbewältigung
und das Krisenmanagement Entscheidungsfähigkeit im Hinblick auf nachhaltige Maßnah-
men vonnöten ist. Dennoch können gerade in einer solchen eher krisenhaften Entwicklung
die Verbände eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Entscheidungsfähigkeit spielen.

c) Stellung der Verbände im parlamentarischen System

Wirtschaftspolitisch als notwendig eingeschätzte Maßnahmen bilden häufig den Anlass für
Versuche von Interessenverbänden, den Ablauf des politischen Prozesses zu beeinflussen.
Allen Interessengruppen bieten sich drei Möglichkeiten der Einwirkung auf die Politik
eines Landes: Beeinflussung der öffentlichen Meinung, Beeinflussung der Politiker oder
Eindringen von Interessenvertretern in die politische Elite. Aber im Regierungssystem
Großbritanniens bildet der politische Wille des Kabinetts die Grenze jeder nachträglichen
Änderung einer Gesetzesvorlage („bill“). Die Regierung ist institutionell stark genug, um
Änderungen, die ihren politischen Zielen widersprechen, zu verhindern.56 Sobald im Zu-
sammenhang mit einer Vorlage ihr Prestige auf dem Spiele steht, wird die Regierung ohne
Zögern von ihren politischen Mitteln Gebrauch machen. Kein Verband kann im voll funk-
tionsfähigen parlamentarischen Regierungssystem die jeweilige Regierung durch Öffent-
lichkeitsarbeit oder durch Beeinflussung von Verwaltungen und Politikern veranlassen, die
Mitglieder einer Interessengruppe bei der Festlegung der Regierungspolitik zu begünstigen.

52
Friedrich 1963, S. 203f.
53
Kaiser 2000, S. 17.
54
Abromeit 1986, S. 272 unter Bezug auf Kavanagh/ Rose 1977.
55
Ebenda, S. 273.
56
Vgl. Grosser 1967, S. 552ff., dessen Ausführungen über eine Labour-Regierung entsprechend auch für die
Konservativen gelten.
22 A. Problemstellung

Eine Restriktion können allerdings personelle Verflechtungen zwischen Parteien bzw. Par-
lamentsfraktionen und Interessengruppen bilden.
In jeder Parlamentsfraktion sind in der Regel Vertreter von verschiedenen Interessen-
gruppen versammelt. Über den Widerstand einer Gruppe kann sich die Regierung aller-
dings durch die Größe ihrer Mehrheit oder die Drohung mit dem Auflösungsrecht hinweg-
setzen. Bei größeren Gruppen ist ein Kompromiss zwischen den gegenläufigen Interessen
und ein Appell an die öffentliche Meinung möglich. Eine Gefahr droht erst, wenn innerhalb
einer Partei einseitige Interessenausrichtung vorliegt und diese erhebliche Stärke erreicht.
Dann stehen als Gegengewichte nur das Zwei-Parteiensystem und die Entscheidung der
Wähler als „ultimate authority“ zur Verfügung. Die Abhängigkeit der Konkurrenten von
dominanten Interessengruppen bei der Finanzierung ihres Wahlkampfes oder der nationalen
Parteiorganisation kann sich als weitere Restriktion für die Handlungsfähigkeit erweisen.
Obwohl in der personellen Verflechtung und der finanziellen Abhängigkeit gewisse
Gefahren liegen, ist die Stellung des britischen Kabinetts gegenüber den Verbänden we-
sentlich stärker als die der kontinentaleuropäischen Regierungen. In Großbritannien erge-
ben sich erheblich geringere Möglichkeiten wirtschaftlicher Interessenverbände, die zur
Durchsetzung ihrer Ziele erforderlichen politischen Entscheidungen zu erzwingen. Dies ist
auch die Einschätzung aufgrund von Forschungsergebnissen, die politische Systeme aus der
Perspektive der vorhandenen Veto-Spieler betrachten, die in einem parlamentarischen Sys-
tem ohne föderative Strukturen in geringerem Maße vorhanden sind.57
Die Frage ist, wie sich diese institutionellen Arrangements in Krisen bewähren und ob
das politische System in solchen Situationen Reformfähigkeit zeigt. Von den verschiedenen
potenziellen Krisen, die politische Systeme meistern müssen,58 sind hier vor allen Dingen
Verteilungskrisen zu betrachten. Dabei ist es wichtig, die Entstehungsbedingungen der
Krisen langfristig in den Blick zu nehmen. So nahm der Abstieg Großbritanniens, jenes
Landes, das in der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert führend in der Welt war,
bereits im beginnenden 20. Jahrhundert seinen Ausgang. Zum Ausbruch der Krise kam es
allerdings in den 1970er Jahre.59 Verteilungskrisen liegen in der Regel Krisen der Wirt-
schaftsstruktur zugrunde, die durch die Einflüsse der Weltwirtschaft verstärkt werden kön-
nen. Die Rückwirkungen auf interne Krisen sind wahrscheinlich.

4. Hindernis nachhaltiger Wirtschaftspolitik?

Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens nach dem Zweiten Welt-
krieg, so scheint es, dass die britischen Regierungen von den ihnen aufgrund der Kon-
struktion des Regierungssystems zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, eine nachhaltige
Wirtschaftspolitik gegenüber organisierten Interessen durchzusetzen, viele Jahre keinen Ge-
brauch gemacht haben. Die tatsächlichen Ergebnisse der britischen Wirtschaftspolitik he-
ben sich nämlich nicht positiv, sondern eher negativ von der wirtschaftlichen Entwicklung
in vergleichbaren Ländern ab. So betrug die reale Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts
im Durchschnitt der Jahre 1956-1962 in Großbritannien 2,7%. Demgegenüber erreichte im
gleichen Zeitraum die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in Frankreich 5,1% und in

57
Schmidt 2002, S. 152.
58
Bill/ Hardgrave 1973, S. 70.
59
So erschien beispielsweise 1982 die Analyse „Britain in decline“ (Gamble 1982).
A. Problemstellung 23

Deutschland 6,3%. In den Jahren 1974-80 wies Großbritannien mit 0.4% deutlich den ge-
ringsten Jahresdurchschnitt auf gegenüber 2,2% in Deutschland, 2,9% in Frankreich und
3,8% in den USA (Tab. 1).

Tabelle 1: Wachstumsraten westlicher Industrieländer (realer Zuwachs des


Bruttoinlandsprodukts - BIP - in %)
Jahr Großbritannien USA Frankreich Deutschland
1956 2,2 3,3 7,1 6,4
1957 1,1 0,4 6,1 7,3
1958 1,0 -1,7 1,3 3,3
1959 3,6 7,0 3,3 6,7
1960 4,5 2,6 6,6 10,6
1961 5,3 2,6 4,4 5,4
1962 0,9 5,8 7,1 4,2
1963 4,0 4,0 5,3 3,4
1964 5,1 5,3 6,5 6,4
1965 2,7 6,3 4,8 5,6
1966 2,2 6,0 6,0 2,8
1967 2,6 2,7 4,7 -0,2
1968 4,5 4,4 4,2 7,1
1969 1,7 2,6 7,0 8,2
1970 2,1 -0,5 5,7 5,9
1971 2,5 3,0 5,4 3,2
1972 1,3 5,7 3,6 3,4
1973 8,2 5,5 5,4 4,9
1974 -1,5 -1,4 3,3 0,5
1975 -0,7 -1,3 1,2 -1,8
1976 3,3 5,9 4,1 5,2
1977 1,3 5,3 3,1 3,0
1978 2,4 4,4 3,4 3,2
1979 0,3 2,3 3,5 4,5
1980 -2,1 -0,2 1,8 1,0
Durchschnitte
1956-62 2,7 2,9 5,1 6,3
1974-80 0,4 3,8 2,9 2,2
Quelle: 1952-60 eigene Berechnungen aus den Angaben im Statistischen Jahrbuch für die Bundesrepublik
Deutschland; 1961-79: eigene Berechnungen aus den Angaben in OECD Main Economic Indicators;
1980 Werte aus IMF International Financial Statistics/ World Economic Outlook.

Das eine Ziel der Wirtschaftspolitik, ein angemessenes Wirtschaftswachstum, konnte also
in Großbritannien nicht erreicht werden. Aber auch das Stabilitätsziel war ständig durch die
in fast regelmäßigen Abständen auftretenden Sterling-Krisen gefährdet. Nach dem Zweiten
Weltkrieg kam es mehr als ein Dutzend Mal zu so genannten „Pfund-Schwächen“, die
24 A. Problemstellung

erhebliche Verluste an Währungsreserven nach sich zogen.60 Zweimal (1949 und 1967) sah
sich die britische Regierung veranlasst, durch eine formelle Abwertung den Wechselkurs
des Pfundes zu korrigieren. Insgesamt verlor die britische Währung seit 1945 mehr als 60%
ihres Außenwertes; gegenüber dem US-$ sank der £-Kurs von $ 4.00 auf $ 1.50.61 Ursache
der andauernden „Pfund-Schwäche“ war ein permanentes Zahlungsbilanzungleichgewicht,
das zu häufigen Defiziten führte, die nur durch ausländische Kredithilfe oder durch Abwer-
tung vorübergehend ausgeglichen werden konnten (Tab. 2). Der britischen Regierung ge-
lang es offenbar nicht, durch eine geeignete Wirtschaftspolitik die Ziele Stabilität und
Wachstum zu realisieren. Die wirtschaftliche Entwicklung in Großbritannien nach dem
Zweiten Weltkrieg offenbarte eine Strukturkrise, deren Ursachen im Einzelnen zu untersu-
chen sind.
Die Ursachen der Zahlungsbilanz-Schwierigkeiten lassen sich deutlich aus Tabelle 2
ablesen: Defizite der Handelsbilanz, Auslandsausgaben des Staates und Kapitalexport62
waren in jeder Periode so groß, dass sie nicht durch anderen Zuflüsse gedeckt werden konn-
ten. Dabei ist es müßig zu untersuchen, welcher dieser drei Posten das Defizit der Zah-
lungsbilanz verursachte. Bei realistischer Betrachtung ist wohl davon auszugehen, dass alle
drei nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der britischen Volks-
wirtschaft standen.
Da unsere Untersuchung sich auf die Nachhaltigkeit der Wirtschaftspolitik beschränkt,
ist nicht zu erörtern, ob durch einen Abbau der finanziellen Lasten des militärischen Aus-
landsengagements, z.B. durch einen militärischen Rückzug Großbritanniens „östlich vom
Suez“, durch Maßnahmen gegen die private Kapitalausfuhr oder durch einen Stopp der
Entwicklungshilfe aus öffentlichen Mitteln, ein Zahlungsbilanz-Ausgleich herbeigeführt
werden konnte. Die angeführten Maßnahmen wären dazu durchaus geeignet, hätten aber
erhebliche außenpolitische Konsequenzen, die nicht einfach vernachlässigt werden können.
Allerdings fragt sich, warum es der britischen Wirtschaftspolitik nicht gelungen ist, über
einen entsprechenden Handelsbilanz-Überschuss die zur Finanzierung der genannten, aus
außenpolitischen Gründen als erforderlich angesehenen, Zahlungen die nötigen Devisen zu
beschaffen.63
Es bleibt also die Aufgabe der Wirtschaftspolitik, unabhängig von den jeweils durch
die Außenpolitik vorgegebenen Anforderungen, Stabilität (d.h. in diesem Falle Zahlungsbi-
lanz-Ausgleich) und Wachstum (d.h. eine den anderen Ländern vergleichbare Wachstums-
rate) zu realisieren. Da dies der britischen Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg
nicht gelungen ist, stellt sich die Frage nach den Ursachen des Misserfolges. Als Erklärung
könnte die bereits angeführte Hypothese dienen, dass strukturelle Anpassungen nicht oder
zu spät erfolgt sind. Angesichts des dargestellten Handlungspotenzials der Regierungen bei
parlamentarischer Regierungsweise muss es Faktoren geben, die eine nachhaltige Wirt-
schaftspolitik erschwert oder verhindert haben.

60
Für eine Dokumentation der einzelnen Krisen s. Maaß 1968, S. 76f.
61
Die DM entwickelte sich im gleichen Zeitraum gegenläufig: Von DM 4.20 auf DM 2.00 für 1 US-$ (Aufwer-
tung um über 50%).
62
Unter die beiden zuletzt genannten Posten der Zahlungsbilanz fallen die Aufwendungen für Truppen-
stationierung im Ausland, öffentliche und private Entwicklungshilfe, Kapitalbewegungen in Commonwealth-
Länder.
63
An dieser Stelle sei nur auf die nahezu permanenten Export-Überschüsse Deutschlands hingewiesen.
A. Problemstellung 25

Tabelle 2: Zahlungsbilanz Großbritanniens (1946 bis 1966; in Millionen £)


1946-52 1953-59 1960-66
Salden der Handelsbilanz -2.061 -826 -1.698
Salden der Dienstleistungen und Kapitalerträge
+2.460 +2.943 +3.777
a) privat
b) öffentlich („government“) -1.045 -1.100 -2.714
A. Saldo der laufenden Posten
-646 +1.017 -635
(„current balance“)
B. Saldo des langfristigen Kapitalverkehrs -486 -1.251 -1.127
Saldo der Zahlungsbilanz -1.132 -234 -1.762
C. Restposten („balancing item“)* +61 +395 +456
D. Saldo der Gold- und Devisenbewegungen +1.071 -161 +1.306
Quelle: Maaß 1968, S. 97 (errechnet aufgrund von amtlichen Statistiken).
* Für 1946-1951 im Saldo des langfristigen Kapitalverkehrs enthalten.

Jede Regierung, die eine nachhaltige Wirtschaftspolitik betreiben will, muss grundsätzlich
damit rechnen, dass es außerwirtschaftliche Faktoren, u.a. gesellschaftliche Strukturen und
Verhaltensweisen, gibt, durch die Leistungsträger gehemmt, bestehende institutionelle
Arrangements konserviert oder in eine Richtung verändert werden können, die für struktu-
relle Anpassungen abträglich sind. Wenn die von der institutionellen Gestaltung des politi-
schen Entscheidungsprozesses ausgehende Elastizität der Wirtschaftspolitik dadurch aufge-
hoben wird, dass institutionelle Arrangements durch Erstarrungen in der Sozialstruktur
entwertet werden, sind Anpassungsprozesse der Wirtschaftsstruktur erschwert. Im Falle
Großbritanniens müssten die gesellschaftlichen Erstarrungen so stark sein, dass sie den
Vorteil aus der Kontrolle der Verbandstätigkeit nicht nur ausgleichen, sondern sogar über-
treffen. Würden sich politische, wirtschaftliche und soziale Bedingungen gegenseitig ver-
stärken, dann hieße das, die im Vergleich zu anderen demokratisch regierten Industrielän-
dern größeren wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten Großbritanniens wären auf das Zu-
sammentreffen einer für alle demokratischen Staaten charakteristischen defizitären Wirt-
schaftspolitik mit verschiedenen in Großbritannien feststellbaren sozialstrukturellen Erstar-
rungen zurückzuführen.
Diese Überlegungen zeigen deutlich, dass als mögliche Ursachen für das Spannungs-
verhältnis zwischen nachhaltiger Wirtschaftspolitik und pluralistischer Demokratie zwei
Gruppen von Einflussfaktoren besonders untersucht werden müssen:
a. Einwirkungsmöglichkeiten der Interessenverbände im Prozess der politischen Wil-
lensbildung, die durch die Struktur des jeweiligen Regierungssystems wesentlich be-
stimmt werden;
b. gesellschaftliche Strukturen und Verhaltensweisen, die Leistungsantriebe hemmen und
bestehende Strukturen des Wirtschaftsprozesses konservieren.
In Anbetracht dieser Einflussfaktoren erfordert nachhaltige Wirtschaftspolitik einerseits,
dass die Regierung über Möglichkeiten verfügt, zielbewusste und sachgerechte Maßnah-
men zu formulieren und entsprechend durchzusetzen, und andererseits, dass institutionelle
Arrangements, die strukturbezogene Weichenstellungen behindern, durch Politik verändert
26 A. Problemstellung

werden können. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, ist nachhaltige Wirtschaftspoli-
tik möglich und erfolgreich.
Als Beispiel für gesellschaftliche Daten, die der Realisierung von Zahlungsbilanz-
Ausgleich und angemessenem Wachstum in Großbritannien entgegenstehen, wurden häufig
das allgemeine soziale Milieu, eine Abneigung gegen anstrengende Arbeit, das Erziehungs-
system, die mangelnde Effizienz des Managements oder das Verhalten der Gewerkschaften
genannt.64 Es fragt sich, inwieweit bei diesen Faktoren, insbesondere bei der Gestaltung des
allgemeinen sozialen Milieus, ein „feed-back“ durch das politische System erfolgen kann.
Politiker, die Veränderungen in der Gesellschaft anstreben, nach denen die Öffentlichkeit
nicht verlangt, müssen für die Akzeptanz von Veränderungen werben. Dieser Weg ist stei-
nig. Insofern könnte das politische System konservierend auf das allgemeine soziale Milieu
einwirken. Ähnlich argumentierte Johannes Agnoli,65 der meinte, das Mehrheitswahlsystem
als wesentliche Institution der britischen Verfassungswirklichkeit verhindere grundsätzliche
Reformen der Gesellschaft, da keine der beiden Alternierungsparteien radikale Forderungen
stelle, um die für den Wahlsieg ausschlaggebenden Grenzwähler nicht abzustoßen. Auf das
Thema dieser Analyse hin konkretisiert, regte Gerhard Lehmbruch an, man müsse untersu-
chen, inwieweit die „katastrophale britische Wirtschaftspolitik“ dem Mehrheitswahlsystem
zuzurechnen sei.66
Aus diesen Ausführungen lässt sich als gemeinsame Hypothese formulieren: Die
Mehrheitswahl – als wesentlicher Bestandteil der lebenden Verfassung Großbritanniens –
verhindert eine Anpassung der wirtschaftlich relevanten gesellschaftlichen Strukturen und
Verhaltensweisen und damit eine nachhaltige Wirtschaftspolitik in Großbritannien. Diese
Hypothese bildet eine komplementäre Antithese zu der oben formulierten Annahme, das
parlamentarische Regierungssystem britischen Typs beschränke die Einflussmöglichkeiten
der Interessenverbände und begünstige damit eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Welche
von beiden Hypothesen sich bei der Analyse des britischen Beispiels bewährt, ist die zen-
trale Frage dieser Untersuchung. Damit ist aber auch die Frage nach den Bedingungen
effizienter parlamentarischer Regierungsweise – dargestellt am Beispiel der britischen
Wirtschaftspolitik – aufgeworfen. Auf diese Weise erhält die Arbeit eine zusätzliche Di-
mension: Zugleich mit den speziellen Problemen Großbritanniens wird eine allgemeine
Frage der vergleichenden Regierungslehre analysiert.
Gegenstand der Analyse ist das langfristige Handlungspotenzial eines politischen Sys-
tems in einem zentralen Aufgabenfeld öffentlicher Politik wirtschaftlich hochentwickelter
Gesellschaften: der wirtschaftsbezogenen Strukturpolitik. Deshalb beginnt die Untersu-
chung mit zwei Längsschnittbetrachtungen, einer allgemeinen Darstellung der historischen
Entwicklung der britischen Wirtschaftspolitik in den letzten 90 Jahren und einer sektoralen
Erörterung der Entwicklung in ausgewählten Branchen. Erst auf dieser Grundlage von
gesamtwirtschaftlichen und sektoralen Längsschnitten lässt sich anschließend die Frage
nach den Ursachen der britischen Strukturkrise aufwerfen. Aus diesen Kapiteln sollen
schließlich Empfehlungen für eine Reform von Wirtschaft und Politik in Großbritannien
abgeleitet werden.

64
Vgl. Kaldor 1966, S. 2.
65
Agnoli 1967, S. 9.
66
Lehmbruch 1967, S. 150.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur einen wesentlichen Einschnitt für die politische
Entwicklung, sondern beendete zugleich eine Epoche der Weltwirtschaft. In den letzten
Jahrzehnten dieser Periode hatten die Konjunkturen und Krisen der Wirtschaft fast immer
weltweite Auswirkungen in dem Sinne, dass alle Industriestaaten der Welt davon betroffen
wurden. Konjunkturelle Schwankungen gehörten vor 1914 zu den Entwicklungen des Wirt-
schaftslebens, mit denen alle Nationen rechnen mussten. Der Fall, dass ein Land unter er-
heblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten litt, während sich in anderen Ländern eine wirt-
schaftliche Aufwärtsbewegung vollzog, trat erstmalig nach 1918 auf. Betroffen von dieser
länger dauernden Krise war Großbritannien,1 dessen wirtschaftliche Situation in dieser Zeit
einen guten Ausgangspunkt für die Analyse der britischen Wirtschaftspolitik darstellt. Vor
allem, wenn man versucht, die spätere Situation der britischen Volkswirtschaft in eine his-
torische Perspektive zu bringen, liegt es nahe, mit diesem Zeitpunkt zu beginnen.

1. Zwischenkriegsperiode (1918-1938)

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich das britische Preisniveau auf mehr als das
Doppelte des Vorkriegsstandes erhöht.2 Wenn Großbritannien faktisch zur formal fortbeste-
henden Goldwährung zurückkehren wollte, dann war eine restriktive Kreditpolitik erforder-
lich. Dabei ergab sich aber ein Problem: „to start peace with a trade depression seemed an
appalling prospect”.3 Deshalb beschloss die Regierung 1919 auch formell, vom Goldstan-
dard abzugehen. Damit schuf sie eine wichtige Voraussetzung für den Nachkriegsboom der
Jahre 1919-20.
Ursache des Aufschwungs war der während des Krieges aufgestaute Nachholbedarf in
allen Bereichen des Wirtschaftslebens: Der Handel füllte seine Lager wieder auf, die In-
dustrie nahm die während des Krieges vernachlässigten Reinvestitionen bei ihren Anlagen
vor. Veranlasst wurde dieses Verhalten durch einen allgemeinen Nachkriegsoptimismus,
erleichtert durch eine – nach dem Verzicht auf den Goldstandard mögliche und wegen der
erheblichen Staatsschulden erforderliche – „Politik des leichten Geldes“. Aber der Auf-
schwung war durch die unvermeidlichen Unsicherheiten des wirtschaftlichen Wiederauf-
baus belastet. Vor allem handelte es sich um eine reine Binnenkonjunktur, die erwartete
Exportnachfrage blieb aus und wurde durch Zölle behindert.4 Sobald die Mehrzahl der
Betriebe ihre Wiederbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt hatte, hörte ganz plötzlich die
Nachfrage auf, z.T. wurden auch erteilte Aufträge storniert. Bereits im Sommer 1920 mehr-
ten sich die Anzeichen, dass die Zeit des Booms bald vorbei sein würde. Ein Budgetüber-

1
Einen Eindruck von der wirtschaftlichen Stagnation in Großbritannien verglichen mit dem Wachstum in anderen
Ländern vermittelt ein internationaler Vergleich der Entwicklung des Volkseinkommens in den Jahren 1925-1938.
Vgl. unten, Abb. 2.
2
S. unten, Abb. 1.
3
Hawtrey 1923, S. 407.
4
Richardson 1967, S. 7f..
28 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

schuss ermöglichte das Ende der staatlichen Kreditexpansion, die optimistische Einschät-
zung der Wirtschaftsentwicklung hatte sich als falsch erwiesen, Lohnforderungen führten
zu Streiks im Bergbau und in der Textilindustrie. Ohne dass es zu einer Finanzkrise oder zu
einer Panik kam, war der Boom vorüber. Das Jahr 1921 brachte eine Rekord-
Arbeitslosigkeit von durchschnittlich 19 % der arbeitsfähigen Bevölkerung (Abb. 1).5

Abbildung 1: Beschäftigung, Löhne und Preise in Großbritannien (1919-1930)

Quelle: Skidelski 1967, S. 290.

Diese Arbeitslosigkeit betraf aber nicht alle Wirtschaftszweige in gleichem Umfang, viel-
mehr konzentrierte sie sich vor allem auf zwei Branchen: die Textilindustrie und den Koh-
lenbergbau. Vor dem Krieg war auf diese beiden Branchen zusammen über die Hälfte des
britischen Exports entfallen, nun war es für sie schwierig, sich auf den ausländischen Märk-
ten zu behaupten.
Der Kohlenbergbau hatte den russischen Markt verloren und traf in Skandinavien auf
die Konkurrenz der oberschlesischen Gruben, denen nun der deutsche Markt verschlossen
war. Hinzu kam, dass Deutschland einen Teil seiner Reparationen durch Lieferung von
Kohle bezahlte.6 Nur in den Jahren 1922/23 ergab sich eine vorübergehende Erleichterung
der britischen Exportsituation, als durch einen Streik in den amerikanischen Bergwerken
und die Ruhrbesetzung Großbritanniens Konkurrenten zeitweilig ausfielen.7 Von solchen
Ausnahmesituationen abgesehen, war aber der britische Kohlenbergbau wegen seiner ho-
hen Kosten im Export nicht konkurrenzfähig. Nachdem die Bergwerke aus der Staatskon-

5
Sayers 1967, S. 50f.; Youngson 1968, S. 24f.
6
Youngson 1968, S. 40f.
7
Sayers 1967, S. 40f.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 29

trolle entlassen waren, sahen die Unternehmer in Lohnkürzungen die einzige Möglichkeit
der Kostensenkung. Stilllegungen unrentabler Zechen oder betriebsinterne Rationalisie-
rungsmaßnahmen zogen die Unternehmer nicht in Betracht. Die Folge dieser einseitigen
Unternehmenspolitik war eine Klassenkampf-Stimmung unter den Bergarbeitern, die ihren
Niederschlag vor allem in dem Streik von 1926 fand.8 Zwar setzten die Unternehmer die
gewünschte Lohnkürzung durch, aber trotzdem gelang es nicht, die britische Kohle im
Export wettbewerbsfähig zu machen. Durch den Streik wurde auch die Eisen- und Stahl-
produktion in Mitleidenschaft gezogen.9
Die Textilindustrie stieß auf ähnliche Schwierigkeiten. Besonders an diesem Beispiel
lässt sich die Veränderung der Nachfragestruktur im Welthandel verdeutlichen. Die Haupt-
abnehmer der Vorkriegszeit  China, Japan, Brasilien, Italien und Indien  hatten während
des Krieges eigene Fabrikationsstätten aufgebaut und schützten diese nun durch entspre-
chende Zölle vor ausländischer Konkurrenz. Dies war auch für die Güter des täglichen
Bedarfs der Fall, die früher in Großbritannien gekauft wurden. Die Nachfrage verschob sich
nun stärker auf Luxusgüter. Die britische Industrie hatte sich jedoch auf die bisher ge-
wünschten Güter konzentriert „and the shift in demand hit her badly“.10 Außerdem traten
diese Länder in Asien und auf dem Balkan als Konkurrenten Großbritanniens auf. Dabei
wurden sie durch die Tatsache begünstigt, dass die Bevölkerung der Agrarländer infolge
ihrer niedrigen Einkommen billige Ware gegenüber den hochwertigen britischen Produkten
bevorzugte. Eine Umstellung der britischen Textilindustrie auf die gewünschten Qualitäten
war in den 1920er Jahren nicht möglich. Die Kapitalgeber standen nämlich der Branche
kritisch gegenüber, nachdem diese den Nachholbedarf der Jahre 1919/20 zum Anlass für
erhebliche Neuinvestitionen genommen hatte, die sich im Laufe der 1920er Jahre als Fehl-
investitionen erwiesen.11
Aber nicht nur Kohle und Textilien, auch andere Zweige der britischen Industrie litten
unter ähnlichen Schwierigkeiten. In der eisenschaffenden Industrie z.B. bestanden erhebli-
che Überkapazitäten. Sie waren eine Folge sowohl der erhöhten Kriegsproduktion als auch
der Investitionen während des Nachkriegsbooms. Darin lag aber nicht das einzige Problem
der Branche. Viele Stahlwerke waren veraltet und die einzelnen Betriebe waren zu klein.
Diese Faktoren bewirkten, dass die britische Stahlindustrie gegenüber der amerikanischen
und deutschen Konkurrenz nicht wettbewerbsfähig war.12
Ohne aus diesem grundlegenden Wandel der Exportposition die Konsequenz einer
entsprechenden Anpassung der britischen Industrie zu ziehen, sahen die Wirtschaftspoliti-
ker aller Parteien in der Rückgewinnung der Exportmärkte das entscheidende Mittel zur
Belebung der Inlandskonjunktur. Hierzu wären Anpassungen der industriellen Struktur
wichtig gewesen, die aber viel zu langsam vorangingen. Die Folge war ein Importüber-
schuss.13 Der einzige Ausweg dazu schien die Wiederherstellung des internationalen Han-
dels und seiner währungspolitischen Grundlage in der Vorkriegszeit, der Goldwährung, zu
sein. Hinzu kamen die Erfahrungen mit den Preissteigerungen des Nachkriegsbooms und
dem darauf folgenden ebenso extremen Fall des Preisniveaus.14 Sie gaben Anlass zu der
8
Youngson 1968, S. 39ff. – Für Einzelheiten der Auseinandersetzung siehe Bandholz 1961, S. 33ff., 122ff.
9
Richardson 1967, S. 7.
10
Birnie 1955, S. 375.
11
Youngson 1968, S. 43f., 50f.
12
Sayers 1967, S. 84; Youngson 1968, S. 45.
13
Richardson 1967, S. 10.
14
Vgl. oben, Abb. 1.
30 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

weit verbreiteten Meinung, „that return to the gold standard was the course of order, pru-
dence and wisdom“.15 Fast alle wirtschaftspolitischen Experten traten für diese Politik ein.16
Die Einschätzung der Goldwährung als Garant von Stabilität und Sicherheit wurde durch
die deutsche Nachkriegsinflation (bis November 1923) noch bestärkt.
Seit Juli 1924 bemühte sich die von Ramsay McDonald geführte Minderheitsregierung
der Labour Party, durch gezielte Maßnahmen den Wechselkurs des Pfundes wieder auf die
alte Parität gegenüber dem Dollar zu bringen. Diese Politik war erforderlich, weil mit der
Rückkehr zum Goldstandard die Wiederherstellung der alten Goldparität des Pfundes ver-
bunden sein sollte. Die Wiedereinführung der Goldwährung zur Vorkriegsparität erfolgte
dann im April 1925 durch Winston Churchill, den Schatzkanzler der im Oktober 1924 neu
gebildeten Konservativen Regierung.17 Mit dieser Entscheidung waren zwei Probleme
verbunden: die Höhe des Paritätskurses und das Ausmaß der Goldreserven. John Maynard
Keynes schätzte, dass zur Verteidigung der Goldwährung auf der Basis der Vorkriegsparität
eine Reduktion des inländischen Preisniveaus um 10% erforderlich gewesen wäre.18 Um
die gegenüber dem Außenwert zu geringe Kaufkraft des £ zu erhöhen, musste eine syste-
matische Deflationspolitik betrieben werden. Diese war umso erforderlicher, als die Gold-
reserven der Bank von England im Jahre 1925 nur ca. 150 Mio. £ betrugen und eine An-
sammlung von Währungsreserven durch laufende Zahlungsbilanzüberschüsse wegen der
Exportschwierigkeiten nicht erwartet werden konnte. Die kreditpolitische Folge dieser
Situation waren hohe Diskontsätze, mit deren Hilfe der notwendige Zustrom von Auslands-
krediten nach London gesichert und so die schwache währungspolitische Position gestärkt
wurde.19
Obwohl die Rückkehr zur Goldwährung der britischen Volkswirtschaft mehr Selbst-
vertrauen gab und so zur Aktivität anregte, waren die Folgen dieser Politik für die britische
Industrie insgesamt wenig positiv. Die Hoffnung auf bessere Absatzmöglichkeiten im Ex-
port und damit einen Konjunkturaufschwung im Inland erfüllte sich nicht. Durch die Fest-
setzung eines überhöhten Wechselkurses wurde die bisher schon zu geringe Wettbewerbs-
fähigkeit der britischen Exportgüter (insbesondere Kohle, Textilien, Stahl) noch verstärkt.
Dieser Nachteil konnte auch nicht dadurch aufgewogen werden, dass die Güterpreise im
Inland (infolge der Deflationspolitik) ständig fielen. Eine solche Preisentwicklung war bei
weitgehend starren Nominallöhnen20 nicht dazu geeignet, die Gewinnerwartungen der Un-
ternehmer so zu gestalten, dass sie trotz des hohen Zinsniveaus zu Investitionen bereit ge-
wesen wären. Aus diesem Grunde unterblieben die zur Anpassung der britischen Industrie
an die Wandlungen in der Weltwirtschaft erforderlichen Investitionen für die Rationalisie-
rung alter Branchen und die Entwicklung leistungsfähiger neuer Industriezweige.21 Indem
der Zinssatz die währungspolitische Funktion der Verteidigung von Wechselkurs und
Goldwährung erhielt, versagte er als Regulator auf dem inländischen Kreditmarkt. Durch
die starren Löhne entfiel eine weitere Gleichgewichtsbedingung der klassischen Wirt-
schaftstheorie, die Flexibilität aller Kostengüterpreise. Die Arbeits- und Kreditmärkte wa-

15
Youngson 1968, S. 26; ähnlich Sayers 1967, S. 52.
16
Pigou 1947, S. 148.
17
Youngson 1968, S. 27ff.
18
Keynes 1963.
19
Im Durchschnitt der Jahre 1922 bis 1924 betrugt der Diskontsatz der Bank von England 3,76%, in den Jahren
1926-1928 lag er bei durchschnittlich 4,72% (Youngson 1968, S. 32); s.a. Duckenfield 2006, Vol. 3, S. 109ff.
20
Für beide Indizes vgl. oben Abb. 1.
21
S.d. unten, Kapitel C).
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 31

ren nicht funktionsfähig, d.h. sie konnten kein neues Gleichgewicht bei Auslastung aller
Produktionsfaktoren herstellen. Die Folge war eine strukturelle Arbeitslosigkeit, die zwi-
schen 1923 und 1929 ständig ca. 10% betrug (mindestens 9%, maximal 14%).22
Obwohl ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von der ständigen Unterbeschäftigung
in der Volkswirtschaft betroffen war, gelang es keiner Regierung, das wirtschaftspolitische
Problem zu lösen. Die Entwicklung stellt die These von der Handlungsfähigkeit des parla-
mentarischen Systems deutlich in Frage. Das System war offenbar nicht elastisch genug,
um die Arbeitslosigkeit durch eine geeignete Wirtschaftspolitik zu beseitigen. Ein solcher
Schluss wäre aber voreilig. Das parlamentarische System Großbritanniens war nämlich
nach dem Ersten Weltkrieg nicht voll funktionsfähig; es gab kein Zweiparteiensystem, denn
im Unterhaus war neben den beiden Alternierungsparteien der Vorkriegszeit, den Konser-
vativen und den Liberalen, auch die Labour Party mit einer beachtlichen, im Laufe der Zeit
zunehmenden Zahl von Abgeordneten vertreten.23 Zwar verfügten die Regierungen der
Konservativen immer über ausreichende Mehrheiten, aber es fehlte der Zwang, das Arbeits-
losenproblem zu lösen, wie er von der Existenz einer gleichstarken Oppositionspartei aus-
gegangen wäre. Eine klare Entscheidung der Wähler über diese Frage war bei einer solchen
Wettbewerbssituation nicht möglich, die Verantwortlichkeit der einzelnen Parteien für die
jeweilige Politik nicht eindeutig bestimmt.
Zweimal wurden die Konservativen von einer Minderheitsregierung der Labour Party
abgelöst. Für diese Regierungen ergaben sich besondere Probleme. Erstens war ihre Partei
auf die Rolle der Alternierungspartei noch unzureichend vorbereitet. Zwar hatte sie auf dem
Wege zur stärksten Partei des Landes ihre Vorstellungen weitgehend auf die gemäßigten
Grenzwähler abstellen müssen,24 die Orientierung der Führungsgruppe schwankte aber
noch zwischen einer verschwommenen Vorstellung von „Sozialismus“ und einer pragmati-
schen Politik. Zweitens verfügte die Labour Party als relativ neue Partei der unteren
Schichten nicht über eine ausreichende Zahl qualifizierter Politiker.
Das zeigte sich besonders bei der Behandlung der Arbeitslosenfrage, die im Mittel-
punkt des für die Labour Party erfolgreichen Wahlkampfes von 1929 gestanden hatte. Bei
der Regierungsbildung wurde James H. Thomas zum Lord-Siegel-Bewahrer (Lord Privy
Seal) ernannt und als „Sonderminister für Arbeitslosigkeit“ eingesetzt. Ihm waren drei
weitere Minister zur Unterstützung beigegeben.25 Diese vier „Arbeitslosigkeits“-Minister
waren aber viel zu schwach, sowohl um eine konstruktive Politik zur Lösung des anstehen-
den Problems zu konzipieren als auch um ihre relativ bescheidenen Lösungsvorschläge
gegenüber dem Schatzkanzler Philip Snowden durchzusetzen, von dem Boothby sagt:
„Economy, Free Trade and Gold – these were the key-notes of his political philosophy“.26
In der Thronrede vom 3. Juli 1929 steckte die Regierung den Rahmen ihrer Politik in
der Arbeitslosenfrage ab. Sie wollte prüfen, wie die britische Industrie, vor allem in den
Exportbranchen, wieder wettbewerbsfähig werden konnte, und in der Zwischenzeit so gut
wie möglich für die Arbeitslosen sorgen. Auch die Labour-Regierung ging also noch 1929

22
Skidelsky 1967, S. 399.
23
Die Zahl der Labour Abgeordneten stieg von 59 im Jahre 1918 auf 289 im Jahre 1929. Bei den dazwischenlie-
genden Wahlen erreichte die Partei folgende Mandatszahlen: 142 (1922), 191 (1923), 151 (1924).
24
S.d. Hermens 1968a, S. 78ff.
25
Es handelte sich um das Kabinettsmitglied George Lansbury (First Commissioner of Works) sowie die „Junior
Ministers“ Oswald Mosley (Chancellor of the Duchy of Lancaster) und Thomas Johnston (Under-Secretary of
State for Scotland). Nachfolger von Mosley wurde vorübergehend der spätere Premierminister Clement Attlee.
26
Boothby 1947, S. 90.
32 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

davon aus, dass die Arbeitslosenfrage im Wesentlichen durch eine Wiederbelebung der
allgemeinen Wirtschaftstätigkeit, insbesondere des Exports, gelöst werden könne und müs-
se. Pläne, das Arbeitsangebot durch eine Verlängerung der Schulpflicht und vorzeitige
Zahlung von Altersrenten zu vermindern und so die Arbeitslosigkeit zu verringern, erreich-
ten gar nicht erst das Stadium der Gesetzesvorlage. Der Gedanke, durch verstärkte Aus-
wanderung eine ähnliche Wirkung zu erzielen, vermochte auch keinen Ausweg aufzuzei-
gen. Zwei Gesetze beinhalteten die wesentlichen Maßnahmen der Labour-Regierung in der
Arbeitslosenfrage: Der Unemployment Insurance (No. 2) Act von 1929 brachte nur gering-
fügige Verbesserungen der Arbeitslosenunterstützung, weil der Schatzkanzler sich weiger-
te, die für eine wirksame Verbesserung erforderlichen Mittel bereitzustellen.27 Der Coal
Mines Act von 1930 ermächtigte die Regierung, Produktionsmengen und Preise im Berg-
bau zu regulieren und auf Rationalisierungsmaßnahmen dieser Branche hinzuwirken. Die-
ser zweite Teil blieb völlig wirkungslos, der erste erlangte erst später einige Bedeutung.28
Der kurze Überblick zur „Arbeitslosenpolitik“ der Labour-Regierung zeigt, wie sehr
auch die Führung der in Opposition zu den Konservativen stehende Partei den klassischen
Liberalismus als wirtschaftspolitische Doktrin akzeptierte. Die Aufgabe der staatlichen
Wirtschaftspolitik bestand darin, optimale Bedingungen für die Selbstregulierung der Wirt-
schaft zu schaffen und allenfalls die dabei auftretenden sozialen Härten zu mildern. Der
zweiten Aufgabe diente die Arbeitslosenunterstützung, der ersten war durch die Rückkehr
zum Goldstandard und die Beibehaltung des Freihandels ausreichend Genüge getan. Das
Kohlenbergbaugesetz stellte eigentlich schon einen tastenden Schritt der wirtschafts-
politischen Neuorientierung dar. Die Rückkehr zum Goldstandard hatte so zwei negative
Folgen: Erstens machte sie die Exportindustrie noch weniger konkurrenzfähig und zweitens
bewirkte sie eine Fixierung des wirtschaftspolitischen Interesses in beiden potenziellen
Regierungsparteien auf die Zahlungsbilanz und die damit verbundene Aufgabe „to defend
the pound“. Alle anderen wirtschaftspolitischen Ziele waren auch für die Labour-Regierung
zweitrangig.
So kam es, dass auch diese Regierung nicht in der Lage war, die Arbeitslosigkeit zu
vermindern. Sie stieg vielmehr infolge der Weltwirtschaftskrise noch weiter an. Waren
1929 noch 10% aller Arbeitnehmer arbeitslos gewesen, so betrug der Anteil der Arbeitslo-
sen 1931 bereits 22% der arbeitsfähigen Bevölkerung. Von Oktober 1929 bis Januar 1930
wuchs die Arbeitslosigkeit von 1,5 Millionen auf 2,5 Millionen.29 Gleichzeitig sank das
britische Volkseinkommen (in konstanten Preisen) in diesem Zeitraum um über 10%.30
Im Sommer 1931 spitzte sich dann die finanz- und währungspolitische Situation
Großbritanniens zu. Vor allem drei Faktoren trugen zur Entstehung einer Pfundkrise bei:
ƒ Den unmittelbaren Anlass bildeten die Auswirkungen der mitteleuropäischen (zu-
nächst österreichischen, später auch deutschen) Kreditkrisen. Die Gläubiger strebten
allgemein nach höherer Liquidität. Diese Bewegung erfasste auch den Londoner Platz,
vor allem die Anlagen französischer Banken auf dem Geldmarkt. Diese lösten ihre
Engagements auf, die Bank von England verlor Gold und Devisen, da der Gegenwert
dieser Kredite in Mitteleuropa eingefroren war. Verstärkt wurde diese mehr „tech-
nische“ Krise durch die Vertrauenskrise, die auf zwei andere Faktoren zurückging:

27
Skidelsky 1967, S. 79f., 93, 95, 99, 101, 122ff.
28
Youngson 1968, S. 61f.
29
Harris 1982, S. 86.
30
Vgl. unten, Abb. 2.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 33

ƒ Das für 1932/33 zu erwartende Defizit im britischen Staatshaushalt und


ƒ die Zweifel an den Fähigkeiten der amtierenden Minderheitsregierung der Labour
Party.
Die britischen Behörden versuchten, die Pfundkrise zunächst durch eine Kredithilfe der
französischen und amerikanischen Notenbank zu überwinden. Obwohl die gewünschten
Kredite bereitgestellt wurden, kam es zu weiteren Abzügen aus London.31
Die Regierung konnte sich über die Maßnahmen zum Ausgleich des Budgetdefizits
nicht einigen und trat zurück. Nach Konsultationen des Königs mit den Führern der großen
Parteien kam es zur Bildung eines „National Government“ unter Führung des bisherigen
Premierministers MacDonald, dem Vertreter aller drei Parteien angehörten. Die Mehrheit
der Labour Abgeordneten und ein Teil der Liberalen lehnten diese Regierung und ihre Poli-
tik ab. Die Regierung wurde von den Konservativen, der Mehrheit der Liberalen und den
Gefolgsleuten des Premierministers unter den Labour-Abgeordneten unterstützt.32 Mit der
Bildung des „National Government“ erreichte der Auflösungsprozess der Liberalen seinen
Höhepunkt, die Übergangsperiode der parlamentarischen Regierung in Großbritannien ging
zu Ende. Nunmehr standen sich die Konservativen (als die politisch entscheidende Gruppe
des „National Government“) und die Labour Party als geschlossene Opposition zu dieser
Regierung gegenüber. Damit war das Zweiparteien-System de facto wiederhergestellt, es
gab wieder eine eindeutige Alternative zwischen Regierung und Opposition. Die Regierung
besaß im Unterhaus eine ausreichende Mehrheit und konnte umgehend die erforderlichen
Maßnahmen ergreifen. Zunächst legte sie dem Parlament das neue Budget mit einem erheb-
lich verringerten Defizit33 vor. Am 20. September 1931 wurde dann die Goldeinlösungs-
pflicht aufgehoben. Sofort fiel der Kurs des £ von US-$ 4,86 auf US-$ 3,80, später auf US-
$ 3,10, was eine Abwertung um insgesamt ca. 32% bedeutete. Diese Abwertung konnte
reibungslos ohne jede währungspolitische Panik durchgeführt werden. Darin offenbart sich
die politische Handlungsfähigkeit der neuen Regierung und damit die Leistungsfähigkeit
des parlamentarischen Regierungssystems.
Die Maßnahmen waren durch die Mehrheit des „National Government“ im Parlament
abgesichert und wurden bei der am 27. Oktober 1931 folgenden Unterhauswahl von einer
überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gebilligt. Etwa 2/3 der Wähler stimmten für die
Kandidaten der Regierung, weniger als 1/3 für diejenigen der Opposition. Anhänger der
Regierung erhielten eine Mehrheit von 556 Sitzen gegenüber 52 Sitzen der Labour Party.
Gestützt auf eine parlamentarische Mehrheit hatte die Regierung gehandelt und mit Hilfe
des Auflösungsrechtes und der alternativen Fragestellung des Wahlsystems eine klare Ent-
scheidung der Wähler über diese Politik herbeigeführt. Durch die Wahl wurde die Vertrau-
ensbasis der Regierung kurzfristig erheblich gestärkt. Zu einer Zeit, als in den USA eine
demokratische Mehrheit des Kongresses und ein republikanischer Präsident sich gegensei-
tig blockierten und in Deutschland Brüning, zu dessen Politik der Notverordnungen es
keine parlamentarische Alternative mehr gab, sich bemühte, wenigstens vom Reichstag

31
Für Einzelheiten s. Hermens 1936, S. 88ff. und Skidelski 1967, S. 284ff., 335ff.
32
Einen Überblick über die politische Entwicklung und die mit der Bildung des „National Government“ verbun-
denen verfassungspolitischen Probleme geben Jennings 1951, S. 40ff. und Morrison 1956, S. 102ff. Eine ausführ-
liche Analyse der Krise enthält Bassett 1958.
33
Für eine Übersicht über die Höhe des Defizits und die Maßnahmen zu seiner Verminderung s. Skidelski 1967, S.
379.
34 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

toleriert zu werden,34 gab es in Großbritannien eine auf das unmittelbare Mandat der Wäh-
ler gestützte handlungsfähige Regierung.
Durch die de facto Abwertung wurden die Zahlungsbilanzkrise überwunden, die Def-
lationspolitik überflüssig und der Preisdruck beendet. Dazu trug auch der Import Duties Act
von 1932 bei, der einen generellen Importzoll von zunächst 10 % vorsah. Davon waren nur
die Produkte der Kolonien und der Dominions, Nahrungsmittel und Rohstoffe, ausgenom-
men. Der Zollsatz wurde innerhalb von wenigen Monaten auf mindestens 20 %, maximal
33 1/3 % angehoben. Zur Stabilisierung des neuen Wechselkurses wurde im April 1932 der
Exchange Equalisation Account eingerichtet, der durch Intervention am Devisenmarkt tätig
werden und auf diese Weise als Puffer den inländischen Geldumlauf von den Gold- und
Devisentransaktionen isolieren sollte. Die Aufgabe, den Pfundkurs zu stabilisieren, erwies
sich zunächst als schwierig, da der Account nicht über ausreichende Mengen Gold verfügte,
um £ in unbegrenzten Mengen anzukaufen. Als Anfang 1933 die Kreditkrisen in den USA,
Belgien, den Niederlanden und der Schweiz London als sicheren Kapitalanlageplatz er-
scheinen ließen, konnte der Account ausreichende Goldreserven ansammeln, um in der
Folgezeit auf beiden Seiten des Devisenmarktes wirksam zu intervenieren.35
Die geschilderten Maßnahmen (Verlassen des Goldstandards und Schutzzölle) bedeu-
teten einen völligen Kurswechsel der britischen Wirtschaftspolitik: „in mid-1931 the old
order, or as near an imitation of it as could be had, stood intact; eighteen months later it had
been replaced“.36 Die britische Wirtschaftspolitik erwartete nun nicht mehr vom Außen-
handel eine Wiederbelebung der Konjunktur. Diese Aufgabe fiel vor allem der Inlands-
nachfrage zu. „Seit 1930 beruhte die Ordnungspolitik auf einem allgemein akzeptierten
‚keynesianischen’ Konsens. Dem lag die feste Überzeugung zugrunde, dass Wirtschaftspla-
nung, Defizitfinanzierung und Vollbeschäftigung prinzipiell wünschenswert und wechsel-
seitig förderlich seien.“37 Für die Ankurbelung der Inlandsnachfrage bestanden nach der
Regelung der Zahlungsbilanzprobleme günstige Voraussetzungen. Das rasche Handeln der
Regierung hatte das allgemeine Vertrauen wieder hergestellt.
Im Jahre 1932 stagnierte das britische Volkseinkommen, während es in anderen Län-
dern weiter sank, um dann ab 1933 im Zuge einer allgemeinen Belebung der Wirtschaftsla-
ge wieder anzusteigen. Die Folge dieser Entwicklung war, dass die Weltwirtschaftskrise in
Großbritannien nicht die gleiche Verminderung des Volkseinkommens brachte wie in ande-
ren Industrieländern und dass Großbritannien wesentlich eher wieder das wirtschaftliche
Niveau der Zeit vor Beginn der Krise erreichte (s. Abb. 2). In den anderen Ländern war die
Krise wesentlich intensiver und ihre Überwindung erfolgte nur erheblich langsamer. Die
mit einem funktionsfähigen parlamentarischen System verbundene einheitliche Willensbil-
dung ermöglichte in Großbritannien rechtzeitige und zielführende Entscheidungen, die in
anderen Ländern durch die politischen Systeme erschwert wurden.38

34
S.d. Hermens 1968b, S. 484ff. bzw. Kaltefleiter 1968, S. 84ff.
35
Youngson 1968, S. 87ff.
36
Ebenda, S. 93.
37
Judt 2006, S. 612.
38
Für eine vergleichende Analyse s. Hermens 1964, S. 36ff.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 35

Abbildung 2: Entwicklung des Volkseinkommens in den großen Industrieländern


(Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA; 1925/1934 = 100)

Quelle: „Das deutsche Volkseinkommen 1938“, in: Wirtschaft und Statistik, 19 (1939) 21/22, S. 705.

Die positive Entwicklung in Großbritannien wurde vor allem durch die Kreditpolitik geför-
dert. Aus dem Abgehen vom Goldstandard ergab sich die logische Konsequenz einer Poli-
tik des leichten Geldes, die durch Interventionen des Exchange Equalisation Account au-
ßenwirtschaftlich abgesichert wurde. Durch einen niedrigen Diskontsatz und entsprechende
Offen-Markt-Politik der Bank von England gelang es, das Zinsniveau erheblich zu senken.
Die Zinssenkung ermöglichte im Dezember 1932 eine Konversion des Kriegsanleihezinses
von 5 % auf 3,5 %. Da diese Anleihe mit einem Betrag von ca. 2 Milliarden £ im Umlauf
blieb, ermäßigte sich der Posten „Zinslast“ im Staatshaushalt um 30 Millionen £ jährlich.
Mittelbare Folge dieser Konversion war, dass auch die Anleihen der Industrie entsprechend
konvertiert sowie die Ertragslage der Unternehmen und die Gewinnerwartungen der Unter-
nehmer verbessert werden konnten.39 Dadurch wurde die private Investitionstätigkeit ange-
regt.
Die Wohnungsbaukonjunktur bildete die „Initialzündung“ für das Wachstum neuer In-
dustrien, die den Aufschwung auslöste, der Großbritannien aus der Weltwirtschaftskrise
herausführte. Der Anstieg des Wohnungsbaus wurde durch verschiedene Faktoren begüns-
tigt: Zunächst einmal bestand ein erheblicher Wohnungsbedarf, es gab etwa eine Million
Wohnungen weniger als Familien. Die Folge waren entsprechend hohe Mieten. Hinzu kam
das niedrige Zinsniveau, so dass die Finanzierung von Mietwohnungen als eine ertragreiche
Investition gelten konnte. So kam es zu einer beachtlichen Baukonjunktur..40 Insgesamt
wurden während der 1930er Jahre ungefähr drei Millionen Wohnungen gebaut. Dazu trug
auch ein Aufschwung des Eigenheimbaus bei, der wesentlich durch das gestiegene Realein-

39
Youngson 1968, S. 90ff.
40
Für Einzelheiten s. Hermens 1936, S. 178ff.; s.a. Richardson 1967, S. 105.
36 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

kommen bei ca. 80 % der Bevölkerung ausgelöst wurde. Die bisherige Darstellung der
hohen Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Minderung des Lebensstandards ver-
nachlässigt die Tatsache, dass bei der weiter in Arbeit befindlichen, überragenden Mehrheit
der Bevölkerung durch den Fall des Preisniveaus bei konstanten Nominallöhnen das Real-
einkommen erheblich anstieg. Der Einzelhandelspreisindex für Nahrungsmittel fiel von
1927 bis 1933 von 160 auf 120. In diesem Umfang ergaben sich für die von der Arbeitslo-
sigkeit nicht betroffene Bevölkerung über die Beschaffung von Nahrungsmitteln hinaus
zusätzliche Konsummöglichkeiten.41
Die Nachfragesteigerung im Bauwesen hatte positive Folgen für die Zulieferindus-
trien, reichte aber nicht aus, um die freigesetzte Massenkaufkraft zu absorbieren. Vielmehr
trat auch bei neuen Industriezweigen eine zusätzliche Nachfrage auf, die ein entsprechendes
Wachstum dieser Branchen nach sich zog. Hier sind neben der Automobilindustrie vor
allem die Elektroindustrie zu nennen, aber auch die Bekleidungsindustrie und die Chemie-
industrie mit ihren Produkten Rayon, Leder, Gummi und Kork waren Branchen mit ver-
stärkter Nachfrage. Zur Versorgung der Häuser bzw. Wohnungen kam es zur Expansion der
Versorgungsunternehmen für Elektrizität, Wasser und Gas, für die Ausstattung der Häuser
wurden Möbel und Hausgeräte gebraucht. Es ergab sich ein Wettbewerb zwischen Baum-
wolle und Rayon, Gas/ Dampfkraft und Elektrizität, Eisenbahn und Straßenverkehr.42
Schließlich erfasste der Aufschwung – begünstigt durch die Erhöhung des Schutzzolls auf
50% – ab 1935 auch die Stahlindustrie. Im Kohlenbergbau begannen sich der Coal Mines
Act von 1930, die Abwanderung zahlreicher Bergarbeiter und Maßnahmen der Mechanisie-
rung auszuwirken. Während die beiden letztgenannten Faktoren vor allem ein Sinken der
Kosten bewirkten, sorgte die im Gesetz vorgesehene staatliche Preis- und Mengenregulie-
rung dafür, dass die Preise von 1930 bis 1933 nahezu konstant blieben und nach 1933 an-
zogen. Insgesamt stieg die Zahl der Beschäftigten in Großbritannien von 1933 bis 1937 um
über zwei Millionen. Die in den letzten Vorkriegsjahren einsetzende Wiederaufrüstung
sorgte schließlich für eine weitgehende Vollbeschäftigung in der britischen Volkswirt-
schaft.43

2. Nachkriegszeit (1945-1951)

Im Jahre 1945 stand die britische Wirtschaftspolitik vor einer Situation, die einerseits mit
der von 1919 vergleichbar war, andererseits aber erheblich schwieriger zu sein schien. Die
wesentlichen wirtschaftspolitischen Probleme der damaligen Zeit lassen sich an drei Tat-
beständen erläutern.

a) Vor allem musste an die Stelle der kriegswirtschaftlichen Verwendung von Produktions-
faktoren ein friedensmäßiger Ablauf des volkswirtschaftlichen Produktionsprozesses treten.
In diesem Zusammenhang waren als Aufgaben der Wirtschaftspolitik insbesondere die
Eingliederung aller durch die Demobilisierung der Streitkräfte freigesetzten Arbeitskräfte in

41
Sayers 1967, S. 55ff.
42
Richardson 1967, S. 104f., 126, 136f.
43
Youngson 1968, S. 98ff., 115, 131.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 37

den Produktionsprozess,44 die Umstellung der Produktion von Rüstungsgütern auf Konsum-
und Investitionsgüter, die Erneuerung des aufgrund von aufgeschobenen Reinvestitionen
stark in Mitleidenschaft gezogenen Produktionsmittelbestandes45 und die Wiederauffüllung
der während des Krieges erheblich verringerten Lagervorräte anzuführen.
b) Außerdem stellte sich die Frage nach dem Abbau des aus der Kriegsfinanzierung resul-
tierenden Kaufkraftüberhangs. In Großbritannien war nämlich – wie in den anderen kriegs-
führenden Ländern – zwischen 1939 und 1945 die private Nachfrage durch direkte Kontrol-
len beschränkt und so „systematisch eine gestaute (latente) Inflation geschaffen worden, die
es nun nach Kriegsende wieder zu beseitigen galt, ohne daß es jedoch zu Depressionser-
scheinungen und Massenarbeitslosigkeit kommen sollte“.46
c) Schließlich war auch der veränderten außenwirtschaftlichen Situation der Volkswirt-
schaft Rechnung zu tragen. Da Großbritannien zur Finanzierung des Krieges für 1,1 Mrd. £
Kapitalbesitz im Ausland veräußert hatte,47 blieben nach dem Kriege die vorher in beträcht-
licher Höhe eingehenden Erträge dieser Auslandsinvestitionen aus. Das führte zu einer
erheblichen Verschlechterung der Devisenposition. War Großbritannien vor dem Krieg in
der Lage gewesen, sein Außenhandelsdefizit devisentechnisch durch „invisible earnings“
abzudecken, deren wesentlichen Bestandteil die Kapitalerträge bildeten, so war seine Zah-
lungsbilanz nunmehr in stärkerem Maße von den Erfolgen im Exportgeschäft abhängig.48
Eine weitere Belastung der Devisenposition ergab sich aus dem ebenfalls durch die Kriegs-
finanzierung verursachten erheblichem Anwachsen der kurzfristigen Verschuldung gegen-
über den Mitgliedern des Sterling-Gebiets, die von 517 Mio. £ (Ende 1938) auf fast 2,5
Mrd. £ (Ende 1945) angestiegen war. Problematisch war weniger die absolute Höhe der
Verpflichtungen. Vielmehr fehlte den Briten ein angemessener Vorrat an Gold und Devi-
sen, der kurzfristige Abzüge aus diesen Mitteln ermöglicht und/oder langfristig eine Rück-
zahlung zugelassen hätte.49 Wie in der Zwischenkriegszeit war Großbritannien auch in der
Nachkriegszeit auf Exporte angewiesen. Die Ursache hatte sich verändert, an die Stelle der
beschäftigungspolitischen Notwendigkeit war die währungspolitische getreten; die volks-
wirtschaftliche Aufgabe blieb die gleiche: Die britische Wirtschaft musste exportieren und
die Wirtschaftspolitik musste diese Exporte nicht nur zulassen, sondern auch fördern.

Die Aufgabe, die umfangreichen binnen- und außenwirtschaftlichen Nachkriegsprobleme


zu lösen, fiel einer nach den Wahlen im Juli 1945 neu gebildeten Regierung zu. Die Mit-
glieder der Regierung stellte die aus den Wahlen als Mehrheitspartei hervorgegangene
Labour Party. Die Handlungsfähigkeit der Regierung war durch ihre Mehrheit und den
institutionellen Bezugsrahmen gesichert. Für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik in der
unmittelbaren Nachkriegszeit kam es darauf an, welche Überlegungen die Führer der La-
bour Party ihren Entscheidungen zugrunde legen würden. Als beherrschende Einflussfakto-
44
Die Bedeutung dieser Frage wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass im Juli 1945 noch 24% aller Arbeitskräfte in
den Streitkräften gebunden waren (Dow 1965, S. 15, Tab. 2.1).
45
Das Ausmaß der unterlassenen Investitionen zeigt ein Vergleich der gesamten Brutto-Anlageinvestitionen der
fünf Kriegsjahre 1940-44 mit denen der Jahre 1939 und 1945. Die Summe aller Kriegsjahre liegt nur ungefähr
25% bzw. 50% über der Brutto-Investition des letzten Vorkriegs- bzw. ersten Nachkriegsjahres („National Income
und Expenditure of the United Kingdom 1938-1946“, S. 23).
46
Schierloh 1964, S. 20.
47
Ebenda, S. 24.
48
Dow 1965, S. 9, 14.
49
Einwirkungen dieser „Sterling-Balances“ auf die ohnehin durch einen Kaufkraftüberhang gekennzeichnete
Binnenwirtschaft seien hier nur als eine weitere bedrohliche Möglichkeit vermerkt.
38 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

ren sind hier vor allem zwei Erfahrungen der Zwischenkriegszeit zu nennen: der Nach-
kriegsboom der Jahre 1919/20 und die Dauerarbeitslosigkeit in den 1920er und 1930er
Jahren. „Die Depressionsfurcht kann fast als traumatisch für die gesamte britische Wirt-
schaftspolitik der ersten Nachkriegsjahre bezeichnet werden“.50 Sie bestimmte die Festle-
gung des wirtschaftspolitischen Nachkriegsziels „Vollbeschäftigung“ und die Auswahl der
dazu erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen.
Der für die Wirtschaftspolitik zuständige Schatzkanzler in der Regierung Attlee, Hugh
Dalton, setzte nicht nur die bis 1945 zum Zwecke der Kriegsfinanzierung betriebene Politik
niedriger Zinssätze („cheap money“) fort, sondern versuchte sogar, den Zinssatz, der am
Geldmarkt bei 1% lag und am Kapitalmarkt 3% betrug, noch weiter zu senken („ultra cheap
money“). Auch wenn diese Politik nicht mit ernsten Nachteilen verbunden war, weil die
Größenordnung der Zinssenkung keinen zusätzlichen Investitionsanreiz bot,51 so leistete sie
sicher keinen Beitrag zur Verminderung des für die Nachkriegszeit charakteristischen
Kaufkraftüberhangs. Die Briten waren ein „erschöpftes Volk mit erschöpften Maschinen.“52
Die Waren mussten vor allem in den USA beschafft werden; dafür brauchte man allerdings
Dollar. Eine vorsichtige Beurteilung der konjunkturellen Wirkungen der Finanzpolitik in
der ersten Nachkriegszeit war angesichts der erheblichen Budget-Defizite nicht möglich.
Die von Schatzkanzler Dalton eingebrachten Budgets der Jahre 1945/46, 1946/47 und
1947/48 sahen erhebliche Defizite des Gesamthaushalts („above the line“ plus „below the
line“) vor. Das tatsächlich erreichte Defizit dieser drei Haushaltsjahre betrug insgesamt fast
4,1 Mrd. £ (vgl. Tab. 4). Da dieser Betrag über Schatzwechsel durch die Bank von England
finanziert wurde, trug er in erheblichem Umfang dazu bei, die ohnehin schon zu große
monetäre Gesamtnachfrage weiter zu erhöhen. Damit erschwerte die Haushaltspolitik der
ersten Nachkriegsjahre die Aufgabe der Wirtschaftspolitik, die in den Kriegsjahren aufge-
staute Nachfrage so zu kanalisieren, dass sich inflationäre Entwicklungen so weit wie mög-
lich vermeiden ließen. Neben den Verzicht auf eine antizyklische Geldpolitik trat eine pro-
zyklische Fiskalpolitik, sodass als einziges Instrument zur Regulierung der Nachfrage die
während des Krieges eingeführten Direktkontrollen des Wirtschaftsablaufs durch staatliche
Stellen zur Verfügung standen.53
Bei diesen Kontrollen handelte es sich um ein System von Konsumgüter-
Rationierungen54 (z.B. bei Kleidung und Lebensmitteln), Preisüberwachungsmaßnahmen
und Rohstoff-Kontingenten, das dem Ziel einer kriegswirtschaftlich optimalen Verwendung
der volkswirtschaftlichen Ressourcen angemessen war, nun aber gewissermaßen „umfunk-
tioniert“ wurde. Konsumgüter-Rationierung und Preisüberwachung erhielten jetzt die Auf-
gabe, das Wirksamwerden der latenten Inflationsgefahr zu verhindern. Die aus der Kriegs-
wirtschaft übernommenen Kontrollmechanismen erwiesen sich aber dazu als nur teilweise
anwendbar, weil sie für eine andere Situation geschaffen worden waren. Auch als Instru-
mente einer von der Labour Party befürworteten gesamtwirtschaftlichen Planung waren sie
nicht geeignet. Zwar konnte die Inflationsgefahr in den ersten Nachkriegsjahren einge-
dämmt werden. Damit war jedoch das Problem des Kaufkraftüberhangs nur hinausgescho-
ben, nicht gelöst. Aber selbst dieser geringe Erfolg erforderte den relativ hohen Preis einer

50
Schierloh 1964, S. 27.
51
Vgl. Dow 1965, S. 21f.; anderer Ansicht ist Schierloh 1964, S. 34.
52
Judt 2006, S. 271.
53
Schierloh 1964, S. 204.
54
Judt 2006, S. 193.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 39

generellen Verzögerung der volkswirtschaftlichen Anpassungsprozesse. „Controls were far


more effective in sharing out what supplies were available, than in turning out the quanti-
ties that were be shared”.55 Gerade darauf kam es aber angesichts des zurückgestauten
Kaufkraftüberhangs und der durch die Art der Kriegsfinanzierung verursachten Notwen-
digkeit, verstärkt zu exportieren, um Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu vermeiden, ganz
entscheidend an. Zwar konnte man den Verkauf bestimmter Güter im Inland verbieten und
besonders exportfreudigen Firmen zusätzliche Materialzuteilungen gewähren, aber auch
dieser Einsatz der administrativen Kontrollen reichte als Mittel der Exportförderung nicht
aus; im Zahlungsverkehr mit dem Ausland ergab sich eine empfindliche Devisenlücke.
Diese Devisenlücke resultierte nicht nur aus der handelspolitischen Situation Großbri-
tanniens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der es auf Importe vor allem von Rohstof-
fen angewiesen war, ohne selbst in der Lage zu sein, eigene Lieferungen von Fertigwaren
in ausreichender Menge bereit zu stellen, sondern auch aus der Rolle des £ als „einer regio-
nalen Reservewährung“56 der „Sterling-Area“-Länder. Die Währungsreserven der ange-
schlossenen Länder waren die bereits erwähnten „Sterling Balances“ in London. Der inter-
nationale Zahlungsverkehr zwischen den beteiligten Ländern wurde dort abgewickelt, die
im Außenhandel erzielten Überschüsse an Gold und US-Dollars wurden der Bank von
England übertragen. Diese verwaltete also die Devisenreserven des gesamten Sterling-
Gebietes im sogenannten „Dollar-Pool“. Als nach dem Kriege „nicht nur das Vereinigte
Königreich Importgüter aus den Vereinigten Staaten zur Beseitigung der Kriegsfolgen
benötigte, sondern auch die überseeischen Sterling-Länder in den Jahren 1946-49 ein Zah-
lungsbilanzdefizit gegenüber dem Dollarraum hatten“,57 ergab sich eine empfindliche „Dol-
larlücke“ (Tab. 3). Verständlicherweise waren die unabhängigen Sterling-Länder, die wäh-
rend des Krieges ihre Devisenreserven zur Verfügung gestellt hatten, nicht bereit, nach dem
Kriege auf den zur Finanzierung eigener Entwicklungsprojekte erforderlichen Umtausch
ihrer Guthaben in Dollar zu verzichten.

Tabelle 3: „Dollarlücke“ des „Sterling-Gebietes“ (1946-1950; in Mio. US-Dollar)


1946 1947 1948 1949 1950
1) Salden der laufenden Transaktionen
mit dem Dollar-Gebiet
a) Vereinigtes Königreich - 1.128 - 2.237 - 1.283 - 1.097 + 122
b) Britische Kolonien + 134 + 40 + 206 + 202 + 408
c) unabhängige Sterling-Länder - 427 - 1.272 - 469 - 461 + 65
d) = a) + b) + c) - 1.421 - 3.479 - 1.546 - 1.356 + 595
2) Sondertransaktionen
a) Anleihen des Vereinigten König-
+ 1.123 + 3.513 + 1.419 + 1.248 + 750
reichs
b) Goldverkäufe der Sterling-
Länder an das Vereinigte König + 334 + 342 + 222 + 234 + 281
reich
c) = a) + b) + 1.457 +3.855 + 1.641 + 1.482 + 1.031
1) + 2) + 36 + 376 + 95 + 126 + 1.626
Quelle: Maaß 1968, S. 62f. (Tab. 8).

55
Dow 1965, S. 16.
56
Maaß 1968, S. 54.
57
Ebenda, S. 59.
40 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Um die „Dollarlücke“ zu schließen, musste Großbritannien bei den Vereinigten Staaten und
Kanada Kredite aufnehmen.58 Ein von Keynes 1945 mit den USA im Auftrag der britischen
Regierung ausgehandelter Kredit war 1947 bereits aufgebraucht.59 Zu den Bedingungen der
Kreditgewährung gehörte es u.a., dass Großbritannien sich verpflichtete, innerhalb eines
Jahres nach Inkrafttreten des Abkommens die volle Konvertibilität des £ herzustellen.60
Nachdem das Abkommen im Juli 1946 ratifiziert worden war, „konnte die britische Regie-
rung nicht umhin, am 15.7.1947 die freie Konvertierbarkeit des £ in $ für alle laufenden
Transaktionen zu erklären“.61 Die Mittel des Marshall-Plans, die überwiegend an Großbri-
tannien und Frankreich vergeben wurden, mussten in Großbritannien zu 97% zum Schul-
denabbau benutzt werden und standen somit nicht für Investitionen zur Verfügung.62 Weil
der Dollar im internationalen Zahlungsverkehr leichter verwendbar war als das £, setzte
sofort eine Flucht der ausländischen Gläubiger aus dem £ ein. Die britische Regierung
musste, um weitere Devisenverluste zu vermeiden, bereits am 23.8.1947 die Devisenbe-
wirtschaftung wiederherstellen. Das Experiment mit der £-Konvertibilität trug also nur
dazu bei, eine ohnehin schwierige Situation noch zu verschlechtern. Eine günstige Folge
der Krise war allerdings, dass die Regierung sich nunmehr veranlasst sah, ihre Wirtschafts-
politik zu überprüfen.
Im November 1947 brachte Schatzkanzler Dalton einen Nachtragshaushalt ein, der be-
achtliche Steuererhöhungen vorsah, und leitete damit die „Austerity“-Politik ein, die mit
dem Namen seines Nachfolgers, Sir Stafford Cripps, verbunden wird.63 Das Ergebnis des
Nachtragshaushaltes war, dass die Haushaltsrechnung für 1947/48 praktisch ausgeglichen
wurde (s. Tab. 4). Die Haushalte der folgenden Jahre standen im Zeichen einer bewussten
„disinflation policy“, deren Ziel es war, durch finanzpolitische Maßnahmen den im Inland
bestehenden Nachfrageüberhang abzubauen. Da nunmehr die Finanzpolitik als Instrument
gesamtwirtschaftlicher Steuerung herangezogen wurde, war es möglich, die direkten Kon-
trollen zu überprüfen und einen großen Teil von ihnen als überflüssig abzuschaffen („bonfi-
re of controls“ im November 1948).64 Um das wirtschaftspolitische Ziel der „disinflation“
zu erreichen, bestand Schatzkanzler Cripps darauf, keine Steuersenkungen durchzuführen.
Die durch diese Politik erzielten Haushaltsüberschüsse wurden zur Schuldentilgung ver-
wendet.
Noch als Handelsminister hatte Sir Stafford Cripps im September 1947 Maßnahmen
zur Exportförderung eingeleitet, die im Jahre 1948 zu einer Steigerung des Exports um 1/4
der Vorjahresleistung führten. Damit schien die Voraussetzung für eine nachhaltige Ver-
besserung der Zahlungsbilanzsituation geschaffen. Wegen des relativ hohen britischen
Preisniveaus und der andauernden „Dollar-Lücke“ war eine endgültige Lösung des Zah-
lungsbilanzproblems aber nur durch eine Abwertung des £ zu erwarten, die auch von den
USA befürwortet wurde. Großbritannien lehnte eine solche Maßnahme jedoch ab, bis sich
die Regierung durch die in Folge einer Rezession in den USA verschlechterte handelspoliti-
sche Situation des Sterling-Gebietes und durch eine in großem Umfang einsetzende Wäh-
rungsspekulation gegen das £ praktisch gegen ihren Willen gezwungen sah, am 18. Sep-

58
Judt 2006, S. 110, 113.
59
Sturm 1991, S. 21.
60
Youngson 1968, S. 161f.
61
Schierloh 1964, S. 36. Die volle Konvertierbarkeit des Pfundes trat aber erst 1959 in Kraft (Judt 2006, S. 133).
62
Judt 2006, S. 104.
63
Dow 1965, S. 28.
64
Für die gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieser Maßnahmen s. die Schaubilder bei Dow 1965, S. 147, 161.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 41

tember 1949 um 30,5 % abzuwerten. Der Zwang bezog sich dabei nur auf die Tatsache der
Abwertung, nicht auf die Höhe des Abwertungssatzes.65 Youngson meint, dass ein Abwer-
tungssatz von 20 % ausgereicht hätte, um den Preis- und Kostenaspekten zu entsprechen.66
Ein darüber hinausgehender Abwertungssatz wurde gewählt, „um alle Spekulationen auf
etwaige weitere Devalvationen für die Zukunft zu beseitigen und die britische Wettbe-
werbsfähigkeit nachhaltig zu sichern“.67

Tabelle 4: Tatsächliche Salden des britischen Staatshaushalts in der Nachkriegszeit


(Überschüsse +; Defizite -)
Haushaltsjahr Saldo in Mio. £ Schatzkanzler Saldo insgesamt in
Mio. £ („above“ plus
„below-the-line“)
1945/46 - 2.231
1946/47 - 1.852
1947/48 - 14 Dalton - 4.097
1948/49 + 379
1949/50 - 114
1950/51 + 171 Cripps + 436
1951/52 - 158 Gaitskell - 158
Quelle: Schierloh 1964, S. 31, 39ff., 46f.

Die Gefahr einer Abwertung liegt darin, dass sie nicht nur eine Senkung der Exportgüter-
preise (in fremder Währung), sondern auch eine Erhöhung der Importgüterpreise (in eige-
ner Währung) bedeutet. Dieser Effekt kann besonders nachteilig wirken für ein Land, das
wie Großbritannien in erheblichem Maße Rohstoffe importieren muss und Fertigwaren
exportieren will, weil die Rohstoffpreise als Faktorkosten in die als konstant unterstellten
Inlandspreise der Exportgüter eingehen und so der Außenhandelsvorteil aus der Abwertung
teilweise zunichte gemacht werden kann. Eine solche Wirkung der Abwertung von 1949
muss jedoch als gering angesehen werden, weil rund 30 andere Länder (darunter wichtige
Rohstofflieferanten) ganz oder teilweise der britischen Abwertung folgten. So brachte die
Abwertung im Wesentlichen den gewünschten Erfolg, nämlich die Verbesserung der au-
ßenwirtschaftlichen Position Großbritanniens gegenüber dem Dollarraum. Im Jahre nach
der Abwertung (1950) konnten Großbritannien und die unabhängigen Sterling-Länder bei
den laufenden Transaktionen mit dem Dollarraum erstmalig einen Überschuss erzielen (s.
Tab. 3), die „Dollar-Lücke“ war geschlossen. Auch binnenwirtschaftlich schien sich ein
Erfolg der Abwertung einzustellen. Zwar stiegen die Preise an, was eine Einschränkung des
privaten Konsums („austerity“) bedeutete, aber die Gewerkschaften unterstützten die Fort-
setzung der „disinflation policy“ durch eine beachtliche Zurückhaltung bei Lohnforderun-
gen, so dass es nicht zu spektakulären Lohnerhöhungen kam. Eine gewisse Erhöhung des
Lohn- und Preisniveaus war durch den hohen Abwertungssatz gewissermaßen „eskomp-

65
Dow 1965, S. 35, 38, 41, 43f.
66
Youngson 1968, S. 173.
67
Schierloh 1964, S. 44.
42 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

tiert“.68 Aber auch die Hilfsgelder des Marshallplans ab 1947 spielten für die Ankurbelung
des Aufschwungs eine Rolle.69
Diese positive Entwicklung fand aber ein abruptes Ende, als im Juni 1950 der Korea-
Krieg ausbrach und sofort Vorratskäufe in erheblichem Umfang einsetzten. Im August
1950 beschlossen die Gewerkschaften eine aktive Lohnpolitik. Beides setzte einen Prozess
der „Kosteninflation“ in Gang, der noch durch eine im Zusammenhang mit dem aus Anlass
des Korea-Krieges im Februar 1951 begonnenen Aufrüstungsprogramm auftretende „Nach-
frageinflation“ verstärkt wurde. Im Haushalt 1951/52 sah der neue Schatzkanzler, Hugh
Gaitskell, Mehrausgaben in Höhe von 960 Mio. £ vor. Zwar gelang es ihm, diese Ausgaben
größtenteils durch Steuererhöhungen zu finanzieren, dennoch blieb ein expansiver Beitrag
der Finanzpolitik in Höhe des Haushaltsdefizits (s. Tab. 4) in einer wirtschaftspolitischen
Situation, die eine antizyklische Finanz- und/oder Kreditpolitik erfordert hätte. Die außen-
wirtschaftliche Folge dieser Wirtschaftspolitik war eine erneute Zahlungsbilanzkrise.
War Großbritannien zunächst gegenüber den USA nicht konkurrenzfähig und nur
teilweise in der Lage zu liefern, so hatte sich diese Situation seit 1949 erheblich zugunsten
Großbritanniens verändert. Die Kredite aus den USA, an die sich der Marshallplan an-
schloss, hatten den Wiederaufbau der Wirtschaft vorangetrieben.70 Das fand seinen Nieder-
schlag in steigenden Exporten nicht nur in Textilien, sondern auch in anderen Gütern. Im
Jahre 1951 begannen aber die Verkäufermärkte zu verschwinden, die alten und zum Teil
neue Konkurrenten traten auf und bewirkten Exporteinbußen der britischen Industrie.71 Als
die britischen Exporteure nun versuchten, ihre angestammten Märkte in den Common-
wealth-Ländern wieder zu beliefern, mussten sie feststellen, dass dort inzwischen eine ei-
gene Industrie entstanden war. Die Erschließung neuer Exportmärkte wurde erforderlich zu
einer Zeit, als sich aufgrund der verschiedenen binnen- und außenwirtschaftlichen Verände-
rungen das Verhältnis zwischen Export- und Import-Preisniveau („terms of trade“) im briti-
schen Außenhandel erheblich verschlechtert hatte.72 Hinzu kam, dass die Wiederaufrüstung
nicht nur die inländischen Kapazitäten in Anspruch nahm, sie belastete auch die Zahlungs-
bilanz, vor allem der Kauf von ausländischen Werkzeugmaschinen und die Beschaffung
von Vorräten strategisch wichtiger Güter erforderten erhebliche Devisen. Dieses Syndrom
von Faktoren führte zur Zahlungsbilanzkrise von 1951,73 der sich nach der Wahlniederlage
der Labour Party im Oktober 1951 die neue Regierung der Konservativen gegenüber sah.
Ein weiteres Ziel der Labour Party war von jeher die Verstaatlichung voranzutreiben.
Dazu fehlte der Partei allerdings ein konkretes Konzept. „In der Praxis wurde schließlich
sehr behutsam verfahren. Es gab keine Verstaatlichungen ohne Entschädigungszahlungen
an die früheren Besitzer.“74 Zu den bereits bestehenden Staatsbetrieben, z.B. in der Strom-
versorgung, kamen weitere hinzu. „Als erstes ging die Notenbank ... am 1. März 1946 in
Staatseigentum über, es folgte die Verstaatlichung der Fluglinien im gleichen Jahr, von
Kohle im Jahre 1947, des öffentlichen Transportwesens und der stromerzeugenden Wirt-
schaft 1948, der Gasversorgung 1949 und schließlich der Eisen- und Stahlindustrie 1951.“75

68
Youngson 1968, S. 173f.
69
Sturm 1991, S. 21.
70
Judt 2006, S. 113, 114.
71
Youngson 1968, S. 225f.
72
Schierloh 1964, S. 45.
73
Dow 1965, S. 57, 63.
74
Sturm 1991, S. 22.
75
Ebenda, S. 22.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 43

Damit waren keineswegs nur profitable Unternehmen in Staatseigentum übergegangen,


aber die Labour-Regierung hatte – wie in ihrem Wahlprogramm 1945 angekündigt – die
Veränderung der Eigentumsverhältnisse durchgesetzt.
Betrachtet man die britische Wirtschaftspolitik zwischen 1945 und 1951, so drängen
sich manche Zweifel hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Regierung
auf. Insgesamt muss die Wirtschaftspolitik der Labour Nachkriegsregierung wohl als wenig
erfolgreich angesehen werden. Zwei außenpolitisch determinierte Einflussfaktoren tragen
zunächst einmal zu einer gewissen Entlastung der Regierung Attlee bei: Das gescheiterte
Experiment mit der £-Konvertibilität wurde ihr durch die amerikanische Politik und die
Korea-Krise durch die sowjetische Außenpolitik aufgezwungen. Innerhalb der durch die
außenpolitische Situation gezogenen Grenzen hat die britische Regierung in beiden Fällen
ihre Wirtschaftspolitik mit einem Maximum an Rationalität und Entschlossenheit den Er-
fordernissen der Situation angepasst. Auch die „austerity policy“ von Cripps kann noch als
Aktivum dieser Periode angesehen werden, allerdings stand sie bereits unter einem „zu spät
und zu wenig“. 76 Warum verzichtete auch er, nachdem die Gefahr inflatorischer Wirkun-
gen des bestehenden Kaufkraftüberhangs erkannt war, noch auf eine restriktive Geldpoli-
tik? Warum bemerkte sein Vorgänger Dalton erst in den letzten Wochen seiner Amtszeit,
dass eine einseitige Orientierung der Wirtschaftspolitik am Ziel der Vollbeschäftigung auf
die Dauer nicht durchführbar war?
Diese Fragen lösen Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Labour Party aus, die aber
letztlich auf das Regierungssystem zurückfallen. Die Situation der britischen Exporteure im
Jahre 1951 gibt einen Hinweis auf einen anderen Aspekt der Untersuchung: Warum gelang
es auch nach diesem Krieg den Exporteuren nicht, sich auf die Nachfrageveränderungen im
Welthandel einzustellen, obwohl die Wirtschaftspolitik optimale Exportbedingungen ge-
schaffen hatte? Diese beiden Fragen nach der Handlungsfähigkeit des britischen Regie-
rungssystems und nach der Anpassungsfähigkeit der britischen Wirtschaft stellen sich auch
in der nächsten Periode der britischen Wirtschaftspolitik.

