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Kreatives Afrika

SchriftstellerInnen über Literatur, Theater und Gesellschaft


Kreatives Afrika
SchriftstellerInnen über Literatur,
Theater und Gesellschaft

Eine Festschrift für Eckhard Breitinger


herausgegeben von Susan Arndt und Katrin Berndt
Inhaltsverzeichnis

Susan Arndt, Katrin Berndt: Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7


Susan Arndt: Erfindungen Afrikas.
Ein hoffnungsvoll-folgenloser Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Geschichte und Kultur: Betrachtungen historischer


Entwicklungen von Literatur und Theater in Afrika
Femi Osofisan: Stirbt das Theater in Afrika?
Überlegungen aus nigerianischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 35
Lewis Nkosi: Die Geburt der afrikanischen Universität . . . . . . . . . . . 52
Sélom Komlan Gbanou: Afrikanische Theater.
Zwischen Anglophonie und Frankophonie . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Temple Hauptfleisch: Südafrikanisches Theater – Entwicklungen
und Strömungen von Vergangenheit bis Gegenwart . . . . . . . . . . 91
Zakes Mda: Südafrikanisches Theater im Zeitalter der Aussöhnung . . 117
Said A. M. Khamis: „Msitu Mpya, Komba Wapya“: Die Verände-
rungen der politischen Landschaft und der Swahili Roman . . . . . 136

Theatre for Development in Afrika: Das Theater ist eine


universelle Sprache, deren erstes Alphabet der Körper ist
Bole Butake: Theater, das Bewusstsein schafft, oder:
Wie man die Kommunikation mit der Basis erleichtert . . . . . . . . 163
David Kerr: Afrikanische Performance, Wissensbildung
Herausgeberinnen und Verlag danken der Universität Bayreuth für den und sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Druckkostenzuschuss zu diesem Buchprojekt. Emman Frank Idoko: Theatre for Development, Rollenspiel
und Strategien der Gefängnisreformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Für die Umschlaggestaltung hat der nigerianische Künstler Obiora Udechukwa
Frowin Paul Nyoni: Theatre for Development im Kampf
freundlicherweise eines seiner Werke zur Verfügung gestellt.
gegen HIV/AIDS bei Oberschülerinnen in Tansania:
Am Beispiel von TUSEME . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
© Peter Hammer Verlag GmbH, Wuppertal 2005
Umschlag: Magdalene Krumbeck unter Verwendung eines Werkes Kunst und Gesellschaft: Schreiben und filmen, um zu bewegen
von Obiora Udechukwa Ambroise Kom: Kritische und gesellschaftspolitisch engagierte
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck:
Kultur fördern! Beispiele aus Kamerun und Deutschland . . . . . . 233
ISBN 3-7795-0028-0 Susan Kiguli: Femrite und die Rolle der Schriftstellerin
www.peter-hammer-verlag.de in Uganda: Persönliche Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Goretti Kyomuhendo: Was es bedeutet, eine afrikanische Prolog
Schriftstellerin zu sein: Freuden und Herausforderungen . . . . . . 265
Omofolabo Ajayi-Soyinka: Ein Theaterstück, sein Publikum
und seine Gesellschaft: Die soziale Semiotik von Àrélù . . . . . . . . 276 Der Blick auf kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen in den Län-
Karim Traoré: Idrissa Ouédraogos Yaaba oder die dern Afrikas ist oft verstellt von Mythen und Klischees, geboren in der Zeit
ästhetische Fruchtbarkeit der Trockenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 von transatlantischem Sklavenhandel und Kolonialismus. Wer in Europa
Ezenwa-Ohaeto: Von Literatur, Umwelt und Selbstmord schreiben . . 308 diese Mauer überwinden will, hat zumeist schon längst die Literaturen aus
Babila Mutia: Die Bedeutung der Figur: Armahs ‚Teacher‘ Afrika als schillernden Marktplatz für sich entdeckt – als Ort der Begegnung
in The Beautyful Ones Are Not Yet Born neu betrachtet . . . . . . . . 321 und Verhandlung, des Bewährten und Neuen, des Lokalen und Globalen,
des Privaten und Öffentlichen, des Alltäglichen und Besonderen. Die Sinne
WortMächtig: Literarische und politische Begegnungen ansprechend denken Schriftsteller/innen über sie bewegende Welten nach –
zwischen Afrika und Europa ihren Blick aufs Detail richtend, ohne dabei das Ganze aus den Augen zu
Nuruddin Farah: Tamarinden und Kosmopolitanismus . . . . . . . . . . 333 verlieren. Zuweilen verlassen die Autor/inn/en das ihnen vertraute Metier,
Alain Patrice Nganang: Ohne Frankreich schreiben . . . . . . . . . . . . . 342 den Raum der Fiktionen, und versuchen sich, mit der ihnen eigenen sprach-
János Riesz: Afrika-Bilder – Bilder von Afrika(ner/inne/n)? lichen Leichtigkeit, als Essayist/inn/en.
Begriffliche und methodologische Überlegungen zu Eben dazu hat der vorliegende Band eingeladen. Er vereint Essays afri-
einer verwirrenden Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 kanischer Schriftsteller/innen und Theatermacher/innen und ergänzt sie
Peter Ripken: Afrikas Literaturen in Deutschland – ein weites Feld . . 371 um publizistische Stimmen deutscher Afrikaexpert/inn/en. Die Beiträge re-
Leo Kreutzer: Für ein Verständnis afrikanischer Literaturen flektieren gesellschaftliche, politische und kulturelle Prozesse in afrikani-
als Unabhängigkeitserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 schen Ländern, in historischer wie aktueller Perspektive. Sie erzählen von
Joachim Fiebach: Euripides und Brecht bei Soyinka: schwierigen Anfängen, Krisen und Potenzialen kultureller Innovationen –
Dionysos, Ogun und Handgranaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 etwa in der Literatur von Schriftstellerinnen, im populären Theater oder an
Hermann Schulz: „Sie sind wie wir“: Erfahrungen eines Autors der Universität. Reflektiert werden aber auch die Begegnungen zwischen
mit dem Thema Afrika und mit dem deutschen Publikum . . . . . 419 Künstler/inne/n und ihrem Publikum, zwischen Männern und Frauen, Af-
Ulli und Georgina Beier: Afrikaner in Australien – Gespräche rika und Europa. Die Reflexion des Zusammentreffens von Schwarzen und
mit zwei Musikern und einem Wissenschaftler aus Süd-, Weißen umfasst dabei Südafrikas (Post-)Apartheid ebenso wie Rassismus
Ost- und Westafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 in Deutschland. Und schließlich, ganz zentral, immer wieder die Frage
Sénouvo Agbota Zinsou: Literatur und aktuelle Weltpolitik: nach deutschen Blicken auf Afrika, seine Literaturen, Menschen und Ge-
Macht, Rassismus und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 sellschaften. Wie ein roter Faden eint die Essays dabei die Frage nach der
Rolle, die Literatur und Theater, und jedem einzelnen Künstler und jeder
Anhang einzelnen Künstlerin, im Kontext dieser politischen und gesellschaftlichen
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Prozesse zukommt. Es ist ein Buch über Möglichkeiten und Grenzen, das
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 neue Einblicke verspricht und alle jene einlädt, die sich mit Afrika, auch in
Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 seiner Begegnung mit Europa, auseinander setzen wollen.
Paten und Patinnen (Übersetzungen, Portraits) . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Das Buch widmen Herausgeberinnen, Autoren und Autorinnen, Über-
setzer und Übersetzerinnen einem der wichtigsten Afrikawissenschaftler in
Deutschland, Professor Eckhard Breitinger. Seit vielen Jahren in Bayreuth

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forschend und lehrend feiert er am 4. Mai 2005 seinen 65. Geburtstag, ge- Auch die Festgabe für Eckhard Breitinger ist aus solchen Überlegungen
meinhin der Tag, an dem in Deutschland das Pensionsalter erreicht ist. heraus entstanden. Da Breitingers Schüler/innen/schaft über die gesamte
Wenn es für uns schon kaum vorstellbar ist, dass Eckhard Breitinger nun Welt verteilt und für Außenstehende kaum überschaubar ist, musste zu-
tatsächlich 65 Jahre alt sein soll, noch unvorstellbarer ist es, dass sein Über- nächst nach einem Auswahlkriterium gesucht werden, das festlegte, wer zu
tritt in die Pension zugleich Ruhestand bedeuten wird. Entlastet von admi- welchem Thema eingeladen werden sollte, an dem Band mitzuarbeiten. Da
nistrativen Aufgaben, bürokratischen Verpflichtungen und den Herausfor- es stets Eckhard Breitingers Anliegen war, die Elfenbeintürme der Wissen-
derungen der Lehre ist eher zu vermuten, dass Eckhard Breitinger sein schaft zu verlassen, Wissen und Erkenntnisse in die Gesellschaft zu trans-
wissenschaftliches, verlegerisches, politisches und solidarisches Engagement portieren und der regional und thematisch überaus breit ausgerichtete Lite-
noch intensivieren wird. Um ihn dazu zu ermuntern, ja, um ihn in die raturwissenschaftler seit Ende der 1970er Jahre Literaturen und Theater aus
Pflicht zu nehmen, wollen wir ihn mit dieser Festschrift nicht nur ehren, Afrika in den Mittelpunkt seines akademischen Schaffens stellte, ergab sich
sondern ihn auch darin bestärken, für uns alle weiterhin als ein Fels in der die thematische Ausrichtung wie von selbst: Aspekte von Politik, Gesell-
Brandung zu wirken und die gemeinsamen Bemühungen um Literatur und schaft und Kultur aus Afrika in einem solchen Rahmen und unprätentiösen
Theater aus und in Afrika zu begleiten. Formen so darzustellen und zu diskutieren, dass von vornherein die Mög-
Festschriften gehören in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert zu den lichkeit gegeben ist, ein allgemein an Politik, Gesellschaft und Kultur inter-
Pfeilern akademischer Traditionen. Gerade deswegen genießen sie nicht im- essiertes Publikum zu erreichen und anzusprechen. Da es immer Eckhard
mer den besten Ruf. Übergebührliche Lobhudelei der engsten Schüler/in- Breitingers Bestreben war, in Deutschland Podien und Arbeitsmöglichkei-
nen und Kolleg/inn/en führte oft genug zur Errichtung einer Walhalla, die, ten für Intellektuelle aus Afrika zu schaffen, luden wir zunächst vor allem
auf schlechtem Grund gebaut, oft ebenso schnell wieder geschliffen wurde Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus afrikanischen Ländern ein, an die-
oder sogar ins totale Vergessen geriet. Festschriften kamen oft als konzept- sem Band mitzuarbeiten. Niemand musste dazu überredet werden, die In-
lose Sammelwerke daher, zu denen Schüler und Schülerinnen, Kollegen stitution Breitinger musste niemandem nahegebracht werden. Diese Schrift-
und Kolleginnen, Freunde und Freundinnen Aufsätze beisteuerten, die sie steller und Schriftstellerinnen eint zudem, dass sie fast alle auch Literatur-,
woanders gerade nicht loswurden. Einschlägige Würdigungen des Jubilars, Theater- oder Kulturwissenschaftler/innen sind. Die Bemühungen Eck-
die oft die Grenze des Seriösen überschritten, sowie ein Schriftenverzeichnis hard Breitingers, afrikanische Literaturen in Deutschland aus der Ecke der
des Geehrten, welches das Buch erst so richtig zum voluminösen Standwerk Marginalien herauszuholen, wird im vorliegenden Band zudem von den
machte, rundeten zumeist den Band ab, der sich nur selten als runde Sache Beiträgen der deutschen Verleger, Publizist/inn/en und Herausgeber afrika-
qualifizieren ließ. nischer Literatur in Deutschland gespiegelt und unterstützt, die von ihren
Seit einigen Jahren sind deshalb Festschriften in Deutschland zu Recht eigenen Erfahrungen bei der Kulturvermittlung berichten und zum Teil
in den Ruf gekommen, sie würden mehr der Profilierung der Herausgeber/ selbst auch schriftstellerisch wirken. Auch diese Autoren und Autorinnen
innen dienen als den zu Ehrenden würdigen. Und da die althergebrachte sind fast alle zugleich als Wissenschaftler/innen tätig.
Festschrift auch deshalb nicht mehr zeitgerecht ist, weil sich die Publika- Schließlich haben wir eine dritte Gruppe von Wissenschaftlern und
tionsmöglichkeiten generell in den letzten Jahren potenziert haben, kom- Wissenschaftlerinnen eingeladen, an diesem Band mitzuwirken. Wir baten
men immer mehr thematisch komponierte Festschriften auf den Markt. Die Schülerinnen und Schüler, Freundinnen und Freunde sowie Kollegen und
Würdigung des Jubilars oder der Jubilarin erfolgt so in der Absicht, ihm oder Kolleginnen von Eckhard Breitinger, von uns so genannte Patenschaften für
ihr zu Ehren und in seinen/ihren Fußstapfen neue Forschungsansätze zu einzelne Texte zu übernehmen. Da Deutschland immer das Zentrum des
entwickeln, Forschungsbilanzen mit Forschungsperspektiven zu verbinden, Schaffens von Breitinger geblieben ist, war es naheliegend, für diese Aufga-
Unterbelichtetes zutage zu fördern, Desiderata abzubauen oder auf Zusam- be Schüler/innen, Freunde und Freundinnen sowie Kolleg/inn/en aus
menhänge hinzuweisen, die bislang außerhalb der Betrachtungen lagen. Deutschland anzusprechen. In vielen anderen Ländern hätten sich ebenfalls

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ähnlich breite Kreise potentieller Pat/inn/en finden lassen. Die Patenschaft dem enthält er ein Interview, dass zwei in Australien lebende Europäer/in-
hat den Anspruch, in die Texte einzuführen, und in den allermeisten Fällen nen mit Afrikaner/innen führten, die in Australien leben.
zählt auch die Übersetzung aus der englischen oder französischen Original- Abschließend bleibt uns das Vergnügen, uns bei allen ganz herzlich zu
vorlage ins Deutsche dazu. Die jedem Text vorangestellten kurzen Porträts bedanken, die dazu beitrugen, dass aus der Projektidee tatsächlich am Ende
über die Verfasser/innen sollen auch jenen Leser/inne/n, die vielleicht den dieses Buch hervorging. Neben den Autoren und Autorinnen möchten wir
einen oder die andere nicht kennen, die Möglichkeit geben, sich schnell mit vor allem die Übersetzerinnen und Übersetzer und die anderen Paten und
biographischen Grunddaten vertraut zu machen und die Autor/inn/en ein- Patinnen, die in die Texte einführen, erwähnen. Die Universität Bayreuth
ordnen zu können. ermöglichte mit einem Druckkostenzuschuss überhaupt erst die technische
Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Nach einer Einführung, in Produktion. Der Peter Hammer Verlag war sofort von der Idee angetan –
der es um das epistemologische und politische Erbe der Kolonialzeit in der und wo auch sonst hätte in Deutschland, wenn schon nicht in Eckhard
Afrika-Literaturwissenschaft, die Rezeption afrikanischer Literaturen in Breitingers eigener Serie, ein solches Buch erscheinen können. Dafür sind
Deutschland sowie eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Einordnung wir ganz besonders dankbar. Das Coverbild stellte freundlicherweise der Ni-
des Werks von Eckhard Breitinger geht, behandeln im ersten größeren Ab- gerianer Obiora Udechukwu zur Verfügung, auch er ein Schriftsteller, Ma-
schnitt „Geschichte und Kultur“ sechs Autoren aus Nigeria, Südafrika, ler und Wissenschaftler. Für die Vermittlung sind wir Norbert Aas von der
Togo und Tansania historische und aktuelle Kulturentwicklungen in ver- Geschichtswerkstatt Bayreuth herzlich verbunden. Schließlich gab es noch
schiedenen afrikanischen Gesellschaften. Im Kern geht es dabei immer wie- hie und da Heinzelmännchen und auch starke Frauen, die dieses Projekt
der um die Frage, wie kulturelle Institutionen und Literaturen aus Afrika selbstlos unterstützten, ohne deren Hilfe wir wohl immer noch nicht ganz
auf die Herausforderungen der Globalisierung vor dem Hintergrund der fertig wären. Da sie aber nur unter der Bedingung mitmachten, nicht für
neueren Geschichte reagieren. Das Kapitel „Theatre for Development in diese – wie sie es nannten – Selbstverständlichkeiten erwähnt zu werden,
Afrika“ vereint Essays von vier Intellektuellen aus Afrika, die auf die zentra- muss es bei diesem namenlosen Dank bleiben.
le Bedeutung von partizipatorisch angelegten Theaterformen in afrikani-
schen Gesellschaften der Gegenwart eingehen. Der Untertitel „Das Theater Susan Arndt und Katrin Berndt
ist eine universelle Sprache, dessen erstes Alphabet der Körper ist“, den wir Berlin und Leipzig am Jahresende 2004
uns aus dem Beitrag von Sélom Komlan Gbanou ‚geborgt‘ haben, macht
die ganz greifbaren Funktionen und Wurzeln des afrikanischen Theaters
deutlich, die dessen ästhetischen Anspruch begleiten. Im dritten Kapitel
„Kunst und Gesellschaft“ beschreiben fünf afrikanische Autorinnen und
Autoren die Herausforderungen, vor denen Schriftsteller/innen in afrikani-
schen Gesellschaften stehen und wie sie mit diesen gerade in Bezug auf ihre
künstlerische Tätigkeit umgehen. Ein weiteres Thema ist die Wechselwir-
kung zwischen Kultur und der sie prägenden und von ihr geprägten Gesell-
schaft. Im letzten Abschnitt „WortMächtig: Literarische und politische Be-
gegnungen zwischen Afrika und Europa“ kommen drei afrikanische
Schriftsteller und sechs Vermittler afrikanischer Kultur aus Deutschland zu
Wort. Im Zentrum stehen dabei Reflexionen und Erkenntnisse über trans-
nationale und transatlantische Beziehungen sowie die Probleme und
(Miss)Verständnisse im Kulturtransfer zwischen Afrika und Europa. Zu-

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Susan Arndt das gesamte menschliche Leben von den Anfängen bis in die Gegenwart in
Erfindungen Afrikas. Ein hoffnungsvoll-folgenloser Essay Afrika. Nur die absolut ‚Unbeleckten‘ glauben übrigens zudem noch, der
‚Afrika-Forscher‘ oder die ‚Afrika-Forscherin‘ wäre auch noch Zoologe, Bo-
tanikerin, oder sonst einer naturkundlichen Wissenschaft mächtig. Die
Jammern gehört zum guten Ton, jedenfalls in Deutschland. Elementarteil- meisten hauen sich übrigens nicht einmal vor Verwunderung und Naivität
chenphysiker/innen beklagen sich zu Recht, dass ihre umstürzenden neues- an den Kopf, wenn sie gefragt werden, ob der Deutschland-Experte oder die
ten Forschungsergebnisse so wenig Widerhall in der Gesellschaft finden. Schweiz-Expertin auch ‚Europa-Forscher/in‘ und dabei auch noch die Pro-
Limnologen und Bakteriengenetikerinnen können davon ebenso ein Lied fession unerheblich sei. Es gilt gemeinhin die Devise: Was es über uns nicht
singen wie Keltologen oder Tibetologinnen. Wohin das Auge auch blickt, geben kann, hat ‚dort‘ gleichwohl über die ‚Anderen‘ zu existieren.
allerorten sind hochspezialisierte Forscherinnen und Forscher, Hochschul- Innerhalb der Wissenschaften oft als ‚Orchideen-Experte‘ gehandelt, ist
lehrer und Hochschullehrerinnen am Werke, die unentwegt über mangeln- die Zahl der Anekdoten, die Afrika-Wissenschaftler/inne/n unweigerlich
de Reputation außerhalb ihrer Fachgrenzen und knappe Ressourcen jam- im Weißen Westlichen Kontext ungefragt zulaufen, unüberschaubar. Alle,
mern. Die Liste der Zukurzgekommenen ist Legion. Das Sprichwort vom die mit Afrika ‚professionell‘ befasst sind, könnten solche Begebenheiten er-
‚klappernden Handwerk‘ erhält hier erst so richtig seinen Sinn. zählen. Diese Anekdoten sind Teil ‚unseres Jammerdiskurses‘. Da sie aber
Neben denjenigen, die sich als die Zukurzgekommenen gerieren, stehen nicht nur zur Belustigung von anderen Insidern beitragen (Outsider können
jene, die sich selbst als Vertreter und Vertreterinnen einer ‚Leitwissenschaft‘ zumeist nicht darüber lachen, weil sie ja ähnliche Bemerkungen auf dem
betrachten, ohne dass sie je andere gefragt hätten, ob die ihre Leitfunktion Herzen tragen), sondern in ihrem Gehalt oft mehr über das Wissen und die
auch wirklich gebrauchen können oder wenigstens als solche akzeptieren. Einstellung der betreffenden Gesellschaft preisgeben, erzähle ich an dieser
Hier handelt es sich zumeist um klassische ‚Großwissenschaften‘, die keiner Stelle zwei meiner liebsten Beiträge zum ‚fröhlichen Jammerdiskurs‘.
näheren Legitimation bedürfen: also etwa Philosophie, Theologie, Ge- Die erste trug sich 2000 im aufgeklärt-szenigen Berliner Innenstadt-
schichte, Germanistik, Archäologie, Mathematik oder Medizin. Und na- bezirk Prenzlauer Berg zu. Ein Mann, der sein Kind auf dieselbe Schule
türlich jammern die Vertreter und Vertreterinnen dieser ‚Klassiker‘ nicht schickt wie ich meine Söhne, fragte mich bei einem unserer gelegentlichen
minder als die anderen, nur noch viel lauter. Es sind auch viel mehr Men- Treffs beim Bäcker, was ich eigentlich so mache. Von dem mich mustern-
schen, die hier im Chor gemeinsam rufen können. den Mann mit Bürstenhaarschnitt wusste ich nicht sehr viel, nur dass er zu-
Es gibt noch eine dritte Gruppe. Sie jammert nicht nur wegen mangeln- meist dicke Wälzer mit sich herumschleppte und so aussah, als ob er sie
der Reputation, wegen knapper Ressourcen und wegen von außen ausge- auch las. Ich schaute ihn mutig an und antwortete, ich sei Afrika-Wissen-
machter angeblicher Legitimationsdefizite. Sie müssen sich auch noch als schaftlerin und befasse mich vor allem mit Literaturen aus Westafrika. Zu
hochgradig ausgewiesene Spezialisten und Spezialistinnen für kaum über- meiner völligen Verblüffung antwortete er darauf blitzschnell: Das sei ja ein
schaubare Räume zu erkennen geben. Wie groß diese Gruppe wirklich ist, Zufall, er lese auch gerade ein Buch über ‚Indianer‘. Er schaute mich freu-
entzieht sich meiner Kenntnis, ich weiß nur, dass die Afrika-Wissenschaftler destrahlend an und bekam meine Sprachlosigkeit, die sich erst später zu
oder Afrikanistinnen dazugehören. Es spielt gar keine Rolle, ob sich jemand Hause, als ich meinem Mann davon erzählte, in befreiende Lachkrämpfe
mit einer Sprache in Mali, einem Dichter im südlichen Guinea, einer Wirt- auflöste, gar nicht mit.
schaftsstruktur im 19. Jahrhundert im nördlichen Madagaskar oder einer Ich höre schon die Skeptikerinnen und Kritiker murren und meinem
Missionsgesellschaft im Kongo beschäftigt – ganz gleich, zu welchem Spezi- Gesprächspartner oder gar mir alles mögliche unterstellen, denn eine solche
algebiet auch immer gearbeitet wird, der Forscher oder die Forscherin gilt so- Geschichte könne sich doch gar nicht zugetragen haben. Die Anekdote ist
fort als ‚Afrika-Spezialist/in‘. Das zugeschriebene Spezialistentum umfasst leider nur dadurch so wenig komisch, weil sie etwas ganz Typisches symbo-
dabei sogleich Geschichte, Politik, Sprachen, Kultur und Kunst, kurzum: lisiert und eben keine Ausnahme darstellt.

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Mein zweiter Anekdotenbeitrag riecht zwar nach Indiskretion (er riecht Zum guten Ton von uns ‚Spezialist/inn/en‘ gehört es auch seit Jahr und
aber nur danach, ist es aber nicht!), zeigt aber auf einer anderen Ebene, Tag, in Sachen afrikanischer Literatur immer und immer wieder zu bekla-
dass das erste Beispiel wirklich nur ein fast zufälliges ist. Als ich im Herbst gen, dass sich außer uns selbst sonst niemand für die kleinen Stars und gro-
1996 am St. Antony’s College in Oxford im Rahmen einer der dort üblichen ßen Talente der afrikanischen Literatur interessiert. Außerhalb der ganz we-
akademischen Festivitäten zusammen mit anderen Gastforscher/inne/n be- nigen Universitätseinrichtungen, in denen afrikanische Literaturen gelehrt
grüßt wurde, kam es zu einem kurzen Small Talk mit dem Warden der Ein- werden (und zwar oft nicht strukturell verankert, sondern allein vom Enga-
richtung. Dieses Amt übte damals Sir Ralf Dahrendorf aus, ein gebürtiger gement einzelner Hochschullehrer/innen abhängig), interessieren sich nur
Deutscher, der viele Jahre Direktor der berühmten School of Economics and Einzelne für ‚unser Steckenpferd‘. Und noch mehr bejammern wir die ge-
Political Science war und 1993 zum Baron of Clare Market in the City of sellschaftliche Situation. Der ganze Schund von Stefanie Zweig oder Corin-
Westminister ernannt worden war. Dahrendorf war mir als Soziologe, Libe- ne Hofmann werde ebenso millionenfach verschlungen wie der schreckliche
raler und Politiker sowie Verfechter von Eurovisionen und Freiheitsphiloso- Film Nirgendwo in Afrika einen Oscar und ein Millionenpublikum erhält.
phien soweit ein Begriff, dass mein kurzes Zusammentreffen mit ihm Natürlich ‚ergötzen‘ wir uns immer wieder an den Zitaten, die uns zeigen,
durchaus mit Aufregung verbunden war. Diese legte sich aber ziemlich wer daran Schuld sei. Als etwa Wole Soyinka 1986 den Literaturnobel-
schnell, sehr schnell sogar. Ich stellte mich kurz vor und er fragte freundlich, preis erhielt, schrieb der Literaturkritiker Ulrich Greiner in der Zeit vom
was ich so treibe. Um ihm nicht zuviel seiner knapp bemessenen Zeit zu 24. Oktober 1986: „Der ‚kleine kosmopolitische Kreis der westdeutschen
stehlen, antworte ich hastig, ich beschäftige mich mit Literaturen aus Afri- Kritik‘ erklärt mir glaubhaft, Wole Soyinka habe den Preis verdient. Mir
ka. Er schaute mich gütig an, schmunzelte und freute sich ohne List und soll das recht sein, solange daraus kein moralischer Zwang erwächst, den
Tücke, mir auf meinen weiteren wissenschaftlichen Werdegang mitgeben zu Autor ab sofort lesen zu müssen.“ In solchen Zitatenschlachten darf natür-
können: „Na, da haben Sie ja nicht viel zu tun!“ lich weder Peter Scholl-Latour noch Marcel Reich-Ranicki fehlen. Von letz-
Ich war etwas perplex, hatte nicht mit so einer Bemerkung gerechnet, terem erfreuen wir uns immer wieder an einer Aussage von 1991, als er über
zumal nicht an einer solchen Einrichtung und von einem solchen Muster- Nadine Gordimer sagte: „Ihre Bücher sind künstlerisch so schwach, dass
bildungsbürger. Mir dämmerte erst viel später, dass der weltgewandte Ba- ich wetten möchte, sie kriegt den Nobelpreis. Zumal sie noch weiblichen
ron und mein ‚Indianerfreund‘ aus dem Prenzlauer Berg eine spezifische Geschlechts ist.“ Ob er wettete, ist zwar nicht überliefert, aber er hatte
Gemeinsamkeit teilten, die sie inmitten des großen Flusses namens ‚Gesell- Recht – im selben Jahr erhielt Gordimer den höchsten Preis der schwedi-
schaft‘ treiben lässt. Er ermöglicht die Zurschaustellung ungemeinen Nicht- schen Akademie. Und natürlich, um ein letztes Beispiel ‚unserer Lieblings-
wissens, wenn es zum Beispiel um Afrika geht. Die wenigen Freischwim- zitate‘ anzuführen, darf auch nicht die folgende Äußerung von Reich-Rani-
mer/innen in diesem Fluss stören kaum und fallen auch nicht auf, zumal sie cki aus dem Literarischen Quartett im ZDF 1992 fehlen, als er sagte:
nur auf ganz kurzen Abschnitten sich selbst schwimmend bewegen können.
Den Nobelpreis sollte wohl erst Updike bekommen und dann Philip
Allerdings lässt die allgemeine Ignoranz diese Spezialschwimmer/innen zu-
Roth, aber es werden beide ihn nicht bekommen, denn es wird sich ja
meist oft schon aus Solidarität nicht so ignorant in andere Regionen der
sicher noch jemand aus dem Sudan finden. Dass die nicht schreiben
Welt blicken, denn selbst wenn sie von diesen keine Ahnung haben, wissen
können, spielt gar keine Rolle. Eben weil sie nicht schreiben können im
sie doch, dass es dort wahrscheinlich viel mehr gibt, als sie zu sehen vermö-
Kongo, muss man denen den Nobelpreis geben.
gen. Diese Spezialschwimmer/innen üben untereinander Solidarität, weil
sie ein ähnliches Schicksal teilen. Es bringt sie aber nur in den seltensten Fäl- Wir halten uns diese und andere Zitate gegenseitig entrüstet vor und lachen
len dazu, ihre Vorannahmen und ihr Halbwissen über die für sie unvertrau- dabei wissend. Denn bei allem Unverständnis dafür, soviel ist uns selbstre-
ten Regionen zu überprüfen und zu korrigieren. Sie schweigen eher mit dend klar: an diesen Umständen sind alle Schuld, nur natürlich wir selbst
dem solidarischen Wissen, ziemlich wenig zu wissen. nicht. Wir, dass ist die kleine Gemeinde von Spezialisten und Enthusiastin-

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nen, von Wissenden und Kennern, mit anderen Worten: von Gutmen- munismus versagen, so ließen sich diese Theorien fast als folgenschwerer
schen. charakterisieren als es die millionenfach todbringenden Waffen, Galeeren
Die Beschäftigung mit anderen Räumen hängt im Westen ganz eng und eingeschleppten Krankheiten waren. So abwegig diese Aufrechnung
mit der Eroberung dieser Räume zusammen. Die so genannten Entdeckun- auch zu sein scheint, auf die Gegenwart geblickt scheinen die Aktualität
gen waren in Wirklichkeit fast niemals Entdeckungen sondern Eroberun- und die Folgen der ‚Rassentheorien‘, die ihren todbringenden globalen Sie-
gen, zu deren integralem Bestandteil die – sehr verschiedenartige – Unter- geszug im 17. Jahrhundert begannen und bis in die Gegenwart fast unge-
werfung derjenigen gehörte, die dort lebten. Kolonisierung als historischer brochen weiter ihr Unwesen treiben können, heute als Ursache gegenwärti-
Vorgang gehört seit jeher zur menschlichen Geschichte. Sogar die massen- ger Probleme und Katastrophen ebenso verwerflich zu wirken wie die
haften Unterwerfungen und Ausplünderungen, wie sie in der Neuzeit prak- kolonialen Massenverbrechen. Diese wirkten sehr nachhaltig, erinnert sei
tiziert (am Anfang steht sinnbildlich Christoph Kolumbus) und vom 18. bis nur an die verbrecherischen Bevölkerungsdezimierungen durch den im
ins 20. Jahrhundert hinein ‚modernisiert‘ worden sind, haben Pendants 16. Jahrhundert einsetzenden transatlantischen Sklavenhandel und die ko-
etwa in der Alten Geschichte. Neu im Zeitalter der Industrialisierung waren lonialen Völkermorde, in deren Folge es zu katastrophalen Entwicklungen
aber Zeit- und Raumerfahrungen der Kolonisatoren. Vor allem jedoch bot in der Agrarwirtschaft kam, die wiederum manche Landstriche in Afrika
die moderne Technik und das moderne Verkehrswesen völlig neue Mög- bis zum heutigen Tage zum Hunger verdammen. Im Vergleich zu den wei-
lichkeiten, die Kolonisierung in ungeahnte Dimensionen zu treiben. Eben- ter wirkenden rassistischen Theorien, die nicht zuletzt die Weltinnenpolitik
so verhielt es sich mit den Verbrechen, die die Kolonialmächte verübten – insofern bestimmen, als aus dieser Weltinnenpolitik erhebliche Teile von
sie erreichten Dimensionen, die zuvor unvorstellbar waren, zugleich aller- Kontinenten ausgespart bleiben, scheinen rein ökonomistisch betrachtet die
dings nicht einer Systematik entbehrten und bis in die Gegenwart Folgen demographischen, kulturellen und wirtschaftlichen sowie die damit zusam-
zeitigten: Scharfsichtige Kritiker/innen sprechen auch deshalb, um die menhängenden Folgen des Kolonialismus theoretisch und prinzipiell eher
Sprachlosigkeit angesichts dieses Unvorstellbaren und zugleich dieser „Ba- überwindbar zu sein.
nalität des Bösen“ (H. Arendt) wenigstens begrifflich zu fassen, vom „Black Dieser etwas statische und einseitige Blick auf globale Probleme deutet
Holocaust“. Der in Harvard lehrende Historiker Charles Maier hat 2000 schon an, dass Theorie und Praxis des Kolonialismus und ihre zunächst un-
sogar die These aufgeworfen, dass sich die Kolonialgeschichte im Kontext terschiedlichen Folgen bis in die Gegenwart dann doch sehr eng zusammen-
der sich globalisierenden Weltgemeinschaft als Meistererzählung durchset- hängen. Auch dafür bieten Aufstieg und Fall des Kolonialismus genügend
zen könnte und dabei konkurrierende andere Erzählungen des 20. Jahrhun- Anschauungsstoff. Denn, um nur beim deutschen Beispiel zu bleiben, so
derts verdrängen könnte. Er zählte ausdrücklich als potentielle ‚Verdrän- wie die ‚Ostexpansion‘ des nationalsozialistischen Deutschlands ‚wissen-
gungsopfer‘ die Erzählungen etwa vom ‚Fortschritt‘, aber auch die von der schaftlich‘ an Universitäten in Königsberg, Berlin, München, Straßburg
Shoa dazu. oder Heidelberg vorgedacht und mitgedacht wurde, genauso agierten auch
Dabei geht es nicht um eine vordergründige Hierarchisierung von Ge- für Kolonialidee und Kolonialpraxis an vielen europäischen einschließlich
schichte, ihren Folgen und Opfern, sondern zunächst um die Wiederaneig- deutschen Universitäten Vordenker. Diese wussten sich, wie im NS-Bei-
nung der eigenen Herkunft und Kultur. Denn die moderne Kolonisierung, spiel, als Teil der gesellschaftlichen Mitte, von dieser geradezu beauftragt
beginnend im 17. Jahrhundert, produzierte zugleich zahlreiche Theorien und bezahlt dafür, den Kolonialismus zu begründen und zu legitimieren.
und Wissenschaftsdisziplinen, die im Kern die Kolonisierung selbst legi- Um das gesellschaftliche Klima zu beschreiben, seien einige prägnante Ge-
timieren sollten. Die Feuerwaffen der Kolonisatoren schafften ebenso ir- danken aus dem 19. und 20. Jahrhundert zitiert, die einprägsam die Legiti-
reversible Tatsachen wie die Sklavengaleeren. Nicht minder aber wirkten mierung kolonialer Ideen und kolonialer Praxis verdeutlichen.
Legitimationstheorien. Müssten angesichts von Millionen Toten nicht alle Der Komponist Richard Wagner, ein überzeugter Republikaner, brach-
Vergleichsmaßstäbe außerhalb von Nationalsozialismus und Gulag-Kom- te am 15. Juni 1848 in Dresden auf den Punkt, was seit der Aufklärung und

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erst Recht seit den Eroberungszügen Napoleons die meisten deutschen Pa- Gewinnung neuen Bodens in Europa, wobei gerade dadurch eine Ergän-
trioten und Patriotinnen dachten: zung durch spätere koloniale Gebiete in den Bereich des natürlich Mögli-
chen gerückt erschien.“3 Spätere Planungen im Zweiten Weltkrieg zeigten,
Wir wollen es deutsch und herrlich machen: Vom Aufgang bis zum
dass die Nationalsozialisten ‚präzise‘ nach diesen verbrecherischen Ideen
Niedergang soll die Sonne ein schönes, freies Deutschland sehen und an
vorgingen. Zugleich wird deutlich, dass viele Entwürfe, so etwa das ‚Kolo-
den Grenzen der Tochterlande soll, wie an denen des Mutterlandes, kein
nialblutschutzgesetz‘ von 1940, auf einen engen Zusammenhang zwischen
zertretenes unfreies Volk wohnen, die Strahlen deutscher Freiheit und
Kolonialismus und Nationalsozialismus hindeuten.
deutscher Milde sollen den Kosaken und Franzosen, den Buschmann
und Chinesen erwärmen und verklären.1 Dass die unterschiedlichen Meinungen in der Kolonialfrage lediglich
taktischer und strategischer Natur waren, zeigt die feste gemeinsame Basis
So sehr die Vormärzler und die 48er als Einheits- und Freiheitskämpfer/in- im generellen Rassismus der Kolonialapologeten und -befürworterinnen
nen historisch auch als progressiv gelten – ihr unverbrämter Nationalismus vor 1914/1933 und den Nationalsozialisten nach 1933. Beispielhaft ließe
beinhaltete bereits jene rassistische, nationale (und europäische) Selbstüber- sich das an den ‚Mischeheverboten‘ oder vergleichbaren Gesetzen zeigen.
höhung, die wenig später auch in Deutschland aus Rassismus und Antise- Letztlich stand hinter diesen und vielen anderen Vorgängen eine verbinden-
mitismus eine massenvernichtende Praxis werden ließ. Ein halbes Jahrhun- de rassistische Grundeinstellung. Die Beschreibung Schwarzer in der deut-
dert nach Wagner sagte Max Weber, damit ganz bewusst koloniale schen Publizistik fand bei den Nationalsozialisten entsprechende Formen,
Gedanken aufgreifend und unterstützend, in seiner berühmten Freiburger wenn sie sich über Juden und Jüdinnen äußerten. Und in beiden Fällen
Antrittsrede: ging es nach Ansicht dieser Ideologen um ‚minderwertiges Leben‘. 1907
hieß es zum Beispiel in einer der vielen einflussreichen deutschen Kolonial-
Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation,
zeitschriften:
die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Ge-
schichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogen- Welches ist nun der Charakter des westafrikanischen Negers? Sorglose
raums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen.2 Trägheit, rohe Sinnlichkeit, Eitelkeit, Prunkliebe, Leidenschaftlichkeit,
Weber hatte nicht nur volkswirtschaftliche Erwägungen im Blick, sondern Rücksichtslosigkeit, ja Grausamkeit; daneben auch Gutmütigkeit und
war, wie die meisten Politiker und Wissenschaftler im ausgehenden 19. Jahr- tierische Anhänglichkeit und teilweise Unterwürfigkeit; Liebe zum
hundert, davon überzeugt, dass Deutschland eine kulturelle Mission und Lärm, zur Musik – soweit sie diesen Namen verdient – und Spiel. Gei-
stige Bedürfnisse hat der Neger nicht, Wissensdurst ist ihm fremd, hat
Sendung zu erfüllen habe. Er baute auf einer Tradition auf, die längst vor
er hinreichend zu essen und eine Pfeife Tabak, dann fehlt ihm nichts
Fichte begonnen hatte, der aber Anfang des 19. Jahrhunderts den dann im
mehr.4
Kaiserreich populären Spruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“
geprägt hatte und der wiederum 1861 von Immanuel Geibel in einem sei- Der Kolonialoffizier, Vordenker und Exekutor kolonialer Verbrechen, Her-
ner vielen damals überaus populären Gedichte adaptiert worden ist: „Und mann von Wissmann – nach dem in Deutschland immer noch mehrere
es mag am deutschen Wesen/ Einmal noch die Welt genesen.“ Kaiser Wil- Straßen benannt sind –, hatte 1894 ‚Verhaltensmaßregeln‘ aufgestellt, wie
helm II. hat diesen Gedanken ebenso versucht zur materiellen Gewissheit mit der Bevölkerung im Kolonialgebiet umzugehen sei:
werden zu lassen wie wenige Jahre später die Nationalsozialist/inn/en.
Diese setzten übrigens neue Akzente insofern, als Hitler zunächst die Keine Tätigkeit ist geeigneter, den Europäer für die richtige Behandlung
Herrschaft über Europa anstrebte, die dann automatisch auch die Herr- der Neger zu erziehen, als die militärische. Wer jahrelang Rekruten aus-
schaft über die Kolonialreiche eingeschlossen hätte: „Der richtige Weg wäre gebildet hat, lernt, sich in Geduld zu üben, der Individualität seiner Un-
schon damals der dritte gewesen: Stärkung der Kontinentalmacht durch tergebenen Rechnung zu tragen und auch dem intellektuell tiefer Ste-

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henden gerecht zu werden. Er wird bald erkennen, dass er in den Ne- wirksamste Erziehungsmittel einmal verschwindet, bevor der Schwarze zur
gern eine noch in den Kinderschuhen steckende Rasse vor sich hat. Die Arbeit erzogen worden ist, dann sieht die Zukunft düster aus.“9
Behandlung soll in erster Linie eine gerechte, streng unparteiische sein, Die Kolonialpraxis fand auch im kaiserlichen Deutschland Kritiker/in-
denn der Wilde hat wie das Kind ein feines Gefühl für ungerechte Be- nen. In der der Zentrumspartei nahestehenden Tageszeitung Germania hieß
handlung, Zurücksetzung oder Bevorzugung.5 es zum Beispiel am 1. Dezember 1912:
Man täusche sich nicht in dieser Quellensprache, über die Ziele waren sich Nach der Anschauung gar vieler Uebermenschen sind nämlich die
damals die meisten Beteiligten völlig einig. Es ging im Namen einer deut- nichtweißen Frauen minderwertige Geschöpfe, denen man, auch wenn
schen Kulturhegemonie (der Begriff ‚Leitkultur‘ war noch nicht erfunden) es recht oft zum Geschlechtsverkehr mit ihnen gekommen ist, ohne wei-
und im Angesicht eines Machtkampfes um die globale Vorherrschaft, um teres einen Fußtritt geben kann, um so den Nichtweißen die überlege-
die völlige Unterwerfung der Kolonialgebiete und ihrer Bewohner/innen. ne Kultur der Weißen klarzumachen.10
Nur selten aber ist das ‚nahende Endziel‘ so deutlich ausgesprochen worden
wie in dem folgenden Handbuch von 1898. Von der Prämisse ausgehend: August Bebel hatte am 26. Januar 1889, also ein Jahr vor dem Fall des So-
„Drei Eigenschaften jedoch sind allen Negerstämmen ohne Ausnahme zialistengesetzes, klar formuliert, ohne dass ihm die SPD in dieser Frage
gemein: Kulturunfähigkeit, Grausamkeit und namenlose Faulheit“,6 war es stets so eindeutig gefolgt wäre:
keine Zufälligkeit, zu folgender ‚hoffnungsvollen‘ Zukunftsvision zu gelan- Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeu-
gen: tung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. Wo immer wir
die Geschichte der Kolonialpolitik in den letzten drei Jahrhunderten
Es ist umsonst, wenn eine gut gemeinte, aber zwecklose Philanthropie
aufschlagen, überall begegnen wir Gewalttätigkeiten und der Unterdrü-
die Rechte der schwarzen Rasse im Namen der Humanität verteidigen
ckung der betreffenden Völkerschaften, die nicht selten schließlich mit
möchte. Endlich, nach langem Zögern, ist der Weiße gekommen, um
deren vollständiger Ausrottung endet.11
seinen Fleiß, sein Wissen, seine Ausdauer und Energie auf den ‚Schwar-
zen Kontinent‘ zu tragen und dergestalt dessen Herr zu werden. Er hat Gegen das Parlament und die öffentliche Meinung in Deutschland vertei-
Städte gebaut, Häfen geschaffen, Ströme und Seen mit Schiffen belebt; digte Bebel vor dem Hintergrund der eigenen akuten Verfolgungsgeschich-
allenthalben wird nach Metallen gesucht; Straßen werden gebaut, te („Sozialistengesetz“) und der Marxschen Klassentheorie das Recht der
Schienenstränge und Telegraphenlinien gezogen, und endlich wird auch Kolonisierten, die auch nach Bebel generell „auf einer niedrigeren Kultur-
der Tag kommen, wo es seinen kühnen Geist und seiner Energie gelun- stufe“ standen, sich gegen die Ungerechtigkeiten aufzulehnen und zu weh-
gen sein wird, quer durch den Kontinent einen Verkehrsweg herzustel-
ren.
len, welcher den Atlantischen Ozean mit dem Indischen Ozean verbin-
Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die Meinungen über eine künftige
det.
Kolonialpolitik immer weiter auseinander. Der Oberbürgermeister von
An diesem großen, welthistorischen Tage läutet dem Schwarzen die
Köln, Konrad Adenauer, betrachtete es zum Beispiel 1927 im Zuge einer in
Totenglocke.7
der Weimarer Republik einsetzenden neuen allgemeinen Aufwertung des
Die „schwarzen Stämme“, so der Autor, hätten „keine Existenzberechti- Kolonialismus als eine vorrangige Aufgabe, Kolonien zu erwerben, da „zu
gung“. Sie seien, bis zu ihrem endgültigen Untergang, allein „geschaffen“ wenig Raum für die große Bevölkerung“12 im Deutschen Reich existiere.
worden, „dem Weißen zu dienen“.8 Die Volk-ohne-Raum-Ideologie, die Hans Grimm populär gemacht hatte,
Bis zur Verwirklichung dieser grauenvollen Utopie waren die Koloni- erfuhr nach 1933 ihre zynische und verbrecherische Umsetzung. Mahnen-
sierten einem oftmals unerträglichen Alltag und unmenschlichen ‚Erzie- de Stimmen hingegen fanden schon zuvor kaum noch Gehör. Aber es gab
hungsmethoden‘ ausgesetzt. „Wenn die Nilpferdpeitsche …, dieses beste, sie, was den zeitgenössischen Kolonialgedanken zusätzlich seiner angebli-

20 21
chen zeitbezogenen Legitimität beraubt. Albert Einstein sagte zum Beispiel ratur in Afrika gäbe. Beides sei an Schriftsprache gebunden, die die For-
1927: „Ich halte diese innere Kolonisierung (effektive Urbarmachung des scher aber selbst im Falle der Existenz nicht als solche gelten ließen. Selbst
eigenen Bodens – d. Verf.) für nützlicher, sicherer und sympathischer als die die Beschäftigung mit Mündlichkeit, wie sie Dietrich Westermann oder
in Ihrer Anfrage ins Auge gefasste Kolonisierung von Staats wegen auf über- Leo Frobenius betrieben, blieb dem linguistischen Diktat unterworfen.
seeischem Boden.“13 Unter dem Eindruck der indischen Freiheitsbewegung Afrikanistik war so in Deutschland fachlich an Sprachenwissenschaft
unter Mahatma Gandhi schrieb Thomas Mann: „Soviel ich sehe, sind die und Völkerkunde gebunden, während ihr politischer Auftrag als Legiti-
Zeiten imperialistischer Kolonialausbreitung endgültig vorüber. Die Idee mationswissenschaft bis 1945, ungeachtet politischer Zäsuren auch in der
der Freiheit und Selbstbestimmung ist überall erwacht und wird sich nicht deutschen Kolonialgeschichte, ungebrochen blieb.
wieder zur Ruhe legen.“14 Nach 1945 kam es insofern zu neuen Entwicklungen, als die koloniale
Wie an den exemplarischen Äußerungen von Bebel, Einstein und Idee immer mehr aus den Universitäten verschwand. Da aber zugleich ab
Mann zu erkennen ist, begann sich der Kolonialdiskurs bereits am Ende des Ende der vierziger Jahre in Ost wie West eine relativ starke personelle Kon-
19. Jahrhunderts auszudifferenzieren. Daran waren vor allem einzelne Poli- tinuität zu den Jahren vor 1945 existierte, kam es nicht zu einem radikalen
tiker und Politikerinnen sowie parteipolitisch ungebundene Intellektuelle Bruch, und die neuen Entwicklungen unter dem Eindruck der antikolonia-
beteiligt. Das herrschende Klima in der Gesellschaft in Bezug auf die Kolo- len Ereignisse schlugen nur zögerlich an den deutschen Universitäten zu
nialfrage war aber von den Machtansprüchen über fremde Territorien ge- Buche.
prägt. Die dazu bemühten Rassentheorien waren längst nicht allein an die Zunächst ging die Entwicklung bis etwa Anfang der sechziger Jahre dis-
Befürworter/innen des Kolonialismus gebunden. Vielmehr herrschte über ziplinär ungebrochen in Ost wie West weiter. Mögen sich die Inhalte und
die ‚Gültigkeit‘ dieser Theorien beinahe vollkommene Einigkeit in der Ge- die politischen Ansprüche in Lehre und Forschung verändert haben, so
sellschaft. Und dies war das Werk vieler Wissenschaftsdisziplinen, die sich blieb doch ihre Ausrichtung auf Sprachwissenschaft und Völkerkunde do-
in der skizzierten Atmosphäre geradezu als Kolonialwissenschaften resp. minant, wobei auch der prinzipiell rassistische und patriarchalische Grund-
Legitimationswissenschaften entwickeln konnten und eine erstaunliche Blü- tenor unverändert blieb. Der alte koloniale Gedanke wurde zunehmend von
te erlangten. der Ost-West-Systemauseinandersetzung verdrängt. Der Kalte Krieg in Eu-
Für die Eroberung der Kolonialräume waren Geologie und Biologie, ropa artete vielerorts, nicht zuletzt in Afrika, in ‚Heiße Kriege‘ aus, die wie-
Eugenik und Zoologie, Bergbauwissenschaft und Agrarwissenschaft, Ar- derum ihre Begründungen benötigten.
chäologie und Humanmedizin und viele andere Disziplinen gefragt. Im In der DDR erhielt die Afrikanistik erst ab Ende der fünfziger Jahre eine
Zentrum standen Rassentheorien, die ihre Pseudowissenschaftlichkeit nicht neue politische Bedeutung. Deshalb wurde etwa der Kolonialideologe und
zu verbergen brauchten, weil ihre ‚Erkenntnisse‘ im 18. und 19. Jahrhun- Linguist Ernst Dammann, der 1956 einen Ruf erhalten hatte, auch erst
dert als unumstößlich galten und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Ende 1961 von seinem Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin
derts ihrer Absurdität überführt worden sind. Zur Eroberung der neuen vertrieben. Im Zuge der antikolonialen Freiheitsbewegungen wurde der
Herrschaftsräume waren aber nicht nur Natur- und Technikwissenschaften Afrikanistik nunmehr politisch ein neuer und wichtiger Platz in der SED-
gefragt. Die Kolonialbeamten und Missionare, die Kaufleute und Solda- Politik zugewiesen.
ten sollten sich auch mit den Afrikanern und Afrikanerinnen verständigen
können. Deshalb kam es 1887 an der Berliner Universität zur Gründung Man benötigte dringend sprachkundige und auf hohem Niveau ausge-
des Seminars für Orientalische Sprachen, das sich schnell auf Sprachen Af- bildete Fachleute und wollte zudem Raum schaffen, um Fachleute aus
rikas konzentrierte. Neben Sprachen wurde ‚Völkerkunde‘ betrieben. Ge- afrikanischen Ländern, insbesondere Fachleute die der kommunisti-
schichtswissenschaften oder Literaturwissenschaften kamen jahrzehntelang schen Ideologie nahe standen, auszubilden. Die Afrikapolitik der DDR
nicht vor, weil es nach herrschender Meinung weder Geschichte noch Lite- war in hohem Maße an der Vorgabe orientiert, politische Einflussräume

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zu gewinnen, um die weitgehende internationale Isolierung zu überwin- nen einige heute unberechtigterweise vergessen sind. Thomas Brückner
den und um neue Räume für die kommunistische Herrschaft zu er- gehört zu den ganz wenigen in Leipzig ausgebildeten Afrika-Literaturwis-
obern. In dieser Situation genoss die Besetzung dieses Lehrstuhl hohe senschaftler/inne/n, der bis heute als Wissenschaftler, Herausgeber, Hoch-
Priorität.15 schullehrer und Übersetzer produktiv und international geachtet wirkt.
Aber insgesamt muss doch konstatiert werden, dass Afrikanistik auch in der
Es ging um leninistische Kaderrekrutierung, weniger um die konkreten In- DDR vor allem Sprachwissenschaft und dann erst Völkerkunde, Soziolo-
halte. Denn die von Dammann produzierten und reproduzierten Kolonial- gie, Geschichte und Ökonomie hieß, während die Literaturwissenschaft
muster waren den Weißen Kommunist/inn/en in Ost-Berlin und Moskau nur ein Schattendasein führte. Die wichtigsten Bücher über afrikanische
ebenso wenig fremd wie fast allen anderen Weißen Machthabern anderswo Literaturen, abgesehen von einigen verdienstvollen belletristischen Sam-
auf der Welt zu dieser Zeit. Zugleich bildete sich nach dem Weggang Dam- melwerken, die etwa Rainer Arnold oder eben Burkhard Forstreuter he-
manns aus Ost-Berlin Leipzig ‚planmäßig‘ als Zentrum der ostdeutschen rausgaben, stammten nicht aus der Feder von Wissenschaftler/inne/n, die
Afrikanistik heraus. Bis zum Ende der DDR war das zentrale Ausbildungs- an einem der beiden Universitätsinstitute arbeiteten. Die einzige Gesamt-
und Forschungsinstitut an der Leipziger Universität angebunden. Die Aus- darstellung, die in der DDR verlegt worden ist, geht auf Tibor Keszthelyi
bildung konzentrierte sich nicht nur auf DDR-Kader, die in afrikanische zurück und ist 1981 aus dem Ungarischen übersetzt worden, während zwei
Staaten entsandt wurden, sondern umgekehrt sind auch Hunderte Afrika- international einflussreiche Bücher des Theaterwissenschaftlers Joachim
ner und Afrikanerinnen, oftmals marxistisch-leninistischen Ideen anhän- Fiebach Literatur und Theater in Afrika untersuchten.
gend, ausgebildet worden. Zum Programm gehörte selbstverständlich die Die Erträge fielen auch deshalb insgesamt nicht üppig aus, weil die ide-
ideologische Indoktrination – ob die gelang, ist jedoch schwer zu bestim- ologischen Beschränkungen mannigfaltig waren. Das folgende Beispiel il-
men und bislang nicht untersucht. Festzuhalten bleibt aber, dass insgesamt lustriert, wie Afrika-Literaturwissenschaft politisch gefordert war und sich
im Rahmen der Planwissenschaft überhaupt nur wenige Studierende aus selbst als Teil der DDR-Afrikapolitik definierte. Der Literaturwissenschaft-
der DDR zum Studium der Afrikawissenschaften zugelassen wurden. Für ler Rainer Arnold, Lehrstuhlinhaber an der Leipziger Universität, schrieb
sie galten politisch-ideologische Rekrutierungsregeln, die in ihrer Gesamt- 1980 in einem Fachaufsatz:
wirkung einer freien Wissenschaftsentwicklung stark zuwiderliefen. Die
drastischen Reisebeschränkungen in der DDR beeinträchtigten außerdem Mit dem Vorschreiten des Marxismus-Leninismus, fortschrittlichen de-
mokratischen und humanistischen Denkens überhaupt, mit der ge-
gerade Regionalwissenschaftler/innen erheblich, weshalb „viele Produkte
wachsenen Durchschaubarkeit internationaler Prozesse, den Erfolgen
der Afrikawissenschaft“ Anfang der 1990er Jahre aus der DDR als „altmo-
der Länder des real existierenden Sozialismus auf sozialem und kulturel-
disch-hausbacken“ qualifiziert worden sind.16
lem Gebiet und den Notwendigkeiten, die sich aus der Weiterführung
Die Beschäftigung mit Literaturen aus Afrika erfolgte sowohl in Leipzig
der nationalen Befreiungsrevolution selbst ergeben, haben die afrikani-
als auch an dem kleinen Institut an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo schen Literaturen die Dimension ihrer Weltsicht und das Panorama der
vor allem in der DDR, aber auch noch einige Jahre nach der Revolution von Wirklichkeitsgestaltung fortschreitend erweitert.
1989, Burkhard Forstreuter insgesamt fast drei Jahrzehnte über afrikanische
Autoren und Autorinnen forschte und lehrte. Aus seiner Feder sind nament- Eine seiner ‚zwangsläufigen‘ Schlussfolgerungen lautete: die nationalen Be-
lich Vor- und Nachworte zu verdienstvollen Editionen belletristischer Wer- freiungsbewegungen stehen „vor dem Umschlag in die sozialistische Revo-
ke und Anthologien zu erwähnen. Eine ausgefeilte Forschung fand aber we- lution“.17 Wenn heute frühere leninistische Afrikanisten und Afrikanistin-
der hier noch in Leipzig, wo viel mehr Möglichkeiten bestanden hätten, nen aus der DDR behaupten, „Schwierigkeiten ideologisch-dogmatischer
statt. Zwar sind zwischen 1967 und 1989 in der DDR etwa 20 literaturwis- Art“ waren „relativ gering einzuordnen“,18 so ist ihrer These insofern heftig
senschaftliche Dissertationen mit Afrikabezug verteidigt worden, von de- zu widersprechen, als sie kräftig Ideologie betrieben haben. Allerdings ist

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ebenso zu konstatieren, dass ihnen diese Ideologiewissenschaft selbst in der gen die fast ungebrochenen personellen Kontinuitäten, die fast zwangs-
Tat wenig ‚Schwierigkeiten‘ bereitete, da sie die Ideologie nicht als aufge- läufig Neuorientierungen in den Lehr- und Forschungsinhalten, in den zu-
setzt empfunden haben, sondern sie ebenso verinnerlicht hatten wie vor ih- grundeliegenden Methoden, Theorien, Prämissen und Vorannahmen ver-
nen andere Ideolog/inn/en, die sich Afrika mit politischen Absichten ge- missen ließen und verhinderten. Zugleich entdeckten viele Wissenschaftler/
nährt hatten. innen aus dieser zweiten Generation auf eine innovative Art und Weise alte
Auch in der Bundesrepublik war die Afrikanistik an den Universitäten Themen ganz neu. Natürlich geschah auch dies unter dem Eindruck außer-
in Bayreuth, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln oder Mainz zunächst als wissenschaftlicher Faktoren. Um so wichtiger war es zum Beispiel, dass His-
Sprachwissenschaften etabliert. Und wie in der DDR kam es unter dem torikerinnen, Soziologen, Literaturwissenschaftlerinnen, Ökonomen und
Einfluss der antikolonialen Freiheitsbewegungen zu einer neuen und inten- viele andere Professionen auch in Deutschland die Kolonialgeschichte und
sivierten Beschäftigung mit Afrika, die auch neue Zugänge einschloss und die Postkolonalität entdeckten und sich damit beschäftigten.
die vor allem nicht wie in der DDR unter der Prämisse einer einheitlichen Eckhard Breitinger gehört zu den Wissenschaftlern in Deutschland, die
Ideologie, die als dogmatischer Analyserahmen vorgegeben war, zu leiden diese Forschergeneration nachhaltig prägten und dabei direkt oder indirekt
hatte. Einer dieser neuen Zugänge war die Beschäftigung mit modernen Li- an Janheinz Jahn anknüpften. Zunächst mit einem traditionellen litera-
teraturen Afrikas. Unter dem Eindruck der 1947 in Paris erfolgten Grün- turwissenschaftlichen Thema über den englischen Roman im ausgehenden
dung der Zeitschrift Presence Africaine, die das wichtigste Sprachrohr für 18. Jahrhundert 1970 konventionell promoviert – er selbst nennt es ein
frankophone Autoren und Intellektuelle wurde, gründeten Ulli Beier und „überweidetes Forschungsfeld“19 – entwickelte Breitinger in seinem bisheri-
Janheinz Jahn 1957 die Zeitschrift Black Orpheus, die als Pendant für den gen Forscherleben eine ungewöhnliche Breite. Er entfloh gewissermaßen
anglophonen Raum konzipiert worden war. 1960 schied Jahn aus dem He- dem altbackenen Literatur- und Wissenschaftskanon und wandte sich den
rausgeberkreis aus. An seine Stelle traten der Südafrikaner Ezekiel Mphah- ‚Neuen Englischen Literaturen‘ zu. Die damit befassten Forscherinnen und
lele und der Nigerianer Wole Soyinka. Forscher waren in der Bundesrepublik seit Beginn ihrer Forschungsaktivitä-
Mit Beier und Jahn sind die zwei wichtigsten Persönlichkeiten der neu- ten Ende der 1960er Jahre international vernetzt, transnational orientiert,
en Afrika-Literaturforschung in (der Bundesrepublik) Deutschland aus den transatlantisch gebunden und methodisch fast notgedrungen innovativ. Zu
1960er Jahren genannt. Sie haben Texte gesammelt, zahlreiche Anthologien Breitingers Forschungsinteressen zählen Literaturen in der Karibik und in
herausgegeben, die Kunst Afrikas in Deutschland popularisiert und letzt- Afrika, Theaterprozesse in Afrika ebenso wie die Entwicklung von Radio
lich mit ihrem umfangreichen Œuvre die Grundlage dafür gelegt, dass sich und Hörspiel in den USA oder die Rhetorik US-amerikanischer Wahl-
nachfolgende Forschergenerationen überhaupt mit Belletristik, Lyrik, Dra- kampfreden. Seit Ende der siebziger Jahre aber stehen Literatur und Thea-
matik und Kunst aus Afrika beschäftigen konnten. ter in Afrika eindeutig im Mittelpunkt seines Schaffens. Eckhard Breitin-
Die Schneisen, die geschlagen wurden, waren nicht so breit und befes- gers wissenschaftliches Werk umfasst bislang neben Monographien und
tigt, als dass sie jemals ungefährdet gewesen wären. Die eingangs wiederge- zahlreichen Sammelbänden, die er herausgab, rund 150 Aufsätze, über 40
gebenen Impressionen sind ja aus der Jetztzeit und nicht aus einer histori- Radiosendungen und zahlreiche Rezensionen. Er wirkt als Mitherausgeber
sierbaren Vergangenheit. Noch hängt die wissenschaftliche Beschäftigung von Zeitschriften ebenso wie als Fachbeirat großer literaturwissenschaftli-
in Deutschland eher an einzelnen Persönlichkeiten als an dauerhaft gesi- cher Editionen. Sein Anspruch, in die Gesellschaft hinein zu wirken, ver-
cherten Strukturen. deutlicht seine umfangreiche Vortrags- und Gutachtertätigkeit. Er ist ein
Auf den Schultern von Janheinz Jahn etablierte sich eine zweite Genera- gefragter Partner für politische und andere Stiftungen und Einrichtungen.
tion von Forschern und Forscherinnen, die etwa zwischen 1940 und 1945 Ohne die eine gegen die andere Leistung aufwiegen zu wollen, sei eine
geboren wurden und ihre politische und wissenschaftliche Sozialisation in von Breitingers Aktivitäten dennoch hervorgehoben, weil gerade sie seine
den stürmischen sechziger Jahren erfuhren. Sie stemmten sich zu Recht ge- besondere Stellung innerhalb der Gemeinde der Afrikawissenschaftler/in-

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nen untermauert. Denn Eckhard Breitinger hegt seit vielen Jahren den An- über 80 Bände publiziert, die sich in englischer, französischer oder deut-
spruch, zum einen Afrika und seine Kulturen in Deutschland und Europa scher Sprache mit Problemen der Literatur, Sprache, Theater, Musik, Sozio-
bekannter zu machen, und zum anderen versucht er immer wieder und be- logie, Religion oder Kultur Afrikas in Monographien und Sammelbän-
harrlich, afrikanischen Stimmen in Deutschland und Europa Gehör zu ver- den beschäftigen. Das Besondere an dieser Serie besteht auch darin, dass
schaffen. Breitingers Projekt insofern nicht gewinnorientiert ist, als Überschüsse aus
Die dazu von ihm entwickelten Methoden sind vielfältig. Zunächst ist einzelnen Projekten anderen, die von vornherein schwer zu ‚vermarkten‘
er selbst ein Mann, der mehrmals jährlich in afrikanische Länder reist, um wären, zugute kommen. So ist es auch möglich, dass Breitinger nicht nur
vor Ort neuen Entwicklungen nachzuspüren. Mehrere Gastprofessuren seit jungen deutschen Forschern und Forscherinnen ein Podium zur Präsenta-
den 1980er Jahren gaben ihm die Möglichkeit, längere Forschungsaufent- tion ihrer Ergebnisse bietet, sondern dies in einem noch viel stärkeren Maße
halte etwa in Ghana, Nigeria, Uganda, Malawi, Kamerun und Kenia zu ab- Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Afrika anbietet. In dem
solvieren. Zu diesen wissenschaftlichen Reiseaktivitäten gehören auch Fahr- vorliegenden Sammelwerk gehen mehrere Autoren auf diese bleibende Leis-
ten ins westeuropäische und nordamerikanische Ausland, die anders als bei tung Breitingers ein.
vielen anderen Forschern und Forscherinnen bei Eckhard Breitinger alles Eckhard Breitinger hat als Herausgeber praktiziert, was er als schreiben-
andere als touristische Unternehmungen sind. Denn dort wie in Deutsch- der Forscher in seinem umfangreichen Werk seit vielen Jahren immer wie-
land präsentiert und popularisiert er Ergebnisse seiner Arbeit. Dazu gehö- der vorgeführt hat. Er war Teil des Dekolonisierungsprozesses, weil er mit
ren beeindruckende Fotoausstellungen über Theater in Afrika, die Breitin- anderen zu den Modernisierer/inne/n der verstaubten Afrikanistik zählte.
ger bislang etwa in Norwegen, Uganda, Dänemark, Österreich, Ghana, Er überwand Fächergrenzen ebenso wie Landesgrenzen fast spielend, für
Südafrika, Spanien sowie in verschiedenen Städten Großbritanniens, der ihn zählten harte wissenschaftliche Kriterien ungeachtet von in der Wissen-
USA sowie Deutschlands präsentierte. Wer einmal erlebt hat, wie Professor schaft üblichen Gewohnheitsrechten. Ebenso wusste er objektive Benach-
Breitinger die Ausstellungstafeln förmlich durch die halbe Welt schleppt, teiligungen und hausgemachte Ungerechtigkeiten in seinen zahlreichen
der weiß den Unterschied zwischen Wissenschaftstourismus und Knochen- Hilfestellungen zu berücksichtigen. Denn Eckhard Breitinger hat mit seiner
arbeit zu benennen. Studienreihe, seinen Ausstellungen, seinem mittlerweile transatlantisch weit-
Breitinger führt aber nicht nur Ausstellungstafeln mit sich, in seinem verzweigten Schüler/innen/netz, seinem wissenschaftlichen Werk und sei-
Gepäck befinden sich meist auch noch mehrere Bücherkisten. Bei denen auf ner weltumspannenden Reisetätigkeit ein Kommunikationsnetz sui generis
großen internationalen Tagungen in Nordamerika und Europa organisier- geschaffen, in dessen Mittelpunkt ganz unbeabsichtigt Eckhard Breitin-
ten Verlagspräsentationen unterhält er zumeist einen eigenen Stand, an dem ger selbst steht. Wer nur einmal erlebt hat, wie Breitingers Haus als ein
er mit fröhlicher Ruhe Bücher aus der eigenen Produktion anbietet und zu- Kommunikationstreff für Forscher und Forscherinnen aus allen möglichen
gleich viele neue Kontakte knüpft und alte erneuert. Denn zu seinen wich- Ländern fungiert, der hat sogleich einen Begriff von dem, was andere mit
tigsten und nachhaltigsten Leistungen zählt zweifellos die Gründung der Gastfreundschaft zu umschreiben belieben. Es ist gerade dieses skizzierte
wissenschaftlichen Buchreihe Bayreuth African Studies Series (BASS), die Ensemble, das Eckhard Breitinger zu einem besonderen Vertreter der klei-
Eckhard Breitinger seit 1984 im von ihm eigens dafür gegründeten Verlag nen Zunft von Afrika-Literaturwissenschaftler/inne/n in Deutschland wer-
herausgibt. Seit 1981 an der Universität Bayreuth tätig, ist nicht zuletzt den ließ.
Dank Breitinger und des Lehrstuhls von Janosz Riesz, der sich auf die fran- Die Zitate, die oben im Text die gesellschaftliche Atmosphäre im 19.
kophone Afrika-Literatur konzentrierte, die Universität Bayreuth zum und frühen 20. Jahrhundert spiegelten, stammen nicht nur aus historischen
Zentrum der deutschen Afrika-Literaturwissenschaft geworden. Die BASS Texten. Albert Schweitzers verkleidete Humanität hat dauerhaftere Wir-
haben diese Stellung zementiert und weit über die Grenzen Deutschlands kung erzielt, als vielen bewusst und lieb ist. 1921 schrieb der ‚Urwalddok-
hinaus bekannt gemacht. In dieser Schriftenreihe hat Breitinger bislang tor‘ die berühmten Worte:

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Der Neger ist ein Kind. Ohne Autorität ist bei keinem Kinde nichts als fachinterne Debatten einzelner Professionen, die zudem kaum an die all-
auszurichten. Also muss ich die Verkehrsformel so aufstellen, dass darin gemeine Öffentlichkeit gelangen.
meine natürliche Autorität zum Ausdruck kommt. Den Negern gegen- Eckhard Breitinger müht sich wie nur wenige andere, einige kommen
über habe ich dafür das Wort geprägt: ‚Ich bin dein Bruder; aber dein davon im vorliegenden Band zu Wort, seit Jahren darum, Literatur, Thea-
älterer Bruder.‘20 ter und Kunst aus Afrika dem deutschen Publikum näher zu bringen. Ein-
gangs ist illustriert worden, dass dies nur in geringem Maße gelungen ist.
Dieser Geist, der auf tief verwurzelten und breit angelegten rassistischen Welche Gründe wären dafür auszumachen? Die oft ins Feld geführten Ar-
Wahnvorstellungen basierte, fand weder mit dem Jahr 1945 ein Ende, noch gumente, dass die Verlage sich nur schleppend und ungern afrikanischer
ging er schleichend im Zuge der globalen Dekolonisierung verloren. Viel- Autorinnen und Autoren annehmen, weil die Leserschaft so begrenzt sei,
mehr blieb er vitaler Bestandteil der Weltinnenpolitik, der gesellschaftlichen nicht einmal international berühmte Literaturpreise diesen Umstand ab-
Atmosphäre in Deutschland und Europa und des Politikverständnisses ge- bauen und auch die Subventionen für Übersetzungen und Druckkosten be-
genüber einstigen Kolonisierten. Nicht nur die jüngsten rassistischen Aus- scheiden ausfielen – diese Argumente sind hinlänglich bekannt. Auch das
brüche in europäischen Fußballstadien sind dafür ein Beleg, auch die mo- Jammern darüber, dass an den Universitäten zu wenig darüber gelehrt und
dernistischen Diskurse in Europa und Nordamerika über die ‚positiven geforscht würde und deshalb zu wenig Basisinformationen an aktuelle oder
Seiten‘ des Kolonialismus im Namen einer doppelten Historisierung stehen künftige Multiplikatoren kämen, ist wohl nur ein Teil der Wahrheit. Sicher-
letztlich auf diesem verseuchten Boden. Die Liste wäre zu lang, als dass es lich, der seltene Umgang mit Kunst und Literatur aus Afrika im Feuilleton
lohnen würde, noch weitere einzelne Erscheinungen herauszugreifen. Aller- überregionaler deutscher Tageszeitungen und Wochenjournale ist ein Spie-
dings gibt es auch Gegenströmungen, die in zivilgesellschaftlichen Kernbe- gelbild dieser Zustände, aber würde sich die Rezeption tatsächlich ein-
reichen wie Bürgerbewegungen, zum Beispiel politischen Organisationen schneidend verändern, nur weil meinungsbildende Print- und Funkmedien
von Schwarzen wie ADEFRA – Schwarze deutsche Frauen/ Schwarze Frauen afrikanischen Literaturen und Kunstprozessen größeren Raum gäben? Das
in Deutschland oder Initiative Schwarzer Deutscher (ISD), ebenso eine Ba- scheint schon allein aus dem Grund kaum wahrscheinlich, weil diese For-
sis haben wie an einigen wenigen Forschungs- und Universitätseinrichtun- mate ein Zielpublikum besitzen, dass für Massenkonsum so wenig zustän-
gen. ‚Globalgeschichte‘, ‚Kolonialgeschichte‘ oder ‚postkoloniale Literatu- dig ist wie für die Bestückung von Bestsellerlisten oder wenigstens solchen
ren‘ sind nur einige der Stichwörter, die Interdependenzen suggerieren, die Auflagenhöhen, die Gewinn und Rentierung versprechen. Diese Gruppe
jahrzehntelang in der deutschen Forschung nicht einmal gesehen wurden, ist eher für Longseller aus dem bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Spek-
die aber nun Gegenstand produktiver Debatten und Forschungen gewor- trum zuständig.
den sind. Die Welt ist in diesem Denken kleiner und enger miteinander ver- Aber für sie gilt wie für anderen Rezipientenkreise, dass die aufgetürm-
bunden als uns Jahrhunderte lang eingeredet worden ist. ten Barrieren, die in Deutschland afrikanische Literaturen fast unsichtbar
Vor dem Hintergrund aktueller globaler Entwicklungen und Heraus- werden lassen, eine über Generationen gewachsene Grundlage haben, die
forderungen zweifelt kaum jemand ernsthaft an diesen unmittelbaren Zu- sich nicht mit gutgemeinten Appellen oder jammervollen Aufrufen verän-
sammenhängen, die keine chaostheoretischen Vorannahmen benötigen. dern lässt. Denn die rassistischen Konstruktionen aus der Vergangenheit, so
Für Spezialist/inn/en bestand seit vielen Jahren ohnehin daran kein Zwei- wie sie sich in den oben zitierten Stellungnahmen spiegelten, sind in ‚mo-
fel mehr. Breitingers Werk ist nur das Exemplarum dafür. derner Sprache und Denkhaltung‘ in unser angeblich entideologisiertes
Allerdings fällt die Bilanz an einem Punkt dann dennoch nicht so lupen- Zeitalter beinahe bruchlos transformiert worden. Afrika – was beinhalteten
rein aus, wie angenommen werden könnte. Denn das Wissen, dass von damals und was beinhalten heute die dominanten Diskurse in Deutschland
Weißen in Europa über viele Jahrhunderten hinweg formiert und internali- über diesen vielgestaltigen Kontinent? Im vorliegenden Band versuchen da-
siert worden ist, lässt sich ganz offenbar weitaus weniger schnell verändern rauf mehrere Autoren und Autorinnen Antworten zu finden. Ganz zweifel-

30 31
los existiert eine starke Kontinuität in ‚den‘ Afrikabildern, die letztlich die wie beschwerlich dieser Weg noch ist. Dass aber überhaupt ein solcher Weg
Barrieren begründen, die einer weitgehend vorurteilsfreien Rezeption im in Deutschland in den Blick genommen werden darf, dass ist nicht zuletzt
Wege stehen. ein Verdienst von Eckhard Breitinger.
Afrika bedeutet in Deutschland neben Krieg, AIDS, Hunger, Kinder- Sein Dasein als Gelehrter und Weltbürger charakterisiert nicht minder
soldaten und Beschneidungen eine Welt, die die immer wieder gleichen Kit- der Umstand, dass er niemals zu den Jammerern zählte, von denen eingangs
schromane in Millionenauflage verbreiten – Afrika als paradiesische Welt die Rede war. Eckhard Breitinger hat sich lediglich am Unmöglichen ver-
der ‚wilden Tiere‘. Die Darstellung von Afrika lebt davon, dass Afrika und sucht. Sein Werk wird sich vollendet haben, wenn die aktuellen Befunde,
seine Menschen zumeist gar nicht erst vorkommen, und wenn doch, dann die in diesem Buch nachzulesen sind, nur noch von historischem Wert sind.
stimm- und charakterlos. Es hat sich wenig an den weit verbreiteten Hegel-
schen Annahmen geändert, dass Afrika ein schriftloser, deshalb geschichts-
loser Kontinent sei. Seine Behauptung über Afrikaner und Afrikanerinnen
– „wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen“21 – ist nicht nur eine
peinliche historische Entgleisung, sondern eignet sich durchaus auch für die
Umschreibung von Gegenwartsdebatten. Denn der eigentliche Schlüssel
für die Barrieren liegt in Annahmen, die bereits bei ihrem Aufkommen
falsch waren und über die Jahrzehnte und Jahrhunderte ihrer volkspädago-
gischen Verbreitung, zuweilen von Genoziden unterbrochen, keinen Deut
an Wahrheit gewannen, aber ihr Ziel erreichten, nämlich arbiträre Annah-
men gegenüber fundierten Argumenten zu immunisieren.
Eckhard Breitinger gehört zu jener kleinen Gruppe von Intellektuellen
in Deutschland, die sich beharrlich und unaufgeregt diesem Mainstream
entgegenstellen. Eines Tages, dies ist Wunsch und Hoffnung zugleich und
steht ganz absichtsvoll in Opposition zu dem Titel dieser Einleitung, eines
Tages werden gewiss viele Weiße mitten in Europa den Kopf über die Bor-
niertheit, das Unwissen und die Ignoranz schütteln, die über die eigene Ge-
schichte und die anderer Regionen in der selben Mitte des sich seiner über-
ragenden ‚Zivilisation‘ so erfreuenden Europas herrschte. Dann werden
Spezialisten für die Literaturen Nigerias oder Senegals oder Madagaskars
nicht mehr als nützliche Fachidioten gelten, dann werden Kamerunexper-
tinnen nicht mehr als Afrikaspezialistinnen angesprochen und vor allem
werden Schwarze Schriftsteller/innen nicht mehr an Standards gemessen,
die Weiße zwar erfunden haben, die sie aber für sich selbst nur in Ausnah-
mefällen gelten lassen. Dann wird die Dichotomie ein Museumsdasein fris-
ten dürfen. Und dann wird auch kein Literaturkritiker mehr als bedeutend
gelten können, der davon ausgeht, dass in bestimmten Regionen dieser Welt
Literatur gar nicht wirklich existiert. Bis dahin ist es noch ein weiter, ein
sehr weiter Weg. Nicht zuletzt die Essays in diesem Band veranschaulichen,

32 33
Geschichte und Kultur:
Betrachtungen historischer Entwicklungen
von Literatur und Theater in Afrika

Femi Osofisan
Stirbt das Theater in Afrika? –
Überlegungen aus nigerianischer Perspektive1

Theater ist politisch. Theater ist subversiv. Theater befreit. Mit diesen
Worten beschreibt Femi Osofisan in seinen Aufsätzen und Texten die
gesellschaftliche Aufgabe von Kunst. Und an diesem Anspruch misst
er kritisch die eigene Arbeit und die von Kollegen und Kolleginnen:
Avantgardistische Form allein ist ihm nichts ohne revolutionären
Inhalt. Immer geht es ihm auch um die politisch-gesellschaftlichen
Umstände, um hierarchisch-ungerechte Stukturen und deren Ver-
änderung. Seine Aufsätze über Theater sind daher oft gleichzeitig
politische Statements.
1946 geboren studierte Femi Osofisan Französisch und lebte
während seiner Promotionszeit einige Jahre in Dakar und Paris. Als
Gastwissenschaftler und Künstler besuchte er später die USA, Groß-
britannien, Deutschland, Japan, Ghana und Sri Lanka. Bekannt wurde
er vor allem als Autor zahlreicher Theaterstücke. The Chattering and
the Song, Who’s Afraid of Solarin?, Once Upon Four Robbers, Moroun-
todun, Red is the Freedom Road, No More the Wasted Breed, A Restless
Run of Locusts, Birthdays are Not for Dying, Another Raft, The Oriki of a

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Grasshopper, Yungba-Yungba and the Dance Contest, Eshu and the Es sind die erwähnten „Vielleicht“, von denen aus ich mich heute dem
Vagabond Minstrels, Tegonni und viele andere mehr. Daneben ver- Thema nähern möchte. Warum vielleicht ein Wissenschaftler und vielleicht
öffentlichte er Romane und Gedichtbände und erhielt mehrere ein Dramatiker? Und was lässt sich daraus ableiten über den Zustand des
Literaturpreise. Als Schriftsteller und Regisseur greift er stark auf Kulturschaffens in Afrika heute?
Elemente, Theaterformen und -konventionen der Yoruba zurück.
Femi Osofisan war Leiter der Theaterinstitute der Universitäten
von Benin und Ibadan und des National Theatre in Lagos sowie Prä- 2
sident der Association of Nigerian Authors (ANA). Zur Zeit arbeitet er
wieder an der Universität Ibadan. Wie viele seiner afrikanischen Kol- Die erste Frage – zu meiner gegenwärtigen Beziehung zur Wissenschaft –
legen und Kolleginnen verbindet er mühelos und erfolgreich theater- ist leicht zu erklären. Viele wissen um den Zusammenbruch der Wirt-
wissenschaftliche mit theaterkünstlerischer Arbeit, analytische Auf- schaftssysteme der meisten afrikanischen Staaten im letzten Jahrzehnt des
sätze und journalistische Essays mit Stücke schreiben, Regie führen vergangenen Jahrtausends – wenn sie nicht sogar selbst Opfer davon wur-
und Schauspielen. Dabei ist Femi Osofisan heute im besten Sinne – den. Unter der doppelten Belastung von unfähigen und sich bereichernden
und nicht nur vielleicht – einer der bekanntesten Autoren, Theater- Regierungen und der geschickten Manipulation durch riesige multinatio-
macher und Wissenschaftler Nigerias. nale Konzerne, die ihre Geschäfte in Afrika machen, entwickelten sich un-
Jule Koch sere Länder schnell zu dem, was heute als „failed states [‚gescheiterte Staa-
ten‘]“ beschrieben wird, und beinahe alle unsere öffentlichen Institutionen
brachen regelrecht zusammen.
1 In Nigeria – wie auch auf dem übrigen Kontinent – war die Bildungs-
schicht eines der ersten Opfer dieses ökonomischen Niedergangs. Die Fi-
Ist das Theater in Afrika gestorben oder am Sterben? Diese Frage wird heu- nanzierung der Institutionen wurde zu einem Problem, während sich para-
te häufig gestellt. Ich denke, der beste Weg sie zu beantworten ist, meine doxerweise gleichzeitig die Zahl der Universitäten und Immatrikulationen
persönlichen Gedanken dazu mitzuteilen – die Perspektive von jemandem, vervielfachte. Unaufhaltsam begann der Verfall. Die Wohnheime für Stu-
der in diesem Bereich seit nun mehr drei Jahrzehnten aktiv und damit einer dierende waren massiv überbelegt, verwandelten sich in Slums und bro-
der aktivsten Theatermacher ist. delndes Einflussgebiet von Banden. Die Bibliotheken und Laborräume, die
Nein, ich will mich hier korrigieren – vielleicht einer der aktivsten The- von vornherein nicht angemessen gewesen waren, konnten nicht mehr län-
atermacher! Denn offen gesagt ist es ein deutliches Vielleicht, das meine Per- ger in Stand gehalten werden und ihre Regale versanken unter Staub und
son heute umgibt. Ich bin, das gebe ich zu, nur vielleicht immer noch ein veralteten Buchtiteln und Gerätschaften. Bildung verlor zunehmend an At-
Dramatiker, nur vielleicht immer noch ein Wissenschaftler und vielleicht traktivität, als Studierende die sie erwartenden explodierenden Arbeitslo-
immer noch von Wut angetrieben. Der Grund dafür ist schlicht und ein- senraten von Graduierten sahen und mit wachsender Desillusionierung die
fach, dass ich im Laufe meiner Karriere und besonders in den letzten zwei Hoffnungslosigkeit wahrnahmen, die die Zukunft für sie bereithielt.
Jahrzehnten an so vielen verschiedenen Orten verschiedene Dinge getan Nicht besser war es für die Dozenten und Dozentinnen, deren armselige
habe, bis ich in den höheren Beamtendienst aufstieg und Leiter einer unse- Gehälter im Strom der Inflation nicht nur fast wertlos, sondern zudem mo-
rer ineffizienten öffentlichen Institutionen wurde. Durch diese Erfahrung natelang nur unregelmäßig ausgezahlt wurden. Nicht überraschend verlor
sah ich mich schließlich gezwungen einzusehen, dass Wut selbst nicht halb der Beruf daher seinen Reiz: Lehren wurde ermüdend und unprofitabel, und
so wichtig ist wie die Fähigkeit, mit dieser Wut umzugehen und sie in pro- die Klassenräume füllten sich mit Verzweiflung. Um die Situation zusätzlich
duktive Bahnen zu lenken. zu verschärfen, wurden dieselben Akademiker/innen, da sie zu den lautesten

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Stimmen gegen Misswirtschaft und Korruption der Regierung gehörten, einschränken lässt, und sie ist auch der Grund, weshalb ich mich als einen
zum Ziel offizieller Verfolgung. Aufgrund dieser Negativentwicklungen be- Vielleicht-Wissenschaftler bezeichne. Denn wie könnte jemand ernsthaft
gann deshalb der Großteil der Intelligenz das Land auf der Suche nach bes- ein wahrer Wissenschaftler sein wollen, wenn er auf so frustrierende Weise
serer Entlohnung und Schutz vor politischer Repression zu verlassen. außerhalb des gegenwärtigen Diskurses und Forschungsstandes im eigenen
Zufällig suchten zeitgleich mit diesen Ereignissen nordamerikanische Arbeitsbereich steht?
Universitäten nach Neubesetzungen für vakant gewordene Professuren. Wenn hiermit die Schwierigkeiten, ein Wissenschaftler zu sein, er-
Natürlicherweise wurde das zu einem – wie es im Yoruba heißt – eni maa ku klärt sind, was ist dann mit jenen, mit denen ein Schriftsteller oder eine
pade eni maa pa [der auf der Suche nach dem Tod ist, trifft den, der jeman- Schriftstellerin zu kämpfen hat? Warum sollte ich mich selbst bedauernd als
den zum Töten sucht]. Ich muss das nicht weiter ausführen: Viele der Aka- Vielleicht-Dramatiker bezeichnen? Anders als die wissenschaftliche Arbeit
demiker/innen, die kürzlich von Nigeria oder anderen Teilen Afrikas in die scheint doch die kreative Tätigkeit nicht von negativen äußeren Bedingun-
USA gezogen sind, kennen diese Geschichte zu gut, weil sie ein Teil ihrer gen bedroht oder vereitelt zu werden. Tatsächlich finden sich sogar Belege
Biographie ist. für das Gegenteil: Das künstlerische Schaffen steigt perverserweise in direk-
Die von uns, die zurückgeblieben sind, die nicht fliehen konnten oder ter Proportion zum Leidensdruck. Einige der besten Gedichte, die wir ha-
wollten, hatten praktisch in einer Situation der Verlassenheit und Einsam- ben, einige der bewegendsten Theaterstücke oder musikalischen Komposi-
keit zu leben und zu arbeiten; beides im wörtlichen sowie metaphorischen tionen, einige der verblüffendsten Skulpturen sind Produkte der Qual,
Sinn. Mit sehr unregelmäßigem oder manchmal gar keinem Zugang zur geschaffen in Reaktion auf unbegreifliche Akte der Grausamkeit oder Be-
Wissenschaftswelt außerhalb des Landes, mit wenig Kontakt oder aktivem gegnungen des Schreckens.
intellektuellem Austausch mit anderen Wissenschaftler/inn/en – nicht ein- Deshalb sollte sich unser anormales Leben in Nigeria, gesättigt mit täg-
mal innerhalb des eigenen Landes –, praktisch ohne Geld, um Forschung zu lichen Zwischenfällen der Tragik und des Terrors, als fruchtbarer Nährbo-
betreiben. Wir mussten damit leben, dass ein Großteil der Energie durch den für die Samen der Kunst nutzen lassen. Warum also sollten Dramati-
die banalsten Probleme des materiellen Überlebens oder durch Ausweich- ker/innen in solch einem faszinierenden Umfeld – oder Dichter/innen,
strategien gegenüber den Angriffen offizieller Feindseligkeit aufgefressen Musiker/innen, Maler/innen oder Geschichtenerzähler/innen ähnlich wie
wurde. Unter diesen Bedingungen ist es offensichtlich, dass die Arbeit der Wissenschaftler/innen in ihrem Tun behindert sein?
Wissenschaft nichts anderes als eine deprimierende und entmutigende An- Tatsächlich war es auch nicht immer so. Wie ich anderswo ausgeführt
gelegenheit werden konnte. habe, ist ein krisengeschütteltes Land wie Nigeria ein paradoxer Segen für
Es ist wahr, dass sich die Situation nach der Wiedereinsetzung eines zi- den Schriftsteller oder die Schriftstellerin, und auch die Quelle meiner eige-
vilen und demokratischen Systems in den meisten unserer Länder heute be- nen ruhelosen Kreativität gewesen. Beispiele aus den Genres Poesie, Prosa
deutend verbessert hat. Ich sollte hier auch die neuen glücklichen Entwick- und Musik beweisen das. Bände von Dichtung werden fast wöchentlich he-
lungen im Bereich der Informationstechnologie erwähnen. Speziell das rausgegeben, regelmäßig werden neue Romanautor/inn/en entdeckt und
Internet hat immens dazu beigetragen, unseren Zugang zum Wissen und gewinnen internationale Preise und Musikgruppen – viele davon sehr be-
der Wissenschaftswelt außerhalb unserer Landesgrenzen zu verbessern, so- gabt – überschwemmen die Bühnen. Überall herrscht ein geschäftiges Trei-
wie den Austausch mit anderen Forscher/inne/n zu erleichtern. Aber die ben der Aktivitäten und Begabungen. Außer im Theater. Hier herrscht fast
Zerstörung in den Jahren von Kriegen, Militärherrschaften und anderen völlige Stille. Live-Aufführungen sind selten und zufällig geworden, Schau-
Diktaturen war so weitreichend, und die Reparaturen, die überall vorge- spieler/innen und Publikum scheinen den Zuschauerraum zu fliehen, und
nommen werden müssen, sind so aufwändig, dass es bis zu einer Erholung Dramatiker/innen gibt es wenige.
besonders im Bereich der Universitäten ein langer Weg ist. Warum ist das so? Was ist passiert, dass Leute heutzutage so traurig
Diese Konstellation ist es, die mich meine Arbeit wie oben formuliert vom ‚Tod des Theaters‘ sprechen? Stimmt es, dass wir nicht mehr schreiben

38 39
und produzieren? Und wenn ja, warum? Wie kommt es, dass in einem Drittens gab es die aus der Bildungselite bestehende gehobenere Mittel-
Land, das Leute wie Wole Soyinka und Ola Rotimi und unzählige ähnliche schicht. Diese unterstützte eine textbasierte Form von Theater, deren Dialo-
Begabungen hervorgebracht hat, die Beispiele theatraler Produktion so da- ge zumeist in englischer Sprache abgefasst waren und deren Dramaturgie
hinschwinden, dass man heute nostalgisch von einem Verlust spricht? Wa- sich aus einer hybriden Mischung Westlicher und tradierter Formen zu-
rum nenne ich mich selbst einen Vielleicht-Dramatiker? sammensetzte. Diese letzte Kategorie verfügte über solche Persönlichkeiten
Diese Fragen stehen im Zentrum meines Aufsatzes. wie Wole Soyinka, Ene Henshaw, Ola Rotimi u. a. und war die internatio-
nal bekannteste sowie die am weitesten gereiste Form von Theater. Inner-
halb des Landes hingegen war das Wandertheater mit seinem Varianten-
3 reichtum am populärsten und erfolgreichsten.
Die drei erwähnten Theatergattungen sind, wie wir wissen, von Wis-
Ich komme, wie vermutlich deutlich wurde, aus einer Gegend des Konti- senschaftlern und Wissenschaftlerinnen hinreichend untersucht worden, so
nents, in der bis vor ein paar Jahren die Theateraktivitäten äußerst lebhaft dass wir dazu an dieser Stelle nichts weiter ausführen müssen. Interessant
waren und in ihrer Dynamik vielleicht die höchste Präsenz hatten. Der süd- und zugleich alarmierend ist dagegen die Tatsache, dass heute über alle die-
westliche Teil Nigerias, besonders die Yoruba sprechenden Gegenden, wies se Theaterformen plötzlich kaum mehr gesprochen wird. Innerhalb einer
eine hohe Dichte theatraler Produktionen auf und war voll von Schauspie- sehr kurzen Zeitspanne – während der letzten zehn Jahre etwa – unterlag
ler/inne/n und Regisseur/inn/en, Tänzer/inne/n und Trommler/inne/n, die Populärkultur einer Transformation, die so grundlegend war, dass die
Musiker/inne/n und Masken(träger/inne/n). Die Theateraktivitäten der ehemals blühenden Wandertheater heute nur noch eine kleine Episode der
Yoruba wucherten in allen drei Schichten der Sozialstruktur unseres Landes. Theatergeschichte sind.
Auf dem Lande waren Rituale, Festivals, traditionelle Masken und an- An ihrer Stelle hat sich etwas gänzlich Unerwartetes entwickelt, das
dere theatrale Manifestationen üblich. Einige wöchentlich, andere jahres- Phänomen ‚Home Video‘: Filme in digitaler Videotechnik, die zum popu-
zeitlich gebunden, einige tagsüber und andere nachts aufgeführt, aber alle lärsten und am schnellsten wachsenden Kulturgut in Nigeria geworden
auf eine Weise, die niemanden in der Gesellschaft an der einen oder ande- sind; besonders unter den Yoruba, den Igbo und den Hausa. Tausende die-
ren Stelle vom Theatererleben ausschloss. ser Filme werden jedes Jahr auf den Markt geworfen und schnell konsu-
Die unteren städtischen Schichten andererseits erlebten ein Wiederauf- miert: Zeitweise wurde die Produktion auf etwa vierzig Filme pro Woche
blühen der alten Tradition der professionellen Wandertheater. Diese ver- geschätzt.
mehrten sich so stark, dass mehr als hundert regelmäßig im Land auffüh- Das ist eine erstaunliche Geschichte und zwar besonders, wenn man be-
rende Gruppen gezählt werden konnten. Ihr Repertoire – wie es von der denkt, dass diese Art Filme vor nicht allzu langer Zeit routinemäßig igno-
späten Arbeit Hubert Ogundes, eines Pioniers dieser populären Form, reprä- riert oder gar verachtet wurde – sowohl von Filmemacher/inne/n als auch
sentiert wird – bestand aus langen melodramatischen Szenen oder einer Se- von Kritiker/inne/n und Expert/inn/en des ‚African Cinema‘, die sich in
rie von Slapsticks und kurzen Szenen mit offenem Ende, die entlang eines ihren Einschätzungen allein auf Filme nach dem Beispiel derer von Sem-
groben Handlungsgerüsts improvisiert waren und um einen Protagonisten bène Ousmane und seinen Nachfolger/inne/n bezogen. Inzwischen jedoch
kreisten, der fast immer vom Leiter der Gruppe selbst gespielt wurde. Die- hat die bloße Quantität der „Home Video“ Produktion und die markt-
se Stücke und Montagen entnahmen ihre Stoffe der Oratur, mythologi- schreierische Industrie, die sie hervorgebracht hat, dafür gesorgt, dass sie
schen oder biblischen Geschichten oder griffen aktuelle soziale und politi- nicht länger ignoriert werden können – weder von der internationalen Ge-
sche Spannungen vor Ort auf. Sie waren extrem beliebt und erfolgreich, meinschaft noch von Wissenschaftler/inne/n, die sich mit diesem Gebiet
weil sie erstens in der Sprache der Yoruba aufgeführt wurden und zweitens beschäftigen.
in ihren Aufführungen Techniken des totalen Theaters verwendeten. In scharfem und auffälligem Kontrast dazu hat sich die Geschichte der

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ehemals blühenden Bühnen in eine Geschichte grober Vernachlässigung truppen der Yoruba erstarkten in der Zeit des Ölbooms, d. h. in den siebzi-
und schrumpfenden Publikums verwandelt. Die einstigen Theatergruppen ger und achtziger Jahren, als die Staatseinnahmen durch Ölexporte stark
haben sich mehr oder weniger alle aufgelöst. Ihre Darsteller/innen wechsel- anstiegen und das Lohnniveau am höchsten war.
ten zum Videogeschäft. Das populäre Yoruba Wandertheater existiert nicht Bereits Mitte der achtziger Jahre jedoch waren diese Einnahmen prak-
mehr: In den drei Jahren, die ich nun für das National Theatre zuständig tisch verschwendet durch eine Abfolge korrupter und unfähiger Regierun-
bin, kam keine einzige Bühnenproduktion dieser Gruppen zur Aufführung, gen. Bis zum Ende des Jahrzehnts hatte sich der Staat trotz der erheblichen
während jede Woche mindestens zwei neue Videofilme in unseren Räumen Geldmenge, die weiterhin ins Land floss, so viel von externen Geldgeber/
gezeigt werden. Tatsächlich werden nur noch die auf Englisch geschriebe- inne/n geliehen, dass sich unsere Wirtschaft in einer extremen Notlage be-
nen und gespielten Stücke gelegentlich gezeigt, entweder von der National fand. Die nigerianische Gesellschaft bewegte sich sehr schnell von einer Pe-
Troupe oder von Amateurgruppen. Und das, obwohl die Theaterleitung in riode großen Wohlstands in eine der Depression, vom Boom durch Ölför-
ihrem Wunsch, das Wiederaufleben von Bühnenstücken zu unterstützen, derung zum Verhängnis dadurch. Grobe Misswirtschaft und Korruption,
die Räume für Theaterproduktionen kostenfrei zur Verfügung stellt. unterstützt von einer internationalen kapitalistischen Verschwörung, hatten
Neben dem National Theatre sind die einzigen anderen Orte in Lagos, die Ölerträge schnell aufgefressen, und das Land trieb in eine fürchterliche
wo ab und zu Theater gezeigt wird, der Saal der University of Lagos Law Rezession, von der es sich noch immer nicht erholt hat.
School und das teure und elitäre MUSON Centre; und auch dort werden Die zunehmende Armut war dennoch keine universelle oder gar von al-
nur Stücke nach literarischen Vorlagen gespielt. Sogar nichtprofessionelle len geteilte. Während die Mehrheit der Bevölkerung in äußerste Armut und
Theaterproduktionen sind außer in Schulen und höheren Bildungseinrich- Schmutz absank, profitierten einige wenige Privilegierte durch das systema-
tungen, wo Theaterstudien Teil des Lehrplanes sind, verschwunden. Eben- tische Plündern öffentlicher Kassen. Die Kluft zwischen den Wenigen, die
so scheint die Häufigkeit der ländlichen Festivals abzunehmen: Eine Folge nahe der Macht standen und deshalb in der Lage waren, sich durch Zugang
der massiven Landflucht, die nach dem Biafra-Bürgerkrieg einsetzte und zu unseren Ölerträgen persönlich zu bereichern, und dem Rest der Bevölke-
sich mit dem Aufblühen der Ölindustrie verstärkte. Dramatiker/innen wur- rung, der dazu keine Gelegenheit hatte und sich daher mit einem Schicksal
den, wie ihre Kolleg/inn/en auf der Bühne, zu einer gefährdeten Spezies. im Schmutz abfinden musste, vergrößerte sich.
Aber welche Umstände sind verantwortlich für diese beispiellose kultu- Nicht überraschend ist daher, dass eine der Konsequenzen dieser unglei-
relle Revolution in Nigeria und speziell unter den Yoruba? Bleibt die Büh- chen Verteilung des Reichtums die Eskalation von Gewalt und Unsicherheit
ne nun dauerhaft für Theater und Performances verschlossen? in der Gesellschaft war. Bewaffnete Überfälle zum Beispiel wurden zu ei-
Um das zu beantworten, werde ich als Yoruba Dramatiker sprechen, je- nem alltäglichen Phänomen, so dass sich weniger und weniger Leute nach
doch nur der Einfachheit halber: Was ich über das Yoruba Umfeld sagen Sonnenuntergang auf die Straße wagten. Das bedeutete, dass die Teilneh-
werde, trifft um Nuancen differenziert auch auf andere Gegenden Nigerias mer- und Zuschauerzahlen bei Veranstaltungen, die – wie Theaterauffüh-
und auch ganz Afrikas zu. rungen – spät abends stattfanden, abnahmen.
Zu diesem unglücklichen Umstand hinzu kam als Ergebnis der Wirt-
schaftskrise die Tatsache, dass sich zum einen immer weniger Leute die Ein-
4 trittskarten leisten konnten und zum anderen die Eintrittspreise angehoben
werden mussten, da wegen der herrschenden Inflation die Produktionskos-
Dieselben ökonomischen Schwierigkeiten, die ich oben beschrieben habe ten gestiegen waren.
und die zur Massenabwanderung von Intellektuellen aus unserem Land Aber das war noch nicht alles. Weitere Schwierigkeiten kamen auf das
führten, sind gleichermaßen der grundlegende Faktor, der für den kulturel- Theater und die Theatermacher/innen zu. Ein sicherer Teil des Publikums
len Umschwung verantwortlich ist. Das Theater und speziell die Wander- wurde vormals von Internaten weiterführender Schulen gestellt, die regel-

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mäßige Stationen auf der Rundreise der Wandertheater waren. Bald jedoch derst ist das die ökonomische Realisierbarkeit. Statt beispielsweise große
begannen die Internate zu einer großen finanziellen Belastung für die Schu- Truppen von Schauspieler/inne/n zusammenhalten, versorgen und unter-
len zu werden, die zunehmend schwierig zu unterhalten waren bis eins nach halten zu müssen, wie es die Aufgabe der Theaterprinzipale war, haben Vi-
dem anderen schließen musste – wiederum zum Leidwesen der Theaterlei- deoproduzent/inn/en keine solchen Pflichten. Alles was sie zu tun haben ist,
ter/innen. Schauspieler/innen vorsprechen zu lassen und an den Drehort zu rufen,
Es war die Kombination dieser und anderer Faktoren, die das Schicksal wann immer die entsprechenden Szenen, in denen sie agieren, aufgenom-
der Theatermacher/innen gravierend beeinflusste, deren Publikum fernhielt men werden sollen. Auf diese Weise können die Produktionskosten bedeu-
und daher zum allmählichen Niedergang der Bühnen führte. Man sagt tend gesenkt werden. Die vielen Beteiligten müssen nicht mehr auf anstren-
jedoch – um auf ein altes Klischee zurückzugreifen – dass die Natur das Va- gende Tourneen mitgenommen werden, womit neben dem logistischen
kuum verabscheut. Nachdem Bühnenproduktionen unprofitabel und Tour- Aufwand der Tournee und der Spielortsuche auch die Risiken der Reise so-
neen zu einem Wagnis geworden waren, war es deshalb naheliegend, dass wie Kosten für Unterbringung und Verpflegung wegfallen. Die Szenen
die Dramatiker/innen anfingen, nach Alternativlösungen zu suchen. müssen nur noch auf Video aufgezeichnet werden, während der Vertrieb
Film war dabei selbstverständlich die erste Wahl, besonders nach dem von Händler/inne/n übernommen wird.
wegweisenden Beispiel von Hubert Ogundes Erfolgen mit diesem Medi- Die Vermarktung war wegen des begrenzten Budgets der Truppen zu-
um. Aber das Filmgeschäft steckte noch in seinen Anfängen und war da- nächst noch ein Problem. Der Erfolg der frühen Experimente jedoch zog
rüber hinaus sehr teuer, weil die gesamte benötigte Ausrüstung importiert finanzkräftige Kaufleute – vor allem Igbo – an, Händler/innen, die in diese
und die Nachbearbeitung außerhalb des Landes durchgeführt werden muss- Filme investieren wollten und Tausende von Kopien finanzierten. Entschei-
te. Beides zusammen machte den Film zu einem kostenintensiven Unter- dend war aber auch die Tatsache, dass sich kürzlich eine Reihe herausragen-
nehmen, das die Finanzierungsmöglichkeiten der Theatergruppen über- der Filmemacher/innen dem Videogeschäft anschlossen und ihm dadurch
stieg. Legitimität verliehen, dass sie Qualität und Standard verbesserten. Seit sich
Eine Zeit lang benutzten einige Produzent/inn/en daher in ihrer Ver- Leute wie Tunde Kelani mit der digitalen Kinematographie beschäftigen,
zweiflung Umkehrfilme, die billiger waren. Das Problem hierbei war je- hat diese stark an Ansehen gewonnen. Seine Zusammenarbeit mit talentier-
doch, dass die filmischen Ergebnisse von schlechter Qualität waren und das ten Autoren wie Adebayo Faleti und besonders Akinwunmi Isola war ein
Material nicht lange hielt. geschickter Zug, der schnell alle Voreingenommenheit zugunsten der be-
Dann kam glücklicherweise die Videotechnik zu Hilfe. ständigeren 35 Millimeter Zelluloidfilme tilgte.
Für das Publikum bedeutet der Videofilm natürlich eine kostengünsti-
ge und bequeme Art der Unterhaltung. Eine ganze Familie kann nun jeder-
5 zeit mit Nachbar/inne/n und Freund/inn/en vor einem einfachen Fernseher
zusammenkommen und einen Film anschauen oder wiederholt anschauen,
1984 von dem in Deutschland ausgebildeten Filmproduzenten und Schau- während sie vorher, um ein Theaterstück zu sehen, einzeln Eintrittskarten
spieler Alade Aromire eingeführt, war die Entdeckung der Videotechnik als erwerben, zum Veranstaltungsort hinfahren und die mit dem nächtlichen
billiges und erschwingliches Medium Filme zu machen, ein Segen für die Ausgehen verbundenen Risiken in Kauf nehmen mussten.
Theaterkünstler/innen. Spätestens nachdem einer der ersten Videofilme mit Das Home Video-Phänomen hat in diesem Sinn eine bedeutende Trans-
dem Titel Living in Bondage ein Verkaufsschlager wurde, verließen prak- formation der gesamten Theater- und Unterhaltungsbranche gebracht. Trotz
tisch alle Theatergruppen die Bühne und beeilten sich, mit der neuen Tech- des nicht seltenen Vorkommens von Raubkopien ist die Videoproduktion
nik vertraut zu werden. zu einem sehr lukrativen und gewinnträchtigen Unternehmen für Schau-
In der Videoarbeit entdeckten sie zahlreiche Vorteile. Zuerst und zuvor- spieler/innen und Produzent/inn/en geworden. Aus diesem Grund steigt

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heute die Anzahl der produzierten Videofilme, während das Theaterschaf- Tourneen eingestellt haben, werden weiterhin Inszenierungen englisch-
fen fast komplett zum Erliegen gekommen ist. sprachiger Stücke aufgeführt, wenn auch nicht mit derselben Häufigkeit
Wie aber sehe ich als Dramatiker, dessen Karriere hauptsächlich durch wie vorher.
die Bühne begründet wurde, diese Situation? Bin ich verzweifelt angesichts Zweitens und noch wichtiger ist die Tatsache, dass Theaterstudien nicht
des dramatischen Abnehmens der Theaterproduktion, das mein Talent aus den Lehrplänen der Schulen und Universitäten gestrichen wurden. Das
überflüssig macht? Werde ich die Bühne verlassen, so wie unser Gegen- bedeutet, dass der jüngeren Generation auch künftig Wissen und Informa-
stück, das Yoruba Theater, es getan hat, und dazu übergehen, für die Vide- tionen über dieses Gebiet vermittelt und sie handwerklich ausgebildet wer-
oproduktion zu schreiben? den.
Ich werde im Folgenden versuchen, einige Antworten darauf zu finden. Schüler/innen und Student/inn/en werden weiterhin nicht nur mit dra-
matischen Texten konfrontiert, sondern lernen in eigenen Produktionen
auch die praktischen Techniken des Stückeschreibens, Schauspielens und
6 Regieführens, Kostüm- und Bühnenbild, Licht, Theaterleitung, Geschäfts-
führung usw. Das ist relevant, da es sicherstellt, dass weiterhin ein entwick-
Meine Antworten auf die obigen Fragen sind in der Tat ziemlich simpel. Be- lungsfähiger Markt für Theater besteht: Sowohl durch das Heranbilden
stimmt werde ich in nächster Zeit auch einmal ein Drehbuch für einen Vi- eines interessierten Publikums als auch, indem ein Pool ausgebildeter Fach-
deofilm schreiben und mich an seiner Produktion beteiligen. (Eigentlich kräfte geschaffen wird, die fähig und engagiert die Arbeit aufnehmen kön-
habe ich bereits an solch einer Produktion teilgenommen, als von meinem nen, sobald sich die Möglichkeit ergibt.
Stück A Restless Run of Locusts eine filmische Bearbeitung entstand, die von Außerdem ist festzustellen, dass der Einsatz von Theater zu einem wich-
zwei meiner ehemaligen Student/innen unter dem Titel Ewe Oju Omi um- tigen Element der missionarischen Bestrebungen von Nichtregierungsor-
gesetzt wurde.) Ich bin immer noch der Überzeugung, dass alle Kunstfor- ganisationen (NGOs) sowie der erstarkenden christlichen Bewegung der
men, die der Mehrheit unseres Volkes zugänglich sind und gefallen, von den Pfingstgemeinden geworden ist. Beides sind Bereiche, in denen das Publi-
Dramatiker/inne/n, die wie ich mit diesem Volk kommunizieren wollen, kum sowohl sehr breit als auch leidenschaftlich ist. Die NGOs erlangten in
auch genutzt werden sollten. Genauso wie ich deshalb im Journalismus tätig den späten achtziger Jahren Bedeutung, als internationale Hilfsorganisatio-
war und die Techniken des Theatre for Development (TFD) benutzt habe, nen von der Zusammenarbeit mit offiziellen Regierungsinstitutionen in
werde ich auch das Medium Video einsetzen, um die Menschen zu errei- Afrika frustriert waren und auf Nichtregierungsorganisationen auswichen.
chen. Finanziert von einigen internationalen Organisationen wie etwa UNICEF
Was ich daher sagen will, ist, dass die Situation mich weder ängstigt oder der MacArthur-Stiftung existieren daher heute hunderte von NGOs,
noch mit Verzweiflung erfüllt. Trotz des immensen Erfolgs der Videofilme die in dem einem oder anderen der zahlreichen Hilfsprojekte engagiert sind,
bin ich überzeugt, dass ihr Triumph über das Theater – wie damals der des vom Kampf gegen Polio oder AIDS bis hin zur Demokratieerziehung. Für
Kinos und des Fernsehens bei ihrem ersten Erscheinen – nur von temporä- uns Theaterkünstler/innen ist es eine glückliche Entwicklung, dass prak-
rer Natur sein wird. Trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit der momenta- tisch alle NGOs dabei die Ansicht vertreten, dass Theater eine der effektiv-
nen Situation wird das Theater in naher Zukunft eine aktive Wiedergeburt sten Methoden der Informationsvermittlung ist, und zwar besonders in der
erleben. Sein scheinbarer Tod ist eigentlich nur eine vorübergehende Inku- Arbeit mit Analphabet/inn/en. Die NGOs sind daher Träger der meisten
bationszeit. laufenden TFD-Programme.
Ich habe meine Gründe für diese Annahme. Zunächst: Das Theater- Dasselbe Bild zeigt sich bei den Kirchen, wo das Abspalten und Heraus-
schaffen ist ja nicht tatsächlich im ganzen Land komplett zum Erliegen ge- wachsen der Pfingstgemeinden aus den orthodoxen Institutionen ein ähn-
kommen. Obwohl die Yoruba Wandertheater die Bühnen verlassen und die liches Phänomen bildet wie die massive Zunahme der Videofilme im kultu-

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rellen Bereich. Auch diese neuen Priester/innen und ihre Anhänger/innen einfach passiv dasitzen und ruhig dem Verlauf des Theaterstücks bis zur Lö-
sehen im Theater ein wertvolles Medium für den Gottesdienst und die Mis- sung folgen, bevor sie es entweder beklatschen oder verwerfen, beziehen
sion. Theateraufführungen sind in diesen Kirchen daher sehr häufig. Ob- Aufführungen in Afrika alle auf und vor der Bühne Anwesenden vom Be-
wohl das Ziel dabei weniger die Unterhaltung als vielmehr die Bekehrung ginn bis zum Ende mit ein. Der im Westen klar definierte und eingehalte-
ist, bietet sich hier dennoch ein Arbeitsfeld für unsere Student/inn/en, und ne Abstand zwischen Zuschauer/inne/n und Darsteller/inne/n ist bei uns
es hilft, Theater als Medium in der Gemeinschaft zu erhalten. nicht heilig, sondern wird eher als angreifbare Konvention gesehen, die will-
Abgesehen von dieser praktischen wenn auch nebensächlichen Aufgabe, kürlich und fortwährend durchbrochen werden kann. Unser Publikum ist
die Bedürfnisse der NGOs und fundamentalen Kirchen zu bedienen, liegt wie eine Menge lebender Elektronen, die immer wach sind und reagieren,
der eigentliche Grund für meinen Optimismus bezüglich der Zukunft des sich einmischen, zurückrufen, wenn sie wollen, den Darstellern und Dar-
Theaters aber woanders. Er liegt in etwas, das man als tiefe und psycholo- stellerinnen Ratschläge erteilen, wenn ihnen danach ist, oder die ihnen ei-
gisch begründete Nostalgie der Gemeinschaften bezeichnen kann. Überall nen Hagel an Beschimpfungen entgegenschleudern, wenn ihnen das Ge-
wohin man geht, hört man die Klagen über das Fehlen von etwas, einen zeigte missfällt. Besonders beim populären Theater bestimmt die Reaktion
Mangel, der mit den ontologischen Bedürfnissen der Menschen zu tun hat, des Publikums manchmal sogar die Länge und den Ausgang einer Szene.
welche bisher vom Theater ausgefüllt wurden. Ich spreche hier von einer Diese Lebendigkeit des Theaterpublikums ist ein Katalysator für den
schwer zu beschreibenden Sehnsucht nach dem kathartischen Erlebnis von Genius der Schauspieler/innen; sie löst und vergrößert den Horizont der
Live-Aufführungen, dieser ansteckenden und reinigenden Begeisterung der darstellerischen Freiheit. Da die Beteiligung des Publikums von Darsteller/
Menge, die kollektiv erzeugt und geteilt wird. inne/n und Regisseur/inn/en üblicherweise im Voraus berücksichtigt ist,
Etwas Ähnliches ereignet sich in den Pfingstgemeinden, aber es ist nicht wird den Schauspielern und Schauspielerinnen ein entsprechender Raum
ganz dasselbe, nicht ganz so pur und unverbindlich. Ich habe keine Statis- für Improvisation gegeben, in dem sie ihren Fähigkeiten und ihrem Ein-
tiken als Beweise, aber ich kann anhand der fast täglich von allen möglichen fallsreichtum im Rahmen des abgesprochenen Handlungsgerüsts freien
Seiten an mich gerichteten Fragen sagen, dass die Öffentlichkeit und die Lauf lassen können. Auch wenn eine schriftliche Textvorlage existiert, wie
darstellenden Künstler/innen in diesem Empfinden eines Mangels überein- bei den eher formellen Stücken des literarischen Theaters, wissen die besten
stimmen, in dem Verlangen, sich wieder von Angesicht zu Angesicht und Dramatiker/innen und Regisseure/Regisseurinnen, dass sie den Text nie als
Körper an Körper im Zuschauerraum zu begegnen. Trotz der immensen geschlossene Form sehen dürfen, sondern immer Raum lassen müssen für
Einkünfte zum Beispiel, die sie durch Auftritte in Videofilmen erhalten, und die reizvollen und unvorhersehbaren Elemente der Improvisation: Die zu-
trotz des nicht zu vergleichenden Ruhmes, den sie damit ernten, beschwe- sätzliche Lust an Gesten, Geräuschen und Bewegung, die nicht im Vorfeld
ren sich die Schauspieler/innen bei mir – und ich rede hier von den erfolg- geprobt wurden, sondern aus den aufregenden Zufällen der Reaktion der
reichsten unter ihnen – über die fehlende Erfüllung als Schauspieler/innen. Darsteller/innen auf die körperliche Präsenz der anderen Darsteller/innen
Sie sehnen sich nach einer Rückkehr auf die Bühne und arbeiten dort auch und des ruhelosen Publikums entstehen. Deshalb ist, in Afrika wahrschein-
ab und zu, obwohl die Entlohnung nicht der Rede wert ist. Die Videoarbeit lich stärker als sonstwo in der Welt, keine einzelne Aufführung wie die an-
ist für die meisten von ihnen ein notwendiges Übel, das sie tun müssen, um dere, auch nicht am selben Tag und am selben Veranstaltungsort, und des-
sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wirkliche Freude an ihrem Beruf halb bietet jede Produktion eine neuartige Erfahrung, eine unterschiedliche
haben sie, wenn sie live vor einem Publikum spielen. Art von Selbsterneuerung.
Das mag vielleicht schwer zu verstehen sein für jemanden, der noch kei- Es ist dieses Gefühl des gemeinschaftlichen Erlebens, diese quasi-religi-
ne Live-Theateraufführung in Afrika miterlebt hat, weder als Darsteller öse Erfahrung einer Selbsterneuerung in der spontanen und befreienden
oder Darstellerin, noch als Teil des Publikums. Es ist eine nicht einfach zu Verbindung mit verwandten Geistern, die – wenn auch kurz – das Theater
beschreibende Erfahrung. Anders als im Westen, wo die Zuschauer/innen einzigartig anderen Unterhaltungsmedien überlegen macht. Kein Film –

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egal in welchem Format, ob Video oder Zelluloid – kein Roman oder Ge- es den Videoschauspielern und Videoschauspielerinnen mangelt, war das
dicht kann dieselbe Tiefe kollektiver Erfrischung erreichen. herzliche Arbeitsklima und die menschliche Atmosphäre.
Das Gefühl eines Verlusts der Gemeinschaft und des Kontakts nicht nur Ich glaube, dass dieser Verlust nur temporär ist, dass der Druck auf
mit dem Publikum, sondern auch untereinander, verfolgt die Videoschau- Schauspieler/innen sowie das Publikum, den ich oben beschrieben habe, so
spieler/innen. Sie müssen sich nicht mal treffen, sondern können zu ver- stark sein wird, dass sie das Theater aus seinem gegenwärtigen Dämmerzu-
schiedenen Gelegenheiten an den Drehort gerufen werden und haben kei- stand wecken werden.
ne Kontrolle über das Endprodukt. Sie müssen akzeptieren, was Produzent/
in und Regisseur oder Regisseurin entscheiden. Anders als Theater ist Film Aus dem Englischen übersetzt von Jule Koch
die Arbeit von Einzelgängern und Einzelgängerinnen. Vor dem Auge der
Kamera ist jede Schauspielerin und jeder Schauspieler allein. Sie müssen
aber nicht wirklich alles geben, da jede Aufnahme wiederholt werden kann
und das auch oft wird. Video macht Schauspieler/innen zu Waisen.
Im Gegensatz dazu ist Theaterarbeit wie eine Arbeit mit der ganzen Fa-
milie: Während der Probenwochen wird das Theater zu einem großen fami-
liären Netz, so wie wir es aus tradierten Lebenszusammenhängen kennen,
wo Ehepaare, Kinder und Eltern, Cousinen, Cousins, Geschwister und an-
dere Verwandte zusammen mit Freunden und Freundinnen als Gemein-
schaft zusammenleben.
Wenn man sich die Struktur der Wandertheatergruppen ansieht, be-
merkt man, dass dieses Konzept von Theater als Verwandtschaftsgeflecht
zentrales Moment ihrer Organisation und ihres beruflichen Erfolges war.
Schauspieler/innen lebten wie eine Familie um die Figur eines ‚Familien-
vaters‘, eher wie Mitglieder einer Kooperative denn wie Einzeldarsteller/in-
nen. Sie verdienten ihren Unterhalt häufiger gemeinsam als allein. Textbü-
cher waren das Ergebnis kollektiver Zusammenarbeit und der behandelte
Stoff war zum Großteil dem gemeinsamen Schatz der Oralliteratur und der
Mythologie entnommen und wurde entsprechend den lokalen Erfordernis-
sen zusammengesetzt.
Sogar die englischsprachigen Truppen, die im Wesentlichen nach der im
Westen üblichen Praxis aufgebaut waren und daher vom Konzept her indi-
vidualistischer sind, behielten dennoch Aspekte der Verwandtschaftsstruk-
tur in ihrer Organisationsweise bei. Alle beteiligten Schauspieler/innen
würden sagen, dass diese gemeinschaftliche Atmosphäre, dieses Familien-
gefühl um eine Vaterfigur herum auch in den Truppen von Wole Soyinka
oder Ola Rotimi oder Chuck Mike zu spüren war. Natürlich ist nicht zu be-
streiten, dass mit dieser Organisationsstruktur von Gruppen auch eine Rei-
he von Nachteilen verbunden war, aber der große Vorteil dabei, an dem

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Lewis Nkosi folgende Beitrag über die Universitäten in Afrika zeugt von Nkosis be-
Die Geburt der afrikanischen Universität stechender Fähigkeit, die historische Komplexität politischer Prozesse
mit analytischer Schärfe und beißendem Humor zu ergründen und
für seine Leser und Leserinnen zu veranschaulichen.
Lewis Nkosi, der 1936 im südafrikanischen Durban geboren wurde, Katharina Schramm
zählt zu den bekanntesten afrikanischen Autoren der Gegenwart.
Seit über vierzig Jahren mischt er seine Stimme in den politischen Die Geburt und die Funktion der afrikanischen Universität, ihre Erfolge
Diskurs, sei es als Verfasser literaturwissenschaftlicher Essays oder und Fehlschläge und all das, was sonst über sie zu sagen wäre, sind ein we-
als Journalist, Schriftsteller und Dramatiker. Seine gesellschafts- sentlicher Bestandteil dessen, was in unserer trendbewussten Zeit ‚Diskurs
kritische Position – sowohl gegenüber dem offen diskriminierenden des Kolonialismus‘ genannt wird. Die Herausbildung eines Westlichen Bil-
Apartheid-System als auch dem subtiler wirkenden kolonialen Erbe dungssystems und der Universität als seiner höchsten Form zieht sich wie
in formal unabhängigen afrikanischen Staaten – brachte ihn dabei ein roter Faden durch die Geschichte des Westlichen Kolonialismus in
schon früh in Konflikt mit dem südafrikanischen Machtapparat. Als Asien, Afrika und den ozeanischen Inseln. Als „heimtückischstes und in ei-
Journalist und Mitbegründer der Zeitschrift DRUM war Nkosi in den niger Hinsicht kryptischstes koloniales Überbleibsel“1 – so beschreiben die
1950er Jahren Teil einer vibrierenden und selbstbewussten Schwarzen Herausgeber/innen des Postcolonial Studies Reader das Bildungssystem in
urbanen Kultur, die sich nicht in den Wertekanon der Apartheid pres- den Kolonien. In ihrem Buch bezeichnen Bill Ashcroft, Gareth Griffiths
sen ließ. Als er 1961 ein Stipendium der Universität Harvard erhielt, und Helen Tiffin das koloniale Bildungssystem – sei es das staatliche oder
verweigerte ihm das südafrikanische Regime die Rückkehr in seine das der christlichen Missionare und Missionarinnen, auf Grund- oder Real-
Heimat. schul- (und später universitärem Niveau), als „gewaltige Kanone in der
Es folgten Jahre des Exils in den USA, in Großbritannien und in Artillerie des Imperiums“, aber sie betonen auch in Anlehnung an Anto-
Sambia, von wo aus er stets regen Anteil an den Geschehnissen in nio Gramsci, dass Bildung, im Gegensatz zu offener territorialer Aggres-
seinem Heimatland nahm, dessen politischen Transformations- sion, „Herrschaft durch Konsens herstellt“. „Diese Herrschaft durch Kon-
prozess er durch seine eigene Arbeit maßgeblich mitbeeinflusste. sens wird dadurch erreicht, was den Kolonisierten gelehrt wird, wie es
Aus seinen zahlreichen Publikationen, darunter die Aufsatzsamm- gelehrt wird und schließlich durch die Verortung des gebildeten Subjektes
lungen Home and Exile (1965) und Tasks and Masks (1981) ist vielleicht innerhalb des fortbestehenden kolonialen Apparates.“2
ein Roman ganz besonders hervorzuheben: Mating Birds, geschrieben Nicht nur in Bezug auf die in ihr vermittelten Inhalte, etablierten Lehr-
1983, ist die Geschichte einer Vergewaltigungsanklage, eine Allegorie pläne und festgeschriebenen Texte, sondern auch in Gestalt ihrer sozialen
auf das Herrschaftssystem der Apartheid und dessen brutale Unter- Organisation und Unterrichtspraxis, verrät die afrikanische Universität auf
drückung menschlichen Miteinanders. Übersetzt in zehn Sprachen, fundamentale Weise ihre verdorbene und korrupte Herkunft als unbarm-
wurde das Buch 1987 mit dem Macmillan Silver Pen Price ausgezeich- herziges Bordell des europäischen Kolonialismus. Um die Metapher des ko-
net. lonialen Bordells noch etwas weiter zu treiben – auch ihre Insassen leiden an
In seinen Werken wirft Nkosi einen skeptischen und lakonischen verschiedensten Krankheiten, die einem verwirrenden Komplex vermischter
Blick auf das postkoloniale Afrika. Was ist aus den Utopien der Un- Identitäten entspringen. So sehen es zumindest viele Kritikerinnen und Kri-
abhängigkeitszeit und des Anti-Apartheid-Kampfes geworden? Prä- tiker der höheren Bildung in Afrika und den – global gesehen – ökonomisch
zise zeigt er die Verquickung afrikanischer Eliten in das Westlich ge- unterprivilegierten Ländern im Allgemeinen. Ob wir es wollen oder nicht,
prägte koloniale Wertesystem auf und unverhohlen prangert er die diejenigen von uns, die das Produkt dieser erzwungenen Vereinigung zwi-
daraus resultierenden gesellschaftlichen Missstände an. Auch der schen Kolonisierenden und Kolonisierten sind, sind ‚Bastard-Kinder‘ einer

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unzulässigen Begegnung, die manchmal extrem gewalttätig und zerstöre- Aus den vorhandenen Beweisen zieht Marah den Schluss, dass die Verwick-
risch war, aber manchmal wiederum erstaunlich kongenial und sogar will- lung der Kolonialregierung in das afrikanische Bildungssystem unabding-
kommen. Schließlich schuldet der nationalistische Diskurs einen Teil seiner bar für den kolonialen Anspruch war, Afrika sowohl ideologisch, politisch,
Rhetorik, manche seiner Themen, ja sogar manche seiner Metaphern, einer religiös und ökonomisch als auch psychologisch zu beherrschen.
Bildung, die versuchte, aus Afrikanern und Afrikanerinnen unvollkomme- Will man die Geschichte der Universität in Afrika nachzeichnen, dann
ne Franzosen oder Engländerinnen zu machen. ist es zunächst erforderlich, diese moderne Institution im Kontext des histo-
Aus welcher Perspektive heraus man die Geschichte der kolonialen Bil- rischen Rahmens der allgemeinen Bildungsgeschichte Afrikas zu verorten,
dung im Allgemeinen und im Hinblick auf die Universität im Speziellen – von ihren antiken Wurzeln über die Epochen des Kolonialismus bis hin zum
und zwar ihre tatsächliche ‚histoire‘ und nicht nur die bloße Wiedergabe der (post-)unabhängigen Staat. Ein solches Unterfangen erfordert zumindest
Fakten – auch immer betrachtet, so kann sie nicht einfach als eine Ge- die Skizzierung des kulturellen und politischen Hintergrundes, aus dem die
schichte des Fortschritts von der Dunkelheit hin zum Licht, als eine Bewe- afrikanische Universität hervorging. Wenn, wie Kwame Anthony Appiah
gung von erniedrigender Blindheit hin zur strahlenden Klarheit oder von argumentiert, die postkolonialen Intellektuellen in Afrika von einer Institu-
passivem Schweigen hin zu lebhafter Sprache interpretiert werden. Ebenso tion – eben der afrikanischen Universität – abhängen, „deren intellektuelles
ist sie völlig unbestreitbar die Geschichte einer fremden Implantation West- Leben überwiegend vom Westen geprägt ist“,3 dann muss man das koloni-
licher Klassifikationsnormen und politischer Kontrollmechanismen auf ale Archiv aufsuchen, um diesen Westlichen Einfluss nachzeichnen zu kön-
afrikanischem Boden, deren Erfolg zu einem großen Teil von der Verheim- nen. Man muss die historischen Aufzeichnungen bemühen, die Seiten der
lichung ihrer wahren Ziele abhing, die vorrangig politischer und ökonomi- Reisetagebücher umblättern und sich in die Briefe und Autobiografien der
scher Natur waren. Schließlich würden wohl die meisten Historikerinnen Missionare und Missionarinnen vertiefen; und wenn man all dies getan
und Historiker des afrikanischen Bildungssystems mit den Schlussfolgerun- hat, dann erhält man ein Bild von der afrikanischen Universität, so wie sie
gen John Karesh Marahs übereinstimmen, die er in seiner 1989 veröffent- sich von der Kolonialzeit bis in das heutige Afrika nach der Unabhängigkeit
lichten Studie Pan-African Education zog. Dort sagt er, dass sowohl die Ko- hinein entwickelt hat.
lonisierenden als auch Missionare und Missionarinnen das Bildungssystem Zwanzig Jahre lang habe ich an Universitäten in Afrika, Nordamerika
in Afrika aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont heraus schufen, dass sie da- und Europa, einschließlich Polen zur Zeit des Kommunismus, unterrich-
bei die Meinung der Afrikanerinnen und Afrikaner bewusst nicht einbezo- tet. Aber neben meinen eigenen Erfahrungen greife ich in diesem Beitrag
gen haben und zudem den Weißen Mythos von Europas kultureller Über- auch auf die Schriften sowohl Westlicher als auch afrikanischer Sozial-
legenheit auch dahingehend interpretierten, dass Europa den Afrikanern wissenschaftler und Historikerinnen zurück. Ich bin jedoch auch Literatur-
und Afrikanerinnen auch die Art von Bildung vorschreiben könnte, die ih- wissenschaftler und -kritiker, und als solcher beziehe ich mich auch auf die
nen ‚zustünde‘. Später werde ich, auf der Basis dessen, was der nigerianische kreativen Rekonstruktionen der Vergangenheit durch afrikanische Drama-
Schriftsteller Chinua Achebe die Westliche ‚Ignoranz‘ nannte, einige der tikerinnen, Romanciers und Dichter, die neuen Griots afrikanischer Gesell-
merkwürdigen Westlichen Fehleinschätzungen über Afrika und die Afrika- schaften. Wie wir alle wissen, ist das koloniale Archiv mit Kommentaren,
ner untersuchen. Ironischerweise war es gerade diese ‚Ignoranz‘, die in eine Dokumenten, Doktrinen und Maximen durchsetzt, deren entscheidender
Art ‚Wissen‘ transformiert wurde, das dabei half, Westliche Einstellungen Effekt, wenn nicht sogar deren Bestimmung es war, afrikanische Identität,
über Generationen hinweg zu prägen. Europäische Kolonialmächte benö- afrikanische Sitten und soziale Praktiken zugunsten europäischer ‚Wahr-
tigten ausgebildete Arbeitskräfte, die als Hauptproduzenten für die Metro- heits‘-Regime und kultureller Normen zu zerstören. Der Prozess, innerhalb
polen tätig werden konnten; die Missionare brauchten christianisierte Afri- dessen ‚die Kultur der ländlichen und bäuerlichen Welt‘ durch die vereinten
kaner und Afrikanerinnen, die als Lehrerinnen und Katechisten ihren Kräfte der christlichen Religion und der Westlichen Kolonialmacht zerstört
afrikanischen Mitmenschen die Westlichen Religionen vermitteln sollten. wurde, ist Gegenstand zahlreicher historischer Darstellungen, Ethnografien

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und Forschungsberichte der europäischen Kolonisation; aber in vielen der seine Altersgruppe integriert und ihm wurden seine, oft geschlechtsspezi-
ersten afrikanischen Romane, die während und nach dem Unabhängig- fisch determinierten, gesellschaftlichen Rollen vermittelt.
keitskampf entstanden, Chinua Achebes berühmte Romane Things Fall L’enfant noir, Camara Layes klassischer Roman der Herzensbildung, er-
Apart und Arrow of God, Cheikh Hamidou Kanes L’aventure ambiguë, Ngu- öffnet uns einige der ergreifendsten Einblicke in diese paradiesische Welt
gi wa Thiong’os The River Between und A Grain of Wheat, aber auch in der ‚traditionellen Erziehung‘ des afrikanischen Kindes; aber sogar in der
wunderbaren Satiren der ersten Generation kamerunischer Schriftsteller, Zeit, in der dieser Roman spielt, wird diese Welt bereits von den eindrin-
wird diesem Prozess genauere Gestalt und Ausdruck verliehen – zuweilen genden Westlichen Mächten unterminiert:
wütend und zuweilen komisch. Dazu zählen etwa Mongo Betis Mission
terminée und Le pauvre Christ de Bomba oder Ferdinand Oyonos Une vie de Die Lehren die wir außerhalb des Dorfes, abgeschieden von allen neu-
boy und Le vieux nègre et la médaille, um nur zwei exemplarische Autoren zu gierigen Augen, erhielten, hatten nichts Mysteriöses an sich; ich denke,
nichts davon war nicht tatsächlich für unsere eigenen Ohren bestimmt.
nennen.
Diese Lektionen, die gleichen, die alle vor uns Kommenden bereits er-
halten hatten, waren darauf beschränkt, korrektes männliches Verhalten
zu umschreiben: wir sollten geradlinig sein, sollten all jene Tugenden
Wie fing es an? Wie wurde es verwirklicht?
kultivieren, die einen ehrlichen Mann ausmachen, sollten unsere Pflich-
ten gegenüber Gott, gegenüber unseren Eltern, den uns Höherstehen-
Wenn, wie Kritikerinnen und Kritiker des Kolonialismus argumentieren, den und unseren Nachbarn erfüllen.4
das Westliche Bildungssystem und insbesondere die Universität tatsächlich
eine „gewaltige Kanone in der Artillerie des Imperiums“ darstellte; wenn, Layes Roman gibt uns eine Sicht auf ein moralisches Universum, das
wie sie behaupten, diese Bildung sich von „direkter territorialer Aggression“ manchmal zu rein und unschuldig erscheint, um uneingeschränkt glaub-
nur dadurch unterschied, dass sie ein System der „Herrschaft durch Kon- würdig zu sein, während er zugleich die Tatsache unterstreicht, dass die eu-
sens“ herbeiführte – sollte man dann nicht die Frage stellen, warum eigent- rozentristische Sicht eines ‚primitiven‘ Afrikas, gesetzlos und ohne dauer-
lich diese ‚primitiven‘ Gesellschaften eine solch einfache Beute für die Über- hafte Familienstrukturen oder soziale Organisation, falsch war und nur der
nahme durch außenstehende Kolonialmächte waren? „Was auch immer Rechtfertigung der sogenannten ‚Zivilisierungsmission‘ diente. Edmund
passiert – wir haben das Maxim-Gewehr, und die haben’s nicht.“ So schrieb Leach betonte, dass die Europäerinnen und Europäer den Prozess der Kolo-
der französisch-englische Dichter Hilaire Belloc, aber Gewehre allein hätten nisierung mit der Betonung des ‚Andersseins‘ der Kolonisierten einleiteten,
nicht zum Ziel geführt. Warum konnten Westliche Werte und intellektuelle nur um sie später als unzulänglich und minderwertig anzusehen. Als Sozial-
Normen einen solchen Einfluss auf afrikanische Gesellschaften bekommen, anthropologe und früher britischer Schüler von Levi-Strauss repräsentiert
während sie doch bis heute in islamischen Gesellschaften auf so starken Wi- Leach eine europäische Geistesschule, die noch stärker in einem von Levi-
derstand treffen? Schließlich wissen wir, dass afrikanische Dorfgemein- Strauss’ bekanntesten Werken La Pensée sauvage entwickelt wird. Hier inter-
schaften ihre eigenen Bildungsinstitutionen für Heranwachsende hatten – pretiert der Ethnologe Verwandtschaftsbeziehungen und soziale Tabus in
von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenleben – durch die diese zu voll- den sogenannten ‚primitiven‘ Gesellschaften als konstitutiv für eine Art
wertigen Gesellschaftsmitgliedern wurden. Sprache, deren Struktur sich im Grunde nicht von europäischen Denkproz-
John Karesh Marah, Charles Boateng, Jim Ocitti, Ali Mazrui und an- essen unterscheidet. Wie schon in Bezug auf Marah gesagt wurde – um für
dere afrikanische Wissenschaftler haben das Wesen traditioneller afrikani- einen Augenblick die Frage der Technologie außer Acht zu lassen, die in ih-
scher Bildung auf vielfältige Weise veranschaulicht. So legt Marah dar, dass rer Anwendung und Wirkweise universal ist – hat jede Gesellschaft eigene
Bildung und Erziehung in afrikanischen Gesellschaften bei der Geburt be- Methoden, um jene Konzepte, die als fundamental für ihre Humanität gel-
gann und bis ins Erwachsenenalter anhielt. Durch sie wurde ein Kind in ten, an die kommende Generation weiterzuleiten: diese wären z. B. das

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Konzept von Gut und Böse, von Schönheit und Gerechtigkeit, vom Leben auch die Geburt der afrikanischen Universität die Geschichte einer Institu-
und seiner Bedeutung. tion, die ihre Legitimität nicht wie Jesus Christus aus der Unbefleckten
Der in Oxford ausgebildete ghanaische Philosoph Kwame Anthony Ap- Empfängnis bezieht, sondern als Teil einer gewaltvollen Geschichte der Er-
piah argumentiert zu Recht: oberung und Fremdbestimmung, in der Ideen die Funktion erfüllen, die
unverzichtbar für bestimmte Formen der sozialen Organisation und Kon-
Kein menschliches Wesen könnte über das Handeln nachdenken, ohne trolle sind. So ist es unvermeidlich, dass die afrikanische Universität auch
dabei ein Konzept zu haben, das unserem Konzept von Kausalität gleicht; den tödlichen Kampf zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ repräsentiert,
oder ohne ein solches Konzept darüber nachdenken, warum Dinge in
zwischen Volksweisheit, die auf vielen Jahrhunderten afrikanischer Gebräu-
der Welt geschehen … Und selbst wenn es eine menschliche Kultur
che und deren Reflexion basiert, auf der einen Seite und Westlichen An-
gäbe, in der kein derartiges Konzept existieren würde, kann man sich
sprüchen objektiver wissenschaftlicher Wahrheit und kritischem Intellekt
schwerlich eine Kultur vorstellen, die nicht wenigstens irgendeiner Art
auf der anderen; es ist, um es milde auszudrücken, ein Kampf zwischen ei-
von fundamentalen Organisationsprinzipien folgen würde.5
ner christlichen Weltanschauung und afrikanischen religiösen Systemen. Es
handelt sich um eine alte Geschichte: Wie von Beginn an die afrikanischen
Es gibt viele Möglichkeiten, die massenhafte Zerstörung einheimischer
Bräuche und Religionen als unverständlich, als bloßer ‚Aberglaube‘ oder
Kulturen, oder, wie sie manchmal genannt wurde, das „Zerbrechen der
Schlimmeres verunglimpft wurden. Technologie und ihr modernisierender
Speere“ durch die Kolonialadministratoren zu repräsentieren. In Mongo
Impuls könnten als entscheidender Faktor für diese Opposition gelten. Der
Betis Le pauvre Christ de Bomba ist Pater Drumont, ein römisch-katholi-
Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, und die neuen Wege inner-
scher Priester, derartig empört über eine Szene, in der im Dorf gesungen
halb einer afrikanischen islamischen Gemeinde, bilden die Grundlage für
und getrommelt wird, obwohl diese Praktiken bereits durch die Kirche un-
Cheikh Hamidou Kanes klassischen Roman L’aventure ambiguë; in dem
tersagt waren, dass er sich ohne zu zaudern
bereits erwähnten Roman Mongo Betis sagt einer der Charaktere dem ‚gu-
ten Pater Drumont‘:
auf die Xylophone [stürzte], die etwas abseits standen; er machte Klein-
holz aus ihnen. Dann griff er sich die Trommeln, aber sie sind schwieri- Ich will dir sagen, wie es sich wirklich verhält, Vater. Nämlich so: Die
ger klein zu kriegen. [Er] packte eine Trommel mit beiden Armen, hob ersten von uns, die zur Religion übergelaufen sind, zu deiner Religion,
sie hoch und schmetterte sie mit einem schrecklichen Schrei auf die kamen wie zu einer … Offenbarung, ja zu einer Offenbarung, wie in
Erde…Ein Mann wandte sich an den Ehrwürdigen Vater: ‚Pater, ich bin eine Schule, wo sie euer Geheimnis offenbart bekämen, das Geheimnis
kein Christ; ich bin nie getauft worden, und ich glaube, dass ich auch eurer Macht, die Macht eurer Flugzeuge, eurer Eisenbahnen, was weiß
nicht mehr getauft werde; dennoch glaube ich, dass es Gott gibt. Ich ich … so was wie eure verborgensten Geheimnisse! Statt dessen habt ihr
habe nur noch eine Frage: Mal angenommen, heute Abend hätten an angefangen, von Gott zu sprechen, von der Seele, vom ewigen Leben
unserer Stelle Weiße getanzt; mal weiter angenommen, du wärst in die und so fort. Hattet ihr tatsächlich die Vorstellung, dass sie das nicht schon
Nähe eines weißen Festes gekommen, wärst du dann auch hingegangen alles seit langem wussten, lange vor eurer Ankunft?7
und hättest denen die Trommeln und Gitarren kurz und klein geschla-
gen? Antworte mir ganz ehrlich, Pater.‘6 Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum afrikanische Gesellschaften so
anfällig für die Westliche Übernahme waren, wäre der Verweis auf ihre in-
Die Kirche in den Kolonien, sagte Fanon, ist die Kirche der Weißen, die ternen Schwächen. Sowohl von Kritikerinnen als auch Befürwortern wer-
Kirche der Fremden. Er betonte, dass nicht die christliche Botschaft, son- den afrikanische Gesellschaften in zwei einander widersprechenden Weisen
dern die Lebensweise der Kolonisierenden gepredigt wurde. Wie andere po- beschrieben – als gleichzeitig zu ‚starr‘ und zu ‚offen‘, was sowohl eine Stär-
litische Strukturen, die von der Kolonialherrschaft geerbt wurden, so ist ke als auch eine Schwäche bedeutet. Marah hat argumentiert, dass die

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Schwächen des afrikanischen Bildungssystems mit der Ankunft des Chris- ligion, den Islam, gäbe, und nur einen Gott, Allah, und dass Muhammed
tentums und des formalen europäischen Schulsystems deutlich zutage tra- sein Prophet sei.
ten. Mit Bezug auf Ali Mazruis berühmte Kritik, dass die Bildungstradition In Cheikh Hamidou Kanes Roman, in dem es eigentlich um die neue
in verschiedenen afrikanischen Kulturen in keiner Weise als eine ‚Erziehung Erziehung in Afrika geht, ist das islamisierte Königreich der Diallobe mit
zum Wandel‘ bezeichnet werden könne, sagt er, dass solche Eigenschaften denselben Herausforderungen konfrontiert, wie die Igbo in Chinua Ache-
wie Individualität, Kreativität oder Einzigartigkeit zugunsten von Konfor- bes Romanen: Soll man sich der Modernisierung widersetzen? Soll man die
mität vernachlässigt wurden. Marahs Meinung nach basierten tradierte Bil- Kinder von der neuen Schule fernhalten oder das Unvermeidliche akzeptie-
dungsformen auf der strengen Gehorsamkeit gegenüber der Autorität der ren?
Ältesten [wenn diese auch nicht unbedingt (gut) begründet war], aber sie Sowohl islamische als auch ‚traditionelle‘ Bildungssysteme waren zu starr,
ermutigte keinerlei kritische Auseinandersetzung mit den Regeln, die diese um Raum für Innovation oder ein freies kritisches Denken zu geben. Den-
Ältesten aufgestellt hatten. Folglich wurden die Missionsschulen zu einer noch vergessen die Kritiker und Kritikerinnen der traditionellen Schulen
Art ‚Zuflucht‘ für diejenigen Afrikaner/innen, die ein anderes Leben an- manchmal die Geschichte des Westlichen Denkens, Galileo und die Inqui-
strebten. sition. Obwohl Marahs obiger Kommentar vorgibt, in Teilen eine Deutung
In vielen Diskussionen über Kolonialismus in Afrika beschäftigen sich von Chinua Achebes Roman Things Fall Apart zu sein, so vernachlässigt er
die Autoren und Autorinnen mit dem Einfluss des Christentums auf einhei- doch zu viele positive Faktoren der tradierten Bildung, um als genaue Inter-
mische Kulturen. Meistens ist der Islam von diesen Studien ausgeklam- pretation des Romans gelten zu können. Wäre die ‚Tradition‘ tatsächlich so
mert, oder wenn er erwähnt wird, dann in beiläufigen Kommentaren, die durchgängig negativ dargestellt, wie es diese Interpretation von Achebes
von einer Verlegenheit gekennzeichnet sind, die darauf zurückzuführen ist, Roman unterstellt, dann würde ihr Niedergang durch die Ankunft der Mis-
dass der Islam selbst auch nur ein Import ist. Hinzu kommt, dass er in vie- sionare nicht als eine solche Katastrophe erscheinen und der Roman trüge
len afrikanischen Ländern, wie im nördlichen Nigeria, eine Konfliktquelle nicht solch tragischen Nachhall in sich. Achebe verkompliziert eine solcher-
zwischen Islamist/inn/en und Nicht-Muslim/inn/en ist, und dass im Su- maßen vereinfachte Deutung der Begegnung zwischen Afrika und dem
dan seit über zwanzig Jahren eine Schwarze nationalistische Bewegung mit Westen auf eindrucksvolle Weise. Er attackiert nicht allein die traditionell
einer nicht-islamischen Vergangenheit den islamischen Staat bekämpft. abgesegnete Brutalität, wie zum Beispiel das Menschenopfer des jungen
Doch es gibt viele Gründe, den Islam zu privilegieren. Zunächst einmal Gefangenen Ikemefuna oder die Aussetzung von Zwillingsbabys im Wald,
wird der Islam von vielen Menschen in Afrika nicht als fremde Religion an- wo sie der sichere Tod erwartet, nur weil sie innerhalb der Igbo Gesellschaft
gesehen. In vielen Teilen West- und Nordafrikas schlug der Islam bereits als Aussätzige angesehen wurden. Zugleich verficht er den entgegengesetz-
Jahrhunderte vor der Ankunft des Christentums Wurzeln. Das arabische ten Standpunkt einer afrikanischen Gesellschaft, die verschiedenen Prakti-
Afrika – Algerien, Marokko, Tunesien und natürlich Ägypten sind größ- ken gegenüber im Wesentlichen tolerant war; und indem wir den Ereignis-
tenteils islamisch. In Westafrika waren viele der Befürworter der islami- sen im Roman folgen, beginnen wir zu verstehen, dass gerade diese
schen Religion – wie die Peul oder Wolof im Senegal, Mali und Guinea – Bereitschaft der tradierten afrikanischen Gesellschaft zwei oder mehr ge-
selbst Schwarz und sahen sich als Opfer desselben europäischen Kolonialis- gensätzlichen Systemen den gleichen Spielraum zu lassen, wenn es dem
mus, unter dem der Rest Afrikas zu leiden hatte. Und obwohl ‚heidnische‘ Wohl der Gesellschaft diente, dass eben diese ‚Offenheit‘ es war, die im
und islamische Königreiche ständig in Machtkämpfe verwickelt waren, Endeffekt ihre eigene Autorität, ja, ihre Identität, untergrub. In L’aventure
spielten rassistische Konstruktionen der Hautfarbe hier nicht eine allzu gro- ambiguë sah die Prinzessin der Diallobe diesen Zusammenhang voraus:
ße Rolle; vor allem aber war es nicht-islamischen Völkern erlaubt, die meis- „Die Schule, der wir unsere Kinder zutreiben, wird in ihnen all das auslö-
ten ihrer lokalen Sitten, säkularen Musikformen, Tänze und Heiratsriten schen, das wir heute zu Recht lieben und sorgsam bewahren.“8 Sie sagte der
beizubehalten, obwohl der Islam darauf bestand, dass es nur eine wahre Re- großen Versammlung der Diallobe: „Ich mag die Schule der Fremden nicht.