3. Wirtschaftspolitik des Stop-Go (1951-1964)

Die wirtschaftspolitische Aufgabe der 1951 gebildeten Konservativen Regierung und ihrer
Nachfolgerinnen unterschied sich grundlegend von den wirtschaftspolitischen Problemen,
mit denen frühere Regierungen konfrontiert worden waren. In der Zwischenkriegszeit stell-
te sich vor allem die Aufgabe, die Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und während des
Krieges die Frage nach dem kriegswirtschaftlich optimalen Einsatz der Ressourcen. Die
Politik der Nachkriegszeit wurde bestimmt von dem Bestreben, die Kriegsfolgen zu besei-
tigen, ohne es zur Massenarbeitslosigkeit kommen zu lassen. Im Herbst 1951 galt es, den
Ausgleich der Zahlungsbilanz herbeizuführen, die Stabilität des Preisniveaus herzustellen
und den inzwischen erreichten hohen Beschäftigungsstand zu sichern, kurz, die Ziele des
sogenannten „magischen Dreiecks“ zu realisieren. Hinzu kam im Laufe der Zeit als „vierte
Ecke“ die Aufgabe, eine als unbefriedigend empfundene Wachstumsrate zu erhöhen.
Die reale jährliche Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts zu Faktorkosten lag in den
Jahren 1951-64 zwischen – 0,4 % und + 5,7 %; der Durchschnitt betrug + 2,7 % (Tab. 5).

76
Grant (2002, S. 184) schätzt die Einflussnahme der Regierung Attlee auf die Ökonomie zwischen 1945 und
1951 im Vergleich der verschiedenen Phasen als moderat ein.
44 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Die relativ großen Schwankungen in den Wachstumsraten der britischen Volkswirtschaft


werden häufig auf die beinahe periodisch wiederkehrenden Zahlungsbilanzkrisen und die
zu ihrer Überwindung erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zurückgeführt.
Der Zusammenhang zwischen der Zahlungsbilanzkrise von 1951/52 und den wirtschaftli-
chen Folgen des Korea-Krieges wurde bereits dargestellt. „Für die drei folgenden Zah-
lungsbilanzkrisen (1954/55, 1960/61, 1964/65) ist charakteristisch, dass ihnen stets eine
Expansion der britischen Wirtschaft vorausging. Da die Importe des Vereinigten König-
reichs stärker und schneller stiegen als die Exporte, mussten wegen der niedrigen Wäh-
rungsreserven Maßnahmen ergriffen werden, die zwar die Krisensituation beseitigen konn-
ten, die aber gleichzeitig das Wachstum des Bruttosozialprodukts hemmten. Dieses Wech-
selspiel zwischen expansiven Maßnahmen zur Ankurbelung des Wachstums und kontrakti-
ven zur Bekämpfung auftretender Zahlungsbilanzkrisen ist als britische Stop-Go-Policy
bekannt geworden.“77

Tabelle 5: Indikatoren für die Stop-Go-Politik 78


Jahr reales Wachstum des Saldo der Leis- Arbeitslosenquote wirtschaftspolitische
BSP zu Faktorkosten tungsbilanz (in %) Maßnahmen
(in %) (in Mio. £)
1951 2,5 - 365 1,2
1952 - 0,4 + 163 2,0 stop
1953 4,6 + 145 1,6 go
1954 3,7 + 117 1,3
1955 2,9 - 155 1,1 stop
1956 2,2 + 208 1,2
1957 1,9 + 233 1,4
1958 0,0 + 347 2,1 go
1959 3,3 + 149 2,2
1960 4,8 - 258 1,6 stop
1961 3,8 +5 1,5
1962 1,1 + 127 2,0 go
1963 4,2 + 116 2,5
1964 5,7 - 406 1,6 stop
Quellen: “National Income and Expenditure, United Kingdom Balance of Payments”, in:„Annual Abstract of
Statistics”.

Beim Stop-Go handelt es sich um das Ergebnis einer Politik, die von den beiden Zielen
Vollbeschäftigung und Zahlungsbilanzausgleich jeweils jenes forciert anstrebte, das gerade
gefährdet erschien. Kam es in Folge einer Rezession zu einer relativ beachtlichen Arbeits-
losigkeit, d.h. zu einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von ca. 2 %, dann wurde durch

77
Maaß 1968, S. 82.
78
In dem Konflikt wirtschaftspolitischer Ziele wurde dem Ziel „Preisniveaustabilität“ allenfalls nachgeordnete
Bedeutung für die Erreichung des Ziels „Zahlungsbilanzausgleich“ beigelegt. Deshalb ist dieser Indikator in der
Tabelle vernachlässigt.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 45

expansive Maßnahmen der Wirtschaftspolitik ein verstärktes Wachstum durch privaten


Konsum angeregt, das wiederum zur weitgehenden Vollbeschäftigung, d.h. einer Arbeitslo-
senquote zwischen 1,1 und 1,5 %, führte. Das verstärkte Wachstum löste aber nicht nur
eine Mengenkonjunktur, sondern letztlich auch einen Preisauftrieb aus, der bei starren
Wechselkursen zu höheren Importen und einer Stagnation des Exports führte. Daraus ergab
sich ein Zahlungsbilanzdefizit, zu dessen Bekämpfung restriktive Maßnahmen ergriffen
wurden, die dann wieder zu einer Rezession führten. Drei verschiedene Indikatoren geben
bereits einen recht genauen Überblick über den zeitlichen Ablauf der Stop-Go-Zyklen (Tab.
5), die für die Wirtschaftspolitik der Konservativen Regierungen zwischen 1951 und 1964
charakteristisch sind.
Die Indikatoren in Tab. 5 zeigen, dass die Aufschwungphasen in den Jahren 1953/54,
1959/60 und 1963/64 lagen. Die in der Spalte „wirtschaftspolitische Maßnahmen“ einge-
tragenen Kurzbeschreibungen für die grundsätzliche Tendenz der wirtschaftspolitischen
Maßnahmen (Stop bzw. Go) vermögen natürlich nicht den genauen Termin der einzelnen
Maßnahmen anzugeben, wohl aber den zyklischen Ablauf der politischen Entscheidungen
aufzuzeigen.79 Zur Verdeutlichung der Stop-Go-Zyklen sind alle Leistungsbilanzdefizite,
die drei niedrigsten Wachstumsraten und die Höhepunkte der Arbeitslosigkeit fett gedruckt.
Obwohl die Angaben auf das ganze Jahr bezogen sind, kennzeichnen sie bereits deutlich
die entscheidenden Situationen für die Wirtschaftspolitik der Konservativen Regierungen.
Die ebenfalls fett gedruckten Jahreszahlen bezeichnen die Daten der Unterhauswahlen.
Neben der Wahl von 1951, die den Machtwechsel von der Labour Party zu den Konservati-
ven herbeiführte, sind das die beiden Wahlen von 1955 und 1959, die jeweils auf dem Hö-
hepunkt einer Go-Phase stattfanden, und die Wahl von 1964, die eine Rückkehr der Labour
Party in die Regierungsverantwortung bewirkte. Für den Zusammenhang zwischen Wirt-
schaftspolitik und Wahltermin ist zu beachten, dass Stop-Maßnahmen nach der Wahl vom
Mai 1955 im Oktober 1955 und nach der Wahl vom Oktober 1959 im April 1960 eingelei-
tet wurden. Das Wahlergebnis war in beiden Fällen gleich: Die regierenden Konservativen
kehrten mit einer vergrößerten Mehrheit ins Unterhaus zurück. Der Wahl im Oktober 1964
gingen seit dem Februar 1964 restriktive Maßnahmen voraus. Das Ergebnis dieser Wahl
bedeutete einen Machtwechsel.
Auslöser der restriktiven Maßnahmen war, dass sich für das erste Quartal 1964 eine
erhebliche Vergrößerung des Handelsbilanzdefizits abzeichnete. Auch in diesem Falle
erwies sich das Ausmaß des Handelsbilanzdefizits als bestimmend für den Saldo der Zah-
lungsbilanz. Tabelle 6 zeigt, dass die vier Jahre mit den größten Handelsbilanzdefiziten
zugleich die Jahre der britischen Zahlungsbilanzkrisen gewesen sind. Handelsbilanzdefizite
bis zu einer Größenordnung von 250 Mio. £ jährlich konnte Großbritannien durch die Devi-
senüberschüsse aus Dienstleistungen und Kapitalerträgen abdecken. Größere Defizite in der
Handelsbilanz bewirkten eine Verminderung der britischen Devisenreserven bzw. eine
Erhöhung der internationalen Verbindlichkeiten Großbritanniens. Das gilt vor allem für die
Zahlungsbilanzkrisen von 1964 und 1951.

79
Für die ausführliche Aufzählung der einzelnen (restriktiven) Maßnahmen siehe Maaß 1968, S. 88f. – Eine
vergleichende Übersicht über die expansiven Maßnahmen fehlt. Für einen Überblick siehe Schierloh 1964, S. 48ff.
46 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Tabelle 6: Wichtige Positionen der britischen Zahlungsbilanz (1951-1964; in Mio. £)


Jahr Handelsbilanz Dienstleistungen langfristiger Restposten internationale
und Kapitalerträ- Kapitalverkehr Verbindlichkeiten
ge
1951 - 747 + 337 - 315 - + 725
1952 - 128 + 355 - 180 + 48 - 92
1953 - 219 + 398 - 241 + 45 + 17
1954 - 192 + 406 - 240 + 12 + 17
1955 - 356 + 273 - 183 + 100 + 166
1956 + 53 + 155 - 187 + 42 - 63
1957 - 29 + 262 -106 + 80 -207
1958 + 29 + 318 - 196 + 64 - 215
1959 - 118 + 267 - 255 - 28 + 134
1960 - 408 + 150 - 192 + 292 + 158
1961 - 153 + 158 + 68 - 34 - 39
1962 - 104 + 231 - 98 +60 -89
1963 - 83 + 199 - 155 - 71 + 110
1964 - 545 + 143 - 374 + 45 + 731
Quellen: Maaß 1968, S. 78f.; „Annual Abstract of Statistics 1967“, London 1967, S. 242.

Als die Konservative Regierung im Herbst 1951 mit einem Zahlungsbilanzdefizit konfron-
tiert wurde, ließ sich zunächst ein Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik erwarten. Aller-
dings handelte es sich dabei mehr um eine Veränderung in der wirtschaftspolitischen Orien-
tierung als in konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen. So wurde zur Überwindung
der Zahlungsbilanzkrise die fast vollständige Kontrolle der Importe aus dem Dollarraum
beibehalten, der Abbau bei den Importrestriktionen gegenüber den Ländern des Sterling-
Gebietes nicht fortgesetzt und der Umfang der Kontrolle von Importen aus anderen Län-
dern beachtlich erhöht.80 Die noch vorhandenen bzw. wiederhergestellten Kontrollmöglich-
keiten wurden unverzüglich zu einer drastischen Einschränkung der Einfuhren eingesetzt.
Als wesentliches Instrument zur Schließung des Zahlungsbilanzdefizits diente also auch der
Konservativen Regierung die Regelung der Importnachfrage mit Hilfe der vor allem vom
Labour-Schatzkanzler Dalton bevorzugten direkten Kontrollen.
Eine weitere politische Maßnahme, die zunächst von geringfügiger Bedeutung zu sein
schien, konnte allerdings erst später als epochemachende Entscheidung gewertet werden:
die Erhöhung des Diskontsatzes der Bank von England. Seit Ende 1939 hatte dieser Satz
unverändert 2 % betragen, am 7. November 1951 wurde er um 0,5 % auf 2,5 % erhöht.
Diese Entscheidung wurde sogleich als die Wiederentdeckung der Geldpolitik gefeiert,
obwohl erst nach der erneuten Erhöhung des Diskontsatzes auf 4 % tatsächlich von einer
(restriktiven) Geldpolitik gesprochen werden konnte. Dieser Maßnahme waren bereits eine
Verminderung der Bankenliquidität durch die Fundierung eines großen Teils der schwe-
benden Staatsschuld und Einschränkungen für das Teilzahlungsgeschäft durch Einführung
von Mindestanzahlungen und Mindestlaufzeiten vorausgegangen.81 Das im März 1952
vorzeitig vorgelegte Budget brachte zusätzliche Maßnahmen zur Beschränkung der Investi-

80
Dow 1965, S. 70, 154.
81
Guggisberg 1959, S. 37ff.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 47

tionstätigkeit. Im Laufe des Jahres erholte sich die Zahlungsbilanz vor allem aus zwei
Gründen: Es wurden weniger Importgüter gebraucht bzw. gelagert und die Preisverhältnisse
(„terms of trade“) verbesserten sich. Trotz eines um 10 % geringeren Gesamtexports ergab
sich ein Zahlungsbilanzüberschuss.82 Die neue Wirtschaftspolitik der Konservativen schien
erfolgreich zu sein.
Aber diese Einschätzung war zu optimistisch, denn mit der Überwindung der Zah-
lungsbilanzkrise begann der erste Stop-Go-Zyklus: Die restriktive Wirtschaftspolitik – vor
allem bei den Exporten – trug nur dazu bei, die bereits beginnende Rezession zu verstärken.
Die Arbeitslosenquote stieg auf 2 % an. Diese Situation erforderte expansive Maßnahmen,
wie sie mit der Vorlage des Budgets für 1953 eingeleitet wurden: Die Sonderabschreibung
für Investitionen („initial allowances“) wurde wieder eingeführt, die Einkommen- und die
Kaufsteuer gesenkt.83 Im September 1953 und Mai 1954 wurde zusätzlich der Diskontsatz
von 4 % um jeweils 0,5 % auf schließlich 3 % herabgesetzt.84 Die einzige wirtschaftspoli-
tisch bedeutsame Maßnahme aus Anlass des Budgets von 1954/55 war die Verbesserung
der steuerlichen Investitionsförderung durch Einführung der „investment allowance“. Im
Juli 1954 wurden die Restriktionen für Teilzahlungskredite wieder aufgehoben. Parallel zu
diesen finanz- und geldpolitischen Maßnahmen lief der schrittweise Abbau der direkten
Kontrollen, die im Wesentlichen bis November 1954 beseitigt wurden.85
Der durch diese Maßnahmen angeregte Konjunkturaufschwung bewirkte nicht nur ei-
ne erhebliche Verminderung der Arbeitslosigkeit und beachtliche Wachstumsraten (vgl.
Tab. 5), sondern auch ein sehr deutliches Steigen der Importe. Der Aufschwung erforderte
Rohstoffe (Metalle, Kohle und Öl), die im Lande nicht oder nur in unzureichenden Mengen
zur Verfügung standen. Diese Güter mussten von Ländern außerhalb des Sterling-Gebietes
bezogen werden und damit belasteten die Lieferungen auch automatisch die britische Devi-
senposition. Die Regierung versuchte, diesen Trend durch eine erneute Erhöhung des Dis-
kontsatzes von 3 auf 4,5 % und die Wiedereinführung von Restriktionen für das Teilzah-
lungsgeschäft aufzufangen. Im Vertrauen auf die Möglichkeiten einer flexiblen Geldpolitik
wurde im Budget 1955 vor der Wahl die Einkommensteuer weiter herabgesetzt. Nach der
Wahl allerdings sah sich die Regierung gezwungen, in Anbetracht des für 1955 zu erwar-
tenden Leistungsbilanzdefizits im Herbst ein Nachtragsbudget einzubringen, das eine 20
prozentige Erhöhung der Kaufsteuer, eine verstärkte Besteuerung der ausgeschütteten Ge-
winne von Kapitalgesellschaften und eine Einschränkung der öffentlichen Investitionen
vorsah.86 Auch mit Mitteln der Geldpolitik wurden in den Jahren 1955 bis 1957 restriktive
Maßnahmen getroffen: Im Juli 1955 wurde die Mindestanzahlung bei Ratenkäufen für
verschiedene Güter auf ein Drittel, im Februar 1956 für manche sogar auf die Hälfte des
Kaufpreises heraufgesetzt. Der Diskontsatz blieb im Jahre 1955 zunächst bei 4,5 %, wurde
dann aber im Februar 1956 auf 5,5 % erhöht und im Februar 1957 nur aus markttechni-
schen Gründen auf 5 % geringfügig ermäßigt.87 Diese Restriktionspolitik konnte zwar einen
steigenden Leistungsbilanzüberschuss als Erfolg verbuchen, musste aber eine erhöhte Ar-
beitslosenquote und eine sinkende Wachstumsrate hinnehmen (vgl. Tab. 5). Der Go-Stop-
Zyklus war ungebrochen: Auf das in Anbetracht der Arbeitslosenquote erforderliche „Go“
82
Dow 1965, S. 72f.
83
Ebenda, S. 75.
84
Guggisberg 1959, S. 48ff.
85
Dow 1965, S. 76f., 147, 154, 161, 165.
86
Ebenda, S. 78f., 92, 94.
87
Guggisberg 1959, S. 57ff.; s.a. Grant 2002, S. 185.
48 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

der Jahre 1959/60 folgte das „Stop“ der Jahre 1960/61, das wiederum für 1962/63 von ei-
nem „Go“ abgelöst wurde, aus dem bereits 1964 die Notwendigkeit eines erneuten „Stop“
resultierte. Anstatt auch für diese beiden Zyklen die einzelnen wirtschaftspolitischen Maß-
nahmen der Regierung aufzuzählen, erscheint es sinnvoller, die eingesetzten Instrumente
und ihre Wirkungen systematisch zu diskutieren.
Sowohl den Labour-Regierungen der Nachkriegszeit als auch ihren Konservativen
Nachfolgerinnen standen im Wesentlichen drei Instrumente der Wirtschaftspolitik zur Ver-
fügung. Im Übergang von der Labour Party auf die Konservativen ist zwar eine Umorien-
tierung der Mittelwahl festzustellen, aber keine radikale Veränderung. In der Auswahl der
wirtschaftspolitischen Instrumente machten sich bis zu einem gewissen Grade ideologische
Differenzen bemerkbar: Die mehr marktorientierten Konservativen bevorzugten eine indi-
rekte Lenkung des Wirtschaftsablaufs. Deshalb lag es für sie nahe, vor allem das klassische
Instrument der Geldpolitik einzusetzen. Demgegenüber war die Labour-Regierung mehr an
dem Prinzip gesamtwirtschaftlicher Planung orientiert. Sie bevorzugte deshalb eine direkte
Regulierung des Wirtschaftsablaufs mit Hilfe administrativer Kontrollen bis hin zur Ver-
staatlichung. Solche Unterschiede in der wirtschaftspolitischen Orientierung der beiden
Alternierungsparteien fanden aber kaum Niederschlag in ihrer praktischen Wirtschaftspoli-
tik. In den 1960er und 1970er Jahren machten die Konservativen und Labour gleicherma-
ßen Anstrengungen, um eine permanente Struktur der Sozialpartnerschaft zu etablieren, um
damit die Wirtschaftsentwicklung und den sozialen Frieden zu gewährleisten.88 Trotz einer
gewissen Neuorientierung im Hinblick auf den Zahlungsbilanzausgleich hielten auch die
Konservativen am wirtschaftspolitischen Ziel Vollbeschäftigung fest. Man sprach deshalb
gelegentlich von einem „Tory-Sozialismus“, der in Gestalt des „Mr. Butskell“ personifiziert
wurde. Dieser Name entstand aus der Zusammenziehung der Namen des letzten Labour
Schatzkanzlers (Gaitskell) und des ersten Konservativen Schatzkanzlers (Butler).89 Diese
Angleichung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen bei den beiden großen Parteien ist
aber durchaus nicht überraschend. Vielmehr handelt es sich um die charakteristische Annä-
herung der beiden Alternierungsparteien in einem Zweiparteiensystem.90 Das übersehen
spätere Autoren, die auf einen sog. „Nachkriegskonsens“ verweisen.
Das wirtschaftspolitische Instrument der direkten Kontrollen, das für die Wirtschafts-
politik der Labour-Schatzkanzler erhebliche Bedeutung hatte, wurde zwar auch von den
Konservativen zur Überwindung der akuten Zahlungsbilanzkrise eingesetzt, dann aber in
zunehmendem Maße abgebaut. Damit verbunden war eine Hinwendung der Regierung zur
Geldpolitik, die von den Labour-Schatzkanzlern durch ihr Festhalten am „cheap money“
völlig vernachlässigt worden war. Die Konservativen verbanden mit diesem Instrument
große wirtschaftspolitische Hoffnungen91 und setzten es entsprechend intensiv ein. Aller-
dings ergab sich hierbei nach dem ersten Stop-Go-Zyklus eine gewisse Ernüchterung. Für
die Geldpolitik zwischen 1951 und 1964 lässt sich eine Tendenz zum verschärften Einsatz
feststellen. Diese Tendenz fand ihren Niederschlag in einem steigenden Niveau des Dis-

88
Williams 2002, S. 52. Nach 1915 bildete sich der Trades Union Congress (TUC) zu einer wichtigen Organisati-
on heraus. Auch die Federation of British Industries (FBI) entwickelte sich ab 1960 schnell zu einer mächtigen
Organisation. Die National Industrial Conference (NIC) brachte die beiden Organisationen zusammen (Williams
2002, S. 53f.).
89
Dow 1965, S. 66, 70, 76f.
90
Hermens (1968b, S. 198f.) erläutert diesen Prozess am Beispiel der Wirtschaftspolitik in den Vereinigten Staa-
ten.
91
Dow 1964, S. 67ff.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 49

kontsatzes und der Anzahlungserfordernisse bei Teilzahlungskrediten.92 Auch selektive


Kreditkontrollen und eine Mindestreservepflicht für die „Clearing“-Banken verstärkten die
kreditpolitischen Möglichkeiten der Regierung, die davon zunehmend Gebrauch machte.
Trotz der gestiegenen Bedeutung der Geldpolitik blieb die Finanzpolitik das Rückgrat
des konjunkturpolitischen Instrumentariums. Hier ist vor allem an das Budget zu denken,
weil traditionsgemäß damit eine Neufestsetzung der Steuersätze verbunden ist, die sich
ohne Schwierigkeiten als konjunkturpolitisches Instrument verwenden lässt. Die wesentli-
chen finanzpolitischen Maßnahmen aus konjunkturpolitischen Gründen waren die Verände-
rung der Einkommensteuersätze, die Gewinnbesteuerung bei Kapitalgesellschaften, die
Möglichkeiten steuerlicher Sonderabschreibungen und Veränderungen in den Sätzen der
Kaufsteuer. Obwohl die Veränderungen dieser Steuern jeweils der konjunkturellen Situati-
on angepasst wurden, ergab sich in jedem Jahr bei der Endabrechnung der Staatsausgaben
ein Haushaltsdefizit („overall deficit“).93 Guggisberg sah darin die Ursache der „säkularen“
Inflation in Großbritannien: „Die inflationäre Lohn- und Preisentwicklung ist ... deshalb
nicht normalisiert oder aufgehalten worden, weil der expansive Einfluss der Fiskalpolitik
den kontraktiven Einfluss der restriktiven Geld- und Kreditpolitik überkompensiert hat.“94
Schierloh wies darauf hin, dass die Schwäche der Labour-Nachkriegsregierung offenbar in
ihrer Geldpolitik zu suchen sei, während die Schwäche ihrer Konservativen Nachfolgerin-
nen in der Budgetpolitik liege.95 Die Folge dieser expansiven Budgetpolitik der Konserva-
tiven, die sich höchstens durch unterschiedliche Intensität auszeichnete, war, dass in der
Geldpolitik zu immer schärferen Mitteln gegriffen werden musste. Trotzdem war es den
Konservativen Regierungen nicht möglich, die wirtschaftspolitischen Ziele des sogenann-
ten „magischen Vierecks“ zu realisieren.
Insbesondere gelang es den Konservativen Regierungen nicht, eine grundsätzliche
Veränderung der britischen Zahlungsbilanzsituation herbeizuführen. Eher ist das Gegenteil
der Fall: Die Form der Besteuerung legte das Schwergewicht auf direkte Steuern und ermu-
tigte damit den Konsum, weil die konsumorientierten Schichten der Bevölkerung auf diese
Weise kaum Steuern zahlten. Die wirtschaftlichen Folgen dieses Steuersystems sind vielfäl-
tig: Hoher Konsum erhöht den Import, vermindert die für den Export verfügbare Güter-
menge und hemmt über die zu geringe Kapitalbildung die Anwendung arbeitssparender
Produktionsverfahren. Vor allem besteht kein steuerlicher Anreiz zur Mehrarbeit bzw. zur
Gewinnerzielung. Beides war sicherlich nicht ohne Einfluss auf das Verhalten der Arbeit-
nehmer und Unternehmer, d.h. auf die Leistungsfähigkeit der britischen Volkswirtschaft
und damit auf ihre Exportleistung. Auch wenn sich keine Regierung zu einer grundsätzli-
chen Überprüfung dieses Steuersystems bereit fand, so mussten die Konservativen Regie-
rungen bald einsehen, dass die Regulierung der Gesamtnachfrage durch finanzpolitische
Maßnahmen nicht erreicht werden konnte. Aus dieser Situation zogen die Konservativen
den Schluss, dass die zur Verfügung stehenden wirtschaftspolitischen Möglichkeiten nicht
ausreichend seien. Anstatt die vorhandenen Instrumente in anderer Weise einzusetzen,
waren die Konservativen bestrebt, das Instrumentarium zu erweitern. Daraus resultierte ihr
Bemühen um eine Einkommenspolitik.96 Im Jahre 1957 setzte der Schatzkanzler Thorney-

92
Für Einzelheiten s. Dow 1965, S. 233, 247.
93
Schierloh 1964, S. 50, 110, 118, 122, 139.
94
Guggisberg 1959, S. 96.
95
Schierloh 1964, S. 50.
96
Williams 2002, S. 57.
50 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

croft einen „Council on Prices, Productivity and Incomes“ ein, der durch ausführliche Be-
richte Informationen für eine systematische Wirtschaftspolitik schaffen sollte. Dieses Gre-
mium stellte mehrfach fest, dass die Lohnerhöhungen den Produktivitätszuwachs übertra-
fen, ohne dass aus dieser Information wirtschaftspolitische Konsequenzen gezogen wurden.
Im November 1962 setzte die Konservative Regierung dann einen „National Economic
Development Council“ (NEDC) ein,97 der Maßnahmen für stärkeres Wachstum vorschla-
gen sollte,98 gefolgt von der „National Income Commission“ (NIC). Die NIC sollte Emp-
fehlungen für „Lohnleitlinien“ geben, blieb aber ohne Erfolg, weil die Gewerkschaften eine
Mitarbeit ablehnten. Der spätere Versuch (1963), den NEDC, in den die Gewerkschaften
und das Management Vertreter entsandten, für die Lohnpolitik nutzbar zu machen, scheiter-
te an der Forderung der Gewerkschaftler, die Kapitalgewinne und Preise in die Aufsicht mit
einzubeziehen.99 Diese Entwicklung zeigt, dass eine erfolgreiche Einkommenspolitik dar-
auf angewiesen ist, den Konsens der betroffenen Gruppen zu mobilisieren. Der beschriebe-
ne Versuch scheiterte, weil ein Entgegenkommen der Regierung fehlte und die Gewerk-
schaften organisatorisch an die damalige Oppositionspartei gebunden waren.
So führte die Wirtschaftspolitik der Konservativen des Stop-and-Go nur zur „ober-
flächlichen und kurzfristigen Korrektur von wirtschaftlichen Fehlentwicklungen. Das
grundsätzliche Problem der Wettbewerbsfähigkeit des Landes auf den Weltmärkten ... ver-
mochte eine solche Politik nicht zu lösen.“100 Innenpolitisch wurde die Problemlage in den
1950er Jahren als „goldene“ Zeit einer Gesellschaft mit privatem Wohlstand wahrgenom-
men. Langfristig blieb die Wirtschaftspolitik erfolglos, obwohl die politische Willensbil-
dung in wirtschaftspolitischen Fragen optimal strukturiert war: Die Regierung operierte in
einem dem dargestellten Idealtyp101 weitgehend entsprechenden parlamentarischen System.
Da es kein selbstständiges Wirtschaftsministerium gab und die Zentralbank aufgrund des
Verstaatlichungsgesetzes von 1946 an die Weisungen des Schatzamtes gebunden war, be-
stand die Möglichkeit einer einheitlichen wirtschaftspolitischen Entscheidung durch den
Schatzkanzler. Hinzu kommt die schnelle Durchsetzbarkeit politischer Entscheidungen, die
vor allem bei finanzpolitischen Konjunkturmaßnahmen von Bedeutung ist.102 Da die Fest-
legung der Steuersätze alljährlich im Rahmen der Budgetgesetzgebung erfolgt und die
Haushaltsberatungen zu Beginn des Haushaltsjahres stattfinden, erleichtert dies die Anpas-
sung des Budgets an die wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten. Die Stellung der Regie-
rung im Willensbildungsprozess bewirkt, dass ihre Budgetvorlage praktisch dem Gesetz
entspricht. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, die Gefahr von „time-lags“ bei konjunktur-
politischen Maßnahmen erheblich zu verringern. Darüber hinaus wurde die britische Steu-
erpolitik durch die Einführung des Regulators im Jahre 1961 für wirtschaftliche Zwecke
noch elastischer gestaltet. Nunmehr war die Regierung in der Lage, noch kurzfristiger (auch
ohne vorhergehenden Parlamentsbeschluss) die Sätze der direkten Steuern um bis zu 10%
nach oben oder unten zu verändern, wenn dies die konjunkturelle Situation erforderte.103
Eine gewisse Schwäche im institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Entschei-
dungen ergab sich aus dem Fehlen eines Wirtschaftsministeriums. Wenn nur das Schatzamt

97
S. unten, Abb. 3 im Abschnitt 4 b).
98
S.d. Eichengreen 2007, S. 222f.
99
Briefs 1966, S. 153ff.; Williams 2002, S. 57ff.
100
Sturm 1991, S. 24.
101
Der Begriff „Idealtyp“ wird hier im Sinne von W. Eucken (1959, S. 253) gebraucht.
102
Schierloh 1964, S. 66ff., 76ff.
103
Kuehn 1968, S. 16.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 51

für die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig ist, dann besteht die Gefahr, dass
sich vor allem finanzpolitische Gesichtspunkte gegenüber den eigentlich wirtschaftspoliti-
schen durchsetzen. Für die Konservativen Regierungen haben sich aber daraus keine Prob-
leme ergeben. Organisation und Ablauf der finanzpolitischen und währungspolitischen
Willensbildung zeigten vielmehr eine große Elastizität des Systems, mit den jeweils auftre-
tenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Zahlungsbilanzkrise oder Arbeitslosigkeit) fertig
zu werden.
Es bleibt aber ungeklärt, warum im parlamentarischen System Großbritanniens unter
den Konservativen Regierungen keine langfristig nachhaltige Wirtschaftspolitik durchge-
führt wurde. Jedenfalls war am Ende der Regierungszeit der Konservativen die ökonomi-
sche Strukturkrise kaum mehr zu übersehen.104 Aus der Annäherung der Alternierungspar-
teien im Zweiparteiensystem resultiert zwar das Fehlen ausschließlich ideologischer Kon-
troversen,105 nicht aber das Fehlen politischer Alternativen. Es bleibt also die Frage, ob es
trotz vielfältiger Kritik am Stop-Go keine Alternative in Form langfristig orientierter Lö-
sungsvorschläge oder Lösungsmöglichkeiten gab. Eine solcher Alternative versuchte die
Labour Party im Wahlkampf 1964 aufzuzeigen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit
der Stop-Go-Politik trug dazu bei, dass in dieser Wahl die Konservativen geschlagen wur-
den und die Labour Party wieder die Regierung übernahm.

4. Versuche einer Stabilitäts- und Wachstumspolitik (1964-1979)

In Großbritannien wurde von den späten 1940er bis in die Mitte der 1970er Jahre von allen
wichtigen Parteien nahezu unangefochten die Vorstellung von Keynes akzeptiert, dass eine
Marktwirtschaft sich nicht selbst reguliert und regelmäßig in Turbulenzen gerät. Dieses
Problem sollte durch makroökonomische Einwirkung des Staate auf die Märkte (Steuerung
der wirksamen Gesamtnachfrage) gelöst werden.106 Die Wirtschaftspolitik „complied with
a Keynes-inspired model of policy-making and state intervention”.107 Obwohl die keynesia-
nische Wirtschaftspolitik des „demand management“108 praktiziert wurde, gab es daneben
auch andere wirtschaftspolitische Bereiche, die von den Regierungen bearbeitet wurden109
und die zum Teil auch über den Konsensrahmen keynesianischer Wirtschaftspolitik hinaus-
gingen.
Die Übergangsphase zwischen den Stop-Go-Zyklen der 1950er Jahre und dem wirt-
schaftspolitischen Umbruch der 1980er Jahre (1964-79) ist bestimmt durch neue Strategien,
mit denen die jeweiligen Regierungen (Labour 1964-70 und 1974-79, Konservative 1970-
74) versuchten, das wirtschaftliche Potenzial des Landes zu optimieren. Der eine Weg ent-
sprach britischer Tradition. Durch Royal Commissions vorbereitete, im Parlament be-
schlossene Gesetze sollten die Arbeitsbeziehungen auf eine neue Grundlage stellen und so
die Gewerkschaftsfrage lösen. Eine zweite Gruppe wirtschaftspolitischer Strategien beruhte

104
Sturm 1991, S. 25.
105
Hermens 1968b, S. 187f.
106
Dieser „sozialdemokratische“ Konsens bezog sich auf eine Übereinstimmung der Parteien im Hinblick auf die
Anerkennung der staatlichen Verantwortung für Wachstum und Vollbeschäftigung (vgl. Kastendiek/ Kastendiek
1985, S. 383).
107
Gollner/ Sallee 1990, S.9-24, hier S.12.
108
Begriff aus: Issing 1982, S. 15-36.
109
Busch 1989, S. 33.
52 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

auf Anleihen bei den europäischen Nachbarn; indikative Wirtschaftsplanung (planificati-


on)110 hatte sich in Frankreich, korporatistische Strategien hatten sich in Skandinavien, den
Niederlanden, Österreich und der Schweiz als nützlich erwiesen. Auch ein dritter Zugriff
folgte den Spuren Kontinentaleuropas: das unkonventionelle Mittel der Schaffung eines
größeren Wirtschaftsraumes (nach dem Verlust des wirtschaftlichen Nutzens des Empire/
Commonwealth), zunächst durch Gründung der EFTA und später durch Beitritt zur EWG.
Insgesamt lassen sich deutlich vier verschiedenartige Versuche, der Zwangsläufigkeit des
Stop-Go zu entrinnen, erkennen, denen jedoch im Ergebnis kein Erfolg beschieden war:
National Plan, Einkommenspolitik, Gewerkschaftsgesetzgebung, Anschluss an den europä-
ischen Markt.

a) Anschluss an den europäischen Markt

Als Konzept zur Modernisierung der britischen Wirtschaft ist der Zugang zum europä-
ischen Markt niemals öffentlich diskutiert worden. Der Weg in den größeren europäischen
Markt bot durchaus innovatives Potenzial, war aber stets mit nicht-ökonomischen Vorbe-
halten und Hindernissen überfrachtet. Dennoch gehört „Europa“ zu den zentralen wirt-
schaftspolitischen Themen der 1960er und 1970er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg
fühlte sich Großbritannien weiterhin als Weltmacht und Führungsmacht im Common-
wealth.111 Die Beziehungen zu Kontinentaleuropa entwickelten sich erst seit den späten
1950er Jahren. Durch den Zusammenschluss Europas herausgefordert schloss sich das
Land 1960 mit den kleineren europäischen Staaten Österreich, Dänemark, Norwegen, Por-
tugal, Schweden und der Schweiz zur EFTA zusammen. Zusätzlich versuchten die Briten
widerwillig bereits 1961, der EWG beizutreten. Der Beitritt erschien manchen als ein „Zu-
rücktreten des einzigen Solisten in das Orchester der Mittelmäßigen“.112 Der erste Versuch
wurde allerdings vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle abgelehnt.113
Nach dessen Ausscheiden aus der Politik betrieb der Konservative Premierminister
Heath (mit Erfolg 1973) den EG-Beitritt als zentrales Projekt seiner Regierungszeit (1970-
74). Während der Labour-Regierungen unter Wilson und Callaghan (1974-79) schien es, als
ob diese die Zukunft Großbritanniens mit der Gemeinschaft Europas verbinden wollten.
Aber beide mussten versuchen, die Labour Party zusammenzuhalten. Als Mittel dazu wur-
den von Wilson ein Referendum über den Verbleib in der EG und Nachverhandlungen über
die von Heath vereinbarten Beitrittsmodalitäten gewählt. Das Referendum von 1975 ergab
eine klare Zweidrittelmehrheit für die Mitgliedschaft in der EG. Die Nachverhandlungen
bezogen sich auf die Agrarpolitik (Zugang zum Weltmarkt für Nahrungsmittel), die Bud-
getpolitik, die Regionalpolitik, den Handel mit dem Commonwealth sowie die Harmonisie-
rung der Mehrwertsteuer. Der wichtigste Punkt war, dass Großbritannien aufgrund des
Verhandlungsergebnisses von Heath der zweitgrößte Nettozahler des EG-Budgets war. Im
Hinblick auf den Agrarsektor konnten keine Erfolge erzielt werden. In Budgetfragen gab es
zwar Zugeständnisse, insgesamt aber blieb Großbritannien der zweitgrößte Zahler in der
EG.114 Andererseits war der Ausgang des Referendums ein großer Erfolg für Premierminis-
110
Diese Strategie wurde bereits von der Konservativen Regierung eingeleitet, blieb aber bis zu deren Abwahl
folgenlos (Sturm 1991, S. 24).
111
S.d. Judt 2006, S. 188-190.
112
Noetzel 1987, S. 47.
113
Eichengreen 2007, S. 176-178.
114
Young 2004, S. 139-144.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 53

ter Wilson, der aufgrund der großen Zustimmung zum Referendum die Labour-Linke in
dieser Frage weitgehend entmachten konnte.
Der unterschiedliche Enthusiasmus im Hinblick auf die EG blieb allerdings bestehen.
Viele Briten (in beiden großen Parteien) standen der neuen Entwicklung skeptisch gegenü-
ber. Die einen sahen die EG als „Kapitalistenclub“ und als „undemokratisch“ an, die ande-
ren fürchteten um den Fortbestand des Commonwealth und um die Entscheidungsfähigkeit
Großbritanniens. Pragmatiker in beiden Parteien sagten, dass Großbritannien gegenüber
dem Gemeinsamen Markt konkurrenzfähig sein müsse.
Callaghan, der Nachfolger Wilsons, stellte die EG-Mitgliedschaft nicht in Frage, ver-
suchte aber europäische Fragen nicht in den Mittelpunkt zu rücken. Er wurde dazu jedoch
gezwungen, als sich Großbritannien in eine tiefe ökonomische Krise hineinbewegte und ein
Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds akzeptieren musste, das Ausgabengrenzen
vorschrieb. Als die Nahrungsmittelpreise unter die von der EG gesetzten Grenzen fielen
(1977), ergaben sich eine negative Handelsbilanz mit Europa und erhöhte Beiträge zum
EG-Haushalt, was die britische Mitgliedschaft nicht gerade vorteilhaft erscheinen ließ. So
musste Callaghan 1978 wieder Nachverhandlungen mit der EG beginnen.
Initiativen im Rahmen der EG brachten Callaghan in Schwierigkeiten: das Europä-
ische Währungssystem, an dem Großbritannien nur mit einer Sonderstellung teilnahm, und
Bestrebungen, das Europäische Parlament direkt wählen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt
schrumpfte die Mehrheit im Unterhaus; Labour war auf die Liberalen angewiesen, was die
Position weiter komplizierte. Die Direktwahl des Europäischen Parlaments wurde zurück-
gestellt und die Teilnahme am Wechselkursmechanismus verweigert. Beides war für das
Ansehen der Briten in der EG nicht vorteilhaft.115 Die Rolle des Landes in der EG blieb
eher die eines Außenseiters. Für Großbritannien selbst konnte die EG-Mitgliedschaft auch
keine Wunder bewirken. Die Probleme der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Geld-
wertstabilität, kurzum die traditionellen Anliegen des Stop-Go, absorbierten viel Energie
der Regierung. Dabei hatte die erste Regierung Wilson 1964 einen neuen Zugriff versucht.

b) National Plan

Die Labour Party hatte mit einem neuartigen Wirtschaftsprogramm die Wahlen gewon-
nen.116 „Die Wirtschaftsprobleme des Landes sollten nun umfassender angegangen werden,
an die Stelle des hilflosen Regierens der Stop-and-Go-Politik sollte der staatlich geförderte
und angeleitete Strukturwandel treten. ... Instrument der staatlichen Wirtschaftslenkung
sollte wie zuletzt der Ausbau der Planungskapazität des Staates sein.“117 Aber die Regie-
rung Wilson trat im Oktober 1964 ihr Amt in einer schwierigen Situation an: In ihrem
Wahlprogramm hatte die Labour Party auf der Grundlage ausführlicher Umfragen bei der
Industrie118 eine Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums versprochen, aber zunächst
sah sich die neue Regierung einem erheblichen Zahlungsbilanzdefizit gegenüber (vgl. Tab.
6). Zur Beseitigung eines Zahlungsbilanzdefizits sind grundsätzlich vier wirtschaftspoliti-
sche Maßnahmen denkbar: Abwertung, Übergang zu flexiblen Wechselkursen, empfindli-

115
Ebenda, S. 147, 149.
116
Auch die Konservativen hatten sich 1962 bereits in diese Richtung bewegt (Owen 1965, S. 300).
117
Sturm 1991, S. 25.
118
Owen 1965, S. 382.
54 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

che Einschränkung des Inlandsverbrauchs oder schnelleres Wachstum.119 Die ersten beiden
mehr kurzfristig wirksamen Möglichkeiten waren mit besonderen innen- bzw. währungspo-
litischen Schwierigkeiten verbunden: Einerseits wollte die neue Labour-Regierung das
politische Image ihrer Partei nicht durch eine weitere Abwertung belasten,120 andererseits
hätte die Einführung flexibler Wechselkurse eine drastische Veränderung des internationa-
len Währungssystems bedeutet. Deshalb beschloss die Regierung, die beiden anderen, eher
langfristig wirkenden Maßnahmen miteinander zu kombinieren. Sie beabsichtigte, die In-
landsnachfrage in Grenzen zu halten und gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Produktivi-
tät zu erhöhen.

Abbildung 3: Institutionen staatlicher Wirtschaftsplanung

Diesem Ziel diente das 1965, also in dem auf den Regierungswechsel folgenden Jahr, aus-
gearbeitete Weißbuch über einen Gesamtwirtschaftsplan, in dem die Grundlagen für eine
mittelfristige Wachstumspolitik dargelegt wurden. Der Plan sah für die Zeit von 1964 bis
1970 ein Wachstum des britischen Sozialprodukts um insgesamt 25% vor und enthielt eine
detaillierte Aufstellung aller dazu erforderlichen Maßnahmen.121 Kritiker des Weißbuches
wiesen allerdings darauf hin, dass eine rein indikative Planung nicht ausreiche, um das
angestrebte Wachstum zu realisieren. So sah der Plan beispielsweise keinen konkreten
Anreiz für Neuinvestitionen oder bedeutsame Innovationen vor. Allgemein wurde kritisiert,

119
Grosser 1967, S. 577f.
120
Da die beiden Abwertungen von 1931 und 1949 unter den Labour-Premierministern McDonald und Attlee
durchgeführt werden mussten und ihnen eine Regierungstätigkeit der Labour Party voranging, bestand die Gefahr,
dass eine weitere Abwertung der Labour Party endgültig das Image mangelnder Regierungsfähigkeit geben würde.
121
The National Plan 1965, S. 1f., 17ff.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 55

dass die Absicht die Weißbuches (Situationsanalyse, Projektion oder Wunschbild) nicht
eindeutig erkennbar gewesen sei.122 Es wurde ein Board eingerichtet, das IRC (Industrial
Reorganisation Corporation), dem keine Regierungsvertreter angehörten. Es sollte Unter-
nehmen mit Geld dazu anregen, die Modernisierung voranzutreiben.123 Ebenfalls wurde ein
eigenständiges Wirtschaftsministerium als Gegenpart zum auf das Management der Tages-
politik in Wirtschaftsfragen fixierten Schatzamt geschaffen. Die Aufgaben des Department
of Economic Affairs waren die Aufstellung dieser Wirtschaftspläne.124 Der seit 1962 beste-
hende NEDC wurde enger an die Regierung gebunden: 1967 wurde der Schatzkanzler
Mitglied und Wilson übernahm selbst den Vorsitz. Das NEDC (s. Abb. 3) übernahm die
Zukunftsplanung für Einzelsektoren, für die jeweils Ausschüsse („Little Neddies“) einge-
richtet wurden. Die branchenspezifischen Ausschüsse hatten empfehlende Aufgaben. Al-
lerdings erlangte das Wirtschaftsministerium nur wenig Einfluss und wurde 1967 bereits
wieder abgeschafft. Die Realität der britischen Krise ließ keinen Spielraum für diese Strate-
gie.125 Der National Plan war gescheitert.126

c) Lohn- und Preiskontrollen/ Einkommenspolitik

In Großbritannien entstand nach dem Zweiten Weltkrieg ein komplexes System von
„boards“ und „committees“, dem Vertreter der Gewerkschaften sowie der Unternehmerver-
bände angehörten und von denen alle sozial- und wirtschaftspolitisch wichtigen Beschlüsse
vorberaten wurden, was den Gewerkschaften eine direkte Einflussnahme sowohl auf eine
Konservative als auch auf eine Labour-Regierung sicherte.127 In diesem System wurde
versucht, die gemeinschaftliche Teilhabe der Arbeitnehmer und Unternehmer an wirtschaft-
lichen Beschlüssen der Regierung zu institutionalisieren.
Da Großbritannien (im OECD-Vergleich) zu Beginn der 1960er Jahre mit relativ ho-
hen Inflationsraten sowie mit einem schwachen Wirtschaftswachstum zu kämpfen hatte,
waren schon – wie bereits darstellt – von der Konservativen Regierung Versuche unter-
nommen worden,128 durch die Einführung einer mit Unternehmern und Gewerkschaften
abgestimmten Einkommenspolitik die Inflation zu senken.129 Die Labour-Regierung Wilson
ging in diesem Punkt ab 1964 noch weiter. Die Maßnahmen sollten auch der Absicherung
des Pfundkurses dienen. Der einsetzenden Flucht aus dem £ versuchte die Regierung mit
einem 1965 aufgenommenen Drei-Milliarden-Dollar Kredit zu begegnen. Den inflationären
Tendenzen wollte sie durch Einkommens- (Lohn-) und Preispolitik entgegenwirken.130
Diese Beschränkungen wurden zwischen Regierung, den Spitzenverbänden der Arbeitgeber
und den Gewerkschaften vereinbart. Sie erstreckten sich von der gleichzeitigen staatlichen
Lohn- und Preisüberwachung bis zum gesetzlich geregelten Lohn- und Preisstopp.131

122
The Economist vom 18. September 1965, S. 1071ff.; Denton 1965, S. 333ff.
123
Leruez 1975, S. 112, 114.
124
Williams 2002, S. 58.
125
Sturm 1991, S. 25.
126
Leruez 1975, S. 114.
127
Fetscher 1978, S. 263.
128
S.d. Scharpf 1987, S. 100.
129
Gleichzeitig ging es darum, die Streikanfälligkeit zu vermeiden.
130
Sturm 1991, S. 26.
131
Für eine ausführliche Darstellung s. Briefs 1966, S. 156ff.; s.a. Duckenfield 2006, S. 210f., 246ff.
56 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Am 16. Dezember 1964 erklärten Vertreter der Arbeitgeberorganisationen, der Ge-


werkschaften und der Regierung ihre Absicht, das allgemeine Preisniveau stabil zu halten
und sich bei der Erhöhung von Einkommen aller Art nach der Wachstumsrate des Sozial-
produkts zu richten.132 Außerdem wurde vereinbart, Veränderungen der Preise und der
Geldeinkommen generell zu überwachen und Einzelfälle daraufhin zu untersuchen, ob die
betreffende Preis- oder Einkommenserhöhung mit dem „nationalen Interesse“ vereinbar
sei.133
Mit der laufenden Überwachung des Preis- und Einkommensniveaus wurde das „Na-
tional Board for Prices and Incomes“ (NBPI) beauftragt, in dem Regierung, Unternehmer
und Gewerkschaften bei strenger Parität vertreten waren. Das Board prüfte in zwei Abtei-
lungen („Prices Review Division“ bzw. „Incomes Review Devision“) durch ad hoc einge-
setzte Unterausschüsse auf Weisung des Wirtschaftsministers bestimmte Lohn- bzw. Preis-
erhöhungen und erstattete darüber innerhalb von maximal drei Monaten einen Bericht an
die Regierung.134 Diese legte alle Berichte dem Parlament vor. Tatsächlich gelang es, durch
die Berichte des NBPI eine gewisse Mäßigung der Interessenten zu erzielen – vor allem in
der Preispolitik, weniger bei der Einkommensentwicklung.135 Insgesamt erwies sich das
dargestellte Verfahren aber noch als unzureichend.
Ob sich gewisse Mängel durch andere Institutionen und Methoden der Einkommens-
politik hätten vermeiden lassen, ist nicht ohne Weiteres zu entscheiden. Als Ansatzpunkt
kann vielleicht die Tatsache dienen, dass es auch in anderen demokratischen Ländern Be-
mühungen um eine Einkommenspolitik durch Zusammenarbeit von Staat und Verbänden
gab,136 etwa die „Konzertierte Aktion“ in Deutschland, den „Sozialökonomischen Rat“
(SER) in den Niederlanden und die „Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen“
in Österreich. Bei der „Konzertierten Aktion“ handelte es sich um gemeinsame Beratungen
über gesamtwirtschaftliche Orientierungsdaten, an denen Vertreter der großen Interessen-
verbände und solche der Bundesregierung teilnahmen, wobei letztere auf die Ergebnisse der
Beratungen erheblichen Einfluss nahm. Der Institutionalisierungsgrad war gering und für
die Durchsetzung der Beschlüsse gab es keine Sanktionsmittel.137 Im SER der Niederlande
besteht das dritte Element aus Mitgliedern, die von der Regierung ernannt werden, aber
unabhängig von ihr agieren. Es handelt sich in der Regel um Universitätsprofessoren oder
frühere Politiker. Bei Aushandlungsprozessen zwischen der Regierung und den sozio-
ökonomischen Interessen spielt der SER keine Rolle. Paradoxerweise ist es formell eine
bipartistische Institution, die aus Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften zusam-
mengesetzt ist, die aber dazu dient, die Regierung und die Interessengruppen zusammen-
zubringen. Eine wichtige Rolle im Politikprozess spielt der SER wegen seiner Beratungs-
funktion.138 Die „Paritätische Kommission“ in Österreich ist demgegenüber weitergehend
institutionalisiert: In drei Unterausschüssen beschließen die Vertreter der vier großen Inter-
essenverbände über Preis- und Lohnerhöhungen und stellen gesamtwirtschaftliche Daten
zusammen. Mitglieder der Regierung werden mit beratender Stimme hinzugezogen. Zur

132
Leruez 1975, S. 282.
133
Joint Statement of Intent on Productivity, Prices and Incomes, 1964.
134
Machinery of Prices and Incomes Policy 1965, S. 2 und Prices and Incomes Policy 1965, S. 5ff.
135
Grosser 1967, S. 579; s.a. Scharpf 1987, S. 100.
136
Dieses Arrangement wurde in Großbritannien auch als „’mature case’ of industrial capitalism“ bezeichnet (Fox
1985, S. 369).
137
Czada 1992, S. 220; Hartwich 1967, S. 442ff., 457.
138
Andeweg/ Irwin 2002, S. 142f.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 57

Durchsetzung von Beschlüssen stehen die Instrumente der staatlichen Preisregulierung zur
Verfügung.139 Die britische Einkommenspolitik lag zwischen diesen Beispielen, von denen
zum einen vor allem auf die „Mobilisierung von Konsens“140 bei den Interessenverbänden,
zum anderen auf institutionalisierte Entscheidungen und staatlichen Zwang gesetzt wurde.
Der britischen Regierung gelang es nicht, in ausreichendem Umfang den Konsens der
Interessenten für ihre Einkommenspolitik zu mobilisieren. Dafür hätte sich langfristig eine
Vertrauensbasis entwickeln müssen, die allerdings in der Krise nicht kurzfristig geschaffen
werden konnte. Daher hielt die Regierung es für erforderlich, das Element des staatlichen
Zwangs zu verstärken. Vor allem die Tatsache, dass eine Kontrolle der Preis- und Einkom-
mensentwicklung nur nachträglich (nach einer Erhöhung) durchführbar war, hatte sich als
unbefriedigend erwiesen. Im November 1965 wurde deshalb das bisherige Verfahren durch
ein „Frühwarnsystem“ ergänzt: Alle geplanten Lohn- und Preiserhöhungen sollten der Re-
gierung mitgeteilt werden, die dann entschied, ob sie im Einzelfall den NBPI mit einer
Untersuchung beauftragen wollte oder nicht. Die eventuellen Untersuchungen sollten inner-
halb von drei Monaten vorliegen. Bis dahin waren die betreffenden Lohn- oder Preiserhö-
hungen zurückzustellen.141
Im Frühjahr 1966 beantragte die Regierung Vollmachten, um diesem Verfahren Ge-
setzeskraft verleihen zu können. Gleichzeitig sollte für den bisher aufgrund von freiwilligen
Vereinbarungen tätigen NBPI eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Doch auch
ein in diesem Sinne beschlossenes Gesetz schien später nicht mehr auszureichen. Nach
einer neuen Pfundkrise im Sommer 1966 forderte der Premierminister einen Preis- und
Einkommensstopp mit der Begründung, das Land benötige eine „Atempause“ von zwölf
Monaten. Zunächst sollten Preise und Einkommen für die Dauer eines Halbjahres mög-
lichst „eingefroren“ werden, in den folgenden sechs Monaten war dann „stärkste Zurück-
haltung“ bei Preis- und Einkommenserhöhungen zu üben. Ausnahmen sollten nur mit Zu-
stimmung des zuständigen Ministeriums möglich sein. Die erforderlichen gesetzlichen
Maßnahmen konnten als Übergangsbestimmungen in den noch im Stadium der parlamenta-
rischen Beratung befindlichen „Prices and Incomes Act 1966“ eingefügt werden. Für die
Phase der „stärksten Zurückhaltung“ (erstes Halbjahr 1967) wurde das „Frühwarnsystem“
wieder angewandt.142
Die Geltung der für die Zeit der „stärksten Zurückhaltung“ in Kraft befindlichen
Vollmachten wurde durch den „Prices and Incomes Act 1967“ bis August 1968 verlängert.
Gleichzeitig wurde die Frist, um die eine angekündigte Preis- oder Lohnerhöhung hinaus-
geschoben werden kann, auf maximal sieben Monate festgelegt. Bereits vor Ablauf dieser
Vollmachten brachte der „Prices and Incomes Act 1968“ noch stärkere Vollmachten: Die
bisher geltenden Regelungen blieben bis Ende 1969 in Kraft. Zusätzlich wurde die Verzö-
gerungsfrist auf maximal 12 Monate ausgedehnt, die Mietentwicklung und die Dividenden-
zahlungen in die Kontrolle einbezogen und der Regierung das Recht zugesprochen, Preis-
senkungen zu verlangen, wenn der NBPI sie empfiehlt. Für Lohnerhöhungen wurde durch
Beschluss der Regierung eine Obergrenze („ceiling“) von 3,5% jährlich festgesetzt.143 Al-
lein die Tatsache, dass die Regierung gezwungen war, die Maßnahmen der Einkommens-
139
Neuhäuser 1966, S. 65ff.
140
Der durch S. H. Beer (1967, S. 81) geprägte Begriff „Mobilizing Consent“ wird hier in einer etwas abgewan-
delten Bedeutung verwendet.
141
Prices and Incomes Policy: An ‘Early Warning’ System, 1965, S. 5.
142
Prices and Incomes Standstill 1965 und Prices and Incomes Standstill: Period of Severe Restraint 1966.
143
Productivity, Prices and Incomes Policy in 1968 and 1969, 1968.
58 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

und Preispolitik ständig zu verstärken, beweist, wie groß die Widerstände gegen diese Poli-
tik waren. Trotzdem gelang es der Regierung stets, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Das
zeigt deutlich die starke Position einer entschlossenen Regierung im parlamentarischen
Regierungssystem. Die einzelnen jeweils neu geschaffenen Möglichkeiten weisen auf die
Richtung der gegen diese Politik unternommenen „Durchbruchsversuche“ hin. Trotzdem
blieb fraglich, ob die Regierung Wilson ihr Ziel einer Beschränkung des Inlandsverbrauchs
mit dem Ergebnis einer Steigerung des Exports und einer Entlastung der Zahlungsbilanz
auf diesem Wege erreichen konnte.
Immer wieder ist der Regierung vorgeschlagen worden, rechtzeitig eine Pfundabwer-
tung durchzuführen, auf diese Weise die Zahlungsbilanz zu entlasten und dann eine syste-
matische Wachstumspolitik einzuleiten.144 Die Regierung hat diesen Vorschlag am 28. Juli
1966 eindeutig abgelehnt – bis ihr im November 1967 kein anderer Ausweg aus einer aku-
ten Zahlungsbilanzkrise blieb, weil der Druck auf das britische £ weiter anhielt. Die einge-
setzten Instrumente (Ratenkäufe wurden erschwert, pro Kopf durften nur noch £50 bei
Urlaubsreisen ins Ausland mitgeführt werden und Alkohol- und Tabaksteuern wurden er-
höht) hatten nicht gewirkt. Dies galt ebenso für den Lohn- und Preisstopp, der für sechs
Monate ausgesprochen wurde. Die Krisenerscheinungen nahmen nach einer kurzfristigen
Beruhigung im Sommer 1967 wieder zu.145 So schrumpften die Gold- und Devisenreserven,
das Handelsdefizit wuchs und die Arbeitslosigkeit erreichte mit einer ca. halben Million
Erwerbsloser Rekordhöhe. Mit der Pfundabwertung wurde auch Schatzkanzler Callaghan
als Abwertungsgegner abgelöst und der Krisenbewältigung eindeutige Priorität vor umfas-
sender Wirtschaftsplanung eingeräumt. Der Nachfolger Callaghans, Jenkins, vertrat einen
harten Sparkurs zur Konsolidierung des Staatshaushaltes. „Zwei internationale Währungs-
krisen im Frühjahr und Herbst 1968 führten zu erneuten Zahlungsbilanzproblemen, auf die
die Regierung mit massiven Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen reagierte.“146
Nach 1970 wollte die Konservative Regierung Heath die Kräfte des Marktes wieder
freisetzen. Dieser radikale Wandel in der Politik stieß jedoch auf erheblichen Widerstand.
Starke Kräfte sahen die keynesianische Logik des wirtschaftlichen Entscheidens als eine
Errungenschaft des Wohlfahrtsstaates. So wurde der Allparteienkonsens, der für die briti-
sche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit typisch war,147 fortgesetzt, was sich u.a. in der
Entscheidung von 1971 zur Rettung von Rolls-Royce zeigte. Die späteren Labour-
Regirungen blieben ohnehin dabei, eine Modernisierung der Industrie mit Hilfe öffentlicher
Mittel in Gang zu bringen.148 Dieser von der Konservativen Partei als Sozialismus durch
die Hintertür bekämpften Strategie entsprach es auch, dass die Regierungen Wilson und
Callaghan weitere Unternehmen in Staatseigentum übernahmen. So wurde der Staatssektor
um die Förderung von Rohöl, den Schiffbau und die Luftfahrtindustrie erweitert.149
Nach 1974 konzentrierte sich die neue Labour-Regierung wieder auf die Bekämpfung
der Inflation. Dazu diente die Kontrolle von Preisen und Löhnen, zuerst mit Hilfe von
„Abmachungen einer konzertierten Lohnpolitik auf freiwilliger Basis“.150 Der bereits im

144
Williamson 1966, S. 30-34; The Economist vom 22. Juli 1967, S. 291ff.
145
Eine überdurchschnittliche Streikhäufigkeit war die Folge (Scharpf 1987, S. 100).
146
Sturm 1991, S. 27.
147
Blank/ Sacks 1982, S. 232.
148
Sturm/ Müller 1999, S. 26.
149
Sturm 1991, S. 31f.
150
Busch 1989, S. 39.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 59

Wahlkampf verkündete „Social Contract“,151 den die Labour Party zusammen mit dem
Gewerkschaftsdachverband TUC ausgearbeitet hatte,152 sollte ein Meilenstein für die Anti-
Inflationspolitik sein. Er sah eine enge einkommenspolitische Kooperation, eine gewerk-
schaftliche Beteiligung an der Formulierung der Wirtschaftspolitik, sozialpolitische Zuge-
ständnisse und die Unterstützung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in den Ar-
beitsbeziehungen vor. Der Social Contract zielte auf eine informelle Abstimmung der Ein-
kommenspolitik, die aber auf akteur- und wirtschaftsentwicklungsbedingte Schwierigkeiten
traf.
Trotz schwerer ökonomischer Probleme versuchte die Regierung, ihre Verpflichtungen
zu erfüllen, konnte aber Zusagen, die sie im Rahmen des „Social Contract“ gemacht hatte,
nicht einhalten. Zugleich stieß die Einkommenspolitik bei den Gewerkschaften auf immer
mehr Widerstand. Die Erwartungen waren freilich von Anfang an geteilt. Es gab wesentli-
che Vorbehalte sowohl von der Unternehmerseite, als auch von Gewerkschaftsseite, weil
der Kontrakt „was asking too much of the trade unions“. Bereits im Winter 1974/75 waren
die Gewerkschaften nicht mehr bereit zu folgen.153 Anfang 1975 stellte sich heraus, dass
einzelne Gewerkschaften mit Lohnabschlüssen von über 30% weit über die Inflationsent-
wicklung hinausgegangen waren. Ein Ansteigen der Inflationsrate konnte auf Dauer nicht
verhindert werden, sie stieg zeitweilig auf über 20%.
Daraufhin bemühte sich die Regierung in Verhandlungen mit dem TUC, die Lohnfor-
derungen durch Lohnleitlinien zu limitieren und damit gleichzeitig auch die Unternehmer-
seite zu binden, was deren Preisgestaltung einschränkte. Diese Vereinbarungen wurden
wiederum unterlaufen. „Eine Welle von Lohnerhöhungsrunden und Streiks erschütterten
das Wirtschaftsgefüge.“154 Ohne die Unterstützung der Gewerkschaften versuchte die Re-
gierung nun, Lohnleitlinien mit rein administrativen Mitteln durchzusetzen. Aus der gesetz-
lichen Regulierung zur Einkommenspolitik resultierte jedoch wiederum eine heftige Kon-
frontation mit den Gewerkschaften. Der Konflikt zwischen Regierung und Gewerkschaften
spiegelte sich zwischen November 1978 und März 1979 in den höchsten Streikzahlen der
britischen Nachkriegsgeschichte.155
Das offensichtliche Scheitern des Social Contract, das die Streikwelle im Winter
1978/79 („winter of discontent“) nach sich zog, zerstörte den „Schulterschluss“ zwischen
Labour Party und Gewerkschaftsbewegung.156 Der korporatistische Zugriff scheiterte, weil
den Führern der Gewerkschaften die notwendige Autorität gegenüber ihren Funktionären
und Mitgliedern fehlte. Die Versuche mit Korporatismus bzw. Tripartismus aus den 1960er
und 1970er Jahren157 schienen am Ende. Dies hatte einen erneuten Konfrontationszyklus
zwischen Regierung und Gewerkschaften zur Folge.

151
Es handelte sich um ein tripartistisches Gremium, das Vertreter von Parteispitze, TUC und Labour Schattenka-
binett im Parlament umfasste und 1971 gegründet wurde. Das Gremium sollte die Restriktionen des Industrial
Relations Act wieder beseitigen und Konzepte für eine soziale Beschäftigungspolitik entwickeln. Das Gremium
bestand weiter, als Labour zurück an der Macht war (Taylor 2004, S. 73).
152
Der Generalsekretär der Transportarbeitergewerkschaft (TGWU), Jack Jones, galt als der Architekt des Social
Contract (Degen 1978, S. 63).
153
Taylor 2004, S. 71, 77f., 82, 84, 86.
154
Sturm 1991, S. 32, 34f.
155
Vgl. Kastendiek 1985, S. 16ff.; Kastendiek 1989, S.25ff.; Busch 1989, S. 36ff.; Schmidt 1989, S. 58ff.
156
Kavanagh 2004, S. 323; s.a. Taylor 2004, S. 70-104.
157
Dorey 2002, S. 64.
60 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

d) Gewerkschaftsgesetzgebung

Die Streikfreudigkeit, die auch von der Labour-Regierung für die Situation der britischen
Wirtschaft mitverantwortlich gemacht wurde, hielt ungemindert an. Schon seit Mitte der
1960er Jahre wurde in der öffentlichen Meinung und der wissenschaftlichen Publizistik die
Urheberschaft an der britischen Wachstums- und Strukturschwäche dem Faktor „Arbeit“
angelastet.158 Eine Royal Commission unter Lord Donovan, die 1968 Bericht erstattete,
hatte Alternativen zur Organisation der industriellen Beziehungen in Großbritannien unter-
sucht, konnte aber auch kein Mittel zur Begrenzung von Streiks finden. Die Kommission
wies darauf hin, dass es zwei Systeme der industriellen Beziehungen gab, einmal das for-
male mit für die ganze Industrie gültigen Vereinbarungen und daneben das auf den jeweili-
gen Arbeitsplatz bezogene informelle System. Der Konflikt zwischen beiden wurde als
Problem herausgearbeitet. Diesem mit gesetzlichen Maßnahmen begegnen zu wollen, hielt
die Kommission nicht für richtig. Sie schlug prozedurale Reformen vor.159 Dennoch legte
die Regierung Wilson einen weitgehenden Entwurf zur Neuregelung des Streikrechts
vor.160 In Großbritannien hatte der Staat seit der Jahrhundertwende auf rechtliche Vorgaben
für die Arbeitsbeziehungen verzichtet und einen gerichtsfreien Raum für die Konfliktaus-
tragung und Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschaffen. „Es gab also
weder eine tarifrechtliche ‚Friedenspflicht’ noch andere, den Arbeitskampf strukturierende
und eingrenzende rechtliche Regeln.“161 Die Labour-Regierung konzentrierte sich bei ihrem
Reformversuch auf das Arbeitskampfrecht.162 Die vorgesehenen Maßnahmen führten aller-
dings nicht zum Erfolg, sondern forderten zusätzlich den Protest der Labour-Linken heraus.
Die 1970 ins Amt gekommene Konservative Regierung Heath, die eine marktorientier-
te Politik angekündigt hatte, zielte auf Schwächung der Gewerkschaften. Sie nahm den
gescheiterten Versuch Labours, das Verhalten der Gewerkschaften zu regulieren, wieder
auf. Mit dem „Industrial Relations Act“ von 1971 sollten inoffizielle Streiks so weit wie
möglich verhindert werden, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen sollten eine feste
Laufzeit und verbindliche Geltung erhalten.163 Insgesamt zielte das Gesetz auf Verrechtli-
chung der Arbeitsbeziehungen und Veränderung der Organisationsstruktur der Gewerk-
schaften.164 Die Gewerkschaften fürchteten allerdings um ihre Rechte und der Konflikt
eskalierte. So kehrte die Regierung Heath auf Druck der Gewerkschaften zur Einkommens-
politik zurück, gegen die sie eigentlich angetreten war.165 Mit dem Wahlkampf für die auf
Anfang 1974 vorgezogenen Wahlen stellte Heath die Frage, ob das Land von der Regierung
oder den Gewerkschaften regiert würde. Dennoch gewann die Labour Party.166
Die neue Regierung Wilson versuchte die Konfrontation mit den Gewerkschaften zu
überwinden.167 Sie hob die umstrittene Gewerkschaftsgesetzgebung der Regierung Heath
auf und hoffte dadurch, die Gewerkschaften zu einer Art Selbstverpflichtung zu bewegen,

158
Schmidt 1989, S. 55/56; Jackson 1985c, S. 35.
159
Goodman 1981, S. 600; Palmer 1983, S. 187ff.
160
Sturm 1991, S. 27.
161
Scharpf 1987, S. 101.
162
Döring 1997, S. 10f.
163
Thomson/ Engleman 1975; Goodman 1981, S. 610.
164
Streeck 1978, S. 107ff.
165
Dorfman 1979, S. 55, 59.
166
Vgl. Goodman 1981, S. 611.
167
Maor 1997, S. 187.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 61

im Rahmen des „Social Contract“ eine nicht-inflationäre Lohnpolitik zu verfolgen. Unter


der Führung von Heath verzichteten die Konservativen als Opposition ausdrücklich auf die
Forderungen nach Verrechtlichung und erkannten die Gesetze der Labour-Regierung Wil-
son von 1974 als ausreichenden Rahmen für die Arbeitsbeziehungen an.168 Die gesetzlichen
Maßnahmen erwiesen sich allerdings als wenig wirksam. Im Winter 1978/79 kam es zu
lang anhaltenden, das öffentliche Leben Großbritanniens nachhaltig beeinträchtigenden
Arbeitskämpfen. Die Tatsache, dass öffentliche Dienstleistungen, z.B. Müllentsorgung und
Beerdigungen, nicht mehr oder nur mit großen Verzögerungen stattfinden konnten, setzte
die Regierung in der Öffentlichkeit in ein verheerendes Licht. So hatte es die Opposition
leicht, die Regierung im Würgegriff der Gewerkschaften darzustellen. Im Wahlkampf von
1979 war dementsprechend die Gewerkschaftsfrage eines der zentralen Themen der Kon-
servativen.
Die Zähmung der Gewerkschaften konnte als Vorbedingung für die Überwindung der
„englischen Krankheit“ legitimiert werden, da durch den Streikrekord sowie die Kombina-
tion der wirtschaftlichen Schwäche Großbritanniens mit neuen Kriseneinbrüchen der Welt-
wirtschaft ein gewerkschaftsunfreundlicher öffentlicher Konsens herrschte. Die Ansicht,
dass die Gewerkschaften zu mächtig geworden seien, war weit verbreitet.169 Die im Februar
1975 zur Parteiführerin der Konservativen gewählte Margaret Thatcher verband als Opposi-
tionsführerin in der tagespolitischen Auseinandersetzung mit der Labour-Regierung bereits
alle Kernthemen der späteren neoliberalen/ neokonservativen Wende mit ihrer Kritik an der
„britischen Misere“.170 Sowohl die Einkommens- als auch die Gewerkschaftspolitik hatten
die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können. Das offensichtliche Scheitern der
(keynesianischen) globalen Nachfragesteuerung schuf Platz für „neue“ wirtschaftspolitische
Ansätze, namentlich Angebotsorientierung 171 und Monetarismus.172

5. Thatchers „Revolution“

Schon in den 1960er und 1970er Jahren war die Wirtschaftsentwicklung „durch ein niedri-
geres Wirtschaftswachstum als in den meisten anderen Industrieländern, durch eine eher
geringe Produktivität und durch eine zunehmende und fluktuierende Inflation“173 gekenn-
zeichnet gewesen. Großbritannien galt als „der kranke Mann Europas“, die Vokabel „briti-
sche Krankheit“ war zum Synonym für nachlassende ökonomische Leistungskraft und

168
Bielstein/ Kaiser 1990, S. 99.
169
Kastendiek 1988, S. 166; Kastendiek 1989, S. 30/31; Schmidt 1989, S. 61.
170
Behrens 1977, S. 19; Kastendiek 1989, S. 30.
171
Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik knüpft an Bestimmungsfaktoren des gesamtwirtschaftlichen Ange-
bots bzw. der Produktionskapazität an, indem sie Bedingungen für Wachstum und Effizienz der Produktion zu
verbessern sucht, z.B. durch Steuerentlastungen, Kürzung von Staatsausgaben, stabilitätsorientiertes Wachstum
der Geldmenge und Deregulierung der Wirtschaft.
172
Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen, die sich aus dem wirtschaftstheoretischen System des Monetarismus
ergeben, sind: 1. Forderungen nach dem Verzicht auf jede zusätzliche Konjunktur- oder Beschäftigungspolitik, 2.
Vorrang der Preisniveaustabilität als Voraussetzung für das Funktionieren des marktwirtschaftlichen Anpassungs-
prozesses. 3. Das Beschäftigungsziel soll durch das freie Spiel des Marktes erreicht werden, und 4. der staatliche
Bereich soll minimiert und im Wesentlichen auf ordnungspolitische Aufgaben beschränkt werden.
173
Coozens 1982, S. 246. - Der gesamte Abschnitt zu Thatchers Revolution beruht wesentlich auf den Vorarbeiten
von Cordes 1993.
62 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

konfliktgeladene Sozialbeziehungen geworden.174 Aus Sicht der Anhänger des Thatcher-


Ansatzes begründete sich die Schwäche der britischen Wirtschaft
ƒ zum Ersten aus den zu starken Gewerkschaften, die für die Inflation als verantwortlich
galten,
ƒ zum Zweiten aus einer zu schwachen Regierung, die sich nicht gegen Forderungen
von Interessengruppen wehren konnte und daher ständig steigende Staatsausgaben in
Kauf nehmen musste,
ƒ zum Dritten aus der Tatsache, dass einem schrumpfenden, dem Markt unterworfenen
Privatsektor ein übergroßer staatlicher Sektor gegenüberstand, wobei jedoch nur der
Privatsektor maßgeblich an der Schaffung des Wohlstandes beteiligt ist, und
ƒ zum Vierten durch verschwenderische Staatsausgaben.175
„Von 1979 bis 1990 führte Margaret Thatcher die britischen Wähler – sie tyrannisierend,
einschüchternd und um den Finger wickelnd – in eine politische Revolution.“176 Ihr wurde
attestiert, die Rolle des Staates neu definiert zu haben.177 Die neue britische Regierung hatte
sich im wirtschaftspolitischen Teil ihres Regierungsprogramms hohe Ziele gesteckt. Eines
der wichtigsten Elemente war die Re-Orientierung der Wirtschaftspolitik „ ... auf die neoli-
berale Logik der Überlegenheit des Marktes als Steuerungsmittel der Wirtschaft“.178 Durch
die „neuen“ Politikkonzeptionen sollte ein Wandel in den jeweiligen wirtschaftspolitischen
Bereichen stattfinden, durch den die gesamte wirtschaftliche Situation des Landes verbes-
sert werden sollte. Der Bereich der Gewerkschaftspolitik ist deshalb besonders interessant,
weil die Regierung Thatcher sich als erste britische Nachkriegsregierung auf eine nachhal-
tige Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften einließ.179 Die Privatisierungspolitik steht
beispielhaft für die Ideologie der Regierung Thatcher von einer Stärkung des Marktes und
einem Rückzug des Staates aus Steuerungspositionen. Zum wirtschaftspolitischen Kern der
Konservativen Politik unter der neuen Premierministerin (1979-90) gehören zunächst vor
allem die Bekämpfung der Inflation und des Haushaltsdefizits. Die veränderten strukturel-
len Grundlagen der Wirtschaftspolitik umschreiben die Stichworte „Geldmengenpolitik“,
„Gewerkschaften“ und „Privatisierung“.180
Im Einzelnen ging es um
ƒ Reduzierung des Geldmengenwachstums, also Befolgung von streng monetarischen
Prinzipien, um die Inflationsrate zu reduzieren und danach konstant zu halten,
ƒ Verringerung des Staatsdefizits (durch Kürzung der Staatsausgaben),
ƒ Einschränkung des öffentlichen Sektors zugunsten des Privatsektors (z.B. durch Sub-
ventionsverringerung, Privatisierung, Verringerung der Regulierung, Verkleinerung
des Verwaltungsapparates),
ƒ Angebotsorientierte Maßnahmen zur Unterstützung des Spiels der Marktkräfte (z.B.
Einschränkung der Macht der Gewerkschaften, Senkung der direkten Steuern).181
174
Fröhlich 1987, S. 149.
175
Busch 1989, S. 51-53.
176
Judt 2006, S. 616.
177
Jackson 1985b, S. 19.
178
Sturm 1990, S. 229.
179
„ ... an die Stelle des häufigen Wechsels von kooperativen und konfliktorischen Beziehungen zwischen Regie-
rungen und Gewerkschaften (ist) eine durchgehende und tiefgreifende Konfrontation getreten.“ (Kastendiek 1985,
S. 13).
180
Der Bereich kommunale Selbstverwaltung ist zwar machtpolitisch durchaus zentral, bleibt aber hier unbeachtet,
weil der wirtschaftspolitische Bezug nicht unmittelbar gegeben ist.
181
S.a. Fröhlich 1987, S. 150.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 63

Die Regierung Thatcher strebte eine Modernisierung der in Teilen veralteten britischen
Industrie an, indem sie in einem Akt kreativer Destruktion den Niedergangsprozess bewusst
beschleunigte, „um so einerseits die Subventionen für diese maroden i.d.R. verstaatlichten
Sektoren einzusparen und andererseits Raum für andere ökonomische Aktivitäten zu ge-
winnen.“182
Zur Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme bediente sich die neue Regierung nicht
grundsätzlich neuer Instrumente,183 sondern bündelte verschiedene wirtschaftspolitische
Normierungen zu einer „neuen“ Politikkonzeption, wobei die Mittelfristigkeit der Pro-
gramme betont wurde.