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Ich verabscheue sie. Dennoch bin ich der Meinung, wir sollten unsere Kin- O Gott! Mach, dass sie uns ähnlicher werden!
der dorthin schicken.“9 Schlimmstenfalls würde dieser Eklektizismus zu
stümperhaften Versuchen führen, sowohl an der afrikanischen Tradition als Zu Beginn des europäischen Kolonialismus wurde von den Weißen der My-
auch an Westlichen kulturellen Werten, die jedoch noch nicht vollständig thos in die Welt gesetzt, Afrikaner und Afrikanerinnen seien moralisch und
verinnerlicht waren, festzuhalten. intellektuell unterlegen, ja möglicherweise sogar nicht wirklich menschlich,
In Achebes großartigstem Roman, Arrow of God, wird Afrikas ‚Offen- geschweige denn zu erziehen. Eine Philosophie, die auf einer derart über-
heit‘ gegenüber Ideen von außen auf brillante Weise und mit einer unge- spitzten Auffassung über rassische Differenz beruhte, konnte sich nur als
wöhnlichen Portion Zynismus festgehalten. Als Ezulu, der Hohepriester kontraproduktiv erweisen, da sie doch gegen die besten Intentionen der ‚zi-
von Ulu, der Gottheit eines lokalen religiösen Kultes, vor dem Dilemma vilisatorischen Mission‘ wirkte; denn wenn der Afrikaner bzw. die Afrika-
steht, wie er sich gegenüber den Missionaren verhalten soll, die sich in sei- nerin tatsächlich als ‚unrettbar wild‘ und ‚unveränderlich bildungsunfähig‘
nem Umkreis angesiedelt haben, entscheidet er sich dafür, einen seiner Söh- galt, warum sollte man dann soviel Geld für ein im Grunde aussichtsloses
ne zur Missionsschule zu schicken, damit dieser dort, wie er sagt, zu ‚seinem Projekt ausgeben? Warum sollte man all diese aufopferungsvollen ‚selbstlo-
Auge‘ wird. Denn schließlich haben die Missionare den Rückhalt der sen‘ Diener/innen des Empire nach Afrika und in andere Teile der Welt schi-
mächtigen Kolonialadministration: cken, um, wie die Heiligen Väter ihre Mission umschrieben, Licht zu Men-
schen zu bringen, die auf ewig blind gegenüber diesem Licht blieben? Das
„Die Welt verändert sich“, hatte er ihm gesagt. „Das gefällt mir nicht. Argument für und wider die grundsätzliche Menschlichkeit der Afrikaner
Aber ich bin wie der Vogel Eneke-nti-oba. Als ihn seine Freunde frag- wird in den Monografien der Missionierenden wieder und wieder durchge-
ten, warum er immerzu fliege, antwortete er: Die Menschen von heute spielt, und wurde in modernen afrikanischen Romanen immer wieder auf-
haben gelernt zu schießen, ohne zu fehlen, und da habe ich gelernt zu gegriffen und karikiert, wie auch in einem der besten Beispiele für dieses
fliegen, ohne stillzusitzen. Ich wünsche, dass einer meiner Söhne sich
Genre, Mongo Betis Le pauvre Christ de Bomba.
diesen Leuten zugesellt und mir dort als mein Auge dient. Wenn nichts
In diesem Roman treffen wir auf Pater Drumont, eine tragikomische Fi-
daran ist, wirst du zurückkommen. Wenn aber etwas daran ist, wirst du
gur. Zwanzig Jahre seines Schaffens hat er darauf verwendet, der Bevölke-
mir meinen Anteil nach Hause bringen. Die Welt ist wie eine tanzende
rung von Bomba das ‚Licht des Evangeliums‘ zu bringen, nur um zusehen
Maske. Wenn du sie gut sehen willst, darfst du nicht auf einer Stelle ste-
hen bleiben. Mein Verstand sagt mir, dass jene, die sich heute nicht mit zu müssen, wie seine Missionsstation durch die Schliche eines phallisch be-
dem weißen Mann befreunden, morgen sagen werden: Hätten wir das setzten Kochs und ebenso lüsterner Katechisten in einen Scherbenhaufen
gewusst!“10 verwandelt wird. Am Ende des Romans haben sie die Missionsstation, die
auch eine sixa für Mädchen umfasst, in ein regelrechtes Bordell verwan-
Wenn wir nun der Genealogie der afrikanischen Universität folgen, können delt, in eine Brutstätte für Geschlechtskrankheiten und andere Sünden –
wir sehen, dass die verschiedenen Geschichten darüber, was geschehen ist hier zeigt sich, wie treffend mein obiger Gebrauch der Metapher vom ‚Bor-
und wie es geschah, aus zahlreichen Strängen erwachsen, die in der zentra- dell‘ des Kolonialismus ist. Aber all dies erscheint geringfügig, wenn man es
len Erzählung von der Ankunft der Mission, vom Bekehrungseifer, von der mit den Vergehen einiger späterer Repräsentanten des Empire vergleicht. Ei-
militärischen Besatzung bis schließlich hin zum Aufbau von Grund-, Real- ner von ihnen, ein gewisser Dr. James Cobb, war ranghoher medizinischer
und Berufsschulen mündet. Dabei erscheint die afrikanische Universität als Offizier in einem britischen Militärkrankenhaus in Kenia und Freund des
der letzte Bereich, innerhalb dessen der Kampf zwischen ‚Tradition‘ und Prinzen von Wales. In einem kürzlich erschienenen Buch (Colonial Psychia-
‚Moderne‘ ausgetragen wird. try and the ‚African Mind’ von Jock McCulloch) wird er als heftiger Alko-
holiker beschrieben, der einen Selbstmordversuch hinter sich hatte und der
Sodomie mit zwei Löwen auf dem Gelände des Krankenhauses bezichtigt

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wurde. Es ist klar, dass dies nicht gerade das war, was von den Repräsentan- „Unser Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat keinen Menschen, ob
ten der ‚Zivilisierungsmission‘ in Afrika erwartet wurde. Am Ende seiner schwarz, ob weiß, aus seinem Reich ausgeschlossen. Er hat auch an Af-
Kräfte angelangt, wird Pater Drumont, der ‚Arme Christ von Bomba‘, in rika denken müssen; er konnte nicht anders: Auch an euch musste er
Verwirrung gestürzt und er beginnt, den Sinn seiner Mission in Frage zu denken! Ein Mensch ist nur ein Mensch: aber jeder Mensch kann ein
stellen. Nebenbei vertieft er sich in endlose philosophische Gespräche mit guter Christ werden, vorausgesetzt, er bemüht sich darum. Was spielen
dem jungen Kolonialbeamten, einem gewissen Monsieur Vidal, der seine da die Sitten, die Gebräuche, die unterschiedlich sind, für eine Rolle?“14
Arbeit als „erhaben und einzigartig“ und im Grunde nicht von der eines be-
kehrenden Priesters zu unterscheiden beschreibt: „Übrigens behaupte ich Im Grunde seines Herzens ist Pater Drumond ein Humanist. Wie man
Ihnen gegenüber auch weiterhin, dass mein Amt und das Ihre ein und das- auch über seine Philosophie denken mag, wie hierarchisch seine Haltung
selbe sind“,11 so argumentiert Vidal gegenüber Pater Drumont. Vidal, der gegenüber ‚der menschlichen Rasse‘ auch ist, so ist doch seine Sicht auf die
damit beauftragt ist, eine Straße zu bauen, die die verschiedenen Dörfer auf afrikanische Persönlichkeit durchaus progressiv; sein Skeptizismus gegen-
dem Lande miteinander verbindet, favorisiert die bestehende Kolonialpoli- über seiner Mission, diese unverbesserlich polygamen Afrikaner und Af-
tik der Beschlagnahmungen, der Zwangsarbeit und der Auspeitschungen rikanerinnen zu christianisieren, steht im Kontrast zu den ermutigenden
und fordert den zweifelnden Priester dazu auf, sich zu ihm zu gesellen, Worten seiner Abschiedsrede: „Ein Mensch ist ein Mensch.“ Jedermann
„sind Ihre Probleme ganz einfach ästhetischer Art: eine Rasse formen, wie kann durch seine eigenen Anstrengungen gut werden.
man eine Vase formt, ihr die Gestalt verleiht, die man sich vorstellt …“12 Pa- Dieser Ansicht, die zunächst von anderen humanistisch gesinnten Libe-
ter Drumont, der von solch ‚primitiven‘ Argumenten nicht überzeugt ist, ralen vertreten wurde, lag folgende Argumentation zugrunde: Wie ‚rück-
fasst den Entschluss, seine Mission aufzugeben und nach Europa zurückzu- ständig‘ auch immer, wie ‚bestialisch‘ in ihren Gewohnheiten und wie an-
kehren. fällig auch dafür, in ihren früheren ‚primitiven Zustand‘ zurückzuverfallen,
so könnten der Afrikaner und die Afrikanerin doch in eine erkennbare Ko-
Diese wackeren Leute haben sehr wohl Gott angebetet – auch ohne
pie des europäischen Originals verwandelt werden, solange man ihm oder
uns. Was spielt es dabei schon für eine Rolle, dass sie ihn auf ihre Weise
ihr nur ausdauernd eine hinlängliche moralische und geistige Erziehung zu-
angebetet haben … indem sie Menschen aßen oder im Mondschein
kommen lasse. Mit anderen Worten: Durch richtige Bildung, durch das
tanzten oder Amulette aus Baumrinde um den Hals trugen. Warum
gute Beispiel und den andauernden Kontakt mit der überlegenen ‚Rasse‘
sollen wir uns darauf versteifen, ihnen unsere Weise aufzuzwingen?13
könne der Geist des Afrikaners oder der Afrikanerin entscheidend verbessert
Der optimistische, wenn auch zynische Vidal, der sich und andere Kolonia- werden, ja sogar in einer Weise entwickelt werden, wie man es nie für mög-
listen als „Erben von Faidherbe und dem großen Savorgnan de Brazza“ be- lich gehalten hätte! Teilweise ausgehend von den Geschlechterstrukturen
schreibt, ist von derartigen Spekulationen schockiert: „Das Urteil, das Sie und Klassenbeziehungen in ihren eigenen europäischen Gesellschaften –
soeben ausgesprochen haben, trifft auch uns“, sagt er zu dem Pater. „Denn denn letztendlich wurden Arbeiter/innen und auch Frauen im Allgemeinen
wenn die christliche Religion hier keinen Sinn hat, dann muss man zehn zu durch die damals herrschenden Klassen in Europa im gleichen Lichte be-
eins wetten, dass die Zivilisation, die wir hier einpflanzen wollen, unter die- trachtet – würden die Kolonisierenden nunmehr all ihre Energie in den Ko-
ser Sonne ebenso sinnlos ist. Sie wissen doch, was ich Ihnen immer gesagt lonien darauf verwenden, eine Klasse von gebildeten, christianisierten ein-
habe: Wir sitzen doch im gleichen Boot.“ Und dennoch hält Pater Drumon heimischen ‚Eliten‘ zu schaffen, denen man dahingehend vertrauen konnte,
selbst in den Momenten tiefster Verzweiflung, kurz bevor er nach Europa zu- dass sie ihren heidnischen Brüdern und Schwestern die Werte der Westli-
rückkehrt, an seiner ursprünglichen Vision der christlichen Mission fest, die chen christlichen Gesellschaft beibringen würden. „Mach, dass sie uns ähn-
doch nur dazu gedacht war, „das Reich Christi zu erweitern“. In seiner Ab- licher werden!“ war aus verständlichen Gründen ein besserer Slogan, recht-
schiedsrede versucht er, seine schwindende Anhängerschaft zu beruhigen: schaffen liberaler und aufgeklärter als Kiplings Ruf: „Osten ist Osten und

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Westen ist Westen / Niemals sollen beide sich treffen!“ Die Afrikaner und Politik aber nichts weniger als ein Versuch, in den Kolonien dasjenige zu
Afrikanerinnen der europäischen Bevölkerung anzugleichen war eine Posi- reproduzieren, das sich mit dem Ideal des Zentrums vereinbaren ließ; das
tion, die sich besser verteidigen ließ als die Befürwortung einer unveränder- Ergebnis wäre eine hybride Klasse von Engländer/inne/n, mit englischem
lich exklusiven ‚rassischen Identität‘. Geschmack und englischen Meinungen – sowohl moralisch als auch intel-
In Abständen wurde diese Position – „eine Rasse formen, wie man eine lektuell. Wie Fanon es unmißverständlich ausdrückte: „Während der Be-
Vase formt“15 – mit überraschender Klarheit zur erklärten Intention der öf- freiungsperiode … sucht die kolonialistische Bourgeoisie fieberhaft nach
fentlichen Politik ausgerufen und mit bewundernswerter Freimütigkeit zum Kontakten zu den ‚Eliten‘. Mit diesen Eliten wird dann der berühmte Dia-
inbrünstig herbeigesehnten Ziel erklärt. Zu den denkwürdigsten Doku- log über die Werte geführt.“18
menten dieser Ansicht gehört Lord Macaulays Minute on Indian Education, Und welche Institutionen wären besser geeignet, eine solche Klasse her-
das in seiner unzweideutigen Offenheit bewundernswert ist: „Unsere Auf- vorzubringen, als die Universitäten? Wie der belgische Politikwissenschaft-
gabe ist es, unser Bestes zu tun, um eine Klasse zu schaffen, die zwischen ler Benoit Verhaegen nach 29 Jahren Lehrerfahrung in Zaire die Rolle der
uns und den Millionen, die wir regieren, vermitteln könnte; eine Klasse von afrikanischen Universität beschrieb, hat sie schon immer im Wesentlichen
Personen, indisch in Blut und Farbe, aber Englisch in Geschmack, Ansich- drei äußerliche Funktionen erfüllt. Erstens hat sie die Fähigkeit, im Namen
ten, Moral und Intellekt.“16 Mit außergewöhnlichem Scharfblick sah Ma- der ‚technologischen Rationalität‘ und des ‚ökonomischen Fortschritts‘ die
caulay hier bereits die wichtige Rolle des einheimischen Intellektuellen als Werte und Kultur der ländlichen und bäuerlichen Welt zu zerstören. Zwei-
‚Übersetzer‘ und Kollaborateur, der im Grunde als Zwischenglied zwischen tens trägt sie, dank der Ausbildung von weiteren Führungseliten und dem
Kolonisator und Kolonisiertem fungierte. Für Macaulay waren es die engli- akademischen Nachweis des Diploms, zur sozialen Stratifikation bei. Und
sche Sprache und Literatur, die am besten dazu geeignet waren, diese West- drittens spielt sie eine Rolle in der ideologischen Legitimierung des politi-
lichen Werte (oder das, was wir unverhohlen als britische imperialistische schen Regimes und des ökonomischen Systems.
Ideologie beschreiben können) einzuprägen, oder, noch besser, zu internali- Zweifelsohne fühlte sich die erste Generation der gebildeten Eliten schon
sieren. Noch lange nach der Unabhängigkeit, bis hinein in die 1960er Jah- von dem partiellen Zugang zu den Portalen dieser ‚überlegenen Zivilisa-
re, wurden an vielen afrikanischen Universitäten, ganz zu schweigen vom tion‘, die in Südafrika unverhohlen als Weiß definiert wurde, geschmei-
Südafrika der Apartheid, keinerlei afrikanische Romane oder Gedichte, son- chelt. Fanon datierte die Herausbildung dieser Klasse afrikanischer Intel-
dern nur die etablierten europäischen Klassiker gelehrt. „Die Sprachen lektueller in die Periode der Dekolonisierung, zu einem Zeitpunkt, als
Westeuropas haben Russland zivilisiert“, so formuliert es Macaulay. „Ich bestimmte kolonisierte Intellektuelle in den Dialog mit der Bourgeoisie des
hege keinen Zweifel daran, dass sie für den Hindu das gleiche leisten wer- kolonialisierenden Landes traten, aber das erste Auftauchen dieser Elite
den, wie für den Tartaren.“17 Hätte Macaulay daran gedacht, dann hätte er kann bereits in einem früheren Stadium verortet werden. Als ‚Übersetzer‘,
natürlich ergänzen können, dass die englische Sprache dies auch für die die der Bevölkerung die Westlichen Werte vermittelten, waren afrikanische
Zulu, die Yoruba oder die Kikuyu in Afrika leisten könne. Intellektuelle natürlich aus dem kolonialen Unternehmen nicht wegzuden-
Frantz Fanon, der kämpferischste aller Kritiker/innen des Kolonia- ken; sie waren hier, dort und überall anzutreffen; in den Schulen, in der
lismus, hat darauf hingewiesen, dass die Kolonien von jenen beherrscht Kirche und vor allem in den Gerichten.
wurden, die von anderswo kamen – von jenen, die, im Gegensatz zu den Im allerersten Absatz seines Buches Le langage de l’Education beschreibt
ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohnern, ‚die Anderen‘ waren. Ma- der verstorbene Olivier Reboul den pädagogischen Diskurs, zumindest in
caulays Lösungsansatz bestand darin, diese ‚Anderen‘ in eine Art kooptier- der heutigen Zeit, als den ideologischsten aller Diskurse, selbst im Vergleich
te Gruppe lokaler Intellektueller zu verwandeln, die die Werte des Briti- zum politischen Diskurs. Diese Formulierung scheint, wie auch Reboul
schen Empire ihren eigenen Leuten, den stillschweigenden Kolonisierten in selbst feststellte, ein wenig zu abstrakt; erst wenn man viele Episoden, Er-
einer verdaulicheren Form vermitteln konnten. Letztendlich war Macaulays eignisse, Anekdoten, die zunächst scheinbar vollkommen disparat vonein-

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ander sind, zusammenbringt, formiert sich die Grundlage, auf der man den In meinem Fall begann meine eigene Reise hin zur afrikanischen Uni-
weitreichenden Charakter der Rolle der Bildung in den neuen afrikanischen versität mit einer Flucht aus dem Südafrika der Apartheid; dann folgten
Staaten ermessen kann. In dieser Hinsicht ist es herauszustreichen, dass der Aufenthalte in Harvard, London und Kalifornien als Student und Lehren-
Knoten, der zwischen den Kolonialverwaltungen und den kolonisierten Ge- der; und schließlich die Rückkehr nach Afrika, um an der Universität von
sellschaften geknüpft war, nie erfolgreich aufgelöst wurde, auch nicht, nach- Sambia zu unterrichten. Zu diesem Zeitpunkt war ich britischer Staatsbür-
dem die Kolonialmächte abzogen; wenn durch die Auseinandersetzung mit ger und war mehr als qualifiziert, um jener lächerlichen Kategorie zuzu-
der afrikanischen Universität und den Gesellschaften, denen sie dienen soll, zählen, die in ganz Afrika als ‚been-to‘ bekannt ist – jemand, der in Europa
etwas deutlich wurde, dann ist es die Erkenntnis, dass die Universitäten war. Als ich an der Universität von Sussex in England an einem Forschungs-
letztlich als ein Mittel fungierten, durch welches die alten Strukturen auch vorhaben über die Werke von Joseph Conrad arbeitete, fiel mir eine An-
unter einer neuen politischen Ordnung am Leben bleiben konnten, so wie zeige auf, in der nach Lehrkräften für afrikanische Universitäten gesucht
es Macaulay vorschwebte. Vielleicht waren seine Ideen sogar noch erfolgrei- wurde. Ich bin mir sicher, dass diese Anzeigen, die unvergleichliche Arbeits-
cher, als er es selbst erhoffte. bedingungen anboten, dazu gedacht waren, britische Akademiker und
Akademikerinnen anzuziehen und dass die Anwerber/innen niemals je-
manden in meiner Position im Sinn hatten, jemand der sich durch Einbür-
Was Studierende über das Gelehrte denken gerung in einen britischen Staatsbürger verwandelt hatte. Unsere Verträge
enthielten steuerfreie Gehälter, Darlehen für Hypotheken und ein kosten-
In einer afrikanischen Universität ist es so, dass zwar die Fakultätsmitglieder loses Flugticket, um einmal im Jahr unsere Kinder in England zu besuchen.
ihren ersten Abschluss in Afrika gemacht haben, aber sobald man in die hö- Dadurch war unser Gehalt wahrscheinlich doppelt oder drei Mal so hoch
heren Ränge blickt, sind die Lehrenden und Professoren fast ausschließlich wie das der lokalen Angestellten, was verständlicherweise für Bitterkeit zwi-
Absolventen und Absolventinnen europäischer oder nordamerikanischer schen lokalen und ausländischen Angestellten sorgte. Niemand hatte vor-
Universitäten; man kann vermuten, dass viele von ihnen die Werte und ausgesehen, dass bald Margaret Thatcher gewählt werden würde, die eine
Vorurteile, die sie sich während ihrer Westlichen Ausbildung angeeignet ha- Regierung anführen sollte, die mit einem Mal solche Subventionen strei-
ben, teilen und dass diese Werte in abgeschwächter Form an die nachfolgen- chen würde. Daraufhin gab es an vielen englischsprachigen afrikanischen
de Generation afrikanischer Studierender weitergereicht werden. Wieder Universitäten massenhafte Kündigungen und eine Rückkehrbewegung
einmal sind es die afrikanischen Romane, die uns augenfällige Beispiele für nach England. Einige von uns blieben zurück.
diesen Typus liefern. Natürlich sind heutige afrikanische Intellektuelle viel Der Niedergang der afrikanischen Universität ging mit dem Kollaps der
kultivierter als dass sie, so wie Achebes nigerianischer ‚Engländer‘, behaup- afrikanischen Ökonomien in den 1980er Jahren einher. Bibliotheken kauf-
ten würden, sie seien unfähig, ihre eigene Sprache zu sprechen oder das Es- ten keine Bücher mehr an und die Abonnements für akademische Zeit-
sen zu vertragen, mit dem sie aufgewachsen sind; wenn überhaupt, dann schriften wurden gestrichen. Dadurch sind viele Universitäten nunmehr
sind die heutigen Typen eher dazu geneigt, darauf zu bestehen, dass sie nie- drittklassige Abschlussfabriken, die beinahe wertlose Diplome aushändi-
mals ihre ursprünglichen afrikanischen Gewohnheiten aufgegeben haben, gen. Wie die Studentendemonstrationen in Frankreich und anderen West-
allerdings geschieht dies vielleicht etwas zu emphatisch und zu häufig. lichen Ländern bezeugen, sind diese Bedingungen keineswegs nur für Afri-
Nachdem ich nun permanent auf die Westlichen Einflüsse auf diese In- ka typisch, nur sind sie in ökonomisch schwächeren Ländern eben viel
stitution verwiesen habe, sollte es niemanden überraschen, dass die afrika- akuter. Die Machtverhältnisse an einer afrikanischen Universität sind dif-
nische Universität nicht einfach nur eine Imitation ihres Westlichen Pen- fus, aber ihre Strukturen manifestieren sich in verzerrten Lehrmethoden
dants ist. Kipling hatte natürlich Unrecht: die Universität ist der Ort, an und -regeln, Vetternwirtschaft und ethnischer Patronage, die von der Ver-
dem sich Ost und West treffen. gabe von Noten bis zur Zuweisung von Mitarbeiterwohnungen reichen.

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Es gab eine M. A.-Kandidatin in einer meiner Hauptstudiumsveranstal- schaftlerinnen und Wissenschaftler meist marxistischer Orientierung die
tungen, attraktiv und stets stilvoll gekleidet, die beim besten Willen keinen historischen, ökonomischen und ethnographischen Forschungen einer
zusammenhängenden Text fabrizieren konnte. Ich ließ sie durchfallen. Sie gründlichen Revision – so wurden das sogenannte marxistische Dreieck
legte Beschwerde beim Fachbereich ein und ihre Note wurde in eine ‚Drei‘ von Makere, Nairobi und Dar es-Salaam und die Publikation von Wer-
geändert. Ein Kollege wollte von mir wissen, ob ich mir darüber im Klaren ken wie Walter Rodneys How Europe Underdeveloped Africa hervorgebracht.
sei, dass ich die Frau eines Armeeoffiziers hatte durchfallen lassen. Bei der Besonders in Südafrika wurden – aus dem vielleicht verständlichsten aller
Benotung von Examensarbeiten nahmen Betrug und Bestechung viele For- Gründe – vormals kanonisierte Texte einer genauen Überprüfung ausge-
men an – gar nicht mal so sehr verschieden von dem Betrug und Plagiaris- setzt. Durch die vereinten Kräfte jüngerer Akademikerinnen und Akademi-
mus, der in Westlichen Universitäten passiert. Nur waren meine Studieren- ker, die ihre wissenschaftliche Arbeit als untrennbar von ihrer Praxis inner-
den viel unverschämter. Die Beziehungen zwischen Studierenden und halb der Arena oppositioneller Politik ansahen, wurden sie überarbeitet, neu
Lehrenden waren entspannter, manchmal zu entspannt; sexuelle Belästi- geschrieben oder verdrängt. Insbesondere in den Bereichen der Anthropolo-
gung wurde nicht einmal benannt. Und bemerkenswerterweise wurden der- gie, Geschichte und der ethnographischen Forschung war das der Fall.
artige Beziehungen meistens von den Studentinnen selbst initiiert. Nach der Wie immer ist es das Gebiet der Literaturwissenschaft, in dem die Prob-
Verkündung der Noten belagerten die Studentinnen mein Büro, die attrak- leme hartnäckig Bestand haben. Bis vor kurzem fielen sogar an den so-
tiveren von ihnen setzten sich für gewöhnlich auf meinen Schreibtisch und genannten liberalen Weißen südafrikanischen Universitäten Schwarze afri-
begannen in liebenswürdiger Weise über ihre schlechten Noten zu plau- kanische Autoren höchstens durch ihre Abwesenheit vom Curriculum auf.
dern, um dann in nicht allzu vielen Worten vorzuschlagen, dass doch die Ein kurzer Blick auf die afrikawissenschaftliche Abteilung der Universitäts-
Noten durch einen fairen Austausch von gegenseitigen Gefälligkeiten geän- bibliothek von Kapstadt, an der ich noch 1994 unterrichtete, sollte die Ge-
dert werden könnten. schichte der unzumutbaren Vernachlässigung dessen, was gerade an den le-
Wenn nun die afrikanische Universität durch ökonomische, organisato- bendigsten schöpferischen Arbeiten auf dem afrikanischen Kontinent
rische und ideologische Verwicklungen in eine Art Sackgasse geraten zu sein entstand, bestätigen.
scheint, so wäre es dennoch falsch, hier ein allein negatives Bild von dem, Wenn es denn eine Vitalität innerhalb der Literaturwissenschaften gibt,
was erreicht wurde, stehen zu lassen. Trotz unsagbar schwieriger Bedingun- so ist sie größtenteils unbeabsichtigt herbeigeführt worden – von Studieren-
gen gibt es doch eine überraschende Vielfalt guter Wissenschaft an den afri- den, die aus einer Umgebung kommen, in der orale Schöpfungen gebraucht
kanischen Universitäten, die manchmal im Verborgenen, manchmal durch statt konsumiert werden; sowie durch einen gewissen stumpfsinnigen Wi-
eine Art widerspenstige Seitwärtsbewegung stattfindet und von fleißigen, derstand gegenüber Theorien. Meine sambischen Studierenden offerierten
engagierten Männern und Frauen getragen wird, die dazu entschlossen mir originelle und ungewöhnliche kritische Kommentare über literarische
sind, das höchste Niveau aufrechtzuerhalten. Nach der Unabhängigkeit Werke, die ich längst für selbstverständlich erachtete. In einem unserer Out-
der ehemaligen Kolonien wurden neue Perspektiven entwickelt und viele reach-Programme, in die ich als Lehrender involviert war, war Homers
afrikanische Akademiker und Akademikerinnen begannen, die Studienpro- Odyssee unter der Pflichtlektüre. Ein Student, wahrscheinlich ein Traditio-
gramme der afrikanischen Universitäten gründlich zu überprüfen; neue nalist, der verständlicherweise über den Altersunterschied zwischen Penelo-
Forschungsprämissen wurden identifiziert und verfolgt, neue Prioritäten pe und ihren Verehrern besorgt war, beschwerte sich: „Ihr Verhalten ist
gesetzt; vor allem war es die zunehmende Beteiligung von Akademikerin- ziemlich unschicklich, denn die Prinzessin, der sie den Hof machen wollen,
nen an der Forschung und in Leitungsfunktionen, die diese Ära der afrika- ist eine ziemlich alte Dame.“ Dann war da noch die Frage der ‚traditionel-
nischen Universität charakterisierte, in der vorübergehend auf die emanzi- len‘ Autorität, der kaum Beachtung geschenkt wurde: „Diese Freier sind
patorische Politik der damaligen Zeit reagiert wurde. Innerhalb des rein Söhne von Odysseus’ Untertanen. Und warum legen sie ein solches Verhal-
akademischen Feldes der Wissenschaft unterzogen afrikanische Wissen- ten an den Tag, ohne über ihre Taten beschämt zu sein? Das bleibt völlig

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unklar. Nicht einmal ihre Eltern scheinen sie zu entmutigen. Für mich be- Sélom Komlan Gbanou
deutet das, dass sie ihre Zustimmung haben.“ Ich erinnere mich gut an eine Afrikanische Theater.
Hausarbeit, in der sich ein Student, der aus einer ländlichen Gegend Zwischen Anglophonie und Frankophonie
stammte, bitterlich über Shakespeares Heldinnen beschwerte, die, statt auf
den Feldern zu arbeiten, in ihren Elizabethanischen Schlössern saßen und
sich über einen Mangel an Liebe beschwerten. Die Olivia in As you Like it Sélom Komlan GBUNOU wurde 1964 in Tchékpo-Dédékpoè, einem
wurde besonders kritisiert: „Sie ist extrem faul. Sie behauptet, sie hätte kei- Dorf in Togo, geboren. Er studierte zunächst Erziehungswissenschaft,
ne Zeit zum Arbeiten. Aber unglücklicherweise verschwendet sie ihre ge- Theaterwissenschaft, Kommunkationswissenschaft und Literatur-
samte Zeit, indem sie ihre eigenen Gefühle solange kultiviert, bis sie ihre wissenschaft an der Universität Lomé (Togo) und schloss seine Stu-
Einstellungen ändert. Es gibt keinen Menschen, der keine Zeit zum Arbei- dien mit zahlreichen Examina ab (Maîtrise ès Lettres Option Lettres
ten hat. Ihre Äußerungen zeigen einfach, dass sie ein loses Mädchen ist. … Modernes, Maîtrise de Sémiologie et Communication, Maîtrise
Noch so ein Hochstapler ist Orsino, der Graf. Er ist selbstverliebt, steril d’études théâtrales). Von 1989 bis 1995 arbeitete er als Lehrer in
und sehr künstlich. Er ist jemand, der die Liebe an- und ausknipst, wie ei- Togo und begründete und leitete dort nicht nur ein Schülertheater,
nen elektrischen Schalter.“ sondern auch die Theatertruppe ATLAS (Atelier des Arts du spectacle)
Es ist klar, dass diese Studierenden darum bemüht waren, ihre Lektüre (1989–1995) und die satirische Wochenzeitschrift Kpakpa Désenchan-
mit ihrem Erfahrungshorizont in Einklang zu bringen. Ein anderer Stu- té (1991–1995). Daneben lektorierte er von 1992 bis 1995 für die in
dent, mit dem ich mich auf ein Bier getroffen hatte, war sichtlich verstört, Lomé ansässigen Verlage Nouvelles Editions Africaines und Éditions
nachdem er eine Vorlesung über Strukturalismus gehört hatte, die ein Kol- Haho.
lege gehalten hatte, der erst kürzlich von einer französischen Universität zu- Nach seiner Übersiedlung nach Bremen (Deutschland) gründete
rückgekehrt war. „Prof“, sagte er zu mir, „stimmt es, dass der Autor tot ist?“ er 1996 die mehrsprachige afrikanistische Zeitschrift Palabres, die er
Das mag zwar komisch klingen, aber es ist genau der Punkt, an dem wir in bis heute als Chefredakteur leitet, und den gleichnamigen Verlag.
eine Region eintreten, in der kultureller Widerstand zu einer belebenden Die Zeitschrift, von der bislang 14 Hefte erschienen sind, ist der afrika-
Herausforderung für Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen an nischen und karibischen Literatur in englischer und französischer
einer afrikanischen Universität wird. Sprache gewidmet (www.revuepalabres.com). Mittlerweile haben
dort viele Literaturwissenschaftler/innen von Rang und Namen Bei-
Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Schramm träge über kulturelle Prozesse in Afrika verfasst. Sélom Gbanou arbei-
tete von 1996 bis 2001 als Lehrbeauftragter an der Universität Bremen
und promovierte dort 1999 mit einer Arbeit zum Theater des togoi-
schen Dramaturgen Sénouvo Agbota Zinsou (Un théâtre au confluent
des genres. L’écriture dramatique de Sénouvo Agbota Zinsou, 2000).
Aber sein Interesse gilt nicht nur der Literatur seines Heimatlandes,
sondern auch den afrikanischen Schriftstellern und Schriftstellerin-
nen, die in Deutschland leben und schreiben (Afrikanische Literatur
als Baustein im interkulturellen Dialog? Produktion und Rezeption
afrikanischer Literatur in Deutschland, 1998). Deren Werken hat er sich
seit 2001 auch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universi-
tät Bayreuth verschrieben, wo er an der Seite von S. A. Zinsou in einem

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Forschungsprojekt über afrikanische Schriftsteller/innen in Deutsch- nem anglophonen afrikanischen Theater zu sprechen im Vergleich zu einem
land mitwirkt. afrikanischen Theater, selbst wenn die Identitätskriterien die gleichen blei-
Nicht nur zahlreiche Aufsätze, Rezensionen und literarische Chro- ben.
niken in internationalen Zeitschriften zeugen von seiner Schaffens-
kraft und seiner fruchtbaren Intellektualität. Neben dem Schreiben
und Inszenieren findet er auch noch Zeit zum Malen von Bildern in Anglophones Theater und frankophones Theater
Öl und Acryl. Auch an der Edition einer umfangreichen Festschrift
für den kongolesischen Schriftsteller und Philosophen V. Y. Mudimbe Man könnte nicht vom anglophonen Theater sprechen, ohne sich auf seinen
hat er mitgewirkt (L’Afrique au miroir des Littératures, des sciences de Bruder im frankophonen Raum zu beziehen. Auch wenn beide Formen des
l’homme et de la société, 2002). Sélom Gbanou scheint in der Tat nie Theaters darin übereinstimmen, dass sie Zuflucht bei den Merkmalen der
müde zu werden: vier Stunden Schlaf, so äußerte er einmal, genügten religiösen und rituellen Aufführungen suchen, so ist die Geschichte ihrer
ihm völlig. Dann greift er wieder zum Handy, telefoniert in alle Welt Entstehung und Entwicklung doch nicht immer gleich. Im Gegensatz zum
und ist bereits auf dem Weg zum nächsten Zug oder Flugzeug ans frankophonen afrikanischen Theater, dessen frühe Geschichte man ignorier-
andere Ende Europas … te, indem der Theaterwissenschaftler Charles Béart es mit einer Geburtsur-
Katharina Städtler kunde der Ecole Supérieure William-Merlaud Ponty versah, beschränkte
sich das anglophone Theater nicht auf Ausdrucksformen der englischen Ko-
In einem dem nigerianischen Theater gewidmeten Artikel stellte der franzö- lonialmacht, sondern unterhielt auch direktere Verbindungen zu seinem
sische Literaturwissenschaftler Alain Ricard folgende Frage: kulturellen Umfeld und der Geschichte der Völker. Im anglophonen Afrika
zeigt sich das Theater in erster Linie als ein Medium des Nationalismus und
Warum die linguistischen Spaltungen im Studium und in der For-
als lokal zu konsumierende Kunst. Im Gegensatz dazu lässt das frankopho-
schung über das Theater fortbestehen lassen? Gibt man damit nicht der
nen Theater häufig eher an ein ‚Theater des Exports‘ denken. Tatsächlich ist
Sprache zuviel Gewicht und vergisst was Artaud, Grotowski oder Brook
die theatrale Praxis, ob nun in Nigeria, in Kenia, Tansania, Gambia oder
uns gelehrt haben: ‚dass als erstes der Schauspieler zählt‘ und dann die
Ghana, nicht a priori von den Anforderungen einer gelegentlichen oder per-
Schlussfolgerung, ‚dass man Soyinka den Englischprofessoren entreißen
muss, um ihn den Literaten zurückzugeben.‘1 manenten Anerkennung geprägt, die vom Erwartungshorizont weit ent-
fernter Orte der Legitimation und der Anerkennung wie im Falle Frank-
Die Frage ist umso wesentlicher, als sie dazu einlädt, die Enklave der Spra- reichs mit seinen Preisen (Prix RFI, Prix Charles Beaumarchais etc.) und
che zu verlassen, um das afrikanische Theater als eine Kunst anzusehen, die jährlichen Festivals (Francophonies en Limousin, Festival d’Avignon, Festi-
ihre Substanz aus der Vielfalt der Ästhetik, den Ursprüngen des dramatur- val de Blayes etc.) bestimmt wird.
gischen Spiels und den kulturellen Überkreuzungen mit dem Rest der Welt Im Feld der rein schriftlichen Dramaturgie kommt dem anglophonen
bezieht. Das Theater ist eine universelle Sprache, deren erstes Alphabet der Afrika eine Vorreiterrolle zu, wenn es darum geht, die Bevorzugung lokaler
Körper ist. Sobald man sich allerdings in den afrikanischen Kontext ver- Sprachen als Medium des Theaters kritisch zu hinterfragen, die durch das
setzt, rufen die Eigenheiten des frankophonen und anglophonen Theaters, koloniale System der Indirect Rule (das durch den Gouverneur von Nord-
über die linguistischen Kriterien hinaus, das gesamte Werkzeug der literari- nigeria Sir Frederick Lugard initiiert wurde) gefördert und geschätzt wurde.
schen Institution auf den Plan, die Verbindung des Dramaturgen zu seiner Die deutschen Missionare und Missionarinnen, die zwischen 1834 und
Herkunftskultur ebenso wie das Verhältnis zur dominierenden Sprache so- 1919 in dem Teil Ghanas tätig waren, den man Ewe-Land nannte, waren
wie schließlich das Gleichgewicht zwischen der Dramaproduktion und ih- Fürsprecher/innen dieses Prinzips. Es unterstützte sie in ihrem Streben nach
rem Aufführungsort. Diese Elemente sind es, die es uns erlauben, von ei- der Verbreitung des Wort Gottes und zudem hatten sie bereits enorme Ar-

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beit bei der Kodifizierung der dortigen Sprache geleistet (Wolf Lorenz, Carl schäftigt zu haben, als das sie etwas anderes als das, was die Sprache Clau-
Spieß, Diedrich Westermann, Paul Wiegräbe, etc.). Die Gründung des In- de Vaugelas in sich trägt, hätten zulassen können.
ternationalen Instituts der Sprachen und Zivilisationen Afrikas im Septem- Das französische Schul- und Verwaltungssystem bot der Entwicklung
ber 1926 in London sollte jedoch eine Trennungslinie zwischen dem Litera- eines in seinen internen Bewegungen und seiner Ästhetik freien afrikani-
rischen und dem Religiösen ziehen. Dazu mussten in den Regionen Afrikas schen Theaters kein Sprungbrett, um sich von seinen Komplexen zu be-
Idiome zur Zusammenführung der verschiedenen Dialekte bestimmt und freien und seine andersartigen theatralen Elemente durch das neue Medium
der Aufbau einer Praxis der Orthographie vorgenommen werden. Das Ziel des Geschriebenen auf der Bühne zu präsentieren. Das pontische Theater,
dieser vorbereitenden Arbeit war es, einen Literaturwettbewerb ins Leben dass sich berufen fühlte, die afrikanische Kultur zu verunglimpfen, war nur,
zu rufen, dessen erste Ausrichtung 1930 stattfand. Dabei hatten die an- wie der Theaterwissenschaftler aus Cote d’Ivoire Koffi Kwahulé bemerkt,
glophonen Länder und die ehemaligen deutschen Kolonien wie Kamerun, eine „verdauungsfördernde Entspannung für die Kolonialverwalter und die
Britisch-Togo und Namibia, die besser darauf vorbereitet waren, in ihren lo- Schwarze Bougeoisie, eine Anhäufung von traditionellen Chefs und ehema-
kalen Sprachen zu schreiben, einen großen Vorteil gegenüber den französi- ligen Schülern der École d’Administration William Ponty.“2 Im Gegensatz
schen Kolonien. In diesem Rahmen schrieb der Ghanaer Ferdinand Kwasi dazu gab es im anglophonen Afrika eine gewisse Freiheit für die lokalen
Fiawoo die Tragödie Toko Atolia (La cinqiuème Lagune) auf Ewe, für die er Kulturen, sich parallel zur englischen Sprache und Kultur zu entwickeln
den ersten Preis bekam. Das Werk, das in vier Auflagen erschien, wurde und sich dabei gleichzeitig an deren Beiträgen zu bereichern. Diese Situa-
1936 von Diedrich Westermann, Mitglied der Jury im Wettbewerb, in Zu- tion diente dazu, mehrere in der Form und im Inhalt sehr vielschichtige Ar-
sammenarbeit mit Schober Reinhold unter dem Titel Die fünfte Lagune ins ten des Volkstheaters hervorzubringen. Überall hat sich ein Theater der In-
Deutsche übersetzt. 1943 erschien die englische Version The Fifth Landing tegration manifestiert, das Vielfalt zeigt, durch seine Offenheit gegenüber
Stage, die der Autor selbst übersetzte. den anderen Formen der Bühnenkunst die Universalität integriert sowie die
Die Qualität dieses Stückes und seine Aufnahme in den Kanon des Kolonisierung und Neokolonisierung an den Pranger stellt. Es ruft die Mo-
Genres der Tragödie machten es zu einem Klassiker, lange vor der Weltaus- derne und stellt sich dabei auf die Seite der Unterdrückten, eine Funktion,
stellung 1937 in Paris, die fälschlich als die Taufe des afrikanischen Theaters die dem Theater zufällt, hier aber als eine immanente Struktur der ästheti-
angesehen wird. Dort führten die Schüler/innen der École Normale Fédérale schen Wirkungskraft der Sprache fungiert, die die kollektiven Gefühle kon-
William Merlaud-Ponty unter der Schirmherrschaft von Charles Béart für trolliert. Tradierte Formen der Aufführung, wie zum Beispiel Märchen,
das frankophone Afrika am 12. August 1937 das Stück Sokamé (Schüler aus durchziehen die Dramaturgie mit spezifischen Kommunikationselemen-
Dahomey) und am 17. August 1937 Les Prétendants rivaux (Schüler aus El- ten, in denen die drei Achsen des sozialen Netzes repräsentiert sind: Volks-
fenbeinküste) auf. In den Annalen der jährlichen Kunstfeste der Schule, die massen – Künstler/innen – Politik. In diesem Sinne plädierte Okot p’Bitek
die Schüler/innen der École William Ponty zwischen 1936 und 1937 aus- 1972, als er noch das Nationaltheater Ugandas leitete, für eine Integration
richteten, lässt Charles Béart es sich nicht entgehen, mit dem, was er „den kultureller und selbst religiöser Aufführungen in die moderne Dramatur-
franko-afrikanischen Humanismus“ nennt, die „völlig unsinnige Vorschrift“ gie, da die notwendige Dekontextualisierung all dieser Elemente es ermög-
zu bemängeln, die es afrikanischen Schülern und Schülerinnen verbietet, lichen würde, ihren semiologischen Gehalt zu vermehren. Dieses Plädoyer
sich in ihren afrikanischen Sprachen zu unterhalten. Er argumentierte, dass findet seine Rechtfertigung in der Tatsache, dass es sich beim Theater um
diese Schulpolitik, die Sprachen und Kulturen der Afrikaner/innen in Miss- einen Ort der Verbreitung von moralischen und sozialen Normen und Ide-
kredit bringe und keine Symbiose zwischen den Elementen einer afrika- ologien handelt, in denen sich dörfliche Gemeinschaften leichter wiederfin-
nischen Dramaturgie und der der Kolonisator/inn/en befördere – und sei den. Die Konzentration auf dieses Anliegen, das die Basis der Volkstheater
sie noch so fehlerhaft. Die berühmt-berüchtigte ‚zivilisatorische Mission‘ bildet, verbindet sich sehr gut mit der Logik des „Theatre for Develop-
scheint die französischen Kolonisatoren und Kolonisatorinnen zu sehr be- ment“, dessen heutige Prägnanz im anglophonen Milieu bemerkenswert ist,
wie Eckhard Breitinger im Folgenden unterstreicht:
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


Die essentielle Botschaft des Theatre for Development ist es geworden, leicht identifizieren kann. Besonders zu beachten ist dabei die Arbeit von
das Schweigen der ländlichen Bevölkerung zu brechen, ihre Stimmen Ama Ata Aidoo, deren Werke, wie beispielweise The Dilemma of a Ghost
jenseits ihrer Dorfgrenzen zu erheben, ihre Ausdrucksstärke zurückzu- oder Anowa, ihre Wurzeln in Legenden der Ashanti finden. Auch Efua Su-
fordern, damit sie an der Kontrolle ihrer eigenen Schicksale teilhaben therland, Gründerin des Ghana Art Studio zu Beginn der sechziger Jahre,
können.3 verschreibt sich einem Theater genährt durch die Märchen und Folklore der
Region, wie unter anderem in The Marriage of Anansewa zu bemerken ist.
Das Volkstheater, wie die Concert Party in Ghana, die Native Air Opera in In Nigeria dienen die rituellen Maskeraden Egungun und Gelede bei
Nigeria oder das Vichekesho in Tansania, ist so erfolgreich und beliebt beim den Yoruba sowie eine Egwugwu genannte Variante im Igbo Gebiet als
Publikum, dass es in hohem Maße als Fundament der geschriebenen Dra- Fundament des Volkstheaters wie auch der elitistischen Dramaturgie. Sie
maturgie dient. bilden den ästhetischen Hintergrund der Stücke des Dramaturgen Hubert
Die Concert Party, ein Possentheater, das Gesang, Tanz und Mimik ver- Ogunde, der als der Pionier des nigerianischen Volkstheaters angesehen
bindet, ist eine Annäherung an die Formen der traditionellen europäi- wird. Mit seiner Theatertruppe, der Chief Hubert Ogunde’s Company, die ab
schen Musikspektakel wie die Oper und das Concerto Grosso, die von 1944 den Weg in die Professionalität antritt, verbindet Ogunde die Oper
den Missionar/inn/en an den westafrikanischen Küsten verbreitet wurden. mit den Aufführungen des Alarinjo Theaters der Yoruba – aktualisiert und
Die große Beliebtheit der Oper in der englischen Gesellschaft des späten sieb- den neuen Zeiten angepasst. Das nigerianische Theater, ob mündlich oder
zehnten Jahrhunderts, die z. B. mit dem Komponisten Henry Purcell (1658– schriftlich, ist stark verwurzelt in rituellen Zeremonien und Kulten für ver-
1695) verbunden wird, erklärt ihre Verbreitung an der westafrikanischen schiedene Götter und Göttinnen, die das Leben der Gemeinschaft bestim-
Küste durch die Koffer der Missionare und Missionarinnen. Philippe Qua- men. Die Tatsache, dass diverse Dramaturgen und Dramaturginnen Zu-
que, der von Afrikaner/inne/n in der damaligen Goldküste heilig gesprochen flucht bei den chtonischen Kräften suchen, bestätigt die Vorstellung vom
und ‚der Afrikaner‘ genannt wurde, steht dafür exemplarisch. Im Ewe-Land dionysischen Wesen des Theaters in Afrika. Wole Soyinka formuliert es für
in Ghana, unter deutschen Missionaren und Missionarinnen, setzt sich das das nigerianische Theater so:
in deutschen religiösen Kreisen sehr beliebte Concerto Grosso durch.
Es gibt drei für uns relevante Gottheiten: Ogun, Obatala und Shango.
Durch perfekte Integration der drei fundamentalen Achsen der afrikani-
Im Drama werden sie im Übergangsritus des Heldengottes dargestellt.
schen Dramaturgie – das dramatische Element, die Körpersprache und der
Dieser stellt eine Projektion des menschlichen Konflikts mit den Kräf-
Gesang – dienen diese Volkstheater, die das Medium der lokalen Sprachen
ten, die seine Bemühungen, in Harmonie mit seiner physischen, sozia-
und/oder des englischen Pidgin nutzen, als Fundament des geschriebenen len und psychischen Umwelt zu leben, repräsentieren.4
Theaters. Das Repertoire der Theaterensembles, die in Ghana kurz nach der
Unabhängigkeit gegründet wurden (The Abibigroma National Drama Dieses Überkreuzen verschiedener Theatersprachen, die es erlauben, orts-
Group, das National Dance Ensemble, das National Symphony Orchestra und spezifische kulturelle Vorführungen in die Umstände und Bedingungen des
das International Awareness Theatre), ist in erster Linie inspiriert durch die modernen Theaters zu integrieren, erlaubt es Ogunde, ein Volkstheater mit
Tradition der Anansesem (die Erzählungen von der Spinne), eine besondere großem Publikum zu entwickeln, das in stetem Dialog mit Geschichte und
Form des Märchens, deren Hauptfigur Ananse, die Spinne, Ausdruck von Gegenwart steht. Sein Vorbild macht bei anderen Dramaturgen wie Duro
Fehlverhalten in Bezug auf geltende moralische Normen darstellt. Außer Ladipo und Ogunmola Schule. Diese erste Generation nigerianischer Dra-
diesen Gruppen, die von Ort zu Ort ziehen und die Bühnenkunst des maturgen und Dramaturginnen praktiziert ein ‚live theatre‘, das die Sehn-
Volkstheaters, der Concert Party, für sich nutzen, gibt es eine Vielzahl von süchte und Hoffnungen der Massen auf die Bühne projiziert, in dem es die
Dramaturgen und Dramaturginnen, die als Paradigmen für ihre Kreationen politischen und sozialen Probleme des Landes in einer Mischung aus Satire
beliebte Legenden und Erzählungen nutzen, mit denen sich das Publikum und Didaktik darstellt.

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Ein bemerkenswertes Phänomen allerdings im Theater des anglophonen Wettbewerb, der ab 1968 als der Concours Théâtral Interafricain stattfinden
Afrikas ist die Rolle der Akademiker/innen, die den Gebrauch des Begriffs sollte. Die fehlenden Möglichkeiten im nationalen Rahmen (Örtlichkeiten,
‚Wissenschaftstheater‘ legitimiert haben, um die frühe Ausrichtung dieses das Problem der Diktatur) hatten zur Folge, dass sich das frankophone afri-
Forschungstheaters auf die Professionalität und die Theaterausbildung zu kanische Theater aus dem Concours RFI und anderen Strukturen, wie dem
charakterisieren. Das frankophone Theater, noch immer auf der Suche nach von Gabriel Garran ins Leben gerufenen TILF (Théâtre International de
seiner Autonomie, hatte hier lange Zeit seine größte Schwäche. Langue Française), entwickelte. In jedem Fall müsste man sagen, dass es ein
Theater bleibt, das so sehr aus seinem Kontext gerissen ist, dass es ohne Pa-
ris oder Limoges, die Orte, von denen seine Motivation, seine Legitimation
Das Wissenschaftstheater und unterschwellig auch seine unterschiedlichen Orientierungen ausgehen,
keine Rettung für das frankophone Theater gäbe.
Nach der Entstehungsphase der Ecole William Ponty gab es im frankopho- Im Vergleich mit dem anglophonen Theater ist die Aktivität des franko-
nen afrikanischen Theater keine weiteren Initiativen seitens der neuen Insti- phonen Theaters in kurzer Zeit Forschungsfeld der Akademiker/innen ge-
tutionen des unabhängigen Afrikas. Die Dramaturgen und Dramaturgin- worden. Diese Art Forschungstheater ist ein Mittel der Regulierung und
nen der frankophonen Regionen Afrikas schienen sich zurückzuziehen in Kanonisierung der sozio-kulturellen Mechanismen, die der Ursprung des
eine Wiedererfindung der Negritude durch das Theater, mit hartnäckig de- Theaters für die Volksmassen sind. Bereits 1962, knapp zwei Jahre nach der
fensiven Werken und Illustrationen der Geschichte des Kontinents. Unabhängigkeit Nigerias am 1. Oktober 1960, wurde an der Universität
Die Helden und Heldinnen der afrikanischen Widerstandsbewegung von Ibadan als erster Universität Afrikas ein Studiengang für Theater-
gegen das koloniale Eindringen werden wieder auf die Tagesordnung ge- wissenschaften, die School of Theatre Arts, eingerichtet, die ein Versamm-
setzt in einem Bestreben nach Rehabilitation, dem es nicht immer gelingt, lungsort für Theaterleute und -gruppen wurde. Um Wissenschaftler/innen
zwischen dem Imaginären und einer nationalistischen Leidenschaft zu tren- wie Ogunde und Soyinka bildeten sich mehrere halbprofessionelle und
nen. Dieses Theater der Rehabilitation der Geschichte mit seinen Klassikern Amateurtheatergruppen, von denen die Gruppe Players of the Dawn die er-
wie La Mort de Chaka von Seydou Badian, Les Amazoulou von Condetto folgreichste war. Diese nigerianische Erfahrung hatte ein starkes Echo
Nenekhaly-Camara, La Mort du Damel von Amadou Cissé Dia, Kondo le in anderen anglophonen Ländern. Die Universität von Lagon in Ghana
requin von Jean Pliya, oder L’Exil d’Alboury von Cheik Aliou Ndao besteht richtet einen Studiengang für Theaterstudien ein, der sich vor allem um
aus persönlichen Aufarbeitungen der Geschichte durch die Autor/inn/en, Dramaturginnen wie Ama Ata Aidoo und Efua Sutherland gruppierte,
motiviert durch die Institutionen, die aus der alten Kolonialmacht Frank- während die Universität von Sierra Leone eine Vielzahl von Theaterworks-
reich hervorgingen. hops unterstützte und finanzierte, mit dem Ziel die Aus- und Weiterbil-
1953 sollten dann auch, auf Anregung verschiedener französischer Kul- dung von professionellen und Amateurtheatergruppen zu fördern. In Tan-
turzentren der AOF (Afrique Occidentale Française), Wettbewerbe ins Le- sania, das seit 1964 unabhängig ist, wird die Abteilung für Kunst, Musik
ben gerufen werden, deren Ziel es war, das Schaffen von Theaterstücken in und Theater der Universität Dar es-Salam der Nährboden für ein Theater
französischer Sprache durch das Verleihen von Preisen anzuregen. Nach der auf Swahili. Das Forschungsprojekt für ein tansanisches Theater wurde eine
Unabhängigkeit ergab sich die Notwendigkeit, die Preise der AOF den neu- landesweite Beschäftigung, so dass das Institut für Kunst von Bagamoyo
en sozio-politischen Gegebenheiten der jungen Staaten anzupassen. 1966 (Bagamoyo College of Arts) und auch von Butimba (Butimba Arts College of
wurde, im Rahmen einer Konferenz des Office des Radios et Télévisions Fran- Education) die Universität in ihrem Bestreben unterstützten, dem Volksthe-
çaises (ORTF) in Paris, die Schaffung einer Struktur zur Wiederbelebung ater des Vichekesho und des Ngonjera neues Leben einzuhauchen. (Nach
der Theateraktivitäten entschieden, die als Datenbank für französische Ra- den Verträgen von Arusha im Jahre 1967 übernahm Tansania den Sozialis-
dioausstrahlungen dienen sollte. Damit wurde die Basis gelegt für den mus, dessen Vorteile viele Schriftsteller/innen lobten, während sie seiner

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Ausübung aber skeptisch gegenüberstanden.) Aufgrund der Unterstützung nien, sollte an der Universität von Makerere die Hauptfigur des keniani-
Präsidenten Julius Nyereres, der die Künstler/innen aufrief, den so genann- schen Theaters werden. Seine Stücke handeln vom Prozess der Entfrem-
ten Familialismus zu unterstützen, wuchs die Zahl der Ngonjera Gruppen dung der jungen afrikanischen Intellektuellen, wie zum Beispiel in This
im gesamten Staatsgebiet. Allerdings gab es auch eine große Zahl von Dra- Time Tomorrow oder The Black Hermit, in dem wir einen jungen Mann
maturgen und Dramaturginnen wie N’Galimecha Ngahyoma, Emmanuel kennen lernen, der zwischen seinem afrikanisch-polytheistischen und dem
Mbozo und andere, deren Werke einen eher kritischen Blick auf den Sozia- christlichen Glauben hin- und hergerissen wird.
lismus werfen, in dessen Inneren sich Korruption und Zukunftsangst ent- Wie zu bemerken ist, löste sich die kulturelle Bindung der ehemaligen
wickeln. anglophonen Kolonien von der Vormundschaft Großbritanniens sehr früh.
Die Theaterforschung in Tansania wurde zu Beginn der 1980er Jahre in Die Wissenschaftler/innen dienten als Mittler/innen zwischen den Formen
der Abteilung für Kunst der Universität von Dar es-Salam geboren. Aus- des Theaters in ihren Kulturen und denen, die sie im Westen kennen gelernt
schlaggebend war die Initiative des Theatre for Development – Medium der hatten. Die Vermischung verschiedener Ästhetiken bereicherte die Theater-
Kommunikation mit der breiten Bevölkerung – und des Projekts zur Förde- aktivität und machte sie so zu einer Sprache, die gleichzeitig lokal und uni-
rung eines Theaters für die Jugend, das den Lehrenden der Primar- und Se- versell ist. Dramaturgen und Dramaturginnen wie Soyinka, Rotimi, Rug-
kundarstufen ein Unterrichtsprogramm vorschlägt, mit dessen Hilfe das anda, Aidoo oder Sarif Easmon aus Sierra Leone, Autor des Klassikers Dear
Theaterspielen an der Schule angeregt werden soll. Die Erfahrung in Tansa- Parent and Ogre, sind nicht aufgrund der Unterstützung von außen in ihren
nia hat gezeigt, dass die Sprachen und Formen des afrikanischen Theaters Ländern bekannt geworden. Sie sind vor allem deswegen Klassiker in ihren
gut dazu geeignet sind, ein universelles und überzeugendes Theater zu Ländern, weil sie erfolgreich die Theateraktivität an das tägliche Leben he-
schaffen. Ebrahim Hussein, Gallionsfigur des tansanischen Theaters und ranzuführen und der Emanzipation des Volkstheaters den nötigen Anstoß
Professor für Theaterwissenschaften, steht für ein Theater, das mit den Men- zu geben vermochten.
schen in ihrer Sprache spricht: dem Swahili; aber in einem dynamischen Im frankophonen Afrika scheinen die Regierungen und die Wissen-
Swahili, das eng mit der Entwicklung der Gesellschaft verbunden ist, und schaftler/innen das Theater als eine Aktivität von zweitrangiger Bedeutung
voll und ganz das ausdrückt, was Ricard mit dem Begriff der „modernen zu sehen, so dass das frankophone Theater ohne die Initiative der Institutio-
Swahili Identität“ beschreibt. nen der Frankophonie noch mehr auf der Suche nach sich selbst wäre, als es
In Uganda ist es ebenfalls das Theater der Universität, das die Basis für das heute ohnehin noch immer ist. Natürlich entstehen Initiativen wie das
die Theateraktivitäten bildet. Herausragende Figuren sind in diesem Zu- Festival International de Théâtre du Bénin (FITHEB) in Cotonou, das Festi-
sammenhang an der Universität von Kampala die beiden Professoren für val de Théâtre de la Fraternité (FESTHEF) in Togo, die Fernsehsendung
Theaterwissenschaften Robert Serumaga und John Ruganda. Serumaga „Comment ça va?“ in Côte d’Ivoire (allerdings heute nicht mehr existent),
gründet eine professionelle Theatergruppe, die Abafumu Company, mit der das Theaterausbildungszentrum Kihi-Mbock geleitet in Kamerun von Wê-
er seine Stücke wie A Play, Manjanwa und The Elephants aufführt. Ihre Ak- rêwêrê Liking, die Fachbereiche für Theaterwissenschaften an diversen Uni-
tivitäten zeigen deutlich die bestimmende Rolle, die die Universitäten in der versitäten in Afrika. Aber trotzdem bleibt festzustellen, dass das fran-
Entwicklung des afrikanischen Theaters spielen können. Wie überall im kophone Theater in seiner Gesamtheit sich mit dem französischen Theater
afrikanischen Theater wechseln sich auch in dem Stück Black Mamba von vermischt. Sehr wenige Dramaturgen und Dramaturginnen oder Theater-
Ruganda aus dem Jahre 1973 Gesang und Tanz mit gesprochener Sprache gruppen haben es geschafft, den engen Rahmen ihrer eigenen Länder zu
ab. Die gleiche Situation finden wir in Kenia, wo es ebenfalls die gemeinsa- durchbrechen, ohne zuerst die Pilgerreisen nach Limoges, Blaye oder Avig-
me Arbeit von Lehrenden und Forscher/inne/n der Universität war, die der non zu unternehmen. Generell ist es so, dass die frankophonen afrikanischen
Theateraktivität als Nahrung diente. Ngugi wa Thiong’o, zusammen mit Dramaturgen und Dramaturginnen erst dann in ihren Ländern bekannt
Soyinka ehemaliger Student an der Universität von Leeds in Großbritan- werden, wenn sie im Ausland Preise bekommen haben. Zwischen Novem-

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ber 1965 und Februar 1966, als der französische Theaterwissenschaftler Jac- dann steht auf seiner Asche das epische, afrikanische Theater, das die ver-
ques Scherer das, was er selbst eine Pilgerreise des Theaters nannte, unter- pfuschte Geschichte des Kontinents vor dem Hintergrund der Kolonialisie-
nahm, um die Dramaturgie im frankophonen Afrika zu ermutigen und auf rung richtig stellen will, durch Stücke mit entlarvenden Titeln wie L’Europe
ein internationales Niveau zu heben, war das anglophone Theater bereits im Inculpée von Antoine Letembet-Ambily, Laissez-nous bâtir une Afrique
Begriff, in mehreren Ländern ein professionelles Niveau zu erreichen. debout von Benjamin Matip oder L’Afrique a parlé von M’baye Kebé etc.
Die Patenschaft und Forschungsarbeit der Wissenschaftler/innen be- Das Jahrzehnt der 1980er Jahre prägte das Theater der „Afriques [qui]
freite das anglophone Theater schnell von den geerbten Lamentierungen der s’affrontent“. (In einem Artikel übertitelt der Kulturkritiker Jean-Norbert
senghorischen Negritude. Als Theater der Öffnung und der Verschmelzung Vignondé einen Absatz mit „Wenn die Afrikas sich entgegentreten“, um
diverser kultureller Eigenheiten wird das Theater in seiner Ausführung das kulturelle Dilemma zu beschreiben, in dem sich Afrika befindet – je-
nicht mehr als ein vornehmlich ideologisches Werkzeug erfahren und erlebt, nem Dilemma zwischen den Ansprüchen der Werte der Vorfahren und der
sondern vor allem als eine Kunst, die eine menschliche Sprache hervor- Übernahme der neu hereingebrachten Sitten der europäischen Welt.) Nun-
bringen will. Das frankophone Theater ist in seiner Gänze wegen der stark mehr erlebte auch der Konflikt zwischen ‚Moderne‘ und ‚Tradition‘ ein wie-
fluktuierenden Gruppen kein sehr stabiles Theater, man sieht viele Drama- deraufflackerndes Interesse am Theater, bevor es das Feld abtreten musste
turgen und Dramaturginnen nach Gruppen und Aufnahmestrukturen su- an das Theater der „Sonnen der Unabhängigkeit“ mit einem bitteren Rück-
chen. Das Festival von Limoges ist trotz seiner großen Bedeutung nicht von blick auf die Desillusionierung, die auf die Unabhängigkeit folgte und auf
Forschungsarbeit begleitet, die die Identitätsmerkmale dieses Theaters fest- das Aufkeimen der Diktaturen. Diesem Theater hatten sich vor allem Auto-
halten würde. Während die Führungskräfte in Togo zum Beispiel das ren wie Sony Labou Tansi, Tchikaya u’Tamsi, Efoui Kossi, Kously Lamko,
Haké, ein gesungenes polemologisches Theater, verboten, wurde es in Gha- Maxime Ndébéka und einige andere verschrieben. Wenn auch diese unter-
na in der vielschichtigen Form der Concert-Party wieder aufgenommen, da schiedlichen Schichten im afrikanischen Theater der frankophonen Regio-
diese Form des Volkstheaters eine verschlüsselte Sprache zur Verfügung nen deutlich in ihre Zeit eingebettet sind, so ist es doch in den anglophonen
stellt, durch die die Schauspieler/innen in Verschwörung mit den Zuschau- Gegenden anders. Dort hat der Nationalismus die Theaterschriftstellerei in
er/inne/n ihre Regierenden kritisieren können. Das frankophone Theater Richtung eines sozialen Theaters und eines Theatre for Development ge-
mit seinen Komplexen tut sich schwer damit, sich den afrikanischen Spra- drängt, dass seine Vitalität und Originalität aus der Erinnerung an die Ver-
chen anzunähern. Es ist kein Zufall, dass die afrikanischen Volkstheater für gangenheit und aus lokalen Aufführungen schöpft. Die Zeit hat jene, die
das breite Publikum wie die Concert-Party, die Yoruba Oper, das Vichekes- man Autoren und Autorinnen der Avantgarde nennen könnte, nicht abge-
ho, das Arinjo etc, und heute das Theatre for Development, benutzt zur nutzt, im Gegenteil, sie bestätigt ihre Aktualität. Es ist allerdings wichtig,
Sensibilisierung der Landbevölkerung, alle aus dem anglophonen Afrika nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das anglophone afrikanische Theater
kommen, wo Tradiertes, dank des freien Gebrauchs der afrikanischen Ver- sich nicht unerheblich aus der Quelle des „Theatro Experimental do Negro“
kehrssprachen neben dem offiziellen Englisch, auf Elemente Westlicher (TEN) nährt, das in den vierziger Jahren gegründet wurde und gegen die
Theaterformen treffen konnte. dominante Kultur kämpfte. Es ist die Genese eines nationalistischen Schwar-
zen Gewissens, so wie es im Theater Rogario Fuscos, Jacqui Riberiros und
vieler anderer in Erscheinung tritt. Diese Bewegung ist ein Echo der Schwar-
Ein Riss in der Kontinuität: das nigerianische Paradigma zen Renaissance in Harlem in den zwanziger und dreißiger Jahren, deren
Widerhall sich in der afrikanisch amerikanischen und karibischen Diaspo-
Die Geschichte des frankophonen afrikanischen Theaters ist geprägt von ra intensivierte. Dabei griff es auf afrikanische Quellen als Möglichkeit zu-
Brüchen, sowohl die Form als auch den Inhalt betreffend. Wenn das Schul- rück, mit den banalisierten kulturellen Wurzeln wieder Kontakt aufzuneh-
theater von William Ponty eine Verlängerung der kolonialen Ideologie ist, men – einem Verfahren, dass an Goethes Begriff der Weltliteratur erinnert.

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Die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die die afrikanische Her- schreibt sich der Entwicklung durch das Theater, einem Projekt, das immer
kunft einforderte, erlebte eine sehr intensive Theateraktivität – Zeugnis der im Vordergrund des Theaters der Integration stand, welches Serumaga und
Hinwendung zu einer fusionierenden Kunst, in deren Mittelpunkt sich dem Bereich für Musik, Tanz und Theater der Makerere Universität, in dem
Schriftsteller/innen wie Amiri Baraka finden, die afrikanische Kostüme und Rose Mboya lange Zeit an diversen Projekten beteiligt war, sehr am Herzen
Sprachen wie das Swahili nutzen. Die Maske und das Ritual, die Deartiku- lag. Ihr Theater hat, genau wie das der jungen Dramaturgen und Drama-
lierung der normativen Kolonialsprache, nähren die theatrale Sprache und turginnen Nigerias, Ghanas, Südafrikas und anderer Länder, zum Ziel, die
festigen eine Tradition, die die anglophonen afrikanischen Dramaturgen verschiedenen Bevölkerungsgruppen um ein gemeinsames, nationales Inte-
und Dramaturginnen problemlos übernehmen, im Gegensatz zum franko- resse zu versammeln. Es handelt sich, zusammengefasst, um ein Theater der
phonen Theater, das sich durch die französische Ästhetik und Kritik stark kulturellen Collage, dessen Orchestrierung, die szenischen Einheiten, die
einschüchtern lässt. choreographischen Effekte etc. die Konstellation einer jeden Gemeinschaft
Folgerichtig hat das, was heute im frankophonen Roman wie im Thea- darstellen, aber auch die der „Großen Weltrepublik des Theaters“. Die
ter wie eine Neuheit erscheint, in der Tat eine lange Tradition, die sich ver- Arbeit von Zulu Sofola, der ersten weiblichen Stimme des nigerianischen
vollständigt über ein soziales Gedächtnis, das sich je nach den Gegebenhei- Theaters, deren Werk eine Bühne zur Darstellung der Unterdrückung der
ten des Moments verändert. Durch Anpassung an eine Tradition, die durch afrikanischen Frau sein möchte, hat ebenfalls dieses Ziel. Seit der Veröffent-
eine lange Kanonisierung bestimmt ist, eine Art Kompromiss, den alle tra- lichung ihres ersten Stückes The Disturbed Peace of Christmas ist Sofolas
gen, ist das anglophone Theater eine Erhebung der kosmologischen, sozia- Werk auf die Ästhetik des traditionellen Theaters ausgerichtet, inspiriert
len, rituellen etc. Ikonen in eine ästhetische Sprache, die vor allem das Volk, durch Rituale und afrikanische Metaphysik mit einer feministischen Per-
ihren wichtigsten Empfänger, einbezieht und herausfordert. Der Bruch von spektive als thematischem Unterbau (für Olu Obafemi gehört Zulu Sofola,
Ogunde oder Soyinka zu Osofisan oder Fatunde in Nigeria ist folglich nur wenn man sich auf ihre dramatische Ästhetik bezieht, zur ersten Generation
oberflächlich. Soyinka ist ein Teil der Post-Soyinka Generation, sowohl was nigerianischer Dramaturg/inn/en). Ihre neueren Werke, wie Old Wines are
die soziale Vision des Theaters betrifft als auch in Bezug auf die Arbeit der Tasty, Memories in the Moonlight, sowie ihre Fernsehproduktionen Song of a
Neuorientierung, die dieses Theater unterstützt. Maiden, The Operator, oder Lost Dreams and Other Plays, behandeln alle
Die Dramaturgen und Dramaturginnen der letzten zwei Jahrzehnte das Thema der Dominanz und des Stolzes des männliches Emperiums und
erneuern nicht wirklich den Kurs des Theaters, bestenfalls kann man von platzieren die Dramaturgin inmitten der afrikanischen Frauen, die für die
einer Verlängerung sprechen. Die Kriterien der Definition eines postkoloni- Emanzipation ihrer Schwestern kämpfen. In diesem Theater des sozialen
alen Theaters haben ihre Wurzeln im Nationalismus und im Engagement Engagements zeichnen sich auch anderen Autorinnen wie Stella Oyedepo
der ersten Dramaturg/inn/en. Des Weiteren besetzen die Geschichte, die und Catherine Achonoluaus. Die produktivste Dramaturgin der letzten
Gegenwart und die Zukunft den ideologischen Hintergrund eines jeden zwei Jahrzehnte ist jedoch zweifelsohne Tess Onwueme, Autorin von zwei
Theaterstücks. Dem bemerkenswerten durch Autorinnen geprägten Thea- Dutzend Theaterstücken. Das Stück The Desert Encroaches bestätigt 1985
ter, das nach der Unabhängigkeit in Ghana entsteht, folgen in anderen Län- ihr Talent mit dem Preis der besten dramatischen Produktion, ausgeschrie-
dern weitere energisch in den soziopolitischen Bewegungen ihres Kontinents ben durch die Association of Nigerian Authors (ANA). Im Gegensatz zu ih-
engagierte Dramaturginnen. Inspiriert durch die ugandische Tragödie, in ren ersten Werken A Hen Too Soon, The Broken Calabash, in denen der we-
der Yoweri Museweni 1986 nach mehreren Jahren der Rebellion Kampala nig passionierte Ansatz der Frage phallokratischer Unterdrückung nicht
besetzte und sich zum Präsidenten ausrief, schrieb Rose Mboya das Stück unerheblich auf die ästhetische Arbeit abfärbt, ist The Desert Encroaches ein
Mother Uganda and her Children, dessen Titel an Brechts Mutter Courage originelles Werk, obwohl es das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle behan-
und ihre Kinder erinnert. Das Stück nutzt die traditionellen Mittel der Kom- delt, ein in der nigerianischen Literatur sehr altes Thema. Der Anthropo-
munikation, um sich in der sozialen Entwicklung zu engagieren. Es ver- morphismus geht Hand in Hand mit der Desillusionierung des und durch

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das Theater. Olu Obafemi spricht von einer Mischung aus Brecht und Oso- Ein solches Theater des Augenblicks hat alle Spielarten des Wortes zur
fisan, um die dramatische Ästhetik Onwuemes zu charakterisieren. Verfügung: Ironie, Spott, Anspielungen, das Wechseln zwischen unter-
Selbst wenn die Kritiker heute zunehmend von einem ‚Emergent Dra- schiedlichen Sprachniveaus, darunter das Pidgin, um die verschiedenen
ma‘ sprechen, um die Produktionen der neuen Generation nigerianischer Protagonisten und Protagonistinnen in ihrer Logik besser darzustellen, aber
Dramaturg/inn/en der achtziger Jahre, wie Femi Osofisan, Bode Sowande, auch und vor allem, um den spielerischen Charakter der dramatischen Fa-
Kole Omotoso, Olu Obafemi und Tunde Fatunde zu charakterisieren, das bel zu wahren. Andererseits zieht der Einfluss der modernen Medien dem
ein direktes Theater mit einer direkten Sprache sein möchte, so findet man Theater zunehmend die Bretter unter den Füßen weg, um es zu einem Fern-
doch immer die politische Allegorie des epischen Theaters, dem auch Brecht sehprodukt zu machen: es ist das video-cinematic drama, ein sehr aktiver
sich verschrieben hatte. Die politisch Verantwortlichen werden mit ihrer Sektor der nigerianischen Filmindustrie, heute kontrolliert von Ola Balo-
Unfähigkeit konfrontiert, aus der Macht eine Demonstration der Kompe- gun. In diesem Medium, das von der Jugend sehr geschätzt wird, gibt es
tenz und des Bemühens um das Schicksal ihrer Bürger zu formen. Das The- eine große Zahl von Produzenten, wie z. B. Ade Afolayan und Moses Olai-
ater nähert sich einem soziologischen Dokument, wie auch bei Soyinka ya, die darum bemüht sind, aus dem nigerianischen Theater, sowohl auf
oder, um einen frankophonen Dramaturgen zu nennen, Sony Labou Tansi, nationaler wie auf internationaler Ebene, eine Kunst für den Konsum zu
denn die Kontexte von Generationen von Werken bleiben immer die glei- machen.
chen. Man findet immer wieder Zeugnisse des Klassenkampfes mit para- Trotz des Erfolges des video-cinematic drama gewinnt aber auch das tra-
digmatischen Paarungen: Unterdrücker/Unterdrückte, Reiche/Arme, Ar- ditionelle Theater an Einfluss. Neben dem unumgänglichen Soyinka, der
mee/Zivilisten, Korrumpierer/Korrumpierte, und als zusätzliche Faktoren auch mit seinen neuen Stücken, wie Requiem for a Futurologist, From Zia
Kriege, Diktatur, Ausbeutung, Revolten. Nights of the Mystical Beasts von with Love, oder The Beatification of Area Boy immer der Alte geblieben ist,
Olu Obafemi führt uns durch die Metapher des Tieres in das Herz der My- setzen sich neue Werte durch, nicht weil sie die dramaturgische Landschaft
thologie, wo die Nacht den Monstern als Schutzmantel für ihre machiavel- durch ein anderes Schreiben verändern, sondern weil die Anerkennung, die
listischen Akte dient. Das semantische Feld des Substantivs ‚beast‘ (Tier, sie auf internationaler Ebene erfahren, den Erfolg des kulturellen Theaters
Kreatur, grausamer Mensch, Sadist, Wilder, Schlächter, Barbar usw.) unter- bestätigt, das im anglophonen Milieu schon immer Schule gemacht hat. Ob
streicht den ungesunden Zustand der politischen Landschaft, in der man im mit Tunde Fatunde oder Kole Omotoso, dessen Serie Life off the Course zwi-
Schutz der Dunkelheit die Nation ausplündert und zerstört. In Suicide Syn- schen 1981 und 1988 im Feuilleton der nigerianischen Fernsehsender ge-
drome werden diese ‚beasts‘ als „overnight directors and thieving ministers“5 zeigt wurde, oder bei Bode Sowande, die Suche nach einer Sprache, in der
benannt, die kein anderes Konzept der Macht haben, als jenes, das der Kai- das Volk sich wiederfindet, der Rückgriff auf die in der Bevölkerung verbrei-
ser in The New Dawn für sich definiert: „Einige von euch sind dazu gebo- teten Aufführungsformen sowie das Nutzen aller anderen Mittel der Thea-
ren, Scheiße wegzukarren; andere, so wie ich, dazu zu scheißen.“6 terkunst bleiben die Ankerpunkte des dramatischen Schreibens. Wenn es
Andere Dramaturgen und Dramaturginnen, wie Fatunde, verstecken jedoch einen Autoren gibt, dessen Werk die Geheimnisse des nigerianischen
den Ton, die sprachliche Ästhetik und die thematische Orientierung ihrer Theaters kristallisiert und zusammenbringt, und das afrikanische Theater
Werke nicht. Sie kündigen schon im Titel, als Provokation und Ausdruck insgesamt, so ist dies zweifelsohne Femi Osofisan, der eine Mischung aus
des Überdrusses, ihr dramatisches Projekt an. Wütende Titel wie No More traditionellem Erzähler, Shakespeare, Brecht und Soyinka ist. Sein Werk
Oil Boom, Blood and Sweat, Oga Na Thief Man oder No Food No Country führt einen szenischen Erzähler ein (Erzähler, Präsentator), der sich sowohl
werfen ganz klar die Frage nach der Verschlechterung der sozialen Moral im innerhalb als auch außerhalb des Spiels befindet. Die Grenze zwischen Fik-
Zusammenhang mit dem Triumph eines skrupellosen Kapitalismus, dem tion und Realität wird aufgehoben durch die Architektur des Spiels selbst
dramatischen Anstieg der Korruption, der Schlamperei und dem Nepotis- und ersetzt so die aristotelische Katharsis durch ein Theater der Mimesis, in
mus auf. dem das Publikum, durch den vorgehaltenen Spiegel der eigenen sozialen,

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moralischen und spirituellen Gewohnheiten selbst zum potentiellen Schau- Temple Hauptfleisch
spieler/zur potentiellen Schauspielerin des Dramas auf der Bühne wird. Südafrikanisches Theater –
Wenn man die vergangenen zwei Jahrzehnte betrachtet, so haben sich Entwicklungen und Strömungen von
die Unterschiede zwischen anglophonem und frankophonem Theater erheb- Vergangenheit bis Gegenwart
lich verringert. Während die dramatische Sprache an die überall gleichen
sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten angepasst ist, unter-
scheiden sich das anglophone und frankophone Theater heute nur aufgrund Temple Hauptfleisch (geb. 1945) ist Professor für Theaterwissenschaf-
der gewählten Idiome. Die Volksaufführungen, aus dem Kontakt mit der ten, Dekan des Theater Departments und Intendant des H. B. Thom
Schöpfungsmythologie geboren, durchziehen die geschriebene Dramatur- Theaters an der Universität Stellenbosch. Er hat als Lehrer, Sozio-
gie. Die künstlerischen Neuerungen der Szene ‚à l’italienne‘ integrieren das linguist, Forscher und Theaterdozent gearbeitet. Als Autor hat er
afrikanische kulturelle Universum mit Umsicht, besonders da der Bezug neben seinen wissenschaftlichen Schriften (darunter das Standard-
zwischen Produktion und Rezeption im frankophonen Afrika durch lokale werk Theatre and Society in South Africa: Reflections in a Fractured
Festspiele und Aufführungen zunehmend effektiver wird. Das griechische Mirror) auch etliche Stückesammlungen südafrikanischer Dramati-
Theater hat, wie man weiß, nie den Götterolymp verlassen, das afrikani- ker/innen sowie zwölf seiner eigenen Stücke veröffentlicht.
sche täte gut daran, näher bei seinem eigenen Olymp zu bleiben. Die anglo- Als engagierter Theatermensch hat er mehrere Verbände mit ge-
phonen Dramaturgen und Dramaturginnen haben früh verstanden, dass gründet, darunter South African Association for Drama and Youth The-
das Theater, anstatt sich mit philosophischen Abhandlungen aufzuhalten, atre, Association of Drama Departments of South Africa und South
sich zuallererst mit dem Leben in all seiner Urwüchsigkeit und seinen Ab- African Society for Theatre Research, dessen Vorsitz er innehat. Zudem
surditäten auseinandersetzen sollte. Heutzutage führen die Geschichte und ist er Gründer (zusammen mit Ian Steadman), Herausgeber und Ver-
die aktuellen Situationen zur Ausformung von speziellen Formen des Thea- leger des South African Theatre Journals, der wichtigsten Fachzeit-
ters, wie zum Beispiel in Südafrika, wo das Theater nach dem Horror der schrift zur Theaterforschung im Lande. Er ist in der Geschichte und
Apartheid im Projekt des nationalen Wiederaufbaus sehr geschätzt wird: Dokumentation des südafrikanischen Theaters, Forschungsmethoden
‚The Promotion of National Unity and Reconciliation‘, von der Regierung zu Theater und Theatersoziologie spezialisiert und interessiert sich
1995 ins Leben gerufen. Uganda, Kenia, Tansania, Ghana, alle diese Län- insbesondere für das theatrale Ereignis. Es gibt eine lang bestehende
der räumen dem Theatre for Development große Bedeutung im Kampf ge- Verbindung zwischen den Universitäten Bayreuth und Stellenbosch,
gen AIDS und selbst in Bezug auf politische Reformen ein und erlauben es die von Eckhard Breitinger und Temple Hauptfleisch gepflegt worden
ihm so wieder, an die Tradition des castigare ridendo mores anzuknüpfen. ist. So wurde etwa im November 2000 ein zehntägiges Kompakt-
seminar mit Graduierten der Universität Bayreuth im BereichTheater
aus verschiedenen afrikanischen Ländern von der Universität Stellen-
bosch organisiert. Schwerpunkte dieses Treffens waren historische
Konflikte (u. a. Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung), Land-
besitz und -umverteilung sowie soziale Konflikte nach der Apartheid.
Verbunden wurde es mit einem Besuch des Robben Island National
Museums. Darüber hinaus hat es über die Jahre gegenseitige Besu-
che gegeben, die zur partnerschaftlichen Festigung eines wissen-
schaftlichen Dialogs und Austauschs über Theater in Afrika führte.
Marek Spitczok von Brisinski

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Die grundlegenden Veränderungen im politischen, sozialen und kulturel- bleibsel dieser Tänze werden heute noch in der Kalahari-Wüste unter den
len Gedankengut der Welt, insbesondere in Afrika, in den letzten 25 Jahren Nachfahren der ‚San‘ praktiziert. Auch die Ankunft im südlichen Afrika
haben bedeutende Auswirkungen auf das Verständnis von Geschichts- von Zulu, Xhosa, Sotho und anderen Gesellschaften brachte ein reiches Er-
schreibung gehabt und weltweit zu neuen Beurteilungen gängiger Ge- be an sozialen, religiösen und militärischen Aufführungen und Ritualen in
schichte geführt. Dieser Impuls eines erneuten Entdeckens war auch für die die Region. Diese performativen Ereignisse, zu denen Hochzeiten, Initia-
Kulturgeschichte Südafrikas von großer Bedeutung. Er hat zur Wiederent- tionszeremonien, Erntefeste u.ä. zählen, waren Bestandteil des Alltags die-
deckung verlorener – und zur Entdeckung neuer – Fakten geführt, zu einer ser Menschen und scheinen sehr formal strukturiert und mit starken mime-
Neudefinierung historiographischer Prinzipien, zu einer neuen Interpreta- tischen Inhalten versehen gewesen zu sein. Bemerkenswert für uns heute ist
tion des Vergangenen, und mündete letztendlich im Versuch einer neuen die Größenordnung in der einige dieser Ereignisse stattfanden, mit großen
Geschichtsschreibung. Die grundsätzliche Bedingung dafür ist selbstver- Gruppen von Tänzer/inne/n und Tausenden von Zuschauer/inne/n – und
ständlich ein neuer Umgang mit den Fakten und (realen und potentiellen) oftmals mehrere Tage andauernd.
Einflüssen des gewaltigen Reichtums an Ereignissen und Artefakten, die Während einige der Tänze tatsächlich eine narrative und historio-
vor und während der Kolonialzeit existierten, jedoch durch die Kommenta- graphische Funktion hatten, ist es das Genre der oralen Geschichtenerzäh-
toren und Kommentatorinnen der Vergangenheit ignoriert, verschwiegen lungen (storytelling), welches am nächsten mit Westlichen Konzepten des
oder unterschätzt worden waren. Diese Entwicklung, ihre begleitenden po- erfundenen und narrativen Theaters verwandt ist. Diese unter allen Men-
litischen und sozio-kulturellen Prozesse sowie ihre Ursprünge sind für Süd- schen des südlichen Afrikas weit verbreitete Literaturtradition nimmt unter-
afrika – wie die Geschichte jeder ehemaligen Kolonie beweisen wird – we- schiedliche Formen an, die von einer Gegend zur anderen erheblich variie-
der einzigartig noch auf dieses Land begrenzt. Dennoch hat die politische ren. Am besten dokumentiert sind wohl die Geschichten, die von Künstler/
Geschichte Südafrikas eine spezifische Denkweise hervorgebracht und so inne/n – den so genannten Lobessänger/inne/n (izibongo in Nguni, liboko
tief verankert, dass eine erweiterte Wahrnehmung von ‚Traditionen‘ und in Sotho), die Dichtung über ihre Gemeinschaften und Gesellschaftskritik
kulturellen Schätzen jenseits kolonialer Wertvorstellungen bis zum Ende des vereinen – aufgeführt werden. Am ehesten sind sie wohl mit den europäi-
20. Jahrhunderts nahezu unmöglich war – außer als radikale, oppositionel- schen Minnesängern oder Barden zu vergleichen, nicht zuletzt weil beide
le, esoterische oder gar exzentrische Felder von Forschung und Reflexion. dramatische Elemente in ihren Aufführungen haben.
Der Prozess des Neu-Interpretierens hat gerade erst begonnen und wird Eine gewisse Anzahl dieser Tänze und Gesänge werden heute noch auf-
noch einige Zeit brauchen, bis vormals versteckte Seiten der Geschichte of- geführt und die Geschichtenerzähler/innen und praise singers sind heute
fenbart, neu bewertet und somit in das neue Denkschema integriert werden noch aktiv, wenn auch in reduzierter und/oder adaptierter Form. Moderne
können. Auch die Paradigmen unseres Denkens über afrikanische und süd- Technologien und europäische kulturelle Einflüsse greifen den Kern dieser
afrikanische Geschichte müssen den neuen Umständen angepasst werden. Traditionen an. Dabei werden sie nicht unbedingt zerstört, jedoch unwei-
gerlich verändert. Dem kongolesischen Kulturtheoretiker Valentin Yves
Mudimbe folgend müssen wir uns fragen, ob diese Veränderungen schlecht
Das vorkoloniale Zeitalter (bis 1652) sind oder unausweichlich. Ist ein fortdauernder Wandel einfach die Art, wie
Kultur funktioniert? Was auch immer wir denken mögen, es ist deutlich zu
Die ältesten bekannten Aufführungen der Region sind die so genannten beobachten, wie solche ‚Traditionen‘ in das kulturelle Gedankengut am
‚schamanischen Tänze‘ der ‚San‘ (eine homogenisierende Konstruktion der Ende des 20. Jahrhunderts eingeflossen sind und somit auch ins Theater
ältesten bekannten Kulturen des südlichen Afrikas in Ablehnung des rassis- und dieses somit verändert und erweitert hat durch komplexe Prozesse von
tischen Begriffes ‚Buschmänner‘), festgehalten in Felsmalereien – einige sind Assimilation, Synkretismus und Imitation, die dadurch Teile einer neuen
bis zu 25 000 Jahre alt, andere stammen aus dem 19. Jahrhundert. Über- ‚Tradition‘ wurden – auch wenn Vertreter/innen eines kulturellen Purismus
sowie Separatist/inn/en dies verneinen würden.
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


Frühe Paradigmen des europäischen Kolonialismus: einmal im Jahr ein großes Fest gegeben zu haben, bei dem gesungen,
Von holländischem Außenposten (1652–1799) bis getrunken und getanzt werden durfte, wobei in späteren Jahren offenbar
zur britischen imperialen Unterhaltung (1800–1880) mimisches Spiel hinzugekommen ist. Um 1701 – als sich bereits viele Euro-
päer/innen hier angesiedelt hatten – entspannten sich die strengen Kontrol-
Die verschriftlichte Geschichte der frühen Kolonialzeit wird dominiert len, und Gouverneur Van Assenburgh z. B. räumte seinen Männern weitaus
durch die niederländische Besiedlung des Kaps – inklusive der französi- mehr Möglichkeiten ein, sich zu amüsieren, obwohl es kaum Aufzeichnun-
schen Hugenotten – und die Ausdehnung dieser Besiedlung in die Kapre- gen von europäisch tradierten Theateraufführungen gibt. Die Höhepunkte
gion. Dazu gehören auch die Einfuhr von Sklaven und Sklavinnen und der darstellenden Schaffens in der ersten Phase der europäischen Besiedlung ka-
Handel mit der lokalen Bevölkerung. Weniger gut dokumentiert, jedoch men von zwei eher abwegigen Quellen: Die erste war der Einfluss der fran-
von ebenso großer Bedeutung, waren die derzeitigen politischen und öko- zösischen Siedler/innen und der zweite, weniger bekannte Einfluss kam aus
nomischen Veränderungen im südlichen Afrika, vor allem die Expansion den Quartieren der Sklaven und Sklavinnen. Es ist davon auszugehen, dass
des Zulu-Imperiums unter Chaka im 19. Jahrhundert. sich hier eine Untergrundtradition des Theaters etabliert hatte. Während
Während die meisten Quellen leichtfertig einige Aufführungen im West- dieser zweite Ort des theatralen Schaffens noch als spekulativ behandelt
lichen Stil an der südafrikanischen Küste vor der Besiedlung des Kaps als werden muss – es handelt sich um einen Theatertext (in einer privaten
das ‚erste Theater in Südafrika‘ bezeichnen, existierten die obengenannten Sammlung) von einem Sklaven namens Majiet – ist es durchaus möglich,
Performanzkulturen selbstverständlich weiter und erfreuten sich sicherlich dass dieses frühe ‚Protest-Theater‘ den ersten lokal verfassten Theatertext
großer Beliebtheit. Bedeutsam für diese Periode der Geschichte ist, dass hervorbrachte, der die Lebensbedingungen der Zeit behandelte und von
afrikanische und europäische Kulturen zum ersten Mal in einen länger Sklaven und Sklavinnen zur Unterhaltung und (möglicherweise) zur Auf-
währenden und dauerhaften Kontakt gebracht wurden und dass die Ein- klärung ihrer Leidensgenossen aufgeführt wurde.
führung eines europäischen theatralen Systems in der Kolonie erfolgte. Die britische Besiedlung des Kaps wurde 1799 endgültig besiegelt und
Wie in vielen anderen Teilen der Welt war der Ursprung des frühen eu- brachte zahlreiche Veränderungen mit sich, die eine vorläufige Siedlung in
ropäischen Einflusses militärisch. Auch wenn über die Formen des europä- eine permanente Kolonie verwandelten. Eine der ersten Anstrengungen war
ischen Theaters in der frühen Kolonialzeit nur spekuliert werden kann – es, ein besser ausgestattetes Gebäude für Theateraktivitäten zu errichten.
wobei diese oft auf künstlerische Performances von Seefahrern während ih- Das vom Gouverneur Sir George Yonge entworfene und gebaute African
rer langen Ozeanüberfahrten zurückgeführt werden, die auch Lieder, Tän- Theatre eröffnete 1800 und wurde für fast dreißig Jahre die Spielstätte für
ze und Komödien einschließen – steht fest, dass die ersten offiziellen Auf- Amateuraufführungen (in Holländisch, Französisch und Englisch), für
führungen europäischer Stücke an Bord von Schiffen oder in den Baracken zahlreiche Dramen, Farcen und andere Unterhaltungsformen, auch durch
von Kapstadt stattfanden. Z. B. wird geglaubt, dass eine Version von Ham- Mitglieder der Garnison. Aufgrund von moralischem Widerstand gegen
let 1608 auf der von Kapitän Keeling geführten Dragon gespielt wurde, als das Theaterspiel, in dessen Folge alle Theaterhäuser in der Kapkolonie für
sie in Sierra Leone war. Da sie später auch in der Tafelbucht ankerte, wird vier Jahre geschlossen blieben, wurde das Gebäude in eine Holländisch Re-
davon ausgegangen, dass ähnliche Aufführungen auch dort stattfanden. formierte Kirche verwandelt, die es bis heute geblieben ist.
Jedoch scheint diese Zuneigung zur theatralen Unterhaltung anfangs Bezeichnend für diese Ära war der Unterschied zwischen dem nieder-
sehr beschränkt gewesen zu sein, da der koloniale Vorposten – 1652 von Jan ländischen und dem englischsprachigen Zugang zum Theater. Die nie-
van Riebeeck als Proviantstation für die Schiffe der Niederländischen Ost- derländischen Amateure und Amateurinnen der Rederykerskamers (kultu-
indien Kompanie gegründet – klein, pragmatisch und zudem mit dem Bau rellen Vereinigungen), deren oberstes Ziel es war, eine Bildungsfunktion
von Festungen, dem Bestellen von Gärten usw. beschäftigt war. Unterhal- einzunehmen, hatten eher moralisierende Namen für ihre Gruppen (z. B.
tung war begrenzt und wurde vom Gouverneur kontrolliert. Es scheint nur Tot Nut en Vermaak, Door Yver Door Yver Bloeit de Kunst, Thespis, Auro-

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ra, usw.). Die englischsprachigen Gruppen und die Spieler der Garnison renden Auswirkungen auf die Künste waren unterschiedlich. Durch eine
tendierten zur leichten Unterhaltung (Melodram und Farce) oder zu Klas- bewusste Anglisierung auf allen Ebenen, dem missratenen ersten Anglo-
sikern – auch wenn einige Gruppen ebenso extravagante Namen trugen. Buren-Krieg, und vor allem dem berüchtigten zweiten Anglo-Buren-Krieg
Othello war z. B. sehr beliebt, wie auch Twelfth Night, vielleicht weil genü- – mit seinen weitreichenden Folgen – wurden separatistische Einstellungen
gend Kopien dieser Texte vorhanden waren. Die Erfolge des Londoner West gefestigt und der Afrikaaner-Nationalismus angeheizt, was zur verstärkten
End sowie andere, weniger dramatische Unterhaltungen erreichten auch das Entwicklung einer afrikaanssprachigen literarischen und theatralen Kultur
Kap auf ihren Welttourneen – ‚Playing the Empire‘, wie dieses Phänomen führte. Zur gleichen Zeit gab es die ersten Anzeichen von Schwarzen natio-
später genannt wurde. Diese Tradition der reisenden Theatergruppen wur- nalistischen Bewegungen, die, wenn auch zuerst mit geringer Beteiligung
de die Basis des professionellen Theaters in Südafrika. der Westlich gebildeten afrikanischen Elite vorangetrieben, zur Gründung
In diesem Bereich der zirkusartigen und an Musicals erinnernden Dar- des South African National Congress (später African National Congress) im
bietungen gibt es einige höchst interessante Beispiele, wie sich die ‚alten‘ Jahre 1912 führte. Gleichzeitig gab es durch die kapitalistische Industriali-
und ‚neuen‘ Welten der Region trafen. Ein Beispiel ist The Kaffir War (auch sierung eine verstärkte Verstädterung der afrikanischen Bevölkerung, was zu
unter dem Titel The Burnt Farm aufgeführt), das als „Grand Pantomime“ einer alternativen, urbanen afrikanischen Kultur führte. Analog dazu entwi-
(großes Spektakel) bei den Equestrian Gymnastics 1850 angekündigt wur- ckelte sich, unterstützt durch die hegemoniale Stellung der britischen Kultur
de. Laut Plakat zeigte diese Aufführung nicht nur das Leben der mutigen im gesamten Land, eine britische Tradition der Künste, die in den Erfahrun-
niederländischen Bauern und die heldenhafte britische Armee, sondern auch gen gründete, die Weiße britische Einwanderer und Einwanderinnen in ih-
den „Charakter und die Bräuche von Chief Macomo und seinen Leuten, rem Heimatland gesammelt hatten, sowie ihrer Sehnsucht nach ebendieser
ihre Tänze und Vergnügungen“. Ein weiteres Beispiel ist Jack at the Cape, or Heimat. Diese Dominanz hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
all alive among the Hottentots, ein ‚neuer Ballett-Tanz‘ von 1932. Auf der an- Typisch für diese Periode war die blühende städtische Kultur mit einer
deren Seite besuchten zahlreiche ausländische Gruppen die Kolonie wäh- Musikunterhaltungsindustrie und den ersten Erscheinungen neuer populä-
rend dieser Zeit, auch Schwarze Künstler/innen wie z. B. die Jubilee Singers rer Theateransätze, in denen die Formen und Inhalte afrikanischer Kulturen
aus den USA oder Ira Aldridge, eine Shakespeare-Schauspielerin. Einige integriert und weiterentwickelt wurden. Neben dieser organischen Ent-
dieser Gruppen spielten auch in den so genannten ‚Burenrepubliken‘ weiter wicklung gab es zudem den durchaus bewussten Versuch, eine formalisier-
im Norden. Zur gleichen Zeit gab es für Besucher/innen am Kap das so ge- tere Theaterkultur unter den Westlich gebildeten, urbanisierten Schwarzen
nannte ‚Native Dancing‘, und einige dieser Gruppen wurden sogar nach zu etablieren, die in der Peripherie der von Weißen dominierten industriel-
Europa exportiert, zur Belehrung und Unterhaltung der dortigen Bevölke- len Zentren lebten. In den Schulen nach europäischem Muster hatte diese
rung, die sehnsüchtig nach der Aufregung und dem Reiz jenes ‚Afrikas‘ Elite europäische Schriftliteraturen zu schätzen gelernt und so entwickelten
lechzten, das in Europa als das ‚exotische Andere‘ konstruiert worden war. sich hier die Anfänge einer Literatur, die zu einem festen und profitablen
Bereich der literarischen Szene des Landes reifen sollte. Solche Prozesse
führten zu den ersten publizierten Theaterstücken in afrikanischen Spra-
Kulturimperialismus und Nationalismus (1880–1940) chen, angefangen 1925 mit Imfene ka Debeza (Debezas Pavian), ein Xhosa-
sprachiges Stück von Guybon Sinxo und schließlich zu einem äußerst lu-
Durch die Entdeckung der reichhaltigen Bodenschätze im südlichen Afrika krativen, jedoch streng kontrollierten und zensierten Wirtschaftszweig von
lief der britische Imperialismus zur Hochform auf, was zu direkten politi- geschriebenen Theaterstücken nach europäischer Façon. Ironischerweise
schen, militärischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Konfrontatio- wurden viele dieser Stücke in afrikanischen Sprachen von Weißen geschrie-
nen mit dem anschwellenden Afrikaaner-Nationalismus führte, sowie mit ben, vor allem als später ausschließlich Weiße das Bildungs- und Veröffent-
den vorkapitalistischen afrikanischen Gesellschaften. Die daraus resultie- lichungswesen des Landes beherrschten.

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Als dann zunehmend Westliche Kunst- und Unterhaltungsvorstellun- einflussten. Dies waren die Weltwirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit
gen durch Massenmedien wie Radio, Schallplatten, Filme usw. in den urba- und einer sich rasch ausbreitenden Armut, die sich mehrenden Anzeichen
nen Zentren verbreitet wurden, hatten diese natürlich auch Auswirkungen für Krieg in Europa und die wachsende Beliebtheit von Radio und Film. In
auf die darstellerischen Formen, die sich in den lokalen Jazzbands, Tanz- Südafrika starb das professionelle Theater praktisch aus, indem die Theater-
wettbewerben, Nachtklubs etc. niederschlugen. Auch das Westliche Ver- häuser – durch die Vereinigung African Consolidated Theatres und andere
ständnis eines Theaterstücks wurde durch Schulen und Laiengruppen auf- Unternehmen – in Kinos verwandelt wurden. Auch die afrikaanssprachigen
genommen, oft mit der Unterstützung von ‚wohlwollenden‘ Weißen wie reisenden Theatergruppen hatten keinen Rückhalt mehr und gaben zumeist
André van Gyseghem, Bertha Slossberg, Mary Waters, Norah Taylor und auf. Somit wurde Theater für fast 15 Jahre ausschließlich wieder zu einer
anderen. Die bekanntesten Beispiele von Laiengruppen in den dreißiger Laienbeschäftigung. Dies war für die afrikanische Bevölkerung fast nie an-
Jahren waren die Bantu People’s Players, die eine Version von O’Neill’s The ders gewesen, aufgrund der eurozentrischen und ausgrenzenden Einstellun-
Hairy Ape spielten, und die Bantu Dramatic Society, welche aus dem Bantu gen der Weißen Gesellschaft. Es waren vor allem einige mächtige Vereine,
Men’s Social Centre in Johannesburg hervorging und Stücke wie She Stoops wie Johannesburg Repertory Society, Volksteater, Kaapse Afrikaanse Toneel-
to Conquer, Lady Windermere’s Fan und eine Xhosasprachige Version von groep (KAT), Johannesburgse Afrikaanse Amateur Toneelspelers (JAATS) und
The Pilgrim’s Progress aufführten. die Krugersdorp Amateur Dramatic and Operatic Society, die nun die einzi-
Die bedeutendste Theaterpersönlichkeit jener Zeit – als Autor und Re- gen Möglichkeiten für Schauspieler/innen und Schriftsteller/innen boten,
gisseur – war sicherlich der herausragende H. I. E. (Herbert) Dhlomo, der weiterzuarbeiten. Insbesondere die Federation of Amateur Theatrical Socie-
(zusammen mit Ezekiel Mphahlele) ernsthaft versuchte, eine kritische De- ties of South Africa (FATSSA) unterstützte neue Arbeiten durch einen jähr-
batte über südafrikanische Kultur zu initiieren und die Lücke zwischen afri- lichen landesweiten Theaterwettbewerb und regelmäßige Wettbewerbe für
kanischen Aufführungen und ‚klassischem‘ Theater, wie es in den Schulen Theaterskripte. Unter den Gewinnern und Gewinnerinnen in diesem zwei-
und Universitäten unterrichtet wurde, zu schließen. Aus heutiger Sicht mag ten Bereich fanden sich Namen wie Uys Krige und Nadine Gordimer. An-
es vielleicht schwierig erscheinen, die Verbindung zwischen Dhlomos elo- ders als diese beiden Schriftsteller/innen schrieben die meisten der Geehr-
quenten theoretischen Schriften in einer Vielzahl von wissenschaftlichen ten Einakter für die am Wettbewerb teilnehmenden Theatervereine.
und pädagogischen Zeitschriften – oder auch seinen zahlreichen, meist un- Einen oft vergessenen Einfluss auf das Theater im Nachkriegs-Südafri-
veröffentlichten Stücken sowie seinem Engagement im Laientheater – und ka hatte das Union Defence Force (UDF) Entertainment Unit, initiiert von
den Stücken, die über die Jahre in afrikanischen Sprachen für Schulen pu- einem Major Myles Bourke, dessen Aufgabe es gewesen war, die Truppen in
bliziert wurden, wie auch denen des Black Theatre der 1970er Jahre, herzu- Nordafrika und Europa zu unterhalten. Der Stil war zwar reinstes Vaudevil-
stellen. Dennoch war Dhlomos Eintreten für die Anerkennung und Förde- le (dem Varietétheater, wie es um die Jahrhundertwende in den USA beliebt
rung des kulturellen Erbes sowie des Theaters in Afrika im Allgemeinen, war, angelehnt), dennoch gab es hier für viele Interessierte die Möglichkeit,
sowie in Südafrika im Besonderen, repräsentativ für eine weitaus größere Be- auf der Bühne und im Veranstaltungswesen Erfahrungen zu sammeln.
wegung des kulturellen Engagements als bisher oft angenommen worden ist. Ein weiteres – und noch weniger bekanntes – Ergebnis der Arbeit dieser
‚Unterhaltungstruppe‘ war ihr Einfluss auf Schwarzes Theater. Einige der
besten Jazzmusiker/innen der Zeit waren engagiert worden, um die Schwar-
Verankerung einer getrennten Entwicklung (1940–1955) zen Truppen der Alliierten zu unterhalten, und nach dem Krieg brachte
Leutnant Ike Brooks ein Varieté-Ensemble zusammen, das eine zündende
Die eben beschriebene Phase des bemerkenswerten (und auch experimen- Wirkung auf Schwarze Unterhaltung hatte. Eine landesweite Tournee mit
tellen) Wachstums im Bereich Theater verebbte zunehmend zum Ende der einem Stück namens Zonk war ein Riesenerfolg bei Schwarzen und Weißen
1930er Jahre aus verschiedenen Gründen, die auch weltweit das Theater be- Zuschauern und Zuschauerinnen und wurde der Vorläufer etlicher solcher

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Varietés über mehrere Jahre, die vielen Talente an die Öffentlichkeit brach- Rückblickend mag dies etwas seltsam anmuten, doch unter der Berück-
ten und zahlreichen Karrieren den Weg bereiteten. Es etablierte auch einen sichtigung, dass es Regierungstheater waren und die Regierung 1948 in die
neuen Stil des südafrikanischen Theaters. Hände der Nationalen Partei gefallen war, ist es dann doch nicht so erstaun-
All diese Entwicklungen mündeten 1947 (in den letzten Monaten der lich. Bis Ende der 1950er Jahre hatten die nationalistischen Kräfte alle
Smuts-Regierung) in die Gründung des ersten staatlich finanzierten Thea- formalen Strukturen des Apartheidregimes installiert, indem sie die infor-
ters im britischen Commonwealth, der National Theatre Organisation mellen, jedoch durchaus effektiven Rechtsgewohnheiten der britischen Ko-
(NTO). Intendant war P. P. B. Breytenbach, ein hervorragender Verwalter, lonialgesellschaft in einen umfassenden Satz von komplizierten und un-
der als Vorsitzender der Krugersdorp Amateur Dramatic and Operatic Socie- nachgiebigen Gesetzen verwandelt hatten, welche letztendlich jede Facette
ty seine Laufbahn begann, und außerdem Mitbegründer und für 20 Jahre des politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens des gesam-
Vorsitzender von FATSSA gewesen war. NTO war zweisprachig (Afrikaans ten Landes bestimmen sollten.
und Englisch) mit Sitz in Pretoria und sollte der südafrikanischen Bevölke- Neben dem großen Experiment der NTO feierte auch das englischspra-
rung professionelles Theater, Schauspieler/inne/n des Landes Arbeit und chige Theater seine Wiederauferstehung, vor allem durch wirtschaftlich er-
Dramatiker/inne/n eine Bühne bieten. NTO unternahm zahlreiche Tour- folgreiche Produktionen aus Großbritannien und den USA. Brian Brook,
neen durch ganz Südafrika, spielte über hundert Stücke, von denen viele eu- Taubie Kuschlick, Leon Gluckman, Leonard Schach und andere inszenier-
ropäische Klassiker waren, aber auch viele, die von lokalen Autoren wie ten erstklassige Produktionen des West End und Broadway des jeweiligen
etwa W. A. de Klerk, Gerhard Beukes, Uys Krige, Guy Butler, James Am- Jahres, und einige (vor allem Gluckman und Schach) führten auch durch-
brose Brown, N. P. van Wyk Louw oder Bartho Smit geschrieben worden aus riskantere lokale Stücke auf. Shakespeare und die europäischen Klassi-
waren. NTO besaß auch ein Theaterhaus (das National Theatre, das späte- ker überlebten jedoch hauptsächlich durch Laienaufführungen, die Indok-
re Breytenbach Theatre in Pretoria), und viele Darsteller/innen, technisches trinierung in den Schulen und ab und an in einer NTO Tournee.
Personal und Autor/inn/en, die das Theater der sechziger und siebziger Jah- Während dieser Zeit vollzog sich eine Stärkung des afrikanischen
re prägen sollten, wurden dort ausgebildet, unter ihnen ein junger Inspizient ‚Township Stils‘, das auch eine bedeutende wirtschaftliche Dimension in
namens Athol Fugard. diesen Gegenden um die Großstädte entwickelte. Die künstlerische Dyna-
Das Problem war, dass dieses National Theatre nicht in irgendeiner re- mik z. B. von Sophiatown, angeführt von den Schreibenden für Bantu
alen Weise national repräsentativ war. Es war extrem elitär, engstirnig und World, Drum und Zonk sowie den führenden Jazzmusiker/inne/n dieser
kolonialistisch in seinem Mandat und seinen Einstellungen. Mehr noch, Zeit, brachte einen unverwechselbaren urbanen afrikanischen performativen
diese gesamte Institution basierte auf rassistischen Prinzipien, da sie allein Stil hervor, der sich in späteren Jahren immer weiter etablieren konnte. Dazu
den Interessen von Weißen dienen sollte und deutlich von der Regierung gehören Autoren wie Nat Nasaka, Ezekiel Mphahlele, Can Themba and
kontrolliert wurde. Auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass in späteren Bloke Modisane und Musiker/innen wie The Jazz Maniacs, The Manhattan
Jahren einige Versuche unternommen wurden, Schwarze Bedürfnisse anzu- Brothers, Dolly Rathebe und Miriam Makeba. Spokes Mashiyane und an-
sprechen, waren diese Bemühungen peripher, oberflächlich und äußerst pa- dere wurden Kultfiguren dieser Zeit. Und es war Mphahlele, der auf seine
ternalistisch. Aber als die NTO 1961 einen ‚natürlichen Tod‘ starb, geschah Weise Dhlomos Anliegen aufnahm und Mitte der 1940er Jahre das Syndica-
dies nicht aus Gründen der Abschottung, sondern wegen interner Auseinan- te of African Artists mit Hilfe von Khoti Mngoma gründete. Diese Organisa-
dersetzungen und eines überheblichen Stolzes, der sich nun unter den Wei- tion war nur eine von vielen Versuchen, die Schwarzen darstellenden Künste
ßen breit machte, da das Land wirtschaftlich prosperierte. Die NTO starb, zu fördern und bei denjenigen voranzubringen, die von den Weißen Privile-
um einem größeren, protzigeren Plan der Regierung Platz zu machen: Den gien und Theatern ausgeschlossen waren. Da sie darauf bestanden, vor ge-
regionalen Performing Arts Councils, die das gleiche rassistische und koloni- mischtem Publikum zu spielen, bekam das Syndicate of African Artists nie
alistische Gedankengut als zugrunde liegende Philosophie beibehielten. staatliche Gelder und musste letztendlich Mitte der 1950er Jahre aufgeben.

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Während die Regierung immer tiefer die Trennung zwischen den ver- hinweg, die das System direkt konfrontierten und versuchten, traditionelle
schiedenen Gruppen des Landes forcierte und auf alle gesellschaftlichen afrikanische Elemente in das Gegenwartstheater zu integrieren. Einige Bei-
Ebenen ausweitete, wurden interkulturelle Kontakte seltener und durchaus spiele sind Alan Paton und Krishna Shahs Aufführung von Sponono sowie
gefährlich. Im Falle des Theaters mussten sich die betroffenen Künstler/in- Eddie Domingo und Bertha Egnos Dingaka. Gleichzeitig führte das wach-
nen neue Alternativen suchen. Im Zuge der anschwellenden Proteste der sende Interesse von Weißen an Township Musicals (z. B. Zonk) zur weiteren
1950er Jahre versuchten etliche Schriftsteller/innen sowie Darsteller/innen Entwicklung – und auch Ausbeutung – dieser Form durch Weiße Ge-
sich auch künstlerisch zur Wehr zu setzen durch Engagement in verschiede- schäftsleute und in den Stücken der Union of Southern African Artists, die
nen Organisationen und durch kreative Adaptionen theatraler Formen. Der eine Reihe von sehr erfolgreichen ‚Township Jazz Concerts‘ Ende der 50er
Druck, subversiv zu arbeiten, verstärkte sich im Laufe der nächsten vier Jahre veranstaltete. Dies wiederum resultierte in einer der bedeutendsten
Jahrzehnte und änderte auch die Grundlagen von südafrikanischem Thea- Theaterproduktionen dieser Ära. Unter Leitung von Union Artists und Alf
ter und Performance, insbesondere in den Townships. Hier gab es stilisti- Herbert wurde das afrikanische Musical King Kong 1959 aufgeführt. Der
sche Entwicklungen, angelehnt an Vaudeville und Musicals, die später zum Erfolg dieser Produktion initiierte einen neuen Unterhaltungszweig: Thea-
Kern der südafrikanischen musikalischen Komödien wurden, bekannt als ter in den Townships. Wirtschaftlich erfolgreich in diesem Bereich waren
Township Musicals. vor allem Sam Mhangwane und Gibson Kente, aber auch viele ihrer Nach-
ahmer/innen. Dieser Erfolg führte ironischerweise zu einer Art freiwilligem
Gehorsam gegenüber der Apartheidideologie, da es nun Schwarzes Theater
Politisches Bewußtsein und die Schaffung für Schwarze gab, während das NTO Weißes Theater für Weiße machte.
einer Theaterform (1956–75) Zwei wichtige Gesetze von 1965 (Group Areas Act, Separate Amenities Act)
zementierten diese Trennung: Von nun an war es verboten, dass Schwarze
Unter den herrschenden Bedingungen fingen immer mehr Dramatiker/in- und Weiße zusammen in einer Theatergruppe arbeiteten oder sich zusam-
nen an, in ihren Werken deutlich gegen das Regime und seine Politik Stel- men ein Theaterstück ansahen. Das Theater der 1960er war eine schizoph-
lung zu beziehen, und erstaunlicherweise bekamen sie oft Erlaubnis, ihre rene und – historisch gesehen – doch sehr energetische Ausnahme, die iro-
Stücke auch aufzuführen. Zwischen 1956 und 1962 sahen wir die Anfänge nischerweise zum goldenen Zeitalter des südafrikanischen Theaters führte.
von dem, was – um einen Begriff von André P. Brink zu borgen – „New In unterschiedlicher Weise wurde das nächste Jahrzehnt (Mitte der
Drama“ in Südafrika genannt werden kann: Der erste wahre Bruch mit der 1960er bis Mitte der 1970er) zum goldenen Zeitalter für afrikanisches ‚main-
überlieferten Tradition des britischen kolonialistischen Theaters. Es waren stream‘ Theater. Das Land fühlte zunehmend den internationalen Boykott,
auch die Anfänge des lang währenden Bruchs zwischen Künstler/in und und lokale Theatermacher/innen waren immer mehr auf sich selbst gestellt.
Staat. Das Spektrum der Aktivitäten ist breit gefächert und sehr unterschied- Unter Fugards Drängen gab es 1963 einen internationalen Dramatiker/in-
lich, der Bruch in jedem Falle anders, je nach den einzelnen Prämissen und nen-Boykott und 1966 einen internationales Verbot für das Aufreten aus-
gesellschaftlichen Kontexten, und doch war die Kernidee einheitlich: Thea- ländischer Darsteller/innen in Südafrika. Diese Entwicklungen zwangen
ter darf oppositionell sein, es kann eine andere Stimme erheben. Dies trifft Autor/inn/en und Schauspieler/innen, zeitgemäßes Theater mit eigenen
sogar auf einige Schreiber/innen des ‚Establishments‘ zu, wie W. A. de Ressourcen zu machen, und anfangs war dies auch eher positiv als negativ.
Klerk, dessen frühes und immer noch oft missverstandenes Stück Die Jaar Sie brachten eine Flut von kreativer Energie mit sich, welche es den Perfor-
van die Vuuros (Das Jahr des Feuerochsens) einige sehr unangenehme Fragen ming Arts Councils mit ihren finanziellen Ressourcen erlaubte, einige der
an die Architekten der Apartheid stellte, auch wenn es anscheinend die Ide- besten Talente zu engagieren – praktisch all die besten verfügbaren Weißen
ologie einer ‚selbstbestimmten‘ getrennten Entwicklung unterstützte. professionellen Talente des Landes arbeiteten zwischen 1962 und 1972 für
Es gab auch mehrfach Zusammenarbeit über die ‚Rassenschranken‘ eine der Performing Arts Councils. Zu dieser Zeit waren die administrati-

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ven Strukturen noch recht schlank und das meiste Geld wurde für das En- denn ihre Arbeiten wurden meist als ‚primitiv‘ und amateurhaft gesehen
gagement der talentiertesten Schauspieler/innen eingesetzt. Zuerst domi- oder sie wurden in Folge des 1963 auferlegten Publications and Entertain-
nierten das afrikaanssprachige Theater und seine neuen Dramatiker/innen ment Act zensiert. Ein bekanntes Beispiel für den letzteren Fall ist Lewis
diese Renaissance. Die einzige Ausnahme war Athol Fugard, dessen frühe Nkosis The Rhythm of Violence, das fast 25 Jahre lang verboten war. Den-
Stücke auch diesem Stil entsprachen, aber dessen spätere, eher experimen- noch war die Zensur von Schwarzer Literatur oder Theater selten so eindeu-
telle Stücke allmählich das gesamte englischsprachige Theater verändern tig. Administrative Einschränkungen (z. B. Verweigerung von Aufführungs-
würden. Zu Anfang der 1980er Jahre wurde schließlich eine neue Gene- orten, Verhaftung von Schauspielern und Schauspielerinnen, die mit ihrem
ration englischsprachiger Stückeschreiber/innen in den Performing Arts Aufenthalt in städtischen Gebieten Vorgaben der Apartheid-Passgesetzge-
Councils sichtbar, als diese sich immer mehr öffneten. Aber die Zeiten hat- bung verletzt hatten) oder direkte physische Eingriffe (das Aufbrechen von
ten sich bis dahin schon so sehr geändert, dass die Performing Arts Councils ‚Zusammenrottungen‘ und die plötzliche Verhaftung aus irgendwelchen
ihre Vorrangstellung aufgegeben hatten, auch unter afrikaanssprachigen belanglosen Gründen) waren die hinterhältigen Wege, Künstler/innen zum
Autoren und Autorinnen. Schweigen zu bringen.
Es gab in den 1960ern aber auch eine Anzahl professioneller Gruppen. Während das öffentliche ‚mainstream‘ Theater florierte und in Sachen
Taubie Kushlick, Brian Brooke, Adam Leslie, Joan Brickhill und Louis Expertise und Einrichtungen expandierte (in dieser Zeit wurden für alle
Bourke, Des und Dawn Lindbergh, Pieter Toerien u. a. führten populäre größeren Städte große, moderne Theaterhäuser geplant und errichtet), auch
Stücke aus dem Ausland auf, anfangs noch mit Schauspieler/inne/n und künstlerisch, war es aus ästhetischem Gesichtspunkt ein Theater in einer
Regisseur/inn/en aus Europa und den USA, zusammen mit lokalen Talen- Zwangsjacke. Es war der politischen Ideologie der Zeit verhaftet, ein Thea-
ten. Vieles dieser Geschichte des professionellen Musik- und Populär- (im ter der Apartheid, unfähig die wahren Probleme der Zeit anzusprechen –
Sinne von Kassenerfolgen) Theaters hat bislang – bewußt und unbewußt – zumindest direkt, da es für seine Existenz vom gesamten Regierungsappa-
in der Forschung kaum Beachtung gefunden, als wäre dies nicht auch ein rat abhängig war. Ob dies nun gänzlich stimmt oder nicht, so wurde es zu-
Teil des südafrikanischen Theaters. In gewisser Weise ist dies auch Teil der mindest wahrgenommen.
Reaktion auf den kulturellen Boykott: Er schuf eine lokale Schreibtradition, Viele glaubten, dass der befreiende Impuls für das südafrikanische The-
und alle ‚importierten‘ Stücke wurden als ‚fremd‘ und nicht südafrikanisch ater woanders herkommen musste, z. B. vom Avantgarde-Theater aus den
betrachtet. Dies beruht auf einer literarischen Definition, die impliziert, USA und Europa. Das Konzept, durch Improvisation und Experimentieren
dass das geschriebene Stück und nicht seine Aufführung hier ausschlagge- ein politisches Bewusstsein bei Darsteller/inne/n und Zuschauer/inne/n zu
bend seien. Die theatrale Idee, dass die Geschichte des Theaters eine Ge- erweitern, wurde für diejenigen äußerst attraktiv, die gegen den Status quo
schichte seiner Aufführungen ist, wird anscheinend abgewiesen. opponierten und gleichzeitig unattraktiv für jene, die diesen erhalten woll-
Zur gleichen Zeit gab es ein stetig wachsendes semi-professionelles ten.
Theater in verschiedenen Schwarzen Townships, sowohl populär (z. B. von Von 1972 bis 1974 wurde das, was eine vorsichtige Bewegung hin zu
Gibson Kente, Sam Mhangwane, u. a.) als auch nachdrücklich oppositio- ernsthaftem, lokalem Oppositionstheater gewesen war, praktisch eine Re-
nell. Sehr wenig hiervon erreichte das Weiße Publikum, weder direkt durch volution. Die Gründe hierfür sind komplex und vielfältig und haben ihre
Aufführungen oder die Veröffentlichung von Stücken, noch indirekt durch Wurzeln in den vorherigen Jahren, einige lassen sich jedoch benennen. Die
Presse, Kritiken oder Werbung. Wenn einige dieser Stücke tatsächlich ein selbstbewusste und militante Entwicklung der Black-Consciousness-Bewe-
Publikum fanden – in einem Saal, einem Warenlager, oder einem sonstigen gung (vor allem seit 1969), die kumulativen Auswirkungen der kulturellen
Raum – wurde in der Tagespresse selten darüber berichtet. Schwarze Süd- Boykotts von 1963 und 1966, die zunehmende Frustration der Künstler/in-
afrikaner/innen hatten keine großen Institutionen – wie die staatlichen Per- nen, die ausschließlich nach den Vorgaben der separatistischen Apartheid-
forming Arts Councils – oder kommerziellen Theaterhäuser hinter sich, Gesetze arbeiten durften, und die ernüchternde Erkenntnis, dass die staat-

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lich gestützten Performing Arts Councils nicht als Mittel für einen Wandel lyglotte Stücke, in denen Englisch als Hauptsprache fungiert) eine erfolgrei-
taugten. che Form von öffentlichem Protest und Diskussion, sowohl in den Theater-
Ironischerweise war es ein Experiment der Improvisierung, welches häusern der Großstädte (z. B. das Market Theater und der Federated Union
Athol Fugard in Theatre Laboratory (Orestes) für das Cape Performing Arts of Black Arts – FUBA – in Johannesburg, dem People’s Space und dem Bax-
Council unternahm, das zu einem der einflussreichsten Theatergruppen und ter Theatre in Kapstadt, und dem Abbey Theatre in Durban), wie auch in ei-
-häuser dieser Zeit führte: The Space in Kapstadt. Bald darauf folgten ande- nigen Universitätstheatern und im radikaleren und innovativeren ‚Alterna-
re oppositionelle, so genannte ‚alternative‘ Theatergruppen, die an die Be- tiv‘-Theater der Townships.
wegung der 1950er Jahre anknüpften und gezielt in dem ‚benachteiligten‘ Es gibt drei Hauptströmungen der 1970er und 1980er Jahre. Erstens
Bereich des Schwarzen Theaters arbeiteten. Bekannte Häuser waren das entdeckten Theater und Theatermacher/innen die Macht der Aufführung
Market Theater (1976 gegründet) in Johannesburg und Kapstadts Baxter als sozio-politische Waffe. Zweitens gab es die ersten ernsthaften Versuche,
Theatre (1977 eröffnet). In gewisser Weise war das Baxter über die Jahre das kulturelle und sprachliche Barrieren durch einen Verständigungsprozeß
kommerziellste der drei Häuser, mit Aufführungen von Pieter Toerien, den des Theaters zu überwinden – sowohl durch das ‚Workshop‘-Format als
Performing Arts Councils und den progressiven Stücken des Market Theater auch durch die bewusste Anwendung polyglotter linguistischer Formen, vor
und der Townships. Dennoch konnte es den Ruf, ‚oppositionell‘ zu sein, re- allem das städtische Patois des Tsotsitaal (‚Gangstersprache‘). Drittens gab
lativ intakt erhalten. Neben diesen Entwicklungen gab es auch einen deut- es einen deutlichen und bemerkbaren Wandel des theatralen Paradigmas,
lichen Anstieg performativer Aktivitäten, sowohl zur Unterhaltung (das die weg von den institutionalisierten, importierten europäischen Formen, hin
verschiedenen Traditionen fortführte und das frühe Werk von Gibson Ken- zu eher informellen und weit verbreiteten indigenen Aufführungstraditio-
te und Sam Mhangwane einbezog und erweiterte), wie auch unter dem Ein- nen.
fluss der Black-Consciousness-Bewegung, den politischeren Stücken von Während der Staat alle ‚subversiven‘ Publikationen und Medien unter-
Kente selbst (How Long?, Too late, I believe) sowie den subversiven Stücken drückte, wurden spontane Massenproteste, Aufmärsche, Tänze, improvi-
von jungen Dramatikern wie Solly Mekgoe, Julius Mtsaka und vor allem sierte Reden, Gedichte und andere Aufführungen Teil eines andauernden
Zakes Mda. spectaculum mundi, eines performativen Ausdrucks des Widerstands der
Massen. Indem sie viele Elemente älterer afrikanischer Formen wie z. B.
Tänze, Lieder und Geschichten nutzten, entdeckte das Theater die Macht
Theater als Waffe (1976–1989) seiner Kurzlebigkeit.
Unzulänglich wie jede Kategorisierung bleiben muss, scheint das Thea-
1976 war ein Wendepunkt des Landes. Die politische, wirtschaftliche und ter nach 1976 einen Wandel vollzogen zu haben, von dem was vorsichtig als
kulturelle Isolierung Südafrikas wegen seiner rassistischen Politik nahm ste- ‚Theater der Wut‘ benannt werden könnte – direkt nach den ersten gewalt-
tig zu und wurde immer deutlicher gefühlt. Hinzu kamen vier kritische Er- tätigen Auseinandersetzungen – hin zu einem ‚Theater der Reflexion‘ in
eignisse, die für die Theaterlandschaft große Bedeutung hatten: die Schü- den späten 1980ern. Der Punkt ist jedoch, dass das Theater direkt vor und
lerproteste in Soweto und die daraus folgende Mobilisierung der Massen, nach dem Trauma von 1976 stilistisch sehr aggressiv, propagandistisch und
die Einführung des Fernsehens durch die South African Broadcasting Corpo- angreifend wurde, mit einer größeren Gewichtung auf politischem Kom-
ration (SABC), die allmähliche Entsegregierung von Theaterhäusern und mentar als auf ästhetische Bedenken. Es gab eindeutig das Gefühl, unter-
die Eröffnung des Market Theater. Das Schreiben von Stücken für staat- stützt durch die Organisationen des Widerstands, und sogar direkt von ei-
liche Theater blieb ebenso stark internen und externen Kontrollen sowie der nigen angesprochen (vor allem von Steve Biko), dass es zu solchen Zeiten
Zensur unterworfen wie zuvor. Dies führte zu einem zeitweiligen Rückgang notwendig ist, vorerst die ästhetischen und anderen Ziele der Literatur zu
afrikaanssprachiger Stücke. Gleichzeitig waren Stücke in Englisch (oder po- vergessen, denn der/die Autor/in habe eine moralische Pflicht, den Kampf

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gegen das gegenwärtige Böse aufzunehmen und zu versuchen, die Men- Theater der Heilung (1990–2004)
schen durch ein erhöhtes politisches Bewusstsein zu mobilisieren.
Vieles des bisher Gesagten lässt sich mit der Arbeit der frühen 1970er Die derzeitige Phase des südafrikanischen Theaters wurde durch die Wahl
Jahre verknüpfen, aber in den 1980ern erweiterten sich Stil und Inhalt des von F. W. de Klerk und seiner historischen Erklärung im Parlament am
Protesttheaters, um weitere Belange sowie auch verschiedene performative 1. Februar 1990 eingeläutet. Was auch immer zukünftige Generationen
Formen und ein wachsendes Bewusstsein (auch unter Kritiker/inne/n) für über den ehemaligen Vorsitzenden der National Party und seine Reformen
ein erweitertes Verständnis von ‚Theater‘ in Südafrika mit einzubeziehen. Es aussagen mögen, diese erste Rede – und damit die Freilassung von Gefan-
gab auch ein immer größeres Œuvre von studentischen Stücken, die beim genen wie Nelson Mandela und die Legalisierung der oppositionellen Par-
Grahamstown Arts Festival oder dem ATKV Kampustoneel (1982–1989) in teien – hatte auch eine dramatische Auswirkung auf Künstler/innen und
Pretoria und anderen Festivals gezeigt wurden. In dieser Ära war der heraus- ihre Kunst. Zwei bemerkenswerte, wenn auch allgemeine Trends mögen die
ragende Theaterautor Athol Fugard und das wichtigste Haus das Market Ausmaße dieses Wandels in einer Phase des ‚Theaters der Heilung‘ umrah-
Theater. Es war eine Zeit, die das Theatermachen in Südafrika einzigartig men.
werden ließ, eine Mischung der vielen Traditionen aus Afrika, Europa und Zunächst verursachte die besagte Rede eine Öffnung der Gesellschaft
Nordamerika. und nahm den interkulturellen Debatten ihre Verbissenheit. Plötzlich fan-
Ab 1985 bewegte sich der Schwerpunkt langsam, jedoch stetig in zu- den sich zur Planung von gemeinsamen Projekten Gruppen zusammen,
sätzliche Themenbereiche sozialer und persönlicher Bedeutung, behielt aber welche aus ideologischen Gründen oft über zehn Jahre nicht miteinander re-
auch weiterhin seine politisch-kommentatorische Schwerpunktsetzung bei. den konnten. Ab 1991 hatten solche Projekte die volle Unterstützung so-
Dies war z. T. das Ergebnis einer erweiterten Auffassung des gesamten kul- wohl der Regierung als auch des ANC Kulturbüros. Gleichzeitig erforder-
turellen Widerstandskampfes, einer größeren Unabhängigkeit und Kom- ten solche Pläne aber auch eine genaue Bestimmung des Theaters in einem
petenz von Darstellenden und Schreibenden und eine Reaktion auf ein ‚neuen‘ Südafrika, in dem Zugang zu Geldern (theoretisch) für alle offen
schrumpfendes Publikum, dass des alten, eindeutig propagandistischen Stils sein würde. Wenn es Gelder von einem bankrotten Staat geben sollte, dann
der späten 1970er und frühen 1980er überdrüssig geworden war. Feminis- würde die Verteilung offensichtlich die Debatte wieder anheizen. Diese Sor-
tische und schwul-lesbische Themen wurden sichtbar (vor allem am Market ge führte landesweit zu einer Vielzahl von Kongressen, Symposien und Dis-
Theater, wo auch mehrere Frauentheaterfestivals stattfanden), wie auch Um- kussionen an verschiedenen Orten und unter diversen Namen. Während es
weltprobleme, die vor allem von Nicholas Ellenbogen und Ellis Pearson in an der Oberfläche so schien, als würde wenig Konkretes erreicht werden,
der Loft Theatre Company des Natal Performing Arts Councils, und später schmiedeten sich im Hintergrund allmählich neue Allianzen, die sich über
unter dem Namen Environmental Theatre von ihrem eigenen Theatre for die alten (Apartheid-)Barrieren hinweg verständigten und die zu erstaunli-
Africa bearbeitet wurden. chen Machtverschiebungen und ideologischem Wandel in den Institutio-
Nirgends war jedoch die Vielfalt und die Unbestimmtheit des neuen nen der Künste führten. Ein erster Gipfel dieser Diskussionen war das Na-
Theaters klarer sichtbar als beim jährlichen Grahamstown Arts Festival. Zum tional Symposium on the Arts in Johannesburg vom 6. bis 7. Dezember
Ende der 1980er wurde es immer schwieriger, dort einen besonderen Fo- 1992, auf dem ein Verfahren in Gang gesetzt wurde, das letztlich zu einer
kus im Theater auszumachen, und ein Eklektizismus in Form und Inhalt neuen Finanzierungsstruktur in den Künsten führte.
war deutlich zu sehen. Es wurde auch zunehmend Besorgnis über die fallen- Die andere bemerkenswerte Auswirkung war die fast absurde Suche
den Qualitätsstandards der Aufführungen geäußert. Erbitterte Diskussio- nach neuen Themen, Ideen, Fragen usw., um Theater zu rechtfertigen, da
nen um die Zukunft der Künste waren an der Tagesordnung, und praktisch die (theoretische und allmählich auch praktische) Abschaffung der Apar-
jede Theatergruppe erfuhr eine Art interne Revolution. Dennoch gingen die theidgesetze der gesamten Anti-Apartheid-Kunst den Boden entzogen hat-
Aufführungen weiter und die Zuschauer/innen unterstützten das, was ih- te. Es war ein Tradition der Widerstandskunst, die mehr als 40 Jahre ange-
nen gefiel und behagte.
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


halten hatte, in der Karrieren geformt, etabliert und vernichtet wurden, je und die wieder verfügbaren West End und Broadway Stücke anzusehen oder
nach der spezifischen Anti-Apartheid-Vision, und viele Stückeschreiber/in- die zahlreichen kleinen Revues und Kabaretts zu besuchen. Die ‚ernsteren‘
nen fanden sich ohne aktuelle Themen und oft ohne Publikum wieder. Stücke der großen Häuser (vom Market Theater zu den Theatern der Perfor-
Drei weitere tiefgreifende politische Ereignisse fanden dann zwischen ming Arts Councils) spielten vor leeren Sitzreihen, und ernste Autoren und
1994 und 1996 statt. Die ersten freien und fairen Wahlen wurde unter den Autorinnen, die ihre Stücke nicht in der neue Euphorie verkleiden konnten
Augen der Welt abgehalten, Nelson Mandela wurde Präsident und die (oder wollten), mussten sich einem studentischen oder Festivalpublikum
Wahrheits- und Versöhnungskommission nahm ihre Arbeit auf. Alle drei zuwenden, das bereit war, Anschuldigungen über Vergangenes über sich er-
wurden zu medialen, theatralen Ereignissen von internationaler Bedeutung gehen zu lassen.
und zeigten der Welt die Pracht und Vielfältigkeit der südafrikanischen Natürlich war dies zum Teil Anzeichen für die generelle Ungewissheit
Kulturen über Sender wie CNN und SkyNews. Sie veränderten nicht nur der Zeit und wurde von Vielen als eine Übergangsphase gesehen, bevor das
die Nation, sondern auch unsere Wahrnehmung von uns selbst und dieser Theater zu einer neuen evolutionären Bühne eines (mythischen) südafrika-
mythischen (vielleicht utopischen) „Regenbogennation“, über die soviel ge- nischen Theaters aufbrechen würde. Diese letzte Vision ist immer noch ein
sprochen wurde. Der Eindruck dieser ‚Performances‘ (die Massen, die 1994 Traum, denn bislang hat sich die schlichte Unterhaltung und Nostalgie
anstanden, um zu wählen, das riesige Konzert für Mandela in den Union kaum gelegt, mit Musicals, Revues, Kabarett, Komödien, Satiren, Ein-Per-
Buildings, und die fortwährende Saga der Kommissionsuntersuchungen im sonen-Stücken und Alleinunterhalter/inne/n (sogar auf Afrikaans), die die
Fernsehen sowie der gewonnene Rugby World Cup im eigenen Lande usw.) Vielzahl der kleinen Bühnen und über 30 Festivals im Lande beherrschen.
war Quelle und zugleich auch Form für viele neue Theaterstücke der Zeit. Nicht dass es keine Versuche gegeben hätte, neue und wichtige Themen
Natürlich trugen diese Ereignisse – sowie der rasche Wandel im kultu- anzusprechen. Einige Stücke brachten schon 1992 zwei unterschiedliche
rellen und politischen Umfeld danach – zur Verunsicherung von Künstlern Trends zum Vorschein. Poison von David Kramer und Taliep Petersen war
und Künstlerinnen und der gesamten Theaterbranche bei, die die demokra- eine lokale Bearbeitung von Othello, das in dem Gangster- und Drogenmi-
tischen Wahlen und das Wunder einer friedlichen und ausgehandelten lieu der Cape Flats spielte. Solche Themen, zusammen mit anderen wie Se-
Machtübergabe nach Jahren von zivilem Ungehorsam und Widerstand mit xismus und Gesundheitsthemen, sollten das Community Theatre und das
den neuen Realitäten auszugleichen versuchten. Auf der Suche nach einer politische Theater des nächsten Jahrzehnts dominieren. Athol Fugards Play-
kulturellen Identität im ‚neuen Südafrika‘ wurde das Konzept von Kultur land andererseits erschien wie ein ernsthafter Versuch, das südafrikanische
(inklusive Kunst und Theater) radikal neu definiert, um das volle Spek- Theater über die Apartheid hinaus zu bewegen, indem es sich um Versöh-
trum von kulturellen Aktivitäten von allen Bürgern und Bürgerinnen des nung und Verständnis bemühte. Ein Schwarzer und ein Weißer Mann tref-
Landes mit einzubeziehen. Dieser Wandel brauchte eine flexible Interpreta- fen sich und entdecken, dass sie das Trauma ihrer Vergangenheit zusammen
tion des Begriffs, welche neue Möglichkeiten von interkulturellen, interdis- bewältigen können. Vielleicht das beste frühe Beispiel hierfür war das äu-
ziplinären, grenzübergreifenden Arbeiten schaffen und dennoch die neue ßerst beliebte, bescheidene, aber pfiffige Musical Fairyland (von David
politische Lage berücksichtigen würde. Kramer und Taliep Petersen), welches mehr als zwei Jahre in Kramers Dock
Wie oben erwähnt, kam das politische und protestorientierte Theater – Road Theatre in Kapstadt gespielt wurde. Vor dem Hintergrund der Zeit
der Großteil des Theaters der 1980er Jahre – aus der Mode, denn die Men- war diese einfache, interkulturelle und heilende musikalische Revue über
schen sehnten sich vor allem nach Unterhaltung, Feiern und Komik nach das Leben in Südafrika der Inbegriff einer neuen und kreativen Chance für
drei Jahrzehnten politischen Kampfes. Innerhalb eines Jahres fielen die Boy- das südafrikanische Theater. Es folgten weitaus ernsthaftere Stücke über die
kotts, und das Theater wurde wieder einmal eine durchaus kommerzielle Wahrheits- und Versöhnungskommission (z. B. Ubu and the Truth Commis-
Unterhaltungsform, wie bereits hundert Jahre zuvor. Zuschauer/innen ka- sion von Jane Taylor, William Kentridge und der Handspring Puppet Com-
men in Scharen, um sich Musicals, Opern, Jazzkonzerte, Kammerspiele pany), die jedoch auch den multimedialen, hybriden Stil der 1980er Jahre

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verwendeten. Zur gleichen Zeit versuchten auch zahlreiche konventioneller otypisierender Shows aus Südafrika (Ipi Tombi, Footprints of Africa u. a.),
geschriebene Stücke das Land und seine Menschen zu verstehen, darunter die Verfilmung alter Bücher und Theaterstücke über den Widerstand (Cry,
solche von Autor/inn/en wie Athol Fugard (My Children My Africa, Valley the Beloved Country – zweimal, Dry White Season, Sarafina!, Bopha!), und
Song, Sorrows and Rejoicings), André P. Brink (Die Jogger = „Der Jogger“), die stark anwachsende Film- und Medienwirtschaft im Lande, als Kehrsei-
Breyten Breytenbach (Boklied = „Ziegenlied“; Johnny Cockroach und Die te derzeitiger Entwicklungen. Nun, da der Kulturboykott vorüber ist, schei-
Toneelstuk = „Das Theaterstück“), Janet Suzman (Three Sisters), Deon Op- nen Loyalitäten und Ideologien in dem Eifer, an einem wirtschaftlichen Er-
perman (Donkerland = „Dunkles Land“), Reza de Wet (Drie Susters Twee = folg teilzuhaben, in den Hintergrund getreten zu sein. Beobachtungen
„Drei Schwestern Zwei“ und Breathing In), John Kani (Nothing but the darüber, wer plötzlich für oder mit wem in welchem Zusammenhang invol-
Truth) und andere. viert war, wurde zum sportlichen Zeitvertreib.
Die Finanzen und Realitäten einer sich verändernden – und für man- Kritisch im letzten Jahrzehnt war allerdings die Diskussion um die Rol-
che, sich im Verfall befindenden – Theaterbranche begannen allmählich die le und finanzielle Unterstützung der Künste, die sich dann in der Auflösung
Arbeit von Dramatiker/inne/n, Regisseur/inn/en und Darsteller/inne/n zu der Performing Arts Councils und der Gründung des National Arts Council,
beeinflussen und ihnen andere Realitäten zu diktieren. Es gab zum Beispiel als zentrales Finanzierungsorgan für alle Kunstausübende, 1997 manifes-
einen großen Zuwachs an Straßentheatern – in den Einkaufszentren, an den tierte. Es gab nun weniger Gelder und diese wurden über mehr Bereiche als
Stränden und in den Innenstädten –, und gleichzeitig auch von kleinen, in- vorher verteilt, unter Einbeziehung der bildenden Künste, dem Kunsthand-
timen Theaterräumen, die genauso schnell wieder schlossen, wie sie eröff- werk und dem kulturellen Erbe. Privatisierung, Einsparungen, Fairness,
net worden waren. Aufgrund des Schwindens der Performing Arts Councils Gesundschrumpfen und Arbeitsplätze waren die Stichwörter der Branche,
als Arbeitgeber – ihre Budgets waren größtenteils in das neue National Arts ebenso wie in anderen Zweigen des privaten und öffentlichen Lebens in
Council geflossen – formierten sich unabhängige Kooperativen, die ver- dem neuen, kapitalistisch orientierten Südafrika des Präsidenten Thabo
suchten, dem wirtschaftlichen Zerfall entgegenzutreten und die Künste zu Mbeki.
demokratisieren. Diese Gruppen hatten es aber auch schwer, sich von Vor- Unter diesen Bedingungen der Unsicherheit blieb das Theater – und die
stellungen, die der kulturelle Anti-Apartheid-Widerstand der 1970er und darstellenden Künste insgesamt – erstaunlich dynamisch, obwohl die wirt-
1980er Jahre den Künstlern und Künstlerinnen aufgezwungen hatte, zu be- schaftlichen Einschränkungen die gesamte Branche stark beeinflusste und
freien. auch die Form der Aufführungen bestimmte, wie sie präsentiert und einge-
Dann gab es noch den rasanten Zuwachs an Kunst-Festivals. Die unge- bettet wurden. Während etliche Leute immer wieder den Tod des Theaters
fähr fünf nationalen Festivals (für professionelle, Schul- und Laiendarstel- in Südafrika proklamierten, beschrieben die Fakten ein anderes Bild. Heu-
ler/innen), die 1990 stattgefunden hatten, sind bis 2004 auf mehr als 30 te gibt es jährlich wahrscheinlich mehr Aufführungen als je zuvor in der
Festivals angestiegen, welche die Theatersaison ausmachen. Diese Entwick- Geschichte des Landes. Form, Länge und Thema der Stücke sowie die sai-
lungen sind einerseits Anzeichen für einen starken und dynamischen Wan- sonalen Rhythmen und Erfolgsquoten variieren sehr stark, aber die Auffüh-
del, aber auch Symptome für ein gewisses Maß an Unsicherheit in den rungen finden statt. Jedoch sind die funktionalen Prozesse der Branche sehr
wechselhaften Vor-Milleniumszeiten. Sie hatten eine große Auswirkung auf viel anders als in vorangegangenen Zeiten. Platzmangel verhindert hier eine
die Art und Weise, wie Theater im Land gemacht, verwaltet und besucht tiefe Analyse dieser Prozesse, dennoch kann eine kurze Zusammenfassung
wird. einiger der wichtigen Strömungen erhellend sein.
Angesichts der Internationalisierung von Kultur und die dadurch ver- Zunächst gab es den Wandel weg vom ernsten politischen Theater zu
breiteten Produkte kann man schon etwas zynisch werden, z. B. über die leichterer Unterhaltung, obwohl die letzten Jahre (2000–2004) wieder eini-
wachsende Begeisterung über importierte Produktionen (inklusive Publi- ge ernsthaftere Stücke hervorgebracht haben, z. B. vom jungen Fugard, von
kumserfolge wie Les Miserables, Cats, Phantom der Oper), den Export stere- Reza De Wet, Deon Opperman, Charles Fourie, Jane Taylor, Breyten Brey-

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tenbach, John Kani, Fatima Dike, Greig Coetzee, und anderen. Eine wei- standen – wie zuletzt in den 1930er und 1940er Jahren. Theater ist wieder
tere Veränderung war die Bewegung hin zu multi-medialen Musical-artigen mal unterwegs, um die Menschen zu erreichen, und verharrt nicht mehr
Performancestücken und auch die Rückkehr des internationalen Theaters nur in den Großstädten.
(in lokalen Produktionen und internationalen Kooperationen) aufgrund der Die Aufführung von selbstkreierten Werken statt dem Spielen von ver-
Aufhebung des kulturellen Boykotts. Auch Kabaretts, Revues und nostalgi- öffentlichten Stücken – was zu Zeiten der Apartheid anfing, um den Mas-
sche Musicals, die südafrikanische Musik und Musiker/innen der 1950er, sen eine Stimme zu verleihen – ist zu einem Überlebensmodus geworden in
1960er und 1970er Jahre feierten, waren zuhauf vertreten. Zudem gab es ei- Zeiten des Währungsverfalls, in denen der Zugang zu internationalen Stü-
nen Aufschwung im modernen Tanz und ‚Physical Theatre‘ (körper- und cken fast unmöglich wird. Ein weiterer Vorzug dieser Zeit ist die bewusste
bewegungsbetonte Aufführungen im weitesten Sinne) als unabhängige For- Bearbeitung von lokalen Themen. Ein Nachteil ist die weitere Verwendung
men mit Gruppen wie JazzArt, Magnet Theatre, The First Physical Theatre von alten lokalen oder internationalen Modellen des Theatermachens, statt
Company und The Physical Joint und Namen wie Gary Gordon, Jenny Rez- neue, dynamische, internationale (weiter gefasst als engdefinierte europäi-
nik, Mark Fleischman, Jay Pather, Samantha Pienaar Andrew Buckland, sche oder nordamerikanische) Theatermodelle zu benutzen. Aufführungen
Bheki Mkhwane, Brett Bailey und viele andere. Die zunehmende Beliebt- in städtischen, vorstädtischen und ländlichen Kontexten, an Orten, die
heit von Kabarett, Revue und Komik wurde auf verschiedenen Festivals of- nicht für Theater entworfen wurden (z. B. Restaurants, Parks, Galerien,
fensichtlich. Namen wie Pieter-Dirk Uys, Casper de Vries, Solly Philander, Warenlager, Kirchen, öffentliche Durchgänge und Plätze, etc.) spielen auch
Dowwe Dolla, Margit Meyer-Rödenbeck, Koos Kombuis, Taliep Petersen, eine immer bedeutendere Rolle.
Dawid Kramer, Elsabé Zietsman, Antoinette Pienaar, und zahlreiche ande- Die mehr als 30 jährlichen Festivals haben eine enorme Bedeutung in
re wurden synonym mit den neuen Formen für die kleine Bühne. Eine wei- der Bestimmung des Terminkalenders und der Ausformung der neuen
tere Entwicklung war die Auflösung von formalisierten Theaterensembles ‚Theatersaison‘ sowie der Entwicklung der neuen Formen des Theaters nach
und das Aufkommen von kleineren, wirtschaftlicheren ad-hoc-Gruppen. 1990 bekommen. Deutliche Auswirkungen sind die Verbreitung des ein-
Der Zuwachs – aber auch das Verschwinden und die Transformation – die- stündigen ‚vollständigen‘ Stückes und die Idee des ‚Instant-Theaters‘ (jede
ser Ensembles innerhalb einer sich kontinuierlich wandelnden Theaterbran- und jeder kann eine Aufführungsidee einreichen, und wird diese angenom-
che war äußerst auffällig. Die Verwendung von Theaterfähigkeiten für men, so wird innerhalb von ein oder zwei Monaten das Stück für das jewei-
kommerzielle Zwecke (z. B. in der Werbung und im ‚Industrial Theatre‘ in lige Festival entwickelt). Der Zugewinn ist an den zahlreichen neuen und
Betrieben) hat zur finanziellen Absicherung – und in manchen Fällen zu kreativen Theatermachern und Theatermacherinnen und aufregenden Auf-
großem Reichtum – von vielen Darstellern und Darstellerinnen geführt. führungsformen zu sehen. Und was ging verloren? Zunächst einmal hat das
Interaktives und interventionistisches Theater hat auch an Bedeutung kulturelle Gedächtnis an Bedeutung verloren. Es werden weniger große,
gewonnen, mit Aufführungen für Bildung, Bewusstseinsbildung und der aufwändige und daher auch teure Stücke produziert – die dann auch ent-
Veränderung von Lebensmustern. Es gibt hier eine enorme Bandbreite – sprechend gut besucht sein müssen. Zweitens werden vergleichsweise wenig
von verschiedenen Aufklärungsprogrammen auf Projektbasis (z. B. Dra- Stücke produziert, die über einen ausreichend langen Zeitraum, mit viel
mAidE unter der Leitung von Lynn Dalrymple) bis hin zu Organisationen, Überlegungen und Reflexion, geschaffen werden, um sich mit den profun-
deren Geschichte bis in die 1980er Jahre hineinreichen, wie der New Africa den und gewichtigen Themen unseres Lebens beschäftigen zu können. Die
Theatre Association, dem Community Arts Project (beide Kapstadt), Sibikwa Schaffenden dieser letzten Kategorie können wahrscheinlich an einer Hand
und dem Market Theatre Laboratory (Johannesburg), und die vor allem abgezählt werden, angeführt von Fugard und De Wet.
‚Empowerment‘ von kreativen jungen Menschen zum Ziel haben. Durch Es ist immer noch zu früh, um die letzten zehn Jahre Demokratie um-
den enormen Zuwachs von Community Theatre, Theater in Schulen und fassend auswerten zu können, aber es scheint, als wenn dies eine Periode ist,
dem vergrößerten Festivalturnus sind zudem reisende Theatergruppen ent- in der das Theater in Südafrika sich für das nächste Jahrtausend neu erfun-

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den hat, offensichtlich zu wenig finanziert und zu gering bewertet und be- Zakes Mda
stimmt etwas planlos und zufällig strukturiert, aber dennoch ungeheuer Südafrikanisches Theater im Zeitalter der Aussöhnung
dynamisch, zuversichtlich und kreativ bis ins Extrem.

Aus dem Englischen übersetzt von Marek Spitczok von Brisinski Dass der heute sechsundfünfzigjährige Zanemwula Kizito Gatyeni
„Zakes“ Mda (isiXhosa: der mit dem Regen kam, Zakes haben ihn
seine Freunde beim Spielen auf der Strasse gerufen) erst relativ spät
seinen ersten Roman vorlegte, ist – wie so vieles in seinem Leben im
Besonderen und in der Literatur Südafrikas im Allgemeinen – zum
großen Teil Auswirkung der Apartheid. Erst nach zweiunddreißig-
jährigem ‚Nomadenleben‘ mit Stationen unter anderem in Lesotho
und den USA entschloss er sich 1995, wieder in Südafrika zu leben.
Und erst damit kam auch die ‚Ruhe‘, Romane zu schreiben.„Das
Schreiben eines Romans erfordert Geduld und vieles mehr“, sagte
Zakes Mda einmal im Gespräch mit mir.„Während der Apartheid
fehlte auch die Ruhe … Wir konzentrierten uns auf Gedichte und
Theaterstücke. Weil sie unmittelbarer in ihrer Wirkung sind.“ Über
dreißig Stücke hat er geschrieben. Viele, darunter We Shall Sing for
the Fatherland, The Hill und The Road, sind mit Preisen geehrt worden,
weil es ihm gelang, eine einzigartige Verbindung aus mündlichen
Erzähltraditionen und Elementen tradierter Darstellungsformen der
isiXhosa,‚magischem Realismus‘ und absurdem Theater herzustellen.
Doch auch wenn ihm lange der Mut zur Prosa fehlte, seine eigentliche
Liebe gehört dem Roman.„Schon die Erfahrung des Schreibens selbst
ist so eine große Freude … Ich freue mich jeden Tag aufs Neue, am
Morgen aufzuwachen, mich an den Computer zu setzen und mich
mit meinen Figuren auseinander zu setzen.“ Vier Romane hat Zakes
Mda bisher geschrieben: Ways of Dying, She Plays with the Darkness,
The Heart of Redness und zuletzt The Madonna of the Exzelsior. Sie
setzen sich sowohl mit Vergangenem als auch mit der südafrikani-
schen Gegenwart auseinander. Zakes Mda versteht sie als Hilfen
auf dem Weg in die Normalität:„Über die Vergangenheit, die Apar-
theid zu schreiben, war einfacher … denn die Vergangenheit schuf
fertige Geschichten. Es gab eine klare Trennung in Gut und Böse.
Schwarz war gut,Weiß war böse. Es gab keine Grauzonen … Das alles
gibt es nicht mehr. Ganz normal sind wir geworden. Und es tut sehr
weh, normal zu werden.“ Im folgenden äußert sich Zakes Mda rück-

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schauend zu den jüngeren Entwicklungen in der lebendigen südafri- entweder gestanden oder tot waren, wie sie deren Geschlechtsorgane mit
kanischen Theaterszene. elektrischem Strom gequält hatten und die Leichen derer brieten, die nicht
Thomas Brückner stark genug waren, über offenem Feuer zu überleben, während sie selbst bei
Bier und Gelächter das Lagerfeuer genossen.
Das Beste, was einem Geschichtenerzähler passieren kann, ist, dass er in Südafrika Was wir da mit ansehen mussten, waren Dramen, wie sie keine Kunst
zur Welt kommt. je erfinden kann.
Athol Fugard So kam es, dass die TRC viele Geschichtenerzähler geradezu entmann-
te. Deren Fiktionen waren nicht in der Lage, mit den Dramen des wirkli-
Sechs Jahre ist es her, da bat mich eine Zeitschrift der Yale School of Drama chen Lebens mitzuhalten, die sich jeden Abend Millionen von Zuschauern
und des Yale Repertory Theatre, dass ich mich in einem Aufsatz mit dem The- offenbarten. Und diese Dramen waren es, die viele meiner Weißen Lands-
ma „Theater und Aussöhnung in Südafrika“ auseinandersetze. Damals fand leute einstimmig ausrufen ließen: „Wir hatten keine Ahnung, dass derlei
ich heraus, dass sich eines der herausragenden Merkmale des Theaters für Dinge geschahen.“ Gleichzeitig schreckten sie jedoch regelrecht davor zu-
Aussöhnung in einem beredten Schweigen über die Geschichte darstellte. Ich rück, die Geister der Vergangenheit noch einmal ins Leben zurückzurufen.
habe mich darüber hinaus deutlich zu der offenkundigen Abneigung meiner Die Vergangenheit, so meinten sie, das ist etwas, das hinter uns liegt. Und
Landsleute geäußert, sich zu erinnern. Sechs Jahre später ist die Angst vor der dabei soll es auch bleiben.
Erinnerung noch immer nicht verschwunden, auch wenn man auf unseren Tatsächlich kann man in einigen Bereichen der südafrikanischen Ge-
Bühnen und zwischen den Buchdeckeln infolge der Arbeit der Kommission sellschaft Versuche beobachten, die Vergangenheit zum Zwecke der Schaf-
für Wahrheit und Versöhnung (TRC) den einen oder anderen zögerlichen fung einer neuen Kollektividentität auszulöschen. Diese Versuche betreffen
Versuch zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausmachen kann. ‚Rasse‘ und kulturell determinierte Identitäten ebenso wie die Definition ei-
Dabei war die Arbeit der TRC eine einzigartige Erfahrung. Sie trans- ner neuen südafrikanischen Nationalidentität. Die Furcht vor der Vergan-
portierte die Exzesse der Apartheid über die Bildschirme unserer Fernseher genheit manifestiert sich dabei in dem Aufschrei, der jedes Mal dann ertönt,
direkt in unsere Wohnzimmer. Wir konnten mit ansehen, wie die Opfer gro- wenn in den unterschiedlichen Medien, vor allem aber in den Talkshows im
ber Menschenrechtsverletzungen in Gegenwart ihrer sich windenden Peini- Radio, die Rede auf das Erbe unserer Vergangenheit kommt, oder wenn das
ger noch einmal ihre Foltern und Qualen durchlebten. Wir sahen die Trä- Fernsehen Dokumentarfilme oder Dramen sendet, welche die Gräueltaten
nen in den Augen der Mitglieder der TRC, als Überlebende der Apartheid, der Apartheid sowie die Widerstandsbewegung zeigen, die uns schließlich
an den Rollstuhl gefesselt, ihre Geschichte erzählten und Mütter, die ihre ein neues, demokratisches System brachte.
Kinder verloren hatten, in aller Öffentlichkeit weinten und klagten. Wir er- Meiner Meinung nach kann es aber keine neue gemeinsame Identität
lebten, wie ehemalige Folterknechte ihre Taten gestanden. Zerknirscht und auf Kosten der Erinnerung geben. Die Erinnerung ist lebenswichtig für die
reuevoll mitunter, manchmal aber auch starrköpfig darauf beharrend, dass Identität. Erinnerungsverlust bedeutet Identitätsverlust. Denn was wir sind,
der Krieg sie dazu getrieben habe, die Verbrechen zu begehen, derer sie be- ist untrennbar mit der Erinnerung verbunden. Wie dem auch sei, gegen-
schuldigt wurden. Wieder andere schoben die Schuld auf die Oberen. Sie wärtig verfolgt Südafrika eine Politik, welche die unterschiedlichen kultu-
seien nur die Schachfiguren der Oberen gewesen; Bauernfiguren, die ledig- rellen Identitäten anerkennt und respektiert. Die Schönheit Südafrikas liegt
lich die Anordnungen der damaligen Regierung ausführten, eben jener gerade in der Vielzahl der Kulturen. Und eine jede hat ihre eigene Geschich-
Herrscher, die jetzt mit dicken Pensionen geehrt würden, während sich die te. Natürlich besteht darüber hinaus noch unsere gemeinsame Geschichte,
Kleinen vor einer Kommission zu verantworten hätten, die von den Ge- die sich aus der Interaktion dieser Kulturen ableitet. Die Erinnerung an jede
winnern des Krieges eingesetzt worden sei. Wir sahen mit an, wie Folter- einzelne, besondere, Vergangenheit kann unsere Gegenwart nur bereichern.
knechte vorführten, auf welche Weise sie ihre Opfer gewürgt hatten, bis sie Wir sollten über unsere multiplen Identitäten – zu denen auch unsere natio-

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nale Identität gehört – glücklich sein, anstatt zu versuchen, einen unmög- fern der Vergangenheit machen. Wir schauen nur aus dem einen und einzi-
lich erreichbaren Zustand der Amnesie zu erlangen, der zudem nicht einmal gen Grund auf die Vergangenheit: Um unsere Gegenwart besser verstehen
wünschenswert wäre, auch wenn wir ihn erreichen könnten. zu können. Und diese Gegenwart wird von unserem ausgeprägten Willen
Nach dem Ende der Apartheid, welche diese vielfach verschiedenen zur Aussöhnung bestimmt.
Identitäten zum Zwecke der Unterdrückung, Trennung und Ausbeutung Im Gegensatz zu dem, was viele Südafrikaner und Südafrikanerinnen
ausnutzte, ist es allerdings nur zu verständlich, dass wir uns von dem bloßen glauben, ging das Zeitalter der Aussöhnung nicht mit der Präsidentschaft
Gedanken bedroht fühlen, diesen vielfältigen Identitäten die Anerkennung Nelson Mandelas zwischen 1994 und 1999 zu Ende. Allerdings trifft zu,
entgegenzubringen, die ihnen zusteht. dass die Aussöhnung zu Zeiten seiner Präsidentschaft der dominierende Dis-
Ein paar meiner Weißen Landsleute fordern tatsächlich und allen Erns- kurs in Südafrika war. Er tat alles in seiner Macht stehende, um die ver-
tes, dass wir jetzt, da wir endlich in einer Demokratie leben, in kollektive schiedenen Gemeinschaften zu erreichen und ihnen zu versichern, dass es
Amnesie verfallen sollten, weil das Erinnern der Versöhnung schade. Die im befreiten Südafrika auch für sie einen Platz gibt. Gleichzeitig versuchte
Erinnerung bedrohe unsere neue, gerade erst entstehende Identität. Aus die- er, die afrikaanische Bevölkerung in das künftige Erscheinungsbild Südafri-
sem Grunde sollten wir Vergangenes nicht nur verzeihen, sondern auch ver- kas zu integrieren, das noch immer aus den Wunden blutete, die aus der
gessen. Dabei ist es doch völlig unmöglich, dieser Forderung gerecht zu Zeit der Herrschaft eines Teils dieser Weißen kulturellen Gruppe Südafrikas
werden, weil wir in unserem Sein das Ergebnis der Vergangenheit sind. Un- herrühren, die sich auf Zwietracht gründete.
sere Geschichte hat uns geformt. Unsere gegenwärtige Weltsicht wie auch Obwohl die Aussöhnung inzwischen nicht mehr den dominierenden
unsere jetzige Geisteshaltung sind das Ergebnis unserer Vergangenheit. Diskurs in der Gesellschaft darstellt, setzt sich das Streben nach Aussöh-
Will Südafrika überleben und gedeihen, dann ist Versöhnung eine un- nung in unterschiedlichen Formen fort. Vielleicht wird nicht mehr so viel
abdingbare Voraussetzung. Doch zu einer wahren Aussöhnung wird es nur darüber geredet wie zu Zeiten Mandelas, doch ist dieser Diskurs inhaltlich
kommen, wenn wir dazu in der Lage sind, uns ohne Bitterkeit mit dem aus- in den Programmen der Regierung zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft
einander zu setzen, was sich im Gestern ereignete. Wir können diese Ereig- enthalten, in der Anerkennung der Identitäten und Rechte von Minderhei-
nisse nicht einfach unter den Teppich kehren und hoffen, dass wir von einem ten und der Förderung bislang benachteiligter Mehrheiten wie der der Frau-
Tag auf den anderen dazu fähig sein werden, in einem Zustand glückseliger en und der Schwarzen. Zudem hat die Definition eines Südafrikaners/einer
Amnesie in brüderlicher und schwesterlicher Liebe miteinander umzuge- Südafrikanerin, wie sie der gegenwärtige Präsident Thabo Mbeki vor dem
hen. Parlament abgegeben hat, ausdrücklich alle Angehörigen verschiedener
Für uns, die wir Überlebende der Vergangenheit sind, ist es außer- Kulturen eingeschlossen, solange sie nur Südafrika als ihre Heimat betrach-
ordentlich wichtig, dass wir nicht vergessen. Das sind wir künftigen Gene- ten.
rationen schuldig. Damit sich nicht wiederholen kann, was geschehen ist. Wie alle anderen Kunstschaffenden beziehen auch die Theatermacher
Diejenigen, die uns unterdrückt haben, dürfen das niemals wieder tun. und Theatermacherinnen Südafrikas ihr Material aus der Gesellschaft. Ihr
Doch am wichtigsten ist, dass wir selbst niemals in die Rolle des Unterdrü- Theater wird von dem dominanten gesellschaftlichen Diskurs gespeist. Und
ckers verfallen dürfen. Und nur aus der Geschichte können wir lernen, das diejenigen unter ihnen, die über einen gewissen Einfluss verfügen, kön-
zu vermeiden – was natürlich voraussetzt, dass wir überhaupt dazu fähig nen sogar, in einem symbiotischen Verhältnis gewissermaßen, auf den ge-
sind, aus der Geschichte zu lernen. sellschaftlichen Diskurs zurückwirken. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle
Wir dürfen niemals vergessen, was gewesen ist. Doch das heißt nicht, kurz erläutern, dass ich den Begriff ‚Theatermacher‘ deshalb verwende, weil
dass wir uns, wie das ebenfalls einige verlangen, an die Erinnerung klam- viele unserer Dramatiker und Dramatikerinnen nicht einfach nur ‚Stücke
mern sollen und unsere Trägheit wie unsere gegenwärtigen Fehler auf eine schreiben‘. Sie sind zugleich Regisseure und Regisseurinnen, Bühnenbild-
schreckliche Vergangenheit zurückführen. Das würde uns zu ewigen Op- ner und Bühnenbildnerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen und

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manchmal komponieren und choreographieren sie auch noch. Sie sind, in pent Players aus der Küstenstadt Port Elisabeth, gewann er eine neue Ener-
einem umfassenden Sinne, Theatermacher und Theatermacherinnen. gie, die sich aus der Politik der damaligen Zeit speiste. Die Apartheid liefer-
Das Theater der Postapartheid-Zeit, das sich kurz nach unserer Befrei- te ihm die Geschichten. Weniger wohlmeinende Leute gingen sogar so weit
ung im Jahre 1994 herausbildete, befasste sich natürlich vor allem mit den zu behaupten, dass es ohne Apartheid keinen Athol Fugard gegeben hätte.
Themen der Aussöhnung. In dem bereits erwähnten Artikel für die Zeit- Und in einem Fernsehinterview mit SABC 2 sagte er im September 2001
schrift an der Yale University schrieb ich, dass sich in dieser Zeit die Macher selbst, dass er ohne Zakes Mokae, John Kani und Winston Ntshona nicht
des Protesttheaters, wie Athol Fugard zum Beispiel, dem neuen Theater der der Autor geworden wäre, der er heute ist. Zweitens gehört Fugard zu den
Aussöhnung zuwandten. Sein Stück Playland, das in dieser Zeit entstand vielen südafrikanischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, welche die
und uraufgeführt wurde, beschreibt die Auseinandersetzung zwischen ei- neue Ordnung in Südafrika zunächst als ziemlich schmerzliche Erfahrung
nem Weißen, einem ehemaligen Soldaten des Apartheid-Regimes, der im empfanden.
‚Operationsgebiet‘ eine Reihe Schwarzer Menschen getötet hat, und einem 2001 gestand er Judy van der Walt, der Theaterkritikerin des Sunday In-
Schwarzen, der fünfzehn Jahre im Gefängnis sitzen musste, weil er den dependent, einer unserer Zeitungen, dass er nach 1994 geradezu durch Süd-
Weißen umbrachte, der seine Verlobte vergewaltigt hatte. Beide Männer afrika getorkelt und sich verloren vorgekommen sei, völlig verunsichert da-
werden von den Morden, die sie begangen haben, heimgesucht. Am Ende rüber, ob er überhaupt noch eine Bestimmung habe, und deprimiert
des Stückes kommen die beiden Protagonisten überein, dass es keinen Sinn angesichts der Tatsache, seinen Daseinszweck als Mensch und Schriftsteller
macht, immer nur in der Vergangenheit zu leben und den Hass zu pflegen. verloren zu haben. Er äußerte der Journalistin gegenüber, dass er nach dem
Sie beschließen, ein neues Leben zu wagen, das von Vergangenem nicht Übergang zur Demokratie das Gefühl hatte, sich selbst überlebt zu haben
mehr beeinträchtigt wird. und überflüssig geworden zu sein. Er glaubte, dass seine Stimme ihre Kraft
Andere Stücke beschäftigten sich ebenfalls mit dem Thema Aussöh- aus den Konflikten des alten Südafrika bezogen hatte. Er unterstrich auch,
nung. Sie wurden in den städtischen Theatern aufgeführt, in den Gemein- dass er nicht leugnen könne, dass diese Konflikte – Recht und Unrecht, Gut
dezentren der Townships, in denen sich die unterschiedlichen Gruppen mit und Böse – ein außerordentlich wichtiger Faktor seines Schreibens waren.
diesem Thema befassten, und bei Festivals wie dem Nationalen Kunstfest- Fugard sagte darüber hinaus, dass es ihm gelungen sei, sich aus der
ival in Grahamstown. My Life gehört zu diesen Stücken. Es wurde gemein- Wildnis des Überflüssigseins zu befreien, indem er sich auf seine eigentli-
sam von Athol Fugard und fünf jungen Mädchen aus verschiedenen Kultu- che Identität besann: die eines Geschichtenerzählers. Im Gegensatz zu der
ren Südafrikas geschaffen. Das Stück, im Untertitel als „Allegorie auf die eines Politikers. Erst vor kurzem wurde mit Sorrows and Rejoicings ein neu-
Aussöhnung“ bezeichnet, wurde im Juli 1994 bei diesem Festival urauf- es Stück von ihm in Kapstadt uraufgeführt. Von den vielen Schriftstellern
geführt und zeigte die fünf Teenager, wie sie – mittels kleiner dramatischer und Schriftstellerinnen meines Landes – denen, die während der Apartheid
Vignetten – ihre Lebensgeschichten erzählten. sehr aktiv waren – ist es beileibe nicht allen gelungen, sich selbst zu be-
Athol Fugard ist nicht die einzige Stimme des südafrikanischen Thea- freien. Über ganz Südafrika liegen gewissermaßen die Leichname derjeni-
ters, die das Problem der Versöhnung angesprochen hat. Dass ich mich sei- gen Schriftsteller verstreut, die es nicht geschafft haben, die Befreiung zu
nen Stücken besonders widme, hat zwei Gründe: Zum einen war er ein Vor- ‚überleben‘.
reiter des Protesttheaters in Südafrika. Vor Fugard gab es zwar eine Menge Wenn man dieses Phänomen verstehen will, muss man die Tatsache be-
Theateraufführungen in den Städten und Townships des Landes, doch be- rücksichtigen, dass die Apartheid als System derartig absurd war, dass es
schäftigte sich nicht eine einzige offen mit politischen Themen. Fugard ge- möglich wurde, ein Stück wirklichen Lebens zu nehmen und auf die Büh-
lang es, sich im politischen Raum einen Platz zu erobern, und durch seine ne oder zu Papier zu bringen, ohne es bearbeiten zu müssen und dennoch
Zusammenarbeit mit Schwarzen Theatermachern wie Zakes Mokae, John ein großartiges Stück absurdes Theater daraus zu machen. Im Rahmen der
Kani, Winston Ntshona und einer Reihe anderer in Truppen wie den Ser- Workshop-Methode zum Stückeschreiben, die durch Barney Simon so be-

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rühmt geworden ist, zogen die Spielleute in die Gemeinden, beobachteten, brachte und die populärsten Schlagwörter wiederkaute. Ein solidarisch ge-
was dort vor sich ging, würzten es ein wenig mit ihren persönlichen Erfah- sinntes Publikum übersah geflissentlich alle Schwächen in Form und Struk-
rungen der Apartheid – denn die Apartheid berührte ja ausnahmslos jeden tur der Stücke. Das Theater war eine mobilisierende Kraft, und vielen En-
Bereich im Leben jedes einzelnen – und schufen gemeinsam mit den Regis- gagierte, die von einem Publikum unterstützt wurden, das sich nur zur
seuren ein großes Theaterstück. Mit Fantasie hatte das zumeist ziemlich we- bereitwillig zu Taten anstacheln ließ, genügte es, wenn das Theater genau
nig zu tun. diese Funktion effektiv ausfüllte. Es ist bezeichnend, dass das lebendigste
Mit dem Übergang zur Demokratie ging so auch der Tod dieser Auto- Theater im heutigen Südafrika von denen kommt, die zu Zeiten der Apar-
ren einher, weil die Apartheid auch die Autorinnen und Autoren erschaffen theid noch nicht zur Blüte gelangt waren. Ihnen gelingt es mühelos, sich
und zugleich verhindert hatte, dass sie ihre Fantasie benutzten. Sie wurden den Energien des neuen Südafrika zu öffnen, neue Themen aufzugreifen
zu bloßen Berichterstattenden über die Dramen, die die absurdeste Theater- und schöpferisch neue Formen zu erforschen. Sie gehörten nie richtig zu der
macherin, die sich überhaupt denken lässt, in die Welt setzte – die Apar- alten Kultur des Theaters der Reportage und der Schlagwörter.
theid. Und als die Apartheid starb, starben sie mit ihr. Viele von ihnen bedienen sich weiterhin der Workshop-Methoden, wel-
Zudem teilte die Apartheid die Welt in Gut und Böse. Und wie zu allen che die alten Theatermacher und Theatermacherinnen entwickelt und aus-
Zeiten lieferte das den Stoff für große Konflikte. Es waren zwar oft genug gebaut haben. Weil sich aber die Welt nicht mehr länger so klar in Schwarz
eindimensionale Konflikte, aber dennoch Konflikte. Auf meinen Reisen in und Weiß teilt und es zudem deutliche Anzeichen dafür gibt, dass sich
Europa begegnete ich einmal Pierre Hoffman, einem deutschen Filmema- Schwierigkeiten entwickeln, die genauere Untersuchung und Re-Interpreta-
cher, der mir erzählte: „Während der Apartheid haben wir euch regelrecht tion erfordern, kommen die neuen Theatermacher nicht umhin, aus der
‚beneidet‘. Weil ihr eure Stoffe aus einer so fein säuberlich in Gut und Böse Quelle der Imagination zu schöpfen, wollen sie ein Theater schaffen, das
geteilten Welt beziehen konntet, während wir damit ringen mussten, eine diesen Namen wirklich verdient. Beispiel dessen war das Stück Fong Kong,
höchst komplizierte Gesellschaft zu interpretieren, in der es vor Unklarhei- das von Studenten und Studentinnen des Market Theatre Laboratory ge-
ten nur so wimmelte.“ schaffen und im Juli 2000 beim National Arts Festival in Grahamstown ur-
Südafrika nach der Apartheid ist nicht mehr nur ein Beziehungsgefüge aufgeführt wurde. Im August desselben Jahres kam das Stück im Market
aus Schwarz und Weiß. Wir sind bei unseren Grautönen angekommen. Wir Theater auf die Bühne. Seither hat es eine Reihe von Wiederaufnahmen er-
sehen uns komplizierten Erscheinungen und Unwägbarkeiten gegenüber, lebt. Deren jüngste war die Aufführung anlässlich der UN-Weltkonferenz
die wir zu interpretieren haben. Normal sind wir geworden, und gewöhn- gegen rassische Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz,
lich. Und wenn wir aus der Alltagsgeschichte unseres Lebens ein aufregen- die vom 31. August bis 7. September 2001 in Durban stattfand.
des Theaterstück machen wollen, brauchen wir unsere Fantasie. Wir haben Das Stück handelt von der neuen Geißel, welche die Großstädte Süd-
aber nie gelernt, unsere Fantasie zu benutzen. In einer Ausgabe des Sunday afrikas heimsucht: die Ausländerfeindlichkeit. Ausländerfeindlichkeit ist
Independent von 2001 stellte der Theaterkritiker Robert Greig fest: vor allem in der Arbeiterklasse und bei den Arbeitslosen Südafrikas anzu-
treffen, welche die Schuld an jedem Kümmernis, die das Land befällt, bei
Die starken Gegensätze zwischen Gut und Böse, ihnen und uns, Recht
den Ausländern sucht, angefangen bei der Kriminalität und AIDS bis zum
und Unrecht erzeugten eine Kühnheit, welche die heutigen komplizier-
Stellenabbau oder der Tatsache, dass aus dem Norden einfallende ‚Horden‘
ten Erscheinungen und Unklarheiten nicht hervorbringen. Die Opposi-
ihnen die Frauen wegnehmen. Südafrikas Ausländerfeindlichkeit ist aber
tion hat Schöpferkraft freigesetzt, gesellschaftliche Willfährigkeit ver-
gleichzeitig ein ganz besonderes Phänomen. Ihr ist ein rassistischer Unter-
mag das nicht.1
ton eigen. Es geht den Südafrikanerinnen und Südafrikanern nicht um den
Früher kam es hauptsächlich auf den Inhalt an. Vielen Autoren und Auto- Zustrom Weißer aus Osteuropa, auch nicht so sehr, wenn auch etwas mehr,
rinnen genügte es, ein Theater zu schaffen, das die angesagten Ausdrücke um die pakistanischen oder chinesischen Einwanderer und Einwanderin-

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nen. Die Ausländer, welche die Schwarzen wie die Weißen in Südafrika am findet. Die zweite Ironie nun besteht darin, dass es bisher noch keine Fern-
meisten hassen, sind die Schwarzen aus anderen afrikanischen Ländern so- sehsendung über die Weißen aus Amerika gegeben hat, die in noch weit
wie aus Nord- und Südamerika. Und je dunkler deren Hautfarbe ist, desto größerer Zahl und aus denselben Gründen wie Schwarze Amerikaner und
weniger akzeptabel erscheinen sie der südafrikanischen Gesellschaft. Amerikanerinnen – dem Geschäft – nach Südafrika gekommen sind.
Dahinter verbirgt sich eben jene ‚Hierarchie der Hautfarbe‘, die vom Fonk Kong, der Titel des angesprochenen Stücks, bezieht sich auf die ge-
Apartheid-System eingeführt worden ist. Gegen ihren Willen haben die in fälschten Sachen von Nike und Reebok, die ihren Weg aus China auf die
Südafrika Lebenden diese Werte internalisiert, denen zufolge alles Weiße die Straßenmärkte in Johannesburg und anderen südafrikanischen Großstäd-
Spitze der Pyramide bildet, der sich diejenigen anschließen, die, der Apa- ten gefunden haben. In übertragendem Sinne aber meint Fong Kong alles,
theid zufolge, als ‚Coloureds‘ bezeichnet wurden, dann folgen die Men- was nicht echt, nicht ursprünglich ist – und damit auch Einwanderer und
schen asiatischer Abstammung und am Fuße der Pyramide stehen die Einwanderinnen (egal, ob legale oder illegale), die aus anderen afrikani-
Nachfahren jener Schwarzen Kulturen, die ursprünglich den Süden des schen Staaten und so unterschiedlichen Ländern wie Bangladesh oder Bul-
afrikanischen Kontinents bevölkerten. Diejenigen Schwarzen, die eine hel- garien in unser Land gekommen sind.
lere Hautfarbe hatten, gaben sich als ‚Coloureds‘ aus, um besseren Zugriff Richard Manamela, der Regisseur des Stückes, sagte in einem Interview,
auf Ressourcen wie Stellen und Bildung zu haben, und jene ‚Coloureds‘, dass die Saat zu diesem Stück eines Morgens in Hillbrow, einem Innen-
deren Haut noch heller war, gaben sich wegen des Zugriffs auf noch bes- stadtbezirk von Johannesburg, in ihm gelegt worden sei, als er beobachten
seres Möglichkeiten als Weiße aus. Reste dieser Geisteshaltung bestehen musste, wie ein Schwarzer Polizist, eine alte, Schwarze Frau äußerst grob he-
fort, auch wenn wir dies sehr gern leugnen würden. Die Tatsache, dass die rumstieß und sie als kwerekwere beschimpfte. Kwerekwere ist eine überaus
Schwarzen aus den Ländern nördlich Südafrikas im wesentlichen als dunk- abwertende Bezeichnung für Schwarze aus den Ländern nördlich des Lim-
ler wahrgenommen werden als die „normalen“ südafrikanischen Schwar- popo, der Südafrika von Zimbabwe trennt. Das Stück beginnt mit eben
zen, speist das Überlegenheitsgefühl der Schwarzen Südafrikaner. diesem Wort.
Die herrschenden Schichten und die Intelligentsia tun so, als sei ihnen Die Schauspieler und Schauspielerinnen trafen sich und erzählten sich
diese rassistische Ausländerfeindlichkeit peinlich. Vor ein paar Jahren be- Geschichten über Ausländerfeindlichkeit. Und sie berichteten von ihren ei-
gründeten die Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen und eine genen Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit. Sie lasen Zeitungsbeiträge
Körperschaft namens Südafrikanische Menschenrechtskommission die zu diesem Thema und luden Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern
Kampagne „Ausländerfeindlichkeit zurückdrängen“. Allerdings erfährt die- ein, die Opfer der Ausländerfeindlichkeit also, ihnen ihre Erfahrungen zu
se Kampagne von den entscheidenden Regierungsstellen offensichtlich nur vermitteln.
halbherzige Unterstützung. Nur selten erlebt man, dass Minister oder Mi- Im Ergebnis entstand ein sehr unterhaltsames Stück in eben jener stili-
nisterinnen der Regierung öffentlich gegen Ausländerfeindlichkeit Stellung sierten Art, für die das Market Theater in der Zeit der Apartheid berühmt
beziehen. Stattdessen bekommt man im Fernsehen Sendungen vorgesetzt, war. Fünfzehn Schauspieler und Schauspielerinnen – fünf Frauen und zehn
in denen sich Schwarze aus Südafrika über Schwarze aus Amerika beschwe- Männer – entführten das Publikum auf eine Reise, auf eine Odyssee mit ei-
ren, die seit 1994 in großer Zahl ins Land gekommen sind. Und die Ironie nem Südafrikaner, der sich als Einwanderer aus Malawi ausgibt, weil er sich
liegt darin, dass es sich bei denen, die sich da beklagen, um eben die Füh- davon bestimmte Vorteile erhofft, zu guter Letzt aber herausfinden muss,
rungspersönlichkeiten aus den verschiedenen Bereichen des gesellschaftli- dass man in ihm wirklich einen Ausländer sieht, und ihn schlecht behan-
chen Lebens handelt, die am häufigsten und lautesten von afrikanischer Re- delt. Einschließlich der Inhaftierung im berüchtigten Lindelani Centre, in
naissance reden. Daran wird ersichtlich, dass Ausländerfeindlichkeit nicht dem illegale Einwanderer und Einwanderinnen wochenlang festgehalten
lediglich auf die Arbeitslosen beschränkt ist, die einen Sündenbock suchen. werden, bevor man sie in ihren Heimatländer abschiebt. Das Stück trifft
Sie ist vielmehr ein Übel, dass sich auch in den Reihen der nationalen Elite den berühmten Nagel auf den Kopf. Gleichzeitig ist es sehr humorvoll. Es

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benennt das Problem, ohne allerdings mit fertigen Antworten aufzuwarten, Die beiden Theaterstücke, die ich hier erwähnt habe, zeigen sehr deut-
da seine Schöpfer lediglich die Ausländerfeindlichkeit als Thema auf die Ta- lich, dass wir in Südafrika weit mehr als der Aussöhnung zwischen Weißen
gesordnung setzen wollten. Manamela hob hervor, dass sie den Ausgang be- und Schwarzen der Aussöhnung der Schwarzen untereinander bedürfen.
wusst offen ließen, damit die Leute anfangen, über Fremdenfeindlichkeit Dieser Bereich aber ist vom politischen Establishment vernachlässigt wor-
nachzudenken und sich dann eine Meinung bilden, wie es von diesem den. Deshalb hat es auch keinerlei Versuche gegeben, die tiefen Wunden
Punkt aus weitergehen soll. zu heilen, die Schwarze einander und sich selbst in Reaktion auf die tieferen
Hallelujah! ist eben so ein Stück, in dem unter anderem die Fremden- Wunden beigebracht haben, die ihnen die Apartheid zufügte. Bis heute
feindlichkeit angesprochen wird. Anders als Fong Kong, in dem die Work- sind diese Wunden nicht versorgt worden. Viele von ihnen liegen tief in un-
shop-Methode zum Einsatz kommt, bei der Regisseur und Schauspieler ge- serer Psyche vergraben, obwohl es rein äußerlich den Anschein hat, als ob
meinsam das Stück schaffen, schrieb hier ein einzelner Autor das Stück. die Narben, die sie zurückgelassen haben, ganz gut verheilt wären. Die
Xoli Norman heißt der junge Dramatiker, der aus dem Market Theater her- Schädigung offenbart sich in der physischen und sexuellen Gewalt, die wir
vorgegangen ist. Im Gegensatz zu dem temporeichen und energiegeladenen denen gegenüber anwenden, die wir zu lieben vorgeben, und die zugleich
Darstellungsstil, mit dem das von Schwarzen Theatermachern und ihren weniger stark und mächtig sind als wir: Frauen und Kinder. Das „wir“ be-
Weißen Gesinnungsgenossen – wie Barney Simon – geschaffene Theater in zieht sich natürlich auf den Schwarzen Mann, der die politische Macht in
Verbindung gebracht wird, vertraut Normans Stück mehr auf eine natu- den Händen hält und immer noch darum ringt, ein kleines bisschen wirt-
ralistische Ausstattung und Darstellung. Es ist einerseits ein sehr zorniges schaftliche Macht zu erlangen.
wie andererseits ein sehr festliches Stück. Sein Zorn richtet sich gegen die Diese Stücke zeigen darüber hinaus, dass Toleranz ein wesentlicher Be-
Schwarzen, die voller Selbsthass stecken. Dieser manifestiert sich darin, standteil der Aussöhnung ist. Sie ist besonders in einer Gesellschaft von ent-
dass sie vergewaltigen und sich gegenseitig umbringen sowie darin, wie scheidender Bedeutung, die einerseits unterschiedliche kulturelle Identitä-
schlecht sie Schwarze Ausländer und Ausländerinnen behandeln. Als dieses ten anzuerkennen hat und gleichzeitig vehement die Rechte des Einzelnen
Stück am Market Theater aufgeführt wurde, löste die gnadenlose Selbstprü- verteidigen muss. Die Verfassung unseres Landes stellt die Rechte des Ein-
fung und Selbstkritik Schwarzer Menschen ziemliche Aufregung aus. Eini- zelnen über die Rechte von Gruppen. So schützt sie zum Beispiel das Ge-
ge wenige meinungsbildende Medien der Schwarzen äußerten sich gegen schlecht des einzelnen, seine Religion oder das Fehlen einer konfessionellen
das Stück, indem sie anführten, dass es die Schwarzen denjenigen Weißen Bindung, seine sexuellen Vorlieben gegenüber den Rechten diverser Grup-
Landsleuten gegenüber bloßstellt, die eine rassistische Einstellung haben pen, die andersartige und sehr strikte Ansichten über Geschlecht, Religion
und die Botschaft des Stückes benutzen würden, ihre rassistischen Ideen zu und sexuelle Orientierung haben mögen. Der Einzelne ist frei, ererbte kul-
stützen. turelle Identität abzulehnen und sich zu einer anderen kulturellen Identität
Die mehrheitliche Sicht auf dieses Stück war jedoch sehr positiv. Folg- zu bekennen. Die Achtung multikultureller Identitäten bedeutet jedoch
lich ging es in den sechs Wochen, in denen es gespielt wurde, bei ausver- nicht notwendig das garantierte Überleben jeglicher Kultur, auch wenn die
kauftem Haus über die Bühne, und erhielt außerordentlich gute Kritiken, politische Rhetorik den Anschein erwecken mag, dass der Regierung daran
vor allen in jenen Medien, die unter der Leitung Schwarzer stehen und auf gelegen sei, gefährdete Kulturen um jeden Preis zu bewahren. Doch wäre
eine Schwarze Zielgruppe ausgerichtet sind. das wohl eine unlösbare Aufgabe.
Drei Schauspieler verkörpern einen Dichter, seinen Mentor und seine Meiner Ansicht nach stellen die verschiedenen Manifestationen drama-
Verlobte. Zusammen mit einer dreiköpfigen Jazzband feiern sie im Stück tischer Kunst, die versuchen, diese aktuellen Probleme anzusprechen, weit
auch unsere Kultur der Einheit von Dichtung und Vortrag und die lebendige mehr ein Theater der Aussöhnung dar als das Theater, das in der Ära Man-
Jazzkultur – vor allem deren südafrikanische Variante. Der Autor des Stückes, delas die Bühnen beherrschte und sich bemühte, sich mit dem Thema Aus-
ein anerkannter Trompeter, komponierte außerdem die Musik für das Stück. söhnung auseinander zu setzen. Und dieses neue Theater ist sehr dyna-

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misch. Es ist nicht nur an den Bühnen des Mainstream-Theaters in den lichen Lebens als heilig gelten. So wird zum Beispiel eine Initiation darge-
Städten zu erleben, sondern blüht auch in den Townships und Dörfern. stellt. Jenes Ritual, bei dem Jungen bei ihrem Übergang in das Stadium des
Man kann es bei nationalen und lokalen Theaterfestivals sehen. Es reicht Mannseins beschnitten werden. Gleiches gilt für das Ritual des Tieropfers
vom sehr körperlichen Theater eines Andrew Buckland oder Bheki Mkhwa- für die Ahnen, das natürlich die Gesellschaft zum Schutz vor Grausamkeit
ne in Makana über Athol Fugards wortreiche Beichte in Sorrows and Rejoi- gegen Tiere in den Wahnsinn treiben würde, wie das schon einige Male in
cings bis zu den unterschiedlichen Stücken der Dramatiker und Dramatike- den früher ausschließlich Weißen vorbehaltenen Vororten geschehen ist, in
rinnen, die beim jährlichen Barney Simon Young Writers’ Festival am die jetzt Schwarze Angehörige der Mittelklasse eingezogen sind, die an
Market Theater in Erscheinung treten. ihren uralten Bräuchen wie dem Tieropfer für die Ahnen festhalten.
Makana eröffnete des Nationale Kunstfestival von Grahamstown Ende Mir ist aufgefallen, dass es bislang ausschließlich nur Weiße Dramatiker
Juni 2001 und ging zwei Monate später an das Market Theater. In einer und Dramatikerinnen gewagt haben, afrikanische Rituale auf die Bühne zu
überzeugenden, temporeichen, geschmeidigen und sehr körperbetonten In- bringen. Schwarze haben immer noch Angst vor diesen Ritualen. Deshalb
szenierung greift das Stück die Geschichte Makanas aus dem Füllhorn der kam es zu lautstarkem Protest, als Brett Bailey, ein anderer Weißer Drama-
Vergangenheit heraus. Makana war ein Prophet der amaXhosa aus dem tiker aus den Reihen der Third World Bunfight Company, in seinem Stück
frühen 19. Jahrhundert, der 1819 nach Robben Island deportiert wurde und iMumbo Jumbo echte, ‚traditionelle Heiler‘ auf die Bühne brachte, die au-
später bei einem Fluchtversuch ertrank. Mittels einer Kombination aus Kla- ßerhalb des Theaters und in den afrikanischen Gemeinden zugleich religiö-
mauk und Ernsthaftigkeit führen uns die vier Schauspieler, die in eine My- se Führer sind. Sie nun führten die rituellen Tänze außerhalb ihres eigentli-
riade unterschiedlicher Rollen schlüpfen, nacheinander vor Augen, wie chen sozialen Kontextes und in der fiktiven Welt eines Theaterstückes auf.
Makana nach dem Tode seines Vaters seiner Mutter von christlichen Missio- Vielen erschien das als Gotteslästerung.
naren weggenommen wird, wie er zum christlichen Glauben bekehrt wird Sorrows and Rejoicings wurde Ende August 2001 am Baxter Theater in
und sich später enttäuscht von einer Religion abwendet, mit deren Hilfe Kapstadt uraufgeführt. Die US-amerikanische Inszenierung kommt im
sein Volk unterdrückt und seines Landes zum Zwecke kolonialer Besiedlung Dezember dieses Jahres in New York auf die Bühne. Das Stück erzählt die
beraubt wird. Er macht sich zum Kampf gegen die Engländer bereit und Geschichte von Dawid, einem afrikaanssprachigen Dichter, der nach sieb-
greift Grahamstown an, um das gestohlene Land zurückzufordern. Die zehn Jahren Exil nach Südafrika zurückkehrt. Einst war er an einer der füh-
nachfolgende Schlacht wird auf der Bühne als Boxkampf in der heutigen renden Universitäten Südafrikas ein aktiver Kämpfer gegen die Apartheid,
Zeit dargestellt. Brite und Xhosa prügeln im Ring aufeinander ein, wäh- dann heiratete er eine Studentin und verließ in den frühen achtziger Jahren
rend ein Kommentator am Ring die historische Schlacht, die die Boxer im das Land Richtung London, auf der Suche nach der Freiheit zu reden und
Ring symbolisch darstellen, Schlag um Schlag kommentiert. Mit Unterstüt- gehört zu werden, zu schreiben und gelesen zu werden. Das Exil aber laug-
zung verschiedener kultureller Gruppen, die seit der Kolonialzeit unter dem te ihn aus. Er konnte keine Gedichte mehr schreiben. Er sehnte sich nach
Begriff Khoikhoi zusammengefasst werden, gelingt es den Briten schließ- seinem Heimatort in der Karoo an der Südspitze des afrikanischen Konti-
lich, die amaXhosa zu schlagen. Makana wird nach Robben Island ver- nents. Er identifizierte sich sehr mit seinem Mutterland. Er sah sogar die fal-
schifft. Dort beschäftigt er sich mit dem Bau eines Bootes, mit dem er flie- sche Aussprache seines afrikaansen Vornamen Olivier im Englischen als
hen und zu seinem Volk zurückkehren will. Makana ist ein Stück, das Unterwanderung seiner Identität als Afrikaaner. (Die Identitätsproblematik
mehrere Medien miteinander mischt und nicht nur dem effektiven Körper- spielt im heutigen südafrikanischen Diskurs eine außerordentlich große
einsatz der Schauspieler vertraut, sondern Lieder, isiXhosa-Preislieder, Rolle.) Es stellt sich heraus, dass er an Leukämie erkrankt ist, und er kehrt
Geräusche und Kunstinstallationen einsetzt. Letztere dienen als Kleider- nach Südafrika zurück, um dort zu sterben. Tatsächlich spielt das gesamte
ständer für die wenigen Kostüme und Requisiten. Das Stück bezieht sich Stück in der Zeit nach seiner Beerdigung. Die drei Frauen, die in seinem
außerdem auf afrikanische Rituale, von denen einige im Kontext des wirk- Leben eine Rolle gespielt haben – seine von ihm getrennt lebende Ehefrau,

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seine Schwarze Geliebte, mit der er eine uneheliche Tochter hat, und seine ater in Südafrika am Sterben sei. Die Wahrheit lautet jedoch, dass das The-
voller Groll gegen ihn steckende Tochter – treffen im Wohnzimmer seines ater nur an solchen Häusern wie dem Civic Theatre in Johannesburg stirbt.
Hauses in der Karoo aufeinander, um die Geschichte seines Lebens zusam- Einst war das Civic eine außerordentlich wichtige Theaterspielstätte. Es ist
menzufügen. Er selbst erscheint in Erinnerungssequenzen. ein glitzernder Glaspalast, der mit Millionen Rand aus Steuergeldern errich-
Anthony Ackerman, ein anderer Dramatiker, sagte in einer für den Ver- tet wurde – er gehört nämlich der Stadt Johannesburg. In dem Bemühen zu
lag geschriebenen Einschätzung des Stückes, dass die Bedeutung des Textes erreichen, dass das Theater sich selbst trägt, wurde es einem Management
darin liege, dass er unsere politische Vergangenheit mit unserer politischen überantwortet, das versucht, das Theater nach ausschließlich kommerziel-
Zukunft verbindet. Obwohl das Stück wenig Spannung und kaum ver- len Gesichtspunkten zu führen. Die erste Maßnahme des neuen Manage-
schlüsselte oder komplexe Botschaften enthält, entspricht es doch der von ments bestand darin, den Namen zu ändern: Time Square at the Civic. Da-
Fugards festgestellten Entwicklung, die sich vom dramatischen Realismus mit schuf man, Kakaza Luvuyo von der Sunday World (2001) zufolge, „den
weg und zu einem Stil hinbewegt, in dem häufiger sogenannte theatralische Eindruck, als würde der Komplex in eine Ecke von New York verwandelt.“2
Kunstgriffe, wie die oben erwähnten Erinnerungssequenzen, eingesetzt wer- Zwar trägt die Hauptbühne den Namen Mandelas, doch haben die Neben-
den können. Ackerman stellt daher fest, dass dieses Stück in der Tat ein Be- bühnen und Restaurants Namen, die einen Bezug zu New York herstellen:
weis für Fugards ‚Neuerfindung‘ seiner selbst ist. wie zum Beispiel Off-Broadway Bytes oder Spencer’s ShowBiz Bar. Diese Na-
Die Schwarzen Dramatiker und Dramatikerinnen haben ihre Rolle und mensänderung, die darauf hinweist, dass das neue Management kein Inte-
Funktion ebenfalls neu definiert, wie die Stücke beim diesjährigen Young resse mehr hat, ernst zu nehmendes, lokales Theater zu befördern, geht mit
Writers’ Festival am Market Theater belegen. Die Stücke konzentrieren sich der tatsächlichen Praxis einher, dass die einheimischen Produktionen zu-
weniger auf politische Themen als früher und mehr auf soziale Beziehungen gunsten importierter oder hier produzierter Broadway- und West-End-
und Verbindungen. Sofern Politik eine Rolle spielt, dann erfolgt dies in Shows an den Rand gedrängt werden.
einem weiteren Sinne, wie zum Beispiel in bezug auf das scheinheilige Ver- Am Civic Theatre kehrt man ganz offensichtlich die Errungenschaften
halten von Religion und Politik dem Sex und sexuellen Vorlieben gegen- um, die dem südafrikanischen Theater nach der Apartheid im internationa-
über. Hier muss man sich ins Bewusstsein rufen, dass unsere Verfassung len Rahmen gelungen sind. Wir haben hier eine Institution vor Augen, die
Gays und Lesben die Freiheit gegeben hat, so zu sein, wie sie wirklich sind. der Stadt Johannesburg gehört, deren Verwaltung lediglich auf kurzfristige
Doch natürlich wohnen in den Köpfen der Menschen noch die Vorurteile. finanzielle Gewinne aus und nicht dazu bereit ist, langfristig in südafrikani-
Auf eben dieselbe Weise, in welcher der Rassismus fortbesteht, obwohl er sche Produktionen zu investieren, die wiederholt unter Beweis gestellt ha-
zum Unrecht erklärt worden ist. ben, dass sie hohe Qualität und Exportwert in sich vereinen. Wir müssen mit
Zusammenfassend möchte ich noch einmal wiederholen, dass das The- ansehen, wie die Regierung unseres Landes die US-amerikanische Hegemo-
ater in Südafrika lebendig und wohlauf ist. Es findet nicht nur im Rahmen nie in Südafrika verstärkt, die bereits im Auswuchern US-amerikanischer
des Market Theater statt, sondern auch auf vielen anderen Bühnen im gan- Kulturgüter deutlich wird, die drohen, die südafrikanischen zu ersticken. Zu
zen Land. Allein in Johannesburg hat man die Möglichkeit, pro Woche seiner Verteidigung hat das Management des Civic vorgebracht, dass es nicht
zwei neue Stücke zu sehen, die in der Regel sechs Wochen laufen. Wobei ich im Bereich von „Kunst und Kultur“ tätig sei, sondern im Bereich „Unterhal-
in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht nur von den Stücken tung“, und dass seiner Meinung nach die Weltsicht des Broadway allemal in-
rede, die in den eigens dafür errichteten Spielstätten der Städte zur Auffüh- teressanter sei als die südafrikanische. Dennoch kann das Management des
rung kommen. Das pulsierendste, lebendigste – wenn auch unterfinanzier- Civic Theatre nicht umhin zuzugeben, dass es dem Wesen nach kulturver-
te – Theater kann man auf den Behelfsbühnen in den Randgebieten der mittelnd wirkt – und zwar im Sinne der US-amerikanischen Kultur.
Großstädte sehen – in den Townships und in den informellen Siedlungen. Das südafrikanische Theater lebt. Und es ist gesund. Es hat sich ledig-
Natürlich aber wird man uns klagen und jammern hören, dass das The- lich den neuen Bedingungen angepasst. Die Verfassung des neuen Südafri-

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ka erwähnt elf offizielle oder Amtssprachen. Dessen ungeachtet werden die vollständig in isiSwati, oder Obed Baloyis KaMshangana, das überwiegend
weitaus meisten Stücke in Englisch und – in geringerem Umfang – in Afri- in Shangaan geschrieben ist. Die Tatsache, dass beide Stücke jeweils sechs
kaans verfasst. Und das ist selbst in den entlegensten Gebieten der Fall, in Wochen lang vor ausverkauftem Haus am Market Theater liefen, sollte uns
denen Englisch tatsächlich eine Fremdsprache ist. Augenscheinlich gibt es klarmachen, dass sich das effektivste Theater der Aussöhnung der Sprachen
ein ungeschriebenes Gesetz, nach dem Theater nur dann richtiges Theater unseres Volkes bedient.
ist, wenn es sich der englischen Sprache oder wenigstens des Afrikaans be-
dient. Hier aber bekommen Theatermacher und Theatermacherinnen ihre Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Brückner
Stichwörter von den Politikern. Selbst in den entlegenen ländlichen Gebie-
ten am Eastern Cape wenden sich die Politiker und Politikerinnen in Eng-
lisch an die Massen. Einfache Dorfbewohner verstehen meist nicht richtig,
was diese Politiker – die in diesen Gemeinden aufgewachsen sind und de-
ren Sprachen fließend sprechen – ihnen vermitteln wollen. Die Dorfbe-
wohner können nur noch feststellen: „Hey, uyakhumsha lomfo!“ – „Hej,
der kann wirklich gut Englisch!“ Im Parlament verwenden die Abgeordne-
ten die ursprüngliche afrikanische Sprache ebenfalls eher zurückhaltend
und nur um den Parlamentspräsidenten zu grüßen oder ihr Thema vorzu-
stellen. Der Rest geht dann in Englisch vonstatten.
Es ist unseren Politikern und Politikerinnen offensichtlich überhaupt
nicht bewusst, dass die Entwicklung einer Gemeinschaft mit der Kommu-
nikation ihren Anfang nimmt. Auch, dass Sprachen sich mit umfassenderer
Verwendung entwickeln und wachsen, entgeht ihnen völlig. So ist zum Bei-
spiel das Afrikaans eine weit jüngere Sprache als Sesotho, isiZulu oder isiX-
hosa. Dennoch ist das Afrikaans heute eine hochentwickelte Sprache der
Wissenschaft und Technologie. Und das deswegen, weil das Afrikaans Un-
terrichtssprache von der ersten Klasse bis zum Doktorhut ist, zudem in
Handel und Industrie Verwendung findet, im öffentlichen Leben, in Lite-
ratur und Theater. Natürlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass einige
Methoden, mit denen diese Sprache durchgesetzt wurde, Zwangsmethoden
waren.
In einem demokratischen Südafrika bedeutet das Beharren auf der eng-
lischen Sprache und dem Afrikaans noch heute den Ausschluss der Mehr-
heit jener Menschen aus dem demokratischen Prozess, die keine dieser bei-
den Sprachen sprechen. Zugleich entfernt es das Theater weiter von den
Menschen, vom Volk, und verwandelt es in eine Aktivität der Elite, zu der
das Theater in der Westlichen Welt schon längst verkommen ist. Wir müs-
sen in Südafrika dahin gelangen, dass man sich nicht nur aus reiner Neugier
ein Stück ansieht wie Mncedisi Shabangus Wangishiya Wangesheya, das

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Said A. M. Khamis damit einhergehenden kapitalistischen, imperialistischen Widersprüche mit
„Msitu Mpya, Komba Wapya“: Die Veränderungen postmodernen Entwicklungen in der Literatur und anderen Bereichen der
der politischen Landschaft und der Swahili Roman Kunst. Sieht man den Aphorismus vor diesem Hintergrund, lässt sich ver-
muten, dass sich die Literatur ähnlich der Geschichte und der sozialen Ma-
trix verändert. In dieser Dualität wird die Reziprozität betont, indem sie die
Prof. Dr. Said A. M. Khamis wurde 1947 auf Sansibar geboren. Er be- Literatur zur Reaktion auf das ‚sehr‘ bedeutsame Ereignis treibt, bevor sie
suchte dort die Grund- und Sekundarschule. Von 1976–1981 studier- sich erneut behauptet und neue Kontexte und Perspektiven annimmt – eine
te er Erziehungswissenschaften und afrikanische Literaturen und günstige Situation, die die vorhandene Literatur ausschöpfen sollte, wenn
Sprachwissenschaften an der Universität in Dar es-Salaam. Nachdem sie überleben will.
er den Abschluss Master of Arts erworben hatte, begann er 1982 ein In Afrika begannen bedeutsame Ereignisse in großem Stil mit den Nach-
Promotionsstudium in Sprachwissenschaften an der Universität wirkungen der arabischen Diaspora und Christoph Kolumbus’ schicksal-
Leipzig, welches er drei Jahre später erfolgreich abschloss. Seitdem hafter ‚Entdeckung‘ einzusetzen, denen die See- und Landreisen euro-
unterrichtet und lehrt Said Khamis Swahili sowie Sprach- und Litera- päischer Entdeckungsabenteurer folgten. Nirgends ist die Wirkung dieser
turwissenschaften an Sekundar- und Fachschulen, Instituten und Revolutionen dramatischer ausgefallen als auf dem afrikanischen Konti-
Universitäten auf Sansibar, in Kenia, Japan und Deutschland. Ver- nent. Vielleicht aus Gründen, die tief in der Geschichte der Begegnung
schiedene Male wirkte er als Direktor und Leiter solcher Bildungs- Afrikas mit den Kulturen des Ostens und des Westens wurzeln, wurde und
institutionen. Im Jahr 1997 wurde er zum Professor für Literatur in wird die moderne Swahili Literatur bewusst oder unbewusst zum größten
afrikanischen Sprachen an die Universität Bayreuth berufen. Teil anhand arabischer und europäischer Konventionen betrachtet –
Neben seinen diversen linguistischen und sprachwissenschaft- manchmal ohne die gebotene Beachtung der historischen, sozialen, ökono-
lichen Publikationen, die sich mit der Analyse der Literaturen in Swa- mischen und kulturellen Kontexte ihrer Entstehungsbedingungen.
hili beschäftigen, ist er auch Autor von sechs Romanen, zwei Kurzge- Dieses Essay ist deshalb ein Versuch, ‚auffallende‘ Punkte dort als histo-
schichten- und drei Gedichtsammlungen sowie vier Theaterstücken rische Kontur(en) des Swahili Romans abzustecken, wo die durch Ursachen
in Swahili. und Wirkungen erhöhte soziale und kulturelle Sensibilität als instabil und
Petra Schwarzer fließend aufgezeigt werden kann, da sie ständig durch soziale Umwälzun-
gen entfacht wird. Die hervorstechendsten Ereignisse der Untersuchung
sind „der Sklavenhandel und seine Abschaffung in Ostafrika“, „der Koloni-
Einführende Bemerkung alismus und der Kampf für die Unabhängigkeit“, „die mit Ujamaa (dem
afrikanischen Sozialismus Tansanias) verbundenen Probleme und die Arus-
Der Swahili Aphorismus, Msitu mpya, komba wapya, „Ein neuer Wald lädt ha Erklärung“ sowie „die Nachwirkungen der Liberalisierungspolitik, die
neue Waschbären ein“, besagt, dass bedeutsame Ereignisse dramatische in den 1980ern eingeführt wurde“.
und drastische Veränderungen mit sich bringen und spiegelt damit die uni- Die hier vertretene Position zu dem, was bedeutsame Änderungen in
versell anerkannte Wechselwirkung zwischen Literatur und gesellschaftli- der Literatur auslöst, ist klar. Es sind Krisen, die innerhalb und/oder außer-
cher Entwicklung. Oft werden die gesellschaftlichen Umbrüche in Europa halb des Textes erzeugt werden; Mängel, die den Text durchziehen, wegen
und ihre Auswirkungen auf die Literatur mit dieser Wechselwirkung in Ver- der Langweiligkeit der ‚Grundbestandteile‘, oder/und bestimmte Begleiter-
bindung gebracht – so beispielsweise die industrielle Revolution mit dem scheinungen, die sich dem Text von außen als das Historische, das Kulturel-
Aufkommen des Romans, der Erste Weltkrieg und seine Nachwirkungen le und das Soziopolitische aufdrängen. Da dieses Essay sich jedoch mit ei-
mit dem Aufkommen des Modernismus sowie der Zweite Weltkrieg und die nem riesigen Korpus beschäftigt, wird es ‚nur‘ versuchen, die thematische

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Häufigkeit hervorzuheben und einen übergreifenden Eindruck darüber zu Sklavenhandel in der Swahili Literatur geschrieben wurde, zum anderen auf
vermitteln, was im Swahili Roman stattfindet. die Tatsache, dass der Autor bis zu einem gewissen Grad dem Thema selbst
nicht gerecht geworden ist. Anstatt es als Katastrophe großen Ausmaßes mit
verheerenden Auswirkungen auf die Bevölkerung Ostafrikas zu thematisie-
Der Sklavenhandel und der Swahili Roman ren, behandelt er es aus begrenzter persönlicher Perspektive und auf biogra-
phischer Ebene, vielleicht um die unvollendeten Angelegenheiten seiner Fa-
Der Sklavenhandel und seine Abschaffung in Ostafrika sind eine Katastro- milie abzuarbeiten.
phe, die den Swahili Roman in ‚besonderer‘, wenn auch nicht in ‚wesent- Anschließend wird Uhuru wa Watumwa in übertriebenem und roman-
licher Weise‘ beeinflusst hat. In ‚besonderer‘ Weise deswegen, weil das Auf- tischem Ton einerseits nostalgisch und ethnographisch dargestellt, indem
kommen des Swahili Romans eine direkte Reaktion auf den Sklavenhandel der Roman ein glückliches und friedvolles Leben auf dem Lande in Kenia
und seine nachfolgende Abschaffung war. Durch den Titel von James Mbo- zeichnet, wo der Vater des Autors geboren und aufgewachsen war, bevor er
telas Roman Uhuru wa Watumwa [Die Befreiung der Sklaven], der offen als Sklave gefangen genommen wurde; andererseits zeigt er die Odyssee und
auf die Katastrophe anspielt, wird sein Ursprung deutlich markiert. Daher die Tortur des Vaters des Autors und seiner Verwandten, die zu Sklaven und
scheint es nicht ganz abwegig, eine Parallele zwischen dem Aufkommen des Sklavinnen gemacht und gezwungen wurden, die entsetzlichen Gräueltaten
Swahili Romans und dem des europäischen Romans zu ziehen, obgleich zu ertragen, die ihnen von arabischen Sklavenhändlern angetan wurden.
dies nicht andeuten soll, dass die Faktoren, die in einer einzigen Generation Der Roman stellt sich daher als starke ‚Empathie‘ für den Vater des Autors
zu dieser Entwicklung führten, vergleichbar seien mit dem Erscheinen der heraus, dem die universelle Ausrichtung anderer Romane der Welt zur Skla-
bahnbrechenden realistischen Romane von Defoe, Richardson und Fiel- verei oder/und zum Sklavenhandel fehlt. Kein Wunder also, dass Mbotela
ding. Trotzdem möchte ich die Leserinnen und Leser auf ‚zwei‘ Aspekte mit einer solchermaßen personalisierten Sichtweise vehement die Araber
aufmerksam machen, die eine solche Analogie ermöglichen. und den bösartigen Handel verdammt, aber großzügig die britischen ‚Phil-
Erstens, die pikareske Natur der Charaktere in Uhuru wa Watumwa, anthropen‘ lobt, weil sie die Sklaven befreiten und nach Kisauni brachten,
die die Weise betont, wie wir die Veränderung von der europäischen Ro- wo sie getauft und dem Christentum zugeführt wurden und dann friedlich
manze hin zum realistischen Roman betrachten, die Entschlossenheit der in ‚Freiheit‘ unter dem Union Jack lebten.
Charaktere, die Stagnation in dem überholten sozioökonomischen System Von dieser Perspektive aus betrachtet, ist Uhuru wa Watumwa ein Zeug-
zu verwerfen und ihr Optimismus für ein neues Leben und eine neue Zeit, nis dafür, wie Afrikanerinnen und Afrikaner so geistig versklavt und über-
die ‚nominell‘ Freiheit verspricht. Tatsächlich drängen sich Freiheit und listet worden sind, dass sie die Abschaffung der ‚klassischen Sklaverei‘ not-
Hoffnung in Uhuru wa Watumwa so beharrlich auf, dass wir vom Autor, wendigerweise als eine Art Freiheit ansahen und den Kolonialismus als das
der den britischen Kolonialismus fälschlicherweise mit Freiheit verwechselt, ‚kleinere Übel‘. Daher werden die Briten auch übermäßig von den befreiten
eine bedauerliche Verherrlichung präsentiert bekommen: „Bewahre, oh Sklaven gelobt, was den Roman als einen der seltenen Texte in der Swahili
Gott, und erweitere den Einfluss der Briten.“1 Literatur hervortreten lässt, der die Briten so offen freispricht und ihre ko-
Zweitens, obgleich der Swahili Roman als Reaktion auf das Sklavenhalt- loniale Präsenz legitimiert.
ersystem und der europäische Roman als realistische Reaktion auf die mit- Aber im Gegensatz zur klassischen Swahili Dichtung, die sich zunächst
telalterliche Romanze und ihre höfischen Abkömmlinge des sechzehnten aus dem ‚Islamismus‘ entwickelte und später gleichbedeutend mit ihm wur-
und siebzehnten Jahrhunderts in Erscheinung traten, betonen beide Ro- de, ist der Swahili Roman in seinen Anfängen und in seiner rudimentären
mantypen das Verlangen nach ‚Offenheit‘, ‚Freiheit‘ und ‚Durchbruch‘. Form ein europäischer Import, konzipiert als Typus, der gleichzeitig ‚Klage‘
„Nicht in wesentlicher Weise“ bezieht sich zum einen auf Uhuru wa und ‚Schmähschrift‘ ist – ein Ausdruck von tiefer Trauer und Zorn über die
Watumwa als dem einzigen Roman, der jemals zum Thema Sklaverei und Torturen, die ostafrikanische Sklaven und Sklavinnen (repräsentiert vom
Vater des Autors und seinen Verwandten) erlitten.
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


Dieser besondere Roman analysiert nicht per se die tief sitzende und der Kolonialmacht zu tun. Außer Frage steht dabei, dass es eines Schriftstel-
mitleiderregende Stimmung, die normalerweise von Literaturen ausgeht, lers wie Robert bedurfte – eines Autors, der in gefügigem und leicht ver-
die sich auf Sklaverei und Sklavenhandel beziehen. Auch ist er nicht mit ständlichem, aber dennoch zweideutigem Stil schreiben konnte. So konnte
aufrührerischem und rebellischem gesellschaftlichen Ethos als Folge jenes er in seinen Büchern scharfe Kritik an der Kolonialmacht üben und schaff-
verhängnisvollen Ereignisses der Sklaverei und des Sklavenhandels ange- te es dennoch zugleich, von ihnen mit einem renommierten literarischen
füllt, das der Gesellschaft widerfahren war. Der Roman ist nicht wirklich Preis, den Margaret Wrong Memorial Prize, sowie dem britischen Verdienst-
bereit, den Status Quo kritisch bloßzustellen und in Worte zu fassen, son- orden MBE/Member of the Order of the British Empire geehrt zu werden.
dern tendiert eher dazu, drei selbstauferlegte Aufgaben zu erfüllen: Beseiti- Wie zu erwarten waren die nach der Unabhängigkeit geschriebenen Ro-
gung der Nostalgie in der Familie des Autors, die durch Sklaverei und Skla- mane transparenter, da nach der Unabhängigkeit die oben erwähnte Drang-
venhandel ihrer Heimat entwurzelt wurden; Schilderung seiner Reue über sal bis zu einem gewissen Grad zurückgenommen wurde. Tatsächlich war
das, was seiner Familie angetan worden war, indem er die Araber als die zu Beginn der Unabhängigkeit und auch noch lange Zeit danach nicht nur
‚einzigen‘ Täter des Verbrechens der durch ihre Religion unterstützten Skla- die Beziehung zwischen afrikanischen Schriftstellern und den Machthaben-
verei verdammt, und die britischen oder missionarischen sog. ‚Philanthro- den in afrikanischen Ländern von gegenseitigem Austausch geprägt, son-
pinnen‘ und ‚Philantropen‘ mit allen möglichen Lobpreisungen überschüt- dern auch die Literatur stand der nationalistischen Rhetorik näher. Afrika-
tet. Es handelt sich daher nicht wirklich um einen gegen die Sklaverei nische Schriftsteller wurden daher von den Politikern gefördert, solange die
gerichteten Roman. Kein Wunder, dass Masrui und Shariff in The Swahili Literatur die Entstehung eines Nationalbewusstseins unterstützte. Auf die-
Idiom and Identity of an African People Skepsis äußern, ob Uhuru wa Wat- se Weise diente die Literatur der Ergänzung des nationalistischen Pro-
umwa tatsächlich von einem Afrikaner oder einer Afrikanerin geschrieben gramms.
worden ist. Sie vermuten, dass der Roman zumindest auf einen britischen Inhaltlich lässt sich eine deutliche Verbindung zwischen Swahili Roma-
Auftrag zurückgeht, wenn er nicht gar aus britischer Feder stammt. Bis heu- nen, die während der Kolonialzeit entstanden sind, und solchen, die danach
te bleibt daher eine Lücke, da ein solch bedeutsames Ereignis wie die Skla- geschrieben wurden, ausmachen. Beide behandeln das gleiche Thema, den
verei und der Sklavenhandel nicht angemessen und ausreichend im Swahili Kolonialismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Diese Gruppen des
Roman und der Swahili Literatur im Allgemeinen behandelt wurde. Swahili Romans lassen sich jedoch auf zwei Weisen unterscheiden. Erstens
konnten die Romane, die während der Kolonialzeit geschrieben wurden,
das Thema des Kolonialismus nur begrenzt behandeln, und zwar aufgrund
Der Kolonialismus und der Swahili Roman der Zensur, und weil sie die Komplexität und Funktionsweise des kolonia-
len Systems nicht wirklich durchschauen konnten und daher ein kritisches
Es gibt viele Swahili Romane über den Kolonialismus und den Kampf für Bewusstsein fehlte. Tatsächlich wurden sie eher verschlüsselt verfasst. Es
die Unabhängigkeit; sie lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: solche, die wurde gezeigt, dass viel fehlte und falsch war an einem bestimmten Schau-
während der Kolonialzeit publiziert wurden und andere, die in der Zeit platz oder an einem System, auf das in unspezifischer, allgemeiner und uni-
nach der Unabhängigkeit geschrieben und veröffentlicht wurden, wobei für verseller Terminologie Bezug genommen wurde. Diejenigen Romane, die
den Roman dieser letztgenannten Periode verschiedene Schreibstrategien in der postkolonialen Ära geschrieben wurden, benennen hingegen ihre
unterschieden werden können. Schauplätze genau und äußern sich unverblümt zum System selbst. Die
Die Romane, die während der Kolonialzeit erschienen sind, stammen Romane über den Kolonialismus, die aus der postkolonialen Ära stammen,
alle von nur einem Autor – Shaaban Robert. Bislang gibt es keine Erklärung sind in der Tat überreichlich mit Tatsachen über den Kolonialismus be-
dafür, warum es keine anderen Autorinnen und Autoren gab. Meiner An- stückt – ein Resultat vergangener gelebter Erfahrungen sowie von in steter
sicht nach hat dies viel mit der Zensur und den anderen Zwangsmaßnahmen Folge erscheinenden postkolonialen Studien. Zweitens haben die in der Zeit

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nach der Unabhängigkeit über dieses Thema geschriebenen Romane den nistische Prinzip dem Leben gegenüber und die Muster, die er benötigte,
Vorteil, dass sie ihr Material aus der gewaltigen, ungebrochenen Geschichte um seine Werke absichtlich zweideutig zu gestalten, um der Zensur der
des Kolonialismus beziehen, der über neokoloniale, imperialistische Ten- Herrschenden auszuweichen. Er benutzte ‚Phantasmen‘ als Methode fiktio-
denzen bis in aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen hinein wirkt. Daher naler Tarnung und den ‚Islam‘ als Quelle einer ‚Lebensphilosophie‘. Aus
bemerkt man beim Lesen dieser Romane auch keine Trennung zwischen diesem Grund sind seine Arbeiten voller Abstraktionen, Phantasien und
der vergangenen und der zeitgenössischen Geschichte. Es ist lediglich eine moralischer Dilemmata.
Frage der gegenseitigen Grenzüberschreitung, normalerweise mit größerer Darüber hinaus kannte Robert nicht nur seine unmittelbare Umge-
Betonung der kolonialen als der postkolonialen Epoche – da das Thema bung, er war auch über die Welt insgesamt informiert, besonders über den
grundsätzlich kolonial bleibt. Imperialismus und seine Bereitschaft, zuzuschlagen und jeden zu zerstören,
Aus dieser Argumentation folgt, dass sich das Thema des Kolonialis- der sich ihm in den Weg stellte. Sein Wissen um die dem kolonialen System
mus für Shaaban Robert nur eingegrenzt erschließen ließ. Seine Arbeiten inhärenten Widersprüche schärfte seine Wahrnehmung, die er schließlich in
sind immer in einem bemerkenswerten Predigerton geschrieben, aber dies kontrastive und gegensätzliche Dichotomien fasste, wie ‚Zentrum‘ gegen
schmälert ihre zugrunde liegende politische Bedeutung nicht. Tatsächlich ‚Peripherie‘, ‚reich‘ gegen ‚arm‘, ‚Fortschritt‘ gegen ‚Rückschritt‘, ‚gut‘ ge-
ist der Kolonialismus als Thema der Dreh- und Angelpunkt von Roberts gen ‚böse‘, ‚individuelle‘ gegen ‚die etablierte Herrschaft‘ – in der endgülti-
Romanen. Mit seinen alles durchdringenden, tyrannisierenden und hege- gen Analyse sollte alles dazu beitragen, eine allgemeine, alles umfassende
monialen Tendenzen hat sich der Kolonialismus als eine Bedrohung mit vie- Spannung sichtbar zu machen: ‚Die vollkommene Welt‘ gegen ‚die unvoll-
len Gesichtern herausgestellt, die Stoff liefert für Gedanken, Themen und kommene Welt‘.
Unterthemen, die afrikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller über den In Adili na Nduguze [Adili und seine Brüder] zeichnet Robert beispiels-
ganzen Kontinent von verschiedenen Gesichtspunkten aus bearbeiten. In- weise in für den Roman ziemlich überflüssiger Weise eine perfekte Führung
dem er seine Romane mit utopischer Philosophie ausstattete, versuchte Ro- und eine perfekte Welt, die von einigen Individuen (das sind Adilis Brüder)
bert, die Psychologie hinter der Bedrohung zu zerstören. Sein Hauptziel beschädigt zu werden droht. Robert benutzt sowohl die Taten des recht-
war es, die Prinzipien einer ‚perfekten Gesellschaft‘ zu formulieren und un- schaffenen und perfekten Königs als auch die des tadellosen Adili, um sie
ter seinen Leserinnen und Lesern zu verbreiten, was seiner Meinung nach Adilis Brüdern gegenüberzustellen, die den Satan selbst verkörpern. Wenn-
nur durch die ‚heilige Rolle‘ einer gegebenen Führung und durch ‚recht- gleich in höchst übertriebener Weise benutzt der Autor diese kontrastive
schaffene Taten‘ einzelner Bürgerinnen und Bürger möglich war. Methode, Charaktere in ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ zu präsentieren, um seinen
Obwohl Robert im Großen und Ganzen ein Moralist war, erschien er Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Model einer perfekten Gesellschaft
bis zu einem gewissen Grad auch als Realist, der verschiedentlich die Wider- nahe zu bringen, das auf diese Weise mit dem mangelhaften kolonialen Sys-
sprüche des Kolonialsystems sah und benannte, wobei er die Ziele und Vi- tem verglichen werden soll. Dies ist als Teil der Vorbereitung auf die Selbst-
sionen der Menschen betonte, die unter der Herrschaft einer fremden verwaltung zu verstehen, die zu jener Zeit kurz bevorstand.
Macht litten. Seine eigene Vision jedoch ging über die seiner Landsleute hi- In Kusadikika [Das Glaubwürdige] beginnt der Autor mit der Beschrei-
naus. Sie leitet sich nicht nur vom Leben ab, wie es während der Kolonial- bung eines Landes Kusadikika, das Hölle und Fegefeuer ist, und fährt fort
zeit erfahren wurde, sondern war auch beeinflusst von den Risiken und Ge- zu demonstrieren, wie Kusadikika (also jede unvollkommene Gesellschaft)
fahren seiner Zeit. Zweifellos war er als eifriger Leser von literarischen zur Perfektion gebracht werden kann. Der Grund für Kusadikikas Unvoll-
Tendenzen, vom Wissen und von Erkenntnissen aus Büchern beeinflusst. kommenheit ist die Führung, die ungerecht und korrupt ist. Geht es nach
Seine Vision als Schriftsteller wurde aus einer Kombination seiner Lebens- dem Autor, sollte eine solche Führung durch das Vorbringen neuer Ideen
erfahrung und der Verarbeitung der durch das Lesen gesammelten Philoso- herausgefordert und bekämpft werden. Jedoch sieht es so aus, als ob Roberts
phien geformt. Diese Vision half ihm zweierlei sicherzustellen: das huma- Vorschlag zur Reformierung Kusadikikas durch die Einführung neuer Ideen

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zwar greifbar, aber in der zeitgenössischen afrikanischen Situation nicht Trotz des wiederkehrenden Auftretens bestimmter Motive in Roberts
wirksam ist, da afrikanische Führer taub und blind gegenüber jeglicher For- Romanen variiert die Behandlung der Motive und die Fiktionalisierung,
derung nach Reformen zu sein scheinen. Roberts Vorschlag, Kusadikika die zu den Romanen gehört, in dem Maße, wie Form und Inhalt verschie-
(oder Afrika) zu reformieren, bleibt deshalb ein Vorschlag – reines Wunsch- dene Wendungen, Absichten und Betonungen annehmen. Während in ei-
denken für den Autor selbst sowie auch für sein Publikum. nigen Romanen zum Beispiel mit einer vollkommenen Welt begonnen
In Roberts anderen Romanen ist der thematische Schwerpunkt immer wird, die durch die Unzulänglichkeit einiger weniger Individuen bedroht
derselbe: Die Suche nach der perfekten Führung und implizit der perfekten wird, beginnen andere mit einer unvollkommenen Gesellschaft, die eine
Gesellschaft, die als sich ständig in Krisen befindlich gezeichnet wird, ver- Gruppe Einzelner zu reformieren sucht. Während die Charaktere in einigen
dorben durch die schlechten Taten von Individuen, normalerweise der Füh- Romanen bloße Fiktion des Schriftstellers sowie die Schauplätze abstrakt
rer, die eigentlich verpflichtet sind, sich um die angebliche Vollkommenheit und ungenau sind und in etwa dem Schauplatz von Tausend und einer
der betreffenden Gesellschaft zu kümmern. Manchmal wird die Fehlent- Nacht entsprechen, sind die Charaktere in anderen Romanen realistischer
wicklung mit ‚reinem Egotismus‘ begründet, die ein Land komplett ruiniert. und die Schauplätze recht solide, typisch und auf dem Boden der Tatsachen
Oder die Unvollkommenheit kann im Fehlen eines spirituellen oder morali- angesiedelt. In den Romanen finden die Geschehnisse in städtischen und
schen Gewissens bestehen, besonders unter den Reichen, die die Religion als ländlichen Gebieten auf Sansibar und in Tanganyika statt. Hiervon abgese-
Möglichkeit nutzen, um Reichtum für weltliche Freuden anzuhäufen oder hen bewahren alle Romane Roberts – aufgrund seiner religiös orientierten
die einen der grundlegenden islamischen Glaubenssätze vernachlässigen, Philosophie – einen gewissen Grad an Abstraktion, Utopismus und an zur
und zwar jenen, der die Reichen verpflichtet, Almosen an die Armen und für Debatte gestellten Idealen.
die gesellschaftliche Wohlfahrt zu entrichten. Oder hin und wieder nimmt Verglichen mit dem Swahili Roman über den Sklavenhandel sind Ro-
einfach der Sinn eines Menschen für das Gute ab, besonders bei wahrer Lie- berts Romane (d. h. die Romane dieser Epoche) technisch komplexer in ih-
be, wahrer Freundschaft, Vertrauenswürdigkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit, rer thematischen und formalen Bearbeitung. Sie sind klar gegen die damals
Hingabe an die Arbeit, Patriotismus, die positive Einstellung zur Bewah- vorherrschende hegemoniale Ordnung gerichtet, aber die Methoden der
rung der Natur sowie die Anerkennung von Handarbeit im Gegensatz zur Fiktionalisierung und der daraus folgende Diskurs in seinen Romanen sind
Kopfarbeit. Der Niedergang ist Robert zufolge auf die Veränderung von ‚tra- nicht nur aufgrund des individuellen Sprachgebrauchs neu in der Swahili
ditionellen‘ hin zu kolonialen, kapitalistischen Werten zurückzuführen. Literatur, sondern haben auch eine einzigartige Tendenz, eine spezielle Art
An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, warum einige von Roberts von Phantasma zu nutzen, die sonst in keinem anderen Roman der Swahili
Romanen mit Zeitlosigkeit in Verbindung gebracht werden können: Auch Literatur vorkommt. Außerdem kann man Roberts Romane im Gegensatz
für zeitgenössische Situationen sind sie relevant. Einige der Themen in sei- zu Mbotelas nirgends der Konformität mit dem Kolonialismus bezichtigen,
nen Romanen sind heute so wichtig wie vor fünfzig Jahren, als sie geschrie- wie sehr man auch Roberts utopische Philosophie und die Lösungsvorschlä-
ben wurden. Beispielsweise sind einige von Roberts stets wiederkehrenden ge für gravierende koloniale Probleme kritisieren oder sogar ablehnen mag.
Themen und Motiven die Konsolidierung der Macht in den Händen einer
kleinen Elite, die Demagogie, das exzessive materialistische und konsump-
tive Streben der modernen Welt, die Plünderung der natürlichen Ressourcen Kenianische Romane der Ära nach der Unabhängigkeit
zur Bereicherung, zum Gebrauch und Vergnügen weniger interner Herr-
scher und ihrer externen Kollaborateure, die scharfe Konkurrenz zwischen Es gibt nur wenige kenianische Swahili Romane, die in der Zeit nach der
Individuen, Gruppen und Ländern, die den Weltfrieden und die Stabilität Unabhängigkeit geschrieben wurden und das Thema Kolonialismus bein-
bedroht, die Unterschiede in der Entwicklung. Diese Herausforderungen halten. Zwei davon sind Peter Munuhe Kareithis Kaburi Bila Msalaba [Das
sind heute so aktuell wie zu der Zeit, als Robert seine Romane schrieb. Grab ohne ein Kreuz] und Peter Ngares Kikulacho ki Nguoni Mwako [Was

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dich auffrisst, ist in dir]. Kaburi Bila Msalaba und Kikulacho ki Nguoni der Vergangenheit kenianischen Führern jedwede Art des Schreibens abso-
Mwako behandeln beide den Mau Mau Aufstand. Beim Mau Mau Auf- lut zuwider, die politisch agitierend war – besonders, wenn die literarische
stand als Unterthema des Kolonialismus und des Kampfes für Unabhängig- Kritik am Establishment nach links tendierte, aber auch, wenn merklich auf
keit ging es u. a. um 7,5 Millionen Hektar fruchtbares Ackerland, das der ökonomische Fairness und soziale Gerechtigkeit bestanden wurde – und
Kontrolle Weißer unterstand – ein Faktor, der später zum patriotischen Wi- nicht auf ökonomischem Wachstum und sozialer Schichtung. Im Vergleich
derstand oder dem Mau Mau Aufstand führte, mit dem Resultat der Ver- zu Tansania hat Kenia eine ganze Reihe von Schriftstellern, die verhaftet
hängung des Ausnahmezustands von 1952 bis 1959 und dem Tod von un- wurden oder ins Exil gingen, weil sie das Establishment in dieser Weise kri-
gefähr 130.000 afrikanischen Patriotinnen und Patrioten. tisiert hatten.
Aber Kaburi Bila Msalaba und Kikulacho ki Nguoni Mwako sind die
beiden einzigen Werke der Swahili Literatur, die dieses sehr wichtige histo-
rische Ereignis behandeln, das einen festen Bestandteil des kenianischen Sansibarische Romane der Ära nach der Unabhängigkeit
Kampfes für die Unabhängigkeit darstellt. Doch selbst in diesen Romanen
stand der Mau Mau Aufstand nicht im Mittelpunkt. Er bildet nur den Hin- Romane über den Kolonialismus, die in der Ära nach der Unabhängigkeit
tergrund, vor dem sich Liebesgeschichten junger Charaktere entgegen vie- produziert wurden, sind hauptsächlich von Schriftstellern aus Sansibar ge-
ler Zwangslagen entfalten, die durch die Kämpfe des Aufstands und den schrieben worden. Die wichtigsten Romane im einzelnen sind Mohamed
nachfolgenden Ausnahmezustand verursacht wurden. Vielleicht war es das S. Mohameds Kiu [Durst] und Nyota ya Rehema [Der Stern von Rehema],
Ziel zu zeigen, wie der Aufstand das Leben der Afrikanerinnen und Afrika- Shafi Adam Shafis Kasri ya Mwinyi Fuad [Der Palast des Grundbesitzers
ner in Kenia beeinflusste. So lesen wir in den Romanen über junge patrio- Fuad] und Kuli [Der Hafenarbeiter] sowie Said A. Mohameds Asali Chun-
tische Intellektuelle, die ihre gut dotierten Stellen aufgeben, um sich dem gu [Bitterer Honig], Utengano [Trennung] und Dunia Mti Mkavu [Die
Aufstand anzuschließen. Über Liebende und ihre Familien, die ihre Ange- Welt, ein unzuverlässiger Ort].
hörigen durch den bewaffneten Kampf verlieren. Über junge Frauen, die Mohameds Kiu ist in der Literaturkritik aufgrund seiner großen Nähe
vergewaltigt und geschwängert werden und sterben. Oder über andere, die zum europäischen realistischen Roman mit den Werken Balzacs verglichen
bis zum Ende weiterkämpfen, aber als der Frieden kommt zu ihrer Enttäu- worden – besonders was die Darstellung des Einzelnen im bürgerlichen
schung erkennen müssen, dass die Männer, die nun das Kommando über Epos betrifft. In diesem Roman bestätigt Mohamed, dass eine Revolution
das unabhängige Kenia haben, dieselben sind, die zuvor den Mau Mau nichts bedeutet, wenn die neuen Führer, vom menschlichen Egoismus ge-
Aufstand bekämpft hatten. Jedoch lassen diese Romane stilistische Eleganz, trieben, dieselben sozialen Verbrechen wie ihre Vorgänger begehen. Einer
Erzählkunst und Lebendigkeit vermissen, die mit erfolgreicher literarischer Revolution muss ein ernsthafter Versuch folgen, die vergangenen Fehler und
Prosa verbunden wird. Torheiten hinter sich zu lassen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ein so wichtiges Thema wie Trotzdem ist es wichtig festzustellen, dass das Muster der Verschleie-
der Mau Mau Widerstand von den kenianischen Autoren, die in Swahili rung, das in Roberts Romanen Anwendung fand, in Kiu zurückgekehrt ist
schrieben, nicht in gleichem Maße im Roman oder Theaterstück voll ausge- – jenem Roman, bei dem der Egoismus immerhin schon im Zentrum des
schöpft worden ist, wie in englischer Sprache von Schriftstellerinnen und Interesses steht und die Liebesgeschichte Fassade bleibt. Daher kann man
Schriftstellern wie etwa Ngugi wa Thiong’o. Kiu als Liebesgeschichte lesen, obwohl er auch als ein Roman über eine Re-
Es ist leicht, die Hintergründe dafür zu erahnen, da klar ist, dass Swa- volution und eine Konterrevolution in Gestalt einer Romanze gesehen wer-
hili zu der Zeit keine einflussreiche literarische Sprache war. Tatsächlich in- den kann. Der Grund für die Tarnung ist derselbe – Zensur und Zwang,
teressierten sich nur wenige Gelehrte für sie, und gewiss hatte sich damals jetzt von niemand anderem ausgeübt als vom afrikanischen Präsidenten
noch niemand für Swahili als Nationalsprache eingesetzt. Außerdem war in selbst. Das bedeutet, dass es jene veraltete Sicht, wonach afrikanische Lite-

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ratur dem nationalen Programm dienen sollte, forthin nicht mehr gibt, da dem sie sich niederlässt, nachdem sie von einem Mann geheiratet wurde,
die Schriftsteller scharfe Kritik an der Käuflichkeit der neuen Machthaben- der sie einige Jahre zuvor vergewaltigt hatte.
den üben. Der Romanschriftsteller Shafi wird als Chronist der Geschichte Sansi-
Man kann Kiu auch noch von einer anderen verdeckten Warte aus lesen: bars betrachtet. Seine zwei Romane sind Fundgruben der Geschichte Sansi-
Aus einer politischen Perspektive heraus ist das Erscheinen von Kiu selbst bars und der Revolution von 1964. Fuad in Kasri ya Mwinyi ist ein typi-
insofern ein politisches Postunabhängigkeitsphänomen, als der Roman auf scher Aristokrat – gemein, arrogant und ein Das-ist-mir-völlig-egal-Typ. Er
der Vision und Perspektive jener Afrikanerinnen und Afrikaner gründet, misshandelt seine Diener und Dienerinnen, inklusive Kijakazi, sein altes
die eine Westliche Erziehung genossen haben – einer Klasse, die die Herr- Kindermädchen, die Fuad und seinen Eltern ihr Leben lang ohne irgendei-
schaft im postkolonialen Staat inne hat. ne Belohnung gedient hat – die einzige Person, die ihm gegenüber loyal
Oder man kann in Kiu einige koloniale/kapitalistische Werte erkennen, bleibt bis zur letzten Minute, obwohl ihn jede und jeder andere verlassen
die schwer auf dem afrikanischen Körper und der Seele lasten und die Afri- hat, um sich der Revolution anzuschließen.
kanerin und den Afrikaner seelenlos machen. Extreme Armut weckt in Kiu Kuli andererseits behandelt das harte Leben der Hafenarbeiter auf San-
Egoismus und die Besessenheit, um jeden Preis reich zu sein – ein Unter- sibar 1940. Der Roman schildert die grobe Behandlung im Hafen und auch
fangen, das schließlich zur Selbstzerstörung führt. Auch Liebe um der Lie- sonst in der Gesellschaft, wo sie unter miserablen Bedingungen leben. Die
be willen verliert in diesem Roman ihre Realisierbarkeit, da sie nun mit Situation im Hafen und die harte Behandlung der Hafenarbeiter sind
Geld verbunden ist und daher den Weg freimacht für die Vermarktung von Grundlage für Lektionen über das Elend der Arbeiter und über ihre Einig-
Frauen, für Sexismus und Alkoholismus, und damit die Klassenunterschie- keit als Waffe im Kampf um ihre Rechte heraus.
de und Geschlechterverhältnisse verschärft. In Asali Chungu bestärkt Mohamed das Axiom ‚absolute Macht kor-
Mohameds zweiter Roman Nyota ya Rehema ist länger und komplexer, rumpiert absolut‘. Bwana Zuberi, der Bezirksbeauftragte, jagt seinen Ver-
nicht nur von der Struktur her, sondern auch bezüglich seiner soziopoliti- gnügungen mit Hilfe seiner politischen und ökonomischen Macht nach. In-
schen Kritik und Psychoanalyse. Es ist ein Roman, der sich den Überresten dem er dies tut, zerstört er sich selbst, seine Frau und seine Familie. Asali
des kolonialen Systems zuwendet, besonders der Verlängerung feudaler/ka- Chungu hat einen doppeldeutigen Titel – er behandelt den ‚Honig‘ der Un-
pitalistischer Beziehungen, die auf einer Agro-Ökonomie basieren, in der treue, der obwohl süß zu Beginn in einer Bitterkeit endet, die alle Geheim-
Land eine zentrale Rolle spielt. Mohamed zufolge gehen viele Probleme von nisse offenbart. Außerdem ist die seitens des Romanschriftstellers erfolgrei-
solch einer Gesellschaft aus: Vorurteile bezüglich der Hautfarbe und Rassis- che Darstellung der Widersprüche zwischen Aristokraten und Kapitalisten
mus, Korruption, die Stadt als Kampfplatz, als ein Zentrum, wo für Geld einerseits und den ausgebeuteten Arbeitern und Bauern andererseits ein
alles zu haben ist, wo die Armen keine Rechte haben und keinen Frieden, weiteres hervorstechendes Merkmal des Romans.
wo die Heuchelei regiert. Deshalb ist die Revolution am Ende der Ge- Schauplatz von Mohameds Dunia Mti Mkavu ist das koloniale Sansibar
schichte ein logischer Schluss. mit Handlungen und Ereignissen, die die wachsende Unzufriedenheit und
Liest man den Roman jedoch von einem feministischen Standpunkt den Groll gegen die Kolonialregierung offenbaren, die im Generalstreik
aus, so ist er noch ein weiterer Beleg dafür, was es bedeutet, als Frau gebo- gipfeln, einem fast spontanen Aufstand, der rücksichtslos vom Staat zer-
ren zu sein, besonders in einer Gesellschaft, die immer noch von einer Kom- schlagen wird. Dunia Mti Mkavu ist oft als einer der fortschrittlichsten
bination vorkolonialer Überbleibsel, kolonialer Reste und neuer Anforde- Swahili Romane bezeichnet worden, was die Analyse der ‚Dynamik‘ und
rungen des weltweiten imperialistischen Systems umgeben ist. Der Roman ‚Dialektik‘ der imperialistischen afrikanischen Gesellschaft angeht, insbe-
dreht sich, wie der Titel andeutet, um Rehema, eine Frau, die nirgends Frie- sondere im Vergleich mit Mohameds früheren Romanen Asali Chungu und
den finden kann – nicht bei sich zu Hause, nicht in der Stadt, nicht im Bor- Utengano, die zwar auch soziale Analysen liefern, aber mit ‚feudalen meta-
dell, wo sie als Dienstmädchen arbeitet und noch nicht einmal im Dorf, in physischen Wendungen‘ gefüllt sind.

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Kritiker (z. B. Ohly, Bertoncini, Mazrui, Kimani usw.) schätzen den Die meisten Swahili Prosawerke aus Kenia behandeln kulturelle und so-
sansibarischen Roman normalerweise sehr, sowohl wegen seines Inhalts als ziale Fragen wie Unsittlichkeit, Stadtleben, Diebstahl, Hexerei und Zau-
auch wegen seiner Methoden der Fiktionalisierung. Diejenigen, die ihn von berei, Teenagerschwangerschaften, kulturelle Konflikte und Jugendkri-
einem marxistischen Standpunkt aus bewerten und ihn hauptsächlich auf minalität sowie neuerdings Unterdrückung und Diskriminierung auf
der Basis seines Inhalts beurteilen, glauben, dass er aufgrund seiner Oppo- der Basis des Geschlechts und der Rasse. … Sehr wenige Werke haben
sition zum Establishment besonders fortschrittlich ist. Andere Kritiker, die versucht, politische Themen anzugehen – Grund hierfür ist vielleicht
einen nicht-marxistischen Ansatz vertreten, empfehlen ihn wegen seiner li- die scharfe und manchmal extreme Zensur und Kontrolle der Literatur
terarischen Kunstfertigkeit – besonders wegen der Strukturierung des Plots, durch die Regierung. Die wichtigsten Romane, die das politische The-
der sprachlichen Gewandtheit und der stilistischen Leistungen. Unabhän- ma als solches behandeln, sind Katama Mkangis Mafuta [Öle] (1975)
gig vom Urteil der Kritiker sind sansibarische Swahili Romanschriftsteller und Walenisi [Jene-Sind-Wir] (1995) sowie Rocha Chimerahs Nyongo
nicht nur die produktivsten, sondern in der künstlerischen Gestaltung des Kalia Ini [Gallenblase, die Aufpasserin auf die Leber] (1995) …2
Romans auch die sprachlich versiertesten gewesen. Vielleicht ist ein Grund
hierfür, dass die Geschichte Sansibars immer bewegt und problembeladen Mafuta ist eine in allegorischem Stil verfasste politische Satire – ein Roman,
war, eine Geschichte des Kampfes gegen lokale Führer und gegen Fremd- der verdeckten Symbolismus anwendet und es schwer macht, Parallelen
herrschaft. Ein anderer Grund ist, dass die Romanschriftsteller als Mutter- zwischen ihm und den politischen Realitäten des postkolonialen Kenia zu
sprachler des Swahili den Vorteil bester Swahilikenntnisse genießen. Dies ziehen. Indem er marxistische Lehrsätze heranzieht, besonders den vom
unterscheidet sie von anderen Romanschriftstellern, die nicht in ihrer Mut- Klassenkampf und einer Revolte als Weg zur Abschaffung aller gesellschaft-
tersprache schreiben. lichen Übel, ist Mafuta eine Satire auf die Rücksichtslosigkeit der keniani-
schen Führung und ihre Begeisterung, die Lebensweise kolonialer Herren
zu imitieren, die, so wird gezeigt, blind von den Führern geschluckt wird.
Politische Gegensätze und ihre literarischen Obwohl Nyongo Mkalia Ini nicht direkt gegen das Thema des Kolonia-
Entsprechungen: kenianische und tansanische Romane lismus gerichtet ist, bezieht sich der Roman doch auf sehr wichtige histori-
sche Ereignisse wie den Mau Mau Aufstand und politische Attentate. An-
In seinem Buch Politics and Public Policy in Kenya and Tanzania unter- sonsten konzentriert er sich hauptsächlich auf die Korruption im heutigen
scheidet Joel D. Barkan zwei Entwicklungsmodelle und bezeichnet Ke- Kenia als einen Aspekt der postkolonialen Situation in diesem Land.
nia als Inbegriff des Patron-Klient Kapitalismus und Tansania als ein fast Bald nach der Unabhängigkeit war die gesamte politische Landschaft
reines Beispiel für den Einparteiensozialismus. Ohne mich in terminologi- Tansanias abrupt und vollkommen entsprechend sozialistischer Einparteien-
sche Feinheiten zu vertiefen und den Vergleich zu weit zu führen, würde ich prinzipien organisiert – eine Situation, die bestens zum Kampf für die Un-
nur sagen, dass der Unterschied in den Entwicklungsorientierungen der abhängigkeit passte und ein Gefühl der Zuversicht und neuen Orientie-
zwei Länder die jeweilige Swahili Literatur unterschiedlich beeinflusst hat. rungssinns, das dem menschlichem Willen innewohnt, vermittelte. Unter
Während in Tansania die Swahili Literatur normalerweise politisch ausge- den Bannern von Ujamaa (dem afrikanischen Sozialismus Tansanias), von
richtet ist, ist die Swahili Literatur in Kenia nur geringfügig so orientiert. Kujitegemea (Selbständigkeit) und der Azimio la Arusha (der Arusha Erklä-
Sogar in seinem Essay „Reading the Kenyan Swahili Prose Works: A Terra rung) von 1967, dem Entwurf des tansanischen Sozialismus, wurden alle
Incognita in Swahili Literature“ – geschrieben, um die Annahme zu wider- Aspekte des Lebens in Tansania tiefgreifend, positiv oder negativ, beein-
legen, dass in Kenia nur wenig Literatur in Swahili existiere – bestätigt Wa- flusst. Die Swahili Literatur war da keine Ausnahme. Sie wurde eines der ra-
mitila, dass diese unpolitisch sei: ren Beispiele für die vollständige Unterjochung der Literatur durch die
Staatsideologie in Afrika, da es in vielen Jahren nach der Arusha Erklärung

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eine Ausbreitung von Werken gab, die voll des Lobes und der Unterstüt- indem sie die essentielle Dimension ignorieren oder übersehen, die die sub-
zung der offiziellen Politik und ihrer Umsetzung waren. Als Genre am stantielle Einheit zwischen Phänomenen, Zeit und Raum konstituiert. So-
meisten involviert war die Swahili Lyrik, wie ihre um sich greifende Kon- mit fühlen sich die Mitglieder einer solchen Gesellschaft in eine Welt gewor-
formität mit der Staatspropaganda bewies und die die hohe Erwartung der fen, die durchdrungen ist von Sinnlosigkeit, Verwirrung, Frustration und
einfachen Leute zum Ausdruck brachte, die hofften, das verheißene bibli- Absurdität. Daher überrascht es nicht zu sehen, dass Kezilahabis Kichamaji
sche Land, in dem reichlich Milch und Honig fließen, würde kurz bevor- und Dunia Uwanja wa Fujo erfüllt sind von einem Gefühl der Sinnlosig-
stehen. keit, der Verwirrung, der Frustration und der Absurdität. Beispielsweise le-
Romane dieses Typs erschienen viel später, obwohl sie durch die gleiche sen wir in diesen Romanen über ökonomischen Niedergang und extreme
Verherrlichung, Nostalgie und Prognose charakterisiert waren. Hauptsäch- Armut, politische Heuchelei und Verrat, soziale Unruhen und Chaos, Al-
lich übernahmen sie den Realismus als ihre Strategie, aber nicht ohne einen koholismus, dem Belästigen von Frauen, Sexismus, Arbeitslosigkeit, Hexe-
Hauch Romantik – was nicht überrascht, da sich der Kern der Ujamaa Phi- rei, Entfremdung und Isolation von Individuen, vorzeitigen Tod, Rache,
losophie selbst romantisch auf die afrikanische Vergangenheit bezieht. Folg- Reue, Massentötungen, Krankheiten (wie zum Beispiel Geschlechtskrank-
lich stehen George Mhinas Mtu ni Utu [Menschlich sein, heißt menschlich heiten, die zu Geburten von Kindern mit Hydrozephalus oder zu Todge-
handeln], William B. Semes Njozi ya Usiku [Nachttraum] und John Ngo- burten führen), eine hohe Rate von Selbstmorden usw. Die Romane haben
mois Ndoto ya Ndaria [Ndarias Traum] alle in Einklang mit dieser utopi- eine hohe Negativitätsquote, die klar aufzeigt, dass Tansania nicht das
schen Philosophie, die ihre Hoffnung auf die Zukunft setzt, die von einer Traumland ist, für das man es in der Vergangenheit hielt. Wie Hyden und
harmonischen Vergangenheit geformt werden muss, die gar nicht existierte. Bratton beobachten, ist es ein Land, in dem
Sogar im konformistischen Trend der Swahili Lyrik kann man trotzdem
sowohl unter liberaler als auch unter marxistischer Lesart die Tendenz aus- Entwicklung eine Angelegenheit von oben nach unten wurde, und Po-
machen, die tansanische sozialistische Ideologie zu negieren, da die Schrift- litik zunehmend eine Aktivität, die einer kleinen Clique von Leuten
steller und Schriftstellerinnen zunehmend desillusioniert und kritischer in vorbehalten war. Letztere rannten sozusagen mit der Politik davon, in-
Bezug auf ihre Politikerinnen und Politiker wurden. Ben Okri vertritt einen dem sie öffentliche Angelegenheiten zu privaten machten und politische
kritischen Standpunkt gegenüber den Vorschlägen von Führern wie Seng- Verantwortlichkeit ad absurdum führten.3
hor und Nyerere, die von der Kultur fordern, dass sie einen Raum zur Ver-
Vielleicht ist es Gamba la Nyoka, ein Roman mit einem niedergedrückten
fügung zu stelle, in dem ein „bewusster Wille, der ein harmonisches Ganzes
Gefühl von Existentialismus, in dem Kezilahabi eindringlicher gegen Uja-
anstrebt“, kreiert werden kann.
maa und das Establishment Stellung bezieht. Mit seinen zwei Charakteren,
Werke, die diese Richtung einschlagen, sind in der Swahili Literatur in
dem zynischen Mambosasa und dem willensschwachen Mambolea, den
allen Genres reichlich vorhanden. Kezilahabis Romane Kichwamaji [Der
Parteiführern des Dorfes, deckt Kezilahabi die negativen Auswirkungen
Sture] und Dunia Uwanja wa Fujo [Die Welt als Arena des Chaos] und
von Ujamaa auf, wie es in den Dörfern und in ganz Tansania praktiziert
Gamba la Nyoka [Schraffierte Schlangenhaut] sind die besten Beispiele für
wurde. Am Ende des Romans werden die Heuchelei der Führer und das
den Gebrauch der neuen formalen Strategie, den Bruch in der gesamten Ge-
Scheitern der Ujamaa Politik zusammengefasst :
sellschaft und ihren endgültigen Verfall zu erfassen. Kezilahabi ist der erste
Swahili Romanschriftsteller, der ‚strengen‘ Realismus meidet – bis dahin ein So wurde Tansania aufgebaut, so entwickelte es sich weiter und veraus-
dominanter Trend. Er bedient sich des ‚Existentialismus‘’, der von der An- gabte sich. Es gab Leute, die Ujamaa liebten und die ihre eigenen
nahme ausgeht, dass die ontologische Dimension aus dem Bewusstsein ge- Gründe dafür hatten. Es gab jene, die ihn ablehnten, und die hatten
drängt worden ist durch Institutionen und Systeme einer Gesellschaft, die auch ihre Gründe. Es gab Revolutionäre und Reaktionäre, und es gab
Rationalität, Willenskraft und eine Menge anderer Werte überbewertet, Heuchler.4

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Mit Beginn der 1990er Jahre, besonders nachdem die kenianische und die tung bezeichnet, und die zugleich untrennbar verbunden ist mit dem
tansanische Regierung ihre jeweilige Wirtschaft liberalisiert und ihre Märk- Wunsch nach Gleichgültigkeit; die ‚zynische Vernunft‘, die teilweise durch
te den globalen multinationalen Giganten geöffnet hatten, wurden die Län- die nicht zu unterdrückenden Massenmedien gefördert wird, die die Reali-
der auf allen Ebenen schwer getroffen, besonders die sozial Schwachen. Un- tät allumfassed in illusionärer Weise rahmen, wirkt sich auf das Maß aus, in
beschreibliches Elend und erschreckende Lebensbedingungen entstanden dem unser Leben durch mediale Diskurse, Intertextualität und Ideologie
dabei. Die Länder stürzten in große historische, politische und ökonomische negativ konstruiert wird. Dies ist eine neue Situation, die ununterbrochen
Erschütterungen und in schmerzhaften persönlichen Aufruhr. Bittere Not, flüchtige neue Ideen und Bilder postuliert, die widersprüchlich und verwir-
Auflösung und Verwirrung waren die Folge. Roth beschrieb sie treffend als rend sind; tatsächlich ist das Ganze der sozialen und kulturellen Kakopho-
nie ständig im Fluss, bereit unser Ethos anzugreifen, unsere Empfindsam-
Dinge, die uns mit Erstaunen und Ehrfurcht erfüllen, auch mit Übel-
keiten und unsere Kulturen.
keit und Verzweiflung. Die Kontroversen, die Skandale, der Wahnsinn,
Daher sieht es so aus, als ob dieser Inhalt unter Anwendung der Metho-
die Idiotie, die Frömmigkeit, die Lügen, der Lärm … sie sind nicht un-
de der Fiktionalität, die mit Nachdruck realistische Potentiale und stabile
wirklich, sondern wirklich … und die Macht, den Lauf des Zeitalters,
Texte geltend macht, nicht dargelegt werden kann. In zeitgenössischen Swa-
meines Lebens, deines Lebens zu verändern, wird tatsächlich nirgends
verliehen.5 hili Romanen werden die Leserinnen und Leser daher auf neuartige Weisen
in den Roman eingeladen, da der ‚neue‘ Roman indirekt die postmoderne
Roths Feststellung, obwohl sie sich auf die USA bezieht, deutet auf beunru- Situation diskutiert mit ihren inhärenten Charakteristika der politischen
higende Weise den Tod des moralischen und spirituellen Gewissens in Kenia Stagnation, des Auseinanderbrechens der Gesellschaft, der Frustration, der
und Tansania und dem Rest der Welt an. Schließlich leben wir in einem ‚glo- Verwirrung und der Illusion – alles verschärft durch den ökonomischen
balen Dorf‘, in dem sich gleiche kapitalistische Werte verbreiten und gleiche Niedergang. Die Swahili Romanautoren und -autorinnen stellen mit er-
soziale, politische und kulturelle Bilder und globale ‚Scheinbilder‘ unsere na- staunlich präzisem Blick eine Anzahl verwirrender Fragen, die das ‚Wohin‘
tionalen Kulturen charakterisieren. Wir leben in einem wissenschaftlichen Kenias oder Tansanias betreffen. Insbesondere stellen sie Fragen über den
und anti-metaphysischem Zeitalter, in dem Dogmen, Bilder, alte Ideologien politischen Gedächtnisschwund, Verrat, den Geist des Aufbaus der Nation,
und Prinzipien der Religion viel von ihrer Macht verloren haben. Folglich die Bedeutung von Selbst und Sein, Wahrheit, Leben, existentielle Identi-
begeben sich die zeitgenössischen Swahili Romanschriftsteller, ganz konzen- tät, nationale Identität, kulturelle Identität usw. Diese Fragen werden wie-
triert auf die Nachwirkungen unkontrollierter Liberalisierung in Kenia und der von neuem formuliert, indem ein neuer subjektiver Ansatz mit ziemlich
Tansania, auf das Gebiet ‚postmoderner Politik‘, die in allem ‚weniger‘ ist – scharfer Fokussierung auf die Gesellschaft benutzt wird. Der ‚kritische
weniger Emanzipation, weniger Verbesserung der Vermögenslage der Na- Raum‘ und somit die Kritik richten sich jetzt nicht mehr so sehr gegen den
tion und des Lebensstandards, weniger Demokratie usw., weniger noch als Imperialismus als dem ‚Anderen‘, sondern gegen das ‚gesellschaftliche‘ oder
einfach Machterhaltung durch Imagebildung und Manipulation. „Postmo- ‚individuelle Selbst‘ des nichtsahnenden und widerstandslosen Einfaltspin-
derne Politik“, ein Thema, dem sich zeitgenössische Swahili Romanschrift- sels. Dies bedeutet nicht, dass die Swahili Romanschriftstellerinnen und
steller jetzt, da der Roman sich selbst als vielfältig und einzigartig präsen- -schriftsteller jetzt die globalen ausbeuterischen Machenschaften nicht mehr
tiert, zuwenden, ist nach Nicol „die Politik der Geste(n), des Theaters, der kritisieren würden. Ganz im Gegenteil, ihre Kritik präsentiert sich zweige-
Kunst – mit dem Effekt, dass das Publikum dazu verführt werden kann, die sichtig – richtet sich gegen innere wie auch äußere Täterinnen und Täter.
Illusion im Ganzen zu schlucken, wie wir das im Theater tun.“6 Der Imperialismus wird jetzt nicht mehr als aufgezwungene Gewalt, son-
Die postmoderne Politik in Kenia und Tansania wird wie jede andere dern als politisches Modell diskutiert, dass bedauerlicherweise von afrikani-
postmoderne Politik in der Welt durch Sloterdijks ‚zynische Vernunft‘ cha- schen Führungen willkommen geheißen wird. Mohameds Babu Alipofufu-
rakterisiert, die das Erkennen von ‚Inkorrektheit‘ unserer politischen Rich- ka [Die Wiederauferstehung Großvaters] beispielsweise macht die korrupte

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Kollaboration zwischen der internen Elite und den so genannten externen Ks Leben ist total ruiniert durch eine Kombination seines eigenen Nar-
Investoren deutlich, da der Autor sich auf die Geschichte des Widerstands zissmus und dem von Proteus, dem höchsten Führer seines Landes. Es gibt
bezieht, die jetzt durch die Kollaboration ersetzt wird, mit deutlichen An- keine Möglichkeit für K zurückzuschlagen, da Proteus die absolute Macht
zeichen des Verrats an den Massen. in seinen Händen angehäuft hat und die Schwierigkeit darin besteht, dass
er so launenhaft ist wie die griechische Göttin des Meeres selbst. K, der zu-
Heutzutage kann mein Groß-Groß-Groß-Großenkel an einem Tisch tiefst frustriert ist, tadelt Proteus, aber aus der Ferne, damit er von ihm nicht
mit Leuten sitzen, mit denen zusammenzusitzen vor einigen Jahren als
gehört und gemaßregelt werden kann. „Wer genau bist Du eigentlich Pro-
Tabu angesehen worden wäre. ‚Kobolde‘ würde er sie nennen, während
teus? Ich weiß, Du bist nicht Gott, aber warum ist Deine Macht der von
er ihnen mit Hilfe der Bienen den Krieg erklärte. Landsleute waren in
Gott ähnlich? Warum sollte jedermanns Leben in Deinen Händen lie-
der Tat mehr als bereit, ihre Energien, ihre Besitztümer, ihre Zeit zu ver-
gen?.“9 So wird das ‚Leid‘ in diesem Roman als ‚Reue‘ externalisiert oder als
schwenden und verschenkten alles, was sie hatten, ihre Zukunft und so-
gar ihr Leben.7 ‚ein Drang nach Vergeltung‘ und dies paradoxerweise, als K wieder aufer-
steht und nicht zu seinen Lebzeiten. Der Autor muss K deshalb daran erin-
Mohameds Babu Alipofufuka und Dunia Yao [Ihre Welt], Kezilahabis Nago- nern, dass „es eine Tatsache ist, dass die Welt keine Menschen sehen will,
na [Der Weitblick] und Mzingile [Das Labyrinth], Mkangis Walenisi [Jene die im Tod Reue empfinden. Die Welt dürstet nach Rache.“10
sind wir] und Mkufyas Ziraili na Zirani [Der Todesengel und Zirani] ha- Die Geschichte über Babu Alipofufuka dreht sich um einen Hauptchar-
ben drei Schwerpunkte gemeinsam. Erstens, das vom Individuum und der akter ‚K‘ und seinen toten Großvater, der von den Vorfahren auf die Welt
Gesellschaft ausgehende ‚Leid‘ erscheint bei diesen Schriftstellern als Reue, zurückgeschickt worden ist, um ihm seine Dummheiten zu zeigen und ihn
als eine Mischung von philosophischem und nachdenklichem Intellektualis- zu drängen, den rechten Weg in Richtung Entwicklung einzuschlagen. ‚K‘
mus, von Hoffnungslosigkeit, Frustration und sogar Revolte. Zweitens, ein selbst steht für viele Interpretationsmöglichkeiten: eine korrupte Elite, den
Gefühl von Gleichzeitigkeit, das die neue Art des Schreibens dieser Werke, afrikanischen Kontinent und seine Menschen, die gedrängt werden, noch
die sich in den phantastischen und magischen Realismus wagt, in den Vor- mal zu überlegen, wer sie sind, wo sie herkamen und wohin sie gehen wol-
dergrund stellt vor dem Hintergrund der althergebrachten Art, die sich ver- len, das Symbol eines Gewissens in Aufruhr – das Gewissen eines Individu-
braucht hat. Drittens, ein Gefühl des Optimismus und der Hoffnung auf ums und einer Gesellschaft, die den Orientierungssinn verloren hat. Die
die politisierte Jugend, oder auf das Herausfinden des ‚Warum‘ und ‚Wie‘ Rolle des Großvaters, ‚des lebenden Toten‘, ist es zu versuchen, K in die
unserer Welt durch die Aktionen und Interaktionen der Charaktere, und da- dunkle Vergangenheit zurückzuversetzen, um ihm eine glänzendere Zu-
mit auch auf die von uns gelernten Lektionen über die vergangenen und die kunft zu zeigen.
zeitgenössischen Geschichten und die Intentionen der globalen Mächte. In Dunia Yao wird das ‚Leid‘ durch ‚Delirium‘ dargestellt, was den Ton
Dieses neue Bewusstsein ist also auch ein neuer Weg, das ‚afrikanische We- des Romans schwermütig und wehklagend werden lässt. Für Ndi- ist die
sen‘ neu zu definieren, dessen existentielle Identität gebrochen wurde, und Welt, in der wir leben, zu repressiv und die Globalisierung zu schwer defi-
die Wahrheit über seine oder ihre persönliche Freiheit wird in Frage gestellt. nierbar und abstrakt, um sie zu bekämpfen. „Vielleicht existiere ich noch.
In Nagona wird das ‚Leid‘ sowohl als schädlich als auch als angenehm Vielleicht nicht. Was ist der Unterschied? Zu existieren ist, in der Luft zu
und halluzinogen beschrieben oder als gutartig (Tonikum) und bösartig schweben, und nicht zu existieren, ist umzukommen.“11
(Quassie), als Reinigung durch die Dialektik von Tod/Geburt oder des- Dunia Yao ist ein psychologischer Roman, der zeigt, wie eine Gesell-
truktiv/kreativ. Kurzum, alle dualen Gegensätze sind im ‚Tanz‘ der Ver- schaft einen Mann zerstören kann, der diese besondere Gesellschaft liebt.
rückten verkörpert. „Wir waren alle müde. Wir hatten alle Schmerzen. Die Nachdem der Hauptcharakter Ndi- die verhängnisvollen Zeichen seiner
meisten von uns hielten sich die Rippen vor Schmerzen, aber wir tanzten Gesellschaft, die tief in eine ökonomische und soziale Tragödie fällt, er-
trotz aller Schwierigkeiten weiter.“8 kannt hat, rebelliert er als Beamter und ist seinen Vorgesetzten in der Regie-

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rung gegenüber respektlos. Daraufhin verliert er seine Arbeit und kann sei- dies durch Formulierungen wie etwa ‚die Politik der Zerstörung‘, ‚die Kul-
ne Familie nicht mehr ernähren. Seine Tochter, die durch Prostitution Geld tur des Schweigens und der Angst‘, ‚Apathie‘, ‚Heuchelei‘ und ‚Tod‘. „Als
verdient, muss die ganze Familie (einschließlich Ndi-) allein unterhalten. ich mich der Stadt näherte, war ich beeindruckt von der Stille, die sie um-
Für Ndi- ist dies einfach unerträglich und so verfällt er ins Delirium, zieht gab. Ich begann, die Flügel weißer Ameisen zu sehen, die überall verstreut
sich zurück in einen kleinen Raum im Hinterhof seines ehemaligen Palas- waren. Nur wenige Vögel flogen umher … Stille regierte die Stadt …“13
tes, wo er sich selbst einsperrt. Gefangen in einem Labyrinth, das er für die Mkangis Walenisi basiert ebenfalls auf dem Motiv des Reisens, aber hier
Gesellschaft hält, kämpft er sehr hart, um aus diesem psychologischen Irr- ist die Mission nicht die Suche nach Wahrheit, sondern die nach einer ‚per-
garten herauszukommen, aber er scheitert. Ndi-, dem nicht bewusst war, fekten Gesellschaft‘, die sich nicht allzu sehr von Roberts Utopie unter-
dass er an einem jener Tage der Selbstzucht und Selbstentfremdung mit sei- scheidet, obwohl die Utopie in Walenisi von sozialistischen Träumen durch-
ner Frau geschlafen hatte, ist schockiert zu erfahren, dass Bi. M, seine Frau, drungen ist. Dzombo, der Hauptcharaker in dem Roman, wird subversiver
empfangen hat. Bald wird ein Wunderkind geboren. Vom ersten Tag an hat Aktivitäten angeklagt. Er wird zum Tode verurteilt und gezwungen, in ei-
das Kind besondere magische Kräfte, insbesondere die Fähigkeit, Men- nem Raumschiff, das irgendwo zerschellen und ihn töten wird, ins Weltall
schen zusammenzubringen, um gegen soziale Übel und Ungerechtigkeiten zu fliegen. Aber Dzombo entgeht dem Tod, indem er sorgfältig durch die
zu kämpfen. gefährlichen Zonen im Weltall navigiert und sich später an fremden Orten
Obwohl Nagona und Mzingile zwei verschiedene Novellen sind, werden landen sieht, wo er von neuem eine Menge über Entwicklung, Fortschritt,
sie als eine einzige phantastische Erzählung oder als ‚phantastische Parabel‘ Menschlichkeit, soziale Harmonie, Frieden und Stabilität lernt, bevor er in
betrachtet, die viele Charakteristika einer mündlich überlieferten Erzäh- diese Welt zurückkehrt, die in dem Roman als jehanamu, was Hölle bedeu-
lung aufweist, besonders afrikanischer Mythen, Fabeln und Epen. Die Ge- tet, beschrieben wird.
schichte wird vom Standpunkt des Hauptcharakters aus erzählt, der ständig Mkufyas Ziraili na Zirani ist in einem Tenor geschrieben, der zwischen
herumreist auf der Suche nach der schwer zu fangenden ‚Gazelle‘ oder der Kritik und Würdigung des Wesens der Religion in unserer modernen Welt
Wahrheit. Die Handlung (wenn es überhaupt einen ‚Plot‘ im traditionellen angesiedelt ist. Irgendwie findet sich Nietzsches Verkündung aus Also sprach
Sinne gibt) entfaltet sich auf zwei verschiedenen Ebenen. Auf der abstrakten Zarathustra, dass „Gott tot ist“ hier wieder, und die Bedeutung des Lebens
Ebene erkennen wir die Probleme der Menschheit allgemein wie den Tod als solches in dieser Welt findet sich in rein menschlichen Begriffen in der
der Religion, den Tod der klassischen Philosophie, die extreme Ausplünde- Doktrin des Übermenschen und des Willens zur Macht wieder. Der Roman
rung der Welt durch einige wenige Nationen, Hunger und Verhungern, beginnt hier auf Erden, wo sich Angehörige des islamischen und christli-
Heuchelei, fehlgeleitete Wissenschaft undTechnologie, Ruinierung der Um- chen Glaubens im Krieg miteinander befinden. Viele der Episoden und Ge-
welt usw. Trotzdem sehen oder vermuten die Leserinnen und Leser auf die- schehnisse finden allerdings im ‚Himmel‘ und in der ‚Hölle‘ statt, wo Zir-
ser Ebene nicht, wo genau diese Probleme herkommen oder auf was sie sich ani, ein afrikanischer Atheist, gestorben und seine Seele Ziraili (dem Engel
beziehen. Die Ideen schweben nur locker auf den Seiten der Geschichte des Todes) entkommen ist, um sich in eine normale Form zu verjüngen und
ohne spezifische Verankerung oder Bezug, so als wenn gesagt werden wür- sich an subversiven Aktivitäten zu beteiligen, die auf den Sturz der Autori-
de: „Viele Länder wurden ins Verhungern gestürzt in der ‚Dritten Welt‘ und tät Gottes gerichtet sind. Der verwandelte Zirani schließt sich tatsächlich
Millionen von Menschen starben. … Plötzlich drang schlechter Geruch in mit den anderen Atheisten zusammen, den Satanen oder dem Teufel selbst,
unsere Nase.“12 um gegen Gott wegen des unfairen Systems, das er mit den Religionen auf
Jedoch auf der weniger abstrakten Ebene können die Leserinnen und Le- die Welt gebracht hat, zu revoltieren. Schließlich aber, als jeder, der an der
ser verdeckt die Schauplätze herausfinden oder auch, was der Autor im Schil- versuchten Revolution teilgenommen oder auch nicht teilgenommen hat,
de führt. Der Schauplatz scheint in Tansania zu sein oder in Ostafrika oder sich unterwürfig zu Boden wirft, stellt Gott sich als zu mächtig heraus, um
in irgendeiner anderen ehemaligen europäischen Kolonie – angedeutet wird von sterblichen Wesen besiegt zu werden.

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Das ultimativ Neue und Wichtige dieses aktuellen Romans ist – ver- te als Allgemeinplatz gilt. Es hat versucht zu zeigen, dass diese Beziehung
glichen mit den vorherigen Romanen – seine mehr nach innen gewandte nicht einfach in einer von der Gesellschaft bewirkten Veränderung in der Li-
Sicht. Zudem behandelt er anders als die Swahili Romane der vorhergehen- teratur besteht, sondern dass die Gesellschaft die Literatur zu einem be-
den Epochen Ursachen und Wirkungen, indem er die durch gesellschaftli- stimmten Zeitpunkt beeinflusst – zum Zeitpunkt eines akuten Problems
che Apathie und Gleichgültigkeit verursachte Stagnation aufzeigt. Das be- oder einer drängenden Krise. Daher die Worte von Harrow: „Das Problem
deutet, dass es eine Menge zu beklagen gibt, aber niemand sich darum der Veränderung erscheint in den Anliegen der Autorinnen und Autoren,
kümmert. Die Methode, die dieser Roman wählt, um dieses Dilemma zum die mit dem Kampf einer Gesellschaft konfrontiert sind, sowohl als Adap-
Ausdruck zu bringen, ist sehr geschickt in dem Sinne, dass es sowohl fremd tion als auch als Kreation einer neuen sozialen und kulturellen Ordnung.“
und irreal als auch vertraut und real ist – eine Mischung von Phantasti- Aber obwohl dieses Essay die Periodisierung der Literatur anhand der Kon-
schem und Magischem einerseits und Realismus andererseits. turen der politischen Landschaft absteckt, bedeutet dies nicht, dass den aus
In den Werken von Fagunwa, Tutuola, Okri, Cheney-Coker und Kojo der jeweiligen politischen Situation erwachsenden Werken ‚angemessene‘
Laing ist msitu ‚der Wald‘ oder ein Teil davon im Zentrum des Textsymbolis- künstlerische Muster (z. B. Fiktionalität, Ornamentik, formale Charakteris-
mus, der Metaphorik, Topoi, Tropen, Anspielungen, Episoden und Hand- tika) fehlen, die sich auf die inneren Strukturen und die Dynamik der Texte
lungen, die mit magischen Elementen verbunden werden, die im Wald an- auswirken. Im Gegenteil, wenn wir uns nochmals der Worte von Harrow
gesiedelt sind. In den Romanen dieser Schriftsteller wird ‚der Wald‘ als bedienen, so
‚fantastisches‘ Symbol des Bösen, angelegt in der Natur, als Heim von Teu-
feln, Dämonen, übel gesinnten Wesen und bösen Geistern, von Hexerei erscheint Veränderung auch in der Überzahl der Charaktere, die sich ge-
und Magie, von bösartigen Bestien und gefederten ‚Missgeburten‘, von pa- zwungenermaßen der Dynamik ihres eigenen Veränderungsprozesses
gegenübersehen; und bezogen auf die Poetik der afrikanischen Literatur
rasitären Pflanzen und Bäumen betrachtet, eine allzu überwältigende Be-
kommt sie vor allem in der Beziehung zwischen Texten vor, die sich ge-
hinderung und ein Hindernis, mächtig und uneinnehmbar, dunkel und un-
genseitig kommentieren, sich miteinander entwickelt haben, die durch
durchdringbar, bedrohlich, furchterregend und Ehrfurcht einflößend – der
ihre jeweiligen Worte geformt worden sind und die kollektiv den Pro-
Wald, der einfach eine Falle und ein Irrgarten ist.
zess einer sich konstituierenden literarischen Tradition geschmiedet ha-
Hier ist der Wald gleichermaßen eine phantastische Metapher, ein Sym- ben.14
bol, eine Metonymie für etwas Katastrophales, aber nicht im Sinne des Bö-
sen oder Magischen wie in den westafrikanischen Romanen. Der Wald, wie Dass genau dies stattfindet, hat dieses Essay bestätigt: der Swahili Roman
er hier benutzt wird, ist kein Metonym der afrikanischen Kosmologie mit ist kontinuierlich durch den Wechsel von Ereignissen großer Tragweite be-
ihren übernatürlichen und metaphysischen Kräften, sondern etwas wesent- einflusst worden, indem er auf eine Krise nach der anderen reagierte und so
lich Schlichteres, Einfacheres und Greifbareres, Geschichte, die gleicherma- immer komplexer wurde, formal wie thematisch.
ßen vergangen und gleichzeitig ist, die in ihrem Fortgang den Swahili Ro-
man beeinflusst. Aus dem Englischen übersetzt von Petra Schwarzer

Abschließende Bemerkung

Die Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft ist für viele Literatur-
wissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen heutzutage ein alltägli-
ches Phänomen. Dieses Essay ist jedoch über das hinausgegangen, was heu-

160 161
Theatre for Development in Afrika:
Das Theater ist eine universelle Sprache,
deren erstes Alphabet der Körper ist

Bole Butake
Theater, das Bewusstsein schafft, oder:
Wie man die Kommunikation mit der Basis erleichtert

Bole Butake (geb. 1947) wurde im Dorf Noni, in Nko (einer Nord-West
Provinz Kameruns) geboren. Er absolvierte seinen ersten Hochschul-
abschluss an der Universität Yaounde I und führte dann seine Studien
in Leeds, Großbritannien, fort, wo er einen Magister in Literatur er-
warb. Nach seiner Rückkehr nach Kamerun promovierte er in Literatur
an der Universität Yaounde I, wo er auch gegenwärtig noch afrika-
nische Literatur und Drama unterrichtet.
Parallel zu seiner Arbeit als Professor veröffentlichte Butake
auch Dramen und fiktionale Werke. Seine zahlreichen Publikationen
schließen die Dramen The Rape of Michelle (1984), Lake God (1986)
und The Survivors (1989) sowie den Roman The Luncheon ein. Butake
ist auch der Mit-Herausgeber von drei Anthologien, Anglophone
Cameroon Writing (1993),Theatre Camerounais:CameroonianTheater
(1988) und Thunder on the Mountain: An Anthology of Modern Ca-
meroon Poetry (1982). 1976 gründete er die literarische Zeitschrift
The Mould, in der er viele seiner früheren kurzen Stücke und auch
Gedichte veröffentlichte. Seine Werke zeichnen sich durch politisches

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und soziales Engagement für ein gerechtes Kamerun für alle Bürger/ sphäre bei Abendessen und Grillfesten kennenzulernen. Neben den
innen aus, und es war demnach keine Überraschung, dass Butake Ratschlägen, die ich von ihm als meinem Doktorvater erhielt, war es
2001 von der Pariser Zeitschrift L’Express International zu einem der diese freundschaftliche Atmosphäre, die mich über die Jahre weiter-
100 einflussreichsten Kameruner erklärt wurde. hin mit afrikanischer Literatur und Drama verbunden hat, und ich
Butakes soziales und politisches Engagement, sein Einsatz für pflege und schätze noch heute Freundschaften, die bei diesen Ge-
Menschenrechte und Demokratie und für die sozial und politisch legenheiten in Eckhard Breitingers Haus begonnen haben.
benachteiligten Bürger/innen Kameruns ist besonders deutlich in Marion Frank-Wilson
seiner Theaterarbeit zu erkennen und kommt auch ganz klar in
seinem Beitrag zu dieser Festschrift zum Ausdruck. So lernte ich ihn In Kamerun, wie in vielen anderen Ländern am unteren Ende der wirt-
denn auch im Zusammenhang mit seiner Arbeit für das Theatre for schaftlichen Leiter, in denen eine politisch-bürokratisch privilegierte Min-
Development in den späten 1980er Jahren in Bayreuth kennen. Ich derheit die ungebildete und hoffnungslos verarmte Mehrheit der Bevöl-
war damals eine Doktorandin von Eckhard Breitinger und arbeitete kerung politisch und wirtschaftlich ausnutzt und manipuliert, ist Theater
an meiner Dissertation über Theatre for Development in Uganda. das wichtigste Mittel zur Informationsvermittlung geworden. Derartige
Bole Butake war Teilnehmer einer Konferenz über afrikanische Lite- Theaterprojekte basieren typischerweise auf der Initiative von engagierten
ratur und Theater, die von Eckhard Breitinger organisiert wurde. Intellektuellen, die meist mit Universitäten assoziiert sind. Gelegentlich
Ich freute mich sehr, Butake, den ich bis dahin nur durch seine Ver- wird argumentiert, dass auch diese Akademiker/innen die städtischen und
öffentlichungen kannte, endlich persönlich zu treffen. Als Studentin ländlichen Massen im Interesse ihrer eigenen Karrieren ausnutzen, um Stoff
afrikanischer Literaturen waren mir seine Dramen sehr wohl bekannt. für ihre Bücher und Artikel zu sammeln und um ihr eigenes mageres Ge-
Ich hatte auch über den Kumba Workshop gelesen, über den er weiter halt aufzubessern. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Forschung
unten schreibt, und war besonders an seiner neueren Arbeit im Be- in den Sozialwissenschaften, und insbesondere im Bereich Theatre for De-
reich Theatre for Development interessiert. Wir hatten bei der Kon- velopment, oft einen Wandel von einer ‚traditionell fatalistischen‘ zu einer
ferenz zahlreiche Gelegenheiten, uns zu unterhalten, und er hat be- kritischen und aktiven Welteinstellung auf Seiten der Massen in Gang setzt.
reitwillig und geduldig meine vielen Fragen beantwortet und mir Dies hat letztendlich auch zu einer feindlichen Haltung der politisch-büro-
von einer Art Theater erzählt, das ich unbedingt auch gern selbst er- kratischen Elite gegenüber eben jenen engagierten Akademiker/inne/n ge-
leben wollte und später dann auch erlebt habe. führt, die heutzutage oft als subversive Elemente, Aufrührer/innen und so-
Im Rückblick erscheint mir diese Konferenz als typisch für viele der gar Staatsfeinde bezeichnet werden. Eine solche feindselige Einstellung ist
Konferenzen, die Eckhard Breitinger während der späten 1980er und zweifelsohne darauf zurückzuführen, dass die Teilnahme an diesen Theater-
1990er Jahre in Bayreuth organisiert hat. Neben den Podiumsdiskus- projekten fast immer zu einer kritischeren Grundhaltung gegenüber sich
sionen, die uns Doktorand/inn/en die Gelegenheit boten, Autor/inn/ selbst und ihren Gemeinschaften unter den Teilnehmer/inne/n führt. Gele-
en, die wir sonst nur durch ihre Bücher kannten, in Person zu erleben, gentlich kommt es jedoch auch vor, dass die politische Elite die positive
sind mir die zwanglosen Zusammenkünfte bei diesen Gelegenheiten Kraft von Theater Workshops erkennt, insbesondere im Bereich der Kon-
in liebster Erinnerung. In Eckhard Breitingers Haus waren Konferenz- fliktlösung, und ihre Anerkennung gegenüber den Akademikern und Aka-
teilnehmer/innen und Studierende immer willkommen, und alle demikerinnen zum Ausdruck bringt. Diese zwiespältige Reaktion charakte-
hatten die Gelegenheit, sich bis tief in die Nacht zu unterhalten und risiert im Großen und Ganzen die Einstellung zu einem Theater, das
zu diskutieren. Die Gastfreundschaft von Eckhard Breitinger ermög- Bewusstsein unter den Durchschnittsbürgern Kameruns schafft.
lichten es den Student/inn/en, berühmte Theaterschriftsteller/innen Im vorliegenden Essay möchte ich darstellen, wie sich der Einsatz von
und Autor/inn/en in wunderbar entspannter und zwangloser Atmo- Theatre for Development seit 1984, als der erste Theatre for Development-

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Workshop in Kumba stattfand, gewandelt hat zu einem Theater der ater zur Bewusstseinsbildung aufgeben sollte, sondern dass mit Theater zur
Bewusstseinsbildung, das darauf abzielt, kritisches Denken unter den Teil- Bewusstseinsbildung angefangen werden muss, um überhaupt Entwicklung
nehmer/inne/n zu stimulieren und die Gründe und Konsequenzen von zu bewirken. Wie ich an anderer Stelle erwähnt habe, war es schon immer
Problemen offenzulegen. Meine Untersuchungen gründen sich auf Theater- das Hauptanliegen von Volkstheater (people theatre), die soziale und psy-
projekten, die meine Kolleg/inn/en und ich in diversen Dörfern und städ- chologische Entwicklung der Bevölkerung durch die Bevölkerung selbst zu
tischen Gemeinschaften durchführten. Diese Projekte fanden hauptsäch- fördern. Menschen, die ihre Rechte und Pflichten erkennen, nehmen Ent-
lich innerhalb der letzten fünf Jahre statt und befassten sich mit Themen wie wicklungsprobleme tatkräftig und aktiv in Angriff. Theater kann auf un-
Frauenrechten, Umweltschutz, partizipatorischer Verwaltung, Konfliktre- schuldige Art Aufmerksamkeit auf Probleme lenken und so Debatten und
solution, sozialer Ausgrenzung, Gesundheitserziehung, Demokratie und Wandel ermöglichen. Die fiktionale Natur von Theater sowie die bildliche
Menschenrechten. Art der Darstellung erleichtern und effektivieren die Kommunikation und
das Verständnis für Probleme.

Theatre for Development und der Kumba Workshop


Theater zur Bewusstseinsbildung oder Volkstheater
Eine Beschreibung des Kumba Workshops zum Thema „Theater zur För-
derung integrierter ländlicher Entwicklung“ wurde 1985 unter dem Titel Das Problem, das zur Debatte steht, ist demzufolge ein Problem des An-
Hammocks and Bridges von Eyoh veröffentlicht. Der sorgfältig vorbereitete satzes, der Methodik. Im Fall von Kumba besuchten Verbindungspersonen
Workshop war als Prozess konzipiert, in dem die Dorfbewohner/innen von die Stadtteile Kake, Kurume und Konye, arbeiteten mit den Einwohner/
Konye zu der Einsicht kommen sollten, dass sie Entwicklungsprojekte in ih- inne/n, um Bewusstsein zur Notwendigkeit kollektiven Handelns im
ren Dörfern, wie zum Beispiel den Bau einer Brücke über den Fluss Mun- Dienste von Entwicklung aufzubauen – nur um dann wieder spurlos zu ver-
go, aus eigener Kraft realisieren können. Leider ist es bis heute nicht zum schwinden; Volkstheater, oder Theater zur Bewusstseinsbildung, arbeitet
Bau der Brücke gekommen, wohl hauptsächlich aus dem Grund, dass der mit einem anderen Ansatz: bei dieser Art von Theater besuchen wir die
Workshop zwar Hoffnungen auf Seiten der Dorfbewohner/innen geweckt städtischen oder Dorfgemeinschaften, identifizieren potentielle Führungs-
hatte, diese aber aus Mangel an weiterführenden Aktionen nicht in die Tat personen, die wir mit Hilfe der partizipatorischen Methode und Prozessen
umgesetzt wurden. der Geschichtenimagination unterrichten. Die so ausgebildeten Teilnehmer/
Ein Theatermacher bzw. eine Theatermacherin (theatre practitioner) innen leben weiterhin in ihren Gemeinschaften und werden somit selbst zu
muss von vornherein entscheiden, ob er/sie bereit ist, sich in diesem heiklen Verbindungspersonen, und der Prozess kann fortbestehen. Wir als Organi-
Bereich nicht nur der Forschung, sondern auch des persönlichen Engage- sator/inn/en bleiben weiterhin in Kontakt mit den Verbindungspersonen,
ments voll einzusetzen. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant he- indem wir sie mit lokalen und internationalen Nicht-Regierungsorganisa-
rauszufinden, wer von den zahlreichen Menschen, die in den 1980er Jahren tionen in Kontakt bringen, und auch indem wir hin und wieder in die ver-
im Bereich Theatre for Development tätig waren, heute noch auf diesem schiedenen Gemeinschaften zurückkehren und zusammen an Projekten ar-
Gebiet arbeitet. Es ist anzunehmen, dass sie mittlerweile ihre Bücher und beiten.
Artikel geschrieben und ihre Beförderungen erhalten haben und in klima- Theater zur Bewusstseinsbildung baut bei der Ausführung von Gemein-
tisierten Büros Entscheidungen für die marginalisierten Massen treffen, schaftsprojekten eher auf die optimale Nutzung von menschlichen als von
während sie vor noch gar nicht so langer Zeit darauf bestanden hatten, dass materiellen Ressourcen auf (die ohnehin oft von skrupellosen Anführern
eben diese Massen am Entscheidungsprozess teilnehmen müssen. Mein Ar- unterschlagen werden; könnte das in Konye der Fall gewesen sein?). Dieser
gument ist nicht, dass man Theatre for Development zu Gunsten von The- Ansatz erklärt sich schlicht und einfach durch die Tatsache, dass ein Mensch,

166 167
der seine Rechte und Pflichten als Gemeinschaftsmitglied erkennt, eher spiel der Fall bei den Workshops über Theater im Dienste der Information
dazu in der Lage ist, die materiellen und menschlichen Ressourcen dieser über Umweltschutz, die von HELVETAS (Schweizer Organisation zur
Gemeinschaft rational und transparent zu verwalten, und demnach auch fä- Internationalen Zusammenarbeit) finanziert wurden. Diese Workshops
hig ist, der Gemeinschaft Rechenschaft abzulegen. Die Grundlage der teil- fanden in Esu, Guzan, Belo, Piyin und Bamendankwe statt. Ein weiteres
nehmenden Verwaltung, die wir in den Workshops zu erreichen suchen, ist Beispiel für diese Art von Planung sind unsere Workshops zur Stärkung der
der Bedarf nach einem Dialog, der auf Gleichberechtigung aufbaut sowie Position von Frauen in Bamenda, Batibo und Akum, die vom Women’s In-
der Auffassung, dass das jeweilige Theaterstück ein Spiegel der Gemein- formation and Coordination Office (WICO) finanziert wurden, sowie die
schaft ist, voller Widersprüche, die im allgemeinen Interesse zum Konsens Ballotiral Workshops in Bamenda und der Donga-Mantung Division der
gebracht werden müssen. Nord-West Provinz über Minderheitenrechte unter den Mbororo, die pas-
Unsere Arbeit mit Theater zur Bewusstseinsbildung innerhalb der letz- torale Nomaden sind.
ten fünf Jahre hat sich auf die folgenden Themen konzentriert: die Stär- Im Gegensatz dazu wählten wir selbst die Orte für Workshops über
kung der Stellung von Frauen mit Hilfe von Theater (Erbschafts- und „Theater, Demokratie und Menschenrechte“, die vom Human Rights and
Grundbesitzrechte; die Möglichkeit von Schulbildung für Mädchen; frühe Democracy Fund der US-amerikanischen Botschaft in Yaounde finanziert
Schwangerschaften und Heiraten, Brautpreise, genitale Beschneidung, Wit- wurden und die in Ndop, Garoua, Yaounde, Pouss, Muyuka und Yokadou-
wenschaft, Geschlechtskrankheiten, HIV und AIDS, etc.); Umweltschutz ma stattfanden.
durch eine Sensibilisierung des Bewusstseins sowie das Praktizieren von
schonenden Anbaumethoden (z. B. der Einsatz von organischen Düngemit-
teln, das Vermeiden von absichtlich gelegten Bränden), Ermutigung vor al- Aktivitäten
lem von Schulkindern, wassererzeugende Bäume zu pflanzen; partizipatori-
sche Verwaltung von Gemeinschaftsressourcen wie zum Beispiel Wasser, Obwohl alle sieben Workshops ein genau definiertes Programm hatten, leg-
Schulen, Gesundheitszentren, Wäldern, etc; Demokratie und Menschen- ten wir doch hauptsächlich Wert auf eine zwanglose Atmosphäre, die die
rechte (einschließlich Minderheitenrechte und das Recht auf Freiheit der kreativen Fähigkeiten aller Teilnehmenden ermutigen sollte. Einige der Teil-
Wahl des Wohnsitzes). Unsere Theaterarbeit hat uns in sieben der zehn Pro- nehmer/innen kannten sich schon vor dem Workshop, weil sie entweder aus
vinzen Kameruns geführt, manchmal zu Fuß und per Motorrad, wenn dem gleichen Dorf kamen oder sich bei anderer Gelegenheit schon kennen-
auch der Schwerpunkt unserer Aktivitäten hauptsächlich in der Nord-West gelernt hatten, aber niemand kannte alle Teilnehmer/innen. Unsere erste
Provinz war. Neben der Theaterarbeit haben wir auch kurze illustrative Stü- Aufgabe war es demnach, eine Atmosphäre von Vertrautheit und Freund-
cke über Frauen und Entwicklung zum kamerunischen Fernsehen, CRTV schaft unter den Teilnehmenden zu schaffen. Geprägt von ihrem Alltags-
(Cameroon Radio and Television) beigetragen, und wir haben unsere ersten leben brachten so gut wie alle Teilnehmer/innen formale und steife Ver-
beiden Video-Filme produziert: L’Exciseuse de Pouss (ein Film über genitale haltensweisen und Kleidung mit zum Workshop. Unsere erste Tätigkeit
Beschneidung) und Kam no Go (über das Verhältnis zweier verschiedener bestand denn auch darin, uns nicht formal als Mr. Ladji oder Madam Lang
kamerunischer Kulturen auf dem Weg zur Demokratisierung). oder Ma Juliana vorzustellen und kennenzulernen, sondern als Stephen,
Gelder für diese Projekte wurden bei Stiftungen und sowohl nationalen Magdalene oder Juliana. Wir benutzten zahlreiche Theaterübungen und
als auch internationalen Nicht-Regierungsorganisationen beantragt, und Spiele, um Hemmungen abzubauen und eine freundschaftliche Atmosphä-
wir passten unseren Ansatz an die jeweiligen Ziele eines spezifischen Pro- re zu schaffen. Alle Teilnehmer saßen grundsätzlich im Kreis, und niemand
jektes an. So kommt es zum Beispiel gelegentlich vor, dass ein Sponsor über durfte stehend sprechen. Dies stellte sich als eine problematische Regel he-
Thema und Ort eines Workshops entscheidet, um ein schon laufendes Pro- raus, da es in unseren Kulturen ein Zeichen von Respekt ist, im Stehen zu
jekt in der betreffenden Gemeinschaft zu unterstützen. Das war zum Bei- einer Gruppe zu sprechen. Wir mussten erklären, dass Stehen eine domi-

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nante Stellung ist, die dem Sprecher/der Sprecherin automatisch und unge- Teilnehmerinnen verpflichtend. Ausflüge ins Feld, um die diversen Dörfer
rechtfertigt Autorität und Macht verleiht. Ein anderes Problem war die zu sehen, und um mit den Dorfbewohner/inne/n bekannt zu werden, so-
Sprache, die in den Workshops benutzt werden sollte. Einige Teilnehmer/ wie um Daten und Informationen zu sammeln, waren ebenfalls ein Be-
innen tendierten instinktiv zu Englisch, was aber die Mehrheit der Teilneh- standteil der Workshops. Die verbleibenden Aktivitäten zu diesem Zeit-
mer/innen nicht sprach. So wurde demokratisch beschlossen, das Pidgin- punkt bestanden hauptsächlich darin, in die Methodik von Volkstheater,
Englisch, das von allen Teilnehmer/inne/n fließend beherrscht wurde, die von der Entwicklung von Handlung durch Improvisation, Proben und Dis-
offizielle Sprache der Workshops sein sollte. Es stellte sich heraus, dass die kussionen, einzuführen. Somit sollte sichergestellt werden, dass alle existie-
kreisförmige Sitzordnung auch das abwechselnde Sprechen unter den Teil- renden Probleme in die Handlung eingebaut wurden.
nehmenden erleichterte. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin wurde
aufgefordert, seine/ihre Meinung zu jedem der angesprochenen Themen
zum Ausdruck zu bringen, selbst wenn das bedeutete, dass man etwas wie- Aufführungen
derholte, was schon von anderen Teilnehmenden zur Sprache gebracht wor-
den war. Dies erwies sich als die effektivste Methode, den Teilnehmer/inne/ Jeder Workshop beinhaltete zwei Aufführungen. Eine dieser Aufführungen
n das öffentliche Sprechen zu erleichtern und war vor allem für die Frauen fand meist im Palast des Bürgermeisters statt, mit Ausnahme des Works-
von Vorteil, die sonst möglicherweise gehemmt gewesen wären, in Gegen- hops in Belo, wo ein solcher Palast mehr als 30 Kilometer entfernt gewesen
wart ihrer Männer öffentlich zu sprechen. Ein anderes Problem hatte mit wäre. Diese Aufführungen fanden an öffentlichen Orten statt, wo sich die
Kleidung zu tun, was vor allem eine Rolle im Zusammenhang mit den Auf- Dorfbewohner/innen ohnehin aufhielten, wie zum Beispiel dem Markt-
wärmübungen spielte. Viele Teilnehmer/innen, die nicht angemessen auf oder Handelsplatz. Der Grundgedanke war, das Theater zu den Dorfbe-
den ersten Workshop vorbereitet waren, brachten zum Beispiel keine fla- wohner/inne/n zu bringen, statt die Dorfbewohner/innen ins Theater ein-
chen, absatzlosen Schuhe mit, und vor allem die Frauen waren im Nachteil, zuladen, wie es konventionellerweise der Fall gewesen wäre. Dies erwies
da sie keine kurzen Hosen hatten, die ihnen viele der Übungen und Spiele sich als sehr erfolgreiche Strategie, und die Zuschauer/innen/zahl übertraf
erleichtert hätten. Zwanglose Kleidung war außerdem von Wichtigkeit als unsere Erwartungen. Esu hielt den Rekord mit der höchsten und der nie-
Mittel, den Unterschied zwischen Workshop-Teilnehmer/inne/n und Orts- drigsten Zahl der Zuschauenden: zur Aufführung im Palast das Batum ka-
ansässigen zu überbrücken. Im Laufe der Zeit, nachdem wir den ersten men nur ungefähr 100 Zuschauer/innen, zumeist Kinder, während bei der
Workshop beendet hatten und mit dem nächsten anfingen, wurden sowohl Aufführung auf dem Marktplatz fast 1000 Zuschauende anwesend waren.
Kleidung als auch Sprache und Verhalten zwangloser, und wir erreichten Esu hält auch den Rekord für eine wegen Regen unterbrochene Aufführung
eine fast vollständige Identifizierung von lokaler Bevölkerung und Works- (in Bezug auf Rekorde sollte erwähnt werden, dass die Handlung der Auf-
hop-Teilnehmer/inne/n. Unsere Erfahrung mit dieser Art von Theaterarbeit führung von Pinyin besonders komplex war und dass dies auch die Auffüh-
ermöglichte es, Vertrauen unter den Teilnehmenden aufzubauen, indem wir rung war, bei der alle Teilnehmer/innen eine aktive Rolle spielten) – die
ein Forum schufen, in welches die Teilnehmer/innen ihre Fähigkeiten und Aufführung auf dem Marktplatz musste wegen Regens fünf Minuten vor
ihre eigene sozio-kulturelle Sachkenntnis einbringen konnten. Ende unterbrochen werden. Obwohl es auch bei der Aufführung vor dem
Die Entscheidungen, an welchen Orten die Workshops stattfinden, Palast des Fon in Guzang regnete, wurde das Stück nur unterbrochen, um
schienen von der Ernsthaftigkeit des Problems der Wasserversorgung dieser in die Empfangshalle im Inneren des Palastes umzuziehen, wo das Stück
Orte bestimmt worden zu sein. Und obwohl die Workshops entwicklungs- dann fortgesetzt wurde. In Belo fanden beide Aufführungen am gleichen
politische und soziale Probleme thematisierten, richtete sich der Hauptfo- Ort, dem Marktplatz, statt.
kus doch immer auf das Thema Wasserversorgung. Besuche der Wassersam-
mel- und -verarbeitungsstellen waren demnach für alle Teilnehmer und

170 171
Diskussionen im Anschluss an die Aufführung partizipatorisch sein. Ihre Rolle im Feld ist es, Entwicklung zu fördern, in-
dem sie die Bewohner/innen eines Dorfes daran erinnern, dass das Leben in
Die Aufführungen übten aus verschiedenen Gründen große Anziehungs- einer Gemeinschaft es mit sich bringt, dass jedes Mitglied dieser Gemein-
kraft auf das Publikum aus: zum einen waren die Zuschauer/innen vertraut schaft aktiv und engagiert zur Entwicklung von Gemeingütern beiträgt.
mit den Themen der Stücke, da sie das Resultat von Feldforschungen waren, Die Organisator/inn/en von populärem Theater fungieren als Katalysator/
bei denen Informationen gesammelt und analysiert sowie Schwerpunkte ge- inn/en. Ihre Aufgabe ist es, die Bewohner/innen der betreffenden Dorfge-
setzt wurden. Diese Informationen wurden dann mit Hilfe von Gesang, meinschaft dazu zu ermutigen, konkrete Probleme zu erkennen, sie zu ana-
Tanz und Mimik zu einem Stück verarbeitet, das in der lokalen Variante von lysieren und Lösungen zu finden. Die größte Herausforderung für die ‚Ka-
Pidgin Englisch aufgeführt wurde. Es scheint, dass die zweite Aufführung talysatoren‘ und ‚Katalysatorinnen‘ ist es, den Gemeinschaftsmitgliedern zu
in Belo alle diese Elemente am effektivsten kombiniert und verarbeitet hat. zeigen, wie die Lösungen in die Tat umgesetzt werden können, sei es mit
Durch die Vertrautheit der Zuschauer/innen mit den dargestellten The- oder ohne Hilfe von außen. In dieser Hinsicht hat es sich oft herausgestellt,
men, die sie als tatsächliche Ereignisse und Personen in ihren Gemeinschaf- dass die diversen Gemeinschaften zwei grundlegende Probleme haben:
ten erkannten, führte jede Aufführung zu einer anschließenden lebhaften Mangel an Information und ‚Tradition‘.
Diskussion. Diese Diskussionen waren ein klares Zeichen dafür, dass die
Zuschauer/innen die Botschaft des Stückes verstanden hatten und bereit
waren, sich mit den jeweiligen Problemen auseinanderzusetzen. In diesen Information
Diskussionen wurden oft Lösungen für manche der im Stück dargestellten
Probleme vorgeschlagen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass es bei kei- Während Gemeinschaftsmitglieder gut über sich selbst und ihre Umgebung
ner der Aufführungen heftige Meinungsverschiedenheiten gab, was wohl informiert sein mögen, fehlt es ihnen oft an Informationen über die Gesetz-
vor allem damit zusammenhing, dass die Probleme in Form von Unterhal- gebung, die sie und ihr Leben auf nationaler Ebene betrifft. Das ist zum
tung zur Diskussion gestellt wurden. Selbst in Pinyin, wo die Workshop- Beispiel der Fall mit Themen wie Menschenrechten, Geschlechtskrankhei-
Teilnehmer/innen besonders unzufrieden waren mit der egoistischen Hal- ten (insbesondere HIV und AIDS), Gesetzgebung zu Frauenrechten und
tung von einigen Dorfbewohnern und Dorfbewohnerinnen (trotz des hier Rechten für Kinder, Staatsbürgerschaft etc. Die Organisator/inn/en von
offensichtlichen Wohlstandes aufgrund von Ackerbau und Viehhaltung) Volkstheater sollten nicht nur, sondern müssen sogar genügend korrekte In-
und sogar provozierende Lieder komponierten, die diese egoistische Hal- formationen über diese Themen besitzen, so dass sie sie den Gemeinschafts-
tung zur Schau stellten, kam es zu keinen offen zur Schau gestellten Feind- mitgliedern mitteilen können. Dies trifft insbesondere auf den Bereich der
seligkeiten. Im Gegenteil, die Bewohner/innen von Pinyin betrachteten un- Menschenrechte zu, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass unser Land
sere Aufführungen als aufschlussreich und baten uns um Rat im Umgang zum großen Teil von Diktatoren regiert wurde und dass auch viele der ‚tra-
mit dem Mangel an Elektrizität, dem schlechten Zustand der Straßen, und ditionellen Herrscher‘ zu diktatorischen Methoden tendieren, was oft schon
dem permanenten Wassermangel. zum Machtmissbrauch geführt hat. Der Theatermacher oder die Theater-
macherin sollte sich auch mit solchen Texten wie der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte, der Verfassung der Republik Kamerun sowie
Ideen dem kamerunischen Strafgesetzbuch ausrüsten. Er/sie sollte sich außerdem
nach Kräften bemühen, sich über Entwicklungen auf nationaler und inter-
Es ist außerordentlich wichtig, dass sich Organisatoren und Organisatorin- nationaler Ebene auf dem Laufenden zu halten, indem er/sie Radiosendun-
nen von Volkstheater ständig bewusst sind, dass sie Partner/innen im Ent- gen und Literatur über Themen verfolgt, die die verarmten Massen in Dör-
wicklungsprojekt sind und nicht etwa die Chefs. Ihr Ansatz sollte immer fern und städtischen Slums betrifft. Nur wer gut informiert ist, ist auch
stark, kennt seine Rechte und Pflichten.
172 173

Letzte Zeile bitte einbringen!!


‚Tradition‘ der Lage waren, andere Gemeinschaftsmitglieder relativ einfach zu mobili-
sieren. Es sollte in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen wer-
Die Mehrheit der Kameruner ist fest in eine kulturelle Gruppe eingebunden den, dass ein Großteil der Workshop Teilnehmer/innen sich als sehr ge-
und demzufolge loyal gegenüber bestimmten kulturellen Praktiken, die oft schickt im Design von Stücken erwiesen hat, was deutlich zeigt, dass sie den
als ‚Tradition‘ bezeichnet werden. Natürlich ist ‚Tradition‘ nicht negativ – Theater-Vorgang bereits gut verstanden hatten. Der Organisator oder die
vorausgesetzt, ‚traditionelle‘ Praktiken führen nicht zu diskriminierenden Organisatorin von populärem Theater muss eine gute Beobachtungsgabe
Maßnahmen und vorausgesetzt, dass kein Gemeinschaftsmitglied im Na- haben und die Gemeinschaft, in der er/sie lebt und arbeitet gut verstehen
men der ‚Tradition‘ Schaden nimmt. Aufgrund unserer patriarchalischen und kennen. Er/sie ist sich demzufolge der Probleme sowie der Ernsthaf-
Familienstruktur, die also von Männern beherrscht wird, werden Frauen tigkeit dieser Probleme in der Gemeinschaft vollkommen bewusst. In Esu,
und Kinder im ‚Namen der Tradition‘ oft Opfer von nachteiligen kulturel- zum Beispiel, standen die Probleme in Zusammenhang mit Ackerbau und
len Praktiken. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu bemerken, Weiderechten, streunenden Tieren und Promiskuität völlig offensichtlich.
dass bei der Diskussion der meisten Themen ‚Tradition‘ keine Rolle spielt, Das Theaterstück konzentrierte sich jedoch letztendlich auf schwache Füh-
während zum Beispiel bei Debatten und Verhandlungen über Witwenschaft rungsstrukturen, die als Hauptursache für alle anderen Probleme erkannt
und Erbschaftsrechte ‚traditionelle Praktiken‘ zur Norm erhoben werden. wurden.
Organisator/inn/en von Volkstheater sollten in einem solchem Fall langsam Theatermacher/innen, die durch HELVETAS ausgebildet wurden, ei-
und mit äußerster Vorsicht vorgehen, es vermeiden, Praktiken offen zu ver- ner Organisation, die sich auf die Verwaltung von Gemeinschaftsprojekten
dammen und statt dessen Wandel mit theatralischen Überzeugungsmitteln konzentriert, die sie selbst zu einem früheren Zeitpunkt implementiert hat,
propagieren. haben den Vorteil, dass sie sozusagen zu einer ‚Familie‘ gehören, die bereits
von der Existenz und der Fachkenntnis eben jener Organisator/inn/en
weiß. Solange ein Projekt klar definiert und gerechtfertigt werden kann,
Verlauf des Workshops stehen die Chancen gut, dass HELVETAS die Finanzierung übernimmt.
Und selbst wenn HELVETAS es ablehnt, kann sich ein Bewerber oder eine
Bei den hier beschriebenen Workshops hatten die Organisatoren und Or- Bewerberin jederzeit an anderer Stelle um Gelder bewerben. Es deutet alles
ganisatorinnen schon zu Anfang den Vorteil, dass alle vier Trainingssitzun- darauf hin, dass ein gut geplantes Projekt zu den hier aufgeführten Themen
gen auf die Verwaltung von Gemeinschaftsprojekten aufbauten, insbeson- von internationalen oder lokalen Nicht-Regierungsorganisationen, die in
dere auf Wasserversorgungsplänen, die in Zusammenarbeit mit Mitgliedern der Nord-West Provinz arbeiten, finanziert wird. Viele dieser Nicht-Regie-
vom örtlichen Wasserverwaltungskomitee ausgearbeitet worden waren. Al- rungsorganisationen geben auch bereitwillig Auskunft über andere Organi-
lerdings mussten die Workshops sich auch mit Themen wie Ackerbau/Wei- sationen, bei denen Gelder beantragt werden können.
dedisputen, Menschenrechten sowie Frauenrechten und den Rechten von Die Auswahl der Teilnehmer/innen eines Workshops sollte von mehre-
Kindern und Jugendlichen, wilden/streunenden Tieren, allgemeiner Hygie- ren Kriterien abhängen: das Thema des Workshops, die geographische
ne, Gesundheit und Ernährung, der Verwaltung von Ressourcen, Umwelt- Nähe zum Projektort, Finanzierung, die Jahreszeit, erstrebte Ziele des
schutz, Promiskuität und Geschlechtskrankheiten (insbesondere HIV und Workshops, Bedingungen der geldgebenden Organisation, etc. So ist es
AIDS) auseinandersetzen. Es gibt praktisch keine Gemeinschaft in Kame- zum Beispiel ratsam, ein Thema zu wählen, mit dem der Organisator oder
run, in der man diese Probleme nicht vorfindet; der Unterschied besteht le- die Organisatorin vertraut ist. Das hat den Vorteil, dass keine Personen mit
diglich im Ausmaß, in dem sie sich manifestieren. Ein weiterer Vorteil war, Fachkenntnis extra rekrutiert werden müssen. Es ist weiterhin ratsam, ört-
dass die Teilnehmer/innen der vier Workshops in ihren eigenen Gemein- liche Fachkundige auszukundschaften und diese so weit wie möglich durch
schaften ein gewisses Maß an Führungsstärke ausübten und demzufolge in die partizipatorische Methode einzubeziehen.