a) Finanzpolitik

Die Regierung Thatcher legte großes Gewicht auf die Gesundung der Finanzen und stellte
die Kontrolle der Inflation über alle anderen wirtschaftspolitischen Ziele. „Die Inflation
möglichst zum Stillstand zu bringen, wurde als erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur
Wiederherstellung einer leistungs- und konkurrenzfähigen Marktordnung gesehen ... .“184
Bis 1979 war die wirtschaftspolitische Orientierung in Großbritannien nur ein „monetär
eingegrenzter Keynesianismus“.185 Danach hatte Inflationsverminderung durch Überwa-
chung der Geldmenge hohe Priorität und hat deshalb besondere Ausmaße angenommen.186
Mit ihrer Politik der Inflationsbekämpfung stützte sich Frau Thatcher insbesondere auf
die Erfolgsrezepte der monetarischen Chicagoer Schule Milton Friedmans.187 „Strategisch
zentral war für die erste Thatcher-Regierung in der Wirtschaftspolitik Friedmans These,
dass nennenswerte Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen sei, das es gelte,
durch eine Verstetigung des Geldmengenwachstums und vor allem eine dem Produktivi-
tätszuwachs entsprechende kontrollierte Expansion der Geldmenge zu bekämpfen.“188
Bei den Haushaltsberatungen 1980 avisierte die Regierung eine progressive Kürzung
des Volumens der Staatsausgaben über den Zeitraum der folgenden vier Jahre.189 Die mo-
netaristische Geldmengenpolitik führte zunächst zu einer bewusst herbeigeführten schwe-
ren Rezession von 1979-81. Die britische Wirtschaft sollte in einen kurzen, aber scharfen
Schock versetzt werden.190 Die Inflationsrate stieg im ersten Jahr der Regierung Thatcher
drastisch an. Gründe waren auch das Anheben der Mehrwertsteuer, die steigenden Ölpreise
sowie die erheblichen Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst und den nationalisierten
Industrien. Die steigende Inflation ließ den Nominalzins im Vergleich zum Ausland stei-
gen, verstärkt durch die Kontrolle des Geldmengenwachstums. Kombiniert mit den günsti-
gen Erwartungen im Nordsee-Ölgeschäft zogen die Wechselkurse an. Auswärtige Anleger
investierten ihre kurz- und mittelfristigen Gelder in Großbritannien, was den Kurs des £

182
Borchert 1995, S. 181; s.a. Wilks 1985.
183
Bruce-Gardyne 1984, S. 58f.
184
Ohne Rücksicht auf die Auswirkungen am Arbeitsmarkt. S.d. Gamble 1985, S. 45.
185
Wegner 1986, S. 4.
186
Die Labour-Regierung sah sich 1976 unter dem Einfluss des Internationalen Währungsfonds zur Einhaltung
von Geldmengenzielen gezwungen. Die Kontrolle des Kreditvolumens wurde eingeführt und die Geldmen-
genentwicklung (des Geldmengenaggregats M3) begrenzt. Die Kontrolle der Geldmenge M1 war neben Lohn- und
Preiskontrollen ein Element eines umfassenden Anti-Inflations-Programms.
187
S.d. Jackson 1985b, S. 19ff.
188
Sturm 1991, S. 43.
189
Holmes 1985, S. 105.
190
Vgl. Gamble 1990, S. 196f.
64 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Sterling steigen ließ und die Marktposition britischer Produkte weiter schwächte.191 Da-
durch verringerte sich der industrielle Sektor erheblich. „Nach dem Ende der Rezession
verlor der Monetarismus, den viele Beobachter – fälschlicherweise – für das Herzstück des
Thatcherismus gehalten hatten, allmählich an Bedeutung für die Regierungspolitik, ... “192
„Denn die Regierung vermochte zu keinem Zeitpunkt ihre selbst proklamierten Geldmen-
genziele einzuhalten. Die Inflation verebbte, obwohl die offizielle Anti-Inflationspolitik ein
Fehlschlag war.“193 Dagegen versuchte die Regierung Thatcher durch eine drastische
Pfundabwertung der Jahre 1980/81 die Position des £ Sterling auf den internationalen Devi-
senmärkten zu stärken und gleichzeitig den Standort für ausländische Industrie interessant
zu machen. „Beide Strategieelemente machten eine möglichst starke Integration der briti-
schen Wirtschaft in die Weltökonomie erforderlich und führten damit zu einer noch sehr
viel stärkeren Abhängigkeit der wirtschaftlichen Situation von der weltwirtschaftlichen
Entwicklung.“194
Im Innern bewirkte der erste Haushalt der Thatcher Regierung sogleich redistributive
Effekte. Durch die Neuordnung der Einkommenssteuer und die Erhöhung der Mehrwert-
steuer wurden Bezieher kleiner Einkommen stärker belastet. Die Minimum Lending Rate
(MLR), die unmittelbar nach dem Amtsantritt Thatchers anstieg, belastete über steigende
Hypothekenzinsen besonders diejenigen, die sich Hauseigentum schaffen wollten. Diese
Maßnahmen waren vor allem emotional brisant, da die Schaffung von Hausbesitz ein we-
sentliches Ziel der Konservativen Politik war. Mit der spürbaren Belastung von schlechter
Situierten wurde gleich am Anfang der Grundstein für das spätere „Uncaring Image“ ge-
legt.195 Dagegen versuchte die Regierung Thatcher das Wirtschaftsklima zu verbessern,
z.B. durch Steuersenkungen,196 Deregulierung, Wettbewerbspolitik und Unterstützung
kleinerer Unternehmen. Vergleichsweise gering blieben dagegen die Ausgaben für For-
schung und Entwicklung197 sowie zunächst für aktive und passive Maßnahmen der Ar-
beitsmarktpolitik.198

b) Gewerkschaftspolitik

Wie bereits erwähnt wurde argumentiert, „that the economic decline of Britain is a result of
the undermining and erosion of the elementary principles of free market capitalism through
the growth of the welfare state, egalitarianism and a militant trade union movement. These
are the end products of decades of domination by social-democratic ideology over all the
mainstream political and economic tendencies during the Post-war period.”199 Diese Auf-
fassung vertrat der Thatcherismus als Mehrheitslinie der Konservativen seit 1975 und als
Regierungspolitik seit 1979.200 Aber auch Bevölkerungsumfragen ergaben, dass die Zahl

191
Crouch 1987, S. 3, Fischer 1995, S. 16.
192
Borchert 1995, S. 182.
193
Fröhlich 1987, S. 151.
194
Borchert 1995, S. 182.
195
Fischer 1995, S. 5.
196
Fröhlich 1987, S. 154.
197
Crouch 1987, S. 6.
198
Diese Maßnahmen wurden erst in den späten 1980er Jahren verstärkt (Kröger/ van Suntum 1999, S. 32, 50, 55),
wenngleich Deutschland noch 2001 bis 2003 viermal mehr dafür ausgab als Großbritannien (Berthold/ Berchem
2005, S. 59).
199
Thompson 1986, S. 96/97.
200
Kastendiek, 1985, S. 20.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 65

derjenigen, die die Gewerkschaften als zu mächtig ansahen, stieg.201 Der „winter of discon-
tent“ bestärkte diese Einschätzung.
Obwohl der Bereich der Gewerkschaftspolitik eines der Wahlkampfthemen war, war-
teten die Konservativen bewusst mit keinem detaillierten Politikkonzept auf: Lediglich
vage Zielsetzungen wurden benannt.202 Die Probleme im Bereich der Arbeitsbeziehungen
wurden in den größeren Zusammenhang einer grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Wen-
de eingeordnet: „Die konservative Gewerkschaftspolitik war eine ‚Angebotspolitik’, die
den Unternehmern den Rücken freihalten sollte, die technologische Erneuerung der briti-
schen Wirtschaft und ihre sozialen Implikationen gegen die Gewerkschaften und die Beleg-
schaften durchzusetzen.“203 Für ihre gewerkschaftspolitische Strategie hatte die Regierung
Thatcher drei Lehren aus dem Scheitern der Regierung Heath gezogen:204
ƒ Sie ging nicht mehr davon aus, dass es allein durch Rechtsetzung gelingen könnte,
einen Wandel in den Arbeitsbeziehungen herbeizuführen. Vielmehr sollten die neuen
wirtschaftspolitischen Leitideen des Monetarismus und ökonomischen Liberalismus
diesen Wandel initiieren und durch entsprechende Rechtsetzung bestenfalls abgestützt
werden.
ƒ Sie orientierte sich bei ihrer Politik mehr an der Vermeidung bereits gemachter Fehler
und an Durchsetzungs- und Umsetzungsschwierigkeiten als an konkreten Zielen.
ƒ Die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften sollten zunächst nur dort einge-
gangen werden, wo sie als am aussichtsreichsten galten: selektiv im öffentlichen Sek-
tor.
Hierin liegt der Grund für die schrittweise Gewerkschaftspolitik der Regierung. Sie verfolg-
te kein geradliniges Politikprogramm, sondern führte zahlreiche Einzelmaßnahmen durch,
die zusammengenommen den Versuch einer nachhaltigen Schwächung der Gewerkschaften
darstellen. Die letztendliche Abschaffung des NEDC 1992 war ein sichtbares Signal, dass
die soziale Partnerschaft beendet war.205 Dies lief auf die Ausgrenzung der Arbeitnehmer
und ihrer Gewerkschaften sowohl auf der politischen als auch auf der gesellschaftlichen
Ebene hinaus.206 Obwohl sich der Thatcher-Ansatz der Gewerkschaftspolitik in der macht-
politischen Frage auf die Regierung Heath zurückführen lässt, unterscheidet er sich doch
erheblich. Die Machtfrage wird von Thatcher in den 1980er Jahren radikaler und erfolgrei-
cher als von Heath 1974 gestellt, denn die Gewerkschaften werden nicht lediglich in ihre
Schranken verwiesen, sondern Ziel war es, sie als relevante politische Akteure auszuschal-
ten. Die Gewerkschaftsfrage galt als Voraussetzung für die Überwindung der britischen
Dauerkrise. Das Ziel des Thatcher-Ansatzes war die Etablierung „eines neuen gesell-
schaftspolitischen Grundkonsens“.207
Die Einzelmaßnahmen wirkten auf verschiedenen Ebenen: Sie betrafen sowohl die
Außenbeziehungen der Gewerkschaften als auch die internen Gewerkschaftsstrukturen. Die
Regierung bediente sich vielfältiger Maßnahmen:

201
Taylor 2004, S. 151.
202
Bielstein/ Kaiser 1990, S. 104.
203
Kastendiek 1989, S. 35/36, s. auch Kastendiek/ Kastendiek 1985, S. 387.
204
Bielstein/ Kaiser 1990, S. 102/103.
205
Dorey 2002, S. 65.
206
Die Gewerkschaften sollten nicht nur wegen des Lohndrucks, der von ihnen ausgeübt wurde, geschwächt
werden, sondern auch daran gehindert werden, andere wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierung zu blockie-
ren (Gamble 1985, S. 45; Dorey 2002, S. 66).
207
Kastendiek 1985, S. 21.
66 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

ƒ Einsatz ökonomischer und gesetzlicher Mittel,


ƒ Änderung der internen Gewerkschaftsstrukturen,
ƒ Schwächung bzw. Streichung von tripartistischen Institutionen,
ƒ Ersatz von Agenturen (z.B. für Fortbildung), durch die die Gewerkschaften Macht
ausübten.
Hierbei wurde der Rückgriff auf den Konflikt als das wichtigste Mittel zur Lösung von
Interessengegensätzen gesehen.208 Dort, wo die Macht der Gewerkschaften jedoch für einen
politischen Angriff als zu groß eingeschätzt wurde, „ ... zeigte sich die Regierung bereit, auf
ältere Formen der industriellen Beziehungen zurückzugreifen.“209 Der ministerielle Kontakt
zum TUC wurde eingeschränkt.210 Seit 1979 konnte eine drastische Reduktion von Kontak-
ten und Verhandlungsthemen zwischen Regierung und Gewerkschaftsführern beobachtet
werden und die Beteiligung der Gewerkschaften an offiziellen Gremien wurde eingeengt.
Durch wiederholte Erklärungen der Regierung, nicht in Arbeitskämpfe intervenieren zu
wollen, selbst dann nicht, wenn diese im öffentlichen Sektor stattfänden, sollte eine „Neu-
auflage staatlicher Einkommenspolitik und tripartistischer Verhandlungsstrukturen“211 aus-
geschlossen werden.
Die ökonomischen und gesetzlichen Mittel dienten hauptsächlich dem Ziel, das Kräf-
teverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten des Kapitals zu verschieben. Weiterhin
wurde die kollektive Verhandlungs-Macht eingeschränkt. Dies geschah durch gesetzliche
Maßnahmen, nämlich die drei Employment Acts von 1980, 1982 und 1988. Sie sind ein
Indikator für das schrittweise Vorgehen der Regierung, die sich, im Gegensatz zur Regie-
rung Heath, auf einzelne Themen konzentrierte und nicht versuchte, mit legislativen Mitteln
die industriellen Beziehungen auf einen Schlag zu verändern. Durch diese Gesetze sollte
der Handlungsspielraum der Gewerkschaften indirekt eingeschränkt werden, sie zielten in
der Hauptsache auf Beschränkungen des Closed-Shop-Prinzips212 und die systematische
Einengung der traditionellen juristischen Immunität der Gewerkschaften.213 Ein an dieser
Stelle besonders hervorzuhebendes Ziel dieser Regelungen bestand darin, „politische“
Streiks für ungesetzlich zu erklären. Klagerechte, die nach diesen Gesetzen sowohl den
Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebern zustanden, wurden jedoch nur in sehr wenigen
spektakulären Fällen wahrgenommen. Die Wirkung der Verrechtlichung gewerkschaftli-
cher Handlungsmöglichkeiten war daher stark beeinträchtigt.214 Daneben wurden weitere
rechtliche Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durchgesetzt (z.B. Locke-
rung von Kündigungsschutzbestimmungen, Abschaffung von Mindestlöhnen). Die „Ange-
208
Beispielsweise wurde „eine Reihe von Institutionen, insbesondere im öffentlichen Dienstleistungsbereich, deren
Aufgabe es war, die Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen möglichst konfliktfrei zu regeln“, abge-
schafft (Crouch 1985, S. 256). Die Regierung war überzeugt, „dass die traditionellen politischen und gewerk-
schaftlichen Organisationen der Arbeiterbewegung die Kampfstätte nicht als Sieger verlassen“ würden (Gamble
1985, S. 46); s.a. Dorey 2002, S. 65ff.
209
Crouch 1985, S. 262.
210
Dorey 2002, S. 66.
211
Gamble 1985, S. 48.
212
Z.B. Entschädigungszahlungen für Arbeiter, die wegen Nichtzugehörigkeit zu einer Gewerkschaft in einem
Closed Shop nicht eingestellt oder entlassen worden waren, verpflichtende regelmäßige Abstimmungen über die
Einführung oder Aufrechterhaltung eines Closed Shop mit 4/5 Mehrheit (S. d. Deaton 1985, S. 31).
213
Z.B. Aufhebung der Immunität bei secondary picketing, Einschränkung der Rechte von Streikposten, Ein-
schränkung der Definition erlaubter Arbeitskämpfe, Aufhebung juristischer Immunitäten für unerlaubte Arbeits-
kämpfe, Wiedereinführung der zivilrechtlichen Haftung für Arbeitskampffolgen. Eine ausführliche Darstellung
findet sich in: OECD Economic Survey United Kingdom, Paris 1986, S.30; Riddell 1985, S. 187/188.
214
Bielstein/ Kaiser 1990, S. 108.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 67

botsbedingungen“ im Unternehmenssektor sollten verbessert werden (auch durch Senkung


der Lohnnebenkosten215).
Neben diesen Maßnahmen setzte die Regierung auch ökonomische Mittel ein, um die
Position der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmern zu
schwächen. Zum Ersten wirkte die allgemeine Wirtschaftspolitik der Regierung mit bei-
spielsweise der Ablehnung von direkten Eingriffen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit,
der Kürzung bei den Staatsausgaben und der Verweigerung von Soforthilfemaßnahmen zur
Verhinderung von Bankrotten. Zum Zweiten sollten im öffentlichen Sektor „die Privatisie-
rung öffentlicher Unternehmen, der Abbau von Subventionen und die gezielte Unterminie-
rung der ... Stellung der Gewerkschaften einen Umbau in Richtung einer freien Marktwirt-
schaft in Gang setzen und als Vorbild für den Privatsektor dienen.“216 Durch Auflage strik-
ter Ausgabenlimits für Lohnzahlungen im öffentlichen Sektor wurden Management und
Gewerkschaften vor die Wahl gestellt, sich entweder auf Lohnerhöhungen unterhalb der
Inflationsrate zu einigen oder höhere Zuwächse durch einen Arbeitskräfteabbau zu finan-
zieren.
Im Gegensatz zu den Employment Acts und den ökonomischen Maßnahmen diente
der Trade Union Act von 1984 dem Ziel, die Position jedes einzelnen Arbeitnehmers gege-
nüber den gewerkschaftlichen Organisationen zu stärken. Die Regierung ging davon aus,
dass die Gewerkschaften und ihre Führer gegen die Interessen ihrer Mitglieder handeln. Da
die militanten Gewerkschaftsführungen sich häufig über die gemäßigten Ansichten ihrer
Mitglieder hinwegsetzten, müsse man nur die Gewerkschaften demokratisieren, um ihr
militantes Verhalten zu mildern.217 Der Trade Union Act zielte also direkt auf eine Verän-
derung der internen Gewerkschaftsstrukturen ab.218 Ideologie und Rhetorik der Konservati-
ven wendeten sich vor allem an die individuellen Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglie-
der.219 Die Regierung wollte für das einzelne Gewerkschaftsmitglied eintreten und nicht für
die kollektive Organisation, die sich dazwischen drängt. So wurde den Gewerkschaftsfüh-
rungen auferlegt, geheime Wahlen nach bestimmten Fristen zwingend durchzuführen.220
Diese Methode diente aber auch dazu, dass die Regierung die Gewerkschaften umgehen
bzw. deren Einfluss mindern konnte.
Es mag verwundern, dass die Regierung Thatcher ihre gewerkschaftspolitische Stra-
tegie durchsetzen konnte, ohne, wie vorhergehende Regierungen, am Widerstand der Ge-
werkschaften zu scheitern. Dies lag einerseits daran, dass die ergriffenen Maßnahmen eine
hohe Akzeptanz in der Bevölkerung – und nicht zuletzt auch in den Belegschaften – hat-
ten.221 „Gewerkschaftliche Militanz und angebliche Gesetzlosigkeit gerieten unter Be-

215
„Bei etwa gleichgebliebenem Anteil der Sozialversicherungsbeiträge an den Gesamtabgaben hat sich in den
ersten vier Jahren der Regierung Thatcher der Arbeitgeberanteil verringert.“ (Franzmeyer 1987, S. 135.)
216
Bielstein/Kaiser 1990, S. 113. In Tarifauseinandersetzungen, in denen die Regierung selbst als Arbeitsmarkt-
partei beteiligt war, widersetzte sie sich zum Teil hartnäckig den Gewerkschaftsforderungen (vgl. Fröhlich 1987,
S. 156).
217
Strinati 1985, S. 134.
218
V orgeschrieben wurden beispielsweise Abstimmungsverfahren über die Ernennung von Gewerkschafts-
funktionären, über die Ausrufung von Arbeitskonflikten und über die Ausübung politischer Aktivitäten (u.a. über
die Einrichtung und Beibehaltung von „political funds“, worin gleichzeitig eine Bedrohung der politischen Arbeit
der Labour Party zu sehen ist, da sie traditionsgemäß zu einem erheblichen Teil von den Gewerkschaften finan-
ziert wird).
219
Strinati 1985, S. 134/135.
220
Fröhlich 1985, S. 156f.; Deaton 1985, S. 36.
221
Fröhlich 1987, S. 157.
68 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

schuss.“222 Dies galt zunächst für die maßlosen Streiks im Winter 1978/79. Dadurch verlo-
ren die Gewerkschaften weiter an Popularität. Deren Position war bereits seit den 1970er
Jahren deutlich verschlechtert. Zusätzlich führten die Umstände der Rezession zu einer
erheblichen Gewerkschaftsschwächung.
Die tiefe Rezession zu Beginn der 1980er Jahre bewirkte einen starken Anstieg der
Arbeitslosigkeit auf drei Millionen, der die Macht der Gewerkschaften und den Willen der
Arbeiterschaft zum Widerstand zusätzlich verminderte.223 Durch die Rezession wurden vor
allem die Produktionsbetriebe getroffen, in denen die Gewerkschaften traditionell stark
waren. Zwischen 1979 und 1981 fiel die industrielle Produktion um 18%, zwischen 1929
und 1932 war sie dagegen nur um 10% gefallen. Auch der Wiederanstieg der Produktion
nach 1983 erreichte nicht den Ausstoß vor 1979.224 Dagegen waren die Gewerkschaften im
Dienstleistungssektor, wo ein Beschäftigungswachstum stattfand, schwächer vertreten. Die
Anzahl der Teilzeitarbeitsplätze stieg im Verhältnis zu den Vollzeitbeschäftigten. Die Be-
schäftigtenzahl bei Frauen, die in der Regel weniger gewerkschaftlich organisiert sind,
stieg, während die Zahl bei den Männern sank. Diese Umstände führten zu einem Rück-
gang der Präsenz der Gewerkschaften in den Unternehmen. Zwischen 1980 und 1990 lag
der Mitgliederverlust der Gewerkschaften bei ca. 25%.225 Daraus ergaben sich schwerwie-
gende finanzielle Probleme für die Gewerkschaften. Als Folge versuchten sie daher, bei den
Ausgaben zu kürzen und die niedrigen Mitgliedsbeiträge zu erhöhen, was sich jedoch durch
die Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander um Mitglieder als schwierig erwies. So
blieb vielen kleinen Gewerkschaften oftmals kein anderer Ausweg, als sich mit größeren
Gewerkschaften zu vereinigen, die hierin eine Möglichkeit sahen, ihre eigene finanzielle
Situation zu verbessern. Hierdurch vollzog sich eine Mitgliederkonzentration in den großen
allgemeinen Gewerkschaften, die wiederum eine Änderung der politischen Zusammenset-
zung des TUC Generalrates zur Folge hatten: Der Einfluss des rechten Gewerkschaftsflü-
gels wurde gestärkt.226
Der neue Konservative Ansatz in der Gewerkschaftspolitik war also, „returning the
unions to their members“.227 Auch die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer waren
diesem Ansatz nicht abgeneigt, da bereits vor 1979 viele Gewerkschaften eine rücksichtslo-
se Haltung gegenüber ihren Mitgliedern eingenommen hatten. Die Kluft zwischen Vertre-
tenen und Vertretern wurde von der Regierung Thatcher erkannt und ausgeweitet mit dem
Erfolg, dass die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt wurden. Die Gewerkschaften
und die Labour Party hatten nichts, was sie den Interpretationen und Lösungsvorschlägen
der Konservativen hätten entgegensetzen können. Des Weiteren gab es nur sehr geringen
Widerstand gegen die anti-gewerkschaftliche Position der Regierung, da sie, wie gesagt,
von großen Teilen der Bevölkerung und von vielen Belegschaften akzeptiert wurde.228
Durch diese Bedingungen wurden die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften stark
eingeschränkt und die Regierung war in der Lage, ihre gewerkschaftspolitischen Vorstel-
lungen zu realisieren.

222
Crouch 1987, S. 4.
223
Ebenda, S. 3.
224
Holmes 1985, S. 22.
225
Bielstein/ Kaiser 1990, S. 118.
226
Bielstein 1988, S. 207ff.
227
Busch 1989, S. 89.
228
Kastendiek/ Kastendiek 1985, S. 388.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 69

Das klassische Instrument gewerkschaftlicher Durchsetzungspolitik, der Streik, wurde


„ ... unter den politischen und ökonomischen Verhältnissen der 1980er Jahre in Großbri-
tannien weitgehend stumpf. ... Massenarbeitslosigkeit, makro- und mikroökonomischer
Strukturwandel, eine neue politische und rechtliche Rahmensetzung schufen die Bedingun-
gen, die zusammen mit organisatorischen und politischen Defiziten der Gewerkschaftsbe-
wegung den Faktor Arbeit in der politischen und ökonomischen Willensbildung in eine
Nebenrolle abdrängten.“229 Das Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaften ver-
änderte sich also erheblich, an die Stelle von korporatistischen Strukturen zur Lösung von
Interessenkonflikten trat die direkte Konfrontation. Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung
kam es zu einem Spaltungsprozess: „Auf der einen Seite formiert sich neuer fundamentalis-
tischer Widerstand gegen die Regierung, auf der anderen Seite spalten sich ... kooperative
Gruppierungen ab und haben solche Gewerkschaften raschen Zulauf, die die neuen Gesetze
akzeptieren bzw. deren Mitglieder durch die tarifvertragliche Akzeptanz von Einschrän-
kungen im Streikrecht beurkunden, daß ihnen die Sicherheit des Arbeitsplatzes mehr wert
ist als die Höhe des Lohnes.“230 Daneben kam es immer wieder zu inner- und zwischenge-
werkschaftlichen Konflikten im Kampf um Mitglieder.231

c) Privatisierungspolitik

Die Betrachtung der Privatisierungspolitik soll sich auf die Entstaatlichung durch Verkauf
oder Teilverkauf von Unternehmen der öffentlichen Hand konzentrieren. Der Verkauf von
sonstigen Vermögensbeständen der öffentlichen Hand, z.B. von Wohnungen, wird hier
nicht diskutiert, weil dieser Teil der Privatisierungen für die wirtschaftliche Entwicklung
eher indirekt von Bedeutung ist. Als die Konservativen die Regierung übernahmen, waren
etwa 1,5 Millionen Arbeitnehmer in öffentlichen Unternehmen beschäftigt.232
Abgesehen von der Tatsache, dass Privatisierungen zu Beginn der 1980er Jahre welt-
weit regelrecht „in Mode“ kamen, war die Einbindung der Privatisierungspolitik in das
ideologische Konzept der Regierung Thatcher doch besonders gut möglich und konse-
quent.233
Nach Crewe und Searing gehörten zu den Hauptwerten des Thatcherismus:
ƒ Disziplin als Zentralwert, von dem die beiden anderen Werte abgeleitet sind. Verant-
wortung gehört als Ergänzung dazu. Mehr Selbstverantwortlichkeit soll ermöglicht
werden.
ƒ Freies Unternehmertum, das in Verbindung mit Wettbewerb und Risiko als Quelle
allen Wohlstands gesehen wird. Es zu fördern bedeutet ein Zurückdrängen des staatli-
chen Engagements in der Wirtschaft.
ƒ Staatliche Autorität: Eine starke Zentralregierung soll verminderten Einfluss auf die
Wirtschaft, jedoch verstärkten Einfluss auf Institutionen wie Gewerkschaften, verstaat-
lichte Industrien, öffentlichen Dienst etc. haben.234

229
Bielstein 1988, S. 340.
230
Franzmeyer 1987, S. 136.
231
Ob jedoch eine dauerhafte Schwächung der Gewerkschaften tatsächlich stattgefunden hat, wird im Teil E
erörtert.
232
Fröhlich 1987, S. 154.
233
Busch 1986, S. 104.
234
Crewe/ Searing 1988, S. 361-384.
70 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

Innerhalb staatlicher Rahmenbedingungen sollen die Bürger eigenverantwortlich handeln.


In die marktorientierten Positionen neo-liberaler bzw. neo-konservativer Provenienz als
paradigmatische Richtschnur politischen Handelns ließ sich die Privatisierungspolitik nicht
nur ideal einbinden, vielmehr war sie auch Ausdruck der Regierungsabsicht, die Marktkräf-
te bei gleichzeitigem Rückzug des Staates zu stärken. Nach Abromeit war die Privatisie-
rung „ ... von Anbeginn ein Bestandteil der umfassenden Abrechnung des ‚Thatcherismus’
mit dem interventionistisch-keynesianischen Wohlfahrtsstaat, ... (sie war) eins der Signale
für die Rückkehr zum ‚minimalist state’; erst in einer späteren Phase wurde sie jedoch in
Reden von Regierungsmitgliedern zum Schlüsselelement dieser Politik stilisiert.“235
Von der Privatisierungspolitik war in der ursprünglichen Konzeption der Regierung
Thatcher kaum die Rede. Auch das Konservative Wahlmanifest von 1979 gab wenig Aus-
kunft über Privatisierung.236 Angst, dass Privatisierung unpopulär sein würde und zu weit-
reichenden politischen und industriellen Problemen führen könne, wird als Ursache ge-
nannt. Daher schien es einfacher, den öffentlichen Sektor durch Ausgabenbegrenzungen zu
reduzieren.237 Das Wahlmanifest sah nur die Privatisierung von British Aerospace und
British Shipbuilding sowie der National Freight Corporation vor. Weiterhin sollte eine
„Überprüfung sämtlicher Aktivitäten“ der British National Oil Corporation vorgenommen
werden.238 Es gab jedoch damals schon weitreichendere (unveröffentlichte) Pläne für Priva-
tisierungen, die 1978 ausgearbeitet wurden; der sogenannte „Ridley Report“, der im Prinzip
den zumindest teilweisen Verkauf aller nationalisierten Industrien empfahl, stieß innerhalb
der Partei jedoch mehrheitlich auf Ablehnung.239 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
es zwar schon vor der Konservativen Regierungsübernahme Vorstellungen über künftige
Verkäufe gab, sie aber kaum öffentlich artikuliert wurden und auch kein Wahlkampfthema
waren. Das Thema Privatisierung wurde erst öffentlich, als die ersten Verkäufe angekündigt
wurden.
Zudem hatte die Regierung kein durchgängig geplantes Konzept,240 sondern eher dif-
fuse und zum Teil widersprüchliche Vorstellungen darüber, was mit Verlustindustrien und
natürlichen Monopolen zu machen sei. Ebenfalls fehlten Angaben über das bei den Verkäu-
fen anzuwendende Verfahren, klar war nur eine vorherige Umwandlung der Unternehmen
in Aktiengesellschaften. „Erst seit der Privatisierung von British Telecom (November
1984) kristallisiert sich heraus, dass künftig privatisiert werden soll ohne Rücksicht auf
Wettbewerb oder Monopolposition.“241
Die Gründe für Privatisierungen wurden erst nachträglich in das Programm aufge-
nommen. Zunächst wurde als Argument angeführt, dass Privatisierungen eine disziplinie-
rende Funktion auf die Staatsunternehmen ausüben: Sie sollten sich mehr marktwirtschaft-
lich orientieren. Später wurden dann in diversen Reden folgende Vorteile für Privatisierung
angeführt:242

235
Abromeit 1986, S. 274.
236
Priorität hatte die öffentlichen Unternehmen erfolgreicher zu machen (Butcher 1991/92, S. 102).
237
Da dies jedoch misslang, suchte man nach Alternativen und kam zu dem, was heute als Privatisierungspro-
gramm bekannt ist! (vgl. Veljanovski 1987, S. 65/66.)
238
Abromeit 1986, S. 274, Steel/ Heald 1985, S. 75.
239
Veljanovski 1987, S. 65; Busch 1989, S. 98; Abromeit 1986, S. 274.
240
Busch 1989, S. 98; Veljanovski 1987, S. 7.
241
Abromeit 1986, S. 275.
242
Busch 1989, S. 98/99; Veljanovski 1987, S. 8; Prigge 1991, S. 30; Maynard 1988, S. 86; Steel/ Heald 1985, S.
71f.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 71

ƒ Stärkung des Wettbewerbs in der Wirtschaft, der zu Effizienzsteigerungen in den be-


treffenden Unternehmen führen soll,
ƒ Entstehen eines „Volkskapitalismus“, da durch den Verkauf von Unternehmens-
anteilen viele Menschen die Chance haben, Eigentümer zu werden,
ƒ Zurückhaltung der Bediensteten der einst öffentlichen Unternehmen bei ihren Lohn-
forderungen (da ihre Unternehmen dann dem Druck des freien Marktes ausgesetzt sei-
en),
ƒ Entlastung der Staatskasse durch Einnahmen beim Verkauf und durch Nichtzurech-
nung der Kreditaufnahme der öffentlichen Firmen zum öffentlichen Sektor, was zu-
gleich eine Hilfe für die Erreichung der restriktiven Fiskalziele bedeutete.
Allgemein gingen Konservative Regierungen von der Annahme aus, dass Unternehmen
allein durch die Tatsache, dass sie im öffentlichen Eigentum sind, schon ineffizient seien.
Durch die Gefahr des Bankrotts, die bei einer Privatisierung gegeben wäre, würden Arbei-
ter und Managements angespornt werden. Ein zusätzlicher Anreiz würde sich in Großbri-
tannien dadurch ergeben, dass die Aktien dieser Unternehmen, von denen Arbeiter und
Management ja auch Teile besitzen, im Fall des Bankrotts nichts mehr wert wären. Dieses
„volkskapitalistische Motiv“ spielte für die Privatisierungspolitik anderer Länder keine
wesentliche Rolle. Neben den Verkäufen wurde der Schwerpunkt auf eine Verbesserung
des Managements der Staatsunternehmen gelegt. Zum einen wurden diese Unternehmen
angewiesen, nach privatwirtschaftlichen Maßstäben zu arbeiten, zum anderen wurden staat-
liche Gelder für diese Unternehmen radikal gekürzt, so z.B. durch jährliche „cash limits“.243
Die Privatisierung war ein wichtiges Handlungsfeld der Konservativen Regierung in
der Zeit von 1979-83. Nicht weniger als 12 Gesetze bzw. Verordnungen ermächtigten Mi-
nister Aktien oder Anteile zu verkaufen und Bindungen an Monopole zu lockern.244 Aller-
dings kam die Implementation anfänglich in Großbritannien nur sehr langsam in Schwung,
was „ ... neben der ungenügenden Planung auch an den recht langwierigen notwendigen
Verfahren, beispielsweise an der zunächst notwendigen Umwandlung der zu privatisieren-
den Unternehmen in Aktiengesellschaften und der ungenügenden Erfahrung der Regierung
bei der Platzierung der Aktien auf den Finanzmärkten“245 lag. Trotz dieser Schwierigkeiten
fand der erste Verkauf von Aktien schon im Finanzjahr 1979/80 statt. Bis 1983 hatte die
Regierung jedenfalls schon die radikalste Verschiebung der Grenze zwischen dem öffentli-
chen und dem privaten Sektor seit 1951 vorgenommen.246
Bei der Privatisierung von Staatsunternehmen (Tab. 7) lassen sich zwei Phasen unter-
scheiden: Von 1979 bis 1984 wurden Firmen verkauft, deren Rückkehr in den privaten
Sektor keinerlei Probleme bereitete,247 weil sie mehr oder weniger im Wettbewerb mit
anderen Unternehmen standen. Diese Verkäufe von kleineren Staatsunternehmen248 hatten
keine Massenwirkungen, sie betrafen nur City-Institutionen (City als Abkürzung für das
britische Finanzzentrum in London) und Börsenspekulanten. Mit der Teilprivatisierung von
British Telecom im November 1984 setzte eine zweite Phase ein: Vom Umfang her wurden
alle vorherigen Privatisierungen übertroffen.249 Hiermit begann die Regierung nicht nur,

243
Vickers/ Yarrow 1989, S. 215; Abromeit 1982, S. 470; Sturm 1990, S. 237.
244
Steel/ Heald 1985, S. 69. Eine Übersicht über den Fortschritt der Gesetzgebung ebenda, S. 87f.
245
Busch 1989, S. 99.
246
Steel/ Heald 1985, S. 69; zu den Privatisierungsphasen s.a. Butcher 1991/92, S. 102f..
247
Veljanovski 1987, S. 6/7.
248
Vickers/ Yarrow 1989, S. 210/215.
249
Angaben zu den Verkäufen bei Steel/ Heald 1985, S. 73f.
72 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

große staatliche Monopole unter Beibehaltung ihres Monopolstatus zu privatisieren, son-


dern sie bemühte sich, auch einen breiten potenziellen Kundenkreis mit Werbung und groß
angelegten Kampagnen zum Kauf von Aktien zu bewegen.250 Die Verkaufserlöse, die bis
1983 noch relativ gering waren, verzehnfachten sich bis zum Jahr 1986/87,251 der Anteil der
Verkaufserlöse an den Einnahmen des Haushalts der Zentralregierung stieg von 0,6% im
Haushaltsjahr 1979 auf über 5% im Jahr 1986/87.252 Daraus lässt sich leicht auf den Wert
und die Bedeutung der verkauften Unternehmen schließen.

Tabelle 7: Privatisierungen
Wirtschaftsbereich Jahre
British Petroleum 1979-87
British Aerospace 1981-85
Cable and Wireless 1981-85
Britoil 1982-85
British Telecom 1984-93
British Gas 1986-90
British Airport Authority 1987
British Airways 1987
Rolls-Royce 1987
British Steel 1988
Water companies (England and Wales) 1989
Regional electricity companies (England and Wales) 1990
Electricity generating companies (England and Wales) 1991
Scottish electricity companies 1991
Northern Ireland electricity 1992-93
Quelle: Marwick 1982, S. 345.

Erstaunlich ist, dass es in Großbritannien kaum effektive Widerstände gegen die Privatisie-
rungspolitik der Regierung Thatcher gab. Weder die Opposition noch die Gewerkschaften
waren in der Lage, sich auf eine Gegenstrategie zu einigen. Durch die evolutionäre Natur
des Privatisierungsprogramms und die große Konservative Mehrheit im Unterhaus konnte
die Labour Party nur sehr ineffektiv reagieren. Sie brauchte Zeit, um eine konsistente alter-
native Politik zum Regierungsprogramm zu entwickeln. Ein weiterer Grund für die gerin-
gen Widerstände der Labour Party war die wachsende Popularität der Verkäufe. Viele der
Kleinanleger konnten sich mit der kritischen Sichtweise der Labour Party nicht anfreunden.
Da viele Kleinanleger gleichzeitig einer Gewerkschaft angehörten, fiel es auch den Ge-
werkschaften schwer, effektiven Widerstand zu leisten. Hinzu kam die Tatsache, dass die

250
Rüdig 1990, S. 160.
251
Veljanovski 1987, S. 6.
252
Busch 1989, S. 101.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 73

Gewerkschaften selbst größere Anteile an Aktien der ehemaligen Staatsunternehmen besa-


ßen.253 Lediglich die zu verkaufenden Unternehmen selbst bezogen öffentlich Stellung
gegen die Privatisierungspläne der Regierung. Damit setzen die Manager dieser Unterneh-
men durch, dass ihnen teilweise erhebliche Zugeständnisse gemacht wurden.254 Verwun-
dern mag auch, dass die Regierung zum Teil mit Widerstand aus den eigenen Reihen zu
kämpfen hatte.
Im Gegensatz zu den eher bescheidenen Widerständen gab es jedoch reichlich Kritik
am Regierungsprogramm. Denn es wurden für die Verkäufe zunächst die profitabelsten
Unternehmen ausgewählt, weshalb der Eindruck entstand, dass die Regierung zur kurzfris-
tigen Verringerung der öffentlichen Kreditaufnahme Gewinneinbußen in der Zukunft in
Kauf nahm, bei der Wahl des Verkaufszeitpunktes mehr Haushaltsnotwendigkeiten als
Marktchancen maßgebend waren. Der Verkauf erfolgte tendenziell unter Marktwert, um
den Absatz der Aktien zu erleichtern. Die Unterbewertung wurde nach Busch „ ... mit dem
Bestreben...(gerechtfertigt), ... durch billige Preise breite Schichten in der Bevölkerung zum
Aktienkauf zu bewegen.“255 Nach Ansicht des Economist begann sich die Privatisierungs-
politik jedoch „zu einer Politik des Ausverkaufs zu entwickeln.“256 Neben den Kosten, die
dem Steuerzahler durch den Verkauf der Aktien erheblich unter ihrem Wert entstanden,
waren auch die Gebühren, die für den Verkauf an die City zu entrichten waren, beträch-
tlich.257
Hinzu kommt noch, dass einige große und dominante private Monopole in Großbri-
tannien an die Stelle von staatlichen Monopolen getreten sind. Thompson formuliert sehr
treffend für Großbritannien: „Thus one of the ironies of the Conservatives' policy here is
that in the name of ‘liberalization’ and competition the government could be about to create
companies whose activity it will then have to closely regulate.”258 Aber „ ... the initial regu-
latory frameworks have shown little appreciation of the complexity of the trade-offs that
arise when attempting to prevent monopolistic abuses.”259
Insgesamt sah das Programm der Privatisierung staatseigener Unternehmen sehr er-
folgreich aus. „Die Zahl der Aktionäre verdoppelte sich auf zwei Millionen“, allerdings
überwogen die höheren Einkommensschichten.260 Zur Schaffung eines „Volkskapitalis-
mus“ in Großbritannien ist anzumerken, dass zwar versucht wurde, eine breite Streuung des
Aktienbesitzes durchzusetzen, z.B. durch Beschränkungen für Großanleger, Ausgabe der
Aktien weit unter Wert und durch Werbekampagnen. Dieses Ziel ließ sich dennoch nicht
realisieren, da viele Kleinanleger ihre Aktien binnen kurzem mit beträchtlichem Gewinn an
Großanleger weiterverkauften oder ohnehin nur Aktien einer Gesellschaft besaßen.261 Da

253
Veljanovski 1987, S. 68/69.
254
So z.B. British Gas: Trotz Privatisierung eines Monopols wurde auf Aufspaltung der Organisation oder Regulie-
rung verzichtet, was auf Verhandlungen zwischen Regierung und Management hinter verschlossenen Türen
schließen lässt (vgl. Vickers/ Yarrow 1989, S. 245). Ähnliches bei British Telecom und den privatisierten Flugge-
sellschaften! S.a. Steel/ Heald 1985, S. 76f.
255
Busch 1989, S. 101, auch musste die Regierung wegen des Wunsches, viele Anteile sehr kurzfristig zu verkau-
fen, die Preise senken. (vgl. Thompson 1986, S. 200.)
256
The Economist, 30.06.1984, S. 19, zit. nach Abromeit 1986, S. 282.
257
Veljanovski 1987, S. 94/106.
258
Thompson 1986, S. 199.
259
Vickers/ Yarrow 1989, S. 243.
260
Crouch 1987, S. 7.
261
Veljanovski 1987, S. 16; Busch 1989, S. 102.
74 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

fast alle privatisierten Unternehmen Monopole oder Fast-Monopole geblieben sind,262 lässt
sich also sagen, dass die Regierung Thatcher ihre Hauptziele, die sie mit der Privatisierung
verknüpft hatte, nämlich Liberalisierung, Deregulierung und Wettbewerbssteigerung im
Bereich der verkauften Unternehmen, nicht erreicht hat. Zugeständnisse an einige der zu
privatisierenden Unternehmen wurden bereits erwähnt. Nicht zu unterschätzen ist auch die
Tatsache, dass sich intakte Monopole natürlich besser verkaufen lassen.
Durch die Tatsache, dass ohne Begründung und Konzept verkauft wurde, liegt der
Schluss nahe, dass das vorrangige Ziel für die Privatisierungen tatsächlich die Entlastung
der Staatskasse, sprich eine Verringerung des Haushaltsdefizits, war und dass die nachträg-
lichen Begründungen, zumal sie sich so einfach in das ideologische Konzept einbinden
ließen, vorgeschoben waren. Auch die Tatsache, dass das fiskalische Ziel das einzige be-
deutende Ziel war, das überhaupt mit dieser Politik erreicht wurde, legt diesen Schluss
nahe. Es konnte sogar ein Überschuss erzielt werden, mit dem Schulden zurückgezahlt
wurden, die frühere Regierungen aufgenommen hatten.263 Allerdings wirkten sich auch die
Einnahmen aus dem Nordseeöl positiv aus.264
Die Privatisierungen hatten direkte Auswirkungen auf die Nettokreditaufnahme (Pub-
lic Sector Borrowing Requirement, PSBR) des Staates und auf die Staatsausgaben, die
Schlüsselelemente des Thatcherismus waren:
ƒ Kredite der verkauften Staatsunternehmen wurden nicht länger dem PSBR zugerech-
net, kurzfristig reduzierte sich also das PSBR.
ƒ Durch Mehreinnahmen des Haushalts wurde das PSBR entlastet.
ƒ Die Einstellung dieser Einnahmen als negative Ausgaben in den Haushalt senkte das
Gesamtvolumen und damit die Höhe der Ausgaben.
So war es der Regierung möglich, ihre selbstgesetzten Haushaltsziele ohne erhebliche Aus-
gabenkürzungen oder Steuererhöhungen zu erreichen. Jedoch muss man sehen, dass durch
diese Verkäufe das Defizit zwar finanziert, jedoch nicht vermindert wurde. Nach Vickers
und Yarrow waren diese Ziele der Grund für den Wechsel vom anfänglichen Verkauf der
kleineren Staatsunternehmen zum Verkauf von großen Staatsunternehmen.265 Auch Prigge
ist der Ansicht, dass die Regierung Thatcher den Stellenwert der Privatisierungspolitik
innerhalb ihrer Politikkonzeption erst erhöht hat, „nachdem deutlich geworden war, wel-
chen haushaltspolitischen Nutzen sie aus der Verwirklichung von Privatisierungsplänen
tatsächlich ziehen konnte.“ Er kommt zu dem Schluss, „dass die Durchführung und Aus-
weitung des Privatisierungsprogramms vor allem mit seiner Bedeutung für den Staatshaus-
halt zu erklären ist.“266 Die kurzfristigen Erfolge brachten Wählerstimmen. Allerdings müs-
sen auch die erhöhten Ausgaben für die Arbeitslosen mit beachtet werden, die erheblich
stiegen.267

262
Ebenda, S. 7.
263
Sturm/ Müller 1999, S. 29f.
264
Crouch 1997, S. 6.
265
Vickers/ Yarrow 1989, S. 218f.; s.a. Maynard 1988, S. 74.
266
Prigge 1991, S. 30; ebenso Busch 1989, S. 103/104; Abromeit 1986, S. 287; Veljanovski 1987, S. 205.
267
Thompson 1986, S. 200; Sturm/Müller 1999, S. 30.
B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918 75

6. Zusammenfassung

Die kurze Darstellung der britischen Wirtschaftspolitik seit 1918 ermöglicht gewisse
Schlüsse für eine Analyse von Ursachen der langfristig als unzureichend angesehenen wirt-
schaftlichen Entwicklung in Großbritannien: Die Überwindung der Weltwirtschaftskrise
beweist, dass demokratische Regierungen, die in einem funktionsfähigen parlamentarischen
Regierungssystem arbeiten, fähig sind, rasch zu handeln und die einmal begonnene Politik
konsequent fortzusetzen. Aber während der 1930er Jahre haben erfolgreiche Regierungen
nicht versucht, Gewerkschaften und Unternehmen zusammenzubringen. Zwar gab es ein-
zelne Ansätze einer korporatistischen Strategie, aber keiner erlangte relevanten Einfluss auf
die Politik. Erst in den 1960er und 1970er Jahren machten sowohl Konservative als auch
Labour-Regierungen ernsthafte Versuche, eine permanente Struktur der Sozialpartnerschaft
zustande zu bringen, um dadurch die ökonomische Entwicklung und den sozialen Frieden
zu sichern. 268
Noch in den 1950er Jahren hatten sich die Konservativen dafür ausgesprochen, dass
die Autonomie der Wirtschaft nicht eingeschränkt werden dürfe. Sie betonten ihre Ableh-
nung jeglicher Planung und wollten ökonomisches Wachstum durch Lohnzurückhaltung
erreichen. Jedoch in der Mitte der 1950er Jahre erwies sich Letzteres als kaum möglich. Ab
1962 begann dann mit der Konservativen Regierung Macmillan das Experiment der Sozial-
partnerschaft. Diese Politik wurde unter Wilson und Callaghan fortgeführt. Allerdings
zeichneten sich bereits unter der Regierung Wilson Probleme mit den Gewerkschaften ab,
die auch in der öffentlichen Meinung Zweifel an deren Rolle aufkommen ließen.269 Die
Verstaatlichung von Unternehmen war auch deswegen problematisch, weil diese danach
weniger als Unternehmer agieren konnten, sondern nebenher als Instrumente einer Sozial-
politik genutzt wurden. Diese Strategie mag schon Heath ab 1972 begonnen haben, aber die
Labour-Regierungen unter Wilson und Callaghan waren noch unwilliger, Schließung von
Betrieben und Zusammenschlüsse mit Arbeitsplatzverlusten zuzulassen. Man könnte argu-
mentieren, dass der Social Contract weniger eine falsche Strategie war als eine verpasste
Chance zur Erneuerung der Arbeiterbewegung und der britischen Wirtschaft, um diese
konkurrenzfähiger in Europa zu machen. 270
So scheint die Regierung Thatcher trotz aller Kritik wesentlich mehr zum Reformpro-
zess beigetragen zu haben. Dies betrifft weniger die Privatisierungspolitik als vielmehr den
Ausschluss von Gewerkschaften und Interessenvertretern der Wirtschaft aus dem Entschei-
dungsprozess. Dadurch wurde die Entscheidungsfähigkeit des parlamentarischen Regie-
rungssystems wieder hergestellt, das durch korporatistische Ansätze in möglichen Hand-
lungsoptionen begrenzt war.271 Weiterhin erscheint es wichtig zu erkennen, dass staatliche
Eingriffe in die Wirtschaft, u.a. mit dem Ziel Unternehmen zu retten, wenig hilfreich war-
en. Sie wurden unter Thatcher immerhin erheblich zurückgenommen. Schließlich war die
Krise der britischen Wirtschaft langfristig gewachsen und ihre Ursachen lassen sich nicht
mit einzelnen politischen Akteuren in Verbindung bringen. Die Ausnahmesituation nach
den beiden Weltkriegen vermittelt einen Hinweis auf die wirtschaftlichen Ursachen der
Krise: Nachkriegsbooms wurden vor allem durch die Inlandsnachfrage bewirkt. Es war

268
Williams 2002, S. 52, 55.
269
Vgl. Williams 2002, S. 57, 59.
270
Taylor 2004, S. 72, 80.
271
Dorey 2002, S. 64f.
76 B. Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit 1918

nicht gelungen, die Wachstumsrate und die chronischen Schwierigkeiten der Zahlungsbi-
lanz gleichzeitig zu bearbeiten.272 Daraus ergibt sich die Aufgabe, im Einzelnen zu untersu-
chen, welche Faktoren diesen Mangel an Konkurrenzfähigkeit britischer Produkte auf dem
Weltmarkt bewirkten. Dies soll mit einer Analyse einzelner Branchen beginnen.

272
Cornwell 1972, S. 260.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Die Wirtschaft von Ländern mit hoch entwickeltem Kapitalismus durchläuft einen eigen-
tümlichen Rhythmus von Auf- und Abschwung. Die Wirtschaftsgeschichte hat sich seit
Langem mit den Ursachen dieser „wirtschaftlichen Wechsellagen“ (Spiethoff) befasst.
Dabei wird unterschieden zwischen Kapitalgüterindustrien, die längerfristige Auf- und
Abschwünge bewirken und solchen die Konsumgüter herstellen, dadurch aber nur kürzere
Auf- und Abschwünge mit neuen Produkten nach sich ziehen. Weiterhin kann unterschie-
den werden zwischen Industrien, die für den Export herstellen und damit längerfristige
Zyklen auslösen, während diejenigen, die den heimischen Markt versorgen, nur kürzerfris-
tige bewirken.1 Einflüsse darauf gehen u.a. von Entwicklung und Stimmungslage der Be-
völkerung sowie von Preis-, Lohn- und Zinsmechanismen aus. Solche Einflüsse sind für die
kurzfristige Konjunkturpolitik und deren klassische Risikofaktoren (Inflation, Arbeitslosig-
keit, Zahlungsbilanzprobleme) hoch relevant, für die längerfristige Entwicklung einer
Volkswirtschaft (insbesondere deren Wachstumspotenzial) jedoch weniger bedeutsam.
Für die langfristige Wachstumsentwicklung findet derzeit die weltweite Verflechtung
(„Globalisierung“) immer größere Aufmerksamkeit. Auch öffentliche Einwirkungen von
Politik und Verwaltung, also die Staatstätigkeit, sind zu beachten. Sie können Entwicklun-
gen beschleunigen oder verlangsamen und werden dabei von einer Vielzahl von gesell-
schaftlichen Akteuren beeinflusst.2 Die Beobachtung der Wechsellagen hat auch längerfris-
tige Zyklen zu Tage gefördert, deren Auf- und Abschwung insgesamt ungefähr 40 bis 60
Jahre dauert. Zu den Entdeckern der langen Wellen gehört Kondratieff, nach dem diese
Zyklen benannt wurden. „Verschiedene Forscher haben gezeigt, dass dies seit Beginn der
industriellen Revolution in den 1780er Jahren zumindest wahrscheinlich ist.“3

1. Branchenentwicklung in „langen“ Wellen

Der meist beachtete Erklärungsversuch für die langfristigen Zyklen („Kondratieffs“) wurde
von Schumpeter geliefert.4 Er begriff den Prozess der Konjunkturentwicklung als einen der
„schöpferischen Zerstörung“5 aufgrund von Innovationen bei Produkten, Fertigungs-, Ver-
triebs- und Transportmethoden. Neuerungen durch technischen Fortschritt bei Produkten,
deren Herstellung und Verbreitung führen zu einer Veränderung der Branchen und ihres

1
Richardson 1967, S. 66f.
2
Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Höhe staatlicher Fördermittel für Forschung und Entwicklung
und Innovationen kann nicht festgestellt werden, denn Innovationen beruhen auf Zufällen, ihre Wirkungen sind
kaum vorhersehbar (zur Diskussion der Zusammenhänge s. Johnson 1975, S. 127ff.). Auch Clark (1965, S. 8)
hatte bereits vor der Überschätzung des Kapitals für wirtschaftliches Wachstum gewarnt.
3
Clausing 1959, S. 133.
4
Andere Erklärungsansätze werden z.B. bei Clark (1984, S. 308ff.) diskutiert. Dieser Autor geht von Investitions-
raten als treibenden Kräften aus. Allerdings sieht er nicht das Kapital, sondern die hinter dem Kapitaleinsatz
stehenden menschlichen Kräfte als wichtiger an (1965, S. 8). Solomou (1995) rät nach Diskussion unterschiedli-
cher Einflussfaktoren zu einer genaueren Analyse der Entwicklungen.
5
Schumpeter 1972, S. 138.
78 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Verhältnisses zueinander. Sie prägen das Wirtschaftswachstum über mehrere Jahrzehnte


und tragen damit auch zu einer Reorganisation der Gesellschaft und Weltwirtschaft bei,
werden also als Motor der Entwicklung angesehen. „Der fundamentale Antrieb, der die
kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgü-
tern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen
Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft.“6
Im Folgenden werden Staatstätigkeit und Wirtschaftszweige als Ausgangspunkt der
Betrachtung dienen, deren Zusammenwirken beim makroanalytischen Vorgehen wenig
beachtet wird. Dabei geht es im Anschluss an Schumpeter zunächst um die Produkte, die
Grundlage für die Entwicklung ganzer Industriezweige waren, sowohl für Investitions- als
auch für Konsumgüter. Von Interesse ist, wie sich die im Politikprozess ergriffenen oder
unterlassenen Maßnahmen, die bereits für die verschiedenen Phasen der geschichtlichen
Entwicklung allgemein erarbeitet wurden, im Zusammenwirken mit den Unternehmen und
den auf sie einwirkenden gesellschaftlichen Kräften ausgewirkt haben. Großbritannien ist
ein Beispiel dafür, wie durch Erfindungen, ihre Nutzung sowie ihre allmähliche Ausbrei-
tung (Diffusion) im ersten Land der Welt die industrielle Revolution ausgelöst wurde. Dar-
an hatte der Staat selbst keinen wesentlichen Anteil, denn die Staatlichkeit entwickelte sich
in Großbritannien eher nachgeordnet. Die Entwicklung einer kommerziellen und dann in-
dustriellen Gesellschaft ging der bürokratischen Gesellschaft historisch voraus. Dies war
ein wesentlicher Unterschied zum Kontinent.7
Schumpeter datiert den Beginn des ersten „Kondratieff“ auf 1787, seinen Höhepunkt
auf 1814. Danach erfolgte der Abschwung dieses ersten industriellen Zyklus bis etwa 1840.
Träger der Industriellen Revolution waren in England besonders die Baumwollindustrie,
ferner der Kohlenbergbau, die Eisen- und Stahlindustrie sowie Entwicklungen im Ver-
kehrswesen (Schiffbau und Eisenbahnen).8 „Der um 1750 beginnende industrielle ’take-off’
in England spiegelt sich in den Patentanmeldezahlen wider.“9 Aber es kam nicht nur auf die
einzelnen Erfindungen an, sondern auch auf parallele Entwicklungen bei den jeweils ver-
bundenen Tätigkeiten bzw. Arbeitsvorgängen. So hatten die ersten mechanischen Web-
stühle dadurch Engpässe, dass die Spinntechnik nicht weit genug entwickelt war.10 Viele
der angemeldeten Patente waren auch nicht Grundlage eines ausgereiften Verfahrens, so-
dass es noch Jahre, häufig Jahrzehnte, dauerte, bis innovative Verfahren massenweise zur
Anwendung kommen konnten. Beim Energieeinsatz war die Innovation, dass der Primär-
energieträger Holz durch Kohle ersetzt wurde. Die kolbenbetriebene Dampfmaschine, 1712
von dem Engländer Thomas Newcomen erfunden, wäre ohne Kohle nicht zu betreiben
gewesen. Ähnliches galt auch für Hochöfen zur Gewinnung von Eisen. Beim Abbau von
Kohle und Erz mussten Dampfmaschinen eingesetzt werden, um die sogenannte „Wasser-
not“ zu bewältigen, die entstand, wenn in größerer Tiefe geschürft wurde und dabei das
Grundwasser einbrach.11 Schließlich war die Eisenverarbeitung unter Verwendung großer
Kohlemengen für das Stahlkochen Voraussetzung und der Stahl wiederum Grundlage für
die Entwicklung der Eisenbahnen, also von Lokomotiven und Schienen.

6
Ebenda, S. 137.
7
Sturm 1996, S. 59, unter Bezug auf Dyson 1980 und Rohe 1984.
8
Clausing 1959, S. 135.
9
Kurz 2000, S. 297.
10
Ebenda, S. 298f.
11
Ebenda, S. 303.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 79

Der zweite Aufschwung („Kondratieff“) begann dann 1842/43, erreichte seinen Höhe-
punkt 1872/74, und endete dann 1894/97. Hauptträger waren – ähnlich wie bei der ersten
Welle – die Baumwolle und das Eisenbahnwesen (für die Vereinigten Staaten noch stärker
als für andere Länder in Europa). „Daneben blieb für England bzw. wurde für andere Län-
der erstmalig die revolutionäre Produktionstechnik in der Spinnerei bedeutungsvoll; weitere
Mittelpunkte waren Weberei, Bergbau, Eisengewinnung, der Dampfschiffbau, die Telegra-
fie, die Entstehung zahlreicher Großstädte und die damit verbundenen Aufgaben.“12 Die
Aufschwungphase 1843-1873 manifestierte sich als „Dampf- und Stahlzeitalter“.
Der dritte „Kondratieff“ beginnt 1896/97 und erreicht seinen Höhepunkt 1914 oder
1921. In dieser Phase durchliefen die bereits industrialisierten Länder eine tiefgreifende
Modernisierung.13 Die Dynamik der Wirtschaftstätigkeit verlagerte sich von den Branchen,
die den industriellen „take-off“ ermöglicht hatten, auf neue Produkte und ihre Erzeuger.
Die Elektrizitätswirtschaft, die Chemieindustrie und die Automobilindustrie boten ent-
scheidende Antriebskräfte. Bei der Elektroindustrie sind die Glühbirne, die Entwicklung
von Elektromotoren und die Ausbreitung des Telefons und schließlich des Radios zu nen-
nen. Der Aufschwung endete jäh mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Die Kriegswirt-
schaft brachte wieder einen Aufschwung. In der Nachkriegszeit wurde der Aufschwung
entscheidend durch den Nachholbedarf infolge Kriegszerstörung, dann aber auch durch die
allgemeine Wohlstandsentwicklung getragen. Er endete in den 1970er Jahren durch die
Verknappung des wichtigen Rohstoffes Erdöl. Hinzu kamen auch das Ende des Vietnam-
krieges und das Auslaufen der Weltwährungsordnung von Bretton Woods.14
Bei den Industrien, die den dritten Kondratieff begründeten, fehlten Großbritannien
meist wichtige Erfinder für neue Techniken und Produkte. Sie mussten überwiegend impor-
tiert werden. Das bedeutete jedoch noch nicht zwangsläufig, dass Großbritannien durch
solche Übernahmen und wagemutige Unternehmer nicht doch zunächst führend werden
konnte. Allerdings ist die einhellige Meinung von Beobachtern, dass Deutschland bereits in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in die neuen Technologien Elektro und Chemie
investiert hat, während die Briten diese Entwicklungen verpasst haben. Nach dem Zweiten
Weltkrieg schaltete sich in Großbritannien die Politik sehr stark in die Wirtschaft ein. Dies
galt insbesondere für die sog. Schlüsselindustrien. Es wird zu prüfen sein, ob und durch
welche Maßnahmen das Land seine Vorreiterrolle endgültig verlor und wie politische Ein-
griffe in den Ablauf wirtschaftlicher Prozesse diese Entwicklung beschleunigt oder konter-
kariert haben.
Wir wollen der Interaktion von technischen Innovationen, ihrer ökonomischen Nut-
zung und darauf bezogenen politischen Maßnahmen am Beispiel einzelner Branchen nach-
gehen. Dazu werden zunächst jene einzelnen Wirtschaftszweige in ihrer Entwicklung ver-
folgt, die Großbritanniens führende Stellung in der Weltwirtschaft begründeten.

12
Clausing 1959, S. 135.
13
Für diesen Zeitraum wird auch von der zweiten industriellen Revolution gesprochen, deren Beginn auch zuwei-
len schon in den 1880er Jahren angesetzt wird. Vgl. Chandler 2005, S. 19; Musson 1978, S. 152.
14
Vosgerau 1988, S. 486.
80 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

2. Branchen der industriellen Revolution

Branchen, in denen das Land über lange Zeit führend war, sind der Kohlenbergbau, die
Textilindustrie, die Stahlerzeugung und die Eisenbahn. Die britische Textilindustrie ist das
erste Beispiel für nachhaltig industrielle Fertigung durch fabrikmäßigen Einsatz von Ma-
schinen. Der Kohlenbergbau lieferte den fossilen Energieträger, der den massenhaften Ein-
satz von Dampfkraft erst möglich machte. Eisenbahnen revolutionierten die Güter- und
Personenbeförderung. Stahl war unverzichtbarer Rohstoff industrieller Entwicklung.

a) Kohlenbergbau

Eine der wichtigsten Ressourcen für die ökonomische Entwicklung Großbritanniens im 18.
und 19. Jahrhundert war die Kohle, die relativ billig bereitgestellt werden konnte. Kohle
fand sich in England, Wales, Schottland und Irland. „Vom Ärmelkanal im Süden bis über
den Firth of Forth hinaus im Norden durchzieht eine fast ununterbrochene Kette von Koh-
lenflözen das Land.“15 Die Förderung stieg von 2 ½ Millionen Tonnen (um 1700) auf fast
230 Millionen Tonnen (im Jahre 1905). 1930 hatte die Produktion 292 Millionen Tonnen
erreicht, davon wurde über ein Drittel exportiert.16 Die Ausfuhr von Kohle war dadurch
begünstigt, dass viele Gruben in der Nähe des Meeres lagen. Um 1900 war Großbritannien
neben den USA Hauptproduzent von Kohle, gefolgt von Deutschland. Ab 1913 erfolgte
dann allerdings ein stetiger Abstieg der Kohleproduktion, der sich in den 1960er Jahren
dramatisch entwickelte. Während Kohle im Zuge der industriellen Revolution für das Be-
treiben von Dampfmaschinen und im 19. Jahrhundert für die Beförderung von Gütern (mit
der Eisenbahn und Dampfschiffen) genutzt wurde und schließlich die Hauptgrundlage für
die Elektrizitätserzeugung war, wurde die Verteuerung der Förderung zum Problem: Im
Tagebau konnte aufgrund der drastisch steigenden Nachfrage nicht mehr genügend Kohle
gefördert werden. Dadurch wurden Bergwerke nötig. Damit ist allerdings nur die techni-
sche Seite der Verteuerung der wichtigsten Ressource angesprochen. Die sozialen Bedin-
gungen der frühen Kohleförderung (Frauen- und Kinderarbeit eingeschlossen) wichen all-
mählich Verbesserungen, sodass auch diese zu Preissteigerungen beitrugen. In den 1960er
Jahren war erkennbar, dass Kohle neben Öl langfristig keine Chancen mehr hatte, 1973
nahm Öl die Spitzenstellung als Primärenergiequelle ein.
Der Niedergang der Kohleerzeugung hatte aber vor allem mit einer Verbindung von
Selbstzufriedenheit und Inkompetenz zu tun, einem Vorrang der Tradition, einer Trägheit
gegenüber Neuerungen und einem Versagen, Entwicklungen der Umwelt wahrzunehmen.17
Noch im Zweiten Weltkrieg war die britische Produktion fast ausschließlich auf aus Kohle
gewonnener Energie gestützt. Dabei nahm seit 1939 der Kohlenabbau aus Bergwerken
kontinuierlich ab. Dies war einerseits durch Arbeitskräftemangel bedingt, andererseits aber
auch durch die Produktivität der einzelnen Arbeitskraft. Dagegen wuchs die Nachfrage
nach Kohle besonders durch die Elektrizitätserzeugung. 1943 kam es zu einer krisenhaften
Entwicklung. Zunächst wurden Bergarbeiter zurück in die Kohlegruben beordert. Aber es
zeigte sich bald, dass die Produktionsbedingungen nicht mehr adäquat waren. Dies galt vor
allem für die Verladung der Kohle ohne mechanische Hilfen. Dieser Modernisierungsrück-

15
Heyer 1928, S. 46.
16
Robinson 1985, S. 2.
17
Barnett 1986, S. 64; s.a. Fine 1990, S. 19.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 81

stand wird einerseits den Unternehmern angelastet,18 andererseits fürchteten die Arbeit-
nehmer – besonders die älteren – mechanische Hilfen zur Verbesserung des Output. Sie
wechselten dann zu Förderstellen, die auf diese mechanischen Hilfen verzichteten. Weiter-
hin war die Überalterung der Arbeitnehmerschaft ein Problem, das auch mit hohen Abwe-
senheitsraten einherging.
Die Gewerkschaft der Bergleute (Miners’ Federation of Great Britain, MFGB) war ei-
ne starke Organisation, die bereits mehrere große Streiks organisiert hatte, so den von 1912
und den von 1926. Die Vertreter der Gewerkschaften verdeutlichten, dass die Bergarbeiter
unwillig waren, den Unternehmern höhere Profite zu sichern.19 Sie forderten schon 1912
die Sozialisierung, wandten sich allerdings später gegen eine teilstaatliche Lösung, die das
Ziel verfolgte, an den während der Kriegszeit gestiegenen Unternehmergewinnen teilzuha-
ben.20 Das hatte auch zu tun mit den verschiedenen Teilorganisationen der Gewerkschaft,
die wiederum für viele kleinere konflikthafte Auseinandersetzungen in den jeweiligen Koh-
lefördergebieten verantwortlich waren.21 Der nationale Zusammenschluss der Distriktorga-
nisationen erfolgte zwischen 1841 bis 1848. Seit 1870 wurden die Arbeitnehmervertreter
von den Unternehmern anerkannt, 1871 erhielten beide Seiten gleiches Recht vor dem Ge-
setz. Die einzelnen Distriktorganisationen behielten allerdings große Selbstständigkeit, die
erst allmählich in ein gemeinsames Vorgehen mündete, als 1888 die MFGB gegründet
wurde.22
Zu den Problemen des Kohlebergbaus kam die große Anzahl der Förderbetriebe: Von
den 17.000 Bergwerken beschäftigten 466 weniger als 20 Arbeitnehmer. Noch 1938 gab es
950 selbstständige Unternehmen. Besonders in den kleinen Betrieben war die Arbeitspro-
duktivität gering. Aber auch die Kohlefelder in den verschiedenen Regionen waren unter-
schiedlich groß und vom Abbau her z.T. mit geringer Produktivität. Die Abgaben (royal-
ties) an die großen Landbesitzer, denen die Kohle aufgrund des Bergrechts gehörte, erhöh-
ten die Kosten. Allerdings machten die Abgaben an die Grundeigentümer nur einen gerin-
gen Teil der Kosten aus im Gegensatz zu den Löhnen. 23 Erst später kamen Probleme da-
durch auf, dass ein Wachsen der Unternehmen unterschiedliche Landbesitzer tangierte.
„Besonders ungünstig wirkte diese Eigentumsverfassung in dem Fall, wo die Genehmigung
des Abbaus verweigert wurde und damit dem Ausbau unterirdischer Anlagen völlig unwirt-
schaftliche Grenzen gesetzt wurden.“24 Komplizierte Pachtverträge mit unterschiedlichen
Eigentümern hemmten die Entwicklung der Unternehmen und erschwerten auch Zusam-
menschlüsse. Dabei musste ein Gerichtshof zustimmen, der mit den Problemen des Kohle-
bergbaus nicht vertraut war.25 Durch die eigentumsmäßig hervorgerufenen Barrieren wur-
den auch Kohlen verschwendet, die dazu genutzt wurden, diese Barrieren zu erhalten.26

18
Fine 1990, S. 19.
19
Barnett 1986, S. 66.
20
Stelling 1950, S. 2.
21
Heyer 1928, S. 47ff.
22
Stelling 1950, S. 16f.
23
Fine 1990, S. 38, 56, 58, 65.
24
Stelling 1950, S. 10.
25
Ebenda, S. 10, 41.
26
Fine 1990, S. 61.
82 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Die Qualität des Managements und die Motivation der Arbeitskräfte ließen zu wün-
schen übrig. Es gab keine ausgebildeten Manager27 und Ingenieure. Junge Leute, die bereit
waren, ein Bergingenieurstudium zu beginnen, waren schwer zu finden.28 Auch das Presti-
ge der Kohleförderung war nicht so hoch, dass Akademiker hier arbeiten wollten.29 Berg-
leute erhielten keine formelle Ausbildung. Aber weil die ausländische Konkurrenz fehlte,
als die industrielle Revolution in Großbritannien begann, wurden Ausbildungsüberlegungen
gar nicht angestellt. Kohleförderung wurde als „learning on the job“ betrieben. Nachher
war die Nachfrage nach Kohle aus Großbritannien so groß, dass niemand diese Vorge-
hensweise in Frage stellte. Die Veränderungen kamen in sehr kleinen Schritten. Die briti-
sche Produktivität blieb deutlich hinter der des deutschen Ruhrgebietes zurück: Von Mitte
der 1920er Jahre bis 1939 erhöhte sie sich in Großbritannien um 30% pro Arbeitskraft, im
Ruhrgebiet aber um 86%. Die deutschen Kohlengruben waren schon 1938 dreimal so effi-
zient wie die britischen. 30
Die Labour Party verfolgte die Verstaatlichung der Kohle, konnte dieses Ziel aller-
dings nicht durchsetzen, weil sie nur zwei kurze Minderheitsregierungen führte. Da die
Konservativen ebenso wie die Liberalen für freie Marktwirtschaft plädierten, konnte La-
bour nicht aktiv werden. „They were left like a farmer with a sick horse.“31 Es gab Vor-
schläge für die Reorganisation der Kohleunternehmen. Aber die Konservativen überließen
es der Industrie, diese zu vollziehen. Der 1926 beschlossene Mining Industry Act hatte
daher wenig Wirkung. Zum Zeitpunkt der Weltwirtschaftskrise regulierte ein Gesetz von
1930 dann den Ausstoß und die Preise, eine bürokratische Maßnahme, die insbesondere die
Eigentümer der Kohleunternehmen begrüßten. Dieses Gesetz gab jedem Unternehmen und
jeder Region und jedem Typ von Kohle einen künstlich festgesetzten Anteil am Markt.32
Aber dieses Gesetz der Labour-Regierung war ein Schritt „towards the worst of all possible
worlds“.33 Möglicherweise hat es Zusammenschlüsse verhindert34 und unproduktive Unter-
nehmen mit vorteilhaften Bedingungen versorgt.35
Als die Regierung 1917 die Leitung des Bergbaus übernahm, war das Verhältnis zwi-
schen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zerrüttet. Die Regierung versuchte, die Leistungs-
bereitschaft der Bergleute durch hohe Löhne wiederherzustellen: Die hohen Preise im
Nachkriegsboom schienen diese später zu rechtfertigen.36 Die sozialen Bedingungen in der
Kohleindustrie waren aber seit jeher problematisch. Dies wurde besonders aktualisiert, als
die Konservative Regierung den Bergbau wieder in den Markt zurückführen wollte und
neue Arbeitsverträge mit niedrigeren Lohnsätzen abgeschlossen werden sollten, was auch
die Unternehmer als einzigen Ausweg ansahen. Die Antwort der Bergarbeiter darauf war
1926 ein Generalstreik, den Großbritannien erstmals erlebte. Dieser wurde allerdings nach
neun Tagen bereits zu Ungunsten der Bergarbeiter abgebrochen. Die Löhne wurden dis-

27
Ob dies Problem nach 1945 verschwunden war, ist nicht eindeutig erkennbar. Jedenfalls gab es im NCB zu-
nächst viele Wechsel und danach wurde mehr Erfahrung bei den Mitgliedern konstatiert (Wythenshaw 1957, S.
24f.).
28
Fine 1990, S. 19.
29
Wythenshaw 1957, S. 26.
30
Barnett 1986, S. 66ff., 71.
31
Ebenda, S. 73.
32
Bloser 1958, S. 38ff.
33
Barnett 1986, S. 74. S.d. auch oben, Abschnitt B 1.
34
Fine (1990, S. 25) weist dies zurück.
35
Fine 1990, S. 19.
36
Bloser 1958, S. 51.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 83

triktweise festgelegt und dabei zum Teil erheblich gesenkt.37 Schließungen von Kohlegru-
ben wurden nicht in Erwägung gezogen. Die am meisten technisch überalterten Betriebe
lagen in Gegenden, wo die Kohle besonders gebraucht wurde. Die Schließung dieser Koh-
legruben hätte also einen Zusammenbruch anderer Industrien nach sich gezogen. Die Ar-
beitslosigkeit wuchs bereits an und lag zwischen 1927 und 1939 bei ca. 25%. Daher waren
die Regierungen eher darauf bedacht, die bisherigen Produktionsstrukturen aufrechtzuerhal-
ten.
Während des Zweiten Weltkrieges zeigte der Reid Report schonungslos alle Produkti-
onsprobleme auf, u.a. die spezifische Arbeitskultur, die mangelhafte Ausbildung, die gerin-
gere Produktivität, die geringe Anerkennung von Bergingenieuren u.a.38 In der Nachkriegs-
zeit haben die Regierungen dann eine Politik betrieben, die die Kohleindustrie gegenüber
anderen Energiequellen schützte. Nachdem die staatlichen Zuschüsse für Investitionen
zunahmen, wurde im Jahre 1946 ein Staatsunternehmen gegründet, das in unterschiedlichen
Formen existierte, zunächst als National Coal Board (NCB), ab 1986 als British Coal (BC).
Es war zuständig für die Förderung von Kohle, aber auch für die Reorganisation des Berg-
baus sowie Sicherheit, Gesundheit und Beschäftigung der Mitarbeiter. Das NCB war ge-
werkschaftsnah und es gab von Beginn an Spannungen mit dem Management der Kohleer-
zeuger.39 Als 1947 ungefähr 800 private Kohleunternehmen in das NCB überführt wurden,
hatte die Labour Party unter Attlee ihr Ziel umgesetzt. Im Jahre 1950 waren bei NCB über
700.000 Leute beschäftigt. Das NCB hatte Unterabteilungen (Divisional Boards), die die
entsprechenden Kohlefelder in den unterschiedlichen Regionen bewirtschafteten. Von Be-
ginn an waren die verschiedenen Lohnstrukturen ein Problem, das Konflikte wahrschein-
lich machte. Die Verstaatlichung sollte neben der Rationalisierung auch die Angleichung
der Einkommen bewirken.40 Die Gewerkschaft, inzwischen National Union of Minewor-
kers (NUM), hatte insbesondere Beziehungen zur Labour Party und war Hauptgeldgeber
der Partei. Dagegen waren die Beziehungen zum NCB weniger gut. Dies galt auch für die
zur staatlichen Bürokratie, insbesondere zum zuständigen Minister. Im Wesentlichen trat
die Gewerkschaft in Krisensituationen stärker ins Blickfeld. Sie glaubte fest daran, dass der
Kohle in Zukunft Konzessionen gemacht würden, während die Regierung der Meinung
war, dass diese erst dann erfolgten sollten, wenn ein größerer Output erzielt würde.41 Die
engeren Beziehungen zur Labour Party und die Repräsentanz in der Parteiführung führten
dazu, dass sich die Gewerkschaft in Krisenzeiten eher an die Labour-Regierung wandte als
an das NCB.
Ein Problem der Vorkriegszeit war noch 1938 beseitigt worden: Die noch nicht geför-
derte Kohle war in staatliches Eigentum überführt worden. Allerdings musste NCB nun an
den Staat zahlen.42 In der Nachkriegszeit wurden kostenintensive Modernisierungen ge-
plant, an eine mögliche Überproduktion wurde nicht gedacht. Als diese allerdings 1957 in
Folge der Rezession in Großbritannien und Westeuropa eintrat, wurde zunächst die Kohle-
lagerung vorgesehen, um die Schließung von Zechen zu verhindern. Dann aber mussten
doch aufgrund der Riesenlagermengen einige (53) Zechen geschlossen werden. Dagegen

37
Stelling 1950, S. 40.
38
Taylor 2003, S. 12ff.
39
Adeney/ Lloyd 1987, S. 12ff.
40
Krieger 1983, S. 5, 100.
41
Taylor 2003, S. 34f., 43.
42
Fine 1990, S. 67f.
84 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

waren viele kleinere Kohlefelder unrentabel.43 Ende der 1950er Jahre ging die Nachfrage
nach britischer Kohle stark zurück. Dies war einerseits durch das westeuropäische Kohle-
angebot bedingt, auch hier war eine Überproduktion zu verzeichnen, andererseits durch den
Wettbewerb mit amerikanischer und polnischer Kohle. Zusätzlich kam die verstärkte Nut-
zung von Öl hinzu, die von der Konservativen Regierung (ab 1955) unterstützt wurde.44 Die
amerikanische Kohle wurde in europäischen Häfen zu extrem niedrigen Preisen angeliefert,
zu denen in keinem europäischen Land produziert werden konnte. Ab 1958 begannen die
Elektrizitätswerke auf Öl umzustellen. Auch die eingeführten Gasmengen wuchsen. Wei-
terhin wurde bereits eine Nutzung der Kernenergie vorausgesehen. Die Schließung der
wenig produktiven Kohlegruben rückte näher.45
Die Regierungen mussten also handeln. Die höchste Produktivität seit der Verstaat-
lichung hatten die Kohlefelder der East Midlands Division. Schließungen betrafen zunächst
vor allem Schottland, dann aber auch North-East Lancashire und South Wales. In den Jah-
ren 1957 bis 1969 ging die Zahl der Bergwerke von 822 auf 299 zurück, die Beschäftigten-
zahlen um 56,6%. In der gleichen Zeit steigerte sich der Output um 35,4% pro Arbeitneh-
mer. Keine andere britische Industrie hat einen derart massiven Strukturwandel erlebt, ver-
bunden mit einem Verlust von Kapazität und Beschäftigung.46 Dies verlief ohne größere
Proteste der Gewerkschaften bis zum Jahre 1969/70, der so genannten „October Revoluti-
on“ (1969).47 Der Prozess der Schließungen zog sich noch bis in die 1980er Jahre hin. Al-
lerdings haben das NCB und die Gewerkschaft der Bergleute (NUM), die durch korporatis-
tische Strukturen eingebunden waren,48 bis in die Mitte der 1970er Jahre dafür gekämpft,
dass die Regierung die Kohleproduktion schützen möge. In gewisser Weise hatten sie Er-
folg. Ab 1961 wurde das Heizöl für die stromerzeugende Industrie besteuert und den Elek-
trizitätserzeugern wurde nahegelegt, Kohle vor Öl zu nutzen. Zusätzlich wurden Kohleim-
porte reguliert. Auch gab es für das NCB kräftige finanzielle Unterstützung durch die Re-
gierung. Diese Subventionen sollten das Land von Öl-Importen unabhängiger machen.49
Als im Zuge der Krise 1973 der Ölpreis enorm stieg, war das Anlass für die Regierung
den „Plan für Kohle“ (1974) zu beschließen.50 Dies war eine tripartistische Übereinkunft
zwischen Regierung, NCB und NUM. Danach sollten die Einsparungen der 1960er Jahre
zurückgenommen und die Förderung wesentlich erhöht werden, sodass NCB bis 1985 keine
Subventionen mehr benötige.51 Dieser Plan hatte zur Folge, dass der Zusammenhalt unter
den Kohlefeldern geschwächt wurde, denn der Plan führte zu einer Konzentration der In-
vestitionen auf die zentralen Kohlefelder.52 Schließungen der unrentablen Kohlefelder
schienen schon wahrscheinlich. Diesem Plan folgte 1977 der Report „Kohle für die Zu-
kunft“.53 Aber es zeigte sich, dass die Produktivität bei der Förderung der Kohle ständig
zurückging. Die jährlichen Kosten für Subventionen steigerten sich in den ersten Jahren der

43
Thomas 1961, S. 267, 271.
44
Taylor 2003, S. 162.
45
Thomas 1961, S. 275.
46
Taylor 2003, S. 197.
47
Crick 1985, S. 12, 43.
48
Fine 1990, S. 89.
49
Taylor 2004, S. 79.
50
Taylor 2003, S. 111ff.
51
Bruce-Gardyne 1984, S. 83.
52
Fine 1990, S. 160.
53
Robinson 1985, S. 3.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 85

Labour-Regierung (1974-79) um das Dreifache.54 NUM war durch die Ölkrise gestärkt
worden. Allerdings wuchs auch die Meinung in der Bevölkerung, dass die Gewerkschaften
zu machtvoll seien.55
Als 1979 die Konservative Regierung ins Amt kam, wollte sie den Schutz der Kohle-
industrie teilweise aufheben. Durch den „Coal Industry Act“ von 1980 sollte die Subventi-
on von ungefähr 190 Millionen £, die 1979 bis 1980 für Defizite der Kohleindustrie gezahlt
worden war, bis 1983-84 beseitigt werden.56 Nur finanzielle Hilfen für soziale Angelegen-
heiten verblieben. Infolge der Rezession im Jahre 1981 änderte die Regierung jedoch ihre
Politik. Das NCB hatte angekündigt, in den nächsten fünf Jahren 20 bis 50 Kohlegruben zu
schließen, es traten inoffizielle Streiks auf und eine Drohung für einen nationalen Streik
stand im Raum. Dies veranlasste die Regierung, mehr finanzielle Hilfen zur Verfügung zu
stellen, um sich die schweren Niederlagen der Vorgängerregierungen aus den Jahren 1972
und 1974 gegenüber den Gewerkschaften zu ersparen.57 Es wurden sogar Mittel für Kohle-
gruben bereitgestellt, die schon seit Langem unwirtschaftlich waren.58 Zusätzlich verhängte
die Regierung ein striktes Limit auf Kohleimporte, die wesentlich billiger waren. Den
Elektrizitätserzeugern und der Stahlindustrie, die daraufhin auf teuere heimische Kohle
angewiesen waren, wurden öffentliche Hilfen zugesagt.59 So hatte die Regierung, die ange-
treten war, den Schutz der Kohle zu reduzieren, diesen sogar noch erhöht. Nach 1981
wuchs der Zuschussbedarf für Kohle ständig, allerdings verbunden mit Zechenschließun-
gen.
1984 war die Gewerkschaftsbewegung schon ziemlich desillusioniert. Es gab keine
Expansion des Bergbaus – wie vorausgesagt – und die Bergbautechnologie würde eher
zusätzliche Arbeitsplätze vernichten.60 Die MFGB war zwar 1945 durch die NUM abgelöst
worden. Damit hatte sich aber nichts an der Organisationsstruktur geändert. Die Selbststän-
digkeit jeder Organisation in jedem Kohlefeld war nach wie vor vorhanden. Die Schwelle
für einen nationalen Streik war zunächst sehr hoch. Sie wurde schließlich auf 50% herun-
tergesetzt. Zusätzlich konnten regional einzelne Gewerkschaften eigene Streiks ausrufen.
Die verschiedenen Organisationen unterschieden sich durch ihre Militanz.61 Die Konserva-
tiven hatten noch in der Opposition einen Plan ausgearbeitet, wie sie nach den Erfahrungen
von 1972 und 1974 die Gewerkschaften schwächen konnten. Dieser wurde 1979 durch die
Thatcher Regierung schrittweise umgesetzt.62 Es ging um die Gewerkschaftsgesetzgebung
selbst und die Rechte der Streikenden. Der Employment Act von 1980 richtete sich gegen
das „secondary picketing“, während die Gesetze zur sozialen Sicherung Anspruchsberech-
tigungen einschränkten.63
Der Streik, der 1984 begann, war ein spezifisch politischer Streik „der auf die Destabi-
lisierung der gewählten Regierung und die außerparlamentarische Korrektur von deren
politischer Grundkonzeption abzielte“.64 Er war eine Reaktion auf die Entscheidung des
54
Bruce-Gardyne 1984, S. 83.
55
Taylor 2003, S. 8, 151f.
56
Fine 1990, S. 160; s.a. Winterton 1989, S. 16.
57
S.d. Parker 2000, S. 5.
58
Bruce-Gardyne 1984, S. 83; Taylor 2003, S. 153-161.
59
Bruce-Gardyne 1984, S. 83.
60
Robinson 1985, S. 4.
61
Boehl 1989, S. 35.
62
S.d. oben, Abschnitt B, 5, b.
63
Fine 1990, S. 160.
64
Boehl 1989, S. 169f.
86 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

NCB, 20 unökonomische Zechen zu schließen.65 Sowohl die Regierung als auch die Ge-
werkschaft hatte sich auf den Streik sehr gut vorbereitet. Der TUC General Council rief
schließlich zur Unterstützung der Forderungen der Bergarbeitergewerkschaft zum General-
streik auf. Allerdings folgten die Gewerkschaften der Transport- und Stahlarbeiter, zu de-
nen bisher eine enge Kooperation bestand, sowie die Arbeiter der Elektroindustrie nur
halbherzig dem Aufruf zum Generalstreik. Die Stahlarbeiter fürchteten um ihre Arbeitsplät-
ze. Auch in der Bergarbeitergewerkschaft herrschte Uneinigkeit. Die Labour Party zeigte
sich eher zurückhaltend. Dies waren Rückschläge für die Bergarbeiter. Die Regierung
konnte Transportarbeiter gewinnen, die nicht gewerkschaftlich organisiert waren. Der par-
tielle Einsatz von Öl statt Kohle in der Energieerzeugung wirkte als Drohung, die Kürzung
der Sozialhilfe für die Streikenden war eine erhebliche Restriktion.66 Während des Streiks
gab es mehrere Phasen von Gewalt zwischen der Polizei und den Bergarbeitern, bevor
schließlich die Arbeiter gezwungen wurden, zur Arbeit zurückzukehren, ohne dass sie ir-
gendetwas erreicht hatten.
Das Ergebnis des Konflikts zwischen NCB und NUM, der Regierung und den Ge-
werkschaften war keineswegs im Vorhinein absehbar. Zwar hatte die Regierung durch ihre
Gewerkschaftsgesetzgebung veränderte Bedingungen geschaffen, aber deren strategische
Nutzung erforderte Kläger, Gerichtsurteile und Nichtbeachtung durch die Gewerkschafts-
führung, um politisch wirksam zu werden. So war es für die Regierung günstig, dass es
1984 keine offizielle Abstimmung gegeben hatte und die Regierung somit in der Lage war,
den Streik als illegal zu bezeichnen.
Die Premierministerin hatte nach dem Streik von 1981 einen neuen Arbeitskampf er-
wartet und die staatlichen Kraftwerksbetreiber angewiesen, ihre Kohlevorräte aufzustocken.
Aber diese konnten die Ausfälle bei der laufenden Produktion nur abpuffern, nicht ersetzen.
Das Umsteuern der Stromerzeugung auf „eingemottete“ Ölkraftwerke, die volle Auslastung
der Atomkraftwerke und Gasturbinen verbesserten die Auffangposition, boten aber keine
unbegrenzte Garantie für eine sichere Stromversorgung.
Wenn der politische Wille der Regierungschefin letztlich den Widerstand der Bergar-
beiter brechen konnte, dann waren dafür interne Konflikte zwischen Gewerkschaftsmitglie-
dern und Gewerkschaftsführern und die lange Streikdauer von erheblicher Bedeutung. Nach
acht Monaten Streik waren die finanziellen Möglichkeiten der Bergarbeiterfamilien er-
schöpft. Die gezielte Werbung um Streikbrecher brachte immer mehr Kumpel zurück an
den Arbeitsplatz. Die Gewerkschaftsführung hatte die Leidensfähigkeit der Streikenden
überfordert. Dennoch blieben der Präsident der Gewerkschaft, Arthur Scargill, und seine
Vorstandskollegen unnachgiebig. Sie hatten nicht nur bei Streikausbruch auf eine Urab-
stimmung verzichtet, sondern auch den Dachverband TUC nicht in ihre Strategie einbezo-
gen. Der Eisenbahntransport geförderter Kohle und die Belieferung der Stahlwerke wurden
unterbunden, um auch die Automobilindustrie einzubeziehen, während die Elektrizitäts-
werke weitgehend ignoriert wurden. Den Kohletransport – soweit gefördert – übernahmen
Lastwagen.67
Der erfolgreiche Kampf der Regierung Thatcher gegen die NUM gab den Konservati-
ven die Möglichkeit, in ihrem marktwirtschaftlich orientierten Programm voranzukommen.