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Für jeden Workshop ist sorgfältige Vorbereitung in Bezug auf Logistik Probleme der Gemeinschaft besser zu verstehen, um nach Lösungen zu su-
und theoretischen Ansatz von äußerster Wichtigkeit. So muss zum Beispiel chen, um eventuelle Hindernisse zur Lösung der Probleme zu untersuchen,
das Budget so realistisch und exakt wie möglich ausgearbeitet werden, da und schließlich, um diese Hindernisse zu überbrücken. Nachdem Klassifi-
extreme Schätzungen nach oben oder unten leicht zur Ablehnung von An- zierung und Analyse stattgefunden haben, müssen Prioritäten gesetzt wer-
trägen führen können. Zweifellos wissen die meisten Organisationen recht den, d. h., jedes Problem bekommt von den Gemeinschaftsmitgliedern ei-
genau, was die Kosten von Transport und Nahrungsmitteln in bestimmten nen Grad von Wichtigkeit zugeteilt. Die Probleme, die am höchsten auf der
Gegenden betragen. Von diesen beiden Bereichen abgesehen, müssen auch Liste rangieren, werden in das Drama eingebaut.
Kosten der Ausrüstung mit in die Planung einbezogen werden. Das schließt Das Hauptanliegen von Organisator/inn/en von Volkstheater ist es, eine
zum Beispiel braunes Papier und Textmarker oder Tafel und Kreide, Notiz- Handlung zu entwickeln. Der Erfolg des Projektes hängt ausschließlich von
bücher und Bleistifte/Kugelschreiber, Photoapparat und Film mit ein. Es unserer Fähigkeit ab, eine plausible und interessante Handlung aus den ge-
ist immer hilfreich, am Ende eines Workshops Photos zu haben. sammelten Daten zu entwickeln. Volkstheater ist am wirksamsten, wenn
Es ist weiterhin wichtig, korrekte finanzielle Berichte zu führen, da am Distanzierung durch die dramatisierte Handlung erzielt wird, bei der die
Ende Rechenschaft über ausgegebene Gelder (in Form von Quittungen) ab- Realität der gesammelten Daten in Fiktion umgewandelt wird, und bei der
gelegt werden muss; können diese Aufzeichnungen nicht vorgelegt werden, die Handlung von Schauspieler/inne/n getragen wird, die nur vorgeben,
sind zukünftige Anträge gefährdet. Gemeinschaftsmitglieder zu sein. Um erfolgreich zu sein, muss die Hand-
Im Frühstadium der Entwicklung eines Projekts muss sowohl entschie- lung interessant und unterhaltsam sein, und sie muss Botschaften enthalten,
den werden, wo ein Workshop abgehalten wird, als auch, wo die Auffüh- die für das Thema relevant sind. Die Handlung muss auf eine Technik der
rungen stattfinden sollen, so dass notwendige Vorkehrungen getroffen wer- Partizipation aufgebaut sein, und pure Fiktion sollte vermieden werden, so
den können. An manchen Orten muss zum Beispiel die Erlaubnis des dass realistische Lösungen zu Problemen propagiert werden können.
örtlichen Verwaltungsoffiziers eingeholt werden, und in fast allen Fällen Da Improvisation ein grundlegendes Prinzip von Volkstheater ist, müs-
wird die Erlaubnis des ‚traditionellen Herrschers‘ benötigt. sen die Teilnehmer/innen höchst konzentriert verfolgen, was ihre Partner/
Unser Ansatz bei den ersten vier Workshops, die Gemeinschaften zu be- innen im Stück sagen und tun – ihre Antworten und Reaktionen hängen
suchen, für einige Zeit dort zu leben und die Gemeinschaftsmitglieder ken- völlig von dieser Fähigkeit ab. All dies ist besonders wichtig wegen der rela-
nenzulernen, erwies sich als der wirksamste Ansatz. Die Tatsache, dass wir tiv kurzen Zeit, in der die Ziele des Workshops erreicht werden müssen.
die wichtigste Einrichtung der Gemeinschaft, die Sammelstelle für das Was- Wenn irgend möglich, sollten Aufführungen im Freien stattfinden, vor-
serversorgungssystem, besuchten sowie die Häuser, Bauernhöfe und andere zugsweise an einem öffentlichen Ort, an dem die Gemeinschaftsmitglieder
Arbeits- und Freizeitplätze, trug dazu bei, dass Hemmschwellen sofort ab- ohnehin zusammenkommen, sei es aus wirtschaftlichen, sozialen oder reli-
gebaut werden konnten und durch Vertrautheit ersetzt wurden. Eine weitere giösen Gründen, wie zum Beispiel der Dorfplatz, Marktplatz, Kirchhof,
Strategie Vertrauen herzustellen war, mit den Ortsansässigen zu essen und Schulhof, Palast etc. Wenn unser Stück gut ist, werden die Zuschauer/in-
zu trinken. nen zweifellos Fragen stellen oder nach der Aufführung Kommentare abge-
Die Feld-Methode von Volkstheater hängt davon ab, dass durch den ben. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Zuschauer/innen die im Stück dar-
Austausch von Ideen mit Teilnehmer/inne/n und anderen Mitgliedern der gestellten Probleme sehr gut verstehen und erkennen, und in manchen
Gemeinschaft sowie durch Beobachtung Informationen gesammelt werden. Fällen gingen vereinzelte Zuschauer/innen sogar so weit, sich selbst in den
Es ist auch wichtig, ein Gleichgewicht von Informant/inn/en in Bezug auf Stücken zu erkennen. Es kann von Vorteil sein, sich der Diskussion nach
Alter, Geschlecht und Mitgliedschaft zu unterschiedlichen Sektoren der Ge- der Aufführung zu bedienen, um ein Argument stark zu machen, wie zum
meinschaft zu erzielen. Wenn all dies vorhanden ist, können die so gesam- Beispiel, dass die Verwaltung von Gemeinschaftsgeldern transparent ge-
melten Daten klassifiziert und analysiert werden, um letzten Endes die macht werden müsste. Wir sollten es jedoch soweit wie möglich den Zu-

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schauer/inne/n selbst überlassen, Lösungen für ihre eigenen Probleme zu etc. Da jedoch die Mehrheit der Bevölkerung in den Nord-West und Süd-
entwickeln. Wo auch immer wir Workshops abhielten, hat sich ein neues West Provinzen Pidgin-Englisch spricht, fanden viele unserer Stücke in die-
Bewusstsein von gemeinsamen Problemen unter den verschiedenen Ge- ser Sprache statt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass
meinschaftsmitgliedern entwickelt sowie von der Möglichkeit, kollektiv Lö- die Entwicklung der Charaktere und der Rollen oft die Wahl der Sprache
sungen für diese Probleme finden zu können. beeinflusst.
Man könnte nun die Frage stellen, ob die Theaterstücke, die mit Hilfe Die Diskussionen unmittelbar nach der Aufführung bieten oft eine gute
dieser Methode entwickelt werden, als kulturelle Produkte, die ästhetisch Gelegenheit, um zu evaluieren, wie die im Stück dargestellten Probleme
befriedigend für Zuschauer/innen und Beteiligte sind, betrachtet werden aufgenommen und verstanden wurden. Oft kommt es bei diesen Gelegen-
können. Als Antwort könnte man argumentieren, dass das Brainstorming heiten vor, dass ‚Geheimnisse‘ enthüllt werden, die im fiktionalisierten Stück
zu Gemeinschaftsproblemen, die von den Teilnehmer/inne/n als wichtig versteckt waren, indem auf bestimmte Vorkommnisse und Gemeinschafts-
identifiziert wurden, die Kreierung einer Handlung durch Fiktionalisierung mitglieder hingewiesen wird, die das Leben der Gemeinschaft entweder po-
(in all ihren Nuancen) zur Folge hat. In manchen Fällen kann das be- sitiv oder negativ beeinflusst haben. Diese Diskussionen bieten meist auch
deuten, dass gewisse Erfahrungen, die Teilnehmer/innen hatten, oder von die Gelegenheit, Strategien zur Lösung der dargestellten Probleme zu ent-
denen sie durch Gemeinschaftsmitglieder gehört haben, mit leichten Verän- wickeln.
derungen in fiktionale Handlungen umgewandelt werden. Charaktere wer- Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die hier beschriebenen
den so entwickelt, die physische und psychologische Dimensionen erhalten Workshops normale städtische und ländliche Bürger/innen ermutigt ha-
haben, und die im Kontext der sich entfaltenden Handlung agieren. So kam ben, sich ihren Problemen zu stellen und sie durch die Linse der Gemein-
es zum Beispiel bei einem Workshop in Muyuka vor, dass eine Teilnehme- schaft und gemeinschaftlicher Selbstuntersuchung zu betrachten. Und die
rin, die im richtigen Leben als Verteidigerin der Interessen von langjährigen Bewegungen der Schauspieler/innen, ihre Gesten und Mimik, der Einbe-
Ortsansässigen und als ausgesprochene Gegnerin von Neuansiedlern be- zug von Musik und Tanz, die Verwendung von Sprichwörtern, Rätseln und
kannt ist, im Stück die Rolle eines Neuansiedler-Bürgermeisters mit über- lokalen Redewendungen im Dialog – all dies gibt den Zuschauer/inne/n
raschender Leidenschaft spielte – zur nicht geringen und angenehmen die einzigartige Gelegenheit, die Schönheit einer theatralischen Aufführung
Überraschung der anderen Teilnehmer/innen und Zuschauer/innen. zu genießen.
Es muss nochmals betont werden, dass die in den Stücken benutzte Es ist offensichtlich, dass Zuschauer/innen und Teilnehmer/innen der
Sprache von äußerster Wichtigkeit ist, da sie das Vehikel ist, das die Impro- Workshops von dem Theaterereignis nicht nur unterhalten werden, sondern
visation der Dialoge ermöglicht, die auf der Basis des gebildeten Plots aus dass sie auch dabei lernen. Dieser Lernprozess erweckt in ihnen die Er-
dem Brainstorming über Themen, die dem Menschen dieser Gemeinschaft kenntnis, dass sie ihre Probleme selbst und durch kollektive Mobilisierung
am Herzen liegen, erwachsen. Auch in dieser Hinsicht ist die Fachkenntnis und Aktion lösen müssen. Diese Art von Theater ermutigt Menschen, sich
der Theaterorganisator/inn/en wichtig, denn hier muss er aus seinem/ihrem aktiv und mit Elan am demokratischen Prozess zu beteiligen, indem sie u. a.
Wissen über Theaterästhetik und seinen/ihren Regiekenntnissen schöpfen, an Diskussionen und Entscheidungen teilnehmen, statt in einer Kultur des
um herauszustreichen, dass Kommunikation im Theater viele Komponen- Schweigens zu ersticken, wie es viele Jahrzehnte lang der Fall gewesen ist.
ten umfasst, wie zum Beispiel die Quantität und Qualität der Stimme, die
Emotionalität der Stimme, Bewegung, Gesten und Mimik, sowie Kostü- Aus dem Englischen übersetzt von Marion Frank-Wilson
me, Bühnenbild, Licht und Geräusch. Bei jedem Workshop werden die
Teilnehmer/innen ermutigt, nur die jeweilige Sprache zu benutzen, in der
sie am kompetentesten sind, was meist die von der Mehrheit der Gemein-
schaftsmitglieder gesprochene Sprache ist: Mousgoun, Fulfulde (Mbororo),

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David Kerr Magazines, London. Und Dance, Media Entertainment & Popular
Afrikanische Performance, Theatre in South East Africa, das 1998 in Eckhard Breitingers Reihe
Wissensbildung und sozialer Wandel Bayreuth African Studies Series erschienen ist, dokumentiert die
Schwerpunkte in Kerrs Schaffen auf besonders eindrückliche Weise.
Theater, vor allem Theatre for Development, ist ein Instrument,
Wenn man sich mit dem südlichen Afrika beschäftigt, stößt man das sich in der Praxis beweisen muss. Diesem Prinzip folgend, ist
unweigerlich auf seinen Namen: David Kerr ist beinahe so etwas wie David Kerr nicht nur ein brillianter Wissenschaftler und Analytiker,
eine Institution. Er hat an Universitäten in Großbritannien, Zambia, sondern auch ein leidenschaftlicher Theatermacher, der es für selbst-
Botswana und Malawi unterrichtet, derzeit ist er Professor für verständlich erachtet, seine Ideen und Überzeugungen dem Praxis-
Theater an der University of Malawi in Zomba. test zu unterziehen. So verbringt er einen großen Teil seiner Zeit mit
Seine Veröffentlichungen seit Anfang der 1970er Jahre sind außer- Studierenden in den ländlichen Gebieten Malawis, wo sie mit lokalen
ordentlich zahlreich. Auffallend ist dabei seine Vielseitigkeit: Theater, Theatergruppen zusammenarbeiten. Der Theaterausbildung und
Tanz, Medien, Kommunikation und Oralität, und dabei immer der Be- -arbeit an der Universität räumt er einen hohen Stellenwert ein.
zug zur Bildung und zum sozialen Wandel. Schließlich eine vielleicht Leider traf ich David Kerr nur einmal – in Eckhard Breitingers
eher unbekannte Seite als Schriftsteller: Unter dem Pseudonym Der- Haus. Wo sonst, ist man versucht zu fragen, ist dieses doch bis heute
rick Zgambo veröffentlichte er bereits 1978 den Roman Passages. Im ein legendärer Ort der Gastfreundschaft für afrikanische Intellek-
gleichen Jahr publizierte er auch das Theaterstück Matteo Sakala. tuelle, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Schriftsteller und
Jüngst erschien sein erster Lyrikband, Tangled Tongues. Schriftstellerinnen und Theaterleute.
David Kerr ist einer der großen bekannten ‚Expatriats‘, der in Afrika Die britische Theaterwissenschaftlerin Jane Plastow sagte einmal
lebenden Ausländer und Ausländerinnen, deren Rang unbestritten zutreffend:„David Kerr ist einfach unfähig etwas zu schreiben, das
ist, auch unter den afrikanischen Kollegen und Kolleginnen, und einer nicht provokativ und intelligent wäre, und dabei immer mit der ange-
der vehementesten Vertreter des Theatre for Development. Wie auch messenen Bescheidenheit und einem selbstkritischen Bewusstsein.“
der hier vorliegende Aufsatz demonstriert, hat er seinen Glauben an Martin Rohmer
die Möglichkeiten des populären Theaters in Afrika nie verloren, auch
wenn ihn das nicht daran gehindert hat, Kritik an den Vertretern Der vorliegende Artikel ist eine Mischung aus intellektuellem Überblick
der eigenen Zunft und an problematischen Entwicklungen dieses und persönlicher Schilderung. Er soll die Schwierigkeiten untersuchen,
Mediums zu äußern. Populäres Theater – das war für ihn immer ein denen sich die konventionell-wissenschaftliche, philosophische Wissensbil-
Volkstheater im echten Sinn des Wortes, in der Tradition Brechts, dung ausgesetzt sah, überwiegend mündliche Kulturen Afrikas zu berück-
Boals, Ngugis, ein emanzipatorisches und hochpolitisches Instru- sichtigen. Mein Blick gilt vor allem der Art und Weise, in der die Darstel-
ment, das die Menschen und ihre Fähigkeit, eigene Lösungen für ihre lenden Künste im subsaharischen Afrika nicht nur als eine Form der
Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung zu finden, ernst nimmt, auch Unterhaltung, sondern auch als ein Mittel zur Wissensbildung und -verbrei-
wenn es – wie er selbst einräumt – stets Gefahr läuft, politisch miss- tung dienen. In vielen afrikanischen Performance-Traditionen sind diese
braucht und ins (reaktionäre) Gegenteil verkehrt zu werden. beiden Tendenzen untrennbar miteinander verbunden. Vor dem Hinter-
Auch wenn man vielleicht den anderen Werken Unrecht damit grund globaler Ideologien verfolgt der Aufsatz diesen Prozess sowohl bei
tut, seien hier zwei Veröffentlichungen Kerrs hervorgehoben: Sein den vorkolonialen Darstellenden Künsten wie auch beim didaktischen The-
Buch African Popular Theatre from Pre-Colonial Times to the Present ater nach der Unabhängigkeit. Zur Veranschaulichung schließt er mit zwei
Day bekam 1996 den „Academic Book of the Year“ Preis des Choice persönlichen Erfahrungen aus Malawi, mit zwei gegensätzlichen Arten ei-
nes instrumentellen Theaters.
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


Wissenschaftliche Theorien zu afrikanischen Wissenssystemen ‚Ethno-Philosophie‘ abgetan. Was die ‚Ethno-Philosophen‘ gemeinsam ha-
ben, ist ein holistischer Essentialismus, der ungleiche Elemente der Linguis-
Die wichtigste diskursive Tradition über Wissensbildung in Afrika kommt tik, der Verwandtschaftssysteme und der religiösen Rituale synthetisiert,
aus der Anthropologie. Die ursprünglichen Gründe der Anthropologie la- um im Namen eines subsaharischen Afrikas, das aufgrund oraler Diskurs-
gen in einem kolonialen Vorhaben, die vorwiegend mündlich tradierten und Sammelmethoden zum Schweigen gebracht wurde, eine allgemeine
Kulturen der kolonialen Subjekte, vor allem in Afrika und Asien, zu verste- philosophische Theorie geltend zu machen, die Ontologie, Theologie, Äs-
hen. Diese Gründe waren nicht nur rein wissenschaftlicher Art (auch wenn thetik und Epistemologie mischt. Zu den afrikanischen Vertretern dieser
sie manchmal damit gerechtfertigt wurden); ein starkes Motiv war die Not- Philosophie gehören Alexis Kagame, E. B. Idowu und John Mbiti. Die
wendigkeit für die kolonialen Verwaltungsbeamten, die Strukturen, die Kul- strukturalistische Anthropologie von Claude Levi-Strauss führte zu einem
tur, die Hierarchien, das Denken und die Rituale der unterworfenen Völker ähnlichen Versuch einer Interpretation des Symbolismus ‚wilder‘ Wissens-
zu verstehen, um effektiver über sie herrschen zu können. Angesichts der systeme, aber noch ehrlicher auf Grundlage der Beschränkungen des Para-
rassistischen Grundlage des kolonialen Unternehmens überrascht es nicht, digmas vom Eigenen vs. dem Fremden.
dass auch die frühe Anthropologie auf ‚rassisch-motivierten‘ Grundlagen Als bis Mitte des 20. Jahrhunderts Graduierte von sekundären und vor
beruhte. Sie war eine Wissenschaft, die auf einem europäischen Selbstver- allem tertiären afrikanischen Bildungsinstitutionen abzugehen begannen,
ständnis basierte, welches das Konzept von einem ‚primitiven Anderen‘ be- waren darunter afrikanische Intellektuelle, die mit der anthropologischen
nötigte, um das koloniale Selbstbewusstsein von der eigenen Aufgeklärtheit Tradition des Diskurses über Wissensbildung auf dem Kontinent zurecht-
zu bestätigen. kommen mussten. Eine übliche Reaktion war es, das essentialistische Pro-
Das anthropologische Verständnis von afrikanischen Wissenssystemen jekt der Anthropologen aufzunehmen und gegen den Kolonialismus zu
war jedoch keineswegs einheitlich. Der Höhepunkt der rassistischen Versu- wenden. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Philosophie der Negritude,
che, afrikanische Kulturen zu verunglimpfen, fiel in die zweite Hälfte des insbesondere in der Ausprägung Leopold Senghors, dessen essentialistische
19. Jahrhunderts, gleichzeitig mit der stärksten Ausbreitung des Kolonia- Variante afrikanischer Kultur vom antikolonialen Historizismus Aimé Cé-
lismus. Selbst in dieser Zeit gab es eine liberale Richtung innerhalb der ko- saires unterschieden werden kann. Senghors poetische und philosophische
lonialen Anthropologie, die – wenn auch immer noch auf Grundlage des Bestätigung der „invented tradition“ [„erfundenen Tradition“], die Afrika
Dualismus vom Eigenen gegenüber dem Fremden – von einer Art missio- Rhythmus, emotionale Wärme und kollektiven Humanismus zuschreibt,
narischem Eifer getrieben war, afrikanische Wissenssysteme nicht nur zu zielte auf eine kritische Hinterfragung europäischer Werte ab, die Senghor
verstehen, sondern auch in Afrika einen aufkeimenden wissenschaftlichen als kalt, mechanisch, rational und individualistisch konzipierte. Dieses Kon-
Rationalismus zu pflegen, den man im europäischen Denken und in der zept ist zu gut bekannt, als dass es weiterer Ausführungen bedürfte.
europäischen Kultur verkörpert sah. Die Reaktionen auf die Negritude sind jedoch eine kurze Betrachtung
Eine noch radikalere Richtung – ein Stammbaum, der Leo Frobenius, wert. Eine Gegenposition nahmen die Marxist/inn/en ein, angefangen beim
Placide Tempels, Melville Herskovits, Dennis Duerden und Janheinz Jahn radikalen, aus Martinique stammenden Psychologen Frantz Fanon bis hin
einschließen würde – versuchte, durch Forschungen über afrikanische Spra- zu literarischen Kritikern wie Stanislas Adotevi, Biodun Jeyifo und Ngugi
chen, Rituale und mündliche Literaturen eine schriftsprachliche afrikani- wa Thiong’o, denen zufolge die Negritude den Klassenaspekt des Kapitalis-
sche Philosophie zu schaffen – als eine Alternative zur Tradition der europä- mus vernachlässige. Anders reagierten anglophone Literaten wie Wole So-
ischen Aufklärung. Die Versuche sowohl von europäischen als auch von yinka und Zeke Mphalele, die der Ansicht waren, dass die Bestätigung ei-
afrikanischen Intellektuellen, aus der afrikanischen mündlichen Kultur eine ner ‚unbefleckten‘ präkolonialen afrikanischen Kultur durch die Negritude
schriftsprachliche Philosophie zu entwickeln, werden manchmal (vor allem irrelevant für die post-koloniale Welt war, mit der Afrikaner und Afrikane-
von intellektuellen Gegnern und Gegnerinnen) ziemlich abwertend als rinnen im ausgehenden 20.Jahrhundert fertig werden mussten. Schließlich

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gab es eine Gruppe vor allem westafrikanischer Philosophen, der u. a. Pau- Diskursmethoden zu sein, die der ‚Ethno-Philosophie‘ ursprünglich zu ih-
lin Hountondji, Kwasi Wiredu, Valentin Mudimbe und Anthony Appiah rem Aufstieg verhalfen. Eines der Probleme mit all den intellektuellen Be-
angehören, die den mystischen Essentialismus der Negritude als eine Ab- wegungen, die die Absicht hatten, Wissensproduktion zu formalisieren, ist
lehnung des Rationalismus ansahen, der für eine echte afrikanische Philoso- ihr Hang zum Elitären, selbst wenn sie ihre Inspiration einer generalisierten
phie gebraucht werden würde. Einige von ihnen (vor allem Wiredu und afrikanischen Volks- oder auch populären Kultur zuschreiben. Es gab nur
Hountondji) nahmen eine besonders kritische Position zur Negritude und wenige Versuche von Afrikanist/inn/en oder afrikanischen Intellektuellen,
zur ‚Ethno-Philosophie‘ ein und beharrten auf einem beinahe elitären Glau- das Potential für Wissensbildung in afrikanischen mündlichen Literaturen
ben an die Kultivierung einer gebildeten afrikanischen Wissenschaft, an Lo- selbst zu erforschen oder gar zu aktivieren.
gik und Rationalität als Basis für jede weitere Entwicklung des Kontinents. Wo meines Erachtens viel für afrikanische Wissensbildung im Kontext
Der modernisierende Optimismus dieser Meinungen entspricht weitge- subalterner ländlicher und städtischer Bevölkerungen getan werden kann,
hend den ‚Entwicklungstheorien‘ der 1960er und 1970er Jahre, als die afri- das sind nach wie vor die relativ stabilen und kreativen Darstellenden Küns-
kanischen rationalistischen Philosophen ihre Theorien entwickelten. Dieses te in Afrika. Das könnte man auch negativ sehen, als erbärmlich konform
Paradigma der Modernisierung forderte die schnelle Transformation des mit dem Stereotyp der glücklich lächelnden afrikanischen Tänzer und Tän-
subsaharischen Afrikas auf der Basis von Bildung der Massen, Industriali- zerinnen, die die eskapistische Melodie zum Rhythmus der Erde singen,
sierung und wissenschaftlich-technologischer Innovationen. aber unfähig sind zum rationalen Denken oder zu irgendwelchen Erfindun-
Seit den späten 1970er Jahren ist jedoch klar, dass das Modernisierungs- gen. Im Folgenden möchte ich über das Stereotyp hinausschauen, möchte
modell fehlgeschlagen ist. Hier ist nicht der Platz, die sozio-ökonomischen ich Möglichkeiten aufzeigen, wo afrikanische Performance tatsächlich zur
Gründe dafür zu analysieren; ein begrenztes Verbrecheralbum würde regio- Wissensbildung und Analyse beitragen kann. Überwiegend werde ich die
nale, nationale und sub-nationale Kriege beinhalten, den Zusammenbruch Diskussion auf die Region begrenzen, die ich am besten kenne – das südli-
von Befehlsökonomien, ungerechte, globale Marktsysteme, den Einfluss che Afrika, vor allem Malawi.
von AIDS, den intellektuellen ‚brain-drain‘ und die Auswirkungen der Po-
litik harter Strukturanpassungsmaßnahmen (SAP), auferlegt vom Interna-
tionalen Währungsfonds (IWF). Eine der Auswirkungen der Strukturan- Die Rolle afrikanischer Performance bei der Produktion
passungsmaßnahmen war die Aushöhlung des tertiären Bildungssektors, und der Weitergabe von Wissen
der für die modernistische Philosophie eine Grundvoraussetzung für Ent-
wicklung darstellt. Dies machte es afrikanischen Akademikern und Akade- Die oben bereits erwähnte Schule der anthropologischen Philosophie hat
mikerinnen, die ihrer Finanzierung und ihrer Ressourcen beraubt waren, so sehr nützliche Erkenntnisse zu den Traditionen afrikanischer Wissenspro-
gut wie unmöglich, ihre eigene wissenschaftliche Produktion und die Ver- duktion im südlichen Afrika hervorgebracht. Victor Turner ist sicherlich der
breitung von Wissen mit lokalen afrikanischen Systemen der Wissenspro- bekannteste Vertreter, vor allem in seinen späteren Büchern, wo er seine Er-
duktion zu vernetzen. kenntnisse über afrikanische Kulturen auf liminale Performances auf globa-
Dies ist ein trübes Bild, das Afrika die Rolle des permanent marginali- ler Ebene anwendet und weiterentwickelt. Turners Forschungen über die
sierten und unterprivilegierten Kontinents für die nächsten Jahrzehnte zu- Ndembu Rituale in Nordwest-Sambia wurden aus liberal-anthropologischer
zuweisen scheint. Für diejenigen jedoch, die auf dem Kontinent leben, bie- Perspektive durchgeführt, die nach Universellem innerhalb partikularer
tet dieser Pessimismus keine lebensfähige Grundlage für eine dauerhafte Prinzipien von Performance sucht (vor allem durch die Erläuterung von
psychische Gesundheit. Schlüsselmetaphern). Eine von Turners Behauptungen ist, dass der meta-
Wenn wir uns auf dem Kontinent nach positiven kulturellen Entwick- phorische Impuls bei der Wissensproduktion der Ndembu sich nicht grund-
lungen umschauen, scheint eine der wenigen das Überleben mündlicher sätzlich vom Prinzip der Analogie unterscheidet, das die ‚moderne Wissen-

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schaft‘ antreibt. Der Hauptunterschied liege darin, dass die Interpretation ativer Performance und Kritik sind durchgehend verschwommen, aber ge-
der Ndembu Metaphorik nicht wirklich strittig ist; ihre Geheimnisse wer- wisse Elemente mündlicher Kritik von Seiten der Gemeinschaft sind mög-
den von Hütern des Dorfwissens weitergegeben und durch die Reproduk- lich.
tion des Gemeinschaftskonsenses aufrechterhalten. Im Unterschied dazu ist In ähnlicher Weise ist ein kritischer Diskurs auch realisierbar im Kontext
die ‚moderne Wissenschaft‘ dem Meta-Diskurs des Disputes, der Kritik einer Vorbereitung einer Performance, einschließlich der Proben. Beispiels-
und der Überprüfung von Hypothesen, unterworfen. weise dürfen die jungen männlichen Darsteller bei der synkretistischen,
Ich glaube jedoch, es ist ein Fehler (keiner der von Turner, sondern übli- wettbewerbsorientierten, pseudo-militärischen Pantomime Malipenga aus-
cherweise von anthropologischen Interpretationen afrikanischer Performan- führlich verschiedene Tanzstile oder die Worte eines neuen Liedes diskutie-
ce gemacht wird) anzunehmen, dass diese Performance-Modi stets durch ren, um sicherzustellen, dass ihre Performance sich mit der ihrer Rivalen
eine unveränderte Genealogie eines sakrosankten Symbolismus’ reprodu- messen kann. Teil dieses Diskurses kann die Frage sein, wie sich verändern-
ziert worden seien. Wenn wir solch eine symbolische Kommunikation als de soziale Bedingungen widerzuspiegeln sind, z. B. Arbeitsmigration, poli-
Diskurs verschlossener Metaphorik bezeichnen, dann mögen manche Per- tische Entwicklungen oder der Einfluss von Nichtregierungsorganisationen
formances wie z. B. Ahnenmaskeraden mit ihrer geheimen Mitgliedschaft, (NGOs).
ihren weitreichenden Tabus und ihren geheimen linguistischen Kodes auf Diese Darstellung verschiedener Formen afrikanischer Philosophie ei-
diese Beschreibung passen. Aber selbst diese Diskurse verschlossener Meta- nerseits und eines populären afrikanischen Meta-Diskurses über Perfor-
phorik sind eines beträchtlichen Wandels fähig unter dem Einfluss solcher mance auf der anderen Seite soll die oft konstatierte Kluft zwischen der Tra-
das soziale Gefüge störenden Kräfte wie Kriege, Hungersnöte, Invasionen dition des philosophischen Diskurses im Westen und den symbolischen
und Migration. Die oft festgestellte Fähigkeit afrikanischer Maskenperfor- oder metaphorischen Systemen von Wissensproduktion in Afrika über-
mances, die eindringenden Europäer und Europäerinnen satirisch abzubil- brücken. Diese Kluft ist aber nicht mit einer Unterscheidung geographisch
den, ist ein gutes Beispiel. Wissen von Außenstehenden über die Diskussio- definierter Kulturen gleichzusetzen, da eine ähnliche zwischen elitären li-
nen und die kulturellen Veränderungen, welche zu diesen performativen terarischen Diskursen wie Philosophie und Wissenschaft einerseits und po-
Transformationen führten, sind so gut wie unauffindbar, aber sie müssen pulären Formen von Wissensproduktion bzw. -verbreitung andererseits
existiert haben. besteht, wo immer akademische Industrien etabliert wurden. Die Reihe
Wenn wir uns andere Formen afrikanischer Performance anschauen, komplexer kultureller Kanäle, durch die das Wissen des Nordens durch po-
z. B. Besessenheit durch Geister, oder mehr noch solch säkulare Formen wie puläre Medien bzw. Massenmedien verbreitet wird, schafft eine Plattform
das erzählende Drama, gibt es sogar noch weniger Beweise für einen Dis- für einen Kommunikationsprozess, der vom echt dialogischen bis zum un-
kurs verschlossener Metaphorik. Es gibt beträchtliche Hinweise dafür, dass verhüllt manipulativen oder mystifizierenden reicht. Wo durch die Massen-
z. B. der heilige, symbolische Diskurs der Besessenheitslieder der Vimbuza medien (vor allem das Fernsehen) so viel Wissen verbreitet wird, ist es nicht
(einer Gruppe des Tumbuka-Volkes in Nord-Malawi und Sambia) – vor al- überraschend, dass manipulative Techniken die dialogischen bei weitem
lem die satirische Kritik an patriarchalischem Verhalten – mit dem prosai- dominieren.
schen Diskurs einer Unterhaltung von Frauen beim Pathuli (die Stelle, wo Im Kontext afrikanischer Gesellschaften findet ein ähnlicher Kampf
der Mais gestampft wird) verbunden ist. Beim Drama deutet vieles darauf statt, aber aufgrund des nach wie vor geringeren Einflusses von Schul- und
hin, dass mündlich vorgetragene Dorfgeschichten am Feuer (Nyanja: ntha- Universitätsbildung und elektronischer Medien spielt die informelle, per-
ni) durch Personen aus dem Publikum in Frage gestellt werden konnten, de- sönliche Kommunikation eine bei weitem größere Rolle bei der Produktion
nen es freistand, die Art und Weise des Erzählens zu kritisieren, oder die so- und Verbreitung von Wissen. Angesichts der Bedeutung der Darstellenden
gar die gesamte Erzählung übernehmen konnten. Dies ist nicht das Gleiche Künste für afrikanische Kommunikation überrascht es nicht, dass Perfor-
wie Literaturkritik als autonomer Meta-Diskurs; die Grenzen zwischen kre- mances eine Hauptrolle in diesem Prozess spielen.

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Theatre for Development (TfD) ist, was Verbreitung und Zugang be- zur Monogamie), kommerzielle Filme und Stücke, die das Teetrinken als
trifft, vielleicht die erfolgreichste Technik, die versucht, den symbolischen gesunde Alternative zum Bierkonsum preisen, und eine Auswahl von Stü-
Diskurs von Performance mit den eher prosaischen Kritikformen des Meta- cken und Filmen aus unterschiedlichen Bereichen des kolonialen Staats-
Diskurses zu verbinden. Diese Bewegung, die in den späten 1970er Jahren dienstes, die sich für Tugenden wie häusliche Sauberkeit und sanitäre Zu-
im südlichen Afrika entstand, erreichte bis zum Ende des Milleniums au- stände, finanzielle Weitsicht und die Kultivierung von Mais stark machen.
ßergewöhnliche Popularität. Ab den 1940er Jahren kamen Hörspiele zu diesen belehrenden Medien hin-
zu, die aus Nordrhodesien (später Zambia) gesendet wurden.
Es ist unschwer erkennbar, dass diese Stücke und Filme instrumentali-
Theatre for Development als System von Wissensproduktion sierender Natur waren – nicht nur aufgrund ihrer spezifischen Botschaft,
sondern auch angesichts ihrer umfasserenden Ideologie, nämlich der Ein-
Manche meinen, dass das TfD ein total künstliches, exotisches Implantat führung einer modernisierenden Ethik und der vorgeblich wohlwollenden
sei, wohingegen andere seine Verankerung in lokalen Kulturen betonen. und fortschrittlichen Führung christlicher Missionare und kolonialer Admi-
Beide Argumentationen haben ihre Stärken. Die Ursprünge des instrumen- nistratoren. Es überrascht daher nicht, dass die koloniale didaktische Tradi-
tellen didaktischen Dramas, das zur Belehrung afrikanischer Gemeinschaf- tion des sozialen Dramas beim afrikanischen Publikum wesentlich weniger
ten eingesetzt wurde, sind es wert untersucht zu werden, denn damit lässt populär war als die wohlerprobten Performance-Formen wie Malipenga,
sich herausfinden, ob TfD eine organische oder eine artifizielle Kunstform Beni und Honela, die mit dem Mittel der synkretistischen Parodie eigene
ist. geistige Methoden zur Verfügung stellten, sich auf die ‚Moderne‘ einzustel-
Geht man einige Jahrhunderte zurück, so gibt es deutliche Anzeichen len. Obwohl manche koloniale Formen des belehrenden Dramas (z. B.
dafür, dass das vorkoloniale Theater didaktische Inhalte hatte – verbunden Hörspiele und landwirtschaftliche Puppentheaterstücke) bis in die Unab-
mit speziellen Botschaften zu Gesundheitsfragen, Hygiene und Ökologie. hängigkeitszeit hinein überlebten (nach 1964), waren sie keine dominanten
Die primäre Funktion von Maskeraden war die Nutzung von Ahnengeis- Formen.
tern zur Reinigung der Gemeinschaften von spirituellen und physischen Das instrumentelle soziale Drama (üblicherweise unter dem Begriff
Unreinheiten. Viele Tänze und Rituale erforschten ökonomische Beziehun- „Theatre for Development“), gewann in Malawi seit den frühen 1980er
gen zwischen Menschen und ihrer Umwelt durch Jagd und Landwirtschaft. Jahren an Bedeutung und wurde vom Tourneetheater des Chancellor Col-
Fast alle Performances, die mit Initiationen assoziiert werden, z. B. Tänze lege eingeführt. Es war hauptsächlich von Laedza Batanani beeinflusst, ei-
oder mündliche Erzählungen, hatten ein starkes Element sozialer Kontrolle, ner populären Theaterbewegung in Botswana, und vom Chikwakwa Thea-
das den Initianden und auch anderen Mitgliedern der Gemeinschaft Stere- ter Zambias. Interessant an der ersten Welle des TfD im südlichen Afrika
otypen anti-sozialen Verhaltens vorstellte (wie Faulheit, Trunkenheit oder der 1970er und 1980er Jahre ist, dass sich die Praktizierenden, ob aus dem
sexuelle Verfehlungen), die es zu vermeiden galt. Der Unterschied zwischen (Westlichen) Ausland stammend (wie Ross Kidd, Martin Byram oder ich
diesen Beispielen und denen des instrumentellen kolonialen Theaters bzw. selbst) oder aus Afrika (wie Stephen Chifunyise, Jeppe Kelepile, Dickson
der kolonialen Medien liegt darin, dass die afrikanische Performance ihre Mwansa, Mapopa Mtonga, Penina Mlama und Amandina Luhamba) zwi-
Didaktik in einen ganzheitlichen Kontext der Gesundheit stellte und mit schenzeitlich kaum dieser kolonialen Vorläufer bewusst waren.
umfasserenden spirituellen und gemeinschaftlichen Werten verband. Ihre Absicht war es, die Zugänglichkeit zu lokalen Performance-Tradi-
Die frühesten Bezüge, die ich in Malawi zum kolonialen instrumentel- tionen für Wissensbildung und Vermittlung zu nutzen. Sie waren sich da-
len Drama finden konnte, stammen aus Nyasaland in den 1920er und rüber im Klaren, dass Performance-Formen wie Muganda, Vimbuza, Gule
1930er Jahren. Darunter finden sich von den Missionaren eingesetzte christ- wa Mkulu, Mapila und Makisi, oder Kommunikationsforen wie der Tswa-
liche Stücke über moralisches Verhalten und die Ehe (vor allem der Aufruf na kgotla oder der Chewa bwalo äußerst effektive Kommunikationsmittel

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darstellten. Man hoffte, dass das TfD eine populäre synkretistische Form len Gewalt, die ihnen durch Kolonialismus und Neo-Kolonialismus an-
konstituieren würde, bei der sich lokale Performance-Techniken (vor allem getan worden war, intellektuell, moralisch und ideologisch etwas entge-
die Teilhabe des Publikums) – vermischt mit entwicklungsorientierten Dia- genzusetzen. Mit anderen Worten: Partizipatorisches Theater, das darauf
logen – als eine passende Form der Kommunikation und Wissensbildung abzielte, die Selbstwahrnehmung der Menschen und sogar deren soziale
herauskristallisieren würden. Die Stücke sollten viele der kraftvollen sym- Bindungen zu transformieren, konnte mündliche Systeme von Wissenspro-
bolischen und musikalischen Elemente des vorkolonialen Theaters beibe- duktion bzw. -verbreitung bieten, die die paternalistischen Interpretationen
halten, aber Potential für einen formalisierteren, kritischen Diskurs haben. der ‚Ethno-Philosophie‘ und den akademischen Elitismus der philosophi-
Es gab jedoch auch andere Einflüsse. Die wichtigste nichtafrikanische schen Zirkel lokaler oder emigrierter afrikanischer Akademiker und Akade-
Inspirationsquelle kam aus Brasilien: Paulo Freires revolutionäres Konzept mikerinnen vermieden.
der Stärkung der unteren Klassen durch Bewusstseinsbildung und Augusto In mancher Hinsicht waren wir vielleicht arrogant, wenn wir glaubten,
Boals Theorien der Befreiung durch Publikumsbeteiligung stellten einen dass das Theater fast im Alleingang den Kommunikations- und Wissensbil-
außerordentlich nützlichen konzeptuellen Rahmen dar, in denen die Prak- dungskontext für eine afrikanische Revolution im sozialen oder gar im Be-
tiker und Praktikerinnen des afrikanischen TfD ihre instinktive Begeiste- reich der politischen Ökonomie bieten könnte. In unserer Vision vom Pub-
rung für afrikanische Performance-Formen unterbringen konnten. likum, das seinen dialogischen Radikalismus aus dem Zuschauerraum auf
In Afrika boten 1977 Ngugi wa Thiong’os Arbeit mit Kamiriithu und die Straße bringt, überschätzten wir die möglichen Verbindungen zwischen
seine anschließenden Reflexionen über diesen ‚epistemologischen Bruch‘, „Bewusstseinsbildung“ und politischer Aktion, während wir andererseits
die diese Erfahrung mit sich brachte, ein Modell dafür, wie lokale Wissens- das Potential für eine Aneignung des Theaters durch konservative Kräfte
systeme, die durch Performance vermittelt werden, eine Katalysatorfunk- unterschätzten.
tion für einen radikalen post-kolonialen Prozess autonomer Bewusstseins- Die Geschichte des TfD nach diesen wilden Tagen ist aus meiner Sicht
schärfung ausübten. Ein anderer Einfluss war das Theatre of Emergency, das überwiegend eine der Desillusionierung. Der Zusammenbruch dieser früh-
sich Mitte der 1970er Jahre aus der Black Consciousness Bewegung in Süd- en radikalen Phase Mitte der 1980er Jahre ist gut dokumentiert. Vor allem
afrika entwickelte. Diese radikale Wiedereinsetzung afrikanischer mündli- die Unterdrückung von Kenias Kamiriithu Theaterbewegung zwischen
cher Performance zum Zweck des Widerstands gegen die Apartheid zeigte 1977 und 1981, zusammen mit der Unfähigkeit der International Popular
Wege auf, mit denen das Theater einen völlig neuen epistemologischen Theatre Alliance, einen globalen Zusammenschluss radikaler Theaterprakti-
Rahmen errichten konnte, indem es allgemeine Ansichten über vorkolonia- ker sowie der Union of African Performing Artists (UAPA), effektiv zu mo-
le Performance dialektisch hinterfragte. bilisieren, markierte den Übergang des radikalen sozialen Dramas zu einer
Schließlich boten die revolutionären Theorien von Frantz Fanon und anderen Form instrumenteller Performance.
Amilcar Cabral eine etwas andere Perspektive. Sie erkannten zwar das Po- Es gibt viele Gründe für diesen Rückschlag. Staatliche Unterdrückung
tential afrikanischer Wissensproduktion an, stellten aber gleichzeitig die es- nicht nur in Kenia, sondern auch in anderen afrikanischen Ländern wie Ma-
sentialistische, pseudo-traditionelle Rückkehr zu kulturellen Ursprüngen in lawi, Sierra Leone, Nigeria und Zaire, spielte eine Rolle. Andere, weniger
Zeiten revolutionären Wandels in Frage. offensichtliche Gründe waren ordinäre Habgier, die den Zusammenbruch
Die Theorien von Freire, Boal, Ngugi, Fanon und Cabral hatten star- der UAPA begleitete, das Verschwinden des sozialistischen, sowjetgeführten
ken Einfluss auf viele von uns, die im Theater der frühen 1980er Jahre ar- Pols in der geopolitischen Sphäre sowie die zunehmende kapitalistische
beiteten. Sie schienen ein nicht-elitäres Modell dafür zu bieten, das erklär- Kontrolle über die Ausgaben für entwicklungspolitische Maßnahmen durch
te, wie subalterne Afrikaner und Afrikanerinnen mit einer hauptsächlich Strukturanpassungsprogramme.
‚mündlichen Tradition‘ genau diese Oralität nutzen konnten, um – durch Mit all diesen Ursachen verbunden – und ein Stück weit eine Auswir-
transformierte Performance-Methoden – der epistemischen und materiel- kung dieser – war der Aufstieg der NGOs als starke Finanzierungsquelle.

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Sie ersetzte die staatliche Finanzierung, die – mit den Universitäten als nanzierten und an der Entwicklungsarbeit beteiligten NGOs favorisiert
Mittlerinnen – solche Unternehmen wie das Chikwakwa Theater und Laed- wurde, ist ein sicheres Zeichen für sein Scheitern als Agens für gesellschaft-
za Batanani in den 1970er Jahren dominiert hatte. Natürlich hatten die lichen Wandel. Vor allem ist das neue Modell des herausgeputzten TfD kei-
NGOs auch eine Rolle bei der frühen Welle des TfD gespielt, aber viele (wie nes, das die bestehenden Klassenbeziehungen herausfordert, ob auf der
z. B. der Canadian University Service Overseas und das Institute of Adult Mikroebene der lokalen Gemeinschaft oder der Makroebene der globalen
Education, oder die Swedish International Development Agency) sympathi- Handels- und Arbeitskräftebeziehungen. Die Hauptgründe dafür sind,
sierten zu dieser Zeit mit radikalen, sozialistischen Programmen für eine ge- dass die NGOs normalerweise durch Institutionen der nördlichen Hemi-
nuine Volksbildung. sphäre wie USAID oder DIFD finanziert werden – diese wiederum sind
Bis zu den späten 1980er Jahren hatte sich dies geändert. Die Westli- vollkommen abhängig von Regierungen, die kein Interesse an einer radika-
chen Geldgeber, die die NGOs finanzierten und ihre Aufmerksamkeit nicht len Änderung der bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen Arm und Reich
länger auf die rivalisierenden Geldgeber der Warschauer Pakt Staaten rich- haben. Stattdessen formulieren sie manipulative Sozial-Strategien, die da-
teten, wurden weitaus wachsamer gegenüber ideologischer Parteinahme von rauf abzielen, manche der auffälligeren, negativen sozialen Auswirkungen
NGOs und Organisationen, die sie unterstützten. Ein ‚neues TfD-Modell‘ der ungerechten globalen Produktions- und Handelsbeziehungen zwischen
entstand, das mit der alten Rhetorik Freires daherkam, aber die Schlagwor- Arm und Reich etwas zu verbessern. Ihr Konzept von Entwicklung ist im li-
te der ‚Verantwortlichkeit‘ benutzte, um sie auf naheliegende, schablonen- beralen Paradigma der Verbesserung der Gesundheitssituation, der Famili-
hafte Zwecke mit messbarem „Output“ zu reduzieren. Statt Partizipation, enplanung, der landwirtschaftlichen Investitionen oder der Bildungsmög-
die dem subalternen Publikum die Augen für die Möglichkeiten einer neu- lichkeiten angesiedelt. Mit anderen Worten: Ihre Agenda unterscheidet sich
en sozialen Ordnung öffnete, kam nun ein neuer Typ des theatralen Kom- kaum von dem der Verwalter und Missionare während der Kolonialzeit; le-
munikators auf. Der Experte des ‚neuen Modells‘ war mit einem ‚Werk- diglich die Anstellung lokalen Personals bei den NGOs (wenn auch übli-
zeugkoffer‘ bewaffnet, der Techniken des Participatory Rural Appraisal cherweise auf untergeordneter Ebene) erweckt den Anschein der Respekta-
(PRA) enthielt, mit denen man schnell den Erfolg der auf Verhaltensän- bilität, indem es eine Form lokaler Stärkung vortäuscht.
derung angelegten Projekte messen konnte, die von den NGOs oder – noch Tatsächlich haben viele der ausländischen Manager der NGOs wenig
schlimmer – von finanzierenden Agenten vorgegeben waren. Sehr schnell Wissen über afrikanische Lebensbedingungen, Kulturen oder Sprachen.
lernten TfD-Gruppen, die auf der Suche nach Finanzierung waren, Worte Das Diktat kurzfristiger Karriereziele und knapper Budgets, unter denen
wie ‚Solidarität‘, ‚Dialektik‘, ‚Mobilisierung‘, ‚Neokolonialismus‘ und ‚Be- sie arbeiten, macht die Unterstützung eines langfristig angelegten transfor-
wusstseinsschärfung‘ zu vermeiden und durch neumodische Schlagwörter matorischen Theaterprozesses schwierig. Teilhabe erschöpft sich für ge-
wie ‚verantwortlich‘, ‚Transparenz‘, ‚Gender-Sensibilität‘ und ‚Partizipa- wöhnlich in zeitweiligen PRA-Forschungsaufenthalten, die aus der Distanz
tion‘ zu ersetzen. zusammengeschrieben werden, aber wenig echte Verantwortung für lokale
Manche dieser Änderungen waren willkommen. Die neue Betonung der Gemeinschaften übernehmen.
Gender-Sensibilität war ein lang überfälliges Gegengift zu der stark mas- Die Rhetorik Freirescher oder Boalscher Kommunikationsmethoden
kulinen Orientierung im Radikalismus des frühen TfD. Selbst hier jedoch (vor allem das Schlagwort ‚partizipatorisch‘) verbrämt nur allzuoft eine
erreichten viele der theatral umgesetzten Projekte zur Gender-Sensibilisie- oberflächliche, manchmal schädliche Auseinandersetzung mit komplexen
rung wenig mehr als den schönen Schein, da sie keinen Versuch unternah- Problemen und sozialen Strukturen lokaler Gemeinschaften. In diesem
men, sich mit bestehenden und sich entwickelnden afrikanischen Gender- Kontext ist es selbst für lokal verwurzelte Theatergruppen schwierig, als Ka-
Konzepten auseinanderzusetzen und stattdessen auf programmatische talysator für eine radikale Kritik des Status quo zu wirken. Stattdessen müs-
Phrasendrescherei und Didaktik zurückgriffen. sen sie oft die entwicklungsorientierten Botschaften nachplappern, die je-
Der Erfolg des TfD als Kommunikationsmodell, das von Westlich fi- weils von den sie unterstützenden NGOs favorisiert werden.

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Ich habe das Problem etwas verallgemeinert diskutiert, was natürlich Sogar der Name „Chishango“ – auf ChiChewa „Schild“ – weckt Assoziatio-
unfair ist. Es gibt eine große Bandbreite von NGOs und selbst von finan- nen zum ‚Traditionellen‘, was durch das Bild des Schildes als sofort erkenn-
zierenden Institutionen, von denen viele dem transformatorischen TfD dia- bares Logo für die Kondome noch verstärkt wird.
metral entgegengesetzt sind, andere jedoch bisweilen einen kommunikati- Man hielt die Mischung aus ‚Modernem‘ und ‚Traditionellem‘ für das
ven Freiraum dafür erlauben. Ich beende den Aufsatz mit zwei persönlichen geeignete Mittel für Malawi, das stark mit der ländlichen Kultur verbunden
Erfahrungen aus Malawi, welche meiner Ansicht nach diesen methodischen ist. In anderen Ländern des südlichen Afrikas (z. B. Botswana und Südafri-
Kontrast verdeutlichen. ka, wo Kondome „Lovers Plus“ heißen und das Logo ein Paar beim Strand-
spaziergang vor der untergehenden Sonne zeigt) wird eine deutlich ‚moder-
nere‘ Ikonographie eingesetzt.
Zwei Fallbeispiele von TfD Die berühmteste Marketing-Kampagne von PSI in Malawi war eine Se-
rie von Plakaten und Großreklamen für Chisango, die die entblößten
Zunächst ein Beispiel für einen theatralen Kommunikationsprozess, der Schenkel und Hüften einer Frau zeigten, die aus einem modisch aussehen-
eher manipulative Tendenzen der Kommunikation von NGOs in Afrika den Sarong hervorschauten. Christliche Kirchen in Malawi verurteilten dies
verkörpert. 2003 bat eine NGO namens Population Services International wütend als unvereinbar mit malawischer Kultur. Die Kontroverse zeigte in
(PSI) die Theaterabteilung der Fakultät für die Bildenden und die Darstel- faszinierender Weise die Widersprüche, die durch ‚moderne Kommunika-
lenden Künste darum, Videoskripte für Doku-Dramen zu liefern, die als tionsstrategien‘ und gegenläufige Ideologien, um Malawis postkoloniale
Teil ihrer Gesundheitsvorsorge in Dörfern Malawis gezeigt werden sollten Seele wetteifernd, hervorgerufen werden. Die Einwände der christlichen
(über mobile Videoprojektionen). PSI ist eine NGO mit Stammsitz in den Kirchen basierten auf einem Konzept malawischer Kultur, das nichts ande-
USA , die im ganzen südlichen Afrika sehr aktiv ist. Sie betreibt Gesund- res als eine erfundene puritanische Tradition war, eingeführt von kolonialen
heitsvorsorge in Form eines Sozialmarketings für billige Gesundheitspro- Missionaren mit ihren orchestrierten Angriffen auf afrikanische ‚Nackheit‘
dukte, einschließlich von Kondomen, (chemisch) behandelten Moskitonet- oder ‚Unanständigkeit‘, so wie man sie vor allem im Rahmen mündlicher
zen und Salz-/ Chlortabletten zur Reinigung von Trinkwasser. Darbietungen und verwandter Wissenssysteme repräsentiert sah. Dabei ging
Die Kommunikationsstrategie von PSI ist den kommerziellen Marke- PSI s vermeintlicher Angriff auf christliche Moral nicht zurück auf vorchrist-
tingtechniken der Industriestaaten (vor allem der USA) nachempfunden, liche afrikanische Systeme mit deren eigenen alternativen Konzepten von
die auf das Konzept bauen, dass die Konsumenten einem Produkt, für das Bescheidenheit und Anstand. Stattdessen versuchte PSI eine ‚neu erfunde-
sie bezahlt haben (wenn auch weniger als normal, da diese subventioniert ne Tradition‘ einzuführen, in der Nacktheit im Rahmen einer globalen Ju-
sind), gefühlsmäßig treuer sind als einem, das nichts kostet. Das Marketing gendkultur und einer konsumenten-orientierten Ikonographie erotisiert
erfolgt mit griffigen Botschaften über die Medien (TV, Radio, Printanzei- wurde.
gen und Poster), über die Einbindung von Westlichen Jugendidolen (z. B. Der US-amerikanische Marketing Manager von PSI sagte mir, dass die
dem US HipHop-Star Mary J. Blige) und über die hypermodernen Hoch- Chishango Kampagne eine sorgfältig geplante Strategie gewesen sei, um die
glanzbild- oder Musikbotschaften Westlicher Populärkultur. Es versucht öffentliche Aufmerksamkeit auf das Produkt zu lenken – in vollem Wissen
auch Aspekte malawischer Kultur einzubauen, vor allem durch die Verwen- um die Kontroverse, die sie auslösen würde. Nach langen Auseinanderset-
dung ‚traditionell‘ klingender Sprichwörter, die in einen ‚modernen‘ Kon- zungen stimmte PSI zu, das anstoßerregende Bild von den Großreklame-
text gestellt werden. In einer Werbung für Chishango-Kondome beispiels- tafeln zu entfernen, aber auf kleineren Anzeigen und auf der Kondom-
weise wird das Bild einiger modischer junger Städter, die sich einem packung selbst zu belassen. Die Strategie war insofern erfolgreich, als die
Nachtklub nähern, mit dem Pseudo-Sprichwort „Man geht nicht ohne Ha- Verkaufszahlen der Chishango Kondome sich nach der Kontroverse ver-
cke aufs Feld“ unterlegt (sinngemäße Übersetzung aus dem ChiChewa). dreifachten. Der gleiche Marketing Manager prahlte damit, dass PSI das

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zweitgrößte Werbeunternehmen in Malawi sei (nach Southern Bottlers, die die den dominierenden Kontext malawischer performativer Wissensbildung
die Rechte für so internationale Getränkefirmen wie Coca Cola besitzen), bildet, wie auch dem Kontext, den ich in meiner eigenen Pädagogik zu pfle-
mit ähnlichen Investitionsraten für subtile, sorgfältig konzipierte Verkaufs- gen versuche, völlig zuwider. Ich schlug dem PSI Management vor, dass es
strategien. eine treffendere Form der Botschaftsübermittlung wäre, die Video-Perfor-
Diese Marketingstrategien zeigen, dass die Kommunikationsprozesse, mances mit TfD-Kommunikationsprozessen zu mischen, die auf direkten
die sie für Gesundheitsinformationen nutzen, von oben nach unten gerich- und persönlichen Gegenüberstellungen beruhen. Das Management nahm
tet und manipulativ sind. Teilhabe beschränkt sich auf Konsumentenbefra- dies mit Interesse zur Kenntnis, erklärte aber, dass es der hohe Zeitaufwand
gungen und telefonische Reaktionen bei der beliebten Radio/TV Show eines solchen Prozesses schwierig machen würde, die publikumsorientierten
„Youth Alert“. Ich sage nicht, dass die Strategie von PSI nicht wirksam sei. Zielsetzungen für die Qualitätskontrolle bzw. die Evaluierungsprozesse zu
Alles deutet darauf hin, dass sie nach den eigenen Maßstäben sogar sehr er- erreichen. Am Ende waren betriebswirtschaftliche Aspekte und Quantität,
folgreich ist. Ich behaupte auch nicht, dass die Produkte keine nützliche gemessen an möglichen Konsumentenzahlen, doch wichtiger als die Quali-
Rolle bei der Gesundheitsvorsorge im südlichen Afrika spielen können. tät des kommunikativen Prozesses.
Mein Einwand ist, dass die kommerziellen Techniken, die für das Marke- In der Praxis gab ich den Studierenden eine duale pädagogische Strate-
ting genutzt werden, nicht nur die Produkte verkaufen, sondern auch eine gie mit auf den Weg. Ich forderte sie auf, Skripte zu schreiben, die den Vor-
weit umfassendere Ideologie des Konsums, des Fetischismus von Annehm- gaben entsprachen. Gleichzeitig gab ich ihnen die Möglichkeit, den ganzen
lichkeiten und des Glamours des „American Way of Life“. Streng genommen von PSI gesteuerten Kommunikationsprozess in einem Essay zu evaluieren,
ist das Prinzip hinter der Konsumentenstrategie von PSI die Aktualisierung so dass sie die Prozedur im größeren Zusammenhang entwicklungsorien-
der alten kolonialen Ideologie der Verwestlichung und Modernisierung, an- tierter Kommunikation kritisieren konnten. Am Ende des Prozesses nahm
gepasst an die globalen Bedingungen des 21. Jahrhunderts. PSI drei Skripte für eine mögliche Verfilmung an: Einer wurde inzwischen
Der Hauptgrund, warum wir das Angebot von PSI angenommen ha- verfilmt, und der Autor erhielt ein Angebot für eine Ausbildung und mög-
ben, mit ihnen bei den im Dorf erarbeiteten Video-Skripts zu kooperieren, liche Anstellung. Gleichzeitig schrieben die meisten Studierenden kritische
war die Möglichkeit für die Studierenden meiner Videoklasse, semi-pro- Zusammenfassungen über die ganze Methodik, die von Enthusiasmus bis
fessionelle Erfahrungen in diesem Handwerk zu machen. Sie sollten die Be- zu schärfster Kritik reichten.
geisterung und die Frustration bei der Arbeit in der ‚wirklichen Welt‘ der Meine beißende Kritik am Kommunikationssystem von PSI mag man-
entwicklungsorientierten Kommunikation mitbekommen. Ich lehrte die chen so scheinen, als ob ich diesem Essay eine gänzlich pessimistische Rich-
Studierenden einige Ideale partizipatorischer Kommunikation im Rahmen tung gäbe, die den Triumph des globalen Kapitals beschreibt, wie er sich im
eines sich wandelnden sozialen Kontextes. Gleichzeitig ließ ich sie selbst da- Kommunikationsprozess der Entwicklungshilfe spiegelt. Solch eine Analy-
rauf kommen, dass in der Praxis die meiste entwicklungsorientierte Kom- se sähe die afrikanische Wissensproduktion zwischen zwei Polen – einem
munikation von moralischen und ideologischen Widersprüchen durchsetzt elitären, rationalen Diskurs eines kampfbereiten akademischen Zirkels auf
war, die einer intensiven Auseinandersetzung im Kontext bestehender The- der einen Seite und einer subalternen Kultur, die auf den Diskurs eines re-
orien und der jeweiligen Praxis bedurfte. aktiven, beschränkten und symbolischen Atavismus reduziert wird, auf der
Die Studierenden erlebten den Realitätsschock, als der Videodirektor anderen Seite. Alle Möglichkeiten dazwischen wären besetzt von den pro-
von PSI in die Klasse kam und kurze Aufträge für die Filmskripte, die in fessionellen Kommunikatoren Westlich finanzierter NGOs, die letztlich
den lokalen Sprachen verfasst sein sollten, vorstellte, darunter fein ausgear- eine Art neokolonialer, epistemischer Eroberung festschreiben.
beitete Details zu den Botschaften, die in die Drama-Skripte einzubauen Dies ist nicht meine Absicht. Ich glaube, dass in akademischen Institu-
waren. Der stark strukturierte und autoritäre Charakter dieses Prozesses lief tionen, in lokalen, kommunal verwurzelten Organisationen und selbst in
der auf Zusammenarbeit ausgerichteten und frei fließenden Kreativität, manchen Westlich finanzierten NGOs viele nützliche Schritte unternom-

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men wurden, die Kluft zwischen akademischer, diskursiver Rationalität und sen in der Gemeinde als Ausgangspunkt nutzen. Wir beschlossen, mit einer
einem Diskurs verschlossener Metaphorik zu überwinden. Außerdem glau- lokalen, auf Gesundheitsthemen spezialisierten Theatergruppe zusammen-
be ich, dass trotz aller Verleumdungsversuche kolonialer und neokolonialer zuarbeiten, dem Tukumbusyane Travelling Theatre, und nutzten die beschei-
Kommunikatoren die Darstellenden Künste ein wirkungsvolles Medium dene Herberge nahe der Klinik in Lungwena als Basis. Dies war eine gute
für Bewusstseinsbildung geblieben sind. Selbst bei der instrumentellen Va- Entscheidung, denn die fünfköpfige Theatergruppe (drei Männer und zwei
riante des TfD erlauben die finanzierenden Personen und Organisator/inn/ Frauen) lebten in verschiedenen Dörfern der Gemeinde und waren mit der
en manchmal Freiräume, in denen partizipatorische Performance eine dia- Sprache und der Kultur der Gegend sehr vertraut. Die Gruppe gehörte so-
logische Kommunikation zu erzeugen vermag – mit dem Potential für die zial der Unterschicht an. Nur der Leiter (Stanford Chisale) hatte einen
Produktion von Wissen, Innovation und Selbstkritik. Ich möchte kurz mein Schulabschluss und eine feste Arbeit, die anderen waren Fischer oder Klein-
zweites Beispiel vorstellen, einen Prozess, an dem ich beteiligt war. händler.
Das Projekt ist ein langfristiger, multidisziplinärer, von Norwegen fi- Vom 17. bis 22. November besuchte das Team die acht Dörfer, die von
nanzierter Versuch, die Gesundheitsprobleme einer Gemeinde gründlich zu Tukumbusyane als Aufführungsorte ausgesucht worden waren, wo es eini-
analysieren, um diese in die Lage zu versetzen, ihre Gesundheits- und Er- ge vorbereitende Untersuchungen zu den Themen vornahm, die die Ge-
nährungssituation zu verbessern. Die Gemeinde heißt Lungwena und liegt sundheitslage in der Gemeinde beinträchtigten. Außerdem arbeiteten wir in
in einer armen, sozial und ökonomisch unterentwickelten Gegend am Ost- dieser Phase mit Tukumbusyane an einem interaktiven Theaterstück mit
ufer des Malawi-Sees, nahe der Grenze zu Mosambik. Das Projekt ist inter- dem Titel „Lingongochichi?“ („Was sind die Gründe?“), das diese Themen
disziplinär und umfasst die fünf einzelnen Institute der Universität von Ma- behandelte. Viel Zeit wurde auf die Frage verwendet, wie das Stück plum-
lawi, wobei das Institut für Medizin die Koordination übernommen hat. pe Didaktik ermeiden könne, um auch ein Feedback des Publikums zu er-
Die verschiedenen Institutionen haben mit einer Vielzahl von Einrichtun- halten und damit eine Untersuchung der Meinungen und Praktiken zu
gen und umfangreichem Wissen zu diesem Projekt beigetragen. Mein eige- wichtigen Gesundheitsfragen zu ermöglichen. „Ligongochichi?“ wurde zu-
nes, das Institut für die Künste und Wissenschaften am Chancellor Col- nächst durch Improvisationen in ChiChewa (was ich verstehen konnte) ent-
lege, ist verantwortlich für das Wissen und die Praxis, aber ebenso dafür, wickelt und anschließend ins ChiYao übersetzt (das ich nicht verstand).
eine qualifizierte Forschung und die Weitergabe von Information in allen Das Stück benutzte lokale Techniken partizipatorischer Erzählweise für die
Bereichen zu ermöglichen, vor allem durch die Techniken des Forumthea- Darstellung von Eheproblemen zweier Paare (die beiden Familien waren
ters. durch Heirat verbunden). Oberflächlich betrachtet handelte es sich bei den
Der Hauptgrund, warum ich am Lungwena Projekt beteiligt sein woll- Konflikten um Polygynie in der einen und um chronische Erkrankungen
te, war, dass es im Unterschied zu PSI (das von der Notwendigkeit ausgeht, der Kinder in der anderen Familie. Dahinter lag jedoch eine ganze Reihe
eine Botschaft zu vermitteln) mit dem Bedürfnis der Gemeinde beginnt, komplexer Probleme, die mit Ansichten, Kultur und mit der wirtschaftlichen
sich seines eigenen Wissens und seiner eigenen Methoden bezüglich Ge- Situation zusammenhingen und die dazu tendierten, sich in geschlechtsspe-
sundheit, Hygiene und Ernährung bewusst zu werden. Erst dann soll die zifischen Konflikten niederzuschlagen, aber oftmals noch tiefere Ursachen
Gemeinde mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Universität hatten. Im Stück gab es zahlreiche Stellen, die sich für das Eingreifen des
in Kontakt treten, um zusammen Methoden zur besseren Gesundheitsver- Publikums eigneten. Diese sollten die Zuschauer und Zuschauerinnen er-
sorgung im Sinn einer bestmöglichen Teilhabe zu entwickeln. mutigen, bis zu den noch breiter angelegten Diskussionen nach Ende der
In unserem Skript-Entwicklungsprozess gingen Syned Muthathiwa, ein Aufführung auszuharren, wo die tieferen Probleme analysiert werden konn-
Yao-sprechender Student und ich vom 17. November bis 1. Dezember 1993 ten.
auf Feldforschung nach Lungwena. Das Kommunikationssystem, das wir Am 23. und 24. November trat die Gruppe in vier Dörfern auf. Nach
entwickelten, sollte die bestehenden Fertigkeiten und das bestehende Wis- einigen Anfangsproblemen (im Dorf Mtumbula) entwickelte die Gruppe

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schnell eine Technik, die dem Publikum das Vertrauen gab, die Themen des Die Organisatoren und Organisatorinnen des Forschungsprogrammes,
Stückes sehr frei zu diskutieren. Vom 25. bis 27. November führten wir die einige der Schauspieler/innen sahen, waren gleichermaßen beeindruckt
eine Evaluierung der ersten Aufführungen durch und nahmen substantielle von der Qualität der Untersuchungen zu zentralen Fragen und stimmten
Änderungen des Stückes vor, die sich an den Ergebnissen der Diskussionen zu, dass ähnliche Techniken eingesetzt werden sollten, wenn das Projekt in
des Forums orientierten. Am 29. und 30. November führte die Gruppe die die Phase eintritt, wo es die Untersuchungen mit Prozessen verknüpft, bei
neue Version des Stückes in vier weiteren Dörfern auf, und am 1. Dezem- denen unter der Führung der Gemeinde Gesundheitstrategien entwickelt
ber gab es eine Evaluierung mit zwei Akteuren, Mitgliedern des Tukumbu- und umgesetzt werden.
syane Travelling Theatre, und einem der Dorfvorsteher, der auch Mitglied
des Gesundheitskommittees der Gemeinde war.
Abgesehen von einigen logistischen Problemen (aufgrund von Überfül- Zusammenfassung
lung) waren alle, einschließlich ich selbst, sehr angetan von dem hohen Maß
an Partizipation von Seiten der Gemeinde. Vor allem in drei Dörfern gab es Angesichts meiner oben geäußerten theoretischen Ausführungen brauche
einige sehr offene und tiefgehende Auseinandersetzungen im Publikum ich wohl kaum näher auf die Gründe eingehen, warum ich dem Kommu-
und zwischen Publikum und Schauspielern und Schauspielerinnen (die nikationsprozess von Lungwena mehr Enthusiasmus als dem von PSI ent-
manchmal in ihrer Rolle ‚steckten‘ und manchmal aus ihrer Rolle heraus- gegenbringe. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass dies nicht an einer
traten). Die undidaktisch offene Art der Partizipation, zu der die Gruppe maschinenstürmerischen Ablehnung elektronisch übermittelter Kommuni-
ermutigte, brachte einige ungewöhnlich offene Wortwechsel zwischen kationsformen liegt. Absolut nicht. Ich war häufig an entwicklungsorien-
Männern und Frauen zum Thema Gesundheit und Sexualität hervor. Die tierten Radio- und Videoarbeiten beteiligt, die Bildung und Unterhaltung
Diskussionen waren sehr genderorientiert, wobei die Männer zu ‚traditio- mischten. Aber in der Tat bin ich der Meinung, dass solche Formen Teil ei-
nellen‘ Ansichten tendierten (z. B. zu Polygynie, früher Heirat und gegen ner breiteren Kommunikationsstrategie sein müssen, die ein direktes Feed-
Geburtenkontrolle), während die Frauen eher ‚progressivere‘ Ansichten äu- back der Gemeinde erlaubt – in einem Kontext, der die Menschen ermutigt,
ßerten (für Monogamie, späte Heirat und Geburtenkontrolle). Manchmal sich wohl und durch den Prozess gestärkt zu fühlen.
jedoch gelang es den Stücken, stereotype geschlechtsspezifische Zuweisun- Das Lungwena Projekt gibt einen Anhaltspunkt dafür, wie es selbst in
gen in Frage zu stellen und Geschlechterfragen zu umfassenderen sozio- einem NGO-Projekt möglich ist, Theater als Stimulus für einen Dialog zu
ökonomischen Problemen in Beziehung zu setzen. In Taliya zum Beispiel nutzen, der weit über die eng umrissenen Themen hinausgeht, die mit der
warf ein älterer Mann während einer Diskussion über das niedrige Heirats- finanzierenden Institution assoziiert werden. Wenn einmal offene, demo-
alter den jüngeren Männern vor, ‚Traditionen‘ zu verfälschen. Er behaupte- kratische und dialogische Prozesse in einem kulturellen Rahmen, der von
te, dass die frühe Heirat eine sehr spät eingeführte ‚Tradition‘ und mit wirt- der Gemeinde befürwortet wird, eingeführt worden sind, besteht die Mög-
schaftlichen Problemen verbunden sei, die Männer dazu ermutige, sich lichkeit, dass die Diskussionen über Aspekte wie Gesundheit, Ernährung
vorzeitig der Verantwortung für ihre Töchter zu entziehen. Sein Beitrag wur- und Hygiene hinausgehen und in tiefere Schichten wie Gender, Klassenbe-
de von den Frauen mit heftigem Applaus bedacht. Der anschließende Dia- ziehungen und globale Kräfteverhältnisse dringen.
log führte zu mündlichen Konzeptualisierungen, die dem Verständnis der Dies wird natürlich nicht dazu führen, dass arme, marginalisierte Ge-
„Erfindung von Tradition“, so wie sie Terence Ranger und Eric Hobsbawm meinden wie Lungwena Institutionen wie den Internationalen Währungs-
bekannt gemacht haben, verblüffend ähnelte. Im Dorf Mponde war die fonds oder die Welthandelsorganisation herausfordern. Allerdings könnten
Diskussion extrem hitzig, die Erregung buchstäblich greifbar bei Themen, ländliche Gemeinden wie eben Lungwena in der Lage sein, ihre Institu-
die so wichtig für das Überleben der Gemeinde waren und in einer gleichbe- tionen (wie z. B. Dorfentwicklungskommittees, Gesundheitskommittees
rechtigten und unvoreingenommenen Atmosphäre diskutiert wurden. und ‚traditionelle‘ oder ‚neo-traditionelle‘ Theatergruppen) dazu zu nutzen,

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komplexe Themen zu diskutieren, die die Wurzel ihrer Armut und Margi- Emman Frank Idoko
nalisierung sind. Der Traum, Theater für Zwecke der Bewusstseinsschär- Theatre for Development, Rollenspiel und
fung zu nutzen, kann überleben, vorausgesetzt solche ländlichen Ausprä- Strategien der Gefängnisreformation
gungen eines TfD werden mit anderen Formen der Vernetzung und der
Wissensproduktion gekoppelt. Diese können die Form des akademischen
Travelling Theatre annehmen, ausgerichtet auf Bewusstseinsbildung, oder Emman Frank Idoko wurde in Jos, Nigeria, geboren und führte meh-
von vermittelten Kommunikationsformen, die auf Entwicklung in einer rere Theaterprojekte in nigerianischen und deutschen Gefängnissen
ganzheitlichen, nicht-instrumentellen Weise, abzielen. durch. Er gehört zu den einflussreichsten Kennern des Theatre for
Die Hoffnung, die Darstellenden Künste für afrikanische Wissenspro- Development (TfD). Idoko erhielt – auf Initiative von Eckhard Brei-
duktion und -verbreitung im Kontext globaler Ausbeutung einzusetzen, ist tinger – verschiedene Stipendien (DAAD, Humboldt), die ihn immer
deshalb vielleicht nicht gar so abwegig. Es erfordert eine allmähliche Eman- wieder nach Deutschland brachten. Hier arbeitete er an seiner Disser-
zipation afrikanischer Gesellschaften davon, Objekte der Politik und der tation, die er über das Theatre for Development geschrieben hat, so-
Kommunikationsstrategien anderer Kulturen zu sein, um schließlich selbst wie an seinem jüngsten Forschungsprojekt, in dem er Ideen und
Verantwortung für eigene Angelegenheiten übernehmen zu können. Es Strategien der Konfliktlösung im Gefängnistheater in Nigeria und in
wäre nicht die sofortige revolutionäre Lösung, auf die manche von uns in Deutschland vergleichend betrachtet. Seit 1991 lehrt Idoko an der
den 1970er Jahren fälschlicherweise gehofft hatten. Es wäre Teil eines lang- University of Maiduguri. Neben seiner wissenschaftlichen Beschäf-
wierigen, schwierigen Prozesses, der die Zusammenarbeit mit bekannten, tigung mit dem TfD und anderen Theaterproduktionen zur Konflikt-
globalen, aber alternativen Institutionen (z. B. dem Weltsozialforum) zur lösung gehört er selbst zu Nigerias wichtigsten Vertretern des TfD.
Unterstützung der langfristigen Revolution erfordert, die nötig ist, um Afri- Wiederholt hat er Theaterworkshops und Theaterprojekte, vor allem
ka (und den Rest der Welt) vor den Kräften des globalen Imperialismus zu auch in Gefängnissen in Lagos und Berlin, geleitet.
retten, der sie zu zerstören droht. Adama Ulrich

Aus dem Englischen übersetzt von Martin Rohmer


Einleitung

Ich wurde gebeten, etwas zu dieser Essaysammlung beizutragen, die Eck-


hard Breitinger anlässlich seines 65. Geburtstages gewidmet ist. Aufgrund
seines internationalen Ranges als Akademiker und Förderer der afrikani-
schen Wertesysteme ist dies für mich eine große Ehre. Da er so viele afri-
kanische Stipendiaten und Stipendiatinnen bei ihrer wissenschaftlichen
Arbeit unterstützt hat und es immer noch tut, wird er auch liebevoll „Ba-
ba Afrika“ [Vater Afrika] genannt. Mein Beitrag für die Festschrift zu Eh-
ren dieser liebenswürdigen, friedlichen und liebenswerten Persönlichkeit
korrespondiert mit Eckhard Breitingers Interesse für Angelegenheiten afri-
kanischer Gesellschaften und insbesondere für das Zusammenspiel von kul-
tureller Produktion und Konfliktlösung. Ich möchte hier über Kultur nach-
denken und ihre Bedeutung für die Konfliktlösung in Gefängnistheatern
herausarbeiten.
202 203
Letzte Zeile bitte einbringen!!
Kultur und die Produktion von Kultur sind in dem gegenwärtigen glo- schon lange Zeit intensiv beschäftigt hatte. In Afrika dreht es sich darum,
balen Prozess ambivalent und konfliktgeladen. Ihre dem Tode geweihten den Konflikt der Konvergenzgebiete zu erkennen, die zwischen lokalen
Gesichter der Morbidiät stehen ihrer gesunden, kreativen Dialektik gegen- Kulturen, Theaterpraxis, dem geeigneten Umgang mit dem kolonialen Erbe
über. Wird die Kultur von den Schwierigkeiten und Verwicklungen des re- und einer angemessenen Problemlösungsmethode bestehen.
alen Lebens losgelöst, so offenbart sich ihre Morbidität. Letzteres bedeutet Die Paradoxe waren: Wie würden wir kulturelle Produktion als Strate-
eine starke Demoralisierung auf dem Gebiet der Kultur, die potentiell dy- gie für Konfliktmediation diskutieren, während die strukturelle und mate-
namisch ist. Wenn die Schwierigkeiten und Verwicklungen den kulturellen rielle Spaltung der Gemeinden, um die es geht, beständig voran schreitet?
Produktionen entzogen werden, ist das Ergebnis Propaganda, reines Spek- Wie können wir Strategien für die kulturelle Produktion von Konflikt-
takel. Kultur, in dieser oberflächlichen Betrachtung, wird ein bequemes mediation diskutieren, wenn wir uns in großem Abstand von der Heimstatt
Feld, in dem sich verschiedene Interessen plötzlich im Namen angenomme- des kulturellen Raums befinden? Wie können wir die Effektivität dieses
ner logischer Ganzheiten vereinen, die leider die Ausbeutung verstärken verordneten Weges ins Theatergenre garantieren, wie eine aktive Partizipa-
und existierende soziale Ungleichheiten verschleiern. Daher sind, von wel- tion gewährleisten? Wie können wir eine verordnungsfreie Entwicklung für
cher Seite aus man es auch betrachtet, ‚traditionelle‘ Kulturen und ihre In- die Schaffung kultureller Produktionen für eine Therapie garantieren, und
tegration, um die Gegenwart zu befriedigen, ein interessantes Phänomen. wie funktioniert das TfD Rollenspiel in einer gefängnistherapeutischen Si-
Das ist so, weil, gleich ob sich ‚traditionelle‘ Kulturen und entwickelte Tech- tuation?
nologien treffen oder einen Gegensatz bilden, erstere kompromittiert wird
und weder die Hoffnung zu überleben hat noch den Raum, um sich in sei-
ner Einmaligkeit zu entfalten. Die ganze Frage der kulturellen Produktion Theatre for Development im Gefängnis1
zur Konfliktlösung ist daher in ein Paradox verstrickt.
Es ist dieses Paradox, mit dem sich die Konferenz im November 1999 in Entwicklung, die aus der Theaterpraxis hervorgeht, dreht sich um das Ver-
Bayreuth beschäftigt hat und das man auch auf den Handlungsprozess in hältnis des einzelnen Teilnehmers zu der Gruppe, in der er auftritt, und der
einem Gefängnis erweitern kann. Damals hatte sich eine Gruppe von The- Gesellschaft, in der er lebt oder leben wird, wenn er das Gefängnis verlässt.
aterleuten aus Europa, Amerika, Asien und Afrika versammelt, um über In dieser Komplexität macht die Rolle, die der Teilnehmer spielt, wie er sie
„Kulturelle Produktionen und Strategien der Konfliktmediation“ nachzu- spielt, mit wem er spielt und was von ihm nach Beendigung der Übung er-
denken. Auf dieser Konferenz begegnete ich zum ersten Mal Eckhard Brei- wartet wird, das Wesentliche der Therapie aus. Generell werden im Rollen-
tinger. Er war der Gastgeber und hatte mir geholfen, ein sechsmonatiges spiel angenommene Rollen dargestellt, die normalerweise nicht die eigenen
Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zu sind. In einer Theaterproduktion werden sie gebraucht, um hervorstechen-
bekommen. de Aspekte/Auffälligkeiten in der gespielten Rolle zu erklären und heraus-
Die Teilnehmer/innen der Konferenz sprachen über verschiedene For- zustellen, wie sie sich zum kreativen Prozess als Ganzes verhalten. Manch-
men der Konfliktmediation, mit denen sie in Südafrika, Westafrika und mal spielt sich der Darsteller selbst, um sein Selbst in der dramatischen
Europa gearbeitet haben, sowie über ihre Methoden, Erfolge, Fehler und Produktion zu erklären. Das hat den Vorteil, dass sich so Aspekte offenba-
potenziellen Probleme auf dem Gebiet des Theatre for Development. Es ren, die für therapeutische Zwecke relevant sind. Wenn irgendein Aspekt
wurde versucht, die Arbeit der Kulturaktivisten und -aktivistinnen voranzu- dieser Rolle aufgegriffen wird, so ist dies auch für die gesamte Persönlich-
treiben, die sich seit Jahren mit ‚Grassroots-Projekten‘ befassen. Wenig be- keit relevant. Der Klient nutzt in einer therapeutischen Situation die Rolle,
achtet von den Medien erzielen diese Projekte wichtige lokale Erfolge und um sich selbst zu lenken, in dem er zuerst den Leitfaden verinnerlicht und
lokale Akzeptanz. Für mich war es eine denkwürdige Erfahrung, vor einem daraus schließlich den Weg entdeckt, sich selbst zu lenken.
internationalen Forum über ein Thema sprechen zu können, das mich Daher sollte der Klient gewillt sein, der spirituellen Suche nach Bedeu-

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tung, die über unseren Verstand hinausgeht, auf unbekanntem Terrain ins Prozess, die Abneigung, die der Klient gegenüber der Gesellschaft – die er
Auge zu schauen. Rollenspiel ist daher eine riskante Reise. Doch am Ende als sein Problem betrachtet – hat, abzuschütteln. Der Therapeut muss da-
erreicht man den gewünschten Effekt, gleich ob komisch oder tragisch. Die rum die Gesellschaft, in die sein Klient entlassen werden soll, besonders gut
Rolle, die der Darsteller einnimmt, ist im Allgemeinen durch die Ästhetik verstehen, und er muss die Schwierigkeiten in ihr erkennen, damit seine Ar-
oraler Performances geprägt. Sie ist ein sehr wichtiger Teil der Charakterbil- beit erfolgreich sein kann. Welche Rolle entsteht, nachdem die therapeuti-
dung, besonders während der Aktivitäten, die zur Rehabilitierung beitragen sche Arbeit getan ist?
sollen. Die Rolle ist daher ein dynamischer Prozess, in dem eine Rolle die Die nigerianische Gesellschaft, in der ich arbeite, ist vielsprachig und
andere in den Hintergrund drängt. Rollen entwickeln sich über vier ver- kulturell vielfältig. Die Frage nach dem Status des individuellen kulturellen
schiedene Stadien hinweg als Fiktion, die die Geschichte ausmacht. Sie wird Hintergrunds ist unglaublich wichtig. Daher muss jede Rolle, die eine Per-
vom Anfang bis zum Ende verfolgt – umspannt den gesamten kreativen son als vermutlich akzeptabel ansieht, dialektisch analysiert werden, um
Prozess bis zur dramaturgischen Auflösung und folgt der Hoffnung auf ei- ihre kulturelle Basis nicht herabzusetzen. Wenn die Heilung erfolgreich sein
nen neu geformten Charakter, der frei von seinen früheren Neigungen ist, soll, ist eine kulturelle Verhandlung erforderlich, oder die geheilte Person
die das Theaterstück überhaupt erst notwendig gemacht haben. kann das Abbild eines anderen Selbst werden, wobei ihr eigentliches Selbst
Am Anfang verkörpert der Darsteller sich selbst, indem er seinen eigenen darunter verborgen bleibt. Das würde bedeuten, dass die Behandlung einer-
Charakter zum Ausdruck bringt. Dadurch kann er verstehen, warum er in- seits ein Misserfolg war und andererseits ein Erfolg des Bestehenden.
haftiert wurde. Indem er diese Rolle spielt, kann er die Dinge, die sein Prob- Daher bewegt sich der Schauspieler in seine Rollen hinein und auch
lem ausmachen, rational überprüfen. Das geschieht natürlich mit Hilfe des wieder hinaus, um die Intention des Prozesses darzustellen. Für jede Bewe-
Therapeuten, der den Darsteller lenkt und ihn unterstützt, damit er das Po- gung in einer spezifischen Rolle gibt es den Versuch, die Komplexität der
tential der intellektuellen Leistung erkennt. Im nächsten Schritt spielt oder Rolle, ihr Verhältnis zu anderen Rollen und ihre geistige Fortbewegung
imitiert der Darsteller eine andere Figur in der Geschichte. Das hilft ihm vom fiktiven Drama ins richtige Leben, in dem die Rolle funktionieren soll,
Ähnlichkeiten zwischen dem Problem in der Rolle, die er spielt, und einem intellektuell zu verstehen. Das würde ihm ermöglichen, das Wesentliche der
Problem eines der anderen Mitwirkenden des therapeutischen Experiments Rolle zu verstehen und zu bestimmen, ob sie zu seiner Situation passt. Im
zu erkennen. Die Analyse der Rolle im Drama im Vergleich zu seiner wahr- Prozess der Inszenierung existiert dann eine Beziehung zwischen den ver-
scheinlichen Rolle im wirklichen Leben nach dem Gefängnis wird ihm und schiedenen Rollen, in denen der Schauspieler agiert. Das ist einmal seine
dem anderen Mitwirkenden helfen. Wegen der Schwierigkeiten, die in Rol- Rolle als Individuum in der Gesellschaft, zudem seine Rolle als Individuum
lenspiel und Therapie liegen, muss der Therapeut sicher gehen, dass der im Gefängnis sowie die Rolle, die er im Drama spielt. Um seine Rolle im
Klient tatsächlich aus seiner Selbstdarstellung in die Rolle, die er spielt, hi- Drama spielen zu können, muss er zuerst zwischen den einzelnen Rollen
neinschlüpft, um zu verhindern, dass er von sich selbst ablenkt. Der Prozess unterscheiden können, so dass er leicht aus einer ‚herausschlüpfen‘ kann,
des ‚aus der Rolle Schlüpfens‘ soll den Wechsel von der Realität der Imagina- während er eine andere spielt. Das soll nicht zu einer völligen Loslösung
tion zur Realität des Alltäglichen und damit die Reflexion erleichtern. führen, sondern so ablaufen, dass es leicht möglich ist, sich zu den anderen
Die Rolle, die der Darsteller einnehmen soll, oder das Bild oder die Rol- Rollen, die dann mehr im Hintergrund sind, in Beziehung zu setzen. Die
le, die der Schauspieler einzunehmen beabsichtigt, wird üblicherweise, auf Bewegung von einer Rolle in die andere lassen ihn seine neue Position und
der Grundlage eines Konglomerats akzeptierter Verhaltensmuster, der Ge- die ‚neuen Werte‘, die er erarbeitet hat, dialektisch betrachten. Es besteht
sellschaft entnommen. Die ‚neuen‘ Muster sollten immer in Verbindung mit die Hoffnung, dass er sie in sein wahres Selbst integriert. Ohne diese Mobi-
dem Klienten stehen, mit dem Schauspieler, der einige Muster akzeptiert, lität besteht die Möglichkeit, die unterschiedlichen Werte durcheinander zu
andere ablehnt, hinterfragt und die unerwünschten zusammen mit dem bringen und den Prozess der Konfliktlösung zu komplizieren. Der Schau-
Therapeuten, der als Katalysator dient, identifiziert. Es ist ein allmählicher spieler oder Klient ist daher dazu angehalten, im Prozess des Dramas eine

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Reihe von Rollen in sich selbst zu formen. Wie Renee Emunah (die Begrün- Methodik
derin des Drama-Therapie-Programms am Institut für Integrative Studien
in Kalifornien; sie hat jahrelang mit emotional gestörten Jugendlichen gear- Nach zahlreichen Experimenten enfaltete sich diese Methode, die sich dem
beitet) ausgeführt hat, ist dramatische Heilung sichtbar. Obwohl die Klien- Rollenspiel vom Individuum zum Kollektiv annähert. Sie sollte mit einer
ten Rollen spielen, erfordert dies Bewegung in und aus Rollen heraus, und allgemeinen Diskussion, mit Zutrauen und Vertrauensbildung beginnen. In
zwar mit einer wichtigen und nachvollziehbaren Konstruktion von Abläu- diesem Stadium würden dann private Diskussionen zwischen dem Gefan-
fen, die für Handlungen draußen in der Gesellschaft von Bedeutung sind. genen und dem Projektmitarbeiter folgen. Das soll dem Darsteller Zutrau-
Wenn es um ‚Rollenspiel‘ geht, ist es interessant, inwieweit ‚Tradition‘ die- en und Vertrauen in die ganze Übung geben. Die Sondierung beginnt da-
se beeinflusst. Besonders, wenn von Therapie und Wahrnehmungswechsel mit, dass der Klient seine Lebensgeschichte erzählt und dabei Bezüge zu
erwartet wird, dass sie sich um kulturelle Hintergründe drehen. seinem Lebensstil und dessen Verbindung zu seinem Problem herstellt.
Betrachtet man die Invasion der kulturellen Zwänge eines Nigerianers Das nächste Stadium würde die Diskussion mit der Gruppe beinhalten,
oder einer Nigerianerin, und das doppelte oder dreifache kulturelle Erbe, die sich auf den allgemeinen Prozess ihrer Inhaftierung, ihre Probleme und
dem er oder sie ausgesetzt ist, was bestimmt da die Grundlage eines funk- darauf konzentriert, was sie dabei fühlen. Durch die Vertrauensbildung des
tionalen Theaters für Entwicklungstherapie? Das würde auch das kulturelle ersten Stadiums lässt er seine innersten Gefühle zu diesem Thema heraus,
Erbe der als Katalysator fungierenden Theatermacher/innen miteinbezie- während das Zutrauen zu den Gruppenmitgliedern und dem Therapeuten/
hen, die im Behandlungsprozess vermitteln. Wo beginnt er oder sie den Pro- Projektmitarbeiter größer wird. Darauf folgen Übung und Spiel. Das ist
zess und welches Erbe hat den Vorrang in diesem Behandlungsprozess? Die wichtig, weil durch das Spiel menschliche Anteilnahme entsteht, die ein we-
Jahre der Pubertät sind zum Beispiel eine Zeit, in der kritische Fragen wie sentlicher Bestandteil für die Wiedererlangung der Menschlichkeit ist, von
Diskriminierung, Vorurteile und kulturelle Unterschiede angesprochen der das Individuum/der Klient glaubt, dass sie ihm genommen wurde. Psy-
werden können, weil sich die Jugendlichen oft als eine ‚Kultur‘ jenseits vom chologisch gesehen schafft das Spiel ein Gefühl der Akzeptanz und die
Mainstream sehen. Theater, das sich mit Themen beschäftigt, die kulturel- Möglichkeit, mit anderen Gefangenen Kontakt zu haben.
le Unterschiede, ‚Rasse‘, Geschlecht oder Klasse aufgreifen, würden im Ge- Die Einzelnen beginnen, ohne Zwang, ihre Geschichte zu erzählen.
gensatz dazu junge Leute in sehr beeindruckender Weise beeinflussen. Dann fängt die Improvisationsarbeit an, bei der ihre Geschichten als Inhal-
Wenn man Theater mit jungen Gefangenen macht, benötigt man einen te dienen. Jeder nimmt freiwillig daran teil und begibt sich in einen dialek-
Hinweis, um die funktionale Handlung zu identifizieren und eine Metho- tischen Prozess. Der Einzelne stellt seine Erfahrung in seiner eigenen Ge-
de zur Behandlung zu erarbeiten. Durch das Drama können die jungen schichte dar, während die anderen Teilnehmer andere Rollen spielen, die
Leute mit ein wenig Einfühlungsvermögen unterstützt werden, komplexe wiederum anderen Gruppenmitgliedern den Raum geben, der es ihnen er-
menschliche Zusammenhänge zu begreifen. Bezieht man sich auf Kinder laubt, seine Geschichte nachzuempfinden. Es werden verschiedene Fragen
im Spielprozess, ist es folglich wichtig, Geschichten, die den Kindern be- gestellt und diskutiert. Schwerpunkte sind zum Beispiel: Warum glaubt er,
kannt sind, als Ausgangspunkt zu wählen. er musste tun, was er getan hat? Was sieht er selbst als Ursache seines Prob-
Ebenso wichtig ist die Rolle, die sie als Grundlage für eine Korrektur lems an? Warum haben die anderen Mitwirkenden das getan, was sie in
oder Veränderung der Wahrnehmung nutzen sollen. Das sollten vertraute dem Sketch getan haben? Es ist egal, ob die Handlung desjenigen, dessen
Rollenmodelle sein bzw. Handlungen des fiktiven Charakters, die bekannt Geschichte dargestellt wurde, gerechtfertigt ist oder ob die Rollen, die die
und verständlich sind. Sonst wäre der Prozess reine Zeitverschwendung. anderen gespielt haben, gerechtfertigt sind. Diese Rollen sollen ja im Kon-
Die Frage, wer das Rollenmodell bestimmt, das als ‚neues‘ und ‚akzeptier- text der wirklichen Welt, in der sie spielen, liegen – also im Kontext des Kri-
tes‘ Lebensmuster dienen wird, ist eine gänzlich andere Frage. Will man all minalrechtssystems, der Gesellschaft, aus der sie kommen, und des Verge-
dies berücksichtigen, so ist eine funktionale Methode erforderlich. hens und der Bestrafung, die ihrem Urteilsspruch folgen. Jede Person hat

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die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen und sie zu spielen. Das soll kommt als nächstes. Es ist diese zunehmende Aktivität, die einen Sinn von
auch andere ansprechen, falls es Teilnehmer gibt, die ihre Gefühle verber- Befreiung und Erfüllung bringt. Nach der Aufführung fühlt sich der Ge-
gen. So wie die Darstellung ihrer Geschichten voranschreitet, so verkleinert fangene von der Gesellschaft akzeptiert. Dieses Gefühl besteht nur vorüber-
sich der Grad des Misstrauens. Es wird für das nächste Stadium eine nütz- gehend, weil er in die Situation seiner Inhaftierung zurückfällt, wenn keine
liche Atmosphäre geschaffen, die darin besteht, bekannte Probleme, die je- Nachfolge- bzw. Postproduktionstherapie erfolgt. Sie dient dem Zweck der
den Teilnehmer betreffen, zu identifizieren. Erheiterung und Befriedigung. Dieses Gefühl der Verbundenheit, der Er-
füllung und Akzeptanz, das den Darsteller mit den anderen Darstellern ver-
bindet, die bei dem Prozess dabei waren, ist einmalig. Wenn er begleitet
Rollenspiel und die Gruppe vom Applaus auf die Bühne läuft, entsteht ein heiliges Gefühl, das wunder-
bar ist. Es ist dieses außergewöhnliche Gefühl des Erreichten, das die Krise
Den Gruppenmitgliedern wird die Möglichkeit gegeben, zur Diskussion hervorruft. Was geschieht danach? Es bleibt eine Leere zurück und die Fra-
beizutragen, indem sie ihre Gefühle über Probleme und allgemeine Themen ge ist, ob die Gefangenen die Leere und Unsicherheit nach der Aufführung
ausdrücken. Dadurch werden die Prioritäten schnell deutlich, die Zutrauen handhaben können und in der Lage sind, mit der Depression nach der Auf-
und Identifikation mit der Gruppe schaffen und durch die die übrigen Teil- führung umzugehen. Der Gefangene kehrt frustriert in sein düsteres Ge-
nehmer als Freunde und Familie angesehen werden. Diese emotionalen fängnisleben zurück und die gestörten Verbindungen zwischen ihm und
Elemente sind sehr wichtig, um eventuelle Gefühle der gesellschaftlichen seiner zeitweiligen Phantasiewelt, seiner Familie, seinen Lieben verblasst
Ablehnung und Missachtung beim Gefangenen vertreiben zu können. Der bald. Das verstärkt die Depression, der unbedingt Aufmerksamkeit ge-
Gefangene findet jetzt einen Raum gemeinsamer Emotionalität, in dem schenkt werden muss. Was ist zu tun? Die Aufführung sollte als ein Höhe-
Liebe ausgedrückt wird und in dem auch er Liebe ausdrücken kann. Zuerst punkt, aber nicht als das Finale gesehen werden.
kommt also menschliche Nähe und zweitens die Gefühle, die diese Nähe Ziel meines Aufsatzes war es, die Stärken und möglichen Strategien
durchdringen – eine Nähe der Akzeptanz und Anerkennung. Durch die beim Prozess des Theatermachens in einem Gefängnis zu analysieren und
Improvisationen und Diskussionen entsteht eine Handlung mit Szenarien, dabei das Rollenspiel des einzelnen Teilnehmers zum allgemeinen Anliegen
die dem Klienten eine adäquate Reflexion seiner Probleme ermöglicht. dieses Theateransatzes in Beziehung zu setzen. Der Text sollte auch hervor-
Die Strategie des Theatre for Development beruht stark auf der Metho- heben, dass ganz gleich welche Strategie im Theater erforderlich zu sein
de des Rollenspiels. Es ist charakteristisch, dass es zwei Ebenen des Rollen- scheint – und zwar unabhängig von seiner Gattungsgeschichte – letztlich
spielprozesses gibt – das Rollenspiel in der fiktiven Welt des Dramas und ei- aufgegriffen werden sollte, was den Interessen der Gefängnisinsassen dien-
nes in der realen Welt. In der fiktiven Welt repräsentiert es ein anderes lich ist. Wichtig ist, dass der Inhaftierte jede Anstrengung unternimmt, um
Selbst. Es wird von der Gruppe aus verschiedenen Gruppenerfahrungen zu- seine Energien in positive Richtungen zu lenken, damit er ‚neu geformt‘ wird
sammengestellt, die eine Charakterisierung vermittelt, die das Ziel hat, dem oder stabil bleibt, wenn er die Gefängnismauern hinter sich gelassen hat.
therapeutischen Muster zu dienen. Wenn sich das Individuum in einem Das würde den psychologisch sicheren Ausgangspunkt erkennen lassen,
Rollenspielprozess befindet, bezieht es sein Leben und sein inneres Selbst nach dem der Darsteller verlangt. Er will dazu in der Lage sein, die Rolle
auf eine dramatische Situation. In der Geschichte spielt er mehr das darzu- von einer bewussten Perspektive aus zu formulieren, damit das Rollenspiel
stellende Individuum als den fiktiven Charakter. Seine Fähigkeit, sein in- lehrreich ist und eine Grundlage seiner Bewusstseinsentwicklung bildet.
neres Selbst wirklich auszudrücken, hängt von der Atmosphäre ab, die der Das ist besser, als die Rolle zu spielen, sich darin einzufühlen und mit ihr
Therapeut geschaffen hat. eins zu werden (Stanislawski), was ihn der Möglichkeit der dialektischen
Die Aufführung, die meist den Mediator und die Inhaftierten einbe- und kulturellen Rollenerarbeitung berauben würde. In einer Therapiesitua-
zieht und manchmal auch Kriminalbeamte, Soziologen, Psychologen usw., tion muss der Gefangene daher die Bedeutung der Kunstfertigkeit, mit der

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er sich beschäftigt, erkennen, sie akzeptieren und als wesentlichen Bestand- um das Stigma des Lebens nach der Inhaftierung und um seine Gefühle,
teil des Behandlungsprozesses integrieren. Der einfachste Weg, um das zu die er gegenüber der Gesellschaft ‚draußen‘ hegte. Er war ziemlich enthusi-
erreichen, besteht darin, sich selbst und andere zu spielen. So kann er seine astisch, weil es ihm, wie er sagte, die Möglichkeit bot, nicht mehr an seine
Situation besser verstehen und möglicherweise alternative Verhaltensmuster Haftzeit denken zu müssen und trotzdem über seine missliche Situation zu
akzeptieren, wenn er schließlich in die Gesellschaft zurückkommt, nach- diskutieren. Er hatte die Gelegenheit zu lachen. Gegen Ende des Prozesses
dem er seine Strafe abgesessen hat. Auf dieser Grundlage basiert die Lösung ging ich fort. Zwei Monate später traf ich denselben Herrn auf der Straße.
des Konflikts. Wie hat dieser Ansatz oder diese Strategie funktioniert? Ist Er war einer religiösen Gruppe beigetreten und hatte durch sie Arbeit ge-
sie erfolgreich? Wo liegen die Potentiale für Problemlösungen? Diese Fra- funden. Er plante umzuziehen, um ein neues Leben zu beginnen. Dies
gen sind ernsthafte Angelegenheiten, doch der Therapeut muss sehr vor- heißt also, wenn eine Nachbehandlung unmittelbar folgt und sich eine ge-
sichtig damit umgehen, wenn er mit ihnen konfrontiert wird. lungene Rehabilitationsstruktur zeigt, hat der beschriebene Prozess ein sehr
Der Prozess sollte nicht so verstanden werden, wie eine Medikamenten- großes Potential zur Konfliktlösung. Er formt den Inhaftierten so, dass er
verabreichung einer Ärztin an Patient/inn/en, die dann nur ein oder zwei auf den Eintritt in die Gesellschaft außerhalb des Gefängnisses vorbereitet
Tage zu warten brauchen, bis sie sich besser fühlen. Es ist ein komplizierter ist und niemals wieder inhaftiert werden wird. Die Arbeiten, die ich getan
psychologischer Prozess, und der Therapeut würde vor Freude in die Luft habe, sowie die Hilfe und Unterstützung, die mir Eckhard Breitinger wäh-
springen, wenn einer seiner vielen Teilnehmer als ‚geheilt‘ angesehen werden rend meiner akademischen Laufbahn erwiesen hat, lassen mich sagen …
könnte. Nachdem der Theaterkünstler, der erfolgreich an den Einzelheiten ICH FEIERE DICH , BABA AFRIKA !!!!!!!!!!!!
der Bühnenproduktion mitgewirkt hat, das Gefängnis verlassen hat, ist auf-
grund seiner Außenseiterposition im Therapiesystem des Gefängnisses eine Aus dem Englischen übersetzt von Adama Ulrich
Folgebehandlung so gut wie nicht existent. Der gesamte Arbeitsprozess baut
maßgeblich auf dem Dialog auf. Dieses stärkste Mittel in jeder Entwick-
lungs- und Konfliktlösungssituation ist fast immer erfolgreich. Das Prob-
lem besteht in der Folgebehandlung. Die ganze Arbeit, mit der er sich abge-
plagt hat, die dem ehemaligen Täter aus seiner negativen Wahrnehmung
der Gesellschaft herausgeholfen und eine leichte Integration befördert hät-
ten, wird zerstört.
Eine andere starke Einschränkung ist das Geld. Nachdem der Insasse,
der am Theaterprojekt teilgenommen hat, die Gefängnismauern hinter sich
gelassen hat, existieren keine finanziellen Möglichkeiten, um ihn beim Auf-
bau einer neuen Existenzgrundlage zu unterstützen. Theoretisch gibt es eine
Rehabilitation von Ex-Gefangenen, praktisch funktioniert das aber in Ni-
geria nicht. Am Ende streunt er durch die Straßen, bekommt es mit der Po-
lizei zu tun oder gerät erneut in ausgereifte kriminelle Handlungen und
Strukturen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Zum Beispiel der Fall eines Ge-
fangenen, mit dem ich gearbeitet habe. Er ist inhaftiert worden, weil er Fir-
mengeld veruntreut hat, um einem Freund auszuhelfen. Dafür sollte er fünf
Jahre ins Gefängnis gehen. Während eines Prozesses konnte ich mit den An-
wesenden reden und sein Dilemma besprechen. Die Diskussion drehte sich

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Frowin Paul Nyoni Nyoni schreibt für Bühne und Film und inszeniert Theaterstücke,
Theatre for Development im Kampf gegen HIV/AIDS er ist Schauspieler und Lehrer. Im Jahre 1998 promovierte er an der
bei Oberschülerinnen in Tansania: Am Beispiel von TUSEME Universität Leeds zum Thema Conformity and Change: Tansanian
Rural Theatre and Sociopolitical Changes. Seine Ausbildung im Bereich
Theatre for Development hat Nyoni bei Penina Mlama und Amandina
Im September 2000 reisten wir – Student/innen verschiedener Fach- Lihamba erhalten. Er hat selbst rund 20 Jahre lang Erfahrungen ge-
bereiche der Humboldt-Universität zu Berlin – nach mehrmonatigen sammelt und aufgeschrieben, was ihn am meisten bewegte. Martin
intensiven Vorbereitungen zu unserer ersten Summer School nach Banhams A History of Theatre in Africa führt zwei seiner bekanntesten
Tansania. Thema dieses Seminars in Dar es-Salaam war Theatre for Stücke an: A Vigil at my Mother’s Bedsite und The Wedding of a Married
Development. Wir hatten uns das nötige theoretische Wissen ange- Graduate. Seine Forschungen und sein praktisches Interesse sind
eignet, die Veröffentlichungen von Paolo Freire ebenso studiert wie umfassend ausgerichtet auf Musik, afrikanisches Theater, Kinder-
die Arbeiten von und über Augusto Boal. In Tansania erwarteten uns und Jugendtheater sowie andere künstlerische Ausdrucksformen.
neue Impulse, neue ‚große Namen‘. Die seit sieben Jahren von Pro- Erdmute Greis-Behrendt/Marly Rieme
fessor Eckhard Breitinger organisierte und finanziell unterstützte
Summer School führte auch in Dar es-Salaam wieder viele zu und mit
Theatre for Development arbeitende Expert/inn/en – und in jenem Einführung
Jahr eben auch Student/innen der Universitäten Dar es-Salaam und
der Humboldt-Universität zu Berlin – zum Erfahrungsaustausch zu- Die für das Theatre for Development auch gebräuchliche Beschreibung
sammen. Organisator von tanzanischer Seite war Dr. Frowin Paul ‚Konfliktbewältigung durch kreative Arbeit‘ ist zum Hauptthema der von
Nyoni, seinerzeit Dozent und inzwischen Leiter des Fachbereichs Professor Eckhard Breitinger von der Universität Bayreuth an verschiede-
Bildende und Darstellende Kunst an der Universität Dar es-Salaam. nen Orten Afrikas und Europas veranstalteten Graduiertenseminare und
Nyoni, ein Theatermann von napoleonischer Statur, hatte für das Konferenzen geworden. Auf diesen Veranstaltungen trafen sich Kultur-
Treffen alle ihm zur Verfügung stehenden Truppen mobilisiert. Alles schaffende (vieler Bereiche) und Wissenschaftler/innen, tauschten Erfah-
lief wie am Schnürchen. Eventuell zu erwartende Hemmungen, ins rungen aus und übten konstruktive Kritik. Bisher fanden solche Treffen an
Gespräch zu kommen auf Grund von Gruppenbildungen in die,‚die den Universitäten in Bayreuth (Deutschland), Stellenbosch (Südafrika), an
sich kennen‘ und ‚die jeweils Anderen‘ oder eben auch in Schwarze der Moi Universität (Kenia), in Dar es-Salaam (Tansania) und am Chan-
und Weiße räumte er in den ersten Minuten der Tagung unterhalt- cellor College der Universität Malawi (Malawi) statt. Dominierendes The-
sam und damit äußerst wirkungsvoll beiseite – wir erlebten eine be- ma des Seminars in Dar es-Salaam (das der Verfasser dieses Textes zu koor-
währte ‚Aufwärmübung‘ für Theatre for Development-Workshops. dinieren half ) war, wie die Menschen in den Kommunen (auch „Stimmen
Mit dem auf allen Kontinenten bekannten Kinderspiel „Bäumchen, vom Rande“ genannt) Kultur für die Förderung des Dialogs innerhalb ihres
Bäumchen wechsel dich“ dauerte es nur wenige Augenblicke, bis sich Gemeinwesens nutzen, um unterschiedliche soziale, ökonomische und kul-
völlig neue Partnerschaften gebildet hatten. Nun war jeder und jede turelle Konflikte zu lösen. Die Wissenschaftler/innen tauschten Erfahrun-
sowohl Mittler/in als auch Vermittler/in zwischen denen, die sich gen aus, äußerten Kritik, hoben wichtige Arbeiten hervor und ermutigten
kannten und den ‚Neuen‘. Frowin, wie er es gerne hatte, genannt zu einander, neue Wege zu gehen und dem Theater(spiel) durch unterschiedli-
werden, webte mit seiner Mischung aus lockerer Moderation und che Inszenierungen zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen.
deutlichem Reglement einen bunten und vielseitig verwendbaren Für den Verfasser stellt diese Abhandlung über den Einsatz des Theatre
Teppich aus zwei Kontinenten und deren vielfältigen Nuancen. for Development zur Bekämpfung von HIV/AIDS bei Oberschülerinnen

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eine Fortsetzung des Seminars von Dar es-Salaam dar, da sie eine weitere von HIV/ AIDS Vorschub leisten (beispielsweise die Beschneidung von Jun-
Erfahrung darüber einbringt, wie die „Stimmen vom Rande“ durch das gen und Mädchen, Levirat, Polygamie und der Glaube an Zauberei), und
Theater hervorgehoben und wirkungsvoll verbreitet werden können. die Mitglieder einer Gemeinschaft in die Lage versetzt, lokale Initiativen ge-
gen HIV/AIDS zu übernehmen.
Im Folgenden wird erstens die Analyse des Konzepts und der Praxis
Was ist Theatre for Development? von Theatre for Development in Tansania weitergeführt. Zweitens wird an-
hand einer spezifischen Fallstudie aus Tansania die Wirksamkeit von Thea-
Der Kampf gegen HIV/AIDS hat viele Grenzen überwunden, hat neben tre for Development – sowohl als Instrument einer gemeinsamen Forschung
medizinischen Ratschlägen Medienkampagnen ebenso einbezogen wie und Information über HIV/AIDS als auch als Plattform zur Veränderung
Workshops, Seminare, Konferenzen und die Bildung von NGOs. Um die der Haltung eines Menschen, seines Wissens und der Praxis – demonstriert
verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der tansanischen Gesellschaft zu werden.
erreichen, wurden und werden hierfür in der Welt der Kunst Fernsehdra- Theatre for Development, manchmal auch bekannt als Popular Thea-
men, Hörspiele, Theaterstücke, Filme und die Malerei im Kampf gegen die tre, Theater für soziale Entwicklung, Theater für integrierte Entwicklung,
tödliche Krankheit eingesetzt. Doch trotz ununterbrochener Bemühungen Dorftheater oder Theater für integrierte ländliche Entwicklung, schließt so
scheint die Zahl der von dieser Epidemie Betroffenen sich eher zu vergrö- vielfältige Darstellungsformen ein wie die Schauspielerei, diverse Volks-
ßern als zu verringern. Gründe dafür gibt es genug, doch ich erachte einen erzählungen, politisches Protesttheater oder Puppenspiel. Alle diese Teilbe-
als den wichtigsten, nämlich dass Initiativen in Tansania (und vielleicht in reiche können angewendet werden, um eine ‚aus dem Volk kommende Ge-
vielen Ländern Afrikas), die HIV/AIDS zu verhindern und zu bekämpfen gen-Kultur‘ zu fördern. Die Vielzahl der Bezeichnungen lässt auf eine dem
suchen, oftmals die Meinungen von Gemeindemitgliedern ignorieren, und Theatre for Development ähnliche Herangehensweise schließen. Die Reali-
dass bei der Einführung präventiver Maßnahmen wenig Rücksicht auf das tät zeigt jedoch, dass es viele verschiedene, auf die Ansprüche einer bestimm-
Alltagsleben einer betroffenen Kommune genommen wurde. Für die Kom- ten Gemeinschaft oder eines bestimmten Projekts ausgerichtete Praktiken
munikation, den Austausch von Informationen, gab es immer nur das Mo- gibt. Gelegentlich haben diese zu völlig andersartigen Interpretationen und
dell ‚von oben nach unten‘. Die Menschen waren lediglich Empfänger/innen Vorstellungen darüber geführt, was Theatre for Development eigentlich aus-
der sie von außen erreichenden Mitteilungen über HIV/AIDS, sie wurden macht. Je vielfältiger die Bezeichnungen, umso schwieriger ist es, eine De-
in den Kommunikationsprozess nicht einbezogen. finition von Theatre for Development zu finden, auf die sich alle Theoreti-
Dieses Beitrag argumentiert, dass Theatre for Development potentiell ker/innen und Praktiker/innen einigen können.
wirksam ist, wenn Mitglieder der Gemeinschaft sowohl in die Forschung, Die Bezeichnung Theatre for Development wird hier benutzt, um den
Analyse und Erkenntnisse über die Wurzeln der Epidemie einbezogen wer- Prozess der Entstehung eines Theaterspiels zu beschreiben, die Zeit, in der
den als auch in die Anwendung der erhaltenen Informationen, um so das Mitglieder einer Gemeinschaft mit Recherche, Analyse, Diskussion und
Verhalten, das Wissen und die Praxis zu beeinflussen. Sie betont die Bedeu- dem Finden einer Lösung für ihre Probleme beschäftigt sind, und die Er-
tung der Mitwirkung der Gemeindemitglieder im gegen HIV/AIDS ge- gebnisse für sich selbst und andere in eine informative Theatersprache um-
richteten Kommunikationsprozess, um die Teilnahme der Bevölkerung bei setzen. Diese Methode des andauernden, teilnehmenden Recherchierens
der Planung und Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen zu erwir- macht die Menschen zu Entdecker/inne/n ihrer eigenen Region, lässt sie an
ken. Die Anwendung von Theatre for Development hat viel dazu beigetra- den Untersuchungen teilnehmen und benutzt sie nicht nur als passive Ob-
gen, Menschen durch neu gewonnenes Wissen für das Problem HIV/AIDS jekte einer Studie. Diese Untersuchungsmethode ist nach Paolo Freire – ei-
zu sensibilisieren. Es hat dabei geholfen, den Menschen unterschiedliche nem der Gründer des ‚Theaters der Unterdrückten‘, auf dessen Konzept das
kulturelle Normen und Praktiken bewusst zu machen, die der Verbreitung Theatre for Development basiert – zugleich ein Lernprozess. Dieser Prozess
steigert bei allen Beteiligten das kritische Denken.
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In Tansania gibt es für Theatre for Development zwei Herangehens- ciliator‘ ist eine sehr gängige Selbstbeschreibung derjenigen, die Theatre for
weisen, zum einen das Theaterspiel, zum anderen den Workshop. Für das Development-Prozesse anleiten – u. a. als Animateure, Mediatorinnen, Pä-
Theaterspiel müssen spezifische Aufführungselemente für bestimmte Ge- dagogen, Regisseurinnen, Anm. der Ü.). Diese leben während des gesam-
meinden mit dem Ziel entwickelt werden, einen Dialog zwischen den Dar- ten Prozesses, der normalerweise zwei bis drei Wochen dauert, im Dorf.
stellenden und dem Publikum herzustellen, um die Probleme dieser Ge- Während dieses Aufenthaltes nehmen Dorfbewohner/innen und Facilita-
meinschaft zu diskutieren. Mit diesen Aufführungen, die auf spezifischen tors an einem Entwicklungsprozess teil, der Recherche und Analyse von
Problemen basieren, reisen professionelle Darsteller/innen in verschiede- Problemen, die Schaffung eines auf den analysierten Problemen basieren-
ne Dörfer. Die Aufführungen sind so angelegt, dass sie das Publikum zu den Theaterspiels, die Aufführung selbst und die Diskussion danach bein-
Diskussionen über die vorgeführten Themen anregen. Solche Diskussionen haltet. Im Gegensatz zur Herangehensweise reisender Theatertruppen, sind
können entweder am Ende oder während der Aufführung stattfinden, wenn es hier die Mitglieder der Gemeinde, die in diesem Prozess die Hauptrollen
das Spiel für die Dauer der Diskussionsbeiträge aus dem Publikum pau- spielen. Mit Hilfe der Mediatoren und Mediatorinnen analysieren sie ihre
siert. Einwände der Zuschauer/innen können sogar dazu führen, dass diese Probleme und übersetzen diese in Theatersprache und Idiome, wobei sie
selbst Rollen in der Aufführung übernehmen. auch lokale Ausdrucksformen benutzen. Den Prozess begleitend werden
Diese Arbeitsweise kann mit dem Modell des Laedza Batanani (einem Strategien für die Durchführung getroffener Entscheidungen ausgearbeitet.
der ersten Theatre for Development-Projekte in Afrika) verglichen werden, Grundsätzlich besteht der Workshop aus mindestens sieben Etappen.
das in den späten 1970er Jahren in Botswana entstand. Seinerzeit produ- Die Länge eines solchen Abschnitts hängt sehr oft davon ab, welche Verhält-
zierten (Volks-)Hochschullehrer/innen und Theaterarbeiter/innen Stücke nisse die Mediator/inn/en zu Beginn ihrer Arbeit in der Kommune vorfin-
über verschiedene Probleme in ländlichen Regionen. Diese Stücke boten den den. Die erste Etappe ist daher dem sich Vertrautmachen gewidmet. Das ist
Zuschauer/inne/n neben Unterhaltung auch einige treffende Lösungen für die Stufe, auf der sich die Mediatorinnen und Mediatoren mit den Men-
ihre Entwicklungsprobleme. Den Aufführungen folgten oft Diskussionen, schen der Zielgruppe, deren geographischer Umgebung, Geschichte und
in denen das Publikum zu verschiedenen im Stück geäußerten Dingen Stel- Bräuchen beschäftigen. Das schließt einen Besuch der Region vor Beginn
lung beziehen konnte. des Workshops ein, die Kontaktaufnahme mit den Menschen, ihren Dorf-
Wie bei Laedza Batanani stehen auch beim Modell des Theaterspiels in ältesten und höheren Regierungsbeamt/inn/en. Hier werden jegliche An-
Tansania nicht die Dorfbewohner/innen im Mittelpunkt des Prozesses. strengungen unternommen, um allen in den Ablauf einbezogenen Parteien
Eine Theatertruppe bestimmt das Genre der Vorstellung und deren Inhalt genügend Information über die Ziele des Workshops zu geben und zu er-
und Struktur. Die Einbeziehung der Einwohner/innen in die Diskussion ist klären, was geschehen wird und wie. Da die Mediatoren und Mediatorin-
außerdem zeitlich zu kurz bemessen, als dass mehr als eine Verallgemei- nen meistens aus anderen Regionen kommen, wird diese Phase des Ver-
nerung der diskutierten Probleme dabei herauskäme. So werden Hand- trautwerdens auch dazu genutzt, Beziehungen zu Gemeindemitgliedern
lungsstrategien nicht gefördert. Das Modell als solches verfehlt damit das aufzubauen. Der Mediator oder die Mediatorin hat abhängig von dem Ziel
Hauptziel der Einführung von Theatre for Development in Tansania, wel- seiner oder ihrer Arbeit, dem Ort und der Zeit viele Möglichkeiten, das Ver-
ches darin besteht, sich der vorhandenen Volkskunst zu bedienen, um die trauen der Dorfbewohner/innen zu gewinnen. Mediatoren und Mediato-
den Menschen selbst wichtigen Anliegen mit ihren eigenen Mitteln zum rinnen müssen flexibel sein und sich unterschiedlichen Situationen anpas-
Ausdruck zu bringen, statt die der herrschenden Klasse zu kopieren. Die im sen können. In Tansania haben sie oft allein dadurch Kontakte geknüpft,
Volk vorhandenen und etablierten Theaterformen müssen zum Kommuni- dass sie sich einfach kleideten, gute Manieren zeigten, aufmerksam waren
zieren und zur Analyse seiner Entwicklungsprobleme genutzt werden. und Rücksicht auf die Kultur der Menschen genommen haben. Auch einfa-
Das Modell des Workshops findet hingegen immer in einer Gemeinde che Gesten des Mitgefühls, wie die Teilnahme an einer Beerdigung oder
statt – und immer in Anwesenheit von ‚außen‘ kommender Faciliators. (‚Fa- spontane Hilfe bei geschäftlichen Dingen, verfehlten ihre Wirkung nicht.

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Der Phase des Vertrautwerdens folgt die des Einholens von Informatio- Stück aufgeworfenen Fragen zu diskutieren und Handlungsstrategien für
nen. Hier sind Mediator/innen und Dorfbewohner/innen gleichermaßen die darin identifizierten Probleme zu entwerfen. Die Diskussion zielt darauf
daran beteiligt, so viel Informationen wie möglich über die Probleme, die ab, sowohl die Prioritäten der Gemeinde als auch Möglichkeiten für sich
mit dem Ziel des Workshops zusammenhängen, zu sammeln. Die Untersu- daraus möglicherweise ergebende Aktivitäten herauszufinden. Die letzte
chungsmethoden sind einfach gehalten, da sie von allen Gemeindemitglie- Stufe des Workshops besteht aus einem Treffen mit gewählten Vertreter/
dern verstanden und angewendet werden müssen. Das Zusammentragen inne/n, die der Durchführung der während des Theatre for Development-
von Informationen kann durch Interviews, Gruppendiskussion, einem ein- Workshops getroffenen Entscheidungen zugestimmt und sich verpflicht ha-
fachen Schwatz mit einigen Leuten, oder sogar künstlerisch erfolgen, zum ben, diese zu realisieren.
Beispiel wenn Lieder oder Märchen als Quelle benutzt werden.
Wenn genügend Daten gesammelt worden sind, folgt die Analyse. So-
wohl Faciliators als auch Dorfbewohner/innen untersuchen und diskutieren TUSEME: Konzepte und Aktivitäten
die gesammelten Informationen und suchen ein tieferes Verständnis für die
Probleme zu gewinnen. Manchmal kann die Analyse der Daten sogar eine Das TUSEME-(‚Lasst uns darüber sprechen‘)-Projekt wurde vom Fach-
künstlerische Form annehmen, wenn die Probleme durch Gesang und Ge- bereich für Schöne und Darstellende Künste der Universität von Dar es-Sa-
dichte oder dramatische Sketche dargestellt und Lösungen dafür gesucht laam im Jahre 1997 gegründet. Ausgelöst wurde es durch die von Erzieher/
werden. Dann werden die Probleme in der Reihenfolge ihrer Priorität geglie- inne/n, Eltern und anderen sozialen Gruppen geäußerte Besorgnis über
dert und diejenigen mit dem höchsten dramatischen Stellenwert ausgewählt. die unbefriedigenden schulischen Leistungen von Oberschülerinnen. For-
Die Entwicklung eines Theaterspiels beginnt nach Abschluss der Daten- schungen wurden eingeleitet, um die Gründe für die – im Vergleich zu den
analyse. Sie beinhaltet die Übersetzung der Ergebnisse der Analyse in eine Jungen – schwachen schulischen Leistungen der Mädchen zu ermitteln,
dem Theater angepasste Ausdrucks- und Darstellungsweise, welche Drama, aber die Mädchen erhielten dabei keine Möglichkeit, selbst dazu etwas zu
Tanz, Gesang, Musik, Geschichtenerzählen und Poesie einbeziehen kann. sagen. So wurde das TUSEME-Projekt gegründet, um den Mädchen die
Da es unterschiedliche Genre im Theater gibt, bleibt es den Leuten überlas- Gelegenheit und eine Stimme zu geben, über die Probleme zu sprechen, die
sen, welche dieser Formen sie als die ihrem Zweck am besten dienende wäh- ihre schulische und soziale Entwicklung behinderten, und um Lösungen zu
len. Bisher haben die (an solchen Projekten beteiligten) Menschen sich die- finden und Initiativen zur Beseitigung der Probleme zu ergreifen. Es sind
ser Kunstformen bedient und sehr beeindruckende Aufführungen kreiert. die spezifischen Ziele von TUSEME, den Mädchen die Gelegenheit zu of-
Die Produktion eines Stückes schließt Proben ein, die oft auch zu weiteren ferieren, sich über Gründe für einen vorzeitigen Schulabgang zu äußern,
Recherchen und Analysen genutzt werden. Solche Proben finden für ge- über schwache Lernergebnisse, die Schwangerschaft von Schülerinnen, se-
wöhnlich an Plätzen statt, die allen Gemeindemitgliedern zugänglich sind, xuelle Belästigung und andere von den Mädchen selbst benannte ge-
deren Ideen und Meinungen auch ständig in das Spiel übernommen wer- schlechtsspezifische Probleme. Das Projekt zielt auch darauf ab, die Mäd-
den. Die Bedeutung dieser Phase besteht darin, dass das Verstehen der Prob- chen selbst zu befähigen, die geschilderten Schwierigkeiten zu bekämpfen.
leme als neues Wissen in ein Theaterstück aufgenommen oder auch heraus- Das Projekt, das 1997 an sieben Oberschulen in fünf Regionen begann,
genommen werden kann. wird zur Zeit von 23 Schulen in allen Regionen des tansanischen Festlandes
Die so erarbeitete Fassung eines Theaterstücks mündet in einer Auffüh- durchgeführt. Von diesen Schulen sind 16 reine Mädchenschulen, an sieben
rung. Diese wird als Plattform für die Weitergabe von Informationen über werden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet. Einige der Schulen
analysierte Themen an die Mitglieder der Gemeinde genutzt, die an den sind Internate, andere Tagesschulen. Die Entscheidung, unterschiedliche
früheren Phasen des Workshops nicht teilnehmen konnten. Unmittelbar Schulen einzubeziehen, wurde absichtlich getroffen, um die Auswirkung
nach der Vorstellung ist die gesamte Dorfgemeinschaft eingeladen, die im dieser Faktoren auf Mädchen festzustellen.

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Im Jahre 1999 wurden TUSEME und ihr Schwesterprojekt, das in den solvieren ein spezielles Sensibilisierungs-Training für Theatre for Develop-
Unterstufen durchgeführte ‚Kinder-Theater-Projekt‘ (KTP) offizielle Pro- ment und lernen andere nützliche Fertigkeiten, die ihnen helfen, ihre Auf-
jekte des Ministeriums für Erziehung und Kultur von Tansania. Der Uni- gaben effektiv und kompetent auszuüben.
versität von Dar es-Salaam blieb es allerdings weiterhin vorbehalten, die Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass TUSEME ein Schulprojekt ist,
Projekte zu koordinieren und umzusetzen. TUSEME und das KTP werden und dass die gesamte Gemeinschaft (Lehrer, Arbeiter und Schüler) in ver-
nun von der Schwedischen Internationalen Entwicklungsagentur (SIDA) schiedenen Phasen aktiv daran teilnimmt. Zielgruppe sind jedoch die
gesponsert. Die Projekte wurden allerdings auch fortlaufend von der Uni- Schülerinnen der 9. Klasse, deren Fortschritte beobachtet werden, bis sie die
versität von Dar es-Salaam und FAWE (Foundation of Afrikan Women Edu- 11. Klasse beendet haben.
cationists – Gesellschaft afrikanischer Erzieherinnen) unterstützt.
Der Koordinator des TUSEME-Projekts, der vom Fachbereichsleiter
der Universität ernannt wurde und diesem auch Bericht erstattet, ist täglich TUSEME und der Kampf gegen AIDS
vor Ort. Eine Gruppe von zehn Personen, die das Koordinierungsteam bil-
den, assistiert dem Koordinator. Es gibt an den Schulen außerdem die Auf ihrem alljährlichen Treffen zur Planung des kommenden Jahres be-
Hauptassistent/inn/en und Mediator/inn/en des Workshops für Sensibili- schloss das Koordinierungsteam für TUSEME im Dezember 2000, den
sierung. Schwerpunkt der Programm-Gestaltung im Jahr 2001 auf die Bekämpfung
TUSEME nutzt Theatre for Development als grundlegende Methode, von HIV/AIDS bei Mädchen zu richten, die TUSEME-Schulen besuchen.
als Instrument für die Forschung, Befähigung und teilnehmende Planung. HIV/AIDS wurde folgerichtig zum Thema der Sensibilisierungs-Works-
Zweimal jährlich besuchen Mediatoren und Mediatorinnen die Schulen hops in den Schulen und des im März 2001 stattfindenden Festivals. Das
und halten Workshops auf der Basis der bereits erwähnten sieben Etappen Koordinationsteam war durch die Statistik des Jahres 1999 des Nationalen
des Theatre for Development ab. Theaterstücke, die während eines Works- AIDS -Kontrollprogramms, der zufolge sich 1.745.320 Menschen (rund
hops entstehen, werden künstlerisch überarbeitet und zu einem Festival ge- 5,1 % der Gesamtbevölkerung) in Tansania mit HIV infiziert hatten, zu
schickt, das jedes Jahr im März in Dar es-Salaam stattfindet. Die Schulen dieser Entscheidung gelangt. Die meisten Betroffenen waren dabei Men-
haben neben den Workshops des Theatre for Developments auch Klubs zur schen im Alter von 15 bis 49 Jahren. Darüber hinaus sagte die Statistik eine
Unterstützung von Mädchen gegründet, in denen sie im Auge behalten und weiterhin ansteigende Infektionsrate voraus. Es war offensichtlich, dass die
mobilisiert werden können. Die Klubs führen u. a. Diskussionen durch und meisten Oberschülerinnen in diese Altersgruppe fielen. Man stimmte darin
betreiben außerdem einige Gewinn versprechende Projekte, durch die sie überein, dass HIV/AIDS eine Bedrohung des TUSEME-Programms sei,
TUSEME -Klubmitglieder beim Kauf von Büchern und Schreibwaren un- da das Projekt trotz guter Absicht irrelevant sein würde, wenn die Mädchen
terstützen. Gelegentlich werden diesen auch kleine Kredite gegeben. TU- nicht mehr davon profitieren könnten. Und wie es in einem Lied in meinem
SEME -Klubs ernennen auch Redaktionsausschüsse, deren Aufgabe es unter Stück Judges on Trial heißt:
anderem ist, weitere Mitglieder zum Schreiben von Artikeln für das TUSE-
ME -Nachrichtenblatt zu gewinnen. Während des Besuchs einer Schule Nur Geister werden übrig bleiben
sammeln die Mediator/inn/en auch die jeweiligen Prüfungsergebnisse der Nur Geister werden übrig bleiben, nur Geister werden übrig bleiben,
TUSEME -Klubmitglieder ein. Diese Ergebnisse werden klassifiziert und um in den Flüssen und Meeren zu schwimmen,
analysiert, um die schulischen Fortschritte festzustellen und die besten und um zu trinken das geschützte Wasser des Nils,
Schülerinnen zu bestimmen, die dann auf dem TUSEME-Festival eine der Themse, des Rheins, Ganges, JantseKiang
Auszeichnung erhalten. An jeder Schule gibt es zwei vom Schuldirektor er- und des Amazonas.
nannte Lehrer/innen für die Betreuung des TUSEME-Projekts. Diese ab- Jangtsekiang und des Amazonas1

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In 22 TUSEME-Schulen wurden im März und April 2001 siebentägige Fimbo (Bevollmächtigter bei der AIDS-Kommission des tansanischen Ge-
Workshops abgehalten. Diese Workshops an den Schulen folgten den be- sundheitsministeriums) betonte, dass AIDS in den ‚dunklen Ecken‘ eines
kannten sieben Etappen: sich miteinander vertraut machen, Recherche, Gasthauses, in Nachtklubs, Diskotheken und Gebüschen anfange – alles
Datenanalyse, Erarbeitung eines Theaterstücks, Aufführung, anschließen- Orte, die für tansanische Journalisten und Journalistinnen nie eine Mel-
de Diskussion und nachfolgende Maßnahmen. Es wurde jedoch besonderes dung wert waren. Unsere Projekte zielten daher darauf, die Umstände bloß
Augenmerk darauf gerichtet, das Schulmilieu zu berücksichtigen, und so zu legen, die für die rapide Ausbreitung dieser Krankheit verantwortlich
wurden die Workshops in Übereinstimmung mit dem speziellen Charakter waren. In einigen Ländern wie Uganda war die rigorose und vorurteilsfreie
der Schulgemeinschaft formuliert und durchgeführt. Jede Schule absolvier- Enthüllung der wahren zur Ansteckung führenden Wege die wichtigste
te den Theatre for Development-Prozess unter Leitung ihrer TUSEME- Komponente im Kreuzzug gegen diese Krankheit.
Lehrer/innen und eines Mediators oder einer Mediatorin aus dem Koordi- Das TUSEME-Programm strebte daher an, Mädchen und Jungen selbst
nierungsteam. über ihre ‚dunklen Ecken‘ und andere Umstände, die sie der Gefahr einer
Vor Beginn der Workshops nahmen die TUSEME-Lehrer/innen jeder Ansteckung aussetzen, sprechen zu lassen.
Schule gemeinsam mit den Mediator/inn/en an einem einwöchigen Sensi- Mit den Datenerhebungen befassten sich hauptsächlich Mitglieder von
bilisierungs-Workshop teil, der im Januar 2001 in Dodoma abgehalten wur- TUSEME-Klubs. Sie befragten Schulgefährt/inn/en, Lehrer/innen, andere
de. Der Workshop hatte das Ziel, die Mediator/inn/en auf das Thema Werktätige, Eltern und diejenigen, die in unmittelbarer Umgebung der
HIV/AIDS einzustimmen und dessen Wirkung auf die Mädchen zu be- Schule wohnten, und diskutierten mit ihnen Fragen zu HIV/AIDS. Sie be-
obachten. Nach ausführlichem Training und der Auffrischung ihrer Kennt- nutzten viele unterschiedliche Herangehensweisen, unter anderem die Ein-
nisse über die Methodik von Theatre for Development, kehrten die Lehrer/ berufung von Treffen, bei denen Vorführungen gezeigt wurden, die die
innen mit der Auflage an ihre Schulen zurück, den Theatre for Develop- Teilnahme des Publikums an Diskussionen über das Thema HIV/AIDS
ment-Prozess in Gang zu bringen. Diejenigen TUSEME-Lehrer/innen, de- bewirken sollten.
ren Schulen oder die selbst zum ersten Mal an dem Programm und dem Einige der angesprochenen Themen waren:
Workshop teilnahmen, wurden gebeten, die erste Stufe – das sich miteinan- 1. Bestehende Affären zwischen Lehrern und Schülerinnen.
der Vertrautmachen – durch Treffen mit der Schulverwaltung, Kolleg/inn/ 2. AIDS wird durch ungeschützten Sexualverkehr zwischen einem Mäd-
en und Schüler/inne/n einzuleiten. Zweck der Zusammenkünfte sollte, mit chen und einem Jungen übertragen. Ungeschützter Sexualverkehr be-
Blick auf HIV/AIDS, die Vermittlung von Informationen über TUSEME deutet den eigenen Tod. Er kann mit dem Ersteigen einer Kokosnus-
und den Workshop-Prozess an ihrer Schule sein. Lehrer/innen mit längerer spalme ohne Sicherheitsseil verglichen werden.
Erfahrung wurden gebeten, den Theatre for Development-Prozess mit der 3. Die Schwangerschaft einer Schülerin ist der Beweis dafür, dass unge-
notwendigen Recherche einzuleiten. Die Workshops an den Schulen be- schützter Sex praktiziert wurde. Das ermöglicht eine HIV-Infektion.
gannen vier Wochen nach dem in Dodoma. Als die Mediator/inn/en in den 4. Armut veranlasst ein Mädchen dazu, sich auf ungeschützten Sex einzu-
Schulen eintrafen, sahen sie, dass die meisten Schulen bereits mit dem The- lassen. Sie machen sich keine Sorgen über ihre eigene Sicherheit, solan-
atre for Development-Prozess begonnen hatten. Einige Schulen sammelten ge sie Geld dafür bekommen.
Informationen, andere befanden sich in der Phase der Datenanalyse, und 5. Jungen und Männer tragen absichtlich keine Kondome. Sie erklären,
einige hatten bereits mit den Vorbereitungen für das Theaterspiel begon- Kondome verringerten das sexuelle Vergnügen. Sie vergleichen die Be-
nen. nutzung von Kondomen mit dem Kauen unausgewickelter Süßigkeiten.
Das Hauptaugenmerk des Workshops war auf die Erforschung der Um- 6. Auslegung von Dress-Codes: Mädchen wurde das Tragen von Minirö-
stände und Bedingungen gerichtet, die die Schulmädchen daheim oder in cken zum Vorwurf gemacht, weil diese nach Ansicht mancher Männer
der Schule dem Risiko einer HIV/AIDS-Infektion aussetzten. Dr. Bennet „der vertikale Ausdruck für horizontale Absichten“ seien.

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7. Einige tradierte Praktiken, wie etwa die Beschneidung von Jungen und von der Schulverwaltung, den Mediator/inn/en und den Schülerinnen ge-
Mädchen, führen zur Verbreitung von HIV/AIDS. Die Forscher/innen billigt werden. Die Aufführungen fanden in Anwesenheit der gesamten
wiesen darauf hin, dass Mädchen früher in der Zeit ihres Erwachsen- Schulgemeinschaft statt. Das Publikum wurde im Anschluss an die Vorstel-
werdens die Beschneidungszeremonie erlebten und unmittelbar darauf lungen zur Diskussion aufgefordert, um mögliche Lösungen zu besprechen.
verheiratet wurden. Heutzutage unterzögen sich sehr junge Mädchen Zum Abschluss wurden Komitees zur Überwachung der gefundenen Lö-
den Beschneidungsriten (bei denen Sex und Sexualität eine große Rolle sungen gebildet. In einigen Schulen waren solche Komitees sehr erfolgreich.
spielen). Danach fühlen sich die Mädchen zu jung, um zu heiraten, Eines der Hauptprobleme der Oberschule von Songea waren z. B. Mädchen,
praktizieren aber das, was sie über Sexualität gelernt haben. die sich nachts aus dem Internat schlichen, um ihre Freunde aufzusuchen.
8. Liebesaffären mit Männern und Frauen aus der Umgebung der Schule. Der TUSEME-Klub brachte das Thema während eines Theatre for Deve-
Diese locken Jungen und Mädchen mit Geld. lopment-Prozesses zur Sprache und man einigte sich darauf, Mitglieder des
Andere Themen, die während der Forschung diskutiert oder gefunden wur- TUSEME-Klubs als Sicherheitswache einzusetzen und diejenigen zu mel-
den, waren der Transport zur Schule, insbesondere bei Tagesschülerinnen, den, die nachts verschwinden.
Familienarmut, ‚schlechte Gesellschaft‘ in der Schule, Sexfilme und Begier-
de.
Die folgenden Themen wurden analysiert und Lösungen dafür gefunden: Wirksamkeit von Theatre for Development:
1. Mädchen und Jungen sollen sexuelle Aktivitäten bis zum Schulab- Methodologie bei der Bekämpfung von HIV
schluss oder ihrer Hochzeit vermeiden.
2. Kondome sollen benutzt werden, wenn jemand nicht enthaltsam sein Eine der größten Wirkungen erzielt Theatre for Development dadurch, dass
kann, aber Sex sollte nicht zur Gewohnheit werden. die gesamte Schulgemeinschaft an dem Prozess teilnimmt. Mit Ausnahme
3. Mädchen sollen sich verstärkt für die Benutzung von Kondomen aus- einer neuen Schule lehren, lernen und arbeiten an jeder der TUSEME-
sprechen. Derzeit liegt die Entscheidung für oder gegen die Benutzung Schulen etwa 600 Menschen. Insgesamt waren rund 20 000 Menschen aus
bei Männern und Jungen. 22 Schulen in die Prozesse involviert. Zudem wurden überarbeitete Schul-
4. Mädchen sollen für ihren eigenen Körper verantwortlich sein und den aufführungen auch auf dem einwöchigen TUSEME-Festival im April 2001
Annäherungsversuchen von Männern (einschließlich Lehrern oder Jun- in Dar es-Salaam gezeigt. Gezielte Anstrengungen sollten sicherstellen, dass
gen) widerstehen. neben dem allgemeinen Publikum auch Oberschüler/innen aus Dar es-Sa-
5. Beschneidungsriten sollen auf die noch bestehende Gültigkeit einiger laam und Umgebung daran teilnehmen konnten. So wurden Transporte für
darin enthaltener Elemente überprüft werden. Aktivitäten, die zur Brut- die Schüler/innen zum und vom Festivalgelände organisiert.
statt für HIV/AIDS werden können, sollten aufgegeben werden. Die Arbeit mit Workshops garantierten die Freiheit des Ausdrucks. Die-
Der Datenanalyse folgte die Erarbeitung von Theaterstücken. Die Schüler/ se Methodologie befähigte die Schüler/innen, ihre Meinungen und Vorstel-
innen konnten die künstlerische Form dafür selbst bestimmen. Bisher wur- lungen über HIV/AIDS furchtlos zu äußern. Mit Gesang, Tanz, Theater-
den Tänze, Dramen, Poesie, Rap, Erzählungen und heroische Rezitationen spielen und Poesie konnten die Schüler/innen weitreichende Informationen
entweder separat oder in Kombination mit anderen Formen angewendet. über Brutstätten für HIV/AIDS in ihren Gemeinden vermitteln. Die fol-
Die Proben für die Auftritte wurden auch genutzt, um ein tieferes Verständ- genden Rap-Verse geben dafür ein gutes Beispiel:
nis für die Themen zu erreichen. Die Dauer der Proben richtete sich nach
der Gruppe, der verfügbaren Zeit und der Flexibilität der Darsteller/innen Unacheza cheza
selbst. Wenn die Teilnehmer/innen mit ihren Produktionen zufrieden wa- Unacheza na balaa (2x)
ren, wurde ein Datum für die Aufführungen vorgeschlagen. Dieses musste Ukimwi ni hatari wameshindwa madaktari

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Wewe dada yangu unatoka nyumbani kwako tena kwa wazazi wako, Nicht nur meine Schwestern sind Prostituierte
unawaga mi ninakwenda shuleni unafika katikatika unaishia kwa Dula Sondern auch meine Brüder
macheni Sie gehen aus dem Haus und sagen ihren Eltern sie gingen zu Schule:
Unampapatikia kwa sababu ana feni, unaingia chumbani dada unashi- Unterwegs ändern sie ihre Meinung und verschwinden um die Ecken
ka peni, unalala kitandani dada unavua heleni, unafanya mabitu yako Ich habe sie gesehen
mpaka unakata cheni Sie geben sich hin und werden krank!2
Umechanganyikiwa kwa mtindo wa mapenzi.
Ninakuelimisha unaniona kuwa mshenzi Die Teilnahme am Forschungsprozess hat das Verständnis der Schüler/in-
nen für die AIDS-Problematik erhöht. Anfangs stritten die meisten ab, ein
Unacheza cheza HIV-Opfer in ihrer Umgebung zu kennen. Aber nachdem sie den Prozess
Unacheza na balaa x2
durchlaufen hatten, änderten sie ihre Meinung. Obwohl niemand von ihnen
Ukimwi ni hatari wameshindwa madaktari
AIDS hatte, wurde festgestellt, dass die Zustände in und um ihre Schule sie
dem Risiko aussetzten, sich mit HIV zu infizieren. So verleitete beispiels-
Sio madada zangu wanaojifanya ni machangu
weise schlechtes Essen einige Schülerinnen dazu, in die Stadt zu gehen, und
Hata makaka zangu wajifanya ni machangu
Wanatoka nyumbani kwao tena kwa wazazi wao wanawaaga mi ninak- sich im Tausch gegen Chili-Sauce, Chips und Kekse in Sex-Affären mit
wenda kusoma wanafika katikati wanaishia kwenye kona, mimi nime- Kleinhändlern einzulassen. Auch Luxusgegenstände, die Schülerinnen aus
waona, wanafanya mavitu yao mpka wanapata homa wohlhabenden Familien mit in die Schule brachten, spornten andere dazu
an, diese Dinge durch Sex mit einem reichen älteren Mann zu erwerben.
Du spielst Außerdem sprechen einige Lehrer in den Klassen arme Schülerinnen immer
Du spielst mit dem Feuer und immer wieder darauf an, dass sie keine guten Schuluniformen oder Bü-
AIDS ist tödlich; Ärzte haben versagt, können es nicht heilen cher hätten. Diese Schülerinnen fühlen sich dann gezwungen, ungeschütz-
ten Sex zu haben, um Geld zu bekommen und den Tiraden der Lehrer zu
Du, meine Schwester, erzählst deinen Eltern, dass du zur Schule gehst; entgehen.
Unterwegs änderst Du deine Meinung und gehst deinen Freund Dul Theatre for Development bot die Gelegenheit, verschiedene Gruppen
Cheni besuchen der Schulgemeinschaft zusammen zu bringen, die gemeinsam Ursachenfor-
Du bist ihm wegen seines Geldes verfallen schung betrieben und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Lösungen der Prob-
Du betrittst das Schlafzimmer und hältst ‚den Bleistift‘ leme fanden. Die Schulverwaltung sagte beispielsweise zu, Beschuldigun-
Du nimmst deine Ohrringe ab und legst dich aufs Bett gen über Liebesaffären zwischen Lehrern und Schülerinnen zu untersuchen
Du machst wilden Sex und zerreißt dabei das Perlenband um deine und disziplinarisch gegen die betreffenden Lehrer vorzugehen.
Taille. Im August und September 2001 fanden Anschlussbesuche in den Schu-
Die Art des Liebesspiels treibt dich in den Wahnsinn len statt. Es sollte festgestellt werden, ob die Schulen die mittels der Works-
Ich rate dir aufzuhören, aber du beleidigst mich hops erarbeiteten Lösungen umgesetzt hatten. Die Mediatoren und Medi-
atorinnen trafen sich und sprachen mit den Schuldirektor/innen, Dozent/
Du spielst innen, Fachlehrern und -lehrerinnen, TUSEME-Lehrer/innen, Mitgliedern
Du spielst mit dem Feuer
der TUSEME-Klubs und allen Schüler/innen. Bei dem Besuch wurden
AIDS ist tödlich; Ärzte haben versagt, können es nicht heilen
sehr ermutigende Erfolge verzeichnet. So haben beispielsweise einige Schu-
len Beratungsstellen für Schüler/innen und Personal eingerichtet, andere

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Trainingskurse für Lebenskunde und weitere führen regelmäßige Schwan- Zeit. Wie wir das erreichen wollen, ist eine Herausforderung, über die ge-
gerschaftstests durch. Schulberichte weisen, besonders unter Mitgliedern sprochen werden muss.
der TUSEME-Klubs, eine Verminderung der Disziplinlosigkeit aus. Eine
Schulvorsteherin sagte mir: „Vor kurzem unterzogen sich die Schülerinnen Aus dem Englischen übersetzt von Erdmute Greis-Behrendt und Marly Riemer
einem Schwangerschaftstest, und keine aus der 10. Klassenstufe war schwan-
ger. Das ist in den sieben Jahren, seit ich an der Schule bin, noch nicht vor-
gekommen. Ich weiß und bin davon überzeugt, dass TUSEME das bewirkt
hat.“ Und ein Schulvorsteher bemerkte: „Ich bin stolz auf TUSEME, weil
dieses Projekt mir hilft, die Disziplinlosigkeit in der Schule zu bekämpfen.
TUSEME informiert mich nicht nur darüber, was unter den Schülern und
Schülerinnen, sondern auch, was unter den Angestellten passiert. Hier än-
dern sich also die Dinge. Ich wünschte, dass wir dieses Programm einige
Jahre früher bekommen hätten.“

Schlussfolgerung

Seinen Feind zu kennen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Sieg.
Daher ist das Verstehen der Umstände, die jemanden der Gefahr einer
HIV-Infektion aussetzen, ein wichtiger Schritt im Krieg gegen HIV/AIDS.
Theatre for Development offeriert Plattformen zur Erforschung, Auswer-
tung und Weitergabe von Erkenntnissen über HIV/AIDS, indem es Ge-
meindemitglieder befähigt, mit den ihnen (in den Workshops) gegebenen
Instrumenten ihre Probleme zu erforschen und zu analysieren und erste
Schritte zu ihrer Überwindung zu unternehmen. TUSEME hat diese Initi-
ative ergriffen, und das Resultat kann sich sehen lassen.
Dennoch müssen Wissenschaftler/innen, die über Theatre for Develop-
ment forschen, und die Mediatoren und Mediatorinnen immer wieder da-
ran erinnert werden, dass wir uns in einem Prozess befinden, der Verhal-
tensänderungen anstrebt. Änderungen des allgemeinen Verhaltens und von
Einstellungen geschehen nicht über Nacht, daher wird auch jede Einwir-
kung auf Verhaltensänderung zwangsläufig zu einem langen Prozess. Erfah-
rungen zeigen, dass das Einbringen von Theatre for Development meistens
einmalige Angelegenheiten waren, und dass die Mediatoren und Mediato-
rinnen nach ihrer Abreise nie wieder in die Gemeinden zurückkehrten. Ob-
wohl manche Situationen das rechtfertigen, ist das im Kampf gegen HIV/
AIDS nicht der Fall. Dieser Kampf muss weiter geführt werden, auf lange

230 231
Kunst und Gesellschaft:
Schreiben und filmen, um zu bewegen

Ambroise Kom
Kritische und gesellschaftspolitisch engagierte Kultur fördern!
Beispiele aus Kamerun und Deutschland

Ambroise Kom wurde 1946 in Bayangam geboren. Er studierte Roma-


nistik, vergleichende afrikanische Literaturwissenschaft (Habilitation
1981) und Amerikanistik an der Sorbonne und der Université de Peau,
Frankreich. Er lehrte danach u. a. in Marokko, Kanada, USA, Deutsch-
land und an der Universität in Yaoundé, Kamerun. Seit einigen Jahren
lehrt er am „College of the Holy Cross“ in Worcester, Massachussets
als Professor für „French and Francophone Studies“.
Ambroise Kom ist ein renommierter Spezialist für afrikanische,
karibische und afrikanisch-amerikanische Literatur. Er gilt interna-
tional als der wichtigste Experte für kamerunische Literatur und ver-
öffentlichte zu einzelnen Repräsentanten, wie z. B. Mongo Beti oder
René Philombe richtungweisende Aufsätze. Von 1998–2001 inter-
viewte er Mongo Beti für eine „Autobiographie parlée“, die unter
dem Titel Mongo Beti parle kurz vor dessen Tod fertiggestellt wurde
und posthum im Herbst 2001 in den Bayreuth African Studies Series
(BASS) erschien. Er gab ein Jahr später einen weiteren Band mit Zeug-
nissen von Betis Freunden und Gefährten zu dessen Leben und Werk

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heraus – unter dem Titel Remember Mongo Beti (Veröffentlichung der Wir waren, (sagen sie) die Vorläufer der Bewegung der sagacité (d. Ü.
BASS). im Wortsinn: Bewegung der Klarsicht). Es handelt sich um eine Phi-
Neben seiner Lehrtätigkeit ist Ambroise Kom ein angesehener losophie, eine eigene Art zu sein, sich zu bewegen, sich anzuziehen.
Experte für Bildungsfragen, er initiiert wichtige Forschungsvorhaben Ooch wenn de nix hast, musste proper sein. Besser Neid erregen als
zur Analyse und Reform des kamerunischen Bildungssystems und Mitleid.1
begleitet momentan vor allem die Konzeption und Realisierung der
kamerunischen Universität „Université des montagnes“ (UDM) in Ist also unsere Kultur dazu verdammt, sich auf der Stufe der Folklore bzw.
Bangangté. der größten Banalität abzuspielen?
Ambroise Kom arbeitet als Forscher, Pädagoge, Kulturvermittler Nur fünf Tage später erfährt man in Mutations, dass eben dieser so ge-
und ‚activist‘ an Schlüsselfragen und konkreten Projekten, die sich nannte Kulturminister (der so wählerisch ist, wenn es darum geht, Kultur-
an Schnittstellen zwischen Kultur, Literatur, Wissenschaft und Ge- veranstaltungen von wirklicher Bedeutung selbst zu eröffnen) persönlich
sellschaft befinden. Zudem ist er ein wichtiger und nicht parteilich gekommen war, um der Frau seines Chefs (Chantal Biya) beim Aussteigen
gebundener Vertreter der kamerunischen Demokratiebewegung. aus ihrem Wagen zu helfen, weil sie ins Theater gehen wollte.
Der Begriff des ‚militant culturel‘, mit dem er Mongo Betis litera- Als Außenstehender könnte man Kamerun vielleicht sogar mit guten
risches, kulturelles wie auch gesellschaftspolitisches Engagement Gründen als ein Land beneiden, das (in Gestalt von Oyono) diesen „alten
beschreibt, ist daher auch zutreffend für sein eigenes Leben und Afrikaner“2 als obersten Kulturwächter besitzt, der sich außerdem rühmen
Arbeiten. kann, mit Mongo Beti zu den ersten Autoren und Autorinnen gehört zu
Sibylle Weingart haben, die durch ihr Schreiben ihrer Heimat zu einem Spitzenplatz in der
modernen afrikanischen Literatur verhalfen. Der Vergleich zwischen beiden
Ich möchte gleich zu Anfang meines Beitrags auf das Dossier der kameruni- Autoren reicht allerdings nur bis zu diesem Punkt.
schen Tageszeitung Mutations vom August 2004 verweisen, das der kamer- Oyono ist am Vorabend der Unabhängigkeit nach Kamerun zurückge-
unischen Kultur gewidmet war. Dieses Dossier beginnt mit einer heftigen kehrt und hat sich dort in den Dienst eines neokolonialen und reaktionären
Kritik der Amtsführung von Ferdinand Léopold Oyono, einem ehemaligen Regimes gestellt. Seine Entscheidung kommt einer Weigerung gleich, näm-
Romancier der 1950er Jahre. lich der, anzuerkennen, dass die Herrschaft, in deren Dienst er seine Talen-
In dem so genannten „Regime der Erneuerung“, das Kamerun seit 1982 te stellte, nichts anderes war als eine Fortführung des Kolonialsystems, das
nach Gutdünken regiert, agiert er seit vielen Jahren als Kulturminister. ihn hervorgebracht und das er selbst verurteilt hatte – zumindest könnte
Ob es sich um den Verlagsbereich, den Buchhandel, um Urheberrechtsfra- man durch die Lektüre von Une vie de boy und Le vieux nègre et la medaille
gen oder die Musikwelt handelt, mit der kulturellen Entwicklung in Kame- auf diesen Gedanken kommen.
run scheint es bergab zu gehen. Der einzige Lichtblick in diesem düsteren Mongo Beti hingegen, der seinen Prinzipien als politisch engagierter In-
Szenario, das Mutations entwirft, scheint die Stimmung zu sein, die die tellektueller treu blieb, akzeptierte es – trotz der vielen Bedrängnisse, denen
Musikgruppe Dream Team anlässlich „der Kulturwoche der Elfenbeinküs- er zeitlebens ausgesetzt war – niemals, mit dem neokolonialen Regime in
te“ herbeigezaubert hat und die das kamerunische Publikum im Rhythmus Yaoundé einen Pakt zu schließen.
des „décalé-coupé“ (neuer Rhythmus bzw. Tanz aus der Elfenbeinküste) in Nur ein Beispiel: In seinem Aufsatz „Quand Paul Biya fait une ouvertu-
Schwingungen versetzte. re vers Mongo Beti … c’est une chausse-trape ou l’histoire d’une machina-
Nach Art der so genannten ‚Sapeurs‘ (vom Verb ‚saper‘ – sich in Schale tion“ [Wenn Paul Biya ein Angebot an Mongo Beti macht, dann ist es eine
werfen) aus dem Kongo, deren Leidenschaft es ist, todschick angezogen auf Falle oder die Geschichte einer Intrige], der in Peuples noirs – Peuples afri-
der Mitte der Strasse zu stolzieren und sich von der Menge umjubeln zu las- cains erschien, erzählt Mongo Beti wie er von Agenten des Systems Biya
sen, zeigt das ‚Dream Team‘ eine etwas schlichte Philosophie:
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kontaktiert wird, die ihm eröffnen, dass der Nachfolger von Ahmadou Die stärkste Erinnerung, die ich mir an Mongo Beti bewahrt habe, ist
Ahidjo gern Kontakt zu ihm aufnehmen würde und ihm dafür sehr bald dieses eine Mal, als er mir vorschlug, die Gedichte, die ich damals schrieb,
eine Kontaktperson senden würde. Natürlich stellte sich die ganze Ge- zu hektographieren. Woher wusste er überhaupt, dass ich schrieb? Viel-
schichte als eine „Falle“ heraus. leicht, weil ich zusammen mit einigen Schulkameraden eine Schülerzei-
Und noch mehr als das: Unter dem günstigen Einfluss des sogenannten tung veröffentlichte? Er hat also meine Texte vervielfältigt, hat sie an alle
‚Windes aus dem Osten‘, der nach dem Fall der Berliner Mauer zum Zu- Schüler/innen der Klasse verteilt und mich dazu ermutigt, nach vorne
sammenbruch der Blöcke führte und den autoritären Regimen des afrikani- zum Lehrerpult zu kommen, um meine Texte vorzustellen, von meinem
schen Kontinents die Demokratisierung aufzwang, kehrte Mongo Beti Schreiben zu erzählen, auf Fragen zu antworten etc. Die anderen waren
nach Kamerun zurück und setzte dort seine Arbeit der (Wieder)Aneignung sprachlos. Es wurde eine Schulstunde voller Begeisterung. Und als
und Förderung der kamerunischen Kultur fort. Seitdem er sich Mitte der schließlich die Schulglocke läutete, hatten wir uns noch tausend Dinge
1990er Jahre in Yaoundé niedergelassen hatte, begann er wieder zu schrei- zu sagen … und Mongo Beti jubilierte, weil er die normale Schulord-
nung ausgetrickst hatte und etwas ‚Außergewöhnliches‘ in einem Klas-
ben und erneuerte in nachhaltiger Weise seine schriftstellerische Arbeit. Be-
senzimmer möglich gemacht hatte. Dies ist eine sehr lebendige Erinne-
tis Roman Trop de soleil tue l’amour, der Züge eines Kriminalromans trägt,
rung in mir, es war meine Geburt als jemand, der schreibt. Und ich
ist hier von Bedeutung. Zudem beteiligte er sich aktiv an öffentlichen Dis-
werde ihm immer dankbar dafür sein. Deshalb habe ich ihm auch mei-
kussionen zu gesellschaftlich relevanten Themen, indem er für unterschied-
nen ersten Roman gewidmet … Die Diskussion mit Mongo Beti hat
lichste kamerunische Zeitungen Artikel verfasste. Außerdem gründete er mich dazu ermutigt, mehr zu schreiben: Erzählungen, Romane, und
die Buchhandlung Librairie des Peuples noirs, die schnell in Yaoundé zu ei- dann auch meine Werke oder die Werke anderer Autoren und Autorin-
nem gesellschaftlichen Treffpunkt und Ort der Literaturförderung wurde. nen herauszugeben. Dies ist bis heute eine Leidenschaft, die kein Ende
In Kamerun wurde Mongo Beti vor allem als politisch engagierter Intel- findet.3
lektueller ersten Ranges wahrgenommen, für ihn selbst jedoch waren Politik
und Kultur untrennbar verbunden. Er hat immer seine ganze Kraft in den Man wird sich noch lange daran erinnern, dass Mongo Beti im Augenblick
Aufbau kultureller Strukturen gesteckt, die die weitere Entwicklung der mo- seiner Rückkehr in die Heimat – gerade durch die Veröffentlichung seines
dernen afrikanischen Literatur unterstützen sollten. Die Revue Peuples Noirs Buch La France contre l’Afrique, retour au Cameroun – ein wichtiges Zeichen
– Peuples Africains, das Verlagshaus Editions des Peuples noirs, die Buchhand- gesetzt hat, das zeigt, wie sehr ihm die Förderung von Kulturarbeit am Her-
lung Librairie des Peuples noirs und das Radio Alternances, an dessen Kon- zen lag. In diesem Buch unterzieht er Frankreichs außenpolitischer Strategie
zept er mitarbeitete und dessen Gründung ihm leider nicht mehr vergönnt einer heftigen Kritik, weil Frankreich – während es in großen und schönen
war mitzuerleben, waren viele unterschiedliche Bereiche, in die er seine gan- Reden über die Entwicklung in Afrika philosophiert –, seine früheren Ko-
ze Kraft investierte. lonien weiterhin in Gefangenschaft hält.
Hinzu kommt, dass die Förderung der schöpferischen Tätigkeit auch Frankreich denkt immer noch an Afrikas Stelle, verhält sich unverän-
immanenter Bestandteil seiner Pädagogik war. Wie einer seiner früheren dert paternalistisch – wie das alle Länder des Westens weiterhin tun und
Schüler erzählte, zögerte Mongo Beti nicht, die übliche Disziplin in seinem konstruiert darüber hinaus auch die angebliche Tradition für den afrikani-
Gymnasium, in dem er als Lehrer in Rouen unterrichtete, geschickt zu un- schen Kontinent. Der französische Literaturwissenschaftler Bernard Mou-
terlaufen, um die Schüler darin zu bestärken, einen kreativen Ausdruck ih- ralis beschreibt dies in seinen Kommentaren zum Werk Mongo Betis in sehr
rer selbst zu finden. zutreffender Weise:
Der französische Verleger und Autor Christophe Chomant schreibt sehr Offensichtlich ist die so genannte ‚afrikanische Tradition‘ zu einem gro-
zutreffend darüber: ßen Teil ein Produkt des Westens. Als zentrales Thema des ethnologi-
schen Diskurses ermöglicht sie den Kolonisator/innen oder Neo-Kolo-

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nisator/innen, die Afrikaner/innen entfernt von einer wirklichen Verän- es war Oyono, der damit beauftragt wurde, denn Franzosen sagten: Wir
derung zu halten und sie daran zu hindern, selbstbestimmt die Initiati- können nicht einfach etwas zensieren, ohne irgendeine Grundlage, ir-
ve einer solchen Entwicklung zu ergreifen. Diese Sichtweise erscheint gendein Dokument, ohne uns abzusichern. Ihr müsst dafür einen An-
besonders in dem Porträt, das Mongo Beti von den so genannten ‚chefs trag verfassen. Und es war Oyono, der diesen Antrag verfasst hat.6
traditionnels‘ in seinen Romanen Mission terminée und La Ruine presque
cocasse d’un polichinelle gezeichnet hat, die letztlich nur armselige Wesen Mongo Beti erzählt, dass der Brief, den Oyono an die französische Regie-
sind, die von einer ausländischen Macht eingesetzt wurden.4 rung richtete, in den linken Kreisen damals sehr weit verbreitet war.
Ich könnte diese Gedanken noch sehr viel weiter verfolgen und dabei
Diese Aspekte, die in der pädagogischen Arbeit und den literarischen Wer-
den Lebensweg der beiden Gründerväter der kamerunischen Literatur un-
ken von Mongo Beti sichtbar werden, bestätigen sich mit Kraft und Präzi-
ter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichen. Aber der eigentliche Grund
sion in La France contre l’Afrique, retour au Cameroun.
meines Textes ist ein anderer:
Das Regime von Paul Biya, in dessen innerstem Zirkel Oyono seines
Ich möchte in diesem Buch zu Ehren meines Kollegen Professor Eck-
Amtes waltet, ist, wie Beti sagt, völlig unfähig zu eigener Vorstellungskraft,
hard Breitinger – und zwar gerade ausgehend von dieser oben ausgeführten
verharrt in lächerlicher Abhängigkeit vom Elysée-Palast und wird gleichzei-
Darstellung – die Bedeutung der Arbeit herausstellen, die von Professor
tig beherrscht von einer Umgebung, die nur ihrer Gier folgt: „Paul Biya …
Breitinger als Lehrender und als Forscher, aber vor allen Dingen als Grün-
thront als Autokrat in Yaoundé … und herrscht uneingeschränkt, lässt Men-
der der Bayreuth African Studies Series (BASS) geleistet wurde, eines Ver-
schen erschießen, verprügeln, willkürlich im Gefängnis festhalten, übt Zen-
lagshauses, das sich ausschließlich der Förderung afrikanischer Kulturen
sur aus, wie es ihm gefällt, unterschlägt öffentliche Gelder und spielt sich als
widmet.
Noriega auf.“5
Wir haben uns Mitte der 1980er Jahre kennen gelernt, als Eckhard Brei-
Und wie hätte dies auch anders sein können, zumal man weiß, dass Oy-
tinger eine Forschungsreise nach Yaoundé unternahm. Danach, als ich mich
ono einer der wichtigsten Ratgeber und Vertrauten von Biya ist. In diesem
Anfang der 1990er Jahre als Stipendiat des DAAD in Hamburg aufhielt,
Punkt ist das Porträt, das Mongo Beti von Oyono zeichnet, aussagekräftig,
lud er mich für einen Vortrag nach Bayreuth ein.
weil es die große Kluft zeigt, die den postkolonialen Intellektuellen, der für
Ab dem Frühjahr 1997, als ich auf Einladung seines Kollegen János
eine schöpferische Arbeit und Wiederaneignung von Wissen kämpft, von
Riesz ein Semester an der Universität Bayreuth verbrachte, nahm unsere
dem trennt, der sich damit begnügt, nur ein Agent der herrschenden Macht
Zusammenarbeit intensivere Formen an. Ich entdeckte damals seine Bay-
zu sein.
reuth African Studies Series, die Werke in französischer, englischer und deut-
Für Mongo Beti stellt Oyono das Symbol des Anti-Intellektuellen dar,
scher Sprache über alle Aspekte afrikanischer Kulturen herausgab: d. h.
der den Sirenengesängen des individuellen und persönlichen Ehrgeizes
Literaturgeschichte, Literaturkritik, Geschichte, Sprache und Linguistik,
nachgegeben hat. Man kann es noch hinnehmen, dass Oyono seine antiko-
Theater, Religion, Recht und Musik usw.
lonialen Schriften sozusagen widerrufen hat, um sich dem unpopulären Re-
Das war auch der Grund, warum ich mich ohne zu zögern an die BASS
gime (Ahidjo/Biya) in den Dienst zu stellen. Aber wie soll man die Rolle
wandte, als ich nach Wegen suchte, jenes lange Interview (in Buchform) zu
verstehen, die er beim Verbot des Buches Main basse sur le Cameroun – au-
publizieren, das Mongo Beti mir am Ende der 1990er Jahre gewährt hatte.
topsie d’une décolonisation von Mongo Beti spielte?
Aufgrund des Inhalts dieses Interviews hatte ich bereits eine klare Vorstel-
Mongo Beti schreibt:
lung davon, wie man einen solchen Text in den Verlagshäusern aufnehmen
… als Main basse sur le Cameroun 1972 beschlagnahmt und verboten würde, die in Frankreich weiterhin darauf spezialisiert waren, Texte afri-
wurde, war Oyono kamerunischer Botschafter in Paris. Ahidjo hat ge- kanischer Autoren und Autorinnen zu veröffentlichen – nachdem ein ei-
fordert, dass mein Buch beschlagnahmt und verboten werden sollte und genständiges afrikanisches Verlagswesen niemals wirklich funktioniert hat.