65
Andere Zahlen bei Parker 2000, S. 25.
66
Boehl 1989, S. 31, 35; Winterton 1989, S. 86f.; Reed/ Adamson 1985, S. 3, 13, 20ff.; Wilsher u.a. 1985, S. 85,
146.
67
Wilsher u.a. 1985, S. 72f., 84f., 114f., 120-123, 146f., 200-203, 226f., 246f.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 87

Die sozialen Folgen machten sich in einigen von der Kohleförderung abhängigen Gemein-
den drastisch bemerkbar. Die öffentliche Meinung war gespalten. Aber auch die Bergarbei-
ter drifteten auseinander, sodass NUM Mühe hatte, sich als Organisation zu retten. Durch
den Streik hatten einige Bergwerke ihre Absatzmöglichkeiten verloren. Sowohl das Ange-
bot der Kohle auf dem Weltmarkt als auch das von Öl und Gas für die Elektrizitätsgewin-
nung waren Alternativen. Die Regierung beschloss Kohle aus Australien, Amerika und
Kolumbien einzuführen, die billiger war als britische. So hatten die Streiks den Niedergang
des Bergbaus beschleunigt. Dies war insbesondere Scargill zuzuschreiben, der seit 1981
amtierte und sehr militant agierte. Er gehörte zunächst zur Kommunistischen Partei, wurde
dann aber prominenter Linker in der Labour Party, der er 1982 bis 1986 angehörte. Ihm
gegenüber stand ein Vertrauter von Frau Thatcher an der Spitze der NCB, der seine Befähi-
gung bereits im Management amerikanischer Unternehmen bewiesen hatte.68
Das Schrumpfen der Kohleförderung bzw. das der Beschäftigungszahlen war enorm.69
Die Produktivität steigerte sich ständig unter dem Druck auch der ausländischen Konkur-
renz. 1989/90 war die Arbeitsproduktivität doppelt so hoch wie vor dem großen Streik, und
zwischen dem Ende des Streiks und 1990 wurde die Zahl der Bergwerke halbiert und die
Zahl der Beschäftigten um über 100.000 verringert.70
Seit den 1980er Jahren musste sich die Kohleindustrie auch den Umweltbelastungen
stellen, also dem sauren Regen und den Schwefeldioxydemissionen, sodass Reduktionen
beschlossen wurden. Die Konservative Regierung weigerte sich, weitere direkte Subventio-
nen für Bergwerke bereitzustellen. Sie überließ die Verantwortung für Schließungen dem
NCB und die Probleme den Kommunen. Die Beschäftigung in strukturschwachen Regio-
nen, die auf Kohleerzeugung ausgerichtet waren, hatte keine spezifische Priorität mehr.
Dagegen schritten die Vorbereitungen zur Privatisierung der Kohleerzeugung voran. Es war
von vornherein klar, dass die Privatisierung des NCB nicht als Einheit erfolgen könnte.
Daher wurden fünf Unternehmen als Möglichkeit gesehen. Die Privatisierung erwies sich
als schwierig, da zunächst kein multinationales Unternehmen ein Angebot unterbreitete.71
Nach der Privatisierung erlebte die Kohleherstellung seit 1995 eine erfolgreiche Phase.
Es wurde aber bald klar, dass diese nicht andauern würde. Zunächst profitierte die Kohle
noch von den Lieferverträgen, die mit Hilfe der Regierung zu den Elektrizitätsherstellern
zustande gekommen waren. Als Tony Blair die Regierung übernahm, war das Ziel von
New Labour, die Wirtschaft Großbritanniens zu modernisieren und nicht so sehr Industrien
zu stützen, die im Abstieg waren. Daher führte Blair die Wirtschaftspolitik Thatchers fort.
Die Folge war, dass fortan Marktbedingungen die Kohleproduktion beherrschten. Dies
hatte z.B. zur Folge, dass eine Zeche, die unter dem „Plan für Kohle“ mit einem erhebli-
chen Kapitalaufwand gefördert worden war und 1995 die Arbeit aufnahm, geschlossen
wurde. Um nicht die Anhänger von Old Labour zu verlieren, musste die Labour-Regierung
allerdings auch Aktivitäten entfalten. Dies erwies sich aber eher als ein kurzfristiges Hi-
nausschieben von Problemlösungen. In einem White Paper wurde nur vorgeschlagen, bei
der Stromerzeugung bevorzugt Kohle zu nutzen. Die Stromhersteller, nicht die Regierung
sollten darüber bestimmen.72 Insgesamt ergab sich allerdings keine Lösung der Probleme.

68
Adeney/ Lloyd 1986, S. 54ff.
69
Zahlen bei Parker 2000, S. 204, 51f.
70
Parker 2000, S. 63.
71
Ebenda, S. 78f., 82, 157f.
72
Ebenda, S. 177, 179, 188, 191.
88 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Die Labour-Regierung sah sich allenfalls den Bergarbeitern der Kohlezechen verpflichtet,
aber ihr wurde klar, dass die Schließung von Bergwerken nicht mehr zu verhindern war.
Weitere Schließungen erfolgten und die ausländische Konkurrenz wurde schärfer.
Festzustellen bleibt, dass der britische Kohlenbergbau vor der Privatisierung rationali-
siert wurde. Im Rahmen des EU-Regimes bedeutete das, dass die Subventionierung der
Elektrizitätsherstellung durch die deutsche Regierung drei Mal so hoch sein kann wie die in
Großbritannien. Im Gegensatz zu Großbritannien hat die deutsche Bergarbeitergewerk-
schaft ein Modell der Moderation für den Rückbau der Kohleerzeugung gewählt und war
ein aktiver Partner der Regierung, während Scargill auf Konfrontation aus war. Insgesamt
ist die EU-Politik in Großbritannien ziemlich irrelevant, weil die dortige Politik stärker
marktorientiert ist.73
Im Jahre 2005 waren noch 4.000 Arbeitnehmer in der Kohleförderung beschäftigt. UK
Coal betreibt fünf Bergwerke in Nordengland und den Midlands und einen Tagebau. 2005
waren drei neue Tagebauanlagen geplant. UK Coal liefert 7% der für die Elektrizitätsher-
stellung notwendigen Primärenergie.
Zusammenfassend kann der Niedergang der britischen Kohleförderung insbesondere
auf folgende Ursachen zurückgeführt werden:
ƒ Restriktionen durch kleinbetriebliche Strukturen und Eigentumsverhältnisse,
ƒ zu späte Mechanisierung (Eigentümer, Management) und gewerkschaftlich unter-
stützte Widerstände gegen Modernisierung der Förderung,
ƒ Konkurrenz billigerer Importkohle und anderer Energieträger (insbesondere Gas und
Öl).
Die Verstaatlichung der Kohle hat die Strukturprobleme nicht beseitigen können, sondern
deren Lösung eher noch verzögert.

b) Textilindustrie

Die Textilindustrie umfasst die Herstellung von Garnen, deren Veredlung, die Verarbeitung
zu Stoffen (Weberei, Wirkerei, Walkerei), deren Veredlung für die Produktion von Beklei-
dung und Heimtextilien sowie die Herstellung von technischen Textilien, z.B. für Autos,
für die Landwirtschaft, die Gärtnerei und die Fischerei, für Schutz und Sicherheit, Textilien
für andere Fahrzeuge, z.B. Flugzeuge, Textilien für medizinische Zwecke, für Transport
und für Filterprozesse.74
Die wichtigste Erfindung für die industrielle Entwicklung der Textilindustrie war die
von R. Arkwright, der 1769 die erste brauchbare Spinnmaschine erfand,75 die er 1775 für
Wasserkraftantrieb und 1790 für Dampfkraftbetrieb entwickelte. Vorher hatte bereits J.
Hargraeves (1767) die noch im Handbetrieb arbeitende „Spinning Jenny“ erfunden. Eine
weitere Innovation war die Kämmmaschine von J. Heilmann (1844).76 Die erste brauchbare
mechanische Webmaschine entwickelte der englische Pfarrer Cartwright (1784-88), die
endgültige Lösung fand der englische Mechaniker Roberts (1822).77 1864 baute der Eng-
länder Cotton die später nach ihm benannte Flachwirkmaschine. Ebenfalls in England wur-
73
Parker/ Brough 1995, S. 6f.
74
Lacasse/ Baumann 2004, S. 1.
75
Diese Kardiermaschine formt die Fasern zu einem Endlosvlies, das heute meist mit Ringspinnmaschinen (seit
1830) verarbeitet wird (Schuh 2003, S. 39).
76
Brockhaus Enzyklopädie 2006, Band 25, S. 776; s.a. Kurz 2000, S. 300f.
77
dtv-Lexikon, Band 20, 1966, S. 46.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 89

den der Kulierstuhl (1767) und der Kettenwirkstuhl (1768) erfunden.78 Bei der Textilvered-
lung waren die Briten beim Drucken (1760: Hand-Block Printing und 1790: Engraved
Copper Roller Printing) führend. Dieser Teil der Branche wuchs bald zu dem Wichtigsten
weltweit und erreichte seinen Zenit vor dem Ersten Weltkrieg.79
Damit hatte Großbritannien in diesem Sektor einen Vorsprung gegenüber anderen
Ländern der Welt, wenngleich bereits Ende des 18. Jahrhunderts in den USA Versuche
stattfanden, die von Arkwright erfundene Maschine nachzubauen. Dies war aber wenig
erfolgreich, sodass noch 1790 keine brauchbare Spinnmaschine in den USA existierte.80 In
der Mitte des 18. Jahrhunderts verdrängte die Baumwollspinnerei die von Wolle und Lei-
nen und im späten 19. Jahrhundert wurden Kleidungsstücke in Lancashire größtenteils aus
Baumwollgarnen hergestellt. Bald konnten die gesponnenen Garne nicht mehr am Ort zu
Stoffen verwebt werden.81 Noch 1880 kamen mehr als 80% der Baumwollbekleidung in der
Welt aus Großbritannien.82
Die Baumwollweberei hatte damit die Produktion von Wolltextilien endgültig abge-
löst, die im 18. Jahrhundert die industrielle Revolution in Großbritannien begründet hatte.
Ausgangspunkt war die industriell betriebene Landwirtschaft ab dem 17. Jahrhundert.83 Die
ehemaligen kleinbäuerlichen Betriebe wurden durch kapitalistisch betriebene Weidefarmen
zur Schafzucht ersetzt,84 die Grundlage für die Herstellung von Textilien aus Wolle waren.
Die eingeführte Baumwolle konnte durch den Einsatz der Maschinen billiger verarbeitet
und so die Nachfrage in wärmeren Ländern bedient werden. Bereits 1850 wurden mehr als
80% der britischen Produktion nach Übersee exportiert, das entsprach ungefähr der Hälfte
des Gesamtexports des Landes.85 Ein Schwerpunkt der Textilindustrie war Lancashire. Der
Standort war günstig für die Anlieferung von Rohbaumwolle (insbesondere aus den USA
über den Hafen von Liverpool) und die naheliegenden Kohlegruben als Energiequelle für
die Verarbeitung. Die größte Textilfabrik der Welt wurde 1822 in Oldham gegründet, die
die Stadt zu der führenden in der Baumwollspinnerei machte. Hier gab es seit 1850 durch
technische Entwicklungen entscheidende Fortschritte in der Produktivität.86 Weitere Ar-
beitsschritte bis zum fertigen Kleidungsstück wurden in selbstständigen Arbeitsstätten aus-
geführt, offenbar in einer Art Verlagssystem. Die führenden Köpfe unter den Arbeitern
organisierten sich in Gewerkschaften, die Ende des 19. Jahrhunderts zu den stärksten im
Lande gehörten. 87
Bis zum Ersten Weltkrieg konnte die Stellung der britischen Textilindustrie gehalten
werden, allerdings wurde dann die amerikanische Konkurrenz zu einer Herausforderung.
Mangels ausgebildeter Arbeitskräfte war der Druck dort eher größer, die Technisierung und
Automatisierung voranzutreiben. Amerikanische Unternehmen vereinigten unter einem
Dach die gesamte Fertigungskette, sodass die Organisation der Arbeit nicht wie im engli-
schen Verlagssystem bei den Arbeitnehmern selbst, sondern in der Hand von Managern lag.

78
Brockhaus Enzyklopädie 2006, Band 30, S. 167.
79
Lacasse/ Baumann 2004, S. 209.
80
http://inventors.about.com/cs/inventorsalphabet/a/textile.htm.
81
Jones 1933, S. 100.
82
Owen 1999, S. 57.
83
Moore 1969, S. 2.
84
Gebhardt 1968, S. 116f.
85
Owen 1999, S. 58.
86
Jones 1933, S. 118.
87
Owen 1999, S. 58f.
90 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Dadurch wurden auch die Gewerkschaften in den USA in diesem Sektor nicht so stark.
Zudem waren die Rationalisierungsmöglichkeiten in den USA größer. Zwar gab es auch in
Großbritannien Zusammenschlüsse von Firmen. Aber die bezogen sich insbesondere auf
solche der gleichen Produktionsstufe, um den Preiskampf auszuschließen und nicht so sehr
um die Preise zu reduzieren.88
Neue Herausforderungen kamen aus der Dritten Welt. Länder, die vorher britische
Produkte gekauft hatten, waren inzwischen in der Lage, selbst zu produzieren. Dies traf vor
allen Dingen für China und Indien zu. Großbritannien musste sich Märkte in weniger ent-
wickelten Ländern suchen.89 Vor dem Ersten Weltkrieg war die Textilindustrie immer noch
diejenige, die ein Viertel der Exportgüter des Landes produzierte. Die Baumwollindustrie
kam auch noch gut durch den Ersten Weltkrieg. Aber dann erschien Japan als neuer He-
rausforderer mit seinen Textilprodukten auf den Weltmärkten. In der Mitte der 1930er Jahre
wurde Japan zum führenden Exporteur für Baumwollwaren. Die britische Industrie musste
darauf reagieren. Eine Möglichkeit war, sich stärker auf die Nachfrage, also die gewünsch-
ten Qualitäten, einzustellen. Hier ergaben sich allerdings Restriktionen, weil die Kapitalge-
ber Anfang der 1920er Jahre erhebliche Neuinvestitionen finanziert hatten, die eher auf die
Bedienung eines Massenmarktes abzielten. Eine andere Möglichkeit war Rationalisierung
durch Zusammenschluss. Der größte fand 1929 statt, als die Lancashire Cotton Corporation
gegründet wurde, die ein Fünftel der industriellen Spinnkapazitäten vereinigte. Dabei muss-
te die Hälfte der Kapazität aufgegeben werden. Mit dem Cotton Spinning Industry Act von
1936 wurde diese Gesundschrumpfung durch eine Umlage finanziell abgesichert.
Die andere Strategie, auf die veränderten Weltmärkte zu reagieren, war es, die Ex-
portmärkte abzusichern. Die Baumwollindustrie war über die Initiative der Regierung von
1932 erfreut, den Heimatmarkt zu schützen, auch weil das eine Verhandlungsstrategie mit
den Regierungen von Märkten in Übersee eröffnete. So konnten z.B. die japanischen Ex-
porte in die Kolonien begrenzt werden. Dadurch wurden allerdings eher notwendige Um-
strukturierungen in der arbeitsintensiven Produktion hinausgeschoben, die in den guten
Zeiten nicht als notwendig erschienen waren. Dies wären insbesondere Maßnahmen zur
Veränderung der Arbeitsabläufe gewesen. Aber empfindliche Streiks waren hier auch ein
Sperrriegel.90 Weiterhin gab es die Überlegung, dass die einzelnen Phasen in der Produkti-
on bis hin zur Vermarktung besser miteinander verknüpft werden müssten, so beispielswei-
se das Ergebnis einer Kommission aus dem Jahre 1934; allerdings wurde auch diese verti-
kale Integration, wie sie in den USA üblich war, abgelehnt. Die Konzentration auf höhere
Qualität schien ebenso ein geeigneter Weg, um der japanischen Herausforderung zu begeg-
nen. Allerdings wurden diese Empfehlungen von den meisten Firmen nicht beachtet. Sie
hofften auf bessere Zeiten. Die Textilindustrie setzte auf größere Abnehmer, unter anderen
Marks & Spencer, die auch für die Vermarktung sorgten.
Die Regierung konnte aufgrund der Bedeutung der Baumwollwarenproduktion deren
Probleme nicht ignorieren. Nach einem zweiten Gesetz, Cotton Industry (Reorganisation)
Act von 1933, sollten über ein Cotton Board Mindestpreise eingeführt und Produktionsquo-
ten festgelegt werden. Das Cotton Board wurde 1940 eingesetzt und durch Unternehmer
und Arbeitnehmervertreter besetzt. Am Ende des Krieges war es vor allem für aktuelle
Nachkriegsprobleme im Einsatz. Im Übrigen konnte die englische Baumwollbearbeitung

88
Ebenda, S. 60.
89
Ebenda, S. 60.
90
Ebenda, S. 62.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 91

aufgrund der Kriegszerstörungen in Japan und Deutschland eine kleine Boomphase erleben.
So wurden wichtige Maßnahmen der Umstrukturierung und Rationalisierung erneut ver-
schoben. Obwohl die Regierung Fördermittel zur Verfügung stellte (1948), hielten sich die
Investitionen in Grenzen. 1951 war die Textilindustrie die größte Konsumgüterindustrie
Großbritanniens.91 Der Boom endete 1952. Dies war u.a. durch verändertes Verbraucher-
verhalten bedingt – anstelle der Bekleidung hatte die Ausstattung der Wohnung nun Priori-
tät. Aber auch weltwirtschaftliche Einflüsse spielten eine wichtige Rolle. In den 1950er
Jahren wuchsen die Textilimporte aus Indien, Pakistan und Hongkong so stark an, dass
diese den Export von britischen Baumwolltextilprodukten überschritten.
Die anderen Bereiche des Textilsektors, Wolltextilien und Strickwaren mit Schwer-
punkten in den East Midlands und Schottland, waren in einer besseren Ausgangslage. Sie
hatten nicht so stark expandiert wie die Hersteller von Baumwollwaren und der innerbriti-
sche Markt war noch aufnahmefähig. Durch eine erfolgreiche Rationalisierung der Produk-
tion konnte sich die britische Wollindustrie wieder stabilisieren. Auch die britische Jutein-
dustrie war bedeutend, sogar nach der indischen die zweitgrößte und zweitälteste der Welt.
Allerdings herrschte zwischen der indischen und der britischen Industrie eine Arbeitstei-
lung, wobei sich die Inder überwiegend auf Massenartikel konzentrierten, während die
Briten Qualitätsware herstellten. Dieser Unterschied ebnete sich allerdings in den 1950er
Jahren zunehmend ein,92 so dass es dann zum stärksten Niedergang durch welt-
wirtschaftliche Strukturwandlungen kam.
Während die Produktion von gewebten Textilien in Großbritannien im Niedergang
war, erfreuten sich gewirkte Waren größerer Beliebtheit,93 so dass diese Fabriken im Auf-
schwung waren. Hinzu kam in den 1950er Jahren die breitere Verwendung von Rayon und
synthetischen Fasern.94 Acetat und Viskose Rayon wurden in Großbritannien produziert.
Allerdings war der Vorsprung der USA im Hinblick auf synthetische Fasern erheblich,
nicht so sehr der der europäischen Hersteller. Rayon blieb in Europa dominant, während in
den USA die synthetischen Fasern bereits einen erheblich größeren Marktanteil hatten.95
Die Textilindustrie setzte weiterhin auf die alten Instrumente (Preisfixierung und Im-
porthilfen). Die Exportstabilisierung der 1930er Jahre wurde nach dem Zweiten Weltkrieg
durch die Bemühungen der USA um mehr Freihandel innerhalb des GATT aufgeweicht.
Die Konservative Regierung 1951-55 lehnte es allerdings ab, die Branche gegen den stren-
gen Wind des Wettbewerbs abzufedern. Dies änderte sich erst, als Premierminister Macmil-
lan befürchtete, die Unterstützung einer großen Zahl Konservativer Abgeordneter zu verlie-
ren. Daraufhin kam es zu einer von der Industrie gewünschten Beschränkung der Importe
aus den drei wichtigsten Anbieterländern des Commonwealth und 1958 zu ausgehandelten
Schwellen für die Einfuhr. Im folgenden Jahr verabschiedete die Regierung ein Programm,
um die vorhandenen Kapazitäten um 50% (Spinnerei) und 40% (Weberei) zu reduzieren.
Zwei Drittel der Kosten wurden von der Regierung getragen. Eine weitere Subvention wur-
de für die Anschaffung neuer Maschinen zur Verfügung gestellt. Dies war ein erster Schritt
für den typischen Interventionismus der 1960er und 1970er Jahre, der allerdings wenig

91
Jecht u.a. 1959, S. 363.
92
Ebenda, S. 363.
93
Furness 1958, S. 209; z.B. noch in den 1970er Jahren in den East Midlands (Marwick 2003, S. 159).
94
Owen 1999, S. 64-66. Jecht u.a. 1959, S. 345; Furness 1958, S. 208; zur Klassifikation der synthetischen Fasern
s. Lacasse/ Baumann 2004, S. 71; Schneider 2004, S. 88.
95
Hague 1958, S. 259-261; s. unten, Unterabschnitt 3 b (Chemieindustrie).
92 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

dazu beitrug, die Konkurrenzfähigkeit der Industrie zu verbessern. Billigimporte waren


nach wie vor die größte Herausforderung.
Seit den 1960er Jahren wird der internationale Handel mit Textilien im Rahmen des
GATT durch verschiedene Abkommen reglementiert, die auf den Importdruck reagierten.
Auf Initiative der USA wurde 1962 das sogenannte Vorläufige Baumwolltextilabkommen
abgeschlossen, das noch im gleichen Jahr in das Langfristige Baumwolltextilabkommen
umgewandelt wurde. Dieses ermöglichte eine Abweichung von den allgemeinen GATT-
Prinzipien bei Vorliegen einer „Marktzerrüttung“, d.h. der Gefahr, dass Einfuhren eine
ernsthafte Beeinträchtigung für heimische Produzenten darstellen. In der Folgezeit wurden
zahlreiche bilaterale Verträge zwischen den USA und Einfuhrländern abgeschlossen, so
dass es zu Neuverhandlungen kam, die mit dem Welttextilabkommen oder Multifaserab-
kommen endeten. Aber auch darin waren Möglichkeiten enthalten, bei Vorliegen von
Marktzerrüttungen protektionistische Maßnahmen zu ergreifen oder zweiseitige Verträge
mit konkreten Abmachungen abzuschließen. 96
Den Problemen versuchte die Textilindustrie bis in die 1960er Jahre selbst zu begeg-
nen, indem erstens Absprachen zwischen Unternehmen der gleichen Produktionsstufe und
zweitens Zusammenschlüsse von Unternehmen verschiedener Produktionsphasen von Tex-
tilien in Gang kamen. Erstere führten zu einer technischen Übereinkunft von ICI97 mit dem
amerikanischen Chemiekonzern Du Pont, die die Produktion von Nylon in England ab
1949 gestattete.98 Eine konkurrierende Faser war die aus Polyester, die unter dem Namen
Terylene in Konkurrenz zu der britischen Nylonproduktion ab 1954 hergestellt wurde. Bald
überholte diese Faser die anderen im Markt befindlichen Kunstfasern und es begann ein
Wettlauf um neue Produkte aus dem Kunstfaserbereich. Der andere große Hersteller syn-
thetischer Garne, Courtaulds, hatte sich zunächst auf Viskoseherstellung spezialisiert und
damit bereits vor 1930 begonnen, parallel zu Glanzstoff.99 In den 1960er Jahren konkurrier-
te Courtaulds sowohl mit ICI als auch mit der kleineren Firma British Celanese.100 Daher
kam 1966 der Gedanke auf, die beiden Unternehmen zusammenzuschließen. Aber da ICI
Gewinne mit Nylon und Terylene machte, kam es nicht dazu. Während in Großbritannien
ein Konkurrenzkampf unter den Kunstfaserprodukten, die jeweils von einer speziellen Fir-
ma produziert wurden, existierte, hatte Du Pont die wichtigen Fasern unter einem Dach und
damit unter Kontrolle.101
Die Analyse der Probleme brachte auch das amerikanische Modell der Verknüpfung
der einzelnen Produktionsphasen als Lösung in den Blick. Die Faserproduzenten wollten
zunächst keine eigenen Textilien herstellen. Sie suchten sich dafür kleinere Unternehmen,
z.B. ICI sechs, darunter als größtes Viyella. Dieses Unternehmen hatte bereits ein Wirk-
warenhersteller übernommen, der auch Marks & Spencer und andere belieferte. Tatsächlich
wurden ab 1963 entsprechende Zusammenschlüsse in die Wege geleitet.
Neben diesen privatwirtschaftlichen Lösungen suchte die Industrie aber auch Unter-
stützung gegenüber den Importen während der Phase der Umstrukturierung. Tatsächlich
wurde der Import 1961 (mit starker Unterstützung der US-Regierung gegenüber den Ent-

96
Schneider 2004, S. 97ff.
97
S. unten, Unterabschnitt 3 b (Chemieindustrie).
98
1940 hatten die ersten Damenbekleidungsgeschäfte in den USA bereits Nylonstrümpfe angeboten, die einen
wahren Run auf diese auslösten (Aubel u.a. 2002, S. 212).
99
Das Patent dazu war 1926 von Lilienfeld in Wien angemeldet worden (Hague 1958, S. 277).
100
Hague 1958, S. 269.
101
Owen 1999, S. 68-70.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 93

wicklungsländern) um 5% pro Jahr limitiert. Den importierenden Ländern wurde erlaubt,


weitere Maßnahmen zu ergreifen. Dies galt zunächst nur für Baumwollprodukte, seit 1973
aber für alle Fasern. Die ab 1964 amtierende Labour-Regierung unter Wilson setzte auf
Modernisierung der Industrie. Die Firmen erschienen zu klein, um im Wettbewerb konkur-
renzfähig zu sein. Daher sollten Zusammenschlüsse, unterstützt durch eine neue Behörde
zur Reorganisation der Industrie (Industrial Reorganization Corporation, IRP), vorange-
bracht werden. Es wurde intensiv in den Bau neuer Fabriken auf der grünen Wiese inves-
tiert, vorzugsweise in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit und mit Hilfe von öffentlichen
Fördermitteln. 1966 erließ die Regierung auf Druck der Industrie globale Quoten für Textil-
importe von Entwicklungsländern einschließlich des Commonwealth. Die Hersteller be-
trachteten diese Quoten als bereits viel zu hoch und plädierten für strengere Kontrollen.102
Inzwischen war auch die Monopolkommission auf die Konzentrationsprozesse in der
Kunstfaserproduktion aufmerksam geworden. Im Focus war insbesondere Courtaulds als
der einzige Anbieter von Rayon. Die Monopolkommission verlangte von Courtaulds, keine
weiteren Akquisitionen im Textilsektor vorzunehmen, wenn diese mehr als 25% der wichti-
gen Märkte überschreiten würde. Dies brachte die Regierung in ein Dilemma, denn sie
setzte sich für Zusammenschlüsse ein, die von anderen verhindert wurden. Ein weiteres
Übernahmebegehren von Courtaulds, das ICI gefährdet hätte, veranlasste die Regierung zu
einem zwischenzeitlichen Aussetzen weiterer Zusammenschlüsse auf Vorschlag einer ei-
gens eingesetzten Kommission. Dennoch wurde ICI ein Zusammenschluss mit Viyella
gestattet.103 Der Erfolg wird unterschiedlich beurteilt.
Die Vorstellung, dass eine modernisierte und effiziente Industrie gegenüber den Nie-
drigpreisimporten konkurrenzfähig sein würde, war eine Fehlkalkulation. Denn auch kapi-
talintensive Produktion konnte den Verlust von Märkten nicht verhindern. Der europäische
Markt erwies sich als sehr viel differenzierter als der amerikanische. In Europa spielten
Design und Qualität eine größere Rolle. Das andere Problem war die nicht vollzogene ver-
tikale Integration, die bereits 1958 angemahnt worden war.104 Noch immer bestimmte nicht
der Konsument, sondern der Produzent von Garnen das Angebot. Hier waren die kontinen-
taleuropäischen Anbieter im Vorteil, die weniger auf Standardisierung, als auf Design105
und technische Innovation Wert gelegt hatten. Die Importe vom Kontinent stiegen in der
zweiten Hälfte der 1970er Jahre stark an, und die englische Textilindustrie, die bis dahin
den europäischen Markt eher vernachlässigt hatte, war nicht fähig, dem etwas entgegenzu-
setzen: Weder Produkte106 für europäische Konsumenten noch Erfahrung im Marketing und
in der Verteilung waren vorhanden.
Der Wechsel an der Spitze von Courtaulds brachte zwar den Managern nachgeordneter
Betriebe größere Freiheit im Ein- und Verkauf, sodass sie nicht nur auf die Angebote der
eigenen Unternehmensgruppe angewiesen waren. Aber die Überkapazitäten in der Weberei
waren doch so groß, dass große neue Webereien im Jahre 1977 geschlossen werden muss-
ten. Auch weitere Übernahmen aus der Wirkwarenherstellung brachten keine Besserung,
weil diese Firmen inzwischen selbst Probleme hatten.107

102
Owen 1999, S. 73-74.
103
Ebenda, S. 75.
104
Furness 1958, S. 220.
105
Dies traf u.a. für die italienischen und deutschen Produzenten zu, die kleine Mengen in hoher Qualität herstell-
ten (Baker 1995, S. 73).
106
Baker 1995, S. 72.
107
Owen 1999, S. 77f.
94 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Unter der Regierung Thatcher kam 1979 ein neuer Manager (Hogg) an die Spitze von
Courtaulds, der an der Harvard Business School ausgebildet worden war und danach als
Banker gearbeitet hatte. Hogg erkannte, dass sein Unternehmen in der Zukunft keine Chan-
ce in der Garnherstellung habe. So schloss er Spinnereien und Webereien bzw. reduzierte
sie weiter und verkaufte diese schließlich an ein japanisches Unternehmen. Die Beziehun-
gen zu Marks & Spencer wurden wieder verbessert, um die Wirkwaren abzusetzen. Die
Firma orientierte sich stärker in Richtung Design und Mode sowie kurzfristige Anpassun-
gen an den Markt. Investitionen gingen in die Entwicklung von Stretch-Produkten, wo
technischer Vorsprung vor anderen Konkurrenten bestand. Schließlich wurde auch erkannt,
dass das Unternehmen nur eine Überlebenschance haben könnte, wenn es sich internationa-
lisierte. In der Mitte der 1980er Jahre wurden 90% der Produkte in Großbritannien herge-
stellt und 90% in Großbritannien verkauft. Diese Prozentzahlen galt es auf 40-50% zu ver-
ringern. Auch dazu sollte die Strategie der Entflechtung und Spezialisierung dienen. Diese
Strategie wurde 1996 abgeschlossen. In den 1990er Jahren wurde die Textilproduktion
immer stärker nach Übersee verlagert. Und das galt auch für Courtaulds. Den größten Teil
der Waren nahm Marks & Spencer ab.
Auch die andere große Unternehmensgruppe ICI konnte ihre hohen Profite, die sie
durch Nylon und Terylene in den 1960ern und 1970er Jahren erzielt hatte, aufgrund einer
weltweiten Überkapazität an Garnen nicht mehr realisieren. Die Viyella hielt sich noch am
besten im Markt. Darauf wurde ein iranischer Textilunternehmer aufmerksam. Als die Fir-
ma in Probleme kam, wurde sie 1982 von diesem Unternehmer gekauft. Dieser Verkauf
markierte zugleich das Ende des wenig profitablen Textilsektors bei ICI. Der Iraner (Al-
liance) kaufte noch mehrere Textilfirmen auf, z.B. Nottingham Manufacturing 1985, was
ihm einen großen Einfluss in der Wirkwarenindustrie der East Midlands sicherte. Alliance
Group wurde zum größten Textilunternehmen in Großbritannien. Aber auch hier zeigte
sich, – wie bereits in den 1960er Jahren – dass Größe allein keine Garantie für Erfolg ist.
Schließlich musste Konkurs angemeldet werden.108
Die Entwicklungen hatten gezeigt, dass es einfacher ist, große Zusammenschlüsse zu
erreichen, als diese dann zu managen. Die Orientierung am Markt bzw. der Markenname
und wichtige Abnehmer der Ware sowie technische Vorsprünge, die nicht leicht zu imitie-
ren waren, erwiesen sich als wichtiger. Auch konnte sich die Textilindustrie nicht länger-
fristig auf wenige wichtige Abnehmer, z.B. Marks & Spencer, verlassen, weil die zuneh-
mend dazu übergingen, Bekleidung aus Übersee zu kaufen. Den britischen Textilunterneh-
men blieb nichts anderes übrig, als sich auch international mit ihren Produktionsketten zu
organisieren.109
Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Textilindustrie weitgehend geschrumpft.110 In
der Mitte der 1990er Jahre wurde als Ergebnis der Uruguay-Runde der Sonderstatus des
Textil- und Bekleidungssektors im Rahmen des GATT beseitigt.111 Der Einstieg der briti-
schen Firmen in den europäischen Markt kam zu spät. Die kontinentaleuropäischen Länder
hatten sich besser gegen die Ware der Dritten Welt behauptet. In Kontinentaleuropa gab es
keine großen Zusammenschlüsse von Textilfirmen, sodass flexibler auf Nachfrage reagiert
werden konnte. In Großbritannien war auch die Orientierung an Marks & Spencer proble-

108
Ebenda, S. 78-81.
109
Ebenda, S. 81.
110
S. d. die Übersichten bei Owen 1999, S. 82f.
111
Schneider 2004, S. 100.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 95

matisch, die einerseits natürlich große Mengen abnahmen, andererseits aber die Spezifika-
tion in besonderen Designs und Marketingstrategien verhinderten. Die großen Zusammen-
schlüsse können nicht den Regierenden angelastet werden. Möglicherweise haben sie aber
dafür gesorgt, dass die Textilindustrie zu leicht an Geld kam.
Nach dem Niedergang der Bekleidungsindustrie haben die Länder der EU vor allem
versucht, durch technische Textilwaren die Lücke zu schließen. In der EU hatte dieser Be-
reich 1998/99 einen Anteil von 26-28% an der gesamten Produktion. Großbritannien war in
der EU mit Frankreich (je 16%) nach Deutschland (17%) der zweitgrößte Hersteller dieser
Produkte. Vor allem die Fahrzeug- und Transportindustrie ist der wichtigste Abnehmer (mit
29%), gefolgt von der Möbelindustrie und der Raumausstattungsbranche (14%).112
Bedauerlicherweise hat der Niedergang der Textilindustrie oft nicht dazu geführt, dass
die Anbieter von Veredlungsprodukten ihre Anstrengungen fortsetzten, differenziertere
Produkte zu entwickeln, die die Textilprodukte hätten verbraucherfreundlicher machen
können. Hier gibt es große Marktchancen, denn die wichtigsten Innovationen bei der Tex-
tilausrüstung kommen aus europäischen Forschungslaboren.113 Die gilt besonders für
„functional finishing“-Produkte. Das Department of Trade and Industry (DTI) unterstützt
neuere Entwicklungen bei technischen Textilien.114
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Textilindustrie durch Organisations-
probleme ins Hintertreffen geriet. Als der Weltmarkt für Massenprodukte aufnahmefähig
war, wurde nur die Garnproduktion rationell vollzogen, nicht aber die von fertigen Klei-
dungsstücken. Hier verhinderten starke Gewerkschaften die Überwindung kleinbetriebli-
cher Strukturen, die in Konkurrenz zur Dritten Welt im Hinblick auf Kosten und Preise im
Nachteil waren. Der Zusammenschluss unterschiedlicher Produktionsstufen erfolgte, als
Massenprodukte in anderen Teilen der Welt billiger hergestellt werden konnten. Viel zu
lange wurden die Produktionsprozesse von der Garnherstellung her gedacht und nicht von
den Verbraucherwünschen. So konnte ein ausdifferenzierter Markt nicht bedient werden.
Als Markt wurde viel zu lange nur das Empire gesehen, der Einstieg in Europa erfolgte zu
spät. Die Maßnahmen der Regierungen (Abschottung der Märkte, Preisfixierung, Importhil-
fen bzw. -beschränkungen) brachten nur vorübergehende Entlastung. Schließlich mussten
sie den Rückbau der Branche finanzieren.

c) Stahlerzeugung

Die Stahlerzeugung gehört traditionell zu den Industriezweigen, die wichtige Zulieferer für
andere sind. Sie ist abzugrenzen gegenüber dem Erzbergbau und der eisenverarbeitenden
Industrie (Stahlbau, Maschinenbau, Schiffbau, Autoproduktion, Eisen-, Blech- und Metall-
industrie). Dennoch sind vertikale Verbindungen zu diesen vor- und nachgelagerten Pro-
duktionsgruppen häufig. „Als dominierender Bestandteil der Eisen- und Stahlindustrie sind
die Hochofen-, Stahl- und Warmwalzwerke anzusehen, die fast ausschließlich in großen,
integrierten Einheiten auftreten und von Produktionstechnik und Betriebsökonomie her auf
bestimmte Mindestkapazitäten angewiesen sind. Zur Eisen- und Stahlindustrie rechnen
ferner die Röhren-, Schmiede-, Press- und Hammerwerke, im weitesten Sinne auch die

112
Lacasse/ Baumann 2004, S. 4.
113
Ebenda, S. 9.
114
http://www.textilesintelligence.com.
96 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Drahtziehereien und Kaltwalzwerke sowie die Eisen-, Stahl- und Tempergießereien.“115


Letztere können auch Mittel- und Kleinstbetriebe sein. In Großbritannien wurde die Stahl-
produktion zweimal nationalisiert und zweimal wieder privatisiert.116 Sie war stärker durch
Regierungstätigkeit beeinflusst als andere Wirtschaftszweige.117
Großbritannien war führend in der Gewinnung von Eisen und Mitte des 19. Jahrhun-
derts der größte Produzent und Exporteur. Bevor die Bessemer Birne118 1848 erfunden
wurde, war Stahl ein teures Material und konnte nur in kleineren Mengen hergestellt wer-
den. Stahl ist ein elastischeres Material als Eisen und als die Bessemer Birne voll einsatzfä-
hig war, begann Stahl Eisen zu ersetzen, z.B. bei der Schienen- und der Maschinenherstel-
lung. Weitere Innovationen folgten mit dem Siemens-Martin-Verfahren (1867),119 das sich
dazu eignete, noch bessere Stahlqualitäten herzustellen, und dem Thomas-Verfahren
(1879).120 Ein Problem dieser Verfahren war, dass sie nur Eisenerz ohne Phosphorgehalt
bearbeiten konnten. Gerade in Europa, insbesondere in Lothringen, gab es große Lagerstät-
ten dieses Eisenerzes.121 Das war möglicherweise der Anreiz, hier chemische, physikalische
und mechanische Verfahren zur Eisen- und Stahlerzeugung zu kombinieren und dadurch
einen Vorsprung zu gewinnen.122 In Deutschland fanden systematische Forschungen zur
Verbesserung der Stahlerzeugung statt, wozu auch ein Austausch zwischen Universitäten
und Industrie gehörte. Solche Entwicklungen fehlten in Großbritannien jedenfalls in der
Periode von 1875 bis 1895. Vielmehr gab es in der britischen Industrie eher eine Ignoranz
gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Stahlerzeugung.123
Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Nachfrage nach Stahl in Großbritannien eher
mäßig. Das Eisenbahnsystem war bis 1870 ausgebaut. Daher hätten höhere Verkaufszahlen
nur durch Export erzielt werden können. Allerdings waren die dynamischsten Märkte in
Deutschland und den USA durch Schutzzölle eingehegt. In Deutschland waren zudem seit
1879 auch Kartellbildungen möglich. Jedenfalls wurden die deutschen Stahlproduzenten
nicht dem Konkurrenzdruck durch Import ausgesetzt. Demgegenüber gab es in Großbritan-
nien Freihandel. Die Unternehmen mussten sich selbst bemühen, Preise niedrig zu halten,
um im Wettbewerb zu bestehen. Die Frage ist, ob sie durch den Einsatz der technischen
Erfindungen, z.B. des Thomas-Verfahrens, eine bessere Ausgangsposition gehabt hätten.
Owen weist die These zurück, dass es am Know-how für die Weiterentwicklung fehl-
te. Vielmehr erwähnt er die führende Rolle der britischen Hersteller im Hinblick auf Stahl-
legierungen, die ihnen bis nach dem Ersten Weltkrieg eine Führungsrolle gegenüber den
Amerikanern und den Deutschen verschafften. In Sheffield gab es auch eine enge Koopera-
tion mit der dortigen Universität und 1882 eine Weiterentwicklung des Stahls (Mangan-
Stahl).124
Allerdings muss im Gegensatz zu Deutschland und den USA festgestellt werden, dass
Modernisierungen eher kleinteilig erfolgten und in erster Linie Ergänzungen der Produkti-
115
Jürgensen, 1961, S. 159.
116
Redwood 1980, S. 78.
117
Owen 1999, S. 113.
118
Wiberg 1964, S. 546: „Windfrischverfahren“.
119
Ebenda 1964, S. 547: „Herdfrischverfahren“.
120
Ebenda 1964, S. 547: Alkalisches Verfahren beim „Windfrischverfahren“.
121
Owen 1999, S. 116.
122
Auch Japan war bei der Nutzung des Siemens-Martin-Verfahrens noch weiter als Europa und die USA (Hart
1995, S. 79).
123
Barnett 1986, S. 93.
124
Owen 1999, S. 118.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 97

onsstätten darstellten und nicht so sehr neue Investitionen auf der grünen Wiese.125 Die
britischen Stahlproduzenten dieser Periode waren kleine Familienbetriebe und auch Zu-
sammenschlüsse haben die Gründerfamilien in der Regel nicht verdrängt. Wie das Beispiel
Sheffield zeigt, musste dies keinen Rückstand bei Technik oder Management bedeuten.
Vielmehr war die Nachfrage auf dem britischen Markt eher differenziert im Hinblick auf
Größen und Qualitäten.126 Im Gegensatz zu Owen sieht Barnett eher einen wesentlichen
Nachteil gegenüber der amerikanischen und der deutschen Stahlindustrie, wo die Anwen-
dung von modernen Techniken und größeren Produktionseinheiten erhebliche Vorteile
gegenüber Großbritannien brachten. Im Vergleich zu den anderen Eisen- und Stahlherstel-
lern verlor Großbritannien stark an Bedeutung.127
Traditionen der britischen Stahlproduktion brachten auch eine starke Gewerkschafts-
bewegung hervor. Wie in der Textilindustrie wurden Teile der Produktion ausgelagert und
Verlagsarbeitern überlassen. Diese organisierten sich 1868 in einer Gewerkschaft, der Iron
Workers Union. Obwohl diese Art der Auslagerung am Ende des 19. Jahrhunderts abge-
schafft wurde, behielten die Unternehmen das Management von eigenverantwortlichen
Teams doch bei der Stahlherstellung bei. Neben einem Basislohn wurde diesen Gruppen
zusätzlich ein Bonus für Produktivität gegeben, sodass die Stahlarbeiter eine der höchst
bezahlten Arbeitnehmergruppen in Großbritannien wurden. Der Vorteil dieses Systems war
einerseits die Flexibilität, andererseits hatten die Unternehmer nur geringe Kontrollmög-
lichkeiten gegenüber den Arbeitnehmern. Gerade bei Modernisierungen hatten die Gewerk-
schaften zunächst die Beschäftigung im Auge.128 So kamen technischer und unternehmeri-
scher Konservativismus zusammen. Die britischen Eisen- und Stahlunternehmen blieben
klein und im Hinblick auf die Nutzung der technischen Möglichkeiten (z.B. von Elektrizi-
tät, mechanischen Hilfsmitteln und Forschungseinrichtungen) hinter den Entwicklungen
zurück.129 Bereits vor dem und im Ersten Weltkrieg wurden Veränderungsnotwendigkeiten
angemahnt, die allerdings in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund des folgenden
Booms nicht umgesetzt werden mussten.130
Der Boom endete aber bereits 1921 und die britische Stahlindustrie schlitterte in eine
der schlimmsten Rezessionen. So wurden die alten Forderungen nach Rationalisierung
durch Konzentration der Organisation wieder aktuell und durch die Regierungen unter-
stützt. Diese hatten damals zunächst keine speziellen wirtschaftspolitischen Vorstellungen
für diesen Wirtschaftszweig. Eingriffe des Staates wurden immer notwendiger, mündeten
aber erst nach der Weltwirtschaftskrise in konkretere Konzepte ein.131 Vorher kam es zu
einigen Zusammenschlüssen, die die Bank von England ab 1927 unterstützte. Darunter
waren auch drei größere Zusammenschlüsse, während andere Maßnahmen scheiterten.
Viele Unternehmen gerieten in der Weltwirtschaftskrise unter die Kontrolle der Banken.
Dies änderte an den Problemen der Produktionsprozesse nichts.132 Dies lag auch an den
Unternehmern selbst, die eher stärkeren Schutz durch die Regierung forderten. Unter dem
Einfluss der Liberalen wurde dies zunächst abgelehnt, aber die weltweite Depression mach-

125
Hart 1995, S. 80.
126
Owen 1999, S. 118.
127
Barnett 1986, S. 92f.
128
Owen 1999, S. 119.
129
Barnett 1986, S. 94f., 97.
130
Ebenda, S. 98f., 101.
131
Bloser 1958, S. 17, 22.
132
Abromeit 1986, S. 111f.
98 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

te das Handeln unumgänglich.133 Ein besonders hoher Schutzzoll wurde durch die Beson-
derheit der Stahlindustrie begründet. Gleichzeitig sollte eine Kommission darüber wachen,
dass tatsächlich Rationalisierungen in der Stahlindustrie stattfanden.134 Dies war der Um-
stieg von der bisherigen Laissez-Faire-Politik zu einem kontrollierten Wettbewerb, der auf
der Partnerschaft von Staat und Industrie basierte. 1934 kam es zur Gründung der British
Iron and Steel Foundation (BISF). Aber die Stahlhersteller hielten die Macht der BISF
gering. Ihre Aufgabe war es, durch Verhandlungen mit der Regierung und dem europä-
ischen Stahlkartell über Preisfestsetzungen und Produktionsmengen die Industrie vor äuße-
rer Konkurrenz zu schützen und sicherzustellen, dass alte und ineffiziente Fabriken ihre
Profite behielten.135 Zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkriegs war die Fragmentierung der
Stahlerzeugung immer noch weitgehend vorhanden: Die drei größten Firmen produzierten
jeweils nur 12 bis 13%.136 Offenbar hatten soziale und politische Faktoren Fortschritte
verhindert.137
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die Regierung nicht zu drastischen staatlichen
Interventionen bereit. Die Industrie sollte ihre Probleme selbst lösen.138 Vorteilhaft war die
große Nachfrage nach Stahl und zudem die geringen Zerstörungen durch den Krieg. Aller-
dings stimmte die Regierung 1944 doch zu, dass die Preiskontrollen in den ersten fünf Jah-
ren beibehalten werden sollten. Danach folgte eine Modernisierungswelle. Als 1945 die
Labour Party die Regierungsverantwortung übernahm, wurden weitere Modernisierungen
angeschoben. Der zugrunde liegende Plan zur Vereinigung der wichtigsten Eisen- und
Stahlunternehmen konnte aber nur teilweise umgesetzt werden.139 Die Labour Party hatte
schon als Opposition angekündigt, die Verstaatlichung der Industrie voranzubringen. Ein
entsprechendes Gesetz von 1949 trat schließlich auf Drängen der Linken 1951 in Kraft.
Obwohl die Debatte darüber intensiv geführt wurde, waren die Differenzen zwischen Re-
gierung und Opposition doch geringer als die Rhetorik vermuten ließ. Alle Seiten akzep-
tierten das Argument, dass die Stahlindustrie ein besonderer Wirtschaftszweig sei mit be-
sonders kapitalintensiven Unternehmen und einem ruinösen Preiswettbewerb bei geringer
Nachfrage. So wurde eine gewisse Regulation für unvermeidlich gehalten. Allerdings war-
en die Widerstände in der Industrie selbst gegen die Verstaatlichung erheblich. Im Unter-
schied zu anderen Nationalisierungen wurde hier die Selbstständigkeit der 96 Hersteller
nicht angetastet. Auch die BISF blieb erhalten. Die Iron and Steel Corporation of Great
Britain (ISCEB) war nur eine Holding. Die Stahlindustrie lehnte es schlicht ab zu kooperie-
ren.140 Als Großbritannien eingeladen wurde, der Montanunion beizutreten, zeigte daran
keiner Interesse. Vielmehr bestand Konsens zwischen den beiden großen Parteien, dass sich
Großbritannien dem Commonwealth als Exportmarkt zuwenden sollte.
Die Rückkehr zur Privatwirtschaft in der Stahlindustrie begann im Jahre 1953 und
konnte 1957 abgeschlossen werden. Zwischen 1953 und 1963 wurden 16 der 17 nationali-
sierten Unternehmen verkauft, meistens an die früheren Aktionäre. Nur ein einziger wichti-
ger Produzent blieb öffentlich (Richard Thomas & Baldwins). Diese Firma plante neue

133
Bloser 1958, S. 22.
134
S.d. ebenda, S. 76ff.
135
Abromeit 1986, S. 112f.
136
Owen 1999, S. 121.
137
Barnett 1986, S. 102.
138
Ebenda, S. 104; laut Abromeit (1986, S. 114) gab es doch eine viel stärkere Mitwirkung der Regierung.
139
Owen 1999, S. 125f.
140
Abromeit 1986, S. 115.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 99

große Stahlwerke. Ansonsten blieb die Struktur der Industrie relativ unverändert. Die Kon-
servativen setzten ein neues Iron and Steel Board ein, das Preise und Kapitaleinsatz kon-
trollieren sollte.
In den 1950er Jahren ging es insbesondere um Vergrößerung des Ausstoßes, nicht so
sehr um die Reduktion der Kosten. Im Jahre 1952 ermittelte eine Kommission, dass der
Leistungsbeitrag je Beschäftigten in den USA zwei- bis dreimal so groß war wie in Groß-
britannien. Dies lag vor allen Dingen an der Größe und dem Alter der Betriebe. Auch die
Zahl der Beschäftigten in den Betrieben war in den USA geringer als in Großbritannien.
Die privilegierte Rolle, die die Arbeitnehmer in den Betrieben einnahmen, beruhte auf der
starken Rolle ihrer Gewerkschaft, der Iron and Steel Trades Confederation (ISTC) in den
Arbeitsbeziehungen. Gewerkschaften von weniger ausgebildeten Arbeitskräften waren
zwar benachteiligt, aber die Unternehmer wollten die Spannungen nicht verschlimmern.
Die hohe Nachfrage und der Arbeitskräftemangel brachten die Gewerkschaften in eine
starke Position und die Unternehmer waren bereit, Konzessionen im Hinblick auf Bezah-
lung und Beschäftigung zu machen, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Das politische
Klima in den 1950er Jahren vermied Konfrontation. Auch die Konservativen Regierungen,
die von 1951 bis 1964 im Amt waren, sahen Prioritäten in Vollbeschäftigung und sozialem
Frieden.141 Um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, hätten Arbeitsabläufe überprüft
und unrentable Betriebe schnell geschlossen werden müssen. Aber dort, wo zu viele Ar-
beitskräfte tätig waren, verlangsamten und erschwerten die rivalisierenden Gewerkschaften
die Verhandlungen und es konnten nur geringe Konzessionen erwirkt werden. Wie in ande-
ren britischen Industrien schienen die rivalisierenden Gewerkschaften ein wirkliches Pro-
blem für Veränderungen zu sein. Dies galt vor allem für die herausgehobene Position der
ISTC.
Nach dem Labour Sieg im Jahre 1964 kam die Verstaatlichung der Stahlindustrie wie-
der auf die Tagesordnung. Die knappe Mehrheit und Opponenten in der eigenen Partei
verzögerten zwar die sofortige Umsetzung. Aber auch ohne eine Verstaatlichung hätten
Zusammenschlüsse, Modernisierungen und Entlassungen von Arbeitskräften erfolgen müs-
sen. Denn in den früheren 1960er Jahren trat die europäische Stahlindustrie in eine Periode
langsameren Wachstums bzw. in eine Phase der Überproduktion ein. Die britische Stahlin-
dustrie verlor ihre Vorteile durch die billigen nationalen Kohle- und Erzvorkommen und
musste auf ausländische Vorkommen zurückgreifen. Die Produktionskosten stiegen. Als
Konkurrenten traten Japan, aber auch die europäischen Länder auf. Die britische Stahlin-
dustrie musste nach Wegen suchen, die Produktivität zu erhöhen. Labour blieb bei der ideo-
logischen Festlegung aus den 1940er Jahren, dass die Verstaatlichung die beste Lösung sei.
Allerdings machte vor allem die Industrie selbst dafür wieder die Pläne.142 Im Unterschied
zur Sozialisierung von 1949 waren nun nur die größten Unternehmen betroffen: 1967 wur-
den die 14 größten, die für 90% der Produktion verantwortlich waren, zu British Steel
(BSC) zusammengeschlossen.143 Damit wurde diese Unternehmung zum zweitgrößten
Stahlerzeuger in der westlichen Welt.
Die meisten Unternehmen, die privat geblieben waren, stellten spezielle Produkte her
und waren von der BSC als wichtigstem Lieferant von Roheisen und halbfertigem Stahl
abhängig. Sie versuchten, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien und investierten auch in

141
Owen 1999, S. 128.
142
Abromeit 1986, S. 121.
143
Owen 1999, S. 134.
100 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

neue Techniken zur Stahlgewinnung, sodass sie zu Konkurrenten von BSC wurden.144
Während der 1960er Jahre fanden viele Zusammenschlüsse von Unternehmen statt, aber
der Stahlbereich blieb davon weitgehend ausgenommen. Er war nicht attraktiv für Anleger,
einerseits wegen Preiskontrollen, andererseits wegen der Drohung, dass eine Labour-
Regierung wieder eine Verstaatlichung durchführen würde. Die Manager von BSC hatten
die Vorstellung, dass nur gigantische Unternehmensgrößen nach japanischem Vorbild
Großbritannien die Rolle als führende Stahlnation sichern könnten. So kam es zur Planung
neuer Stahlwerke auf der grünen Wiese. Die effiziente Produktion wurde aber durch Be-
schäftigungsvereinbarungen beeinträchtigt und die Schließung alter Werke war nicht in der
notwendigen Weise möglich.145
Als 1970 die Konservative Regierung Heath an die Macht kam, meinte diese, dass
man den Prozess der Neustrukturierung nicht unterbrechen solle.146 Es kam zu einer Über-
einkunft, die auf größere Nachfrage ausgelegte Strategie fortzusetzen. Stahl, der am meis-
ten gefragt war, sollte zu angemessenen Preisen verfügbar gemacht werden.147 Auch mehr
Export nach Europa wurde erwartet, denn seit 1973 war Großbritannien Mitglied der EG.148
Allerdings erwiesen sich diese Prognosen als falsch. Seit Mitte der 1970er Jahre ging die
Nachfrage zurück. Stahl wurde häufiger durch Kunststoffe ersetzt. Die Verantwortlichen
von British Steel hatten zu viel Gewicht auf Größe gelegt und weniger auf Modernisierung
innerbetrieblicher Verfahren. So kam es, dass die Nachfrage unterschiedlicher Industrien
nach Qualitäten nicht befriedigt werden konnte. Überall wurden Stahlkapazitäten abge-
baut.149 Ein Desaster hätte durch internen Wandel von British Steel abgewendet werden
können. Aber Modernisierungsmaßnahmen brachten machtvolle Gewerkschaften auf den
Plan.150 British Steel hatte es mit nicht weniger als 18 Gewerkschaften zu tun. Die Konflik-
te eskalierten.151 Als 1974 Labour wieder an die Regierung zurückkehrte, wurde aufgrund
des Einflusses von Tony Benn die beabsichtigte Schließung vieler Fabriken wieder zurück-
gestellt.152 Es war der Beginn von Problemen zwischen British Steel und der Regierung.
Der Nachfolger von Tony Benn als Industrieminister verhandelte dann doch mit den Ge-
werkschaften über Schließungen. Diese wurden mit Hilfe großzügiger Zahlungen, die die
Regierung übernahm, über die Bühne gebracht.153 Das sicherte der Regierung eine wichtige
Basis für das Überleben. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Regierung und Stahlin-
dustrie blieb intakt. British Steel machte noch immer hohe Verluste mit der Tendenz, dass
diese weiter steigen würden.154
Mit diesen Problemen übergab die Labour-Regierung British Steel im Jahre 1979 an
Margaret Thatcher. Die neue Regierung hatte als wesentliches Ziel, dass British Steel die
Verluste abbauen sollte. Ab 1979/80 wollte die Regierung keinerlei Verluste mehr über-

144
Abromeit 1986, S. 135f.
145
Redwood 1980, S. 78, 83.
146
Anstatt das Ziel des Rückzugs aus der Wirtschaft zu verfolgen, hatte sich Heath bald mit dem Bankrott von
Rolls Royce und dem Zusammenbruch von Mersey Docks and Upper Clyde Shipbuilders zu befassen (Abromeit
1986, S. 48).
147
Ebenda, S. 80.
148
Owen 1999, S. 135.
149
Redwood 1980, S. 81, 152.
150
Dudley/ Richardson 2001b, S. 147.
151
Owen 1999, S. 139.
152
Redwood 1980, S. 84.
153
Dudley/ Richardson 2001b, S. 148.
154
Redwood/ Hatch 1982, S. 14; Hart 1995, S. 73.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 101

nehmen. Das Management versuchte durch Lohneinsparungen sein Ziel zu erreichen, die
Gewerkschaften akzeptierten dies allerdings nicht und riefen zum Streik auf. Dieser erste
Streik seit 1926 hätte British Steel in Konkurs treiben können. Die Regierung Thatcher
wollte jedoch die Stahlindustrie erhalten und gewährte (entgegen ihrer ursprünglichen Ab-
sicht) doch finanzielle Hilfen.155 Der Streik endete nach drei Monaten mit einer leichten
Anhebung der Löhne. Die Folge des Streiks war, dass ausländische Importe benötigt wur-
den, um die Nachfrage zu decken. Aber der Streik gab dem Management auch die Gewiss-
heit, den Stellenabbau voranbringen zu können. Frau Thatcher wählte einen Mann ihres
Vertrauens, MacGregor, um British Steel zu managen und gleichzeitig die Gewerkschaften
innerbetrieblich zu entmachten. Soziale Aspekte wurden nicht länger gegenüber kommer-
ziellen als vorrangig gesehen. Etwa 11.000 verloren ihre Arbeitsplätze bei den Corby Steel
Works, die ab 1967 zu British Steel gehörten; 30% Arbeitslosigkeit war die Folge. Ähnli-
che Entwicklungen ergaben sich in Consett. Es wurde auch mehr Gewicht auf Produktent-
wicklung und Marketing gelegt. Insgesamt wird die Rehabilitation von British Steel als
Verdienst des Thatcherismus gesehen.156 British Steel ist damit ein Fall von verzögerter
Modernisierung.
Im Jahre 1988 wurde British Steel wieder privatisiert. Seither hat die Gesellschaft
mehr Erfolg als vorher.157 Dies wird darauf zurückgeführt, dass die damaligen Manager des
staatlichen Unternehmens nicht die notwendigen Kenntnisse für das Management mitbrach-
ten. Allerdings muss auch bedacht werden, dass sie in einer Zeit agierten, in der sich die
europäische Stahlindustrie in einer Rezession befand (ab Mitte der 1970er Jahre). Auch die
Regierung Thatcher hatte ihre marktwirtschaftlichen Zielvorstellungen nicht sofort umset-
zen können, sondern war zunächst gezwungen, öffentliche Subventionen zu bewilligen, um
die Existenz der britischen Stahlindustrie zu sichern. Erst Mitte der 1980er Jahre begann
das Unternehmen wieder Gewinne zu machen.158
Seit der Privatisierung unterscheiden sich die Sichtweisen und Strategien von Regie-
rung und BS voneinander. BS verfolgte eine Globalisierungsstrategie, die darauf gerichtet
war, mit Unternehmen der Stahlindustrie in Europa, den USA und Asien Allianzen zu bil-
den. Werke in Übersee, z.B. in Tuscaloosa (Alabama), wurden gebaut sowie Joint Ventures
gegründet. Die BS hat sich dabei stärker von der Regierung abgenabelt und sich eher der
EG zugewandt. Dadurch wurde das Image von BS als „national champion“ abgeschwächt.
Es kam zu Konflikten zwischen BS und der Regierung, als letztere, obwohl gegen Subven-
tionen an die Stahlindustrie, im Ministerrat der EU dafür stimmte.159
Auch die Beziehungen der Gewerkschaften zu BS sind seither problematischer und
fragmentierter geworden. Die Internationalisierung hat Spannungen zwischen BS und Ge-
werkschaften verstärkt. Die ISTC wandte sich 1991 an die Regierung, damit diese verhin-
dern sollte, die De-Nationalisierung fortzusetzen. In den späten 1990er Jahren sollte nach
japanischem Vorbild Teamwork eingeführt werden mit ungewissem Ausgang für die Be-
ziehungen zueinander.
Die Strategien von BS mit Unternehmen anderer Länder zu kooperieren bzw. Unter-
nehmen aufzukaufen, waren z.B. in Spanien (1990) nicht erfolgreich. Auch die Bemühun-

155
Duley/ Richardson 2001b, S. 148.
156
Owen 1999, S. 144ff.
157
Hannah 1995, S. 183.
158
Dudley/ Richardson 2001b, S. 142f.
159
Ebenda.
102 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

gen um ein Unternehmen in den USA (1991) brachten eher Frustrationen, weil möglicher-
weise die Gewerkschaften dagegen waren. Auch Verhandlungen mit Unternehmen in
Deutschland führten nicht zum Erfolg. So ging diese Strategie im Wesentlichen nicht
auf.160 Schließlich erreichte BS dann doch noch einen wichtigen Zusammenschluss mit dem
größten holländischen Stahlerzeuger Hoogovens 1999.161 Die neue Gesellschaft, genannt
Corus, wurde der drittgrößte Stahlerzeuger nach Nippon Steel (Japan) und Bosco (Süd-
Korea).162
Wie sehr sich BS von den Einflüssen der Regierung unabhängig gemacht hatte, zeigt
die Schließung des Ravenscraig Werks in Schottland. Die Überlegungen, das Werk stillzu-
legen, begannen bereits in den 1970er Jahren. Allerdings hat in den Jahren 1982 und 1985
die Regierung bewirkt, dass das Überleben gesichert wurde, zuletzt für sieben Jahre. Nach
der Privatisierung sah sich BS nicht mehr daran gebunden und das Werk wurde 1991 ge-
schlossen, was zu einer großen Arbeitslosigkeit in der Gegend führte. Der Zusammen-
schluss mit Hoogovens macht die Beziehungen zwischen der Regierung und der Stahlin-
dustrie noch problematischer. So weigerte sich BS, an einem runden Tisch der Regierung
mitzuwirken, der von den Gewerkschaften angeregt wurde.163
Seit Oktober 2006 ging es dann um die Übernahme von Corus. Das mehrmonatige
Bieterrennen um den Stahlkocher wurde schließlich zugunsten des indischen Konkurrenten
Tata Steel als neuem Eigentümer entschieden. Der Hersteller aus Bombay warf damit einen
brasilianischen Mitbieter aus dem Rennen. Die Offerte für Corus war üppig dotiert, was
den wahren Wert der Corus-Aktie erhöhte und den von Tata Steel minderte. Der charisma-
tische Konzernlenker aus Bombay setzt auf strategische Vorteile durch die Fusion. Insbe-
sondere das Standbein im Schlüsselmarkt Europa wird als positiv eingeschätzt.164
Zusammenfassend lässt sich für die Entwicklung der Stahlerzeugung nicht eindeutig
klären, was die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Stahlerzeugung eher verzö-
gert hat. Kleinteilige Betriebsstrukturen mit selbstbewussten Arbeitnehmern und hohen
Löhnen gerieten in den 1920er Jahren unter einen Handlungszwang, der aber auf Wunsch
der Unternehmer zunächst durch einen hohen Schutzzoll und Preisfestsetzungen durch die
Regierung bearbeitet wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Modernisie-
rungswelle angeschoben. Die Verstaatlichung scheiterte an der mangelnden Kooperations-
bereitschaft der Unternehmen, so dass sie wieder rückgängig gemacht werden musste. Es
gab aber wenig Anreize für Private, hier zu investieren. Starke Gewerkschaften und die
Ziele der Regierung, Vollbeschäftigung und sozialen Frieden zu sichern, waren wesentliche
Ursachen. Zudem zeichnete sich bereits in den 1960er Jahren eine Überproduktion in Euro-
pa ab. Dennoch versuchte die Labour-Regierung, die Probleme wieder durch Verstaatli-
chung und gigantische Unternehmensgrößen zu bearbeiten. Dadurch konnten allerdings
keine neuen Märkte erschlossen werden. Der Rückbau der Stahlindustrie erwies sich wegen
starker Gewerkschaften als schwierig. Insgesamt kann also eine erheblich verzögerte Mo-
dernisierung festgestellt werden, die sowohl durch die Unternehmer selbst, die Gewerk-
schaften, aber auch mit Zutun der Regierung zustande kam. Erst durch die erneute Privati-

160
Ebenda, S. 151f.
161
Dudley/ Richardson 2001a, S. 44.
162
Dudley/ Richardson 2001b, S. 152.
163
Ebenda, S. 152f., 155f.
164
FAZ vom 1.2.2007.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 103

sierung unter Thatcher nabelte sich die Stahlproduktion von der Regierung ab und es fand
eine Internationalisierung statt.

d) Eisenbahn

Eisenbahnen brachten die „größte Umwälzung im Güter- und Personenverkehr, hinter der
die Einführung der Dampfkraft in der Schiffahrt zurücksteht.“165 Sie war mit einer Senkung
der Frachtkosten bei Massentransporten verbunden. Zwei Voraussetzungen stehen am An-
fang: die Verfügbarkeit von viel und billigem Eisen für die Schienenwege166 und die Nut-
zung der Dampfkraft, die seit der Erfindung des Engländers James Watt (1769) patentiert
war. Auch die Hochdruckdampfmaschine, durch die erst die Lokomotive möglich wurde,
hat Watt erfunden.
Der Bau einer Dampflokomotive gelang erstmals dem Engländer Trevithick 1801. Al-
lerdings gewann sein Konkurrent Stephenson ab 1814 die Oberhand. Seine Lokomotive zog
ab 1825 die ersten Güter- und Personenzüge über die erste öffentliche Eisenbahnstrecke der
Welt von Stockton (Kohlegruben) nach Darlington (Verladehafen). Hier wechselten sich
allerdings noch Dampf- und Pferdebetrieb ab. Der erste reine Dampfbetrieb auf der Strecke
von Manchester nach Liverpool begann 1830. Damit war Großbritannien gegenüber dem
europäischen Kontinent führend, wo die erste Eisenbahnstrecke erst 1832 eröffnet wurde.
Dies galt auch für die Weiterentwicklung des Streckennetzes. Allerdings wurde Großbri-
tannien bald von den USA und seit 1870 von Deutschland überholt.167
In den ersten Jahren war die Entwicklung in Großbritannien mit großem Elan, aber
auch mit einer starken Zersplitterung der Eisenbahnanlagen einhergegangen.168 Für die
Jahre ab 1836/37 bis in die 1840er Jahre wurde von einer „railway-mania“ gesprochen.169
Der Ansturm der Investoren für Baukonzessionen war so groß, dass kaum allen entspro-
chen werden konnte. Nicht alle Spekulanten, die sich Gewinne versprachen, haben tatsäch-
lich gebaut. Allerdings hat sich durch die private Investitionsbereitschaft in diesem Bereich
dennoch das Eisenbahnnetz sehr stark erweitert. Viele Strecken mussten jedoch schon bald
wieder geschlossen werden.170
Anfangs bestimmte also der Wettbewerb der verschiedenen Eisenbahnunternehmen
(es waren mehr als 100) von unterschiedlicher Größe die Entwicklung. Dies hatte zum Teil
zur Folge, dass Parallelstrecken ausgebaut wurden. Die ursprüngliche Zersplitterung wich
bald bedeutenden Zusammenschlüssen. „Harten Konkurrenzkämpfen folgten Fusionen oder
Verständigungen über die Betriebs- und Preispolitik. Mitte der 1870er Jahre waren 5/6 des
Netzes in der Hand von 11 Gesellschaften vereinigt. ... Daneben bestanden aber noch über
200 mittlere bis kleinste Gesellschaften.“171 Zur Jahrhundertwende galt das Eisenbahnsys-
tem als das beste der Welt.172 Die privaten Gesellschaften haben zwischen 1870 und 1913
allerdings kaum mehr als 4% Gewinn auf ihr eingesetztes Kapital erzielt.173 Während des

165
Napp-Zinn 1961, S. 110.
166
Henshaw 1994, S. 13.
167
Napp-Zinn 1961, S. 111.
168
Ebenda, S. 141.
169
Altorfer, Vol. 1, 2006, S. 289.
170
Simmons/ Biddle 1997, S. 1.
171
Napp-Zinn 1961, S. 142.
172
Henshaw 1994, S. 19.
173
Redwood 1980, S. 111.
104 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Ersten Weltkrieges wurden die Eisenbahnen unter staatliche Kontrolle gestellt, die bis 1921
anhielt. Danach erfolgte eine erneute Privatisierung, allerdings „unter Zusammenschluß fast
aller Eisenbahnen zu vier großen Gesellschaften, und zugleich eine Stärkung des Staatsein-
flusses.“174 Bis 1930 fiel der Gewinn aus dem eingesetzten Kapital noch weiter und lag
kaum über 2%. Dies war auch durch das im Verhältnis zur Besiedlung riesige Netz be-
dingt.175 Es zeichnete sich bereits in den 1930er Jahren ab, dass die damalige Labour Oppo-
sition die Nationalisierung der Bahn anstrebte.176
Nach dem Zweiten Weltkrieg überführte die Labour-Regierung die Eisenbahn mit dem
Transport Act von 1947/48 in ein Staatsunternehmen. Zentrales Organ des verstaatlichten
britischen Verkehrswesens wurde die „British Transport Commission“, die die Manager
einsetzte. Die besten verließen allerdings das Unternehmen. Das Verhältnis der Kommissi-
on zum Management war nie einfach und zum Teil sehr schlecht. Das eigentliche Problem
war allerdings Komplexität und Größe der Organisation.177 Die Konservative Regierung, ab
1951 im Amt, machte diese Verstaatlichung nicht rückgängig. Es folgten aber viele organi-
satorische Umstrukturierungen, z.B. eine Dezentralisierung durch Bereichsorganisatio-
nen.178 Diese konnten jedoch die wesentlichen Probleme nicht beseitigen. Vor allem war
für die Manager der Bahn nicht klar, wem eine Bahn dienen sollte, die Staatssubventionen
erhielt. Es wurde von der Regierung auch erwartet, dass kommerzielle Gesichtspunkte
beachtet werden sollten. Jedenfalls hat die Regierung mit einer Fülle von Gesetzen einge-
griffen.179 Das System stagnierte. Regierung und Opposition übertrafen sich mit Gesetz-
entwürfen.
Mitte der 1950er Jahre erfolgte aufgrund eines Modernisierungsplans der Konservati-
ven Regierung180 allgemein eine Veränderung des Antriebs: Dampf wurde durch Diesel
oder Elektrizität ersetzt. Zur Nutzung des Dieselantriebs wurden unterschiedliche Lokomo-
tiven geordert.181 Der Einsatz von Elektrizität ging in Großbritannien im Vergleich zu den
kleineren Ländern Kontinentaleuropas relativ langsam voran. 1957 waren nur 6% der Stre-
cken elektrifiziert, während zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz bereits 99%, in den Nie-
derlanden 51% und in Schweden 45% elektrifiziert waren.182 Möglicherweise war das da-
durch bedingt, dass nach der Verstaatlichung zunächst einmal die Kriegsschäden beseitigt
werden mussten,183 die in anderen großen europäischen Staaten ebenfalls die Hauptaktivitä-
ten banden. Allerdings gab es unter den sechs Regionen, die für British Rail gebildet wor-
den waren, auch unterschiedliche Entwicklungen, denn diese agierten relativ selbstständig.
So war in der südlichen Region die Nutzung der Elektrizität am intensivsten. Dennoch
hinkte Großbritannien hinter den technischen Entwicklungen z.B. Frankreichs und Japans
hinterher. Der Modernisierungsplan, um die Mitte der 1950er vorgelegt, kam also spät. Ab
1955 begannen die Investitionen. Diese waren zum Teil nicht zielführend. Viel Geld wurde
auch in die Anschaffung von Diesellokomotiven gesteckt, deren Technik nicht ausreichend