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Mein Eindruck hat sich bestätigt, als die erste Ausgabe vergriffen war und den Interviewtext selbst veröffentlichen. Dieses Verhalten trug sehr zu Be-
französische Verlagshäuser um eine Wiederherausgabe des Buches gebeten ruhigung von Mongo Beti bei, der ja für sein Misstrauen gegenüber Verle-
wurden. Sowohl Présence Africaine als auch La Découverte hielten die Äu- gern bekannt war.
ßerungen von Mongi Beti für zu gewagt und befürchteten nach einer He- Es ist bedauerlich, dass es Beti nicht mehr möglich war, das Erscheinen
rausgabe Gerichtsprozesse, die sie nicht riskieren wollten. des Buches zu erleben, das nur eine Woche vor seinem plötzlichen Tod in
Elsa Schifano hat in ihrem Buch L’Edition Africaine en France gezeigt, Druck ging. Der Verleger von BASS hielt all seine Versprechungen. Daher
dass das Verlagshaus Présence Africaine, dessen Niedergang offenkundig habe ich nicht gezögert, ihm auch Remember Mongo Beti anzubieten, einen
ist, der einzige Verlag ist, der sich jemals ausschließlich auf die Herausgabe Band mit Erinnerungstexten an den verstorbenen Schriftsteller. Unmittel-
afrikanischer Werke spezialisiert hat. Alle anderen Verlage haben nur (mehr bar danach ergab es sich, dass ich selbst Gast des Kollegen Breitinger im
oder weniger bedeutende) Reihen für afrikanische Werke gestartet. Das September/Oktober 2003 war, und ich konnte dort erneut seine große
trifft auf L’ Harmattan, Karthala, Le Serpent à Plumes oder sogar Gallimard Gastfreundschaft und seine ‚afrikanische Seite‘ genießen.
oder Actes Sud zu. Aber auch andere Verlage mit einem sehr breiten Ange- Die Universität Bayreuth ist bekanntlich ein bedeutendes Zentrum der
bot ohne eine spezielle Afrika-Reihe wie beispielsweise Le Seuil, Buchet- Afrikaforschung. Bayreuth ist eine Begegnungsstätte für afrikanische Stu-
Chastel, 10/18, Albin Michel, Julliard veröffentlichen von Zeit zu Zeit afri- dierende und Forscher/innen. Für viele ist das Büro oder das Haus von Pro-
kanische Autoren und Autorinnen. fessor Breitinger zugleich Anlaufstelle und unumgängliche Informations-
Wegen seiner Auseinandersetzungen mit Mongo Beti hatte Présence und Dokumentationsstelle. Sicherlich gibt es unter ihnen hin und wieder
Africaine es abgelehnt, das Interview abzudrucken, ohne überhaupt den auch einige Gesellen, die gern die Verfügbarkeit von Prof. Breitinger aus-
Text zu kennen. Wie hätte ich also noch versuchen können, andere Verlage beuten würden. Aber auf so etwas lässt dieser sich gar nicht ein. Ohne je
für dieses Manuskript anzufragen – mit einem so provokativen Text? Au- ein paternalistisches Verhalten an den Tag zu legen, verbindet Eckhard
ßerdem schätzte ich Mongo Beti so ein, dass er sich jeder Überarbeitung Breitinger seine kollegialen Verbindungen mit afrikanischen Forschern und
strikt widersetzen würde, die eine Zensur eines Textes bedeutete, für den er Forscherinnen auch mit einer ganz exemplarischen Disziplin – und erinnert
mir außerdem bereits seine Druckerlaubnis gegeben hatte. Glücklicherwei- dabei auch solche daran, die dabei sind, das Ziel ihres Aufenthalts zu ver-
se verliefen die Verhandlungen mit BASS in der größten Ruhe, wie auch in gessen, dass sie nach Bayreuth gekommen sind, um für den Fortschritt der
Gelassenheit und im Zeichen des gegenseitigen Respekts. Was meine Auf- Afrika-Forschung und des afrikanischen Wissens zu arbeiten.
merksamkeit erregte und was auch Mongo Beti beim näheren Kontakt mit Es ist ganz offenkundig, dass die Schaffung von BASS und die Publika-
BASS sehr gefiel, war, dass der Verleger sich in keinem Moment lehrmeis- tion vieler Texte, die mit Sicherheit von den üblichen Verlagshäusern abge-
terlich aufspielte. Professor Breitinger verlegt ausschließlich Werke über lehnt würden, Teil eines Verlagsprogramms ist, das afrikanische Kulturen
Afrika. Aber zu keinem Zeitpunkt zeigt er in irgendeiner Weise das übliche wirklich fördern will. Diese Verlagsarbeit ist eine gesellschaftspolitische Tä-
Verhalten jener europäischen ‚Entwicklungsexperten‘ und ‚Entwicklungs- tigkeit, die glücklicherweise an dieser Stelle das Versagen vieler afrikani-
expertinnen‘, die ja für ihre Selbstgefälligkeit bzw. Arroganz sattsam be- scher Kulturverantwortlicher etwas auszugleichen vermag.
kannt sind. Nach dem Tod des politisch engagierten Schriftstellers René Philombe
Ein Beweis dafür ist, dass er, der Verleger von BASS, Mongo Beti er- (1930–2001), der sein ganzes Leben lang durch die politischen Regime in
klärte, dass sein Verlagshaus kein abenteuerliches Unternehmen mit dem Kamerun verfolgt wurde, die einander ablösten, war es die BASS, die die-
Ziel sei, um jeden Preis Gewinn zu machen, sondern vielmehr eine unter- sen wichtigen Teil des kamerunischen Kulturerbes rettete, indem sie der Fa-
stützende Struktur, die Dienstleistungen anbiete. Er sei durchaus bereit, die milie des Verstorbenen anbot, den Roman Bedi-Ngula, l’ancien maquisard
Frage der Autorenrechte mit Mongo Beti zu diskutieren. Und, so führte er zu veröffentlichen, einen kritischen Gesellschaftsroman, der sich seit Jahr-
fort, dieser könne auch gern – nach dem Erscheinen des Buches bei BASS – zehnten in der Schublade des Schriftstellers befand. Philombe, der beidsei-

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tig gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, agierte selbst als unermüd- Susan Kiguli
licher Förderer der nationalen literarischen Institutionen und hatte immer Femrite und die Rolle der Schriftstellerin in Uganda:
davon geträumt, sein Buch in seiner Heimat zu veröffentlichen. Er hatte al- Persönliche Einsichten
les versucht, um Bedi-Ngula herauszugeben, leider ohne Erfolg. Die selbst-
ernannten Verantwortlichen der nationalen Kultur in Kamerun hatten
nichts getan, um ihm dabei zu helfen.7 Susan Nalugwa Kiguli hat ihre ersten Gedichte schon in Kindertagen
Man sieht es an jedem dieser Beispiele: zwar existiert die BASS in Eu- verfasst. Nach Universitätsabschlüssen in Erziehung und Literatur
ropa, man kann dieses Verlagshaus jedoch in die Problematik des afrikani- promoviert sie gegenwärtig an der Universität Leeds über Ästhetik
schen Verlagswesens miteinbeziehen. Dank des technologischen Umfelds in und Sprachdiktion ugandischer Dichtung. Neben ihrem ersten eige-
Deutschland kann es sich die BASS leisten, Bücher in nur kleinen Auflagen nen Lyrikband, The African Saga, hat sie zahlreiche Gedichte in ver-
zu drucken, die man jederzeit aufstocken kann. Die Professionalität des schiedenen Anthologien publiziert, die im deutschsprachigen Raum
Verlages und die Unterstützung der Universität Bayreuth tragen dazu bei, u. a. im 2002 bei Peter Hammer erschienen Band Antilopenmond:
nicht in die Falle zu tappen, die stets auf alle Verleger der Welt zu einer Zeit Liebesgedichte aus Afrika zu finden sind. Gegenwärtig arbeitet Susan
warten, in der „der Buchhandel das risikoreichste Geschäft nach der Film- Kiguli an ihrem zweiten Lyrikband. Sie wirkt als Dozentin und Lite-
branche ist“,8 wie der ghanaische Forscher S. I. Kotei schreibt. raturwissenschaftlerin, saß im Auswahlkomitee des Commonwealth
Unter dem Vorwand, für die wirtschaftliche Entwicklung zu arbeiten, Writers Prize und koordiniert Alphabetisierungs- und Literaturförde-
haben viele Führungskräfte in afrikanischen Ländern ihre eigentliche Auf- rungsprogramme für den ostafrikanischen Raum.
gabe, nämlich die nationale Kultur zu fördern, völlig aufgegeben. Dies ver- Ihre Gedichte, für die sie nationale und internationale Preise ge-
leiht der Initiative von Professor Breitinger, der Grundlagentexte (grassroot wonnen hat, agieren auf zwei Bedeutungsebenen: zum einen hinter-
materials) im eigentlichen Wortsinn veröffentlicht, seine eigentliche zu- fragen sie stereotype gesellschaftliche Rollenzuweisungen, die pa-
kunftsweisende Bedeutung. Afrikaforscher/innen und Afrikaner aus allen triarchale Gesellschaftsstruktur ihres Heimatlandes, und kritisieren
Berufssparten sollten Professor Eckhard Breitinger die Dankbarkeit bezeu- die Gewalt gegen Frauen. Zum anderen unterstreichen Kigulis zärt-
gen, die er verdient, und ihn darin bestärken, diese verdienstvolle Arbeit liche Oxymorone immer wieder die alltäglichen Wunder, die Schön-
fortzusetzen, die unser kulturelles Erbe leuchtender und sichtbarer macht. heit der Natur, den Frieden, der in manch perfekt erlebtem Moment
zu erfahren ist. Ihre erstaunlich präzise Beobachtungsgabe erschafft
Aus dem Englischen übersetzt von Sibylle Weingart die Welt als wundersamen Ort der Berührungen, des Flüsterns, der
leisen Töne und Begegnungen. So lädt sie ihre Leser/innen stets auf
eine Entdeckungsreise ein, auf der Bekanntes neu erlebt wird und in
nie bemerkter Schönheit erstrahlt.
In ihrem hier abgedruckten Essay beschreibt Susan Kiguli in an-
schaulicher und leidenschaftlicher, doch nie polemischer Weise den
Zuspruch und die Widerstände, denen eine ugandische Lyrikerin
nach ihren ersten Veröffentlichungen in ihrer Heimat begegnet.
Weiterhin stellt sie die herausragende Rolle des ugandischen Schrift-
stellerinnenverbandes Femrite – dessen Gründungsmitglied sie ist –
bei der Förderung sowohl junger Autorinnen als auch einer ugandi-
schen Lesekultur im allgemeinen dar.
Katrin Berndt
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Eine Frau und eine Schriftstellerin? ler weiblich ist? Warum haben wir das Bedürfnis dies als Besonderheit zu
definieren? Wenn wir über Okot p’Bitek oder Timothy Wangusa sprechen,
Ich werde häufig gefragt wie es ist, sowohl eine Frau als auch eine Schrift- gibt es keine Veranlassung, sie als männlich zu identifizieren. Aber in dem
stellerin zu sein. Ich verstehe nicht ganz, warum Menschen sich gezwungen Moment, in dem wir beginnen über Mary Karooro Okurut zu sprechen,
sehen eine Frage zu stellen, die die Frau deutlich von der Schriftstellerin suchen wir in unserem Vokabular nach Ausdrücken, um sie als etwas Spe-
trennt. Bei einer bestimmten Gelegenheit habe ich geantwortet, dass es sich zielles zu beschreiben. Es scheint, als wären wir gezwungen, ihr das Etikett
anfühlt, als ob ich einen Liebhaber am Taxistand in Kampala mitten am Tag ‚besonders‘ oder ‚unnormal‘ anzuheften. Wenn ich mich an diesen Katego-
küssen würde. Nun, ich habe niemals die Absicht gehabt, und werde sie risierungen beteilige, fühle ich mich schuldig und ziemlich durcheinander,
auch nie hegen, gegen gewisse Beschränkungen sexueller Freiräume zu ver- denn ich spüre, dass ich unsere Marginalisierung als Frauen und Schriftstel-
stoßen, Beschränkungen, die mir anerzogen wurden (vor allem, weil ich lerinnen selbst mit betreibe. Letzten Endes frage auch ich, gemeinsam mit
nicht glaube, dass ein Verstoß mir in irgendeiner Hinsicht etwas bringen der erstaunten Menge: „Eine Frau und eine Schriftstellerin?“ Eine Freundin
würde), aber ich kann mir den Aufstand vorstellen, wenn ich es jemals täte. hat mir mal erzählt, dass Margaret Thatcher, als sie gefragt wurde, wie sie
Ich kann die Vielzahl der Reaktionen der schäumenden Menschenmenge es empfindet, als ‚eiserne Lady‘ bezeichnet zu werden, geantwortet habe, es
an unserem außerordentlich geschäftigen und Lärm erfüllten Taxistand hö- sei besser, eine „eiserne Lady genannt zu werden, als einer dieser Pappkame-
ren und sehen. Ich kann mir die Situation problemlos vorstellen, weil ich raden zu sein“. Dennoch, meine Sorge, dass diese Einteilung in vielerlei Be-
verschiedene Male Zeugin war, wenn ansonsten müßige Männer Frauen die ziehung zu personalisierter und trivialisierter Wahrnehmung führt, bleibt
Röcke herunterziehen mit der Begründung, dass ihre Kleidung zu kurz sei, bestehen. Diese Kategorisierung, das spüre ich, spiegelt die Vorurteile der
dass sie ihre Nacktheit entblöße und außerdem unsere kulturellen Gepflo- Gesellschaft gegenüber Frauen und ihre negative Charakterisierung wider.
genheiten verletze. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob diese Männer Ich möchte dem Versuch, in eine Kategorie gesteckt zu werden, in der das
nur von ihrem Müßiggängertum oder von ihrer Männlichkeit inspiriert Patriarchat meine Impulse, Entscheidungen, und meine Freiheit genau
wurden. Ich habe nie diese Theorie vom ‚angezogenen Hühnchen‘ verstan- kontrollieren kann, widerstehen.
den! Ich nenne sie Theorie vom ‚angezogenen Hühnchen‘, weil ich in mei- Nichtsdestotrotz ist mir absolut klar, dass ich, wenn ich mich weigere,
ner Kindheit äußerst verwirrt war, wenn ein völlig gerupftes Hühnchen als derart klassifiziert zu werden, mich in den berühmten Vogel Strauß verwan-
bekleidet bezeichnet wurde. Ich glaube, wenn diese Männer den Frauen dele, der seinen Kopf in den Sand steckt. Ich kann die Tatsache nicht igno-
ihre Kleidung herunterreißen – in dem Versuch ihre sogenannten ‚kulturellen rieren, dass Autorinnen in der Literaturszene Ugandas unterrepräsentiert
Empfindlichkeiten‘ oder auch buntu bulamu (ihre menschliche Wahrneh- waren und sind, besonders in den Jahren vor 1994. Uganda ist häufig als li-
mung) zu schützen, dann handeln sie aufgrund des ultimativen Parado- terarische Wüste bezeichnet worden, gerade in der Debatte, die durch Ta-
xons, für das das Patriarchat Experte ist: nämlich Frauen unter dem Vor- ban Lo Liyong bekannt wurde, aber männliche Autoren erfreuten sich den-
wand des Schützens und Bewahrens zum Schweigen zu bringen. Um auf noch eines gewissen Bekanntheitsgrades, trotz der angespannten Stimmung
meine Erwiderung zurückzukommen: Ich möchte einen schon lange geheg- im Land. Schriftstellerinnen hingegen, abgesehen von Ausnahmen wie Bar-
ten Verdacht äußern, und zwar den, dass die ugandische Gesellschaft bara Kimenye, Elvania Namukwaya Zirimu, Olivia Kokunda, Rose Mbo-
glaubt, eine erfolgreiche Frau sei ein gefährliches Phänomen. wa und Violet Barungi, erhoben kaum ihre Stimme. Das heißt keinesfalls,
Wenn ich über meine Stellung als Schriftstellerin spreche, dann fühle dass ugandische Schriftstellerinnen nichts zu diskutieren hätten oder wüss-
ich mich wie die legendäre Puppe, die von zwei streitenden Kindern in Stü- ten, sondern dass ihnen kein gesellschaftlicher Raum offen stand – und, ich
cke gerissen wird. Als ich acht Jahre alt war, erzählte unser Klassenlehrer wage zu behaupten, sie erfuhren wenig Ermutigung dies zu ändern. Was
diese Geschichte, und sie gehörte zu meinen liebsten. Viele Male habe ich mich tief verwundert und ängstigt ist, dass mir in meiner Kindheit ständig
inne gehalten und mich gefragt: Warum hervorheben, dass ein Schriftstel- erzählt wurde, dass Frauen die Trägerinnen der ‚Tradition‘ seien, wie auch

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die wichtigsten Förderinnen von Werten wie Fürsorge, Schutz und nationa- fen. Das entsprach der allgemeinen Ansicht, obwohl Werke von Lyrikern
ler Identität. Dennoch wurde diesen Bewahrerinnen des Wissens, soweit ich mit ausgezeichneter Reputation, wie zum Beispiel Timothy Wangusa, ge-
weiß, keine Möglichkeit gegeben, ihre Geschichten zu dokumentieren. Die- druckt wurden.
ses Missverhältnis von Wissen und gesellschaftlicher Realität kommt stän- Ich kann mich an einige Kommentare darüber, wie schnell sich mein
dig zur Sprache, besonders während literarischer Veranstaltungen in Ugan- Buch verkaufte erinnern, bei denen ich mich fragte, ob sie wohl gemacht
da. worden wären, wenn ich ein Mann wäre. Einige möchte ich hier erwähnen.
Am 29. April 1998, während der Feier zur Publikation der ersten drei Einer besagte, dass ich eben viele Freunde und Freundinnen hätte und dass
Bücher durch Femrite, sagte Mary Karooro Okurut, eine Mitbegründerin diese mein Buch gekauft hätten. Nun, ich denke schon, dass ich viele
der Vereinigung Ugandischer Schriftstellerinnen folgendes: „Ich habe mei- Freunde und Freundinnen habe, aber ob sie zweitausend Exemplare auf-
ne Familiengeschichte und die Geschichte unserer Nation, unsere Lyrik und kaufen könnten, und noch dazu die Nachauflage des Buches, das möchte
Erzählungen durch meine älteren weiblichen Verwandten erfahren. Unsere ich der Beurteilung der Leser/innen überlassen. Die zweite Bemerkung lau-
Frauen berichten über uns selbst, und indem sie das tun, halten sie die Ge- tete, dass alles, was irgendwie mit Frauen zu tun hätte, sich in Uganda gut
meinschaft zusammen.“ Ayeta Wangusa, die unmittelbar nach Karooro verkaufen würde, weswegen es nicht überraschend wäre, dass mein Buch
Okurut auftrat, sagte: „Mein Vater schrieb die männliche Version des Bagi- ausverkauft war. Ein dritter Kommentar richtete sich gegen die ‚aggressive
su-Schöpfungsmythos über Mundu und Sera um. Ich habe versucht, der Werbestrategie‘ von Goretti Kyomuhendo, der Koordinatorin von Femrite,
weiblichen Version die Stimme Seras zu geben.“ Der Gehalt beider Aussa- für die Femrite Bücher, speziell für meines. Offensichtlich hat Kyomuhen-
gen und die Atmosphäre dieser Veranstaltung haben klar gemacht, dass die do die Angewohnheit aus meinem Buch vorzulesen, wenn sie auf Foren
‚Träger und Kenner‘ der ‚Tradition‘ als solche anerkannt und in die Litera- spricht! Die Liste könnte weitergehen, und vielleicht sind diese Kommenta-
tur des Landes eingeschrieben werden müssen, um eine Welt der Frauen zu re alle gerechtfertigt, aber ich frage mich doch, ob sie damit zusammenhän-
erschaffen und darauf zu bestehen, dass Frauen sowohl in der mündlichen gen, dass ich eine Autorin bin. Ich will die überwältigende Unterstützung,
als auch in der schriftlichen Erzähltradition zu Hause sind. die ich von Männern erhalten habe, nicht leugnen, aber diese Art von Be-
Im April 1998, als die ersten Exemplare von The African Saga herauska- merkungen stören mich.
men, wurde mir bewusst, dass ich explizit als ‚woman poet‘ bezeichnet wur- Es ist ein zäher Kampf, sowohl als Individuum als auch als Frau in einer
de, und dass die Leser/innen meine Gedichte nach der ‚weiblichen Stimme‘ Kultur zu schreiben, die dir ständig das Gefühl gibt eine Nörglerin zu sein,
durchsuchten. Mir war ebenfalls klar, dass das Buch von einer Vereinigung wenn du das überwältigende Gefühl von Einsamkeit ausdrückst, welches
von Schriftstellerinnen publiziert worden war. All dies hat mich dazu ange- die männliche Hegemonie den Frauen aufdrückt, die ihre Stimme erheben.
regt, ernsthaft über die Stellung der Schriftstellerin in Uganda nachzuden- Für mich ist das ein ziemlich schwieriges Unterfangen, denn ich merke,
ken. Ich bin überzeugt, dass meine Gedichtsammlung nie zu diesem Zeit- dass der Versuch, meine Stimme zu ersticken oder zu verspotten von Seiten
punkt publiziert worden wäre, hätte sich Femrite nicht an die Publikation der bereits etablierten, männlich dominierten Kulturinstitutionen erfolgt,
gewagt – trotz der verbreiteten Angst, dass sich Lyrik nicht verkauft. Ich ganz im Gegensatz zum Verhalten der Männer in meinem Leben. Es ist ex-
muss zugeben, dass ich sehr überrascht war, als ich sechs Besprechungen der trem schwierig für mich, diese doppeldeutigen Gefühle zu erklären, oder sie
African Saga, allesamt von Männern, in ugandischen Zeitungen in den ers- gar richtig zu verstehen. Ich habe das Gefühl, dass ich meinen Weg zwi-
ten zwei Monaten nach Erscheinen des Buches entdeckte. Und ich war noch schen meiner Realität und der Welt der Imagination, die ich in meinen Ge-
um einiges verblüffter, als mir nach sechs Monaten mitgeteilt wurde, dass dichten erschaffe, beständig verhandeln muss. Wahrscheinlich kann dieses
The African Saga ausverkauft war und es eine Neuauflage geben würde. Ir- Gefühl am besten durch Obioma Nnaemekas Theorie des Negofeminismus
gendwann in der Vergangenheit hatte ich selbst begonnen zu glauben, dass verdeutlicht werden. Sie sagt, dass Frauen ihre Realitäten aushandeln müs-
Lyrik seit Okot p’Bitek’s Tod im Jahre 1982 aufgehört hatte, sich zu verkau- sen, wobei sie alle Möglichkeiten, die sie haben, in Betracht ziehen müssen,

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und dass sie nicht einfach rebellieren und alle ‚Traditionen‘ verwerfen, son- wusstsein und meine Identität als Frau, aber auch als Muganda [Mitglied
dern diese ändern sollten, wenn es notwendig ist. Sie betont, dass es keine des ugandischen Volkes der Baganda – KB] und Uganderin erhob, betraf
einfachen Dichotomien gibt und merkt an, dass nicht nur mich selbst, das spürte ich. Im Folgenden zitiere ich die ersten
zwei Strophen des Gedichtes:
die Scheidewege Orte des Austausches sind, Orte an denen Kompro-
misse geschlossen werden, an denen verhandelt wird; die Art der Ver- Ich bin es leid, in Metaphern zu sprechen
handlungen beginnt an den Scheidewegen des Lebens; der Feminismus
der Verhandlung (Negofeminismus) wird zuerst an den Scheidewegen Ich werde es deutlich aussprechen
gelernt.1 Weil ich nicht mehr in Rätseln sprechen will
Ich habe festgestellt, dass der ganze Prozess des Lebens und Schreibens in Ich werde erzählen, wie wir unsere Köpfe hielten
meiner Gesellschaft bestimmt wird durch das Überschreiten von Grenzen, In unseren Händen
manchmal durch das Verbleiben innerhalb gegebener Grenzen, und vom Weil die Eule die ganze Nacht schrie
sorgfältigen Zusammenführen von Werten und Wissen, die einfache Ant- Und die Hunde heulten, als ob sie trauerten
Wir erwarteten schlechte Nachrichten
worten und simple Verurteilungen nicht mühelos bereit stellen.
Wir erhielten sie:
Ich bin mir nicht sicher, ob z. B. meine Neigung zum Protest gegen so-
Unsere Mutter, auf einem Auge geblendet
ziale Missstände von meiner individuellen Persönlichkeit, meinem ‚Frau-
Ihr rechtes Bein verkrüppelt
Sein‘, oder von beidem beeinflusst wird. Ich möchte leidenschaftlich gegen
Weil sie sich weigerte
soziale Ungerechtigkeit protestieren, und wenn ich dies tue, baut meine Für den Kandidaten ihres Ehemannes zu stimmen.
Vorstellungskraft auf den Menschen und Bildern auf, die meine Realität als
ugandische Frau konstituieren. Ich möchte nicht durch soziale Konventio- Ich will euch erinnern
nen beschränkt werden; als ich beispielsweise das Gedicht „I am Tired of An die Zeit als die geschälten Kochbananen
Talking in Metaphors“ schrieb, tat ich dies teilweise, weil zahlreiche Zei- Aufrecht im Kochtopf standen
tungsartikel, die über Gewalt gegen Frauen in Uganda berichteten, mich Wir schlachteten einen Hahn
aufgewühlt hatten. Ich wollte meine Stimme in die öffentliche Debatte über Erwarteten wichtigen Besuch
häusliche Gewalt und den privaten und öffentlichen Missbrauch von Frau- Wir empfingen sie:
en einbringen. Die Frau als solche nahm zwangsläufig die wichtigste Rolle Unsere Tochter – zerstückelt in einem Sack –
in meinem Gedicht ein, weil ich in meiner Gesellschaft mehr Frauen als Unser Geschenk, von ihrem Ehemann.2
Männer kenne, die geschlagen werden. Ich wollte gegen den psychischen
und körperlichen Missbrauch von Frauen in meiner Gesellschaft protestie- Wenn ich ein solches Gedicht schreibe, dann sage ich damit nicht, dass alle
ren, und es war irrelevant, dass diese Frauen, die misshandelt wurden, nicht Männer Frauen missbrauchen, aber einige Männer tun es, und sie sollten
mit mir verwandt waren; in meiner Kultur werden sie ohnehin alle als mei- kompromisslos zur Rechenschaft gezogen werden; ich sage nicht, dass Frau-
ne Mütter, Schwestern und Nichten angesehen. Ich habe absichtlich kultu- en nicht daran beteiligt wären andere Frauen zu unterdrücken, einige Frau-
rell spezifische Sinnbilder und Situationen verwendet, weil ich durch das en sind es und einige meiner Gedichte sprechen davon. Mir ist ebenso be-
zum Schreiben inspiriert wurde, was in meiner unmittelbaren Umgebung wusst, dass ich mich nicht mit allen sozialen und kulturellen Belangen
geschah – nach dem Wahlkampf und der Präsidentschaftswahl im Jahre meiner Gesellschaft auseinander setzen kann. Als Frau und Schriftstellerin
1996 sowie von meinem Wissen um das, was die ganze Zeit vor sich ging, schreibe ich zumeist über die Menschen, die ich am besten kenne, und
worüber aber nicht berichtet worden war. Dass ich Anspruch auf mein Be- zweifellos gibt es in meinem Leben mehr Frauen als Männer. Ich verstehe

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nicht, wieso ich wie ein merkwürdiges Phänomen behandelt werde, bloß nach Auffassung dieser Frauen eine vielschichtige Bedeutung. Das Grün-
weil ich den offensichtlich logischen Weg wähle. Aber ich besitze die Gei- dungstreffen, abgehalten in Mary Karooro Okuruts Büro im Literatursemi-
stesgegenwart zu erkennen, dass solche Wahrnehmungen unvermeidbar nar der Makerere Universität, bezog diesen Ansatz in die Namensgebung
sind, und dass ich manchmal Kategorisierungen akzeptieren muss, weil ich mit ein und folgte Monica Barya Chibitas Vorschlag: so wurde Femrite der
nicht Teil von Institutionen sein möchte, die dafür gekämpft haben, dass offizielle Name der Vereinigung, und ist es bis heute.
Frauen der Zutritt zur Öffentlichkeit versperrt bleibt. Ich glaube, dass alle Femrite entstand, weil Autorinnen in der Geschichte der schriftlichen
Frauen das Recht haben, gehört und in Verhältnissen wahrgenommen zu Literatur Ugandas nahezu unsichtbar waren. Die Förderung von Frauen auf
werden, die ihnen am meisten zusagen. allen Ebenen, die besonders in der Zeit nach der Herrschaft von Amin bzw.
Ich habe die geringe Zahl von Schriftstellerinnen in Ugandas Lite- Obote II ein wichtiges Thema wurde, brachte ans Tageslicht, dass Autorin-
raturszene vor den 1990ern erwähnt. Persönlich denke ich, dass das Sicht- nen kaum eine angemessene Möglichkeit zur Teilhabe an der öffentlichen
bar-Werden von Autorinnen auf der nationalen Bühne in den 1990ern Debatte hatten. Kurz zuvor, im Jahr 1994, hatten Ugandas Schriftsteller/
hauptsächlich mit der Philosophie der Nationalen Widerstandsbewegung innen durch die Publikation von vier Büchern beim ugandischen Verlag
zusammenhängt, die die ‚affirmative action‘ für Frauen bejahte und die Be- Fountain Publishers einen enormen Auftrieb erhalten. Drei dieser Bücher
teiligung von Frauen am Guerillakrieg anerkannte. Dies wiederum führte waren von Frauen geschrieben worden. Dennoch hatten weder der Gedan-
1986 zur Machtergreifung der Nationalen Widerstandsbewegung, und ke an Frauen als Schriftstellerinnen noch der Inhalt ihrer Werke besondere
zwar auf eine Weise, die während der von Amin und Obote beherrschten Aufmerksamkeit erfahren. Die Gründung von Femrite im Jahr 1995 aber
Jahre unmöglich gewesen wäre. Im Geiste des Feierns und des Förderns von beförderte einen lebendigen Zusammenschluss der unterschiedlichsten Au-
Frauenangelegenheiten sind Frauenorganisationen wie Femrite entstanden. torinnen. Femrite hat 28 Hauptmitglieder, die die Vollversammlung konsti-
tuieren. Diese kommt einmal im Monat in den Büroräumen von Femrite
in der Kiira Road, Kamwokya, in Kampala zusammen. Die Räumlichkei-
Wie Femrite gegründet wurde ten selbst stehen auch Nichtmitgliedern offen. Die Vollversammlung wählt
die ausführenden Kommiteemitglieder, gegenwärtig sind das Mary Karoo-
Femrite ist der offizielle Name der Vereinigung Ugandischer Schriftstellerin- ro Okurut (Vorsitzende), Winnie Munyarugerero (stellv. Vorsitzende), Hil-
nen, die 1995 gegründet wurde. Die Idee zu einer ugandischen Schriftstel- da Twongyeire (Schriftführerin), Goretti Kyomuhendo (Schatzmeisterin),
lerinnenvereinigung hatte eine Gruppe von Frauen, von denen Mary Ka- Ayeta Anne Wangusa (Mitglied), Deborah Etoori (Mitglied).
rooro Okurut, Monica Barya Chibita, Shirley Byakutaga und Rosemary
Kyarimpa wohl die bekanntesten sind. Mary Karooro Okurut, zu der Zeit
Dozentin am Literaturseminar der Makerere Universität und gegenwärtige Laufende Programme und Aktivitäten von Femrite
Vorsitzende, berief das Treffen ein, bei dem die Vereinigung ins Leben ge-
rufen wurde. Die Gründung von Femrite war ausschließlich freiwilligen Meiner Einschätzung nach zeichnet sich Femrite als eine Organisation aus,
und lokalen Anstrengungen zu verdanken. Der Hauptgrund für die Bil- die allen Widerständen zum Trotz weiter bestehen und erfolgreich arbeiten
dung einer solchen Vereinigung war die Absicht, die zuvor marginalisierte wird. Ganz zentral ist die praktische Ausbildung von Autorinnen, die ihre
Stimme der Schriftstellerin in Ugandas Literaturszene präsenter zu machen. Fähigkeiten und Talente weiterbilden möchten. Die Ausbildung findet so-
Die an der Gründung beteiligten Frauen waren nicht alle Autorinnen von wohl als formaler Unterricht, wie auch auf informeller Ebene statt. Im Mo-
Belletristik, Dramen, Lyrik, oder autobiographischen Texten. Monica Ba- ment betreibt Femrite einen Buchklub, der sich jeden Montag in den Räu-
rya Chibita zum Beispiel ist Journalistin, während Jane Francis Alowo und men der Organisation trifft. Hauptziel dieser Treffen ist die gegenseitige
Shirley Byakutaaga Linguistinnen sind. Die Bezeichnung ‚Autorin‘ hatte Einschätzung und Beurteilung der laufenden kreativen Arbeit der Teilneh-

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merinnen. Die Treffen stehen auch Nicht-Mitgliedern offen und ziehen so- Femrite stets leidenschaftlich unterstützt und mit ermöglicht hatten, als
wohl männliche wie weibliche Schriftsteller/innen an. Veranstaltungen die- Ehrenmitglieder in die Vereinigung aufgenommen. Außerdem gab es eine
ser Art haben junge Autorinnen enorm ermutigt und motiviert. ‚Nacht der Schriftsteller/innen‘ und eine Pressekonferenz, auf der Ama Ata
Um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, veranstaltet Femrite Aidoo interviewt wurde. Diese Veranstaltungswoche ist nun zum jährli-
jeden Samstagabend eine Radiosendung auf einem von Ugandas Kurzwel- chen Ereignis geworden, dessen Ehrengäste in Folge Taban Lo Liyong (im
lensendern, Monitor FM. Die Sendung diskutiert verschiedene literarische April 2001) und Okey Ndibe (im Januar 2002) gewesen sind. Die Ausein-
Themen und ermutigt die Hörer/innen, ihre Meinung über die unterschied- andersetzung lokaler Autor/inn/en mit den Erfahrungen und Wahrneh-
lichen literarischen Ansichten zu äußern. Die Vereinigung war auch an der mungen internationaler Schriftsteller/innen ist wohl der wichtigste Effekt
Initiierung einer Sendung im ugandischen Fernsehen beteiligt, die als „The dieser Schreibwerkstätten. Die Teilnehmer/innen sind durch den Kontakt
Writers’ Dawn“ bekannt ist. Diese Sendung wird von Patrick Mangeni mo- zu etablierten Autor/inn/en und ausländischen Literaturdozent/inn/en au-
deriert. Sie gibt verschiedenen Schriftsteller/inne/n eine Plattform, ihre ßerdem stark motiviert worden. Femrite führt ebenfalls Schreibwerkstätten
Werke zu diskutieren und sogar vorzutragen. Außerdem gibt es eine Bü- für seine Mitglieder durch, die von ugandischen Autor/inn/en, die bereits
cherseite in The New Vision (dem Zeitungsorgan der Regierung), die eben- veröffentlicht haben, und anderen an Literatur interessierten Personen un-
falls teilweise auf Initiative von Femrite entstand. terstützt werden.
Die Vereinigung fördert auch Lese- und Schreibfähigkeiten etwa durch Mit Hilfe verschiedener Organisationen wie dem British Council, dem
Lesungen, die sie mit Hilfe verschiedener Institutionen organisiert. Die American Center und vielen anderen richtete Femrite ein kleines Zentrum
Mitglieder von Femrite lesen in Schulen, an Universitäten und im Rahmen ein, welches mit Arbeitsmaterialien (Zeitschriften, Romanen, Sekundärlite-
anderer öffentlicher Foren des Landes aus ihren Werken. Das Publikum hat ratur etc.) ausgestattet wurde, die interessierten Autor/inn/en dabei helfen
sehr enthusiastisch auf die Möglichkeit reagiert, ihre schriftstellerischen Ar- sollen ihre Lese- und Schreibfähigkeiten zu entwickeln. Femrite hat auch
beiten zu hören und zu diskutieren. Dies gilt besonders für Kinder der schu- eine kleine Publikationsreihe etabliert, ist aber auf andere Druckereien an-
lischen Oberstufen. gewiesen, um die produzierten Bücher herzustellen. Seit 1998 hat Femrite
Die wichtigsten Veranstaltungen, durch die Femrite Lese- und Schreib- zwölf Bücher publiziert. In Uganda wird dies als große Errungenschaft be-
fähigkeiten befördern will, finden in einem noch größeren Rahmen statt: trachtet. Die gegenwärtigen Titel umfassen Romane (The Invisible Weevil
während einer Woche voller Aktivitäten, die ganz dem Schreiben und den von Mary Karooro Okurut, Memoirs of a Mother von Ayeta Anne Wangu-
Schriftsteller/inne/n gewidmet ist. Die erste Veranstaltung dieser Art fand sa, Secrets No More von Gorretti Kyomuhendo, Silent Patience von Jane Ali-
vom 23. bis 30. Januar 2000 statt. Die ghanaische Schriftstellerin Ama Ata son Kaberuka, Cassandra von Violet Barungi, und A Season of Mirth von
Aidoo war als Gast eingeladen, um das Schreiben von Frauen im neuen Jahr- Regina Amollo), Lyrik (The African Saga von Susan N. Kiguli, No Hearts
tausend zu feiern. Das Ereignis zog landesweit große Aufmerksamkeit auf at Home von Christine Oryema Lalobo und Men Love Chocolates But They
sich. Ama Ata Aidoo führte Schreibwerkstätten am Nationaltheater Ugan- Don’t Say von Mildred Kiconco Barya), sowie Anthologien mit Kurzge-
das durch, die allen interessierten Autor/inn/en offen standen. Die Eröff- schichten (A Woman’s Voice hg. von Mary Karooro Okurut, Words From A
nungszeremonie fand im Internationalen Konferenzzentrum statt, und der Granary hg. von Violet Barungi, und Tears of Hope hg. von Violet Barungi
Ehrengast war der damalige Minister für Höhere Bildung, Abel Rwendeire. und Ayeta Anne Wangusa).
Die Bedeutung von Büchern für ein ökonomisch unterprivilegiertes Land Die von Femrite publizierten Bücher haben große Aufmerksamkeit
wie Uganda war das Hauptthema dieser Veranstaltung. Während Aidoos durch die Medien erfahren, hauptsächlich weil Uganda es zum ersten Mal
Aufenthalt fanden öffentliche Lesungen zu ihren Ehren in der Alliance de erlebt, dass mehrere Schriftstellerinnen gleichzeitig mit ihren Werken in die
Française und der Makerere Universität statt. In derselben Woche wurden Öffentlichkeit treten. Fountain Publishers und andere Verlage haben eben-
Monica Barya Chibita und Austin Lwanga Bukenya, die die Arbeit von falls neue Schriftstellerinnen veröffentlicht. Aber es sind hauptsächlich die

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Anstrengungen von Femrite, und die die Gesellschaft herausfordernden Bücher von Femrite
Themen, die das Schreiben von Frauen in Uganda in den Vordergrund ge-
rückt haben. Lokale Kritiker/innen haben die Qualität der publizierten Aus meiner Sicht haben die von Femrite publizierten Bücher die laufende li-
Texte eifrig unter die Lupe genommen, und einige der Femrite-Bücher stan- terarische Debatte in Uganda entscheidend beeinflusst. Neue Themenberei-
den im Zentrum so mancher erregter öffentlicher Debatte. che sind präsentiert und erkundet worden. Die Bücher machen Debatten
Femrite hat lokale und internationale Unterstützung erfahren. Manch- bekannt, die sowohl Frauen auf dem Land wie in der Stadt unmittelbar be-
mal haben Menschen nicht nur Geld gespendet, sondern Raum und Bücher treffen.
für Schriftsteller/innen bereitgestellt, um ihnen mehr Gelegenheit zum Le- Ein gutes Beispiel ist das Erscheinen der Anthologie Tears of Hope. Dies
sen und Schreiben zu geben. Andererseits habe ich es auch erlebt, dass ist das neueste von Femrite publizierte Buch. Tears of Hope ist eine bewe-
Menschen die Meinung bekundeten, dass es in Uganda seit Beginn der gende Anthologie wahrer Geschichten von Frauen, die im Südwesten
1990er Jahre eine Atmosphäre gäbe, die Autorinnen bekannt zu machen Ugandas leben. Das Buch ist ein Produkt der Kooperation zwischen Femri-
suchte – egal, ob diese nun gut sind oder nicht. Diese Attitüde des ‚Händ- te, der Österreichischen Entwicklungskooperative, und acht Frauen, die
chenhaltens mit schlechten Autorinnen‘ hat in vielen Fällen eine ernste De- zum Zeitpunkt der Aufzeichnung der Geschichten an Kursen einer Rechts-
batte über das Schreiben von Frauen erzeugt. Trotz herabwürdigender Ein- beratungsstelle teilnahmen. Die Geschichten werden durch die Stimmen
schätzungen – und manchmal aufgrund dieser – sind die Diskussionen der Autorinnen vermittelt, die sie aufgezeichnet haben, aber sie bewahren
über die Bücher von Autorinnen stets hitzig und interessant gewesen. Ich er- die Sorgen und den Stil der erzählenden Frauen so sorgfältig wie möglich.
innere mich an eine sehr amüsante Reaktion eines Lesers auf Godfrey Kisi- Die Frauen haben ihre Geschichten in ihren lokalen Sprachen erzählt, die
kis Rezension meiner Lyriksammlung The African Saga, die 1998 in der Autorinnen haben diese dann übersetzt. Die Geschichten unterstreichen
Zeitschrift Crusader erschien. Der Leser beschuldigte Kisiki eine Frau zu deutlich die Ungerechtigkeiten, die das starke patriarchale System in Ugan-
sein, die lediglich den Namen eines Mannes angenommen hatte um zu zei- da den Frauen aufzwingt. Die Themen umfassen Zugehörigkeit zu Familie
gen, dass es Männer gab, die Frauen unterstützten. Er war sich absolut si- und Nation, Zurückweisung der Frauen durch Familienklans, häusliche
cher, dass kein Mann, der etwas taugt, eine solch speichelleckerische Be- Gewalt, Verwüstungen hervorgerufen durch die Geißel AIDS, unfaire
sprechung eines ‚Frauenbuches‘ geschrieben hätte. Nun weiß ich nicht Scheidungsgesetze, Gewalt unter Frauen, und die unterdrückende Wirkung
genau, wie viel Godfrey Kisiki ‚als Mann taugt‘, aber ich weiß, dass es ei- von Brautpreis und Landvererbung.
nen Mann dieses Namens gibt, der die Rezension geschrieben hat, und es Diese wahren Geschichten ergänzen die allgemeinen Themen, die in an-
würde mir schwer fallen, Gründe für seine angeblich speichelleckerischen deren Femrite-Büchern untersucht werden.
Absichten zu benennen. Ich meine damit nicht, dass harsche oder negative Ein genereller Blick auf die Femrite-Bücher zeigt eine Konzentration auf
Kritiken an Femrite-Büchern nicht willkommen seien. Im Gegenteil, die Themenbereiche, die mit dem Überlebenskampf von Frauen in einer Ge-
Einstellung von Femrite ist eher die, dass solche Rezensionen den Schrift- sellschaft zu tun haben, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Erfolg und
stellerinnen helfen, einen kritischen Blick auf ihr Schaffen zu werfen. Aber Wohlstand von Männern richtet. Die einzelnen Autorinnen interessieren
natürlich ist es auch wichtig anzuerkennen, dass Texte von Autorinnen ei- sich für verschiedene Themen, aber auffallend ist, dass alle Bücher zentrale
nen Weg aus dem schlüpfrigen Gebiet weisen, das zwischen lange etablier- Frauencharaktere haben, die in ihrer jeweiligen Umgebung ums Überleben
ten Institutionen des Patriarchats und den zunehmend in Erscheinung tre- kämpfen. Diese Bücher werden dominiert vom Motiv der Fähigkeit der
tenden, positiven Haltungen gegenüber dem Recht von Frauen liegt, die Frauen, zu überleben und um die Durchsetzung ihrer Entscheidungen zu
öffentliche Bühne zu besetzen und ebenso selbstverständlich an Debatten kämpfen.
teilzunehmen wie Männer. In einem der ersten von Femrite publizierten Bücher, The Invisible Wee-
vil, zeigt die Autorin Karooro Okurut mit ihrer Protagonistin Nkwanzi und

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vor dem Hintergrund der politischen Unruhen in den 1970ern und 1980ern, dras herausragendes Charaktermerkmal ist, dass sie trotz ihrer geistigen
wie Frauen ihr tägliches Leben führten und wie sie aktiv am Befreiungs- Unabhängigkeit und ihres Erfolges auch Fehler macht, besonders in ihrem
kampf teilnahmen – trotz allgegenwärtiger Korruption, Ignoranz, und Liebesleben. Dennoch triumphiert sie am Ende. Silent Patience ist ein an-
Krankheit, die in der Gesellschaft wucherten. Nkwanzi wird letzen Endes derer Roman, der zur selben Zeit wie Cassandra erschien. Das Buch er-
stellvertretende Ministerin, und muss ihre Kraft einsetzen um zu überle- forscht zahlreiche Frauencharaktere. Meine bewegendste Erfahrung beim
ben, als ihr Ehemann Genesis dem AIDS-Virus erliegt. Die Würde und Lesen des Romans beruht allerdings auf der literarischen Darstellung der
Entschlossenheit von Nkwanzi, der Protagonistin, ist unvergesslich. Wäh- Gefühle, Probleme, und Ängste einer behinderten Frau. Deborahs Mutter
rend das Buch die tyrannischen Regierungen Ugandas diskutiert, sind die verliert durch einen Unfall beide Beine, und leidet fortan unter permanen-
sensiblen Darstellungen der weiblichen Charaktere in meiner Erinnerung ten, starken Rückenschmerzen. Aufgrund ihres Zustands, und weil die Ge-
verblieben; dies waren z. B. Kaaka, Nkwanzis Schwiegermutter, Maama, meinde nur begrenzte Möglichkeiten hat sie zu unterstützen, verlässt ihr
Nkwanzis eigene Mutter, oder Goora, Nkwanzis Schulfreundin, die die Ehemann sie und heiratet eine andere Frau. Deborahs Mutter wird gezwun-
Schule abbricht, weil sie schwanger und von der Schulverwaltung taktlos gen, ihrem Heim und ihren Kindern fernzubleiben. Die Autorin Kaberuka
behandelt wird. schildert die mentalen und physischen Schmerzen, die die behinderte Frau
Ayeta Wangusas Buch Memoirs of a Mother, das zur selben Zeit wie The erdulden muss. Ihre Gemeinde erwartet von ihr, dass sie sich klaglos in die
Invisible Weevil herauskam, erforscht Seras Leben, ihre Suche nach Identi- neue Situation fügt. Das Thema Behinderung hat in der ugandischen Lite-
tät, und ihre Ängste und ihr Leid als sie vor Beendigung ihrer Ausbildung raturgeschichte keine ausreichende Behandlung erfahren. Ich hatte das Ge-
schwanger wird. Sie ist eine Frau, die in schlimme Notlagen gerät und ge- fühl, dass Kaberuka, indem sie dieses Thema anschneidet, eine Debatte
zeichnet aus ihnen herauskommt – und doch stark genug ist um weiterzu- über das komplexe Problem, eine behinderte Frau gerade in einer afrikani-
machen. Bücher dieser Art stellen Themen dar wie die Ängste, denen Mäd- schen Gemeinschaft zu sein, initiieren wollte. Das Buch erläutert außerdem
chen begegnen, wenn sie schwanger werden, aber sie erzählen auch von den (und detaillierter als das Thema Behinderung) den Gegenstand des Wit-
Mythen und dem Schweigen, mit dem der Gegenstand der Menstruation wendaseins. In einem Land wie Uganda, in dem die politische Instabilität
belegt wird, den Kämpfen, die Frauen durchzustehen haben, wenn ihre der 1970er und 1980er, sowie der andauernde Bürgerkrieg im Norden des
Ehemänner sie verlassen, ihren Ängsten, wenn sie Erfolge und Misserfolge Landes zu einer hohen Zahl von Witwen und Waisen geführt hat, ist dies
ihrer Kinder erleben, und den Verpflichtungen, die Brauch und ‚Tradition‘ natürlich ein notwendiges und höchst relevantes Thema. Da es so nahe an
ihnen als Frauen auferlegen. Dies sind Themen, die in der männlichen do- der ugandischen Realität angesiedelt ist, fand ich Kaberukas Darstellung
minierten ugandischen Literaturszene nicht im Vordergrund standen. teilweise romantisierend. Mein wichtigstes Anliegen ist es aber, dass solche
Ich glaube außerdem, dass Femrite dadurch, dass es mehr Romane als Themen überhaupt erörtert werden, und dass dies geschieht, erweckt Hoff-
Bücher anderer Genres veröffentlicht hat, einer ausführlicheren Charakteri- nung für künftige literarische Erkundungen.
sierung der weiblichen Figuren, die die Romane dominieren, Raum einge- Angesichts der Individualität der Frauen in diesen Geschichten, ihrer
räumt hat. Cassandra, eines der Bücher, das Femrite 1999 veröffentlichte, Entschlossenheit Lösungen zu finden und über ihr eigenes Leben zu ent-
diskutiert die Auswirkung des Hausfrauendaseins auf eine Frau, die in einer scheiden, finde ich, dass sich das Image der Frau in der ugandischen Litera-
Stadt groß geworden ist, ebenso wie das Recht von Frauen, beim Thema turszene gerade entscheidend verändert. Die Schriftstellerinnen schaffen
Fortpflanzung eigene Entscheidungen zu treffen. Die Autorin Barungi be- Heldinnen, die gegenwärtig und künftig dafür sorgen (werden), dass die
nutzt die Figur der starken und klugen Cassandra, um diese Probleme zu Themen, die Frauen betreffen, auf der Agenda ugandischer Literatur blei-
diskutieren. Cassandra ist eine außergewöhnliche Frau, entschlossen, in ih- ben.
rem Leben ihre eigenen Entscheidungen zu treffen; und obwohl die politi- Wie ich bereits erwähnte, hat das Schreiben von Frauen in Uganda eine
sche Situation dem nicht zuträglich ist, kämpft sie für ihre Ziele. Cassan- heftige Debatte über die Autorität der Stimme der Schreibenden hervorge-

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rufen. Secrets No More von Goretti Kyomuhendo and nun auch Mary Ka- dinand Oyono entschuldbar waren, weil diese Texte von Männern geschrie-
rooro Okuruts jüngster Roman, The Official Wife, der von Fountain Publis- ben wurden, und zudem von Ausländern. Die Gesellschaft will tatsächlich
hers veröffentlicht wurde, haben eine Diskussion über erotische Themen im kontrollieren was – und von wem – diskutiert werden kann. Secrets No More
ugandischen Roman entzündet. erzählt die Geschichte von Marina, die Zeugin des Genozids in Ruanda
wird. Sie muss mit ansehen, wie ihre Mutter Mukundane von dem lüster-
nen Colonel Renzaho angegriffen und brutal vergewaltigt wird. Ihre ganze
Die Debatte über Secrets No More Familie wird vor ihren Augen massakriert, und sie ist die einzige, die diese
Gewalt überlebt. Marina wird als eine von den historischen Ereignissen und
Secrets No More hat eine heiße Debatte zu folgenden Fragen provoziert: den Fehlern ihrer Gesellschaft gehetzte Frau dargestellt, bis sie beschließt,
wer-sagt-was-zu-wem, Vergewaltigung, Sex, gängige Tabus, was weibliche selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Sie verlässt ihren Ehe-
Figuren tun sollten und welche Handlungsbereiche als unschicklich für sie mann George, nimmt ihr Kind Rosaria mit und heiratet einen Mann, der
gelten sollten, bzw. welche Bereiche von Autorinnen nicht zu ‚deutlich‘ dis- sie beschützt. Das zentrale Problem ist hier nicht, ob ihre Entscheidungen
kutiert werden sollten. sinnvoll sind, sondern die Tatsache, dass sie eine Entscheidung trifft, diese
Auf der Lesung, die im Jahr 2000 zu Ehren von Ama Ata Aidoo von der ausspricht und danach handelt; somit übernimmt sie Verantwortung.
Alliance de Française veranstaltet wurde, fand ein Gespräch mit einem Au- Kyomuhendo beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Thema des Bür-
tor über Secrets No More statt, der lebhaftes Interesse an den Texten von gerkrieges, und dabei mit Problemen wie Gewalt, Exil und Betrug, und ich
Frauen gezeigt hatte. Er stellte kategorisch fest, dass seiner Ansicht nach der frage mich, warum diese Themen nicht angesprochen und debattiert wor-
Roman an Pornographie grenzte, und meinte, dass Kyomuhendo sich sorg- den sind, wenn Secrets No More diskutiert wurde. Ich weiß, dass Kyomu-
fältiger über ihr Lesepublikum hätte Gedanken machen müssen, welches hendo die Szene in Kapitel drei bzw. vier des Buches, in der die Mutter der
auch Schulkinder mit einschloss. Ich habe keine genaue Aufzeichnung die- Protagonistin vergewaltigt und ihre Familie ermordet wird, anschaulich be-
ser Veranstaltung, aber ich kann mich deutlich an den wütenden Ausdruck schreibt. Dies ist eine der Szenen, die in der Debatte in der Alliance de
auf Aidoos Gesicht erinnern. Aidoo hatte das Buch ebenfalls gelesen und Française thematisiert wurden. Ich erinnere mich auch, dass Kyomuhendo
konnte sich an keinerlei pornographische Szenen erinnern. Daraus ergab die Szene bei der Veröffentlichungsveranstaltung ihres Buches las, und dass
sich eine erregte Debatte. Es wurde deutlich, dass der Redner voller guter zwangsläufig Augenbrauen hochgezogen wurden wegen dieser waghalsigen
Absichten, und tatsächlich ein interessierter Leser von Frauenliteratur war, jungen Frau, der jeder Respekt für die eigene Kultur zu fehlen schien. Eine
aber in einer Gesellschaft sozialisiert wurde, in der Gespräche über Sex in anschauliche Beschreibung einer Vergewaltigung durch eine Frau scheint
der Öffentlichkeit tabuisiert waren; es war um so schockierender, so schien inakzeptabel zu sein. Während der Diskussion in der Alliance de Française
es, dass es eine Frau war, die es wagte, öffentlich über solche Themen zu schlug ich vor, dass, wenn das ugandische Publikum nichts über brutale
sprechen. Ich erinnere mich an die gönnerhaften Kommentare nach dem Vergewaltigungen lesen wollte, es höchste Zeit wäre, dass derartige Taten
Ende des offiziellen Treffens, so in der Art „Wenn Ihre eigene Mutter anfan- aufhörten. Denn wenn sie ein so großes Tabu darstellen, warum geschehen
gen würde so zu reden, was würde dann mit den Kindern passieren?“. Ich sie dann? Ein anderer wohlmeinender Mann aus dem Publikum merkte mit
stelle fest, dass eine Frau, die über Vergewaltigung oder den Akt der körper- einem schiefen, zynischen Grinsen an, dass unsere Gesellschaft Euphemis-
lichen Liebe schreibt, für das männliche ugandische Publikum etwas Un- men entwickelt hätte, mit denen diese Themen diskutiert werden können!
fassbares ist, denn die meisten reagierten, als hätten sie die Sexszenen in Ro- Und das ist die ganze Debatte, bloß weil es Gruppen in Uganda gibt, die
manen wie Mongo Betis Le pauvre Christ de Bomba vergessen, Bücher die das Kind beim Namen nennen – abgesehen davon kann ich in Taten wie ei-
an Realschulen in ganz Uganda auf dem Lehrplan standen. Ich kann daraus ner Vergewaltigung nichts euphemistisch zu Beschreibendes erkennen. Aber
nur schließen, dass Le pauvre Christ de Bomba oder Une vie de boy von Fer- wenn wir mal dabei bleiben, Kyomuhendo lehnt Euphemismus ab – indem

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sie anschauliche Details beschreibt, zerschmettert sie die Rolle der ‚anstän- kenne und daher weiß, dass Sex zwar diskutiert wird, das Thema die Bücher
digen Frau‘, auf die die männlich dominierte Gesellschaft sie so gerne fest- aber nicht dominiert. Weres Besprechung deutet auch an, dass Sex nicht das
legen würde. Das heißt, sie hat sich tatsächlich törichterweise in Dinge ein- grundsätzliche Thema von Karooro Kuruts Roman ist. Daher lautet meine
gemischt, die sie ‚nichts angehen‘, und wird im Gegenzug beschuldigt, sich Frage: Wie rechtfertigt Were dann seine Bezeichnung? Die intendierte Sexu-
außerhalb der vorgegebenen Beschränkungen betätigt zu haben. Es ist da- alisierung der Debatte über literarische Texte ugandischer Frauen droht
her kaum überraschend, dass ein anderer Rezensent, der in der Zeitung The wichtige, aufkommende Themen und Stile als nebensächlich, als bloß ‚sex-
Monitor über Karooro Okuruts kürzlich erschienenes Buch schrieb, auch bezogen‘ abzustempeln. Es geht hier um grundsätzliche Fragen, die von ei-
die Werke zahlreicher anderer Autorinnen kommentierte, inklusive Kyomu- ner größtenteils repressiven und gewalttätigen Politik erzeugt werden, und
hendos, und eine Etikettierung vornahm: zwar von der männlich dominierten Kultur und den permanenten Verände-
rungen, die sich aus kolonialen und post-kolonialen Ereignissen ergeben.
Der jüngste Roman von Mary Karooro Okurut, The Official Wife, wird Ich glaube wirklich, dass diese übertriebene Sexualisierung Teil der Triviali-
sie einmal mehr an die Spitze der Vaginalisten setzen, dieses aufstrebenden sierung ist, mit der die männlich dominierte, öffentliche literarische Debatte
Klubs von Frauen, deren Zeitvertreib das Schreiben von Sexliteratur ist … in Uganda ihre Autorinnen in den Schmutz zieht. Ich kann es nicht akzeptie-
Karooro schlägt sich mit den grundlegenden Fragen herum, was Män- ren auf einen Teil meines Körpers reduziert zu werden, auf einen Teil, der in
ner und Frauen von Sex, Ehe und Kindern erwarten. Heftig kritisiert sie meiner Gesellschaft so kontrovers und mythisch konnotiert ist. Ich glaube,
die Globalisierung, schlechte Arbeitsmoral, Korruption, Heuchelei, dass wir über unsere Sexualität in einer Weise sprechen sollten, die uns ange-
Aberglauben usw. In diesem Sinne ist The Official Wife keine Literatur messen erscheint, aber wir sollten es nicht zulassen, dass irgend jemand auf
über Sex, wenngleich das Buch zu diesem irrigen Schluss einlädt, denn
uns Bezug nimmt, indem er irgendeinen Teil unseres Körpers auswählt. Ob-
es ist vulgär, es ist freimütig und lustig. Es ist eine tiefgründige Suche
wohl wir als Schriftstellerinnen noch daran arbeiten müssen, uns unserem
nach Antworten, und zwar auf Fragen, die mit denen unter der Gürtel-
Publikum verständlich zu machen, sollten wir nicht zulassen, dass die Insti-
linie situierten Fragen nichts gemein haben; diese literarische Suche hat
tution des Patriarchats uns ganz auf den Anfang zurückwirft. Im Wesentli-
meine Angst, über Sex zu sprechen ziemlich betäubt. … Ich mag Karoo-
ros Buch, weil ich mich in der Welt der Frauen wohl fühle. Obwohl es chen müssen wir uns weigern, auch zu den Opfern zu gehören, deren Unter-
eine Zeit gab, in der das nicht so war. Als zum Beispiel eine andere Auto- werfung sich das Patriarchat rühmt, bloß weil wir jenseits der sogenannten
rin, Jane Kaberuka, meine Meinung über ihr Manuskript wissen wollte. gesellschaftlich akzeptierten Norm schreiben. Kyomuhendo beispielsweise
Ich erinnere mich, dass ich ihre Arbeit großartig fand, mich aber fragte, widmet sich dem Thema Vergewaltigung und Gewalt mit Sorgfalt.
warum sie ausgerechnet über ‚diese Dinge‘ schrieb. Solche Gedanken sind Marina wird, ebenso wie ihre Mutter Mukundane, Opfer einer Verge-
bei Büchern wie The Official Wife irreführend, ebenso wie bei den Wer- waltigung – in einem Waisenhaus, in dem ihr Zuflucht angeboten wird, als
ken dieser anderen Vaginalistin, Goretti Kyomuhendo.3 sie vor der Brutalität des ruandischen Völkermords flieht. Marina wurde
vergewaltigt, ist beschämt und verletzt und wird wehrlos zurückgelassen.
Ich weigere mich zu glauben, dass Joseph Were bewusst ein Etikett für den Sie erzählt keiner Menschenseele von der Vergewaltigung, weil sie sich
„Klub der aufstrebenden ugandischen Schriftstellerinnen“ erfinden wollte. schämt und gedemütigt fühlt. Anstatt sich auf die Auswirkungen der Ge-
Ich glaube, dass diese Bezeichnung eine deutliche Sprache spricht, besonders walt zu konzentrieren, die Marinas Leben verfolgen und sie beinahe zerstö-
in einer Gesellschaft, in der Themen, die mit Sex und Sexualität in Zusam- ren, protestierten einige Leser lieber gegen die wenigen Sexszenen. Zu ei-
menhang stehen, sichtbares Unbehagen hervorrufen. Daher vermute ich, nem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben hat Marina eine Beziehung mit
dass Were genau weiß, welche Art von Reaktionen er damit bei den Lesern einem jungen Mann namens Deem, und die Anfangsszene ihres Liebesak-
seiner Zeitung provozieren wird. Ich lehne dieses Etikett kategorisch ab, tes ist ebenfalls anschaulich beschrieben. Marina ist in der Lage, ihren Ge-
hauptsächlich, weil ich die Bücher von Kaberuka und Kyomuhendo gut fühlen vollen Ausdruck zu verleihen. In diesem Moment scheint es, als ob

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die Erinnerung an die Vergewaltigung ihrer Mutter, ihre eigene Vergewalti- lisierung der diskutierten Fragen. Ich behaupte nicht, dass die Bücher per-
gung und die physische Verletzung durch ihren Ehemann verschwindet, fekt sind, aber ich denke, dass ihre Stärken und Fehler vernünftig betrach-
und sie wird wieder zu einem Menschen, der sich frei auszudrücken ver- tet werden sollten. Im Moment habe ich das Gefühl, dass ugandische Kriti-
mag. Ich glaube, dass die Gesellschaft hauptsächlich aufgrund ihrer Kondi- ker ziemlich ernste Probleme sensationslüstern darstellen, indem sie sich auf
tionierung protestiert, weil ihr einige sogenannte Grenzen des Anstands bestimmte Abschnitte der Romane konzentrieren. Aber ich denke, dass al-
beigebracht wurden, die oft dazu dienen, andere zu unterdrücken. Für mich len Themen eine faire Behandlung eingeräumt werden sollte.
ist das Sprechen über ‚Tabus‘ ein Weg, um eine Diskussion zu beginnen, Die Aktivitäten von Femrite haben in Uganda bereits eine positivere Be-
und sogar feindselige Debatten sind nützlich, weil sie diese Probleme einer richterstattung über Autorinnen in den Medien und der Literatur selbst be-
genaueren Überprüfung aussetzen. Karooro Okuruts letzter Roman wurde fördert. Viele Menschen sind ermutigt worden lokale Autorinnen zu lesen,
der Öffentlichkeit am 23. Oktober 2003 im Kampala-Klub in Uganda vor- da ihnen deren Existenz jetzt zunehmend bewusst ist. Ein Ziel, das wei-
gestellt. Ich habe nur einen Kommentar über die Veranstaltung und Oku- terhin und hartnäckiger verfolgt werden muss, ist die Unterstützung von
ruts Roman von F. D. R. Gureme, sowie eine Besprechung von Joseph Were Alphabetisierungsprogrammen für Frauen im ganzen Land, sowie aktive
gesehen. Guremes Artikel hatte die Überschrift „Karooro zerschmettert Maßnahmen, die jene, die mündliche Literatur schaffen, ermutigen, sie vor
‚schmutzige Sprache‘“. Ihm zufolge bietet der Roman verschiedene The- wechselndem Publikum im ganzen Land aufzuführen. Die Betonung sollte
men, inklusive einer Entlarvung der politischen Führung in Afrika. Weiter- also nicht nur auf dem Schreiben und Lesen liegen; der größere Teil der Be-
hin kommentiert er, dass die Autorin das Unerwartete beschreibt. Dies ge- völkerung, der nicht alphabetisiert ist, muss ebenso berücksichtigt werden.
schieht in einem unbeschwerten Ton, aber weist natürlich auf das Thema Seit 1997 gab die Vereinigung ein vierteljährliches Gesellschaftsmagazin
hin, welches sich als so zentral in der Diskussion um die Romane von auf Englisch heraus, genannt New Era. Die Zeitschrift erörterte weitrei-
Schriftstellerinnen in Uganda erwiesen hat. Gureme schreibt: chende Themenfelder, die mit Frauen und ihrer Beziehung zum Rest der
Gesellschaft zu tun haben. New Era ist nun von einem Literaturjournal na-
Eine anständige Banyakore wird normalerweise nicht das menschliche mens Word Write ersetzt worden, welches Essays von weiblichen und männ-
‚Auspuffrohr‘ erörtern, ebenso wenig wie Exkremente oder Blähungen. lichen ugandischen Autor/innen enthält, ebenso wie literarische Texte. Ich
Die Ankole-Tradition hält keinen Euphemismus für die ‚intimen Kör-
glaube, dass die Schriftstellerin als solche ihre Präsenz in der ugandischen
perteile‘ bereit: ungehemmt verwendet sie deren biologische Bezeich-
Literaturszene spürbar macht.
nungen, worüber das Christentum die Stirn runzelt. Ich bewundere
Mary dafür, dass sie den traditionellen Weg geht; und dafür, dass sie das
Konzept der ‚unreligiösen Sprache‘ zum Einsturz bringt, womit sie die
Gründe für den ‚schmutzigen Witz‘, den ich zuvor machte, rehabili- Den Schwung beibehalten
tiert.4
Ich habe hier den Versuch unternommen, die komplexe und herausfordern-
Der Artikel suggeriert, dass Karooro gegen gängige Normen verstößt und de Position zu verdeutlichen, die eine Schriftstellerin in Uganda einnimmt.
über Themen spricht, deren Diskussion normalerweise nicht erwartet wird. Obwohl die Unterstützung weiblichen Schreibens dank der gegenwärtig po-
Gureme benutzt Karooros subversiven Schreibstil, um seine eigene Obszö- sitiven und bejahenden Stimmung gegenüber Frauenprojekten immens ist,
nität zu entschuldigen, und einen meiner Meinung nach ziemlich sinnlosen gibt es auch anhaltenden, subtilen Widerstand gegen schreibende Frauen.
Witz, jedenfalls soweit es das Argument das Kommentars betrifft. Ich möch- Das liegt zum Teil daran, dass die Gesellschaft zum ersten Mal in der Ge-
te deutlich machen, dass die Themen, die von Autorinnen erörtert werden, schichte der geschriebenen Literatur Ugandas mit einer zunehmenden Zahl
auf gemischte Reaktionen treffen, und dass meines Wissens nach die vor- von Autorinnen und mit einer tiefergehenden Erforschung von Themen aus
herrschende Reaktion aus Ablehnung besteht, kombiniert mit einer Trivia- weiblicher Perspektive konfrontiert ist – ein Blickwinkel der ziemlich radi-

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kal und subversiv ist. Alle Veränderungen des status quo rufen immer Wi- Goretti Kyomuhendo
derstände hervor und meiner Meinung nach erklärt das einen Teil der Re- Was es bedeutet, eine afrikanische Schriftstellerin zu sein:
aktionen. Doch ich glaube auch, dass die Autorin in Uganda das patriar- Freuden und Herausforderungen
chalische Milieu, in dem sie arbeitet, wirklich in Frage stellt, und damit die
Beherrschung der ugandischen Literaturszene durch Männer effektiv pro-
blematisiert. Ich möchte mit einem Auszug aus dem Gedicht „The Swing“ Goretti Kyomuhendo, geboren 1965 in Uganda, studierte an der Uni-
schließen, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe: versität in Kampala Wirtschaftswissenschaften. Heute arbeitet sie
als Journalistin und Autorin von Kinderbüchern, Erzählungen und
Der Schwung Romanen. Darüber hinaus ist sie Mitbegründerin der ugandischen
Der Schwung hält an Schriftstellerinnen-Vereinigung FEMRITE, die sie noch immer als
Er lässt nicht nach Koordinatorin unterstützt. FEMRITE fördert Frauen, die sich mit ähn-
Manchmal wird mir ganz schwummrig lichen Widerständen plagen, denen Goretti Kyomuhendo einst als
Wenn ich höher und höher schwinge angehende und junge Autorin gegenüberstand, von denen sie in
Allen Widerständen und Angst zum Trotz ihrem Essay erzählt.
Aber es liegt an mir, und ich muss weitergehen Zu ihren Werken zählen u. a. The First Daughter, Secrets No More,
Die Stabilität liegt in der Ungewissheit.5 Different Worlds und Whispers from Vera. Für ihr Werk erhielt sie den
ersten Preis des National Book Trust of Uganda und ein Stipendium
Ich glaube immer noch an die Aussage des Gedichtes, dass wir mutig genug
des International Writing Program der Universität von Iowa.
sein müssen, um durch alle ‚offiziellen Widerstände‘ hindurchzufliegen –
Goretti Kyomuhendo publizierte als erste ugandische Schrift-
unseren Platz zu beanspruchen, zu schreiben, und endlich den Mythos vom
stellerin in ihrem eigenen Land. Als Frau schreibt Kyomuhendo gegen
passiven Opfer zurückzuweisen, das die afrikanische Frau meiner Erfah-
die Stille an, die ihr von schwerfälligen Widerständen der patriarcha-
rung nach nie gewesen ist. Wir müssen unsere Stimmen nur auf Laut-
lisch geprägten Gesellschaft auferlegt wurde. Mit Tapferkeit und
sprecherniveau zum Tragen bringen – solange, bis wir das Mikrophon nicht
Energie rückt sie afrikanische Frauen in den Mittelpunkt ihrer Roma-
mehr brauchen, bis unsere Geschichten Teil des literarischen Gemeinguts
ne und behandelt dabei auch Tabuthemen wie Sexualität und Lust
geworden sind.
von Frauen, aber auch Vergewaltigung und Gewalt. In deutlichen
Bildern erzählt sie über das Unsagbare, um das lange Schweigen
Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Berndt
vieler Generationen zu brechen. Ihr neuester Roman, Whispers from
Vera, handelt von einer gebildeten Karrierefrau und beschreibt eine
neue afrikanische Weiblichkeit, die sich nicht länger über tradierte
Geschlechterrollen definieren lässt. Durch den Inhalt ihrer Werke
sowie durch ihr Leben als Schriftstellerin zeigt Goretti Kyomuhendo,
wie Frauen tradierte Geschlechterrollen aufbrechen, sich Raum ver-
schaffen und in ihren Büchern den Reichtum der afrikanischen münd-
lichen Welt sichtbar machen können. Ihr Aufsatz verdeutlicht diese
Verpflichtung, die sie gegenüber ihren Nächsten, den Frauen Ugan-
das und ihrem Land verspürt.
Kerstin Bolzt

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Erste Erzählungen dige Beschreibung auch über ihr Heimatland Nigeria hinaus Gültigkeit be-
saßen: Die tyrannische Art von Okonkwo auf der einen Seite und die Fä-
Als ich ein kleines Mädchen war und im ländlichen Uganda aufwuchs, war higkeit von Ezinmas Mutter, Okonkwos jüngster Frau, auf der anderen Sei-
meine Verbindung zum geschriebenen Wort und zu Büchern begrenzt. Ich te, Stärke und Unverwüstlichkeit zu üben, riefen in mir Gefühle von Wut
sah niemals eine Zeitung oder eine Zeitschrift im Haus, wohl aus dem ein- und gleichzeitig auch Bewunderung hervor.
fachen Grund, dass sich meine Großeltern diese nicht leisten konnten. Es Ich sehnte mich danach, mehr Bücher zu lesen, die in dieser Weise ge-
waren auch keine Bücher in der kleinen Bibliothek der Schule vorhanden, schrieben waren. Und ich sehnte mich danach, die Geschichte meines Vol-
die ich besuchte. Und was die Stadtbibliothek anging – es war nicht wirk- kes in der Art, die Achebe mich ‚gelehrt‘ hatte, zu erzählen, damit ich für
lich eine Bibliothek, sondern nur ein kleiner Raum mit einigen gebrauchten mein Volk das tun konnte, was Achebe für die Igbo getan hatte. Zu dieser
Büchern, welche vermutlich von den Missionaren oder den Weißen, die sel- Zeit fehlte es mir jedoch noch an den notwendigen Mitteln, um die Ge-
ten unseren Bezirk aufsuchten, gestiftet worden waren. schichte zu erzählen. Mein Vokabular in der englischen Sprache war be-
Ich verschlang diese Bücher mit Genuss und hatte bald alle gelesen. Die schränkt, weil an der Schule, die ich besuchte, in meiner Muttersprache un-
Geschichten in den Büchern waren weit entfernt von meinen Erfahrungen terrichtet wurde. Doch wenn ich in meiner Muttersprache schrieb, wer
in der ländlichen Umgebung, in der ich aufwuchs. Die Bände The Famous würde dann meine Geschichte lesen? Außerdem wusste ich nicht, wie man
Five und The Hardy Boys handelten von Landhäusern, Äpfeln, Winter und einen Roman schreibt, geschweige denn, wie man einen veröffentlicht. Und
Schnee, alles Dinge, die ich nie erlebt hatte. Andere alte Bücher in der Bi- noch wichtiger, ich wusste nicht, dass eine Frau ein Buch schreiben konnte.
bliothek waren Exemplare von James Hardley Chases Romanen, und ich Ich war niemals einer begegnet, weder persönlich, noch in all den Büchern
bedauere es bis heute, jemals auf sie gestoßen zu sein, denn sie brachten mir (den wenigen, die es waren), die ich gelesen hatte.
eine harte Strafe von der Schulbehörde ein. Ich wurde dafür bestraft, „die
falsche Sorte von Romanen mit schlechter Sprache zu lesen, die für mein Al-
ter und meine charakterliche Entwicklung unangemessen seien.“ Aber was Die Anfänge des Geschichtenerzählens
sollte ich stattdessen lesen? Ich war wütend vor Enttäuschung.
Einige Jahre später trat meine ältere Schwester in die höhere Schule ein, Ich sollte jedoch erwähnen, dass es meine Großmutter war, die mich in die
und als sie in den Ferien zurückkam, hatte sie mehrere Bücher bei sich. Da- Kunst des Geschichtenerzählens eingeführt hat. Von meiner studierenden
runter war auch Chinua Achebes kultureller Meilenstein Things Fall Apart. Mutter in ihrer Obhut gelassen, hörte ich all ihren Erzählungen meiner Er-
Ich habe den Roman mehrmals gelesen und für mich, wie sicher auch für innerung nach aufmerksam zu. Die Geschichten, die sie mir erzählte, waren
viele andere angehende afrikanische Schriftsteller und Schriftstellerinnen, alle imaginäre Mythen und mündlich überlieferte Märchen. Ich liebte sie
eröffnete er eine ganz neue Welt der Literatur und hinterließ in meinem jun- ungeheuer und glaubte dem, was sie erzählten. Am Ende der Geschichte
gen Geist einen unvergesslichen Eindruck, der später meine Art zu schrei- fragte ich mit echtem Interesse:
ben inspirieren und formen sollte. „Großmutter, was passierte dann mit diesen rebellischen Kindern?“
Things Fall Apart zu lesen, war wie eine Geschichte über mein eigenes Und sie antwortete: „Sie verwandelten sich in diese kleinen Ameisenhau-
Volk zu lesen, ihre Art, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ihre Kulturen, fen zurück, die du auf deinem Weg zum Fluss siehst.“
ihre gesellschaftlichen Werte, Ängste, Hoffnungen und Erfolge. Ich wun- Oder aus Neugier und weil ich die Dinge um mich genau beobachtete,
derte mich, wie Achebe so gewandt all die gesellschaftlichen Nuancen ein- rannte ich begierig zu ihr und fragte:
fangen konnte, die die Lebensweise ‚meines Volkes‘ durchdrangen. Denn „Großmutter, warum frisst der Falke die jungen Vögel?“
obwohl Achebe über die Igbo Gesellschaft in Nigeria schrieb, konnte ich Und sie erklärte: „Weil vor langer Zeit der Hahn, der Ur-Ur-Großvater
mich in seine Charaktere hineinversetzen, weil ihre Darstellung und leben- dieser jungen Vögel, den Falken betrogen hat.“

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Die Gattung meiner Großmutter war die mündliche Literatur und ihre von, wie viele Ringkämpfe er gewonnen und verloren hatte. Er lehrte mich
ersten Zuhörer und Zuhörerinnen waren meine Geschwister, meine Cou- Loblieder und Dichtung, die vorgetragen wurde, nachdem eine Kriegspar-
sins und ich. Diese Geschichten waren für uns äußerst wichtig und unter- tei eine andere besiegt hatte. Ihm zuzuhören war wie eine Geschichtsstunde
haltsam, aber erst viel später begriff ich, wie leichtfertig sie von der Gesell- zu besuchen. Er spulte Figuren und Jahreszahlen ab, wann dieses oder jenes
schaft damals abgetan worden sein mussten. Sie wurden mit der ‚irrealen Ereignis passiert war. Im Gegensatz zu den Geschichten meiner Großmut-
Welt‘ und mit dem, was lediglich erdichtet ist, in Verbindung gebracht. Aus ter waren seine Geschichten von dauerhafter Natur und der ‚wirklichen
diesem Grund und weil sie von Frauen erzählt wurden, konnte die Gesell- Welt‘ verbunden, und dies brachte ihm in gewisser Weise Respekt und Pres-
schaft diesem Genre keinen Respekt und keine Anerkennung gewähren. Es tige in der Gesellschaft. Während meine Großmutter ihre Geschichten vor
war ebenfalls erst später, als ich die vergängliche Qualität dieser Geschich- dem Feuer in der Nähe ihres Hofes erzählte, berichtete mein Großvater, wie
ten erkannte. Sie konnten leicht in Vergessenheit geraten und niemanden er gewöhnlich zu öffentlichen Plätzen ging, um seine Geschichten zu erzäh-
würde es kümmern, weil sie nicht aufgeschrieben waren. len. Dort war seine Zuhörerschaft eindeutig größer als die meiner Groß-
Als ich älter, kritischer und aufmerksamer wurde, begann ich meiner mutter. Wenn ich meinen Großvater als Historiker betrachtete, dann sah
Großmutter Fragen zu stellen, wie beispielsweise, warum es Frauen in mei- ich meine Großmutter als Lehrerin, weil es am Ende jeder ihrer Geschich-
ner Kultur nicht erlaubt sei, bestimmte Nahrungsmittel wie Huhn, Eier, ten eine moralische Botschaft gab.
Fisch, Grashüpfer, Kaninchen und so weiter zu essen. Ihre Antworten ka-
men dann nicht genauso schnell und präzise wie damals, als ich sie fragte,
warum der Falke junge Vögel esse. Aber sie warnte mich, dass, wenn ich je- Schreiben als Frau
mals ein Kaninchen äße, dann meine Brüste ohne Milch sein und meine
Babys vor Hunger sterben würden. Vielleicht wusste sie die Antworten Bis ich Mitte der neunziger Jahre zu schreiben anfing, hatten sich diese Mo-
selbst nicht, weil sie nicht von ihrer Mutter an sie überliefert worden waren delle des Geschichtenerzählens geändert. Die Plätze, die sowohl die weib-
und von denen vor ihr, in der normalen mündlichen Literaturform? Oder liche als auch die männliche Stimme beherbergten, waren mit dem Ein-
vielleicht wollte sie mich einfach nur davor schützen, mir zu viel ‚unnötiges setzen der Urbanisierung, Modernisierung und den Bürgerkriegen und
Wissen‘ anzueignen, das mir hinsichtlich des Verständnisses von Weiblich- Konflikten, die mein Land mit den Jahren durchlebt hatte, verschwunden.
keit wenig nützen würde? Das Kaminfeuer gab es nicht mehr. Die Zuhörerschaft gab es nicht mehr.
Ich bemerkte auch, dass sie uns keine Geschichten über Heldentaten Die Enkelkinder waren in Internaten und wurden von verschiedensten Leh-
von Frauen erzählte. Solche Geschichten, beispielsweise darüber zehn Ge- rern und Lehrerinnen in formeller Atmosphäre unterrichtet. Und die Groß-
burten zu überleben (wie sie es getan und dabei die ersten sieben Babys un- mütter lebten in Lagern als „Internally Displaced People“ („verschleppte
ter unerklärbaren Umständen verloren hatte), oder darüber, wie sie und vie- Einheimische“). Die lokalen Bierklubs und Ringplätze waren leer, da im-
le Frauen ihrer Generation in der Lage waren, ihre Ehemänner und Kinder mer mehr Männer in die Armee einberufen wurden oder sie einfach andere
in Zeiten von Hungersnot zu ernähren ohne für sich selbst etwas zurück zu Orte wie moderne Kneipen und Hotels besuchten.
behalten, waren deutliche Beispiele dieser Tendenz. Diese Arten von Ge- Als ich zu schreiben anfing, war es ziemlich klar für mich, welche Art
schichten, so weit ich es beurteilen konnte, wurden von der Gesellschaft als von Geschichten ich erzählen wollte. Ich wollte jene Geschichten erzählen,
gewöhnlich betrachtet und wurden daher von den Geschichten, die erzäh- die Großmutter mit uns geteilt hat. Nicht nur weil sie unterhaltsam und er-
lens- oder hörenswert waren, ausgeschlossen. zieherisch wertvoll waren, sondern auch, weil sie vom Aussterben bedroht
Mein Großvater erzählte im Gegensatz dazu Heldengeschichten, welche waren. Ich wollte meiner Großmutter eine dauerhafte Stimme geben und
sich darauf konzentrierten, was während der Kriege geschehen war und wie der Welt zeigen, dass ihre Geschichten ebenso wichtig wie die meines Groß-
viele Menschenköpfe er in einem Krieg gesammelt hatte. Er erzählte mir da- vaters waren. Daher sollte man ihr die gleiche Art von Respekt gewähren,

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die mein Großvater genossen hatte. Aber ich wollte auch jene Geschich- ein Lager für „Internally Displaced People“ in Uganda mit dem Ziel, Ge-
ten aufschreiben, die meine Großmutter mir nicht erzählt hatte, von denen schichten darüber zu schreiben, was wir beobachten würden. Wir gingen
ich aber wusste, dass sie ihrem Herzen und den Herzen so vieler anderer sehr deprimiert fort auf Grund der entsetzlichen Verhältnisse, denen die Be-
Frauen nahe waren; die Geschichten, die diese Frauen bewusst verschwie- wohner und Bewohnerinnen dort ausgesetzt waren. Einer meiner Kollegen
gen hatten. fragte mich dann, „Nun, welche Art von Geschichte wirst du schreiben?“
Als ich meinen ersten Roman schrieb, gab es in meinem Land kaum Bevor ich antwortete, dachte ich eine Weile nach, dann erwiderte ich, „ich
Verlage, die der Rede wert waren. Der einzige wichtige Verlag zu dieser Zeit frage mich, was diese Frauen benutzen, wenn sie ihre Periode haben. Das ist
konnte es nicht riskieren, sein Geld in ein unbekanntes, kleines Mädchen es, worüber ich schreiben möchte.“ Mein Kollege schaute mich seltsam an
vom Lande zu investieren, das über die Geschichten ihrer Großmutter und sagte, „ich schätze, was diese Leute brauchen, sind Medikamente und
schrieb. Mir wurde geraten, Geld von der Bank zu leihen, damit Autorin Essen. Ansonsten werden alle bald sterben.“
und Herausgeber die Risiken teilen konnten. Das war natürlich nicht mög- Eine andere Frage, die mir einige Male gestellt wurde, ist, warum alle
lich. Ich war eine unbezahlte allein erziehende Mutter, die darum kämpfte, Hauptfiguren in meinen Romanen Frauen sind. Hassen Sie Männer? Oder:
in einer rauen Welt zu überleben, und zur gleichen Zeit Geschichten erzähl- Finden Sie nichts Bedeutsames, was Sie über sie schreiben könnten? Natür-
te – Geschichten, die Großmutter mir erzählte und jene, die sie mir nicht lich schreibe ich über Männer. Wie kann jemand über Frauen, das Leben
erzählte, die jedoch verlangten, erzählt zu werden, da sie sonst in Vergessen- und die Gesellschaft schreiben und dabei Männer ausschließen? Sie ma-
heit geraten würden, weil es ihnen an Dauer mangelte, wofür ich verant- chen schließlich einen Teil der Geschichte aus. In meinem Werk hinterfrage
wortlich gemacht würde. ich auch die privilegierte Stellung des Mannes in der Gesellschaft, in der ich
Schließlich wurde mein erster Roman, The First Daughter, 1996 nach aufwuchs, wieso seinen Geschichten eine größere Zuhörerschaft, mehr Be-
vielen Schwierigkeiten veröffentlicht. Ich wurde gefragt, ob ich als Frau ständigkeit und Respekt zugestanden wurden und wieso er alles essen durf-
schrieb, und wenn ja, was meine Rolle als Schriftstellerin sei. Diese Fragen te, was er wollte, während es jemandem wie meiner Großmutter verboten
klingen schlicht und einfach, aber ihre Implikationen sind keineswegs un- war.
bedeutend. Es ist wie jemanden zu fragen: Bist du eine Schriftstellerin? Eine Für mich war und ist es immer noch natürlich, Frauen zu den Hauptfi-
afrikanische Schriftstellerin? Ja, natürlich. Ich bin eine Frau. Ich bin eine guren in meinen Geschichten zu machen. Das geschieht ganz spontan. In-
Schriftstellerin. Und ich bin afrikanisch. Zu was sonst sollte mich diese dem ich sie zu Protagonistinnen mache, zu den Heldinnen in meinen Ge-
Dreieinigkeit machen? Aber wird es von denThemen bestimmt, eine Schrift- schichten, fühle ich mich so, als ob ich ihnen endlich das gewähre, was sie
stellerin zu sein, weil man über Frauen schreibt oder, in diesem Fall, für sie? verdienen und was ihnen seit langer Zeit zusteht. Ich wuchs auf und nahm
Was ich sagen kann, ist, dass ich als Schriftstellerin die Welt durch das Ge- viele Helden wahr, aber es fehlte mir an einem Vorbild, das ich bewundern
schlechtsprisma sehe. und mit dem ich mich identifizieren konnte. Indem ich eine weibliche Figur
Was meine Rolle als Schriftstellerin betrifft, kann ich sagen, dass ich ge- meine Stimme annehmen und die Erzählung tragen lasse, bin ich in der
neigt bin, Frauengeschichten in ihren eigenen Stimmen und Perspektiven Lage, ihre Wahrnehmungen zu einem wesentlichen Teil der Botschaft selbst
zu erzählen und zu definieren, so dass andere Leute verstehen können, wer zu machen. Ich erkannte auch, dass man, um gut schreiben zu können,
sie sind. In meinen Werken verweise ich meine weiblichen Charaktere nicht über ein Thema schreiben muss, welches einem vertraut ist, und für mich
an den Rand der Erzählungen, sondern mache sie vielmehr zu aktiven Teil- ist das Frau-Sein etwas, womit ich existentiell verbunden bin.
nehmerinnen der Geschichte. Ich bemühe mich auch, jene ‚Trivialitäten‘ Ich musste mich auch mit einer anderen Frage hinsichtlich meiner Lese-
hervorzuheben, die die Frauen plagen, damit sie das Verständnis und die rinnen und Leser befassen. Richte ich mich hauptsächlich an Frauen? Ich
Wertschätzung der Gesellschaft bekommen. Bei einer Gelegenheit zum Bei- würde es gern sehen, wenn mehr Frauen mein Geschichten läsen, aber die
spiel, besuchte eine Gruppe von uns Schriftstellern und Schriftstellerinnen Mehrheit von ihnen ist durch die vielen Unzulänglichkeiten wie Analphabe-

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tentum benachteiligt, die ihnen entweder durch weltliche oder unterdrü- ein Buch zu schreiben? Wie steht es mit einem Computer oder einer Schreib-
ckende Kulturen, Schicksal oder einfach aufgrund ihres Geschlechtes aufge- maschine, selbst wenn man den Raum zum Schreiben gefunden hat? Und
zwungen wurden. Sie haben keine Verbindung zu dem geschriebenen Wort, wie sieht es mit einem Verleger in einem Land aus, in dem sowohl die Lese-
und das schließt automatisch viele von ihnen davon aus, Zugang zu meinen und als auch die Kaufgewohnheiten von Lesern und Leserinnen aufgrund
Geschichten zu finden. Meine Großmutter lebte nicht lange genug, um mein von Armut, Analphabetentum und anderen Dingen nebensächlich sind?
erstes Buch zu sehen, obwohl ich mich frage, welche Bedeutung es für sie ge- Ein anderes gemeinsames Problem der Autorinnen, die sich mit uns
habt hätte oder wie es ihr Leben beeinflusst haben würde. Sie wäre niemals zusammentaten, war der Mangel an persönlicher Ermutigung, der oft noch
in der Lage gewesen, es zu lesen, noch die Tatsache zu würdigen, dass ich ein mit Selbstzensur einherging. Die Frauen erzählten nicht die Geschichten,
Buch veröffentlicht hätte. Sie war viel zu weit weg von der Bücherkultur. die in ihren Herzen steckten, denn sie ließen ihren Verstand schreiben.
Wenn wir sie baten, ihre veröffentlichten Bücher einem Publikum vorzu-
lesen, lehnten sie ab und behaupteten, dass die Geschichte, die sie vorhatten
Freuden und Herausforderungen zu schreiben, in ihren Herzen geblieben war. Die Paradigmen des Ge-
schichtenerzählens, die unsere Großmütter an uns weitergegeben hatte, wur-
Wenn ich auf das Leben meiner Großmutter zurückblicke, sehe ich, dass es den noch immer fortgesetzt. Genauso wie sie es sorgfältig unterlassen hat-
ihr nur erlaubt war, innerhalb der Grenzen ihrer Welt zu träumen, zu leben ten, uns Geschichten zu erzählen, die mit dem Frau-Sein zu tun hatten,
und wirksam zu werden – einer Welt, die auf ihrem Gehöft anfing und dort ihrem Schmerz und Leiden, so mieden die meisten Schriftstellerinnen sol-
auch aufhörte – eine Situation, welche sie zu einer Untergeordneten mach- che Geschichten ebenfalls noch immer.
te. Als Frau war es ihr nicht erlaubt, gewisse Nahrung zu essen, und sie In vielen afrikanischen Kulturen wird die Identität einer Frau konstru-
konnte sich auch nicht ihren eigenen Ehemann aussuchen. Meine Mutter iert, indem die Identität einer anderen Person verwendet wird. Zum Bei-
wählte ihren Ehemann aus und hatte auch sonst mehr Möglichkeiten, zum spiel verweist man auf eine Mutter als ‚Mama John‘, wenn ‚die Mutter von
Beispiel zur Schule zu gehen. Und ich konnte wählen, was ich sein möchte John‘ gemeint ist. Oder eine Frau wird einfach ‚die Tochter von‘ oder ‚die
und sogar darüber schreiben. Eine meiner größten Freuden ist es gewesen, Frau von‘ genannt. Und wenn sie schreiben, neigen Frauen dazu, sich sel-
dass ich noch immer aus den gleichen kulturellen und historischen erkennt- ber in Beziehung zu all diesen vorgegebenen Identitäten zu sehen, und nicht
nistheoretischen Bereichen schöpfen kann, die meine Großmutter anzapfte, als sich selbst, als Schriftstellerinnen. Während sie ihre Geschichten erzäh-
während sie uns mündliche Geschichten erzählte, und dass ich die gleichen len, neigen sie dazu, die Interessen und Wünsche dieser Identitäten zu be-
Geschichten mit dem Federhalter erzählen und sie für ein größeres Publi- rücksichtigen, damit sie diese nicht verletzen.
kum zugänglicher machen kann. Kann man es sich als Mutter von erwachsenen Kindern zum Beispiel
Aber dies geschah nicht ohne Herausforderungen. Als wir 1996 beschlos- leisten, gewisse Ausdrücke oder Wörter zu benutzen, die einen als weniger
sen, FEMRITE zu gründen, einen Verband von Schriftstellerinnen aus gute Mutter erscheinen lassen? Und kann man als eine anständige verheira-
Uganda, der Frauengeschichten veröffentlichen würde, verstanden die meis- tete Frau eine Geschichte in der ersten Person mit Ausdrücken wie „Ich habe
ten Leute nicht, warum wir eine Verlagsorganisation gründen mussten, die mich endlich in den Mann meiner Träume verliebt“ schreiben – denn was
geschlechtsdefiniert war. Die Frauen, die kamen, um dem Verband beizutre- wird der Ehemann denken? Was schließlich aufs Papier kommt, muss kul-
ten, hatten ähnliche Probleme wie ich als angehende Autorin. Sie hatten kei- turell und ästhetisch korrekt klingen.
nen Raum, um ihre Geschichten zu schreiben. Einige waren Frauen mit Fa- Bei FEMRITE ist eines unserer Programme mit dem Aufbau von Kapa-
milie, Kindern, Schwiegereltern und einem Ehemann, um die sie sich zitäten beschäftigt. Übungsworkshops werden regelmäßig durchgeführt,
kümmern mussten. Wie sagt man Besuchern und Besucherinnen, wie einem um den Mitgliedern zu helfen und ihnen Tipps zu geben, wie man das
Schwiegervater, dass man sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen muss, um Problem der Selbstzensur behandelt und sich selbst stärken kann. Was be-

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deutet es, zu schreiben – eine Schriftstellerin zu sein? Kannst du den He- der zimbabwischen internationalen Buchmesse 2002 veröffentlicht wurde,
rausforderungen standhalten? Meine eigenen Erfahrungen waren sehr auf- unter den hundert Einträgen nur achtzehn Frauen sind. Die Angaben die-
schlussreich im Hinblick darauf, dass es Schwierigkeiten mit sich bringen ser Statistiken zeigen eindeutig, dass die Stimme der Frau in der Literatur-
kann, sich den Herausforderungen, eine Schriftstellerin zu sein, zu stellen. szene noch immer weitgehend fehlt. Viele Gedanken und Anmerkungen
Als mein zweiter Roman, Secrets No More, 1999 veröffentlicht wurde, rief er von Frauen bleiben immer noch ungehört. Ich habe bereits die Gründe für
gemischte Reaktionen bei den Leserinnen und Lesern hervor, hauptsächlich diese Ungleichheiten angeschnitten, wie beispielsweise, dass es den Frauen
aufgrund der Art und Weise, wie er mit dem Thema Sex umgeht. Der Ro- an persönlicher Ermutigung fehlt, und dass sie Selbstzensur üben. Außer-
man basiert auf dem Völkermord von Ruanda von 1994 und enthält Verge- dem ist zu ergänzen, dass in Afrika die Analphabetenrate von Frauen höher
waltigungsszenen, die sehr brutal und anschaulich beschrieben werden. An- ist als die von Männern.
dere Sexszenen werden ebenso ziemlich genau und deutlich beschrieben In Afrika werden sowohl Autoren als auch Autorinnen durch viele Hin-
und aus einer Frauenperspektive erzählt. Über jedes Vergnügen oder jeden dernisse davon abgehalten, ihr vollständiges schriftstellerisches Potenzial zu
Schmerz ist Stillschweigen zu bewahren. Deshalb beschrieb ich Erotik aus erreichen. Diese Hindernisse sind: Mangel an Verlagen und angemessenen
einer Frauenperspektive. Unglücklicherweise nehmen einige Leute diese Buchmärkten, eine nicht existierende Lesekultur, das Fehlen eines Unter-
Szenen aus dem Kontext und der Roman wurde als ‚pornographisch‘ und stützungssystems für Autoren, um bestehende literarische Energien zu er-
seine Autorin als ‚diese Frau, die nur über Sex schreibt‘ abgestempelt. Dies mutigen und zu fördern und um neue Talente anzuzapfen, sie zu hegen und
ist für mich eine Herausforderung, mit der ich fertig werden muss. Denn zu pflegen. Für die Frauen jedoch werden diese Hindernisse durch jene zu-
wenn ich mich daran gemacht habe, eine Frauengeschichte zu erzählen, vor erwähnten Herausforderungen noch vergrößert, die ihr als Frau eigen
muss ich sie in ihrer Gesamtheit darstellen, indem ich ihre Erfahrungen von sind. Die Synthese, eine Frau, eine afrikanische Frau und eine Schriftstelle-
Schmerz und Triumphen hervorhebe, und Sex gehört dazu. rin zu sein, ist noch immer ein mühsamer Kampf, der gemeinsamer An-
strengungen von Frauen und der Gesellschaft bedürfen wird, um etwas zu
erreichen. Frauen müssen aktiv werden, um ihre Hemmungen abwerfen zu
Letzter Ausblick können, die sie davon abhalten, die wahren Geschichten in ihren Herzen zu
erzählen. Sie müssen auch lernen, ungünstige literarische Regeln, Sexismus,
Es steht außer Frage, dass sich Frauen weltweit mit den gleichen Problemen die Politik des Ausschlusses und andere zahlreiche Vorurteile anzufechten,
konfrontiert sehen, wobei damit aber die mit ‚Rasse‘ zusammenhängenden die sie auf ihrem Weg ertragen müssen, um sich ins Selbstdasein zu schrei-
Konfliktfelder nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie müssen weiter gegen li- ben und Selbstverwirklichung zu erreichen.
terarische Regeln und auf Geschlecht basierender Zensur kämpfen, die ih- Was das Schreiben und Veröffentlichen auf dem afrikanischen Konti-
ren Ausdruck und das Erlangen der eigenen Wirklichkeit behindern. Für nent betrifft, müssen unsere Regierungen begreifen, dass Unterstützung für
eine afrikanische Schriftstellerin jedoch setzen sich diese Hindernisse aus ei- kulturelle Bestrebungen genauso wichtig ist und die gleiche Priorität ver-
ner Vielzahl von Gründen zusammen, wie sie bereits in diesem Aufsatz dis- dient wie Gesundheit, Erziehung und Umweltbelange und innerhalb der
kutiert wurden. In Uganda zum Beispiel sind Frauen zwar zahlenmäßig nationalen Agenda rationell organisiert werden muss. Verlage, die sich mit
überlegen, sie stellen 52 Prozent der Gesamtbevölkerung. Aber wenn es der Veröffentlichung von Romanen beschäftigen, einer Tätigkeit, die nicht
ums Veröffentlichen geht, sind die Relationen ganz andere. Von insgesamt viel Profit abwirft, müssen Veröffentlichungssubventionen bekommen, um
ungefähr 150 veröffentlichten Schriftstellern und Schriftstellerinnen sind die Defizite aus diesen nichtprofitablen Veröffentlichungsunternehmen aus-
nur 30 Frauen. Und wenn wir den Faden noch weiter spinnen und den afri- zugleichen, und sie so zu ermutigen, mehr Romane zu veröffentlichen.
kanischen Kontinent in den Blick nehmen, sehen wir etwa, dass in der Lis-
te der hundert besten afrikanischen Bücher des 20. Jahrhunderts, die von Aus dem Englischen übersetzt von Kerstin Bolzt

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Omofolabo Ajayi-Soyinka schreibt sehr plastisch die Auswirkungen der wöchentlichen Prime
Ein Theaterstück, sein Publikum und seine Gesellschaft: Die Time-Sendung auf das wirtschaftliche und soziale Leben in den
soziale Semiotik von Àrélù1 betroffenen Staaten. Besonders eingehend ist die Darstellung des
Verhaltens der Zuschauer/innen, die sich vor den Fernsehschirmen
versammeln und die Ausstrahlung der Serie zu einem Gemeinschafts-
Omofolabo Ajayi-Soyinka studierte an den Universitäten von Ile-Ife ritual werden lassen. Für Medienpolitiker und Ökonomen dürfte auch
(Nigeria) und Leeds (England) und promovierte 1987 im Fach englisch- Ajayi-Soyinkas Hinweis auf Einschaltquoten und Marketing-Strate-
sprachige Literatur an der Obafemi Awolowo Universität von Ile-Ife. gien der Sponsoren von Interesse sein. Als inhaltliches Element von
Von 1981 bis 1987 war sie als Lektorin an der Universität von Ile-Ife Àrélù besticht die von Ajayi-Soyinka herausgestellte Bedeutung der
tätig. Nach einem Aufenthalt als Post-Doctoral Mellon Fellow an der òrò Performance, das Wortgefecht der beiden Protagonist/inn/en, als
Cornell University in Ithaca (USA) von 1988 bis 1989 arbeitet Ajayi- dramatischer Höhepunkt des Stückes. Schließlich ist es nicht verwun-
Soyinka als Associate Professor am Theater & Film Department und derlich, wenn sich Ajayi-Soyinka vor dem Hintergrund der politischen
im Women’s Studies Program der University of Kansas in Lawrence Entwicklung in Nigeria und der Erosion traditioneller Werte und Nor-
(USA). men um die Attraktivität der negativen Hauptfigur Fadeyi beim Pub-
Ajayi-Soyinka hat das Buch Yoruba Dance: A Semiotics of Move- likum sorgt. Sind es nicht aber immer die Schurk/inn/en, die uns als
ment and Body Attitude in a Nigerian Culture verfasst und arbeitet zur Theater- oder Fernsehzuschauer/innen lebhaft in Erinnerung blei-
Zeit an dem Manuskript Dance Notes: A Handbook of African Dance. ben?
Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Geschlecht, Nationalis- Christiane Fluche
mus und Kritische Theorie in afrikanischen Literaturen, Immigration,
Exil und Schreiben, insbesondere bei afrikanischen Migrantinnen, … die Funktionen und die soziale Relevanz von Wandertheatergruppen gehen in
sowie die Semiotik des Befreiungstheaters in Afrika und der Diaspora. gleichem Maße aus den Sehnsüchten und Geisteshaltungen der Bevölkerungsmasse
Ajayi-Soyinka hat ihre Beiträge in diversen Büchern und Zeitschriften hervor wie aus den Intentionen und der Aktion der produzierenden Theatergrup-
veröffentlicht, wie dem Journal of Dramatic Theory and Criticism und pe selbst.2
der Women’s Studies Quarterly. Sie engagiert sich in verschiedenen
Wissenschaftsorganisationen wie der African Literature Association 1987 eroberte ein Theaterstück, Àrélù von der Jimoh Aliu Cultural Group
und der Association of African Women Scholars. (Group), die Yoruba sprechenden Gebiete Nigerias im Sturm. Als Serien-
Neben ihrer Tätigkeit als Wissenschaftlerin arbeitet Ajayi-Soyinka fassung für das Fernsehen in einem Zeitraum von drei Monaten produziert,
im künstlerischen Bereich als Performerin oraler Texte, Choreographin wurde das Stück zu einem vorherrschenden Bezugspunkt im soziokulturel-
und Darstellerin. Ihre Arbeiten wurden in Nigeria, in den USA und in len und wirtschaftlichen Leben seiner Zuschauer/innen. Seine Popularität
Deutschland gezeigt. Weiter ist sie auch als Theater- und Fernseh- stammt zweifellos von dem ästhetischen Vergnügen, das es seinem Publi-
regisseurin aktiv und hat mit Femi Osofisan und Wole Soyinka zu- kum bereitet. Aber die frenetische, fast kultartige Fangemeinde des Stückes
sammengearbeitet. deutet auf etwas Tieferes als rein ästhetische Befriedigung hin. In diesem
In ihrem Beitrag zur Festschrift für Eckhard Breitinger beschäftigt Aufsatz wird in einer semiotischen Analyse die Publikumsreaktion unter-
sich Omofolabo Ajayi-Soyinka mit der Rezeption des Theaterstückes sucht und die ihr zugrunde liegende Bedeutung im sozialen Leben der
Àrélù in seiner TV-Serienfassung. Die Serie wurde 1987 in den Yoru- Menschen wie des ganzen Landes.
ba sprechenden Staaten Nigerias erstausgestrahlt und entwickelte Àrélù gehört zur Gattung des Yoruba Popular Traveling Theater (YPTT).
sich schnell zu einem regelrechten Straßenfeger. Ajayi-Soyinka be- Die kritische Aufmerksamkeit des Àrélù Publikums bezieht sich damit ins-

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besondere auf das Resümee von Biodun Jeyifos umfassender Studie des gen mit Kommentaren und Fragen verlängert, die durch den Zuschauersaal
YPTT. Der nigerianische Theaterkritiker bemerkt in seinem 1984 erschie- gerufen werden. Zum anderen wird die Länge der Aufführungszeit beein-
nenen Buch The Yoruba Popular Traveling Theatre of Nigeria, dass all diese flusst durch ein Ensemble, das bereitwillig auf das Publikum eingeht, in-
Theatergruppen eine Traumwelt produzieren, in der alle Konflikte und Wi- dem es sich auf einen Dialog mit den Zuschauer/inne/n einlässt oder gar
dersprüche aufgelöst werden, weil der Produktion eine starke Sehnsucht zu- eine umstrittene oder bevorzugte Szene verlängert. Auch die Struktur der
grunde liegt, Frieden, Ordnung und Versöhnung zu fördern. Àrélù ist für YPTT-Produktionen an sich ermöglicht solch eine Flexibilität: YPTT-Stü-
eine empirische Studie sehr geeignet, nicht nur wegen der ekstatischen Re- cke werden nicht in einem Skript festgehalten, die Dialoge werden um eine
zeption bei der Bevölkerung, sondern auch – und das ist wichtig – weil Pub- detaillierte Storyline herum improvisiert, und wenn einmal die Rollen ver-
likum, Dramaturg und Darsteller/innen/gruppe im selben Zeitraum ange- teilt sind, haben die Darsteller/innen die Freiheit, ihre Charaktere zu entwi-
siedelt sind, in derselben sozio-politischen Umgebung leben und ckeln. Dies muss allerdings im Einklang stehen mit der Entwicklung der
weitgehend zur selben sozioökonomischen Schicht gehören. Daher verlangt Geschichte. Die TV-Serie adaptiert im Wesentlichen dieselbe Geschichte
das, was ich das Àrélù Phänomen nenne, nach einem tiefer gehenden Blick und entwickelt sie über dreizehn Folgen. Keine der beiden Produktionen,
auf die Gesellschaft, die das Stück inspiriert und rezipiert. Das Theater Bühnenfassung und TV-Serie, schmälert die jeweils andere. Vielmehr wer-
spiegelt die Gesellschaft wider, aus der wiederum das Theater selbst entstan- den sie durch die Popularität der jeweils anderen Version so sehr gefördert,
den ist, indem es die reflektierten Bilder synthetisiert und kodifiziert zu ei- dass Àrélù Fans sich nicht mehr erinnern können, ob Àrélù vor seiner Fern-
nem zusammengesetzten Zeichen, dem Theaterstück. In der folgenden se- sehfassung als Bühnenstück existierte. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt
miotischen Analyse von Àrélù, insbesondere seiner Fernsehfassung, werden auf der TV-Serie.
somit die Fragen gestellt: Welche Bilder der Gesellschaft wurden kodifi- Die TV-Produktion wurde in Auftrag gegeben von der Broadcasting
ziert? Wie wurden sie kodifiziert? Wie liest das Publikum diese verschiede- Corporation of Oyo State (BCOS) und gesponsert von der International
nen Zeichen und schließlich das auf die Bedeutungen verweisende Stück? Breweries Limited (IBL) in Ijesa. Àrélù lief in der Erstausstrahlung von
Wird die Sehnsucht nach Frieden, Ordnung und Versöhnung wahrgenom- März bis Juni 1987 und als Wiederholung in einem kürzeren Zeitraum von
men? Kurz, im folgenden Diskurs wird untersucht, was das Stück Àrélù März bis April 1988. Als einstündige TV-Serie wurde Àrélù jeden Dienstag
letztendlich ausdrückt über das gesellschaftliche Drama, das sich gleichzei- in der Hauptsendezeit von 19.30 bis 20.30 Uhr ausgestrahlt und erreichte
tig in Nigeria entwickelt. die höchsten Einschaltquoten. Dramaturgisch gesehen ist Àrélù ein span-
nendes, komplexes Stück mit einer gut entwickelten Haupt- und verschie-
denen Nebenhandlungen, die speziell für die TV-Serie entworfen wurden.
Àrélù, das Theaterstück Einige dieser Nebenhandlungen, die sich mit dem Alltag der Gemeinde be-
fassen und häusliche Themen behandeln, können leicht als abgeschlossene
Die Bühnenversion des Stückes wird gleichzeitig mit der Fernsehfassung in dramatische Einheiten betrachtet werden. Aber es durchzieht sie ein konti-
mehreren Städten aufgeführt, sehr zur Freude der Fans, die nie genug von nuierlicher Faden, der sie zu einer einzigen zusammenhängenden Geschich-
dem Stück zu bekommen scheinen. Beide, Bühnenversion und Fernsehse- te verknüpft. Obwohl versucht wurde, einige der Seriendialoge in einem
rie, werden in Yoruba mit demselben Besetzungsstab von der Jimoh Aliu Skript festzuhalten, ist doch das Meiste improvisiert, und die Darsteller/in-
Cultural Group gespielt. Auch wenn sie gleichzeitig laufen, hält doch die nen haben keine Schwierigkeiten, den Dialog sinnvoll und kohärent zu hal-
Bühnenversion des Stückes Àrélù an der üblichen Produktionslänge des ten. Die Darsteller/innen sind wahre Meister/innen im Improvisieren.
YPTT fest, die Geschichte zwischen neunzig Minuten und drei Stunden zu Interessanterweise hatte die Group vor Àrélù (ob Bühnen- oder TV-Fas-
erzählen. Die eher flexible Aufführungszeit ist zum einen zurückzuführen sung) bereits eine erfolgreiche Bühnenproduktion mit einem sehr ähnlichen
auf ein sehr enthusiastisches und lebendiges Publikum, das die Aufführun- Stück, das Agba Aarin heißt. Agba Aarin ist jedoch eine Erzählung von zwei

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Städten, die miteinander in Konflikt stehen, wobei jede Stadt ihren eigenen ten eine beherrschende Stellung in den tradierten kulturellen Praktiken der
Anführer hat. In Àrélù hingegen konzentriert sich der Konflikt auf die Stadt Yoruba. Dennoch wird ziemlich deutlich, dass es tadelnswert ist und mit
Dopemu, wo sich die beiden Protagonist/inn/en zumeist aufhalten. Dies dem Tod bestraft wird, wenn man diesen Brauch tatsächlich ausübt. Kei-
soll weiter unten verdeutlicht werden. Obwohl es in beiden Stücken das ne/r gibt offen zu, sich so eine Tat zu erlauben, ganz zu schweigen davon,
Muster „gute Figur/böse Figur“ gibt, sind die Protagonisten in Agba Aarin schamlos und noch dazu auf dem Markt anzukündigen, dass er oder sie die-
Männer, während in Àrélù ein Mann und eine Frau auftreten. Möglicher- ses Verbrechen begehen wird. Immer wieder werden in Zeiten sozialer
weise ist Agba Aarin ein Vorläufer von Àrélù, einer komplexeren und dra- Spannungen unglückliche Einzelne dieses Verbrechens beschuldigt, doch
matisch engagierteren Arbeit, die speziell im Hinblick auf die Fernsehfas- sie beteuern dann ihre Unschuld auf das Heftigste. Es spielt keine Rolle,
sung entwickelt wurde. dass diese Anschuldigungen schwer zu beweisen sind. Ein ruheloser Mob
Àrélù führt gleich in der ersten Folge eindeutig seinen Stil ein. Aber befindet die Verdächtigten immer für schuldig, und nur wenige überleben
noch bevor sich jegliche Handlung entwickelt, bewirkt schon der Titel und können ihre eigene Version der Geschichte dann vor Gericht erzählen.
selbst Nervenkitzel bei einem Yoruba sprechenden Publikum. Der Titel des Eine Figur zu Beginn eines Stückes unverfroren bekannt geben zu lassen, sie
Stückes Àrélù lässt sich am besten übersetzen mit „kaskadenartig fallende sei in eine so weit verabscheute Tat verwickelt, schafft daher nicht nur sofort
Widerwärtigkeiten“, obwohl àrélù als Wort einfach nur „kaskadenartig fal- den dramatischen Konflikt, sondern verspricht auch das einzigartige, kamp-
lend“ oder „mehrfach“ bedeutet. Doch wenn das Wort selbst von Yoruba feslustige soziale Drama, das sich entfalten wird. Die Reaktion der Markt-
Sprecher/inne/n verwendet wird, wird àrélù verstanden als Hinweis auf besucher/innen auf die Bedrohung ist eine weitere Verletzung des ethischen
eine tragische oder unangenehme Situation. Die nähere Erklärung ‚ìyà‘ oder Verhaltenskodex der Yoruba. Der Yoruba Markt ist ein Ort des Handels wie
‚wàhálà‘ (Widerwärtigkeit) ist überflüssig. Nur wenn das Wort in einem auch der Geselligkeit und der kulturellen Normen. Die Menschen nehmen
positiven Kontext auftaucht, wird das erklärende Nomen angewendet, d. h. die Verletzung dieser Normen nicht leicht. Daher kommt die Selbstjustiz
‚àrélù ayò‘ („kaskadenartig fallende Freude“). Das Setting des Stückes ist des Mobs gegen Personen, die verdächtigt werden, sich etwa mit verab-
die fiktive Yoruba Stadt Dopemu. Das Stück beginnt mit einer geschäftigen scheuungswürdigen übernatürlichen Kräften zu befassen, auf dem Markt
Marktszene, in die Fadeyi, der männliche Protagonist, buchstäblich einfällt häufig vor. Doch statt Fadeyi gegenüberzutreten und der Frau zu Hilfe zu
und schamlos zuschlägt. Er geht zu einer Frau hinüber und verlangt, dass eilen, löst sich die Dopemu-Marktmenge auf in einem Pandämonium, gibt
sie das Kind, das sie trägt, aushändigt. Wie nicht anders zu erwarten, ist die die Kultur der Stadt preis und überlässt das Kind Fadeyis Launen. Zweifel-
Frau zunächst verblüfft. Aber als sie entrüstet fragt, mit welchem Recht Fa- los muss das Stück genau betrachtet werden.
deyi solch eine Forderung stelle, trifft sie seine Erwiderung völlig unvorbe- Wie ein Vampir braucht Fadeyi beständige Blutauffrischung, um seine
reitet. Er antwortet: „Mo fe fi s’ogun ni.“ („Ich brauche es für meinen Zau- übernatürlichen Kräfte wieder zu beleben. Kurz nach dem Marktauftritt
ber.“), als ob das die natürlichste Sache der Welt sei. Er meint damit nicht sprengt er in einer weiteren Folge eine Namengebungsfeier und ergreift den
den ‚Zauber‘ physischer Attraktivität, den ein hübsches Baby als Dekora- kleinen, acht Tage alten Säugling, dem die Feierlichkeiten gelten. Im Unter-
tion oder Bühnenrequisite kurzfristig hervorruft. Was er meint und was die schied zur früheren Folge leistet Aworo, der Vater des Kindes, heftig Wider-
Mutter auch so versteht, ist, dass er das Blut des Kindes braucht, dessen stand. Zwischen den beiden Männern entbrennt ein Kampf, der sich in den
Lebensenergie, um seine übernatürlichen Kräfte zu steigern. Tatsächlich Wald verlagert, wo sie von einem Zwerg überrascht werden. Die Männer
beabsichtigt er, das Kind zu töten, und die Zuschauer/innen sehen mit flüchten und lassen das Kind zurück. Der Zwerg nimmt sich des Mädchens
Schrecken und Unglauben Fadeyi ungehindert den Markt mit dem Kind an und zieht es groß. Von seiner aufgebrachten Frau in den Wald zurückge-
verlassen. schickt, um die Tochter zu retten, trifft Aworo auf einen Mann mit einem
Unzweifelhaft hat die esoterische Verbindung zwischen der Lebensener- in ein Tuch gewickelten Baby. In der Annahme, es sei sein Baby, schießt
gie eines Menschen, je jünger desto besser, und den übernatürlichen Kräf- Aworo auf den Mann und verwundet ihn. Der Mann flieht, lässt aber das

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Baby zurück. Aworo kehrt triumphierend heim und entdeckt, dass das heiratet Aderopo und vollendet ihre Wiedereingliederung in das Leben der
Baby ein Junge ist. Als alle Bemühungen scheitern, die Eltern des Jungen Menschen mit der Rückkehr zu ihren wahren Eltern. Nun eine erwachsene
ausfindig zu machen, erteilt der König Aworo und seiner Frau die Erlaub- Frau, kommt sie zurück, um Fadeyi zu jagen und für seine Taten zur Re-
nis, den Jungen anzunehmen. Er wird Aderopo („würdiger Ersatz“) ge- chenschaft zu ziehen. Hätte Fadeyi nicht versucht, sie als Kind zu stehlen,
nannt. wäre Orisabunmi nicht bei den Zwergen gelandet, bei denen sie wohl ihr
Fadeyis end- und skrupellose Taten sowie die vergeblichen Versuche der gründliches mystisches Wissen über Erdmütter und kosmische Kräfte er-
Gemeinschaft, ihm Einhalt zu gebieten und ihn vor Gericht zu bringen, bil- worben hat, mit dem sie Fadeyis bösen Kräften wirksam begegnen wird.
den die kontinuierliche Struktur der dreizehn Folgen. Zugleich ist in jeder Genau in dieser Sphäre der mystischen, esoterischen Kräfte und Kennt-
Folge die Machtübertragung von Fadeyi auf die weibliche Protagonistin nisse nimmt der abschließende Kampf zwischen Fadeyi und Orisabunmi
Orisabunmi impliziert. Orisabunmi scheint der einzige Mensch zu sein, der Gestalt an. Frühere Versuche von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft,
Fadeyis schändlichen magischen Kräften entgegenwirken kann. Alle Bemü- Fadeyis Ausschweifungen zu zügeln, fanden ebenfalls in dieser übernatürli-
hungen von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, ob legal, moralisch, chen Sphäre statt. Aber natürlich reichte niemand an Fadeyis Macht heran,
menschlich oder übermenschlich, scheitern jämmerlich. Fadeyi vereitelt je- diese Kräfte zu Hilfe zu rufen. Àrélù gehört zu der Gruppe von YPTT-Stü-
den Widerstandsakt und fährt ungestraft fort, Leben zu töten oder zu ver- cken, denen es nach Jeyifo gelingt, seinem Publikum einen Moment der
stümmeln und Besitz zu zerstören. Er entführt Frauen, egal ob Schwange- Epiphanie zu präsentieren, in dem das Magische, Paranormale und Dämo-
re, Stillende, Frischvermählte oder Ältere, und zwingt sie unter Androhung nische zur greifbaren Realität wird. Wenn auch die Figuren und ihre Hand-
des Todes zur Ehe mit ihm. Einige Frauen wählen den Tod, aber welch lungen in solchen Stücken innerhalb der menschlichen Sphäre operieren,
grauenhaften Tod erleiden sie! Fadeyi terrorisiert eine ganze Gemeinde und entstammt die Grundlage ihrer Handlungen doch dem Bereich des Über-
unterdrückt den Handlungswillen der Menschen. Jeder, der es wagt, ihn he- natürlichen. Folglich gibt es, wie sich bei genauem Hinsehen offenbart, ein
rauszufordern, wird gedemütigt und ausgelöscht. Sogar der König zittert Ungleichgewicht zwischen beiden Sphären. Dieses Ungleichgewicht, das
vor ihm. Fadeyi selbst ist das Gesetz. Sein Spitzname Olóró („das Gift“), die Yoruba als oju l’asan ko („unnatürliche Kräfte“) bezeichnen, kann nur
den ihm die Stadt aus Verzweiflung gab, scheint mehr als gerechtfertigt. Es durch bewusste gemeinschaftliche Anrufung aller entscheidenden natürli-
ist ein Wunder, dass es die Stadt Dopemu noch schafft, unter Fadeyis böser chen und kosmischen Kräfte ausgeglichen oder aufgehoben werden. Daher
Herrschaft als Gemeinwesen weiterzuexistieren. ist das abschließende Kräftemessen zwischen konkurrierenden Menschen
In einer effektvollen dramatischen Wendung entpuppt sich Orisabun- selten physischer Natur. Vielmehr kämpfen sie auf der metaphysischen und
mi, der es schließlich gelingt, Fadeyi aus der Stadt zu vertreiben und seinen offenbarungskräftigen Ebene von òrò (‚Sprechen‘), ‚dem Wort‘.
Gräueltaten ein Ende zu setzen, als das kleine Mädchen, dessen Kidnap- Die Performance von òrò erfordert gründliche Kenntnisse der Yoruba
ping zunächst durch den Widerstand des Vaters und dann durch das Auf- Kosmogonie und der Wortetymologie. Òrò, ein Wortgefecht im Ruf-und-
tauchen des Waldgnoms vereitelt wurde. Dieser Waldgnom, der das Mäd- Antwort-Modus, basiert auf Wörtern mit tiefgründiger ontologischer Be-
chen schließlich aufzieht, hat ihr den Namen Orisabunmi, „Geschenk der deutung, die schnell enträtselt, verwertet und gekontert werden müssen.
Götter“, gegeben. Es ist auch poetische Gerechtigkeit, dass Aderopo, der Dazu wird dem Gegner/der Gegnerin sofort eine noch schwierigere sprach-
„würdige Ersatz“, den Orisabunmis Eltern für sie erhielten, in Wahrheit der liche Herausforderung entgegengefeuert. Es ist ein Duell choreographierter
Enkel von Fadeyi ist, der wiederum in einer anderen Stadt gekidnappt wur- Fragen und Antworten in Puzzleteilchen, Zungenbrechern, Rätseln, Meta-
de. Unwissend über seine Abstammung nehmen Aworo und seine Frau den phern und – als sehr wichtiges Element – schnellen Erwiderungen mit pas-
Jungen an und ziehen ihn auf. Bezeichnenderweise ist Aderopo derjenige, senden Versen aus Odu Ifa. Die Spruchsammlung Odu Ifa umfasst die phi-
der verantwortlich ist für Orisabunmis Rückkehr aus dem Zwergenwald in losophischen Konzepte und die Weltanschauung der Yoruba. Aus Odu Ifa
die menschliche Gemeinschaft, genauer gesagt nach Dopemu. Orisabunmi zitieren zu können, ist die größte Herausforderung. Im nigerianischen Ge-

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genwartstheater dargestellt, fungieren Verse der Odu Ifa als wichtiger Höhe- zu tun hat, und Fadeyi erkennt, dass er eine mächtige Gegnerin hat, strebt
punkt einer Aufführung. Odu Ifa-Verse sind besonders wirkungsvoll in den das Stück schnell dem Höhepunkt entgegen. Außer sich führt Fadeyi ver-
YPTT-Produktionen, in denen das Wesentliche der Yoruba Sprache be- schiedene Rituale durch und steigert seine dämonische Stellung. Auch Oris-
wahrt wird und die intensiv mit dem Yoruba sprechenden Publikum korres- abunmis übernatürliche Kräfte steigern sich, wobei sie aber versucht, ihre
pondiert. Der beschwörende Vortragsstil der Odu durch Theaterdarsteller/ Kräfte für den bevorstehenden Kampf in einer sie umgebenden schützenden
innen, der sich vom langsamen, regulierten, singenden Ton der Ifa-Priester und von Klugheit geprägten Aura zu bündeln. Als die beiden schließlich
unterscheidet, verstärkt die dramatische Wirkung des Wortgefechtes und aufeinander treffen, sind sie einander fast ebenbürtig, selbst wenn Fadeyi äl-
lässt das Publikum immer in die gefühlsgeladenen Schreie epo (‚Palmöl‘) ter ist, mehr Erfahrung und eine längere magische Praxis hat. Dennoch
oder èrò (‚gemächlich‘) ausbrechen. (Palmöl ist eine wichtige Zutat der wird er besiegt, aber nicht ohne zuvor das Publikum mit seiner eleganten
Yoruba beim Kochen und bei medizinischen und spirituellen Zubereitun- Beherrschung von òrò und seiner großtuerischen Vortragsweise geblendet zu
gen. Es ‚kühlt‘ jegliche ‚heiße‘ Situation und es ist ein übliches Gegenmittel haben. Im kritischen Moment gelingt es ihm jedoch nicht, Orisabunmis un-
bei den meisten leichten Giften. Indem das Publikum im Laufe einer òrò- barmherzige Rätselsalven mit schnellen Erwiderungen aus der Odu Ifa-
Sequenz epo oder èrò ruft, drückt es aus, dass die Hitze des Wortgefechtes Sammlung zu begegnen. Er verliert die Gewalt über seine Sprache und sei-
unerträglich geworden ist und heruntergeregelt werden muss.) Doch dies ist ne Lautäußerungen werden unverständlich. Unfähig, seine Bewegungen zu
keine Beschwerde, sondern Anerkennung der ästhetischen Perfektion der koordinieren, stolpert er schließlich und verschwindet in der Versenkung.
Aufführung. Übrigens stammt der Name „Fadeyi“ aus diesem kulturellen
Wissenskorpus. Der vollständige Name ist Ifa d’eyi – „dieses [Kind] ent-
springt Ifa“. Die der Odu Ifa-Phase vorangehenden òrò-Darstellungen sind Àrélù Fieber: Rezeption und Reaktion des Publikums
lediglich Aufwärmübungen, und jede/r ernst zu nehmende Wettkämpfer/in
nimmt diese Hürden mit Leichtigkeit. In der Schlussphase bedeutet die Wie schon erwähnt, stößt Àrélù als Unterhaltungsstück auf riesigen Erfolg
Unfähigkeit, auf eine bestimmte Frage schlagfertig mit dem passenden Odu und erfreut sich einer sehr großen Anhänger/innen/schaft in den Städten
zu antworten, verloren zu haben. Je bewanderter die Protagonisten und und ländlichen Gemeinden. Als die dritte Folge lief, hatte sich eine kultarti-
Protagonistinnen in der Spruchsammlung sind, desto länger dauert der ge Fangemeinde um das Stück herum entwickelt mit Fadeyi als zentralem
Wettstreit. Auch wenn durch òrò übernatürliche Kräfte zum Eingreifen auf- Bezugspunkt. Eine Folge zu verpassen, gleicht dem Verlust eines Loses für
gefordert werden, sind sie ihrem Wesen nach doch als Prüfung der geistigen den Jackpot. Dienstags abends gegen halb acht gleichen viele Städte (die in
und physischen Ausdauer der Teilnehmenden zu verstehen. den Nachbarstaaten Ogun und Ondo eingeschlossen), in denen BCOS per
Deshalb ist es auch verständlich, dass eine direkte Konfrontation zwi- Satellit empfangen werden kann, Geisterstädten. Verödete Straßen führen
schen den beiden Protagonist/inn/en Fadeyi und Orisabunmi nicht vor der zu menschenleeren, von Käufer/inne/n und Verkäufer/inne/n verlassenen
Schlussphase stattfindet, obwohl es mehrere Anspielungen auf ihre rivali- Abendmärkten (oja ale). An anderen Wochentagen bleibt es bis gut nach
sierenden Kräfte in vorhergehenden Folgen gibt. Tatsächlich wird sich Ori- neun Uhr geschäftig. Die meisten Fahrzeuge, die noch nach sieben Uhr auf
sabunmi des vollen Ausmaßes ihrer Kräfte erst gegen Ende bewusst. Sie den Straßen zu sehen sind, rasen entweder schnell, damit ihre Fahrer zuhau-
begreift, dass die Aufgabe, Fadeyi aus der Stadt zu vertreiben, auf sie zu- se Àrélù sehen können, oder sie sind von auswärts. Von Taxifahrern ist die
rückfällt. Zuvor haben die Mitglieder der Gemeinschaft Orisabunmis Rede, die Fahrgästen mit einem weit entfernt gelegenen Ziel die Beförde-
„merkwürdige Art“ meist gutwillig als Folge ihrer ungewöhnlichen Kind- rung verweigert haben. Außer in den lebenswichtigen Dienstleistungen wie
heit im Wald abgetan, während Orisabunmi selbst keine Erklärung für die in den Krankenhäusern sind die Nachtschichten an Dienstagen fast funk-
seltsamen, aber beruhigenden und heilsamen Ereignisse hat, die um ihre tionsunfähig, weil die Àrélù Fans frei haben wollen. Die Haushalte ohne
Person herum geschehen. Als Orisabunmi begreift und akzeptiert, was sie Fernsehgerät (und das ist die Mehrzahl) sind für ungefähr zwei Stunden ver-

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lassen, während ihre Bewohner/innen in den wenigen Haushalten oder Ge- re abendliche Formen der Unterhaltung. In den Städten wird jedes Treffen
schäften kampieren, die ein Fernsehgerät haben. Jeder Platz vor einem Fern- von zwei bis drei Àrélù Fans sofort zu einem Forum für Àrélù Analysen.
sehgerät, ob in Privathäusern oder öffentlichen Einrichtungen wie Hotels Kund/inn/en, die den Verkäufer/inne/n Details nachliefern, die diese wäh-
und Bierkneipen, ist besetzt. Zwanzig Personen können sich um einen drei- rend der Nachtschicht verpasst haben, werden königlich bedient, und
zehn Zoll Bildschirm scharen, und während der ganzen Ausstrahlung gibt es Krankenschwestern setzen sich zu ihren Patient/inn/en und ergehen sich
Gedränge um günstigere Positionen vor dem Schirm, dem „Schrein“ dieser genüsslich in Fadeyis Taten. Einige Ärzte und Ärztinnen am Universitäts-
Gemeinschaftsansammlung. In manchen Versammlungszentren treffen ei- krankenhaus von Ile-Ife z. B. beginnen Diskussionen über Àrélù, um ihren
nige Stammgäste die Abmachung, ein geordnetes Rotationssystem zu befol- Patient/inn/en beim Entspannen zu helfen. Im öffentlichen Personenver-
gen, so dass am Ende der Serie die meisten einen guten direkten Blick auf kehr sind Passagiere, die aus Gegenden außerhalb des BCOS-Sendegebietes
den Schirm gehabt haben, wenn auch nur für zehn Minuten. Auf jeden Fall kommen, gezwungen, sich szenische Details von Àrélù anzuhören. Aber ei-
wird das, was nicht gesehen oder gehört wurde, sofort nachgeliefert durch nige Passagiere behaupten, dass sie das nicht störe, weil die Diskussionen
die Berichte derer, die vorn sitzen. Und diese Inhaltsangaben werden eifrig vom unbequemen Schlingern der Fahrzeuge ablenke, das durch die Schla-
durch die versammelte Menge hindurch weitergegeben. Die einzige Zeit, in glöcher auf den Straßen verursacht wird. Bei Vorstandssitzungen finden die
der völliges Schweigen herrscht, ist während der òrò-Phase einer Folge. Mitglieder Zeit, über die Wirksamkeit von Beschwörungen nachzusinnen,
Im Grunde genommen macht es nichts, dass die meisten, die sich jeden die das Stück durchziehen. So sieht also die durch Freude und Vergnügen
Dienstag vor irgendeinem Fernsehgerät versammeln, keine gute Sicht auf hervorgerufene fiebrige Erregung aus, die Àrélù der Gesellschaft bietet.
die ausgestrahlte Sendung bekommen können. Das Wichtige ist, physisch Aus Sicht der Sponsoren und Produzenten ist Àrélù mittlerweile ein
anwesend zu sein – dem Bildschirm nahe und Teil eines „Gemeinschaftsri- Dauerbrenner. Die Broadcasting Corporation of Oyo State, BCOS, und
tuals“. Es ist, als sei der Bildschirm in eine Bühne verwandelt worden, auf der Senderverbund, der das Stück in Auftrag gegeben hat und ausstrahlt,
der eine YPTT-Gruppe live spielt, und als seien die Plätze vor dem Fernseh- verzeichnen an den Dienstagen, an denen die Serie läuft, eine noch nie da-
gerät der Zuschauerraum, gefüllt mit einem lebhaften und ekstatischen gewesene Quote. Der Fernsehsender schätzt, dass innerhalb eines Sendege-
YPTT-Publikum. Schließlich ist die Theatergruppe, die Jimoh Aliu Cultu- bietes die Zuschauer/innen, die einschalten um Àrélù zu sehen, die Zahl der
ral Group, noch immer eine YPTT-Gruppe. Das Medium mag ein anderes Zuschauer/innen übersteigt, die im Fernsehen ausgestrahlte internationale
sein, aber Form, Stil und Struktur bleiben vertraut. Somit erfüllt Àrélù Fußballmeisterschaften einschalten, an denen Nigeria teilnimmt. Dabei ist
selbst im Fernsehen, was Jeyifo als „psychosoziale Funktion“ der YPTT- Fußball ein Nationalsport in Nigeria und die Fans sind leidenschaftlich
Gruppen bezeichnet, und es gelingt dem Stück, seinem Publikum einen beim Spiel dabei. Aber Àrélù spricht auch Zuschauer/innen jenseits des für
wirksamen Kanal für soziale und spirituelle Übergangsriten anzubieten. Fußballfans typischen Alters und Geschlechts an. Gibt es einen typischen
Die Zeit von einem Dienstag zum nächsten verbringen die Àrélù Fans Àrélù Fan? Vielleicht nicht, obwohl die Mehrheit der Fans aus der Arbeiter/
in einem Schwebezustand und warten voll Vorfreude auf die nächste Folge. innen/schicht stammt. Fans gibt es nicht nur im BCOS-Satellitensendege-
In der Zeit bis zur nächsten Folge diskutieren, zergliedern und analysieren biet des Staates Oyo, da die BCOS-Signale auch in Nachbarstaaten wie
sie die vorherigen Folgen und malen sich aus, was wohl als Nächstes gesche- Ogun, Ondo und Kwara empfangen werden können. Und die Fans dort se-
hen wird. Sie beurteilen die Geschehnisse, die Darstellungsweise und die hen ebenfalls an den Dienstagabenden ihre Serie Àrélù. Obwohl in all die-
Charakterentwicklung und bewerten den Fortgang der Handlung. Spiel- sen Staaten mehrheitlich Yoruba gesprochen wird, sind die öffentlichen Ein-
plätze werden zu Stegreifbühnen für das Nachspielen einer Àrélù Folge, richtungen mit Fernsehgerät auch voller Menschen, die kein Yoruba
und das stürmische und kunterbunte Treiben in den Schulpausen bietet verstehen. Àrélù Fans in Landesteilen außerhalb des Yoruba Gebietes, wo
Raum für simulierte Fadeyi-Kämpfe. In den ländlichen Gemeinden erset- BCOS Signale nicht empfangen werden, und jene, die dort leben, wo das
zen Àrélù Improvisationen die üblichen Mondscheingeschichten und ande- Programm nicht ausgestrahlt wird, müssen warten, bis die Theatergruppe

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mit der Bühnenfassung des Stückes ihre Gebiete bereist. Aber es sei noch beispielhafte soziale Wesen in der Yoruba Kultur wird als omolúwàbí be-
einmal darauf hingewiesen, dass der Schwerpunkt dieses Essays der TV-Se- zeichnet. Um die volle Bedeutung des Wortes (eigentlich handelt es sich um
rienfassung gilt und dass die Untersuchungen, auf denen er aufbaut, in den einen Satz) zu verstehen, liefere ich eine fast wörtliche Übersetzung von
Staaten Oyo, Ogun und Ondo durchgeführt wurden. omolúwàbí als „die pure Frucht der Verkörperung kultureller Etikette“.
Selbstverständlich gibt es einen großen finanziellen Gewinn für den Omolúwàbí ist ein Konzept äußerster Vortrefflichkeit im Hinblick auf Um-
Sponsor der Serie, International Breweries Limited. IBL verzeichnet einen gangsformen, Erscheinung und allgemeinem Betragen sowie aller anderen
riesigen Anstieg im Absatz ihres Hauptproduktes Trophy Lager Bier. Der Verhaltensweisen, die eine ideale Zivilgesellschaft garantieren. Die Einzel-
Anstieg hat ein derartiges Ausmaß angenommen, dass IBL bereitwillig zu- nen sind dazu angehalten, dieses Ideal so weit wie möglich anzustreben,
stimmte, eine Wiederholung der Serie in der nächsten Spielzeit zu sponsern, aber menschliche Schwächen sind auch in dieser Erwartung einkalkuliert,
und plant, diese Gelegenheit zu nutzen, um ihr neuestes Produkt Mayor La- so dass gelegentliche Übertretungen erlaubt sind. Wichtig ist, sich der
ger Bier auf den Markt zu bringen. Für die Gewerbe, die Àrélù Fans bewir- Philosophie von ìwòntunwònsì („symmetrisches Gleichgewicht“) bewusst
ten, bieten die Dienstagabende ebenfalls finanziellen Gewinn. Bierstuben, zu sein. Das heißt, ein omolúwàbí sollte nicht zulassen, dass die negativen
Kneipen, Billardsalons, Privatklubs und Hotels, die die stürmischen Àrélù Qualitäten zuungunsten der positiven Qualitäten überwiegen. Offensicht-
Fans beherbergen, werden voll entlohnt, wenn die Fans nicht nur stunden- lich verstößt Fadeyi gegen ìwòntunwònsì und übertritt alle omolúwàbí-Ide-
lang nach Ende der Sendung bleiben, sondern auch nach der Àrélù Spielzeit ale, und dennoch spricht er viele seiner Yoruba Zuschauer/innen an.
als Gäste wiederkommen. Sogar die Einbrecher/innen profitieren vom Es steht außer Frage, dass die Öffentlichkeit Fadeyis Charakter und
Àrélù Fieber. Sie haben ihren großen Tag im Plündern von Heimstätten, Handlungen zumindest in ihren Analysen missbilligt. Doch es ist eine
wenn deren Bewohner/innen unterwegs sind, um Àrélù zu sehen. Anschei- nachsichtige Missbilligung. Es gibt keinerlei gegen Fadeyi gerichtete Verär-
nend ist nicht jeder im BCOS-Sendegebiet ein Àrélù Fan – zumindest nicht gerung oder Zorn. Im Gegenteil, seine Bösartigkeit wird mit Genuss und
direkt. Bewunderung diskutiert. In der Tat beginnen einige Menschen, Männer
wie Frauen, auf den ihnen gegebenen Spitznamen „Fadeyi“ oder „Olóró“
mit offensichtlichem Stolz und mit Freude zu reagieren. Die Menschen
Das Àrélù Phänomen: Codes sozialer Normüberschreitung wundern sich, dass ein Mensch so amoralisch sein kann, und dennoch sind
sie fasziniert von der Macht, die er besitzt und die er so schrecklich und
Als ausgezeichnete Produktion verdient die Serie Àrélù die Beliebtheit bei willkürlich ausübt. Vielleicht ist das, was die meisten Menschen überaus
ihren Fans. Sie erfüllt auch die didaktische Moral, die für gewöhnlich mit anziehend finden, ja bewundern, dass er allein gegen den Rest der Gesell-
YPTT-Produktionen verbunden ist – den Triumph des Guten über das schaft steht und dabei Erfolg hat. Kinder, die sich nach den Älteren richten,
Böse mit Orisabunmis Sieg über Fadeyi. Daher sollte Orisabunmi folge- denken sich nichts dabei, ein „Fadeyi“ zu sein. Sie kultivieren seine Um-
richtig aufgewertet werden, sowohl aufgrund ihrer Tat (ethisch korrekt) als gangsformen bis zur Perfektion, stolzieren auf den Spielplätzen herum mit
auch aufgrund ihrer Darstellung (herausragende künstlerische Interpre- seiner bedrohlichen Körperhaltung und seinem verzogenen Gesichtsaus-
tation). Erstaunlicherweise ist jedoch Fadeyi Olóró die wahre Triebfeder druck. Sie glauben, es sei ein Höchstmaß an Spaß, ihren Altersgenossen
von Àrélùs frenetischer Rezeption, sowohl in moralischer Hinsicht als auch und ahnungslosen Erwachsenen einen Fadeyi-Streich zu spielen und häufig
in der Ästhetik der Darstellung. Fadeyi, „das Gift“, tritt auf als populärer seine herausfordernden Kopf- und Schulterstöße anzuwenden. Schusswaf-
(Anti-)Held. Durch und durch bösartig, gemein und vollkommen skrupel- fen, die Kinder nie zuvor interessiert haben, werden plötzlich unwidersteh-
los ist er die Antithese dessen, was und wen die Yoruba ‚traditionell‘ wert- lich und werden an ihren bis dahin sicheren Aufbewahrungsorten aufgestö-
schätzen. Ich betone ‚traditionell‘, weil die Gegenwart beunruhigende Ver- bert, um einen von Fadeyis beliebtesten Zeitvertreiben nachzuahmen.
änderungen mit sich gebracht hat, wie weiter unten dargestellt wird. Das Leider wissen Kinder selten, wo die Fiktion aufhört und die Realität be-

288 289
ginnt. Während die Serie läuft vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Kritik für Fadeyis Schlussdarstellung auf und sagen, dass er seinem Spitzna-
Medien über ein Kind berichten, das beim Fadeyi-Spielen aus Versehen sich men „das Gift“ in der Konfrontation mit Orisabunmi nicht genügend ge-
selbst oder einen Spielkameraden angeschossen hat. recht werde. Dieser Kritik liegt die perverse Sehnsucht zugrunde, Orisab-
Im Gegensatz dazu wird Orisabunmi, die andere Protagonistin – die unmi auf irgendeine Art zu Schaden kommen zu sehen, obwohl die Fans
Erlöserin von Dopemu –, praktisch ignoriert. Natürlich kommt sie in den noch immer wollen, dass sie das Böse besiegt. Natürlich wäre es ein Ner-
wöchentlichen Analysen der Serie vor, aber für gewöhnlich nur innerhalb venkitzel, wenn sie ernsthaft verwundet und dann (in einer weiteren Folge?)
des Kontextes der Szene, in der sie auftritt. Die Fans müssen speziell dazu zurückkäme, um Fadeyi den Rest zu geben. Aber die in dieser Version lie-
aufgefordert werden, ihren Charakter, ihre entscheidende Rolle in der Ge- gende dramatische Wirkung ist nicht gesichert. Außerdem arbeitet die Dar-
samtstruktur des Stücks oder ihre Darstellung durch die Schauspielerin aus- steller/innen/gruppe in einem fernsehspezifischen Zeitfenster. Während die
führlich zu diskutieren. Das Problem ist nicht, dass es ihr etwa an Fans feh- Fans zumeist das Stück in seiner Gesamtheit loben, haben viele eine ziem-
len würde. Es ist vielmehr, dass sie ihren Anhänger/inne/n, die bereitwillig lich kritische Haltung gegenüber der Tatsache, dass Fadeyi verschwindet,
Unterhaltungen über sie abbrechen, um sich der lebhaften Diskussion über statt zu sterben. Wie auch immer, die Fans fügen ziemlich schnell und am-
Fadeyi anzuschließen, nicht genau so viel Enthusiasmus abnötigen kann bivalent zu ihrer Kritik hinzu, dass „b’o ti ye k’o ri na ni yen“ („es ist, wie es
wie Fadeyi. Damit soll nicht behauptet werden, dass das, was sie tut, um die sein soll“). Ihn verschwinden zu lassen, statt ihn zu beseitigen, mag ein dra-
Stadt Dopemu vom bösartigen Fadeyi zu befreien, nicht gewürdigt wird. matischer Kunstgriff sein, um ihn in einer möglichen Àrélù II-Fassung wie-
Die Fans stimmen bereitwillig zu, es sei gerecht, dass das Gute das Böse be- der aufleben zu lassen. Aber die Fans führen einen anderen Grund dafür an.
siegt. Ob die Boshaftigkeit von Fadeyi jedoch als ein schwerwiegender We- Ihrer Ansicht nach sollte ein so mächtiger Mann wie Fadeyi nicht vollkom-
sensfehler betrachtet wird, ist eine andere Frage. Für seine Fans ist der ent- men ausgelöscht werden. Es ist bemerkenswert, dass die Betonung auf sei-
scheidende Punkt Fadeyis Macht, die ihre Aufmerksamkeit beherrscht, zu ner Macht liegt, wohingegen das Böse, das er verkörpert, nicht Teil des Dis-
der sie sich begierig bekennen und die sie bestätigen, wie seltsam das auch kurses ist. Tritt ab, omolúwàbí, der ‚Fadeyismus‘ hat den Thron erklommen.
sein mag. Dieser Punkt der Machtbestätigung beeinflusst die Einschätzung
von Orisabunmis eher wohltätiger und wirksamer Gegenmacht. Die Fans
zweifeln an der Grundlage ihres Sachverstandes in òrò mit dem Argument, Semiotik des sozialen Unbehagens
dass Orisabunmi zwar als Mensch geboren sei, aber ihre entscheidenden
Entwicklungsjahre mit nicht-menschlichen Wesen in einer mächtigen, na- „Die Menschen sind nicht hungrig. Sie haben begonnen, aus den Müll-
türlichen Umgebung verbracht habe. Daraus schließen die Fans fast abwei- eimern zu essen.“3
send, dass sie Fadeyi gegenüber in unfairer Weise im Vorteil sei. Aber nur zu Alha ji Umaru Dikko, Transportminister (1979–1983)
bereitwillig ignorieren sie dabei, wie Fadeyi seine eigene Macht erwirbt.
Es ist aufschlussreich, dass die Fans am Stück hauptsächlich dessen Bamubamu l’a yo (zweimal)
Ende kritisieren. Die meisten beschweren sich, dass es zu „zahm“ sei und Awa o mo p’ebi n
dass es keinen richtigen Höhepunkt gäbe. Es gibt tatsächlich einen enor- Np’omo enikankan
men Spannungsaufbau bis zur abschließenden Konfrontation zwischen Bamubamu l’a yo4
Orisabunmi und Fadeyi. Fadeyis willkürliche Akte der Zerstörung von Le- Wir sind gerade total vollgestopft.
ben und Besitz, seine allgemeine Gesetzlosigkeit und seine zunehmenden Daher beschwer dich nicht bei uns,
Tötungskampagnen in der Vorbereitung auf das abschließende òrò-Duell Dass es welche gibt, die nichts zu essen haben.
verleiten das Publikum dazu, einen großartigen, fesselnden, aber vielleicht Wieso wir sind total vollgestopft.
unrealistischen Höhepunkt zu erwarten. Die Fans sparen ihre harscheste Chief M. A. Akinloye, Vorsitzender der National Party of Nigeria

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Nach 28 Jahren (von 1960 bis 1988) als unabhängige Demokratie hat Ni- geria (N. P. N.), fangen kurz und prägnant die sozio-politische und soziale
geria bis 1988 nur für elf Jahre eine gewählte Zivilregierung gehabt (1960 Stimmung ein, die den moralischen Hintergrund bildet für die Rezeption
bis 1965 und 1979 bis 1985). Die übrige Zeit, 17 Jahre, verbrachte es unter von Àrélù. Die Inthronisierung des ‚Fadeyismus‘ überschreitet das Àrélù
fünf verschiedenen Militärregimes. Jede Militärregierung verdeutlicht voll- Phänomen: Sie ist eine Manifestation tiefer liegenden Unbehagens, eine
kommen, dass sie nicht dem Volk verpflichtet ist, das sie regiert, sondern schreckliche Krankheit der bestehenden sozialen Ordnung. Es ist furchtbar,
dass sie ihre Autorität und Macht vielmehr aus den Gewehrläufen bezieht, dass die Äußerungen in öffentlichen Foren stattfinden. Chief Akinloye, ein
und dass es die Männer sind, die diese Symbole der Macht tragen, denen sie Yoruba, gibt sein bezeichnendes Liedchen bei einer weithin ausgestrahlten
irgendeine Treue schuldet. Während dieses Zeitraums machte Nigeria auch nationalen Wahlkampfveranstaltung zum Besten, während Alhaji Dikko
einen Bruderkrieg durch (von 1967 bis 1971). Gleich welches Grundmotiv seine Ansicht über Hunger in einem Zeitungsinterview vorbringt. Man
dahinter steckt und wie der Ausgang ist, Krieg zerstört Menschen, schwächt zögert, sich vorzustellen, dass zwei nationale Führer meinen, sie könnten
Werte und bringt selten das Beste in einem Volk hervor. Die Mentalität des sich über die legitimen Klagen des Volkes über Hunger und über die ent-
Krieges – Gewalt, Brutalität, Unsicherheit, Verwundbarkeit und mörderi- menschlichenden Bedingungen des täglichen Lebens lustig machen und
sche Überlebensregeln – greift auf die soziale Psyche des Volkes über, bei diese ungeniert abweisen. Aber die mangelnde Sensibilität, die aus ihren
Opfern wie bei Tätern. Kinder, die zukünftigen Führer/innen, sind beson- Äußerungen hervortritt, ist ein bestürzendes Anzeichen dafür, wie sehr das
ders anfällig. Volk von seinen Führern betrogen und erniedrigt wurde. Die, die geschwo-
Mit weiteren Staatsstreichen und Gegencoups sowie Gerüchten über er- ren haben, das Volk zu beschützen, sind stattdessen zu seinen sadistischen
neute Staatsstreiche bringt das Ende des Bürgerkriegs wenig Erleichterung Peinigern geworden. Ein Nigeria, in dem sich korrupte Führer bis zur Be-
für die nigerianischen Massen. Es gibt mehr Gerangel um Macht um jeden nommenheit voll stopfen, während sich die Massen in Armut wälzen, un-
Preis als vor den Bildschirmen, wenn Àrélù ausgestrahlt wird. Es ist ein Über- terscheidet sich kaum von Fadeyis Dopemu, außer dass Fadeyi lediglich ein
leben der Stärksten, und es ist tatsächlich so, dass die Macht eher demjeni- bösartiger Bürger ist und kein öffentlicher Funktionär.
gen gehört, der das Gewehr trägt, als dem Volk. Als das Militär schließlich Die Bürgerrechte wurden weiter verletzt, als offensichtlich unpopuläre
1979 die Macht an eine gewählte Regierung übergibt, hat die militärische Staatsführer 1983 zu den Gewinnern der Wahl erklärt werden und die nicht
Kultur des „erst gehorchen, dann beschweren“ tiefe Wurzeln geschlagen. eindeutigen Ergebnisse der Präsidialwahlen aufgrund obskurer technischer
Und so gibt es in dem kurzen Zwischenspiel gewählter politischer Führung Begründungen der N. P. N. zuerkannt werden. Außer sich murrend und zy-
die Vorstellung sowohl bei den Massen als auch bei den gewählten Funktio- nisch auf die erwähnte Spitzfindigkeit als „Joker“ zu beziehen, unternehmen
när/inn/en, dass die Regierung kein unabdingbares Interesse am Wohlerge- die Wähler/innen nichts Relevantes gegen diese Tat. Einige wenige Kandi-
hen ihrer Wähler besitzt. Eine große Zahl von Wähler/inne/n hat im Er- daten bestreiten ihre Verluste, aber die meisten halten sich an den Rat von
wachsenenalter nur Militärherrscher kennen gelernt, bleibt ungebildet im Chief Akinloyes Lied. So wie die Fans von Orisabunmi es als selbstverständ-
Hinblick auf den demokratischen Prozess und damit auch unwissend hin- lich ansehen, dass sie tun wird, was sie tun muss, hat die politische Führung
sichtlich ihrer Rechte unter einer gewählten Regierung. Kinder, die während des Landes ihre Kurwürde als selbstverständlich betrachtet, dass das Volk
der Zeit der Unabhängigkeit geboren wurden, haben zumeist die Verletzung also akzeptieren wird, wozu es über die Jahre hinweg konditioniert worden
ihrer Menschenrechte und die Gewalt auf der Führungsebene erfahren, ist. Akinloyes Liedchen auf der Wahlkampfveranstaltung ist nicht nur ein zy-
während diejenigen, die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1960 volljäh- nischer Einfall, um Wähler/innen anderer Parteien zu gewinnen. In der ver-
rig wurden, nur die stetige Erosion ihrer Träume und ihres Strebens nach ei- zerrten Ethik dieser Zeit handelt es sich um die kodierte Botschaft, dass das
ner großen Nation miterlebt haben. prächtige Festmahl an der nationalen Tafel zum Verzehr freigegeben ist,
Die oben angeführten Aussagen von Chief Akinloye und Alhaji Umaru wenn die Menschen die Opposition verlassen und sich der an der Macht be-
Dikko, Mitglieder der Partei, die an der Macht ist, der National Party of Ni- findlichen Partei anschließen. Die Wähler/innen bitten jedoch um grundle-

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gende soziale Annehmlichkeiten und um ihre Rechte als Bürger/innen und Weg gehen oder sich auf den Kampf mit ihm einstellen. Im Gegensatz dazu
nicht um die Teilnahme an der Plünderung der Staatskasse. Leider muss man haben sich die Führer im realen Leben als selbstsüchtige Schwindler und
der an der Macht befindlichen Partei angehören, um für die Gewährung Betrüger erwiesen, die versprechen, die Menschen in ein Land zu führen, in
grundlegender Menschenrechte geeignet zu sein. Nur im Staat Ondo gab es dem Milch und Honig fließen, sie aber in einer öden Wüste aussetzen.
eindeutigen Widerspruch gegen die Wahlentscheidung. Angeführt von Leider scheint das omolúwàbí-Prinzip in Nigeria nach 1988 fast voll-
Frauen jagten die Massen den ihnen vorgesetzten Gouverneur aus dem Amt ständig vom Radarschirm der nationalen Psyche verschwunden zu sein.
und setzten Chief Adekunle Ajasin ein, den Mann, den sie ihrer Meinung Dies gilt besonders für die Zeit von 1989 bis 1999 während der Herrschaft
nach gewählt hatten. Die verzerrten Wahlergebnisse werden schnell durch der Generäle Ibrahim Babangida und Sani Abacha. Bezeichnenderweise ent-
einen weiteren Staatsstreich umgestoßen – mit den üblichen Versprechun- schlossen sich gerade diese beiden Militärherrscher, zivile Titel anzuneh-
gen, das Durcheinander zu beseitigen. Und wie üblich werden die noblen men, nämlich Präsident bzw. Staatsoberhaupt. Die Rückkehr zu einer Zivil-
Absichten über Bord geworfen, sobald die Macht des Militärs konsolidiert regierung 1999 zeigt nur, wie viel an nationalem Wiederaufbau betrieben
wurde. Wen wundert es da, dass Àrélù Fans Fadeyi verehren, und manche werden muss. Auch wenn Àrélù nicht länger im aktuellen Repertoire der Ji-
Fans darüber nachsinnen, wie es sein müsse, so viel Macht zu haben. moh Aliu Cultural Group ist manifestiert sich doch das Àrélù Phänomen
weiterhin auf verschiedenartige Weise im Leben der Menschen. – Vielleicht
regiert der „Fadeyismus“ nicht länger, aber omolúwàbí irrt weiterhin hei-
Postscriptum: Schlussbetrachtung matlos und verwirrt umher.
Theater – einschließlich der Erweiterung als TV-Serie wie bei Àrélù und
Aus den oben aufgeführten Gründen ist Àrélù populär geworden. Es spricht anderen Stücken, die für das Fernsehen adaptiert und serialisiert wurden –
bei vielen Menschen eine bekannte, wenn auch schmerzvolle Seite an. Wie gedeiht weiterhin als Form künstlerischen Ausdrucks in Nigeria – eine
die Menschen von Dopemu haben die Nigerianer/innen unsägliche Ent- Form, die eine Unzahl von Bildern festhält, zusammensetzt, kodiert und
behrungen erlitten durch Fadeyi Olórós, die sich als Führer maskierten. Die dekodiert, die die Gesellschaft auf ihre riesige Leinwand projiziert. Die Be-
unbarmherzigen Sturzbäche von Gewalt und das soziale Trauma haben sie wegung der populären Wandertheatergruppen, die so lebendig vom YPTT
hilflos gemacht und lassen sie nach einem Erlöser lechzen. Leider haben repräsentiert wird, hat sich seit 1988 noch ausgeweitet. Das Wandertheater
sich all die selbsternannten Erlöser, ob Militärs mit ihrer Haltung „kein Un- ist nicht länger ein Monopol der Yoruba. Es bringt weiterhin das Theater zu
sinn – erledige die Arbeit“ oder Politiker mit ihrem Versprechen, die Demo- den Menschen, aber nicht nur auf voll beladenen Lastwagen, deren Ladung
kratie wieder herzustellen, als falsch und nur an ihrem eigenen Wohlerge- auf Marktplatz- und Stadthallenbühnen entladen wird, sondern mit der
hen interessiert herausgestellt. In diesem Kontext muss die faktische neuesten Videotechnologie. Am wichtigsten ist jedoch, dass es weiterhin zu
Nichtbeachtung von Orisabunmi durch die Àrélù Fans verstanden werden. den Durchschnittsmenschen spricht mit Sprache, Bildern und Themen, die
Wie bei den selbsternannten Führern, die sie in ihrem realen Leben erfah- bei ihnen Resonanz finden. Hoffen wir, dass diese Bühnen- und Fernseh-
ren, hinterfragen die Àrélù Fans die Motive von Menschen, die an der dramen bald dort erscheinen, wo ein Fadeyi stirbt und eine Orisabunmi
Macht sind. Daher haben sie eine abweisende Haltung gegenüber Orisab- nicht als selbstverständlich angesehen wird, sondern als eine Figur, an die
unmis Macht, selbst wenn sie die Richtigkeit von Orisabunmis Handeln man glaubt und die man wirklich schätzt.
anerkennen. Fadeyi wird für das verehrt, was er ist – ein ehrlicher Schurke.
Zweifellos sind seine Taten sträflich und er ist ein verachtenswerter Mensch. Aus dem Englischen übersetzt von Christiane Fluche
Aber er gibt zumindest nicht vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Tatsächlich
schwelgt er darin, böse zu sein und Schmerz zuzufügen. Daher wissen die
Menschen, was sie von ihm zu erwarten haben: Sie können ihm aus dem

294 295
Karim Traoré zwischen den Disziplinen und realisiert auf diese Weise ein Ideal von
Idrissa Ouédraogos Yaaba oder Interdisziplinarität (nicht Transdisziplinarität!), die ihresgleichen
die ästhetische Fruchtbarkeit der Trockenheit sucht. In seiner Habilitationsschrift, aber auch in verschiedenen Auf-
sätzen zu Literatur und Film in Afrika hat Traoré diese praktische Faszi-
nation des Vergleichs unterschiedlicher Literaturen und Medien im-
Es gibt wenige Menschen, die ihre kulturellen Interessen und wissen- mer wieder sehr produktiv erprobt. Er weist damit die moderne
schaftlichen Ambitionen auch in ihren Lebensläufen und Lebens- literaturwissenschaftliche Afrikanistik als Modell interdisziplinärer
formen so genau abbilden, wie man das an Karim Traoré beobachten Forschung aus, die den ‚fremden Blick‘ der verschiedenen Fächer, Lite-
kann. Er ist bewandert in verschiedenen Disziplinen, realisiert die raturen und Medien auf die jeweils ‚Anderen‘ nicht nur behauptet,
unterschiedlichsten kulturellen Interessen und wissenschaftlichen sondern tatsächlich praktiziert.
Methoden und gelangt immer wieder zu neuen Fragestellungen und Den Mythen und Märchen seiner Kultur widmet sich Karim Traoré
Arbeitsvorhaben, ist aber auch biographisch ein Wanderer zwischen nicht nur als Literaturwissenschaftler. Hier wird er selbst zum Ge-
den Kulturen und Welten. schichtenerzähler und Performer. Jüngst publizierte er seine erste
Traoré stammt aus Burkina Faso, hat an der Universität Abidjan Sammlung von Märchen und Mythen aus Westafrika.
Germanistik, Lettres Modernes und Anglistik studiert und hier auch Werner Röcke
die Licence d’ Allemand erworben (1976). An der Universität des Saar-
lands ergänzte er sie durch die Licence de Lettres Modernes (1979) Die Geschichte der afrikanischen Filmkritik ist viel jünger als die anderer
und wurde hier auch mit einer Arbeit über die Phonologie und Wort- Kunstarten dieses Kontinentes. Die kritische Würdigung afrikanischer kre-
bildung in Mëëka promoviert. ativer Produkte findet hauptsächlich im Zentrum, d. h. im Westen (USA,
Es folgten Jahre intensivster afrikanistischer Forschung und Lehre Frankreich, Großbritannien) statt. Wegen des jungen Alters der Kritik und
an der Universität Bayreuth, wo Traoré als Assistent von Prof. Carl Analyse afrikanischer Filme würde man erwarten, dass sie mit den neuesten
Hoffmann an der Planung und Durchführung des Studiengangs des analytischen Methoden und Theorien vorgenommen wird. Stattdessen stel-
Fachs Afrikanistik, damit aber auch an der Realisierung des Afrika- le ich fest, dass den meisten Analysen dieselben uns vertrauten Ergebnisse
Schwerpunkts an der Universität Bayreuth beteiligt war. Das betraf langjähriger ‚wissenschaftlicher‘ Diskurse über afrikanische Kulturen zu-
Lehre und Forschung gleichermaßen. Während er in seiner akade- grunde liegen. Hier wie anderswo scheint Mudimbes Invention of Africa
mischen Lehre die wichtigsten Varianten des Manding unterrichtete durch die Schöpfungskraft der „bibliothèque coloniale“ [kolonialen Biblio-
(Mëëka, Jula, Bamana, Maninka, Mandinka), hat er sich als Mitarbeiter thek] eine weitere Bestätigung zu finden.
im Sonderforschungsbereich „Identität in Afrika“ insbesondere auf Laut Olivier Barlet, Hauptherausgeber von Africultures (www.africul-
die Mande-Literatur konzentriert. tures.com ) und Filmkritiker, erlangten afrikanische Filme in Europa, be-
1997 hat sich Traoré an der Universität Bayreuth mit einer Arbeit sonders in Frankreich, eine gewisse Popularität gegen Ende der sechziger
über die westafrikanischen Jägerepen habilitiert (Spaß und Ernst. Lite- Jahre, zu einer Zeit häufiger Sozialproteste im Westen. Diese Proteste waren
raturanthropologische Studien zur epischen Jägerdichtung im Mande/ vornehmlich Ausdruck einer Kultur- und Zivilisationsmüdigkeit der Ju-
Westafrika) und bekleidet seit 1998 die Stelle eines Associate Profes- gend; sie führten zu einer paradoxen Situation: auf der einen Seite wurde
sor of Comparative Literature an der University of Georgia (USA). die eigene Kultur fast masochistisch angeprangert, andererseits wurde für
Traoré ist Germanist, Afrikanist und Komparatist. Er ist Linguist einen Kulturrelativismus plädiert, der allerdings einen bevormundenden
und Literaturwissenschaftler, Feldforscher und Filmforscher. Er lässt Diskurs erzeugte. In diesem Diskurs, so Barlet, wird „der Andere zu einem
sich nicht festlegen, bewegt sich auf eine höchst produktive Weise Dekor von Projektionen, zum Träger von Stereotypen der kollektiven Vor-

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stellung, die aus dem kolonialen Kino entstanden ist: die ‚Neger‘ sind ‚gute kaner/inne/n bzw. Schwarzen darstellen. Meine Herangehensweise ist we-
Wilde‘, ewige ‚antimaterialistische Freitags‘, die nur von sozialer Wärme le- der Ausdruck einer „Zurück zu den Wurzeln“-Nostalgie noch die Befür-
ben …“1 Keiner hat schärfer als Barlet, Verfasser des bahnbrechenden Buchs wortung eines fröhlichen Exotismus, der manchen westlichen Afrika-Ex-
African Cinemas. Decolonizing the Gaze, die Voreingenommenheit der eu- perten und Expertinnen so teuer ist.
ropäischen Filmkritik afrikanischen Produkten gegenüber sowie den sich Meine These lautet: Yaaba kann nur unter Berücksichtigung der Äs-
auch terminologisch manifestierenden Rassismus der Journalist/innen an- thetik der (oralen) Mythen zufriedenstellend gedeutet werden. Ich nenne
geprangert. Barlet weist auch auf das Hohle der meisten angeblich kritischen „Mythos“ das Genre, das die Manding sprechenden Völker in der westafri-
Analysen hin, die sich darauf beschränken, den „erfrischenden Charakter“ kanischen Sahelzone als kuma kòrò, „alte ehrwürdige Worte“ bezeichnen.
aller Filme ohne weitere Belege, zu behaupten. Afrikanische Filme seien un- Mythen sind bedeutungsträchtige Geschichten, die einer wiederholten Deu-
heimlich und in ihrer Naivität anziehend; sie wirkten zuweilen abstoßend tung unterzogen werden müssen, damit man sich ihrer wesentlichen Bot-
in ihrer Rückständigkeit und ‚Primitivität‘. Solch ein konfuser und selbstge- schaften annähern kann. Darin unterscheiden sie sich von üblichen Mär-
fälliger Diskurs besitzt jedoch die symbolische Macht, afrikanischen Filme- chen und anderen Trickstern.
macher/inne/n und den europäischen Zuschauer/inne/n vorzuschreiben, Nun soll anstelle der klassischen synoptischen Darstellung von Filmen
was einen afrikanischen Film ausmacht: „Familien- und Gemeinschafts- Yaaba entsprechend dem Stil der Mythen umformuliert werden:
dramen im Dorf, Konflikt zwischen ‚Modernität‘ und ‚Tradition‘, Symbo-
lismus des zeitlosen Afrikas“, wie es Jean-Michel Frodon, Journalist bei Le Folgendes habe ich gesehen, als ich meine Mutter auf meinem Rücken
Monde in einem Artikel über Afrikas Beiträge beim Cannes Festival am trug und meinen Vater, der mir tippelnd folgte, bei der Hand hielt. Es
13. Mai 1997 schrieb. ist lange her, aber es könnte auch in ferner Zukunft sein, wenn wir alle
Im Gegensatz zu dem soeben angesprochenen paternalistischen Ansatz den schattigen Wald in Fulufala bewohnen werden. Was habe ich denn
europäischen bzw. Westlichen Ursprungs denunzieren manche Schwarze gesehen? Lauscht!
Filmkritiker/innen aus Afrika und der amerikanischen Diaspora afrikani- Es war einmal in einem Dorf eine alte Frau. Diese alte Frau lebte ei-
sche Filmemacher/innen; angeblich sollen letztere das Spiel der Westlichen gentlich nicht im Dorf, sondern an dessen Rande, denn die Dorfbewoh-
Kritik mitspielen, indem sie weiterhin ‚cinémas calebasse‘ [‚Kalebassenki- ner/innen betrachteten sie als Hexe. Niemand wollte sich auf sie einlas-
sen. Der einzige Umgang mit ihr bestand aus ständigen Beleidigungen
no‘], ‚primitives Dörfler-Kino‘, produzieren. Interessanterweise illustriert
und anderen Demütigungen. Eines Tages stritten sich Kinder in Sicht-
die Rezeption von Idrissa Ouédraogos Yaaba diese dem gängigen Diskurs
weite der alten Frau. Im Kampf wurde ein Mädchen mit einem verros-
entgegengesetzten, anmaßenden Maßregelungen der afrikanischen Filme-
teten Messer verletzt. Kurz darauf wurde das Mädchen schwer krank.
(macher/innen). In seinem Buch African Cinema erklärt Manthia Diawara,
Ein Scharlatan bot seine Hilfe an, indem er die alte Frau als die Hexe
dass Yaaba eine „bürgerliche humanistische Konzeption der Toleranz“ zu- identifizierte, die langsam die Seele des Mädchens auffraß. Die Dorfbe-
grunde liegt; Diawara behauptet ferner, Ouédraogo konstruiere eine kon- wohner/innen gingen zu der alten Frau am Rande des Dorfs und brann-
fliktfreie heile Welt voller Poesie, weil, so die Unterstellung, dies womöglich ten ihr Haus nieder.
dem Geschmack der „heutigen [gemeint ist die Westliche, KT] Kritik“ bes- Weil sich der Gesundheitszustand des Mädchens immer weiter ver-
ser entspräche als Filme, die „den europäischen Neokolonialismus und afri- schlechterte, schickte die Tante der Kranken ihren Cousin zur alten
kanische diktatorische Regime in Frage stellen.“2 Der vorliegende Essay Frau, um ihren Beistand zu erbitten. Die alte Frau begab sich auf eine
setzt sich zum Ziel, gerade am Beispiel von Yaaba eine kulturinterne Deu- lange Reise, um ihren Freund aufzusuchen, der ganz allein in der Savan-
tung afrikanischer Filme anzubieten. Dieser Ansatz soll eine fruchtbarere ne lebte. Nur dieser Eremit konnte das Mädchen retten. Doch wurde
Alternative zu den beiden problematischen Kritikperspektiven, dem exotik- die Hilfe der alten Frau und ihres Freundes abgeschlagen, als die Dorf-
hungrigen Westlichen Blick und dem komplexgeladenen Ansatz von Afri- bewohner/innen erfuhren, dass diese heuchlerische Hexe sich noch an-

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maßte, die Kranke gesund pflegen zu wollen. Der Freund der alten Frau vermitteln die erdrückende Schönheit einer trockenen und unfruchtbaren
kehrte zu seinem Eremitenleben in der Savanne zurück, aber er vertrau- Region. Die vorherrschende Atmosphäre ist die des Mangels und der Un-
te der alten Frau die Medizin an, die er mitgebracht hatte. vollkommenheit. Die klimabedingte Trockenheit ist Sinnbild der „Trocken-
Die Tante und der Cousin des armen Mädchens beschlossen, die herzigkeit“ der Dorfbewohner/innen. Diese ästhetische Konstruktion der
Medizin heimlich ins Dorf zu bringen, um das kranke Mädchen eben- Umwelt wird um so auffallender, als Ouédraogo dem Land der Trockenheit
so heimlich zu pflegen. Nach wenigen Tagen wurde das Mädchen ge- ein Anderswo gegenüberstellt. Hügel und Wasser trennen das Land der
sund. Ihre Tante kochte ein festliches Essen für die alte Frau, um ihr ihre Dorfbewohner/innen und das Anderswo. Dieses Anderswo entdecken wir
Dankbarkeit zu bekunden. Die beiden Cousins brachten der alten Frau, dank Sana, die sich dahin begibt, um ihren Freund Taryam aufzusuchen.
die sie liebevoll Yaaba – Großmutter – nannten, das wohlschmeckende Das Anderswo ist grün, es wirkt fruchtbar aber unheimlich.
Essen, aber sie fanden sie tot vor. Sie war tot, saß aber noch aufrecht. Nach Sory Camaras ‚narrativen Schemata‘ [schèmes narratifs] besteht
Die Kinder gingen zum Dorftrunkenbold, baten ihn, die alte Frau
die mythische Welt aus zwei polaren Zonen, dem Dorf und dem Wald. In
zu beerdigen, denn sie wussten, dass die Dorfbewohner ihr selbst diesen
der Narration pendeln die Protagonist/inn/en zwischen diesen Polen. Die
letzten Akt der Anständigkeit verweigern würden.
Zone, in der sich die Protagonisten und Protagonistinnen am Ende der Ge-
Tod und Leben sind untrennbar; deswegen trauerten die Kinder
schichte befinden, ist von großer Bedeutung, weil dies Auskunft über den
nicht. Nach der Beerdigung liefen sie fröhlich ins Dorf zurück. Das
Mädchen erhielt von ihrem Cousin einen Armreifen, den ihm die alte Typ bzw. die ‚Intention‘ der Geschichte gibt. Viele Geschichten, die im
Frau lange zuvor geschenkt hatte. Dorf enden, sind weitgehend gesellschaftskonform, konservativ, oder aber
Das ist, was ich gesehen habe. Womöglich wiederholt sich immer innovativ, während diejenigen, die in der Savanne enden, entweder anti-so-
noch die Geschichte der alten Frau am Rande des Dorfes. zial sind oder Hinweise auf Kontestation, Häresie und Trennung enthalten.
Wie in den Mythen nimmt Ouédraogo eine symbolhafte räumliche Ge-
So oder ähnlich könnte der Film als Geschichte, als Mythos, erzählt werden. staltung der mythischen Welt vor. Der Film vermag es, uns das zeigen, was
Für diejenigen, die den Film kennen, dürfte meine Wiedergabe zu karg aus- Mythenerzähler/innen, kraft ihrer suggestiven Macht und Virtuosität, in
fallen. In der Tat enthält der Film viele Details, die ich ausgelassen habe. In den Köpfen der „Gemeinschaft der Lauscher“ (Walter Benjamin) als regel-
der oralen Situation würden diese Details als unmotivierte Abweichungen rechte Bilder/Filme entstehen lassen.
gelten. Jedoch sind sie mit der Gattung Film verträglich, gar notwendig. Die Savanne ist das Anderswo, das unheimliche Land, aus dem die Er-
Zusätzlich zu der Geschichte von den beiden Kindern und der alten Frau ar- neuerung kommt. In Ouédraogos Film wie in den Mythen stellt das Dorf
beitet Ouédraogo weitere Situationen und Ereignisse ein, die letztendlich den Ort der Vertrautheit, der unkritischen Gewissheiten dar. Die Figur von
das Sujet unterstützen: es geht um Marginalität. Diese Frage erhält mehr Yaaba ist die Verbindung zwischen den Polen, sie ist Mediation und Transi-
Konsistenz durch die Einführung eines Trunkenbolds, dessen frustrierte tion zugleich. Yaaba lässt uns die heilende bzw. regenerative Wirkung der
Frau Ehebruch begeht. Was ferner bei meiner erzählenden Zusammenfas- unbewohnten Savanne, des Anderswo entdecken, indem sie ihren Freund
sung auffällt, ist, dass keiner der Protagonist/inn/en einen Namen trägt, Taryam und seine Medizin von dort ins Dorf einzuführen versucht. Aller-
was in einem Film unakzeptabel wäre bzw. was den Zuschauern und Zu- dings, wie Yaaba selbst, muss auch Taryam am Rande des düsteren Dorfes
schauerinnen eine zu große Aufmerksamkeit abverlangt hätte. Im Film stehen bleiben und kehrtmachen. Nur seine Medizin wird durch ein Kind
heißt der Junge Bila, seine Cousine ist Nopoko, Sana ist die alte Frau, die und eine Frau (Bila und seine Mutter, eine mythisch relevante Paarbildung)
Bila liebevoll Yaaba, Großmutter, nennt, etc. ins Dorf eingeschmuggelt.
Meiner kargen Zusammenfassung entspricht jedoch ein wesentliches Im Gegensatz zu Diawara, der in dem Film Yaaba die Darstellung einer
ästhetisches Element des Films: Ouédraogos Geschichte spielt sich in einer heilen konfliktlosen Welt sieht, bin ich eher der Auffassung, dass der Film
Landschaft ab, bei der die rotbräunliche Farbe vorherrscht. Die Aufnahmen eine dysfunktionale Gesellschaft porträtiert: im Dorf herrscht keine Harmo-

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nie. Es ist der Sitz von Zwietracht und Heuchelei. In den Familien wird stän- Wesentliche‘ des Menschen filmisch zeigen? Da dieser Idee Einfachheit und
dig gestritten. Kinder führen folgenschwere Bandenkriege (Nopokos Verlet- Bescheidenheit zugrunde liegt, zeigt uns Ouédraogo seine Menschen in
zung). Dieselben Kinder erfahren so gut wie keine Zärtlichkeit von ihren El- Lumpen. Nur einmal im Film scheinen sich die Dorfbewohner/innen he-
tern, stattdessen werden sie häufig unsanft gemaßregelt. Selbst der einzige rausgeputzt zu haben, und zwar an einem Markttag. Selbst diese Ausnahme
Moment des Friedens und der Freude (Hochzeitstanz) wird plötzlich aufge- entspricht der Mythenästhetik. Der Markt ist der Platz par excellence, wo
hoben. Die gute Stimmung weicht einer frenetischen Jagd der Tänzer auf der Schein von Bedeutung ist, und nicht das Sein. Zahlreiche Geschichten
den Liebhaber der Ehebrecherin, deren Ehemann doch keinerlei Ansehen in (Mythen und Märchen) handeln von Tieren, die sich in einen schönen
der Gemeinschaft genießt. Es geht um eine ambivalente Solidarität der Menschen verwandeln, um Leute in Schwierigkeit zu locken, weil sie sich
Männer mit dem betrogenen Ehemann: Die geschlossene Jagd weist darauf dem Wesentlichen verschließen und sich vom Schein blenden lassen. Wir
hin, dass die Männer im Dorf Anspruch auf totale Kontrolle über Frauen sehen, dass Ouédraogos minimalistischer Ansatz im Hinblick auf die Kos-
und mehr erheben. Der kleine Bila scheint auf dem Weg zu solch phallokra- tüme in Yaaba nicht der Ausdruck einer realistischen Repräsentation afrika-
tischer Sozialisation zu sein. Ouédraogo deutet dies zumindest zweimal im nischer Armseligkeit ist, sondern die symbolhafte Darstellung von Men-
Film an. Beim ersten Mal sehen wir Bila und seine Freunde spielen. Als schen bar jeder Äußerlichkeit, die ihre soziale Zuordnung ermöglicht hätte.
Wette setzt er seine Cousine ein; an einer anderen Stelle äußert sich Bila ab- In der Geschichte ist eine Unterscheidung der Menschen nach Vermö-
schätzig über Kudi, die Ehebrecherin. Yaabas Antwort markiert den Bruch gen irrelevant. Von Bedeutung ist allein die gemeinsame condition humaine,
des Kindes mit der phallokratischen Tradition der Väter. Yaaba Sana rät Bila die Menschlichkeit und deren Erfüllungsmodalität in einem gegebenen so-
folgendes: „Verurteile sie nicht. Sie mag ihre Gründe haben.“ zialen System. Deswegen verzichten die oralen Versionen solcher Geschich-
Während Diawara in Yaabas Spruch ‚eine Art französischen Liberalis- ten darauf, den Protagonisten und Protagonistinnen individuelle Namen zu
mus‘ findet, schlage ich vor, darin eine subversive Kraft zu erkennen. Yaaba geben. Dies würde sie singularisieren, während sie Typen ohne ausgebilde-
wählt die autoritative Form der Sprichwörter, um sich auszudrücken. Inhalt- te Psychologie darstellen sollten. Eine eingehende psychologische Darstel-
lich hinterfragt sie die Art und Weise der Gesellschaft, von manchen ihrer lung der Mythenfiguren würde kontraproduktiv ihre Allgemeingültigkeit
Mitglieder starre Verhaltensweisen unbegründet abzuverlangen. Die sub- mindern. Das hier angesprochene Konzept der Psychologie ist mit C. G.
versive Dimension von Yaabas Spruch wird spätestens dann eindeutig iden- Jungs Definition der persona identisch. Etymologisch bezeichnet der Jung-
tifizierbar, als derselbe Bila ihn wortwörtlich bemüht, um seine Cousine vor sche Begriff eine Maske, also eine Verkleidung, die vieles aussagt über die
der gleichen voreiligen und kritiklosen Aburteilung zu warnen. Es handelt Gesellschaft, der die Maske entstammt: Ihre Normen und Konventionen
sich nicht um eine sterile Wiederholung der Worte Yaabas, sondern es wird drücken sich in der Verkleidung aus, die sich allzu leichtfertig als allgemein-
suggeriert, dass das Verhältnis der Cousins untereinander sowie ihre Bezie- gültig gibt. Doch wissen wir, dass keine menschliche Gesellschaft Anspruch
hung zur alten Frau wachsendes Alternativwissen bei den jungen Menschen auf die Allgemeingültigkeit ihres Systems erheben kann bzw. sollte. Die my-
erzeugt, das von der marginalisierten Yaaba kommt. thischen Charaktere sind daher prä-sozial aufzufassen, auch wenn wir sie
Ouédraogos Film weist eine weitere Similarität mit (oralen) Mythen nur mit unserer Sprache, einer sozialen Konvention, beschreiben oder insze-
auf. Zusätzlich zum symbolhaften Einsatz der Farben und Landschaft be- nieren können. Um diesen Widerspruch zu mindern, bedient sich der My-
dient sich Ouédraogo der Strategie des Minimalismus, um seiner Geschich- thos einer einfachen Sprache und einer schlichten ‚Ausschmückung‘. Aus
te Zeitlosigkeit und Universalität zu verleihen. Mythen führen Archetypen dieser Perspektive sind die erfrischende Naivität und die rührende Einfach-
vor, Menschen ohne jegliche ablenkende Individualität. Einen solchen ur- heit, die manche Westliche Kritiker/innen afrikanischen Filmen oft zu-
sprünglichen Zustand können wir jedoch mit unserer begrenzten irdischen schreiben, vielmehr Ausdruck der beschränkten kulturellen Kompetenz
Erfahrung kaum begreifen. Was die Mündlichkeit durch Verschweigen an- derselben Kritiker/innen.
spricht, muss in dem Film gezeigt werden; aber wie kann man nur ‚das Einfachheit ist nicht Einfältigkeit. In einer einfachen Sprache behandelt

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Yaaba eine Frage von fundamentaler Bedeutung: Die Frage der Marginali- Wir haben bereits die Marginalität als konstituierendes Element von
tät und Marginalisierung mancher Mitglieder der Gesellschaft. In der Tat Ouédraogos Mythos festgestellt. Die marginalen Charaktere Yaaba und Bi-
repräsentieren Yaaba Sana, die beiden Cousins Bila und Nopoko sowie das la bilden ein privilegiertes Paar, das nach eingehenderer Beleuchtung ver-
Ehepaar (bestehend aus dem Trunkenbold Razugu und der Ehebrecherin langt. In der Tat, über die freundschaftliche Beziehung zwischen Bila und
Kudi) verschiedene Aspekte der Marginalität. Hingegen bilden die übrigen Yaaba Sana hinaus erinnern die beiden Protagonist/inn/en an häufig vor-
Dorfbewohner/innen eine geschlossene selbstgefällige Gemeinschaft, die kommende Paare in vielen Märchen, Mythen und Epen. Als Beispiel sei
blindlings Normen befolgt, ohne sie jemals zu hinterfragen. Eine solche Ge- nur die Episode der Gebrüder Tarawele im Sunjata-Epos erwähnt. Die bei-
sellschaft kann nur Unruhe und Hektik ausstrahlen; ferner kann sie sich den Brüder ziehen aus, um das Do-Land von einem schrecklichen Büffel zu
nur ‚steril reproduzieren‘, indem ihr erhabener Konservatismus jegliche Form befreien. Unterwegs treffen sie auf eine alte Frau, die sie als die Büffel-Frau
von Wissen und Selbstkritik erstickt. Vernunftbegabtheit und (Selbst-)Kri- identifizieren. Diese Frau ist ihnen gegenüber ziemlich feindlich eingestellt.
tik finden wir nur bei denen, die die herrschende konservative Gesellschafts- Jedoch versuchen sie beharrlich, die Zuneigung der Frau zu gewinnen, in-
ordnung – der mittleren Generation im produktiven Alter – für sozial devi- dem sie ihr praktisch alle Wünsche von den Lippen ablesen. Die Büffel-
ant oder bedeutungslos erklärt haben. Frau wird von dem guten Benehmen der Brüder überwältigt, sie entschließt
Der Trunkenbold Razugu wird nach den konservativen Maßstäben der sich, ihren Tod bzw. ihr Leben dem jüngeren Bruder anzuvertrauen. In die-
Gesellschaft als verantwortungslos, unzurechnungsfähig, und vor allem als ser Episode des Epos wie im Film Yaaba ist es die Beharrlichkeit der jungen
unglaubwürdig abgetan. Im Film erfüllt er eine ergänzende und unterstüt- Männer, sich alten Frauen gegenüber höflich und hilfsbereit zu verhalten,
zende Funktion: Er bestärkt Bilas Glaubwürdigkeit, der trotzdem als fanta- die zur positiven Umstimmung von Yaaba bzw. der Büffel-Frau führt. Be-
sierendes Kind angesehen wird, und dessen Worte belanglos sind. Razugu harrliche Höflichkeit und ‚Dienstbereitschaft‘ werden als zeitlos und gesell-
ist ein trauriger Fall eines Individuums, das sich von seiner Gesellschaft nicht schaftsneutral aufgefasst. Bila gewinnt das Vertrauen von Sana, indem er
lossagen konnte, jedoch deren Beschränktheit nicht adoptieren möchte. Was jede Angst vor der ‚Hexe‘ überwindet, so viel Zutrauen entwickelt, dass er
ihm bleibt, ist der Alkohol als Zuflucht. Sana Yaaba (Großmutter) nennt. Die Anerkennung von Sana als Yaaba löst
Kinder werden auf Grund ihres Alters als nicht wirklich ernstzunehmend die Bereitschaft der alten Frau aus, dem jungen Bila mit ihrem Wissen bei-
und als zumeist unverantwortlich handelnd klassifiziert. Obwohl Bila sei- zustehen. Dieser Wechsel in der Qualität der Beziehungen weist darauf hin,
nem Vater und den Dorfbewohner/inne/n mehrfach zeigt, dass er die nack- dass Bila eine wesentliche Hürde auf dem Weg seiner Initiation bewältigt
te Wahrheit spricht, wird seinen Worten kein Glauben geschenkt. Er ent- hat. Sana kann nun Bila helfen, seine Cousine gesund zu pflegen, denn er
larvt den Scharlatan, der für das Abbrennen von Sanas Haus verantwortlich hat sich die kostbare Medizin erarbeitet, und zwar nach Hampâté Bâs be-
ist. Ebenfalls dank Bila können die Dorfbewohner/innen den Liebhaber rühmter Aussage: „Initiation wird nicht verschenkt. Man muss immer da-
von Kudi (Frau des Trunkenbolds Razugu) identifizieren und verjagen. rum bitten.“3
Idrissa Ouédraogo hat in mehreren Interviews gerade diesen Aspekt seines Bilas vertrauensseliges Benehmen kommt dem Fragen nach Initiation
Films betont: Erwachsene können von Kindern lernen. Allerdings ist eine gleich.
solche Analyse noch immer besorgt um irdische Vorstellungen und soziale Zahlreiche ähnliche Geschichten erzählen von jungen Männern auf der
Direktverwertbarkeit moralischer Sentenzen und das Einhalten irdischer Suche nach Mitteln für ihre Selbsterfüllung. Ihre Wege sind mit Erschei-
Anstandsregeln. Der Mythos nimmt keine Rücksicht auf Moral, weil diese nungen (alten Frauen, Behinderten, Personen in Not) gepflastert. Dies sind
gesellschaftsbedingt ist; er spricht vielmehr wesentlichere Probleme an, die wichtige Zeichen, die Anhänger/innen der ‚normalen‘ konservativen Ge-
gesellschaftsneutral und zeitlos sind. Deswegen müssen wir nach einer alter- sellschaft in ihrer Arroganz übersehen oder verachten. Initiand/inn/en, die
nativen bzw. ergänzenden Deutung suchen, die der Richtung der Allge- nicht aufmerksam sind, scheitern bei ihrer Initiation, wenn sie nicht sogar
meingültigkeit mehr entsprechen würde. ihr Leben verlieren. Bila ist nach dem mythischen Modell der initiations-

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willigen jungen Männer konzipiert: In Sana sieht er keine abstoßende alte Schulsystems unter Beteiligung der sogenannten Ungebildeten ist unum-
Hexe, sondern eine zärtliche, fürsorgliche Großmutter. gänglich. Besagte Ungebildete, die ihr Wissen nicht dem Westen verdanken,
Bila und Yaaba bilden das ideale mythische Paar, das üblicherweise aus sind in Wahrheit die Experten des lokalen Wissens, dessen Beherrschung im
einer weiblichen Figur im extremen Alter und einem jungen Mann besteht. zeitgenössischen Kontext den Weg zur echten Emanzipation zeigen wird,
Dabei ist es immer deutlich erkennbar, dass der junge Mann sich nicht in denn – wie uns der große Historiker Joseph Ki-Zerbo lehrte – „man lebt
der Masse der Konservativen auflösen wird. Es kommt nicht von ungefähr, nicht mit dem Gedächtnis eines anderen“.
dass ich das Alter der weiblichen Figuren soeben als ‚extrem‘ bezeichnete.
Auch Nopoko ist eine weibliche Figur im extrem jungen Alter. Am Ende
des Films sehen wir Bila und seine Cousine Nopoko um die Wette laufen.
Nopoko gewinnt und Bila gibt ihr einen Armreifen, den er einmal von Yaa-
ba Sana erhielt. In mythischer Sprache hat der Armreifen Bila nie gehört:
Der junge Mann ist nur ein Überbringer. Mit der Übergabe des Armreifens
an Nopoko wird die erzählerische Konvention wiederhergestellt, nach der
junge oder alte Frauen Besitzerinnen des Wissens sind, das junge Männer
benötigen, um sich zu verwirklichen. Die männlich geprägte Perspektive der
Mythen springt ins Auge: Alles Wissen der Frauen ist exklusiv im Dienste
von Männern. Auch in dieser Hinsicht reiht sich Ouédraogos Yaaba in eine
lange Kette von Initiationsmythen im Kontext einer patriarchalischen Ge-
sellschaftsordnung ein.
Dass Yaaba bald als humanistische Geschichte, bald als hervorragende
Kindergeschichte gepriesen wird, ist ein Hinweis auf die Kreativität des Re-
gisseurs. Wahrscheinlich folgt er unbewusst einer autochthonen Ästhetik bis
ins Detail, und gleichzeitig arbeitet er weitere Elemente in den Film ein, die
seine Geschichte weltweit zugänglich machen. In diesem Sinne stellt der
Film als Genre in Afrika den idealen Rahmen dar, in dem lokale Ästhetik
kreativ bemüht werden kann, um die Polysemie der Geschichten noch reich-
haltiger zu gestalten oder sie entsprechend den Bedürfnissen der heutigen
Gesellschaft emanzipatorisch umzuwerten. Bei dem kontinuierlichen Rück-
schreiten der Oralität ist der Film eine ernstzunehmende Alternative für die
Transmission von Wissen und für symbolische Daseinsbewältigung. Aller-
dings kann eine solche Alternative erst wirklich fruchtbar werden, nachdem
die Filmemacher/innen und andere Urheber/innen fiktionaler Texte das
Prinzip der lokalen Ästhetik studiert und gemeistert haben. Ansonsten
bleibt die Referenz zur absterbenden Hypokultur im zeitgenössischen Kunst-
schaffen dem Zufall überlassen. Bis jetzt hat es der ganze Kontinent noch
nicht geschafft, ein eigenes Bildungssystem zu erfinden, das den lokalen
Kulturen den ihnen gebührenden Stellenwert einräumt. Eine Reform des

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Ezenwa-Ohaeto auch der Gesellschaft dient und sich nicht ausschließlich ästhetischer
Von Literatur, Umwelt und Selbstmord schreiben Selbstbeschauung widmet. Sein folgender Essay verdeutlicht diese
Verantwortung, die er gegenüber seinem Land, dessen Menschen
und allen, die diesen nahe stehen, empfindet.
Ezenwa-Ohaeto ist ein bekannter nigerianischer Dichter, Schriftsteller Christine Matzke
und Literaturwissenschaftler mit internationalem Wirkungskreis. Er
forschte und lehrte an Universitäten in Deutschland (Mainz, Bayreuth, Literatur und Umwelt haben immer ein sehr enges Verhältnis in der Welt
Berlin), den USA (Texas und Harvard), Großbritannien (Oxford) sowie gehabt. Die antiken Griechen, die Afrikaner längst vergangener Zeiten und
aktuell in Nigeria an der Nnamdi Azikiwe Universität in Awka. Seine die reisenden Minnesänger mittelalterlicher Gemeinschaften veranschaulich-
Publikationsliste weist ihn als vielfältigen, produktiven und kreativen ten das Verhältnis zwischen Literatur und ihrer entsprechenden Umwelt.
Intellektuellen aus: Allein sein lyrisches Werk umfasst sechs Bände. Das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass das Oxford Advanced
Überdies ist Ezenwa-Ohaeto Autor einer Vielzahl von Learners’ Dictionary of Current English Umwelt über Begriffe wie „Umge-
wissenschaftlichen Artikeln, Essays und Büchern zu verschiedenen bung, Umstände, Einflüsse“ definiert. Des Weiteren wird ‚Umwelt‘ assozi-
Themenbereichen der afrikanischen Literatur. Zu seinen Monogra- iert mit einer „Regierungsabteilung, die verantwortlich ist für Landplanung,
phien zählen u. a. Contemporary Nigerian Poetry and the Poetics of Bauwesen, Transport, Instandhaltung öffentlicher Anlagen, Kontrolle von
Orality, Chinua Achebe: Straight from the Heart sowie seine bekannte Luft- und Wasserverschmutzung, dem Schutz von Küste und ländlichen
Biographie über Chinua Achebe, die 1998 mit dem Choice Outstan- Gebieten.“ Dies spiegelt die weit verbreitete Tendenz wider, den Begriff
ding Book Award ausgezeichnet wurde. Daneben ist Ezenwa-Ohaeto ‚Umwelt‘ in einer sehr eingeschränkten Bedeutung zu verwenden. Wenn
Preisträger mehrerer Literaturpreise und akademischer Ehrungen, von Umwelt im Rahmen dieses Essays gesprochen wird, so wird diese im
zuletzt des Humboldt-Forschungspreises 2003. weiteren Sinne verstanden. Umwelt umfasst hier die natürliche Umgebung,
Das ist das offizielle Bild eines renommierten Schriftstellers und die Umstände und die Einflüsse einer Kultur ebenso wie die wirtschaftli-
Literaturwissenschaftlers. Doch wer einmal Ezenwa-Ohaeto als per- chen Verhältnisse, die politischen Organisationen, das soziale Zusammen-
formance poet und Geschichtenerzähler gehört und erlebt hat, weiß spiel und die geographische Verortung der Bewohner/innen als Individuen
auch, wie gekonnt er sein Publikum in den Bann ziehen kann. Ezenwa- und als Teil einer Gruppe an diesem Ort oder in dieser Gesellschaft.
Ohaeto ist eine vielseitige Persönlichkeit, die auf ganz unterschied- Es besteht selbst bei oberflächlicher Betrachtung bedeutender Weltlite-
lichen Ebenen beeindruckt: der kritische Literaturwissenschaftler, raturen kein Zweifel darüber, dass Literatur und Umwelt schon immer mit-
der engagierte Künstler, der Kollege, der immer ein offenes Ohr für einander in Beziehung gestanden haben. Demnach konnten die Taten der
die Themen, Pläne und Projekte anderer hat. Ezenwa-Ohaeto, der als Ödipus bekannten Figur im griechischen Drama König Ödipus von So-
Mensch, der wie kaum ein anderer die Praktik des Flugverpassens phokles Einblick in die psychologische Beziehung zwischen Mutter und
kultiviert und mit wehenden Fahnen und vollen Koffern das Terminal Sohn in der griechischen Umwelt vermitteln, während das Verhalten einer
gerne auch erst nach dem letzten Aufruf erreicht. Ezenwa-Ohaeto, anderen Figur, die als Elektra bekannt ist, zum besseren Verständnis der um-
der Freund, der trotz seines nomadischen Akademikerdaseins seine gekehrten Beziehung von Tochter und Vater herangezogen werden konnte.
früheren Weggenossen nicht vergisst und in regelmäßigen Abstän- Solch eine Untersuchung könnte lohnend auf alle literarischen Epochen und
den von den unterschiedlichsten Orten der Welt ein Lebenszeichen verschiedene Bereiche der Literatur ausgedehnt werden, da klassische litera-
sendet. rische Texte zeitlos sind. Die Werke William Shakespeares beispielsweise,
Vielleicht sind dies alles Gründe, warum Schreiben für ihn auch die für die Umwelt des Elisabethanischen Englands relevant waren, könn-
immer eine zutiefst menschliche Seite haben muss, eine Seite, die ten immer noch zum Einsatz gebracht werden, um Einblick in unsere ge-

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genwärtige Zeit zu gewinnen. Viele Politiker haben trotz ihrer politischen davor zurückgeschreckt, ihre Umwelt darzustellen und damit deren breite-
Inkompetenz ihre Handlungen mit einem Shakespeare-Zitat zu rechtferti- re Realität zu beleuchten. Die oben genannten Autor/inn/en machten deut-
gen gewusst. Als der täppische nigerianische Militärmachthaber Yakubu lich, dass die nigerianische Umwelt über die physische Umgebung und na-
Gowon durch einen Coup seiner Angehörigen und Kollegen in der nigeria- türliche Vegetation hinausgeht. Sie beinhaltet auch die literarische
nischen Armee seines Amtes enthoben wurde, besaß er immerhin noch den Landschaft ebenso wie historische, soziale, religiöse und ökonomische
Geistesfunken, Shakespeare zu zitieren. Als ihn die Nachricht in Ostafrika Merkmale, die aus den politischen Aktivitäten der Bevölkerung, deren In-
erreichte, war seine Antwort ein Zitat aus Shakespeares As you Like It: „Die teraktion und den verschiedenen nigerianischen Kulturen entspringen.
ganze Welt ist eine Bühne, und alle Frau’n und Männer nichts als Spieler, Es lässt sich also feststellen, dass sich in der Literatur, die von der nige-
sie haben ihren Auftritt, ihren Abgang.“ Es gibt jedoch andere politische rianischen Umwelt ausgeht, eine entsprechend bezogene Vision manifestiert,
Ausgeburten oder Befehlshaber/innen (die Beschreibung hängt von der Ein- die Nigeria als eine Entität versteht und als solche behandelt, wenn auch
stellung der geneigten Leserschaft ab), die es nicht für nötig halten, ihre Ta- unter Berücksichtigung der verschiedenen widerstreitenden Faktoren, die
ten mit literarischen Zitaten zu rechtfertigen. Im Gegenteil, es gibt Politiker/ diesem Lebensraum entspringen. Der nigerianische Kritiker Emmanuel
innen, die die gesellschaftliche Verflechtung von Literatur und Umwelt nicht Obiechina artikuliert einige dieser Themen durch seinen Vorschlag, nigeri-
einmal anerkennen wollen. Dies impliziert, dass immer noch selektive oder anische Schriftsteller/innen sollten ihrem Land in Folgendem verpflichtet
sogar kurzsichtige Auffassungen von Umwelt und ihren Literaturen existie- sein: Der nigerianischen Geschichte, Geographie, Soziologie und Anthro-
ren. Ebenso sind viele Personen noch unwillig, eine Lektion aus dem histo- pologie sowie den wesentlichen Einstellungen, Problemen und Zielen Nige-
rischen Lebensraum Nigeria zu lernen. Solche Vorgänge lassen sich anhand rias. Obiechina betont, dass Autor/inn/en ihrem Land eine Seele zu geben
innenpolitischer – von Regierungsbeamt/inn/en veranlassten – Maßnahmen haben und deshalb ihre Nation kennen und schätzen müssten. Diese, im
erläutern, die mit dem Bildungswesen und der intellektuellen Entwicklung wahrsten Sinne des Wortes, ‚erschaffene Seele‘ trägt zur nachdrücklichen
der Menschen zusammenhängen, die eben jene als Nigeria bekannte Um- Bestätigung einer nigerianischen Wirklichkeit bei; sie gibt Nigeria eine ein-
welt bewohnen. malige Persönlichkeit.
Solch eine Tendenz ist ganz klar mit einer Gesellschaft verbunden, in Emmanuel Obiechina kritisiert auch einige literarische Werke aus Nige-
der Wahrheit ein rares Gut ist. Sie ist auch mit einem Volk verknüpft, das ria. So missbilligt er Texte, die den Schauplatz Nigeria nur ungenügend
zögert, sich die belehrenden, von ihrem Lebensraum gespeisten Widerspie- porträtieren und somit nicht in dessen Boden geerdet sind. Obiechina be-
gelungen ihrer Literatur zu Eigen zu machen. Aber nigerianische Autoren mängelt ihre fehlende Glaubwürdigkeit, die daraus resultiere, dass sie kein
und Autorinnen sind vor dem Bedürfnis, ihre Umwelt zu schreiben, nicht erkennbares Bild von Nigeria zeichnen, das von seiner kulturellen, linguis-
zurückgeschreckt. Die Gedichte von Christopher Okigbo, Gabriel Okara tischen und geographischen Umwelt bestimmt sei. Schriftsteller/innen aus
und John Pepper Clark illustrieren sehr deutlich die Bandbreite, die Lyri- Nigeria, die sich dieser Kriterien bewusst sind, können das Thema nigeria-
ker/inne/n zur Verfügung steht, die sich ihre Umwelt zu Nutze machen, nischer Lebensräume mit entsprechenden literarischen Mitteln ergründen.
um poetische Betrachtungen der Realität zu potenzieren. Gleichermaßen Daraus folgt, dass der Schriftsteller bzw. die Schriftstellerin eine Vision
zeichnen sich die Dramen von Wole Soyinka, Ola Rotimi, Soni Oti und entwickeln muss, die diesbezüglich relevante Entwürfe beinhaltet. Diese
Zulu Sofola durch ein literarisches Interesse aus, das wir auch in den Roma- müssen dem Lesepublikum vermittelt werden und sollten eben jene positi-
nen Chinua Achebes, Elechi Amadis, T. M. Alukos, Flora Nwapas, Amos ven Konzepte illustrieren, die Menschen in nigerianischen Lebensräumen
Tutuolas und Chukwuemeka Ikes finden. Die Autoren und Autorinnen, dazu anhalten, Entzweiung zwischen verschiedenen nigerianischen Gesell-
die die Grenzen nigerianischer Literaturen erweitert haben, indem sie die schaften zu überwinden, ebenso wie religiöse Bigotterie, technologische In-
Errungenschaften eben dieser ersten Generation von Achebe-Soyinkas zu kompetenz und politischen Wankelmut. Der Schriftsteller bzw. die Schrift-
ihrem Ausgangspunkt erkoren haben – eben diese Autor/inn/en sind nicht stellerin muss diese verschiedenen Aspekte der nigerianischen Wirklichkeit

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auf angemessene Weise beleuchten, insbesondere deren politische Entwick- rianer/innen über die religiöse Umwelt schreiben, um eine Vision zu proji-
lung oder technische Unterentwicklung, Faktoren ziviler oder militärischer zieren, die es anderen Teilen des Landes ermöglicht, ihre eigene religiöse
Destabilisierung und den konfusen oder korrupten Charakter brandmar- Umgebung zu meistern.
ken. Diese Themen werden in Chinua Achebes Anthills of the Savannah und Wenige nigerianische Schriftsteller/innen haben diesen sensiblen gesell-
Chukwuemeka Ikes The Search untersucht. Achebe postuliert, dass Macht schaftlichen Bereich behandelt, aber es ist ein wichtiges Unterfangen. Nige-
in der Hand unfähiger Befehlshaber/innen nicht nur politische Strukturen rianer/innen müssen sich fragen, ob sie entweder der eigenen Nation und
zerstört, sondern auch die wirtschaftliche und technologische Umwelt, in- Gesellschaft oder eben jenen religiösen Praktiken anhängen, die ihre Wur-
klusive der Menschen, die diese bewohnen. zeln außerhalb Nigerias haben. Es ist eine traurige Realität des nigeri-
In The Search untersucht Ike die nigerianische Umwelt, indem er die anischen Lebensraums, dass Menschen willens sein können, einen Mit-
Entzweiung verschiedener nigerianischer Völker analysiert, um dadurch ei- menschen aufgrund halbherzig angenommener Glaubensüberzeugungen
ne alternative, realisierbare politische Einstellung zu artikulieren. Die gleiche zu beseitigen; oder Mitbürger/innen zu eliminieren, um sich auf die Seite
Beschäftigung mit undemokratischen, die politische Situation destabilisie- von Kulturen und Religionen zu schlagen, die der nigerianischen Umwelt
renden Machthaber/inne/n findet sich auch in Wole Soyinkas The Beatifi- nicht verpflichtet sind. Heißt das nicht vielleicht auch, dass es Bürger/innen
cation of Area Boy. Hier wird sich über die den Menschen aufgezwungenen gibt, die in ihren Gedanken und Ansichten der nigerianischen Realität fremd
Herrschenden lustig gemacht, denen es an Wissen und Intelligenz mangelt, sind, und die in ihren sozialen und kulturellen Praktiken der nigerianischen
die Gesellschaft positiv zu transformieren. Umwelt beziehungslos gegenüber stehen?
Man sollte jedoch darauf hinweisen, dass die politische Dimension in Der nigerianische Schriftsteller und die Schriftstellerin haben nicht nur
nigerianischen Lebenswelten nicht besonders kontrovers erscheinen mag, die außerordentliche Verpflichtung, diese Realität widerzuspiegeln, sondern
wenn die eigene Gesellschaft sich erheblich von den Verbindlichkeiten un- auch eine Vision zu entwerfen, die es der Leserschaft ermöglicht, selbstsüch-
terscheidet, die Nigeria plagen. Dann wiederum sind religiöse Überzeu- tig motivierte Widerstände zu überwinden. Ich sollte geschwind darauf hin-
gungen im nigerianischen Umfeld extrem empfindliche Angelegenheiten weisen, dass dies natürlich auch in der Verantwortung religiöser, kultureller,
und unter Umständen politisch instabile Faktoren. Nigerianische Autor/ sozialer und politischer Machthaber/innen liegt. Der Schriftsteller bzw. die
inn/en, die sich ernsthaft der Neuschöpfung, Reflexion und Regeneration Schriftstellerin jedoch muss diese Aufgabe nicht erst in sich aufnehmen und
der nigerianischen Umwelt verpflichten, müssen sich mit der Realität der im grobschlächtig reflektieren. Es liegt in der Natur literarischer Überzeugungs-
Streit liegenden religiösen Kräfte auseinandersetzen. Die nigerianische Um- kraft, das Publikum bewusst oder unbewusst im Interesse der nigeriani-
welt ist ganz besonders anfällig für den Missbrauch oder falschen Einsatz re- schen Umwelt zu gewinnen. Solche Überzeugungskraft kann nur zu ihrer
ligiöser Gefühle. Schriftsteller/innen, die für solche negativen religiösen vollen Entfaltung kommen, wenn Autor/inn/en sich keine Einschränkun-
Tendenzen sensibel sind, können kreativ mit den Grenzen religiöser Kon- gen auferlegen. Es ist an der Zeit, dass Nigerianer/innen die Landschaft re-
flikte umgehen, die in Bezug zu ihrer Umwelt stehen. Das betrifft beson- ligiöser Konkurrenz akzeptieren, bevor die Religionen eine Zerstörung der
ders jene ‚flexiblen‘ religiösen Konflikte, die beständig das Element Mensch nigerianischen Umwelt zur Folge haben.
in Nigeria verändern und rekonfigurieren. Es ist bedauerlich, dass diese in Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Wenn Schriftsteller/innen des-
regelmäßigen Abständen auftretenden religiösen Ausschreitungen ein Teil tabilisierende Konflikte in ihrer Umwelt ignorieren, produzieren sie eine
der Bürde des zeitgenössischen Nigerias geworden sind. Literatur des Selbstmordes. Es wird eine Literatur sein, die aufrührt, ohne
Im westlichen Teil Nigerias jedoch, insbesondere unter den Yoruba, eine grundlegende Vision zu äußern, und das ist es letztlich, was Literatur
scheint es einen wesentlichen kulturellen Faktor zu geben, der es ihnen zu Klassikern macht. Die Idee, Selbstmord zu schreiben, ist von der heraus-
ermöglicht, Religion in ihrer Umwelt zu domestizieren und Konflikte, Krie- ragenden ghanaischen Schriftstellerin Ama Ata Aidoo festgehalten worden.
ge, jihads oder Kreuzzüge zu verhindern. Es ist unumgänglich, dass Nige- Obgleich in einem anderen Kontext geäußert, unterbreitet sie Bedeutendes,
wenn sie schreibt:
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Letzte Zeile bitte einbringen!!
Aber sicher, meine Freunde und Freundinnen, meine Brüder und der die Menschen, die von den Randgebieten des Britischen Empire kamen,
Schwestern wissen, dass die einzig wichtige Frage die kritische Rezep- als Irritation betrachtet wurden, es sei denn, sie passten sich in Kultur, Gei-
tion ist, die die Existenz eines Buches belegt, nicht unbedingt dessen steshaltungen und Verhalten der Metropole an. Wie dem auch sei, die Kon-
Anwendbarkeit. Wenn die Kritik sich weigert, über dein Werk zu spre- sequenzen solcher verzerrten psychologischen Perspektiven in einem Schrift-
chen, dann ist das Gewalt. Sie möchte, dass der kreative Mensch in dir steller, den Achebe als den Besitzer eines „gut gebauten Holzhammers
stirbt.1 tödlicher Prosa“2 beschreibt, sind eindeutig nachteilig für die unfreiwilligen
Opfer seiner Literatur. Die Armut Indiens, Heimat von Naipauls Vorfah-
Diese Aussage betont, dass Kritiker/innen gewillt sind ‚Schriftsteller/innen ren, „füllte ihn mit Abscheu und seine Reaktion brachte ihn in Konflikt mit
sterben zu lassen‘, wenn sie nicht über diese schreiben. Es ist aber ebenso li- vielen Indern/innen, die nicht unbedingt in die Defensive gingen, aber
terarischer Mord, wenn Schriftsteller/innen nur daran interessiert sind, lite- dennoch seine Einstellung als zu unsensibel, arrogant und einfach ignorant
rarische Werke zu produzieren, die von der nigerianischen Umwelt entfrem- betrachteten.“3 Sind seine Schilderungen Indiens beunruhigend, so ist sei-
det sind. Das ist dann literarischer Selbstmord. ne Einstellung Afrika gegenüber einfach entsetzlich. Natürlich wird Afrika
Es lässt sich feststellen, dass der Gedanke, Selbstmord zu schreiben so- leicht zum Prügelknaben der Westlichen Presse, inklusive einheimischer
wohl denotativ als auch konnotativ untersucht werden kann. Es gibt also Scheinheiliger. Dennoch versucht diese sich manchmal zurückzunehmen,
die Vermutung, dass Autor/inn/en Selbstmord als Folge ihrer Werke hofie- indem sie Hoffnungen und Zukunftsträume betont. Naipauls Methode be-
ren. Es gibt auch noch eine andere Bedeutung, wie die Arbeiten von Schrift- steht jedoch darin, „sich über Ansprüche menschlicher Errungenschaften in
steller/innen sprichwörtlich selbstmörderisch sein können. Sie ruinieren ih- Afrika lustig zu machen.“4 Er geht noch weiter, in dem er mit Hilfe der Fi-
ren Ruf durch die Tatsache, dass ihre Werke Irrelevantes beinhalten, welche guren in seinem A Bend in the River darauf besteht, dass die Vergangenheit
eine vernünftige Öffentlichkeit automatisch ignoriert. Dieser zweite Ge- Afrikas nur im Herzen liege, nicht auf der staubigen Straße. Tatsächlich soll-
sichtspunkt ist nicht das Gleiche wie das Aussprechen einer ‚fatwa‘ über te die Vergangenheit aufgehoben, zerstört und weggelöscht werden. Achebe
Schriftsteller/innen. Es handelt sich eher um eine Situation, in der Autor/ beanstandet diese Form des Schreibens:
inn/en ihre kreativen Fähigkeiten einsetzen oder entfalten, um die falschen
Ziele zu erreichen oder um Ziele zu erreichen, die ungerechte Konsequen- Nun ja, es ist wahr, dass meine Geschichte nur in meinem Herzen ist;
zen für andere Völker haben werden. So hat es beispielsweise V. S. Naipaul, sie ist wirklich dort zu finden, aber auch auf dieser staubigen Straße in
der 2001 den Nobelpreis für Literatur erhielt, mit Afrika gemacht. Sein ji- meiner Stadt, und in jedem Dorfbewohner und jeder Dorfbewohnerin,
lebendig oder tot, der oder die jemals darüber gelaufen ist. Sie ist auch
had negativer historischer Fiktion gegen Afrika und auch gegen seine eige-
in meinem Land; in meinem Kontinent und, ja, in der Welt. Diese stau-
ne Herkunft lassen sich in dem einen Fall als literarischer Mord, in dem an-
bige kleine Straße ist meine Verbindung zu allen anderen Zielen. Allen
deren als literarischer Selbstmord bezeichnen.
anderen zu sagen, sie sollen ihre Geschichte stilllegen, ihre Tasche pa-
V. S. Naipaul hat die Aufmerksamkeit Chinua Achebes in dessen Buch
cken und eine Einzelfahrkarte nach Europa oder Amerika kaufen, ist
Home and Exile auf sich gezogen, weil er mit ungeheuerlicher Verachtung meiner Ansicht nach der reine Wahnsinn. Zu behaupten, dass die uni-
über sein eigenes Volk und die Afrikaner/innen geschrieben hat. Vielleicht verselle Zivilisation schon vorhanden sei, bedeutet sich gegenüber der
sollte man Naipaul ignorieren, aber ein Schriftsteller, der internationale Prei- heutigen Realität bewusst blind zu stellen und, viel schlimmer noch, ge-
se für mörderisches Schreiben verliehen bekommen hat, verdient eine psy- nau dieses Ziel zu trivialisieren und eine wahrhafte Universalität für die
choanalytische Untersuchung. Mit Sicherheit liegen die Wurzeln solcher Zukunft zu verhindern.5
Schreiberei in seinen Kindheitserfahrungen sowie seinen Erlebnissen in
Großbritannien, wo er sich in jungen Jahren niederließ, als das Land für Achebe impliziert in dieser Analyse, dass eine vorsätzliche, arrogante und
seine rassistischen Erniedrigungen bekannt war. Es war auch eine Zeit, in wichtigtuerische Beurteilung anderer Völker diesen gewissermaßen schrift-

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lich ihre Existenz entzieht. Und wird die Existenz eines Volkes schriftlich mutsgefühl gegenüber der zeitgenössischen Ordnung baut, wird das sich in
entzogen, so kommt das einer literarischen Tötung gleich. der Entwicklung befindende Kind durch voreingenommene Lebenseinstel-
Nigerianische Schriftsteller/innen sind sich solcher Implikationen be- lungen geprägt werden. Vielleicht kann dies für die ätzende Satire von Nkem
wusst, aber manchmal sind Bewusstsein und Realisierung weit voneinander Nwankwos Roman, My Mercedes is Bigger than Yours, verantwortlich ge-
entfernt. Tatsache ist, dass nigerianische Autor/inn/en aller Wahrscheinlich- macht werden, in dem er über die politischen Exzesse politischer Machtha-
keit nach literarischen Selbstmord begehen, wenn sie es versäumen, die He- ber in seiner Gesellschaft herzieht.
rabsetzungen ihrer eigenen Menschlichkeit – und damit den literarischen Die Aufgabe, die Nkem Nwankwo durch das gnadenlose Bloßlegen ei-
Mord – durch fremde Schriftsteller/innen zu erkennen und solche Zugriffe gener gesellschaftlichen Missstände verrichtet, mag hart erscheinen, aber sie
dulden oder in ihrer eigenen Literatur nicht thematisieren. Deshalb können ist mit Achtung für die Menschlichkeit seines Volkes durchdrungen. Femi
sie durch Unwissenheit Werke schaffen, die literarischen Selbstmord illust- Osofisan, ein anderer nigerianischer Autor, bestätigt diese Ansicht, wenn er
rieren; oder literarischer Suizid kann aus antagonistischen Reaktionen auf überzeugend argumentiert:
unfähige und korrupte Regierungsmitglieder entspringen. Das Schreiben
der nigerianischen Umwelt und das Schreiben von Literatur könnten sich Der Künstler, der für die Aufgabe, unsere angeschlagene Kultur wieder-
somit in das Schreiben von Selbstmord verwandeln. Nichtsdestotrotz versu- herzustellen, benötigt wird, kann nicht der Künstler sein, der sich mit
chen nigerianische Schriftsteller/innen, die Umwelt so zu schreiben, wie der herrschenden Klasse verbindet. Solch ein Künstler, der in den Ge-
nuss offizieller Gönnerschaft kommt, kann uns nur weiter den Abhang
Chinua Achebe, Wole Soyinka und Ken Saro-Wiva es vorgemacht haben.
herunterführen. Der Künstler jedoch, der sich dem Auftrag kollektiver
Auf andere Weise haben Künstler/innen wie Nkem Nwankwo und Flora
Erneuerung widmet, wird der Künstler sein, der von Mitgliedern der
Nwapa die Umwelt in ihren Romane in den Vordergrund geschrieben. In
herrschenden Klasse als subversiv eingestuft wird. Weil sein Werk zum
seinen als Shadow of the Masquerade betitelten Memoiren enthüllt Nkem
Aufbruch aufruft, zum Fortschritt, wird er der Gegner jener werden, die
Nwankwo einen Teil seiner Kindheitserfahrungen, die offensichtlich sein lieber den status quo beibehalten wollen, weil sie nach einer anderen
Verständnis von Religion in seiner Umwelt transformiert haben, wenn er Ordnung der Dinge rufen, als die, die von jedermann akzeptiert zu sein
über Folgendes philosophiert: scheint. Sie bringen ein dynamisches Bild von der Zukunft zum Leben,
sehr zum Unmut derer, die lieber die Geschichte anhalten wollen.7
Ich verlange von der Kirche etwas Substantielleres, zum Beispiel ein
Gegenmittel gegen die Grundübel der Welt: Grausamkeit, Ignoranz Der Unmut derer, die die Geschichte lieber anhalten wollen, nimmt verschie-
und Lügen. Wenn Religion einen Sinn haben soll, dann muss sie das dene Formen an und einige dieser Formen können Brutalisierung, Gefan-
wilde Biest im Menschen zähmen. Aber wie viel Leidenschaft und Zer-
gennahme oder die physische Eliminierung von Schriftsteller/inne/n sein.
störung hat sich schon durch diese und jene Spaltung über den endlos
Die Schicksale von Wole Soyinka, Ngugi wa Thiong’o, Kofi Awoonor und
leidenden Menschen ergossen? Und wie sollen wir den Missionar ver-
Ken Saro-Wiwa sind nur einige Beispiele. Es ist mehr als einmal betont
stehen, der so weit von Christus’ Botschaft entfernt war: Dass Kinder
worden, dass die Beziehung zwischen Kulturaktivist/inn/en und der herr-
das Material sind, aus dem himmlische Zierde gemacht ist; ein Mann,
angeblich ein Apostel Jesu, der anstatt einen heimeligen Ort für ein schenden Klasse von mannigfaltigen und komplexen Phänomenen bestimmt
konfuses, fragendes Kind in seinem Herzen zu schaffen, dich fast be- wird. Es hat den Anschein, dass Regierungen gewillt sind, zu extremen
wusstlos schlägt bloß, weil du seinen Namen öffentlich in den Mund ge- Schritten zu greifen, um aufrührerische Autor/inn/en und andere oppositio-
nommen hast?6 nelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Der nigerianische Autor und
Umweltschützer Ken Saro-Wiwa wurde am 10. November 1995 hingerich-
Ohne einen spirituellen Anker, der von der ‚traditionellen Gesellschaft‘ ge- tet, um ein Exempel zu statuieren, welche Gefahren afrikanische Autor/inn/
nährt wird, oder einer religiösen Grundlage, die auf ein entsprechendes De- en zu erwarten haben, die den Mut und die Überzeugung aufbringen, sich

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gegen postkoloniale Machteliten zu stellen. Saro-Wiwa ist der Gegenstand sellschaftlichen Beitrag der Schriftsteller/innen aufwerten und sie für die,
mehrerer populärer Ogoni-Lieder geworden, ganz abgesehen davon, dass im wahrsten Sinne des Wortes, ‚normalen Leute‘ begreiflich machen.
seine Werke, die früher als elitär bezeichnet wurden, nun ein Teil des kultu- Diese Aufgabe der Literatur, die Umwelt in all ihren Bedeutungen kri-
rellen und literarischen Kanons der Ogoni geworden sind. Beispielsweise war tisch zu hinterfragen, hätte fast zum Mord an Chinua Achebe 1966 geführt,
seine Märchensammlung The Singing of the Anthill eindeutig den Bemühun- zur Gefangennahme von Wole Soyinka 1967, zur Rücknahme Chukwue-
gen zuträglich, der geschundenen Kultur seines Volkes wieder auf die Beine meka Ikes Berufung als Vizekanzler 1991 und zum juristischen Mord an
zu helfen. Die Preislieder auf Saro-Wiwa übertreiben keineswegs, wenn sie Ken Saro-Wiwa im Jahre 1991. Schriftsteller/innen, die durch Literatur
seinen literarischen oder sozialen Beitrag für seine Gesellschaft hervorheben, ‚Falsches berichtigen‘, sind anfällig für die Machtkeule der Politiker/innen,
sondern eine realistische Bekräftigung seiner Verdienste für diese Gemein- die die ‚Rechte‘ der Menschen ‚verfälschen‘. Manchmal haben sich diese
schaft, in deren Kontext dieser Einheimische des höchsten Opfers fähig ist. Regelwidrigkeiten so eingebürgert, dass Außenstehende in Versuchung ge-
In mehreren Ogoni-Liedern, die „Ken Saro-Wiwa, den Stern der Ogo- raten, sie als einen Teil der Normen und Sitten dieses Volkes zu betrachten.
ni“ und „Ken, den guten Idealisten“ beschreiben, wird das Opfer, das Ken Wole Soyinka warnt deshalb:
Saro-Wiwa für die Ogoni Community erbracht hat, durch Bildsprache, ly-
Wenn ein Volk kontinuierlich brutalisiert worden ist, wenn die Spra-
rische Kunstgriffe und die Strukturen der traditionellen Preislieder reflek-
che der Herrscher allein als das Knurren marodierender Raubtiere und
tiert und kommentiert. Barine Saaga Ngaages kurze Studie zur Bedeutung
Aasfresser erkannt wird, dann beginnen die Menschen ihre eigene
der Ogoni-Preislieder auf Saro-Wiwa schlussfolgert demgemäß:
Menschlichkeit in Frage zu stellen, ihr zu misstrauen und sie schließlich
Ken Saro-Wiwa wird als Stern der Ogoni gepriesen, ein mutiger, elo- abzulegen, und sie werden – nur zum eigenen Überleben – selbst zu
quenter und begabter Schriftsteller; ein ehrlicher Kämpfer für die Raubtieren gegenüber ihrer eigenen Art.9
Menschrechte der Ogoni und dem Nigertal in Nigeria. Er wird geprie- Autoren und Autorinnen, die die Umwelt, ihre soziale, politische, religiöse
sen und erinnert wegen seiner nicht-gewalttätigen Einstellung gegen-
und wirtschaftliche Realität ‚schreiben‘, werden es unabdingbar finden,
über der Befreiung der Unterdrückten. Er wird in diesen Liedern als Re-
Literatur zur Verbesserung der Menschenwürde einzusetzen. Schriftsteller/
volutionär verstanden, weil er für hohe Standards und Werte stand.
innen mögen Erinnerungen an Unredliches provozieren, aber letztendlich
Zudem ist er der Held der Unterdrückten, ja ihr „Morgenstern“ gewor-
heilen solche provokanten Betrachtungen Wunden. Der Akt des Selbstmord-
den, weil dokumentiert wurde, dass er Bohrungen von Shell Öl im
Land der Ogoni verhindert hat. Dies impliziert, dass die sozialen Um- schreibens ist deshalb ein selbstloser Akt, die menschliche Seite zu ergrün-
stände, unter denen die Ogoni leben, sich verbessern werden, wenn den, die die Unverletzlichkeit des Lebens illustriert, ebenso wie das Bedürf-
man ihre Probleme endlich angemessen zur Sprache bringt. Er ist der nis nach einer gerechten Verteilung aller Ressourcen und die Bedeutung
Held der Unterdrückten, er ist wirklich ihr „Morgenstern“.8 einer positiven Vision für die Zukunft. Die Tatsache, dass Schriftsteller/in-
nen, die die geistige und körperliche Brutalisierung der Menschen durch
Die Hochschätzung Ken Saro-Wiwas bestätigt, dass das Schreiben von jegliche Machthaber/innen in Frage stellen, Selbstmord schreiben, sollte
Umwelt und das Schreiben von Literatur vielleicht das Schreiben von nicht zur zensorischen Einstellung gegenüber der Produktion relevanter Li-
Selbstmord bedeuten kann, dass es aber keine sinnlose Übung ist. Die Öf- teratur führen. Eine Igbo Weisheit besteht darauf, dass „Menschen immer
fentlichkeit nimmt solche literarischen Beiträge zur Kenntnis, und die Ge- noch in den Krieg ziehen, obwohl es den Tod bedeutet“. Diese Erkenntnis
meinschaft schätzt solchen unbezahlbaren Einsatz. Diese Wertschätzung ist sollte nicht als Hymne auf Kriege verstanden werden, aber als Zeichen da-
nicht unbedingt eine rein literarische Antwort auf das geschriebene Werk, für, dass man sich zwar der tragischen Konsequenzen einer Handlung be-
weil die politischen und sozialen Implikationen solcher Werke, insbesonde- wusst sein kann, Einzelne es aber doch zwingend finden können, ungeach-
re wenn sie unangenehme Gegenschläge von Regierungen auslösen, den ge- tet dieses Bewusstseins zu handeln. Das ist das Los jener Schriftsteller/

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innen, die in Gesellschaften leben, deren soziale, ökonomische und politi- Babila Mutia
sche Strukturen ungleich verteilt sind. Die Schriftsteller/innen verpflichten Die Bedeutung der Figur: Armahs ‚Teacher‘ in
sich einer ernsthaften literarischen Aufgabe, wenn sie in diesem Kontext ar- The Beautyful Ones Are Not Yet Born neu betrachtet
beiten. Sie schreiben diese Umwelt mit dem Wissen, dass das, was sie ge-
schrieben haben, zum höchsten Opfer führen könnte.
Babila Mutia war 2000/2001 Gastprofessor für afrikanische Litera-
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Matzke turen an der Universität Bayreuth und 2003/2004 Gastprofessor
für afrikanische Literaturen und Kreatives Schreiben am Dickinson
College in Carlisle (USA). Zur Zeit arbeitet er als Dozent für afrikani-
sche Literaturen und Modernes Drama im Englischen Seminar der
École Normale Supérieure in Yaoundé (Kamerun). Seine Lehr- und For-
schungsschwerpunkte sind Vergleichende afrikanische Literatur-
wissenschaft, Orale Literatur und Performance sowie Kreatives
Schreiben. Als Autor hat Babila Mutia Romane, Lyrik und Dramen
veröffentlicht. Des Weiteren wirkt er als Performancekünstler.
In seinem Beitrag beschäftigt sich Babila Mutia mit dem 1968
veröffentlichten Roman The Beautyful Ones Are Not Yet Born des
ghanaischen Autors Ayi Kwei Armah. Dabei konzentriert sich Mutia
auf die Figur des Teacher und deren Bedeutung im Hinblick auf die
soziale, ökonomische und politische Situation in Ghana, sowie auf
die Werte und Normen der ghanaischen Gesellschaft nach der Unab-
hängigkeit.
Babila Mutia versteht The Beautyful Ones Are Not Yet Born wie
auch die weiteren fünf von Armah veröffentlichten Romane als fik-
tionalen Ausdruck einer insgesamt düsteren Wahrnehmung des Le-
bens. Optimistische Figuren und positive Handlungen kann Mutia in
Armahs Werk nur isoliert ausmachen. So kritisieren auch afrikanische
Intellektuelle an Armahs frühen Romanen The Beautyful Ones Are
Not Yet Born, Fragments und Why Are We So Blest? Aspekte der Figu-
renzeichnung wie Westlichen Individualismus, Verzweiflung und Mis-
anthropie sowie die Zeichnung Afrikas in destruktiven, negativen
Bildern. Die folgenden historiographischen Romane Two Thousand
Seasons, The Healers und Osiris Rising markieren jedoch einen Wende-
punkt in Armahs Werk, bemüht er sich doch in diesen Arbeiten mit
dem Entwurf von auf die Zukunft gerichteten Visionen um eine
Lösung für die afrikanischen Gesellschaften. Die Figur des Heilers
Damfo und seines Schülers Densu in The Healers verkörpern das Po-

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sitive in Armahs manichäischer Weltsicht, sie sind die „Schönen“. Je- verraten wurden. Der demokratische Prozess, an dem Menschen wie Tea-
doch gilt für The Healers, wenn auch eingeschränkt, wie für die beiden cher und ‚der Mann‘, die Protagonisten des Romans, hofften teilzuhaben,
anderen späten Texte Armahs, dass sie trotz des Versuchs einer posi- und ihre hohen Erwartungen zu Beginn der Unabhängigkeit wurden nicht
tiven Vision konstruiert wirken. Kritiker/innen bemängeln die Vagheit verwirklicht. Wie John Skinner es ausdrückt, durchzieht daher die dystopi-
des Settings, die fiktive Armut, die schablonenhaften Figuren sowie sche Betrachtung des Protagonisten vom post-unabhängigen Ghana ein
die unrealistischen Dialoge. Im Gegensatz zu diesen ‚blutleeren‘ his- Ton der Verzweiflung, der einer postkolonialen Rhetorik Ausdruck verleiht,
toriographischen Romanen zeichnet sich The Beautyful Ones Are Not die untrennbar mit dem postkolonialen Trugbild zusammenhängt. Diese
Yet Born gerade durch die sinnlichen Bilder des Textes aus und ver- Stimmung lässt den Erzähler in Armahs Roman hervorheben:
dient daher, weiterhin oder auch wieder gelesen zu werden.
Wie lange wird Afrika mit seinen Führern geschlagen sein? Da waren
Anhand einer kurzen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Si-
Männer, die starben, weil sie die Hoffnung verloren hatten, und andere
tuation in den afrikanischen Staaten konstatiert Mutia, dass die Figur
fanden Gefallen am Genuss einer Macht, die sie nicht hatten. Wir wa-
des Teacher und ihre Bedeutung in deren gesellschaftlichem Kontext
ren eingestimmt auf große und wunderbare Dinge, aber was wir hatten,
für Afrika weiterhin relevant ist. Seit der Veröffentlichung von The
waren unsere eigenen Schwarzen, welche die neuen Dickwänste hofier-
Beautyful Ones Are Not Yet Born 1968, d. h. in einem Zeitraum von fast
ten, um den weißen Mann herumschlichen, ihn auf unserem Rücken
vierzig Jahren, hat sich also nichts Wesentliches an der gesellschaftli- willkommen hießen. Die Männer, die uns aus unserer Verzweiflung
chen Situation in den postkolonialen afrikanischen Staaten geändert. führen sollten, waren, als sie auf der Bildfläche erschienen, so fett und
Mutia selbst impliziert am Schluss seines Essays, dass es wohl weite- zynisch, als hätten sie seit Jahrhunderten von einer Macht gefressen, für
re Dekaden brauchen werde, bis sich eine sozioökonomische und so- die sie nie gekämpft hatten, sie waren alt, bevor sie die Macht erlangt
zialpolitische Veränderung in den afrikanischen Gesellschaften ab- hatten, und eigentlich nur fürs Grab zu gebrauchen.1
zeichnen wird.
Christiane Fluche Daher sind politische Verzweiflung im postkolonialen Ghana und Ernüch-
terung angesichts des schäbigen politischen und ökonomischen Lebens der
Der Roman des ghanaischen Autors Ayi Kwei Armah The Beautyful Ones Nation verantwortlich für die im Roman dargestellte Entfremdung von
Are Not Yet Born wurde 1968 veröffentlicht. Er zählt zu den ersten Texten, Teacher und dessen vollkommenen Rückzug aus der postkolonialen Gesell-
die später der zweiten Phase postkolonialer afrikanischer Literaturen zuge- schaft. Während die Hoffnungslosigkeit und der Schmerz die Figur ‚der
schrieben wurden, die charakterisiert wird durch eine allgemeine Stim- Mann‘ ihn im Text lethargisch und passiv erscheinen lassen, zwingt die Ver-
mung von Ernüchterung und Enttäuschung im Hinblick auf Entwicklun- zweiflung Teacher, einen fatalistischen Nihilismus anzunehmen, eine Mut-
gen wie Korruption, Neokolonialismus und Scheitern der panafrikanischen losigkeit, die so tief gehend ist, dass sie dem Tode nahe kommt.
Idee nach der Unabhängigkeit. Mit Bitterkeit postuliert Armahs Roman das Plötzlich und unvorbereitet, fast schockierend, findet die erste Begeg-
Versagen von Ghanas erstem Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Kwa- nung des Lesers/der Leserin mit Teacher statt, der nackt vorgestellt wird.
me Nkrumah, dessen panafrikanische Vision den antikolonialen Wider- ‚Der Mann‘ besucht Teacher und schaut zufällig durch ein vergittertes Fens-
stand inspiriert hatte, sich aber als unfähig erwies, die alltäglichen Schwie- ter in Teachers Zimmer:
rigkeiten eines postkolonialen Staates zu lösen.
Drinnen auf dem Bett, nahe bei der Tür, an der gegenüberliegenden
Ayi Kwei Armahs Figur Teacher in The Beautyful Ones Are Not Yet Born
Wand, lag ein Mann und las. ‚Der Mann‘ draußen verharrte eine Zeit-
verkörpert den enttäuschten postkolonialen Afrikaner, den Durchschnitts- lang am Fenster, hielt sich an der Eisenstange fest und betrachtete in
afrikaner, dessen politische Erwartungen durch Lüge und Heuchelei einer Ruhe den nackten Mann drinnen. … Der Nackte erhob sich nicht. Er
privilegierteren Elite in den neuen unabhängigen afrikanischen Nationen sah für einen Augenblick von seinem Buch auf und kehrte mit einem
leichten Lächeln zu seiner Lektüre zurück.2
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Letzte Zeile bitte einbringen!!


Teacher liest das Buch eines griechischen Schriftstellers, den er nicht kennt. klommen und ihren Landsleuten ins Gesicht schissen, die Leute ihre
Er gesteht, dass ihn der Titel, He Who Must Die, zu dem Buch greifen ließ. Arschlöcher sahen und sich mit angewidertem Gelächter abwandten.5
Während er der traurigen Kongo-Musik von Radio Ghana lauscht, ist ihm
schmerzlich bewusst, „dass nur zwei Arten Männer ihr Heil in der Ehren- Teacher kann somit „als repräsentative Figur angesehen werden, deren Ent-
haftigkeit suchten – die Feigen und die Narren.“3 Teacher ist offensichtlich fremdung und Verzweiflung typisch ist für viele postkoloniale Intellektuel-
niedergedrückt von der ohnmächtigen Erkenntnis, „dass er weder das eine le.“6 Diese doppelte Entfremdung sowohl von den Herrschenden als auch
noch das andere war, sondern eine aussichtslose Mischung von beiden.“4 von den Beherrschten ist die äußerste Form von Entfremdung, die ein Volk
Die Einschätzung seiner selbst als Feigling und Narr ist eine Untertreibung erfahren kann. Die politische Stimmung hat Menschen wie Koomson, den
von Teachers wahrer Situation. Teachers Schwermut erfolgt aus einer tief korrupten Regierungsminister, hervorgebracht. Koomson, so wird uns im
verwurzelten Korruption, die von der kolonialen bis zur postkolonialen Ära Roman erzählt, war ein Eisenbahner, ein „Docker“ im Hafen. Er hat Lei-
des Landes verfolgt werden kann. Diese tief sitzende Korruption ist laut nen gezogen, und seine Hände sind hart und schwielig geworden. Koom-
dem ghanaischen Philosophen Kwame Gyekye in moralischer Verderbtheit son ist „ein großer, rauher Mann, ein Mann von den Docks, den die Docker
verwurzelt und scheint sich in einigen Gesellschaften eher zu manifestieren schätzten“.7 Er versteht „nichts von Politik, aber er fraß sich voll mit Ideolo-
als in anderen. Gyekye beschreibt Afrika als eines der schlimmsten Opfer gie“,8 und er ist angelockt worden von dem Geld, das er als Politiker be-
politischer Korruption, die die Politik der neuen unabhängigen National- kommen konnte. Seine Verwandlung vom Dockarbeiter zum Minister
staaten befallen und im Keim erstickt sowie deren finanziellen Niedergang spricht daher aller Vernunft Hohn. Dieser politische Opportunismus hat
verursacht hat. Der demokratische politische Prozess wird durch häufige Teacher zu solch einer Verzweiflung getrieben.
militärische Umstürze von Zivilregierungen konsequent zerschlagen. Die- Unter diesen Umständen ist Teachers politische Entfremdung nach-
ses Phänomen ist eine sehr ernsthafte Bedrohung für post-unabhängige Re- zuvollziehen. Sie ist teils eine reflexartige Reaktion und teils Ergebnis einer
gierungen. bewussten Entscheidung, die auf seiner subjektiven Einschätzung des poli-
In dieser Hinsicht kann Teachers Zynismus, seine Geringschätzung und tischen Klimas basiert. Hätte es Hoffnung gegeben, wären die Dinge viel-
Verachtung, als realistische Wahrnehmung des modus operandi der neuen leicht anders. Teacher gesteht ein, dass er eine Menge Hoffnung gehabt ha-
afrikanischen Führer/innen betrachtet werden, die sich seit der Unabhän- be, aber diese Zeiten seien vorbei. Diese Abwesenheit oder Nicht-Existenz
gigkeit nicht sehr verändert haben. Die Machthabenden selbst machen sich von Hoffnung stellt einen wesentlichen Faktor der Analyse über die Wirkung
ziemlich lächerlich, wenn sie anfangen, das Gehabe und den Lebensstil politischer Entfremdung in postkolonialen afrikanischen Nationen heraus.
der Kolonisator/inn/en nachzuahmen. In der folgenden sehr anschaulichen Der Pseudo-Nationalismus, als Schlachtruf im Kampf gegen den Kolo-
Textpassage fängt Teacher erfolgreich die inhärenten Widersprüche in der nialismus benutzt, wurde nach der Unabhängigkeit zumindest aus Armahs
postkolonialen Unabhängigkeitspolitik und die Pseudo-Kultiviertheit der Sicht zu einem Werkzeug zügelloser Ausbeutung. Laut Teacher hat sich das
neuen Machthabenden ein: Leben nicht wirklich geändert. Dieselben Verschleierungen, die während
des Unabhängigkeitskampfes enthüllt wurden, erwiesen sich nach der Un-
abhängigkeit als nützlich für die Politiker:
Es ist entsetzlich anzusehen, wie ein Schwarzer mit allen Kräften ver-
sucht, der dunkle Schatten eines Europäers zu sein … Männer, die sich Ich habe Männer gesehen, welche den Schleier lüfteten, hinter dem die
erhoben hatten, um die Hungrigen zu führen, kamen in Gewändern, Wahrheit verborgen war. Aber dann, als die gleichen Männer die Macht
von denen sie einmal geträumt hatten, sie auf dem Gouverneursball in den Händen hielten, sahen sie den Nutzen solcher Schleier … Wa-
zum Geburtstag der weißen Königin vorzuführen … Sie begriffen am rum sollte der Präsident, nach einer Jugend, in der er gegen die Weißen
Ende nicht einmal, weshalb das Volk ihnen nicht glaubte … Wie hätten kämpfte, mit zunehmendem Alter nicht entdecken, dass er in Wirklich-
diese Führer wissen sollen, dass, während sie die Gipfel der Macht er- keit keinen anderen Wunsch hegte, als so zu sein wie der weiße Gouver-

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neur selbst, jenseits der schwarzen Welt, im alten Sklavenkastell le- seiner Familie verursachte Qual erträgt, flieht Teacher davor. Tatsächlich hat
bend?9 Teacher alle Bande zwischen sich und seiner Familie durchtrennt. Ober-
flächlich erscheint Teachers Lebensstil eines Bohemien wie psychische und
Das erhoffte Glück, zu dem die postkolonialen sozialen, ökonomischen soziale Freiheit. Aber wenn ‚der Mann‘ sich mit ihm zu unterhalten beginnt,
und politischen Bedingungen führen sollten, bot keine Basis für die Ver- entdecken wir, dass Teachers ‚freier‘ Lebensstil tatsächlich eine Patina ist,
wirklichung und den Ausdruck von Individualität. Allgemeiner gesprochen mit der er die tief sitzende Lebensunlust, unter der er leidet, verdeckt. ‚Der
unterdrückte die afrikanische Unabhängigkeit die gesellschaftliche Indivi- Mann‘ denkt, dass Teacher die ‚freieste Person‘ sei, die er kennt, und erin-
duation und engte den Ausdruck persönlicher Freiheit ein. Wie Teacher nert Teacher daran, dass er dem Ruf der Familie entkommen sei. Nichtsdes-
sagt, wird es unter solchen Bedingungen schwierig, ein redlicher Mann zu toweniger gesteht Teacher ein, dass er nicht so frei sei, wie ‚der Mann‘ sich
sein, „wenn sich Verandaboys binnen weniger Monate ganze Paläste hinstel- vorstelle: „Stimmt. Aber ich bin nicht frei. Ich habe den Wunsch nicht auf-
len.“10 Die Verzweiflung und Erbitterung werden noch frustrierender wenn, gegeben, den Lieben zu begegnen, sie zu berühren und von ihnen berührt
wie Teacher weiter erklärt, „du hier mit jemandem ins Gespräch kommst zu werden.“ Und er fährt fort: „Aber du weißt, die Lieben sind tot, auch
[und er] wissen [will], woran er mit dir ist: Wo steht dein Haus? Wo hast du wenn sie wie Lebende auf der Erde herumgehen, und du weißt, sie wollen
dein Auto gelassen? Was hast du in der Hand für deine Familie? Nichts?“11 nur, dass du aus deinem Kopf das verbannst, was dich immer noch glauben
Daher wurden Menschen wie Teacher gezwungen, ihre Bande mit der Hoff- macht, dass du am Leben bist, und ihre Umarmung ist ein Willkommens-
nung zu durchtrennen, und damit wurde die lang gesuchte Freiheit zu einer gruß des Todes.“13 Zwei Absätze weiter versucht Teacher, sein Dilemma zu
unerträglichen Last. Aber Teachers Zynismus und Verzweiflung sind, wie erklären:
der US-amerikanische Literaturkritiker Keith Booker ausführt, eine Ver-
Und so laufe ich davon. Ich weiß, ich bin nichts und werde ohne sie nie
körperung postkolonialer Dekadenz, vor der bereits Frantz Fanon gewarnt
etwas sein, und immer wenn ich unbedingt aufhören möchte, nichts zu
hat. Booker interpretiert Teachers Rückzug aus der Welt als Gegenteil der
sein, dann brennt der Wunsch, zu jenen zu laufen, denen ich entflohen
intensiven Auseinandersetzung mit dem Leben der einfachen Menschen,
bin, bis zur Unerträglichkeit in mir. Bis ich wieder die ausgestreckten
die Fanon als die entscheidende Pflicht von Intellektuellen in postkolonia-
Arme der Lieben sehe, die mir ihr Geschenk des Todes bringen. Dann
len Gesellschaften bezeichnete. Laut Booker forderte Fanon, dass afrikani- gebe ich auf, kehre um, komme hierher zurück und führe mein halbes
sche Intellektuelle „zum Volk zurückkehren müssen und durch diesen Kon- Leben in Einsamkeit weiter.14
takt mit dem volkstümlichen Leben lernen, intellektuelle Führung im
fortdauernden Kampf gegen den kulturellen Imperialismus in der postkolo- Wie der Kritiker John Lutz anmerkt, wird Teachers Flucht vor seiner Fa-
nialen Ära zu leisten.“12 Hieraus folgt, dass Menschen wie Teacher in ihrer milie hervorgerufen durch die wachsende Unfähigkeit des Einzelnen, der
Rolle als Intellektuelle versagen, weil sie sich vom politischen Diskurs ihrer das Gefühl hat, seinen moralischen Verpflichtungen nicht nachkommen zu
Zeit gelöst und damit versäumt haben, dem Volk Hoffnung einzuflößen. können, die ihm als notwendigem Mitglied seines sozialen Netzwerks
Dieses Fehlen von Hoffnung führt zwangsläufig zu Selbstzweifel und zu durch die sozialen und ökonomischen Bedingungen auferlegt werden. Die
nationalem Zweifel und manifestiert so ein Lebensmuster, dem es sowohl an vorherrschenden sozioökonomischen Bedingungen haben in der ghanai-
Richtung als auch an Sinn fehlt. Es überrascht den Leser/die Leserin nicht schen Gesellschaft ein unstillbares Verlangen nach Westlichen Konsumgü-
sehr, dass am Schluss des Romans die Armee die unfähige Zivilregierung tern erzeugt; und der extreme Individualismus, der aus dieser Entwicklung
stürzt. resultiert, hat die Fragmentierung der sozialen Beziehungen verursacht und
Abgesehen von seiner politischen Apathie leidet Teacher auch unter der- zu einer allgemeinen Erfahrung der Isolation geführt. Augenscheinlich ge-
selben Art von Frustration, die die Figur des Mannes durch die Angehöri- hört Teacher zu den ersten Opfern dieser Fragmentierung des sozialen Le-
gen erfährt. Während ‚der Mann‘ die durch Nörgeln und Strafen seitens bens in Ghana.

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Teachers Qual ist somit die eines Mannes, der in einem unentrinnbaren „Das du immerhin selbst gewählt hast“, erwiderte ‚der Mann‘, „ist das
Paradoxon gefangen ist. Um frei zu sein, muss er seiner Familie entkommen. nicht weit besser?“
Dies ist die einzige Möglichkeit, seine psychische Gesundheit zu erhalten, „Besser? Auf der Suche … nichts … es kommt darauf an. Aber du siehst,
da seine Familie von ihm verlangt, Konsumbedürfnisse zu befriedigen, die es geht nicht um die Wahl zwischen Leben und Tod, sondern darum,
nicht mit seinem ethischen und moralischen Bewusstsein übereinstimmen. was für eine Art von Tod wir schließlich ertragen können. Ist dir nicht
Obwohl seinem Nonkonformismus eine gewisse Sehnsucht nach Freiheit aufgefallen, dass es nirgendwo eine Erlösung gibt?“
zugrunde liegt, verzerrt dieser den wahren Kern der Freiheit, weil er seine „Meine Frau ist überzeugt, es gibt eine.“
Selbstentfremdung manifestiert. Teachers Kampf, sich selbst von den Be- „Erlösung in irgendeiner Form gibt es sicher“, sagte der nackte Mann,
dürfnissen seiner Familie zu befreien, ist keine wahre Freiheit. Daher ist „aber nur innerhalb des Kreises unserer eigenen Verdammung.“15
Teachers Leben leer. Er versucht, diese Leere auszuhalten, indem er Bücher
liest, die an anderen Schauplätzen und zu anderen Zeiten angesiedelt sind, Wie der nigerianische Kritiker Kolawole Ogungbesan meint, könnte Tea-
und Musik aus anderen Ländern hört, wie Südafrika und Kongo oder afro- cher vor diesem Hintergrund als Feigling verstanden werden, der glaubt,
amerikanische Lieder. seine Isolation sei eine Art von Freiheit. Teachers Freiheit läuft nicht auf
Teacher hat sich in seinem Dasein entschieden, der unterdrückerischen Handeln hinaus, und obwohl er die Möglichkeit hat, alles zu tun, was er
Gesellschaft zu entkommen, indem er in entfremdeter Isolation lebt. Offen- will, tut er tatsächlich nichts, weil es in seinem Leben nichts gibt, mit dem
sichtlich wird er von den nicht zu vereinbarenden Unterschieden zwischen er sich zu identifizieren wünscht. Seine Nacktheit dient als Symbol für sei-
sich und seiner Familie verfolgt. Er kann nicht ohne sie sein, aber er kann ne moralische und geistige Blöße. Daher kennzeichnet die Abwesenheit von
auch nicht mit ihr leben. Hinsichtlich des sozialpolitischen Lebens in Gha- Hoffnung, die aus nicht verwirklichten familiären, sozialen, ökonomischen
na sieht Teacher keine Hoffnung, weil er keine Vision vom Entstehen eines und politischen Erwartungen resultiert, im Kern eine düstere Vision in Ar-
besseren Lebens hat. Sein Eskapismus in fremdländische Bücher und Mu- mahs Universum. Es ist dem Wesen nach eine Art geistiger Tod, weil es kei-
sik ist alles, was ihm geblieben ist. Seine Seele wird schließlich zerbrochen nerlei Hoffnung gibt, nicht einmal auf ein Ende oder auf den „Beginn von
durch die überwältigenden, verzerrten Werte der Gemeinschaftsethik. etwas Neuem“.16 In dieser Hinsicht akzeptiert Teacher in von allem losge-
Teachers letztendlicher und totaler Rückzug aus dem Leben wird durch löster Resignation sein eigenes Schicksal. Er hat jegliche Hoffnung verloren,
seinen Entschluss symbolisiert, sich selbst in völliger Nacktheit einzusper- weil er trotz seiner Fähigkeit, „das Ende aller Dinge selbst in ihrem An-
ren. Indem er vor der ihn umgebenden Korruption flieht, ergibt er sich der fang“17 zu sehen, unfähig ist, irgendeine emotionale Bindung zu spüren.
Tragödie, den geistigen Tod anzunehmen. Dieser eigenwillige Akt, die Teacher wird sich bewusst, dass er seit langem zu einem „herumwandern-
Nichtigkeit des Lebens zu akzeptieren, ist selbstgewählt, eine Wahl, die den Toten“ geworden ist. Nicht einmal das Ritual eines althergebrachten
schlimmer ist als passive Untätigkeit. Obwohl Teacher eingesteht, nicht frei Trankopfers mit frischem Blut könnte seine Rückkehr unter die Lebenden
zu sein, weil er sich noch immer nach der Liebe seiner Familie sehnt, be- erleichtern.
kennt er, seine Angehörigen seien für ihn gestorben, weil sie von ihm ver- So oder so bietet das Leben keine Hoffnung. Teacher weiß, dass er vor
langen würden, seine Individualität, den Kern seines Wesens, aufzugeben langem gestorben ist. Sein Widerruf und seine Verwerfung der Möglich-
und sich für ein nichtswürdiges Leben zu entscheiden. So oder so – und das keit, Leben zu erfahren (oder dessen Vorzüge zu ersticken), läuft auf Selbst-
ist sein Dilemma – ist Teacher in einem existentialistischen Paradoxon ge- mord hinaus. Am Ende bleibt die Verzweiflung im Leben von Armahs
fangen. Daher läuft er durch die Akzeptanz sowohl des sozialen als auch des Figuren im Roman unverändert. Die gleiche Korruption, die die Zivilregie-
geistigen Todes vor sich selbst davon. Somit ist Teachers Wahl sinnlos; es ist rung kennzeichnete, weisen auch die Soldaten und Polizisten auf, die die
aber, wie ‚der Mann‘ bemerkt, das, was Teacher gewählt hat. Regierung achtundvierzig Stunden nach dem Staatsstreich übernommen
haben. Teachers Pessimismus und die Lebensunlust des Mannes im Roman

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verkörpern den Zerfall der ghanaischen Gemeinschaft mit der, wie John Korruption und Materialismus umgeben ist, bleibt zum Beispiel Teacher in
Lutz vorschlägt, impliziten Andeutung, dass eine Gesellschaft, die ihren The Beautyful Ones Are Not Yet Born seinen Prinzipien eines vorbildhaften
moralischen Zusammenbruch erlebt hat, Menschen hervorbringt die kei- ethischen und moralischen Lebens treu. Teacher ist eher eine Ausnahme
nen Zugang zu ihren wahren Bedürfnissen haben, die aber in ihrer Gier denn die Regel in der Repräsentation von Figuren in der ghanaischen Lite-
nach materiellem Wohlstand zynisch ihre Fähigkeiten nutzen. Dieses Ver- ratur im Besonderen, wie in den afrikanischen Literaturen im Allgemeinen.
folgen eigener Interessen kann nur als äußerster Selbstbetrug bezeichnet Wie Armah befrachtet der nigerianische Dramatiker Wole Soyinka seine
werden, der folglich zu einer Art von Einsamkeit und Verzweiflung führt, Stücke mit einer tragischen Vision von entfremdeten Menschen, die einan-
die Menschen wie Teacher und ‚der Mann‘ kennzeichnen. der in einer feindlichen Umgebung gegenübertreten, einer Umgebung, die
Der Bus im letzten Kapitel des Romans, mit dem Koomson über die die Menschen mit dem unendlichen Zyklus von Leben und Tod lediglich
Grenze flieht, ist trügerisch schön lackiert und sieht neu und attraktiv aus. verhöhnt.
Die Symbolik des Busses im Roman wird offensichtlich: Am Anfang ist der Armahs literarische Fiktion reflektiert die schäbige, sich auflösende post-
Bus alt und verrottet. Am Ende sieht der Bus neu aus, aber tatsächlich ist er koloniale sozioökonomische Gesellschaft. Besonders The Beautyful Ones
nur neu lackiert worden. Wie beim lackierten Bus hat sich auch bei der gha- Are Not Yet Born (und später Fragments) zeichnet ein düsteres Menschenbild
naischen Nation am verrosteten Gestell und an dem alten Motor des Lan- von geistigem Zerfall, degenerierten moralischen Werten und aufgesplitter-
des nichts geändert. Der Teufelskreis aus nationaler Korruption und indivi- ten Identitäten. Damit liegt die Annahme nahe, dass sich Universum, sozi-
dueller Verzweiflung und Qual bleibt unverändert. Tatsächlich kann die alpolitisches Leben und historische Umstände, die für die Entfremdung der
neue äußere Aufmachung des Fahrzeugs als Symbol für die ghanaische Ge- Figuren in Armahs Romanen verantwortlich zeichnen, nicht ändern. Die-
sellschaft dessen moralischen Zerfall nicht verbergen. Im Gegenteil verdeckt selbe Annahme lässt sich auch ziemlich genau auf den übrigen afrikanischen
der neue Anstrich nicht nur wirkungsvoll den klapprigen Zustand des Bus- Kontinent übertragen. Es hat sich in der Mehrheit der afrikanischen Natio-
ses. Er scheint auch perfekt mit der neuen Gesellschaftsordnung zu korres- nen nach der Unabhängigkeit nicht viel verändert. Sierra Leone und Libe-
pondieren. Die korrupten Machenschaften des zweiten Busfahrers sind er- ria versuchen zum Beispiel gerade, die Wunden blutiger Bürgerkriege zu
folgreicher und raffinierter als die des ersten Fahrers. Sie übertreffen bei heilen. Obwohl Ghana und Nigeria jetzt im Entstehen begriffene Demo-
Weitem die kleinen Geschäfte des Vorgängers. kratien sind, ist das Nationalbewusstsein dieser Staaten durchtränkt von
Wie der nigerianische Autor Chinua Achebe angedeutet hat, haben afri- Korruption und blutigen Militärumstürzen. Die Demokratische Republik
kanische Schriftsteller/innen ja die Funktion, zu unterweisen und zu er- Kongo, Kongo Brazzaville, die Zentralafrikanische Republik, Ruanda, Bu-
ziehen. Diese doppelte Funktion der Unterweisung und der Erziehung, die rundi, Somalia und in jüngster Zeit der Sudan sind alle verstrickt in Bür-
die Rolle postkolonialer afrikanischer Schriftsteller/innen definiert, kann gerkriege, politische Unruhen und Konflikte zwischen den verschiedenen
dargestellt werden als Spiegel, der die Gesellschaft reflektiert und in dem sich Gruppen der Bevölkerung. Länder wie Zimbabwe bleiben im Würgegriff
die Gesellschaft so sehen sollte, wie sie ist. Zum größten Teil sind die Wider- einer autokratischen Regierung. Von größter Bedeutung ist, dass sich der
spiegelungen in den Spiegeln der postkolonialen afrikanischen Schriftstel- afrikanische Kontinent immer noch in den Klauen der neokolonialen Aus-
ler/innen nicht angenehm. Seit Armahs Veröffentlichung von The Beautyful beutung befindet, die ihn dazu zwingt, das zu konsumieren, was er nicht
Ones Are Not Yet Born 1968 publizierte er anschließend fünf weitere Roma- produziert, und das zu produzieren, was er nicht konsumiert.
ne: Fragments, Why Are We So Blest?, Two Thousand Seasons, The Healers Daher sind es die Schönen in Armahs Roman – d. h. die neue Genera-
und Osiris Rising. Die gründliche Lektüre dieser Romane enthüllt eine düs- tion von Afrikanern und Afrikanerinnen, die es ermöglichen sollte, dass
tere Wahrnehmung des Lebens in Armahs fiktionalem Universum. Es gibt sinnvolles Leben im postkolonialen Afrika erblüht, „das zukünftige Gute,
natürlich isolierte Darstellungen von Figuren mit einer optimistischen und das vielleicht dem afrikanischen Kontinent zufallen mag“ – noch nicht ge-
positiven Lebenserfahrung in Armahs Werken. Obwohl er von Schmutz, boren. So, wie sich Teachers Entfremdung in Armahs ghanaischem Roman

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nicht verändert hat, bleibt auch die Entfremdung und Unzufriedenheit im WortMächtig: Literarische und politische
übrigen Afrika unverändert bestehen. Armahs Roman impliziert, dass die
Begegnungen zwischen Afrika und Europa
postkoloniale Verzweiflung weiterhin anhält, kontinentalen Ausmaßes ist
und dauerhaft zu sein scheint; und es gibt kein Anzeichen dafür, dass sie in
den nächsten Dekaden verschwinden wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Christiane Fluche

Nuruddin Farah
Tamarinden und Kosmopolitanismus

Nuruddin Farah, 1998 Preisträger des renommierten Neustadt Inter-


national Prize for Literature der University of Oklahoma, ist zweifellos
eine der meist gelobtesten und wichtigsten Stimmen der afrikani-
schen Gegenwartsliteratur. Der Romancier ist berühmt für sein breit
gefächertes Werk und dessen wohlgeordnete ästhetische Strukturen.
Seine Bücher nehmen sich häufig sozio-gesellschaftlicher Fragen an
und stellen speziell die generelle literarische Vorliebe für stereotype
und monolithische kommunale Identitäten in Frage.
Farah wurde 1945 in Baidoa, in dem vom Krieg zerrütteten Italie-
nisch-Somalia geboren. Seine in Äthiopien begonnene Ausbildung
führte ihn über Mogadischu und den indischen Punjab bis zur Univer-
sity of Essex. Seine Pläne, 1976 nach Somalia zurückzukehren, musste
er verwerfen, da ihm nach der Veröffentlichung des als subversiv und
staatsgefährdend eingestuften Werkes Like a Naked Needle eine län-
gere Gefängnisstrafe in seinem von der Militärdiktatur Muhammad
Siyad Barre regierten Heimatland drohte. Aufgrund dieser Nachricht,
die ihn auf seiner Heimreise nach Somalia in Paris erreichte, änderte
Farah seine Reiseabsichten. Hierdurch verschlug es ihn unter ande-

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rem nach Rom, und er musste beinahe zwanzig Jahre auf seine Rück- erschienene Sozialstudie Yesterday, Tomorrow: Voices from the Somali
kehr und die Veröffentlichung seiner Werke in der Heimat warten. Diaspora, die eine zentrale Stellung innerhalb des Diskurses über das
Während dieser Zeit lehrte er an verschiedenen Universitäten in Dilemma der afrikanischen Diaspora einnimmt. Er betont die Frag-
Afrika, Europa und den Vereinigten Staaten. Weltbürger und Kind der mentarisierung des Lebens von Flüchtlingen, die aus Entfremdung
Diaspora zugleich, ähnelt Farahs Leben dem eines ‚Nomaden‘, dessen und Überlebenskampf resultiert, und stellt dies der Behandlung von
Oeuvre stets Bezug zu den ‚Traditionen‘, Oraturen und Mythen seiner Flüchtlingen in ihren Gastländern gegenüber.
Heimat nimmt. Farah ist häufig in Deutschland, wo er eigentlich selten die Ge-
Wie viele afrikanische Autoren und Autorinnen will auch Farah legenheit verpasst, seinen guten Freund Professor Eckhard Breitinger
Stimme seines Volkes sein,da er dessen Leid,nicht zuletzt auch auf- zu treffen. Durch diese Freundschaft konnte auch die Universität Bay-
grund der langen Ächtung seinerWerke in Somalia,nur allzu gut kennt. reuth in hohem Maße von Nuruddin Farrahs Persönlichkeit profi-
Obwohl Englisch‚nur‘ seine vierte Sprache ist,beherrscht er sie den- tieren.
noch meisterhaft. Sein poetisch-assoziativer und wohlgeordneter Festus Fruh Ndeh
Sprachduktus prägt seine Romane.Vortrefflich beschreiben Douglas
Killam und Ruth Rowe den Romancier,wenn sie anführen:„Farah ist In Somalia sieht man in der Nähe von Gerichtsgebäuden häufig kleinere
wahrscheinlich Afrikas kosmopolitischster,belesenster und viel- Gruppen von Männern herumlungern. Einige davon stehen vor den Ein-
sprachigster Schriftsteller … er gilt gemeinhin als einer der stilistisch gängen, um Ihnen beim Schreiben eines Briefes zu helfen, falls Sie nicht le-
und intellektuell komplexesten Gegenwartsautor/inn/en Afrikas.“1 sen und schreiben können; andere besorgen Ihnen in kürzester Zeit einen
Seine eigene rastlose und multi-linguale Persönlichkeit scheint den Anwalt; die Mehrheit jedoch ist dort, um falsch auszusagen. Diese Männer
polyphonen Stimmen,die Themen und Charaktere seinesWerkes sind manierlich, aber unauffällig gekleidet und harren dort mit der Geduld
prägen,zu Grunde zu liegen. Seine Romane thematisieren die still- von Geiern, die sich auf einem Dachfirst in der Nähe des Schlachthofs nie-
schweigende Hinnahme von familiärem und staatlichem Despotis- dergelassen haben. Sie sind verkannte Künstler, die sich die Zeit mit Anek-
mus. In postkolonialer Manier entlarven sie Partikularismus,Unter- doten über so manche Hilfsbedürftige vertreiben, denen sie einst gegen
drückung,religiösen Fanatismus undWestliche Einflussnahme Zahlung einer Gebühr eine Gefälligkeit erwiesen haben. Absolute Profis
innerhalb der afrikanischenWelt. Er war einer der ersten Autoren,der sind sie, stets hellwach und sofort aktiv, wenn ein leichtgläubiger Mann
die männlich-chauvinistische Unterjochung der Frauen in Afrika an- oder eine in Schwierigkeiten befindliche Frau in ihr Blickfeld gerät. Dann
klagte. Konsequenterweise sieht er die Befreiung der Frauen im heuti- bieten sie ihre Dienste an, für Geld, zahlbar sofort. Dass sie die missliche
gen Somalia,stellvertretend für den gesamten Kontinent,als absolute Lage einer Person auf Anhieb erkennen, ist in ihrem Beruf von absoluter
Bedingung für eine politische und individuelle Unabhängigkeit an. Notwendigkeit, doch genau genommen sind sie Akteure in einer Inszenie-
Unter allen seinen Arbeiten ist wohl die Trilogie Blood in the Sun, zu der rung: Die Richter kennen die falschen Zeugen, und die Geschworenen und
Maps, Duniyas Gaben und Secrets zählen,international am bekann- das Publikum ebenso. In der Gegend Somalias, aus der ich komme, benut-
testen.Weiterhin haben ihn seine Romane From a Crooked Rib, Like a zen wir ihren Namen, Carais Ciise, wenn wir darauf anspielen wollen, dass
Naked Needle, Sweet and Sour Milk, Sardines, Close Sesame sowie kürz- jemand eine falsche Aussage macht oder wissentlich lügt und davon profi-
lich Links bekannt gemacht. tiert.
Darüber hinaus hat Farah verschiedene Aufsätze, Kurzgeschich- Ich kenne eine Menge solcher Falschaussager, darunter eine ganze Reihe
ten, Dramen und Drehbücher verfasst, die ihm mehrere Preise ein- bekannter Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Solche ‚Zeugen‘, die sich
brachten, wie zum Beispiel den English Speaking Union Literary nicht der Wahrheit verpflichtet fühlen und die Länder, über die sie schrei-
Award. Seine derzeit wichtigste Arbeit ist die auch bei Suhrkamp ben, gar nicht wirklich kennen, sind leicht zu enttarnen – insbesondere von

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Ortsansässigen. Viele ihrer Leser und Leserinnen jedoch sind dazu nicht in stellen, auch auf die Gefahr hin, taktlos zu erscheinen: Wissen Sie eigentlich
der Lage, vor allem die, denen diese fernen Länder nicht besonders vertraut wirklich, was eine Tamarinde ist? Haben Sie mal eine gesehen, gegessen,
sind. Ich werde hier keine Namen nennen, denn das zeugte von schlechten geschmeckt? Oder kennen Sie sie nur ungefähr, so wie ein in den Tropen
Manieren. aufgewachsenes Kind Schnee ‚kennt‘, weil es ihn im Fernsehen gesehen
Stattdessen möchte ich hier eine andere Art Aussage machen, denn hier oder in einem Märchen davon gehört hat? Mit anderen Worten, haben Sie
wird von einer ganzen Berufsgruppe Schindluder mit der Wahrheit getrie- sich jemals gefragt, warum in der arabischen Welt, in der ja Datteln durch-
ben und ihr Name mit Schmutz beworfen. Ich spreche von Reportagen und aus ‚bekannt‘ waren und in großer Zahl angebaut wurden, diese Frucht, die
anderen Formen der Berichterstattung über Somalia, ich spreche z. B. über wir heute „Tamarinde“ nennen, den Namen „Indische Dattel“ erhielt?
Journalistinnen, Schriftsteller oder politische Beobachterinnen, all die, die Vielleicht verschwenden wir mit unserem Versuch, zwei unvergleichba-
falsche Aussagen machen, obwohl sie es besser wissen müssten. re Dinge miteinander zu vergleichen – eins, das die Namensgeber kannten,
Meiner Meinung nach beruhen viele Darstellungen des somalischen Bür- mit einem, das ihnen unbekannt war – nur Zeit, und sollten es einfach sein
gerkriegs auf einer falschen Voraussetzung, einer irrigen Theorie, einem Kli- lassen! Genauso gut könnten wir doch annehmen, dass die klebrige Masse,
schee. Immer wieder versucht man uns weiszumachen, dass der somalische die im Arabischen „Indische Datteln“ genannt wird, etwas ist, was als Ta-
Bürgerkrieg die Folge eines schon seit ewigen Zeiten schwelenden Konflikts marinde aus Indien kam. Was leider nicht der Fall zu sein scheint.
zwischen verschiedenen Klans ist, der erst kürzlich ausgebrochen ist. In den Ich erinnere mich noch gut an den Enthusiasmus der siebziger Jahre, die
meisten Kommentaren erscheinen die Klans als das zentrale Problem, ist der ausgelassene Freude der Somalis. In dieser längst vergangenen Zeit gab es
Bürgerkrieg eine Fehde zwischen einer oder mehreren untereinander bluts- für uns viele Gründe zur Euphorie. Die politische Unabhängigkeit, die ge-
verwandten Familien auf der einen Seite mit anderen Familien, die nicht der rade ein Jahrzehnt alt war, unser besonderes kulturelles und linguistisches
gleichen Abstammung sind, auf der anderen. Selbst Somalis sind oft dieser Erbe sowie die beneidenswerte Tatsache, dass unser Land das einzig be-
Ansicht, obwohl sie es doch besser wissen müssten. Dass sie es nicht tun, deutendere auf dem afrikanischen Kontinent war, in dem alle Menschen
spricht meiner Ansicht nach für intellektuelle Trägheit. eine gemeinsame Sprache hatten, das Somalische. Viele von uns hätten die-
Zu den Wahrzeichen Mogadischus, an die ich am häufigsten denke, ge- se Aufzählung noch erweitert. Wir waren sehr stolz darauf, dass Moga-
hört der Tamarind Market. In Städten mit einer uralten Oral History und dischu, die Stadt, in der wir lebten, nicht nur eine der schönsten und le-
einem Gedächtnis, das weitaus komplexer ist als das Leben der gegenwärtig bendigsten Städte der Welt war, sondern auch die bei weitem älteste im
dort wohnenden Menschen, sind unzutreffende Namen gang und gäbe. So subsaharischen Afrika und älter als viele der bedeutenden mittelalterlichen
sehr Sie auch versuchen mögen, den Ursprung dieses Begriffs zu finden, ist Städte Europas.
das einzige, was Sie herausfinden würden, dass niemand die geringste Ah- Der Tamarind Market, eines der bestgehütesten Geheimnisse Mogadi-
nung hat, warum dieser Markt, den man im afrikanischen Sinn des Wortes schus, war ein Handels- und Geschäftszentrum, in dem andauernd Hoch-
nicht einmal als Markt bezeichnen würde, Tamarind Market genannt wur- betrieb herrschte und in dessen engen Gassen sich die Kauflustigen dräng-
de. Wenn Ihre Suche nach einer Erklärung, die sich Ihnen doch immer wie- ten. Nach dem Ende der Siesta strömten täglich ganze Familien durch die
der entzieht, Sie nicht loslässt, werden Sie nebenbei noch auf andere Fehl- Gänge und Plätze, die einen, um Kleider zu kaufen, andere auf der Suche
bezeichnungen stoßen. Wer weiß, vielleicht sind Sie überrascht, wenn Sie nach Gold- oder Silberketten, die oft auf Bestellung hergestellt wurden. Im-
hören, dass sogar das Wort Tamarinde ein unzutreffender Begriff ist, denn mer wieder hörte man Berichte über Menschen, die von weit her kamen, so-
er ist aus den beiden arabischen Wörtern timir und Hind, also „Datteln“ gar vom Persischen Golf, um hier einzukaufen, weil sie wussten, dass die
und „Indien“, zusammengesetzt. Aber was, bitteschön, haben denn Datteln gleichen Waren in ihrer Heimat, den Emiraten oder Saudi-Arabien, wesent-
und Tamarinden miteinander gemein? Doch bevor Sie die Frage beantwor- lich teurer waren. Keine Frau ging in diesen Zeiten die Ehe ein, ohne dass
ten, möchte ich, wenn Sie mir diese Abschweifung erlauben, eine andere ein Satz Gold- und Silberschmuck von einem der dortigen Handwerker für

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sie angefertigt worden wäre. Und wenn Sie einen Schneider brauchten, war unter dem Kommando städtischer Aufrührer, die die ‚fremden Elemente‘
es nicht weit bis zur Rückseite des Marktes, wo Sie sich Hemden, Kleider, aus der Stadt vertreiben wollten. Über 400 Jahre zuvor, mündlichen Quel-
Hosen, Hüte, Jacken oder auch ein paar Lederstiefel anpassen lassen konn- len zufolge zwischen 1530 und 1580, war dies schon einmal geschehen. Die
ten, sämtlich zu günstigen Preisen. Angriffe des 20. und des 16. Jahrhundert ähneln sich auf geradezu beängsti-
Die Geschichte Mogadischus von seiner Entstehung bis zu dem, was aus gende Weise. Beide Male waren die Brandschatzer entrechtete Hirten, die
der Stadt wurde, nachdem sie in der Folge des Bürgerkrieg in Flammen auf- von Stadtbewohnern angeführt wurden und deren Wut sich aus uralten Un-
gegangen war, steht für mich in engem Zusammenhang mit der Geschich- gerechtigkeiten speiste.
te und dem Schicksal der kleinen kosmopolitischen Gemeinschaft, die den Im Rückblick erscheint mir deutlich, dass die letzte Plünderung viel
Tamarind Market betrieb und deren Ursprünge bis in das zehnte Jahr- mit der Kolonialpräsenz Italiens zu tun hat, die erhebliche Änderungen in
hundert zurückreichen. Damals war Mogadischu ein Stadtstaat mit einem der Bevölkerungsstruktur Mogadischus zur Folge hatte. Denn es war Ita-
geringfügigen Maß an Verwaltung, die einer zum großen Teil aus anderen lien, das eine große Zahl von Somalis rekrutierte, um seine Armee für den
Ländern, dem Iran, Indien und Arabien, stammenden bürgerlichen Ober- Kolonialkrieg in Äthiopien zu verstärken. Die Tatsache, dass viele dieser in
schicht diente. Mehr und mehr dieser Fremden zogen im Lauf der Zeit hier- die Streitkräfte und die Polizei Einberufenen nicht aus den Gemeinden in
her, und der Charakter der Stadt wurde immer kosmopolitischer. Es war der Umgebung der Stadt kamen, sondern aus anderen Teilen des Landes, hat
eine offene Stadt ohne Mauern, die jeden willkommen hieß, der oder die ihr demographisches Gleichgewicht auf unnatürliche Weise zerstört. Nach
mit denen, die bereits dort waren, friedlich und einträchtig zusammenlebte. dem Ersten Weltkrieg schwoll die Zahl der Zuwandernden weiter an, vor
Wie die meisten Städte zu jener Zeit, auch in anderen Teilen der Welt, war allem durch solche, die ich in ihrer Mehrheit als ‚Semi-Pastoralisten‘
Mogadischu ziemlich klein, seine Größe betrug wohl kaum mehr als vier bezeichnen würde, da sie quasi nur mit einem Bein in die Stadt kamen,
Quadratkilometer. Und es war wohlhabend, dank seiner Einwohnerschaft, mit dem anderen aber auf dem Land blieben. Mit der Unabhängigkeit zogen
zu einem großen Teil Handwerksleute, die aus dem Nahen Osten oder dem noch mehr Menschen in die urbanen Zentren und von dort weiter in die ein-
indischen Subkontinent stammten. zige richtige Großstadt Somalias, Mogadischu. Diese Wanderung, hin zur
Am Rande dieser offenen Stadt, innerhalb eines Umkreises von wenigen Stadt und weg von den immer wiederkehrenden Dürren und Missernten,
Kilometern, lebte eine pastorale Gemeinschaft, ausschließlich Somalis, die führte zu riesigen demographischen Umwälzungen und hatte zur Folge,
jedoch auf den städtischen Alltag und seinen kosmopolitischen Lebensstil dass die Verstädterungsrate Somalias eine der höchsten Afrikas ist.
im Grunde keinen Einfluss hatte. Austausch gab es nur in einer Richtung: Ende der 1970er Jahre erreichte das Wachstum Mogadischus nach ei-
erst waren es nur wenige Menschen, später immer mehr, die vom Land in nem weiteren somalisch-äthiopischen Krieg um den Ogaden alarmierende
die Stadt zogen, um von den dortigen Bildungsmöglichkeiten zu profitie- Dimensionen, denn zusätzlich zu der internen Migration aus Regionen mit
ren. Sonst aber existierten die städtische und die ländliche Gemeinschaft ne- wirtschaftlichen Problemen erreichte jetzt auch eine riesige Flüchtlingswelle
beneinander her, es sei denn, eine Seite verkaufte der anderen etwas. Doch die Stadt. Zu dieser Zeit war Somalia bereits zu einem Land geworden, in
beäugten sie einander mit Misstrauen. Für die Vieh züchtenden Somalis, von dessen einziger Stadt ein einziger Tyrann regierte, Siyad Barre. Und obwohl
Natur aus urbophob, war die Stadt etwas fremdes und parasitäres, und die Mogadischu in den späten Achtzigern vor dem Ruin stand, weil es alles ver-
zwiespältigen Gefühle, die Mogadischu in ihren Herzen und Köpfen aus- loren hatte, was eine Stadt normalerweise attraktiv macht, übte sie weiter-
löste, entwickelten sich im Laufe der Zeit zu Feindschaft und dem Wunsch, hin große Anziehungskraft aus: auf die, die Arbeit suchten, und auf die, die
es zu vernichten. dort sein wollten, wo etwas los war, wo die Industrie war, wo die einzige
Als der Tamarind Market im Jahr 1991 geplündert und zum Opfer Universität war, wo man etwa einen Augenarzt oder eine Herzspezialistin
hemmungsloser Zerstörungswut wurde, war dies bereits die zweite Verwüs- konsultieren konnte. Die Macht war in den Händen des Tyrannen konzen-
tung Mogadischus durch einen zusammengewürfelten Haufen von Hirten triert – und der war ebenfalls dort.

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Es wird erzählt, dass der „Bürgermeister von Mogadischu“ – wie der Ty- ner unmittelbaren Umgebung existierte. In den Augen der meisten Somalis
rann damals genannt wurde – direkt vor dem Einmarsch bewaffneter Mili- lag die Macht in der Stadt in den Händen von Fremden, die dazu auch noch
zen im Jahr 1989 von seinen Ratgebern gedrängt wurde, die Stadt zu verlas- elitär waren. Es war wohl gar nicht so sehr die Infrastruktur der Stadt, die
sen. Seine selbstherrliche Ablehnung dieses Vorschlags erscheint heute fast von den Warlords und ihren Milizen zugrunde gerichtet wurde – die war so-
wie Prophetie, denn angeblich antwortete er, dass er das ganze Land in den wieso kaum vorhanden – und auch nicht die Grundlagen des Staates – von
Untergang führen würde, wenn man ihn aus der Stadt vertriebe. dem sowieso nur wenig bewahrenswert war. Was die Brandschatzer in Wirk-
Es gibt nur weniges, was wir über Mogadischu mit absoluter Sicherheit lichkeit zerstörten, war das Wesen des Tamarind Market. Indem sie seine Be-
sagen können. Eine Stadt mit mehreren Namen, teils uralt und mit einhei- treiber ermordeten und seine Besucher verjagten, vernichten sie seinen kos-
mischen Wurzeln, teils jünger und fremden Ursprungs. Eine Stadt mit ei- mopolitischen Geist.
ner Vielzahl von Erinnerungen, deren Quellen teils aus Afrika stammen Es verschlug mir die Sprache, als ich während meines letzten Besuchs in
und teils von außerhalb des Kontinents. Niemand weiß mit Bestimmtheit, Mogadischu das Schlachtfeld sah, das von dem Tamarind Market übrig ge-
wann und von wem der Name Mogadischu zum ersten Mal gebraucht wur- blieben war. Der Mord an dem kosmopolitischen Geist des Marktes war für
de. Besteht er aus den somalischen Wörtern maqal und disho und bedeutet, mich ein Grund zu trauern. An seiner Stelle war ein anderer Markt errich-
„Wo die Schafe geschlachtet werden“ – was darauf hinweisen würde, dass tet worden, um die Stadt, die ihren ethnischen und kulturellen Reichtum
hier einmal ein Schlachthof war? Oder stammt er von außerhalb – aus dem verloren hatte, zu versorgen: der Bakhaaraha Market. In diesem ‚Silo-Markt‘
Arabischen, das einmal lingua franca des Stadtstaates war – und leitet sich – so lautet der Name in der Übersetzung – gilt das Gesetz von Angebot und
aus dem zusammengesetzten Wort Maq’adu Sha, „Hauptsitz des Schahs“, Nachfrage, und der ‚Klan‘ ist absoluter Herrscher. Wenn denen, die eine
her? Und der lokale Name Xamar – beschreibt er eine Stadt, die auf „rotem Stadt ausgeplündert und ihren Lebensstil zerstört haben, erlaubt wird, aus
Sand“ gebaut wurde? Oder bezieht sich das Wort auf Menschen mit einer ihren Verbrechen auch noch Profit zu schlagen, ist dies der Höhepunkt ei-
rötlichen Hautfarbe? ner nationalen Tragödie: der militarisierte Kapitalismus hat triumphiert
Es fasziniert mich, dass es in Bezug auf die Geschichte dieser Stadt auf und der kosmopolitische Geist ist gestorben und begraben.
so gut wie jedes Argument ein Gegenargument gibt und zu jeder Auffas- Die Zerstörung des Tamarind Marktes verheißt nichts Gutes, wenn
sung eine Gegenauffassung, so dass wir nichts davon verwerfen, aber ge- man, wie ich, an die metaphorische Wahrheit glaubt, die der Tamarinde
nauso wenig für bare Münze nehmen können. Eine Tatsache jedoch steht eigen ist, diesen immergrünen Baum, der zu den Johannisbrotbaumge-
außer Frage: Die Beziehung zwischen der städtischen und der ländlichen wächsen gehört und im tropischen Afrika heimisch ist. Die Samen seiner
Gemeinschaft war immer voller Spannungen, egal ob wir nun an die Plün- essbaren Frucht stecken in dem weichen, braunen oder rötlichen Tamarin-
derung des 16. oder an die des 20. Jahrhunderts denken. In beiden Fällen denmus, das sowohl als Heil- wie auch als Nahrungsmittel verwendet wird.
wurde das, was die kosmopolitischen Städter und Städterinnen über hun- Ganz anders der Bakhaaraha Market! Für mich steht ein Silo für das Prin-
derte von Jahren aufgebaut hatten, innerhalb kürzester Zeit von Angreifern zip der Getrenntheit, es ist ein inflexibles, parasitäres und unproduktives
aus dem ländlichen Raum und der Peripherie der Stadt zerstört, die der kul- Ganzes.
turellen Vielfalt Mogadischus feindlich gesinnt waren.
Die Plünderung von 1991 hatte katastrophalere Folgen als die 400 Jah- Aus dem Englischen übersetzt von Marion Pape und Gerhard Grotjahn-Pape
re zuvor, weil Mogadischu inzwischen zu einer Art ‚Faktotum-Staat‘ gewor-
den war, in den alle verfügbaren Ressourcen Somalias gelenkt wurden.
Doch in wesentlichen Punkten gibt es Gemeinsamkeiten: Zu beiden Zeiten
war Mogadischu ein kosmopolitischer Stadtstaat mit einer kaum vorhande-
nen Verwaltung, der unabhängig von der kargen kulturellen Landschaft sei-

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Alain Patrice Nganang Der afrikanische französischsprachige Schriftsteller merkt früher oder spä-
Ohne Frankreich schreiben ter, dass auch er mit Frankreich den Kampf anfangen muss, den er bereits
vor fünfzig Jahren zur Unabhängigkeit seines Landes geführt hatte. Es ist
selbstverständlich: Die Notwendigkeit dieses Wiedererwachens des Kämp-
Afrikanische Autorinnen und Autoren sind in mehreren Sprachen fers in ihm ist sowohl der Sprache eingeschrieben, die er benutzt, als auch
und Kulturen zugleich daheim. Das gilt besonders für Alain Patrice der Erfahrung, die sein Bewusstsein geformt hat – selbst wenn, um einen
Nganang, der 1970 in Yaoundé zur Welt kam. In Kamerun und Satz von Marx zu parodieren, seine Wut nur komisch sein kann, da sie eine
Deutschland studierte er Germanistik, in Frankfurt am Main pro- Tragödie wiederholt, die schon stattgefunden hat. Es ist nämlich so, dass
movierte er über das Theater von Bert Brecht und Wole Soyinka. diese wiederbelebte Wut einen zum Lächeln bringt, weil es auch selbstver-
Seit dem Jahr 2000 lehrt Alain Patrice Nganang in Pennsylvania, ständlich ist, dass in jeder Auseinandersetzung – und um so mehr in der
USA, an der Shippensburg State University. Seine Heimat sind die Auseinandersetzung des französischsprachigen Schriftstellers mit Frank-
Literaturen Afrikas, Europas und Amerikas. Seine Heimat ist aber reich, die der von Caliban mit Prospero so sehr ähnelt – die Kämpfer in ei-
auch der Film. Zum einen, weil er das Frankfurter Kulturfestival nem seltsamen pas de deux verbunden sind, der im Endeffekt in dem ener-
„Africa alive!“ jahrelang wesentlich mitprägte, zum anderen, weil gischen Gesang und in dem befreiten Wort des Schriftstellers mündet, ohne
er in Berlin über deutsche Kolonialfilme arbeitete und auch Film- aber diesen wirklich aus seinen Ketten zu befreien.
ästhetik unterrichtet. Die Auseinandersetzung afrikanischer Schriftsteller und Schriftstelle-
Literatur ist aber nicht nur deshalb ein Zuhause von Alain Patrice rinnen mit Frankreich ruft bei vielen ein leichtes Lächeln hervor – ein Lä-
Nganang, weil er Literatur lehrt, sondern auch, weil er selbst Literat cheln, wie man es auf den Lippen von Leuten sieht, die das Bild afrikani-
ist. Während der Frankfurter Buchmesse 2003 stellte er gleich zwei scher Politiker und Politikerinnen sehen, die sich heute noch immer um den
Neuerscheinungen vor: Am Stand seines französischen Verlags den französischen Präsidenten sammeln während seiner gewöhnlichen Beratun-
Roman La joie de vivre, der die Trilogie Histoire de Sousquartier ab- gen mit ehemaligen kolonialen Subjekten, etwa im Rahmen der France-
schließt, und am Stand seines deutschen Verlags die Übersetzung Afrique-Sitzungen. Diese Auseinandersetzung bringt einen zum Lächeln,
von Temps de chien, den zweiten Teil jener Geschichte eines Stadt- ja, zu dem Lächeln, das einen erfasst, wenn man feststellt, dass die franzö-
viertels, das typisch ist für die Ecken und Straßen, in denen die Unter- sischsprachigen Schriftsteller/innen, die am tiefsten in dem Produktions-
schicht wohnt und wo sich die so genannten kleinen Leute mit Trotz und Verbreitungsraum der Literatur in Frankreich verankert sind, die kari-
und Humor der Verzweiflung erwehren. bischen und algerischen Schriftsteller/innen sind – das heißt solche, die aus
La Promesse des fleurs heißt übrigens der Auftakt zu dieser Trilo- Ländern des ehemaligen französischen Kolonialreiches kommen, solche, die
gie, in der auch Tiere keine geringe Rolle spielen – wegen des Blicks mit Worten oder in der Politik, wegen Aimé Césaire oder aufgrund des Al-
von außen, den sie auf die menschliche Gesellschaft werfen. Weil gerienkrieges, die Waffen der Unabhängigkeit am höchsten gehoben ha-
dieser Blick, den ihnen Alain Patrice Nganang verleiht, so präzise ben, und den Kampf mit Frankreich, von dem die Rede hier ist, am weites-
und nicht voyeuristisch ist, so voller Anteilnahme und ohne Denun- ten geführt haben.
ziation, bekam der schreibende Assistant Professor dafür den Grand Selbst wenn die meisten Schriftsteller/innen von heute (im Unterschied
Prix Littéraire de l’Afrique noire 2002 sowie den Prix Littéraire Margue- zu den Politiker/inne/n) festgestellt haben, dass es mehr als ihre Worte, ihre
rite Yourcenar 2001 verliehen. Bleibt nur noch, an seine Gedichte zu Möglichkeiten sind, die Frankreich mit der Arroganz bekleiden, mit der es
erinnern, mit denen er unter dem Titel Elobi sein literarisches Debüt heute herumstolziert, so wird doch immer deutlicher, dass ein ‚Schreiben
gegeben hatte. Aber das ist schon lange her, sehr lange. ohne Frankreich‘ von den meisten von ihnen immer noch als ein sehr ge-
Manfred Loimeier fährliches Abenteuer empfunden wird. Und dies nicht nur, weil schon die

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ersten Schritte dieses Abenteuers problematisch sind, sind sie doch sowohl zum Glück auch den Schatten des Kolonialismustheoretikers Frantz Fanon,
der französischen Sprache als auch der dialektischen Bewegung eingeschrie- respektlos bis auf die Knochen, besonders weil er im Gegensatz zu Senghor
ben, die wie der Strom am Ufer des Meeres, den Abenteurer oder die Aben- steht; Fanon, einer der bissigsten moudjahidine, Fanon, der aus Martinique
teurerin stets zum Sand zurückbringt, von dem sie sich doch entfernen wol- stammte und Algerien zu seiner Wahlheimat machte, ein ‚Araber‘ also, be-
len; und auch nicht, weil die in den verräterischen Strukturen ihres Landes seelt von den Rumoren der tausend Kämpfe der Verdammten dieser Erde,
verankerten französischsprachigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen sich die wir ja sind; Fanon, dessen scharfe Wörter, dessen Schlagfertigkeit und
nolens volens an die literarischen Institutionen in Paris wenden, um Aner- unglaublicher Elan durch die Texte, in der Sprache und in den Adern des
kennung zu erbetteln, von der sie sicher sind, dass sie sie nirgendwo anders Schriftstellers fließen, als wären sie die Formel oder das Lösungswort, die
bekommen können, erst recht nicht in ihrem eigenen Land. Dabei ist das dem routinierten Demagogen, der dieser immer ist, wenn er aus unseren
Abenteuer keine besondere Neuigkeit in der Literaturgeschichte. besiegten Gegenden kommt, den Beifall seiner Mitmenschen sichert. In der
Zwei Literaturen sind da, zum einen die US-amerikanische, die in ihrer französischsprachigen Literatur haben die Erfahrung von Fanon, genauso
Aneignung der englischen Sprache, aber weit weg von England, eine beson- wie sein Denken, am nachhaltigsten mit der Möglichkeit gespielt, ohne
dere Erfahrung der Gewalt, der Ergriffenheit und einen eigenwilligen Begriff Frankreich zu schreiben, diese Möglichkeit, die den Bauch von jedem Afri-
der Freiheit auszudrücken suchte. Zum anderen die Literaturen Mittel- und kaner und jeder Afrikanerin noch heute bewegt, als wäre sie ein gefährlicher
Südamerikas, mit ihrer synkretistischen Erfindung, in ihrem ganz eigenen aber unkontrollierbarer Impuls. Fanon, dessen Name sogar außerhalb Afri-
Spanisch, von jenem Stil, der aus den dunklen Launen der deutschen Ro- kas und Europas zur Signatur von Millionen von Stimmen geworden ist,
mantik und aus einer änigmatischen Erfahrung der Einsamkeit eines Kon- die jenseits seines Lobes der Gewalt die Wurzeln seiner Erfindung des Post-
tinents schöpft. Dies sind also zwei Literaturen, die als unübersehbare Bei- kolonisierten ergründen, um eine Menschlichkeit zu entdecken, die von
spiele gelten können, um uns zu beweisen, dass die Fragen der ‚geliehenen dem Ort ihres Ursprungs nicht getrennt sein muss. Fanon, dessen Namen
Sprache‘ und der ‚Dependenzstrukturen‘ nur dann zu richtigen und ernst- Leute vereint, die in ihm also einen Nationalismus entdecken, der heute
haften Engpässen in der Literatur werden, wenn sie ihren feigen Verrat in die noch die Entscheidung eines Boris Boubacar Diop bestimmt, wenn er sich
Tiefen der Imagination des Schriftstellers einschreiben, und wenn sie zu entschließt, nur noch in Wolof zu schreiben, um die verlorene Kommuni-
Lasten werden, die dessen notwendig breite Vision des Menschlichen ein- kation mit seinem Volk wiederherzustellen – und dadurch eine Richtung
engen. einschlägt, die Ngugi wa Thiong’o unter anderen längst erprobt hatte –,
Aber in der französischsprachigen Literatur ist der Schatten des senega- auch wenn er von einer Argumentation ausgeht, die den Schock des rwan-
lesischen Negritude-Poeten und Präsidenten Leopold Sédar Senghor noch dischen Genozids mitrechnet.
da, um uns das bekannteste Gesicht dieses Stotterns der Imagination und Auf Wolof schreiben, um sich von Frankreich zu entfernen: eine löbli-
der Vision ehemaliger Kolonisierter zu zeigen, wenn sie sich an das franzö- che, aber auch problematische Entscheidung, und dies nicht, weil sie eine
sische Floß klemmen, aber auch, um uns die Strukturen einer Imagination Nationalliteratur weniger auf die Qualität von Texten als auf die Wahl einer
sehen zu lassen, von der die Schriftsteller/innen sich noch nicht befreit ha- besonderen Sprache gründet, und auch nicht, weil sie mit Ngugi schon die
ben, trotz der Bissigkeit ihrer Beschimpfungen und trotz ihres eigenen Ver- Ketten gezeigt hat, die sie vor die Freiheit der Imagination stellt, sondern
lustes in der Metaphysik. Das erstaunliche Kleid des Académicien bedeckt weil sie gefangen bleibt in dem pas de deux des Zweikampfes, den sie sich
nämlich immer noch zahlreiche Generationen von afrikanischen und kari- weigert zu sehen, indem sie in ihrer Ausführung ihre Augen für die Tatsa-
bischen Schriftsteller/inne/n, auch jene, die heute in ihren Schriften die che verschließt, dass sie ihr Elan und die Legitimität ihres Bruchs und sogar
Wörter ‚Immigration‘ oder auch ‚Malinkisierung‘ benutzen, als wollten sie die Wörter, mit denen sie diesen erörtert, nur in der Bequemlichkeit findet,
‚Kreolisierung‘ sagen, und zugleich die väterliche Präsenz des alten sengho- mit der sie in der europäischen Literatur eingenistet ist. Eine wirklich pro-
rischen Konzept des ‚métissage‘ nicht anerkennen wollen. Aber da gibt es blematische Entscheidung, besonders weil sie die Gegenwart der europäi-

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schen Tradition, von der sie sich befreien will, in ihren Wolof-Wörtern ver- eine Einengung sein, und keiner als der afrikanische Schriftsteller wird dies
ankert, und dies indem sie sich nur in der Zweisprachigkeit positioniert, die am tiefsten in seiner Imagination und in seinem Körper empfinden. Er, der
ja ein Erbe der Befreiungskämpfe ist: Wolof gegen Französisch. Mehr noch: von Anfang an die Besten seiner Sätze, das Beste seiner Intelligenz und sei-
Indem Boubacar Boris Diop seine Entscheidung, auf Wolof zu schreiben, ner Feder benutzt hat, um seinen Zwiespalt zwischen einem „Herzen, das
auf Französisch und auf Deutsch verteidigt, macht er im Grunde die Not- aus dem Senegal stammt“ und der französischen Sprache zu beschreiben,
wendigkeit lächerlich, die nun wolofsprachige Schriftsteller und Schriftstel- die blutige und schmerzhafte Zerteilung seines Fleisches zwischen antitheti-
lerinnen empfinden, wenn sie die Tatsache erst verteidigen müssen, dass sie schen Welten. Diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die heute noch
jetzt nur noch auf Wolof schreiben werden! und jedes Mal gedrängt werden, die alte Frage der Bedeutung der franzö-
Und dabei warnt uns Fanon, dass es viel einfacher ist, zu erklären, dass sischen Sprache und Kultur zu beantworten, als wäre es das letzte Bünd-
man Europa verlässt, als dies tatsächlich zu tun: Es liegt im Grunde eher an nis der Treue zu einem engen Klub, oder ein Gag, den sie immer wieder
der Mobilität der Kräfte, die heute den Namen ‚Fanon‘ sagen als wäre er ein wiederholen sollen, wenn sie nicht hinausgeworfen werden wollen. Sie, die
Verbündeter oder ein Shiboleth, und weniger an dem fanonischen, nationa- Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die seit ihren ersten Publikationen
listischen Gestus, auf den sich ihre Referenzen beziehen, dass man die Wege nicht aufgehört haben, die Tatsache zu beweinen, dass ihr originelles Be-
der Imagination und die Lichter der Vision einer Literatur suchen soll, die wusstsein in einem Versprechen der Befreiung verschlossen war, das sie
in Afrika und anderswo in den ehemaligen französischen Kolonien ver- doch mit dem Preis ihrer eigenen Unterwerfung bezahlt haben; und sie, die
sucht, sich ohne Frankreich zu entwerfen. Wenn Schriftsteller und Schrift- sich doch in einer wirklich erstaunlichen Position befinden, in der sie von
stellerinnen ihre Vision und Imagination sowohl in der eigenen Erfahrung der Spitze ein Kartenhaus, das man ‚Frankophonie‘ nennt, noch verteidi-
als auch in ihrer Interpretation der Geschichte finden, dann ist die linguis- gen, anstelle derer, die die eigentlichen Anwälte ihrer Sprache und deren
tische und sogar individuelle Erfahrung der meisten Schriftsteller/innen ‚Imperium‘ sein sollten: die Franzosen und Französinnen, die komischer-
französischer Sprache die einer unglaublichen Beweglichkeit und einer ex- weise in ihrem Land keinen Ort finden, weder für ihre Erfahrungen noch
tremen Mobilität: Einer Mobilität und einer Beweglichkeit, die tiefer gehen für ihre Imaginationen.
als die Überquerung des Atlantik, die ja die afrikanische Diaspora schuf, Es ist in der Tat absurd, dass, während Frankreich die Kinder der Immi-
oder auch, viel näher, die Migrationsdiskurse diesseits und jenseits des Mit- gration verschiebt, während Frankreich das Heimatland der Schriftsteller/
telmeeres; einer Beweglichkeit, die eigentlich sogar schon so alt ist wie die innen für Erdöl verwüstet, während es ihr Land wieder kolonisiert, es die
ersten Völkerwanderungen, die im Herzen Afrikas die Geburt unserer ge- Schriftsteller sind – auch sie Afrikaner/innen, die einen Kopf auf ihren
meinsamen Menschheit markiert haben, und wie selbstverständlich aus Schultern und Imaginationen in diesem Kopf haben –, die am lautesten ru-
dem afrikanischen Kontinent den Ort machten, an dem sich tausend Spra- fen, um die Frankophonie zu verteidigen. Absurd auch, dass es außerdem
chen, Gruppen, Nationen, fünfzig Länder und genauso viel Vergangenhei- afrikanische Schriftsteller/innen sind, die eine breite Öffentlichkeit in
ten treffen, und aus unseren Vorfahren und Eltern Leute mit verschiedenen Frankreich haben, zum Beispiel die kamerunische Schriftstellerin Calixthe
Geschichten machten, Leute, die mit Leichtigkeit von einer Sprache zu ei- Beyala (aber ihre Missetaten sind noch schlimmer als das!) oder der Kongo-
ner anderen hüpfen, Polyglotte die wir, ihre Kinder, auch heute noch sind, lese Henri Lopes, die Wörter finden, um dieses ‚Ding‘ zu verteidigen, und
selbst wenn unsere Mobilität im Grunde eine andere ist; d. h. transversal ist, die sich sogar wünschen, es zu dirigieren!
da, wo die ihre mehr oder weniger lateral war, und selbst wenn die Länder Schreiben ohne Frankreich bedeutet in erster Linie jenseits der Franko-
und Sprachen, die wir auf unseren Wegen überqueren, ganz unterschiedlich phonie zu schreiben: es bedeutet also, die laterale Mobilität unserer Vorfah-
sind von denjenigen, die ihre Füße mit Staub bedeckten. ren wiederzufinden, jene Mobilität, die es ihnen erlaubte, sich von Land zu
Das Einschreiben einer Imagination und einer Vision innerhalb der Land, von Boden zu Boden und besonders von Sprache zu Sprache zu be-
Grenzen eines einzigen Landes, selbst wenn es ein Imperium ist, kann nur wegen, ohne vorher etwas zu beschwören. Die zu dem Ort, zu dem ihre

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Füße sie trugen, gingen und mit der gleichen Leichtigkeit in Medumba wie sischsprachigen Literatur Afrikas verloren gegangen ist, erstaunt nicht so
in Bassa oder in Duala sprachen. Es bedeutet die Mobilität jener Afrikaner/ sehr, da die Literatur, von der hier die Rede ist, immer noch in dem pas de
innen wiederzuerlangen, die mit ihren multiplen Sprachen nicht lebten als deux des Zweikampfes gefroren ist, jenem pas de deux, dessen Geburt und
wäre es eine Verdammung zum Schweigen, wie der kamerunische Schrift- Notwendigkeit sich einzig in der tragischen Zweisprachigkeit erschöpft, und
steller Gaston-Paul Effa es glaubt, in der Nachfolge der kolonialen Argu- den die Literatur noch nicht zu überwinden weiß, trotz der hartnäckigen
mentation, sondern eine selbstverständliche Grundlage des Gesprächs. Nur Insistenz der vielfältigen Erfahrung und des mehrsprachigen Alltags der
Aniceti Kitereza hat diese Mobilität innerhalb afrikanischer Sprachen in Länder, von denen sie redet. Dass diese Mehrsprachigkeit das Ferment einer
sein Werk eingeschrieben, der Tansanier, der sein Meisterwerk Bw. Myom- neuen Generation von Schriftsteller/innen und daher von einer Literatur
bekere na Bi. Bugonoka na Ntulanalwo na Bulihwali [Die Kinder der Regen- ist, die sich ohne Komplexe der Vielfalt ihrer Welt und der gesamten Welt
macher] zunächst in Kikerewe geschrieben hat, bevor er es selbst ins Swa- öffnen will, ist sicherlich die Hoffnung, denn so wird sie zum Träger des
hili übersetzt hat, jenes Werk, das später ins Deutsche übersetzt wurde, und Versprechens einer unterwegs wiedererrungenen Freiheit.
dies sogar bevor es auf Englisch erschien. Aber nehmen wir auch das Beispiel Unterwegs? Die Tatsache zum Beispiel, dass mehr und mehr Werke
von Moses Isegawa aus Uganda, dessen Erfolgsroman Abessijnse Kronieken afrikanischer Schriftsteller/innen französischer Sprache an US-amerikani-
zunächst auf Niederländisch veröffentlicht wurde, bevor es auf Englisch er- schen, deutschen Universitäten unterrichtet werden und dass einige über-
schien, auf den Spuren der Ghanaerin Amma Darko, für die es vom Deut- setzt werden und in Buchhandlungen in den Vereinigten Staaten oder in
schen ins Englische ging. Wir wollen durch diese Beispiele, aber auch die Deutschland stehen, ist sicherlich gebunden daran, dass die US-amerikani-
selbstverständliche linguistische und räumliche Mobilität afrikanischer sche Öffentlichkeit sich der Existenz postkolonialer Kulturen bewusst wird
Schriftsteller zeigen, die noch heute dazu führt, dass ein Ngugi wa Thion- und dass Deutschland einen vergleichbaren Prozess durchlebt. Die Tatsa-
g’o, der erst jüngst aus dem US-amerikanischen Exil, wo er an Universitä- che, dass mehr und mehr afrikanische Literaturkritiker/innen französischer
ten lehrte, nach Kenia zurückkehrte, seine Texte seit den 1970er Jahren Sprache Stellen und Professuren in US-amerikanischen, kanadischen oder
auch in Kikuyu schreibt; eine Mobilität, die auch dazu führt, dass der Se- deutschen Universitäten finden, wird sicherlich die Interpretation der Texte
negalese Boubacar Boris Diop seine eigenen Texte in Wolof schreibt und von Autoren und Autorinnen unserer Gegenden erneuern; und die Tatsa-
zugleich seine Positionen in schweizerischen und französischen Zeitungen che, dass mehr und mehr Schriftsteller und Schriftstellerinnen französischer
verteidigt: auf Französisch und in deutscher Übersetzung. Sich in die Selbst- Sprache, Edouard Glissant oder auch Maryse Condé, Assia Djebar, Emma-
verständlichkeit dieser Mobilität und Beweglichkeit afrikanischer Schrift- nuel Dongala, Alain Mabanckou, Pius Ngandu und auch der Verfasser die-
steller/innen einzufinden, bedeutet in erster Linie, die Mehrsprachigkeit ser Zeilen, sich in amerikanischen Universitäten auf langfristigen Positio-
unserer Vorfahren wieder zu erlangen, ihre Polyglottie, die vielen Afrikaner/ nen, in denen sie die Orientierung und die Interpretation der Werke ihrer
innen noch heute eigen ist, wenn sie zum Beispiel zu Hause Medumba spre- Literatur bestimmen können, in aller Ruhe fiktionale oder kritische Texte
chen, in der Schule aber Französisch oder Englisch und auf der Straße Pid- schreiben können, und dies mit der Genugtuung von wohlwollenden In-
gin-Englisch. Diese Mehrsprachigkeit ist heute selbstverständlich in unserer stitutionen, wird auch Konsequenzen haben für die Literaturen, von denen
Welt, die wir globalisiert wissen, und in der sie Deutsch sprechen können hier die Rede ist. Wahr ist doch, dass die Universitätslandschaft wahr-
oder Russisch, ohne sich jedes Mal auf Prinzipien beziehen zu müssen. scheinlich ein Lebensbehälter ist für jede junge Literatur und mit Sicherheit
Es ist nämlich selbstverständlich, dass die erlebte und alltägliche Erfah- ein entscheidender Schritt auf dem Weg der französischsprachigen Literatur
rung solch einer Beweglichkeit der Keim einer Literatur ist, die sich ohne Afrikas zur Erneuerung ihrer Stimme.
Frankreich schreiben kann, denn schon in der Kolonie existierte diese Er- Und hier ist es selbstverständlich, dass die Frage von Frankreich als Be-
fahrung hinter dem Rücken der Kolonisator/innen, in Diskursen, die diese zugspunkt und besonders von der französischen Sprache als Arbeitsinstru-
sonst hätte verbieten können. Dass diese Erfahrung in der heutigen franzö- ment nur noch relativiert werden kann, weil beide zu entfernt sind, um die