174
Henshaw 1994, S. 142, s.a. ebenda, S. 22.
175
Redwood 1980, S. 111.
176
Simmons/ Biddle 1997, S. 367.
177
Henshaw 1994, S. 22, 36ff., 40, 56.
178
Simmons/ Biddle 1997, S. 58.
179
Gourvish 2002, S. 2f.; Henshaw 1994, S. 37.
180
Genauer dazu Simmons/ Biddle 1997, S. 54ff., 367.
181
Simmons/ Biddle 1997, S. 55.
182
Napp-Zinn 1961, S. 114.
183
Henshaw 1994, S. 28; Redwood 1980, S. 117.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 105

getestet war. Eine Phase des Niedergangs begann.184 Insgesamt erwies sich der Modernisie-
rungsplan als nicht genügend durchdacht. Mit dem Transport Act von 1962 wurde die Ei-
senbahn in ein unabhängiges öffentliches Unternehmen überführt.185
Bereits in den 1920er und 1930er Jahren nahm der Transport auf der Straße zu. In den
1950er Jahren versuchte die Regierung, den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu-
rückzubringen. Dies misslang allerdings. In den 1960er Jahren sollte eine Reorganisation
die stark ansteigenden Kosten und Verluste der Eisenbahn wieder unter Kontrolle bringen.
Der von den Konservativen ernannte Richard Beeching war davon überzeugt, dass durch
Schließung unrentabler Teile der Bahn („The Beeching Axe“) das ganze System wieder
profitabel werden könnte. Nun sollte all das in Angriff genommen werden, was durch die
Modernisierung der 1950er Jahre nicht erreicht worden war. Hierzu zählten die überholten
Arbeitsweisen und das Problem, dass viel zu viele Arbeitskräfte im Betriebsablauf tätig
waren. Beeching, früher technischer Direktor bei ICI, schaffte eine Reduzierung um unge-
fähr 160.000 Beschäftigte zwischen 1962 und 1967. Dennoch waren die Löhne immer noch
die größten Kosten.186 Aber die Schließung von Bahnhöfen in dünn besiedelten Gebieten
hatte auch weniger Kunden zur Folge. Ebenso wirkte sich die Schließung von Frachtdepots
aus. Viel Verkehr wurde auf die Straße verlagert. Dies stürzte die Bahn in noch größere
Defizite.187 Wiederbelebungsversuche zur Nutzung der Bahn mithilfe der Kommunen hat-
ten nicht den gewünschten Erfolg.188
Bis 1975 schrumpfte das System erheblich auf 19.000 Kilometer. Aber bei diesen
Schließungen mussten natürlich auch politische Kompromisse gegenüber den betroffenen
Regionen gemacht werden. Seit 1973 gab es dann keine weiteren Schließungen mehr. Die
Labour-Regierung sah die Bahn als sozialen Servicebetrieb. Ihre Argumente waren auch
Beschäftigung und Umweltschutzaspekte.189 Es folgte dann wieder eine Phase, in der mehr
auf kommerzielle Ziele hin gearbeitet wurde. Dazu diente vor allen Dingen das Manage-
ment der einzelnen Sektoren bei dezentralem Vorgehen. Diese Arbeitsweise wurde insbe-
sondere nach dem Amtsantritt der Regierung Thatcher gepflegt, verbunden mit diversen
organisatorischen Umstrukturierungen.190 Auch eine Privatisierung wurde erwogen. Der
zwischenzeitliche Rückgang der Fahrgäste konnte teilweise durch die Einführung von
Hochgeschwindigkeitszügen in den 1970er und frühen 1980er Jahren wieder gestoppt wer-
den. Im Zuge dieser Maßnahmen waren schließlich alle Dampflokomotiven durch solche
mit Elektrizitätsantrieb oder Diesel ersetzt worden. Dazu gehörte auch der Abbau des Lok-
personals auf nur eine Person durch Diesel und Elektrizifierung. Der große Streik im Jahre
1984 und die folgende Schließung von Bergwerken waren natürlich für die Bahn ein großer
Verlust.191
Insgesamt lässt sich feststellen, dass Veränderungen eher mit Verzögerung erfolgten.
Dies ist zum einen auf die Beziehungen des Managements zur Regierung zurückzuführen.
Die Regierung hatte zuweilen nur unklare Vorstellungen darüber, wie die Bahn weiterent-
wickelt werden sollte. Das Management erhielt häufig nicht die geforderten Subventionen,

184
Redwood 1980, S. 86, 96.
185
Simmons/ Biddle 1997, S. 367; Henshaw 1994, S. 59ff.
186
Redwood 1980, S. 112f., 116f.
187
Gourvish 2002, S. 2.
188
Redwood 1980, S. 117.
189
Ebenda, S. 118.
190
Gourvish 2002, S. 24, 110-128, 138, 141.
191
Simmons/ Biddle 1997, S. 56ff.
106 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

die es für Investitionen gebraucht hätte, zum Beispiel im Jahre 1974. Jedenfalls gingen die
Investitionen seit den 1960er Jahren stark zurück.192 Ein weiterer Grund für Verzögerungen
waren aber die Beschäftigten. Hier gab es regionale Allianzen und vielfältige Auseinander-
setzungen zwischen Arbeitnehmern, vertreten von einzelnen Gewerkschaften. In dem ver-
lustmachenden Eisenbahnwesen war es leicht, verschiedene Arbeitnehmer gegeneinander
auszuspielen, weil insbesondere durch Reduktion von Arbeitskräften die Kosten herunter-
gefahren werden sollten. Die größte Gewerkschaft, die National Union of Railwaymen
(NUR), hatte die meisten Mitglieder.193 Sie repräsentierte unterschiedliche Gruppen von
Arbeitnehmern und musste daher unterschiedliche Interessen berücksichtigen. Auf der
anderen Seite gab es die Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (AS-
LEF),194 die die Lokführer vertrat, mit weniger als einem Fünftel der Mitglieder von NUR.
Die gut ausgebildeten Mitglieder fürchteten um ihre Expertise und traten oft militant auf.
Sie unterstützten z.B. 1924 einen von NUR ausgerufenen Streik nicht. Ab 1955 konnten sie
den Plan zur Modernisierung der Bahn nicht stoppen. Ihre Mitgliedschaft fiel von 1955 bis
1997 auf ein Fünftel. Die Interessen der White-Collar-Arbeitnehmer wurden vertreten
durch die starke Transport Salaryed Staffs’ Association (TSSA) und zu einem kleineren
Teil durch die British Transport Officers’ Guild (BTOG). Eine weitere Komplikation ergab
sich durch den Zusammenschluss der NUR mit den Gewerkschaften für Seeleute und
Schiffbau zur National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT). Da sich
durch diese auch die Techniker der Bahn vertreten ließen, beschwor die Fusion Konflikte
zwischen diesen Gruppen herauf. Die Manager von British Rail konnten also keine großen
Fortschritte im Hinblick auf die Produktivität erzielen.195
Ein Konflikt war beispielsweise, Züge nur mit dem Fahrer ohne weiteres Begleitper-
sonal auf die Strecke zu schicken, weil in den neuen Zuggarnituren automatische Tür-
schließung vorhanden war (1975). Überhaupt verliefen die späten 1970er Jahre sehr kon-
trovers. Obwohl die Gewerkschaften die Leitlinien der Regierung über Einkommensent-
wicklung akzeptiert hatten, gab es unzählige Auseinandersetzungen über zusätzliche Zah-
lungen und Arbeitsbedingungen. Ein Rekord von ungelösten Konflikten ging an das
Schiedsgericht (Railway Staffs National Tribunal, RSNT). Das RSNT entschied in 25 Fäl-
len zwischen 1974 und 1979, verglichen mit nur einem in den folgenden acht Jahren. Die
lange Periode der Lohnzurückhaltung hat die Eisenbahngewerkschaften dann im „winter of
discontent“ (1978-79) auch zu Gesprächen mit British Rail veranlasst. Es gab eine alte
Allianz zwischen den Kohle-, Eisenbahn- und Transportarbeitern, die alle hoch organisiert
und sehr durchsetzungsfähig waren.196
Als Margaret Thatcher 1979 die Regierungsgeschäfte übernahm, war deren Antipathie
gegen den öffentlichen Sektor im allgemeinen und gegen die staatlichen Eisenbahnen im
besonderen bekannt. Selbst die modernsten Züge fuhren Verluste ein, z.B. der Intercity.
Deshalb kappte die Regierung die Zuschüsse dafür. Insgesamt waren die 1980er Jahre bei
British Rail durch die wirtschaftliche Entwicklung und geringe Konflikte gekennzeichnet.
Die Verluste in den Jahren 1980, 1982 und 1989/90 können der Rezession zugeschrieben
werden (in den letzten Jahren den Streiks), während die großen Verluste in den Jahren
192
Gourvish 2002, S. 16f., 87.
193
Die Mitgliederzahlen schrumpften seit 1952 von nahezu 400.000 bis 1994 auf 70.000 (Simmons/ Biddle 1997,
S. 342).
194
Simmons/ Biddle 1997, S. 24.
195
Gourvish 2002, S. 72, 75.
196
Ebenda, S. 6, 73f..
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 107

1984-85 durch den militanten Kohlestreik hervorgerufen wurden. Gute Ergebnisse wurden
vor allem dem Sector Management zugeschrieben. Allerdings gingen die Verhandlungen
zur stärkeren Technisierung in den 1980er Jahren doch sehr langsam voran, bis die refor-
mierte Gewerkschaftsgesetzgebung das Management in eine stärkere Position brachte, die
diese auch nutzte. Schließlich kam es zu einer Übereinkunft über die Personalausstattung
der Züge. Hier sollte eine flexible Handhabung möglich sein, die das Alter der Lokführer
und die Serviceerwartungen der Kunden erfüllte. Diese Übereinkunft konnte nach sieben-
jährigen Verhandlungen 1988 implementiert und die Zugbesatzung um 35% reduziert wer-
den. Die Personalkosten fielen allerdings nicht. Jedenfalls wurde in den 1980er Jahren das
Ziel der weiteren Personalreduktion verfolgt und das ganze System modernisiert. Die Ma-
nager arbeiteten auf eine schrittweise aber eher teilweise Privatisierung hin.197
Zwischen 1994 und 1997 wurde British Rail als Fortsetzung der Politik der Regierung
Thatcher durch die von Major privatisiert. Diese Maßnahme konnte noch kurz vor den 1997
stattfindenden Wahlen abgeschlossen werden, die die unpopuläre Konservative Regierung
voraussichtlich nicht gewinnen würde. Dabei wurden Schienen, Züge und sonstige Infra-
struktur voneinander getrennt und die Züge mehr als fünfzig Gesellschaften übertragen.
Zudem gingen einzelne Serviceleistungen für die Passagiere an sonstige Privatunterneh-
men. Dies verursachte erhebliche Koordinierungsprobleme. Für die Schienen wurde Railt-
rack zuständig, der bald ein hoffnungsloser Sanierungsfall war und unter öffentliche
Zwangsverwaltung gestellt werden mußte. Die Subvention war dreimal so hoch wie für
British Rail. Die Regierung Blair stoppte zwar die Staatshilfe 2001 und führte die Insolvenz
herbei. Investoren wurden dringend gesucht, aber nicht gefunden. Einige schwere Unfälle
ließen Kritiker zweifeln, ob der eingeschlagene Weg der Privatisierung richtig war. Letzlich
konnte sich der Staat nicht aus der finanziellen Verantwortung entlassen und musste die
"Network Rail", inzwischen eine Art öffentlich-rechtliche Anstalt, subventionieren.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch in diesem Wirtschaftszweig der Zu-
sammenschluss zu größeren Einheiten erst sehr spät erfolgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg
traten durch die Verstaatlichung neue Probleme auf. Die Kommunikation zwischen dem
Bahnmanagement, der zuständigen Kommission und der Regierung war im Hinblick auf
die Ziele wenig eindeutig. Es gab zwar eine Fülle von Gesetzen, aber das System stagnierte.
Eine Modernisierung (insbesondere die Elektrifizierung) erfolgte später als in anderen eu-
ropäischen Ländern. Die Radikalkur der 1960er Jahre, verbunden insbesondere mit der
Schließung unrentabler Strecken und Serviceleistungen, brachte keine Problemlösung. Die
unterschiedlichen Gewerkschaften verhinderten Rationalisierungen im Betriebsablauf. Erst
unter der Regierung Thatcher befand sich das Management in einer stärkeren Position und
konnte hinausgeschobene Rationalisierungen durchsetzen.

3. Branchen der industriellen Modernisierung

In der dritten Phase des langfristigen Aufschwungs, basierend vor allem auf der Nutzung
von Öl und Elektrizität, sowohl für den Antrieb als auch für neue Produkte (Chemie), war
Großbritannien nicht mehr führend.198 Die Briten hatten sich zu lange auf die traditionellen
Branchen verlassen, die ihnen einen industriellen Vorsprung verschafft hatten und zu si-

197
Gourvish 2002, S. 149, 185f., 230, 370.
198
Musson 1978, S. 152.
108 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

chern schienen. Das bedeutete aber nicht, dass sie nicht auch in neuen Wirtschaftszweigen,
z.B. dem Automobilbau, vorübergehend eine bedeutende Rolle spielen konnten.

a) Automobilbau

Anders als in der Textilindustrie und bei der Eisenbahn begann die britische Autoindustrie
nicht mit Innovationen im eigenen Lande. Erst der Locomotives on Highways Act 1896,
der alte Sicherheitsvorschriften für den Straßenverkehr („Red Flag“ Regel) aufhob, machte
den Weg für den Individualverkehr frei.199 Der erste Autohersteller wurde die von Harry J.
Lawson begründete Daimler Motor Company in Coventry (1896) mit Lizenzen von Daim-
ler. Diese Firma hatte sich bedingt durch geringes technisches Verständnis des Unterneh-
mers, Management- und Kapitalprobleme eher zögerlich mit der Automobilproduktion
befasst. Aber weil sie über die Schlüsselpatente verfügte, wurden andere Unternehmer
möglicherweise entmutigt, in die Produktion von Autos einzusteigen. Auch ein Streik der
Maschinenbauer in den Jahren 1897-98 wirkte verzögernd. Jedenfalls beruhten am Ende
des 19. Jahrhunderts britische Automobile hauptsächlich auf den technischen Entwicklun-
gen aus Deutschland und Frankreich. 200
Das erste vollständig britische Auto konstruierte Herbert Austin 1900 für die Wolseley
Sheep Shearing Company (später: Wolseley Motor Company) in Birmingham. Viele andere
Maschinenbaufirmen folgten zwischen 1901 bis 1904 mit eigenen Autos. Der „Bastler“ für
elektrische Ausrüstungen, Henry Royce, baute 1904 einige Zwei-Zylinder-Autos. Der aus-
gebildete Ingenieur und Aristokrat Charles S. Rolls, der zunächst importierte Autos ver-
kauft hatte, wurde darauf aufmerksam. Fortan wurden die Autos von Royce unter dem
Namen Rolls-Royce vermarktet. Im Jahre 1907 kam der Sechs-Zylinder Silver Ghost auf
den Markt. Im Jahre 1906 waren die größten britischen Produzenten Humber, Argyll und
Wolseley.201 1911 eröffnete Henry Ford eine Fabrik in Manchester und war mit 45%
Marktanteil der führende Produzent im Lande. 1929 waren Morris in Oxford (gegründet
1910), Austin in Longbridge und Singer in Coventry (Produktionsbeginn bei beiden 1905)
die drei größten PKW-Hersteller mit einem gemeinsamen Marktanteil von 75%.202 Bei
Lastwagen war Leyland führend, gefolgt von Albion, Guy und AEC.203 Seit dieser Zeit
lagen die Zentren der Branche in der Umgebung von Coventry und in den westlichen Mid-
lands.
Die vorsichtige Vorbereitung auf den Krieg in den 1930er Jahren hat die Expansion
dieses Industriezweigs vorangetrieben, indem neue Fabriken mit neuen Maschinen und
mehr Arbeitskräften gebraucht wurden. Der Einbruch durch die Weltwirtschaftskrise war in
Großbritannien geringer ausgefallen als in anderen entwickelten Ländern.204 Zwischen
1929 und 1937 wuchs der Ausstoß in der britischen Automobilindustrie um mehr als das
Doppelte, während die Anzahl der unabhängigen Unternehmen kontinuierlich zurückging:
Sie war nicht größer als 20. 1938 produzierten allein sechs Firmen 90% der Personenwagen
und 80% der Lastwagen.205 Am Ende der 1930er Jahre war die britische Autoindustrie

199
Womack u.a. 1994, S. 28.
200
Bardou u.a. 1982, S. 31; s. a. ebenda, S. 4ff.
201
Ebenda, S. 32, 33, 34.
202
Vgl. King 1989; Whisler 1999, S. 3.
203
Bardou u.a. 1982, S. 144.
204
Ebenda, S. 162, 140.
205
Silberston 1958, S. 3.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 109

etwas größer als die französische (bis 1955) und die deutsche und mit beiden wenigstens
gleichwertig im Hinblick auf Fähigkeiten der Unternehmensführung und technischem Ent-
wicklungsstand. Die kontinentaleuropäischen Hersteller konnten im Hinblick auf das Pro-
duktionsvolumen nicht konkurrieren: 1949 stellte Großbritannien mehr Personenwagen her
als der gesamte Rest Europas zusammen.
Die Automobilherstellung war zwischen 1950 und 1960 einer der wichtigsten Indus-
triezweige in Großbritannien206 und auch in den 1960er Jahren noch der wichtigste Expor-
teur. Die größten Länder Europas blieben nach Mengen und Produktivität erheblich hinter
den amerikanischen Herstellern zurück, nicht zuletzt weil der europäische Markt, durch
Zölle fragmentiert, weder große Stückzahlen noch standardisierte Produkte erlaubte.207 In
den 1950er und 1960er Jahren gab es Bestrebungen zur Neuorientierung, da sich die Bran-
che nicht mehr als konkurrenzfähig mit den Entwicklungen in Amerika und Kontinentaleu-
ropa ansah. Die kleinen Gesellschaften der 1920er und 1930er Jahre, geführt von innovati-
ven Unternehmern, wurden in größere Konsortien eingebracht: Austin, Morris, Wolseley
und Riley bildeten 1952 die British Motor Corporation (BMC). Ein anderer Zusammen-
schluss von Humber, Hillman und Singer erbrachte die Rootes Group. Auch diese Zusam-
menschlüsse waren klein gegenüber dem weltweiten Standard der Industrie. Bis zum Ende
der 1960er Jahre hatte Leyland Motors viele kleinere Firmen aufgesogen, darunter waren
Jaguar, Rover und Triumph. Der einzig wirklich erfolgreiche Geschäftszweig waren Last-
wagen und Busse.208
Nach dem Krieg gab es bald eine enorme Nachfrage nach Autos im Inland. Die briti-
schen Unternehmen beherrschten den Markt. Zudem „drängten die aufeinander folgenden
britischen Regierungen vor allem BMC (sie hatten weniger Einfluss auf das im amerikani-
schen Besitz befindliche Ford-Unternehmen oder Vauxhall, die Tochtergesellschaft von
General Motors in Großbritannien), möglichst viele Autos nach Übersee zu verkaufen.
Dahinter stand das verzweifelte Bemühen um Deviseneinkünfte, die die riesigen Kriegs-
schulden des Landes abtragen sollten. Das offizielle staatliche Exportziel Ende der 1940er
Jahre betraf 75% der Autoproduktion des gesamten Vereinigten Königreichs. Vorsätzlich
vernachlässigte das Unternehmen im Interesse eines raschen Ausstoßes die Qualitätskon-
trolle.“209 Die dadurch verursachte geringe Qualität britischer Autos spielte zunächst kaum
eine Rolle. „Doch sobald sich der Ruf mangelhafter Qualität und eines unzulänglichen
Kundendienstes festgesetzt hatte, war dieser nicht mehr zu erschüttern. Die europäischen
Käufer wandten sich in hellen Scharen von den britischen Autos ab, sobald bessere Ange-
bote aus eigener Produktion verfügbar wurden.“210 Während 1950 noch 76% der britischen
Autoproduktion exportiert wurden, waren es 1960 nur noch 42%. Zudem war die Hälfte der
Personenwagenproduktion im Jahre 1961 bereits von großen amerikanischen Autoprodu-
zenten abhängig.211
Auch wenn die Regierungen sich zunächst wenig in betriebswirtschaftliche Fragen
einmischten, so beuteten sie zwischen 1946 und 1966 die Hersteller dennoch aus, weil sie
nicht industriekonforme politische Ziele verfolgten. Die Autoindustrie diente als Devisen-
quelle in der ersten Nachkriegsdekade, als Träger der regionalen Expansion zwischen 1959
206
Whisler 1999, S. 4f.
207
Owen 1999, S. 217.
208
Marwick 2003, S. 157.
209
Whisler 1999, S. 359.
210
Judt 2006, S. 395.
211
Bardou u.a. 1982, S. 174.
110 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

und 1964 und als nützlicher Nachfrageregulator für die meiste Zeit der gesamten Periode.
Die Regierungen machten sich wenig Gedanken über die ökonomische Gesundheit bzw.
das Wachstumspotenzial dieser Industrie.212
Unter dem starken politischen Druck aus London errichtete die Automobilindustrie
Fertigungsstätten und Vertriebszentren in wirtschaftlich unterentwickelten Teilen des Lan-
des – um der offiziellen Regionalpolitik Genüge zu tun und um die Lokalpolitiker und
Gewerkschaften zu beschwichtigen. „Selbst als man diese ökonomisch unvernünftige Poli-
tik aufgab und einige Konsolidierungsmaßnahmen ergriff, blieben die britischen Automo-
bilunternehmen hoffnungslos zerstückelt: 1968 bestand British Leyland aus 60 verschiede-
nen Fertigungsstätten. Die Regierungen trugen so aktiv zur Ineffizienz der britischen Her-
steller bei.“213 Als sich die britischen Autofirmen dazu entschlossen, ihre Produktpaletten
zu aktualisieren und ihre Fertigungsstraßen zu modernisieren, hatten sie keine hauseigenen
Banken, von denen sie nach deutschem Vorbild Investitionsmittel und Kredite hätten be-
kommen können. Auch konnten sie (anders als Fiat in Italien oder Renault in Frankreich)
nicht damit rechnen, dass der Staat in die Bresche springen würde.
Wie kein anderer Wirtschaftzweig hat der Automobilbau zwei grundlegende Verfah-
renswechsel erlebt. Der Übergang von handwerklicher Fertigung zur Massenproduktion
ermöglichte den stürmischen Aufstieg der Branche nach dem Ersten Weltkrieg in den USA
und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Die Ersetzung der Massenfertigung durch
„schlanke Produktion“ zunächst in Japan und später weltweit war verbunden mit einer
abgestimmten Neugestaltung der Arbeitsabläufe, der Produktentwicklung, der Zulieferer-
und Kundenbeziehungen sowie neuen Formen des Managements.214
Während Ford schon seit 1915 das gesamte Repertoire der Montagetechniken (motor-
getriebene Montagebänder) in Trafford Park (Manchester) zum Einsatz brachte,215 blieben
die Autohersteller im britischen Eigentum, vor allem die British Motor Corporation (BMC),
Rover, Standard-Triumph und Rootes, der Art und Weise ihres Vorgehens in der Zwi-
schenkriegszeit verhaftet, was für das rauere Wettbewerbsklima der 1960er und 1970er
Jahre völlig unpassend war. Management und Arbeiterschaft waren unfähig und unwillig,
sich an die veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit anzupassen. Im Einzelnen gehör-
ten dazu ein sehr persönlicher Führungsstil der jeweiligen Betriebsleitung, der Rückgriff
auf die Intuition praktischer Ingenieure, die sich zum Teil hochgearbeitet hatten,216 während
anderswo in Europa und in den USA längst besonders trainierte Manager in der Automo-
bilproduktion agierten.217 Ihr großartiges Design verdeckte die verheerenden Mängel bei
Produktionsverfahren und Produktqualität. Flexible arbeitsintensive Fertigungsverfahren,
die den Besonderheiten des britischen Marktes Rechnung trugen und ein System von
(stücklohnbezogener) Akkord-Vergütung, die es den Arbeitern erlaubte, durch vermeintli-
che Gegenseitigkeit das Arbeitstempo und die Arbeitsorganisation zu bestimmen,218 blieben
212
Wilks 1983, S. 142, unter Bezug auf Dunnett 1980.
213
Judt 2006, S. 395.
214
Womack u.a. 1994, S. 30ff., 83ff., 103ff., 117ff., 156ff., 196f.
215
Ebenda, S. 238f.
216
Whisler 1999, S. 35, 182ff.
217
Ebenda, S. 89. Allerdings gibt es dazu auch andere Informationen. Eine Studie der britischen Regierung fand
heraus, dass Universitätsabsolventen unter den Ingenieuren zwischen 1958 und 1980 dramatisch zunahmen, aller-
dings nicht im Management (ebenda, S. 158).
218
Whisler 1999, S. 125; Ford bezahlte nach Stunden. Ein Streik der Arbeitnehmer, dies zu verhindern, wurde
1913 schnell niedergeschlagen, da Ford auch im Notfall fertige Karosserien aus Detroit einführen konnte (Wo-
mack u.a. 1994, S. 239).
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 111

erhalten. Die britischen Führungskräfte waren davon überzeugt, dass Arbeitskräfte mit
langer Erfahrung im Handwerk die Produktionsmethoden von Ford nicht akzeptieren wür-
den. So wurde auch Ford in seinen Bemühungen zurückgeworfen.219 Jedoch begann auch in
Großbritannien die Arbeitsteilung mehr und mehr fortzuschreiten.220 Das Ford Management
bestand darauf, diese Veränderungen weiter durchzusetzen. Restriktionen kamen besonders
von den Shop Stewards, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Streiks ausriefen. Sie
wurden vom Ford Management umgangen, indem es Verhandlungen nur mit den Repräsen-
tanten der nationalen Gewerkschaft durchführte.221
Die Kontinuität in den Einstellungen zur Vorkriegszeit ist besonders auffallend bei
BMC. Zum Zeitpunkt der Gründung (1952) durch Fusion von Austin und Morris belieferte
die Firma ungefähr 40% des Inlandsmarktes. Damit galt sie als ein „nationales Vorzeigeun-
ternehmen“ der britischen Automobilindustrie. Ford als nächst größerer Anbieter wies nur
25% Marktanteil auf. Am Ende der 1950er Jahre hatte sich der Abstand zu Ford nur gering-
fügig verändert. Die Einführung des Mini (1959), der zur bestverkäuflichen Marke wurde,
dem zwei Jahre später die 1100er/1300er Modelle folgten, sicherte die Führungsposition
von BMC. Während der gesamten Periode gab es keine wesentliche Veränderung in der Art
und Weise, wie das Unternehmen geführt wurde. Es ging ihm gut genug, Gewinne und
Marktanteil ließen Veränderungen unnötig erscheinen. Aber selbst der Mini wurde leicht
unter Preis verkauft. Allerdings sollte die technische Weiterentwicklung von Vorkriegs-
modellen wenig zukunftsweisend sein.222 Die anderen Modelle warfen größere Probleme
auf: Sie kamen am Markt nicht an. Dies war wohl eher ein Fehler des Managements.223
BMC versuchte, seine Führungsposition durch das Angebot einer Vielzahl von Modellen
für jedes Segment des Marktes zu bewahren. Im Jahre 1964 produzierte das Unternehmen
insgesamt 33 verschiedene Modelle, die größte Produktvielfalt eines Autoherstellers welt-
weit. Das verursachte wegen geringer Standardisierung hohe Kosten. Es fehlten adäquate
Vertriebssysteme und Marketingstrategien.224
Die Unbeweglichkeit wurde wahrscheinlich durch die weiterhin bestehende Isolierung
des britischen Marktes vom weltweiten Wettbewerb gestützt; die Zölle blieben bis in die
frühen 1970er Jahre hoch, was den Firmen und dem Markt die Gelegenheit gab, einen spe-
zifisch britischen Weg zu verfolgen. Die britischen Autohersteller führten lange ein beque-
mes Leben: Die Binnennachfrage war zunächst stark, schrumpfte allerdings bereits seit den
1960er Jahren.225 Die Regierung förderte den Bau neuer Fabriken in strukturschwachen
Gebieten.226 Der Schutz hinter Zollmauern trug dazu bei zu verbergen, dass BMC keines-
wegs internationale Qualitätsstandards erreichte, während Volkswagen und Renault seit
Mitte der 1950er Jahre auf einem zunehmend integrierten europäischen Markt konkurrier-
ten, der große Stückzahlen mit fordistischen Produktionsmethoden verlangte.227 Für man-
che Branchen brachte der Beitritt zur EFTA (1959) immerhin eine erste Verunsicherung.
Die britische Autoindustrie war aber davon kaum betroffen, weil nur Schweden eine nen-

219
Womack u.a. 1994, S. 241.
220
Bardou u.a. 1982, S. 106.
221
Owen 1999, S. 221, 235.
222
Whisler 1999, S. 52, 56, 163.
223
Redwood 1980, S. 171, 166; Owen 1999, S. 224.
224
Whisler 1999, S. 35, 50, 278, 406.
225
Ebenda, S. 324, 326.
226
Turner 1995, S. 7.
227
Vgl. Whisler 1999.
112 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

nenswerte PKW-Fertigung einbrachte. Erst der verspätete Beitritt zur EG (1973) bedeutete
das endgültige Ende der Schonzeit.
In der Mitte der 1960er Jahre traten die Schwächen von BMC deutlich zutage. Das
Konzept der Labour Party war, die Wettbewerbsstärke der britischen Industrie dadurch zu
verbessern, dass durch Zusammenschlüsse große Unternehmen geschaffen wurden.228 Dies
veranlasste Harold Wilsons Labour-Regierung, die Fusion von BMC mit Leyland Motors
zur British Leyland Motor Corporation (kurz: British Leyland, BL) zu betreiben. Diese
Fusion war eine große Herausforderung für das Management, insbesondere für Leyland, wo
bisher schwerpunktmäßig Lastwagen hergestellt wurden.229 Zudem waren ja beide, BMC
und BL, bereits durch vielfältige Zusammenschlüsse entstanden.230 Die neue Fusion (1968)
trug wesentlich dazu bei, die meisten althergebrachten Schwächen von BMC zu verewigen.
BL tat sich z.B. schwer, mit den japanischen Produkt- und Prozessinnovationen mitzuhal-
ten.231
Die Versuche der Regierung Wilson, die Probleme der Autoindustrie durch Entwick-
lung eines „nationalen Champignons“ zu lösen (zunächst mit privaten Eigentümern, dann
im öffentlichen Eigentum), erwiesen sich als Fehlschlag. Das hatte interne Gründe, weil
damit ein Managementmodell eingeführt wurde, das auf wenig Akzeptanz stieß.232 Im Ge-
gensatz zum französischen Beispiel (Renault) hatte weder BMC noch BL Zugang zum
europäischen Markt, im Gegensatz zu VW waren weder die Managementprobleme noch die
Arbeitsbeziehungen zu bewältigen. Im Gegenteil: Die Probleme der PKW-Produktion ab-
sorbierten die Managementleistung so umfassend, dass auch die ursprünglich rentable und
aussichtsreiche LKW-Fertigung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die zweitgrößte Auto-
mobilfabrik außerhalb der USA geriet bereits 1974 in Schwierigkeiten. Die Regierung sah
sich gezwungen, im „nationalen Interesse“ das Überleben sicherzustellen.233
British Leyland musste durch Verstaatlichung gerettet werden. „Der Niedergang und
schließlich das Verschwinden eines selbstständigen britischen Automobilsektors kann stell-
vertretend für die gesamte britische Wirtschaftsentwicklung stehen.“234 Die Versorgungsga-
rantie, die künstlich hochgehaltene Nachfrage nach allem, was produziert wurde und politi-
scher Druck zugunsten wirtschaftlich ineffizienter Verhaltensweisen – das alles zusammen
führte die britischen Firmen in den Bankrott. Seit 1970 waren ihnen die europäischen und
japanischen Unternehmen in Qualität und Preis überlegen und nahmen ihnen die Märkte ab.
Die Ölkrise Anfang der 1970er Jahre, der Eintritt in die EG und „der Wegfall der letzten
protektionistischen Märkte in den Dominions und den Kolonien versetzten der unabhängi-
gen britischen Autoindustrie schließlich den Todesstoß.“235
Die Wahl von Margaret Thatcher im Mai 1979 bedeutete einen Bruch mit der Indus-
triepolitik der Vergangenheit. Geld in eine chronisch verlustbringende Autoindustrie zu
pumpen war für diese Regierung eine verhasste Vorstellung. Sie wollte British Leyland so

228
Owen 1999, S. 227.
229
S.d. Whisler 1999, S. 92ff.
230
BL war z.B. aus 60 kleineren selbstständigen Einheiten entstanden (Scarbrough 1986, S. 96).
231
Hart 1995, S. 83.
232
Whisler 1999, S. 242.
233
Owen 1999, S. 227ff. Vorher hatte allerdings bereits die Regierung Heath ihre Technologiepolitik geändert, als
Rolls Royce durch einen falschen Vertragsabschluss in Schwierigkeiten geraten war (Redwood 1980, S. 156f.; s.a.
Taylor 2004, S. 79).
234
Judt 2006, S. 396.
235
Ebenda, S. 395.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 113

schnell wie möglich wieder privatisieren. Daher lud sie ausländische Unternehmen ein zu
investieren.236 Erst in den frühen 1980er Jahren wurden durch Michael Edwardes ernsthafte
Versuche unternommen, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln.237 Ein Problem
stellten die Arbeitnehmer dar. Die Vollbeschäftigung war für jede britische Regierung bis-
her die wichtigste soziale Zielsetzung gewesen. Die Entschlossenheit, die Schrecken der
1930er Jahre unter allen Umständen zu vermeiden, als Menschen und Maschinen im Mü-
ßiggang verkamen, erstickte jeden Gedanken an Wachstum, Produktivität und Effizienz.
Die Arbeitnehmer waren traditionell in buchstäblich Hunderten von alteingesessenen Ge-
werkschaften organisiert: 1968 zählten die Autofabriken von British Leyland 246 verschie-
dene Gewerkschaften, mit denen das Management separat Arbeitszeiten und Löhne bis in
die letzten Einzelheiten aushandeln musste. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war
besonders angestiegen, als auch weniger ausgebildete Arbeitnehmer aufgenommen wurden.
So wuchs die Macht der Gewerkschaften, insbesondere die ihrer lokalen Vertreter, der
gewerkschaftlichen Vertrauensleute.238 Das Unternehmen stellte sich dar als eine Ansamm-
lung von unabhängigen Einheiten, die nur kooperierten, wenn die Interessen übereinstimm-
ten. Die Manager der Teileinheiten schlugen unterschiedliche Strategien ein, um die Pro-
bleme zu bearbeiten.239 „Streiks – gleichermaßen ein Symptom für gewerkschaftliche Mili-
tanz ... – waren eine ständige Begleiterscheinung der britischen Industrie in der Nach-
kriegszeit.“240 Offenbar war die von Edwardes eingeschlagene Konfrontation mit den Ge-
werkschaften sachlich angemessen. Die Geschichte der Tarifverhandlungen zeigt, dass
Druck notwendig ist, um eingefahrene Praktiken der Arbeitswelt zu verändern. Der von
Edwardes anvisierte Plan sah den Verlust von 25.000 Arbeitsplätzen und die Schließung
von verschiedenen Fabriken vor. Dabei wollte er auch keine Rücksicht auf die Gewerk-
schaften nehmen.241
Dagegen scheiterte Edwardes bei der Bearbeitung von Problemen bezüglich der Inge-
nieurleistungen (Konstruktion und Design) zur Produktentwicklung und Qualitätskontrolle.
Die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eingeführten Modelle (Metro, Maestro und Mon-
tego) waren einfach nicht gut genug, um British Leyland (BL) als einen glaubwürdigen
Anbieter auf dem europäischen Massenmarkt zu etablieren.242 Noch 1980 verkaufte BL
seine Produkte plakativ britisch: „Flagge zeigen – Austin kaufen.“243 Die britische Auto-
produktion sank zwischen 1975 und 1980 von 2 Millionen auf eine Million Fahrzeuge, also
auf die Hälfte.244
Neue Fertigungsverfahren waren erforderlich und sie kamen schließlich durch die Zu-
sammenarbeit mit Honda zustande, die Edwardes 1979 einleitete, die aber erst in den frü-
hen 1990er Jahren ihre volle Wirkung entfaltete. Der Preis für die Überformung von British
Leyland durch Honda war wachsende Abhängigkeit von dieser japanischen Firma und eine
Reihe von Modellen, die unter dem Namen Rover verkauft wurden, aber nur neu etikettierte

236
Owen 1999, S. 239; s.a. Marwick 2003, S. 273.
237
Zu den Strategien und zur unterschiedlichen Beurteilung seiner Leistungen s. Whisler 1999, S. 136ff.; Marwick
2003, S. 273.
238
Bardou u.a. 1982, S. 155.
239
Whisler 1999, S. 104f.
240
Judt 2006, S. 397.
241
Owen 1999, S. 240f.
242
Whisler 1999, S. 358.
243
Judt 2006, S. 394.
244
Economist, 22.04.2006. Andere Zahlen, aber in der Tendenz bestätigt bei Crouch 1987, S. 6.
114 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Versionen von Honda-Modellen waren. Dies war keine angemessene Grundlage für eine
dauerhafte Tätigkeit im Massenmarkt, wie BMW bewusst wurde, als es schließlich 1994
das Unternehmen übernahm. Die jüngste und vielleicht letzte Episode in dieser endlosen
Geschichte war BMWs gescheiterter Versuch, Rover als eine Marke im oberen Segment zu
etablieren, die das Angebot von BMW ergänzen, mit ihm aber nicht in Konkurrenz treten
sollte.245 Was blieb ist die Erfolgsgeschichte des "Mini", der in Oxford produziert wird.
Die britische Autoindustrie, die am Ende der 1970er Jahre von Beobachtern als un-
heilbar aufgegeben worden war, verdankte ihren Wiederaufstieg drei japanischen Unter-
nehmen (Toyota, Honda und Nissan), die Großbritannien als Standort für ihre ersten Mon-
tagewerke in Europa wählten. Am Ende der 1990er Jahre war fast der ganze britische Fahr-
zeugbau in ausländische Hände übergegangen;246 ein schwerer Schlag für den National-
stolz, aber auch ein Zeichen dafür, wie sich durch den Gemeinsamen Markt in Europa, den
Aufstieg Japans, die Ölkrise, die veränderten politischen Bedingungen im Lande und
schließlich die Integration in den Weltmarkt (Globalisierung) die Situation verändert hat-
te.247
Politische Entscheidungen mit nachhaltigen Auswirkungen auf die britische Autoin-
dustrie waren die Beibehaltung des Importzolls nach Überwindung der Weltwirtschaftskri-
se, die Nutzung der Automobilindustrie als Devisenbringer und für die Regionalpolitik, der
verzögerte Beitritt zum Gemeinsamen Markt (1973 statt 1955). Alle drei Maßnahmen stabi-
lisierten den unternehmerischen Status quo mit einer Vielzahl von Produktionsstandorten
und geringen Stückzahlen. Diese Bedingungen blieben zu lange erhalten, weil vom nationa-
len Markt kein Rationalisierungsdruck im Hinblick auf Losgrößen, Fertigungsverfahren
und Standortkonzentration ausging.
Die abschließenden Sünden der Labour-Regierungen (politisch erwünschte Fusion zu
BL, Verstaatlichung von BL zur Rettung aus der Krise) und der Konservativen Regierung
(Privatisierung unter Inkaufnahme von Arbeitsplatzverlusten und „Ausverkauf nationaler
Interessen“) wiegen deutlich geringer. Sie alle waren nur Folgen der verschleppten Moder-
nisierung in früheren Jahrzehnten und der verspäteten Integration der britischen Autoin-
dustrie in den Weltmarkt. Diese hatte mit dem Ford-Werk in Manchester (1913) und dem
Kauf von Vauxhall durch General Motors (1925) begonnen, schritt dann während der
1960er Jahre durch den Eintritt von VW, Renault und Fiat in den internationalen Massen-
markt ohne Großbritannien voran und führte schließlich zu den britischen Montagewerken
der japanischen Hersteller Honda, Nissan und Toyota. Wenn dabei britische Arbeitnehmer
ihre Arbeitsplätze verloren und britische Kapitaleigner ihre Unternehmensanteile aufgaben,
so war das nur die zwangsläufige Folge einer aufgeschobenen Modernisierung, deren not-
wendige Begleiterscheinung einer „schöpferischen Zerstörung“ die Bewahrung von Besitz-
ständen unmöglich machte.

245
Vgl. Whisler 1999.
246
Austin Martin, Jaguar, Land Rover und Volvo wurden unter dem Namen Premier Automotive Group zur Hers-
tellung von Luxusfahrzeugen von Ford zusammengefasst, deren einzelne Marken von Ford aber wieder aufgege-
ben wurden (FAZ vom 20.12.2007).
247
Owen 1999, S. 2f. Aktuellere Entwicklungen zeigen den Rückzug von Unternehmen aus den westlichen Demo-
kratien (Ford, GM, Peugeot, Volkswagen) an (FAZ vom 8.10.2004; The Economist vom 22.4.2006; FAZ vom
18.5.2006). Kleinere britische Produktionsbetriebe überlebten mit speziellen Nischenprodukten (Rhys 1995, S.
144f.).
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 115

b) Chemieindustrie

Dieser Industriezweig fasst Unternehmen zusammen, die einerseits aus den Rohmaterialien,
Öl, Gas, Metall, Mineralien und Kohle Produkte herstellen, die in anderen Industriezweigen
zur Komplettierung von deren Produkten genutzt werden (z.B. der Automobil-, der Möbel-
und der Textilindustrie), andererseits aber auch Unternehmen, die aus den hergestellten
Rohmaterialien direkt Produkte für den Konsumenten erzeugen. Dies sind z.B. solche aus
Plastik oder Farben. Die meisten Produkte werden für weitere Fertigungsprozesse benutzt,
die wenigsten gelangen unmittelbar an den Konsumenten. Unter den zuletzt genannten
nehmen die pharmazeutischen Produkte einen großen Anteil ein. Dieser Bereich soll aller-
dings hier ausgespart werden.
In der Chemieindustrie war Großbritannien nicht einer der Schrittmacher, spielte je-
doch eine zu beachtende Rolle, z.B. bei der Belieferung anderer Industrien mit wichtigen
Materialien, u.a. zum Färben und Bleichen für die Textilindustrie.248 Nicht alle Produkte,
die Großbritannien Ende des 19. Jahrhunderts zum größten Produzenten und Exporteur von
chemischen Produkten machten, waren in Großbritannien erfunden worden. Dies galt z.B.
für den aus Frankreich importierten Leblanc Soda Prozess (1791),249 der von britischen
Chemikern genutzt und weiterentwickelt wurde.250 Das gleiche war bei der Beschleunigung
des Bleichprozesses der Fall. Das Verfahren wurde in den Niederlanden entwickelt und
1758 in England eingeführt.251
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zum Aufbau der organischen Chemie. Hier
waren die Deutschen an der Spitze, z.B. Justus von Liebig. Er trug wesentlich dazu bei,
dass die Forschungs- und Lehrtätigkeit an deutschen Universitäten führend wurde. Liebigs
Kenntnisse machte sich dann die englische Industrie zunutze, indem das Royal College of
Chemistry ihn als Berater heranzog. Einem Assistenten dieses Instituts gelang es dann,
synthetische Farbe aus Teer herzustellen, die später als Anilin rot bekannt wurde. Dies war
eine Innovation, weil vorher alle Farbstoffe aus natürlichen Rohstoffen hergestellt wurden,
die teurer waren als die chemisch hergestellten. Darauf hin ergab sich ein Wettbewerb bei
der Herstellung chemischer Farben, allerdings schien Großbritannien den Löwenanteil in
diesem Geschäft zu haben. Dies lag zum Einen an der Kohle als Ausgangsstoff, zum Ande-
ren an der Bedeutung seiner Textilindustrie. Allerdings war die Ausbildung von Chemikern
in Deutschland besser als in Großbritannien. Hier gab es keine Tradition der Zusammenar-
beit zwischen Industrie und dem akademischen Bereich, die Forschungen befanden sich
noch in den Kinderschuhen.252 So konnten die deutschen Hersteller die britische Farbstoff-
industrie in den 1870er Jahren überholen.
Da es auch andere wichtige Chemieprodukte gab, führte das noch nicht zu einem gro-
ßen Bedeutungsverlust der Chemieindustrie. Allerdings gerieten auch andere Produkte
Ende des 19. Jahrhunderts unter Druck, z.B. Alkali (Laugensalz). Das Verfahren verursach-
te Umweltprobleme. Durch das Alkaligesetz von 1863 wurden englische Sodahersteller
verpflichtet, den größten Teil der anfallenden Säure wieder zu beseitigen. Dieses Problem
bekamen die britischen Firmen nur teilweise in den Griff. Der von Solvay in Belgien einge-
248
Die Produktion von Fasern für die Textelverarbeitung wurde teilweise bereits im Abschnitt Textilindustrie
bearbeitet.
249
Aftalion 2001, S. 11f.
250
Owen 1999, S. 328f.; Aftalion 2001, S. 15, 34.
251
Aftalion 2001, S. 13.
252
Ebenda, S. 37ff.
116 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

führte Prozess hätte bessere Ergebnisse erbracht als der in Großbritannien verwendete Pro-
zess. Dies führte dazu, dass sich 1890 48 britische Hersteller zur United Alkali zusammen-
schlossen,253 um sich durch geschützte Preise und Modernisierungsinvestitionen weiterhin
zu behaupten. Allerdings konnte die Abwärtsentwicklung dadurch nicht gestoppt werden.
Schließlich war es ein deutscher Immigrant, Ludwig Mond, der mit seinem Partner John
Brunner Mitte der 1870er Jahre als Lizenznehmer den Solvay Prozess in Großbritannien
einführte.254 Über ein internationales Netzwerk konnte die Erfindung des Schweden Alfred
Nobel, das Dynamit, für die britische Industrie nutzbar gemacht werden. Die weltweiten
Aktivitäten wurden durch den Nobel’s Dynamite Trust koordiniert. Die Firma British No-
bel’s hatte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Anteile an einer Firma in Kanada, an der
auch die amerikanische Firma Du Pont beteiligt war.255
Weder die Firma Brunner Mond noch Nobel’s hatten Interesse an Farbstoffen. Viel-
mehr wurde von Brunner Mond und Nobel’s Industries mit Unterstützung der Regierung
eine neue Fabrik errichtet, die mithilfe des Haber-Bosch-Verfahrens von BASF Ammo-
niak/Stickstoff und Nitrate herstellte.256 Dagegen konnten Farbstoffe importiert werden, die
in anderen Ländern billiger produziert wurden, bis der Erste Weltkrieg dies verhinderte.
Der Krieg wurde dabei zum Problem. In der Folge wurde eine neue Gesellschaft gegründet,
die British Dyestuff Corporation, die von der Regierung, aber auch von der Textilindustrie
mitfinanziert wurde, um Rationalisierung und Forschung voranzubringen. Sie war eher ein
kleineres und schwächeres Unternehmen und entstand aus einem Zusammenschluss von
British Dyes (einem öffentlichen im Ersten Weltkrieg eingerichteten Unternehmen) und
Levinsteins (einem der kleineren auf Farbenproduktion spezialisierten Unternehmen). Die
British Dyestuff Corporation kontrollierte 75% der Produktion. Der kompetenteste Herstel-
ler von Farbstoffen verweigerte zunächst die Kooperation, und die Regierung behielt eine
Minderheit der Anteile und damit eine Kontrollmöglichkeit.257
Der Erste Weltkrieg hatte einen rapiden Anstieg der Chemieproduktion mit sich ge-
bracht. Nicht nur die Textilindustrie, sondern auch die Weiterentwicklung von anorgani-
schen und organischen Substanzen für die pharmazeutische Industrie und für die Muniti-
onsfabriken waren davon betroffen.258 British Dyestuffs konnte allerdings bis in die Mitte
der 1920er Jahre nicht mit den deutschen und schweizerischen Unternehmen konkurrie-
ren,259 die einen erheblichen Vorsprung hatten. Dazu muss noch angemerkt werden, dass
bis dahin die chemische Industrie in Großbritannien sehr viel weniger gefördert wurde als
z.B. in Deutschland. Erst 1916 wurde ein Department of Scientific and Industrial Research
eingerichtet. Dieses war ein wichtiger Schritt für eine offizielle Verbindung zwischen der
Industrie und der Regierung im Hinblick auf die Forschung.260
Der Druck zum Handeln erhöhte sich, als 1925 alle deutschen Farbenhersteller zur IG
Farbenindustrie zusammengeschlossen wurden.261 Überlegungen, welche Zusammen-
schlüsse in Großbritannien Sinn machen würden, begannen. So wurde eine Zusammenar-

253
Ebenda, S. 57f., 107.
254
Chandler 2005, S. 127.
255
Owen 1999, S. 332.
256
Chandler 2005, S. 128.
257
Ebenda, S. 332; s.a. Grant u.a. 1988, S. 23.
258
Grant u.a. 1988, S. 18f., 20.
259
Chandler 2005, S. 127.
260
Grant u.a. 1988, S. 19.
261
Chandler 2005, S. 22.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 117

beit erwogen, die British Dyestuffs und Nobel’s Industries sowie Brunner Mond und Uni-
ted Alkali (UAC) umfasste. Daraus entstand Imperial Chemical Industries (ICI). Das Un-
ternehmen konnte 1926 die Arbeit aufnehmen. Diese Fusion erbrachte eine Art Kartell, das
von der Regierung abgesegnet wurde.262 Schließlich gab es auch andere große Kooperatio-
nen von Chemieunternehmen in den 1920er Jahren.
Jedenfalls wurden durch den Zusammenschluss zu ICI die größten Chemieunterneh-
men in Großbritannien vereinigt. Allerdings war ICI kleiner und technisch weniger versiert
als IG Farben. Weder Nobel’s noch Brunner Mond hatten die technischen und manage-
mentmäßigen Voraussetzungen, neue organische oder anorganische Verfahren in die Pro-
duktion einzuführen, um Farbstoffe und andere synthetische Erzeugnisse, z.B. Fasern, her-
zustellen263 und neue Produkte kommerziell zu produzieren. Die Manager von ICI brachten,
im Gegensatz zu denen von IG Farben, keine wissenschaftliche Ausbildung im Chemiesek-
tor mit. Ein Verständnis für die Komplexität von Produktionsprozessen bei hochwertigen
Chemikalien fehlte. Sie waren als Manager gewöhnt, kontinuierliche Produktionsprozesse
zu gestalten. Durch Mangel an Fachkenntnis fehlte bei ihnen auch der Zugriff auf For-
schungen in der organischen Chemie. Daher hielten sie sich bei Entwicklungen von Che-
miefasern zurück.264 Nach der Vereinigung zu ICI konzentrierte sich das Unternehmen auf
chemische Grundstoffe, einschließlich Bleichpulver, synthetisches Ammoniak und Explo-
sivstoffe, in der Erwartung, dass die Nachfrage in Großbritannien und im Empire wachsen
würde. Andere Länder, z.B. Deutschland, hatten hier auch investiert, sodass auch mit IG
Farben ein Abkommen über die Aufteilung der Märkte abgeschlossen werden musste.265
Erst die Kooperation mit Wissenschaftlern von Oxford, Cambridge und London er-
brachte 1933 und 1935 neue kommerzielle Entwicklungen, z.B. synthetisches Gummi,
synthetische Harze und Lacke, Waschpulver, Pestizide und pharmazeutische Produkte, aber
auch Farbstoffe. 1935 erfand ein Chemiker der Alkaligruppe die Basis für Polymere und
Polyäthylen.266 1929 kam es zwischen ICI und der US-Firma Du Pont zu einer Patent- und
Prozessübereinkunft, in der unter anderem exklusive Territorien der Welt für jede Firma
festlegt wurden. Das britische Empire wurde für ICI reserviert, Nord- und Südamerika,
außer Kanada, für Du Pont. ICI blieb also bei den Exporten auf das Empire ausgerichtet,
weder nach Europa noch nach Amerika wurden Waren exportiert. Dabei blieb der Markt in
Großbritannien für ICI der wichtigste. Durch Nobel’s Industries gab es auch Betriebe in
Australien, Südafrika und Kanada. Diese Unternehmen stellten zunehmend auch andere
Produkte her. Zum Zeitpunkt dieses Abkommens hatten Carothers und Hill bereits per
Zufall die Verbindung gefunden, die sieben Jahre später unter dem Namen „Nylon“ Pro-
duktionsreife erlangte. Auch die deutsche Chemieindustrie hatte sich schon der Herstellung
neuer Produkte wie synthetischem Gummi, Plastik und Garnen zugewandt. Immerhin
schaffte es ICI, mit Polythenen 1939 zum größten Produzenten von Plastik zu werden.267
Die Stellung als Kriegslieferant tat ein Übriges.268
Im Jahre 1948 gab es ungefähr 248 Chemiefirmen, allerdings beschäftigten nur sechs
63,9% der Arbeitskräfte. Internationale Vergleiche deuten auf eine wachsende Disparität im

262
Grant u.a. 1988, S. 26.
263
Chandler 2005, S. 127.
264
Aftalion 2001, S. 140f.
265
Chandler 2005, S. 337.
266
Ebenda, S. 128f.
267
Aubel u.a. 2002, S. 213, 337.
268
Grant u.a. 1988, S. 38.
118 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Hinblick auf Produktivität und Wachstum zwischen den Unternehmen in Großbritannien


und ihren wichtigsten internationalen Konkurrenten hin: Der Industriezweig war durch
niedrige Produktivität und niedrige Löhne gekennzeichnet. Der führende Sektor war immer
noch die Herstellung von Farben und der zu ihrer Produktion erforderlichen Substanzen.
ICI produzierte zu 66% für Farben und zu 30% für Plastik.269 Synthetische Garne waren das
natürliche Forschungsziel, allerdings wurde ICI hier durch die Verbindung mit einem wich-
tigen Kunden gehemmt:270 Courtaulds war der dominante Produzent von Rayon271 und ein
großer Käufer von Chemikalien aus der ICI-Produktion zur Herstellung dieser Garne. Diese
Firma hatte mit der Produktion der ersten Viskose-Fäden in Coventry begonnen, wobei
manche Quellen dabei das Ende des 19. Jahrhunderts,272 andere die Jahre unmittelbar vor
dem Ersten Weltkrieg als Beginn nennen.273 Diese Fasern wurden aber bald auch in den
USA, Frankreich, Deutschland und Italien hergestellt. Courtaulds konnte neben ICI als
Mitfinanzier von British Nylon Spinners gewonnen werden, wobei jeder die Hälfte des
Kapitals beisteuerte.274 Dagegen wurden andere Produkte in der Herstellung zurückgestellt,
z.B. Plastik. Es kam zu einer Absprache zwischen ICI, Du Pont und Courtaulds, wobei jede
Gesellschaft den Bereich der anderen achten wollte.
Jedoch begann ICI während des Krieges doch, seine Forschungen in der Faserherstel-
lung zu intensivieren. Denn ICI fehlte es nach wie vor an Produkten, die einen neuen und
differenzierten Markt hätten bedienen können. Bis 1939 wurde nur ein einziges Polymer-
Produkt entwickelt, das im Flugzeugbau Verwendung fand. Polyäthylen wurde ab 1940
produziert und dank der Übereinkunft mit Du Pont dann ab 1949 auch Nylon. Dies gestatte-
te ICI, in den Polymerisationsbereich und die Petrochemie vorzudringen.
In den frühen 1950er Jahren hatte ICI schließlich eine konkurrenzfähige Fabrik mit ei-
genen Polyesterprodukten, z.B. Terylene,275 die Grundlage für die Herstellung von Trevira
wurden. Insofern trat ICI vor den europäischen Konkurrenten in den Markt für Polymere
ein, war also an der Spitze der petrochemischen Revolution. Aber dies führte nicht dazu,
dass neue Fasern und Filmprodukte entwickelt wurden wie beispielsweise von Du Pont und
Hoechst. In den 1960er Jahren entwickelte sich das Unternehmen eher zurück. Allerdings
gab es auch Zukäufe, so 1970 Atlas Chemicals, u.a. Hersteller von Farben und anderen
Ausrüstungen für Textilien, und Zusammenarbeit mit anderen Firmen der Polyester- und
Nylonherstellung. Einige neue Fabriken für spezielle Produkte wurden auf dem europä-
ischen Kontinent verwirklicht.276 Ein wichtiger Anbieter war die Firma bei der Ammoniak-
und Methanolherstellung. Dies gilt auch für Produkte zur Bekämpfung von Pilzen und
Insekten. Weiterhin wurde ICI eines von Großbritanniens wichtigsten Pharmaunterneh-
men.277
Insgesamt können die Jahre 1945 bis 1970 als goldenes Zeitalter der chemischen In-
dustrie gesehen werden. Auch neue Konkurrenten konnten der britischen Stellung nichts
269
Ebenda, S. 40f.
270
Aftalion 2001, S. 229.
271
Dabei handelt es sich um Zellulosekunstseide, die nach speziellen Verfahren aus Baumwolle, aber auch aus
Holz hergestellt werden und je nach Verfahren als Viskose-, Kupfer- und Azetat-Kunstseide bezeichnet werden
(Wagner 1952, S. 4-6).
272
Klare 1985, S. 42.
273
Aftalion 2001, S. 74.
274
Hague 1958, S. 267.
275
Aftalion 2001, S. 272; Hague 1958, S. 263.
276
Aftalion 2001, S. 268, 270, 274.
277
Chandler 2005, S. 129ff.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 119

anhaben. Neu war die Verwendung des Öls anstelle der Kohle als Ausgangsmaterial. Aber
das machte den führenden Industrieunternehmen keine Probleme. Von größerer Bedeutung
war da schon, dass die Ölraffinerien Ende der 1940er Jahre dazu übergingen, selber in die
Märkte der Chemieunternehmen vorzustoßen. Dank der Größe der Märkte konnte auch das
zunächst verkraftet werden.278 Die Distillers Company Ltd. (DCL) war bereits seit den
1920er Jahren ein Mitkonkurrent von ICI bei der Herstellung von Produkten aus Äthylal-
kohol gewesen, der in Großbritannien besonders wenig besteuert wurde.279 Die DCL ver-
band sich 1947 mit der Anglo-Iranian Oil Company, der späteren BP, und gründete BP
Chemicals Ltd. auf einer 50 zu 50 Basis. Die neue Gesellschaft begann in Schottland Äthy-
len und Propylen zu produzieren.
In der selben Zeit ist ICI in die Verarbeitung von Öl eingestiegen. Um sich unabhängi-
ger von den Ölgesellschaften zu machen, investierte ICI in die Erforschung und Förderung
von Nordseeöl in Kooperation mit verschiedenen Ölförderern. Gas- und Ölfelder in den
USA und sonstwo wurden erworben, um sich den Grundstoff für viele chemische Produkte
zu sichern. Die Firma Petro Chemicals Ltd. wurde 1955 von Shell Chemicals gekauft, eine
andere Firma von BP Chemicals übernommen. Auch Courtaulds sicherte sich eine Firma
für die Rohölweiterverarbeitung. Bis 1981 war noch Esso Chemicals hinzugekommen. Das
Unternehmen war insbesondere im Markt für Plastik führend.
Die 1970er Jahre waren durch die heraufkommende Rezession und den Rückgang der
Investitionen gekennzeichnet. Im Vergleich zu den Amerikanern war ICI international
schwach und technologisch konservativ. Dies galt auch für die Organisation, was zu einer
Anzahl von Umstrukturierungen mit spezifischen Verantwortlichkeiten einzelner Teilberei-
che führte. Diese wurden animiert, in größere Betriebsgebäude zu investieren. Auch die
Internationalisierung wurde vorangetrieben. Investitionen fanden in Brüssel und in den
Niederlanden statt. Aber der eigentliche Einstieg in den europäischen Markt gelang nicht.
Wie die anderen britischen Industriezweige, konnte auch die Chemieindustrie nicht an der
innereuropäischen Expansion der Nachfrage partizipieren.
Hinzu kamen einige unproduktive Investitionen im Textilsektor. Manche neuen Be-
triebsgebäude konnten ihre Produktion nicht aufnehmen. Insgesamt machte ICI eher den
Eindruck eines großen Schiffes, das führungslos herumdümpelte. ICI war noch dominiert
durch seine traditionell wichtigen chemischen Operationen. Aber zu einem Problembereich
entwickelte sich bereits derjenige, der noch in den 1960er Jahren für hohe Profite gesorgt
hatte, nämlich die synthetischen Garne. Denn nun hatte sich die Mode wieder den Naturfa-
sern zugewandt.280 Gleichzeitig setzte ein Trend zur Spezialisierung ein. Die Unternehmen
mussten abklären, wo ihre Stärken lagen. Zudem war auch in diesem Bereich eine Interna-
tionalisierung notwendig.
Als ICI in diese Richtung gehen wollte, erwies sich die Rezession 1980-81 als Restrik-
tion. Die größten Verlustmacher waren Petrochemikalien, Plastikwaren und Garne.281 Bis
1983 wurden bei ICI 22.000 Arbeitnehmer entlassen. Die ersten petrochemischen Produkte
kamen aus Saudi-Arabien und der Golfregion. ICI versuchte, durch Umstrukturierung die
Verantwortung für einzelne Bereiche zu verbessern. Die Produkte wurden in Richtung
höherer Qualität ausgerichtet, die Produktpalette strategisch reduziert. ICI konzentrierte

278
Owen 1999, S. 340-342, 399.
279
Aftalion 2001, S. 180.
280
Ebenda, S. 345f., 348.
281
Chandler 2005, S. 131.
120 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

sich wieder auf die Technologien, die in den 1920er, 1940er und 1950er Jahren die Wesent-
lichen waren.282 Auch Courtaulds musste sich neu ausrichten. Das Unternehmen trennte
sich von Polyester und Nylon, um sich auf Acryl und Zellulosefasern zu konzentrieren. In
den 1990er Jahren konnte ICI Unilever akquirieren mit dem Schwerpunkt auf Konsumen-
tenprodukte. Polyesterfasern und Filme gingen an Du Pont. Insgesamt hatte sich die Che-
mieindustrie besser im Markt gehalten als die anderen Branchen des sekundären Sektors.
Sie war die einzige Industrie, die zwischen 1979 und 1985 einen Überschuss in Geld er-
wirtschaftete 283 und 1988 in Großbritannien die drittgrößte Industrie „in value-added
terms“.284
Nach Owen haben sich die Probleme auch dadurch ergeben, dass Großbritannien erst
spät in die EG eintrat.285 Im Falle der chemischen Industrie waren nicht die organisierten
Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften diejenigen, die Entwicklungen verschleppt oder
vorübergehend unmöglich gemacht hatten. In den 1960er und 1970er Jahren gab es kaum
Streiks. Die Chemieindustrie hatte eine viel geringere Prozentzahl an gut ausgebildeten
Arbeitnehmern, 1981 waren etwa 30% ungelernt. Zudem gab es in der chemischen Indus-
trie größere Personalwechsel als z.B. in der Kohleproduktion. Auch das Problem der vielen
Gewerkschaften innerhalb eines Industriezweiges war hier nicht gegeben. Es existierten
zwei große Gewerkschaften, die Transport & General Workers’ Union (TGWU) und die
General Municipal, Boilermakers’ and Allied Trades’ Union (GMBATU). Die Chemiein-
dustrie hatte nicht an der sehr schnell wachsenden Gewerkschaftsbewegung in den 1890er
und frühen Jahren des 20. Jahrhunderts teilgenommen. Einen kurzen Aufschwung gab es
im Ersten Weltkrieg, dem aber in der Depression wieder ein Abstieg folgte. Die Organisati-
on der White-Collar-Beschäftigten blieb gering. Die Gewerkschaften spielten keine wichti-
ge Rolle.286 Allerdings hatte auch ICI mit dem Problem zu kämpfen, dass die Zahl der Ar-
beitnehmer in einzelnen Teilbereichen zu hoch war und in den 1980er Jahren dafür gesorgt
werden musste, dass diese Überbesetzung reduziert wurde.
Das im 19. Jahrhundert festgestellte Forschungsdefizit und der Vorsprung Deutsch-
lands in diesem Bereich konnte nach Einschätzungen einzelner Beobachter seit dem frühen
20. Jahrhundert bearbeitet werden und war nach dem Zweiten Weltkrieg kein Problem
mehr. Dies hatte auch damit zu tun, dass das deutsche Bildungssystem inzwischen quali-
tätsmäßig nachgelassen hatte. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Zugang zu Kapital ein
Problem war. Im Gegenteil scheinen die neuartigen Anforderungen des Kapitalmarkts ICI
dazu gezwungen zu haben, sich auf profitable Aktivitäten zu konzentrieren.287
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ausbildung von Chemikern und damit
auch die Qualifikation von Managern dieses Industriesektors im Vergleich zu anderen eu-
ropäischen Staaten über Jahrzehnte mangelhaft war. Erst in den 1930er Jahren wurde die
Kooperation mit Universitäten intensiviert. Der Aufbau der Chemieindustrie erfolgte im
Wesentlichen durch Unternehmer, die das Know-how nach England importierten. So hinkte
die Entwicklung in allen wichtigen Produktionszweigen der Chemieindustrie hinter anderen
Ländern her; bei den Farbstoffen war Deutschland führend, bei den Kunstfasern die USA.
Die Regierung hat den Zusammenschluss wichtiger Produzenten unterstützt. Das Ergebnis
282
Grant u.a. 1988, S. 133, 219.
283
Aftalion 2001, S. 7f., 323, 383.
284
Grant u.a. 1988, S. 4.
285
Owen 1999, S. 352-356.
286
Ebenda, S. 140f., 171ff.
287
Ebenda, S. 358f.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 121

waren aber im Vergleich zu Deutschland kleine Einheiten. Die britischen Unternehmen


gehören nicht zu den führenden auf dem Weltmarkt.288 Zwischen den wichtigsten Unter-
nehmen der Welt konnten Absprachen über Märkte erreicht werden, wobei ICI sich auf das
Empire konzentrierte. Der europäische Markt blieb verschlossen. Als sich die Chemiein-
dustrie in Großbritannien auf die Herstellung von Kunstfasern konzentrierte, ging die Nach-
frage nach synthetischen Garnen schon bald zurück, sodass dieser Geschäftszweig eher
Probleme schuf, viele Investitionen in diesem Bereich unproduktiv waren. Die Schwierig-
keiten in der Chemieindustrie wurden eindeutig durch das Management verursacht. Die
Manager hatten keine Fachausbildung im Chemiesektor, die Betriebe waren organisatorisch
konservativ. Gewerkschaften spielten in diesem Industriezweig keine besondere Rolle, da
ein hoher Anteil von ungelernten Kräften und größere Personalfluktuation die Etablierung
starker Gewerkschaften verhinderten.

c) Elektroindustrie

Die Elektroindustrie hat viele Facetten. Es geht um die Nutzung eines sekundären Energie-
trägers (im Unterschied zu Kohle, Öl und Erdgas), nachdem dieser, also die elektrische
Energie (Elektrizität), erzeugt wurde. Es werden also die Erzeugung, Umwandlung, Vertei-
lung und die Anwendung der Elektrizität diesem Industriezweig zugeordnet. Im Einzelnen
gehören dazu Kraftwerke, Anlagen, die den Strom verteilen, solche, die die Elektrizität
nutzen, z.B. für den Antrieb von Motoren in der Industrie oder im Privathaushalt, sowie in
der Nachrichtentechnik.289 Die wesentlichen Merkmale von Elektrizität sind, dass ihre
Herstellung extrem kapitalintensiv ist und dass sie nicht gelagert werden kann. Dies verur-
sacht Probleme, weil die Nachfrage sehr stark schwankt, z.B. nach Jahreszeiten und Tages-
zeiten.
Die Elektrotechnik gelangte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu größerer Bedeu-
tung, nachdem es gelungen war, Dynamomaschinen als Stromerzeuger zu bauen. „In der
Stromanwendung wurde nach der Telegrafie290 (seit Mitte des 19. Jahrhunderts) mit Beginn
der 1880er Jahre zunächst die Beleuchtungstechnik bedeutsam.“291 In Großbritannien haben
private Unternehmer die Installation der Telegrafie vorangetrieben. Im Jahre 1848 gab es
1.800 Meilen entlang der Schienenwege, 1868 waren es bereits 80.000 Meilen. Die Kom-
munikationsbedürfnisse der Eisenbahn erwiesen sich dabei als förderlich. Allerdings gab es
auch um 1880 schon private Nutzer. Die Kosten konnten sich jedoch nur die wenigsten
Bürger leisten. Der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison war ursprünglich in der
Herstellung von Instrumenten für die Telegrafie in Newark, New Jersey, engagiert. Er ent-
wickelte die Telegraphie bis zum Telefon weiter. Dann wandte er sich jedoch ab 1877 dem
elektrischen Licht zu. 1878 erfand Edison in den USA erstmals ein Verfahren, Gasbeleuch-
tung durch Elektrizität zu ersetzen. Dieses Verfahren wurde 1881 in einer Kleinstadt in
Großbritannien übernommen. In Großbritannien hatte sich die Firma Swan United Electric
Light Company Ltd. 1882 registrieren lassen und stieß damit auf den Konkurrenten Edison
Electric Light Company Ltd.. Dieses Unternehmen war nur zwei Monate früher gegründet
worden. Edison hatte 1879 in Großbritannien sein Patent angemeldet. Da die Firma Swan

288
FAZ vom 30.4.2007.
289
Vgl. Huppert 1961, S. 189, 193.
290
Die Elektronenindustrie entwickelte sich auf dieser Grundlage (Wilson 1958, S. 130ff).
291
Ebenda, S. 190.
122 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

größer war, lehnte Edison einen Zusammenschluss mit dem dominanten Partner ab. Eine
Vereinigung kam dann schließlich aber doch noch zustande, nachdem das Unternehmen
Edison Electric Light Company genannt wurde. 1882 eröffnete die erste Anlage zur Elek-
trizitätsgewinnung in London, die die Straßenbeleuchtung bedienen sollte. Zur gleichen Zeit
begann auf Initiative von Robert Hammond die Nutzung der Elektrizität in Brighton.292
Bei der Herstellung von Generatoren waren die Deutschen führend. Die Firma Sie-
mens & Halske hatte bereits Generatoren für die Telegrafie entwickelt. Die ersten Genera-
toren waren aber insbesondere für den Antrieb von Maschinen gedacht und nicht für Be-
leuchtungszwecke. In Großbritannien wurde Siemens 1881 aktiv. Das Werk Siemens Bro-
thers Dynamo Works eröffnete in Stafford im Jahre 1904.293 Die brauchbaren Generatoren
führten dazu, dass sich die Beleuchtung mit Elektrizität ausbreiten konnte.
Im späten 19. Jahrhundert begann dann der Kampf um die bestmögliche Verteilung
von Elektrizität. Der ehemalige Anbieter von Petroleum, Callender, sattelte mit seinem
Familienunternehmen auf die Kabelherstellung um und wurde bald der wichtigste Anbieter
auch im Verlegen von Kabeln. Ein Konkurrent (Atherton) gründete ebenfalls eine Firma,
die British Insulated Wire Company (BI), und der Italiener Ferranti stellte mit ihm Kabel
für Londoner Generatoren her. BI und Callender’s waren in fast alle wichtigen Kabelpro-
jekte in Großbritannien nach 1900 involviert. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
schlossen sich die beiden Unternehmen zusammen und waren fortan auf der ganzen Welt
engagiert.294
Die Verwendung des Elektromotors für die Fortbewegung erfolgte sehr viel langsa-
mer.295 Zwar hatte Siemens bereits 1879 auf einer Berliner Ausstellung eine elektrische
Lokomotive vorgestellt, die allerdings eher für die Bergwerke konstruiert war und tatsäch-
lich 1882 in Sachsen eingesetzt wurde.296 Dann wurden die Straßenbahnen entwickelt.
Führend auf diesem Gebiet war Balfour Beatty & Company Limited. Die ersten Straßen-
bahnen fuhren bereits vor dem Ersten Weltkrieg.297 Die Beleuchtung der Londoner U-Bahn
ab 1904 wurde dagegen von BI und Callender installiert.298 An der Entwicklung der Elek-
troindustrie in Großbritannien war maßgebend Daniel Nicol Dunlop beteiligt, der – in
Schottland geboren – zunächst für die amerikanische Westinghouse Electrical Company
arbeitete. Er half 1911 die British Electrical and Allied Manufacturers’ Association (BEA-
MA) in London zu gründen und wurde schließlich deren Direktor.
Ein Beispiel für die Zusammenhänge zwischen Elektrizitätswirtschaft und Folgein-
dustrien ist auch die Elektronik. Hierzu wurden bahnbrechende Erfindungen in England
gemacht, z.B. 1908 schon zu den wichtigsten Prinzipien des Fernsehens. Dies galt auch für
die ersten bewegten Bilder beim Fernsehen (1926). Großbritannien war auch führend in
anderen Innovationen bei Radio und Radar. Die britische Elektronikindustrie hat also We-
sentliches zu der neuen technischen Entwicklung in den 1930er Jahren beigetragen. Aller-
dings waren die US-Amerikaner rasch genauso weit299 und verglichen mit den USA geriet

292
Bowers 1982, S. 34f., 40, 95, 121ff., 140.
293
Ebenda, S. 90f.
294
http://www.answers.com/topic/balfour-beatty-plc
295
S.d. oben, Unterabschnitt 2 d (Eisenbahnen).
296
Bowers 1982, S. 91.
297
Diese Firma war aber nachher als Betreiber von Kraftwerken aktiv.
298
http://www.answers.com/topic/balfour-beatty-plc; zur Entwicklung der Straßenbahnen s.a. Bowers 1982, S.
158, 230.
299
Wilson 1958, S. 135ff.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 123

Großbritannien bald ins Hintertreffen. Als eine Ursache wird die viel höhere Produktivität
der Arbeitnehmer in den USA genannt.300 Das bedeutete, dass die Branche in den USA
einen erheblichen Vorsprung herausarbeiten konnte und Großbritannien dabei abhängte.
Zudem verließ sich Großbritannien ganz auf den inländischen Markt und versuchte nicht,
auf den ausländischen Märkten zu konkurrieren.301 Nur einzelne Produkte dieses Industrie-
zweigs konnten sich auch im Export behaupten. Im Inland waren sie vom Konsumverhalten
abhängig.302 Eine starke Nachfrage gab es – abgesehen von der Phase des Zweiten Welt-
krieges – seit den 1930er Jahren z.B. beim Radio.303 Während des Krieges wurde die An-
wendung von Radar forciert und in der Nachkriegszeit die Nutzung in Friedenszeiten vor-
angetrieben,304 was zu einer starken Expansion dieser Industrie in der Nachkriegszeit führ-
te.305
Der wichtigste Industriezweig, der als Auslöser des vierten Kondratieff306 gesehen
wird, ist neben der Fernsehproduktion die Computerindustrie sowie in der Folge die Erfin-
dung des World Wide Web. Auch hier war die USA seit den frühen 1970er Jahren interna-
tional führend, während die britische Computerindustrie sich nicht optimal zu entwickeln
schien. Sie litt unter Unterkapitalisierung und dem Zugang zu Märkten. Der Markt wurde
dominiert von fünf großen amerikanischen Unternehmen mit IBM in einer Ausnahmestel-
lung. In Großbritannien gab es einen sechsten Wettbewerber, ITL, der ungefähr ein Drittel
des dortigen Marktes eroberte. ITL war das Ergebnis der 1964-70 von der Labour-
Regierung initiierten Zusammenschlüsse, finanziell unterstützt im Rahmen des „National
Plan“. Die Regierung war zunächst der größte Kunde, erst nachher mussten sich die Pro-
dukte am Markt behaupten.307 Die Gesellschaft schien in den 1970er Jahren ein „National
Champion“ zu sein, der auch in der Lage war, auf dem heimischen Markt mit den amerika-
nischen Anbietern zu konkurrieren. Bis 1979 hielt die Regierung einen Anteil von 25% an
diesem Unternehmen, war aber dann der Meinung, dass sie diesen Anteil verkaufen könne.
Aber das entsprach ja auch den Zielen der Thatcher Regierung. Nur die Herstellung von
Personalcomputern in den 1980er Jahren wird zunächst positiv beurteilt.308
Kritiker merkten an, dass die Aufmerksamkeit eher den Mikrochips und der Mikro-
prozessorenproduktion sowie kleineren Firmen hätte zugewandt werden müssen,309 denn
die Mikroelektronik erwies sich als besondere Wachstumsbranche. Auch in England gab es
seit den 1960er Jahren Forschungen, die einen Entwicklungsvorsprung in der Welt signali-
sierten. Jedoch hinkte auch hier die Anwendung in Großbritannien zurück. Die automati-
sierte Mini Metro Fabrik in Longbridge nutzte Roboter, die nicht in Großbritannien herges-
tellt waren.
Seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Elektrizität zur günstigen Energiequelle in al-
len Bereichen der Wirtschaft entwickelt. Dies war besonders seit den 1930er Jahren der

300
Dies wird auch für die traditionell führenden britischen Industrien des 19. Jahrhunderts zu dessen Ende festges-
tellt (Clark 1933, S. 245f.) und dies trifft auch für die 1970er Jahre zu (Brittan 1981, S. 324).
301
Ebenda, S. 158, 174.
302
Marwick 2003, S. 161.
303
S. Wilson 1958, S. 138.
304
Ebenda, S. 144.
305
Ebenda, S. 177.
306
Als Basisinnovationen für den vierten Kondratieff gelten das Fernsehen und der Computer (Nefiodow 1997, S.
4ff.).
307
Wilks 1983, S. 148.
308
Marwick 2003, S. 216, 266.
309
Ebenda 1983, S. 149.
124 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Fall. Das Wachstum betraf vor allem die Kraftwerke. Aber auch die Stromverteiler standen
vor neuen Herausforderungen. Geliefert wurde zunächst Elektrizität für Maschinen ver-
schiedener Industrien und später – insbesondere in den 1950er Jahren – für private Haushal-
te. Die Fragmentierung der Elektrizitätsversorgung war bereits nach dem Ersten Weltkrieg
als Problem erkannt worden. So beschloss die britische Regierung, die Organisation der
Elektrizitätsversorgung stärker zu zentralisieren. Dies hatte auch mit den Entwicklungen
während des Krieges zu tun, in dem die Kontrolle der Elektrizitätsversorgung vorange-
schritten war. Es war Konsens, dass ein unabhängiges Board zuständig sein sollte, das mit
einem Gesetz von 1919 eingerichtet wurde. In der Folge gab es dann die Joint Electricity
Authorities, die Kooperationen anregen sollten. Bis zum Zeitpunkt der Verstaatlichung
waren die Erfolge der Authorities nicht besonders groß.310
Mit der Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft (Erzeugung und Verteilung von
Elektrizität) nach 1945 löste die Labour Party ein Wahlversprechen ein. Allerdings bestand
ein breiter Konsens zwischen allen Parteien, dass dieser Wirtschaftszweig stark vom Staat
kontrolliert sein müsse, sodass die Nationalisierung durch die Labour Party auf wenig Wi-
derstand stieß.311 Als 1947 die Verstaatlichung vorgenommen wurde, gab es 560 Produzen-
ten, von denen ein Drittel Private waren.312 Die verstaatlichte Elektrizitätsversorgung wurde
als schottische und englisch-walisische Staatsgesellschaft organisiert. Beide übernahmen
jeweils alle Aufgaben der Elektrizitätswirtschaft von der Stromerzeugung bis zur Lieferung
der Elektrizität an den Endverbraucher. Produktion und Verteilung wurden zunächst durch
die British Electricity Authority (BEA) kontrolliert, die 1957 in das Central Electricity
Generating Board (CEGB) überging. Dieses belieferte 12 Area Boards für die Verteilung
des Stroms. Die Verstaatlichung bedeutete, dass bisherige Unternehmen gegen Entschädi-
gung enteignet wurden.313 Die Unternehmer, die sich bereits in diesem Markt etabliert hat-
ten, mussten ihre Aktivitäten in andere Bereiche verlagern, u.a. in die Dritte Welt. Insbe-
sondere die Verlegung von Kabeln wurde ein wichtiges Geschäft. Auch die Konservativen
Regierungen stellten aus sozialpolitischen Gründen, z.B. der Sicherung von Arbeitsplätzen,
die staatlichen Betriebe nicht in Frage.314 Da die Nachfrage nach Elektrizität stieg, auch als
Folge des steigenden Lebensstandards der Bevölkerung in den 1950er Jahren,315 arbeitete
die Elektrizitätswirtschaft bis in die 1960er Jahre gewinnbringend.316
Bis in die 1940er Jahre wurde Kohle zur Herstellung von Elektrizität benutzt, dann
begannen Öl und Gas mit der Kohle zu konkurrieren. In den 1950er Jahren wurden die
ersten Versuche mit Atomenergie gemacht. Aber bald waren die Kraftwerke nicht mehr in
der Lage, den Ausgangsenergieträger für die Herstellung der Elektrizität nach ökonomi-
schen Gesichtspunkten auszuwählen. Seit den 1960er Jahren gab es von Seiten der öffentli-
chen Hand eine Präferenz für die Verwendung von Kohle. Damit wollte die Regierung die
Kohleförderung abfedern. Die Elektrizitätswirtschaft hätte einen anderen Mix gewählt.
Daher flossen verschiedene Subventionen an das Central Electricity Generating Board
(CEGB). Das Electricity Board wurde auch oft angehalten, Vorräte anzulegen, um die Koh-
le zu stützen. Jedenfalls war die Verwendung der Ausgangsmaterialien im Jahre 1967/68

310
Bowers 1982, S. 161.
311
Abromeit 1986, S. 46f.
312
Sturm 1996, S. 60.
313
Ebenda, S. 60f.
314
Ebenda, S. 61.
315
Tabelle für Quantifizierung bei Redwood 1980, S. 65; s.a. Marwick 2003, S. 161.
316
Redwood/ Hatch 1982, S. 11.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 125

nicht viel anders als die im Jahre 1978/79.317 Zukunftsweisender wäre die Nutzung der
Kernkraft für die Elektrizitätsherstellung gewesen,318 allerdings war die Regierung um 1980
herum noch unentschieden.319 Jedenfalls arbeiteten die Kraftwerke um 1978/79 wenig effi-
zient und spätestens seit Mitte der 1970er Jahre wurde über den Bau neuer Kraftwerke
nachgedacht. Die neuen sollten dann vor allem die Versorgung sichern, die alten nur noch
in Spitzenzeiten zugeschaltet werden. Gleichzeitig wurde eine effizientere Nutzung von
Arbeitskräften angestrebt. Von 1968 bis 1979 konnten ca. 60.000 Arbeitkräfte abgebaut
werden. Das technische und wissenschaftliche Personal war davon nicht betroffen. Auch
der Verwaltungsbereich blieb mit 45.000 Beschäftigten sehr groß.320 Als problematisch
wurden auch die Interventionen der Regierung eingeschätzt. Redwood sieht darin die Ursa-
che für Überkapazitäten.321
Als in den Jahren 1979/80 und 1982/83 die Nachfrage nach Kohle durch die Kraftwer-
ke zurückging, war das für die Kohlebergbau sehr schmerzhaft. Schließlich wurden zu
diesem Zeitpunkt 70% der Kohle an die Kraftwerke verkauft.322 Die Privatisierung der
Elektrizitätswirtschaft war daher für die Kohleindustrie Großbritanniens ein wichtiger Ein-
schnitt. Der Prozess der Privatisierung durch die Regierung Thatcher begann im Jahre
1987, also relativ spät. Vorher hatte es bereits durch den Energy Act von 1983 die Aufhe-
bung der Monopolstellung des CEGB gegeben, die dies aber durch entsprechende Preise so
abfangen konnte, dass andere Konkurrenten im Markt kaum Aussicht auf Gewinn hatten.323
Die zwölf Area Electricity Boards sowie ihre Nachfolger, die Regional Electricity Compa-
nies (RECs), blieben als ortsnahes Verteilungssystem und für kleinere Nachfrage zuständig.
Sie wurden ab 1995 zwangsweise börsennotiert. Darüber hinaus wurden zunächst drei grö-
ßere Gesellschaften gegründet.324 Als Problem erwiesen sich die Kernkraftwerke, für die
kaum Käuferinteresse bestand. 1989 entschied die Regierung, alle Kernkraftwerke im
Staatsbesitz zu behalten. Die regionalen Versorger waren für die Erzeugung verpflichtet
worden, einen bestimmten Anteil ihres Strombedarfs von Kernkraftwerken zu beziehen.325
Die Regierung Thatcher wollte mit dem Ausbau der Kernenergie natürlich auch die
Macht der Bergarbeitergewerkschaft schwächen.326 So lobbyierte die Kohleindustrie für die
Abnahme von Kohle. Aber die Regierung war nicht bereit, die Kohleindustrie weiter zu
stützen, weil sie befürchtete, dass dadurch die Restrukturierung in Gefahr geraten könnte,
vereitelt von noch dominanten älteren Bergingenieuren.327 Frau Thatcher sah die Privatisie-
rung dann auch eher als einen kommerziellen Druck auf die Kohleindustrie. Als Thatcher
1990 die Macht verlor, nahmen allerdings die Kraftwerke noch genauso viel Kohle ab wie
1978/79. Aber auch die Regierung Major machte keinerlei Anstalten, die Kohleindustrie zu
schützen. Im Gegenteil gab es Tendenzen, mehr Gas zu verfeuern. Tatsächlich wurde um
2004 30% der Elektrizität aus Gas hergestellt und die Nutzung von Kohle ging auf 44%
zurück. Ursache war, dass nach Liberalisierung des Gasmarktes mehr Naturgas zu Verfü-
317
Redwood 1980, S. 68f.
318
Standorte s. Marwick 2003, S. 162.
319
Ebenda, S. 70.
320
Redwood 1980, S. 72.
321
Ebenda, S. 74f.
322
Parker 2000, S. 28.
323
Sturm 1996, S. 67.
324
Newberg 2005, S. 44, 45; Volz 2006, S. 83-86.
325
Sturm 1996, S. 69.
326
Ebenda, S. 67.
327
Parker 2000, S. 85.
126 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

gung stand. In der Folge wurden neue gasbetriebene Elektrizitätswerke gebaut.328 Die Pri-
vatisierung im Jahre 1994 führte unverzüglich zu erheblich reduzierter Abnahme von Koh-
le. Die entsprechende Erwartung hatte vorsorglich zu einem Vertrag zwischen British Coal
und den Kraftwerken geführt, der allerdings nur bis 1993 lief.329 So kam es im Jahre
1992/93 zur politischen „Kohlenkrise“. Die Regierung Major musste zeitweise einlenken
und war intensiv eingebunden in weitere Verträge mit British Coal.330
Noch immer wird viel Energie durch Kohlekraftwerke erzeugt, was erhebliche Um-
weltbelastungen mit sich bringt. Die Herstellung aus Gas ist bei Rückgang eigener Vorräte
mit Abhängigkeiten aus dem Ausland verbunden. Daher setzt auch Labour auf den privat-
wirtschaftlichen Ausbau von Kernenergie. Gleichzeitig wird die Gewinnung von Energie
durch Offshore-Windkraftanlagen vorangetrieben. Bei den Liberalisierungszielen der EU
gilt Großbritannien als Vorreiter, da seit Anfang der 1990er Jahre Erzeugung, Verteilung
(Netzbetrieb) und Verkauf (Versorger) von Energie bereits in verschiedene Hände über-
führt wurden (unbundling). Die Versorger fanden Käufer aus dem europäischen Ausland,
z.B. EdF, Eon und RWE.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Briten sich bei der Elektrizität (Erzeugung
und Nutzung) zunächst überwiegend auf ausländische Erfindungen und Unternehmungen
stützen mußten, aber frühzeitig das Potenzial erkannten und ihm zum Durchbruch verhal-
fen. Ihre eigenen Erfindungen (Fernsehen, Radio und Radar) konnten sie dagegen weniger
schnell für die kommerzielle Produktion nutzen. Diese Konsumgüter spielten insgesamt
international keine besondere Rolle. Dies gilt auch für den seit den 1970er Jahre wichtigen
IT-Bereich, der sich nur durch öffentliche Aufträge zum nationalen Champion entwickeln
konnte.
Die Fragmentierung der Elektrizitätsproduktion wurde bereits nach dem Ersten Welt-
krieg als Problem erkannt. Die vom Staat angeregten Kooperationen kamen allerdings
kaum zustande. Für die Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft durch die Labour-
Regierung gab es daher einen breiten Konsens. Da die Nachfrage nach Elektrizität bis in die
1960er Jahre stieg, arbeitete der Wirtschaftszweig bis dahin gewinnbringend. Probleme
begannen, als die öffentliche Hand die Kohle bei der Elektrizitätserzeugung förderte. Erst
durch die Regierung Thatcher verlor die Kohle ihre Vorrangstellung. Zunächst wurden
Versorger verpflichtet, auch Elektrizität aus Kernkraft abzunehmen, unter ihrem Nachfolger
wurde immer häufiger Gas zur Elektrizitätsgewinnung verwendet.