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Umwälzungen einer Vision und das Flüssige einer Imagination zu beein- János Riesz
flussen, die in erster Linie nicht französisch sind, oder auch um die Wege ei- Afrika-Bilder – Bilder von Afrika(ner/inne/n)?
nes Denkens zu steuern, das ja menschlich ist: ein polyglotter Schriftsteller Begriffliche und methodologische Überlegungen
wie der Kongolese V. Y. Mudimbe, von dem man immer noch sagt, dass er zu einer verwirrenden Gemengelage
ein frankophoner Autor ist, obwohl dessen philosophisches Hauptwerk The
Invention of Africa doch auf Englisch geschrieben wurde und noch nicht
einmal auf Französisch vorliegt, ist beispielhaft für die heutige institutionel- Eigentlich war János Riesz einmal auf dem besten Wege, ein Romanist
le und linguistische Mobilität jenseits und außerhalb von Frankreich, bei- traditionellen Zuschnitts zu werden und die Anerkennung seiner Zunft
spielhaft für afrikanische Autoren und Autorinnen, für eine Mobilität, die zu finden. Doch dann wandte er sich der französischsprachigen Li-
in der Selbstverständlichkeit begründet ist, dass es doch immer absurd sein teratur Afrikas zu und seine wissenschaftliche Karriere nahm eine
wird, wenn jemand, der nicht Franzose oder Französin ist, die Frankopho- folgenreiche Wende. Nachdem er erst Professor in Mainz wurde, war
nie außerhalb des französischen Raums verteidigt, ohne sich selbst lächer- er ab 1979 Inhaber eines Lehrstuhls für Romanische und Vergleichen-
lich vorzukommen; wirklich skurril wird diese Verteidigung, wenn sie in- de Literaturwissenschaft in Bayreuth unter besonderer Berücksichti-
nerhalb von Afrika formuliert wird. Vielleicht wird man infolge dessen gung – ein Novum der deutschen Universitätslandschaft – der franko-
bald, in der Nachfolge eines Vladimir Nabokov, diesem anderen Polyglot- phonen afrikanischen Literatur. In Bayreuth war Riesz von 1984 bis
ten, der irgendwann in seinem Leben einfach aufhörte, ein Russe zu sein, 1997 maßgeblich für die Ausgestaltung eines von der Deutschen For-
die Zeit kommen sehen, in der afrikanische Autoren und Autorinnen wirk- schungsgemeinschaft finanzierten Sonderforschungsbereiches mit
lich aufhören werden, frankophone Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu dem Titel „Identität in Afrika“ verantwortlich. Das gab ihm die Ge-
sein. legenheit, die afrikanische Literatur in französischer Sprache sowohl
in ihrer faszinierenden Breite als auch in ihrer kaum bekannten Tiefe
zu erforschen. Ergebnisse dieses niemals abreißenden Studiums wa-
ren neben seinen Büchern zu den Europäisch-Afrikanischen Literatur-
beziehungen (Koloniale Mythen – afrikanische Antworten 22000, Fran-
zösisch in Afrika – Herrschaft durch Sprache, 1998), eine Vielzahl von
gelehrten, aber niemals gelehrigen Artikeln: In der ihm gewidmeten
Festschrift (Littératures et Sociétés Africaines, herausgegeben von Papa
Samba Diop und Hans-Jürgen Lüsebrink, 2004) sind mehr als 350 Titel
verzeichnet, das Gros davon zur afrikanischen Literatur.
Diese Festschrift verdeutlicht aber auch etwas anderes: Das Netz-
werk, das der Hochschullehrer János Riesz über die Jahrzehnte ge-
spannt hat und das sich heute über die Kontinente Europa, Afrika und
Amerika erstreckt. Darin sind auch viele aus Afrika stammende Lite-
ratur- und Kulturwissenschaftler vertreten, denn Bayreuth war viele
Jahre lang ein Knotenpunkt des wissenschaftlichen Austausches
zwischen Afrika und Europa – und dies ist selbstverständlich auch
ein Verdienst Eckhard Breitingers.
2004 hat der oft geehrte und mit vielen Preisen bedachte Litera-

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turwissenschaftler János Riesz offiziell seine aktive Universitätslauf- nehmungsphänomen: die mentale Gestalt des ‚Anderen‘, die durch
bahn beendet; das hat jedoch keinesfalls ein Erlahmen seiner kreati- Merkmale der Zugehörigkeit zu einer Familie, einer Gruppe, einem
ven Forschungstätigkeit zur Folge. Die folgenden Ausführungen über ‚Stamm‘, einem Volk oder einer ‚Rasse‘ bestimmt wird. Solch ein ‚Ima-
die Bilder ‚Afrikas‘ bzw. ‚der Afrikaner‘ beweisen einmal mehr, wie ge‘ beherrscht unsere Vorstellung des Anderen und bestimmt unser Ver-
sinnvoll es sein kann, wenn der Blick eines Literaturwissenschaftlers halten ihm gegenüber. Kulturelle Brüche und Unterschiede (in Sprache,
sich auch jenseits geschriebener Texte bewegt, wenn es um ein Mentalität, Alltagsverhalten und religiösen Vorstellungen) lösen positi-
Kulturverständnis in einem allgemeineren Sinne geht. ve oder negative Urteile aus.1
Dirk Naguschewski
Trotz der scheinbar restriktiven Definition von „image“ als „perception“
Den Anstoß für die nachfolgenden Überlegungen gab der Auftrag, für ein oder „mental shape of the other“ wirft eine solche Definition mehr Fragen
von Manfred Beller und Joep Leerssen herausgegebenes Nachschlagwerk, auf als sie beantwortet. Wenn es sich nicht um ‚Bilder‘ im visuellen, ikono-
Imagology. A Handbook of the Literary Representation of National Charac- graphischen Sinn (Gemälde, Zeichnungen, Photos usw.) handelt, können
ters, die Artikel „Africans (‚Negroes‘, Black peoples)“ und „Colonialism“ zu diese dann dennoch sinnvollerweise von der Analyse der „perception“ oder
schreiben. Eine erste Durchsicht meiner Afrika-Bibliothek, Nachforschun- der „mental shapes“ ausgeschlossen werden? Leben wir nicht in einem von
gen in der Bayreuther Universitätsbibliothek und die Durchsicht einschlä- visuellen Eindrücken bestimmten Zeitalter, in dem die fortgesetzt und mas-
giger Bibliographien ergaben eine große Fülle von Studien und Untersu- senweise auf uns eindringenden Bilder die Vorstellung (das ‚Bild‘) von Afri-
chungen zum ‚Bild‘ Afrikas in allen Variationen und unter Verwendung des ka in erster Linie und mehr als alles andere bestimmen? Wurde nicht bereits
dazu gehörigen Feldes von Synonymen und verwandten Begriffen. Aus die- der größere Teil der Reiseliteratur über den afrikanischen Kontinent, eben-
sem Grund schien mir eine vorgängige Reflexion über den Begriff ‚Bild‘ so wie die koloniale und ethnographische Afrika-Literatur von umfangrei-
und seine Varianten und Variationen innerhalb des Bereiches der Studien chem Bild-Material begleitet? Haben nicht Millionen von Postkarten, die
zur (kolonialen und postkolonialen) Afrikaliteratur geboten. während der kolonialen Epoche aus Afrika in die europäischen ‚Metro-
Ein weiterer Ansporn, über die Bedeutung der ‚Bilder‘ im Bereich der polen‘ geschickt wurden, das Westliche Afrika-Bild ebenso nachhaltig be-
Afrika-Studien und vor allem der literaturwissenschaftlichen Afrika-For- einflusst wie die literarischen Texte oder wissenschaftliche Abhandlungen?
schung nachzudenken, ergab sich aus der Tatsache, dass sich Eckhard Brei- Selbst die moderne afrikanische Literatur in europäischen Sprachen scheint
tinger seit vielen Jahren, in Verbindung mit seinen Forschungen zum afri- nicht mehr ohne die Unterstützung der Bilder auszukommen, sei es, dass
kanischen Theater, der Theater-Photographie gewidmet hat – zunächst zu die Autorinnen und Autoren – wie der Senegalese Ousmane Sembène – pa-
Zwecken der Dokumentation, aber bald auch mit wachsendem ästheti- rallel mit und in Weiterführung ihres literarischen Werkes ein filmisches
schem Anspruch. In zahlreichen, sehr erfolgreichen Ausstellungen, auf Fes- Œuvre produzieren: Als Verfilmung zuvor im Druck publizierter Romane,
tivals und in Theater-Dokumentationen, in Afrika, Europa und Nordame- als unabhängig von literarischen Vorlagen gedrehte Filme oder sogar als Fil-
rika hat er seine Bilder einem stets interessierten und oft begeisterten me, zu denen nachträglich noch ein Roman-Text geliefert wird. In jedem
Publikum präsentiert. Fall handelt es sich, wie Ousmane Sembène selbst formuliert hat, um eine
In ihrem programmatischen ‚Outline‘ zu dem erwähnten, in Arbeit be- „kreative Bigamie“.2 Oder wie soll man verstehen, dass die klassischen For-
findlichen Imagologie-Handbuch erläutern die beiden Herausgeber ihr Ver- men der Memoiren und der Autobiographie bei einzelnen afrikanischen
ständnis von „image“ wie folgt: Autoren von dokumentarischem Bildmaterial begleitet werden (z. B. Birago
Diop, V. Y. Mudimbe), das gelegentlich auch Gegenstand der Narration
In diesem Handbuch verwenden wir den Begriff ‚Image‘ nicht in dem und der Reflexion in den Texten selbst wird.
allgemein üblichen malerischen Sinn als Metapher, sondern als Wahr- Die strikte Trennung von ‚Bild‘ im visuell-ikonographischen Sinn und

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als mentale Repräsentation scheint also problematisch. Der metaphorisch gie- oder diskurskritische Komponente im Sinne einer Deformation, eines
gebrauchte Terminus ‚Bild‘ scheint auf einem Sockel von realer Bildlichkeit Trugbildes (frz. Mirage), dessen wahren Charakter es aufzudecken und in
aufzuruhen, der mit der sprachlich-textlichen Konstitution von ‚Bildern‘ seine tiefere Bedeutung zu ‚übersetzen‘ gilt.
eine Symbiose eingeht, die man im Sinne methodologischer Stringenz auf- Wir kommen damit zu den wissenschaftsgeschichtlichen Ursprüngen
lösen und trennen kann, die aber doch immer wieder auch zusammen der ‚Imagologie‘ als eines Teilbereichs der (vor allem französischen) Verglei-
geführt und unter übergreifenden Aspekten betrachtet werden muss. So be- chenden Literaturwissenschaft. Die erstmals 1951 als Que Sais-Je?-Bänd-
handeln die Beiträge in dem von Susan Arndt herausgegebenen Band Afri- chen (No. 499) erschienene Einführung, La Littérature Comparée, von Ma-
kaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland im zweiten, „Rassismus und rius-François Guyard behandelt in ihrem achten (und letzten) Kapitel das
Afrikabilder in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft“ überschriebenen Teil Thema der Bilder des Fremden, „L’Étranger tel qu’on le voit“. Diese Thema-
sowohl das ‚Bild‘ von Afrikanern und Afrikanerinnen im deutschen Film tik als ein expliziter und in gewisser Weise ‚prominenter‘ Forschungsgegen-
seit der NS-Zeit, Schwierigkeiten bei der Rezeption afrikanischer Literatur stand der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Frankreich steht noch un-
in Deutschland, den „musealen Blick als Spiegel der europäischen Begeg- ter dem unmittelbaren Eindruck des Weltkriegs, des Traumas der Niederlage
nung mit Afrika“ und die Präsenz von „biologistischen, rassistischen, frau- gegen Hitler-Deutschland und der vierjährigen Besatzungszeit. Jean-Marie
enfeindlichen und anderen diskriminierenden Inhalten“ an einem universi- Carré, der akademische Lehrer von Marius-François Guyard, der auch das
tären Institut für Humanbiologie. Es scheint, als gäbe es ein diskursives Vorwort zu der Einführung schrieb, hatte nach dem Krieg in einer polemi-
Kontinuum, das vom wissenschaftlichen Diskurs bis zur musealen Präsen- schen Abhandlung über Les écrivains français et le mirage allemand mit dem
tation, von der verweigerten Rezeption afrikanischer Literatur bis zum Ver- literarischen Deutschlandbild ‚abgerechnet‘, die große ‚Illusion‘ beklagt, de-
gnügen an kolonial geprägten filmischen Darstellungen Afrikas und der ren Opfer Frankreich und die französische Literatur seit dem Deutschland-
Afrikaner und Afrikanerinnen reicht und dessen man nur in transdiszipli- buch von Madame de Staël von 1810 zum wiederholten Male geworden war:
närer Annäherung habhaft werden kann. Susan Arndt stellt in ihrer Einlei- das Trugbild eines friedliebenden, kunstsinnigen, religiösen und in sich ge-
tung über „Rassismus und der deutsche Afrika-Diskurs“ das Afrikabild der kehrten Volkes von „Dichtern und Denkern“, von dessen Aggressivität und
Deutschen in seiner sprachlichen Verankerung und als „mentales Grund- Barbarei man sich wiederholt hatte täuschen lassen. Carrés Studie kann man
muster“ dominanter Stereotypen dar, das in der Sozialisation von Kindheit als den Beginn ‚imagologischer‘ Forschungen im engeren Sinn bezeichnen.
auf vermittelt wird: Während frühere entsprechende literaturwissenschaftliche Untersuchungen
im Titel die jeweilige ‚öffentliche Meinung‘ ansprachen – La Grande Bretag-
Die dominanten Afrikabilder werden vornehmlich über die Massenme-
ne devant l’opinion française au XVII siècle von Georges Ascoli – oder die
dien, Schulbücher und Spielfilme, sodann über zwischenmenschliche
fremden ‚Einflüsse‘ auf das Werk eines einzelnen Autors/einer einzelnen Au-
Kontakte, Werbung, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur, Co-
torin untersuchten, beginnt jetzt die Epoche der ‚Images‘ und ‚Mirages‘-For-
mics sowie Reisemagazine vermittelt. Auch historische Reiseberichte
schungen, die schon in den Titeln der meist dickleibigen Thèses mit diesen
und die kolonialistische belletristische Literatur sind noch immer wich-
tige Reproduzent/innen von Afrikabildern.3 Termini angekündigt werden: Guyards L’Image de la Grande-Bretagne dans
le roman français (1914–1940), Lortholarys Les Philosophes du XVIIIe siècle
Als gemeinsamen Nenner der „Afrikabilder“ ganz verschiedenen Ursprungs et la Russie, Cadots L’Image de la Russie dans la vie intellectuelle française
und Gattungszugehörigkeit darf man – in der Intention des von Arndt he- (1839–1856), Marandons L’Image de la France dans la conscience anglaise
rausgegebenen Bandes – ihren „Rassismus“ und die daraus resultierenden (1848–1900) und Pageaux’ Images du Portugal dans les lettres françaises
verhängnisvollen Auswirkungen auf Einstellungen und Verhaltensweisen (1700–1755). Alternativ können an die Stelle von ‚images‘ oder ‚mirages‘
der Rezipientinnen und Rezipienten dieser ‚Bilder‘ annehmen. An dem Ter- verwandte Begriffe wie ‚Vision‘, ‚Mythos‘ oder ‚Phantasmen‘ treten.
minus ‚Bild‘ haftet in diesem Zusammenhang von vorneherein eine ideolo- Ein entsprechender Paradigmenwechsel lässt sich auch in den Unter-

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suchungen zur Präsentation Afrikas und der Afrikaner von der Kolonie zur Manchmal sieht man Bilder. Ein anderes Mal denkt man, man sieht nur
Postkolonie feststellen. Die älteren Darstellungen der kolonialen Literatur ein Bild, ein Gesamtbild. Manchmal entdeckt man, dass hinter dem,
und der Afrikaner, die sich der Rechtmäßigkeit ihres Gegenstandes noch si- was Politiker oder Journalisten als authentisches Bild ausgeben möch-
cher waren, kamen ohne die Bild-Metapher aus. Der bedeutende französi- ten, noch eine tiefere Schicht liegt. Jedes einzelne Bild, das aus Afrika
sche Kolonial-Administrator und Afrika-Wissenschaftler Maurice Delafosse kommt, verwandelt sich notwendigerweise. Unser Kontinent liegt nicht
konnte seine 1927 erschienene – reich illustrierte – Darstellung der Afrika- feierlich aufgebahrt da. Unsere Helden steigen auf und fallen wieder. So
ner und Afrikanerinnen noch schlicht Les Nègres betiteln. Die drei wichtigs- wie jeder andere Kontinent haben auch wir unsere Politclowns, politi-
ten Werke von Roland Lebel, dem bedeutenden Historiker der kolonialen sche Scharfrichter, Schieber, Korruption an höchster Stelle. Auch wir
Literatur in französischer Sprache, tragen die Titel: L’Afrique Occidentale sind ein Volk in Bewegung.4
dans la littérature française (depuis 1870), Histoire de la Littérature Colonia-
le en France, Les Voyageurs Français du Maroc. Ein neuer, postkolonialer kri- Der politische Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung ist auch
tischer Blick auf die koloniale Afrikaliteratur wird sich erst seit den 1960er ein Kampf um Bilder, ein Streit um wahre und unwahre Bilder, um Bilder
Jahren manifestieren und in den Buchtiteln am liebsten mit dem Terminus in Bewegung, von Bildern, die sich an Heldinnen und Clowns festmachen,
‚Image‘ ankündigen. an Henkern und Betrügerinnen, Schieberinnen und Tagedieben. Wie ein
Im gleichen Jahr 1962 erscheint er zum ersten Mal sowohl in einer fran- Echo aus Gedichten der Négritude-Autoren Aimé Césaire und Léopold
zösischsprachigen wie in einer englischsprachigen Studie. In der an der Uni- Senghor klingen Sätze von der Art: „Wir sind arm; wir haben keine Indust-
versität Dakar veröffentlichten Untersuchung von Roger Mercier ‚verbirgt‘ rie, unsere Rohstoffe werden nicht weiter verarbeitet.“ Und noch fernere
er sich noch im Untertitel: L’Afrique Noire dans la littérature française. Les Echos aus der Kolonialzeit wie: „Ihr seid immer noch unsere Last, höre ich
premières images (XVIe–XVIIIe siècles). – Soweit ich weiß, ist das erste Buch, sie glucksen.“5 Die Untersuchung des Bildes von Afrika und der Afrikaner/
in dem bereits im Obertitel der Begriff ‚Image‘ in einer literatur- und kul- innen in The African Image präsentiert sich von Anfang an als Dekonstruk-
turwissenschaftlichen Studie in Bezug auf Afrika auftaucht, das Werk des tion eines überlieferten Afrika-Bildes und ist als Erarbeitung eines neuen,
Südafrikaners Ezekiel Mphahlele, The African Image, das erstmals 1962 in adäquateren, der historischen Entwicklung Rechnung tragenden Bildes zu
London bei Faber & Faber erschien. Schon ein erster Blick auf die inhalt- erkennen.
liche Gliederung des Bandes zeigt, dass „Image“ hier mehr ist als eine ‚blin- Die literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Studien zum Bild Afrikas
de‘ Metapher, dass sich die Gedankenführung vielmehr sehr genau entlang und der Schwarzen, zur kolonialen Afrikaliteratur und dem ihr liierten
der Reflexion über afrikanische (Selbst- und Fremd-) ‚Bilder‘ bewegt. Den Bild-Material, die seit den 1960er Jahren erscheinen, verstehen sich über-
beiden Hauptteilen, „I. Political Images“ und „II. Literary Images“ ent- wiegend als Beiträge zur geistigen Dekolonisation; sie sind dekonstruktivis-
sprechen die Kapitel (I.:) 1. Blackness on My Mind. – 2. The Nationalist. – tisch in dem Sinne, dass sie Antworten auf die Frage suchen, in welcher
3. The African Personality. – 4. Negritude Revisited. – 5. The Blacks; (II:) 6. Weise die kolonialen Texte und Bilder das europäische Publikum im Sinne
White on Black und 7. Black on Black. – Bereits dieses Schema lässt erken- der Werbung für die Kolonien beeinflusst und zu dem dafür notwendigen
nen, dass die Gliederung Raum für weitere Entwicklungen lässt. So ‚fehlt‘ nationalen Konsens beigetragen haben. Dabei lässt sich ein signifikanter
in Teil II noch die – nach dem Schema zu erwartende – Position „Black on Unterschied zwischen den Arbeiten der Historiker (im engeren Sinn) und
White“, die – wie wir wissen – ab den 70er Jahren (in Werken anderer Au- denen der Literaturwissenschaftler feststellen. Die zweibändige Untersu-
toren und Autorinnen) ausgefüllt werden wird. chung des amerikanischen Historikers Philip D. Curtin über The Image of
Bereits der einleitende Abschnitt des ersten Kapitels, Blackness on My Africa. British Ideas and Action, 1780–1850 begründet die Notwendigkeit
Mind, lässt erkennen, dass sich Mphahlele der Komplexität und Vielschich- ihres Gegenstandes damit, dass die öffentliche Meinung des ‚Westens‘ in
tigkeit des „Image“-Begriffs bewusst ist. den 50er Jahren geistig noch gar nicht auf die politische Unabhängigkeit der

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afrikanischen Staaten vorbereitet war, dass sich das allgemeine ‚Bild‘ Afri- bild passende Meinungsäußerungen (etwa über die ‚Schönheit‘ der Schwar-
kas, vor allem in den Ländern mit kolonialer Vergangenheit, weiterhin an zen) zur Sprache kommen. Hier scheint ein wichtiger Bereich zukünftiger
dem Machtgefälle zwischen Eroberern und Eroberten, Herrschenden und Forschungen zu liegen: eine differenzierte und ‚gerechte‘ Bewertung jener
Beherrschten fest machte und damit weit in das Zeitalter der Entdeckungen Darstellungen Afrikas und der Afrikaner/innen, die sich dem allgemeinen
und Eroberungen zurück verwies. Dabei ist für Curtin vor allem der Zeit- Konformitätsdruck verweigerten, die trotz der Starre der Klischees und Ste-
raum zwischen 1780 und 1850 entscheidend für die Konstitution des Bildes, reotypen zu sachlichen und differenzierten Beobachtungen und Aussagen
das um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine definitive Gestalt gewonnen fähig sind, sich (wie Labat) von „echter Anteilnahme, Sachlichkeit und dem
hatte. Es handelte sich um ein Afrikabild, das selten explizit ausformuliert Willen zur Vollständigkeit“ leiten lassen.8
wurde und eher zu dem allen Beteiligten gemeinsamen ‚Hintergrundwissen‘ Die Untersuchung von Martine Astier Loutfi über Littérature et Colo-
gehörte. Anders als die meisten literaturwissenschaftlichen Studien zu dem nialisme betont, für den untersuchten Zeitraum, die Unkenntnis und das
Gegenstand sieht der Historiker Curtin dieses Afrikabild in enger Verbin- weitreichende Desinteresse an den Kolonien im französischen ‚Mutterland‘.
dung mit dem Zuwachs an neuem Wissen, neuen Daten, neu entdeckten Erst durch die häufigen Skandale, die mit der kolonialen Eroberung ver-
und erforschten Gegenden, deren jede ihren Teil zu dem Gesamtkomplex bunden waren, wurde das Publikum dieser gewahr. Die koloniale Afrika-
‚Afrikabild‘ beitrug, ehe dieses in die populären Formen der Wissensver- Literatur als Ganzes habe ein konfuses Bild voller Widersprüche präsentiert,
mittlung und der Allgemeinbildung diffundierte. doch habe gerade die verwirrende Uneinheitlichkeit der kolonialen Afrika-
Das Buch des Schweizer Historikers Urs Bitterli, Die Entdeckung des bilder dem französischen Publikum das beruhigende Gefühl gegeben, über
schwarzen Afrikaners, ist einleitend bemüht, den eigenen Platz in der Ab- die Kolonien ‚Bescheid zu wissen‘; gerade der Streit um das Für und Wider
folge der historischen Interpretationen der europäisch-überseeischen Bezie- der Kolonien, die Positionen der Befürworter wie der Kritikerinnen der ko-
hungen zu bestimmen, die er von „lebhaften Auseinandersetzungen“ be- lonialen Expansion, hätten schließlich dem gleichen Zweck gedient, den
stimmt sieht, die sich insbesondere auf die Studien des imperialistischen Franzosen und Französinnen die ‚Illusion‘ zu geben, alle Gründe Pro und
Zeitalters und des Dekolonisationsprozesses sehr befruchtend ausgewirkt Contra zu kennen und sich ihre persönliche Meinung bilden zu können.
hätten und wo es gelte, „den gefährlichen Versuchungen von Selbstanklage Letztlich habe die koloniale Literatur den Franzosen und Französinnen in
und Rechtfertigung zu entrinnen und zu einer gerechten Bewertung der Vor- jedem Fall ein gutes Gewissen gegeben, sei es, dass sie die koloniale Aufga-
gänge zu gelangen.“6 Auf Grund der räumlichen, zeitlichen und materiellen be glorifizierte und als erstrebenswert darstellte, sei es, dass die Kritik und
(auf schriftliche Dokumente) Beschränkung des Gegenstandes gilt die Auf- die Widersprüche des Kolonialismus das eigene Gewissen entlasteten.
merksamkeit des Historikers Bitterli, anders als bei den imagologischen Fra- Astier Loutfi spricht hier ein zentrales Problem der Analyse von ‚Bildern‘
gestellungen der zeitgleichen Literaturwissenschaftler/innen, in erster Linie im Hinblick auf deren propagandistische Wirkung an, das der US-amerika-
der „Individualität“ des je einzelnen Verfassers und der „Einmaligkeit der nische Kritiker Kenneth Burke im Zusammenhang mit den sogenannten
geschichtlichen Situation“. Mit der Studie von Philip D. Curtin gibt es zahl- Antikriegsromanen in einem Essay über War, Response, and Contradiction
reiche Berührungspunkte. Die Leitfragen, „wie der Europäer sich zur Be- dargelegt hat: In den vermeintlichen ‚Antikriegsromanen‘ (oder -filmen)
gegnung mit dem schwarzen Afrikaner gestellt hat, wie er diesen beurteilte, sind es gerade die Bilder des Leidens und des Martyriums, die in der christ-
von welchen Voraussetzungen dieses Urteil ausging und welche Einflüsse es lich-abendländischen Tradition (mit dem zentralen Symbol des gekreuzig-
mitbestimmten“7 sind zwar nicht allzu weit von den Fragen der ‚Imagolo- ten Christus) „die bedeutsamsten ethischen Symbole der Werbung für eine
gen‘ und Mentalitätshistorikerinnen entfernt, dennoch kann man feststel- Sache“9 bedeuten. So ist auch der ‚heldenhafte‘ Tod des Kolonialsoldaten
len, dass durch die präzisen und textnahen Analysen von Urs Bitterli (wie Jean Peyral (in Pierre Lotis Roman d’un Spahi) zumindest ambivalent: Er
Ph. D. Curtin) die ‚Images‘ und ‚Mythen‘ Afrikas und der Schwarzen doch kann sowohl als Abschreckung wie als Werbung für das koloniale Abenteu-
erheblich nuanciert werden und gelegentlich auch nicht in das Gesamt- er in Senegal gelesen werden.

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Martin Steins’ Untersuchung über Das Bild des Schwarzen in der europäi- den weißen Leser“ und einer „Einleitung“ gleich mehrfach und mit deut-
schen Kolonialliteratur 1870–1918, die den gleichen Zeitraum – und über- lichem anti-rassistischen Engagement. Das Vorwort postuliert eine Mit-Ver-
wiegend ebenfalls französische Beispiele – wie Astier Loutfi behandelt, ver- antwortung aller Weißen an der jahrhundertelangen Demütigung und
steht sich als (Untertitel) „ein Beitrag zur literarischen Imagologie“ und Erniedrigung der Schwarzen. Bewusst oder unbewusst teile doch jeder Eu-
behandelt einleitend in einem längeren wissenschaftsgeschichtlichen Abriss ropäer und jede Europäerin den Glauben an die ‚zivilisatorische‘ Überlegen-
die „Problematik der Imagologie“ und der „Imagologie Afrikas“. Auch er heit der Weißen, und von der Geringschätzung und Verachtung sei es nur
verweist auf die notwendige Entkolonisierung unseres Afrikabildes. Diesem ein weiterer Schritt zur Unterdrückung, Versklavung und Ausrottung. Der
Ziel nähert er sich durch eine phänomenologische Untersuchung des Bildes europäische Rassismus erscheint in einem Kontinuum und in einer Konti-
von Schwarzen in der französischen Kolonialliteratur, dessen Komponenten nuität vom Sklavenhandel zur kolonialen Unterdrückung und Ausbeutung,
er in einem historischen Rückblick, von Reminiszenzen an das Alte Testa- von den Jagden auf entflohene Sklaven/Sklavinnen bis zum Apartheid-Sys-
ment, dem Kainszeichen und Fluch Noahs, bis zum physischen Porträt des tem, vom Code Noir bis zu den Nürnberger Rassegesetzen. Es gelte darum,
Afrikaners und der Afrikanerin analysiert. Innerhalb des kolonialen Kontex- den Rassismus in all seinen Formen aufzuspüren, zu denunzieren und zu
tes sieht er diese einzelnen Aspekte einander komplementär zugeordnet, so- überwinden. Dazu sei es nötig, sein Funktionieren zu verstehen, seine Ent-
dass er für die von ihm untersuchte Epoche zum ersten Mal in der europäi- stehung und seine Weitergabe. Die Aufgabe der Literaturwissenschaftler
schen Geschichte der Begegnung mit Afrika ein ‚Gesamt-Image‘ des berühre sich mit derjenigen der Historikerinnen, Biologen und Psycholo-
Schwarzen sich herausbilden sieht. Den literarischen Wandel dieses Bildes ginnen. Es obliegt ihm zu zeigen, welche jahrhundertealten Traditionen,
von Schwarzen seit Anfang des 20. Jahrhunderts – ‚Primitivismus‘, Faszina- ‚Sprachregelungen‘, Diskurs-Formationen, ‚Bilder‘ von einer Generation
tion der literarischen und künstlerischen Avantgarden für alles Afrikanische zur nächsten tradiert wurden und wie sehr die alten ‚Argumente‘ in den
– habe die koloniale Ideologie und Imagologie nicht mehr integriert. Es hät- heutigen weiterleben.
te wohl auch ihr Ende bedeutet. Daran knüpften erst wieder die Schwarzen Trotz der größeren zeitlichen Distanz zum untersuchten Gegenstand
Bewegungen der 1920er und 30er Jahre (Indigenismus, Harlem Renaissan- stellt auch die Studie des béninischen Historikers François de Medeiros über
ce, Négritude) an. L’Occident et l’Afrique (XIIIe–XVe siècle) den Bezug zur heutigen, postkolo-
Die Arbeiten von Astier Loutfi und Steins zur Kolonialliteratur und nialen Situation her und betont die fortgesetzte Aktualität des Gegenstan-
zum Bild Afrikas und der Afrikaner/innen leiden in gewisser Weise noch des. Das Vorwort des französischen Mittelalter-Historikers Jacques Le Goff
darunter, dass sie in dem von ihnen untersuchten Zeitraum (und im franzö- nennt als Hauptverdienst der gründlichen und wegweisenden Untersuchung
sischen Bereich) ein sehr umfangreiches und heterogenes Material vorfin- von Medeiros, die antiken und mittelalterlichen Wurzeln der Vorurteile ge-
den, dessen Vorgeschichte noch wenig untersucht ist und das deswegen bei genüber Schwarzen frei gelegt zu haben. Gerade in den drei von ihm unter-
seiner historischen Fundierung oftmals sehr disparat und unzureichend de- suchten Jahrhunderten des Mittelalters, am Schnittpunkt der griechisch-rö-
finiert scheint. Zwei Studien aus den 1970er und 80er Jahren behandeln auf mischen und christlichen Überlieferung einerseits und der Ausbildung eines
einer außerordentlich reichen Materialbasis und mit einer Fülle z. T. unbe- modernen – wissenschaftlichen und auf Erfahrung und Beobachtung beru-
kannter Details das Bild des Afrikaners/der Afrikanerin und des afrikani- henden – Bewusstseins andererseits, in Verbindung mit den ersten realen
schen Kontinents in der dem modernen Kolonialismus vorausgehenden Kontakten mit Afrika und seinen Menschen, sei das alte Wissen über Afri-
Epoche von 1700 bis 1850 und für das europäische Mittelalter vom 13. bis ka, die Ideen, Vorstellungen und Stereotypen eine neue Verbindung (fusion)
zum 15. Jahrhundert. mit den Erwartungen und Hoffnungen des aufziehenden Entdeckungszeit-
Die Untersuchung des in Princeton lehrenden Léon-François Hoff- alters eingegangen, die dann in den folgenden Jahrhunderten zum Tragen
mann, Le Nègre romantique. Personnage littéraire et obsession collective, be- kam. Die neue Zeit sei in einen dialogischen Austausch zwischen den alten
gründet ihren Gegenstand, das ‚Bild‘ des Schwarzen, in einem „Vorwort für Strukturen des Imaginären und dem Geist der neuen Zeit eingetreten.

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Mit diesem Bild und Formulierungen wie den „images de l’imagi- ‚Bild‘-Metaphorik und generell die Systeme der Repräsentation und das
naire“10 liefert der Historiker Le Goff quasi en passant ein Modell, nach Verhältnis von Text und Bild neu zu überdenken. Als Resultat dieses über
dem sich die Bilder des Imaginären in einem fortgesetzten Austausch mit mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Vorgangs kann man beobachten,
den neuen Erkenntnissen und Erfahrungen der Realität befinden, der ge- dass in der Zwischenzeit auch in den überwiegend textbezogenen Studien
genüber sie sich aber auch als außerordentlich resistent (oder soll man sagen: der Literaturwissenschaftlerinnen und Historiker durchweg auch Bildmate-
renitent?) erweisen. Die „Bilder des Imaginären“ werden selbst als mächtige rialien berücksichtigt werden und damit der alte imagologische ‚Bild‘-Be-
Aktanten und Akteure des historischen Geschehens begriffen. So beschreibt griff quasi beim Wort genommen wird und heutige Analysen das „visuelle
Le Goff die Farbe Schwarz als Hauptperson (personnage principal) in dem Gedächtnis der Literatur“11, wie Monika Schmitz-Emans es nennt, ebenso
Prozess der Aggregation negativer Eigenschaften und Ideen-Verbindungen interessiert wie die literarischen Determinanten der Bilder.
in den Bildern Afrikas und seiner Bewohner. Aufgrund ihrer negativen Für die Darstellung des Afrikaners/der Afrikanerin in der Bildenden
Symbolik in den unterschiedlichen Bereichen der Ästhetik und der Moral, Kunst sind die seit 1976 erschienenen, aufwendig illustrierten und sorgfäl-
der Psychologie und der Religion, habe sie lange Zeit und quasi auf Dauer tig kommentierten, von Ladislas Burger unter Mitarbeit von zahlreichen in-
ein besseres Verstehen, eine Empathie gegenüber Afrikanern verhindert. ternational renommierten Kunstwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen
Abgesehen von kurzen Perioden der ‚Aufhellung‘ blieb das Bild des herausgegebenen Bände, L’Image du Noir dans l’Art Occidental/The Image of
Schwarzen in Europa – so eine der Schlussfolgerungen von François de Me- the Black in Western Art, von herausragender Bedeutung. Bislang liegen uns
deiros – von einem „radikalen Pessimismus“ bestimmt. Noch vor dem von drei Bände in französischer Sprache und vier in Englisch vor, die sich von
eigenem Interesse geleiteten, ‚pragmatischen‘ Bild, das Sklavenhandel und der altägyptischen Kunst bis zum Ende des Römischen Weltreichs (vol. I),
Kolonialismus über Schwarze produzierten, diente der Afrikaner bereits im dem frühen Christentum bis zum Zeitalter der Entdeckungen (vols. II,
christlichen Mittelalter als ‚Sündenbock‘ und Projektionsfläche für europä- 1–2), von der Amerikanischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg (vols.
ische, Weiße Ängste und Obsessionen. Pointiert könnte man sagen: Um IV, 1–2) erstrecken. Den hohen ‚politischen‘ Anspruch des Unternehmens
sich ihrer eigenen Phantasmen und Schreckensbilder zu entledigen, erschuf unterstreicht u. a. das Vorwort des (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der
sich die europäische Imagination den „Schwarzen“, als Element des Dekors ersten Bände) Direktors der UNESCO, des Senegalesen Amadou-Mahtar
(und wäre es auch an den Portalen der Kathedralen) und der Folklore (auf M’Bow. Da es unmöglich wäre, auf den inhaltlichen Reichtum des in die-
Jahrmärkten und in Gruselkabinetten) sowie in der schreckhafteren Varian- sen Bänden präsentierten Materials im Detail einzugehen und jeden Beitrag
te als Folterknecht (früh-)christlicher Märtyrer/innen, als grausamer Kämp- einzeln vorzustellen, sollen nachfolgend nur einige ‚imagologische‘ Aspekte
fer in Sarazenenheeren, als Teufel oder Menschenfresser in Höllenszenen. der Untersuchung aufgegriffen und in ihrer Bedeutung für weitere literatur-
Wenn auch mit der gebotenen Vorsicht des Historikers vertritt François de wissenschaftliche Studien bedacht werden.
Medeiros die Auffassung eines Zusammenhangs und einer Kontinuität von In seiner allgemeinen Einleitung zu dem gesamten Unternehmen betont
den mittelalterlichen Bildern zu denen des Zeitalters der Entdeckungen und Burger den von Anfang an ‚marginalen‘ Status des Gegenstandes in der eu-
der kolonialen Eroberung, letztlich bis heute. ropäischen, Westlichen Kunst. Was wir aus früheren Studien bereits wissen:
Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und verstärkt seit den 80er und Afrika war bis weit ins 19. Jahrhundert in Europa ein unbekannter Konti-
insbesondere den 90er Jahren erscheint eine Vielzahl von Untersuchungen nent, und die Konsequenz daraus klingt vertraut: „Man ist versucht, diese
und Darstellungen, die sich den ‚Bildern‘ Afrikas und der Afrikaner/innen geringe Beachtung als Zeichen einer ebenso irrationalen wie tiefsitzenden
im wörtlichen, ikonographischen Sinn zuwenden: Arbeiten von Kunst- Aversion des Weißen gegenüber dem Afrikaner zu betrachten.“12 Die Fre-
historikern und Kolonialhistorikerinnen, die auch den bisherigen ‚imago- quenz des Afrikaners/der Afrikanerin in der Bildenden Kunst ist von An-
logischen‘ Untersuchungen der Literaturwissenschaftlerinnen und Men- fang an eher gering, in historischen Betrachtungen der Westlichen Malerei
talitätshistorikern eine ganz neue Dimension geben und sie zwingen, die im Ganzen würden kaum Lücken entstehen, wenn man das Thema nicht

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berücksichtigte. Dennoch gibt es – über fünf Jahrtausende – eine durchge- hen oder sie begleiten. So gesehen wären nicht die ‚wirklichen‘ (ikono-
hende Präsenz des Afrikaners/der Afrikanerin, und in der Geschichte der graphischen) Bilder das Primäre, sondern die ihnen vorausgehenden und zu
modernen europäischen Malerei finden sich Portraits und Figuren von Grunde liegenden mentalen Vorstellungen. Die Aufgabe der ‚wirklichen‘
Schwarzen bei so namhaften Malern wie Grünewald und Dürer, Memling Bilder wäre dann eher, den mentalen Bildern Evidenz und Überzeugungs-
und Hieronymus Bosch, Mantegna und Veronese, Velázquez, Rubens, kraft zu verleihen, für ein (bestimmtes) ‚Bild‘ zu werben und es propagan-
Rembrandt, Watteau, Géricault, Delacroix, Turner, Cézanne … Diese iko- distisch einzusetzen, dessen wahrer Ursprung und Intentionalität aber an-
nographische Präsenz von Afrikanern und Afrikanerinnen scheint an keinen derswo zu suchen wäre.
besonderen Anlass, keine besonderen Ereignisse gebunden. Er steht aber Jean Devisse und Michel Mollat fassen in der „Conclusion“ zum dritten
durchgehend für den ‚Fremden‘, den ‚Anderen‘, der auf ein räumlich fer- Band (II,2) die Ergebnisse der Untersuchung (bis zum Ende des 16. Jahr-
nes ‚Anderswo‘ verweist. Und gerade in Zeiten, in denen sein Bild in – hunderts) dahingehend zusammen, dass das mangelnde Interesse der Kunst
man möchte sagen: innereuropäischen – Auseinandersetzungen häufiger er- an Afrika und seinen Menschen wie auch die Negativität ihrer Darstellung
scheint, wie etwa in dem Kampf der Abolitionist/inn/en gegen die Sklave- anderswo zu suchen seien als in der Geschichte der Kunst selbst und in den
rei, sind die Folgen für das Bild des Afrikaners/der Afrikanerin eher nega- Bemühungen der Maler und Bildhauerinnen. Die Frage stellt sich aber auch
tiv. Für alle Epochen gilt, dass das Bild mehr über diejenigen aussagt, die umgekehrt, ob Anstöße zu neuen „Imagines“ nicht auch von Seiten der (re-
sich das Bild machen als über die Abgebildeten: So verraten die christlichen, alen) Bilder kommen können, deren neue Sicht dann wieder in das allge-
mittelalterlichen Vorstellungen des Afrikaners mehr über das Christentum meine ‚Weltbild‘ übersetzt werden müsste. Einige Motive in der Ikonogra-
und das christliche Mittelalter als über Afrikanerinnen. In der Einleitung zu phie des Afrikaners/der Afrikanerin in der europäischen Kunst legen
Band IV, 1 (Slaves and Liberators) von Hugh Honour finden sich Überle- zumindest eine solche Vermutung nahe: Der heilige Mauritius im späten
gungen zum Status der Bilder im Gesamtzusammenhang einer Kultur und Mittelalter oder der Schwarze unter den Heiligen Drei Königen, deren Her-
zum Verhältnis der Bilder zu den in ihnen ‚eingeschriebenen‘ Texten, die in kunft und ‚Hintersinn‘ noch der Klärung harren.
unserem Zusammenhang von Bedeutung sind: „Visuelle Bilder sind stets Seit den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich ein starkes Interes-
Teil der grundlegenden Strukturen einer Kultur, nicht bloßer Ausdruck ih- se an der massenhaften Bildproduktion des ‚kolonialen Jahrhunderts‘ (von
rer religiösen Glaubensvorstellungen, überlieferten Mythen, moralischen 1860 bis 1960) feststellen. Die in Paris 1990 gegründete Vereinigung vorwie-
Geboten, Schönheitsidealen, Sozialsystemen und der Beziehung zu Frem- gend jüngerer Afrika-Wissenschaftler/innen ACHAC (= Association Con-
den.“13 Da es sich bei der Bildenden Kunst um eine soziale Konstruktion naissance de l’Histoire de l’Afrique Contemporaine) hat auf mehreren Kollo-
handele, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich sei, könnten quien und internationalen Kongressen (zu denen jeweils reich illustrierte
sich auch die Maler/innen den entsprechenden ‚Vorgaben‘ in keinem Fall Bildbände erschienen sind) das Interesse an der kolonialen Ikonographie in
entziehen, bei Strafe der Nicht-Beachtung (d. h. des Verlusts der Möglich- den Vordergrund gestellt und damit das Augenmerk auch auf ganz neue For-
keit, für ihre Bilder Käufer/innen zu finden). Dies gelte auch für Maler/in- schungsfelder gelenkt: illustrierte Bücher und Zeitschriften, koloniale Post-
nen, die aufgrund ihres sozialen Status und ihrer Klassenzugehörigkeit ih- karten, Kolonialausstellungen, Plakate, Reklame, Filme…Der 1993 erschie-
ren Auftraggeber/inne/n ferne stehen. nene erste Band (dem eine Reihe weiterer folgen werden), Images et Colonies,
Die metaphorische Bedeutung von ‚Bild‘ als mentaler Repräsentation ist hat programmatischen Charakter, den der Untertitel so resümiert: „Natur,
auch in den ‚realen‘ Bildern stets in der Weise gegenwärtig als der Maler/die Diskurs und Einfluss der kolonialen Ikonographie in Verbindung mit der ko-
Malerin durch sie vorgeprägt ist. Bilder von Afrikanern und Afrikanerin- lonialen Propaganda und der Darstellung der Afrikaner/innen und Afrikas in
nen, von den Buchillustrationen bis zu großen Wandgemälden, sind des- Frankreich, von 1920 bis zur Unabhängigkeit.“ Die Herausgeber (Pascal
halb a priori nicht eindeutig, ihre Bedeutung erschließt sich erst – zumal für Blanchard, Armelle Chatelier) begründen ihr Interesse für den Gegenstand
spätere Betrachter/innen – durch die Texte, die ihrer Entstehung vorausge- – die koloniale Propaganda oder ‚Verführung‘ mittels der Bilder – damit,

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dass diese Bilder nicht nur der Vergangenheit angehören, sondern sich zu- bei den hier präsentierten Photographien mit offiziellem Charakter nicht
nehmend der Gegenwart wieder bemächtigen und aufs Neue eine Wirkung um bloße Komplemente zu andernorts schriftlich fixierten Texten handele,
entfalten. Das Publikum sei dagegen in keiner Weise gewappnet und werde sondern dass die Photos einen autonomen Diskurs repräsentierten, „der sich
deshalb umso leichter zum Opfer dieser Bilder. Was Not täte, wäre eine Pä- selbst genügt.“14 Wie jeder andere beruhe auch der photographische Diskurs
dagogik des Umgangs mit diesen Bildern: Gerade ihren heutigen, mit dem auf einer Reihe von Entscheidungen, einer Wahl zwischen verschiedenen
kolonialen Diskurs nicht mehr vertrauten Adressaten und Adressatinnen, Möglichkeiten; das gemeinsame Ziel sei die Herstellung eines – ideologisch
müsse deren unterschwellige Bedeutung vermittelt werden. Es käme deshalb definierten – Bildes der Kolonisation, das seinerseits wiederum auf das
darauf an, die Produktion dieser Bilder und ihren ursprünglichen Kontext Selbstverständnis (‚Selbstbild‘) der Kolonisator/inn/en wie der Kolonisier-
zu rekonstruieren, die in ihnen enthaltenen ‚Botschaften‘ zu entschlüsseln ten zurückwirkt, ihren Worten und ihrem Verhalten neue Nahrung gibt.
und bewusst zu machen, um ihnen letztlich zu ‚widerstehen‘. Und da mit dem Ende der Kolonialzeit keineswegs die Herrschaft Europas,
Das darin enthaltene, uns interessierende methodologische Problem des ‚Westens‘ über Afrika und andere ehemalige Kolonien an ihr Ende ge-
könnte man (auch im Blick auf das zuvor für die Bildende Kunst Gesagte) kommen ist, dauere auch die ‚Verführung‘ durch die alten Bilder fort, am
dahingehend formulieren, dass man fragt, inwieweit die Bilder aus der Ko- sichtbarsten in ihren Nachwirkungen in einer restriktiven Immigrations-
lonialzeit und ihre Nachfahren für sich allein eine Wirkung entfalten kön- und Ausländerpolitik. Eine intensive Beschäftigung mit diesen Bildern, im
nen, ohne den weit gefächerten verbalen Diskurs der kolonialen – poli- Sinne einer Aufklärung und permanenten ‚Denunziation‘, betrifft demnach
tischen, ökonomischen, literarischen – Textproduktion einer Nation, die sowohl die Vergangenheit wie die Gegenwart und die Zukunft europäischer
sich als Kolonialmacht versteht. Eine erste Antwort liegt sicher in dem oft Beziehungen zu Afrika und der außereuropäischen Welt.
manichäischen Charakter der Bilder, die sich in vertrauten, immer noch ak- Parallel zu den Photo-Bänden mit Bild-Material aus der Kolonialzeit er-
tuellen binären Oppositionen präsentieren: Wir – die ‚Anderen‘, ‚Wilde‘ – scheinen in den 1990er Jahren auch eine Reihe von – wiederum sehr auf-
‚Zivilisierte‘, Natur – Geschichte, Rechtssystem – Bräuche, Nation – ‚Stäm- wändig gestalteten und illustrierten – Bildbänden, in denen das ikonogra-
me‘, Soldat – Aufständische, Volk – ‚Horde‘, Kunst – ‚Folklore‘, Religion – phische Werk der Maler/innen aus der Kolonialzeit präsentiert und z. T.
‚Aberglaube‘, Eroberer – ‚Plünderer‘ usw. Die Franzosen und Französinnen auch in Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Bemer-
von heute, denen die koloniale Vergangenheit überwiegend nur noch durch kenswert ist im Besonderen der von Lynne Thornton herausgegebene und
diese Bilder vermittelt werde, nehmen diese Bilder als ‚Abbilder‘ einer Rea- kommentierte Bildband, Les Africanistes Peintres Voyageurs 1860–1960, der
lität, ohne sich immer ihrer ideologischen (und rassistischen) Implikationen in seinem Anhang die Kurzbiographien von nicht weniger als 122 Malern
bewusst zu sein. und Malerinnen vorstellt, die mit ihren Bildern in dem Band vertreten sind;
In dem von der gleichen Equipe (die aus der ACHAC hervorging) he- die Daten der Ausstellungen, in denen ihre Werke zu sehen waren, reichen
rausgegebenen Band Images d’Empire 1930–1960 stammt das Vorwort von von 1867 bis 1989. Während Albert Memmi die Auffassung vertrat, der
dem tunesischen Schriftsteller Albert Memmi, der in den 1950er Jahren be- ‚Diskurs‘ der Maler/innen unterscheide sich nicht wesentlich von dem der
reits mit Portrait du colonisé, précédé du Portrait du colonisateur einen der Re- Photographen, verteidigt Lynne Thornton in ihrer Einleitung den ‚Eigen-
ferenztexte (neben denen von Frantz Fanon) zur Dekolonisierungsdebatte sinn‘ der Maler/innen. Anders als die Photograph/inn/en hätten sie sich
verfasst und damit zur ‚Dekonstruktion‘ der den Kolonialismus tragenden nicht für den mit dem kolonialen System verbundenen ‚zivilisatorischen
‚Bilder‘ wesentlich beigetragen hatte. Seine einleitenden Betrachtungen über Fortschritt‘ interessiert, sondern für die afrikanischen Menschen in ihren
den „Diskurs der Photographie“, 40 Jahre später, gehen von der Vorstellung ‚traditionellen Lebensbedingungen‘, wie auch für ihre Kunst. Man mag
eines epochalen Übergangs von der Schriftkultur zu einer Zivilisation der Zweifel anmelden, ob die reisenden Maler/innen wirklich – wie Thornton
Bilder aus. Anders als noch die Kunsthistoriker/innen der Bände über The meint – von allen politischen wie sozialen (d. h. rassistischen) Vorurteilen
Image of the Black in Western Art vertritt Memmi die Auffassung, dass es sich und Stereotypen gegenüber Afrika und den dort Lebenden frei waren und

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sich nur der Faszination der Farben und Formen hingegeben haben; un- sich dem breiten Publikumsgeschmack zu unterwerfen: „Die Ethnographie
zweifelhaft ist aber schon bei der bloßen Betrachtung der Bilder der bestim- verführt den Maler allzu leicht zu einer gefälligen und flachen Darstel-
mende Eindruck, dass sich die Maler/innen sehr viel stärker auf die von ih- lung.“15 Die Herausgeber/innen des Katalogs von 2004 sehen ihn dennoch
nen dargestellten Menschen ‚eingelassen‘ haben (sicher auch weit mehr Zeit gefangen in den Zwängen eines kolonialen Global-Diskurses, als einen „ko-
für ein Bild gebraucht haben) als die Photograph/inn/en. lonialen Maler wider Willen“. Trotz seines Bemühens, dem ‚Anderen‘ in
Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man das Werk eines dieser seiner Einzigartigkeit und Besonderheit gerecht zu werden, konnte die Re-
an Afrika interessierten Maler-Reisenden im Besonderen und aus der Nähe zeption seiner Bilder nicht anders als im Rahmen eines vom Kolonialismus
betrachtet. Etwa die Bilder des 1887 in Sankt Petersburg geborenen russi- bestimmten Alteritäts-Diskurses erfolgen.
schen Malers Alexandre Iacovleff, der sich seit 1920 in Paris niedergelassen Die starke, fast dominante, Fokussierung auf die (im wörtlichen Sinne)
hatte und u. a. als ‚offizieller‘ Maler an der Croisière Noire, der „Mission Bilder Afrikas und der Afrikaner/innen im letzten Jahrzehnt konnte nicht
Citroën Centre Afrique“ (1924–1925), teilgenommen hat. Die Mono- ohne Wirkung auf die primär textbezogenen Analysen der Historikerinnen
graphie, die ihm Caroline Haardt de La Baume (eine Enkelin des Leiters und Literaturwissenschaftler bleiben. Kamen die historischen Darstellungen
der Croisière Noire) widmet, Alexandre Iacovleff, l’Artiste Voyageur und der von Curtin, Bitterli und Medeiros ebenso wie die literaturwissenschaftlich-
Ausstellungskatalog, Alexandre Iacovleff, Itinérances, des „Musée des Années ‚imagologischen‘ Darstellungen von Mercier, Steins, Sadji u. a. noch gänz-
30“ der Pariser Vorstadt Boulogne-Billancourt (31. März – 14. September lich ohne (oder nur mit einem sehr sparsamen) Bildteil aus, können und
2004) zeigen auf zahlreichen Porträts afrikanischer Menschen den Respekt wollen die seit den 1990er Jahren erscheinenden Studien auf eine umfängli-
vor deren individueller Persönlichkeit und eine Betonung körperlicher che Bilddokumentation nicht verzichten. Die im Hamburger Institut für
Schönheit und Würde. Nicht nur Porträts politischer Berühmtheiten wie Sozialforschung entstandene Untersuchung von Peter Martin, Schwarze
des äthiopischen Kaisers Haile Selassie oder von regionalen Herrschern tra- Teufel, edle Mohren – Afrikaner in Bewusstsein und Geschichte der Deutschen
gen als Bildunterschrift die Namen der Abgebildeten, sondern auch ‚einfa- präsentiert nicht nur im laufenden Text zahlreich Illustrationen, sie wartet
che‘ afrikanische Menschen, Frauen und Männer, sind mit ihrem Namen auch mit einem reichhaltigen farbigen Bildteil (29 Tafeln) auf. Anders wäre
präsentiert: „Daboa, junges Sara-Mädchen“, „Aoua, Banda-Frau“, „Sara, auch ein wesentliches Ziel des Autors, der seine Arbeit als „historische Ar-
der Pfadfinder“, „Molendé, die Mangbétou-Frau“ u. a., wo die koloniale chäologie“ versteht, kaum zu vermitteln und zu veranschaulichen,
Photographie sich in aller Regel mit Bildunterschriften wie „Typ des Stam-
warum die Schwarzen meistens als Objekte, selten dagegen als Subjek-
mes X…“ oder „schwarze Schönheit“ begnügte. Wir erinnern uns, dass auch
te in der deutschen Geschichte erscheinen und warum man ihnen […]
Dürer sein Porträt einer Afrikanerin aus dem Jahr 1521 mit der Legende
Jahrhunderte lang jenen ins Auge springenden, eigentümlich stereoty-
„Katharina alt 20 Jar“ versehen hatte. Beginnt nicht der Respekt vor dem/
pen Anstrich verlieh, jenes maskenhaft Unpersönliche, dem jede Indivi-
der ‚Anderen‘ mit der Nennung und Anerkennung seines/ihres Namens,
dualität fremd ist und das auch dem Bild des Afrikaners in Literatur und
wäre es auch nur der Vorname? Wissenschaft, in Kunst und Folklore anhaftete.16
Gewiss: Ob sie es wollten oder nicht, auch die besten Maler/innen der
Kolonialzeit konnten sich dem Einfluss und der ‚Vereinnahmung‘ durch die Die primär literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Susanne Gehrmann
offizielle Kolonialpolitik und Propaganda nicht völlig entziehen. Iacovleff über die Kongo-Greuel (2003) und die Studie von Sylvère Mbondobari, Ar-
hat sich in Interviews gegen eine solche Vereinnahmung zur Wehr gesetzt – chäologie eines modernen Mythos. Albert Schweitzers Nachruhm in europäi-
und die Tatsache, dass er den kolonialismuskritischen Roman Batouala von schen und afrikanischen Text- und Bildmedien verfügen nicht nur über einen
René Maran in einer Luxusausgabe eindringlich illustriert hat, spricht für Bildteil, sondern beziehen diesen auch explizit in ihre Analysen ein. So re-
sich – und sehr wohl erkannt, dass die ethnographische Malerei, in der Tra- flektiert das siebte Kapitel, „Ikonographie der Kongo-Greuel“, bei Gehr-
dition des alten Exotismus und Orientalismus – allzu leicht versucht war, mann einleitend über „Photographie und Kolonialismus“ und behandelt

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nachfolgend „Das Photoalbum des Etat Indépendant du Congo“, „Die Opfer Peter Ripken
im Bild“ und „Léopold II. in der zeitgenössischen Karikatur“. Es ist ersicht- Afrikas Literaturen in Deutschland – ein weites Feld
lich, dass bei einem Verzicht auf das Bildmaterial eine wichtige Dimension
für das Verständnis eines weltweit geführten kolonialkritischen Diskurses
fehlen würde. Wie Gehrmann mit Recht feststellt, erschließt sich für die Peter Ripken, geboren 1942 in Bielsko-Biala/Polen, arbeitete nach
Mehrzahl der Europäer/innen die koloniale Welt nicht vorrangig durch das dem Studium in der personellen Entwicklungshilfe in Afrika. Er war
gedruckte Wort, sondern durch die „visuellen Impulse bildlicher Darstellun- Mitbegründer der bundesdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung und
gen der in der Ferne eroberten Länder und ihrer Bewohner in der Photo- leitete die Informationsstelle Südliches Afrika (issa). Seit 1987 ist er
graphie und den lebenden Tableaus der Kolonialausstellungen“17. Und zu Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus
Albert Schweitzer als „semiologisches System“18 gehört ganz selbstverständ- Afrika, Asien und Lateinamerika e. V. in Frankfurt/Main. Peter Ripken
lich auch seine Ikonographie. Pointiert könnte man sagen: eine ‚imagologi- ist Autor zahlreicher Zeitschriftenaufsätze. Zudem hat er eine Reihe
sche‘ Studie kann heute auf (reales) Bildmaterial nicht mehr verzichten. von Büchern herausgegeben und mitverfasst. Dazu gehören u. a.
Sowohl die Literaturwissenschaft als auch die Historiographie tragen Die Literatur Schwarzafrikas. Ein Lexikon der Autorinnen und Autoren
dieser Entwicklung in ihrer Theoriebildung Rechnung. Manfred Schmeling (hg. mit Holger Ehling), Perlen Afrikas. Das neue Afrikanissimo-Lese-
und Monika Schmitz-Emans schreiben in der Einleitung zu dem von ihnen buch (hg. mit Ruth Kumpmann) und Antilopenmond. Liebesgedichte
herausgegebenen Band über Das visuelle Gedächtnis der Literatur: „Die Li- aus Afrika (hg. mit Veronique Tadjo).
teratur und die Bilder haben einander wechselseitig ‚im Gedächtnis‘ – sie Der Literaturwissenschaftler und Journalist hat sich besonders
halten gleichsam aneinander fest – und arbeiten aktiv an und mit dem, was als Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Literatur
sie wechselseitig von einander speichern.“19 Hélène d’Almeida-Topor und aus Afrika, Asien und Lateinamerika Meriten erworben. Mit großem
Michel Sève vertreten einleitend zu dem von ihnen herausgegebenen Band Engagement setzt er sich unermüdlich für die Vermittlung zwischen
über L’Historien et l’Image die Auffassung, dass der Rückgriff auf Bildmate- den Literaturen dieser Weltgegenden und deutschsprachigen Ver-
rial (historisch-dokumentarischem wie von Historiker/innen selbst angefer- lagen und Lesern und Leserinnen ein. Etliche afrikanische Schrift-
tigtem, z. B. graphische Darstellungen, ‚Schaubilder‘) in der Geschichtswis- steller und Schriftstellerinnen wurden von ihm für das deutsch-
senschaft von Tag zu Tag zunehme und dass es deshalb an der Zeit sei, den sprachige Publikum entdeckt. Einige, wie etwa die Algerierin Assia
oft ‚intuitiven‘ und unreflektierten Gebrauch der Bilder einer sowohl histo- Djebar, sind mittlerweile auch mit wichtigen literarischen Preisen
rischen als auch methodologischen Reflexion zu unterwerfen und von Fall ausgezeichnet worden. Jährlich ist Peter Ripken auf der Frankfurter
zu Fall genau zu begründen. Buchmesse anzutreffen, auf der er im Rahmen des Internationalen
Rückblickend kann man vielleicht sagen, dass die frühen literaturwis- Zentrums Begegnungen und Debatten mit afrikanischen Autoren
senschaftlich-‚imagologischen‘ Studien gleichzeitig eine Lücke und ein Ver- und Autorinnen ermöglicht. Unter den literarischen Stars, die von
sprechen enthielten, das über die letzten Jahrzehnte und verstärkt in den ihm auf der Messe vorgestellt wurden, befänden sind u. a. Chenjerai
1990er Jahren eingelöst wurde: Das Versprechen, irgendwann einmal die Hove und Yvonne Vera aus Zimbabwe. Darüber hinaus hat Peter
‚Bild‘-Metapher beim Wort zu nehmen und den ‚mentalen‘ Bildern die ‚re- Ripken immer ein offenes Ohr für den wissenschaftlichen Nach-
alen‘ Bilder an die Seite zu stellen, in der Erwartung, dass sie sich nicht nur wuchs und unterstützt diesen mit wertvollen kritischen Hinweisen
in dem ergänzen, was sie „wechselseitig von einander speichern“, sondern und mit der Bereitstellung des umfangreichen Archivs der Gesell-
dass sie – und wir – auch wechselseitig voneinander lernen. schaft. Ein wichtiges und zentrales Anliegen ist es ihm, mit Hilfe
der Literatur den Menschen in Deutschland Einblicke in Debatten
und Ansätze afrikanischer Intellektueller und Gesellschaften zu ge-

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währen und die gängigen Stereotypen von Afrika in Frage zu stel- auf die Reihe gebracht hat. Zu den oft zitierten Namen, die natürlich sehr
len. unterschiedlich zu charakterisieren wären, wie Janheinz Jahn, Rolf Italaan-
Kerstin Bolzt der, Al Imfeld, Gerd Meuer, Armin Kerker oder Klaus Kreimeier gehört
dann natürlich auch Eckhard Breitinger, der unauslöschlich mit der Univer-
Afrikas vielfältige Literaturen haben weltweit Anerkennung gefunden, so sität Bayreuth verbunden ist, deren Nennung als Zentrum deutscher Afri-
tönt es allenthalben, afrikanische Autoren und Autorinnen werden immer ka-Forschung freilich nicht nur immerwährende Begeisterung hervorruft
wieder mit Auszeichnungen bedacht, wenn auch mehr in Europa als in Af- (derweil der Name Breitinger eher zu den unkontroversen Bayreuther Na-
rika selbst. Auch in Deutschland finden Romane und Erzählungen aus Afri- men gehört). Bei den Verlegern sind es dann schon wieder sehr viel weniger
ka begeisterte Leser und Leserinnen, auch wenn es sich nicht um ein Milli- Namen, die in diesem Zusammenhang im Vordergrund standen: Hermann
onenpublikum handelt. Schulz vom Peter Hammer Verlag gehört dazu, auch Lucien Leitess vom
Doch häufiger als bei Büchern von anderen Kontinenten wird immer Züricher Unionsverlag, dann sehr viel später auch Ilija Trojanow. Zu nen-
wieder gefragt: Was erzählt afrikanische Literatur heute uns Menschen in nen wären dann hier die Übersetzerinnen und Übersetzer, ohne die viele
Europa nun eigentlich von afrikanischer Wirklichkeit? Wo finden in afrika- Bücher gar nicht ans deutsche Lesepublikum gelangt wären. Und wo blei-
nischer Literatur heute die großen kulturellen Traditionen des Kontinents ben diejenigen, die allgemein als Afrikanisten und Afrikanistinnen bezeich-
und auch seine aktuellen Konflikte ihren Ort? Welches Bild Afrikas vermit- net werden? Das auffälligste Kennzeichen der Rezeption zeitgenössischer Li-
telt afrikanische Literatur, so wie wir sie wahrnehmen können? Wie gehen teratur aus Afrika, gleich welcher Region oder Sprache, in Deutschland ist
wir hier zu Lande damit um, dass Afrika immer wieder als Einheit gesehen die Abwesenheit von Hochschullehrern (die Ausnahmen werden hier im-
wird, andererseits aber viele unterschiedliche Kulturen aufweist, viele ver- mer gleich mitgedacht, aber hier nicht genannt). Diejenigen, die sich in den
schiedene Sprachen spricht, also keineswegs homogen ist, so wenig wie Eu- letzten 40 Jahren wissenschaftlich an deutschen Hochschulen mit den Lite-
ropa homogen ist? raturen Afrikas beschäftigt haben, spielten bei der Vermittlung afrikani-
Die Annäherung an diese Phänomene ist möglich auf sehr unterschied- scher Literatur an deutsche Verlage und damit letztlich auch an deutsche Le-
liche Weise. Fragen sind angebracht. Es soll Menschen geben in Europa, die ser und Leserinnen keine nennenswerte Rolle.
sich Afrika nur als Lesende erobern, die sich durch die kritische Lektüre von Ein anderer Zugang wäre, sich stärker an den Themen und Tendenzen
möglichst vielen Texten von Autor/inn/en afrikanischer Herkunft Auf- der afrikanischen Literatur selbst zu orientieren, wobei es dann schon wie-
schlüsse erhoffen auf oft noch kaum gestellte Fragen. Dann gibt es natür- der weniger Namen in deutschsprachigen Landen gibt, die sich da hervor-
lich diejenigen, die die Lektüre verbinden mit vielen Aspekten der eigenen getan haben in den letzten 40 Jahren. Janheinz Jahn mit Schwarzer Orpheus
Anschauung. Da schreibt jemand eine Dissertation über den Roman in ist da zu nennen, dessen Einfluss geradezu legendär ist, gerade weil er oft ge-
Ghana, aber erst dann wird die Sache persönlich rund, wenn die Arbeit nug missverstanden worden ist. Aber auch Al Imfeld darf nicht fehlen, der
nach mehrmonatigem Aufenthalt in Ghana vollendet wird. neben vielen Aufsätzen zwei wichtige Bände veröffentlicht hat, die zum
Die Wege, sich afrikanischen Literaturen anzunähern, sind in der Tat Afrika-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1980 Akzente setzten. Dass
vielfältig. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich zudem mit einiger bei all diesen Analysen das Problem des Genres nicht zu kurz kam, ist im
Muße zurückblicken auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Ge- Wesentlichen fast nur Eckhard Breitinger zu verdanken, der wie kein ande-
schichte der nicht ganz einfachen Rezeption afrikanischer Literaturen in rer (Wolfgang Zimmer in Saarbrücken sei für das frankophone afrikanische
Deutschland heute lässt sich also durchaus auf unterschiedliche Weise Theater die generös zugestandene Ausnahme) dem Theater Afrikas nicht
schreiben. nur eine Gasse bereitet, sondern auch eine Plattform geboten hat. Dass er
Für eine Festschrift könnte es sich gehören, ganz einfach festzuhalten, dabei neben der Kunst die Absichten, die mit Kunst verbunden waren,
welche Personen welche Einflüsse ausgeübt haben, wer was wann mit Erfolg nicht vergessen hat, dass er also immer auch Theater für Entwicklung im

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Blick behielt und einschlägige Verbindungen stiftete, kann ihm gar nicht heit für sie. Lesen verbindet man mit Luxus, betrachtet man noch nicht
hoch genug angerechnet werden. als ernsthaften Bestandteil der Kultur.1
„Afrika gibt es nicht!“ So lautete vor Jahren der Titel eines Buches ein-
fühlsamer Reportagen eines Schweizers nach vielen Jahren als Auslandskor- Die Wohlhabenderen, die sich Bücher leisten könnten, haben andere Wer-
respondent. In der Tat: Viele Menschen in Europa haben den Kontinent te, so wie in Nigeria, wo nicht mehr Bildung, Wissen, Kultur und Kreativi-
Afrika abgeschrieben, weil es einfach mehr Krisen, Katastrophen und Krie- tät gesellschaftliche Leitvorstellungen symbolisieren, sondern Besitz, Macht
ge in vielen Regionen Afrikas gibt, als man gemeinhin in Europa verkraften und die Strategie des „get rich quick“. Und trotzdem gibt es Millionen be-
kann. Politisch und wirtschaftlich ist Afrika in der Tat seit langem im Ab- sonders junger Menschen, die nicht nur für die Schule oder Examina lesen,
seits, auch wenn immer wieder von einer afrikanischen Renaissance geredet die ‚ihre‘ Autor/inn/en verehren, selbst wenn sie sich deren Bücher nur un-
wird, wobei die Protagonisten einer solchen Renaissance selbst durchaus ter Mühen beschaffen können, z. B. aus oft vernachlässigten oder zufällig
umstrittene politische Figuren sind wie Südafrikas Thabo Mbeki oder Ni- bestückten Bibliotheken. Das Wort ‚book famine‘, das in der Diskussion
gerias Olusegun Obasanjo. über das Buch in Afrika immer wieder ins Feld geführt wird, heißt eben
Gerade gegen diese Zustandsbeschreibung melden sich die meisten Au- auch, dass die Leute lesen wollen, aber ihren Lesehunger nicht unbedingt
toren und Autorinnen Afrikas zu Wort, sie wehren sich vehement gegen fal- befriedigen können.
sche Zuschreibungen, gegen Missverständnisse, leiden darunter, dass Eu- Die zeitgenössische Literatur Afrikas ist in einer geradezu pervers ent-
ropa so viele eigenartige Vorstellungen auf Afrika und auch auf Afrikas fremdeten Lage. Nicht nur die Autoren und Autorinnen, die nicht in ihrer
Literaturen projiziert. Beispielhaft hier, dass Chinua Achebe, einer der Gro- Heimat leben (wie Wole Soyinka, Nuruddin Farah, Ben Okri, Tierno
ßen der neueren afrikanischen Literatur, immer wieder bekannt hat, er habe Monénembo, Buchi Emecheta, Calixthe Beyala) lassen ihre Bücher in Ver-
seinen Roman Things Fall Apart vor allem deswegen geschrieben, weil ihm lagen in Paris oder London erscheinen; auch für viele Schriftsteller und
das Bild Afrikas in einem Roman des längst vergessenen englischen Autors Schriftstellerinnen in welchem afrikanischen Land auch immer ist es er-
Joyce Cary übel aufgestoßen sei. strebenswert, in Europa in großen Verlagen verlegt zu werden. So finden sie
Die Aufgabe der Autor/inn/en wird nicht eben leichter dadurch, dass ihre Leserschaft überwiegend in Europa und Nordamerika, weil nicht allzu
das Buch in den meisten Ländern einen schweren Stand hat. Afrika ist der oft erschwingliche Lizenzausgaben ihrer Werke in ihren Heimatländern er-
Kontinent mit der weltweit geringsten Buchproduktion pro Kopf der Bevöl- scheinen, weil die importierten Originalausgaben selbstverständlich uner-
kerung. Weniger als 2,5 Prozent der Bücher weltweit werden in Afrika ge- schwinglich wären. Selbst der Roman Bones von Chenjerai Hove, zuerst in
druckt. Das Verlagswesen darbt in vielen Ländern, in manchen Staaten Hoves Heimat Zimbabwe erschienen, erreichte nur ein Zehntel seiner welt-
Afrikas gibt es nur kleine Schulbuchproduzenten, die sich abkämpfen gegen weiten Gesamtauflage auf dem afrikanischen Kontinent. Doch derlei be-
die Übermacht der transnationalen Buchproduzenten aus England, Frank- drückende Lagebeschreibungen lassen leicht übersehen, wie lebendig der li-
reich oder den USA, die die meisten Ausschreibungen unter sich ausma- terarische Kontinent trotz allem ist.
chen. Die Literatur des Landes, von einheimischen Autor/inn/en „against Wichtiger Quell, auch für geschriebene Literatur, ist dabei immer noch
the odds“ produziert, hat da oft keine Chance. „Läuft die Wirtschaft“, so die orale Literatur, oft auch verkürzt Oratur genannt, auch wenn Literatur
der nigerianische Autor Ben Okri, sich auch aus anderen Quellen speist. Orale Literaturen sprechen vom gan-
zen Menschen, über seine Beziehung zu den Göttern und zu den Ahnen,
dann folgt bald ein gutes Verlagswesen, und dann beginnen die Men- über die Beziehungen der Menschen untereinander, über die Intimität zwi-
schen zu lesen. Wenn sich die Menschen aber vor allem darum küm- schen Mensch und Natur, über die Zyklen des Lebens, über den Raum, den
mern müssen, ihr tägliches Brot zu bekommen und einen Platz zum die Lebenden und die Toten miteinander teilen. Sie bewahren Geschichte,
Wohnen, dann ist das Lesen von Büchern die unwichtigste Angelegen- lehren Tugend und sprechen Recht. Bis heute gilt: Das Wort ist magisch,

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und besonders ein Alter, der eine im Grunde bekannte Geschichte auf neue, schen im Dorf das erzählt, was erzählens- und aufbewahrenswert ist, Erzäh-
interessante Weise erzählen kann, wird hochgeschätzt. „Mit jedem Greis, lungen also unterm Baobab, haben heute sicher an Relevanz eingebüßt,
der stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Dieser Satz des großen Weisen der doch zugleich haben sie sich auch neue Räume erobert, wie interessante, lei-
afrikanischen Literatur, dem um 1900 im westafrikanischen Mali gebore- der viel zu seltene Programme in Radio und Fernsehen und Theaterproduk-
nen Amadou Hampâté Bâ, der nach einem vollen Leben von Arbeit an der tionen auf der Straße und in Dörfern zeigen.
Sammlung von Geschichten und Legenden, den oralen Literaturen der Letztlich hat der moderne afrikanische Roman komplexe Wurzeln, in
westafrikanischen Völker, 1991 starb, ist auch heute noch programmatisch Europa wie in Afrika, in der schriftlichen wie der oralen Erzähltradition.
für einen wichtigen Strom der Literaturen Afrikas. Dabei hat er seine diversen Einflüsse vielfach gebrochen und innoviert. So
Doch Afrikas Autor/inn/en beziehen sich nicht nur auf orale Traditio- erzählen etwa die wichtigsten Autor/inn/en heute nicht mehr ‚geschichten-
nen. Immer wieder steht besonders hierzulande die Frage im Raum, warum förmig‘; auch in Afrika hat die ‚Geschichtendestruktion‘, die den modernen
sie in der Sprache der kolonialen Vergangenheit schreiben, die doch von den Roman seit Musil kennzeichnet, ihren Ort. Wo sich ‚Geschichte‘ zersetzt,
meisten Menschen in ihrem Land kaum gesprochen, geschweige denn gele- als Zerfall von Ordnung zeigt, lassen sich eben nicht mehr so einfach ‚Ge-
sen wird. Typisch die Antwort des Sängers und Romanciers Francis Bebey, schichten‘ wie unter dem Baobab-Baum ‚erzählen‘, wie das früher möglich
der das Französische verteidigt: „Seien wir ehrlich: Meine Muttersprache gewesen sein mag. Season of Anomy ist der programmatische Titel eines
Duala wird von 300.000 Menschen gesprochen. Wenn ich in Duala schrie- wichtigen Romans des Nobelpreisträgers Wole Soyinka: es lässt sich wohl
be, hätte ich kaum 200 Leser. Wenn ich Französisch benutze, trage ich dazu nur parabelhaft von einer Zeit der ‚Gesetzlosigkeit‘ erzählen, die in Afrika
bei, unsere Welt der übrigen Welt bekannt zu machen.“2 wütet. Sony Labou Tansi kann in dem Roman La vie et demie, der wie kaum
Die Frage lässt sich auch andersherum formulieren: „Wie aus einer afri- ein anderer ‚stilbildend‘ war und Nachahmer fand, nur in phantasmago-
kanischen Sprache übersetzen?“ Ngugi wa Thiong’o aus Kenia schreibt, wie risch-allegorischer Übertreibung erzählen, was Diktatur bedeutet. Ahma-
er seit langem zu erklären nicht müde wird, in seiner Muttersprache Gi- dou Kourouma baut seinen Roman En attendant le vote des bêtes sauvages
kuyu. Aber wer übersetzt aus dem Gikuyu ins Deutsche oder Französische? um die großen Diktatoren Afrikas so auf, dass er ‚traditionelle‘ Barden und
Seinen eminent politischen Roman Matigari über eine messianische Hel- Hofschranzen in sechs Nächten in geradezu grotesker Mündlichkeit die
denfigur können wir nur lesen, weil der Autor die Übersetzungen seiner Ro- verwickelten Geschichten von Herrschern und Despoten noch einmal nach-
mane ins Englische befördert hat; eine Übersetzung aus dem Gikuyu wäre erzählen lässt und dabei ein breites, beinahe satirisches Panorama der typi-
ein höchst aufwändiges Unterfangen gewesen. Es ist kein Wunder, dass die schen afrikanischen Diktatoren entfaltet.
meisten Bücher afrikanischer Autoren und Autorinnen, die wir hierzulande Viele Texte afrikanischer Autoren und Autorinnen kennzeichnet die
wahrnehmen, aus dem Englischen, Französischen oder Portugiesischen über- komplexe Mischung von erzählenden Elementen mit lyrischen Einspreng-
setzt sind. seln, die oft aus der Bilderwelt afrikanischer Kosmogonien stammen, eine
Besonders der Roman – das Genre, das Europas Literaturen groß ge- Verfahrensweise, die als durchaus ‚modern‘ erscheint. Bezeichnend ist da-
macht hat – verdankt in Afrika wesentliche Impulse dem realistischen bei, wie mit der Volksweisheit aus Sprichwörtern und Redewendungen um-
Roman Europas des 19. Jahrhunderts, zumal die wichtigsten Romane afri- gegangen wird: sie erscheint oft als Sentenz, als zitiertes Sprichwort, als auf-
kanischer Autoren erst in den letzten 50 Jahren entstanden sind. Ist der afri- gesetzt auf einen Text, der in gepflegter Literatur-Sprache daherkommen
kanische Roman, nachlesbar u. a. in den Werken von Wole Soyinka, Chi- mag. Aufregend wird es dort, wo z. B. in Chenjerai Hoves Romanen Bones
nua Achebe, Sembène Ousmane, Ngugi wa Thiong’o oder Nuruddin und Shadows die ‚fremde‘ Literatursprache gewissermaßen gereinigt und
Farah, also Produkt einer Art ‚nachholender Modernisierung‘? Oder ist die Muttersprache chiShona künstlerisch genutzt wird. Herausgekommen
‚afrikanisches‘ Erzählen doch eher eine Variante der Oratur, des Geschich- ist in Bones durch die Verbindung von Geschriebenem und Gesprochenem
tenerzählens unter dem Baobab-Baum? Der weise Alte, der den jungen Men- (Oratur) ein neuer Rhythmus. Es sind aufgeschrieben die Stimmen derje-

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nigen, die die Heldin Marita, eine einfache, aber starke Frau und Landar- Autor Meja Mwangi, der schon früh einen kritisch-ironischen Blick auf die
beiterin, auf der Suche nach ihrem einzigen Sohn, der sich den Befreiungs- Großstadt richtete, wendet sich mit The Last Plague einem der wichtigsten
kämpfern angeschlossen hat, beschwören; Volksweisheit wird nicht als Sen- zeitgenössischen Problemen Afrikas zu: Auf spannende Weise erzählt er
tenz nur zitiert, sondern in die Erzählweise so eingebaut, dass in der vom Kampf gegen AIDS. So wie er tun das übrigens mehr und mehr Auto-
Erinnerung kaum Vergangenes zu Neuem gerinnt: Geschichte nicht als ren und besonders Autorinnen, wobei die meisten Romane und Lebens-
Schilderung der Abfolge von Ereignissen, sondern als vielfältige Brechung zeugnisse zu diesem Thema ihre erzieherische, aufklärerische Absicht kaum
der Erfahrung von Menschen. Auch Yvonne Vera (Zimbabwe) schafft in ih- verhehlen, also auch oft nicht die Grenzen eines Landes oder einer Kultur
ren Romanen Nehanda und Without a Name eine neue poetische Sprache, überschreiten.
indem sie auch aus ‚traditionellen‘ Bilderwelten schöpft, sie aber gewisser- Dem 1995 hingerichteten Ken Saro-Wiwa geht es in seinem Roman
maßen gegen den Strich bürstet: So entsteht in Veras Roman aus der legen- Sozaboy um nichts weniger als eine falsche naive Kriegsbegeisterung, die
dären Nationalheldin Nehanda, die für das unabhängige Zimbabwe einen das Unglück Nigerias noch beschleunigte. Auch der Kampf gegen Apar-
beinahe nationalen, konstituierenden Mythos darstellt, eine verletzliche theid oder Weiße, in ihrer Ausprägung als Siedlerkolonialist/inn/en, ist im-
Person, aber zugleich ein neuer Mythos. mer wieder zentraler Stoff, wie bei Shimmer Chinodya mit Harvest of Thorns
Anders als in Frankreich oder Deutschland, wo Innerlichkeit, Ich-Be- oder Chenjerai Hove mit Bones, die beide jeglicher Heroisierung des Befrei-
zogenheit und Personenzentriertheit die Literatur der letzten Jahrzehnte ungskampfes abhold sind.
prägte, ist die Literatur Afrikas eng an den Gang der neueren Geschichte ge- Die vielleicht zukunftsträchtigste Tendenz des neuen Schreibens in Afri-
bunden. Die bedeutendsten Autor/inn/en Afrikas haben die Unabhängig- ka verläuft eher quer zum von offizieller Politik dominierten Diskurs: mehr
keit vom kolonialen Joch mit ‘herbeigeschrieben‘, haben auch den Auf- und mehr schaffen Frauen sich selbst die Bedingungen dafür, sich auch li-
bruch neuer Staaten und Gesellschaften literarisch vorweggenommen; viele terarisch auszudrücken. Tsitsi Dangarembga mit Nervous Conditions und
haben früh verhängnisvolle Fehlentwicklungen der neuen Staaten und Ge- Yvonne Vera aus Zimbabwe und Zaynab Alkali mit ihrem Roman The Still-
sellschaften in Romanen, Gedichten oder Essays aufgezeigt: exemplarisch born aus dem Norden Nigerias sind dafür beredte Beispiele. Sie schreiben
Ayi Kwei Armah (Ghana) mit The Beautyful Ones Are Not Yet Born, einer aus einer besonderen Perspektive, erzählen vom Schicksal von Frauen. Doch
schonungslosen Abrechnung mit der Diktatur Kwame Nkrumahs. wird die allgemeine Perspektive von zerstörerischen Gesellschaftsordnun-
Eine vorübergehende Allianz mit der Politik hat sich längst aufgelöst in gen und Werthaltungen immer deutlich. Auch Buchi Emecheta, die welt-
mehr oder minder freiwilliges Exil, in dem viele afrikanische Autoren und weit wohl erfolgreichste afrikanische Autorin, erzählt lebendig von starken
Autorinnen einen neuen Ort ihrer literarischen Betätigung zu finden haben. Frauen, gerade wenn diese z. B. im heutigen England hart kämpfen müs-
Immer wieder haben sie sich dabei den ‚großen‘ Themen zugewandt. sen. Dabei wird das, was früher ein klassisches Männerthema war, nämlich
Dazu gehört der Platz, der der europäischen ‚Zivilisation‘, die den meisten die Thematik dessen, der vom reichen Norden träumt und in der unwirtli-
Afrikaner/innen nur als brutale Kolonisierung entgegentrat, in Afrika zu- chen Kälte und rassistischen Umständen landet, auf interessante Weise
kam und zukommt. In den frühen Romanen z. B. von Chinua Achebe weiblich gewendet. Auch die Rückkehr aus Europa (über lange Zeit in der
(Things Fall Apart), bei Cheikh Hamidou Kane (L’aventure ambiguë), bei Form der ‚been-tos‘ wichtiges Thema vieler Autoren) wird bei Buchi Eme-
Ahmadou Kourouma in seinem Roman Le Soleil des indépendances geht es cheta auf neue Weise erzählt: das Nigeria von heute, in das die Heldin des
immer wieder – in der Auseinandersetzung um Kolonialismus und seine Romans Kehinde zurückkehrt, entpuppt sich als keineswegs wirtlicher Ort.
Folgen – letztlich um den Zusammenprall epochaler Kräfte. Ama Ata Aidoo (Ghana) scheut sich dann sogar nicht, mit Changes einen
So übt der Filmemacher und Romancier Sembène Ousmane in Xala ironischen, ja feministischen Liebesroman in einem modernen, großstäd-
und Guelwaar scharfe Kritik an afrikanischem Obskurantismus und der In- tischen Milieu vorzulegen, wobei sie durchaus die Vorstellung von Fraue-
toleranz zwischen den verschiedenen Religionsgruppen. Der kenianische nemanzipation und ‚starken Frauen‘ in Frage stellt. Noch immer ist für vie-

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le Männer in Afrika und Europa die gebildete, selbstbewusste Afrikanerin, bik lässt Mia Couto Personen auferstehen, die sich ihre Träume nicht zuletzt
die auch noch schreibt, eine Provokation: So wurde die in Paris lebende Ka- dadurch bewahren, dass sie sich in einer neuen Sprache mit der schreckli-
merunerin Calixthe Beyala (Les honneurs perdus, 1996) ganz einfach des chen Wirklichkeit auseinandersetzen.
Plagiats (bei Ben Okri) geziehen, als sich die Kritiker ihren Erfolg beim Heute beschreiten die literarischen Enkel der großen Alten wie Achebe,
französischen Lesepublikum nicht so recht erklären konnten. Viele dieser Senghor, Camara Laye oder Amadou Hampâté Bâ neue Pfade, stellen sich
neuen afrikanischen Autoren und Autorinnen, die in Europa leben und in der großen Aufgabe, die neuen Wirklichkeiten, die vielleicht auch die alten
England oder Frankreich publizieren und Anerkennung finden, sind kaum sind, literarisch zu erfassen. In der Diskussion über Afrikas Literaturen, so
in andere Sprachen übersetzt, weil der Bezug zu ihrem Aufenthaltsland in wie sie in Europa und Nordamerika eifrig blüht, werden für diese ‚neuen
ihren Texten eine gewisse Barriere darstellt. alten Unübersichtlichkeiten‘ passende Schlagwörter gesucht. Abdurahman
Die 1980er Jahre sind oft als Zeit der literarischen Dürre in Afrika be- Waberi, Erzähler skurriler Geschichten aus Djibouti (Le Pays sans ombre/
schrieben worden; viele Autor/inn/en schwiegen, neue Talente waren kaum Cahier nomade), der seit vielen Jahren in Frankreich lebt, spricht von einer
in Sicht. Doch in den 1990er Jahren gibt es plötzlich neue Stimmen. Ben „Bastardgeneration“, andere von der „Generation nach der Dekolonialisie-
Okri nähert sich mit seinen Romanen Famished Road und Dangerous Love rung“. Eines ist vielen der Jungen gemein: Sie leben im Ausland und fiktio-
dem in Lateinamerika erfolgreichen Rezept eines ‚magischen Realismus‘ an, nalisieren die ferne Heimat, erarbeiten sich eine eigene literarische Heimat,
greift aber auch auf seinen Landsmann Amos Tutuola zurück, für den die die von der Erinnerung und nicht von einem geteilten und miterlebten All-
Lebenden und die Toten im Reich der Geister wichtiger sind als die schnö- tag lebt. Das Bestreben, solche „Heimatländer der Phantasie“ (Salman
den Realitäten von heute. Syl Cheney-Coker (Sierra Leone) geht in seinem Rushdie) zu erschaffen, das Bedürfnis, das Eigene in die allseits dominante
Roman The Last Harmattan of Alusine Dunbar mit mehrhundertjähriger eurozentrische Kultur einzuschmuggeln, befreit diese Autoren von der Be-
Geschichte eines westafrikanischen Landes so um, dass Wirklichkeit und sessenheit mit Politik, der ihre literarischen Väter und Großväter oft genug
Magie zu einer eigenen literarischen Einheit werden. Emmanuel Dongala erlegen waren. Utopische Erwartungen, die von der Realität der ersten Jahr-
findet in Les petits garçons naissent aussi des étoiles für die Übergänge seines zehnte der Unabhängigkeit so bitter enttäuscht wurden, haben sie nicht
Heimatlandes Kongo von einer marxistisch-leninistischen Diktatur zu ei- mehr. Auch die einfachen klaren Geschichten und sozialengagierten Doku-
ner Art Demokratie, also einem eher klassischen politischen Thema, wieder mente der Vergangenheit sind ihre Sache nicht mehr. So drückt der junge
ganz neue Bilder, witzig, kritisch, satirisch. Nigerianer Biyi Bandele-Thomas in seinen vielschichtig erzählten Romanen
Kojo Laing aus Ghana erfindet in dem Roman Search Sweet Country The Man Who Came In From The Back Of Beyond, The Sympathetic Under-
über die Stadt Accra gar eine neue Sprache: in sein Englisch mischen sich taker and Other Dreams und In London keine Regenzeit das Lebensgefühl
Elemente des Pidgin und vom Autor selbst geschaffene Neologismen, eine entwurzelter nigerianischer Jugendlicher aus, die nur ein völlig anarchisch-
Herausforderung für den Übersetzer und ein Vergnügen für den Leser. Sig- ‚modernes‘ Nigeria und allenfalls noch ein ebenso kaputtes London kennen.
nifikant ist dabei, dass er die Quirligkeit des Großstadtlebens lebendig wer- Achille F. Ngoye mit seinen Krimis aus Paris gehört dazu oder eben auch
den lässt, auch wenn der eine oder andere seiner Protagonisten sentimental Calixthe Beyala, auch wenn sie sehr oft sentimentale Rückbezüge auf ein
von ländlicher Idylle träumt. Diese Dichotomie zwischen Stadt und Land mehr imaginiertes denn reales Kamerun bietet.
ist ohnehin eines der am meisten abgehandelten Themen der neueren afri- Viele jüngere Autoren versuchen sich an Formen, die der komplexen,
kanischen Literatur, wobei zumeist aber die Geschichte wichtiger ist (ein- quirligen, vielfältigen und vielsprachigen Realität des modernen Afrika ent-
schließlich der darin angelegten Moral) als die literarische Form. sprechen. So mischen sich bei zornigen Rap-Poeten wie Lesego Rampolo-
In souveräner Weise und formal ambitioniert geht auch der Mosambi- keng (Südafrika) Anklage mit einem höchst bewussten Rückgriff auf ‚tradi-
kaner Mia Couto in seinem Roman Terra sonâmbula mit dem Portugiesi- tionelle Formen‘, während Chirikure Chirikure aus Zimbabwe seine Lyrik
schen um: In einem schonungslosen Psychogramm des Krieges in Mosam- in seiner Muttersprache chiShona auf witzige Weise mit Gesang vorzutragen

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versteht. Viele dieser literarisch neuen Pfade gelangen schon auf Grund der zu verkünden, sind mehr als Romanautoren engagiert, greifen relevante
Sprachbarriere kaum über die Landesgrenzen hinaus. Doch für die Ent- Themen der Gesellschaft auf, für die sie Stücke schreiben und produzieren.
wicklung einer neuen poetischen Sprache Afrikas sind sie unabdingbar, so Chenjerai Hove, für den die Aufgabe des Autors darin besteht, neue
wie Ende der 60er Jahre Okot p‘Bitek mit seinem ursprünglich in Acholi ge- Formen zu finden, um Freiheit und Hoffnungen zu beschreiben, nimmt
schriebenen Epos Song of Lawino die afrikanische Literatur um eine neue heftigen Anteil an der Debatte um den Niedergang der politischen Kultur in
Dimension bereicherte. seiner Heimat. In seinen Kolumnen Shebeen Tales oder Palaver finish ging es
Es dürfte kein Zufall sein, dass an einem der wichtigsten literarischen ihm darum, durch Literatur ein gewisses Maß an gesundem Menschenver-
Projekt der jüngsten Zeit, dem Projekt Rwanda – Ècrire par devoir de mé- stand (‚sanity‘) ins Leben zu bringen. Eine solche Hoffnung teilt er mit fast
moire gerade Autoren und Autorinnen beteiligt waren, die auch formal neue allen Autor/inn/en Afrikas, auch wenn sie außerhalb des Kontinents leben,
Wege beschreiten, sich andererseits aber auch nicht dem großen Thema ent- wie das für Hove auch seit einigen Jahren zutrifft, weil er in Zimbabwe sich
ziehen konnten, sich literarisch mit dem Völkermord in Ruanda auseinan- seines Lebens nicht mehr recht sicher sein konnte. Als Aufgabe für Literatur
derzusetzen. Für Boubacar Boris Diop, der 2000 über seine Einsichten ei- ist eine solche Programmatik schon einmal nicht wenig.
nen vielbeachteten, aber nicht in andere Sprachen übersetzten Roman Chinua Achebe, der Doyen der afrikanischen Literatur, hat dies unter
Murambi ou le livre des ossements veröffentlichte, führte die Beschäftigung das Leitwort ‚celebration‘ (Feier) gestellt; die moderne afrikanische Litera-
mit einem derart zentralen Thema gar dazu, dass er sich vom Französischen tur sei eine Rückkehr der Feier, was freilich nicht Lob, Preis oder Zustim-
als Literatursprache abwandte und seither nur noch in seiner Muttersprache mung bedeute, da Afrikas Autoren nicht den Herrschenden schmeichelten.
Wolof publiziert.
Auch wenn immer noch ein wichtiger Teil der neueren Literatur Afrikas Die neue Literatur in Afrika ist sich der Möglichkeiten bewußt, Mensch-
lichkeit („humanity“) auf unserem Kontinent zu feiern. Sie ist sich auch
an den politischen Diskurs (der ja zugleich ein eminent kulturpolitischer
dessen bewußt, daß unsere Welt sich immer mehr verschränkt mit den
Diskurs ist) des Kontinents gebunden ist: Als Freibrief, Literatur auf politi-
Welten der anderen. Oder wie es eine der Figuren in Cheik Hamidou
sche Aussagen zu reduzieren, ist dies nicht zu verstehen. Romane und Ge-
Kanes L’aventure ambiguë zu einem Franzosen sagt: ‚Sie und ich, wir ha-
dichte afrikanischer Autor/inn/en sind nicht vornehmlich Dokumente des
ben nicht dieselbe Vergangenheit gehabt, aber wir werden gewiss diesel-
Emanzipationsprozesses, um den Afrika sich müht; sie lassen sich eben be Zukunft haben. Das Zeitalter der einzelnen Schicksale ist vorbei.‘3
nicht lesen als Nachschlagewerke für Befreiungskämpfe oder politische Aus-
einandersetzungen. Zwar sind die bedeutenden Romane von Nuruddin Fa- Das Bild Afrikas, das Menschen hierzulande aus der Lektüre von Texten
rah (Somalia), eines der wichtigsten afrikanischen Autor/inn/en englischer afrikanischer Autor/inn/en gewinnen, ist aber ganz erheblich bestimmt
Sprache, Maps, Secrets und Duniyas Gaben, auch Bücher über die somali- durch einerseits die Leseerwartungshaltungen hier, andererseits durch das,
sche Gesellschaft; aber mehr noch sind sie Romane über psychologische Be- was sie mangels Sprachkenntnissen (und der begrenzten Menge übersetzter
findlichkeiten universeller Art, die wie andere große Romane auch ihren Texte) gar nicht erst kennen lernen können. Der erste Filter sind natürlich
spezifischen Ort haben, von dem aus sie universelle Erfahrungen erzählen. die Verlage und ihre Lektoren und Beraterinnen. Ein Roman, der eine Lek-
Viele afrikanische Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind es zudem torin nicht überzeugt, wird nicht übersetzt, auch wenn umgekehrt gilt, dass
Leid, als literarische Botschafter ihrer Länder angesehen zu werden. Das ist nicht jeder Roman, der einen Lektor begeistert hat, der in deutscher Über-
freilich keine unpolitische Haltung. So mancher Autor mischt sich ein, setzung veröffentlicht wurde, Leserinnen und Leser begeistert.
Wole Soyinka etwa kümmerte sich um die Sicherheit auf den Straßen Nige- Das Phänomen, das hier relevant ist, will ich ‚Projektion‘ nennen.
rias und engagierte sich gerade im Exil gegen die nigerianische Militärdik- Es herrscht bei vielen derjenigen, die sich längere Zeit mit Afrika und
tatur und für Demokratie. Gerade Persönlichkeiten wie Soyinka, die sich besonders seinen kulturellen Phänomenen beschäftigen, die Übereinkunft,
des Dramas in einer durchaus populären Form bedienen, um Botschaften dass in Bezug auf den Kontinent Afrika andere Kriterien gelten als bei dem

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Blick auf Europa (oder etwa Nordamerika, dessen soziokulturelle Besonder- geht hin bis zu der Hoffnung, dass in afrikanischen Gesellschaften noch ein
heiten ja auch viele Menschen nicht kennen, was sie nicht hindert, Romane Heiles, Ganzes waltet, was dann auch in der Literatur aufscheine. Diese Er-
aus dieser fremden US-amerikanischen Welt zu verschlingen). Afrika, das wartung ist nach meiner Beobachtung gerade bei Menschen verbreitet, die
ist für viele Menschen in Deutschland zuerst einmal der Kontinent der Ka- stark im christlichen Glauben wurzeln, aber in der sozialen Umwelt, in der
tastrophen, der Krisen, der Kriege und Putsche, der Hungerkatastrophen, sie hier in Deutschland leben, oft an Gefühlskälte und verfestigten Struktu-
bei denen dann allenfalls Caritas waltet. Das ist ein Bild, das bereits durch ren verzweifeln. Es gibt ja wohl nicht ohne Grund die in Verlegerkreisen
Schulbildung, dann aber besonders durch Medien allerorts transportiert kolportierte Einsicht: „Unsere ideale Gesamtleserin ist die eher protestanti-
und bekräftigt wird. Andererseits gibt es auch Phänomene, die eher das Ge- sche Leserin des Feuilletons der Wochenzeitung DIE ZEIT, aber ein wenig
genteil aufzeigen: Gerade ‚world music‘ aus Afrika füllt Säle auch in kleine- Verzweiflung am Zustand der Welt ist dabei durchaus in Ordnung.“ Gera-
ren Orten, die Zahl der Afro-Festivals hat in den letzten Jahren enorm zu- de diese Menschen, so meine Beobachtung, lesen gern und oft Werke von
genommen, Trommelworkshops von Afrikaner/inne/n (die freilich nicht Schriftsteller/inne/n aus Afrika – sind aber oft auch frustriert, weil die
unbedingt gute Trommler/innen sein müssen) erfreuen sich wachsender Texte, die sie in der übersetzten Wirklichkeit vorfinden, nicht das transpor-
Beliebtheit und ernähren so manchen afrikanischen Einwanderer und man- tieren, was sie sich erhofft hatten. Denn die Romane etwa von Wole Soyin-
che afrikanische Einwanderin, der oder die eigentlich lieber Ingenieurin ka, Sony Labou Tansi oder Nuruddin Farah widerspiegeln eben nicht das
oder Arzt geworden wäre. Immer wieder gibt es die Aussage: Afrika ist ‚in‘. Ganze, das Heile, das sie ‚in Afrika‘ zu finden hoffen. Ein wichtiger Seiten-
Es gibt in der Tat in vielen Orten in Deutschland mehr und mehr Initiati- aspekt dieser Haltung ist die Skepsis, die sich in der Frage äußert, ob denn
ven, überwiegend von Afrikaner/inne/n inspiriert (wenn nicht betrieben), Autor/inn/en, die nicht in Afrika leben, überhaupt ‚authentisch‘ von afrika-
bei denen ‚afrikanische Kultur‘ transportiert werden soll, wobei der Impuls nischer Wirklichkeit erzählen könnten. Ich will nicht unterstellen, dass hier
oft ist, dass etwas gegen Rassismus und das negative Bild von Afrika bei der Rekurs auf die Vorstellung von Authentizität der weitverbreiteten Vor-
den meisten Deutschen getan werden müsse. Die politische Korrektheit, die stellung entspricht, Afrika trommele, singe und tanze, Afrika sei Gefühl,
da gepflegt wird, ist eine Sache; ob das, was da als ‚afrikanische Kultur‘ prä- während der Okzident Rationalität repräsentiere. Aber ein gewisses Unbe-
sentiert wird, noch irgendeinen Bezug zur Kultur der Region/des Landes hagen habe ich doch, wenn afrikanische Autoren und Autorinnen, die au-
der Heimat dessen hat, der hier zu Lande auftritt, ist eine andere Sache. ßerhalb Afrikas leben, ausgespielt werden gegen solche, die in ihrer Heimat
Dieses neuerliche Interesse an Afrika in manchen Kreisen in Deutsch- leben.
land gilt zumeist nicht der Literatur, sondern hat mehr mit Tanz, Musik, Ein weiterer Seitenaspekt von spezifischer Erwartungshaltung ist das
Geselligkeit und anderen Ausdrucksformen zu tun. Eine Erklärung für die- weitverbreitete Interesse an der Rolle der Frau in Afrika. Da die meisten Le-
ses Phänomen liegt wohl darin, dass afrikanische Gesellschaften als Projek- ser in Deutschland Leserinnen sind, scheint es ein gewisses Übergewicht an
tionsfläche für die Defizite der eigenen Gesellschaft genommen werden: In Frauenthemen zu geben (was nicht unbedingt heißt, dass es sich dabei im-
vielen afrikanischen Gesellschaften gilt die Familie noch als intakt, waltet mer um Autorinnen handeln muss). Jedenfalls sind die meisten gut verkauf-
der soziale und kommunikative Geist von Großfamilien, Aspekte also, die ten Bücher aus Afrika von Frauen geschrieben, angefangen von Mariâma
in Deutschland längst abhanden gekommen seien, so die Übereinkunft. Bâ mit Une si longue lettre über Tsitsi Dangarembga mit Nervous Conditions
Ähnliche Erwartungshaltungen scheinen für literarische Produkte aus bis hin zu den Sonderformen der mit der Hilfe von Literaturagentinnen ver-
Afrika zu gelten. Zwei besondere Erwartungshaltungen sind da angespro- fassten Bücher wie Desert Flower des somalischen Models Waris Dirie und
chen. Zum einen die Hoffnung, dass der Text eines afrikanischen Autors/ Die Farbe meines Gesichts von Miriam Kwalanda. Zum einen geht es um das
einer afrikanischen Autorin aufzeigt, was das Besondere an den Umgangs- wichtige, aber komplexe Thema der Beschneidung, zum anderen um die
formen, den menschlichen Beziehungen in einer afrikanischen Gesellschaft Lebensgeschichte einer Frau aus Kenia, die als Prostituierte anfängt und als
ausmacht, was das ‚Andere‘ ist; das, was nicht so ist wie in Europa. Das sich emanzipierende Ex-Ehefrau eines deutschen Brutalo-Macho endet.

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Auch der relative Erfolg, den die Ghanaerin Amma Darko hier zu Lande Doch unsere begrenzte Wahrnehmung geht weiter und tiefer: In der Re-
verbucht (es gibt mehr Bücher von ihr in deutscher Übersetzung als im eng- gel blenden wir ziemlich große Bereiche der künstlerisch-literarischen Pro-
lischsprachigen Raum), hat mit den Klischeebildern zu tun, die in Europa duktion von Afrikaner/inne/n einfach aus, weil sie nicht in unser kulturell
walten, wenn von afrikanischen Frauen die Rede ist. geprägtes Wahrnehmungsmuster passen – und weil sie daher im übrigen
Der zweite Aspekt, bei dem Afrika als Projektionsfläche in literarischer gar nicht erst übersetzt werden.
Hinsicht benutzt wird, hat mit dem oft auf Literatur angewandten Kriteri- Das gilt insbesondere für Lyrik und Theaterstücke, die von wagemuti-
um zu tun, dass uns ein Roman oder eine Erzählung etwas erklären soll, gen afrikanischen Verlagshäusern immer wieder veröffentlicht, aber oft eben
uns über etwas informieren soll. Das ist per se nicht illegitim, hat aber dort, auch nicht weit verbreitet werden. Lyrik und Theater können als wichtige
wo es um Texte afrikanischer Autor/inn/en geht, gewisse Tücken. Nicht Formen kulturellen Ausdrucks gelten: sie haben große Traditionen in vielen
wenige der Menschen, die sich hier zu Lande für die Literatur des Südens afrikanischen Gesellschaften, sie sind nahe am gesprochenen Wort, können
der Welt interessieren und engagieren – erfreulicherweise wächst ihre Zahl daher potentiell auch die Menschen erreichen, die nicht lesen können, sind
– gehen mit literarischen Texten in einer bestimmten Weise um. Den Ex- schließlich wichtiges Medium für die vielen, die nicht genug Atem haben
tremfall des Pfarrers, der einen literarischen Text sucht (und ja auch immer für einen Roman, aber dennoch literarische Ambitionen hegen. Die Zahl
wieder findet), der für seine Predigt auf die Losung des Tages passt, will ich der in Afrika veröffentlichten Bände mit Lyrik oder Theaterstücken ist im
nicht weiter vertiefen. Auch er ist der guten Absichten voll. Interessant wird Verhältnis zu Europa überproportional höher als andere Bereiche der Belle-
das Problem dort, wo es die Suche nach ‚Stellen‘ überschreitet. Soll ich den tristik. In Europa kommt davon fast gar nichts an. Auch Eckhard Breitin-
Roman Search Sweet Country von Kojo Laing deswegen empfehlen, weil er ger hat mit seinen verdienstvollen Bayreuth African Studies, in denen wich-
etwas verdeutlicht, was das heutige Ghana ausmacht, was dort die Proble- tige Texte und Analysen besonders des Theaters Afrikas überhaupt in
me des Alltags ausmacht (die in dem Roman durchaus vorkommen)? Oder gedruckter Form zugänglich gemacht wurden, nicht wesentlich ändern kön-
soll ich doch lieber den Roman The Beautyful Ones Are Not Yet Born von Ayi nen, dass das afrikanische Theater in Europa unbemerkt blieb. Schließlich
Kwei Armah deswegen für wichtig halten, weil er uns Auskunft gibt über lebt Theater von dem, was gespielt wird, nicht von gedruckten Texten. Und
das Afrika, das fast nahtlos vom Kolonialismus in diktatorische Umstände in dieser Hinsicht ist das vielfältige Theater Afrikas in Europa eben nicht
geraten ist? Oder soll ich beide Romane empfehlen, weil sie interessante angekommen, was schon daran deutlich wird, dass außer in Großbritan-
Beispiele für die neueren Schreibweisen in Afrika sind, weil sie interessante nien selbst ein begnadeter Theaterautor wie Wole Soyinka kaum gespielt
Versuche darstellen, mit einer bedrückenden Realität fertig zu werden? worden ist (und wenn, dann unter Aufbietung vieler Subventionen bei be-
Wenn ich mit entwicklungspolitisch interessierten Zeitgenoss/inn/en spre- sonderen Gelegenheiten, aber nicht in staatlich subventionierten Theatern).
che, bin ich eher vorsichtig, von Ästhetik, narrativen Strategien, von der Auch ist erstaunlich, wie wenig das ja angeblich (oder tatsächlich) in Afri-
Tendenz zum literarischen Experiment zu reden. Dass ein interessanter mo- ka vorhandene Potential an ‚Geschichtenerzählen‘ (besonders für jüngere
derner Roman in der Regel aufbaut auf den Prosatexten, den Romanen, die Menschen) seinen Niederschlag findet in erfolgreichen Büchern auf dem
vorher geschrieben und veröffentlicht worden sind, spielt für diejenigen, die deutschen Buchmarkt. Außer Gcina Mhlophe aus Südafrika gibt es fast
die beiden erwähnten Romane gelesen haben und mögen, wahrscheinlich nichts Nennenswertes, auch wenn in einigen Gegenden Europas der eine
überhaupt keine Rolle. Den Autoren beider Romane aber dürfte gerade ihr oder andere mehr oder minder begabte Afrikaner mit Geschichtenerzählen
Bezug nicht nur zur Wirklichkeit, sondern auch zur Literatur wichtig gewe- bei Jugend- und Altenklubs und ‚Eine-Welt-Gruppen‘ sein Auskommen zu
sen sein. haben scheint.
Unser Bild von Afrika, so wie wir es durch Literatur wahrnehmen (kön- Die Realitäten Afrikas, die in literarischen Texten in afrikanischen (re-
nen), ist stark durch unsere eigenen Wahrnehmungen und Erwartungen gional verbreiteten) Sprachen ‚transportiert‘ werden, bleiben uns ebenfalls
beeinflusst. verborgen, weil kaum jemand in Deutschland diese Texte lesen kann, von

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der Problematik einer angemessenen Übersetzung ganz abgesehen. Wie weit Menschen in Deutschland wird immer noch stärker vom „Out of Africa“-
die literarischen Produktionen in ‚afrikanischen‘ Sprachen in den jeweiligen Syndrom, wie es Texte von Weißen Autorinnen wie Stefanie Zweig, Tania
Sprachen selbst reichen, entzieht sich seriöser Analyse, weil es kaum Daten Blixen, Corinne Hofmann und dergleichen liefern, bestimmt, als von den
über die Verbreitung afrikanischer Literatur in afrikanischen Sprachen gibt. komplexen, aber zumeist nicht angenehmen Bildern, wie sie die zeitge-
Das vielgerühmte Beispiel der immer noch lebendigen, wie es heißt, Onits- nössische afrikanische Literatur kennzeichnen. Dass die Bücher von Albert
ha Market Literature, die auf den Märkten Nigerias blühen soll, ist längst Schweitzer in seiner paternalistischen Grundhaltung immer noch zu den am
ein veralteter topos in den Texten Westlicher Sozialwissenschaftler. Auch in besten verkauften Büchern über Afrika gehören, sollte zu denken geben.
Onitsha, wie überall in Nigeria, werden längst US-amerikanische Bestsel- Das Bild Afrikas, das hingegen afrikanische Autorinnen und Autoren zeich-
ler-Autoren besser verkauft und mehr gelesen als die einheimischen Ge- nen, ein Bild, bei dem selbstkritische und zugleich selbstbewusste Züge
schichtenerzähler und die einheimischen Autorinnen, von Chinua Achebe überwiegen, wird von sehr viel weniger Menschen hier zu Lande überhaupt
vielleicht abgesehen. Auch wenn es eigentlich keine sozialwissenschaftlich wahrgenommen. Die Lektüre afrikanischer Romane, die dem bei uns weit
abgesicherten Forschungen gibt, so gilt immer noch die Vermutung, dass die verbreiteten Bild Afrikas widersprechen, ist oft genug eine intellektuelle, äs-
Verbreitung von Literatur in afrikanischen Sprachen auf dem freien Markt thetische und kulturelle Herausforderung. Aber um der neuen Erfahrun-
(also nicht subventionierte, auf Schule orientierte Buchproduktion) sich in gen, die Leserinnen und Leser dabei machen können, auch um gängige Ur-
den jeweiligen regionalen kulturellen Regionen vor allem einem Faktor ver- teile über einen Kontinent, der uns doch so nah ist, zu überprüfen, lohnt es
dankt, nämlich dem, dass mit dieser Literatur kulturelle Übereinkünfte sich allemal, die Romane z. B. von Chinua Achebe, Emmanuel Dongala,
transportiert werden. Vor allem scheint es um Werte zu gehen, um eine Be- Tierno Monénembo oder Yvonne Vera auch gegen die eigenen Leseerfah-
stätigung dessen, was diejenigen, die den Ton angeben, für wichtig und ver- rungen in die Hand zu nehmen und dann dabei zu entdecken, dass sie wie
mittelbar halten, so dass es mithin eher um eine konservative Grundhaltung andere Romane aus anderen Weltregionen auch allerhand spannende Ge-
geht. schichten erzählen.
Es gibt einen weiteren Bereich, in dem in Europa nicht so recht wahrge-
nommen wird, was für Afrikaner/innen, die sich mehr oder minder litera-
risch artikulieren, von großer Bedeutung ist. Es geht um die Texte, in denen
Lebenszeugnisse oder biographisch oder sogar autobiographisch geprägte
Texte aufgeschrieben sind, oft genug Zeugnisse nicht individueller Beliebig-
keit, sondern Texte über wichtige Aspekte der jüngeren Geschichte Afrikas.
In Südafrika hat sich besonders der Verlag Kwela dieser wichtigen Form von
Erinnerungsarbeit angenommen, obwohl er weiß, dass außerhalb Südafri-
kas die Texte, die er publiziert, kaum auf Interesse stoßen. Autobiographi-
sche Texte, die für die nationalen Geschichtsschreibungen von Bedeutung
sind, gibt es in vielen afrikanischen Ländern (wobei die Geschichte, bis es
zu einer Veröffentlichung kommt, oft genug selbst wieder eine eigene Ge-
schichte ist). Die meisten von ihnen reisen nicht weit. Allerdings gibt es
Ausnahmen wie Amkoullel, l’enfant peul von Amadou Hampâté Bâ oder
eben wieder Texte von Frauen, wie z. B. Mamphela Ramphele mit der Au-
tobiographie A Life.
Daher abschließend die These: Das Bild Afrikas in den Köpfen vieler

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Leo Kreutzer sammelten Aufsätze und der Arbeit Träumen Tanzen Trommeln. Hein-
Für ein Verständnis afrikanischer Literaturen rich Heines Zukunft kann Kreutzers Konzept einer vergleichenden Ent-
als Unabhängigkeitserklärungen wicklungsforschung, kann auch seine Konzentration auf die Produk-
tivität der Ungleichzeitigkeit über den Kreis seiner Schüler hinaus
wirken. Leo Kreutzer, der häufig in Afrika gelehrt hat und häufig afri-
Ich habe, nicht nur in meinen Studentenjahren, immer wieder Hoch- kanische Kolleginnen und Kollegen für Studien- und Lehraufenthalte
schullehrer beobachten können, die ihre Selbstaufführungen sorg- in Hannover gewinnen konnte, verdankt sein Engagement für eine
fältig auf den Eindruck hin inszenierten, sie ritten zusammen mit den interkulturelle Literaturwissenschaft nicht der Logik der Drittmittel-
Künsten, für die sie sich zuständig erklärten, auf der Schaumwelle des beschaffung; es ist vorbereitet in seinen älteren Studien, über Heine
ewigen Fortschritts. Worüber diese Welle hinwegging, das blieb hoff- und Goethe etwa, dessen vermeintlich anachronistisches Festhalten
nungslos zurück und schien erinnerungswürdig allenfalls als etwas, an der Idee einer synthetisierenden Naturerkundung Kreutzer luzide
das die Welle ehemals mit Energie versorgt hatte. Man kann, als als Kritik eines einseitig technisch-naturwissenschaftlich operieren-
Avantgardist, die Bedeutung ostafrikanischer Maskenkunst darin den Fortschrittskonzepts entfaltet hat. Die Institutionalisierung der
sehen, dass sie Picasso und Modigliani zu neuer Formensprache in- interkulturellen Literaturwissenschaft an der Universität Hannover,
spirierte. Man konnte, als Besucher seiner Lehrveranstaltungen am öffentlich wahrnehmbar u. a. durch die Einrichtung der Georg-Fors-
Seminar für deutsche Sprache und Literatur, bei Leo Kreutzer – Schüler ter-Professur und durch den Weltengarten, das deutsch-afrikanische
und Lehrstuhlnachfolger von Hans Mayer – lernen, es anders zu sehen. Jahrbuch, das Kreutzer zusammen mit David Simo (Yaoundé) heraus-
Weniger paternalistisch. Freier. Die Werke von Soyinka, Rushdie, Beti, gibt, steht am Ende der langjährigen Arbeit Kreutzers, sichert den
Fuentes, die Kreutzer den Studierenden der Universität Hannover – Fortbestand der von ihm begründeten Tradition. Ob auch der Autor
uns – in geduldiger Analyse der Spannungsverhältnisse von spezifi- Kreutzer, dessen persönlichstes Merkmal die große Offenheit zur Welt
schen Formen und Stoffen erschloss, erschienen hier nicht entwertet ist, Traditionen stiften konnte, bleibt abzuwarten. Kreutzers essayisti-
zu ‚Belegtexten‘ für einen ins Globale wuchernden europäischen Be- sche Darstellungsform ist den Stoffen, denen sie zugeordnet ist, stets
griff ästhetischer Modernität. Kreutzer las sie als Kunstwerke, die wie durch Teilhabe verbunden. Zugleich mit der Darstellung evoziert sie
alle Kunstwerke selbst die Regeln generierten, nach denen sie ver- die ästhetische Erfahrung der Werke, die zur Darstellung kommen
standen werden wollten. Die „uneigennützige Wahrnehmung von sollen. Damit, als Lehrer und Autor asynchron zu sein mit denen auf
Reichtum und Vielfalt außereuropäischer Kulturen“, für die Kreutzer der Schaumwelle, wird Leo Kreutzer leben können.
im hier veröffentlichten Aufsatz plädiert, sie hat ihn als akademischen Dirck Linck
Lehrer befähigt, ästhetische Erfahrung mit historischer Reflexion zu
vermitteln. Zum Nutzen seiner Schüler. Am Ende dieser Seminare er- Afrikanische Literatur finde in deutschen Verlagen „in einem durch viele
schien uns der starke Begriff avantgardistischer Modernität als eben- schlechte Erfahrungen zertrampelten Kleingarten“ statt. Mit diesem düste-
so revisionsbedürftig wie die enge Verschlingung gesellschaftlicher ren Bild resümiert der Geschäftsführer der „Gesellschaft zur Förderung der
und ästhetischer Entwicklungskategorien in den Arbeiten einer Lite- Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ sein jüngstes Memorandum
raturwissenschaft, die Geschichtsschreibung weitgehend am Modell über die Frage, weshalb afrikanische Literatur es schwer habe in Deutsch-
des linearen bürgerlichen Lebenslaufs orientierte, in dem jeder Zwei- land. Zu den Konstanten der Klage sowohl von Verlagsseite als auch seitens
fel an den Standards der Avanciertheit, jede Regression, jeder ver- der an afrikanischer Literatur dauerhaft Interessierten gehöre, so Peter Rip-
harrende Eigensinn den Verdacht erregt, hier misslinge Entwicklung. ken in seinem Beitrag zu dem von Susan Arndt herausgegebenen Sammel-
Seit dem Erscheinen der im Band Literatur und Entwicklung ver- band AfrikaBilder, dass es „in der deutschen Öffentlichkeit keine irgendwie

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geartete kontinuierliche Diskussion über die Literaturen Afrikas zu geben I
scheint“.1
Wenn dem aber so ist: Wäre es da nicht an der Zeit, sich Gedanken da- Als Georg Forster, in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts Teilnehmer an
rüber zu machen, ob es allein an unzureichenden oder verfehlten Anstren- der zweiten Weltumsegelung von James Cook und Autor eines umfangrei-
gungen liege, wenn sich die Befunde seit Jahrzehnten kaum verbessern? chen Berichts Reise um die Welt, im Sommer 1790 von einer mehrmonati-
Können, so muss man sich doch allmählich fragen, eine noch so engagierte gen Reise nach England und an den Niederrhein nach Mainz zurückkehrt,
Verlagspolitik, noch so einfallsreiche Werbekampagnen, noch so hervorra- da bringt er in seinem Gepäck auch einen literarischen Fund mit, der sich
gende Übersetzungen und noch so verständige Rezensionen überhaupt in für die Beschäftigung mit indischen Bewandtnissen in Deutschland als fol-
der Lage sein, in Deutschland eine nachhaltige Aufmerksamkeit für die genreich erweisen wird. In London ist er auf die soeben erschienene Über-
afrikanischen Literaturen zu erzeugen? setzung eines altindischen Dramas gestoßen, und er ist von dem Stück so
Das hartnäckige Ausbleiben des so sehr erhofften Durchbruchs scheint angetan, dass er sich entschließt, dieses, die Sakuntala von Kalidasa, vom
ein Indiz dafür zu sein, dass es in Deutschland an der fundamentalen Vor- Englischen ins Deutsche weiter zu übersetzen.
aussetzung einer alle Rezeptionshindernisse überwindenden Einstellung zu Bei diesem Vorhaben ist Forster sich darüber im Klaren, dass in
den modernen afrikanischen Literaturen fehlt. Literarische Texte, die uns Deutschland längst nicht so günstige Voraussetzungen für ein Interesse an
aus großer Ferne erreichen, nehmen wir nun einmal nicht je für sich, wir außereuropäischen Literaturen bestehen wie in England. In der Vorrede sei-
nehmen sie nicht in erster Linie als literarisch mehr oder weniger gelungene ner 1791 veröffentlichten Übersetzung geht er auf die Umstände ein, die in
Solitäre wahr. Ihre Wahrnehmung schreibt sich in einen Horizont ein, der England eine Neugierde auf Literatur aus Indien erregen: England hat sich
aus den sozio-historisch geprägten Vorstellungen gebildet wird, welche sich dort als Kolonialmacht zu etablieren begonnen; und das dadurch an dem
mit ihren Herkunftsländern und -regionen verbinden. Was in diesem Zu- Subkontinent entstandene öffentliche Interesse wird noch gesteigert durch
sammenhang die Wahrnehmung afrikanischer Literaturen in Deutschland eine lebhafte Kommunikation in der riesigen Hauptstadt des Landes. Fors-
betrifft, so kommt es hier offenbar nicht zu etwas, was in Hermeneutik und ter schreibt:
Rezeptionstheorie als „Horizontverschmelzung“ bezeichnet wird: Die deut-
sche Öffentlichkeit steht mit ihrem Vorverständnis afrikanischer Bewandt- Die indische Literatur ward in England schon vor einigen Jahren ein
nisse denkbar schief zu den modernen afrikanischen Literaturen. Gegenstand der Wisbegierde, und nichts ist begreiflicher, als die Wär-
Was nun dieses Vorverständnis betrifft, so scheint es sich auf das Bild re- me, womit man sich dort für die Kenntnisse und Vorstellungsarten ei-
nes Volkes interessiert, von welchem funfzehn Millionen unter dem bri-
duzieren zu lassen, das von dem subsaharischen Teil des Kontinents als ei-
tischen Zepter stehen. Die Erscheinung eines dramatischen Werkes aus
nem permanenten Katastrophengebiet vermittelt wird. Aber so stark der ak-
Indien, welches ein neunzehnhundertjähriges Alter für sich hat, war
tuelle Einfluss der Medien auch sein mag: Die Vorstellungen, die man in
also bei der bereits in Umlauf gekommenen näheren Kenntnis von je-
Deutschland mit dem subsaharischen Afrika verbindet, sind auf spezifische
nem Land hinreichend, auch ohne Rücksicht auf den Inhalt, die allge-
Weise kolonialgeschichtlich geprägt. Im Folgenden werden einige für unse- meine Aufmerksamkeit zu erregen, die ohnehin in einer Stadt, wo sie-
re Fragestellung einschlägige Besonderheiten der deutschen Kolonialerfah- ben bis achtmal hunderttausend Menschen beisammen wohnen, so
rung im Lichte auffälliger Übereinstimmungen zwischen einem postkoloni- leicht gespannt werden kann.2
alen Dekolonisierungs-Diskurs und einem präkolonialen Denken im
Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts erörtert. Was Forster hier am Beginn des Kolonialzeitalters in Erwägung zieht, ist der
Gedanke einer ‚shared history‘ zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. Ein
derartiges Argument führt im Postkolonialismus-Diskurs gegenwärtig zu
erheblichen Irritationen, denn es erschüttert die Vorstellung einer unüber-

392 393
brückbaren Kluft zwischen beiden Lagern, eine Vorstellung, welche vielen II
Kritiker/inne/n des Kolonialismus als politisch unverzichtbar gilt. Das Kon-
zept einer ‚shared history‘ gibt dagegen zu bedenken, dass es sich auch bei Mit seiner 1978 erschienenen Studie Orientalism hat der im September
der Kolonialgeschichte um ein Stück Geschichte handele, welches die in sie 2003 verstorbene palästinensisch-amerikanische Literatur- und Kulturwis-
involvierten Protagonisten miteinander teilen. Eine derartige Einsicht trägt senschaftler Edward W. Said eine Analyse des Westlichen Diskurses über
dem Umstand Rechnung, dass auch eine Geschichte des Kampfes und des den Orient vorgelegt. Saids Kritik am Westlichen Orientalismus besteht da-
Hasses die Kontrahent/inn/en miteinander verbinde. rin, dass dieser seit der griechischen Antike eine Überlegenheit des Westens
Forster macht sich im Vorwort seiner Sakontala-Übersetzung nun aber über den Orient postuliert und seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die
vor allem Gedanken darüber, was denn in Deutschland eine Neugierde auf manifeste Kolonisierung des Nahen, des Mittleren und von Teilen des Fer-
außereuropäische Literaturen hervorbringen und fördern könne. Er denkt nen Ostens begleitet und legitimiert habe. Die Studie wurde sogleich als
nicht daran zu beklagen, dass das Land so zersplittert sei und nicht die Kraft exemplarische Analyse des europäischen Umgangs mit außereuropäischen
zur kolonialen Expansion aufbringe, die, wie das englische Beispiel zeigt, Kulturen verstanden und hat maßgeblich auf die Entstehung und Entwick-
den Horizont eines literarischen Bewusstseins erweitert. Im Gegenteil: Fors- lung einer postkolonialen Literatur- und Kulturtheorie eingewirkt.
ter sieht in dem, was er den „eklektischen Charakter“ des kulturellen Le- Saids wichtigste theoretische Inspirationsquelle ist das Konzept der bi-
bens in Deutschland nennt, eine Alternative zu einem nationalen Interesse nären Opposition, wie es von einer strukturalistischen Sprachwissenschaft
an außereuropäischen Kulturen. Gerade das Fehlen einer literarischen Kul- entwickelt worden ist. Für ihn ist der Westliche Orient-Diskurs durch eine
tur aus einem – nationalstaatlich-hauptstädtischen – Guss, so Forster, sei es, über viele Jahrhunderte vorangetriebene Ausarbeitung von Gegensätzen
wodurch „das Schöne, Gute und Vollkommene, was hie und dort in Bruch- zwischen Orient und Okzident gekennzeichnet. Den ‚Orientalen‘ seien da-
stücken und Modifikationen auf der ganzen Erdoberfläche zerstreut“ sei, in bei alle Wesenszüge zugeschrieben worden, von denen der Okzident sich
Deutschland „uneigennützig um sein selbst willen“ zur Kenntnis genom- freisprechen wollte. Said zufolge erscheint in diesem Diskurs ‚der Orientale‘
men werden könne.3 als irrational, emotional, unzuverlässig, unlogisch, naiv und grausam; sein
Was ist von diesem – aus der Perspektive eines vorkolonialen Deutsch- Westliches Gegenstück ist demgegenüber rational, objektiv, effizient, logisch
land entworfenen – Paradigma der „uneigennützigen“ Erweiterung eines li- und dabei zutiefst human.
terarischen Bewusstseins über die Grenzen Europas hinaus zu halten? Hat Was nun aber in unserm Zusammenhang von besonderer Bedeutung
denn in Europa überhaupt noch die Möglichkeit bestanden, ein interesselo- ist: Said rekonstruiert die Art und Weise, wie aus Westlicher Perspektive der
ses Wohlgefallen an Reichtum und Vielfalt außereuropäischer Kulturen zu Orient ‚orientalisiert‘ worden sei, vor allem aus französischen und englischen
entwickeln, nachdem dort der Wettlauf um außereuropäische Kolonien ein- Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: aus orientalistischen Stan-
gesetzt hatte? Handelt es sich bei Forsters Vorstellung, „das Schöne, Gute dardwerken, Reiseberichten, Brief-Editionen, literarischen Texten. Zwar
und Vollkommene“ in außereuropäischen Kulturen werde im Deutschland kommt Said hier und da auch auf deutsche Autoren und Texte aus jener Zeit
seiner Zeit „uneigennützig um seiner selbst willen“ wahrgenommen, nicht zu sprechen. Aber im Gegensatz zu seinen französischen und englischen
einfach um die Idealisierung einer Unterentwicklung, die später mit Begrif- Quellen geht er auf von ihm erwähnte deutsche Texte nicht näher ein. Said
fen wie ‚deutsche Misere‘ und ‚verspätete Nation‘ charakterisiert worden ist: begründet das damit, dass der deutsche Orientalismus des ausgehenden 18.
um eine Idealisierung des erst mit der Reichsgründung 1871 überwundenen und der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts für eine Verifizierung der
Unvermögens, mit England und Frankreich mitzuhalten? These von einem von kolonialen Interessen geleiteten Westlichen Orienta-
lismus nicht in Frage komme, weil Deutschland zur fraglichen Zeit noch
keine Kolonialmacht gewesen sei.
Über die Auswirkungen dieses Umstands auf die damalige Beschäfti-

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gung der deutschen Intelligenz mit dem Orient heißt es in der Einleitung durch Ungleichzeitigkeit geprägt war: Zeitgenossen der sich beschleunigen-
der 1981 erschienenen deutschen Übersetzung von Saids Studie: den kolonialen Expansion europäischer Nachbarstaaten und Zeug/innen
ihrer Begleitumstände und Folgen, konnten Intellektuelle in Deutschland
Niemals konnte sich jedoch in der deutschen Wissenschaft während der im Gegenzug dazu kolonial interessenlose Modelle einer Wahrnehmung au-
ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts ein enges Zusammenspiel ßereuropäischer Kulturen entwerfen. So ist es nicht verwunderlich, wenn
zwischen den Orientalisten und einem langwierigen, anhaltenden na- von ihnen entwickelte Denkmodelle Übereinstimmungen mit einem post-
tionalen Interesse am Orient entwickeln. Es gab nichts in Deutschland, kolonialen Dekolonisierungs-Diskurs aufweisen und diesen in manchem
das mit der anglo-französischen Präsenz in Indien, dem Nahen Osten, vorwegzunehmen scheinen.
Nordafrika korrespondierte. Darüber hinaus war der deutsche Orient
fast ausschließlich ein wissenschaftlicher oder zumindest ein klassischer
Orient: er wurde Thema der Lyrik, von Phantasien und selbst von Ro-
III
manen, aber er war niemals in der Weise aktuell, in der Ägypten und
Syrien für Chateaubriand, Lane, Lamartine, Burton, Disraeli oder Ner-
Einer im präkolonialen Deutschland des ausgehenden 18. und der ersten
val aktuell waren. Die Tatsache scheint bedeutend, dass die beiden be-
kanntesten deutschen Werke über den Orient, Goethes Westöstlicher Di- beiden Drittel des 19. Jahrhunderts möglichen uneigennützigen Neugierde
van und Friedrich Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier auf auf Kenntnisse und Vorstellungsarten außereuropäischer Völker hat der
einer Rheinfahrt bzw. durch Studien in Pariser Bibliotheken entstan- Eintritt des Landes in den Club der Kolonialmächte auf der Berliner Afrika-
den. Die deutsche orientalische Wissenschaft konnte Techniken entwi- Konferenz 1884/85 ein Ende gesetzt. Reichtum und Vielfalt außereuropäi-
ckeln und verfeinern, deren Anwendung Texten, Mythen, Ideen und scher Kulturen erregten fortan in der deutschen Öffentlichkeit Interesse und
Sprachen galt, die fast wörtlich durch das imperiale Großbritannien Aufmerksamkeit, weil sie ‚unter dem deutschen Zepter‘ standen.
und Frankreich im Orient gesammelt wurden.4 Das deutsche Kolonialprojekt ist durch zwei für unsere Fragestellung
wichtige Besonderheiten gekennzeichnet. Es verwirklichte sich vor allem auf
Saids Befund über einen von der Förderung nationaler Interessen ent- dem afrikanischen Kontinent; und es endete nicht mit ‚Unabhängigkeiten‘
lasteten deutschen Orientalismus liefert aber nicht nur eine Erklärung da- in der Folge mehr oder weniger gewaltförmiger Auseinandersetzungen zwi-
für, dass dieser sich zu der fraglichen Zeit so hingebungsvoll mit der Ent- schen Kolonie und ‚Mutterland‘. Es hatte verspätet begonnen und wurde
wicklung und Verfeinerung eines philologischen Instrumentariums zur durch ein ‚Diktat‘ der Siegermächte des Ersten Weltkriegs vorzeitig beendet.
wissenschaftlichen Bearbeitung kultureller Beutestücke der emsig Kolonien Diese kolonialgeschichtlichen Besonderheiten scheinen für eine nachhaltig
sammelnden Nachbarländer beschäftigen konnte. Der Hinweis in der Ein- verunsicherte Einstellung der deutschen Öffentlichkeit zu Afrika ursächlich
leitung von Saids Studie macht auch verständlich, warum im damaligen zu sein. Sie wären das damit auch für eine schiefe Einstellung zu dessen Li-
Deutschland zu einem kolonialen Interesse an außereuropäischen Kulturen teraturen.
‚uneigennützige‘ Alternativen entworfen werden konnten. Es war vor allem ein Phantomschmerz über den Verlust der afrikanischen
Wenn im Sinne einer Einstellung, wie Forster sie in der Vorrede seiner Kolonien, der im Deutschland der Weimarer Republik und des National-
Sakontala-Übersetzung entworfen hat, deutsche Intellektuelle ohne Rück- sozialismus am Leben erhielt, was man einen ‚Kolonialismus ohne Kolo-
sicht auf ein nationales Interesse eine ‚uneigennützige‘ Aufmerksamkeit auf nien‘ genannt hat. Ein verlorenes Stück ‚neudeutsche Erde‘ in Afrika ‚mit
außereuropäische Kulturen richten konnten, so erklärt sich das jedoch nicht der Seele suchend‘ hielt die deutsche Öffentlichkeit es mit einem ganzen
allein dadurch, dass ihr Land den Eintritt in das Kolonialzeitalter noch vor Kontinent so, wie die Weimarer Klassiker es mit dem antiken Griechenland
sich hatte. Für unseren Zusammenhang von ausschlaggebender Bedeutung gehalten hatten. Und was das Deutschland nach 1945, jedenfalls seinen res-
ist vielmehr, dass ein präkoloniales Denken im damaligen Deutschland taurativen bundesrepublikanischen Teil, betrifft, so hätte dort das kollekti-

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ve Gedächtnis einer als schreiend unrechtmäßig empfundenen Enteignung Verlust der afrikanischen Kolonien mit Afrika verbanden, wurde Deutsch-
eine nachkoloniale Afrika-Sehnsucht auch weiterhin nähren können. Aber land gar zum ‚idealen Kolonisator‘. Seine ‚lieben Afrikaner‘, so machte man
die Afrika-Gefühle der 50er Jahre waren eher durch die Erleichterung da- sich vor, zögen eine deutsche Kolonialherrschaft selbstverständlich jeder an-
rüber geprägt, dass dem Land nun wenigstens erspart blieb, was einem hier deren vor, ein Wahn, der sich um so ungehinderter entfalten konnte, als er
als Gräueltaten antikolonialer Bewegungen wie der so genannten Mau Mau nicht mehr durch die koloniale Konfrontation in Frage gestellt wurde.
zu Ohren kam. Diese Besonderheiten deutscher Kolonialerfahrung schei- Deutschland sind die Begleitumstände eines Vorgangs erspart geblie-
nen sich bis heute dahingehend auszuwirken, dass man sich in Deutschland ben, den man die Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit zu nen-
von den mit einer Dekolonisierung verbundenen Prozessen und Problemen nen beliebt, ihm blieb die vielfach blutige Vorgeschichte dessen erspart, was
nicht im mindesten betroffen wähnt. Und so zeigt die deutsche Öffentlich- der kenianische Autor Ngugi wa Thiong’o zutreffend die Rückgabe der Un-
keit bislang auch wenig Interesse an einem Nachdenken darüber, was denn abhängigkeit an die Kolonisierten genannt hat. Was Deutschland jedoch
überhaupt ‚das Postkoloniale‘ ausmache, das Postkoloniale womöglich auch nicht erspart bleiben konnte, war und ist die Dekolonisierung des Bildes,
im eigenen Bewusstsein. das man sich als Kolonisator mit und ohne Kolonien von sich selbst und von
Der aus Jamaica stammende englische Kulturwissenschaftler Stuart Hall Afrika gemacht hatte. Aber das öffentliche Bewusstsein in Deutschland hat
hat den postkolonialen Ansatz einer zwischen Kolonisierendem und Ko- sich und hat Afrika bis heute nicht in die Unabhängigkeit von diesem Bild
lonisiertem geteilten Geschichte auf eine Weise resümiert, welche die Vor- entlassen. Von gleichsam barfüßigen afrikanischen Schriftstellern würde es
stellung, Deutschland habe mit dergleichen nichts zu schaffen, als reines sich liebend gern Bilder servieren lassen, die geeignet wären, seine verjähr-
Wunschdenken erscheinen lässt. Das Konzept einer ‚postkolonialen‘ Welt, ten, aus Faszination und Furcht gemischten Afrika-Gefühle zu bedienen.
so Hall in einem Beitrag zu dem kürzlich bei Campus erschienenen Sam- Aber in den modernen afrikanischen Literaturen gibt es keine barfüßigen
melband Jenseits des Eurozentrismus, gelte mitnichten allein für ehemals ko- Schriftsteller/innen.
lonisierte Gesellschaften. Es beziehe sich

auf einen generellen Prozess der Dekolonisierung, der, wie die Kolo- IV
nisierung selbst, die kolonisierenden Gesellschaften so einschneidend
geprägt hat wie die Kolonisierten (wenn auch natürlich auf andere Wei- Lange vor Forsters Überlegungen zu einer uneigennützigen Wahrnehmung
se). Von daher das Unterminieren der alten binären Opposition koloni-
von Reichtum und Vielfalt außereuropäischer Kulturen im Vorwort zu sei-
sierend/kolonisiert innerhalb dieses neuen Ansatzes. Tatsächlich be-
ner Sakontala-Übersetzung, hatte Johann Gottfried Herder in den 70er
stand eine der wichtigsten Leistungen des Begriffs ‚postkolonial‘ darin,
Jahren des 18. Jahrhunderts mit seiner Volkslieder-Sammlung das Projekt
unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Kolonisierung den
einer Weltliteratur der Volkspoesie verfolgt. Von Sammlern in England und
Gesellschaften der imperialen Metropole in vielerlei Hinsicht keines-
wegs äußerlich war. Sie war stets tief in sie eingeschrieben – wie sie sich Schottland, die mit ihren Initiativen das Ziel einer Demonstration und Fes-
auch unauslöschlich in die Kulturen der Kolonisierten eingeschrieben tigung der jeweiligen nationalkulturellen Identität verbanden, unterschied
hat.5 Herders Projekt sich von vornherein durch die Vermittlung von Ethnizität
und Humanität, durch eine Dialektik, wie man heute sagen würde, des Lo-
Deutschland hat nicht bis zum Ende der Kolonialära zu den kolonisieren- kalen und des Globalen.
den Gesellschaften gehört. Gleichwohl hat auch über das Ende des Ersten Das Vorwort zum Vierten Buch von Herders weltweiter Anthologie
Weltkrieges hinaus die Kolonisierung sich dem Land durch seinen ‚Kolonia- trägt den Titel „Ausweg zu Liedern fremder Völker“. Zu Beginn dieses Vor-
lismus ohne Kolonien‘ eingeschrieben. So war sie der deutschen Gesellschaft worts stellt bereits Herder die Paradigmen einer kolonialen und einer un-
auch weiterhin nicht äußerlich. In den Vorstellungen, die sich nach dem eigennützigen Erkundung außereuropäischer Kulturen einander gegenüber.