328
Parker 2000, S. 209.
329
Gilland 1996, S. 243.
330
Ebenda, S. 243, 248.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 127

Tabelle 8: Indices für Produktionszweige (1980=100)


1976 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986
Coal export and
solid fuels manufac- 100,9 97,0 97,0 100,0 97,5 93,4 89,6 32,9 66,5 79,0
ture
Oil and gas extracts 16,2 68,9 98,7 100,0 110,3 125,6 137,6 147,1 150,3 153,0
Iron and steel 151,0 155,0 165,4 100,0 120,5 114,9 119,2 104,3 126,0 136,3
Basic chemicals 106,5 107,7 11,3 100,0 98,4 95,2 106,1 115,8 118,8 114,8
Pharmaceuticals 97,2 104,7 103,9 100,0 102,5 107,8 114,5 118,5 127,3 136,6
Machine tools and
112,6 112,4 106,4 100,0 72,8 68,5 64,6 72,4 81,2 79,0
engineers’ tools
Computers and
58,6 77,8 93,4 100,0 86,3 95,8 144,7 207,2 270,6 247,8
office machines
Telecommunications
79,1 85,7 93,8 100,0 100,9 105,6 110,5 121,0 123,8 123,8
equipment, etc.
Motor vehicles and
126,1 113,8 106,5 100,0 104,2 111,3 100,4 92,3 86,2 76,0
their engines
Woolness and wors-
123,9 124,3 115,6 100,0 90,4 86,0 87,1 89,4 95,1 99,0
teds
Processing of plas-
95,2 106,5 110,6 100,0 94,7 99,0 110,2 121,3 125,1 138,5
tics
Quelle: Marwick 2003, S. 260.

4. Zusammenfassung

In der Zusammenschau der einzelnen Branchen zeigen sich Strukturen der Interaktion zwi-
schen staatlicher Politik und wirtschaftlicher Entwicklung.331 Ausgangspunkt sind in vielen
Branchen kleinteilige Betriebsstrukturen mit einer Vielzahl von Standorten durch unter-
schiedliche Eigentümer (Bergbau, Eisenbahn) und im produzierenden Gewerbe mit gerin-
gen Stückzahlen. Zögerliches Handeln der Eigentümer, des Managements und starke oder
eine Vielzahl von unterschiedlichen Gewerkschaften in einer Branche verlangsamten fast
überall die Überwindung solcher Strukturen, eine Rationalisierung des Betriebsablaufs,
eine angemessene Mechanisierung, die Nutzung neuer Fertigungsverfahren und wissen-
schaftlicher Erkenntnisse, kurzum: die zügige Weiterentwicklung der Massenproduktion.
Nur in der Chemieindustrie wurden die Probleme allein durch das Management (ohne
Fachausbildung) verursacht. Überwiegend ungelernte Arbeitskräfte und größere Personal-
fluktuation verhinderten dort die Etablierung starker Gewerkschaften. Der Zusammen-
schluss zu größeren Einheiten oder von unterschiedlichen Produktionsstufen erfolgte später
als in anderen Ländern. In einer anderen Branche (Elektro) konnten Erfindungen der Briten
(Fernsehen, Radio und Radar) weniger schnell für die Produktion genutzt werden.
Als Massenprodukte in anderen Teilen der Welt billiger hergestellt werden konnten
und neue Alternativgüter (etwa bei Energieträgern, Textilfasern, Transportleistungen) auf-
kamen, wuchs der Handlungsdruck für die britische Industrie. Er wurde jedoch (z. T. be-
reits in den 1920er Jahren) auf Wunsch der Unternehmer durch Abschottung der Märkte
(Schutzzölle) und staatliche Importhilfen, Preisfestsetzungen und Bevorzugung heimischer

331
Da die branchenspezifischen Aspekte bereits zusammengefasst wurden, ist hier nur ein branchenübergreifendes
Zwischenergebnis festzuhalten.
128 C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums

Produkte (Kohle) bearbeitet. Dadurch kam es in vielen Branchen zu einer verspäteten Inte-
gration der britischen Industrie in den Weltmarkt. Vom nationalen Markt ging kein Ratio-
nalisierungsdruck im Hinblick auf Losgrößen, Fertigungsverfahren und Standortkonzentra-
tion aus. Als „Weltmarkt“ wurde viel zu lange nur das Empire (Commonwealth) gesehen.
So konzentrierte sich auch ICI bei Absprachen der wichtigsten Chemieunternehmen der
Welt über Märkte auf das Empire. Der verzögerte Beitritt zum Gemeinsamen Markt in
Europa (1973 statt 1955) ist Ausdruck dieser Orientierung.
Die Maßnahmen der Regierungen, wie auch die verstärkte Nutzung heimischer Kohle
bei der Elektrizitätserzeugung, brachten stets nur vorübergehende Entlastung. Bei Kohle,
Stahl, Eisenbahn und Autos hat auch Verstaatlichung die Strukturprobleme nicht beseitigen
können, sondern deren Lösung eher noch verzögert. Als der Einstieg in Europa erfolgte,
konnte dort ein ausdifferenzierter Markt nicht bedient werden. Viel zu lange hatte die briti-
sche Industrie vom jeweiligen Produktionsprozess und den Rohstoffen, nicht von Verbrau-
cherwünschen und Fertigwaren her gedacht. So konnten keine neuen Märkte erschlossen
werden.
Der geordnete Rückbau einzelner Branchen erwies sich nicht zuletzt wegen der ge-
samtwirtschaftlichen (Devisenbeschaffung, Vollbeschäftigung) und der regionalpolitischen
(dezentrale Betriebsstruktur) Ziele unterschiedlicher Regierungen als schwierig. Die
zwangsläufige Folge einer im Einvernehmen von Unternehmern, Gewerkschaften und Re-
gierungen aufgeschobenen Modernisierung war „schöpferische Zerstörung“, die eine Be-
wahrung von Besitzständen unmöglich machte.
Die Entwicklung neuer Branchen resultiert aus neuen Produkten. Unverzichtbar dafür
sind technische Möglichkeiten (Erfindungen), unternehmerische Initiative und gesellschaft-
licher Bedarf. Eher stillschweigend vorausgesetzt werden auch ein überregionaler Markt
und ein adäquater rechtlicher Rahmen, der rechtzeitig den jeweiligen Herausforderungen
der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt werden muß. Beide Voraussetzungen sind ohne
öffentliche Politik und staatliches Handeln nicht vorstellbar. In den dargestellten Beispielen
wird dies – wenn auch am Rande – durchaus deutlich: Für den PKW-Verkehr musste zu-
nächst der „Red Flag Act“ beseitigt werden, das Grundstückseigentum wurde beim Eisen-
bahnbau und beim Bergbau (es schloß auch noch nicht geförderte Kohle ein) zum Problem.
Der Staat erweist sich in der Phase der stürmischen Entwicklung einer neuen Branche dann
als Hindernis, wenn er die vorhandenen Rahmenbedingungen nicht schnell genug den neu-
en Erfordernissen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung anpaßt. Die Anreize
zum staatlichen Handeln sind vorhanden, denn eine florierende Wirtschaft bringt Steuer-
einnahmen und schafft so erst die Voraussetzung für Sozialpolitik. Werden die Rahmenbe-
dingungen nicht entsprechend beachtet und justiert, wird nach einigen Jahrzehnten des
„laissez faire“ staatliches Handeln beim Auftreten von Krisen regelmäßig zum Träger drin-
gend geforderter Hilfe. Politische Maßnahmen müssen dann Entwicklungsmöglichkeiten
sichern und soziale Kosten auffangen: Arbeitsplätze sollen erhalten bleiben, ortsnahe Ver-
sorgung soll gesichert werden. Meist wird eine Kasse geplündert: manchmal die private im
Interesse öffentlicher Politik, meist die öffentliche im Interesse kurzfristiger privater Vor-
teile. Die Nachhaltigkeit bleibt auf der Strecke.
Die vergleichende Betrachtung der dargestellten Branchenentwicklung zeigt gemein-
same Schwerpunkte für wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen:
ƒ Der Ausbau neuer Wirtschaftszweige folgt den technischen Möglichkeiten und der
Nachfrage nach neuen Produkten ohne staatliche Eingriffe.
C. Branchen als Motoren des Wirtschaftswachstums 129

ƒ Öffentliche Maßnahmen dienten vielfach zur selektiven Stützung der Nachfrage in


einzelnen Branchen (bis hin zu „Erhaltungssubventionen“).
ƒ Verstaatlichung allein kann Nachfragerückgang nicht auffangen, Privatisierung allein
die Modernisierung nicht sichern.
Kernproblem ist eine kontinuierliche Begleitung der Wirtschaftsentwicklung durch öffent-
liche Politik, um die mit „schöpferischer Zerstörung“ verbundenen sozialen Risiken so weit
wie möglich aufzufangen. Während „der Markt“ die sozialen Kosten auf Individuen und
öffentliche Kassen abwälzt, scheinen demokratische Staaten generell dazu zu neigen, die
kurzfristige Krisenvermeidung gegenüber der langfristigen Problemlösung zu betonen. Dies
ist aber vor allem dann der Fall, wenn der Rücksichtnahme auf etablierte gesellschaftliche
Strukturen und ihre Interessenvertreter eine höhere Bedeutung beigemessen wird als zu-
kunftsbezogenen Lösungen, also die Handlungsfähigkeit der politischen Führung durch
politische Arrangements gehemmt wird. Ersteres war in Großbritannien offenbar langfristig
durch Selbstbindung der politischen Akteure, nicht aber durch die institutionellen Struktu-
ren bedingt. Deshalb hätten zukunftsweisende Zumutungen früher eingesetzt werden kön-
nen, z.B. Marktöffnung, Deregulierung bzw. Regulierung, Weiterbildung.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen
Schwierigkeiten

Die langfristige Analyse britischer Wirtschaftspolitik hat gezeigt, dass es vielen britischen
Regierungen nicht gelungen ist, das wirtschaftspolitische Zielsystem des sogenannten „ma-
gischen Vierecks“ zu realisieren. Die Darstellung der Entwicklung in ausgewählten Bran-
chen musste immer wieder darauf hinweisen, dass auch hier ein nachhaltiger Erfolg der
politischen Interventionen ausblieb. Im tatsächlichen Vollzug wirtschaftspolitischer Ent-
scheidungen haben die Regierungen offenbar von den im institutionellen Bezugsrahmen der
britischen Politik angelegten Möglichkeiten zur Durchsetzung einer nachhaltigen Wirt-
schaftspolitik in unzureichendem Maß Gebrauch gemacht. Allerdings ist nach den bisheri-
gen Überlegungen die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass selbst der beachtliche, insti-
tutionell gesicherte Handlungsspielraum der britischen Regierungen – vor allem in der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg – noch nicht ausreichte, um den Anforderungen der Wirt-
schaftspolitik an das politische System zu genügen. Die Entscheidung zwischen diesen
beiden Möglichkeiten soll zunächst zurückgestellt werden. Es bleibt die Tatsache, dass
angemessenes Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Vollbeschäftigung und
Stabilität des Preisniveaus in Großbritannien zwischen 1945 und 1985 nicht erreicht wer-
den konnten.

1. Probleme der britischen Wirtschaftspolitik

Von Preisstabilität kann vor allem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Rede
sein. So stieg beispielsweise der Gesamtindex der Einzelhandelspreise von 100 im Juni
1947 über 162 im Juni 1957 und 216 im Juni 1967 auf 634 im Juni 1977 und 1388 im Juni
1987.1 Im Lichte der beiden letzten Perioden mit Inflationsraten von 220 bzw. 290 % er-
weist sich der Preisauftrieb früherer Jahrzehnte von 33 bzw. 60 % noch als mäßig. Aber
selbst die Erhöhung des Preisniveaus um fast ein Drittel des Standes im Ausgangsjahr
bleibt doch recht beachtlich.2 Unter den (damals) 18 OECD-Ländern hatte Großbritannien
bis 1986 jeweils die höchsten Inflationsraten.3
Die unterschiedliche Entwicklung der Preisniveaus in Großbritannien und anderen In-
dustrieländern trug nicht unwesentlich zu den mehr oder weniger regelmäßigen Pfundkrisen
bei, deren Ursache meist ein Handelsbilanzdefizit war.4 Das daraus resultierende Zahlungs-
bilanzproblem, ein erstes Symptom der latenten britischen Wirtschaftskrise, wurde jeweils
vorübergehend durch internationale Kredithilfen beseitigt (s. Tab. 6). Restriktive Maßnah-

1
Die Zahlenwerte beruhen auf der Umrechnung von sechs verschiedenen Indexreihen der amtlichen Statistik
(Office for National Statistics, RP02, www.statistics.gov.uk) auf eine gemeinsame Basis. Gleichzeitig mit der
Basis änderte sich jeweils die Zusammensetzung der verschiedenen Artikelgruppen. Trotz gewisser statistischer
Bedenken dürfte die Größenordnung der angeführten Indexwerte der tatsächlichen Entwicklung entsprechen.
2
Das zeigt sich vor allem im internationalen Vergleich.
3
Busch 2003, S. 177.
4
Vgl. Maaß 1968, Kap. II.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 131

men zur Verminderung des Handelsbilanzdefizits ließen den Beschäftigungsstand absinken,


sodass wiederum expansive Maßnahmen ergriffen wurden. Der daraus resultierende Stop-
Go-Verlauf der Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien bildet das zweite Symptom der
Krise. Auch die Versuche der 1960er und 1970er Jahre mit neuen Zugriffen (Wirtschafts-
planung, Einkommenspolitik) den Stop-Go-Verlauf zu überwinden, führten nicht zum Er-
folg. Innerhalb der Stop-Go-Zyklen ergaben sich zum Teil dem Durchschnitt anderer Län-
der entsprechende, zum Teil stark unterdurchschnittliche Wachstumsraten (s. Tab. 1). Ins-
gesamt gesehen verlief das Wachstum der britischen Volkswirtschaft relativ langsam. Diese
Tendenz bildet ein drittes Symptom der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens.
Die drei wichtigsten Probleme der britischen Wirtschaftspolitik in vier Jahrzehnten nach
1945 waren also: das langsame Wachstum, der Stop-Go-Verlauf und die Zahlungsbilanz-
schwächen.5

a) Zahlungsbilanzschwächen

Bei der langfristigen Analyse der britischen Wirtschaftspolitik wurde deutlich, dass die
gelegentliche Schwäche des £ Sterling an den Devisenmärkten kein Problem der Nach-
kriegszeit war. Vielmehr bildeten geringe Währungsreserven (und offenbar ein regelmäßig
überhöht festgesetzter Devisenkurs) auch vorher schon eine Ursache permanenter Gefahren
für die britische Wirtschaftspolitik. Vor allem in Anbetracht der Rolle Großbritanniens als
Weltbankier bzw. des £ als Reservewährung der Sterling-Länder war es erforderlich,6 der
internationalen Zahlungsbereitschaft und damit der eigenen Devisenposition eine gewisse
Priorität bei den Entscheidungen über wirtschaftspolitische Maßnahmen einzuräumen.
Dadurch wurde die Bewegungsfreiheit der britischen Regierungen eingeschränkt. Das fand
seinen Niederschlag bereits in der aus der Rückkehr zum Goldstandard (mit der alten Pari-
tät) resultierenden Politik eines relativ hohen Zinsniveaus.7
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschärfte sich das Problem dadurch, dass bei festem
Wechselkurs und steigendem Inlandspreisniveau die Exporte zu teuer und die Importe zu
billig wurden. Weil Währungsreserven, die eine vorübergehende Verschlechterung der
Handelsbilanz hätten auffangen können, nicht zur Verfügung standen, erforderte die aktuel-
le Gefahr eines Zahlungsbilanzdefizits jedes Mal das sofortige Eingreifen der Wirtschafts-
politik. Ein Zahlungsbilanzungleichgewicht in dem Sinne, dass Zahlungsbilanzdefizite den
Regelfall darstellten, lag nicht vor. Allerdings bietet die Tatsache, dass die Bildung ausrei-
chender Währungsreserven nicht gelang, letztlich ein deutliches Zeichen für ein Ungleich-
gewicht der britischen Volkswirtschaft, das auch in der Stop-Go-Politik seinen Ausdruck
fand.

b) Stop-Go-Verlauf

Die Anwendung des Begriffes Stop-Go zur Kennzeichnung eines bestimmten Verlaufs der
wirtschaftlichen Entwicklung der 1950er und 1960er Jahre lässt sich nicht unbedingt auf
die Zeit der Konservativen Regierungen beschränken. Youngson schreibt 1966: „ ... the
Tory party lost the election 1964. But no decisive change in economic circumstances or

5
Day 1968, S. 21.
6
Geist/ Hölzer 1969, S. 40f.
7
Vgl. oben, Abschnitt B 1 (die Zwischenkriegsperiode).
132 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

policies is yet discernable”.8 Die Wirtschaftspolitik seit den 1950er Jahren erscheint im
Nachhinein fast als ein wirtschaftswissenschaftliches Experiment, dessen Ziel darin be-
stand, mit der Methode des „trial and error” empirisch festzustellen, welcher Grad an Voll-
beschäftigung realisierbar ist, ohne dass es zu einer Zahlungsbilanzkrise kommt. Eine sol-
che Beurteilung würde jedoch dieser Politik nicht gerecht.
Alan Day wies darauf hin, dass fast alle wichtigen Industriestaaten ähnlichen Kon-
junkturschwankungen unterworfen waren. „In den anderen Ländern jedoch bewegten sie
sich in einem deutlich aufwärts gerichteten Trend. Daher war der Wechsel weniger augen-
fällig ...“.9 In Großbritannien trat der Stop-Go-Verlauf so deutlich zutage, weil die Wachs-
tumsrate klein war. Damit erwies sich die relativ geringere Wachstumsrate Großbritanniens
als das Zentralproblem der britischen Volkswirtschaft.

c) Langsames Wachstum

Das Ausmaß der relativen Wachstumsverluste Großbritanniens gegenüber anderen Indus-


trieländern in einem längeren Zeitraum lässt sich deutlich aus dem Vergleich der jährlichen
Wachstumsraten erkennen. Besonders geeignet ist dazu eine langfristige Gegenüberstellung
von gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten in verschiedenen Ländern. Tabelle 1 zeigte
bereits die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts für einen Zeitraum von mehreren
Jahrzehnten. In den Jahren 1956-1980 wuchs das britische Sozialprodukt deutlich geringer
als das deutsche und das französische. Zwischen 1974 und 1980 ergab sich eine Stagnation
der britischen Wirtschaft. Zwischen 1966 und 1970 wies Großbritannien das zweitgeringste
Wachstum auf, in den Jahren 1970 bis 1980 belegte Großbritannien immer noch die viert-
letzte Stelle unter den OECD-Ländern.10
Angesichts dieser Situation ist es nicht verwunderlich, wenn oft behauptet wird, stär-
keres Wachstum hätte Großbritannien die Zahlungsbilanzsorgen erspart. Diese These wur-
de von Alan Day zurückgewiesen, weil ein rascheres Wachstum des Bruttosozialprodukts
und der Exporte auch ein Ansteigen der Importnachfrage nach sich gezogen hätte.11 Days
Aussage trifft aber nur dann zu, wenn die staatliche Wirtschaftspolitik es unterlässt, diese
Entwicklung durch geeignete Maßnahmen in erwünschte Bahnen zu lenken. Ihm ist voll-
kommen zuzustimmen, wenn er darauf hinweisen will, dass Wachstum keine hinreichende
Bedingung sei, die den Zahlungsbilanzausgleich automatisch herbeiführt. Andererseits hat
die Nachkriegsentwicklung in Deutschland gezeigt, dass schnelles Wachstum eine notwen-
dige Bedingung für die Erzielung von Außenhandelsüberschüssen und die Ansammlung
von Devisenreserven ist. Wird die erforderliche Nebenbedingung zweckentsprechender
„flankierender Maßnahmen“ der Wirtschaftspolitik eingefügt, dann stellte die Aufgabe, das
Wachstum der britischen Volkswirtschaft zu beschleunigen, das zentrale Problem für die
Wirtschaftspolitik – zumindest der 1950er bis 1980er Jahre – dar. Die Hindernisse für eine
solche Politik bilden die Ursachen der latenten britischen Wirtschaftskrise.

8
Youngson 1968, S. 159.
9
Day 1968, S. 21.
10
Obinger 2003, S. 114.
11
Day 1968, S. 21.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 133

2. Vermeintliche Ursachen der Krise

Die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens wurden auf verschiede-


nen Ebenen und von unterschiedlichen Gesichtspunkten her mehr oder weniger intensiv
untersucht oder diskutiert. Den dabei angeführten Faktoren kommt manchmal erhebliche,
zuweilen aber auch nur geringe Bedeutung zu. Deshalb ist es erforderlich, verschiedene
Erklärungsansätze auf ihre Relevanz zu prüfen und die Bedeutung herauszuarbeiten, die
ihnen für eine Analyse des Gesamtproblems zukommt. Während ausländische Beobachter
die Schwächen vor allem innerhalb Großbritanniens suchen, neigen britische Autoren häu-
fig dazu, Veränderungen der Umwelt als Ursache für die langsamere Wirtschaftsentwick-
lung in Großbritannien anzusehen.
Mithilfe von Aussagen britischer Premierminister beleuchtet Tony Judt nicht-
ökonomische und ökonomische Ursachen der britischen Wirtschaftsentwicklung. Harold
Macmillan, Premierminister von 1957-1964, betonte ausschließlich nicht-ökonomische
Ursachen: „Natürlich, wenn es uns gelungen wäre, zwei Weltkriege zu verlieren, wenn wir
alle unsere Schulden abgeschrieben hätten – statt fast 30 Millionen £ zu haben –, alle Aus-
landsverpflichtungen losgeworden wären und keine Streitkräfte in Übersee hätten, wären
wir vielleicht so reich wie die Deutschen.“12 Demgegenüber wies Clement Attlee (Pre-
mierminister von 1945-1951) bereits 1930 auf vier rein ökonomische Ursachen hin, indem
er „die britische Wirtschaftsmisere völlig zutreffend kennzeichnet als ein Problem von
Unterinvestition, mangelnder Innovation, fehlender Arbeitnehmermobilität und Mittelmä-
ßigkeit der Führungskräfte.“13

a) Veränderte Rolle Großbritanniens in der Welt

Verschiedene Wirtschaftshistoriker wiesen darauf hin, dass sich bereits in den letzten Jahr-
zehnten des 19. Jahrhunderts eine Veränderung der wirtschaftlichen Situation in den wich-
tigsten Industrieländern vollzog. Großbritannien, das ursprünglich die führende Industriena-
tion gewesen war, fiel im Stand der Produktionstechnik zwischen 1880 und 1914 gegenü-
ber den USA, Deutschland und Frankreich zurück.14 Diese Länder, in denen die Industriali-
sierung erst erheblich später eingesetzt hatte, waren noch vor dem Ersten Weltkrieg in der
Lage, Produktionsmittel und -verfahren zu entwickeln und wirtschaftlich zu nutzen, die den
britischen überlegen waren. Hinsichtlich der Industrialisierung bislang agrarischer Länder
war Hill sicher zuzustimmen, wenn er meinte: „This process was inevitable, for Britain
could not indefinitly have remained the workshop of the world“.15 Allerdings erklärt die
Unvermeidbarkeit der Industrialisierung anderer Länder nicht den Verlust des technologi-
schen und wirtschaftlichen Vorsprungs, den Großbritannien als erstes Industrieland erlebte.
Nach dem Ersten Weltkrieg ergaben sich für Großbritannien Exporteinbußen mit den
bereits dargestellten binnenwirtschaftlichen Folgen.16 Birnie führte das auf eine Nachfrage-

12
Judt 2006, S. 392.
13
Ebenda, S. 397. Das Zitat fasst wesentliche Aspekte einer von Attlee als „Chancellor of the Duchy of Lancaster“
(„Sonderminister“ für Beschäftigung) verantworteten Kabinettsvorlage zusammen. Es ist aber in dieser Form nicht
im Text des „Memorandum on British Industry, July 1930“ (abgedruckt als Appendix I bei Harris 1982, S. 570ff.)
enthalten.
14
Levine 1967, S. 5, 10f., 21.
15
Hill 1957, S. 191; Hervorhebung d. Verf.
16
Vgl. oben B 1 (die Zwischenkriegsperiode); bzw. C für einzelne Branchen, insbesondere Kohle und Textil.
134 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

verschiebung im Welthandel zurück, die darin bestand, dass die bisherigen Handelspartner
Großbritanniens infolge ihres gestiegenen Lebensstandards sich nunmehr für andere Güter
interessierten: „Hence the growing importance of luxury industries as compared with those
that turn out primary necessities and producers’ goods. It was on industries of the second
class that Britain concentrated in the 19th century, and the shift in demand hit her badly“.17
Auch hier ist wieder das gleiche Phänomen festzustellen: Die wirtschaftliche Entwicklung
in anderen Ländern verlief erheblich rascher als in Großbritannien. Die Symptome waren in
beiden Fällen gleich, das britische Festhalten am wirtschaftlichen Status quo wurde mit den
Ergebnissen eines erheblichen wirtschaftlichen Wandels in der übrigen Welt konfrontiert.
Die wirtschaftliche Rolle Großbritanniens änderte sich dadurch, dass es nicht in der Lage
war, sich der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern rasch anzupassen oder gar
seinen ursprünglichen Vorteil durch ständige Innovation immer wieder zu erneuern. Nicht
die wirtschaftliche Veränderung in aller Welt, sondern die mangelnde Anpassungsfähigkeit
und Elastizität der britischen Volkswirtschaft bildete die Ursache für die abnehmende Be-
deutung Großbritanniens im Welthandel. Das wird in Großbritannien häufig übersehen.
Dabei könnte auch Unterinvestition, die mit der Weltmachtrolle Großbritanniens in Bezie-
hung stand, eine Rolle gespielt haben, die bereits von Attlee in seinem Memorandum von
1930 genannt, aber bis Ende der 1970er Jahre immer noch als Ursache herangezogen wur-
de.18
Der britischen Außenpolitik wurde oft vorgeworfen, durch ihr starres Festhalten an der
„Weltmachtrolle“ die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu verursachen.19 Als wichtigste
Symptome gelten in diesem Zusammenhang das militärische Engagement Großbritanniens
in allen Teilen der Welt und der ständige Strom von Kapitalexporten, vor allem in die
Commonwealth-Länder. Beiden kommt sicher eine erhebliche Bedeutung für die Schwäche
der Zahlungsbilanz zu.20 Das sagt jedoch noch nicht, dass diese Art der Devisenverwen-
dung die geringen Wachstumsraten Großbritanniens verursachte. Das wäre nur dann der
Fall gewesen, wenn sich nachweisen ließe, dass Truppenstationierungen im Ausland und
Kapitalexporte in Entwicklungsländer bzw. das im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt
verstärkte Ausmaß solcher Aufwendungen Großbritanniens im Vergleich zu anderen Län-
dern das Zahlungsbilanzdefizit verursacht hätten. Außerdem müsste das Zahlungsbilanzde-
fizit die wesentliche Ursache für den Stop-Go-Verlauf gewesen sein und dieser wiederum
das relativ langsame Wachstum bedingt haben.
Jedes Glied dieser Gedankenkette lässt sich aber durch zweifelnde Anmerkungen
weitgehend in Frage stellen, sodass die gesamte Beweisführung als nicht mehr geschlossen
und damit unzureichend erscheint. Militärausgaben (z.B. für Atomwaffen) fielen auch in
anderen großen westlichen Demokratien an, z.B. in den USA und Frankreich. Selbst wenn
berücksichtigt wird, dass andere Länder (wie z.B. Deutschland und Japan) einen geringeren
Teil ihres Bruttosozialprodukts für Militärausgaben (im Ausland) und Entwicklungshilfe
aufwendeten, bleibt festzustellen, dass Militärausgaben und Kapitaltransfer ebenso wie der
Inlandsverbrauch zwar die Zahlungsbilanzsituation beeinflussten, aber nur von relativer
Bedeutung waren. Faktoren dieser Art werden nur dann für die Zahlungsbilanz zum Pro-
blem, wenn die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft nicht ausreicht, angemessene

17
Birnie 1955, S. 375.
18
Harris (1930) 1982, S. 88; Degen 1978, S. 62.
19
Judt (2006, S. 135-138, 181, 190-192, 334) spricht von der „imperialen Illusion“; s.a. Blank 1979, S. 73.
20
Siehe dazu die Zahlen im „Annual Abstract of Statistics“.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 135

Exportüberschüsse zu erzielen. Der Stop-Go-Verlauf beruhte mindestens ebenso so sehr auf


den wiederholten Zahlungsbilanzdefiziten als auf einer bestimmten Definition für das Ziel-
system der Wirtschaftspolitik. Wirtschaftliches Wachstum wiederum ist nicht nur von der
entsprechenden Wirtschaftspolitik, sondern auch vom Wachstumspotenzial eines Landes
abhängig.21 Beide Elemente sind auf wachstumshemmende Faktoren zu untersuchen.

b) Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1945

Die von den britischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg betriebene Wirtschafts-
und Sozialpolitik galt häufig als Ursache für die latente Wirtschaftskrise. Eine Vollbeschäf-
tigungspolitik, deren Ziel es vor 1980 war, möglichst jede gesamtwirtschaftlich relevante
Arbeitslosigkeit zu vermeiden, bewirkte eine wesentliche Veränderung der gesamtwirt-
schaftlichen Situation: Diese Politik garantierte den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und
den Unternehmern sichere – wenn auch möglicherweise bescheidene – Gewinne. Die Ana-
lyse der einzelnen Wirtschaftszweige erschließt zahlreiche Beispiele für branchenspezifi-
sche Interventionen, besonders ausgeprägt etwa in der Montanindustrie (Kohle, Stahl), bei
den Eisenbahnen und bei der Autoproduktion. Damit bewirkten Konjunktur-, Struktur- und
Regionalpolitik in einem sich gegenseitig verstärkenden Prozess eine Art ständiger Hoch-
konjunktur mit den Symptomen des permanenten Arbeitskräftemangels und der Bereit-
schaft zu Lohnerhöhungen,22 die vor allem von der Erwartung getragen wurde, die gestie-
genen Lohnkosten durch entsprechende Preiserhöhungen überwälzen zu können. Folgen
dieser Entwicklung waren die „Lohn-Preis-Spirale“, eine sinkende Arbeitsmoral und eine
ständige Erschwerung der britischen Exporte.23
Mit diesem Problem waren aber alle Industrieländer konfrontiert, die britischen Regie-
rungen müssen also eine von der anderer Regierungen abweichende Politik betrieben ha-
ben. Weder den Labour- noch den Konservativen Regierungen gelang es, diese Schwierig-
keiten dadurch zu überwinden, dass die optimistischen Zukunftsaussichten aller Wirt-
schaftssubjekte sich in neue Initiativen umsetzten. Das Gegenteil war der Fall, das allge-
meine Gefühl der Sicherheit ließ Eigeninitiative bis 1980 überflüssig erscheinen. Diese
Tendenz wurde durch die Einrichtung eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit noch
verstärkt. Hinzu kam die Einführung einer starken Progression bei der Erbschaftssteuer. Sie
bedeutete eine „Bestrafung“ der für das wirtschaftliche Wachstum erforderlichen Kapital-
bildung,24 die für Forschung, Entwicklung und Rationalisierung nötig war. Dies mündete in
eine Überalterung der Betriebsstrukturen, wie sie etwa im Bergbau, der Textilindustrie und
in der Autoproduktion besonders deutlich zu Tage traten.
Die Verstaatlichung verschiedener großer Wirtschaftszweige (Transportwesen, Elek-
trizitätserzeugung, Bergbau und Stahlindustrie) schaltete die Unternehmerinitiative aus. Bis
1979 gab es in Großbritannien einen öffentlichen Sektor mit ca. 20 „nationalisierten“ In-
dustrien, die eine nicht-privatrechtliche Organisationsform hatten, „ferner ca. 30 andere

21
Dies wurde am Beispiel ausgewählter Branchen (s. oben, Kapitel C) anschaulich gemacht.
22
Grosser 1967, S. 577.
23
Glyn/ Sutcliffe (1972) haben den Begriff der „Profitklemme“ eingeführt, um auszudrücken, dass die Lohnsteige-
rungen auf dem Weltmarkt nicht durch Preissteigerungen ausgeglichen werden konnten, wobei die Profitrate
(„eingeklemmt“ zwischen Gewerkschaften und Weltmarkt) geschmälert wurde (Sturm 1991, S. 36).
24
So etwa Jochen Rudolph (in den 1960er Jahren Korrespondent der FAZ in London); s.a. FAZ vom 21. Novem-
ber 1967.
136 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

‚public corporations’ sowie eine Reihe von privatwirtschaftlich geführten Unternehmen.“25


Zwischen 1975 und 1979 waren 8,2% der britischen Arbeitnehmer bei Staatsunternehmen
beschäftigt. Die britischen Staatsunternehmen erbrachten 1979 ca. 10,5% des Bruttoin-
landsproduktes.26 Die öffentlichen Betriebe wurden durch ihre Einbeziehung in die Sozial-
politik daran gehindert, als kommerzielle Unternehmen zu handeln, d.h. Betriebe zu schlie-
ßen bzw. Jobs abzubauen. Dies war beispielsweise unter Wilson und Callaghan in den
1970er Jahren der Fall.27 Weiterhin bestand keine klare Trennlinie zwischen den Aufgaben
der Minister und denen der Boards. Dies gilt auch für die Rolle des Parlaments im Hinblick
auf die Unternehmenspolitik. In der komplizierten Zuständigkeitsordnung gab es keine
direkte Verantwortlichkeit.28
Diese Argumentation wirkt auf den ersten Blick bestechend, bedarf aber einiger kriti-
scher Anmerkungen. In Bezug auf Maßnahmen sozialer Sicherheit gab es in Großbritannien
einen erheblichen Nachholbedarf gegenüber anderen Ländern, sodass ein vorübergehender
geringfügiger Vorsprung nicht zu einem langfristig das Wachstum hemmenden Faktor
werden musste. Von Verstaatlichungsmaßnahmen wurden gerade die Branchen betroffen,
in denen es während der vorangegangenen Jahrzehnte trotz (oder wegen?) der „freien Un-
ternehmerinitiative“ nicht gelungen war, Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen.
Tatsächlich zeigten sich gerade hier nach einer erheblichen Anlaufzeit bedeutende Fort-
schritte. Die Erbschaftssteuer schließlich kann nicht nach ihren abstrakten Steuersätzen,29
sondern nur nach ihren konkreten Wirkungen beurteilt werden. Dabei erweist sich die Steu-
er als eine Maßnahme gegen den „unvorbereiteten“ Erblasser – die anderen bleiben weitge-
hend verschont. Ein Teil der dargestellten Maßnahmen konnte also die ihnen zugeschriebe-
ne wachstumshemmende Wirkung nicht entfalten.
Eine derartig globale Feststellung lässt sich für einige andere Elemente der Wirt-
schaftspolitik in den Nachkriegsjahren nicht treffen. So bedarf es z.B. einer genaueren Prü-
fung, ob von der durch die Stop-Go-Politik ausgelösten Unsicherheit der Unternehmer- und
Konsumentenerwartungen wachstumshemmende Wirkungen ausgingen.30 Diese Frage wird
sich per Saldo bejahen lassen. Es bedeutet allerdings nicht, dass die Stop-Go-Politik Ursa-
che des relativ geringeren Wirtschaftswachstums in Großbritannien gewesen sei. Vor allem
spielt die Möglichkeit, dass die Erwartung neuer Stop-Go-Maßnahmen Unternehmer oder
Konsumenten zu wirtschaftspolitisch unerwünschten Entscheidungen veranlasste, natürlich
erst eine Rolle, sobald sich die Tatsache eines Stop-Go-Zyklus abzeichnete.
Wesentlich ernster sind schon die „disincentive“-Wirkungen, die von den direkten
Kontrollen und der Einkommensbesteuerung ausgingen. Da erstere nur bis zur Mitte der
1950er Jahre eine Rolle spielten, sind vor allem die Wirkungen der britischen income tax,
insbesondere ihre Steuersätze und ihr Erhebungsverfahren, zu erörtern. Die hohen Steuer-
sätze, die – bis in die 1970er Jahre31 – der Besteuerung von Spitzeneinkommen zugrunde
gelegt wurden, boten nicht den erforderlichen Leistungsanreiz für dynamisches Unterneh-
merverhalten. Die Steuererhebung bei den Arbeitnehmern erfolgte durch Abzug vom Lohn

25
Abromeit 1986, S. 274.
26
Stein 1988, S. 71.
27
Taylor 2004, S. 80.
28
Abromeit 1986, S. 66.
29
Für ein Beispiel s. Schierloh 1964, S. 177.
30
Z.B. vermutet Hart (1995, S. 89), dass die häufigen Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen Klima
dazu beigetragen haben, dass neue Technologien erst verspätet eingeführt wurden.
31
S.d. Wagschal 2003, S. 278.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 137

(„pay as you earn“). Eine Besonderheit bestand darin, dass zusätzliche Einkommensteile
zunächst mit dem höchsten Steuersatz verrechnet wurden und Einkommenseinbußen, z.B.
infolge von Krankheit, Steuerrückerstattungen auslösten. Dadurch konnte bei den Arbeit-
nehmern der Eindruck entstehen, überdurchschnittliche Arbeitsleistung werde steuerlich
„bestraft“, unterdurchschnittliche „belohnt“.32 Die „disincentive“-Wirkung dieser Besteue-
rung auf Unternehmer und Arbeitnehmer ist offensichtlich. Ob sie allerdings ein unzurei-
chendes Leistungsniveau, das dann wachstumshemmend wirken kann, zu erklären vermag,
erscheint fraglich. Besteuerung kann zwar menschliches Handeln beeinflussen, der wesent-
liche Stimulus wird aber nicht steuerlicher Art sein.
So können die Fehler der Steuerpolitik zwar nicht die Ursache des geringen Wachs-
tums sein, wohl aber die Wirkung anderer wachstumshemmender Faktoren verstärken,
anstatt ihnen entgegen zu wirken. Das gilt auch für den unzureichenden Einsatz des wirt-
schaftspolitischen Instrumentariums durch die Regierungen beider Parteien: den Verzicht
der Labour-Regierungen auf eine Geldpolitik der „disinflation“,33 den Verzicht der Konser-
vativen Regierungen auf einen konsequenten und kombinierten Einsatz der verfügbaren
Instrumente. Bei aller Kritik, die sich im Einzelnen anbringen lässt, ist der Wirtschaftspoli-
tik der Nachkriegszeit in einigen Punkten eine unzureichende Aktivierung eines ohnehin
geringen Wachstumspotenzials vorzuwerfen. Sie ist aber nicht die wesentliche Ursache für
das relativ geringe Wachstum der britischen Volkswirtschaft. Dazu haben andere Faktoren
entscheidend beigetragen.

c) Britisches Wachstumspotenzial

Als plausible Erklärung für das relativ geringe Wirtschaftswachstum in Großbritannien


bietet sich die Hypothese von Nicholas Kaldor an, der aufgrund eines Vergleichs zahlrei-
cher Industrieländer „premature maturity“34 als die entscheidende Schwäche der britischen
Volkswirtschaft ansieht. Diesen aus der Biologie entlehnten Begriff verwendet Kaldor zur
Kennzeichnung der Tatsache, dass Großbritannien früher als andere Länder einen bestimm-
ten Stand der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht hatte und damit in eine Phase langsa-
meren Wachstums eingetreten ist, die andere Länder ebenfalls erreichen werden. Bei der
wirtschaftlichen Entwicklung der Erste zu sein, bedeutet unvermeidlich später beim Ver-
gleich mit den Nachzüglern als relativer Verlierer dazustehen.35
Kaldor weist nach, dass (zumindest bis in die 1960er Jahre) eine enge Korrelation zwi-
schen dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und dem Wachstum der Industrieproduk-
tion besteht. Dieses wiederum wird entscheidend beeinflusst durch den Einsatz zusätzlicher
Arbeitskräfte. Damit wird die Arbeitskraftreserve zum wesentlichen Bestimmungsfaktor
der Wachstumsaussichten einer Volkswirtschaft. Im Prozess der zunehmenden Industriali-
sierung wird die Zahl der Arbeitskräfte in der Industrie sowohl durch Bevölkerungszu-
wachs und Einwanderung als auch durch die stetige Abwanderung von Arbeitskräften aus
der Landwirtschaft erhöht. Damit stellte nur noch die Landwirtschaft ein wesentliches Re-
servoir für die Rekrutierung von Industriearbeitern dar. Die künftigen Wachstumschancen

32
Schierloh 1964, S. 151.
33
Zu den verschiedenen Stufen s. Corina 1968, S. 575.
34
Kaldor 1966, S. 4.
35
Zu diesem Ergebnis kommt Obinger (2003, S. 117, 135-139) bei seiner massenstatistischen Untersuchung von
insgesamt 21 entwickelten Ländern.
138 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

einer Volkswirtschaft waren abhängig vom Anteil des landwirtschaftlichen Sektors an der
arbeitsfähigen Bevölkerung. Dieser Anteil war in keinem Land so gering wie in Großbri-
tannien. Deshalb blieb die britische Wachstumsrate ständig hinter der anderer Industrielän-
der zurück.36
Diese durch entsprechende Statistiken untermauerte Argumentation erweist sich auf
den ersten Blick als bestechend. Die Entwicklung der internationalen Produktionsindizes
für die Investitionsgüterindustrie lässt aber bereits Zweifel aufkommen, ob Kaldor nicht die
Bedeutung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte für die Wachstumsaussichten eines Lan-
des wesentlich überschätzt. Tatsächlich beruht seine These auf stillschweigenden Annah-
men, deren Gültigkeit für die britische Volkswirtschaft zu überprüfen ist: Zunächst wird
unterstellt, dass die technologische Entwicklung als Bestimmungsfaktor ohne Bedeutung
ist, weil der Stand des technischen Wissens in allen Ländern gleich sei.37 Das mag zwar
zutreffen, besagt aber nichts über die tatsächliche Anwendung dieses Wissens, ohne die
keine Steigerung der Produktivität zustande kommen kann. Kaldor weist nicht nach, dass
die Umsetzung von technischem Wissen in angewandte Technologie38 in Großbritannien
im gleichen Maße erfolgt wie in anderen Industrieländern. Seine Überlegungen dürfen also
auf diese zusätzliche Variable nicht verzichten. Hinzu kommt, dass eine Annahme über die
Arbeitskraftreserven einer Volkswirtschaft voraussetzt, dass in der Industrie alle Arbeiter
qualifiziert und optimal eingesetzt sind. Wenn Kaldor lediglich die eventuellen Verände-
rungen durch Automation für erwähnenswert hält, so meint er offenbar, andere Möglichkei-
ten der Qualitätssteigerung oder Rationalisierung seien in der britischen Industrie nicht
gegeben. Das müsste aber ebenfalls erst bewiesen werden.39
Kaldors Versuch, eine weitgehend monokausale Erklärung für die niedrige Wach-
stumsrate der britischen Volkswirtschaft zu geben, erweist sich als unzureichend. Die kriti-
sche Diskussion der stillschweigenden Annahmen dieser Hypothese ergibt aber wesentliche
Ansatzpunkte für eine detaillierte Analyse der tatsächlichen Ursachen. Ähnlich verhält es
sich mit einem anderen Versuch monokausaler Erklärung.

d) Britische Wirtschaftsmentalität

Als es nach den 1920er Jahren schien, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Großbritan-
nien zum „Stillstand gekommen“ sei,40 versuchte André Siegfried, die Ursache für „die
britische Krise des 20. Jahrhunderts“41 herauszufinden. In Fortsetzung der von Sombart42

36
Kaldor 1966, S. 4ff., 25ff.
37
Ebenda, S. 13.
38
Die unterschiedliche Bedeutung von „Invention“ und „Innovation“ für die wirtschaftliche Entwicklung hat J. A.
Schumpeter deutlich herausgearbeitet.
39
Die Ausführungen im Weißbuch über den nationalen Wirtschaftsplan der Labour-Regierung („National Plan“
1965, S. 51f.) zeigen aber, dass offenbar das Gegenteil der Fall ist. Bis in die 1970er Jahre wurde trotz des Indus-
trial Training Act von 1964 zu wenig Wert auf die Verbesserung von Ausbildung gelegt, was auch den Unterneh-
men angelastet werden muss (McCormick 1990, S. 209ff.). Bei einer einschlägigen Umfrage aus dieser Zeit
klagten zwei Drittel der Betriebe über den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften (Muller/ Bruce 1981, S. 8).
Üblich war das „on-the-job-training“. Nach einer Erhebung der CBI sahen Unternehmen 1988 eine viel stärkere
Behinderung ihrer Produktion durch fehlende Fachkenntnisse der Arbeitnehmer als Anfang der 1980er Jahre
(McCormick 1990, S. 223).
40
Hermens 1931, S. 116.
41
Siegfried 1931.
42
Sombart 2003, S. 191ff.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 139

entwickelten Gedanken erschien Siegfried vor allem der konservative Wirtschaftsgeist der
britischen Unternehmer, die wirtschaftliche Weiterentwicklung des Landes zu behindern:
„Heute erscheint die Mentalität des mittleren Unternehmers seit mehreren Generationen
kaum verändert. Er ist ein Engländer des Mittelstandes mit allen Klassenvorurteilen des
durch seine Insellage isolierten Landes; damit ist alles gesagt. Es bleibt für ihn eine ausge-
machte Sache, daß praktischer Sinn und Führerbegabung mehr wert sind als technisches
Wissen. ... Seiner Meinung nach wird er aus den Schwierigkeiten schon herausfinden, trotz
seiner Fehler, die er kennt und mit denen er sich resigniert abfindet. ... Es ist ein Mann, der
gern alles bequem nimmt. Man hat oft den Eindruck, er sei ‚zu stolz, um sich zu schlagen’.
Es steckt irgendwie ein Keim von Lebensermüdung in ihm.“43
Von gewissen polemischen Untertönen abgesehen, bemüht sich Siegfried, auf die Be-
deutung von Mentalitätsfaktoren für das wirtschaftliche Verhalten hinzuweisen.44 Allzu
wörtlich genommen, gerät seine Argumentation in die Nähe von pauschalen Begriffen wie
„Nationalcharakter“. Als umfassende Erklärung, die an Stelle empirischer Belege Sachver-
halte behauptet, ist Siegfrieds Darstellung unzureichend. Die bisher untersuchten Gesichts-
punkte und deren Kritik ergeben die Notwendigkeit, die einzelnen Faktoren in einen größe-
ren Rahmen zu stellen. Als Hinweis für die Suche nach einem einzelnen Element der ge-
samten Faktorenkombination, die ein wirtschaftliches Zurückbleiben Großbritanniens aus-
gelöst hat, ist aber Siegfrieds These durchaus wertvoll.

3. Tatsächliche Ursachen der Krise

Die Diskussion der vermeintlichen Wachstumshemmungen ergab eine Fülle von Anregun-
gen für die Suche nach den Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens,
ohne allerdings die Schlüsselfaktoren aufzuzeigen. Die mangelhafte Elastizität der Volks-
wirtschaft, der unzureichende Leistungswille der Arbeiterschaft, die fehlenden Arbeitskraft-
reserven, die Möglichkeit unterlassener Innovationen und Rationalisierungen sowie die
konservative Mentalität der Unternehmensführung wurden als mögliche Einflussfaktoren
genannt. Sie alle sind nunmehr im Einzelnen genauer zu untersuchen. Vor allem aber ist die
Bedeutung ihres Zusammenwirkens als wachstumshemmende Faktoren in Großbritannien
zu prüfen. Die Analyse wird dadurch erleichtert, dass die verschiedenen Faktoren als unter-
schiedliche Aspekte zweier Elemente des Wirtschaftsprozesses gedeutet werden, der kom-
binatorischen Leistung des Managements und der menschlichen Arbeitsleistung im Betrieb.
Die Bedingungen, unter denen Arbeitsleistungen erbracht wurden, sind Gegenstand der
„industriellen Beziehungen“45 als Ergebnis von Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeiternehmern, hier vertreten durch ihre Interessenorganisationen, die Gewerkschaften
bzw. ihre betriebsnah agierenden Vertreter.

43
Siegfried 1931, S. 58f.
44
Bohrer 1979, S. 15. In ähnliche Richtung deuten die Bemerkungen zur britischen Mentalität von Dahrendorf
(1977, S. 163f.): „Respekt vor dem Schwächeren“, „sich Zeit nehmen“, „Gemeinschaftsgefühl über das Wettren-
nen der Karriere stellen“.
45
Heute wird allgemein der Begriff der „Arbeitsbeziehungen“ verwendet.
140 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

a) Rolle der Gewerkschaften

Die Leistung der britischen Arbeiter wurde häufig für geringer gehalten oder sie war auch
tatsächlich geringer als die ihrer Kollegen in anderen Ländern. Als scheinbar schlagender
Beweis für diese Meinung bzw. Feststellung diente der Hinweis auf die beinahe schon
legendäre „Teepause“ am Arbeitsplatz. Demgegenüber wies Jochen Rudolph nach, dass die
regelmäßige Arbeitszeit in England eher noch länger war als in Deutschland.46 Die Arbeits-
leistung der Briten bedarf offenbar einer genaueren Prüfung.
Die Produktivität eines Arbeiters ist nicht nur von seiner Arbeitszeit, sondern auch von
der Intensität seiner Arbeit abhängig. Diese sinkt beispielsweise dadurch, dass Leerzeiten
anfallen. Auch wenn es keine genauen Informationen gibt, so waren sich die verschiedenen
Beobachter doch darin einig, dass in der britischen Industrie Hunderttausende von Arbei-
tern einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit mit Nichtstun verbrachten. So mussten z.B.
viele Hilfsarbeiter („mates“) darauf warten, dass die Facharbeiter („craftsmen“) ihnen eine
Arbeitsaufgabe zuwiesen.47 Aber das ist nur eine mögliche Ursache für die weit verbreitete
Unterbeschäftigung am Arbeitsplatz. Diese war im Wesentlichen auf verschiedene Arten
von falscher Arbeitsorganisation zurückzuführen48 und die trug dazu bei, die Arbeitspro-
duktivität zu vermindern.
Die Arbeiter hatten wenig Interesse daran, hier Abhilfe zu schaffen. Sie wirkten viel-
mehr noch aktiv daran mit, das produktive Ergebnis der normalen Arbeitszeit weiter zu
verringern, indem sie bewusst langsam arbeiteten. Um die nachgefragte Produktmenge zu
erstellen, waren dann Überstunden erforderlich. Durch die Überstundenvergütungen konn-
ten die Arbeiter ihr Gesamteinkommen so verbessern, dass es ihnen angemessen erschien.
Für manche waren die Überstunden sogar lebensnotwendig. Ursache dafür war die relativ
geringe Höhe der Tariflöhne, die im Durchschnitt nur 35 bis 40% der amerikanischen be-
trugen. Diese Löhne wurden durch Kollektivverhandlungen für die ganze Branche einheit-
lich festgesetzt und hatten weitgehend den Charakter von Mindestlöhnen angenommen. Die
Überstunden – tatsächlich geleistete oder auch nur bezahlte – glichen das Niveau der Effek-
tivlöhne den Einkommenserwartungen der Arbeiter und der Marktlage an.49
Ähnliche Wirkungen hatte die Beschäftigung von mehr Arbeitskräften als für den ein-
zelnen Vorgang eigentlich erforderlich gewesen wären („overmanning“).50 In der Regel
kam es dazu, weil die betroffenen Arbeiter sich weigerten, die Größe ihrer Arbeitsgruppe
den durch technischen Fortschritt geschaffenen Möglichkeiten anzupassen. Ursache dieser
und anderer „restrictive practices“51 war die Furcht der Arbeiter, ihren Arbeitsplatz zu ver-
lieren. Sie versuchten, die Auswirkungen des ständigen wirtschaftlichen und produktions-
technischen Wandels auf ihre eigene Tätigkeit dadurch zu kontrollieren, dass sie alle Ver-
änderungen der bisherigen Arbeitsgewohnheiten und -regeln („custom and practice“) von
der Zustimmung der Betroffenen abhängig machten.

46
FAZ vom 4. Mai 1968.
47
Jones/ Barnes 1967, S. 27f.
48
Für Beispiele s. National Plan 1965, S. 52.
49
Jones/ Barnes 1967, S. 24, 100f., 109 und Donovan-Report 1968, S. 8f., 35.
50
Donovan-Report 1968, S. 80; Geist/ Hölzer 1969, S. 43.
51
Die ebenfalls hierzu gehörende Frage der Abgrenzung von Tätigkeitsbereichen zwischen Mitgliedern verschie-
dener Berufs-Gewerkschaften („demarcation“) hat häufig durch entsprechende Anekdoten mehr Publizität erhalten
als ihrer tatsächlichen Bedeutung entspricht. Eine Rolle spielt diese Art von „restrictive practices“ vor allem im
Schiffbau.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 141

Da die bisherigen Arbeitsregeln auf informellen Vereinbarungen in jedem Betrieb be-


ruhten, wurde auch über die eventuelle Neufassung einzelner „protective practices“ (wie
die Arbeiter sie nennen) im unmittelbar betroffenen Betrieb ohne Koordination mit anderen
Betrieben entschieden. Die jeweils geltenden Arbeitsbedingungen wurden ebenso wie die
betrieblichen Zuschläge zu den Tariflöhnen von den Vertretern der Gewerkschaften im
Betrieb, den „shop stewards“, mit den Betriebsleitern ausgehandelt.52 Bei den „shop ste-
wards“ handelte es sich um die Vertrauensleute aller Mitglieder einer Gewerkschaft in
einem Betrieb. Ihre Position im britischen Gewerkschaftswesen war beachtlich, weil durch
ihre Tätigkeit letztlich sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Effektivlöhne ihrer
Kollegen bestimmt wurden.53
Um ihren Willen gegenüber dem Management durchzusetzen, konnte die Betriebs-
gruppe von einem spezifischen Druckmittel Gebrauch machen, dem von ihrer Gewerk-
schaft im Voraus nicht genehmigten „wilden“ Streik. Diese Streiks betrafen in der Regel
nur einen Betrieb und dauerten nur wenige Tage. Der Zahl nach waren über 95% aller Ar-
beitsniederlegungen auf „wilde“ Streiks zurückzuführen,54 ihr Anteil an den durch Arbeits-
kämpfe verlorenen Arbeitstagen wird auf etwa 69% geschätzt. Diese beiden Zahlen weisen
bereits auf den Umfang der „wilden“ Streiks hin; ihre Bedeutung für die britische Wirt-
schaft, u.a. für den Export, wird aber erst sichtbar, wenn nicht die gesamte Industrie, son-
dern eine der besonders betroffenen Branchen (Bergbau, Werften, Häfen, Fahrzeugbau)
betrachtet wird. Hier erreichte die Zahl der verlorenen Arbeitstage das Fünf- bis Zwölffache
des Durchschnittswertes. Darüber hinaus wies die Zahl der „wilden“ Streiks – außer im
Bergbau – steigende Tendenz auf.55 Besonders problematisch für die Betriebsabläufe war
auch, dass diese Streiks völlig unvorhersehbar auftraten.56
Selbst der Versuch, die Bedeutung der „wilden“ Streiks auf diese Weise zu fassen,
bleibt noch unzureichend, weil das statistische Material Vorgänge von erheblicher Bedeu-
tung nicht enthält: Kleinere Streiks werden nicht mitgezählt, die Auswirkungen eines
Streiks auf die Arbeit anderer Betriebe nicht berücksichtigt. Vor allem aber gibt es keine
Möglichkeit, die verschiedenen Formen des „Bummelstreiks“ („go slow“, „work-to-rule“,
„overtime ban“) statistisch zu erfassen. Es ist also anzunehmen, dass inoffizielle Kampf-
maßnahmen der britischen Arbeiterschaft noch häufiger waren als die Streikstatistik an-
gibt.57
Nicht nur die Unternehmer, auch die Gewerkschaften standen dieser Aktivität ihrer
Betriebsgruppen machtlos gegenüber. Die meisten „wilden“ Streiks nahmen die Gewerk-
schaften offiziell nicht zur Kenntnis. Ursache für solches Verhalten war die schwache Posi-
tion der Gewerkschaftsfunktionäre gegenüber den „shop stewards“. Diese bilden theore-
tisch die Verbindung zwischen Gewerkschaft und Betriebsgruppe. In der Gewerkschafts-

52
Theoretisch werden Löhne durch Branchentarifverträge festgesetzt, während die Arbeitsbedingungen in den
ausschließlichen Entscheidungsbereich der Unternehmen, ihrer Betriebs- und Abteilungsebene fallen (Goldthorpe
1974, S. 481).
53
Donovan-Report 1968, S. 9, 25ff., 77ff.
54
Genaue Zahlen fehlen. Es wird aber als Tatsache gesehen, dass die meisten Streiks sehr kurz und inoffiziell
waren und bis ca. 1970 vor allem im Kohlenbergbau stattfanden (Duran u.a. 1983, S. 399f.). Quantitative Angaben
auch bei McCormick 1990, S. 233.
55
Crouch 1978, S. 201ff.
56
Dies – so vermutet Hart (1995, S. 89) – hatte auch Auswirkungen auf die Nutzung neuer Technologien.
57
Donovan-Report 1968, S. 96ff., 111.
142 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

hierarchie sind ihnen hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre übergeordnet, deren Aufga-


be es ist, die Betriebsgruppen zu koordinieren und die „shop stewards“ zu überwachen.
Den Funktionären fehlte jedoch sowohl die Kenntnis der Situation im einzelnen Be-
trieb als auch die Verbindung zu den Gewerkschaftsmitgliedern. Beides besaß der „shop
steward“ und das stärkte seine Stellung gegenüber dem Funktionär. Dessen Position ergab
sich aber nur als Folge des zersplitterten Gewerkschaftssystems. In den meisten Betrieben
war eine Vielzahl von Gewerkschaften mit kleiner Mitgliederzahl vertreten, die obendrein
um Mitglieder konkurrierten. Die Gewerkschaften mussten eine Fülle von Betrieben be-
treuen und dazu reichte die Zahl hauptamtlicher Funktionäre nicht aus. Ein Funktionär war
durchschnittlich für 172 „shop stewards“ bzw. 102 verschiedene Betriebe zuständig. Die
Aufgabe der Funktionäre übernahmen die ehrenamtlich tätigen „shop stewards“, die entwe-
der allein oder gemeinsam mit ihren Kollegen von den anderen im Betrieb vertretenen Ge-
werkschaften mit dem Betriebsleiter verhandeln. Diese Rolle der „shop stewards“ war die
logische Konsequenz der langfristigen Entwicklung der britischen Gewerkschaften.58
Zunächst entstanden Berufsgewerkschaften für Facharbeiter („craft unions“) eines Ge-
biets. Von diesen nahmen einige dann später auch ungelernte Arbeiter auf – und zwar ent-
weder der eigenen Branche („Industriegewerkschaften“) oder aber aus allen Branchen
(„general workers’ union“). Durch Zusammenschlüsse verschiedener Gewerkschaften wur-
den die systematischen Unterschiede weiter verwischt.59 Es bestanden also mindestens drei
Arten von Gewerkschaften (allgemeine Gewerkschaften, Fachgewerkschaften einer Bran-
che und Berufsgewerkschaften) nebeneinander.60 1950 gab es 690 verschiedene Organisa-
tionen unterschiedlicher Größe. Davon waren damals 186 im Dachverband Trades Union
Congress (TUC) zusammengeschlossen. Diese Zahl vergrößerte sich in den 1960er und
1970er Jahren, weil der TUC die Mitglieder für die tripartistischen Gremien auswählte.61
Dies verhinderte allerdings nicht endlose Rivalitäten zwischen den Gewerkschaften um
Mitglieder und Strategien. Die selbstsicheren und aggressiven Shop Stewards verursachten
in den frühen 1970er Jahren weitere Konflikte innerhalb der Gewerkschaften, sodass da-
durch langfristige Aushandlungs-Systeme kaum möglich waren.62
Die Festlegung der Gewerkschaftspolitik, insbesondere der Tarifpolitik, oblag also nur
theoretisch den Einzelgewerkschaften, praktisch jedoch den einzelnen Betriebsgruppen.
Das Leitbild der Tarifverhandlungen des „free collective bargaining“ zwischen Unterneh-
mern und Gewerkschaften wurde quasi von den Shop Stewards umgesetzt. Seit dem Ende
der 1940er Jahre bestanden die Gewerkschaften und die Unternehmer darauf, Inhalte, For-
men und Regularien der Kollektivbeziehungen allein zu bestimmen.63 Versuche der Regie-
rungen, das Politikfeld Arbeitsbeziehungen gesetzlich zu regeln, scheiterten allesamt am
Widerstand der Gewerkschaften.64 Die Gewerkschaften waren keine rechtsfähigen Körper-
schaften, die Tarifverträge keine bindenden Kontrakte. Zwar gab es formale, branchenweite
Eckdaten für Tarifverhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen, diese Eckdaten
wurden aber häufig in konfliktträchtigen betriebsindividuellen Verhandlungen über zusätz-

58
Ebenda, S. 25ff., 109f.
59
Zur historischen Entwicklung s. Bandholz 1961, S. 3ff.
60
„Multigewerkschaftsprinzip“ (Lecher 1977, S. 447).
61
Waddington 2005, S. 259, 269.
62
Taylor 2004, S. 83.
63
Kastendiek 1985, S. 15.
64
Schmidt 1989, S. 57f.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 143

liche Entgelte und Bedingungen erheblich überschritten.65 In Großbritannien gab es keine


festen, bindenden Laufzeiten von Vereinbarungen, keine Vertragsbindung und keine Frie-
denspflicht. Weiterhin bestand aufgrund des wenig entwickelten kollektiven Arbeitsrechts
„keine Betriebsverfassung mit einer fest institutionalisierten Interessenvertretung mit rech-
tlich normierten Kompetenzen und Grenzen“.66
Wegen der unterschiedlichen Größe und der großen Zahl der angeschlossenen Ge-
werkschaften sowie der unübersichtlichen Organisationsstruktur war die Stellung des TUC
gegenüber den Einzelgewerkschaften zumindest zunächst sehr schwach.67 Gegen deren
Aktivitäten in der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern gab es kein Sanktionsmittel.
Der „Trades Disputes Act, 1906“ verbot jedes straf- oder zivilrechtliche Vorgehen gegen
streikende Gewerkschaftler oder ihre Gewerkschaft.68 Diese Situation stellte einen wesent-
lichen Bestimmungsfaktor für die eingeschränkte Produktivität der Arbeitsleistung in der
britischen Volkswirtschaft dar.

b) Rolle des Managements

Die geringe Qualität des britischen Produktionsapparates69 kann als eine weitere Ursache
für die zu schwache Produktivität der Volkswirtschaft angesehen werden. In diesem Zu-
sammenhang wurde darauf hingewiesen, dass die maschinelle Ausstattung vieler Industrie-
betriebe in Großbritannien – auch mangels ausreichendem Kapital – veraltet sei. Das findet
seine statistische Bestätigung in der relativ geringen britischen Investitionsquote. Zwischen
1956 und 1965 betrug die jährliche Bruttoinvestition in (West-)Deutschland und in Frank-
reich durchschnittlich 26% bzw. 21% des Bruttosozialprodukts, in Großbritannien nur 17%
(Tab. 9). Auch die große Zahl relativ kleiner und deshalb leistungsschwacher Betriebe trug
zur Verminderung des Produktionsergebnisses bei. Ferner galt die Organisation des Pro-
duktionsablaufes als nicht so weitgehend durchrationalisiert wie es aufgrund der modernen
Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre möglich gewesen wäre.70
Auch in den Jahren 1973 bis 1980 blieben die Investitionsquoten hinter den deutschen
zurück; die Diskrepanz zwischen Deutschland und Großbritannien wurde aber vorüberge-
hend viel geringer, sodass (gemessen am BIP) Großbritannien eine Investitionsquote von
19,2%, Deutschland eine von 21,4% hatte.71 Die Mängel im Produktionsapparat wurden für
die ausgewählten Industriezweige bereits aufgezeigt.72 Auch wenn Restriktionen zum Teil
anderen Faktoren, darunter der Regierungspolitik, zuzurechnen sind, lässt sich nicht über-
sehen, dass „Unternehmer“ im Sinne Schumpeters solche Schwächen in ihren Betrieben

65
Lipp 1978, S. 357.
66
Kastendiek 1988, S. 169.
67
Hier liegt auch die Ursache für das Scheitern der auf freiwilliger Basis durchgeführten Lohnpolitik in den
1960er Jahren. Die Regierung schloss Abkommen mit Spitzenverbänden, die nicht in der Lage waren, die Einhal-
tung dieser Abkommen bei ihren Unterverbänden durchzusetzen. Vgl. Grosser 1967, S. 586.
68
International Labour Office, 1961, S. 13, 18ff. und Donovan-Report 1968, S. 29ff., 109, 213.
69
S.d. bereits das Attlee Memorandum (Harris 1982 (1930), S. 88).
70
National Plan 1965, S. 18, 47. – Vgl. die Situation in den einzelnen Branchen, s. oben Kapitel C. Identisch
ausgestattete Fabriken sowohl in den USA als auch in Kontinentaleuropa produzierten mehr als in Großbritannien.
„Das aber legt den Schluß nahe, daß mit der bestehenden Kapitalausstattung eine weitaus höhere Produktivität
erreichbar wäre, wenn nur herkömmliche Einstellungen und veraltete Organisationsweisen aufgegeben würden.“
(Lohneis 1978, S. 291).
71
Scharpf 1987, S. 93, aufgrund von OECD Economic Outlook.
72
S. oben, Kapitel C.
144 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

entweder vermieden oder zügig beseitigt hätten. Deshalb müssen die qualitativen Mängel
des Produktionsapparates auch auf eine zu geringe Qualität des britischen Managements
zurückgeführt werden,73 dessen Immobilität seit Jahrzehnten beklagt wurde.

Tabelle 9: Investitionsquote westlicher Industrieländer (1956-1965) (nominale


Bruttoinvestition in % des nominalen Bruttosozialprodukts)
Jahre Großbritannien USA Frankreich West-Deutschland
1956 16,4 18,6 18,7 24,2
1957 17,3 17,6 23,3 24,4
1958 15,7 15,9 20,5 23,6
1959 16,3 18,0 18,7 24,9
1960 18,5 17,1 21,0 26,7
1961 18,0 16,2 20,6 26,5
1962 16,3 17,9 21,4 26,4
1963 16,7 17,5 21,4 25,8
1964 19,3 17,4 22,7 27,5
1965 18,9 18,3 21,9 28,0
Durchschnitt
1956-65 17,3 17,5 21,0 25,8
Quelle: Berechnungen des WWI aufgrund der Statistischen Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland
(Kuehn 1968, S. 21).

Levine nennt für die Wende zum 20. Jahrhundert vor allem zwei retardierende Elemente im
Verhalten des britischen Managements. Die Mitglieder der Unternehmensführungen fühlten
sich im Wesentlichen als eine Gemeinschaft von Standesgenossen. Deshalb erreichte der
wirtschaftliche Wettbewerb zwischen ihren Betrieben nicht die existenzbedrohenden For-
men wie in den USA oder auf dem europäischen Kontinent. Da der Wettbewerb mehr unter
dem Gesichtspunkt der Fairness als unter dem des unbedingten wirtschaftlichen Erfolges
betrieben wurde, bestand wenig Anreiz zu Innovationen.74 Hinzu kam, dass die Manager
nicht nur selbst keine naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnisse
besaßen,75 sondern auch in dem Bestreben, unter sich zu bleiben und ihre Beschaulichkeit
zu bewahren, dem wissenschaftlich qualifizierten Personal keinen Zutritt zu den Spitzenpo-
sitionen der Unternehmensleitungen gewährten.76 Naturwissenschaftler und Technologen,
oft aus der Arbeiterklasse oder dem kleineren Mittelstand, kamen so nicht auf die ihnen
gemäßen Positionen.
Die britische Unternehmerschaft jener Zeit war eine geschlossene Elite, deren Mentali-
tät bewirkte, dass der wirtschaftliche Fortschritt der britischen Volkswirtschaft erheblich
gebremst wurde. Es besteht wenig Anlass zu der Annahme, hieran habe sich vor den 1980er
Jahren ein grundlegender Wandel ergeben.77 Parker sieht darin allerdings eher karikierende

73
Dabei wird allerdings unterstellt, dass sich Verbesserungen des Produktionsapparates ohne Schwierigkeiten
hätten finanzieren lassen.
74
Levine 1967, S. 54, 138f.
75
Ebenda, S. 59, 68, 71, 73. Ähnliche Einschätzungen bei Parker (2000, S. 212) für die Kohleförderung.
76
Levine 1967, S. 68ff., 75f. Kritische Stimmen zum Management sind auch bei Kramnick (1979, S. 18ff.) zu-
sammengetragen.
77
National Plan 1965, S. 53f.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 145

Aussagen über das Management der Industrie und das Problem, dass die Umstände, unter
denen es operierte, nicht in die Betrachtung einbezogen werden. Er verweist darauf, dass es
auch darum ging, angesichts jährlicher Zyklen von großen Lohnforderungen und Streikan-
drohungen den innerbetrieblichen Frieden zu erhalten. Er bezieht sich dabei auf die Kohle-
förderung. Zudem musste das NCB-Management die Abhängigkeit von finanziellen Zu-
schüssen der Regierung beachten sowie deren Zielen im Hinblick auf konkurrierende Ener-
giequellen Tribut zollen.78
Die Mentalität der britischen Elite – und damit des Managements – wurde wesentlich
dadurch bestimmt, dass in Großbritannien seit Jahrhunderten keine gewaltsame Verdrän-
gung einer Oberschicht stattgefunden hat. Die ursprüngliche Oberschicht hatte ihre gesell-
schaftlich führende Stellung behalten.79 Wirtschaftlicher Erfolg in der Industrie verschaffte
kein soziales Ansehen, weil die Oberschicht nur eine freiberufliche Tätigkeit oder den
Staatsdienst, allenfalls das Kreditwesen, für standesgemäß hielt. Der soziale Aufstieg eines
Industriellen erforderte, dass er ein Landgut erwarb und sich auch in seinem Verhalten dem
vorgegebenen Leitbild des landbesitzenden Gentleman anpasste.80 Der aristokratische Gent-
leman war Grundherr, d.h. er überließ die Bewirtschaftung seines Landbesitzes einem
Pächter, und widmete sich selbst der Politik und dem gesellschaftlichen Leben in der
Hauptstadt. Dieses aristokratische Leitbild übertrug sich auf die Nachkommen der wirt-
schaftlich erfolgreichen Elemente des Bürgertums.81
Ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Leitbildes der britischen Ober-
schicht war die Verehrung des Amateurs. Der „gebildete“ Laie, der sich aller Führungsauf-
gaben annimmt, genoss ein wesentlich größeres Ansehen als der „Fachmann“, der nur einer
bestimmten Führungsaufgabe gewachsen ist.82 Daraus erklären sich auch die in der Ober-
schicht bevorzugten Arten der Ausbildung („public school“; Studium einer Geisteswissen-
schaft, allenfalls der Rechtswissenschaft) und Mängel in der Rekrutierung des Manage-
ments. Obwohl sich hier bereits in den 1960er Jahren Veränderungen anbahnten, dominier-
te noch lange die Selbstergänzung aus der Gruppe, mit der man seit der eigenen Schulzeit
in Verbindung stand. So ergab eine Untersuchung von 5.500 Mitgliedern des Institute of
Directors (einer Vereinigung industrieller Manager) im Jahre 1966, dass über die Hälfte der
untersuchten Manager ihre gegenwärtige Stelle entweder familiären oder gesellschaftlichen
Beziehungen verdankte.83 Nur langsam machte die „Generation der schlecht ausgerüsteten,
technisch unausgebildeten Manager ‚mit Beziehungen’ einer vorwärtsdrängenden Gruppe
junger Unternehmer mit akademischem Abschluss Platz“.84
Diese langfristig beobachtbare Praxis der Auswahl von Führungskräften mag auch
Rückwirkungen auf die Berufsausbildung und Weiterbildung der Arbeitnehmer gehabt
haben. Eine „längere berufsbezogene Ausbildung wird nicht als wichtig angesehen.“85

78
Parker 2000, S. 212f.; s. oben. Unterabschnitt C 3c). Besonders in den verstaatlichten Wirtschaftszweigen ging
es immer wieder um die Erhaltung von Arbeitsplätzen. S.d. auch Scott (1985, S. 36ff.), der das Bild stärker diffe-
renziert.
79
Zur Rekrutierung der Oberschicht s. Jessop 1974, S. 66f.
80
FAZ vom 11. Mai 1968.
81
Völlig anders verlief die Entwicklung in Preußen-Deutschland. Hier bewirkte das System der Gutsherrschaft,
dass der Adel „verbürgerlicht“ wurde. Auf diese Zusammenhänge hat bereits Franz Oppenheimer (1923, S. 702ff.)
hingewiesen.
82
Schneider 1960, S. 334.
83
Jones/ Barnes 1967, S. 225.
84
FAZ vom 11. Mai 1968.
85
Dies gilt auch für andere angelsächsische Länder (Busch 2000, S. 66).
146 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

c) Überwindung der Krise als politisches Problem

Gesellschaftliches Leitbild und Auswahl des Managements sowie die Organisation der
Gewerkschaften bildeten die wesentlichen Hemmungen für eine Steigerung der gesamtwirt-
schaftlichen Produktivität in Großbritannien. Bei diesen Hemmungen müsste eine Politik
ansetzen, deren Ziel ein stärkeres Wachstum ist. Wie in den einzelnen Abschnitten zu bei-
spielhaft ausgewählten Industriezweigen gezeigt, griffen die Regierungen im Rahmen eines
Konsenses auf Formen der Kooperation zurück. Jede Regierung vor 1980 präferierte eine
positive Partnerschaft zwischen Management und Arbeitnehmern mehr als eine defensive
Koexistenz. Das Management lehnte allerdings diesen Korporatismus ab, sogar wenn öf-
fentliche Mittel für ein Überleben fließen sollten. Die Gewerkschaften hätten ihre Kader
bzw. Aktivisten besser ausbilden müssen, wenn sie diese Industriepolitik mitgestalten soll-
ten. Aber ein solches Reservoir existierte in den meisten Bereichen der britischen Industrie
nicht. Die tripartistischen Institutionen von Kapital und Arbeit konnten daher keine ent-
scheidende Rolle bei der Erneuerung der Industrie spielen. Es fehlte also an einer erfolgrei-
chen industriellen Strategie. Zudem war die Confederation of British Industry bei den Ver-
handlungen im Rahmen des Social Contract abwesend, sodass die sechs Vertreter der Ge-
werkschaften im NEDC die Schlüsselakteure des Social Contract waren. Hinzu kam, dass
in der Mitte der 1970er Jahre viele Arbeiter eine uneingeschränkte Macht im Bargaining
Prozess verspürten, weil die Parteien das Ziel der Vollbeschäftigung als wesentlich erachte-
ten, um regieren zu können. Nach Rückkehr der Labour Party in die Regierung verfolgten
zudem die Kommunisten in den Gewerkschaften eine militante Strategie und beeinflussten
die Linke der Labour Party stark.86 Die Folge war, dass Gewerkschaften und Arbeiterschaft
sehr gestärkt wurden, während der Mittelstand eine Reihe von Schlägen verkraften muss-
te.87 Auch die unternehmerische Initiative wurde nicht gefördert. Gamble sah „die unge-
wöhnlich engen Bindungen von Kapital und Arbeit mit den beiden großen politischen Par-
teien ... als ein spezifisch britisches Problem“.88 Überspitzt formuliert könnte man sagen,
dass die großen parlamentarischen Parteien von diesen gesellschaftlichen Kräften in „Gei-
selhaft“ genommen wurden.
Die notwendigen Reformen konnten nur durch eine grundlegende Veränderung we-
sentlicher Teile der Gesellschaftsstruktur bewirkt werden. Das galt vor allem für die Frage
des gesellschaftlichen Leitbildes, das sich der Einfachheit halber vielleicht als das „Gent-
leman-Ideal“ bezeichnen lässt. Hier einen Wandel herbeizuführen, schien besonders
schwierig zu sein. Dazu hätte nämlich vor allen Dingen der britischen Öffentlichkeit deut-
lich gewesen sein müssen, dass die bisherige Beschaulichkeit des Managements auf die
Dauer zu einem relativ niedrigen Lebensstandard des ganzen Landes führen musste. Erst
wenn dieser Zusammenhang der Bevölkerung bewusst geworden wäre und dann ein stei-
gender Lebensstandard vorgezogen worden wäre, hätte die Aussicht auf einen Wandel im
Bereich des Mentalitätsfaktors „Gentleman-Ideal“ bestanden.89 Aufgabe der politischen
Führung musste es sein, einen solchen Lernprozess zumindest soweit in Gang zu setzen,

86
Taylor 2004, S. 81ff., 85.
87
FAZ vom 7. Juni 1975.
88
Gamble 1985, S. 40.
89
Wie schwierig ein solcher Wandel zu erreichen ist, zeigt das Scheitern der von Privatpersonen veranstalteten
Kampagne „I’m backing Britain“ in den 1960er Jahren.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 147

dass die weitere Entwicklung zum Gegenstand einer bewussten politischen Entscheidung
der britischen Bevölkerung werden konnte.90
Eng verbunden mit der Frage des gesellschaftlichen Leitbildes ist das Problem der Eli-
tenauswahl. In entwickelten Industriegesellschaften ist die Schulbildung eine wesentliche
Determinante des sozialen Aufstiegs. Haben bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugt
Zugang zu den entscheidenden Bildungseinrichtungen, so kann sich eine weitgehend ge-
schlossene Elite erhalten. Nur die Öffnung dieser Elite für Bewerber aus anderen Bevölke-
rungsgruppen kann sicherstellen, dass Leute mit neuen Ideen (und zweckentsprechender
Vorbildung) durch Eintritt in das Management die Qualität der kombinatorischen Leistung
in einem Betrieb verbessern. Durch eine entsprechende Bildungspolitik könnten alle ausrei-
chend begabten Interessenten die gleiche Startchance erhalten.
Politischer Entscheidungen bedarf es auch, wenn eine Reform der Gewerkschaftsorga-
nisation bzw. der Arbeitsbeziehungen durchgeführt werden soll. Erstens hatte sich gezeigt,
dass die britische Gewerkschaftsbewegung zu einer Reform aus eigener Kraft nicht in der
Lage war. Der Misserfolg aller Bemühungen der Regierung Wilson, diese Reform mithilfe
eines Drucks der öffentlichen Meinung auf die Gewerkschaften durchzusetzen, bestätigte
das besonders deutlich.91 Zweitens begünstigte das geltende Arbeitsrecht den Fortbestand
eines organisatorisch zersplitterten und unverantwortlichen Gewerkschaftssystems.
Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Steigerung der wirtschaftlichen Produkti-
vität in Großbritannien erforderten also ein Eingreifen der politischen Führung zur Gestal-
tung der sozialen Wirklichkeit. Damit ist die Frage nach den politischen Ursachen der wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten, d.h. nicht zuletzt nach der Entscheidungsfähigkeit des parla-
mentarischen Systems im Bereich der Wirtschaftspolitik, aufgeworfen. Die Entscheidungs-
fähigkeit des britischen Regierungssystems hätte sich an dem Bestreben erweisen müssen,
alle auf lange Sicht wirksamen Hemmungen eines stärkeren Wirtschaftswachstums zu be-
seitigen. Die Möglichkeit einer zielbewussten Wachstumspolitik ist aber abhängig von der
politischen Durchsetzbarkeit bestimmter Reformen der britischen Sozialstruktur. Diese
Frage ist nur zu beurteilen, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten aller an der Aufrechterhal-
tung des gesellschaftlichen Status quo interessierten Kräfte berücksichtigt werden. Es ist
denkbar, dass bestimmte Gruppen erstens ein Interesse an der Aufrechterhaltung der dama-
ligen Situation und zweitens die Möglichkeiten zur Durchsetzung dieser Politik hatten.

4. Retardierende Elemente im politischen Prozess

Interessenten die bestehende britische Sozialstruktur zu erhalten, können vor allem das
Management und die Gewerkschaften gewesen sein. Verfügten diese beiden Interessen-
gruppen im parlamentarischen System Großbritanniens über Mittel, eine Status-quo-Politik
durchzusetzen und auf diese Weise grundlegende Reformen zu verhindern? Die bereits
dargestellten Operationstechniken der Öffentlichkeitsarbeit unter Beeinflussung von Politi-
kern reichten dazu nicht aus. Größere Möglichkeiten bot aber eine besondere Konstellation
90
Bis dahin fragt sich, ob nicht die ungebrochene Geltung des „Gentleman-Ideal“ das Ergebnis eines „feedback“
aus dem politischen System des Landes ist: Indem die politischen Institutionen Großbritanniens seit Jahrhunderten
jede gewaltsame Revolution überflüssig erscheinen ließen, weil das politische System ohnehin in der Lage war,
sozialen Wandel entsprechend in politische Entscheidungen umzusetzen, blieb der Bevölkerung jede kritische
Auseinandersetzung mit der britischen Oberschicht und ihren Wertvorstellungen erspart.
91
Grosser 1967, S. 590f.
148 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

in der personellen Verflechtung zwischen Interessenverbänden und politischer Elite. Die


am wirtschaftspolitischen Status quo interessierten Gruppen der Gewerkschaften und des
Managements machten davon in einer Weise Gebrauch, die deutlich von der Bedingung
wirksamer Kontrolle der Regierung in Bezug auf diese Operationstechnik abwich: Die Art
der Kandidatenaufstellung bei den beiden Alternierungsparteien bewirkte, dass die Zahl der
Vertreter der Gewerkschaften und des Managements im Unterhaus nicht gering genug war,
um ihre Bedeutung für den politischen Prozess zu vernachlässigen.

a) Kandidatenaufstellung

Eine erste statistische Analyse der Unterhaus-Fraktionen zeigt, dass je eine Interessengrup-
pe eine sehr starke Minderheit in einer der beiden potenziellen Regierungsparteien bildete.
Nach den Wahlen der Jahre 1951-66 gaben 30 bis 37% der erfolgreichen Labour-
Kandidaten „Arbeiter“ als Beruf an; 25 bis 33% der erfolgreichen Konservativen Kandida-
ten bezeichneten ihre Herkunft durch den Begriff „die Wirtschaft“ (business). Diese beiden
Gruppen stimmen weitgehend mit zwei Personenkreisen überein, deren Stärke in den Frak-
tionen etwa gleich groß ist, nämlich den Abgeordneten, deren Wahlkampf von einzelnen
Gewerkschaften bezahlt wurde („trade union sponsored candidates“) bzw. den Absolventen
der beiden bekannten Internatsschulen („public schools“) Eton und Harrow. 1970 bis 1979
hat sich die Zahl der Angehörigen der Berufsgruppe „Arbeiter“ zwar reduziert (25,1 bis
30,5%),92 der Anteil der durch Gewerkschaften finanzierten Abgeordneten aber noch er-
höht. Die Zahl derjenigen, die aus den Führungskräften der Wirtschaft rekrutiert sind, ist
allerdings stark rückläufig (Tab. 10).

Tabelle 10: Ausgewählte soziale Gruppen im britischen Unterhaus (1951-1979)


Gruppe 1951 1955 1959 1964 1966 1970 1974 1974 1979
Feb. Oct.
Konservative, 321 344 365 304 253 330 297 277 339
davon
Schule:
Eton und Harrow 99 98 93 85 69 73 k.A. 58 59
Beruf:
Manager 107 94 107 77 68 94 62 61 59
Labour, 295 277 258 317 363 287 301 319 269
davon
Beruf:
Arbeiter 108 97 90 103 109 72 84 84 82
Finanzierung:
Gewerkschaften 108 95 92 120 127 112 127 129 133
Quellen: Butler 1952, S. 39, 41; Butler 1955, S. 42f.; Butler/Rose 1960, S. 127f.; Butler/ King 1965, S. 235,
237; Butler/ King 1966, S. 208f.; Butler/ Freeman 1968, S. 110; Helms 2006, S. 216; Butler/ Pinto-
Duschinsky 1999 (1970), S. 299-302; Butler/ Kavanagh 1999 (1974 F), S. 212-214; Butler/ Kava-
nagh 1999 (1974 O), S. 214f., 217; Butler/ Kavanagh 1999 (1979), S. 286-288.

92
Bei langfristiger Betrachtung von 72% (1918-1935) auf 45% (1951). Johnson 1973, S. 43.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 149

Die Angaben in Tab. 10 belegen deutlich die Verbindung zwischen der politischen Elite
und den Interessenten am sozialen Status quo.93 Im Laufe von 28 Jahren haben sich dabei
nur zwei Veränderungen ergeben: In der Konservativen Partei ist der Grad der Verflech-
tung rückläufig, der Anteil der Vertreter des Managements ist (gemessen an den beiden in
Tab. 10 angewandten Kriterien)94 von über 30% aller Konservativen Abgeordneten im
Jahre 1951 auf ca. 17% der Konservativen Unterhausfraktion im Jahre 1979 zurückgegan-
gen. Bei der Labour Party fällt auf, dass die Gewerkschaften seit 1964 offenbar immer
häufiger Kandidaten unterstützen, die nicht als Arbeiter tätig gewesen sind.

Tabelle 11: Vertretung einzelner Gewerkschaften im Unterhaus (1945-1979)


Gewerkschaft 1945 1950 1951 1955 1959 1964 1966 1970 1974 1974 1979
Feb. Oct.
1) Bergarbeiter 34 37 36 34 31 28 27 20 18 18 16
2) Eisenbahner 21 17 16 13 10 13 13 5 6 6 12
1) + 2) 55 54 52 47 41 41 40 25 24 24 28
3) Transportarbeiter 17 16 14 14 14 21 25 19 23 22 20
4) Maschinenbauer 4 8 8 6 8 18 18 16 22 21 21
3) + 4) 21 24 22 20 22 39 43 35 45 43 41
1) bis 4) insgesamt 76 78 74 67 63 80 83 60 69 67 69
5) alle anderen Gewerk-
44 33 34 28 29 40 44 52 58 62 64
schaften
alle Gewerkschaften
120 111 108 95 92 120 127 112 127 129 133
insgesamt
Quellen: Butler/ Freeman 1968, S. 110; Butler/ Pinto-Duschinsky 1999 (1970), S. 299; Butler/ Kavanagh 1999
(1974 F), S. 213; Butler/ Kavanagh 1999 (1974 O), S. 217; Butler/ Kavanagh 1999 (1979), S. 288.

Eine weitere Veränderung zeigt die Aufschlüsselung der Globalzahlen für die mit Hilfe der
Gewerkschaften gewählten Abgeordneten (Tab. 11). Bis 1966 stellten fünf verschiedene
Gewerkschaften stets knapp 2/3 aller Gewerkschaftsabgeordneten, aber die Verteilung auf
die von fünf Gewerkschaften vertretenen vier Wirtschaftszweige änderte sich signifikant.
Bis 1955 wurde fast die Hälfte aller Gewerkschaftsabgeordneten (46-49%) von den Bergar-
beiter- und Eisenbahnergewerkschaften unterstützt, 1966 waren es weniger als 1/3, 1974-79
weniger als 1/5. Demgegenüber stellten die Gewerkschaften der Transportarbeiter und der
Maschinenbauer, auf die 1945 nur etwas mehr als 1/6 der Gewerkschaftsabgeordneten
entfallen war, seit 1966 regelmäßig 1/3 dieser Gruppe innerhalb der Labour-Fraktion des
Unterhauses. Ab 1970 unterstützten die bisher dominanten Gewerkschaften nur noch etwas
mehr als die Hälfte der von Gewerkschaften finanzierten Abgeordneten.
Trotz dieser Veränderungen  und das zeigen die Tabellen 10 und 11 sehr deutlich 
blieben die wesentlichen Elemente der Machtverteilung in beiden Fraktionen bis in die
1970er Jahre erhalten. Der Einfluss der großen Interessengruppen Management und Ge-
werkschaften auf den politischen Prozess reichte zunächst aus, um jede denkbare Regierung
(Konservative und Labour) zum Verzicht auf Reformpläne im Bereich der wirtschaftlich-
sozialen Struktur zu veranlassen. Seit den 1960er Jahren bahnte sich bei den Konservativen
ein Rückgang des traditionellen Einflusses an, während er bei Labour eher noch zunahm.

93
Langfristige Berechnungen zeigen einen allmählichen, aber sehr langsamen Rückgang der traditionellen Ober-
schicht (Johnson 1973, S. 40, 45ff. unter Bezug auf Guttsman).
94
Company Director und Company Executive.
150 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

Die auffallende Affinität zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften einerseits
sowie dem Management und den Konservativen andererseits wurde zum Problem der Ta-
gespolitik. Die Verbindung jeder potenziellen Regierung mit einer bestimmten wirtschaftli-
chen Interessengruppe wirkte im Zwei-Parteien-System als Sperre auf Gegenseitigkeit.
Konservative Regierungen verzichteten auf eine Politik, die erkennbar gegen die Ge-
werkschaften gerichtet war und die Labour Party vermied als Regierungspartei jede deutli-
che Benachteiligung von „business“ und „city“. Ohnehin verhinderte der Umfang der
Gruppenverflechtung Reformen gegenüber dem jeweils nahe stehenden Interesse. Eine
Umgestaltung der wirtschaftspolitisch relevanten Strukturen hätte beide Interessengruppen
betroffen. Politische Immobilität erweist sich als Folge erheblicher Einseitigkeiten in der
Auswahl des politischen Personals. Damit hatte sich eine Situation ergeben, in der das par-
lamentarische Regierungssystem in bestimmten Fragen seine volle Elastizität nicht entfal-
ten konnte. Es fragt sich, welchen Einfluss das Verfahren der Kandidatenaufstellung auf die
bestehende personelle Verflechtung zwischen den Unterhausfraktionen und den beiden
großen Interessengruppen („business“ und „trade unions“) und damit den Elastizitätsverlust
parlamentarischer Regierung hat.
Die Kandidatenaufstellung erfolgt in beiden großen Parteien durch die einzelnen
Wahlkreisorganisationen in Konsultation mit der jeweiligen Parteizentrale. Bei der Ein-
flussnahme der Partei-Hauptquartiere auf die Kandidatenaufstellung bestehen wesentliche
Unterschiede zwischen den beiden Parteien: Bei den Konservativen führt die Parteizentrale
(Central Office) traditionell eine Liste derjenigen Personen, die als Kandidaten der Partei in
Frage kommen.95 Aus dieser Liste wählen die Wahlkreisorganisationen ihren Kandidaten.
Wer auf die Liste kommt, entscheidet theoretisch ein besonderer Ausschuss, tatsächlich der
stellvertretende Vorsitzende der Parteiorganisation („vice chairman“). Dieser Funktionär
der Gesamtpartei wird vom Parteiführer („leader“), d.h. dem Konservativen Premierminis-
ter bzw. Oppositionsführer, ernannt. Die Parteiführer waren bis in die 1960er Jahre stets
Absolventen einer „public school“. In Anbetracht einer solchen Situation war es nicht ver-
wunderlich, wenn Absolventen von „public schools“ gute Chancen hatten, Mandate der
Konservativen Partei zu erhalten.96
Hinzu kam, dass die Chancen solcher Kandidaten, einen aussichtsreichen Wahlkreis
zu erhalten, offenbar ebenfalls größer waren als die der anderen Konservativen Kandidaten.
Der Anteil der erfolglosen Bewerber lag in den Wahlen von 1951 bis 1966 bei den Konser-
vativen Kandidaten, die eine Privatschule besucht hatten, stets – z.T. sogar erheblich –
unter dem Durchschnitt aller Konservativen Kandidaten. Diese Tendenz schwächte sich bis
1979 ab, bestand aber fort (Tab. 12). Dabei übertraf wiederum die Erfolgsquote von Absol-
venten der beiden „vornehmsten“ Internate Eton und Harrow nicht nur wesentlich diejeni-
gen aller Konservativen Bewerber, sondern auch die aller ehemaligen Internatsschüler. Das
zeigt deutlich die Bevorzugung einer bestimmten sozialen Gruppe bei der Aufstellung der
Konservativen Unterhauskandidaten. Der Vorteil schrumpfte allerdings bei Wahlen, die
von den Konservativen verloren wurden. Absolventen aus Eton und Harrow hatten offenbar
viele „marginal seats“ inne.

95
Für Einzelheiten s. McKenzie 1961, S. 158ff., 171f., 189f.
96
Erst durch die Wahl von Edward Heath, dem Oppositionsführer der späten 1960er Jahre und späteren Premier-
minister, hat die Partei mit dieser Tradition gebrochen. S. d. auch unten Unterabschnitt E 2 b.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 151

Tabelle 12: Abschneiden der Konservativen Kandidaten mit Internatsausbildung (1951-


1979)
Kandidatengruppe 1951 1955 1959 1964 1966 1970 1974 1974 1979
Feb. Oct.
Konservative Kandida-
ten insgesamt 617 623 625 630 629 628 623 623 622
Unterlegene 296 279 260 326 376 298 326 346 283
% 47,9 46,4 41,6 51,7 59,8 47,5 52,3 55,5 45,5
Konservative Kandida-
ten, die eine „Public
School“ besuchten
367 381 373 417 409 136 84 121 126
insgesamt
Unterlegene 127 121 110 188 205 56 34 62 58
% 34,6 31,8 29,5 45,1 50,2 41,2 40,5 51,2 46,0
Konservative Kandida-
ten aus Eton und Har-
row insgesamt 124 123 112 118 106 87 87 88 81
Unterlegene 25 25 19 33 37 14 22 30 12
% 20,2 20,3 17,0 28,0 34,9 16,9 25,3 34,1 14,8
Quellen: Butler 1952, S. 39; Butler 1955, S. 42; Butler/ Rose 1960, S. 128; Butler/ King 1965, S. 237; Butler/
King 1966, S. 208; Butler/ Pinto-Duschinsky 1999 (1970), S. 301; Butler/ Kavanagh 1999 (1974 F),
S. 212; Butler/ Kavanagh 1999 (1974 O), S. 215; Butler/ Kavanagh 1999 (1979), S. 287.

Im Hauptquartier der Labour Party97 (Head Office) wird ebenfalls eine Liste potenzieller
Kandidaten geführt, aber die örtlichen Parteiorganisationen sind nicht auf diese Kandidaten
angewiesen. Sie können vielmehr auch ohne Rückgriff auf die Liste einen eigenen Kandi-
daten benennen. Dieser bedarf aber der Zustimmung des Parteivorstandes („National Exe-
cutive Committee“).98 Allerdings hatte diese Entscheidung für die Überlegungen bei der
Kandidatenaufstellung weniger Bedeutung als die Frage, wer den Wahlkampf des neuen
Kandidaten finanzierte. Wenn eine Gewerkschaft die Finanzierung des Wahlkampfes für
einen bestimmten Kandidaten zusagte, dann bestand eine erhebliche Wahrscheinlichkeit,
dass die Wahlkreisorganisation den von dieser Gewerkschaft vorgeschlagenen Kandidaten
akzeptierte.99
Da es nicht nur das abstrakte Ziel der Gewerkschaften war, „der Labour Party zu hel-
fen, sondern (auch konkret – d.Verf.) im Parlament Vertreter zu haben“,100 interessierten
sich die Gewerkschaften verständlicherweise nicht für marginale oder gar aussichtslose,
sondern fast nur für sichere Wahlkreise.101 Die Chancen der von ihnen unterstützten Kandi-
daten, tatsächlich gewählt zu werden, waren also besonders groß. Die Ergebnisse der Wahl
von 1964 und 1966 zeigen das sehr deutlich. In beiden Wahlen unterstützten 27 verschie-
dene Gewerkschaften insgesamt jeweils 138 Kandidaten. Davon wurden 1964 120 (=87%)
und 1966 132 (=96%) gewählt.102 Die Wahlen von 1974 (Oktober) und 1979 zeigen ein
97
Für Einzelheiten s. McKenzie 1961, S. 362ff.
98
Bei Gewerkschaftskandidaten dürfte diese Zustimmung angesichts der starken Gewerkschaftsvertretung im
NEC nicht in Frage gestellt sein.
99
Vgl. hierzu insb. McKenzie 1955, S. 556 (diese Schilderung fehlt in der deutschen Ausgabe).
100
Blondel 1964, S. 150f.
101
Butler/ Pinto-Duschinsky 1999 (1970), S. 272.
102
Butler/ King 1966, S. 209. 1992 wurden noch 144 der 271 gewählten Labour Abgeordneten direkt durch Ge-
werkschaften unterstützt (Saalfeld 1999, S. 78).
152 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

ähnliches Bild. 1974 bzw. 1979 wurden 141 bzw. 165 Kandidaten von Gewerkschaften
unterstützt, davon 129 (also 91%) bzw. 133 (also 81%) gewählt. Das Ergebnis war, dass
1979 die Hälfte der Abgeordneten von Gewerkschaften gesponsert waren.103 Bei längerfris-
tiger Analyse hat die Zahl der gesponserten Sitze 1970-79 kontinuierlich zugenommen.104
Diese bevorzugte Stellung innerhalb der Labour Party verdanken die Gewerkschaften ihrer
Bedeutung für die Finanzierung der Partei.

b) Parteienfinanzierung

Welchen Einfluss die finanziellen Leistungen der Gewerkschaften für die einzelne Wahl-
kreisorganisation („Constituency Labour Party, CLP“) haben können, wird deutlich, wenn
deren damaliges durchschnittliches Jahresbudget von £950 bis £1.250 105 den regelmäßigen
jährlichen Zahlungen der jeweiligen Gewerkschaften von £ 350 bzw. £ 420 gegenüberstellt
wird. Außerdem übernahmen die Gewerkschaften bis zu 80% der Wahlkampfausgaben der
von ihnen unterstützten Kandidaten.106 Für Wahlkreisorganisationen, die ihre finanziellen
Mittel nicht durch eine Art „parteieigenen Fußballtoto entscheidend aufbessern, stellten
diese Zahlungen ein verlockendes Angebot dar.“107 Harrison schätzte, dass die Gesamtein-
nahmen aller Labour-Wahlkreisorganisationen Anfang der 1960er Jahre £600.000 bis
750.000 betrugen, von denen £300.000 bis 450.000 aus Glücksspielen, £45.000 bis 65.000
aus gesellschaftlichen Veranstaltungen stammten. Damit kamen also 60-70% aller Einnah-
men der Labour-Lokalorganisationen aus nicht-politischen Quellen. Von den übrigen Ein-
nahmen entfielen £125.000 auf Beiträge und Spenden der Mitglieder, £30.000 auf Zuwen-
dungen aus der Genossenschaftsbewegung, £50.000 auf die Zuwendungen der Gewerk-
schaften für die Aufstellung ihrer Kandidaten und £100.000 auf die Beiträge der Gewerk-
schaften für die durch Gewerkschaftszugehörigkeit affiliierten Mitglieder der örtlichen
Labour-Parteiorganisationen.108 Pinto-Duschinsky präsentiert Zahlen des Houghton Com-
mittees, wonach im Vergleich die Einnahmen von Gewerkschaften und Spenden für die
lokalen Parteiorganisationen an Bedeutung verlieren, nicht aber die Unterstützungsgelder
für Kandidaten.109
Die Gewerkschaften finanzierten aber nicht nur mindestens 20 Prozent der Ausgaben
der Wahlkreisorganisationen, sondern auch über 90 Prozent sowohl des laufenden Haus-
halts der Parteizentrale als auch der zentralen Wahlkampfaufwendungen.110 Bei diesen
Zahlungen der Gewerkschaften handelte es sich um Beiträge für die durch Mitgliedschaft in
der Gewerkschaftsbewegung der Labour Party angeschlossenen Mitglieder.

103
Butler/ Kavanagh 1999 (1974 O), S. 217; dieselben 1999 (1979), S. 288f.
104
Pinto-Duschinsky 1981, S. 160.
105
Die Spannweite der tatsächlichen Einnahmen der einzelnen Wahlkreisorganisationen liegt zwischen unter £200
und £10.000; s.a. Butler/ Pinto-Duschinsky 1999 (1970), S. 271f.
106
Harrison 1963, S. 672f.; Ewing 1987, S. 56.
107
Pinto-Duschinsky 1981, S. 159.
108
Harrison 1963, S. 673, 675.
109
Pinto-Duschinsky 1981, S. 171.
110
Ebenda, S. 162. In der finanziellen Verbindung der Labour Party mit den Gewerkschaften sah auch Grosser
(1967, S. 585) eine Begrenzung der wirtschaftspolitischen Möglichkeiten dieser Partei. Er versäumt aber, aus-
drücklich darauf hinzuweisen, dass durch die Zusammensetzung der eigenen Unterhausfraktion und die enge
Verbindung einer bestimmten Interessengruppe mit der anderen Alternierungspartei im Wege „antizipierter Reak-
tionen“ die Hemmungen für die Formulierung einer Reformpolitik verstärkt wurden.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 153

Die bereitgestellten Mittel reichten trotz des hohen Anteils der Gewerkschaften zum
laufenden Unterhalt einer modernen Großpartei nicht aus, ein Zustand, den bereits Harrison
als „chronic financial anaemia“ der Parteizentrale bezeichnete.111 Die finanziellen Verhält-
nisse der Labour Party waren also in erheblichem Maße reformbedürftig, wenn diese Partei
ihre Funktionen in der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens erfüllen sollte. Zwar
wurden mehrfach geringe Erhöhungen der Beitragssätze für affiliierte Mitglieder vorge-
nommen, aber diese Maßnahmen waren weder geeignet, den finanziellen Spielraum der
Parteizentrale rechtzeitig den Anforderungen entsprechend auszuweiten, noch darauf abge-
stellt, die finanzielle Abhängigkeit der Labour Party von den Gewerkschaften zu verrin-
gern.
Im Gegensatz zu dieser Erstarrung bei der Labour Party hatten die Konservativen ihr
Finanzwesen nach der Wahlniederlage von 1945 wesentlich umgestaltet. Während früher
die Wahlkreisorganisationen weitgehend von den Zuwendungen der Abgeordneten oder
Kandidaten getragen wurden und die Parteizentrale ausschließlich auf Spenden angewiesen
war, bilden bis in die 1970er Jahre die Beiträge der Mitglieder („subscription“) bzw. der
Wahlkreisorganisationen („quotas“) einen wesentlichen Teil der Einnahmen bei den Lokal-
organisationen bzw. der Parteizentrale.112 Da die Zuwendungen der Kandidaten oder Ab-
geordneten 1949 auf maximal £25 bzw. £50 jährlich begrenzt wurden, beschafften sich die
Wahlkreisorganisationen weitere Mittel durch Spenden kleiner Geschäftsleute und Veran-
staltungen oder Publikationen. Die Differenz zwischen den Gesamteinnahmen der Partei-
zentrale und denen aus Beiträgen der Wahlkreisorganisationen wurde durch Spenden aus
der Industrie und von vermögenden Einzelpersonen aufgebracht.113 Das galt vor allem für
die Mittel zur Finanzierung des Wahlkampfes.114 Auch wenn durch die parteiinterne Fi-
nanzreform die Finanzierung der laufenden Tätigkeit der Parteizentrale weniger von Spen-
den aus dem Bereich des Managements abhängig geworden war und die finanzielle Lage
der Gesamtpartei mit Jahreseinnahmen von 2,5 bis 3 Mio. £ wesentlich besser erscheint als
die der Labour Party, so blieb doch das Problem einer generellen Abhängigkeit der Konser-
vativen Partei von Spenden aus der „Wirtschaft“.

5. Zusammenfassung

Die wichtigsten Symptome der britischen Wirtschaftsentwicklung im 20. Jahrhundert war-


en regelmäßig auftretende Zahlungsbilanzschwächen, ein Stop-Go-Verlauf der wirtschaftli-
chen Impulse und ein Rückstand der Wachstumsentwicklung gegenüber anderen Industrie-
ländern. Dabei verschärfte die durchgängige Wachstumsschwäche die beiden anderen Prob-
leme, verdient also mehr politische Aufmerksamkeit als jene.
Die Suche nach den Ursachen für die Wachstumsschwäche ergibt eine Vielzahl von
möglichen Einflussfaktoren, die im politischen und wissenschaftlichen Diskurs ausgebreitet
wurden. Bei einer eingehenden Prüfung dieser Faktoren erweist sich die veränderte Rolle
Großbritanniens in der Welt als nicht durchschlagend. Das gilt sowohl in wirtschaftlicher
(nicht dauerhaft „Werkstatt der Welt“) als auch in politischer Hinsicht (zaghafter Abschied

111
Harrison 1963, S. 672.
112
Pinto-Duschinsky 1981, S. 137. S. auch unten, Unterabschnitt E 2 a.
113
Pinto-Duschinsky 1999, S. 139.
114
Harrison 1963, S. 665ff.
154 D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten

von der „Weltmacht“). In beiden Fällen vermag die verzögerte Anpassung an eine verän-
derte Umwelt als Ursache für dauerhafte wirtschaftliche Schwäche nicht zu überzeugen.
Auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik nach 1945 (Sozialstaat, Vollbeschäftigung, Ver-
staatlichung) kann einzelne Probleme verstärkt haben, insbesondere durch „disincentive“-
Wirkungen gegenüber der Eigenintiative. Als Erklärung für die bereits vorher zu Tage
getretenen Wachstumsprobleme reicht dies aber nicht aus. Ähnliches gilt für Hinweise, das
britische Produktionspotenzial sei durch die geringen Arbeitskraftreserven (wegen des
niedrigen Agraranteils) oder durch „die“ britische Wirtschaftsmentalität begrenzt.
Als tatsächliche Ursachen der britischen Wachstumskrise konnten Gestaltung der Ar-
beitsbeziehungen sowie Rekrutierung und Qualifikation des Managements herausgearbeitet
werden. Als Kernprobleme der Arbeitsbeziehungen erwiesen sich letztlich die historisch
gewachsene Struktur der Gewerkschaften (Nebeneinander von Berufs-, Branchen- und
allgemeinen Gewerkschaften) und die traditionell bedingte Ablehnung von „verregelten“
Arbeitsbeziehungen. Beides verschob die Gewichte zwischen Branchentarifvertrag und
einzelbetrieblicher Regelung, zwischen handlungsfähiger Gewerkschaftsorganisation und
lokaler Militanz. Am Ende waren die Gewerkschaften weder berechenbare Vertragspartner
noch wirkungsvolle Vertreter langfristiger Arbeitnehmerinteressen. Auf Seiten des Mana-
gements erwiesen sich über Jahrzehnte die Abschließung der traditionellen Eliten gegenü-
ber Naturwissenschaften und Technik sowie gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen
als ausgeprägte Innovationshemmer.
In beiden Bereichen wurde die enge Verbindung zwischen Modernisierungshemmnis
und politischer Elite zum Dauerproblem: Die Absolventen der Internatsschulen, zugleich
Vertreter der traditionellen Wirtschaftselite, stellten fast 1/3 der Konservativen Unterhaus-
abgeordneten, Vertreter der wichtigsten Gewerkschaften mindestens 1/3 jeder Labour-
Fraktion. In den Jahren 1951-79 war die gesellschaftlich bedingte Konservierung von wirt-
schaftlichen Strukturen auch politisch abgesichert. Eine besonders wichtige Rolle kam
dabei den Verfahren der Kandidatenaufstellung und der Parteienfinanzierung zu.
Für die Bedingungen einer nachhaltigen bzw. reformorientierten Wirtschaftspolitik in
Großbritannien bietet sich als kurze Formel die Feststellung von Youngson an: „There will
have to be a Tory party not dominated by Eton and a Labour party not dominated by wish-
ful thinking and the trade unions“.115 116 Es geht also um die Frage, ob moderne Parteien die
Entwicklung von der Klassen- und Weltanschauungspartei ihrer Gründerzeit zur „funktio-
nalen Partei“117 im parlamentarischen Regierungssystem vollziehen können oder ob sie sich
bestenfalls zu „teilintegrierten Interessenparteien“118 entwickeln. Eine empirisch fundierte
Aussage dazu ist erst möglich, wenn die maßgebenden Parteien eines Landes durch geeig-
nete „Regeln der Machtbewerbung“119 die Möglichkeit erhielten, auf die tradierte einseitige
Interessenbindung an die jeweilige Wirtschaftselite bzw. Gewerkschaftsbewegung zu ver-
zichten.

115
Youngson 1968, S. 264.
116
Durch den Terminus „wishful thinking“ wird ein weiterer Aspekt des Problems angesprochen, der sich mögli-
cherweise kaum quantitativ belegen lässt und in der von Youngson gewählten Formulierung wohl auch überbetont
wurde. Was nach den erforderlichen Abstrichen bleibt, ist ein allgemein europäisches Problem. „Der Beweis, dass
eine Partei der zweiten Internationale sich als Alternierungspartei vollkommen in ein Zwei-Parteien-System inte-
grieren kann, steht noch aus.“ (Frederick C. Engelmann in einem Gespräch in Edmonton 1986).
117
Zum Begriff s. Hermens 1968b, S. 188f.
118
Unkelbach 1956, S. 40.
119
Wildenmann 1968, S. 70.
D. Strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten 155

Solange die damalige Situation fortbestand, wurde der Zusammenhang zwischen Wirt-
schaftswachstum und sozialen Strukturen in Großbritannien nicht zum Gegenstand der
politischen Auseinandersetzung. Einen ersten (gescheiterten) Versuch machte Heath 1974
mit seiner durch den Bergarbeiter-Streik provozierten Neuwahl. Erst nach dem „winter of
discontent“ fand Thatcher dann genug Zustimmung bei den Wählern für ihre gewerk-
schaftsfeindliche Politik. Bis dahin blieben der Wählerschaft solche politischen Probleme
vorenthalten; von ihr konnte folglich kein Druck auf die Entscheidungsträger ausgehen, der
eine Regelung der anstehenden Probleme erzwingen würde. Damit die Entscheidungsfähig-
keit des politischen Systems auch in wirtschaftlichen Fragen gesichert wurde, mussten in
Großbritannien politische Institutionen und gesellschaftliche Gruppen einander anders
zugeordnet werden. Eine solche Neuordnung im Verhältnis von politischer Form und sozia-
len Kräften kann durch Änderung der gesellschaftlichen Strukturen oder durch Reformen
der politischen Institutionen erfolgen.120 Inwieweit solche Veränderungen durch Thatchers
„Revolution“ stattgefunden haben, ist jetzt zu prüfen.

120
In diesem Falle braucht es sich allerdings nicht um grundlegende Reformen des parlamentarischen Systems,
sondern nur um Korrekturen einzelner Elemente zu handeln.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Seit Mitte der 1960er Jahre haben die britischen Regierungen einzelne Maßnahmen ergrif-
fen, die zu einer Reform der wirtschaftlichen Struktur des Landes beitragen sollten. Hier ist
zunächst zu denken an den „Industrial Expansion Act 1968“, der staatliche Subventionen
für industrielle Neuentwicklungen vorsah, und an die systematische Förderung von Unter-
nehmenszusammenschlüssen in der Industrie. Diese und andere Maßnahmen, wie z.B. die
Einrichtung eines Ministeriums für Technologie und die Ernennung einer Ministerin für
Produktivität,1 zeigen an, dass bereits die Labour-Regierung Wilson (1964-70) Reformen in
der Wirtschaft einleitete. Bis zur neokonservativen Wende Thatchers hielten aber die Re-
gierungen an der Vorstellung fest, dass an Modellen des Neokorporatismus orientierte Ent-
scheidungsmuster Fortschritte bei den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen ermögli-
chen würden. Da die damaligen Maßnahmen die Strukturprobleme nicht lösen konnten,2 ist
im Folgenden zu prüfen, ob durch die Politik Thatchers (1979-90) „eine radikale Moderni-
sierung der Wirtschaft“ erreicht wurde.3 Judt betont „das bloße Ausmaß der Veränderun-
gen“, das „zum Guten oder Schlechten“ bewirkt wurde: „Jedem, der im England des Jahres
1978 eingeschlafen und 20 Jahre später erwacht wäre, wäre das Land fremd erschienen:
völlig anders, als es einst war – und deutlich verschieden vom Rest Europas.“4

1. Gezielte Reformen in der britischen Wirtschaft

Drei Elemente der wirtschaftlich-sozialen Grundstruktur in Großbritannien mussten vor


allem Gegenstand von Reformen sein: die Unternehmensstruktur, das Management und die
Gewerkschaften.5

a) Unternehmensstruktur

Die damaligen Größenverhältnisse in der britischen Industrie, bei der in vielen Branchen
die Mittelbetriebe vorherrschten, ließen es nicht zu, eine betriebswirtschaftlich optimale
Kostenstruktur zu erreichen. Von einem verstärkten Zusammenschluss solcher Betriebe zu
größeren Einheiten wurde nicht nur die Möglichkeit von „economies of scale“ erwartet,
sondern im neuen Unternehmen auch innerbetriebliche Veränderungen. Jede Fusion bot
einen Anlass, die bisherigen betrieblichen Strukturen kritisch zu überprüfen und daraus die
erforderlichen Rationalisierungsmaßnahmen abzuleiten. Tatsächlich haben einige Unter-

1
Die Besetzung mit Barbara Castle, einer prominenten Vertreterin des linken Flügels, war ein Risiko für den
Reformprozess, dem sich diese allerdings stellte.
2
Vor allem die 1966 eingeführte Lohnsummensteuer („selective employment tax“) erwies sich als Fehlschlag.
Durch eine Besteuerung der im Dienstleistungsgewerbe beschäftigten Arbeitnehmer sollte eine Umschichtung der
Arbeitsplätze aus diesen Branchen in die Exportindustrie angeregt werden. Die Wirkungen der Steuer waren teils
Preissteigerungen, teils stärkere Arbeitslosigkeit.
3
Schmid 2002, S. 353.
4
Judt 2006, S. 625.
5
Für Einzelheiten s. oben, Abschnitte C 4 und D 3.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 157

nehmenszusammenschlüsse seit den späten 1960er Jahre gezeigt, dass auf diese Weise eine
Modernisierung der Organisation des Produktionsprozesses eingeleitet werden konnte.6
Dies hat allerdings in den einzelnen Wirtschaftszweigen unterschiedliche Ergebnisse her-
vorgerufen.
In der Kohleförderung kam es zu massiven Schließungen von unrentablen Zechen, die
nach dem Amtsantritt Thatchers weitergeführt wurden. Allerdings gab es durch den Abbau
von Förderkapazitäten zunächst keine Zusammenarbeit der verbliebenen Zechen und damit
eine Veränderung der Betriebsstrukturen. Erst Vorbereitung und Durchführung der Privati-
sierung selbst in den 1990er Jahren brachten die Neustrukturierung voran, die zunächst von
Blair aus Sorge um die Klientel von Old Labour zögernd weitergeführt wurde.
In der Textilindustrie bemühten sich die Regierungen seit den 1960er Jahren ebenfalls
die Modernisierung voranzutreiben. Dies führte allerdings zunächst zu einer Überinvestiti-
on bei neuen Betrieben ohne Berücksichtigung von Absatzchancen. Die Regierung sah sich
dann gezwungen, die Textilindustrie durch Einfuhrquoten zu schützen. Die von der Regie-
rung gewünschten Zusammenschlüsse wurden zudem von der Monopolkommission kritisch
gesehen, was den weiteren Prozess verzögerte. Ein weiteres Problem war, dass die vertikale
Integration der Textilindustrie fehlte. Die Briten waren vor allen Dingen Garnhersteller, der
Markt hätte aber von den Konsumentenwünschen ausgehend bedient werden müssen. Erst
zur Regierungszeit Thatchers wurden Überkapazitäten abgebaut und die Internationalisie-
rung der Textilindustrie durch Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland vorange-
trieben. Zu dieser Zeit erwiesen sich große Zusammenschlüsse bei differenzierter Nachfra-
ge aber schon als kontraproduktiv.
In der Stahlproduktion war die Kostenfrage lange Zeit vernachlässigt worden. Selbst
nach der Verstaatlichung blieb die Vielzahl der Hersteller kaum angetastet. Bei Privatisie-
rung erwies sich die Stahlindustrie für Investoren als wenig attraktiv, weil mit einer neuen
Verstaatlichung gerechnet werden musste. So sah die Regierung 1964 nur diesen Ausweg:
1967 wurden die 14 größten Unternehmen zu British Steel zusammengeschlossen. Der
damit verbundene Trend zur Größe war mit dem Bau neuer Stahlwerke auf der grünen
Wiese verbunden. Eigentlich wäre aufgrund der Überkapazitäten in der Stahlerzeugung
eine innerbetriebliche Modernisierung notwendig gewesen. Bis 1979 haben die Regierun-
gen auf Druck der Gewerkschaften mehrfach die Schließung unrentabler Stahlwerke zu-
rückgestellt. In der Regierungszeit Thatchers standen dann eher die kommerziellen als die
sozialen Aspekte im Vordergrund. Es wurde mehr Gewicht auf Produktentwicklung und
Marketing gelegt. Die Rehabilitation von British Steel wird als Verdienst des Thatcheris-
mus gesehen.
Die Eisenbahnen Großbritanniens hinkten in den 1950er Jahren bereits gegenüber den
technischen Entwicklungen in Frankreich und Japan hinterher. Der Modernisierungsplan
der 1950er Jahre brachte nicht die gewünschten Wirkungen. Steigende Kosten und Verluste
führten in den 1960er Jahren zu radikalen Maßnahmen, die mit Streckenstillegungen ver-
bunden waren und der Bahn weitere Kunden entzogen. Die Labour-Regierungen der 1970er
Jahre sahen die Bahn als sozialen Servicebetrieb, wobei Beschäftigung und Umweltschutz
Priorität gegenüber kommerziellen Zielen hatten. Letztere Aspekte wurden dagegen nach
dem Amtsantritt Thatchers gepflegt. Dies fiel in die Zeit verstärkter Nutzung der Elektrizi-
tät als Antrieb und einer Reduktion der Personals. Insgesamt ist auch hier eine verspätete
Modernisierung zu verzeichnen. Ob Privatisierung und Auslagerung von Servicebetrieben,
6
Interview in London am 5. Juni 1968.
158 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

die schließlich unter Thatchers Nachfolger Major erfolgten, positive Wirkungen hervorge-
rufen haben, wird unterschiedlich beurteilt.
Der Automobilbau sollte in den 1960er Jahren durch größere Zusammenschlüsse mehr
Wettbewerbsstärke erhalten. Die von Labour angeregte Fusion von BMC und BL, die beide
selbst durch vielfältige Zusammenschlüsse entstanden waren, hat aber eher die Schwächen
der Automobilbranche verstärkt. Die Vielzahl der Fertigungsstätten blieb erhalten, zudem
ging es der Regierung auch darum, durch Betriebe in wirtschaftlich unterentwickelten Tei-
len des Landes Beschäftigung zu schaffen. So trugen die Regierungen eher zur Ineffizienz
der Hersteller bei und BL musste schließlich durch Verstaatlichung gerettet werden. Der
Bruch mit der Vergangenheit kam erst nach dem Regierungsantritt von Thatcher. Die neue
Regierung war nicht mehr bereit, die verlustbringende Autoindustrie weiter zu subventio-
nieren. BL sollte so schnell wie möglich wieder privatisiert werden. Ausländische Investo-
ren wurden eingeladen, sich zu engagieren. Den Wiederaufstieg der britischen Autoindus-
trie brachten dann japanische Unternehmen voran.
Im Chemiesektor gelten die Jahre zwischen 1945 und 1970 als das goldene Zeitalter,
in dem die Chemiefasern den Textilmarkt eroberten. Aber in den 1970er Jahren zeigte sich,
dass die britische Chemieindustrie im Gegensatz zu den Konkurrenten auf dem Weltmarkt,
insbesondere gegenüber den Amerikanern, technologisch ins Hintertreffen geriet. Auch hier
lautete die Lösung der Regierung, in größere Betriebsgebäude zu investieren. Das Problem
war allerdings, dass der Einstieg in den europäischen Handel nicht gelang und somit die
innereuropäische Expansion der Nachfrage für Großbritannien nicht wirksam wurde. Man-
che neuen Betriebsgebäude konnten ihre Produktion noch nicht einmal aufnehmen, denn
die synthetischen Garne wurden wieder weniger nachgefragt als die Naturfasern. Insgesamt
hat sich allerdings die britische Chemieindustrie trotz retardierender Momente besser im
Markt gehalten als andere Industriezweige. Sie arbeitete selbst in den 1980er Jahren pro-
duktiv. Ihre Internationalisierung erfolgte kontinuierlich, wenngleich nicht ohne Rück-
schläge.
Die Elektrizitätswirtschaft war von Beginn an eng mit der Kohle verbunden, deren
Förderung seit Jahrzehnten unter besonderem Schutz stand. Dies war auch noch der Fall,
als alternative Brennstoffe sich angeboten hätten. Jedenfalls arbeiteten die Kraftwerke am
Ende der 1970er Jahre wenig effizient. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre wurde über
den Bau neuer Kraftwerke nachgedacht. Die Privatisierung der Elektrizitätswirtschaft war
für den Kohlenbergbau ein wichtiger Einschnitt. Sie wurde durch die Regierung Thatcher
vorangebracht und erfolgte spät. Selbst der Ausbau der Kernenergie war dazu gedacht, die
Bergarbeitergewerkschaft zu schwächen. Kohle sollte nicht weiter gefördert werden. Dies
führte 1992/93 zur politischen „Kohlenkrise“, die die Regierung Major vorübergehend zum
Einlenken zwang. Bei den wichtigsten mit dem Elektrizitätssektor verbundenen Entwick-
lungen der Kommunikationsindustrie geriet Großbritannien bald gegenüber den USA ins
Hintertreffen. In den 1960er Jahren betrieb die Labour-Regierung eine Restrukturierung zur
Herausbildung eines „National Champion“. Auch bei der Anwendung des Mikrochips war-
en Verzögerungen bei dessen Nutzung in der Industrie zu verzeichnen.
Ein nicht zu unterschätzender Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Fusion, Ver-
staatlichung und Privatisierung von Unternehmen ist auch die damit in der Regel verbunde-
ne Veränderung des Managements.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 159

b) Management

Jeder Zusammenschluss bewirkt, dass sich sowohl Zusammensetzung als auch Geschäfts-
verteilung der Unternehmensleitung gegenüber der Situation vor der Fusion verändern.
Dies war auch bei den unter staatlicher Mithilfe zustande gekommenen Zusammenschlüs-
sen zu beobachten. Allerdings ist es fraglich, ob solche Veränderungen wesentlich zu einer
Lösung der mit dem britischen Management verbundenen Probleme beigetragen haben. Die
Analyse der einzelnen Industriezweige hob zuweilen auf Veränderungen des Managements
ab.
Veraltete Produktionsmethoden und geringe Produktivität der Arbeitskraft waren bei-
spielsweise in der Kohleindustrie auch durch das Management verursacht. Erst nach 1945
soll sich das Problem der Managerqualitäten entschärft haben. Allerdings fehlte bei großer
Nachfrage der Handlungsdruck. Zudem war das Management des Bergbaus durch das ge-
werkschaftsnahe NCB in seinen Handlungen eingeschränkt. Auch durch den Schutz der
Regierung, die Kohleimporte begrenzte, waren die Manager weniger gefordert. Dies änder-
te sich als Frau Thatcher die Kohleförderung dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt aussetz-
te, was zur Einfuhr von billiger Kohle aus Australien, Amerika und Kolumbien führte. Als
Manager wirkte ein Vertrauter von Frau Thatcher, der seine Befähigung bereits in der Füh-
rung amerikanischer Unternehmen bewiesen hatte. Nach der Privatisierung erlebte die Koh-
leförderung ab 1995 eine erfolgreiche Phase, was darauf hindeutet, dass der britische Berg-
bau vor der Privatisierung rationalisiert wurde.
In der Textilindustrie können als Managementprobleme die späte Integration von Pro-
duktionsstufen (von der Faser bis zum fertigen Produkt), der relativ späte Einstieg in die
Chemiefaserproduktion (da waren die Märkte schon von anderen Anbietern erobert) und
der Mangel an Marketingstrategien herausgestellt werden. Mit der Regierung Thatcher kam
1979 ein neuer Manager an die Spitze von Courtaulds, der an der Harvard Business School
ausgebildet war. Er richtete das Unternehmen neu aus, wobei Design und Mode stärker im
Vordergrund standen sowie die Nachfrage nach Stretchprodukten bedient werden konnte.
Gerade in der Textilindustrie waren die großen Zusammenschlüsse aufgrund der zu diesem
Zeitpunkt immer bedeutender werdenden individuellen Kundenwünsche eher kontrapro-
duktiv. Den Massenmarkt konnten Länder der Dritten Welt billiger beliefern.
In der Stahlindustrie hatte das Management in den 1960er und 1970er Jahren zu sehr
auf Größe der Unternehmen gesetzt und konnte dann in den 1970er Jahren die differenzier-
te Nachfrage nach unterschiedlichen Qualitäten nicht befriedigen. Jede Modernisierung
innerbetrieblicher Verfahren rief sofort den Widerstand der Gewerkschaften hervor. Als die
Regierung Thatcher ankündigte, keine Verluste mehr zu tragen, und nachdem der erste
Streik seit 1926 mit geringem Erfolg für die Streikenden endete, war das Management sich
sicher, dass die Regierung hinter ihm stand. Frau Thatcher wählte einen Mann ihres Ver-
trauens für die Spitze von British Steel aus. Nachdem BS 1988 wieder privatisiert worden
war, hatte die Gesellschaft mehr Erfolg als bisher. Dies wird auch darauf zurückgeführt,
dass die früheren Manager der staatlichen BS nicht die notwendigen Kenntnisse für das
Management mitbrachten. Allerdings fiel die Krise der britischen Stahlindustrie mit jener
der europäischen zusammen. Seit der Privatisierung konnten sich die Manager von Ein-
flussnahmen der Regierung lösen und schließlich erfolgreich eine Internationalisierung der
Stahlindustrie voranreiben.
160 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Besonders in der Autoindustrie fallen die Besonderheiten des britischen Managerver-


haltens auf. Bereits als Ford seine Montagetechniken in Großbritannien eingeführt hatte,
war das britische Management der Ansicht, dass dieser Produktionsstil nicht den heimi-
schen Bedingungen der Autoproduktion angemessen sei, in der Arbeitskräfte mit hand-
werklicher Erfahrung beschäftigt wurden. Dies konnte allerdings nur für die wenigen mitt-
leren Betriebe, die mit der Herstellung einzelner sehr teurer Fahrzeuge beschäftigt waren,
eine Zeitlang mit Erfolg durchgehalten werden. Hinzu kam der sehr persönliche Führungs-
stil der jeweiligen Betriebsleitung, der Rückgriff auf die Intuition praktischer Ingenieure
und Designer. So setzte die Arbeitsteilung in Großbritannien sehr viel später ein. Bei der
Produktentwicklung und Qualitätskontrolle, aber auch im Marketing gab es Probleme.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die britischen Autohersteller der handwerklichen
Produktionsweise verhaftet blieben, als ein Massenmarkt zu bedienen war. Als schließlich
die notwendigen Zusammenschlüsse erfolgten, waren britische Manager nicht mehr in der
Lage, die inzwischen spezielleren Kundenwünsche in Konkurrenz zum weltweiten Angebot
zu erfüllten.
Wie die Beispiele zeigen, ist sowohl die Qualifikation als auch die Auswahl der Ma-
nager von großer Bedeutung.7 Hinsichtlich der Ausbildung hatte sich, eingeleitet durch die
Politik der Konservativen Ende der 1950er Jahre,8 bereits in den 1960er Jahren ein tiefgrei-
fender Wandel angebahnt:9 Die frühere Geringschätzung der technischen, naturwissen-
schaftlichen und betriebswirtschaftlichen Ausbildung durch Universitäten und Internats-
schulen verlor seitdem zunehmend an Bedeutung. Mängel in der naturwissenschaftlichen
Ausbildung hatten besonders vorübergehend in der Chemieindustrie für Probleme gesorgt.
Technisches und betriebswirtschaftliches Know-how fehlte bei der Kohleförderung, Letzte-
res aber auch in der Textilindustrie, wodurch schwer zu behebende Wettbewerbsmängel
verursacht wurden. In der Chemieindustrie wurde die Zusammenarbeit zwischen Industrie
und Universitäten zuerst intensiviert, die Internate dehnten ihren Unterricht auf die natur-
wissenschaftlichen Fächer aus, während die Universitäten ihre naturwissenschaftlichen und
technischen Abteilungen bereits stark ausgebaut hatten. Der akademische Unterricht in der
Betriebswirtschaftslehre wurde beträchtlich intensiviert. Trotzdem blieb in diesem Bereich
noch manches zu tun.10 Die Regierung Thatcher griff auf Manager aus dem Ausland zu-
rück, die dort eine entsprechende Ausbildung erhalten hatten.
Ein Instrument der Wirtschaftspolitik, das u.a. zur Reorganisation einer bestimmten
Branche sowie zu einem erheblichen Wechsel im Management und seinen Methoden hätte
führen können, war die Verstaatlichung.11 Allerdings konnte es sich dabei – sofern nicht
ideologische Gründe maßgebend waren – nur um eine „ultima ratio“ des Staates gegenüber
Unternehmen handeln, die auf alle staatlichen Anregungen, Rationalisierungsmaßnahmen
einzuleiten, nicht eingingen. Gerade im Bereich der Einwirkung auf die Struktur des Mana-
gements musste sich die Regierung weitgehend darauf beschränken, die langfristigen Aus-
wirkungen ihrer Erziehungspolitik abzuwarten.

7
Der Donovan-Report (die „Royal Commission on Trade Unions and Employers Associations“ unter Lord Dono-
van) (1968, S. 29) hatte zudem ein unzureichendes Personalmanagement beklagt (Streeck 1978, S. 137, Anm. 11).
8
Lowe 2005, S. 239f.
9
Marwick 2003, S. 87.
10
National Plan 1965, S. 53f.
11
Als Beispiel werden hier oft die (1947 verstaatlichten) britischen Eisenbahnen angesehen (Interview in London
1968).
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 161

Die Privatisierung hat – neben dem Wettbewerb in der globalisierten Welt – dazu ge-
führt, den Druck auf das Management zu erhöhen. Eine solche Entwicklung hätte früher
eintreten können, wenn Angehörige anderer sozialer Gruppen Zutritt zum Management und
– als eine Voraussetzung dazu – zur akademischen Ausbildung erhalten hätten. Ob sich
dadurch ein signifikanter Wandel ergab, dass schon in den späten 1960er Jahren etwa 25%
aller Studenten aus Arbeiterfamilien stammten, blieb zunächst abzuwarten.12 Ihrem eigenen
Vorbild folgend setzte Premierministerin Thatcher stark auf den individuellen Aufstieg.
Auch die Regierung Blair betonte in Abgrenzung zur bisherigen Labour-Politik wieder
mehr Spezialisierung und Elitenförderung. Die Grammar School, die vor der Gesamtschul-
reform als Sprungbrett für begabte Kinder einkommensschwacher Familien in eine akade-
mische Laufbahn galt,13 sollte bestehen bleiben und sogar noch gefördert werden. Hier wird
kein Schulgeld erhoben, das Lernniveau liegt aber über den Gesamtschulen.14 Denn solange
Ausbildungsmöglichkeiten, die den Weg zur Universität eröffnen, im Wesentlichen der
bisherigen Oberschicht zur Verfügung stehen, tragen sie zwar dazu bei, den „Amateur“ in
der britischen Industrie aussterben zu lassen, nicht aber dazu, die Mentalität der (wirtschaft-
lichen und politischen) Elite wirksam zu beeinflussen.
Nach wie vor werden die schlechten Leistungen des britischen Managements be-
klagt,15 weil das Management ausländischer Eigner britischer Firmen höhere Produktivität
erzielt. Allerdings nimmt die Dominanz der in Oxford und Cambridge Ausgebildeten seit
1992 ab.16 Die Konkurrenz mit ausländischen Managern hat sich zwar verschärft, sie
scheint aber noch nicht ausreichend zu sein.17 Die Briten sind gleichzeitig die bestbezahlten
Führungskräfte.18 Aber auch die komplexen Führungsstrukturen verstaatlichter Unterneh-
men - besonders deutlich bei Stahlerzeugung und Eisenbahnen - schränkten die unmittelba-
re Managementleistung ein. Die Thatcher-Regierung hat zahlreiche Aufsichtsbehörden der
ehemaligen Staatsbetriebe (Gas-, Wasser-, Elektrizitätserzeugung und Telekommunikation)
aus der Verantwortung von Ministerien herausgenommen und sie als teilautonome Einhei-
ten der tatsächlichen oder ideellen Konkurrenz von alternativen Anbietern ausgesetzt.19 Ob
damit die Kommunikationsprobleme beseitigt sind, scheint bisher noch nicht untersucht zu
sein. Wesentlich günstiger war die Ausgangssituation der politischen Führung hinsichtlich
einer Strukturreform im Gewerkschaftswesen.

c) Gewerkschaftsstruktur

Entscheidende Probleme des britischen Gewerkschaftswesens waren die häufigen „wilden“


Streiks, zu denen es oft wegen eines Konflikts in relativ bedeutungslosen Fragen kam, und
die verschiedenen taktischen Mittel, mit deren Hilfe sich die Arbeiter ein „angemessenes“

12
Für die 1970er Jahre werden wiederum Schwächen in der schulischen Ausbildung konstatiert (Lowe 2005, S.
223). Dies galt allgemein  wie bereits im Teil D, 1.c) dargestellt  auch für die Berufsausbildung.
13
Lowe 2005, S. 232.
14
Becker 2002, S. 42f.
15
The Economist vom 12.10.2002 unter Bezug auf eine McKinsey-Studie.
16
The Economist vom 07.12.2002.
17
Jedenfalls könnte dadurch erklärt werden, dass leitende Akteure aus der Wirtschaft der Politik der Konservati-
ven Partei bzw. ihrer Regierung eher skeptisch gegenüberstanden, was eine Umfrage von 1992 ergab (Grant 1993,
S. 128).
18
FAZ vom 24.04.2006.
19
Sturm 1998, S. 216.
162 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Einkommen oder ihren Arbeitsplatz sichern wollten (Überstunden und „restrictive practi-
ces“). Es ist keineswegs so, dass die Probleme nicht von Regierungen vor Thatcher aufge-
griffen wurden. Vielmehr scheiterten die Reformversuche. Die Royal Commission unter
Lord Donovan hatte die oben angeführten Aspekte von 1965 bis 1968 bereits weitgehend
und eingehend untersucht. Als Ursache der Probleme erschien ihr das schlechte „Klima“
zwischen den Tarifvertragsparteien. Sie schlug deshalb vor, diese Situation durch den Ab-
schluss von Werkstarifverträgen, in denen alle Arbeitsbedingungen (einschließlich der
Löhne) geregelt werden, zu verbessern. Am Anfang dieser neuen Phase der „industrial
relations“ sollte jeder Betrieb mit Hilfe von „productivity agreements“ die bisher versäumte
Anpassung der Nominallöhne und der Arbeitszeit an die inzwischen gegebenen Möglich-
keiten vollziehen. Eine Erhöhung der tariflich festgelegten Nominallöhne sollte die bisheri-
gen Überstundenzuschläge überflüssig machen, die Arbeitszeit verkürzen und die Arbeits-
produktivität erhöhen.20
Das „productivity bargaining“, von dem bereits seit Jahrzehnten in einzelnen Betrie-
ben Gebrauch gemacht wurde,21 vermochte durchaus die lange versäumte Anpassung zu
vollziehen und damit das Überstundenproblem zu lösen sowie einzelne „restrictive practi-
ces“ abzubauen. Da auf diese Weise die Existenzangst der Arbeiter aber nicht gegenstands-
los wurde, war nicht damit zu rechnen, dass die „restrictive practices“ vollkommen über-
flüssig wurden. Auch das System der Werkstarifverträge war weder hierzu noch zum Ab-
bau der „wilden“ Streiks in der Lage. Deshalb drängte sich eine Kritik an den Vorschlägen
der Kommission auf, wie sie der „Economist“ zunächst im Detail dargelegt und dann auf
die knappe Formel gebracht hat: ein Bericht, den man vergessen sollte.22
Zwar hielt auch die Kommission eine Stärkung der Gewerkschaften durch Fusionen
und eine freiwillige Beschränkung der weit gestreuten Tätigkeit für erforderlich, aber eine
Bildung von Industriegewerkschaften,23 die sich zu diesem Zweck anbot, lehnte die Kom-
mission ab.24 Ihre Begründung zeigt die Grenzen, die sie ihrer Beratungstätigkeit selbst
gesetzt hatte: „ ... industrial unionism would involve a drastic upheaval in the structure of
almost every major union in the country ...“.25 Aber gerade eine solche Strukturreform hätte
Großbritannien zu einem verantwortlichen Gewerkschaftssystem verholfen. Stattdessen
waren bis 1965 die Bemühungen der Gewerkschaften gemessen an den Zusammenschlüs-
sen sehr spärlich. Vielmehr wurden von 1966 bis 1979 nicht weniger als 266 Gewerkschaf-
ten neu gegründet. Auch stieg die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften bis 1979 sehr stark
an, was deren wachsende Macht verdeutlichte.26

20
Donovan Report 1968, S. 40ff.
21
Der bekannteste Fall ist die Absprache in der Esso-Raffinerie Fawley; s.d. Flanders 1964.
22
The Economist vom 13. August 1968, S. 16f.
23
Vgl. Grosser 1967, S. 590.
24
Donovan Report 1968, S. 45, 181ff.
25
Ebenda, S. 180 (Hervorhebung d. Verf.).
26
Waddington 2005, S. 258f.; s.a. Gourevitch u.a. 1984, S. 74f.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 163

Tabelle 13: Mitglieder- und Organisationsentwicklung der britischen Gewerkschaften


(1960-1995)
Mitglieder aller
Organisationsgrad Zahl aller Ge- TUC
Jahr Gewerkschaften
(in Prozent) werkschaften Gewerkschaften
(in 1000)
1960 9.835 44,3 650 183
1965 10.325 44,1 580 170
1970 11.187 48,6 469 142
1974 11.764 50,4 491 111
1979 13.289 54,4 453 109
1982 11.593 48,0 408 102
1984 10.944 45,3 375 91
1988 10.376 42,2 315 78
1990 9.947 40,7 287 74
1995 8.089 32,5 238 74
Quelle: Thode 2004, S. 49 (Tabelle 2) auf der Grundlage von Kastendiek u.a. 1998, S. 677.

Ende der 1960er Jahre hat die Labour-Regierung das Problem der Gewerkschaftsreform
aufgegriffen und dazu in Form eines Weißbuchs27 Vorschläge unterbreitet, die Grundlage
für die geplanten gesetzlichen Maßnahmen werden sollten. Die beiden wichtigsten Reform-
vorschläge betrafen das Problem der zahlreichen „wilden“ Streiks: Die Regierung strebte
das Recht an, bei offiziellen Streiks vor Beginn eine geheime Urabstimmung aller Gewerk-
schaftsmitglieder anordnen zu können.28 Gegen verfahrenswidrige oder illegale Streiks, die
das Wirtschaftsleben des Landes bedrohen, wollte die Regierung mit einer „Abkühlungs-
periode“ von 28 Tagen einschreiten. Ein Streik sollte als verfahrenswidrig gelten, wenn der
zugrunde liegende Konflikt nicht die vorgesehene Schlichtungsprozedur durchlaufen hatte.
Der Arbeitsminister sollte in diesem Falle das Recht haben, die Streikenden durch Verord-
nung zur Einhaltung der Abkühlungsperiode und zur vorläufigen Wiederaufnahme der
Arbeit zu zwingen. Bei Verstoß gegen diese Verordnung sollte es Geldstrafen geben. Frei-
heitsstrafen waren nicht vorgesehen.
Urabstimmung und Abkühlungsperiode fanden die Unterstützung von ca. 3/5 der Ge-
werkschaftsmitglieder.29 Etwa 1/3 der gewerkschaftlich Organisierten lehnte diese Rege-
lungen ab. Die Minderheitsmeinung deckte sich mit der von maßgeblichen Gewerk-
schaftsführern lautstark geäußerten Ablehnung, die nicht zuletzt den Anstoß für die Diskus-
sion um eine eventuelle Ablösung Wilsons als Premierminister gab.
Dieser massive Widerstand ist nur schwer verständlich, zumal die beiden genannten
Reformvorschläge doch stark bei den Symptomen ansetzten und die Ursachen des briti-

27
In Place of Strife 1969.
28
Dieser Vorschlag wurde bereits in der Presse unterbreitet: The Economist vom 7. September 1968, S. 20.
29
The Sunday Times vom 5. Januar 1969.
164 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

schen Gewerkschaftsproblems weitgehend vernachlässigten. Auch die Einsetzung einer


„Commission for Industrial Relations“ unter dem Vorsitz von George Woodcock, dem
Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes (TUC), eröffnete keine unmittelbaren Erfolgs-
aussichten. Die Kommission sollte Empfehlungen ausarbeiten, wie das Verhältnis zwischen
Industrie und Gewerkschaften verbessert werden könnte. Sie sollte u.a. die Gründe für
Streiks untersuchen und feststellen, warum Tarifverhandlungen scheiterten.
Wesentlich erfolgversprechender erschien ein Ansatz, den die Regierung im Weißbuch
allzu zaghaft vortrug: Die Gewerkschaften wurden aufgefordert, die Zersplitterung in zahl-
lose kleine Fachgewerkschaften zu überwinden und eine Reform nach dem Prinzip „eine
Gewerkschaft für die Arbeitszweige in einem Betrieb“ einzuleiten. Die Regierung war
bereit, Reformenbemühungen der Gewerkschaften finanziell zu unterstützen. Für den Zu-
sammenschluss von Einzelgewerkschaften, für die Ausbildung von Funktionären und für
die Rationalisierung des Gewerkschaftsapparates sollten staatliche Beihilfen gewährt wer-
den. Bei einer solchen Überprüfung des Verhältnisses zwischen den einzelnen Gewerk-
schaften hätte eine wirksame Reform ansetzen können.
Die Erwartungen gingen auch dahin, die Beziehungen zwischen hauptamtlichen Funk-
tionären und den Shop Stewards enger zu gestalten, also die Stellung der Gewerkschaft
gegenüber der Betriebsgruppe zu stärken. Würde dann ein Gesetz eine geheime Urabstim-
mung aller betroffenen Gewerkschaftsmitglieder über die zu ergreifenden Kampfmaßnah-
men zur ständigen Pflicht der Gewerkschaften machen, dann müsste nur noch den Gewerk-
schaften die zivilrechtliche Verantwortung für alle Streiks ihrer Mitglieder, die ohne vorhe-
rige Urabstimmung stattfänden, auferlegt werden.30 In diesem Falle würden dann die Ge-
werkschaften daran interessiert sein, zur Abwendung von Schadenersatzforderungen „wil-
de“ Streiks zu vermeiden und disziplinarische Mittel gegenüber „streikfreudigen“ Arbeitern
(z.B. Ausschluss) anzuwenden. Solche Reformen der wirtschaftlichen Strukturbedingungen
waren bei den damaligen politischen Verhältnissen in Großbritannien jedoch nicht durch-
setzbar.31
An Vorschlägen und Initiativen, die Gewerkschaftslandschaft zu reformieren, hatte es
also nicht gemangelt, allerdings an der Entschlossenheit, die Gewerkschaften dazu zu
zwingen. Dazu war Frau Thatcher eindeutig bereit.32 Ihr Weg waren gesetzliche Maßnah-
men, die das Prinzip des Closed Shop33 beseitigten und Restriktionen für Streiks34 vorsa-
hen. Die Regierung Thatcher gab das Ziel der Vollbeschäftigung als primäre Orientierung
auf und stellte die Subventionen für unrentable Unternehmen in Frage. Sie nahm den Ge-
30
Ähnliche Vorschläge in: The Economist vom 4. September 1965, S. 851f.
31
So drohte die Mehrheit eines Sonderkongresses des britischen Gewerkschaftsbundes damit, einen Generalstreik
für den Fall auszurufen, dass die Labour-Regierung nicht auf die Strafklausel gegen wilde Streiks in ihrer geplan-
ten Gesetzesvorlage verzichtete (FAZ vom 7.6.1969). Die von der Regierung Heath mit Hilfe des „Industrial
Relations Act“ von 1971 durchgesetzten „Anti-Streik-Bestimmungen“ wurden durch die Labour-Regierung wieder
zurückgenommen (Degen 1978, S. 65).
32
Da hier die Handlungsfähigkeit parlamentarischer Demokratie in der Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt der
Betrachtung steht, sei auf die machtpolitische Perspektive Thatchers, durch Schwächung der Gewerkschaften auch
dem politischen Konkurrenten Labour Party langfristig zu schaden, nur am Rande hingewiesen.
33
Es handelte sich um das Prinzip, dass derjenige, der einen Arbeitsplatz in einen Betrieb erhalten wollte, zunächst
in die Gewerkschaft eintreten musste (Hanson 1982, S. 5).
34
Die wichtigsten waren Beschränkung von Solidaritätsstreiks (secondary action), Beschränkung des Auftretens
von Streikposten vor Betrieben, in denen sie nicht beschäftigt sind (secondary picketing), Begrenzung des Closed-
Shop-Prinzips, Festlegung von Kategorien für ungesetzliche Streiks, regelmäßige geheime Wahlen der Gewerk-
schaftsspitze (alle fünf Jahre) u.a. (S.d. Zusammenstellung der Gewerkschaftsgesetzgebung bei Thode 2004, S.
54f.). S.a. McCormick1990, S. 204ff.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 165

werkschaften ihre wichtige Rolle in Bargaining-Prozessen. Natürlich haben weltwirtschaft-


liche Entwicklungen und der Druck der öffentlichen Meinung35 auf die Gewerkschaften
diese Politik begünstigt.
Die Gewerkschaften gerieten dadurch in finanzielle Probleme. Zwar hatten sie durch
den erheblichen Mitgliederzulauf in den 1970er Jahren (s. Tab. 13) erhöhte Einnahmen,
aber diese deckten nicht die wachsenden Ausgaben, die ihnen bereits durch den Donovan
Report auferlegt wurden: Die korporatistische Einbindung in den 1970er Jahren machte
mehr Professionalität erforderlich, sodass mehr Bildung und Training nötig wurden. Zudem
war die Dezentralisierung bei den Gewerkschaften sehr teuer. Die Konkurrenz unter den
Gewerkschaften sorgte dafür, dass die Mitgliedsbeiträge gering blieben. Die Wirkungen der
Thatcher-Politik taten ein Übriges. Als mit dem Wegfall des Closed-Shop-Prinzips die
Verpflichtung bzw. der Druck wegfiel, in den Gewerkschaften Mitglied zu sein, nutzten die
Arbeitnehmer die Chance, die Beiträge zu sparen. Zudem war der lange Streik von 1984
mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden. Der massive Rückbau von alten
Industrien, in denen die Gewerkschaften besonders stark waren, führte schließlich zu drasti-
schen Einbußen beim Organisationsgrad. In neuen Industrien, z.B. der Dienstleistungsbran-
che, hatten die Gewerkschaften ausgeprägte Schwierigkeiten, Fuß zu fassen. Dies galt auch
für kleinere (neue) Unternehmen.36
Durch diese Probleme wurden die Gewerkschaften zu Zusammenschlüssen gezwun-
gen. Diese führten zu mehr „general unionism“, d.h. Handarbeiter- und White-Collar-
Gewerkschaften schlossen sich innerhalb einer Branche zusammen. Dieses Muster wurde
insbesondere bei großen Gewerkschaften üblich. Im Ergebnis waren mehr Mitglieder in
solchen Gewerkschaften organisiert.37
Auch die Militanz der Gewerkschaften wurde durch die neoliberale Politik zurückge-
drängt.38 Gewerkschaften waren einfach im Verhältnis zwischen Unternehmern und Be-
schäftigten weniger wichtig. Die Gesetzgebung hatte eindeutig das Management gestärkt,
es konnte entscheiden, ob es mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten wollte oder diese
lieber marginalisierte. Insgesamt führte das zu einer geringeren Einbindung der Gewerk-
schaften. In den meisten Betrieben blieben die Gewerkschaften in gewisser Weise noch
existent, aber die meisten Arbeiter waren nicht mehr von den Verhandlungsergebnissen
betroffen. Das Management sah die Schwäche der Gewerkschaften und betrachtete sie nicht
mehr als notwendigen Verhandlungspartner.39 Die Gewerkschaften haben natürlich ver-
sucht, diese Situation zu verändern, waren jedoch insgesamt nur mäßig erfolgreich. Dies
galt besonders für die Organisation jüngerer Arbeitnehmer.40 Allerdings gibt es auch positiv
abweichende Entwicklungen einzelner Gewerkschaften. Als besonders erfolgreich wurde
die Association of Scientific Technical and Management Staffs (ASTMS) genannt. Sie war
eine der Gewerkschaften, die ihre „shop floor“ Repräsentation modernisierte.41
Die Gewerkschaften wurden nicht nur auf der betrieblichen Ebene durch die Stärkung
des Managements, sondern auch auf der gesamtstaatlichen Ebene in ihrem Einfluss zurück-

35
Als Verbündete hatte Thatcher die Medienmacht von Rupert Murdoch hinter sich, also „The Times“, „The
Sunday Times“ und „The Sun“ (Marwick 2003, S. 319).
36
Waddington 2005, S. 259, 265, 267; Gospel/ Wood 2003, S. 4.
37
Waddington 2005, S. 279, 287.
38
Ebenda, S. 22.
39
Charlewood 2003, S. 13, 16f.
40
Gospel/ Wood 2003, S. 6.
41
Lucio/ Stuart 2005, S. 217.
166 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

gedrängt. Auch die Labour-Regierung Blair blieb nach 1997 bei diesem Vorgehen: Arbeit-
geber und Gewerkschaften wurden zwar beratend gehört, Beschlussfassung und Implemen-
tation blieben Primat der Politik.42 Die Regierung Blair hat auch bei der Gewerkschaftsge-
setzgebung keine (Rück-)Wende vorgenommen. Die Entmachtung der Gewerkschaften
wurde nicht zurückgenommen. Die wichtigste gewerkschaftsfreundliche Maßnahme der
neuen Regierung war wohl die Mindestlohngesetzgebung von 1998,43 wobei mehrfach die
Mindestlöhne angehoben wurden. Trotzdem führten Lohnhöhe und Anpassung immer wie-
der zu Konflikten zwischen Gewerkschaften und Regierung.44 Soziale Probleme wurden
durch vielfältige Programme abgefedert.45
Die Labour-Regierung hat allerdings versucht, durch den Employment Relations Act
(ERA) von 1999 nicht nur einen nationalen Mindestlohn einzuführen, sondern auch die
Arbeitnehmervertreter bei Lohnverhandlungen wieder mehr ins Spiel zu bringen, allerdings
auf freiwilliger Basis. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Vermittlungsstelle einge-
richtet, das Central Arbitration Committee (CAC). Damit wollte die Labour-Regierung
friedliche Arbeitsbeziehungen sicherstellen. Voraussetzung für Bargaining-Prozesse auf der
Betriebsebene ist einerseits die Zustimmung der Unternehmer, andererseits die Mitglied-
schaft von mindestens 10% der Arbeitnehmer in der Gewerkschaft. Wenn die Ergebnisse
des Aushandlungsprozesses für alle Arbeitnehmer im Betrieb gelten sollen, muss die Mehr-
heit der Arbeitnehmer dem Aushandlungsprozess zustimmen. Während der ersten zwei
Jahre wurde das CAC sehr selten in Konflikte eingeschaltet. In den ersten Jahren zeigte sich
bereits, dass der Einfluss der Arbeitgeber vor Abstimmungen in den Betrieben von erhebli-
cher Bedeutung war. Dennoch ist die Einschätzung von Wood u.a. doch, dass ein positiver
Einfluss vom ERA auf die Arbeitsbeziehungen bzw. die Aushandlungsprozesse ausging.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gewerkschaften. Sie wurden dadurch veranlasst,
Mitgliederwerbung zu betreiben und Aktivitäten der Mitglieder anzuregen.46
Nach wie vor werden die Lohnverhandlungen auf betrieblicher Ebene durchgeführt,
sodass den Spitzenverbänden sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite
weitgehend die Machtmittel entzogen sind, die sich aus der Tarifpolitik ergeben. Die Zahl
der Gewerkschaften ist seit den 1970er Jahren etwa um die Hälfte zurückgegangen. 2001
vereinigte der TUC noch 76 Einzelgewerkschaften. Auch der Mitgliederschwund ist erheb-
lich.47 Allerdings gibt es immer noch 237 Gewerkschaften (2001), wobei 72,6% davon
weniger als 5.000 Mitglieder umfassen.48 Die höchste Organisationsdichte haben Gewerk-
schaften bei Arbeitnehmern der öffentlichen Verwaltung, gefolgt von Elektrizität, Gas und
Wasser, Luftfahrt und Erziehung sowie Post und Telekommunikation. Geringer vertreten
sind Gewerkschaften im industriellen Sektor. Allerdings zeigt sich, dass bei den Gewerk-
schaften mit dem geringsten Organisationsgrad der Dienstleistungssektor am häufigsten
vertreten ist.49 Nach Angaben des britischen Industrieverbandes (CBI) gibt es nur in 31,7%
aller Privatunternehmen Gewerkschaftsvertreter. Flächendeckende und branchenweite
Lohnabschlüsse erfolgen lediglich im öffentlichen Dienst, also für Lehrer, Universitätsdo-

42
Becker 2002, S. 205f.
43
Zur Geschichte s. McCormick 1990, S. 204.
44
Becker 2002, S. 211.
45
Schmidt, V. 2002, S. 78.
46
Wood u.a. 2003, S. 119ff., 123f., 143.
47
Becker 2002, S. 207ff; s.a. Crewe 1991, S. 31f.
48
Becker 2002, S. 210.
49
Machin 2003, S. 24.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 167

zenten, Krankenschwestern und Behördenmitarbeiter. Allerdings dürfen hier Lohnsteige-


rungen aufgrund der Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand zwei Prozent nicht überstei-
gen.50
Die wesentlichen Veränderungen in der Gewerkschaftslandschaft und in der Aktions-
fähigkeit der Gewerkschaften (landesweite Streiks) gehen zu einem guten Teil auf die Poli-
tik Thatchers zurück. Wie in den einzelnen Wirtschaftsbereichen gezeigt, hat die Premier-
ministerin die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften nicht gescheut, sie sogar als
Mittel ihrer Politik gesucht. Die Wirkungen ihrer Politik lassen sich insbesondere in der
geringeren Zahl von durch Streiks verlorenen Arbeitstagen ablesen. 1979 waren es 29,5
Millionen, 1994 nur noch 278.000 Tage und damit der geringste Arbeitstageverlust seit der
erstmaligen Erfassung von 1891. Zwar stiegen die Zahlen in den folgenden Jahren wieder
an, allerdings kann nicht von einer Rückkehr zu den Dimensionen der 1970er Jahre die
Rede sein.51 Am streikfreudigsten ist der öffentliche Dienstleistungssektor.52
Bei der langfristigen Betrachtung der einzelnen Wirtschaftszweige zeigte sich, dass die
Gewerkschaftsgesetzgebung unterschiedliche Effekte hervorrief. Die Wirkungen waren in
der Kohleindustrie drastisch. Hier gab es eine besonders ausdifferenzierte Gewerkschafts-
landschaft und unterschiedliche Interessenstrukturen aufgrund der jeweiligen Förderstand-
orte und Fördermethoden. Die vielfältigen Verflechtungen der Kohleindustrie mit anderen
Wirtschaftsbereichen machten es den Gewerkschaften besonders schwer, gemeinsame
Maßnahmen durchzuhalten. Zudem gaben sie sich 1984 im Hinblick auf die Gewerk-
schaftsgesetzgebung der Regierung Thatcher besondere Blößen, indem sie versäumten, eine
offizielle Abstimmung über den Streik durchzuführen, was der Regierung die Möglichkeit
gab, den Streik für illegal zu erklären. Weiterhin hatte die Bergarbeitergewerkschaft den
TUC nicht einbezogen. So kann dieser Streik als ein Symbol für die Durchschlagskraft der
konservativen Gewerkschaftsgesetzgebung dienen.
In den anderen Industriezweigen lassen sich solche Wirkungen weit weniger beobach-
ten. Zwar stärkte die Gesetzgebung auch das Management bei British Steel, was zur inner-
betrieblichen Entmachtung der Gewerkschaften führte. Ähnliche Auseinandersetzungen
wie bei der Kohle haben aber hier (wie auch bei der Eisenbahn) nicht stattgefunden. Auch
bei der Bahn gingen die Verhandlungen in den 1980er Jahren sehr langsam voran, bis die
reformierte Gewerkschaftsgesetzgebung das Management in eine stärkere Position brachte,
die diese auch nutzte. Schließlich kam es zu dem seit Jahrzehnten durch die Gewerkschaf-
ten verhinderten Personalabbau im Zugverkehr. Für die anderen Branchen sind die Wir-
kungen der Gewerkschaftsgesetzgebung bisher nicht im Einzelnen dokumentiert. Damit
bleibt offen, ob die Gesetzgebung oder die Drohung mit Betriebsschließungen letztlich die
Arbeitnehmer dazu zwang, stärker mit den Management zu kooperieren.
Unabhängig von den wirtschaftlichen Auswirkungen stellt sich die Frage, ob Refor-
men der politischen Institutionen, insbesondere in der Binnenstruktur der beiden Alternie-
rungsparteien dazu beigetragen haben, die volle Elastizität des parlamentarischen Regie-
rungssystems auch für wirtschaftspolitische Entscheidungen zu sichern.

50
FAZ vom 14.8.2007.
51
Becker 2002, S. 211; Schmidt, V. 2002, S. 78.
52
FAZ vom 13.9.2007.
168 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

2. Modernisierung innerparteilicher Strukturen

Während die politischen Institutionen parlamentarischer Regierungsweise gerade mit der


Modernisierung des britischen Gewerkschaftswesens und der Einverleibung/ Inkorporation
der neokonservativen Wende in den allgemeinen politischen Konsens ihr Innovationspoten-
zial demonstrierten, blieben traditionelle Strukturen der beiden Alternierungsparteien unan-
getastet. Als zentrale Probleme der Parteistruktur erwiesen sich in dieser Untersuchung,
dass bestimmte soziale Gruppen bei der Kandidatenaufstellung bevorzugt wurden und dass
eine finanzielle Abhängigkeit der beiden großen Parteien von Interessengruppen bestand,
die wirtschaftspolitisch am Status quo festhielten.

a) Parteienfinanzierung

Einerseits ist die Frage nach einer Kontrolle der Wahlkampfkosten, die in demokratischen
Massengesellschaften als wesentliches Problem der Parteienfinanzierung gilt, in Großbri-
tannien seit langem (partiell) gelöst: Der „Representation of the People Act“ sieht seit dem
„Corrupt and Illegal Practices Act“ von 1883 für die Wahlkampfausgaben jedes Wahlkreis-
kandidaten Höchstgrenzen vor, deren Einhaltung durch öffentliche Rechnungslegung der
Kandidaten kontrolliert wird. Bei Nichteinhaltung dieser Grenzen verliert ein erfolgreicher
Abgeordneter ohne Weiteres sein Mandat; in dem betreffenden Wahlkreis findet eine Nach-
wahl statt.53 Diese Regelung konnte lange als vorbildlich für parlamentarisch regierte Län-
der gelten.54
Ungelöst blieb allerdings das Problem der Wahlkampfausgaben von Parteizentralen.
Hier sind vor allem zwei Entwicklungen bedeutsam geworden. Zunächst hat sich das Ver-
hältnis von Wahlkampfausgaben in den Wahlkreisen und durch Parteizentralen dramatisch
verschoben. Heute werden Wahlkampagnen zentral von den Parteien geplant und durchge-
führt; Aktivitäten in dem Wahlkreisen haben nur ergänzende Funktion. Dieser Entwicklung
hat etwa Kanada seit 1974 durch eine gesetzliche Begrenzung der zentralen Wahlkampf-
ausgaben Rechnung getragen.55 Die entsprechende Anpassung der Rechtslage an die Sach-
lage ist in Großbritannien erst mit dem „Political Parties, Elections and Referendums Act“
(PPERA) 2000 erfolgt.
Andererseits entspricht die Mittelherkunft bei den britischen Parteien nicht den Erfor-
dernissen einer funktionsfähigen parlamentarischen Demokratie. Dies galt vor allem für die
politischen Folgen der Parteienfinanzierung aus privaten Zuwendungen (Spenden) von
Einzelpersonen, Unternehmen und von Organisationen (plutocratic funding). Sofern es sich
um große Spenden handelt, wird eine ohnehin finanzschwache Partei bei wiederholten
Zahlungen von den Spendern wirtschaftlich abhängig. Das lässt sich nur vermeiden, wenn
die Finanzierung der Parteien grundsätzlich aus Beiträgen der Mitglieder, massenhaften
Klein-Spenden der Anhänger bzw. aus öffentlichen Mitteln erfolgt. Beiträge affiliierter
Mitglieder, wie z.B. die von Gewerkschaften, haben die gleiche Wirkung wie Großspenden.

53
Bemerkenswert ist, dass diese Regelung die öffentliche Kontrolle der Parteienfinanzierung nicht wie Art. 21 GG
und das deutsche Parteiengesetz bei der Mittelherkunft ansetzt, sondern bei der Mittelverwendung und mit dem
Verlust des Wahlkreismandats über ein einfaches und wirksames Sanktionsmittel verfügt.
54
Das gilt freilich unter der (inzwischen als nicht zutreffend eingeschätzten) Bedingung, dass der unterlegene
Kandidat eine Budgetüberschreitung des siegreichen Konkurrenten zum Gegenstand einer offiziellen Beschwerde
macht.
55
S.d. Naßmacher 1982, S. 344.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 169

Nach ihrer Wahlniederlage 1945 haben die Konservativen auf Vorschlag der Maxwell-
Fyfe Kommission eine wesentliche Innovation versucht. Die lokalen Parteiorganisationen
(„constituency associations“) wurden durch Satzungsänderung verpflichtet aus ihren Mit-
teln jährlich eine individuell festgesetzte Umlage („association quota“) zur Finanzierung
der Parteizentrale abzuführen. Die Beschaffung der Mittel durch Zuwendungen der örtli-
chen Anhänger (über Spendensammlung, Lotterien oder Flohmärkte) wurde den lokalen
Organisationen überlassen. Dieser Weg einer dezentralen Finanzierung führte zunächst zu
beachtlichen Erfolgen: Von 1952 bis 1975 stieg der Anteil der Einnahmen aus der Umlage
von 18% auf 30% der Gesamteinnahmen. Allerdings fehlte in den 1980er und 1990er Jah-
ren (also seit der Ära Thatcher) für diesen innovativen Impuls der Durchsetzungswille. In
den Nicht-Wahljahren der 1990er trug die Umlage nur noch 9 bis 4% zu den Einnahmen
der Konservativen Parteizentrale bei.56 Die Tendenz ging damals zur finanziellen Unter-
stützung durch wenige große Unternehmen, vor allem aber durch sehr reiche Einzelperso-
nen.57
Dagegen hat die 1997 durch die Labour Party eingeführte innerparteiliche Reform eine
wesentliche Veränderung gebracht: Die Praxis, dass einzelne Gewerkschaften als offizielle
Sponsoren einiger Abgeordneter auftreten, wurde abgeschafft.58 Damit entfällt die unmittel-
bare Verpflichtung eines Abgeordneten gegenüber seinem Geldgeber. Da persönliche Mit-
gliedsbeiträge bei keiner Partei (in irgendeiner Demokratie) ausreichen, um die Finanzie-
rung der notwendigen Personal- und Sachmittel sicherzustellen, müssten auch in Großbri-
tannien die „Kosten der Demokratie“59 zumindest teilweise von öffentlichen Haushalten
übernommen werden.
Den Einstieg dazu bildeten in Großbritannien Unterstützungszahlungen an die Opposi-
tionsparteien beider Häuser, das so genannte „Short money“, das 1975 für die Oppositions-
parteien im Unterhaus eingeführt wurde. 1996 erfolgte eine ähnliche, aber bescheidenere
Regelung für das Oberhaus („Cranborne money“). Die Gelder dienen dazu, den Oppositi-
onsparteien eine effektivere Arbeit zu ermöglichen, während die Regierungspartei auf den
Staatsapparat mit seinen vielfältigen Informationsquellen und Forschungseinrichtungen
zurückgreifen kann. Die Mittel für Oppositionsarbeit stehen vor allen Dingen der Fraktions-
führung zur Verfügung, während die einfachen Abgeordneten davon wenig Nutzen haben.
Die Abgeordneten haben aber bis zu drei Mitarbeiter zur Verfügung und eine Bürokosten-
pauschale.60 Öffentliche Finanzierung der Parteiorganisationen wurde sowohl im Hough-
ton-Report 1976 als auch im Neill-Report 1998 empfohlen.61 Der PPERA 2000 hat davon
nur den kleineren Policy Development Fund übernommen, der den Parteien zwei Mio. £
zur Entwicklung langfristiger Politikmodelle zur Verfügung stellt.
Darüber hinaus ist (wie in Kanada oder Deutschland) an eine Finanzierung der not-
wendigen Aufwendungen von Parteien (einschließlich eines großen Teils der Wahlkampf-
kosten) aus dem Budget zu denken. Rudolf Wildenmann führte bereits 1968 neben der
angemessenen Ausstattung der Abgeordneten und ihrer Fraktion mit Sach- und Personal-

56
Pinto-Duschinsky 1981, S. 138; Neill Report 1998, S. 31.
57
Grant 1993, S. 126, 142.
58
Sturm 1997, S. 5.
59
Als solche bezeichnete Alexander Heard (1960) die Mittel für die Parteienfinanzierung.
60
Becker 2002, S. 128.
61
Houghton-Report 1976, S. 56f., 64ff.; Neill-Report 1998, S. 7f., 93, 98.
170 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

mitteln zur Unterstützung ihrer Tätigkeit im Parlament und im Wahlkreis folgende Aspekte
an:62
ƒ Wahlzuschüsse an Kandidaten, die auch zur gemeinsamen Beschaffung von Informa-
tionen oder Werbematerial durch die betreffende Partei herangezogen werden dürfen.
Sinnvoll wäre es, nur einen bestimmten Bruchteil der zulässigen Wahlkampfausgaben
(etwa 50%) im einzelnen Wahlkreis zu erstatten und den Rest durch die Partei selbst
mit Hilfe von Beiträgen und Spenden finanzieren zu lassen. Genau diesem Vorschlag
entspricht der Canada Elections Act von 1974.63 Wildenmann ging nur in einem Punkt
darüber hinaus: Er wollte den beiden stärksten Parteien eines jeden Wahlkreises unab-
hängig von ihrem Stimmenanteil den gleichen Betrag zur Verfügung stellen. Für die
übrigen Parteien ließen sich die Zuschüsse entsprechend den Stimmenanteilen staffeln.
Um die Wahlkampffinanzierung auf ernsthafte Bewerber zu beschränken, müsste die
Zuweisung öffentlicher Mittel von einem Mindeststimmenanteil abhängig gemacht
werden.64
ƒ Zuschüsse an die im Parlament vertretenen Parteien zur Finanzierung der laufenden
Arbeit der nationalen, internationalen und regionalen Parteiorganisationen. Über die
(anteilige) Erstattung von (nachgewiesenen) Wahlkampfkosten hinaus stehen solche
Mittel in Kanada seit 2004 als „quarterly allowances“ zur Verfügung. Um einen zen-
tralisierenden Effekt der Budgetfinanzierung auf die innerparteiliche Willensbildung
zu vermeiden, müssten auch diese Mittel in geeigneter Form ausgezahlt werden. Ge-
eignete Lösungswege zeigen Schweden (seit 1972) und Deutschland (seit 1994).
Als bedeutsam eingeschätzt wurde eine Veränderung der gesetzlichen Vorgaben für politi-
sche Zuwendungen der Gewerkschaften. Im Zusammenhang der Gewerkschaftsgesetzge-
bung versuchte die Regierung Thatcher, die Labour Party dadurch zu schwächen, dass seit
1984 das Geld der Gewerkschaften für die gleichzeitige Mitgliedschaft ihrer Mitglieder in
der Labour Party nur noch mit voller Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder an die
Labour Party gegeben werden kann. Die Gewerkschaften müssen dafür periodische Ab-
stimmungen über ihre „political funds“ abhalten. Die Gewerkschaften stellten sich dieser
Herausforderung inzwischen zweimal äußerst erfolgreich.65 Viel mehr als diese Regelung
haben die dramatischen Mitgliederverluste der Gewerkschaften seit den 1980er Jahren zu
einem Einnahmeverlust der Labour Party geführt. 1983 kamen 96% der Einnahmen aus
Gewerkschaftsmitteln („affiliation fees“), 2000 waren es nur noch 30%.66 Pinto-Duschinsky
nennt durchschnittlich 75% für die Jahre 1975-79, Ewing 25% für 2003-05.67 Dies bedeute-
te allerdings für die Labour Party auch, dass sie sich von der einseitigen Bindung an die
Gewerkschaften lösen konnte. Seit den späten 1990er Jahren nahmen Spenden von Unter-
nehmen und große Spenden, z.T. auch „Darlehen“, von Einzelpersonen deutlich zu. Solche
Zuwendungen standen häufig im Zusammenhang mit der Verleihung von Adelstiteln oder
mit politischen Anliegen der Geldgeber. Auch bei den Konservativen ist eine Veränderung

62
Wildenmann 1968, S. 66f.
63
S.d. Naßmacher 1982, S. 338ff.
64
Die in § 18, Abs. 2 des deutschen Parteiengesetzes vorgesehene Grenze von 10% der gültigen Stimmen könnte
dabei ebenso als Maßstab dienen wie das für den Verlust des „deposit“ maßgebliche Achtel der Wählerstimmen
oder die 15%-Marke des Canada Elections Act (1974).
65
Leopold 1997, S. 23. Immerhin sind rund die Hälfte der Gewerkschafter affiliierte Mitglieder der Labour Party,
also 4 Millionen indirekten Mitgliedern stehen 280.000 direkte Parteimitglieder gegenüber (Becker 2002, S. 212).
66
Becker 2002, S. 136.
67
Pinto-Duschinsky 1981, S. 164; Ewing 2007, S. 261f.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 171

der Finanzierungsstruktur seit dem Amtsantritt von Frau Thatcher als Parteiführerin er-
kennbar. Die Partei wollte von Unternehmensspenden unabhängig werden und ist jetzt
verstärkt auf reiche Einzelpersonen angewiesen.
Die öffentliche Debatte über Parteienfinanzierung wurde insbesondere dann intensiv
geführt, wenn Großspenden für Skandale sorgten. Dies ist bei beiden großen Parteien bis in
die Gegenwart der Fall gewesen.68 Beide waren auf Zuwendungen von Unternehmen bzw.
Gewerkschaften angewiesen,69 ersetzten diese nach 1979 bzw. 1997 durch wohlhabende
Einzelspenden (z.T. in Form von „Darlehen“).70 Erkennbare Forderung der Debatte war
stets „mehr Transparenz“. Demgegenüber kam die Notwendigkeit, eine ausreichende Fi-
nanzgrundlage für die Parteien sicherzustellen, selten in den Blick. Während die Vorschlä-
ge des Houghton-Berichts generell an der Ablehnung durch die Konservativen (unter der
Führung von Thatcher) scheiterten, verzichtete die Blair-Regierung darauf, eine Anregung
des Neill-Reports zu Verbreiterung der Finanzierungsbasis der Parteien durch Steuervortei-
le für Kleinspender umzusetzen.
Damit ist auf breiter Front die Frage nach einer „angemessenen“ Finanzierung der
„notwendigen“ Parteitätigkeit aufgeworfen. Die britische Abneigung gegen öffentliche
Finanzierung ist insoweit begründet, als allgemeine Haushaltmittel nicht einfach an die
Stelle unerwünschter Großspender treten können. Neben einer Sockelfinanzierung aus
öffentlichen Mitteln ist auch eine finanzielle „Verwurzelung“ der Parteien in der demokra-
tischen Gesellschaft erforderlich.71 Wenigstens eine aktive Minderheit der Bürger kann und
muss sich mit privaten Mitteln freiwillig an den Kosten der Demokratie beteiligen. Regel-
mäßige Beiträge von Parteimitgliedern werden dazu in Großbritannien noch weniger aus-
reichen als in Deutschland.72 Es gilt also durch öffentliche Anreize, die Parteien zur Ein-
werbung privater Zuwendungen („big money in small sums“73) und die Bürger zur Bereit-
stellung solcher Mittel zu veranlassen. Dafür stehen aus Nordamerika zwei erfolgreiche
Anreizprogramme zur Verfügung. In den USA regen „matching fund“ Programme die
politischen Aktivisten an, um Kleinspenden zu werben, in Kanada hilft ein „tax credit“
durch Steuervorteile die Spendermotivation zu steigern.74 In beiden Fällen werden öffentli-
che Mittel eingesetzt, um den Parteien die Beschaffung privater Mittel zu erleichtern.
Öffentliche Finanzierung würde den britischen Parteien eine alternative Geldquelle er-
schließen und damit deren Abhängigkeit von Interessengruppen grundlegend bearbeiten,
aber möglicherweise nicht ausreichen, um die personelle Verflechtung zwischen politischer
Elite und Interessengruppen aufzubrechen. So könnte eine Budgetfinanzierung der Parteien
auch das besondere Interesse von Labour-Wahlkreisorganisationen an den finanziellen Vor-
teilen aus der Aufstellung von Gewerkschaftsvertretern erheblich vermindern. Auf diese
Weise wäre den Gewerkschaftsvertretern ihr häufig entscheidender Vorzug gegenüber
anderen potenziellen Kandidaten genommen. Dies Problem wird seit Jahrzehnten gesehen.
Bereits 1933 wurde im Hastings Agreement festgeschrieben, dass affiliierte Organisationen

68
S.d. Butler/ Kavanagh 2002, S. 33.
69
Koole 2001, S. 73, 79.
70
Für Beispiele s. Ewing 2007, S. 14f., 116ff., 131, 137f.
71
Die Schlüsselbegriffe „notwendig“, „angemessen“ und „Verwurzelung“ stammen aus den Urteilen des deut-
schen Verfassungsgerichts zu diesem Problemkreis.
72
Hier beträgt der Anteil solcher Einnahmen etwa 30 % der Gesamteinnahmen der Parteien (zusammengefasst für
alle Organisationsebenen). S.d. Naßmacher 2001, S. 96 und Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8400.
73
Heard 1960, S. 249.
74
Für Einzelheiten s. Naßmacher u.a. 1992, S. 83ff., 102ff.
172 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

nicht mehr als 80% der Wahlkampfaufwendungen für Labour Kandidaten beitragen dürfen
und die Wahlkreisorganisationen den Rest der Ausgaben aufbringen sollen.75 Damit war
das Problem allerdings nicht beseitigt. Vielmehr wuchs die Bedeutung der Förderung durch
die Gewerkschaften für Kandidaten der Labour Party in den 1980er Jahren noch an. 1992
waren 143 von 271 Labour-Abgeordneten im Unterhaus von Gewerkschaften unterstützt
worden, bis dahin der höchste Prozentsatz in der Parteigeschichte.76 Die von den Gewerk-
schaften aufgestellte Liste jener Kandidaten, die diese zu unterstützen gedachten, war für
die Kandidatur bis 1997 entscheidend.77 Den möglichen Effekt einer öffentlichen Erstattung
von Wahlkampfkosten der Wahlkreiskandidaten hat die Partei bereits durch eine Satzungs-
änderung vorweg genommen. Da alternative Geldquellen allerdings bislang nicht zur Ver-
fügung stehen, sind damit freilich weder die aktuellen Probleme der Parteifinanzen noch die
traditionellen Schwierigkeiten der Kandidatenauswahl dauerhaft beseitigt.

b) Kandidatenaufstellung

Da die soziale Zusammensetzung des Unterhauses sich langfristig retardierend auf die Ge-
staltung der britischen Wirtschaftspolitik ausgewirkt hat, ist abschließend möglichen Ver-
änderungen in diesem Bereich nachzugehen. Generell ändert sich die Zusammensetzung
eines Parlaments nicht kurzfristig, denn die Abgeordneten aller Länder haben ihre Mandate
relativ lange inne, in Großbritannien im Durchschnitt 20 Jahre.78 Insgesamt besteht nach
wie vor der größte Kontrast zwischen Abgeordneten der Labour Party und denen der Kon-
servativen, sodass eher Kontinuität als Wechsel zu erwarten ist.79 Dennoch fanden seit der
Regierungszeit von Frau Thatcher in beiden Parteien bemerkenswerte Veränderungen in
der sozialen Zusammensetzung der Unterhausabgeordneten statt, die aber nicht auf Maß-
nahmen der neokonservativen Wende zurückzuführen sind.
Machtwechsel (wie 1964, 1979 und 1997) bewirken üblicherweise, dass viele Man-
datsträger der bisherigen Mehrheitspartei ihren Sitz verlieren und auch in den nächsten
Wahlen nicht mehr als Kandidaten berücksichtigt werden. Neue Bewerber des Wahlgewin-
ners erhalten ein Mandat. Die neue Machtkonstellation kann sich bei den folgenden Wahlen
zusätzlich auf die Kandidaten auswirken. Ob sich daraus ein anderes Vorgehen bei der
Kandidatenauswahl ergibt und damit eine andere Zusammensetzung des Parlaments er-
kennbar wird, ist zu prüfen.
Bei den Konservativen kamen durch die vielen neuen Sitze nach 1979 auch jüngere
Kandidaten zum Zuge.80 Allerdings änderte das an der sozialen Zusammensetzung der
Abgeordneten nur wenig. In der Konservativen Unterhausfraktion überwog zunächst noch
die traditionelle Sozialstruktur der Vergangenheit. Die Konservativen bleiben eine Partei
des privaten Sektors, die vor allen Dingen Banker, Anwälte und Geschäftsleute ins Parla-
ment entsendet. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber bemerkenswerte Veränderungen.
Durch den Machtwechsel von 1964 wurde ein Wechsel in der Parteispitze ausgelöst, der die
Tendenz zum Wandel offenbar verstärkt hat. Die Konservativen Parteiführer Heath, That-

75
Norris/Lovenduski 1995, S. 66.
76
Ebenda, S. 149.
77
Zur Illustration wählen Norris und Lovenduski (1995, S. 57) den Vergleich zwischen Profi-Fußballern und
Amateurmannschaften.
78
Becker 2002, S. 128.
79
Criddle 1999 (1983), S. 234, 238.
80
Ebenda, S. 228f., 230f.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 173

cher und Major haben andere Rekrutierungsergebnisse zustande gebracht, da sie nicht die
traditionelle Herkunft Konservativer Mandatsträger aufwiesen, sondern Repräsentanten
einer aufstiegswilligen unteren Mittelschicht waren.81 Ihre Wahl als Spitzenkandidaten
bedeutete, dass Außenseiter ohne starken Rückhalt in der traditionellen Parteielite präsen-
tiert wurden. Das Old-Boys-Network „leistete sich die Nonchalance anzunehmen, es sei
egal, welche Figur unter ihnen Premierminister sei.“82

Tabelle 14: Ausgewählte soziale Gruppen im britischen Unterhaus (1983-2005)


Gruppe 1983 1987 1992 1997 2001 2005
Konservative,
397 376 336 165 166 198
davon
Schule:
Eton und Harrow 60 51 41 15 14 15
Beruf:
Manager 100 114 112 43 49 64
Labour,
209 229 271 419 413 355
davon
Beruf:
Arbeiter 70 66 59 54 51 35
Finanzierung:
Gewerkschaften 115 129 143 k.A.83 k.A. k.A.
Quellen: Criddle 1999 (1983), S. 235, 237; Criddle 1997, S. 203; Criddle 1999 (1987), S. 202, 205; Criddle
1999 (1992), S. 224, 226; Criddle 1997, S. 205; Criddle 2002, S. 202, 204; Criddle 2005, S. 164f.

Ein Rückgang in der absoluten Zahl der Management-Vertreter zeigte sich bereits seit den
1960er Jahren.84 Die Wahlniederlage von 1997 hat diesen Effekt erheblich verstärkt. Noch
deutlicher ist der Anteil von Absolventen der Nobel-Internate Eton und Harrow in der Kon-
servativen Unterhausfraktion zurückgegangen. Inzwischen beträgt er weniger als 10% (s.
Tab. 14).
Zwar hat sich die Zahl der Absolventen von Eton und Harrow von Wahl zu Wahl kon-
tinuierlich verringert.85 Dafür haben allerdings die Absolventen anderer Privatschulen zu-
genommen.86 Jeder Sieg der Konservativen brachte mehr erfolgreiche Unternehmer, Bera-
ter u.ä. ins Parlament, jedoch überwiegend ohne die traditionellen Oberklassentraditionen.87
Auch bei den Konservativen ist seit Jahren eine Tendenz zum Berufspolitiker erkennbar.88

81
S.d. Marwick 2003, S. 174.
82
Fischer 1995, S. 3.
83
Seit 1997 ist diese Form „plutokratischer“ Einwirkung auf die Labour-Fraktion abgeschafft.
84
Siehe oben, Kapitel D, Tab. 10 und 12.
85
Norris/ Lovenduski 1995, S. 100.
86
Criddle 2002, S. 203, 202.
87
Marwick 2003, S. 276.
88
Norris/ Lovenduski 1995, S. 98.
174 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Tabelle 15: Abschneiden der Konservativen Kandidaten (1983-2005)


Kandidatengruppe 1983 1987 1992 1997 2001 2005
Konservative Kandidaten
Insgesamt 633 633 634 650 640 627
Unterlegene 236 257 298 485 474 429
Unterlegene in % 37,5 40,6 47,0 74,6 74,0 68,4
Konservative Kandidaten, die eine
„Public School“ besuchten
Insgesamt 173 118 91 306 280 242
Unterlegene 46 26 22 109 174 152
Unterlegene in % 26,6 22,0 24,2 35,6 62,1 62,8
Konservative Kandidaten aus
Eton und Harrow
Insgesamt 76 65 52 40 24 26
Unterlegene 16 14 11 25 10 11
Unterlegene in % 21,1 21,6 21,1 62,2 41,7 42,3
Quellen: Criddle 1999 (1983), S. 235; Criddle 1999 (1987), S. 202; Criddle 1999 (1992), S. 224; Criddle 1997,
S. 201, 203; Criddle 2002, S. 202, 204; Criddle 2005, S. 164.

Dennoch ging die Zahl der Konservativen Kandidaten, die eine Internatsschule besucht
hatten, zunächst auf fast die Hälfte zurück (s. Tab. 14). Seit 1997 stieg sie allerdings stark
an. Während bei den klassischen Repräsentanten der alten Oberschicht (insbesondere der
Absolventen von Eton und Harrow) der kontinuierliche Bedeutungsverlust in der Unter-
hausfraktion anhält, ging der Anteil von Abgeordneten aus dem Management nur unter dem
Einfluss des Machtwechsels von 1997 deutlich zurück (s. Tab. 15). Auch wenn der Anteil
der Kandidaten, die in einem Internat unterrichtet wurden, kontinuierlich fällt, so sind diese
doch im Vergleich zu allen Kandidaten bei den Wahlen immer noch erfolgreicher. Dies gilt
besonders für die Absolventen von Eton und Harrow, die noch 1987 und 1992 doppelt so
erfolgreich waren als andere Kandidaten. Selbst 2001 und 2005 schneiden sie besser ab.
Während die potenzielle Blockadeposition der alten Oberschicht überwunden wurde, be-
steht der enge Zusammenhang zwischen Konservativer Partei und Wirtschaftselite fort. Ob
darin auf Dauer das alte Beharrungspotenzial im neuen Gewande steckt, lässt sich noch
nicht absehen.
Bei der Labour Party sind vor allem drei langfristige Entwicklungen bemerkenswert.
Erstens ging die Zahl der ins Unterhaus gewählten Arbeiter zurück, selbst der Gewerk-
schaftsflügel wird nicht mehr durch Arbeiter vertreten. Dies kann als genereller Trend für
alle Arbeiterparteien gesehen werden. Zweitens stieg die Zahl der von Gewerkschaften
unterstützten Abgeordneten bis 1992 an.89 Dies kann ebenso Ausdruck der finanziellen
Engpässe in den örtlichen Parteiorganisationen wie der innerparteilichen Flügelkämpfe
sein. Nach der Niederlage von 1979 kam es nämlich zu einem heftigen Kampf zwischen
den Parteiflügeln.90 Drittens gab es eine massive Umschichtung innerhalb der von Gewerk-
schaften finanziell geförderten Labour-Kandidaten. Seit den 1980er Jahren sind nicht mehr
die Bergarbeiter- und Eisenbahnergewerkschaften (mit nur noch etwa 24 Abgeordneten) die

89
Seit 1997 sind solche Einflüsse nicht mehr nachweisbar.
90
Criddle 1999 (1983), S. 224.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 175

Hauptsponsoren, sondern jene der Transportarbeiter und Maschinenbauer mit durchschnitt-


lich 75 Vertretern in der Labour-Fraktion. 1992 freilich wurde auch ihre Zahl von den Ver-
tretern anderer Gewerkschaften (80 Abgeordnete, 56% aller Gewerkschaftsabgeordneten)
übertroffen.91 Deutlich erkennbar ist bei den Abgeordneten der Labour Party 1992 eine
Verlagerung des Schwerpunkts in Richtung öffentlicher Dienst.92 Von insgesamt 38 neuen
Labour-Abgeordneten des Jahre 1992 kam ein Fünftel aus Gewerkschaftsapparaten, ein
Drittel waren bisherige Parteiangestellte. Dadurch wurde die Zahl der Berufspolitiker er-
höht, die Zahl derjenigen, die aus der Wirtschaft kommen, ist rückläufig.93
Veränderungen in beiden Unterhausfraktionen sind nicht nur eine Folge politischer,
d.h. in unserem Zusammenhang vor allem regionaler, „Erdrutsche“ (wie 1964, 1979, 1997),
sondern auch das Ergebnis des ständigen Ringens zwischen Wahlkreisparteien und Partei-
zentralen um die Auswahl „geeigneter“ Repräsentanten. Wie bereits dargestellt vollzieht
sich die Aufstellung von Kandidaten für das britische Unterhaus im Zusammenwirken von
nationaler Parteiführung und lokalen Parteiorganisationen. Seit den 1990er Jahren musste
die Führung der Konservativen Partei manche Niederlagen bei der Auswahl der Kandidaten
durch die Parteibasis einstecken.94 In jüngster Zeit haben beide Parteien den Einfluss der
Parteispitze auf die Kandidaturen auch mit der Berücksichtigung von Minderheiten, insbe-
sondere von Frauen, in der Politik begründet. Ihr Anteil ist im britischen Parlament im
internationalen Vergleich sehr gering.
2002 beschloss der Parteivorstand der Konservativen, dass die Wahlkreisparteien zu-
künftig verpflichtet sind, ihren Kandidaten aus der vorgefertigten Liste auszuwählen,95 um
dadurch mehr Frauen und Vertreter ethnischer Minderheiten als Repräsentanten ins Unter-
haus zu entsenden.96 Das Gewicht der Parteispitze ist auch deshalb stark, weil sie für die
Vergabe der Wahlkampfmittel zuständig ist, die insbesondere in jene Wahlkreise fließen,
die verteidigt werden müssen bzw. möglicherweise zu gewinnen sind. Vor der Aufnahme in
die „approved list“ muss sich der Konservative Bewerber einer Prüfung seiner Fähigkeiten
in einem Assessment Center unterziehen, um seine Eignung unter Beweis zu stellen. Damit
könnte der Einfluss der Wirtschaft auf die Parteiführung nach wie vor wirksam sein, die
dann zur Vorauswahl solcher Kandidaten führt, die bereits immer im Unterhaus die Partei
repräsentierten. Die Aufnahme in die nationale Liste garantiert aber keineswegs, dass tat-
sächlich eine Kandidatur im Wahlkreis erfolgen kann.
Bei der Labour Party muss der im Wahlkreis nominierte Kandidat von der Parteifüh-
rung bestätigt werden.97 Dabei ist es schon häufiger zu Kontroversen gekommen, die zu
einem Veto führten. Über die erneute Kandidatur eines Abgeordneten muss dann abge-
stimmt werden, wenn die Mehrheit der Mitglieder der Wahlkreisorganisation dies
wünscht.98 In der politischen Praxis geht der Einfluss des Parteivorstandes (NEC) auf die
Kandidatenaufstellung weit über die Stärkung von Minderheiten hinaus. Durch strenge

91
Criddle 1999 (1983), S. 240; Criddle 1999 (1987), S. 206; Criddle 1999 (1992), S. 226, 227, 224; Criddle 1997,
S. 203.
92
Criddle 1999 (1992), S. 227.
93
Ebenda, S. 192, 203.
94
Ebenda, S. 195f.
95
Webb 2000, S. 197.
96
Becker 2002, S. 189f.
97
Ebenda, S. 190f.
98
Saalfeld 1999, S. 78.
176 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Prüfverfahren sollte einerseits die Qualität der Kandidaten verbessert werden, andererseits
aber auch sichergestellt werden, dass sie gegenüber der Politik Blairs loyal waren.99
Die Tendenz zur Einflussnahme der Parteiführung auf die Kandidatenaufstellung ist
auch durch das Wahlsystem bedingt. Die Parteien müssen daran interessiert sein, sowohl
qualifizierte als auch loyale Abgeordnete in ihre Fraktionen zu bekommen. Im Falle Groß-
britanniens wäre die ausschließliche Nominierung der Kandidaten durch die örtlichen Par-
teiorganisationen durchaus problematisch. Zunächst entfällt die in Deutschland bestehende
Kombination von Wahlkreiskandidatur mit der Landesliste, die verhindert, dass der latente
Konflikt zwischen zentraler Parteiführung und örtlicher Organisation über den Wahlkreis-
kandidaten für jede Nominierung ausgetragen werden muss: Deutsche Parteiführungen
(zumindest im einzelnen Bundesland) haben weitgehende Möglichkeiten der Fraktionspla-
nung mit Hilfe der Liste und können deshalb auf manche Auseinandersetzungen mit den
Wahlkreisorganisationen um die Nominierung eines Kandidaten verzichten, die sich bei
reiner Wahlkreiswahl nicht vermeiden ließen.
Bei Kandidatenaufstellungen der Labour Party gab es nur geringe Veränderungen.
1982 wurde ein Vorstoß des Parteiführers Kinnock zurückgewiesen, die Aufstellung nach
dem Modus „ein Mitglied  eine Stimme“ durchzuführen.100 Das Parteistatut von 1992 hat
aber den Einfluss der lokalen Gewerkschaftsorganisationen und ihrer Repräsentanten einge-
schränkt,101 die nun nicht mehr als 40% der Stimmen in den lokalen Wahlgremien haben
dürfen. Die verbleibenden Stimmen werden in einer Auswahlsitzung rekrutiert, bei der alle
(direkten) Mitglieder abstimmen können.102 Die Auswahl der Bewerber für eine Kandidatur
trifft letztlich die Ortsgruppe der Partei. Sie wählt den Bewerber aus einer Liste, in der alle
Nominierungen gesammelt wurden und die dann auf eine Shortlist verkürzt wird. Als Ent-
scheidungshilfe für die (auch mit Briefwahl) abstimmenden Mitglieder erstellt jeder Be-
werber, der auf der Shortlist steht, eine Wahlrede von 500 Worten.
Eine besondere Schwäche der beiden wichtigsten Parteien scheint die Parteibasis zu
sein. Während die Parteispitze recht gut mit Personal ausgestattet ist,103 verfügt die lokale
Ebene über kein Personal und die Organisationen befinden sich eher im Niedergang.104
Dies hat natürlich Folgen für die Rekrutierung der Wahlkreisabgeordneten. Schwache Ba-
sisorganisationen müssen sich eher an die Vorschläge der Parteispitze halten, schon des-
halb, weil sie selbst keine Alternative anzubieten haben. Die Platzierung von Kandidaten in
Wahlkreisen, die sicher gewonnen werden, hat unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung
der Politik im Parlament.
Probleme ergeben sich, weil bei der Kombination von Mehrheitswahlsystemen und
Kandidatenaufstellung durch örtliche Organisationen ein prinzipieller Konflikt verstärkt
wird: Die aktiven Parteimitglieder (nur solche beteiligen sich an der Kandidatenaufstellung)
sind im Durchschnitt in ihren politischen Ansichten radikaler als die Masse der Mitglieder
und diese wiederum sind radikaler als die Wähler einer Partei. Der Kandidat muss also den
Anforderungen eines militanten Kerns von Parteimitgliedern entsprechen, um nominiert zu
werden. Andererseits benötigt er gerade in Grenzwahlkreisen die Stimmen jener Wähler,

99
Criddle 2002, S. 186f., 205.
100
Criddle 1999 (1987), S. 191-185.
101
Seyd/ Whiteley 2002, S. 7.
102
Scarrow 1996, S. 167.
103
Webb 1995, S. 310.
104
Webb 2000, S. 243; Becker 2002, S. 65.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 177

die erheblich weniger militant eingestellt sind. Es fragt sich deshalb, ob nicht eine weitere
Vergrößerung des Nominierungsgremiums, wie sie etwa bei „Vorwahlen“ gegeben ist,
sinnvoll sein könnte.
Durch „Vorwahlen“ werden in den meisten amerikanischen Einzelstaaten die Kandi-
daten für öffentliche Ämter aufgestellt. In der deutschen Diskussion um ein mehrheitsbil-
dendes Wahlrecht hat Erwin K. Scheuch vorgeschlagen, die Einführung von relativer
Mehrheitswahl und „Vorwahlen“ miteinander zu verbinden.105 Louis Heren hat eine ähnli-
che Anregung für Großbritannien gegeben.106 Die Anwendung von Vorwahlen wäre aller-
dings mit erheblichen Problemen verbunden. Vorwahlen finden in den verschiedenen Ein-
zelstaaten der USA nach zum Teil unterschiedlichen Regeln statt.107 Im britischen Falle
kämen Vorwahlen nur für die Auswahl der Kandidaten um einen Unterhaussitz in Betracht.
Der Personenkreis, dem gegenwärtig die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten obliegt,
wird durch den allgemeinen Schwund der Parteimitglieder immer kleiner. Die Notwendig-
keit im Spannungsfeld zwischen den engen Zirkeln der nationalen Parteiführung und der
aktiven Parteimitglieder vor Ort die Bedingungen für eine größere Offenheit der politischen
Eliten zu schaffen, gibt Anlass, die Anwendungsmöglichkeit von Vorwahlen in Großbri-
tannien zu erörtern.
Das Prinzip der Vorwahlen ist, dass die Aufstellung von Kandidaten einer Partei einer
beschränkten Öffentlichkeit (den deklarierten Parteianhängern) obliegt. Die Erklärung über
die Anhängerschaft wird zusammen mit der Eintragung ins Wählerverzeichnis („registrati-
on“) abgegeben. Sie verpflichtet zu nichts, berechtigt aber zur Stimmabgabe in den Vor-
wahlen der jeweiligen Partei. Die erklärte und eingetragene Parteipräferenz kann jederzeit
geändert werden. Damit erwirbt der Wähler dann automatisch das Recht, in der nächsten
Vorwahl seiner „neuen“ Partei abzustimmen. Die Benennung von Kandidaten für die Vor-
wahl erfolgt durch Gruppen von aktiven Parteimitgliedern.
Gegen die Anwendung eines solchen Verfahrens lassen sich verschiedene Bedenken
geltend machen. Zunächst ist am Beispiel der amerikanischen Erfahrungen auf die potenzi-
ell wahlentscheidende Bedeutung der finanziellen Mittel hinzuweisen, über die ein Kandi-
dat in der Vorwahl verfügen muss, um sich bekannt zu machen. Dadurch werden dann die
Chancen der finanziell schwächeren Kandidaten nachteilig beeinflusst. Dies birgt erhebli-
che Gefahren für das grundsätzlich mit Vorwahlen angestrebte Ziel, die Kandidatenaufstel-
lung offener zu gestalten. Auf eine Regelung der finanziellen Fragen könnte deshalb bei
einer Einführung für Vorwahlen nur verzichtet werden, wenn sich der Wahlkampf auf ein
relativ kleines Gebiet (einen Wahlkreis) beschränkt, ein Einsatz von Massenmedien nicht in
Betracht kommt und als Werbemittel eines Kandidaten überwiegend Plakate, Handzettel,
Hausbesuche, Versammlungen eingesetzt werden. Die Wirksamkeit dieser Werbemittel
hängt dann überwiegend vom Einsatz freiwilliger Helfer ab, die allerdings immer weniger
zur Verfügung stehen.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit für die Übertragung von Vorwahlen in andere Län-
der ergibt sich aus der öffentlichen Registrierung der Parteianhänger. Welche Kriterien/
Bedingungen sollen dabei zugrunde gelegt werden? Wer kann ein entsprechendes Register
führen?

105
Scheuch 1967, S. 221 – vgl. auch „Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrecht“, Bericht des vom Bundesmi-
nister des Innern eingesetzten Beirates für Fragen der Wahlrechtsreform, Bonn 1968, S. 63ff.
106
Heren 1968.
107
Entsprechend den Vorschlägen von Scheuch wird hier nur die so genannte geschlossene Vorwahl dargestellt.
178 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Einen weiteren Kritikpunkt formulierte Leon D. Epstein, wenn er die Verbindung von
Vorwahlen mit dem parlamentarischen System als „unlogisch“ bezeichnet.108 Er geht davon
aus, dass parlamentarische Regierung möglichst große Homogenität der Parlamentsfraktio-
nen erfordert. Dem ist zuzustimmen, wenn damit das Maß an Abstimmungsdisziplin einer
Fraktion gekennzeichnet werden soll. Epstein unterlässt es aber, deutlich zu machen, dass
Unterschiede im Verhalten der amerikanischen und der britischen Abgeordneten nicht
durch die Vorwahlen verursacht sind. Solange dem Regierungschef ein wirksames Auflö-
sungsrecht als „Disziplinarmittel“ zur Verfügung steht, kann er das Abstimmungsverhalten
seiner Parlamentsmehrheit beeinflussen. Diese Wirkung beruht auf der Furcht der Ab-
geordneten vor einem neuen Wahlkampf,109 die durch die zusätzliche Gefahr einer Nieder-
lage in der Vorwahl auf alle Abgeordneten einer Partei ausgedehnt würde.
Eine positive Folge von Vorwahlen könnte sein, dass die Abgeordneten sich auch in
„sicheren“ Wahlkreisen um mehr Responsivität gegenüber ihren Wähler bemühen müssten.
Dies erscheint dringend geboten, denn das Verhältnis zwischen den Bürgern und ihren
Repräsentanten in Regierung und Parlament hat sich in den „vergangenen Jahren nachhaltig
verändert ... 2001 war eine Mehrheit von über 52% der Befragten der Ansicht, dass Regie-
rungen nicht daran interessiert seien, was den normalen Wähler bewege. Mehr als 67%
waren gemäß einer Umfrage desselben Jahres davon überzeugt, dass Parlamentarier die
Bindung zu den Wählern verlören, nachdem sie einmal gewählt worden seien.“110
Ließe sich in dieser Hinsicht die Funktionsfähigkeit des britischen Parlaments durch
Vorwahlen verbessern, so besteht doch eine Gefahr für die Elastizität, insbesondere des
Auflösungsrechts. Werden die Vorwahlen in möglichst geringem Abstand zur Parlaments-
wahl durchgeführt, dann ergibt sich zwangsläufig eine Verlängerung der Wahlkampfzeit
zwischen Auflösungstag und Wahltag. Zur Sicherung der Flexibilität wäre es deshalb er-
forderlich, die Vorwahlen als Abstimmungen über die „prospective candidates“ der Partei-
en von der Unterhauswahl zeitlich abzulösen. Eine Möglichkeit wäre, in jedem dritten Jahr
nach einer allgemeinen Wahl an einem bestimmten Tage Vorwahlen in allen Wahlkreisen
durchzuführen. Sofern am Tage der Parlamentsauflösung in einem Wahlkreis einer Partei
kein gewählter Kandidat zur Verfügung steht, wäre die Hauptwahl in diesem Wahlkreis
entsprechend später anzusetzen. Das ist ohne Nachteile für die Elastizität des Regierungs-
systems möglich, da in den übrigen Wahlkreisen über die Regierungsbildung entschieden
werden kann. Dem Einbau von Vorwahlen in das parlamentarische Regierungssystem ste-
hen also keine unüberwindlichen Schwierigkeiten entgegen.
Dennoch bleiben einige der genannten Probleme (Finanzierung, Teilnahmerecht) un-
lösbar. Auch für das Spannungsfeld zwischen qualifizierter Auswahl von politischem Per-
sonal, notwendiger Offenheit der politischen Elite und breiten Partizipationsmöglichkeiten
im parlamentarischen Regierungssystem eröffnen Vorwahlen keine überzeugende Lösung.

108
Epstein 1964, S. 55.
109
Das bestätigt L. Heren (1968) am Beispiel der Auseinandersetzungen zwischen Premierminister Wilson und
seiner Unterhausfraktion.
110
Helms 2006, S. 225.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 179

3. Ergebnis

Gegenstand dieser Untersuchung war das Spannungsverhältnis zwischen „pluralistischer


Demokratie“ und „nachhaltiger Wirtschaftspolitik“. Nachhaltige Wirtschaftspolitik be-
zeichnet dabei eine Zweck-Mittel-Beziehung, die wirtschaftspolitische Ziele (wie Stabilität
und Wachstum) mit möglichst geringen ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten
erreichen will. Für die Sicherung der langfristigen Lebensgrundlagen ist es in einer altern-
den Gesellschaft auch bedeutsam, zukünftigen Generationen nicht ein Übermaß an sozialen
Lasten aufzuerlegen, wie sie aus dem Rückbau von Branchen erwachsen, die am Markt
keine Zukunft haben. Eine Wirtschaftspolitik, die langfristige Veränderungen der Weltwirt-
schaft oder einzelner Branchen außer Acht lässt, kann für eine entwickelte Volkswirtschaft
nicht zukunftsfähig sein. Die Analyse der Ursachen für die britische Strukturkrise zeigt,
dass eine Anpassung von unelastischen gesellschaftlichen Strukturen an den wirtschaftlich-
technischen Wandel vordringlicher Gegenstand einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik sein
muss. Eine solche Politik wurde in Großbritannien bis in die 1970er Jahre nicht betrieben.
Damit rücken die Handlungsfähigkeit der jeweiligen Regierung und ihre strategische Inter-
ventionsfähigkeit in den Blick.
Der Demokratie ist gerade in Hinblick auf die Wirtschaftspolitik immer wieder vor-
geworfen worden, sie sei unfähig, die anfallenden Probleme langfristig angemessen zu
bearbeiten. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Hypothese stand hier die Frage im
Mittelpunkt, ob ein bestimmtes institutionelles Arrangement, die parlamentarische Demo-
kratie, von ihrer Struktur her fähig ist, die Wirtschaftsentwicklung langfristig erfolgreich zu
begleiten.
Zu dem aufgeworfenen allgemeinen Problem eines strukturellen Makels pluralistischer
Demokratien wurden im ersten Kapitel als komplementäre Antithese zwei Hypothesen für
die parlamentarische Regierungsweise angeboten:
ƒ Das parlamentarische Regierungssystem britischen Typs beschränkt die Einflussmög-
lichkeiten der gesellschaftlichen Interessengruppen und ihrer Verbände und begünstigt
damit eine nachhaltige Wirtschaftspolitik.
ƒ Das Mehrheitswahlsystem als wesentliche Institution der britischen Verfassungswirk-
lichkeit verhindert grundsätzliche Reformen, da keine der beiden Alternierungs-
parteien radikale Forderungen stellt, um die für den Wahlsieg ausschlaggebenden
Grenzwähler nicht abzustoßen. Möglicherweise sei deshalb die „katastrophale" briti-
sche Wirtschaftspolitik diesem Wahlverfahren zuzurechnen.
Daraus lässt sich als gemeinsame Hypothese formulieren: Mehrheitsbildende Wahlsysteme
– als wesentlicher Bestandteil der lebenden Verfassung eines Landes – begünstigen oder
verhindern eine Anpassung der wirtschaftlich relevanten gesellschaftlichen Strukturen und
Verhaltensweisen und damit eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Welche von beiden Va-
rianten dieser Hypothese sich bei der Analyse des britischen Beispiels bewährt, war Ge-
genstand dieser Untersuchung. Damit wurde nach den Bedingungen effizienter parlamenta-
rischer Regierung (dargestellt am Beispiel der britischen Wirtschaftspolitik) gefragt und
zugleich ein allgemeines Problem der vergleichenden Regierungslehre aufgeworfen.
Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens nach dem Zweiten
Weltkrieg, so scheint es, dass die britischen Regierungen von den ihnen aufgrund der Kon-
struktion des Regierungssystems zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, eine nachhaltige
Wirtschaftspolitik durchzusetzen, viele Jahre keinen Gebrauch gemacht haben. Warum ist
180 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

es der britischen Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte nicht gelungen, die zentrale Aufgabe
der Wirtschaftspolitik, nämlich Stabilität (u.a. Zahlungsbilanz-Ausgleich) und Wachstum
(d.h. eine anderen Ländern vergleichbare Wachstumsrate) zu erfüllen? Immerhin galt
Großbritannien Ende der 1970er Jahre als der "kranke Mann" Europas.
Bei der langfristigen Analyse des Regierungshandelns im Zeitablauf und im Hinblick
auf einzelne Branchen zeigt sich, dass das von der institutionellen Gestaltung des politi-
schen Entscheidungsprozesses ausgehende beträchtliche Handlungspotenzial der Regierun-
gen und damit die Elastizität der Wirtschaftspolitik partiell dadurch begrenzt sein kann,
dass Konstellationen und Arrangements der Sozialstruktur Anpassungsprozesse in der
Wirtschaftsstruktur erschweren. Auch in Großbritannien versuchten die Akteure konkor-
dante bzw. korporatistische Entscheidungsmuster zur Problembewältigung einzusetzen, wie
sie seit den 1960er Jahren von Politikwissenschaftlern als wünschenswert für moderne
Demokratien empfohlen wurden. Wissenschaftler haben sich bemüht, die positive Perfor-
manz dieser institutionellen Arrangements vor dem Hintergrund makroökonomischer Daten
herauszuarbeiten. Die Einbindung wichtiger Interessenvertreter durch das NBPI und den
Social Contract mißlang allerdings in Großbritannien, weil sie auf Ablehnung (im Mana-
gement) oder geringe Durchsetzungsfähigkeit (bei den Gewerkschaften) stieß.
Unsere Longitudinalanalyse der Wirtschaftspolitik kommt daher zu einer Revision der
vom Mainstream noch immer propagierten Politikempfehlung. Gerade in der Wirtschafts-
politik geht es um Handlungsfähigkeit, wie sie in einem parlamentarischen System briti-
scher Prägung besonders ausgeprägt gegeben ist. Diese Handlungsfähigkeit hatte die briti-
sche Demokratie auch in der Weltwirtschaftskrise unter Beweis gestellt. Die “großen Koali-
tionen“ in Deutschland (2005), in den Niederlanden (2006) und in Österreich (2007), die
sich regelmäßig mit wesentlichen Veränderungen der Politik sehr schwer tun, sind die logi-
sche Folge von Verhältniswahlverfahren. Den Gegenpol bildet das politische Steuerungspo-
tenzial,111 das durch Machtwechsel freigesetzt wird, wie ihn nur Wahlverfahren zulassen,
die „manufactured majorities“ ermöglichen. Das parlamentarische System in seiner briti-
schen Form, d.h. ohne Institutionen mit Veto-Potenzial, bietet einer zum Handeln ent-
schlossenen politischen Führung die erforderliche Handlungsmöglichkeit.
Diese müssen allerdings durch Politiker auch genutzt werden. Eine Selbstbindung der
Handelnden an tradierte Interessen hatte über Jahrzehnte bewirkt, dass Strategien zu Lasten
der wichtigen Interessengruppen vermieden wurden. Erst mit Heath (und in der Folge That-
cher, Major, Blair und Brown) vermochten sich die Führungskräfte aus der Vereinnahmung
durch ihre traditionellen Parteistrukturen zu lösen, weil sie selbst nicht aus diesen Milieus
stammten. Damit konnte das parlamentarische System dann seine volle Entschei-
dungsfähigkeit unter Beweis stellen.
In den 1970er Jahren veränderte sich die soziale Zusammensetzung der Konservativen
Unterhausfraktion. Die strategisch vorbereitete, flexibel durchgeführte Konfrontationspoli-
tik der Regierung Thatcher gegen die Gewerkschaften erwies sich als wirksam. Eine stärke-
re Bestätigung seiner über Jahrzehnte vertretenen Hypothesen zu den Wirkungen von
Wahlverfahren als die politische Führungsleistung von Margaret Thatcher hätte sich F.A.

111
Dies wird gelegentlich als „elective dictatorship“ bezeichnet (so Lord Hailsham 1978, S. 9). Dabei ist aber zu
beachten, dass die Nutzung der Handlungsmöglichkeiten Augenmaß und Risikobereitschaft verlangt, denn es
handelt sich um Weichenstellungen, die in die Zukunft wirken und die immer unter Unsicherheit getroffen werden
müssen.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 181

Hermens nicht wünschen können. Damit wird die „soziale Kälte“ der „Thatcher-
Revolution“ weder legitimiert noch beschönigt.112
Die seinerzeit entwickelten Reformvorstellungen dieser Regierung fanden weitgehen-
de Zustimmung der Bevölkerung und damit eine Parlamentsmehrheit. Dies wurde durch die
Perzeption einer Krise erleichtert, die zur Mobilisierung von Konsens genutzt werden konn-
te. Zwar war die britische Krise bereits der ersten Regierung Wilson durchaus bekannt.
Allerdings begann die volle Bedeutung über die Massenmedien erst langsam in das „öffent-
liche Bewusstsein“ einzudringen. Nach dem "winter of discontent" bestand an beiden Polen
des Willensbildungsprozesses die Voraussetzung für eine erfolgreiche Lösung: die Sperr-
wirkung,113 die von maßgebenden Interessengruppen ausging, konnte pragmatisch durch
eine mittelfristig orientierte Führungsleistung der Premierministerin Thatcher beseitigt
werden. Zur Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Systems liefert gerade die Situation
in der Weimarer Republik ein deutliches Gegenbeispiel: Die Perzeption der Wirtschaftskri-
se führte nicht zum Konsens für irgendeine Politik zu ihrer Überwindung, sondern zum
Dissens gegenüber der Politik Brünings.114 Im Gegensatz dazu belegt die „Thatcher Revo-
lution“, fortgesetzt durch ihren Nachfolger Major, dass Krisenbewusstsein aus dem „winter
of discontent“ und der Falklandkrieg die Zustimmung einer ausreichend großen Wähler-
schaft mobilisierten, um wirtschaftspolitische Strukturreformen durch eine daraus resultie-
rende Parlamentsmehrheit zu ermöglichen.
Die Nachfolgerregierung Blair hat dem neuen Konsens in der britischen Wirtschafts-
politik eine soziale Komponente hinzugefügt. Bis dahin musste die Labour Party einen
schmerzlichen Lernprozess durchlaufen, indem sie vier Wahlen in Folge verlor. Sie musste
erkennen, dass die organisatorischen und finanziellen Verbindungen zu den Gewerkschaf-
ten zu stark waren und ein Hindernis bildeten, um vorsichtiges Vertrauen der Wirtschaft zu
gewinnen.115 Inzwischen spielen die Gewerkschaften im politischen Entscheidungsprozess
keine Sonderrolle mehr. Vielmehr hat New Labour andere Formen der Partnerschaft ge-
sucht, auch mit Unternehmen, aber auf einer freiwilligen Basis. Hier ging es u.a. darum,
bürokratische Restriktionen abzubauen und dadurch den Wettbewerb in der britischen
Wirtschaft zu fördern.116 Die Labour Party musste von traditionellen Zielen abrücken, ganz
besonders von der Verstaatlichung der Produktionsmittel (1995). So konnte Blair an die
Politik Thatchers anknüpfen. Die Politik von New Labour blieb neoliberal in ihrer Markt-
orientierung, obwohl sie größere soziale Gleichheit und mehr Chancengleichheit anstrebte.
Diese Ziele wurden durch eine Fülle von Maßnahmen unterstützt. Die Blair-Regierung war
großzügiger bei einer redistributiven Politik im sozialen Sektor, die insbesondere die sehr
arme Bevölkerung unterstützen sollte. Wie Thatcher wollte auch Blair aber die Eigenver-

112
Die Bewertung der Politikinhalte ist in anderen Forschungsvorhaben vorgenommen worden, wobei insbesonde-
re auf die „Opfer“ der unteren Einkommensgruppen hingewiesen wurde (z.B. bei Crouch 1987, S. 8). Das Wahl-
system führte 1997 dazu, dass ein massiver Vertrauensverlust der Konservativen in der Bevölkerung (Marwick
2003, S. 252-256) als Folge von "sleaze" erneut zum Machtwechsel führte.
113
Dass Arbeitnehmer berechtigte Sorge vor betrieblichen Umstrukturierungen haben, die im schlimmsten Fall
den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben, ist verständlich. Die Regierungen dürfen die Umstrukturierung
aber nicht aufhalten, sondern müssen diesen Prozeß durch Sozialprogramme für den Übergang und durch Koope-
ration mit dem Management durch permanente Weiterbildung und Umschulung wirksam begleiten (S. d. Naßma-
cher 1976, S. 167-170). Die Unternehmen selbst tendieren dazu, dies Problem eher zu vernachlässigen und zu
externalisieren (Naßmacher 1983: 385f., 400f.).
114
Für Einzelheiten s. Kaltefleiter 1968, S. 36-46, 64-67.
115
Dorey 2002, S. 67.
116
Ebenda, S. 70f.
182 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

antwortung des Einzelnen stärken und dafür sorgen, dass Menschen in Beschäftigung
kommen. Sozialleistungen sollten dafür ein Sprungbrett und kein Ersatz oder Ausgleich
sein.117
Gewerkschaftsfreundlich war vor allen Dingen, dass unter Blair ein Mindestlohn ein-
geführt wurde. Noch immer sind die Gewerkschaften ein wichtiger Geldgeber für die La-
bour Party. Dennoch hat sich eine gewisse Emanzipation der Partei von ihnen vollzogen,
wenngleich Bindungen fortbestehen durch Stimmen auf Parteitagen, Sitze im Vorstand und
Stimmen bei der Wahl des Parteiführers. „Rund die Hälfte der Gewerkschafter sind affi-
liierte Mitglieder der Labour Party, ... “118
Der wichtigste Schritt der Regierung Blair war die Entlassung der Bank von England
in die Unabhängigkeit gleich nach dem Wahlsieg von 1997. Dies schränkte den Spielraum
der Finanzpolitik von Labour ein, was auch die Umverteilungspolitik und die darauf gerich-
teten Begehrlichkeiten in die Schranken wies. Die Abgabe der Hoheit über die Geldpolitik
durch die Unabhängigkeit der Zentralbank hat das Vertrauen der Wirtschaft in die finanz-
und wirtschaftspolitischen Fähigkeiten von New Labour gestärkt.119
Die detaillierte Analyse der britischen Wirtschaftspolitik ergab vor allem zwei wirt-
schaftsrelevante Strukturprobleme (Rekrutierung und Qualifikation des Managements so-
wie Stellung und Organisation der Gewerkschaften), die mit zwei Problembereichen der
beiden Alternierungsparteien (Kandidatenaufstellung, Parteienfinanzierung) verknüpft
waren.
Von den wirtschaftsstrukturellen Problemen schien eines (Rekrutierung und Qualifika-
tion des Managements) im Zeitablauf an Bedeutung zu verlieren, das andere (Stellung und
Organisation der Gewerkschaften) wurde einerseits durch eine gezielte „Politik der kleinen
Schritte“ von der Regierung Thatcher, andererseits durch die stufenweise Fusion von Ein-
zelgewerkschaften und den dramatischen Mitgliederschwund der Gewerkschaften in den
produzierenden Branchen bearbeitet.
Ein Aufbrechen des Einflusses der Kräfte der Beharrung muss allerdings in den Par-
teien noch dauerhaft gesichert werden. Es erfordert offene Eliten (mehr Zirkulation zwi-
schen alter Oberschicht und gesellschaftlichen Aufsteigern) und Abkoppelung der Parteifi-
nanzen von mächtigen Interessengruppen. Die Parteiführer Thatcher und Blair haben das
partiell geschafft: Die Parteieliten wurden umstrukturiert und für die Parteienfinanzierung
wurden alternative Geldquellen erschlossen.
Beide Veränderungen sind aber noch nicht nachhaltig abgesichert:
ƒ Reiche Einzelpersonen sind keine zuverlässige Geldquelle (im Gegensatz zu regelmä-
ßigen Unternehmensspenden und korporativen Gewerkschaftsbeiträgen); die Erschlie-
ßung einer breiten Basis von Mitgliedsbeiträgen und Kleinspenden sowie die öffentli-
che Finanzierung der notwendigen Parteitätigkeit in angemessenem Umfang und in
verlässlicher Form bleiben Desiderate.
ƒ Für die Elitenrekrutierung zeichnet sich eine nachhaltige Regelung nicht ab: Das ame-
rikanische Modell der Vorwahlen (primaries) ist wegen der Finanz- und Medienab-
hängigkeit nicht empfehlenswert, der deutsche Weg der Nominierung durch Delegierte
der Parteimitglieder ist wegen der geringen Zahl von individuellen Parteimitgliedern
wenig aussichtsreich.

117
Becker 2002, S. 169.
118
Ebenda, S. 212.
119
S.d. auch Freitag 2003, S. 218ff.; Kittel 2003, S. 386.
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 183

So bleibt die politische (innerparteiliche) Auseinandersetzung um die politischen (und fi-


nanziellen) Voraussetzungen nachhaltiger Wirtschaftspolitik eine dauerhafte Aufgabe. Die
Politikwissenschaft kann dazu nützliche Verfahrenshilfen bereitstellen, aber keine Verfah-
ren für die Durchsetzung einer dauerhaften Regelung vorschlagen. Die beiden parteispezifi-
schen Probleme sind im Wesentlichen ungelöst. Für die Kandidatenaufstellung zeichnet
sich ein langfristiges Gleichgewicht zwischen zentraler Fraktionsplanung durch die Partei-
führung und maximaler Partizipation in den Wahlkreisen nicht ab. In der Parteienfinanzie-
rung haben parteispezifische und gesetzliche Reformschritte nicht zu einer dauerhaften
Lösung geführt. Die gesetzliche Neuregelung (PPERA 2000) schafft vor allem Kontrollen,
keine Anreize oder eine ausreichende Finanzgrundlage für beide Parteien. Der Versuch der
Konservativen, durch ein Quota-System die Finanzierung der Parteizentrale zu sichern, ist
gescheitert; das Umsteuern von großen Unternehmensspenden auf große Individualspenden
ist nicht zukunftsfähig. Bei der Labour Party ist der finanzielle Einfluss der Gewerkschaften
zurückgedrängt; deren Beiträge sind aber bisher nicht durch eine andere dauerhafte Geld-
quelle (Mitgliedsbeiträge, Kleinspenden, öffentliche Mittel) ersetzt worden.
So bietet die Untersuchung ein ambivalentes Gesamtergebnis:
ƒ Die weitreichenden Maßnahmen der Thatcher-Regierung haben das Handlungs-
potenzial britischer Regierungen und damit die Handlungsfähigkeit des parlamentari-
schen Systems erneut demonstriert.
ƒ Die sozialen Korrekturen des neuen wirtschaftspolitischen Konsenses durch die Blair-
Regierung zeigen, ähnlich wie die Weiterführung des Sozialstaates und der Vollbe-
schäftigungspolitik durch die Konservativen nach 1951, dass auch abrupte Verände-
rungen nicht einfach rückgängig gemacht, sondern orientiert an den Grenzwählern der
politischen Mitte ausbalanciert werden.
ƒ Die unzureichende Bearbeitung der parteispezifischen Organisationsprobleme (Kandi-
datenaufstellung, Parteienfinanzierung) demonstriert, dass es perfekte Lösungen für al-
le Fragen nicht gibt, dass Suchprozesse Zeit erfordern und dass Einzelmaßnahmen
zwar richtig, aber nicht erfolgreich, oder erfolgreich, aber nicht dauerhaft, sein kön-
nen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mußte sich Großbritanniens an den Verlust des Empire müh-
sam gewöhnen und die (zögerliche) Hinwendung zu Europa und die langsame Modernisie-
rung der beiden großen Parteien in Gang setzen. Eckpfeiler des Nachkriegskonsenses zwi-
schen den großen Parteien waren die Ziele Vollbeschäftigung und Vermeidung von Kon-
flikten. Diesen Zielen wurde letztlich die Modernisierung der Wirtschaft untergeordnet.
Regierungen beider Parteien haben Branchen immer dann unterstützt, wenn es zur Moder-
nisierung eigentlich schon zu spät war. Die Fehlentwicklung kann allerdings nicht allein
den politischen Akteuren zugeordnet werden. Vielmehr zeigten sich in den verschiedenen
im dritten Kapitel analysierten Wirtschaftszweigen in unterschiedlicher Intensität Probleme
beim Management und in der Gewerkschaftsstruktur, die primär für die jeweilige Entwick-
lung in den Branchen verantwortlich waren.
Das Ergebnis der hier erörterten Modernisierungspolitik ist, dass nach einer Schrump-
fungsphase in den 1980er und 1990er Jahren der sekundäre Sektor stark an Bedeutung
verlor zugunsten des Dienstleistungssektors. Die Kohle- und Stahlregionen im Norden
Englands und in Wales waren von dem Schrumpfungsprozess besonders betroffen. Dienst-
leistungszentren entwickelten sich insbesondere in den Midlands und im Süden. Nur noch
18% der Arbeitnehmer sind in der Herstellung beschäftigt, während der Anteil der im
184 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Dienstleistungssektor Beschäftigten auf 75% anstieg.120 Die internationale Bedeutung Lon-


121
dons als führendes Zentrum für Finanzdienstleistungen ist unbestritten.

Tabelle 16: Wachstumsraten westlicher Industrieländer (1981-2006) (realer Zuwachs des


BIP in %)

Jahr Großbritannien USA Frankreich Deutschland


1981 -1,4 2,5 1,1 0,1
1982 1,9 -1,9 2,5 -0,9
1983 3,5 4,5 1,2 1,8
1984 2,8 7,2 1,5 2,8
1985 3,6 4,1 1,5 2,0
1986 4,0 3,5 2,3 2,3
1987 4,6 3,4 2,5 1,5
1988 5,0 4,1 4,2 3,7
1989 2,2 3,5 4,3 3,8
1990 0,8 1,9 2,6 5,7
1991 -1,4 -0,2 1,0 5,0
1992 0,2 3,3 1,3 2,2
1993 2,3 2,7 -0,9 -1,1
1994 4,4 4,0 1,9 2,3
1995 2,9 4,5 1,8 1,7
1996 2,8 3,7 1,0 0,8
1997 3,3 4,5 1,9 1,4
1998 3,1 4,2 3,6 2,0
1999 2,9 4,4 3,2 2,0
2000 3,9 3,7 4,2 2,9
2001 2,3 0,8 2,1 0,8
2002 1,8 1,9 1,1 0,1
2003 2,2 3,0 0,5 -0,1
2004 3,1 4,4 2,3 1,7
2005 2,6 3,6 2,0 0,8
2006 2,0 3,0 2,0 1,0
Durchschnitte
1979-96 2,0 2,9 2,0 2,2
1997-2006 2,7 3,4 2,3 1,3
Quelle: 1981-79: eigene Berechnungen aus den Angaben in OECD Main Economic Indicators; 1980-05
Werte aus IMF International Financial Statistics/ World Economic Outlook).

120
Becker 2002, S. 34.
121
http//www. Economist.com/research/Backgrounders. Als Beginn wird der „Big Bang“ von 1986 gesehen, der
eine Transformation der Finanzdienstleistungen durch Deregulierung hervorbrachte, nachdem Investoren nur noch
bis zu einem notwendigen Minimum geschützt werden sollten (Grant 1986, S. 151ff.). Zu den Folgen s. Naßma-
cher 2010
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 185

Tabelle 17: Gesamtwirtschaftliche Daten im internationalen Vergleich


Staat Jahr Bruttoinlandspro- Verbrau- Arbeitslo- Leistungs- Haus- Staats-
dukt, real cherpreise senquote bilanzsal- halts- schulden
do saldo
in v.H. gegenüber dem Vorjahr in v. H. in v. H. des BIP
1 2 3 4 5 6 7 8
Deutschland 1995 1,9 - 8,0 -1,2 -3,2 55,5
2004 1,6 1,8 9,5 3,7 -3,7 65.5
2005 0,9 1,9 9,5 3,9 -3,3 67,7
2006 1,7 1,7 9,4 3,3 -3,1 68,9
2007 1,0 2,3 9,2 4,1 -2,5 69,2
Frankreich 1995 2,4 - 11,1 0,5 -5,5 55,1
2004 2,3 2,3 9,6 -0,7 -3,7 64,4
2005 1,4 1,9 9,5 -1,2 -2,9 66,8
2006 1,9 1,9 9,4 -1,7 -3,0 66,9
2007 2,0 1,8 9,3 -1,6 -3,1 67,0
Großbritan- 1995 2,9 - 8,5 -1,3 -5,8 51,0
nien 2004 3,1 1,3 4,7 -2,0 -3,3 40,8
2005 1,8 2,1 4,7 -2,6 -3,5 42,8
2006 2,4 2,0 5,0 -3,3 -3,0 44,1
2007 2,8 2,0 4,8 -3,2 -2,8 44,7
USA 1995 2,5 - 5,6 -1,2 -3,2 74,8
2004 4,2 2,7 5,5 -5,6 -4,7 -64,8
2005 3,5 3,4 5,1 -6,3 -3,8 -65,0
2006 3,2 2,9 4,8 -7,0 -4,1 -66,0
2007 2,7 1,6 5,1 -6,9 -4,4 67,1
Quelle: BMF 2007, S. 410, 412.

Die wirtschaftsrelevanten Indikatoren sprechen eindeutig für die Wirtschaftspolitik seit den
1980er Jahren (s. Tab. 16 und 17).122 Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war durch
stetiges Wachstum gekennzeichnet.123 „Die britische Wirtschaft war somit im Kreis der G7-
Staaten lange Zeit die wachstumsstärkste. Zusammen mit der Republik Irland zählt sie im
EU- und OECD-Vergleich zur Spitzengruppe.“124 Seit 2000 ist der Preisanstieg im Ver-
gleich zu Frankreich niedriger, im Vergleich zu Deutschland auf gleichem Niveau. Alle
kleineren westeuropäischen Länder verzeichnen einen wesentlich höheren Preisanstieg.125

Tabelle 18: Situation der 55- bis 64-Jährigen im Vergleich (2002)


Land Arbeitslosenquote Beschäftigungsquote Erwerbsquote
Deutschland 10,6 38,4 43,0
Frankreich 7,9 34,2 37,2
Großbritannien 3,5 53,3 55,2
USA 3,9 59,5 62,9
OECD insgesamt 4,9 49,4 52,9
aus: Berthold/Berchem 2005, S. 26, Abb. 7, auf der Basis von OECD Employment Outlook

122
Thatcher konnte durch ihre Wirtschaftspolitik mehr bewirken als andere Staaten mit ihren vielfältigen Maß-
nahmen im Rahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik (Dieckmann 2007, S. 59).
123
Becker 2002, S. 51.
124
Ebenda, S. 52.
125
BMF 2005, S. 107.
186 E. Wirkungen der neokonservativen Wende

Tabelle 19: Anteil der Langzeitarbeitslosen im Vergleich*


Jahr USA Deutschland Frankreich Großbritannien Schweden Niederlande
1983 13,3 41,6 42,2 45,6 10,3 48,8
1990 5,5 46,8 38,0 34,4 12,1 49,3
1991 6,3 31,5 37,2 28,5 11,2 45,5
1992 11,1 33,2 36,1 35,4 13,5 42,5
1993 11,5 40,0 34,2 42,5 15,8 45,4
1994 12,2 44,3 38,3 45,4 25,7 49,4
1995 9,7 48,7 42,3 43,6 27,8 46,8
1996 9,5 47,8 39,5 39,8 30,1 50,0
1997 8,7 50,1 41,2 38,6 33,4 49,1
1998 8,0 52,6 44,1 32,7 33,5 47,9
1999 6,8 51,7 40,3 29,8 30,1 43,5
2000 6,0 51,5 42,5 28,0 26,4 32,7
2001 6,1 50,4 37,6 27,8 22,3
2002 8,5 47,9 33,8 23,1 21,0 26,7
2003 11,8 50,0 23,0 17,8 29,2
*Anteil (%) der bereits seit mindestens 12 Monaten Arbeitslosen an den Arbeitslosen insgesamt.
Berechnungen von Berthold/Berechem (2005, S. 20, Abb. 3) auf der Basis von OECD Employment Outlook.

Zieht man die Eurostat-Ergebnisse von 2001 heran, so war das Wohlbefinden der Briten
besser als das der Franzosen und der Deutschen.126 Die Arbeitslosigkeit ist in Großbritan-
nien in den 1990er Jahren kontinuierlich zurückgegangen,127 während sie in Deutschland in
dieser Zeit erheblich stieg.128 Dies gilt auch für die besonderen Problemgruppen der Älteren
(s. Tab. 18 und 19).
Das politische System Großbritanniens garantiert keine perfekten Lösungen für alle
Probleme. Aber es wurde deutlich, dass sein Handlungspotenzial ausreicht, um politische
Maßnahmen auch gegen Widerstände aus Teilen der Gesellschaft durchzusetzen. Das
Schicksal der „Agenda 2010“ und der Politikentwürfe des Leipziger CDU-Parteitags zei-
gen, dass dies nicht in allen Demokratien selbstverständlich ist. Die Analyse der britischen
Wirtschaftspolitik und ihrer Probleme bestätigt im Wesentlichen die positive Variante der
Ausgangshypothesen. Nachhaltige Wirtschaftspolitik erfordert
ƒ weitgehende Veränderbarkeit aller wirtschaftspolitisch relevanten Faktoren und
ƒ ein Regierungssystem, das die Einwirkungsmöglichkeiten der Interessengruppen durch
eine handlungsfähige Regierung angemessen kontrolliert.
Die Generalthese, jede Demokratie sei schlechthin unfähig, langfristig anstehende Proble-
me zu bearbeiten, bedarf also einer deutlichen Modifikation: Damit Demokratien auch
langfristig anstehende Probleme wirksam bearbeiten können, müssen ihre Institutionen so
konstruiert sein, dass zurechenbare Politikoptionen der Wählerschaft durch alternative
Regierungsmannschaften vorgestellt und nach der Wahl durch eine von ihnen umgesetzt
werden. Als Empfehlung ergibt sich, institutionelle Reformen am Leitbild der Mehrheits-
126
FAZ vom 16.10.2004.
127
Der zu Beginn der 1990er Jahre einsetzende Beschäftigungsabbau konnte nahezu ausgeglichen werden (Kröger/
van Suntum 1999, S. 74).
128
V. Schmidt 2002, S. 157. Thatcher hat durch ihre Wirtschaftspolitik mehr bewirkt als andere Staaten mit ihren
vielfältigen Maßnahmen im Rahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik (Dieckmann 2007, S. 59).
E. Wirkungen der neokonservativen Wende 187

demokratie zu orientieren und auf die Schaffung zusätzlicher Vetopositionen zu verzichten.


Die handelnde Regierung ist dann für die aus ihrem Politikentwurf resultierenden Maß-
nahmen verantwortlich und kann von den Wählern durch Abwahl sanktioniert werden.
Abwahl der einen Regierung erteilt einer anderen den Auftrag „besser“ zu regieren. Das
„konstruktive Misstrauensvotum“ findet nicht im Parlament, sondern an der Wahlurne statt.
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