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Für Herder macht sich in diesen beiden Paradigmen der methodische Ge- raturen‘ ein auf europäischen Fundamenten errichtetes Pantheon mit den
gensatz zwischen einer Erkundung ‚von außen‘ und ‚von innen‘ geltend. besten Absichten um den einen oder anderen Anbau erweitert wird? Bringt
Mit der Sturm-und-Drang-Emphase seiner frühen Schriften, die durch man diesen Literaturen nicht mehr Respekt entgegen, wenn man sie im Sin-
eine Anhäufung von Kursiv-Schreibungen und Ausrufungszeichen Münd- ne von Herders und Goethes Weltliteratur-Begriff als Möglichkeiten sieht,
lichkeit simulieren, fragt Herder: „Wie aber nun diese Völker, die Brüder etwas über die Lebenswelten zu erfahren, die sich durch sie artikulieren?
unserer Menschheit kennen? bloß von außen, durch Fratzenkupferstiche Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass in Deutschland eine nachhaltige
und Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen: oder von innen? Als Diskussion über die Literaturen Afrikas nur dadurch zustande kommen
Menschen, die Sprache, Seele, Empfindungen haben? unsere Brüder!“6 Ei- wird, dass man diese Literaturen als Unabhängigkeitserklärungen aus ei-
nem kolonisierenden Vorgehen hält Herder vor, man müsse, wenn man sich nem modernen Afrika zu lesen und zu würdigen lernt.
mit diesen Menschen befasse, Peter Ripken macht in dem eingangs zitierten Aufsatz für ein deutsches
Desinteresse an afrikanischen Literaturen auch die Universitäten und im
nicht bloß reden, was ihr Land bringt, und wie sie noch besser unter- besonderen die einschlägigen Philologien verantwortlich.
jocht, genutzt, gequält, gehandhabet und verdorben werden können:
nicht reden bloß von dem was sie nicht sind! – Menschen wie wir! poli-
cierte Nationen!! und Christen!!! – sondern was sie sind? Uns treues Ab- Meine Beobachtung vieler Jahre fasse ich polemisch in der Aussage zu-
bild ihrer Denkart, Empfindungen, Seelengestalt, Sprache, nicht durch sammen: AnglistInnen/RomanistInnen/LusitanistInnen lesen keine
fremdes Gewäsch, wie jedem durchjagenden Europäernarren etwa der Übersetzungen afrikanischer AutorInnen ins Deutsche, sondern präfe-
Kopf steht, sondern in eigenen treuen Merkmalen und Proben geben.7 rieren die Lektüre im Original, über das sie dann freilich alles – histo-
risch, biographisch, intertextuell etc. – wissen. Nur sehr selten lassen sie
Damit, so Herder, sei man aber „bei ihren Liedern“: Die Literaturen frem- sich dazu herab, Verlagen eine Übersetzung ins Deutsche eines von ih-
der Völker sind Einladungen, diese „von innen“ kennen zu lernen, und sind nen aus literaturhistorischen Gründen für wichtig erachteten Buches zu
damit ein „Ausweg“ aus dem kolonialen Paradigma. empfehlen, Empfehlungen, auf die die meisten Verlage nicht gerade ge-
Eine vom Postkolonialismus inspirierte Anthropologie und Kulturwis- wartet haben. Nur selten erklären sich deutsche Literaturwissenschaft-
senschaft meint dergleichen als ‚Selbstrepräsentation‘ ganz neu zu entde- lerInnen, auch wenn sie sich für afrikanische post-koloniale Literatur im
cken. Als Königsweg zur Erkundung ‚fremder Völker‘ gilt dort freilich nicht Grunde interessieren, für eine Rezension bereit, wobei Kritik an der –
mehr die Literatur, wie sie das noch für Herder und Forster war. Und nicht ‚natürlich unzulänglichen‘ – Übersetzung oft breiten Raum einnimmt.8
zuletzt für Goethe. Denn was Goethe, darin ganz Herders Schüler, unter
‚Weltliteratur‘ verstand und was er am Ausgang seines Lebens als Erster so Aber die Philologien sind noch aus ganz anderen als den von Ripken in po-
zu nennen begann, bedeutet nichts anderes, als dass eine weltweite literari- lemischer Absicht angeführten Gründen für ein deutsches Desinteresse an
sche Kommunikation der Königsweg zur gegenseitigen Erkundung und afrikanischen Literaturen mitverantwortlich. In den Literaturwissenschaf-
Duldung der Völker werden könne. ten beschäftigt man sich gegenwärtig überwiegend mit Fragestellungen, die
Rezensent/inn/en belletristischer Texte argumentieren heutzutage eher nicht geeignet sind, Literatur als etwas wahrzunehmen, was bei Herder
mit einer Vorstellung von Weltliteratur als einer Art Weltbesten-Liste der Ge- „Ausweg zu Liedern fremder Völker“ heißt. Auch darin sind sie einem le-
genwartsliteratur. In diesem Sinne werden uns auch Texte aus afrikanischen senden Publikum keine Hilfe bei der Suche nach einem Zugang zu den mo-
Literaturen gelegentlich als zur Weltliteratur gehörend ans Herz gelegt. dernen afrikanischen Literaturen.
Oder sie werden uns doch mit dem Argument zum Lesen empfohlen, man
komme selbst mit gehobenen ästhetischen Ansprüchen durchaus auf seine
Kosten. Aber bleibt nicht stets ein Unbehagen, wenn für diese ‚neuen Lite-

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V gehabt, aber wir werden gewiß dieselbe Zukunft haben. Das Zeitalter
der einzelnen Schicksale ist vorbei. In diesem Sinne ist das Ende der
Wir fahren mit dem Auto durch ein quartier in Dakar, in dem Cheikh Ha- Welt für jeden von uns bereits gekommen, denn keiner kann mehr leben
midou Kane wohnen soll. Es ist Mitte Juni, die Regenzeit steht bevor, jetzt, und nur noch an seine Selbsterhaltung denken.9
um die Mittagszeit, ist es besonders heiß. Nur wenige Menschen halten sich Das ist es. Die seit den Unabhängigkeiten entstandenen afrikanischen Lite-
auf den Straßen des Viertels auf, das aus kleinen Anwesen und aus Villen raturen sprechen nicht von einem Afrika, das aus deutscher Sicht weiterhin
von eher bescheidenem Zuschnitt besteht. Der Fahrer, ein Soziologe von der gern als das ganz ‚Andere‘ imaginiert wird. Sie sprechen von der Gegenwart
Universität Cheikh Anta Diop, ruft aus dem offenen Fenster hin und wie- als einem Aufenthaltsraum, den es mit uns teilt. Deshalb gehen uns diese
der, wie eine Losung, „Cheikh Hamidou Kane!“ Daraufhin wird er weiter Literaturen an. Und deshalb geht uns auch in Deutschland ein Nachdenken
gewinkt: da vorne nach links, dann weiter geradeaus; oder: etwas weiter über ‚das Postkoloniale‘ an. Stuart Hall, um seinen Aufsatz noch einmal zu
hinten nach rechts, dann gleich wieder nach links. Ab und zu ruft der Fah- zitieren, hat den Wandel seit der Zeit, in der die koloniale Konfrontation noch
rer: „L’aventure ambiguë!“ Auch dann das gleiche Spiel: geradeaus, dann als „binäre Opposition“ zwischen Kolonisator und Kolonisiertem wahrge-
nach links; oder rechts. nommen und behandelt werden konnte, als „Übergang von einer Konzep-
Die Szene, erstaunlich genug, wird mir unvermittelt von einer anderen tion der Differenz zu einer anderen“ bezeichnet. Gemeint ist der Übergang
überblendet, von einer imaginierten. Ich sehe mich in einer Kutsche nach von der Vorstellung von Differenz als absolutem Gegensatz zwischen „‚hier‘
Weimar hinein fahren und rufe Passanten zu: „Goethe!“ oder „Werthers und ‚dort‘, ‚damals‘ und ‚heute‘, ‚Inland‘ und ‚Ausland‘“ zu einer Vorstel-
Leiden!“ Man erfasst auch hier sogleich mein Begehren und hilft mir wei- lung von Differenz als Zwischenraum für einander kreuzende „Wechselbe-
ter. Eine andere Szenerie will sich dagegen nicht ausdenken lassen. Dakar ist ziehungen“.10
eine Millionenmetropole wie Berlin. Aber als ich mir vorstellen möchte, wie Das bedeutet für unsern Zusammenhang: Afrika hat aufgehört, für ein
ich in einem Auto durch ein Berliner Viertel fahre und zum Fenster hinaus europamüdes Bedürfnis nach einem ganz ‚Anderen‘ verfügbar zu sein, auch
„Günter Grass!“ und „Die Blechtrommel!“ rufe, fällt mir nur ein, dass wenn die Ferntourismus-Industrie unentwegt vorgibt, dieses Bedürfnis be-
nichts geschehen würde, außer vielleicht, dass ein mitfühlender Passant sein dienen zu können. Statt das Bild von einem Kontinent, den man weiterhin
Mobil-Telefon zücken und in der Charité anrufen würde. den ‚dunklen‘ zu nennen beliebt, lesend mit der Seele zu suchen, können
Der Roman L’Aventure ambiguë des senegalesischen Schriftstellers wir uns von den Literaturen des postkolonialen Afrika sagen lassen, wie die
Cheikh Hamidou Kane ist 1961 erschienen. Im Senegal ist er, das hat mir Menschen dort mit den widerspruchsvollen Gedanken, den ambivalenten
die Straßenszene verdeutlicht, seit vielen Jahren Schullektüre. 1980 unter Gefühlen und den fragmentierten Lebensläufen umgehen, mit denen auch
dem Titel Der Zwiespalt des Samba Diallo von János Riesz ins Deutsche wir fertig zu werden haben.
übersetzt, behandelt er in exemplarischer Weise die widerspruchsvollen Ge-
danken, ambivalenten Gefühle und zersplitternden Lebensläufe, von denen
eine ‚traditionale Gemeinschaft‘ heimgesucht wird, wenn sie durch koloni-
alen Druck in einen Transitraum genötigt wird, der sie in eine Zukunft an
der Peripherie einer globalisierten Moderne schleusen soll. In dem Roman
lässt der Autor einen der einheimischen Protagonisten im Gespräch mit ei-
nem Vertreter der französischen Kolonialmacht sagen:

Jede neue Stunde vermehrt die Glut in dem Tiegel, in dem die Welt ver-
schmolzen wird. Sie und ich, wir haben nicht dieselbe Vergangenheit

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Joachim Fiebach allem die Mischformen, Übergänge und Verzahnungen mit der All-
Euripides und Brecht bei Soyinka: tagsrealität sowie mit anderen Medien. Jegliche Form künstlerischer
Dionysos, Ogun und Handgranaten und kultureller Darstellung gilt ihm dabei als Ausdruck bestimmter
Haltungen zur Welt und Reflexion historischer Konstellationen.
Es geht Joachim Fiebach um Zusammenhänge, Strukturen und
Joachim Fiebach und Eckhard Breitinger sind zwei Wissenschaftler, große Verbindungsbögen, die sich in verschiedenen Kontexten wie-
die aus verschiedenen Disziplinen und Perspektiven und mit unter- der finden. Um die Komplexität der Realität, Tendenzen und immer
schiedlichen Schwerpunkten über dasselbe Thema – Theater in Afrika wieder Brüche, Paradoxien und Widersprüche darin. Diesem Realitäts-
– geschrieben haben. Ihre Bekanntschaft und ihr fachlicher Austausch konzept entspricht sein Wissenschaftsverständnis: Er konzentriert
begann 1983, als beide sich – damals noch aus verschiedenen deut- sich auf genaue Beschreibungen und scheut sich vor Eindeutigkeiten
schen Staaten kommend – zeitgleich in Nigeria aufhielten. und Vereinfachungen. Die Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeit
Joachim Fiebach ist Theaterwissenschaftler und kam Ende der sieht er immer nur in einer Annäherung an diese Realität, und nicht
sechziger Jahre zunächst nur zufällig mit Afrika in Berührung. Wäh- wenige seiner Texte sind deshalb mit Begriffen wie „Versuch“ unter-
rend er in Dar es-Salaam Brecht lehrte, begann er sich mit afrikani- titelt. Trotz dieser Bescheidenheit hat Joachim Fiebach mit seinem
schem Theater, Literatur und Kunst zu beschäftigen, was dann auch Fokus auf das Prozesshafte wesentlich dazu beigetragen, Darstel-
nach seiner Rückkehr an die Humboldt-Universität zu Berlin einer lungsformen afrikanischer Gesellschaften von den ihnen angekleb-
seiner Forschungsschwerpunkte blieb. In den achtziger Jahren lehrte ten Konnotationen ‚fester Ritualität‘,‚starrer Tradition‘ und ‚Fremd-
er am Theaterinstitut Wole Soyinkas in Ile Ife und veröffentlichte 1986 heit‘ zu befreien.
mit Die Toten als Macht der Lebenden ein Grundlagenwerk zur Theorie Jule Koch
und Geschichte von Theater in Afrika. Darin eröffnete er eine neue –
stärker kunst- und prozessorientierte – Sicht auf kulturelle Prozesse Ausgehend von zwei Stücken des nigerianischen Literaturnobelpreisträgers
in Afrika, die bis dahin vor allem aus dem Blickwinkel der Ethnologie Wole Soyinka möchte ich seine Ästhetik beleuchten und diskutieren, wie
betrachtet worden waren. Umgekehrt ist es sein Verdienst, seine viele seiner Texte wesentliche Aspekte ‚vormoderner‘ Weltanschauung und
eigene Fachrichtung um den Gegenstand des außereuropäischen deren theatraler Manifestationen mit Haltungen und Formelementen inter-
Theaters erweitert zu haben. nationaler avancierter Künste, nicht zuletzt historischer Avantgarden zu Be-
Bis heute ist Joachim Fiebach auch in seiner Arbeit als Professor ginn des 20. Jahrhunderts, verschmelzen. Zugespitzt lautet meine ‚These‘:
für Theatergeschichte ein Wanderer zwischen den Disziplinen ge- die Texte, darüber hinaus Soyinkas Haltung zur und in der Kunst generell,
blieben. Auf der Suche nach kultur- und geschichtsübergreifenden könn(t)en als Bestandteile und Äußerungen moderner, heutiger kulturel-
Aspekten verknüpft er wechselseitig Beobachtungen von Theater in ler Praktiken und zugleich der tradierten, oral geprägten Yoruba Kultur be-
Afrika und Entwicklungen in Europa, Theateravantgarden und Litera- handelt werden. Ich bin hauptsächlich daran interessiert, mit Soyinka zu
tur – immer wieder Brecht, Müller, Soyinka – mit kulturellen Perfor- zeigen, wie eine Archäologie alten mythischen Denkens, des antiken grie-
mances, vergangene mit gegenwärtigen Phänomenen, Vor- und Post- chischen eingeschlossen, kritisches Wahrnehmen und künstlerisches Verar-
moderne hier und dort. Der vorliegende Aufsatz zeigt: Das kritische beiten gegenwärtiger, ‚moderner‘ Gesellschaften, in diesem Fall afrikani-
Zusammendenken von Vergangenheit und Gegenwart, das er für scher Varianten des modernen Kapitalismus, schärfen und zeitgenössische
Wole Soyinkas künstlerische Haltung beschreibt, bestimmt ebenso avancierte Kunst fördern kann.
Joachim Fiebachs Herangehensweise an Theater. The Bacchae of Euripides, in der deutschen Übersetzung Die Bakchen des
Im Rahmen seines Konzeptes der ‚Theatralität‘ beleuchtet er vor Euripides, und Opera Wonyosi, Soyinkas Adaption von Brechts Dreigro-

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schenoper, scheinen auf den ersten Blick auf zwei sehr verschiedenen, sogar Jedoch: Es gibt sehr auffällige Ähnlichkeiten, ja eine enge Verwandt-
entgegensetzten Ästhetiken und, vielleicht, Weltanschauungen zu beruhen. schaft zwischen den zwei Texten. Sie thematisieren, zumindest teilweise,
The Bacchae wäre als ein ‚mythopoetisches Stück‘ zu kategorisieren, das von klaffende soziale Antagonismen und repressive Regimes, und sie berühren,
dem entscheidenden Einwirken von Göttern auf die Welt der Lebenden er- wenn auch mit unterschiedlicher Betonung, emanzipatorische Sehnsüchte,
zählt. Durch Dionysos’ Ankunft in Theben ermutigt, vereinigen sich, ja um soziale und kulturelle Unterdrückung, wenn möglich, zu brechen. Paral-
verschmelzen nahezu die Sklaven, die Existenzgrundlage und das ökonomi- lel zu Soyinkas Zeichnung des Ausbeutungssystems in Pentheus’ Theben legt
sche Rückgrat des repressiven griechischen Stadtstaates, mit den Mänaden der ‚Großer Mann schlägt Zement, Zement schlägt kleinen Mann‘-Song, ei-
des Gottes, insbesondere mit Thebens dionysostrunkenen, von Dionysos ner der ersten Vorgänge in Opera Wonyosi, die sozioökonomischen Grundla-
besessenen Frauen. Beide Gruppen fordern Pentheus’ politisch und kulturell gen des neuen Nigeria bloß. Eine herrschende Schicht bereichert sich enorm
‚geschlossenes‘, unbewegliches, rigides Regime heraus, und beides, die kul- an der rücksichtslosen Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Hunderte, wenn
turelle Transgression der Frauen und die Revolte der Sklaven werden zu ei- nicht Tausende von Arbeitern müssen das Ausschiffen und Bearbeiten der
ner sehr ambivalenten, schließlich rätselhaften Praxis. Am Ende des Stücks ungeheuren Menge Zements, die zum Bau der Stadtautobahn in Lagos
schwelgen die, die am Leben geblieben sind, in einem grauenvollen Fest, ei- 1976/1977 benötigt wurde, mit ihrem Leben bezahlen. Nach Anikuras
nem „barbarischen Banquet“1, wie Soyinka das Drama in seiner Gesamt- „Vorstellungslied“, das den Morgenchoral, mit dem sich Peachum, christli-
heit charakterisierte. Eine seltsame Flüssigkeit sprudelt aus dem Haupt des che Moral subversiv verkehrend, völlig neu auf Verhältnisse in Nigeria bezo-
zerrissenen Pentheus. Es scheint Blut zu sein, ist aber, wie sich herausstellt, gen fasst, singen er und seine ‚Company‘ den „Zement-Schlag-Song“:
(auch) Wein. „Langsam, traumhaft“, so Soyinka, „gehen sie alle zur Quel-
le, wölben ihre Hände zu einem Becher und trinken“.2 Die Mörder-Mutter Vom Hafen bis zum Horizont liegen die Schiffe beladen/ Zement in den
Laderäumen, auf den Decks, Zement/ … Die Arbeiter schuften für ei-
Agaue richtet einen Strahl auf ihr Gesicht und spült damit ihren Mund.
nen Extralohn/ Schon seit 24 Stunden hetze ich mich ab/ Das Geld
Opera Wonyosi, 1977 geschrieben und uraufgeführt, spielt völlig in der
kam gelegen, nun bereue ich’s/ Sind doch die Lungen eines Mannes für
gegenwärtigen Welt, ohne jeden Bezug auf ein produktives oder zerstöreri-
saubere Luft geschaffen/ Nicht um Wolken von Zement einzuatmen/
sches Einwirken göttlicher Wesen (‚übernatürlicher‘ Kräfte) auf die Prakti-
Und der Extralohn ist gerade mal ein Hungerlohn/ Wenn der Zement-
ken der Lebenden. Das Stück ist gerichtet auf die ätzende Bloßlegung der magnat seine Gier gestillt hat.3
sozialen und politischen Realitäten Nigerias während der Jahre seines Öl-
booms. Anikura, der zum Nigerianer gewandelte Peachum, plant, Mache- In Korrespondenz zu dem gemeinsamen Bestreben der Sklaven und Frau-
ath endgültig zur Strecke zu bringen, indem er die Armee der Bettler auf en, sich von einem sozial und kulturell rigiden, mit eiserner Faust aufrech-
die Krönungszeremonie loslässt, die in Bangui, der Hauptstadt der Zentral- terhaltenem System zu befreien, deutet Jenny Leveller, Reinemachefrau im
afrikanischen Republik, stattfindet. Der notorische Diktator Boukassa, Hurenhaus von Opera Wonyosi, auf eine fundamentale Veränderung der ge-
großzügig unterstützt von den Franzosen, hatte sich 1977 zum ersten mo- sellschaftlichen Struktur hin. Anders ausgedrückt singt sie von einer Revo-
dernen afrikanischen Kaiser gemacht, eine makabre historische Gelegen- lution, die kommen müsse/werde, um die mörderischen, ungerechten sozi-
heit, Brechts eher altmodische Geschichte als eine völlig gegenwärtige dar- alen Klüfte zu beseitigen. Ihr Lied ist eine völlig neue, auf die kapitalistische
zustellen. Nigerianische Polizisten, militärische Berater und eine starkes Moderne Nigerias gerichtete Fassung des Kerns des Seeräuber-Songs, den
Kontingent nigerianischer mächtiger Geschäftsleute, die in Bangui leben, bei Brecht Polly vorträgt. Soyinka bringt Polly nicht in Zusammenhang mit
ermöglichen es, die Relevanz der Vorgänge für Verhältnisse in Nigeria di- seinem rebellischen Gehalt; sie singt bei ihm nicht von Piraten, die kom-
rekt und groß auszustellen. Haltungen der Figuren, Songs und spezifische men werden, um die verdorbene Stadt in Trümmer zu legen und sie zur
Dialoge machen unmissverständlich klar, dass hier Grundzüge der nigeria- Richterin über ihre Bewohner zu machen. Jenny Leveller, eine aus der Mas-
nischen Ölboom-Gesellschaft der Siebziger verhandelt werden. se der Untersten, dagegen formuliert unter anderem:

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Sodom und Gomorrah/ Muten geradezu paradiesisch an/ Wenn diesem Sänger. Die sind oft selbst die ersten, die physisch in Besessenheit geraten.
Hurenhaus der Prozess gemacht wird/ An diesem schon heraufziehen- Seine Wirkung auf die Menge ist jedoch die gleiche, wie auf ein Teenager-
den Morgen/ Du in deiner goldenen Villa/ Wirst endlich das wahre Le- Publikum. Vom orgasmischen Gestöhn aus wird der Ersatz-Höhepunkt er-
ben kennen lernen/ … Aber die Hand, die das Urteil fällt/ Wird nicht reicht. Schreie antworten auf seinen Schrei, und es beginnt der Ansturm auf
vom Himmel herabkommen/ Es gibt da ein Mädchen, das die Wäsche den Prediger. Seine Kleidung wird zerrissen, seine Person ist gefährdet, aber
macht/ Beschmiert mit der Soße geiler Geldsäcke/ Es ist das Mädchen, er ‚bleibt cool‘.5
dem du zwei Pennies Trinkgeld gibst/ Das von neun bis sieben schrubbt/ Opera Wonyosi ist buchstäblich, nicht nur metaphorisch gesehen, Dee-
Sie wird dich beobachten, wie du langsam zerrissen wirst/ Auf der Fol- jays, daher eines Diskjockeys Darstellung. Anstatt Schallplatten zu samplen
terback namens DEKADENZ/ … Da ist die weitgereiste Horde/ Ge- und auf Bewegungsrausch versessene Besucher (‚Ravers‘) modischer Diskos
kommen nur, um deinen Mund mit Schmutz zu füllen/ Und dich in mit anpeitschenden Rhythmen zu füttern, ist es Dee-jays Geschäft, Szenen
deinem Schleim zu wälzen/ Und ich schreie Hip-Hip-Hurra!/ Weder für Zuschauer/Leser zu konstruieren und die Figuren des Stücks einzufüh-
Sodom noch Gomorrah/ Hat je solche Panik gesehen/ Wie hier, als ich
ren. Im ständigen Dialog mit dem Publikum kommentiert er typische so-
das Picknick auflöste/ Ja, dieses schäbige Aschenputtel/ wird deine letz-
ziopolitische Ereignisse und Verhaltensweisen im zeitgenössischen Nigeria.
te Zigarre anzünden/ Denn es ist Zeit sich der Musik zu stellen/ Der
Eine Boukassa-Szene einfügend verurteilt er massiv einen der monströses-
Musik der Menge, die du in die Verzweiflung getrieben hast … 4
ten Politiker Afrikas in den siebziger Jahren. „Nenn es die Bettleroper, wenn
Beide Texte sind Collagen oder Montagen, ‚offen‘ strukturiert. Sie könnten du darauf bestehst“, wendet er sich an die Zuschauer,
als Varianten des internationalen oder auch Westlich dominierten avan-
cierten Theaters seit dem Futurismus und Dadaismus gelten, seit dem von – dass ist es, was die ganze Nation tut – die darum bettelt, ein Stück
den historischen Avantgarden entscheidend vorangetriebenen Koordina- vom Kuchen abzubekommen. Und denke nicht, dass es jene Art von
Betteln ist, die du kennst. Hier sagen die Bettler, ‚Gib mir ein Stück ab,
tenwechsel europäischer und nordamerikanischer Künste zu Beginn des
oder – (demonstrierend) – gib mir ein Stück deiner Kehle‘ … Ich sage
20. Jahrhunderts. Ich verweise auf ein ziemlich ‚verstörendes‘ Detail von
dir, Bruder, ich muss noch darüber nachdenken, ob eine solche irre
The Bacchae of Euripides und auf die Dramaturgie von Opera Wonyosi.
Oper nach den Bettler/innen benannt werden sollte, der Armee, den
Die erste Begegnung zwischen den Sklaven, die zum Aufstand bereit
Banditen, der Polizei, den Geschäftsfrauen, den Student/innen, den
sind, und den Mänaden mündet in einem ekstatischen Preisgesang für Dio- Gewerkschaftler/innen, den Alhajis und Alhajas, der Aladura-Kirche,
nysos und für die Haltung gegenüber dem Leben, die er symbolisiert. Die den Akademiker/innen … Ich meine, Mann, in diesem irren Land ver-
Erste Bakche spricht den Anführer der Sklaven als ‚Sprecher meines Gottes‘ hält sich einfach jeder verrückt.6
an. Sie bedrängt ihn, das zu erzählen, was er weiß. Daraus entwickelt sich
eine frenetische, rauschhafte Szene. In Soyinkas Bühnenanweisung heißt Nur in den ‚Szenen‘, in denen Anikura Schritte unternimmt, Macheath an
es: „Musik. Sie ist sehr eigenartig. Sie sollte etwas dem leitmotivischen Song den Galgen zu bringen, entfaltet sich eine lose geknüpfte ‚Handlung‘ oder
aus Alexis Sorbas mit seiner seltsamen Mischung aus Nostalgie, Gewalttätig- durchgehende Geschichte. Das dramaturgische Gefüge unterscheidet sich
keit und Tod ähneln.“ Was darauf erfolge, müsse den Verhaltensweisen und so wesentlich von dem in Brechts Dreigroschenoper, das auf einer linearen
dem Charakter eines europäischen Popkonzerts entsprechen. Es brauche Narration beruht, die sich in kausal vernetzten Vorgangsbündeln entfaltet.
„die emotionale Färbung und das Temperament einer europäischen Pop- Streng genommen hat die dritte Szene, die den monströsen Boky Boukassa
Veranstaltung, ohne in die entsprechende billige kommerzielle Manipula- vorstellt, überhaupt nichts mit den Ansätzen einer ‚durchgehenden Hand-
tion der Geistlosigkeit von Teenagern zu degenerieren.“ Der Anführer der lung‘, der Entfaltung einer Geschichte, einer Fabel etwa im Sinne Brechts,
Sklaven sollte aber nicht ein „sich windender Pop-Idiot“ sein. Sein Stil fuße zu tun. Die Szene soll einen Einblick in Haltungen und die ideologische
auf dem rhythmischen Schwung und der Energie der schwarzen Gospel- Rhetorik afrikanischer führender Politiker, genauer Diktatoren der siebziger

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Jahre, geben. Das Stück könnte so als eine „Montage der Attraktionen“, um rung nehmen. Er präsentiert die Figuren; er scheint die Handelnden zu ver-
Eisensteins Formel einer avantgardistischen Dramaturgie und Aufführungs- anlassen, ihre Songs zu singen; und er steuert die Art und Weise und die
praxis zu gebrauchen, gesehen und inszenatorisch umgesetzt werden. Im Folge, in der sich die Vorgänge ergeben und ist so der Schöpfer und Produ-
Wesentlichen ist es eine Collage von ‚Nummern‘, deren Aktionen nur lose, zent der Darstellung insgesamt. Die verschiedenen Nummern wären auch
wenn überhaupt, verbunden sind. als eine Kette kreativer Leistungen zu nehmen, wie sie der moderne Diskjo-
Inszeniert und/oder führt man den Text in unterschiedlichen histori- ckey wie auch der Darsteller von Geschichten/ Gesängen in oralen Kulturen
schen Kontexten auf, können selbst wichtige Figuren verändert oder völlig erbringt.
gestrichen werden. Als Opera Wonyosi im Frühjahr 1983 wieder inszeniert Soyinka hat sich reichlich zu diesen scheinbaren Paradoxen und der ih-
wurde, um in die im Sommer stattfindenden Wahlen ‚einzugreifen‘, strich nen zugrundeliegenden Philosophie geäußert. 1983 machte er klar, dass sei-
Soyinka den nigerianischen Oberst Moses. In der Fassung von 1977 erpres- ne ganzen Tätigkeiten auf das gegenwärtige Nigeria zielen, auf die Verfas-
ste Anikura Moses als ‚militärischen Berater‘ des Boukassa-Regimes, um sung der modernen heutigen Welt. Im Rückblick auf sein Stück Dance of the
ihn dazu zu bringen, Macheath schließlich zu verhaften und an den Galgen Forests, das ausdrücklich den Zustand Nigerias bei der Erringung seiner po-
zu bringen. Anspielungen auf das Militär, das Nigeria in den siebziger Jah- litischen Unabhängigkeit 1960 ‚reflektieren‘ sollte, nannte er die Arbeiten,
ren regierte, machten 1983 wenig Sinn. 1979 hatte das Militär die politische die er seitdem vorgelegt hatte, einen „danse macabre“:
Macht an eine zivile Regierung übergeben. So führte Soyinka, oder eben
(dramaturgisch) Dee-jay, den zivilen Nigerianer Dr. Mukotan ein. Muko- Ich warf einen Blick auf unsere erste Regierung … als sie Großbritan-
tan ist ein Spezialist für ‚Ethische Revolution‘, der ideologischen Verblen- nien besuchten und mit Studenten sprachen … Und mir wurde klar,
dungsstrategie des amtierenden zivilen Präsidenten Shagari und seiner Ge- dass unser größter Feind der innere Feind war. Wenn es da noch irgend-
folgschaft. Ihr Regime hatte während seiner vierjährigen Amtszeit das Land einen Schatten des Zweifels gab, wurde er schnell vertrieben von den
Gedankenmustern, die sich unter meinen früheren ‚Kameraden‘ bilde-
noch katastrophaler ausgeplündert als das zehn Jahre an der Macht befind-
ten, denen jeder Gedanke an eine Befreiung Südafrikas usw. plötzlich
liche Militär.
abhanden gekommen war. Sie konnten es nicht abwarten, nach Hause
Man sollte in der Collagen-Dramaturgie jedoch nicht in erster Linie
zurückzukehren und ein Stück vom ‚Kuchen der Unabhängigkeit‘ ab-
moderne ‚offene‘, avantgardistische oder, wenn man will, ‚postmoderne‘
zubekommen, denn das war alles, was Unabhängigkeit ihnen bedeute-
Formen sehen. Sie setzt auch tradierte afrikanische Darstellungspraktiken te: tritt in die Spuren der abreisenden Weißen, bevor es andere vor dir
fort, natürlich in veränderter Form, „theatrale Formate“, die, wie ich es in tun. Daraufhin begann ich, den Dance of the Forests zu schreiben … und
meinem Buch Die Toten als die Macht der Lebenden beschrieb, durch den ich vermute, seitdem habe ich nichts anderes getan als den ‚danse maca-
Pragmatismus oraler Gesellschaften bestimmt wurden und in denen sich ihr bre‘ in diesem unseren politischen Dschungel.7
„mythisches Denken“ manifestierte. Um mit Lévi-Strauss zu sprechen,
dürfte die tradierte Collagen-Dramaturgie ritualer und ästhetisch domi- Dennoch, oder gerade deswegen?, hat er seit seiner Auseinandersetzung mit
nierter, künstlerisch ausdifferenzierter Darstellungen die sinnliche, perfor- dem überlieferten Yoruba Pantheon der Göttlichkeiten in Dance of the Fo-
mative Äußerungsweise des ‚Bricolage‘-Wesens des konkreten, ‚totalisieren- rests ständig auf ‚vormodernes‘ mythisches Denken und tradierte Haltun-
den‘ Denkens (pensée sauvage) sein. Ich kann diese These im Rahmen gen (Pragmatismus) zurückgegriffen, um Ansatzpunkte zu finden, von
meines kurzen Beitrags argumentativ nicht weiter entfalten. Nur auf ein De- denen aus er/man seine, daher unsere (internationale) moderne Welt verste-
tail möchte ich eingehen, auf die Rolle, die Dee-jay für die Strukturierung hen und mit ihr fertig werden könnte. Nicht nur das. ‚Alte‘ afrikanische
des Ganzen spielt. Man sollte den zeitgenössischen Diskjockey als eine mo- (Yoruba) Denkfiguren und Verhaltensweisen dienten ihm zum genaueren
derne Version des traditionellen Geschichtenerzählers und/oder Preissän- (besseren) Erfassen der vergangenen Geschichten, der Gegenwart und der
gers, genauer des Ein-Personen-Produzenten (oral performer) einer Auffüh- Zukunft der Menschheit überhaupt. Als er Ende der Sechziger in dem in

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Myth, Literature and the African World veröffentlichten Essay „The Fourth wenn nötig könne ein Buch ein Hammer sein, eine Handgranate, die
Stage“ intensiv über das prinzipiell Tragische gesellschaftlicher und indivi- du in der trägen Betrachtungsweise der Welt detonieren lassen kannst
dueller Existenz nachdachte, den Kern seiner Weltanschauung und seiner … Mit anderen Worten, Schriftsteller/innen sollten sich nicht verpflich-
Ästhetik, bezog er sich nicht nur auf das mythische Denken und das damit tet fühlen, eine mono-stilistische Erzählung zu schaffen … Ein anderes
verbundene Tragische der Yoruba. In einer weitgreifenden Komparatistik Wort …, das von einem bestimmten Kritiker verwendet wurde, ist Am-
spann er den Bogen zum mythischen Denken der Griechen, zu Nietzsches bivalenz. Ich bevorzuge den Ausdruck der ‚Realität der Natur‘. Sicher
„ästhetischer Weltsicht“, seiner modernen Lektüre der antiken Tragödie wissen Sie über meine Faszination für die Symbolgestalt meiner Ge-
und des Tragischen im Allgemeinen. Die Yoruba Gottheit Ogun, die er als sellschaft – Ogun – Bescheid. Er verkörpert die Doppeldeutigkeit des
Symbol seiner Weltanschauung wählte, könnte man in Werten der Hellenen Menschen; den schöpferischen, den zerstörerischen Aspekt. Ich kann
ausgedrückt am besten verstehen als eine Totalität der dionysischen, apolli- die Revolution nicht sentimentalisieren.9
nischen und prometheischen Werte. Ogun stehe „für eine transzendentale
humane, aber streng restaurative Gerechtigkeit“. Er verkörpere „den kreati- Und an anderer Stelle betont er analog dazu, dass jene, die von einem Autor
ven Drang und Instinkt, die Essenz des Kreativen“, und zeichne sich durch eine eindimensionale Botschaft erwarten, bloß auf einen „billigen Schuss
eine „revolutionäre Größe“ aus. Die Yoruba Tragödie stürzt geradezu in den Optimismus für ihre Nervensystem“ aus seien. Es sei wichtig, auch negati-
„brodelnden Kessel der dunklen Welt des Willens und der Psyche, der flie- ve Auswirkungen der eigenen Handlungen in Kauf zu nehmen, und sie
ßenden, transitiven und doch unvollständigen Matrix von Tod und Ge- dann aber auch wieder zu überwinden. Deswegen greife er auf Ogun zu-
burt. In diesen universalen Leib stürzte einst Ogun, der erste Darsteller, der rück, der für ihn „die prometheische Realität unserer Existenz“ symbolisie-
Hölle entkommend.“8 re.10
Ogun, die mythische Figuration der Yoruba, spricht von komplizier- Bemerkenswert sind die Austauschbarkeit „seines Ogun“ und des Pro-
ten gesellschaftlichen Realitäten. So wurde sie zur Symbolfigur für Soyin- metheischen wie des Dionysos und die Wechselbeziehung zwischen seiner
kas Weltanschauung und Ästhetik, und so konnte er Ogun auch als einen Sicht ‚vormodernen‘ mythischen Denkens und seinem ‚sehr modernen‘ Be-
wichtigen Bezugspunkt für die Diskussion gegenwärtiger komplexer Ver- stehen auf der äußersten Komplexität, des Paradoxen oder der inhärenten
hältnisse nehmen und ihn indirekt in Zusammenhang mit Charakteristika widersprüchlichen Vieldimensionalität von Realitäten, der ‚sehr modernen‘
Westlicher Ästhetiken seit dem frühen 20. Jahrhundert bringen. 1975 kom- Einsichten in das janusköpfige Wesen jeder kreativen, produktiven Tätig-
mentierte Soyinka in einem Interview mit Agetua die teilweise kritischen keit und so, in gewissem Sinn, in die grundlegende Unbestimmtheit histo-
und „Unverständnis“ verratenden Reaktionen, die sein Buch The Man rischer Prozesse, von Geschichte schlechthin. Soyinka benutzt futuristisches
Died ausgelöst hatte: und dadaistisches Vokabular – ein Buch, übertragbar auf darstellende und
erzählende Kunst generell, soll wie ein „Hammer“ und eine „Handgranate“
Die Tatsache, dass viele Leser/innen verstört reagieren, ist für mich ein in die Öffentlichkeit hinein wirken. Er bezieht sich auf mythische Figura-
Beweis dafür, dass ich das, was ich erreichen wollte, erreicht habe. Ver- tionen der Yoruba und Griechen und die paradoxen individuellen und ge-
kommenheit, Elend, Hässlichkeit existieren Seite an Seite mit den über- sellschaftlichen Realitäten, die sie symbolisieren, um Aspekte seiner sehr
ragendsten Stadien menschlicher Subjektivität. Gemeinheit und Treu- zeitgenössischen, avancierten, avantgardenahen Ästhetik wie die Strategie
losigkeit existieren gleichzeitig … Die Gegenüberstellung von dem, was der kräftigen Verstörung und des Zertrümmerns stagnierender Wahrneh-
man als ‚die schönen Abschnitte‘ bezeichnen würde und einer Sprache, mungsweisen zu erklären – und umgekehrt.
die durch bloße, freiwillige Brutalität gekennzeichnet ist, erfolgte ab- Gleichermaßen könnten seine zwei modernen Stücke als künstlerische
sichtlich. Ich hatte verschiedene Methoden ausprobiert, um das Erleb- Neufassungen, Abänderungen oder Erweiterungen wesentlicher Charakte-
nis zu erzählen und bestimmte Anklagen zu formulieren … Ich dachte, ristika vormoderner Yoruba Kultur gelten. Ihre prinzipiell offene, jeder

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‚Schließung‘ entgegenwirkende Dramaturgie, die Haltungen des zeitgenös- sicht gestaltet sie diese fundamental um, oder in Hegels Worten hebt sie kri-
sischen, avancierten, internationalen Theaters entspricht, erinnert an, ja äh- tisch auf und verändert sie somit. Aufheben schließt jedoch Bewahrung ein,
nelt der Gestaltungsweise von oriki, dem tradierten Preisgesang der Yoruba. bedeutet auch Ähnlichsein, in wesentlichen Aspekten selbst gleichartig
Das Ganze ist aber auch – wiederum – umgekehrt zu lesen. Karin Barber dem, was aufgehoben wird/worden ist. Das betrifft zum Beispiel die Beto-
betont in ihrer herausragenden Untersuchung I Could Speak Until Tomorrow nung auf die komplizierte ‚Einheit‘, anders gesagt auf die Wünsche und In-
das „Trennende“ der oriki und die „Unvereinbarkeit der es konstitutieren- teressen des Individuums, des einzigartigen Körpers. Vergleichbar dem He-
den Teile“. Ich würde das umformulieren als ihre collagenartige Struktur, rangehen der oriki schließt Soyinkas Konzentration auf die sinnliche
die von der zugrundeliegenden oder zumindest mit ihr korrespondierenden Einheit des Individuums wesentliche Aspekte des Anderen nicht aus. Das
‚Bricolage‘-Weltanschauung spricht. Laut Barber ist ein oriki-Text weder gilt natürlich für die Gemeinschaft, in der der Einzelne lebt, für die er han-
narrativ wie ein Chronik, noch aufeinanderfolgend geordnet wie eine Kö- delt und so tragisch umkommt, ein wesentliches Moment von Soyinkas
nigsgenealogie. Die einzelnen Bestandteile eines oriki-Gesanges stehen Konzept des Tragischen. Ich würde das aber auch auf die historischen
nicht in einer notwendigen oder permanenten Beziehung zueinander; jeder Umstände und Prozesse beziehen, die Haltungen und Weltsichten des ein-
könne sich auf ein anderes Thema beziehen. Mit Bezug auf Michail Bach- zelnen Körpers prägen, vielleicht auch bestimmen. Der Position der oriki
tins Vorstellung des Dialogischen argumentiert Barber, dass oriki als dessen ähnlich basiert dieses Verstehen der Wechselbeziehungen zwischen ver-
lebende Verkörperung angesehen werden könnten. Bachtins (Westliche) schiedenen Dimensionen von ‚Realitäten‘ darauf, dass man Phänomene als
Sprache, mit der er die Ausstellung von „Unbestimmtheit, einer gewissen grundlegend ambivalente, im ständigen Fluss befindliche und letztlich un-
semantischen Offenheit, einem lebendigen Kontakt mit der unvollendeten, durchdringlich komplexe wahrnimmt. Gerade diese Sicht der Dinge ist in
sich permanent entfaltenden gegenwärtigen Wirklichkeit“ im (Westlichen) Soyinkas Textstrukturen übersetzt, vielleicht am umfassendsten und tief-
Roman beschreibe, scheine für die Analyse des oriki „wie geschaffen zu sten ‚thematisiert‘ in The Bacchae of Euripides. Der befreiende explosive
sein“.11 Die Bedeutung der Gesichtsmarkierungen in einem oriki analysie- Ausbruch bisher unterdrückter Lüste, Wünsche, von Sinnlichkeit generell,
rend, schlussfolgert sie, dass es der Unterschied ist, den die oriki zelebrieren. die Dionysos’ Erscheinen bewirkt, ist untrennbar verwoben mit dem Ver-
Gleichzeitig jedoch werde so etwas wie das Gegenteil gefeiert. Barber be- such, das eiserne hierarchische System des Pentheus zu revolutionieren. Der
ginnt ihr Kapitel zu „Trennung und Übergang“ mit Ausführungen zu der Durst des Sklavenführers nach sinnlichem Genuss, seine tiefe Liebe zum
widersprüchlichen, fast paradoxen Haltung der oriki. „Oriki markieren den Wein und zur Natur im Ganzen ist eine andere Seite seines Wunsches nach
Unterschied. Sie sind geprägt durch die Zeichen der Eigenarten, durch wel- Befreiung von den Fesseln der Sklaverei. Der Prozess der Befreiung selbst ist
che sie Unterscheide zwischen den Individuen schildern und auch an diese jedoch zwiespältig/janusköpfig, ein sehr schwer zu handhabendes Paradox
erinnern. Gleichzeitig sind sie aber auch das Medium, durch welches Gren- wie die Haltung des Dionysos zeigt. Er ist der sanfte und zugleich der grau-
zen zwischen Individuen überwunden werden.“ Macht fließt durch sie. Es same Gott, der Befreier unterdrückter Wünsche und der erfolgreiche Geg-
ist das Trennende des oriki-Diskurses, „das es den Teilhabenden einerseits ner des Sklavensystems, der nicht zögert, die, die ihm folgen, zu barbari-
ermöglicht, sich ihrer Identität zu versichern, und andererseits die Grenzen schen Mördern zu machen.
zwischen Individuen und Gruppen zu überkreuzen.“ Oriki würden „immer Das Ende der Soyinka-Texte deutet kein Abstraktum an, etwa dass es
Individualität kennzeichnen, wobei sie aber auch stets etwas Fließendes ha- ‚eine humane Lösung‘ für die angerissenen Probleme gebe. Der Schluss
ben, von mehreren geteilt werden können. Der oriki, der einem Einzelnen konnotiert die Geschichte in Theben, und, wie ich weiterdeute, Geschichte
‚gehört‘, ist ein Geflecht aus Zitaten, eine Sammlung von Entlehnungen aus im Allgemeinen ist offen, voller Paradoxe, nahezu unzugänglich ambivalent
diversen Quellen.“12 und eine unendliche Kette sich immer wieder neu setzender/ergebener
Soyinkas ‚moderne‘ Haltung spricht nicht von einer einfachen Fortfüh- schmerzlicher Widersprüchlichkeit. Der Verlauf der Vorgänge – Pentheus’
rung der überlieferten Weltanschauung und Ästhetik. In bestimmter Hin- Selbststrangulation aufgrund seines paralysierten Denkens und seine Tö-

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tung durch die eigene Mutter – verweist auf die kompliziert verworrenen Werk seinen Ausdruck moralischer Entrüstung zu Gunsten des
und nicht selten rätselhaften Resultate der Handlungen von Individuen, die ‚schmerzstillenden Mittels‘ der ‚richtigen‘ Klassenanalyse herunterschlu-
unter fürchterlichen Kosten das heiß ersehnte Ziel verfolgen, ihre Sehn- cken muss. Zumindest rückt ersterer thematisch von einer eskapisti-
süchte tatsächlich ausleben zu können. Ich erinnere: Das Blut, das aus dem schen Rhetorik ab, wie von praktischerweise abwegigen und ‚wissen-
Kopf des Pentheus sprudelt, ist zugleich auch der Wein, den die sozial anta- schaftlichen‘ Ursachen und reibt soziales Schamgefühl in die Gesichter
gonistischen Thebaner zusammen genießen. der Kollaborateure – des Publikums – und in die Abgründe ihrer mate-
Opera Wonyosi rückt die Alternative der tiefgreifenden sozialen Revolu- riellen Existenz. Wir haben nicht die Absicht, irgendeinem ‚intellektuel-
tion ins Blickfeld, die die mörderisch ungerechte Welt eines rücksichtslosen len‘ Publikum den Trost anzubieten, dass ihre materielle Situation eine
laissez-faire Kapitalismus, vielleicht, ändern kann – aber nur als eine der unausweichliche Konsequenz ihrer sozio-historischen Stellung ist. Wir
vielen Handlungsmöglichkeiten, die aus der komplexen Textstruktur zu le- sagen: ‚Schuldig‘ in allen Punkten, und dann überlassen wir den Rest
sen wären. Nur ein ‚Aktant‘ oder ‚Signifikant‘, die Reinemachefrau Jenny der potentiell neu-formenden Kraft der Gesellschaft – zu der wir, die
Schriftsteller/innen, uns zählen – um daran zu arbeiten.13
Leveller mit ihrem „Piraten“-Song, spielt darauf an. Die Präsentation vieler
differenter ‚Siginifikanten‘ oder ‚Aktanten‘ vermittelt die Vieldimensionali- Seit den Siebzigern des 20. Jahrhunderts haben sich Erscheinungsweisen
tät und so gut wie nicht ‚handhabbare‘ Komplexität des Gezeigten und/ der paradox und ambivalent bewegenden Geschichte und die Formen kon-
oder Bedeuteten ziemlich genau. Das Offene, die Unbestimmtheit dienen fliktzerrissener Gesellschaften verändert, entsprechend auch die Standpunk-
auch als Widerhaken, damit die Texte sich nicht ‚schließen‘, in der Rezep- te, die gesellschaftlichen Strategien und Diskurse, die auf die sich verän-
tion möglichst keine einfach-eindeutigen Bedeutungen generieren lassen. dernden Umstände reagieren und diese mitbestimmen. Das realistische
Die Stücke antworteten auf Überlegungen und praktische Versuche Herangehen an diese Bewegungen, der ‚scharfe Blick‘ auf die höchst kom-
zwischen den Sechzigern und den frühen Achtzigern, repressive und aus- plizierten Mechanismen von Geschichte, wie Soyinka in dem Interview mit
beuterische Gesellschaften umzubrechen. Noch einmal Soyinkas Satz von Agetua 1975 andeutete, haben ihre Gültigkeit nicht verloren. Dieses Ge-
1975, der unter anderem darauf gemünzt ist: „Ich kann die Revolution spräch, noch einmal sei zum Schluss daran erinnert, machte klar, dass seine
nicht sentimentalisieren.“ Ähnlich wies er in den Siebzigern die Kritik or- sehr gegenwärtig avancierte, politisch orientierte Ästhetik und deren zu-
thodox marxistisch-leninistischer Kollegen und Freunde zurück, dass Ope- grundeliegende Weltanschauung zu einem erheblichen Maße einer profun-
ra Wonyosi keine „klassenmäßige Perspektive“ habe. Implizit deutete seine den Befragung, dem kreativen Neubedenken und der kritischen Annahme
Antwort auf ihre ausgesprochene Blauäugigkeit, ihr idealistisches Weltver- der dialektischen „Bricolage“ mythischen Denkens und seiner kommunika-
ständnis: Soyinka sieht sein Stück als eine Darstellung verschiedener Ebe- tiven Manifestationen in Strukturen ‚traditioneller‘ Performances entspran-
nen der Machtausübung. Denn die Verbrechen einer machtbesoffenen Sol- gen. Sich umfassend mit der Vergangenheit beschäftigend, sorgfältig ‚my-
dateska an den Wehrlosen führen zu einer ebensolchen Brutalisierung auf thisches Denken‘ analysierend und tradierte afrikanische pragmatische
den unteren Machtebenen – eine Realität die jeden Menschen unabhängig Haltungen gegenüber Realitäten genau beachtend, schärfte Soyinka sein
von seiner Klassenzugehörigkeit trifft. Kunst müsse den ‚verotteten Unter- kritisches Wahrnehmen und Verstehen des schier unentwirrbar Komplizier-
leib der Gesellschaft‘ bloßlegen, reflektieren und gleichsam durch ein Ver- ten, der Paradoxe der sehr ‚modernen‘, gegenwärtigen Welt. Der ‚scharfe
größerungsglas darstellen, einer Gesellschaft, Blick‘ auf die ‚alte‘ Geschichte ermöglichte ihm, eine spezifische Variante ei-
ner eindeutig modernen Ästhetik zu entwickeln. Das mag zeigen, wie un-
die ihre Richtung verloren und jeden Sinn für Werte über Bord gewor- vorsichtig es sein kann, sich zu leicht modischer Fixierungen auf Oberflä-
fen hat, die einen Abgrund hinunter rast, so schnell es der letzte künst- chen, auf die Präsenz und die Gegenwart, oder der Vorstellung des ‚rein
liche Aufschwung nur möglich macht … Was der Schriftsteller nicht ak- Performativen‘ zu unterwerfen, Fixierungen, die die Generierung von Be-
zeptieren will, ist der irrationale Anspruch, dass ein sozialkritisches deutung, des ‚Signifizierten‘ und so kontextualer Bezüge von Performances

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oder des Performativen im Allgemeinen vernachlässigen oder sogar als nich- Hermann Schulz
tig abtun. „Die traditionelle Religion“, so Soyinka 1992 in einem Interview „Sie sind wie wir“: Erfahrungen eines Autors
mit Ulli Beier über die Yoruba Göttlichkeiten, die Orisha, mit dem Thema Afrika und mit dem deutschen Publikum
passt sich nicht nur an, sie befreit sich auch, und das scheint logisch,
denn wann immer ein neues Phänomen sich auf das Bewusstsein der
Yoruba ausgewirkt hat – ob ein historisches Ereignis, eine technologi- Hermann Schulz wurde 1938 in Nkalinzi/Ostafrika geboren. Seine
sche oder wissenschaftliche Begegnung – haben sie keine Barrieren er- Kindheit und Jugend verlebte er im Wendland und am Niederrhein.
richtet – die Türen nicht geschlossen. Sie sagen: Lasst uns das Phäno- Nach Schule und Buchhandelslehre verbrachte er einige Monate im
men betrachten und schauen, ob wir in unserer eigenen Tradition etwas Vorderen Orient. Er lebt seit 1960 in Wuppertal, wo er von 1967 bis
haben, dass dazu passt, das eine Art Analogie zu dieser Erfahrung dar- 2001 den Peter Hammer Verlag leitete. Neben vielen anderen Aus-
stellt.14 zeichnungen erhielt er 1999 die Hermann-Kesten-Medaille des
Deutschen P. E.N.-Zentrums für seine verlegerische Arbeit.
Erst mit über 50 Jahren kam Hermann Schulz zum Schreiben;
in dichter Folge entstanden seine Romane für jugendliche Leser Auf
dem Strom, Iskender, Sonnennebel, Flucht durch den Winter, Zurück
nach Kilimatinde, Schluss mit lustig und jüngst Leg nieder dein Herz
(alle Carlsen Verlag, Hamburg). Im Peter Hammer Verlag erschienen
seine Bilder- und Kinderbücher Sein erster Fisch, Wenn dich ein Löwe
nach der Uhrzeit fragt, Dem König klaut man nicht das Affenfell und
Ein Apfel für den lieben Gott. Zu seinen neueren Veröffentlichungen
gehört auch das Sachbuch Söhne ohne Väter, herausgegeben zu-
sammen mit Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke (Ch. Links
Verlag, Berlin).
Was seine Romane und Geschichten – und besonders jene, die
sich mit Afrika befassen – von der Titelflut der Kinder- und Jugendlite-
ratur abhebt, ist seine große Begabung, Fremdes nah erscheinen zu
lassen und sein untrüglicher Sinn für Humor. Sie sind „anrührend und
wahrhaftig“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), sie verzaubern und ent-
zaubern gleichermaßen. Leichtigkeit und unprätentiöser Tiefgang
gehen Hand in Hand und geben Handlung und Charakteren eine
Kraft, die in diesem Genre nur selten zu finden ist. Oft bieten seine
Geschichten dem Leser eine enorme Dichte an ethnographischen
Informationen, mit der der Autor großartige Kulturvermittlung leis-
tet, die sich aber nie pädagogisch oder moralisch aufdrängt.
„Hartnäckig nachbohrend und unbestechlich, aber mit viel Em-
pathie die Lebensverhältnisse und Lebensformen der näheren und
ferneren Mitmenschen auf unserem Planeten begreifen zu wollen“,

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zeichne ihn aus, sagte Johannes Rau in seiner Laudatio zur Verleihung Alle Träume, Sehnsüchte und Geschichten, die sich in meinem Innern
der Hermann-Kesten-Medaille an Hermann Schulz für sein Wirken als finden und von denen ich erzählen möchte, scheinen auf Afrika zu zielen,
Verleger. dort ihren Ausgangspunkt zu suchen. Mein erstes erzählendes Buch Auf
Monika Bilstein dem Strom, eine schlichte Tochter-Vater-Geschichte, spielt in Ostafrika; vier
Jahre später (zwischendurch erschienen drei ‚deutsche‘ Bücher) wurde der
Unaufgefordert hätte ich das Thema, nämlich „Afrika in meinen eigenen Roman Zurück nach Kilimatinde (über eine Sohn-Vater-Beziehung) be-
Büchern“, kaum jemals schriftlich behandelt. Es riecht sehr nach Selbstbe- endet. Fast gleichzeitig erschienen zwei Afrika-Kinderromane Wenn dich
trachtung, und wer möchte schon als eitel gelten? Vielleicht enthält es aber ein Löwe nach der Uhrzeit fragt und Dem König klaut man nicht das Affen-
doch ein paar Aspekte, die über ein allgemeines Interesse an einem Autor fell, mit dem ich ein Stück deutscher Kolonialgeschichte vom Victoriasee für
und seinen Büchern hinaus reichen, das wäre eine teilweise Rechtfertigung. Kinder ausgegraben und gestaltet habe. Beide Kinderromane haben mit der
Eine Merkwürdigkeit ist mir bei der Wahl der Orte für meine Geschich- (afrikanischen) Lebensgeschichte des deutschen Geologen Egon Friedrich
ten schon sehr früh aufgefallen: Kirschstein zu tun. (Er war mit meinen Eltern befreundet, ich traf später
Ich wurde zwar in Afrika, im damaligen britischen Protektorat Tangan- seine Kinder.) Er heiratete in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Afri-
jika geboren, habe den Kontinent aber sehr spät und relativ selten bereist. kanerin Masiti Mlenga Kapunga, hatte sechs Kinder mit ihr und begründe-
Auch Kindheitserinnerungen sind nicht vorhanden; ich war einen Monat te damit eine heute weitverbreitete mehr als hundertköpfige Kirschstein-
alt, als meine Familie nach Deutschland zurückgekehrt ist. Mein Vater starb Sippe ‚schwarzer Hautfarbe‘ in Tansania und aller Welt.
auf der Heimreise. In den Tagen der Niederschrift dieses Beitrages entwickelte sich eine neue
Trotzdem drängte sich Afrika ohne äußeren Anlass ganz in den Vorder- Romanidee, eine Liebesgeschichte, die am faszinierenden Ort Bagamoyo
grund, als ich – schon über fünfzig Jahre alt – begann, erzählende Bücher spielen soll, der vorübergehenden Hauptstadt der deutschen Kolonialregie-
(Romane, Erzählungen, Kinderbücher etc.) zu schreiben. Diese Tatsache rung im damaligen Tanganjika und altem Zentrum des arabischen Sklaven-
überraschte mich selbst, denn an einer reichen oder sonst ergiebigen Fülle handels, und nahm mich sehr gefangen. Dabei kenne ich den Ort kaum,
von Geschichten, die Afrika mir geschenkt hätte, kann es nicht liegen. Au- habe ihn vor fünf Jahren lediglich einmal für wenige Stunden besucht.
ßerdem begann die Phase des ‚literarischen‘ Schreibens Mitte der 1990er Ich habe oft über die Gründe solcher fast magischer Anziehungskräfte
Jahre an der mexikanischen Pazifikküste, wo kaum etwas an Afrika erinnert. nachgedacht, aber noch keine schlüssige Erklärung gefunden. Immerhin
Bevor ich (nach meiner Geburt) wieder nach Afrika kam, habe ich eine ahne ich inzwischen, warum Afrika der Kontinent der großen Geheimnisse
nicht unerhebliche Anzahl anderer Weltgegenden bereist, aus beruflichen und auch der Versuchungen genannt wird.
(Seminare für Verlegernachwuchs) und persönlichen Gründen und weil Als Verleger habe ich über lange Zeit hinweg mein Augenmerk nur auf
mein politisches Engagement für die Revolution in Nicaragua es erforderte. Lateinamerika gerichtet, bis ich Mitte der 1970er Jahre – mehr durch Zufäl-
Aus dem Land Nicaragua z. B. mit seiner unglaublich spannenden Revolu- le ausgelöst – auf Afrika stieß und anfing, mich um die afrikanische Litera-
tion, die ich aus nächster Nähe erlebt habe, seinen Dichtern, seinen vielen tur bei uns zu bemühen. Hin und wieder ergaben sich dabei Autoren- und
Kulturen und traumhaften Landschaften hat bei mir bis heute trotz vieler Verlagsbesuche in afrikanische Länder. Diese Reisen ab Mitte der 1970er
Abenteuer und Freundschaften keine Geschichte an die Tür geklopft, die Jahre waren nie ‚normale‘ Dienstreisen, sie unterschieden sich von allen an-
mich hätte motivieren können, sie zu einem Romanprojekt zu machen. In deren. Sie waren ausnahmslos bewegende, aufwühlende Erlebnisse; man-
Thailand, Kolumbien, der Ukraine oder Syrien hatte ich Begegnungen fas- che schön, andere ärgerlich. Aber immer hatten sie besondere Ausprägun-
zinierender Art, nach der sich viele Autoren die Finger schlecken würden! gen und waren voller starker Eindrücke.
Daraus Romane entstehen lassen? Nichts rührt sich bei mir! Vielleicht än- Wenn ich aus meinen Afrika-Büchern in Buchhandlungen, Kulturhäu-
dert sich das ja noch, wer weiß? sern oder Schulklassen lese, sind die Zuhörer durch Einladungen, Artikel

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oder Handzettel bereits darüber informiert, dass der Autor Afrika nicht nur tion. In gleicher fragwürdiger, aber heute kaum noch zu entschuldigender
aus eigener Anschauung kennt, sondern dort geboren wurde. Das wirkt of- Tradition erscheinen auch jetzt noch meist überraschend erfolgreiche Bü-
fensichtlich wie ein Markenzeichen, ist Beweis für das Authentische seiner cher. Das zu vermeiden war das Mindeste, das ich von mir als Verleger von
Geschichten und Informationen. Wenn ich dann in den Gesprächen richtig Afrikaromanen in der Zeit nach der 68er Bewegung jener ‚Dritte-Welt-Sze-
stelle, dass ich schon als Säugling nach Deutschland gekommen bin und ne‘ schulde, mit der ich Jahrzehnte zusammen gearbeitet habe und die sich
erst im Alter von 37 Jahren wieder afrikanischen Boden betreten habe, ent- aus guten Gründen um eine neue Sprache und Sicht des Kontinents bemüh-
täuscht das zwar ein bisschen, kann aber den Glauben an die Glaubwürdig- te. Das ist für mich nicht nur eine Frage der Treue oder der political correct-
keit meiner Geschichten nicht wirklich erschüttern. Das gilt auch für die ness.
Medien, wenn sie über meine Bücher schreiben. Ich bin weit davon ent- Den Afrikaner/innen, die ich zu zeichnen versuche, nähere ich mich in
fernt, ihnen zu widersprechen, wenn sie meine intime Afrikanähe betonen meinen Texten außerordentlich vorsichtig. In allen bisherigen Fällen (be)-
oder schreiben, dass dieser Autor „viel mehr als nur oberflächliche Kennt- nutze ich eine ‚Vorlage‘, eine Person, die ich gut kenne und der ich mensch-
nisse von Land und Leuten hat. Selten findet man in der Jugendliteratur aus lich nahe gekommen bin. Dann beginnt für mich eine nicht ganz leichte
der Feder europäischer Autoren so genau ausgewogene Porträts von Schwarz- Gratwanderung: Wie reden Afrikaner/innen über Erotik, über Sex, über
afrikanern.“1 Aber ganz wohl ist mir dabei nicht. Es gibt eine gewisse Ver- Familie, über Leben und Sterben? Wie behandeln sie Konflikte, streiten mit
suchung, die ‚Gnade‘ eines afrikanischen Geburtsortes auszunutzen. Meis- ihren Nachbar/inne/n? Redet und streitet nur ‚mein‘ Afrikaner so oder hat
tens aber gestehe ich missmutig in den Fragerunden, dass ich nicht einmal die Erfahrung allgemeine Gültigkeit? Nichts hat allgemeine Gültigkeit!
eine afrikanische Sprache beherrsche und nur selten länger als zwei, drei Also muss ich versuchen, einen Charakter zu zeichnen, der das jeweilige
Wochen in Tansania oder Kenia oder Westafrika gewesen bin – und mich afrikanische Land ‚passen könnte‘, eine mögliche Persönlichkeit – und ih-
trotzdem ganz wohl fühle, wenn meine Geschichten ‚afrikanische‘ Ge- ren Blick auf die übrige Welt. Um das einigermaßen glaubwürdig bewerk-
schichten sind. stelligen zu können, brauche ich die Begegnungen mit Afrikaner/inne/n, in
Ich verheimliche auch nicht, dass ich z. B. beim Abfassen des Romans Afrika und hier. Und die Gespräche mit ihnen. Alles andere ist eine ganz
Zurück nach Kilimatinde die Hilfe eines deutschen Missionsarztes in An- normale handwerkliche Herausforderung an den Autor, der ja immer ‚sein‘
spruch genommen habe, der mir aus persönlicher Kenntnis den Ort bis in Personal differenziert zeichnen muss – und öfter als vermutet feststellt, dass
alle Einzelheiten beschreiben musste und mir Diapositive zur Verfügung sich Afrikaner/innen, afrikanische Dörfer und Städte, Konflikte und Dra-
stellte. Ich kannte zwar die Umgebung von Kilimatinde, nicht aber den Ort men letztlich kaum von europäischen unterscheiden. Trotzdem lassen sich
selbst. Auf die Frage, warum der Roman ausgerechnet in diesem Ort spielt, Geschichten nicht beliebig in jede Ecke der Welt und in jede Zeit verlegen.
muss ich dann leider die Antwort schuldig bleiben. Die Geschichte selbst Die Faszination für Afrika, die aus der Biografie also nicht direkt abzu-
hat mir vielleicht den Ort diktiert? leiten ist (es sei denn, man bewertet die Rolle des abwesenden Vaters in die-
Der Antwort auf die Frage, was mich an Afrika interessiert, komme ich se Richtung), hat noch eine andere Ursache. Nicht nur Afrika interessiert
vielleicht näher, wenn ich genauer hinsehe, welcher Art meine Afrika-Ge- mich, sondern die Begegnung der Weißen, der Europäer/innen, mit den
schichten sind – und was sie mit meiner Biografie verbindet. ‚Fremden‘, den von ihnen als ‚Fremde‘ und ‚exotisch‘ Wahrgenommenen.
Von Anfang an, das ist klar, habe ich vermieden, in meinen Geschich- Das könnte auf den Beruf meines Vaters, eines protestantischen Missionars,
ten die Afrikaner/innen nur zu Statist/innen der europäischen Abenteuer, zurückzuführen sein. Ich habe ihn zwar nicht gekannt, aber mir seine Welt
Lebens- und Liebesdramen zu machen. Sie sind Handelnde, teilweise wich- oft vorgestellt. Den Beruf eines Missionars umgab für uns Kinder das
tige Protagonist/innen. Das war bei berühmteren Autoren wie Hemingway, Abenteuerliche, das Gefahrvolle, das freiwillig eingegangene Lebensrisiko;
Tania Blixen oder Joseph Conrad, die ja auch nur Kinder ihrer Zeit waren, ein Leben ohne Aussicht auf weltliche Reichtümer, aber voller freiwilliger
schon problematischer: Afrikaner/innen bildeten für sie exotische Dekora- Opfer. Das heroische Bild stand in einem seltsamen Kontrast zu (fast) allen

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Missionaren, die ich kenne und kannte und die mit ihrem biederen Habitus „Was unterscheidet Afrikaner/innen von uns?“
meinem kindlichen Anspruch nicht standhalten konnten: Sie waren fromm
und bigott, sie prügelten in brutaler Weise ihre Kinder – und nicht selten Sie kommt immer wieder, bei jeder Veranstaltung, in immer neuen Varia-
auch die Schwarzen! Ihretwegen als (einzigen) Zeugen afrikanischer Aben- tionen.
teuerwelt hätte ich vermutlich afrikanischen Boden nie wieder betreten. Was verbirgt sich dahinter? Furcht und Erschrecken, diese Schwarzen
Auch das Bild, das sie uns von den Afrikaner/inne/n vermittelten, kann heu- könnten vielleicht doch zur gleichen Sorte Lebewesen gehören wie wir selbst?
te kaum bestehen: es war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, an die ich Die Hoffnung, dieser ‚Afrikakenner‘ würde vielleicht unsere Ängste klären
mich auch erinnere, zutiefst rassistisch geprägt, ihre Motivation, nach Afri- können – und nicht die Schwarzen, diese ‚Wilden‘, diese Drogenhändler an
ka zu reisen und diese Schwarzen zu ‚bekehren‘, erscheint uns heute eher unseren Straßenecken, die Killer aus dem kongolesischen ‚Dschungel‘ mit
fragwürdig. uns, unserer Intelligenz und Schönheit, vergleichen?
Trotzdem konnten diese Missionare mein leuchtendes Afrikabild (im Es ist ja unglaublich, wie sich manche Vorbehalte den Afrikaner/inne/n
versteckten Innern, kaum bewusst) nicht ganz verdunkeln, denn Kinder- gegenüber rund um den Globus erhalten und wie selbst unter Vertreter/in-
träume sind hartnäckig und unabhängig. Einer unter vielleicht zwanzig ne/n nichteuropäischer Gesellschaften eine Art Rangordnung im Sinne von
Missionaren, die mir in der Kindheit regelmäßig begegneten, war eine Aus- Qualitätsmerkmalen gefordert wird: Auf einer Akademietagung über Ras-
nahme. Es war ein Mann namens Wilhelm May. Er redete niemals fromm sismus meldete sich eine als links bekannte Lateinamerikanerin aus Chile,
daher, sah aus wie ein Kinoheld, blond, großgewachsen, wilder Schnurr- die im Kontext von Rassismus selbst als Nicht-Weiße kategorisiert wird und
bart, strahlende blaue Augen. Er war der einzige unter den Missionaren, der Rassismuserfahrungen gesammelt hat, zu Wort und sagte (ich versuche, das
mich nicht fragte, ob ich „auch den Heiland lieb hätte“, sondern auf gleich- hier wörtlich wiederzugeben!):
er Augenhöhe mit mir sprach – und den Sechsjährigen einlud: „Eines Tages „Wie rassistisch die Deutschen sind, merkt man schon daran, dass sie
besuchst du mich in Afrika!“ die Neger mit uns und vielen anderen Völkern der Dritten Welt in einen
Er war es auch, der von seinen ‚afrikanischen Zöglingen‘ nicht wie von Topf schmeißen!“
einfältigen Trotteln sprach. Heute weiß ich, dass er für den vaterlos auf- Betretenes Schweigen bei den Veranstaltern und beim größten Teilen des
wachsenden Jungen einen unauslöschlichen, später sicher wirksamen Ein- Publikums – bis einige wenige in befreiendes Gelächter ausbrachen! Ich
druck hinterlassen musste! fand, dass man sich ein besseres Beispiel, wie Rassismus funktioniert, gar
Was mich als Autor an Afrika also interessiert – das haben meine Ge- nicht wünschen konnte!
schichten früher gewusst als ich selbst – ist die Begegnung zwischen Afrika- Was manchmal hinter den Fragen aus dem Publikum steckt, vermag ich
ner/innen und den Weißen (also auch mir!). Von nichts anderem handeln nicht wirklich auszuloten. Ich spüre eine innere Verunsicherung, zugleich
meine Bücher – was die Geschichten einfach besser wissen und aussagen. Es auch Faszination, wenn das Thema ‚Wir und die Schwarzen‘ auf dem Tisch
ist dieses Drama, das in der multikulturellen Diskussionskultur unserer liegt. Man kann, wenn man will, lange tiefenpsychologisch über Weiße Äng-
Tage nur undeutlich zur Sprache kommt. ste und Schwarze Minderwertigkeitsgefühle – und das in allen Variationen –
Aus dem Publikum kommen immer viele Fragen zu Afrika; mehr als ich reden; es bringt uns letztlich nicht weiter.
beantworten kann. Äußere ich mich andererseits ausführlich zu den weni- Wenn ich mich kurz fassen kann, sage ich, dass uns die ‚kulturelle Ent-
gen Themenkomplexen, in denen ich mich wirklich kompetent fühle, über- wicklung‘ unterscheidet, sonst aber nichts! Damit wäre ich aus dem Schnei-
fordere ich meist das Interesse. Verlangt werden immer wieder nur kurze, der. Aber so einfach komme ich selten davon.
nicht allzu differenzierte Übersichten über Probleme der Politik, der Ge- Denn: Was heißt kulturelle Entwicklung?
schichte, der Wirtschaft, der Kultur. Eine immer wiederkehrende Frage be- Ich beginne dann das mühsame Geschäft, jene Felder ausfindig zu ma-
rührt tief sitzende Ängste: chen und zu beschreiben, wo sich Afrikaner/innen von ‚uns‘ unterscheiden:

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starke Religiosität, Rolle der Familien- und Klanbindung, Musikalität, Afrikaner/innen sind höflich, sie würden ihre Kritik nie offen oder gar ver-
Glaube an das Wirken der Ahnen für die Nachgeborenen etc. – obwohl mir letzend äußern. Ich hätte aber – durch alle Nebel der Höflichkeit hindurch
solche Deutungsversuche nicht besonders gefallen. Nach allem, was ich in – herausgespürt, wenn ihnen Rassismus oder Eurozentrismus in meinen Ge-
Afrika und mit Afrikaner/inne/n erlebt habe, kann ich eigentlich zweifels- schichten begegnet wäre. Das gibt mir eine gewisse Genugtuung. Ob der
frei nur feststellen: Plan meiner afrikanischen Freunde gelingt, einige meiner Titel ins Kisuahe-
Sie sind wie wir! li zu übersetzen und herauszubringen, steht in den afrikanischen Sternen.
Zu dieser Aussage greife ich dann, wenn aus dem Publikum die immer
vorhandenen Schlauberger (mit oder ohne Afrika-Erfahrung) davon zu re-
den beginnen, wie Schwarze Soldaten am Ende des Weltkrieges sich als so
kinderlieb erwiesen hätten, dass Louis Armstrong so emotional gewesen sei,
dass es aber auch zu Vergewaltigungen im Krieg gekommen sei! – und was
sonst nicht noch alles! Noch schlimmer das, was – mit den Schwarzen im
Land – noch alles hätte passieren können!
Ich kann mir aus den Erklärungsnöten helfen, indem ich darauf hinwei-
se, dass ich mir kein Afrika erfinde, dass ich es so erlebe, wie in meinen Bü-
chern aufgeschrieben, dass keine meiner Geschichten wirklich erfunden sei,
dass ich für alle eine bestimmte, nachweisbare Haftung an wirklichem Ge-
schehen, also an der Realität (oder was wir dafür halten) nachweisen könne.
Jedermann könne ja nachlesen, so beteuere ich dann, was mir an erfreuli-
chen und merkwürdigen Geschichten in Afrika mit Afrikaner/inne/n be-
gegnet sei. Und ich rede dann auch von der afrikanischen Fähigkeit zu ver-
zeihen, Gäste großzügig und ohne Vorurteile aufzunehmen, von der noch
größeren Gabe, die schmerzliche Geschichte von Sklaverei und Kolonialzeit
als die eigene Geschichte zu akzeptieren!
Es ist ja auch eine wichtige Phase unserer Geschichte. Trotzdem kommt
sie (zumindest in Deutschland; England und Frankreich haben andere his-
torische Voraussetzungen) weder in den Schulen noch auf dem Buchmarkt
oder in den Medien angemessen vor. Nun kann man Interesse – vor allem bei
Jugendlichen – nicht erzwingen. Es wäre aber das Mindeste, dass die Organe
der politischen Bildung (auf Länder- und Bundesebene) die jetzt anstehen-
den Gedenkjahre [100 Jahre Herrero-Aufstand (2004) in Namibia; 120 Jah-
re Berliner Afrikakonferenz (2004/05)] nutzen, um lange Versäumtes nach-
zuholen und wenigstens versuchen, den deutschen Jugendlichen diesen Teil
ihrer Geschichte nahe zu bringen. Einige brauchbare Filme und spannende
Darstellungen (z. B. Morenga von Uwe Timm) stehen ja zur Verfügung.
Über meine Bücher habe ich bisher nur mit wenigen Afrikaner/inne/n,
die sie in Deutsch oder in Übersetzungen gelesen hatten, sprechen können.

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Ulli und Georgina Beier Das erste war ein Junge, der sehr früh starb. Ich habe heute noch ein Foto
Afrikaner in Australien – Gespräche mit zwei Musikern von ihm, das mir viel bedeutet. Später hatte sie ein Mädchen, meine ältere
und einem Wissenschaftler aus Süd-, Ost- und Westafrika Schwester. Dann bekam sie noch ein Mädchen, das leider an Polio erkrank-
te, und dann, nachdem sie mich bekommen hatte, dachte sie, sie würde
noch einen letzten Jungen haben. Aber nach fünf Jahren gebar sie dann
Ulli Beier ging 1950 nach Nigeria, wo er insgesamt 20 Jahre lebte. Er meine jüngere Schwester, die jetzt Lehrerin in einem Gymnasium in Ugan-
gründete und leitete dort Kulturzentren und Forschungsinstitute. da ist.
1963 kam Georgina zu ihm nach Oshogbo in Nigeria, und ihre mittler- Ich wuchs in einer sehr warmherzigen Familie auf. Ich sah meinen Vater
weile vierzigjährige Partnerschaft begann. Georgina leitete mehrere nur am Wochenende, weil er mit seinen Pflichten als politisch verantwortli-
Kunstworkshops in Nigeria und später in Papua-Neuguinea, aus che Person des Dorfes sehr beschäftigt war. Deshalb wuchs ich bei meinem
denen bedeutende, moderne Kunstbewegungen entstanden sind. Großvater auf. Er brachte mir bei, wie man früh am Morgen aufsteht, wie
1981 gründete Ulli Beier das Iwalewa-Haus in Bayreuth, ein Zent- man arbeitet. Von ihm lernte ich alle Traditionen meines Volkes.
rum für Kunst und Kultur aus Afrika, Asien und dem Pazifik. Ulli und Zu Hause lernte ich Singen, weil man bei uns oft bis spät in die Nacht
Georgina Beier leben seit 1997 in Sydney. Er veröffentlicht nach wie sang und ich immer versuchte mitzusingen. Und ich war der Einzige in un-
vor zahlreiche Bücher und Artikel über Kunst und Kultur in Afrika und serer Siedlung, der das Thumb Piano spielte. Niemand hat mich unterrich-
dem Pazifik. Sie ist als Künstlerin aktiv. Ihre Sammlung von Interviews tet, ich habe es mir selbst beigebracht. Viele tradierte Lieder waren sehr
über Essen und Gastfreundschaft in Afrika wird in Kürze als Buch ver- kompliziert, und es war wirklich nicht leicht, sie gleichzeitig zu singen und
öffentlicht. zu spielen, weil sie jede Menge Synkopen haben. Ich erinnere mich daran,
Adele Tröger dass die Leute nachts zum Singen kamen, aber niemand tanzte. Deshalb
habe ich eines Nachts, als ich sang und die Okembe spielte, einfach zu tan-
Noch vor zwanzig Jahren begegnete man in Sydney fast nie Afrikanern1. In- zen angefangen. Das hat den Leuten gut gefallen und sie gaben mir sogar
zwischen arbeiten auch sie in Australien – als Universitätsprofessoren, Un- ein bisschen Geld. Sie sagten: „Kauf dir Lollies!“ Ich kann mich nicht mehr
ternehmer, Musiker oder Taxifahrer. Ihr Beitrag zum wirtschaftlichen und erinnern, wie viel Geld sie mir gaben, aber es war ziemlich viel und ich
kulturellen Leben des Landes ist kaum bekannt. konnte losziehen und jede Menge Lollies kaufen, so dass ich sogar meinen
Die folgenden drei Gespräche haben wir 2004 in Sydney geführt. Um Schwestern welche abgeben konnte.
die Texte fließender und lesbarer zu machen, haben wir uns herausredigiert. Ich liebte den Klang der Okembe schon als kleines Kind, und immer
Ulli und Georgina Beier wenn ich einen Erwachsenen die Okembe spielen hörte, setzte ich mich zu
ihm, und wenn er Pause machte, fragte ich: „Darf ich mal probieren?“ Aber
erst an der Pädagogischen Hochschule lernte ich das Instrument richtig,
Charles Euchu weil die Schule nämlich einen Instrumentenbauer angestellt hatte, der
Thumb Pianos und Xylophone baute, verschiedene Instrumente. Diese In-
Ich bin aus dem Soroti-Distrikt in Ost-Uganda, an der Grenze zu Kenia. In strumente standen uns zur Verfügung. Und ich lernte schnell, weil der Mu-
Uganda spricht man 30 oder 40 Sprachen, die in zwei Hauptgruppen fal- siklehrer der Nachbarschule, die zur Hochschule gehörte, uns unterrichtete.
len: Luo und Bantu. Meine Sprache, Kumam, gehört zur Luo-Gruppe. Ich erinnere mich daran, dass ich die Nationalhymne von Uganda auf der
Mein Vater war kein traditioneller Chief in unserem Dorf, sondern wur- Okembe spielen und gleichzeitig singen konnte. Das konnten nur ganz we-
de von der Regierung ernannt. Sein Status verlangte es, mehrere Frauen zu nige! Die Okembe hat mich bis jetzt durch mein Leben begleitet. Ich habe
haben. Meine Mutter war die erste von vier Frauen und hatte fünf Kinder. sie als Lehrer in einem College in Uganda gespielt, und ich stellte dort einen

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Instrumentenbauer an, um Okembes für die Schule zu bauen. Ich brachte Weil ich in meiner Sprache sang, stellte ich immer ein großes Schild mit
meinen Schülern das Okembespielen bei. plakatgroßen Papierbögen auf, auf die ich die englische Übersetzung mei-
Ich war neun Jahre lang Lehrer in Uganda. Nachdem ich meine Ausbil- ner Lieder schrieb. Immer, bevor ich ein neues Lied anfing, blätterte ich
dung als Lehrer beendet hatte, unterrichtete ich zwei Jahre lang an einem um. Das gefiel dem Publikum anscheinend. Ich erinnere mich deutlich an
Gymnasium. Dann belegte ich an der Makerere Universität in Kampala ei- den Abend, an dem ich vor dem Hoyts-Kino spielte und euch beide zum
nen Kurs für Musik und Drama. Mit dieser Zusatzausbildung begann ich ersten Mal traf. Ihr seid auf mich zugekommen, als ich anfing einzupacken,
an einer Pädagogischen Hochschule zu unterrichten, weil ich mit ganzem und ihr habt mich zu euch nach Hause eingeladen. So habe ich euren Sohn
Herzen daran glaubte, dass die Musikausbildung schon in der Grundschu- Tunji kennengelernt, der damals vierzehn war, und eine Zeit lang spielte er
le anfangen muss. Deshalb ging ich zum Erziehungsministerium und sagte: abends mit mir auf den Straßen von Sydney Musik. Er spielte die nigeriani-
„Wir müssen den Grundstein für Musikausbildung in der Grundschule le- sche Sekere, eine große Kürbisrassel, und bereicherte meine Musik mit ei-
gen,“ und sie gaben mir die Gelegenheit, Grundschullehrer auszubilden. nem vollen rhythmischen Klang.
Ich glaubte daran, dass die Kinder, wenn sie ins Gymnasium kommen, in Später verdiente ich viel mehr mit der Okembe, indem ich in Mittel-
der Lage sein sollten, Noten zu lesen und zu schreiben und Musik aufzu- schulen in New South Wales auftrat. Ich machte Werbung für mich und
führen. wurde von 57 Schulen in ganz New South Wales eingeladen.
Ein paar Jahre lang, während der Herrschaft von Idi Amin, wurde das Ich erinnere mich daran, dass ich sogar drei Nächte lang in Brewarrina
Leben sehr schwierig, und mein Leben war sogar in Gefahr. Dann über- war, ganz im Westen von New South Wales, wo die Uraustralier leben. Ich
nahm Milton Obote die Regierung. Er glaubte fest an eine den Fähigkeiten dachte, sie seien Leute wie ich, und dachte, dass es gut wäre, eine Nacht bei
entsprechende Ausbildung und ermutigte die Leute dazu, sich für Stipen- ihnen zu verbringen. Sie boten mir auch gleich einen Schlafplatz an. Ich
dien im Ausland zu bewerben. Ich bewarb mich für ein Stipendium in Aus- kaufte ein paar Getränke und Fleisch für sie, und wir grillten und sie mach-
tralien, für einen Kurs in Englisch als Fremdsprache. ten viel Musik. Als ich müde war, fragte ich sie nach meinem Schlafplatz.
1982 kam ich für einen einjährigen Kurs an die University of Sydney. Es war ziemlich ungemütlich, aber das machte mir nicht zuviel aus, weil ich
Während ich den Kurs machte, überlegte ich, was ich tun könnte, um mich so müde war. Aber am nächsten Tag zog ich in ein Hotel um. Und weil sie
im Musikbereich weiterzubilden. Mir wurde schnell klar, dass ich zwar be- glaubten, ich hätte viel Geld, kamen sie und schlugen ein Lager vor meinem
reits Konzerte gab, aber nicht genug über Harmonielehre wusste, um den Hotel auf und machten sogar ein Lagerfeuer. Deshalb kaufte ich ihnen was
Aufnahmetest einer australischen Universität zu bestehen. Ich hatte damals zu trinken und sie tranken dort bis spät in die Nacht. Als ich schlafen ging,
eine australische Freundin, deren Bruder am Konservatorium in Sydney un- zogen sie ab.
terrichtete. Sie redete mit ihm und er nahm mich als Privatstudenten auf. Bevor ich mein Konzert in der Schule gab, versuchte ich, einen Auftritt
Ich lernte schnell und nach zwei Monaten wusste ich genug über Harmo- für die Erwachsenen unter ihnen zu organisieren. Sie gaben mir die Ge-
nielehre, um als Musikstudent an der Universität von Wollongong aufge- meindehalle, aber es war eine Enttäuschung – nur wenige kamen. Sie inter-
nommen zu werden. Ich musste nach Uganda zurückgehen, um ein weite- essierten sich nicht für das, was ich machte, sondern nur für die Drinks, die
res Stipendium für zwei Jahre Musikstudium zu beantragen. Zum Glück ich ihnen kaufte. Ich sprach mit ihrem Anführer. Ich sagte: „Schau, hier ist
habe ich das Stipendium bekommen, aber nach kurzer Zeit in Wollongong eine Polizeistation, aber da ist kein einziger Schwarzer Polizist; hier ist eine
wurde mir klar, dass das Geld nur für ein Jahr reichen würde. Und als ich Schule, aber alle Lehrer sind Weiße! Ihr habt einen Supermarkt hier, aber
völlig pleite war, fing ich an, mir als Straßenmusikant meinen Lebensunter- kein einziger Schwarzer ist dort angestellt. Was ist denn los mit euch? Der
halt und die Studiengebühren zu verdienen. Das war 1985. Als Straßenmu- ganze Ort ist in den Händen der Weißen.“
sikant mit der Okembe in Sydney habe ich mir mein Studium in Wollon- Ich war total enttäuscht und traurig, weil die Leute so demoralisiert
gong verdient. schienen. Die Schulkinder waren wacher. Sie fanden die Musik ein bisschen

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fremd, aber sie liebten meine Geschichten. Sie stellten mir viele Fragen über digte ich und ging zum Erziehungsministerium. Damals hatte ich bereits
meine Musik, mein Instrument, meine Sprache und mein Land. meine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Australien. Man sagte mir:
Als ich mit meinem Musikstudium an der Universität in Wollongong fer- „Wir haben keine permanenten Stellen frei, Sie müssen als Ersatzlehrer ein-
tig war, bewarb ich mich als Lehrer. Meine erste Schule war die Grafton High springen.“ Das war gut, weil es mir ermöglichte, verschiedene Schulen und
School, und dort hatte ich viele Probleme. Die Angestellten waren sichtbar verschiedene Umgebungen zu erleben. Man sagte mir, dass es viele Aus-
schockiert, dass man ihnen einen Schwarzen als Lehrer geschickt hatte. Ich hilfsstellen in der Gegend um Campbelltown gäbe, und deshalb zog ich
fand bald heraus, dass die Leute in Grafton politisch immer noch an ein dorthin und mietete eine kleine Wohnung. Der erste Job war in der Sir Jo-
Weißes Australien glaubten. Eine Lehrerin lud mich zum Mittagessen ein seph Banks High School. Aber auch dort gab es einige Probleme. Als ich
und sagte: „Wäre es nicht besser für Sie, das Unterrichten aufzugeben und den Direktor zum ersten Mal traf, sagt er zu mir: „Hey, ich wusste nicht,
nach Sydney zurückzugehen und irgend ein Geschäft aufzumachen?“ Ich dass Sie ein Schwarzer sind!“ Und er weigerte sich, mich als Musiklehrer an-
hielt das für einen Scherz, aber als sie mir diesen ‚Rat‘ später noch ein paar zustellen. Er wollte mich als Aushilfslehrer für alle Fächer anstellen, der al-
Mal gab, wurde mir klar, dass die Schule mich loswerden wollte. Sie gaben les Mögliche unterrichten musste. Aber ich weigerte mich, das zu tun. Ich
mir die Klasse mit den schwierigsten Schülern. Wenn ich nicht aus Uganda sagte: „Nein, das gefällt mir nicht. Wenn Sie mir Musik geben, kann ich das
gekommen wäre, hätte ich mit ihnen vielleicht fertig werden können. Aber gründlich unterrichten.“ Als ich mich beim Erziehungsministerium beklag-
ich komme aus einem Land, in dem die Schüler hochmotiviert sind und un- te, nahmen sie mich von der Schule und schickten mich zu einem Dreimo-
bedingt lernen wollen. Und deshalb war ich auf so etwas in keiner Weise ge- natskurs, damit ich als Lehrer für alle Fächer einsetzbar werden sollte – also
fasst. Ich war nicht darauf vorbereitet, Schüler zu haben, die sich mit dem einer, der ein bisschen Mathematik, ein bisschen Naturwissenschaften, ein
Rücken zu mir setzten und sich stur weigerten, meinen Anweisungen zu bisschen Geschichte unterrichten kann. Aber ich war hartnäckig, und als sie
folgen. Nach kurzer Zeit war ich ratlos, wie ich meinen Unterricht weiter uns baten, ein paar Unterrichtsstunden vorzubereiten, um zu zeigen, was wir
gestalten sollte. Und die Schule half mir nicht. Die Lehrer sagten mir nichts gelernt hatten, weigerte ich mich, Naturwissenschaften vorzubereiten und
über die Regeln an der Schule, nichts über ihre Erfahrungen, über ihre Zie- bereitete stattdessen eine Musikstunde vor. Ich versammelte ein paar Schul-
le und ihre Methoden. Sie wollten mich tatsächlich loswerden, weil sie ras- kinder um mich und bereitete eine sehr gute Musikstunde vor. Deshalb gab
sistisch waren. man mir keine Qualifikation als „Lehrer für alle Fächer“. Ich dachte schon,
Ich hatte ein kleines Erfolgserlebnis mit der Klasse. Eines Tages brachte man würde mich aus dem Erziehungswesen werfen, aber sie sagten mir:
ich für alle Schüler in der Klasse ein Glockenspiel mit. Ich spielte ihnen eine „Sie können Musiklehrer bleiben, wenn Sie als Aushilfslehrer in diesem
einfache Melodie vor und bat sie, sie auf ihrem Instrument nachzuspielen. Fach Arbeit finden.“ Und damit hatte ich keinerlei Schwierigkeiten. Ich
Aber das Resultat war völliges Chaos! Sie hatten es nie gelernt, Noten zu le- wurde ein beliebter Musiklehrer und arbeite jetzt seit fast acht Jahren als
sen. Sie verstanden die Noten nicht. Sie hämmerten einfach wild und ziel- Aushilfslehrer. Ich war nie einen Tag ohne Arbeit. Und weil ich als Aushilfe
los auf ihre Instrumente ein. Die Tasten flogen von ihren Instrumenten! so erfolgreich war, habe ich endlich von der Bank eine Hypothek für ein
Und als ich sie bat, aufzuhören, hörten sie nicht auf mich. Als ich später da- Haus bekommen, weil sie sahen, dass ich regelmäßige Arbeit habe. Ein paar
rüber nachdachte, beschloss ich, für die nächste Stunde bestimmte Tasten Jahre lang habe ich für katholische Schulen gearbeitet. Aber 1995 ging ich
von den Instrumenten zu entfernen, so dass sie gerade mal genug Tasten zurück zum Erziehungsministerium, wo man mir den Job in der Aird High
hatten, eine Fünftonleiter zu spielen. Egal welche Note ein Kind anschlug, School in Campbelltown gab. Es gab dort einen Musiklehrer, der mich für
sie war immer in perfekter Harmonie mit dem Klang, den die anderen Kin- den Job vorgeschlagen hatte und sich sehr um mich kümmerte. Nach eini-
der produzierten. Sie waren sehr überrascht und es wirkte Wunder. Es ger Zeit wurde ich dort fest angestellt. Leider ging er bald darauf in den Ru-
schien ihr Gemüt zu stabilisieren. hestand und nach ihm kam ein jüngerer Lehrer, der wieder viele Probleme
Trotzdem konnte man diesen Kindern nichts beibringen, und so kün- machte. Ich wurde an die Leumeah High School versetzt, nicht weit von

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meinem Haus. Ich blieb viereinhalb Jahre dort. Und wieder hatte ich Prob- gen gehalten werden. Meine eigene Mutter irrt herum. Sie ist in Soroti, in
leme mit anderen Lehrern, die an die Schule kamen. Ich bat um eine Ver- der Nähe der Grenze zu Kenia. Ich rede oft mit ihr. Sie hat ein Mobiltele-
setzung und wurde dann an die Schule geschickt, wo ich jetzt immer noch fon. Sie kann es sich nie leisten, mich anzurufen, aber ich kann sie jederzei-
unterrichte. tig anrufen und mit ihr reden. Und mit dem bisschen Geld, das ich schi-
Ich hatte viele Schwierigkeiten, weil ich afrikanische Werte habe, die cken kann, kommt meine Familie einigermaßen durch.
andere nicht mit mir teilen, und ich halte an meinen Werten fest, und die In unserer Familie unterstützen sich alle sehr. Als ich aufgewachsen bin,
Kinder mögen mich. Ich habe sogar Briefe von Eltern, die mich loben, und haben sich mein Vater und sein Bruder wirklich darum bemüht, dass jedes
sogar Briefe von einigen Kindern. Und mit Hilfe der Eltern habe ich bis Kind in der Familie eine Ausbildung bekam, bis zur Universität sogar, und
jetzt überlebt. Aber selbst jetzt ist da eine Koordinatorin in unserer Fakul- sobald ich in Australien Geld verdiente, eröffnete ich ein spezielles Konto in
tät, eine Landwirtschaftslehrerin, die keine Ahnung von Musik hat. Wahr- Uganda, auf das ich regelmäßig Geld für die Ausbildung der Kinder in mei-
scheinlich denkt sie, ich will der leitende Musiklehrer werden. Deshalb blo- ner Familie einzahle. Wir leben in einer schweren Zeit und ich bin froh,
ckiert sie mich und macht mir das Leben schwer, aber sie kann mich auf dass ich meinen Leuten helfen kann.
keinen Fall unterkriegen! Australien ist zu meiner neuen Familie hier gut. Meine Frau Bernadette,
Aber ich muss zugeben, dass ich außerhalb der Schule nie rassistisches die aus Sambia stammt, hat eine sehr erfüllende Anstellung als Sozialarbeite-
Verhalten erlebt habe! Auf der Straße sind die Leute sehr nett zu mir, und rin. Mein Sohn Longe ist gut dran. Er ist sehr intelligent und wir geben ihm
wir haben auch sehr freundliche Nachbarn. In der Schule ist es oft der Neid das Beste, was uns das Leben hier bietet – Ausbildung und Fürsorge. Er war
im Beruf, der Probleme mit sich bringt. Und ich bin auch ein ziemlicher von Anfang an bei den anderen Kindern sehr beliebt. Als er noch klein war,
Workaholic und mache gerne Überstunden. Ich bereite mich gern sehr gut klingelten die Kinder schon an der Haustür und fragten, ob er nach drau-
auf den Unterricht vor und ich gebe mir auch Mühe, ihn im Nachhinein ßen kommen kann, um mit ihnen zu spielen, weil er schon damals so ein-
schriftlich auszuwerten. Und wenn die Leute das sehen, werden sie oft nei- fallsreich und begeisterungsfähig war. Und obwohl er Schwarz ist, hat er ei-
disch. Aber von den Schülern bekomme ich sehr gute Reaktionen. Alle kom- nen australischen Akzent und hat die gleiche Ausbildung und die selben
men pünktlich zu meinen Musikstunden. Ich habe es gelernt, mit langsa- Erlebnisse wie andere australische Kinder. Die Jugendlichen dieser neuen
men Lernern umzugehen, und sie kommen gern in meinen Unterricht, weil Generation gehen viel rücksichtsvoller miteinander um. Und außerdem ist
sie die nötige Unterstützung bekommen. da diese großartige Mischung von Leuten aus verschiedenen Ländern und
Australien ist gut zu mir. Ich bin seit zwanzig Jahren in diesem Land Kontinenten und alle leben friedlich miteinander in Australien. Ein gutes
und habe ein schönes Zuhause. Ich habe die australische Staatsbürgerschaft Beispiel dafür ist, dass Longe eine Band gegründet hat mit zwei Jungen aus
bekommen und kann meinen Verwandten und Freunden in Uganda hel- Mauritius, einem Chinesen, einem Philippino, und er selbst ist Afrikaner!
fen. Die Tragödie in meiner Heimat ist ja bekannt. In Uganda gibt es die Alle sind 15 Jahre alt und machen Rock-Musik. Es ist eine ziemlich gute
Lord’s Resistance Movement. Diese Leute sind vom Norden Afrikas nach Band und ich denke, das ist ein gutes Omen für unsere Zukunft.
Uganda gekommen und haben eine ziemliche Katastrophe angerichtet. Sie
entführen Kinder und setzen sie einer Gehirnwäsche aus. Und die Kinder
kommen zurück und töten ihre eigenen Leute. Es passiert jetzt sogar, dass Trude Aspeling
Leute einfach von zu Hause verschwinden! Zum ersten Mal in der Geschich-
te meines Landes werden Leute von ihrem Land vertrieben und müssen in Ich wurde 1958 in Kapstadt geboren und wuchs dort unter Leuten auf, die
der Stadt betteln gehen. Zirka 200 Mädchen wurden aus einer Mädchen- man während des Apartheid-Regimes ‚Coloureds‘ nannte. Mein Vater war
schule entführt. Viele sind verschwunden, einige sind zurückgekommen Fotograf. Er hatte sein eigenes Atelier in Johannesburg, aber als die Apar-
und man hat herausgefunden, dass einige sogar in Militärbaracken gefan- theid-Regierung das ‚Group Areas‘ Gesetz erließ, wurde der Stadtteil, in

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dem er lebte und arbeitete, zum ‚Whites Only‘-Gebiet erklärt. Er verlor sein Sein Ziel war es, eine Institution zu gründen, die Unterprivilegierte moti-
Geschäft und zog nach Kapstadt. Weil er hochmotiviert und voller Energie viert. Wir liebten die Schule so sehr, dass wir eine Website gründeten, da-
war, begann er eine neue Karriere, zuerst als Kesselschmied und später als mit die Schüler noch Jahrzehnte nach ihrem Abschluss Kontakt zueinander
Journalist. Und er half benachteiligten Kindern aus der Gruppe der so ge- haben können.
nannten ‚Coloureds‘, Ausbildungsplätze in der Motorindustrie zu finden. In meinem letzten Jahr in Südafrika entwickelte ich eine Leidenschaft
Meine Mutter war Näherin. Sie war sehr intelligent und belesen. für den Tanz und war stolz darauf, an der Ballettschule der Universität von
Die meisten Leute in Europa und Asien haben keine Ahnung, wie es ist, Kapstadt angenommen zu werden. Damals war ich die einzige ‚Couloured‘
als so genannte ‚Coloured‘ in Südafrika aufzuwachsen. Das ist nicht über- Studentin, aber vor mir gab es mehrere solche Tänzer und Tänzerinnen, die
raschend, weil die Unterdrückung der Schwarzen Afrikaner unter dem seitdem professionelle Karrieren in Tanzgruppen in Großbritannien und
Apartheid-Regime rund um die Welt für so viel Aufruhr sorgte, dass das Le- Deutschland verfolgen.
ben einer kleinen Minorität wie der ‚Coloureds‘ kaum der Rede Wert war. 1974 zog unsere Familie nach Australien. Ich war fünfzehn Jahre alt.
Es ist ungenau und schafft Verwirrung, wenn ‚Coloureds‘ und Schwarze Mein älterer Bruder lebte bereits seit vier Jahren dort, und jetzt konnte er
Südafrikaner in einen Topf geworfen werden. uns dank der Whitlam-Regierung als Familie nominieren und damit unse-
Die Politik des „Teile und Herrsche“ hat viele verschiedene Gesetze für re Einwanderung möglich machen. Australien schien damals sehr attraktiv,
Schwarze und so genannte ‚Coloureds‘ erlassen. Weil wir ein paar kleinere voller Hoffnung und Freiheit nach den Einschränkungen in Südafrika.
Privilegien hatten, waren wir bei den Schwarzen unbeliebt und manchmal Mein letztes Jahr an der High School und meine HSC-Prüfung, das Abitur,
sogar verhasst. Es war unmöglich, an ihrer Kultur teilzuhaben. Es war leich- machte ich in Melbourne. Danach verbrachte ich ein Jahr am Melba-Kon-
ter für uns, Zugang zur europäischen Kultur zu finden. Wir hatten jedoch servatorium, wo ich einen Kurs in Sprache und Drama belegte. Ich überleg-
unsere eigenen Ausdrucksformen und unsere eigene populäre Kultur. Zum te ernsthaft, an der Theaterschule vorzusprechen, aber dann entschied ich
Beispiel die Sprache. Wir sprachen sowohl Afrikaans als auch Englisch an- mich dafür, an das Monash Teachers College zu gehen, um Erziehung zu stu-
ders. Wir hatten unsere eigenen Dialekte. Das größte Fest im Jahr war der dieren. Ich war dort das einzige Schwarze Mädchen und fühlte mich völlig
Coloured Coon Carnival, ähnlich wie der Karneval in Rio, aber wir tanzten isoliert. Ich war es nicht gewohnt, mit Weißen zusammen zu sein, und die
zu Rhythmen aus Malaysia. Als Kind war mir nicht bewusst, dass der Name Studierenden hatten kaum Interesse, etwas über meine Herkunft zu erfah-
des Festivals, der von den Afrikaanern kommt, eine Beleidigung ist. ren. Sie sahen mich als Afrikanerin und erwarteten von mir, einen ‚Afro‘ zu
In der Schule lernte ich, Kirchenmusik zu singen. Zu Hause hörten wir tragen und afrikanische Tänze aufzuführen. Sie waren überrascht, dass ich
italienische Opern und Jazz. Meine Eltern standen der Eoan-Gruppe nahe, mit einem englischen Akzent sprach. Ich war schockiert, dass ich ab und zu
die von italienischen Lehrern ausgebildet wurde und Werke wie den Rigolet- Rassismus erlebte. Einer der Studenten nannte mich „Nigger“. Und da war
to, La Traviata und den Barbier von Sevilla sangen und aufführten. Meine der schmerzhafte Zwischenfall, als eine afroamerikanische Theatergruppe
Schwester Katerina übte mit ihnen, und so hatten wir zu Hause oft Kon- nach Melbourne kam. Ihre Aufführung trug den interessanten Titel „Für
zertparties, wenn sie mit Freunden der Eoan-Gruppe sang. Schwarze Mädchen, die an Selbstmord denken, wenn der Regenbogen
Ich hatte Glück, weil meine Eltern mich auf eine wunderbare Schule in zuviel ist.“ Es war eine bemerkenswerte Aufführung, die mehrere wichtige
Kapstadt schickten. Es war eine arme Schule: Das Gebäude war baufällig Themen wie Rassismus, Frauen und deren Triumph über die Not an-
und wir hatten kaum Bücher. Aber die Lehrer waren sehr engagiert und en- schnitt. Ich war mir sicher, dass keiner meiner Kommilitonen sich die Mühe
thusiastisch. Sie waren dazu entschlossen, uns alles zu geben, damit wir ei- gemacht hatte, das Stück anzuschauen, aber sie konnten es nicht lassen, in
nes Tages gleichberechtigt sein konnten. Sie kamen oft sogar am Samstag, meiner Anwesenheit Witze darüber zu machen: „In dem Stück geht’s nur
um uns Extrastunden zu geben. Meine Schule, die South Peninsula High um Augen und Zähne“, sagten sie, „wir können die Schauspieler nur sehen,
School, wurde ursprünglich von einem Mann namens Devilliers gegründet. wenn sie im Dunkeln lächeln“, und so weiter. Das war hart.

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Gegen Ende meiner Ausbildung als Erzieherin fing ich an zu singen. sames. Meine Freunde, mit denen ich jahrelang Jazz gespielt hatte, verbann-
Die erste Gruppe, die ich gründete, hieß Trude and the Boys. Wir spielten ten mich. Sie wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Verstanden sie
Jazz auf verschiedenen Festivals und wurden ziemlich bekannt. In dem Mo- nicht, dass es zwischen afrikanischer Musik und Jazz vielschichtige Verbin-
ment, in dem ich meine Band ans Teachers College brachte, veränderte sich dungen gibt? Ich finde ihr Verhalten sehr konservativ.
die Einstellung der Studenten zu mir total. Auf einmal war ich der Star. Alle Als ich 1988 in London mein Debüt in Ronnie Scotts berühmten Jazz-
wollten mich kennen. Seitdem spielt Musik eine sehr wichtige Rolle in mei- club gab, hatten Publikum und Kritiker sehr viel mehr Sinn für die breite
nem Leben. Meine Eltern haben mich wirklich sehr unterstützt. Sie haben Skala meiner Musik. In einer Rezension mit der Überschrift „Die Lady hat
ihr Bestes getan, damit ich im Leben Erfolg haben würde. Sie waren sehr Charisma“ schrieb Alexandra Billington: „Trudes Musik kombiniert die
pflichtbewusste Eltern, aber die emotionale Unterstützung fehlte. Ihr Ver- Wurzeln ihres südafrikanischen Erbes mit den modernen Ausdrucksformen
hältnis zu ihren Kindern war irgendwie distanziert und kalt. Die Musik hat von heute.“ 1997 wurde ich eingeladen, am Arts Alive International Festival
die emotionalen Lücken in meinem Leben gefüllt. in Johannesburg teilzunehmen. Es war das erste Mal, dass ich wieder in
Das entscheidendste Erlebnis für meine musikalische Laufbahn war Südafrika war, seit ich fast ein Vierteljahrhundert vorher von dort nach Aus-
mein Treffen mit Dollar Brand, Abdullah Ibrahim. In Südafrika hatte ich tralien ausgewandert war. Ein Teil des riesigen Festivals fand im Orlando-
jede Menge über den großartigen Schwarzen Pianisten gehört, aber ich war Stadium statt und ich war die einzige Schwarze Sängerin. Die Afrikaner
damals noch zu jung, um zu seinen Konzerten zu gehen. 1978 oder 1979 empfingen mich herzlich. Sie umarmten mich nach dem Konzert und ich
trat er in Melbourne auf. Er spielte mit einer Gruppe afrikanisch-amerika- werde nie vergessen, wie sie schrieen und jubelten, als ich die hohen Töne
nischer Musiker, darunter der großartige Jazztrommler André Strobert. Die anschlug.
Musik, die sie spielten, basierte auf der Musik der südafrikanischen Towns- Ich hatte gehofft, mein ganzes Leben lang von der Musik leben zu kön-
hips. Ich fühlte, dass mir all die Jahre ein Teil meines Erbes vorenthalten nen, aber in den späten 1990er Jahren veränderte sich das wirtschaftliche
worden war. Es ist eine außerordentliche Ironie, dass ich als Südafrikanerin Klima Australiens. Die Mittel für die Künste wurden gekürzt und es wur-
erst nach Australien kommen musste, um südafrikanische Musik zu ent- de für Australier immer schwieriger, von ihrer Kunst zu leben. Und da war
decken. Das Konzert und mein erstes Treffen mit Dollar werde ich nie ver- gleichzeitig die absurde Art und Weise, wie Sport in den Augen der Regie-
gessen. Meine Schwester Anastasia und ich saßen während des Konzerts in rung wichtiger als alles andere im Leben dieser Nation wurde.
der ersten Reihe. Dollar sah uns, lächelte uns an und sagte in Afrikaans: Und so kehrte ich zum Unterrichten zurück. Das Unterrichten mochte
„Die blomme van die kaap“, was „die Blumen vom Kap“ bedeutet. Nach ich schon immer, und ich habe nie vergessen, was meine Schule in Kapstadt
dem Konzert gingen wir hinter die Bühne, um ihn zu treffen, und er fragte für mich getan hatte. Deshalb unterrichtete ich von 1996 bis 1999 an der
uns, ob wir irgendwann mit ihm in Europa auf Tour gehen möchten. Cleveland Street High School, einer Schule in der Innenstadt für unterprivi-
Sobald ich meinen Abschluss hatte, zog ich nach Sydney, weil ich mich legierte Kinder, hauptsächlich Uraustralier.
dazu entschlossen hatte, eine musikalische Karriere zu verfolgen. Als ich Natürlich habe ich während der ganzen Zeit immer Musik gemacht.
Dollar wieder traf, lud er mich und Anastasia ein, Teil der Besetzung von 1996 habe ich sogar meine erste CD herausgebracht, The Joy of Being Alive.
Kalahari zu sein, einem politischen Musical, das in Deutschland und der Ich hatte eine Band mit fünf Musikern, von denen nur einer, der Schlagzeu-
Schweiz auf Tournee ging. Ich kam dermaßen aufgeregt von der europäi- ger, Südafrikaner war. Es war eine echte Leistung, diese Band dazu zu brin-
schen Tour zurück, dass ich beschloss, eine Gruppe zu gründen, die afrika- gen, südafrikanische Musik zu spielen.
nische Musik spielte. Das war nicht einfach, weil ich nur einen einzigen 2002 führte die Regierung eine Richtlinie ein, derzufolge Schulen, die
südafrikanischen Musiker in Sydney finden konnte, einen Schlagzeuger. in den Augen der Regierung nicht genügend Abiturienten produzierten, ge-
Der Rest waren Australier, die die Musik der südafrikanischen Townships schlossen wurden. Die Cleveland Street High School, die einen hohen Anteil
von LPs gelernt hatten. Als wir zu spielen anfingen, passierte mir etwas Selt- an uraustralischen Schülern hatte, stand auf der Liste. Aber die Leute im

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Stadtteil schlossen sich zusammen und kämpften mit der Regierung! Sie Lehrerin habe ich auch die Gelegenheit, mit anderen Institutionen gemein-
sagten: „Wir werden nicht zulassen, dass diese Schule geschlossen wird, sam an Projekten zu arbeiten. Ich möchte davon nur zwei nennen, in die ich
weil unsere Kinder eine Ausbildung brauchen. Will die Regierung, dass sie gerade eingespannt bin.
im Gefängnis landen oder will sie, dass sie ausgebildet werden und ein Teil Im Moment arbeite ich mit einer Organisation für Jugendarbeit, die
der Gesellschaft werden?“ The Factory heißt. Sie wird von der Regierung finanziert und ist auf Thea-
Robert Bruce war damals der Schuldirektor und kämpfte gemeinsam ter, Gesundheitswesen und Freizeitaktivitäten spezialisiert. Ich produziere
mit den Leuten darum, die Schule in eine Institution zu verwandeln, die zusammen mit Patrick Russell von der Factory das Stück Beyond the Fence
alle Jahre vom ersten Grundschuljahr bis zum Abitur umfasst. Und es gab [„Hinter dem Zaun“] von der Australierin Claire Wildish. Es geht darin um
sogar einen Kindergarten, der zur Schule gehörte. Die umorganisierte Grenzen, um soziale und rassistische Vorurteile. Die Fünftklässer unserer
Schule wurde dann umbenannt und heißt jetzt Alexandria Park Communi- Schule haben schon vorgesprochen. Sie sind 10 oder 11 Jahre alt. Anfang
ty School. Es ist eine bemerkenswert progressive Schule. Sie hat zirka 350 August werden wir nach Japan fliegen und das Stück beim Asian Pacific
Schüler und Schülerinnen, von denen etwa die Hälfte Uraustralier sind, Children’s Theatre Festival aufführen, das in diesem Jahr dort stattfindet.
aber es gibt auch Chinesen, Vietnamesen, Indonesier, Italiener, Griechen Und dann ist da auch das spannende Projekt, das Singing for that country
und Australier englisch-irischer Herkunft. Die Schule unterrichtet neben heißt. Es wurde von dem afrikanisch-amerikanischen Bildhauer Tyree Guy-
Englisch vier Sprachen: Chinesisch, Vietnamesisch, Italienisch und Wirad- ton und der Afroamerikanerin Aku Kadogo angeregt. Sie haben Kunst dazu
juri, eine Sprache, die von den Uraustraliern gesprochen wird, die ur- benutzt, benachteiligte Jugendliche in Detroit zu motivieren. Die Idee ist, sie
sprünglich im Innenstadtgebiet Sydneys lebten. Interessant ist, dass die stolz auf ihre Umgebung zu machen, selbst wenn diese ein Slum ist, indem
Schüler wirklich die Sprachen ihrer Mitschüler lernen wollen. Der beste sie Skulpturen aus weggeworfenen Materialien produzieren und Wandge-
Schüler in Vietnamesisch ist im Moment ein Uraustralier. mälde auf die Mauern von verfallenen Gebäuden malen. Es ist ein aufregen-
Robert Bruce hat auch sichergestellt, dass die Gemeinde im Großen und des Projekt, das Gesang, Theater und Kunst beinhaltet – einfach alles!
Ganzen eng mit den Aktivitäten der Schule verbunden ist. Zum Beispiel Die Arbeit an dieser Schule ist der härteste Job, den ich je hatte, aber er
hat Centrelink, das Arbeitsamt, auf dem Schulgelände eine Zweigstelle. Vie- ist auch sehr befriedigend. Und ich bin davon überzeugt, dass meine süd-
le der Schüler und Schülerinnen, die aus armen Familien kommen, haben afrikanische Kindheit mich auf diese Stelle vorbereitet hat, weil ich weiß,
häufig gesundheitliche Probleme. Uraustralische Kinder haben oft eine Oh- wie es ist, eine Außenseiterin zu sein. Ich weiß, was es heißt, wenn man für
rentzündung, die Otitis Media heißt und von Infektionen in früher Kind- jedes Ding kämpfen muss, für Dinge, die für andere Kinder einfach selbst-
heit stammt. Überall in Australien ist die Lernfähigkeit einiger dieser Kin- verständlich sind. Man entwickelt eine besondere Art von Entschlossenheit.
der von dieser teilweisen Taubheit ernsthaft beeinträchtigt. Aber man kann Das habe ich von meinen Eltern und von meinen Lehrern gelernt, und ich
diese Krankheit leicht mit den richtigen Medikamenten kurieren. Die Ale- bin froh, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, ein paar dieser Eigenschaften
xandria Park Community School hat einen Gesundheitsdienst im Gebäude, an die Kinder der Schule weiterzugeben. Kinder, die aus ärmlichen Fami-
der sich effizient darum und auch um andere medizinische Probleme küm- lien kommen, die in einer Umgebung von extremer Armut und teilweise so-
mert. gar Drogen und Verbrechen leben, glauben nicht mehr an sich selbst. Erzie-
Ich hatte 2003 das Glück, vom Erziehungsministerium an diese inspi- hungswissenschaftler nennen das den „Verlust der Selbstwirksamkeit“.
rierende Schule versetzt zu werden. Die Arbeit dort ist hart, weil du deine Viele Lehrer glauben, dass solche Kinder nicht zu retten sind. Und wenn sie
ganze Energie auf die Schüler verwenden musst, die benachteiligt sind und so denken, dann sollten sie ihren Beruf als Lehrer aufgeben. Man muss in
sich deshalb im Gegensatz zu anderen Kindern sehr viel mehr anstrengen jedem Kind das Individuum sehen.
müssen, um als Erwachsene einen sicheren und gleichwertigen Platz in der Die Alexandria Park Public School glaubt daran, dass selbst benachtei-
Gesellschaft zu finden. Aber es ist auch eine sehr spannende Schule. Als ligte Kinder reagieren, wenn sie gefordert werden. Wir haben drei uraustra-

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lische Schulkinder in der „Spezialklasse“, das ist die Klasse für Schüler und Obwohl wir in Kamerun lebten, sind wir als Igbo aufgewachsen. Wir
Schülerinnen mit dem höchsten I. Q., und bald werden es mehr sein. sprachen Pidgin-Englisch auf der Straße und lernten das „Queen’s Eng-
Anstatt die Schüler und Schülerinnen in vorgefertigte Schienen zu pres- lisch“ in der Schule, aber zu Hause sprachen wir nur Igbo. In Kumba lebten
sen, sollten Lehrer nach den besonderen Talenten der Kinder Ausschau hal- viele Igbo, die den gesamten Handel der Stadt in der Hand hatten. Wenn
ten. Als ich einmal Aufsicht auf dem Spielplatz hatte, zeigten mir zwei wir mit anderen Kindern spielten, sprachen wir eine Mischung aus Pidgin-
Schwarze Jungen Sprünge und Saltos, die sie sich beigebracht hatten. Ich Englisch und Igbo. Aber in der Schule war es verboten, unsere Mutterspra-
sagte sofort: „Passt mal auf, ich werde euch einen Trainer besorgen.“ Hof- che zu sprechen. Mein Vater war sehr traditionell eingestellt. Er sprach zu
fentlich erlangen sie ein neues Selbstbewusstsein und vielleicht finden sie ja Hause nie Englisch und bestand darauf, dass wir nicht nur unsere Sprache
sogar eine Zukunft in einer Zirkustruppe. lernten, sondern auch ihre kulturellen Eigenheiten. Man muss die Sprache
Wegen der Umstände, unter denen sie aufgewachsen sind, sind viele der in ihrem Kontext verstehen. Ältere Igbo drücken sich in Sprichwörtern aus
Schüler zu schnell erwachsen geworden. Sie haben ihre Kindheit verloren. und man muss wissen, wie man sie interpretiert. Ein Igbo Sprichwort lau-
Aber oft gibt ihnen das auch ein besonderes Potential, das gelenkt werden tet beispielsweise: „Eine Eidechse rennt nicht umsonst durch die Hitze des
kann. Tages“, was heißt: die Leute tun nichts ohne Grund. Oder die Igbo sagen:
Australien hat mir geholfen, meine afrikanischen Wurzeln zu finden und „Wenn du auf einen Iroko-Baum kletterst, dann versuch möglichst viel
mein musikalisches Talent zu entdecken. Ich hoffe, dass ich als Lehrerin ei- Brennholz zu sammeln, weil du wahrscheinlich nie mehr auf einen so ho-
nen Beitrag in dem Land leisten kann, das meine neue Heimat geworden ist. hen Baum klettern wirst.“ Das bedeutet: nutze die Gelegenheit! „Einem in-
telligenten Kind sagt man nicht: Geh’ aus der Sonne!“ soll heißen, dass ein
Kind schon selbst wissen muss, was es in einer bestimmten Situation zu tun
Eugene Iheanacho hat. „Man spricht nicht mit Wasser im Mund“ heißt: versuch nicht, das Un-
mögliche zu tun. „Du musst krabbeln, bevor du läufst“ bedeutet: überstür-
Ich wurde 1952 in Victoria im Westen Kameruns geboren. Mein Vater war ze nichts, worauf du nicht vorbereitet bist.
dort Händler. Meine Eltern sind Igbo aus dem Osten Nigerias. Damals Die Igbo unterschieden sich von den anderen Fremden in Kumba darin,
wurde der westliche, englischsprachige Teil Kameruns zusammen mit Nige- dass sie unter sich blieben und sich sehr darum bemühten, ihre Identität zu
ria von der britischen Kolonialregierung verwaltet. Deshalb konnte man bewahren. Während des Bürgerkriegs gründeten wir den Biafran Boys Youth
sich frei zwischen den beiden Ländern bewegen. Mein Vater handelte mit Club, und er wurde von der lokalen Behörde anerkannt. Wir spielten Fuß-
Kleidung und Textilien, und meine Mutter verkaufte Nahrungsmittel: ball, organisierten Ringkämpfe und verfolgten die Ereignisse in Biafra. Wir
Fisch und Hülsenfrüchte wie Reis, Bohnen und Egusi, Melonenkerne. Wir wollten unserer Kultur treu bleiben und wollten auf dem Laufenden bleiben
Kinder halfen unseren Eltern in ihren Läden. über die Krise und die Gefahr, der unsere Leute ausgesetzt waren. Das Rin-
1959 beschloss mein Vater, nach Kumba umzuziehen, weil es ein größe- gen ist eine alte Tradition der Igbo. Es ist ein freundschaftlicher Kampf, in
res Handelszentrum im Westen Kameruns war. Dort kam ich in die Grund- dem zwei junge Männer, die entweder gleichaltrig oder gleich groß sind,
schule. Ich beendete die Grundschule 1966. Ich hatte vor, nach Nigeria zu ihre Stärke und Beweglichkeit testen. Fürs Ringen braucht man Begabung.
gehen, um eine höhere Schule zu besuchen, aber wegen der damaligen po- Manchmal kann ein geschickter Ringer sogar einen größeren und schwere-
litischen Situation in Nigeria beschloss mein Vater, dass ich warten müsse. ren Gegner besiegen. Aber generell ist es bei den Ringkämpfen der Igbo so,
Die Igbo wurden im Norden Nigerias massakriert, und am 30. Mai 1967 dass man gleichgroße und gleichstarke Gegner gegenüberstellt, damit der
erklärte Oberstleutnant Ojukwu, der damalige Militärgouverneur im Os- Kampf fair ist. Es gibt keine unfairen Vorteile. Sobald ein Ringer seinen
ten Nigerias, die Unabhängigkeit Biafras. Wir, die Igbo in Kamerun, ver- Gegner auf den Boden geworfen hat, ist der Kampf vorbei.
folgten die Ereignisse in Nigeria voller Sorge. Damals war der Krieg dauernd in unserem Bewusstsein und man sagte

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uns, dass unser Volk und unsere Kultur nur dann überleben können, wenn die University of Nigeria in Nsukka zurück. Nachdem ich den Magister hat-
wir unseren Feinden permanent entgegentreten. Wir glaubten daran, dass te, fing ich an, mich auf meine Doktorarbeit vorzubereiten, aber dann dach-
man im Leben auf nichts ein Recht hat und dass man sich alles erst verdie- te ich, dass die University of Nigeria in Nsukka nicht die Infrastruktur für
nen muss. ein Promotionsstudium in Biochemie hätte und schaute mich nach Univer-
Der Krieg in Nigeria war im Januar 1970 vorbei, aber die Schulen in Bi- sitäten im Ausland um. Im Nachhinein weiß ich, dass ich völlig falsch lag.
afra, im Gebiet der Igbo, öffneten erst Ende April 1970 wieder. Deshalb Die University of Nigeria in Nsukka war damals perfekt für jegliches Stu-
blieb ich bis November 1971 auf dem Gymnasium in Kamerun. Im No- dienfach ausgestattet! Vielleicht wollte ich unbewusst einfach raus und die
vember 1971 ging ich nach Nigeria und zog zuerst zu meinem Onkel in Welt sehen. Wie auch immer, ich schrieb vier verschiedenen Professoren an
Aba, das jetzt zum East Central State von Nigeria gehört. Von dort ging ich Universitäten im Ausland an. Ich schrieb noch nicht mal besonders aus-
nach Umuariam, meinem Heimatdorf. Ich blieb ungefähr sechs Wochen führliche Bewerbungen. Ich kaufte vier Luftpostbriefumschläge und schick-
lang dort, und zum ersten Mal in meinem Leben verbrachte ich so viel Zeit te einen Brief an einen Professor der Hebräischen Universität in Jerusalem,
mit meiner Großfamilie in meinem Heimatdorf. einen an einen Professor an der kanadischen Alberta Universität in Edmon-
Dann fuhr mich mein Onkel 1972 nach Owerri, wo ich mich am Holy ton, einen an einen an der Harvard Universität und den letzten ans Weiz-
Ghost College einschrieb. Ich beendete das Gymnasium 1974 in Owerri. mann Institut für Naturwissenschaften in Rehovot in Israel. Überraschen-
1975 bestand ich die Aufnahmeprüfung der University of Nigeria in Nsuk- derweise antworteten alle vier Professoren und ich bekam alle Antworten
ka. Damals waren die Schüler des Holy Ghost Colleges in Owerri alle ziemli- im Januar 1983. Der Professor in Harvard sagte, er sei sehr interessiert, ich
che Chauvinisten und wir versuchten, uns wie ‚richtige Männer‘ zu verhal- solle nach Harvard kommen und er würde meine Bewerbung unterstützen.
ten, indem wir die schwierigsten Fächer belegten. Wir dachten, dass Kurse Leider hätte ich 20 000 US-Dollar Gebühren zahlen sollen, die ich nicht
wie Soziologie, Recht, Politikwissenschaften usw. eher billig und nicht der hatte. Obwohl alle vier Antworten in unterschiedlichen Graden positiv wa-
Mühe wert waren. Deshalb wählte ich Biochemie, weil man uns sagte, dass ren, war die Antwort von der Hebräischen Universität in Jerusalem die ein-
Biochemie die ‚Königin der Naturwissenschaften‘ und das allerschwierigste fachste. Der Professor bot mir einen Studienplatz an und kümmerte sich
Fach sei. Und es war tatsächlich schwer, weil wir mit Mathematik- und um mein Visum, weil ich bis spätestens Mai in Israel sein sollte, damit ich
Physikstudenten mithalten mussten, mit Biologiestudenten, die sich mit am Sommerkurs für die hebräische Sprache teilnehmen konnte.
Botanik und Zoologie befassten, und mit Studenten der Human- und So- Bevor ich mit meinem Promotionsstudium an der Hebräischen Univer-
zialwissenschaften. Im ersten Jahr mussten wir allgemeine Kurse belegen, sität anfangen konnte, musste ich einen weiteren Magisterabschluss ma-
wie Geschichte, Englisch und Literatur. 1979 machte ich meinen Bachelor chen. Der Grund dafür war, dass ich noch nicht genug Hebräisch verstand
of Science. Dann musste ich meinen Nationalen Jugenddienst machen. Die- und die verschiedenen Instrumente und Maschinen in den Labors nicht gut
ses ‚Jugendcorps‘ sollte die Einheit Nigerias fördern. Universitätsstudenten genug kannte, um sie benutzen zu können. Promotionsstudenten sollten ihre
wurden gezwungen, nach dem ersten Abschluss ihre Studien für ein Jahr zu eigene Forschung betreiben und die gesamte Forschungsausstattung und
unterbrechen und den erstbesten Job anzunehmen, um einen nützlichen alle Instrumente benutzen, ohne dabei auf die Techniker angewiesen zu
Beitrag in einem anderen Bundesstaat als dem eigenen zu leisten. Ich wur- sein. Aber da ich meinen Magister in Biochemie schon an der University of
de im Sokoto-Staat im Nordwesten Nigerias stationiert, wo ich als Lehrer Nigeria in Nsukka gemacht hatte, war das Magisterstudium an der Hebrä-
an der Universität von Sokoto und später dem Regierungscollege in Sokoto ischen Universität wie eine Wiederholung für mich. Ich machte den Magis-
angestellt war. Mit meinem Lohn vom Jugendcorps bezahlte ich die Schul- terabschluss innerhalb der 18 Monate, die dafür vorgesehen waren. Deshalb
gebühren für meine drei Schwestern, die damals alle aufs Gymnasium gin- wurde ich als Promotionsstudent zugelassen. Im Mai 1986 fing ich mit mei-
gen. ner Forschung an und war im Dezember 1989 fertig.
Nach meinem Jugenddienst kehrte ich für einen Magisterabschluss an Sowohl meine Magister- als auch meine Doktorarbeit waren über die

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Biochemie des menschlichen Malariaparasiten, das Plasmodium falciparum. geboren. Ich reiste durch das ganze Land, von Eilat im Süden bis Haifa und
Der Forschungsschwerpunkt lag auf neuen chemotherapeutischen Strate- Nahariya im Norden. Im November 1990 sollte ich nach Sydney in Austra-
gien für menschliche Malaria. Die Methoden beinhalteten physische Bio- lien gehen. Aber wegen des Golf-Konfliktes und später des Golf-Krieges
chemie, Molekularbiologe und Vermehrungstechniken der Malaria, wie zum konnte ich nicht reisen. Ich konnte erst im März 1991 nach Sydney kommen.
Beispiel durch steigende Anwesenheit oder Abwesenheit von menschlichem Ich kam nach Sydney, um als Forschungsassistent für Professor Nicho-
Serum. las Hunt in der Abteilung für Pathologie der University of Sydney zu arbei-
Ich muss sagen, dass mir die Zeit in Israel sehr gut gefallen hat. Ich bin ten. Ich arbeitete drei Jahre lang für ihn. Ich habe diese Zeit total genossen,
gut behandelt worden und habe viele Freunde gefunden. Der Professor, dem weil ich in Newtown lebte, einem lebhaften Stadtteil. Ich fand die Leute
ich ursprünglich geschrieben hatte und der meine Aufnahme an der Hebrä- dort sehr freundlich und einladend. Manchmal luden mich Fremde spontan
ischen Universität organisiert hat, war Ioav Cabankchik. Ich fand später he- auf einen Drink ein.
raus, dass er im Biafrakrieg große Sympathie für die Igbo hatte. Und als er In meinen Kreisen fand ich nie Vorurteile gegen mich als Person, auch
meinen Brief bekam, war er sehr froh, dass er einem Biafra ein Stück weit keine Diskriminierung. Ich wurde immer und überall ermutigt. Es ist sogar
helfen konnte. Als ich nach Israel kam, wurde ich nicht nur warm empfan- passiert, dass eine der Sekretärinnen, mit denen ich anfangs zu tun hatte,
gen, sondern sogar wie ein Familienmitglied behandelt. Die Israelis waren mir riet, mich als ‚Aboriginie‘ einzuschreiben. Sie sagte, dass ich dann mehr
im Allgemeinen sehr nett zu mir und auch die Regierung war hilfreich. Mei- Vorteile hätte. Ich nehme an, sie wollte einfach nur nett sein. Aber ich sag-
ne Frau ist ausgebildete Krankenschwester und 1986 erlaubte mir die Regie- te nein, das wäre eine Lüge und deswegen kann ich das nicht tun.
rung, sie nach Israel zu holen. Sobald sie in Israel angekommen war, erhielt Die Arbeit als Forschungsassistent war anstrengend. Man musste stun-
sie eine Stelle als Krankenschwester in der Uniklinik der Hebräischen Uni- denlang im Labor sein, und es war auch frustrierend, weil man nicht immer
versität. Es lebten ziemlich viele Igbo in Israel, die meisten in Tel-Aviv, Hai- das erwartete Ergebnis bekam. Und man hatte nicht genug Privatleben. Ich
fa und Eilat. Ein paar Igbo in Jerusalem waren Mitglieder des Friedenskorps ging manchmal um acht Uhr morgens ins Labor und blieb bis Mitternacht
der Vereinten Nationen in Israel und im Libanon. Ich war zwischen 1983 dort. Ich hatte meine Familie im August 1991 nach Sydney geholt. Und
und 1985 der einzige nigerianische Student an der Hebräischen Universität, jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich wegen meiner Arbeit nicht genug Zeit
aber es gab ein paar an den Universitäten in Tel-Aviv und Haifa. mit meiner Familie verbringen konnte. Ich fühlte auch, dass es an der Zeit
Jerusalem war eine sehr lebhafte Stadt. Es gab das ganze Jahr über viele wäre, nach Nigeria zurückzugehen, um meine Erfahrung mit jüngeren
Touristen. Ich hatte Glück, dass ich Pastor Adam Civu als Mentor hatte. Er Wissenschaftlern zu teilen. Ich hatte jetzt um die 15 Arbeiten veröffentlicht.
war ein Priester aus Uganda und früher ein Sekretär von Papst Paul VI. Als Und außerdem war das Leben für mich in Nigeria, besonders in meinem
ich in Jerusalem ankam, war Pastor Adam einer der Vertreter des Vatikans, Dorf, viel interessanter und befriedigender als im Ausland. Mein Vater und
die dort im Vatikan-Zentrum lebten. Er kümmerte sich um mich wie um meine Mutter sind noch am Leben und ich genieße nichts mehr, als Zeit mit
seinen Bruder. Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Das Vatikan-Zent- ihnen zu verbringen. Und so kam es, dass ich im Januar 1994 mit meinen
rum war mehr oder weniger mein zweites Zuhause. Kindern nach Nigeria zurückging und meinen Job als Lektor an der Univer-
Ich war insgesamt acht Jahre in Israel und machte dort sowohl einen sity of Nigeria in Nsukka wieder aufnahm. Meine Frau blieb in Sydney, weil
Magister der Naturwissenschaften als auch einen Doktorabschluss und sie mitten in ihrem Studium als Krankenpflegerin an der Australian Catho-
wurde von Professor Dan Spira unterstützt und betreut. Er war nicht nur lic University steckte. Vier Jahre später kehrte ich nach Sydney zurück, weil
ein Lehrer für mich, er war mehr wie ein Vater. Ich verbrachte viel Zeit bei ich meine Kinder nicht zu lange von ihrer Mutter trennen wollte.
ihm zu Hause. Und er sagte mir, dass bei ihm immer ein Platz für mich sei, Ich bekam einen anderen Job als Forschungsassistent am Herzinstitut
wenn ich nach Israel zurückkehren wolle. der University of Sydney. Leider musste ich den Job nach weniger als einem
Meine drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, wurden alle in Israel Jahr aufgeben, weil meine Mutter einen Schlaganfall hatte und ich zu ihr

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nach Nigeria gehen musste. Das Institut gab mir keinen Urlaub, aber nichts Australien geboren sind. Wir arrangieren Vorlesungen, Konzerte und tradi-
und niemand konnte mich davon abhalten, sie zu sehen. Wenn sie gestor- tionelle Tänze.
ben wäre, hätte ich mir das für den Rest meines Lebens nicht verziehen. Ich schätze, dass es in New South Wales zwischen fünfhundert und sie-
Aber zum Glück hat sie sich erstaunlich gut erholt. benhundert Igbo gibt und zirka achthundert Yoruba und Bini und alles in
Dann kam ich im November 2001 nach Sydney zurück und eröffnete allem fast zweitausend Nigerianer. Die Ghanaer sind die größte afrikani-
ein Unternehmen, eine Agentur, die Krankenpflegepersonal an Kranken- sche Bevölkerungsgruppe in Sydney. Vor kurzem gab es einen Zustrom von
häuser und Pflegeheime vermittelt. Das Geschäft ist wirklich lukrativ, weil Flüchtlingen aus Liberia, Sierra Leone, dem Sudan und sogar Zimbabwe
es damals in Sydney einen akuten Pflegenotstand gab. Die Regierung von und Südafrika. Dadurch verändert sich das demographische Bild der afrika-
New South Wales erlaubt die Einstellung von ausländischen Kranken- nischen Bevölkerung in Sydney andauernd: Insgesamt sind es vielleicht
schwestern und Pflegern. Aber von allen afrikanischen Ländern werden nur fünfzehn- bis sechzehntausend Afrikaner. Die meisten Nigerianer und Gha-
Krankenpfleger aus Südafrika und Zimbabwe zugelassen. Pfleger aus ande- naer, die nach Australien einwandern, sind gut ausgebildet. Deshalb haben
ren Ländern Afrikas müssen eine dreimonatige Ausbildung machen und sie nicht allzu große Probleme, sich einzuleben. Die australische Regierung
schriftliche und mündliche Prüfungen bestehen, bevor sie anerkannt wer- leistet wertvolle humanitäre Arbeit, weil sie in Länder wie Liberia und Sier-
den. Und sie müssen einen Englischtest bestehen. All das macht es sehr ra Leone geht und Flüchtlinge aufsammelt, nach Australien bringt und ih-
schwierig und teuer für die Pfleger und ihre Sponsoren. nen eine zweite Chance bietet. Was diese Flüchtlinge angeht, hat die austra-
Die Pfleger, die wir vor Ort rekrutieren, arbeiten als Aushilfen. Meine lische Regierung zwar einen bemerkenswerten humanitären Job getan, aber
Aufgabe ist es, einen Pfleger oder eine Pflegerin für einen bestimmten Job trotzdem haben es diese Flüchtlinge schwer, sich einzuleben. Einige von ih-
zu finden, und ich muss sicherstellen, dass er oder sie rechtzeitig dort ist. nen sind Analphabeten und nur sehr wenige haben nennenswerte Berufs-
Das ist sehr hart. Das Krankenhaus oder Pflegeheim kann mich zum Bei- qualifikationen. Und so ist es für sie hier viel schwieriger, ein sinnvolles Le-
spiel um vier Uhr früh anrufen und bitten, eine Krankenschwester zu schi- ben aufzubauen. Im Gegensatz dazu sind die Nigerianer hochqualifiziert
cken. Aber ich habe anderen Agenturen gegenüber einen Vorteil: Weil ich und haben keine Schwierigkeiten, Arbeit an Universitäten, in Regierungs-
als Wissenschaftler gearbeitet habe, bin ich gewohnt, bis spät in die Nacht büros oder Konzernen zu finden.
zu arbeiten. Ich kann jederzeit aufstehen und völlig wach sein. Und ich bin Meine drei Kinder fühlen sich hier völlig zu Hause. Meine Tochter ist
bei Pflegepersonal und Klienten gleichermaßen beliebt, weil ich bereit bin, 18 und macht eine Krankenpflegeausbildung an der University of Western
mich mitten in der Nacht in mein Auto zu setzen und eine Krankenschwes- Sydney. Mein ältester Sohn ist 17 und macht gerade sein Abitur. Mein jüng-
ter zu Hause abzuholen und sie zum Arbeitsplatz zu fahren, wenn es Trans- ster Sohn ist 15 und geht jetzt in die 10. Klasse. Alle drei haben sich sehr gut
portprobleme gibt. Ich genieße die Arbeit auch, weil sie mir erlaubt, viele eingelebt. Mein ältester Sohn ist im Schulvorstand, und mein jüngster Sohn
Leute in unterschiedlichen Funktionen zu treffen – in den Krankenhäusern, ist Klassensprecher. Alle Kinder mögen ihn. Seine Lehrer sagen, dass er zu-
in den Pflegeheimen, Leute im Finanzamt usw. viel Einfluss auf die anderen Schüler hat. Und meine Tochter war drei Jahre
Hier in Sydney bin ich nicht nur in Organisationen für Igbo einge- lang Mitglied der Schülermitverwaltung. Sie spielt Fußball und hat Leicht-
spannt, sondern seit 1991 auch für Nigerianer und sogar alle Afrikaner. Die athletikmedaillen gewonnen. Meine Kinder sind völlig in die australische
Nigerianer hier in New South Wales treffen sich abwechselnd in den Häu- Gesellschaft integriert. Sie sind gut aufgenommen worden. Aber ich fühle,
sern von Mitgliedern. Das bedeutet, dass wir unsere Veranstaltungen in dass sie nicht vergessen sollten, dass sie Igbo sind und dass ihre wahre Hei-
weit auseinanderliegenden Orten wie Penrith, Newcastle, Wollongong usw. mat, ihr wahres Zuhause, das Land ihrer Vorfahren ist.
haben. Wir organisieren nicht nur gesellschaftliche Treffen, sondern auch Die meisten nigerianischen Kinder verstehen ihre Heimatsprache zwar,
kulturelle Ereignisse. Wir versuchen, eine Art von kulturellem Bewusstsein aber sie können sie kaum sprechen. Ihre Eltern haben wenig Zeit, sich mit
zu vermitteln, besonders bei jungen Männern und den Kindern, die hier in ihnen zu beschäftigen, und fast alle ihre Freunde sprechen Englisch. Im Ge-

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gensatz dazu bewahren sich die italienischen oder griechischen Kinder hier Sénouvo Agbota Zinsou
in Sydney ihre Sprache, weil sie in großen, eng verwobenen Gemeinschaf- Literatur und aktuelle Weltpolitik:
ten aufwachsen, wo jeder seine Muttersprache zu Hause und sogar auf der Macht, Rassismus und Globalisierung
Straße spricht.
Ich habe all die Jahre in Australien genossen. Ich schätze die Toleranz
und Freundlichkeit der Australier. Aber ich fühle, dass ich letztendlich in Sénouvo Agbota Zinsou, 1946 in Lomé, Togo, geboren, ist ein Mann
Nigeria zu Hause bin. Ich werde noch ein paar Jahre lang in Sydney blei- des Theaters. Nach dem Studium der Literatur- und Theaterwissen-
ben, bis meine Kinder auf eigenen Beinen stehen. In zwei oder drei Jahren schaften in Lomé, Paris und Bordeaux leitete er von 1978 bis 1993 das
werde ich nach Nigeria zurückgehen und meine Stelle an der Universität in Togoer Theaterensemble und wurde als Autor und Regisseur zahl-
Nsukka wieder aufnehmen, obwohl ich meine Beförderung verpasst habe. reicher Stücke auch international bekannt. Als verfolgtes Mitglied der
Inzwischen wäre ich jetzt Professor, aber es macht mir nichts aus, wieder als demokratischen Bewegung in Togo fand er 1993 in Deutschland Asyl.
Lektor zu arbeiten. Ich will nach Hause zurückkehren, weil das Leben im Seither leitet er an der Universität Bayreuth das Internationale Atelier
Dorf am besten ist. Obwohl ich an der Universität arbeite, ist das Dorf Theater, dessen Hauptanliegen darin besteht, mit künstlerischen und
nicht allzu weit weg. Ich will helfen, die Kinder im Dorf zu erziehen und ih- originellen theaterpädagogischen Methoden (in Gestik, Mimik, Ge-
nen ein Gefühl der Dazugehörigkeit zu geben, ein Gefühl der Hoffnung sang und Tanz) die interkulturelle Sensibilisierung und Reflexion zu
und die Entschlossenheit, im Leben Erfolg zu haben. Ich will zur Entwick- fördern und zur Lösung von Konflikten beizutragen.
lung meines Dorfes und zur Erziehung der Jugendlichen beitragen. Mein Zinsous Theaterstücke und Romane spiegeln kritisch und fanta-
riesiger Reichtum an Erfahrungen im Ausland kann für die Jugendlichen in sievoll die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit wider und vor die-
meinem Dorf wertvoll sein. Und letztendlich werden meine Kinder meinem sem Hintergrund die persönlichen Erfahrungen des Autors. In dem
Beispiel folgen und ins Land ihrer Vorväter zurückkehren. hier vorliegenden essayistischen Text „Literatur und aktuelle Welt-
politik:Macht, Rassismus und Globalisierung“ sagt Zinsou über
Aus dem Englischen übersetzt von Adele Tröger seinen 2003 erschienenen Roman Le Médicament, dass er ihn sicher
nicht geschrieben hätte ohne die Erfahrungen, die er als Immigrant
und Asylbewerber während der ersten Zeit in Deutschland machte.
Sigrid Groß

Der ‚Andere‘ bin ich

Als ich 1970 mein Stück On joue la comédie schrieb, verknüpften sich in
meinem Denken zwei oder drei Dinge. Zum einen war da mein erstes Stück
L’amour d’une sauvage von 1968, das von Vorurteilen zwischen verschiede-
nen Völkern Togos handelt: Meine Helden Louise und Georges gehören
unterschiedlichen Kulturen an und müssen gegen solche Vorurteile an-
kämpfen, um ungehindert lieben und heiraten zu können; die Liebe der
‚Wilden‘ Louise trägt den Sieg davon. Zweitens hatte ich noch eines der
Manuskripte im Kopf, die ich den Rassenkonflikten in Südafrika widmete,

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ein Stück mit dem Titel Le retour de Chaka: Die historische Gestalt des Zu- erstere den zweiten nährt und sich seiner bedient. Typischstes Beispiel ist
luchefs kehrt zurück, um sein Schwarzes Volk von der Apartheid zu be- wohl der berühmteste Diktator der Geschichte: Hitler. Er wollte Herrschaft
freien. Ich hatte gerade in einem dramatischen Poem von Senghor die Rol- und Macht als Ausgleich für eine Reihe von Komplexen. Zu diesem Zweck
le des Chaka gespielt, der Einfluss des senegalesischen Dichters ließ sich also musste er im Volk den Wunsch nach Macht wecken und für sich nutzen.
leicht aus meinem Stück herauslesen. Und drittens gab es da noch eine klei- Als Beispiele aus der jüngeren Geschichte seien die beiden Männer genannt,
ne Broschüre über die Apartheid, die ich im Informationsbüro der Verein- die in letzter Zeit zu Gegenspielern wurden, sich herausforderten, gegenein-
ten Nationen in Lomé gefunden hatte. Ich spann also weiter an meinen Ge- ander Krieg führten und doch schließlich und im Grunde einander gleichen
danken über Vorurteile und Klischees, die Nährboden sind für jegliche und dieselben Argumente benutzen: Saddam Hussein und George W.
Diskriminierung, rassistische wie solche zwischen verschiedenen Kulturen Bush. Jeder der beiden fragte sich, wie er einer der mächtigsten Männer der
eines Landes. Damals glaubte ich übrigens nicht, selbst einmal Opfer ir- Erde wird. Um dies zu erreichen, stützen sich beide auf ihr Volk und wie-
gendeiner Diskriminierung geworden zu sein und dass mich diese Frage aus gen es in dem Glauben, es besitze die großartigste Kultur der Welt, die er-
persönlichen Gründen so stark berührt. Ich wurde in Lomé geboren und habensten menschlichen Werte, die stärkste Armee, die klügsten Köpfe, die
verlebte meine Kindheit in einem Viertel, in dem sich Menschen sehr unter- fortschrittlichste Technologie.
schiedlicher Herkunft mischen: Mehrheitlich Yoruba, doch auch Ewe, Alle Völker der Erde würden sich gern den anderen überlegen fühlen
Hausa, Mina und Fon; zudem die, welche man bei uns Afro-Brasilianer und ihre Überlegenheit kundtun. Die, welche die nötigen Mittel dazu ha-
nennt, meist Nachkommen befreiter Sklaven, die aus Brasilien über Sierra ben, erfüllen sich diesen Wunsch. Wie sonst ließe sich der Rüstungswett-
Leone, Liberia und Dahomey zurückkehrten, aber auch Schwarze mit por- lauf erklären, insbesondere der nukleare? Als darüber heiß diskutiert wur-
tugiesischen Vätern. Und alle Kulturen, all diese Gruppen von Migranten de, ob der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt oder nicht und ob man
finden sich in meiner Familie, meinem Elternhaus vereint. Mit der Folge, militärisch intervenieren soll oder nicht, erschien Chirac wie ein Held im
dass ich bei jedem Nachdenken über Formen des Rassismus und der Diskri- Lager der Friedliebenden, deren Standpunkt von Millionen Demonstranten
minierung das Absurde solcher Verhaltensweisen erkenne. Für mich ist es auf der ganzen Welt unterstrichen wurde. Dabei vergisst man beinahe das
unmöglich, unvorstellbar, jemanden wegen seines Andersseins auszugren- Jahr 1995, als der Chef der französischen Rechten an die Macht kam und
zen, würde ich doch zugleich zulassen, dass Mitglieder meiner eigenen Fa- mit seinem Beschluss neuer Atomwaffentests im Pazifik Proteststürme her-
milie ausgegrenzt würden. Allein der Gedanke weckt in mir ein befreiendes vorrief, gewiss nicht im gleichen Maß wie jene gegen Bushs kriegerische Ab-
Lachen. Im Grunde ist die Diskriminierung, auch wenn sie allgemeinem sichten und doch ein Aufbegehren gegen das Streben des französischen
menschlichen Verhalten entspringt, einfach nur komisch. Das ist die he- Staatschefs nach Vorherrschaft unter Einsatz menschlichen Lebens und der
rausfordernde These des Stücks On joue la comédie. Ökologie. Chirac ist für die Stimmen der Anti-Atom-Demonstranten eben-
so taub wie Bush für die Proteste gegen den Irakkrieg. Und derselbe Chirac
versammelt in Paris die afrikanischen Staatschefs (sogar die am meisten in
Auf der Basis von Mythen Ungnade gefallenen, weil sie jene Werte nicht respektieren, in deren Namen
er Position gegen Bush bezieht). Die Tatsache, dass er manche mit Umar-
Mein Stück ist sozusagen die komische Seite von Le retour de Chaka, zeigt mung, andere nur mit Händedruck begrüßt, kann nur als Zeichen seiner
aber auch andere Verhaltensweisen, die ebenso irrational sind wie der Ras- Herablassung gedeutet werden, mit der er sich als derjenige aufspielt, der
sismus und genauso komisch erscheinen, ganz besonders Mythen, die Herr- die Bonus- und die Maluspunkte zu verteilen hat. Jedenfalls lässt er von al-
schaft und Unterdrückung zu rechtfertigen suchen. Meiner Meinung nach len eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, die ihre Opposition zum
entspringen derlei Mythen der gleichen Quelle wie der Rassismus, nämlich Krieg ausdrückt. Unter den afrikanischen Staatschefs bei diesem Gipfeltref-
individuellem oder kollektivem Hunger nach Macht, wobei manchmal der fen verdient einer unsere besondere Aufmerksamkeit: Robert Mugabe. Ich

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glaube, dieser Mann trägt in sich die ganze Komplexität der Beziehungen noch heute unterworfen sind, wenn sie ein Visum für Frankreich beantra-
zwischen Afrika und dem Westen: Als er im ehemaligen Rhodesien den gen. Vergessen die nicht übernommene internationale Verantwortung, wo-
Guerillakampf gegen das rassistische Regime von Ian Smith anführte, war durch Jahr für Jahr Dutzende illegal einreisende Algerier auf dem Weg ins
die Verurteilung dieses Regimes durch den Westen bloßes Lippenbekennt- europäische Eldorado ertrinken (wie auch Flüchtlinge aus anderen afrikani-
nis; als Mugabe Diktator geworden war wie so viele andere seiner afrikani- schen oder unterprivilegierten Ländern). Vergessen die alltägliche Diskrimi-
schen Kollegen, hat er die verantwortlichen Europäer/innen erst dann ge- nierung der ‚maghrebinischer Immigration entstammenden‘ Franzosen auf
stört, als er anfing, Weiße Farmer, unter ihnen auch Staatsangehörige von dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Trotz allem: Der von den Franzosen
Zimbabwe, von ihrem Land zu vertreiben. Übersetzt heißt das: Solange am meisten geliebte Mann ist Zinédine Zidane, ebenfalls Nachkomme
afrikanische Diktatoren die Interessen der Weißen nicht antasten, kann maghrebinischer Einwanderung. Liebt man Zidane in Frankreich (wie ihn
man sie regelmäßig besuchen und sogar verteidigen. Ist die Einmischung übrigens viele Fußballfans auf der ganzen Welt lieben), weil er derzeit der
Westlicher Mächte in die Konflikte afrikanischer Länder denn anders zu beste Fußballspieler ist oder weil er Zidane ist oder gar weil er die Erinne-
deuten, eine Einmischung mit dem erklärten Ziel, sogenannte Angehörige rung an Frankreichs Größe, an den Fußballweltmeister Frankreich wach-
fremder Staaten (in Wirklichkeit Europäer/innen und US-Amerikaner/in- ruft? Man kann das tolerante Schwarz-Weiß-Arabische Frankreich feiern,
nen) zu evakuieren und ihren Besitz zu schützen? Man kann also sagen, mit dem sich bei einem Spiel fast alle Franzosen identifizieren, besonders so-
dass Diktatoren, wie sehr sie auch schuldig werden durch Verletzung von lange die Euphorie eines sportlichen Siegs anhält. Sind die Menschen sich
Freiheit und Menschenrechten, in dem Maße gut sind, wie sie in ihren Län- dessen bewusst, dass sich ein Graben auftut zwischen dem Frankreich, das
dern Westliche Interessen schützen. Wenn man über Menschenrechte redet, gewinnt und allen gehört, und dem Frankreich der alltäglichen Realitäten,
muss man zulassen, dass der Begriff unterschiedliche Bedeutungen hat, je der unterschiedlichen Gruppierungen, die gegeneinander abgegrenzt sind?
nachdem, ob es sich um Menschen des Südens oder des Nordens handelt, Der algerische Staatschef Abdelaziz Bouteflika hat in einem Interview
um Menschen der ‚Dritten‘ oder der so genannten ‚zivilisierten Welt‘. anlässlich des Chirac-Besuchs erklärt, er wünsche sich für den franzö-
sischen Staatschef den Friedensnobelpreis. Was für eine Komödie wird da
gespielt? Anscheinend wurde auf dem Pariser Gipfel das große Frankreich
Krieg der Interessen und Interessen des Kriegs wieder entdeckt, das des französischen Kolonialreichs, sogar vergrößert
durch die ehemals britischen, portugiesischen, spanischen, belgischen Ko-
Einige afrikanische Herrscher haben, als sie die wahren Interessen der lonien. Und dieses große Frankreich wird repräsentiert von Zidane, dem
Großmächte am Irakdossier erkannten und wie man sie instrumentalisieren Sieger. Dasselbe große Frankreich unternimmt Atomwaffentests im Pazifik.
will, ohne große Überzeugung beschlossen, mitzuspielen und so weit wie Dasselbe große Frankreich möchte sich in Europa bis zu den Beitrittslän-
möglich ihren Vorteil zu nutzen. So hat ein Land wie Angola sehr wohl am dern zur Europäischen Union ausdehnen und ist enttäuscht, dass einige von
französisch-afrikanischen Gipfel teilgenommen und die gemeinsame Erklä- ihnen die US-amerikanische Seite gewählt haben. Darüber war Chirac ver-
rung unterzeichnet, doch als Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Natio- ärgert und hat sich das Recht angemaßt, ihnen eine Lektion in gutem Be-
nen hat es gemerkt, dass es seine Stimme den US-Amerikanern teurer ver- nehmen zu erteilen, schlimmer noch, sie zu beleidigen.
kaufen kann als dem Friedenslager, also hat es eine Erklärung abgegeben, Man sollte an dieser Stelle Chiracs Argumente, mit denen er seine Atom-
die von der Pariser Erklärung abwich. Nachdem Afrika ‚gewonnen‘ war, hat waffentests im Pazifik rechtfertigt, mit Bushs Argumenten für die US-ame-
Chirac sich an die Vereinnahmung der arabischen Welt gemacht. Bei einem rikanische Intervention im Irak vergleichen. Dem Einen geht es um Ab-
Besuch in Algerien gönnte er sich ein Bad in der Menge: Hunderttausende schreckung, dem Anderen um die Entwaffnung des Irak. In beiden Fällen
Algerier! Demnach ist der Algerienkrieg vergessen, vergessen auch die fran- läuft es darauf hinaus, einen Krieg zu verhindern, dessen Zerstörungskraft
zösische Kolonialherrschaft, vergessen sogar die Schikanen, denen Algerier schlimmer wäre als die Präventivmaßnahmen, das heißt, es ist Ziel dieser

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Maßnahmen, Sicherheit und Frieden zu garantieren. Wenngleich die US- ten, Länder, die gegründet wurden, nachdem sie andere ausplünderten und
amerikanische Intervention im Irak unmittelbar mehr Opfer gefordert hat in den Ruin trieben. Brutalität, um nicht zu sagen Barbarei findet sich an
als die französischen Nukleartests im Pazifik, lässt sich nicht leugnen, dass der Basis der Staaten, die heute andere über Werte belehren wollen. Viel-
es sich in beiden Fällen um eine Machtdemonstration handelt, um einen leicht ist der oberste ‚Wert‘ einfach das Prinzip ‚Recht der Starken‘, ein
Luxus, den sich nur Großmächte erlauben können. Und sie möchten die ‚Wert‘, mit dem sich der Rest der Welt abfinden muss, um in Frieden zu
mittelgroßen Mächte wie Indien und Pakistan von diesem Luxus ausschlie- leben. Ein Ewe-Sprichwort drückt das sehr gut aus: „Wenn ein Stärkerer
ßen. Schlimmer noch: Länder mit einer anderen Ideologie, die sich den Lu- furzt, sagt man nicht, dass es stinkt.“
xus leisten, also mit den Großmächten militärisch konkurrieren können wie Das Recht der Starken, ein anderes Recht als das der Kleinen, zeigt sich
Nordkorea, Syrien … werden auf einer Achse des Bösen aufgereiht. Wegen deutlich im Schweigen der Staatschefs angesichts des von Putin begangenen
ihres Waffenarsenals. Massakers in Tschetschenien. In Tschetschenien wird gefurzt und krepiert,
doch keiner sagt, dass es nach Barbarei und nach fehlenden Werten stinkt,
nach fehlender Kultur. Keiner hat von Putin Rechenschaft verlangt über die
G8 und die anderen Gs Art und Weise, wie er im Großen Theater von Moskau die Geiseln aus der
Hand des tschetschenischen Kommandos befreite, eine Befreiung, die
Es gibt einen Begriff, der die Großmächte nicht im geringsten stört und der schließlich 150 Menschen, tschetschenische Terroristen vereint mit russi-
doch im Grunde nur auf einer Form der Diskriminierung beruht: die Be- schen Zuschauern, das Leben kostete. Dieselben Staaten, die ihre Armeen
zeichnung G8, acht, seit Russland aufgenommen wurde. In meiner Erzäh- nach Bosnien schickten, dann in den Kosovo, um die so genannte ‚ethni-
lung von 1987 L’Ami-de-celui-qui-vient-après-le-Directeur erklärt eine der sche Säuberung‘ zu stoppen, diese selben Staaten wagen kaum, Russland
Personen, der Analphabet Akakpossa mit gespielter Naivität das Funktio- wegen seiner repressiven Politik in Tschetschenien zu verurteilen, und sei es
nieren einer Maschine, die man sehr viel später ‚Globalisierung‘ nennt: Die nur in einem Lippenbekenntnis. Dieses Schweigen lässt sich mit dem Argu-
Menschheit zerfällt anscheinend in drei Teile: Der erste besitzt eine Maschi- ment ‚Kampf gegen den Terrorismus‘ nicht rechtfertigen (wobei die tschet-
ne zur Herstellung von Geld, der zweite Teil Ölquellen zum Antrieb der schenischen Unabhängigkeitskämpfer als Terroristen bezeichnet werden),
Maschine, und der dritte Teil besitzt weder Maschine noch Ölquellen; die- auch nicht mit der Notwendigkeit, die territoriale Einheit Russlands zu be-
se Menschen müssen auf den Feldern arbeiten, um die anderen zu ernähren. wahren (die Serbenführer in Ex-Jugoslawien gebrauchten das gleiche Argu-
Bei der Aufteilung der Produkte bedienen sich die Besitzer der Maschine als ment gegen die Separatisten der UCK).
erste, geben an die Ölquellenbesitzer einen mittelgroßen Anteil weiter und Ende Februar 2004 begann vor dem Internationalen Gerichtshof in Den
lassen schließlich ein paar Krümel für die übrig, welche die Produkte an- Haag die Debatte über die Mauer zwischen Israel und Palästina (Trennmau-
bauen müssen, als Nahrung für alle. er für alle, die eine gewisse Neutralität wahren, Sicherheitsmauer für die Is-
Die Sieben oder Acht, die über 70 % der Reichtümer der Erde verfügen, raelis und Apartheid für die Palästinenser/innen); am 29. Februar antworte-
sind in der Lage, die gesamte Menschheit oder Teile von ihr verhungern zu te in der Sendung „Kiosk“ bei TV5 ein russischer Journalist, Vadim
lassen, wenn sie es denn beschließen (man hat es bei den sogenannten Em- Gluscker, auf die Frage, was man in Russland über die Mauer denke, die
bargos gesehen, welche die UNO gegen Kuba verhängte, den Irak …); zu- Haltung seiner Landsleute dazu sei sehr gemischt: Einerseits verurteile das
gleich besitzen sie alle Macht, um ganz gleich in welchem Winkel der Welt offizielle Russland die Mauer, doch andererseits frage sich mancher Russe,
zuzuschlagen, wenn sie es wollen. Sie sind also ‚besondere Länder‘, stehen ob sie nicht auch eine Lösung für das Tschetschenien-Problem sein könnte:
sozusagen über dem Rest der Welt und haben besondere Rechte und Privi- die Tschetschenen hinter einer Mauer einschließen, damit sie nicht mehr
legien, die man den ‚Anderen‘ nicht zugesteht. Wie zufällig findet man in nach Russland kommen und Attentate begehen können. Die eine wie die an-
dieser Gruppe mehrheitlich Länder, die gestern große Kolonialreiche hat- dere Sichtweise ist bezeichnend: Wer von Abgrenzung spricht, gibt damit ei-

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nen objektiven Ausschluss zu, sogar einen ordnungsgemäßen mit Grenzen Weshalb hat keine große oder kleine Nation es gewagt, eine Resolution
und Grenzpolizei, und ein Ausschluss kann auf die eine oder andere Weise gegen die USA vorzuschlagen, als das Land allein einen Krieg führen woll-
realisiert werden. Die Mauer zwischen Israel und Palästina hat viel Tinte und te, den die Mehrheit der Menschen als ungerecht ablehnte? Ein utopischer
Speichel fließen lassen, doch hat jemand die Länder aufgelistet, die ihre Gedanke, nicht wahr? Weshalb hat keine große oder kleine Nation der
Grenzen durch Stacheldraht oder Elektrozäune sichern? Man denke bei- UNO vorgeschlagen, ein Embargo gegen die USA zu verhängen? Auch das
spielsweise an die Grenzen der USA zu ihren Nachbarn. Oder auch an die ein utopischer Gedanke: Kein Embargo könnte die Vereinigten Staaten be-
sogenannten Schutzzonen um die Flughäfen von Paris oder Genf, wo uner- unruhigen; sie sind die Reichsten und Stärksten und haben daher – wie sie
wünschte Reisende festgehalten werden. Man denke an die Reservate, in de- glauben – immer Recht.
nen nicht-europäische Einwohner der Vereinigten Staaten, Kanadas, Austra-
liens eingesperrt leben. Man denke an alle Ghettos. Und daneben existieren
nicht wirklich sichtbare Grenzen, die man auch nicht ohne Risiko über- Das Gefühl, dass manche Leben mehr wert sind als andere
schreitet: die Reich von Arm trennen, Gemeinschaften trennen, auf Her-
kunft beruhend, auf ‚Hautfarbe‘ … Wie erklärt sich die gemeinschaftliche Ein Bürger der Demokratischen Republik Kongo, den ich nach dem 11. Sep-
oder vielmehr persönliche Neigung der ‚Fremden‘ in den verschiedenen tember 2001 in Bayreuth traf, sagte zu mir:
westeuropäischen Aufnahmeländern, sich im gleichen Viertel anzusiedeln
Ich arbeite in einem Unternehmen, wo man uns aufforderte, drei
und traditionelle Kleidung als Zeichen der Zugehörigkeit zu tragen, zudem,
Schweigeminuten einzulegen zum Gedenken an die 1200 Toten beim
was gefährlicher ist, der Wunsch nach Selbstverteidigung, notfalls mit Waf- Einsturz der Zwillingstürme. Wie viele Schweigeminuten wurden ein-
fen? Angst vor dem ‚Anderen‘, vor demütigender Ablehnung oder gar Ag- gelegt zum Gedenken an Tausende von Toten bei der Invasion von Kivu
gression durch den ‚Anderen‘? Ein Gefühl von Sicherheit im Kokon der Glei- durch die ruandischen Streitkräfte? Und was konnte das kleine Ruanda
chen? Jedenfalls ist das kein Beweis für eine geglückte Integrationspolitik. gegen die Armee des großen Zaire ausrichten, wenn die USA ihm nicht
In Israel und anderswo auf der Welt setzt die gleiche Wahrheit oder bes- zum Schutz ihrer eigenen Interessen geholfen hätten?
ser der gleiche Wahn Maßstäbe, die Sicherheit genannt werden oder Abrie-
gelung oder Schutz (in Deutschland gibt es einen Bundesgrenzschutz, der Gut, man müsste erst die Richtigkeit dieser Äußerung beweisen. Doch kann
das Prinzip im Namen trägt), und die bedeuten: Furcht vor dem ‚Anderen‘, keiner den Eindruck leugnen, der bei dem Kongolesen zu dieser Aussage ge-
dem, der uns überfällt, dem, der uns bedroht, dem ‚Anderen‘, der nicht ist führt hat: Den Eindruck, berechtigt oder unberechtigt, dass manche Leben
wie wir, dem ‚Anderen‘, der nicht die gleichen Rechte hat wie wir. Wenn mehr wert sind als andere, dass an manchen Orten der Erde materielle In-
also der Gerichtshof in Den Haag Israel verurteilte, müsste er sich für mein teressen wichtiger sind als Menschen, und ein tiefes Empfinden der Unge-
Empfinden auch um all die anderen Fälle in der Welt kümmern, wo andere rechtigkeit in der Welt. Ich bin kein Prophet, schon gar nicht ein Prophet
Mauern ganz gleich welcher Form gebaut werden, um die als ‚Anders‘ klas- des Unglücks, doch legte ich seinerzeit Ndelebe, einem volkstümlichen
sifizierten Menschen an den Grenzen zu stoppen, vor allem auch an den Dichter in On joue la comédie folgende Passage in den Mund (wobei der
Grenzen im Innern der Länder. Man wird im Falle Israel mildernde Um- Text bombastisch und parodierend gesprochen werden muss, um sich ganz
stände anführen, die ich bei einigen der die Mauer verurteilenden Nationen in die Stimmlage des Stücks einzufügen; schließlich wird von den Schau-
nicht erkennen kann, es sei denn, sie könnten beweisen, dass sie täglich spielern ein Kampf gegen die Apartheid gespielt):
durch terroristische Attentäter bedroht werden. In Wirklichkeit aber haben Bayeté, Zulu! Himmelssohn! Hier kommt euer Befreier, Chaka, Bote
es die großen Nationen nicht nötig, irgendetwas zu beweisen, sie sind nie- der Gerechtigkeit. Denn der Tag eures Sieges ist nah. Ja, an diesem Tag
mandem Rechenschaft schuldig für das, was sie innerhalb oder außerhalb wird sich die Menschheit erheben. Die Zulu der ganzen Welt kommen
ihrer Grenzen tun. Sie besitzen Stärke und Macht, und das genügt. und kämpfen mit euch. Ihr werdet in die Stadt einziehen und eure Un-

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terdrücker mitten in ihrem Wohlstand zermalmen. Zusammen mit ihren portunismus kam ins Spiel, als am 21. April 2002, dem Tag nach dem ers-
hohen Häusern werden sie zusammenbrechen. Es wird ein Tag des Ge- ten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen, Hunderttausen-
metzels sein, an dem alle sterben, die den Menschen Mammon opferten, de Franzosen ihrer Ablehnung von Le Pen Ausdruck verliehen, nachdem er
dem unerbittlichen Dämon des Geldes. An diesem Tag wird Chaka, euer bei der Wahl auf Platz zwei gekommen war. Gewiss, man darf Chirac und
Befreier, Mammon mit seinem großen, glänzenden Schwert durchboh- Le Pen nicht in einen Topf werfen; aber weiß man denn, welche Art von Be-
ren, und die Erde wird gereinigt sein von aller Schande. Dann erscheint ziehung wirklich zwischen den beiden Politikern besteht, wenn der eine ver-
Nolivé, die Tochter des Friedens, und errichtet auf der Erde ihr Reich für sichert, der andere habe sich ihm aus wahltaktischen Gründen angenähert?
alle, die NkoulouNkoulou, den Gott der Gerechtigkeit, verehren!1 Ist der Gedanke nicht berechtigt, dass Chirac aus bloßem Opportunismus
die Fernsehdiskussion mit Le Pen ablehnte? Hatte er überhaupt Argumen-
Ich hatte nicht die Absicht, Ereignisse vorauszusagen; insbesondere macht te, um in einer Livedebatte Le Pens Behauptung zu widerlegen? Dabei wäre
es mir keinen Spaß, Drohungen gegen die arroganten Reichen auszustoßen. eine solche Debatte nötig gewesen, um zu klären, ob Chirac imstande ist,
Doch was soll man denken angesichts von so viel Ungleichheit, so viel Un- eine Partei mit rassistischer Wählerschaft zu hofieren und ihr, ohne sich of-
gerechtigkeit in der Welt, vor dem immer größer werdenden Graben, der fen zu ihren Grundsätzen zu bekennen, zumindest ein Zeichen des Einver-
sich zwischen den Menschen des Nordens und denen des Südens auftut? ständnisses zu geben.
Welches Opfer dieser Ungerechtigkeit und Ungleichheit wünschte sich nicht, Ende 2003/Anfang 2004 wurde in Frankreich eine lebhafte Debatte
das alles zu beenden, notfalls mit Gewalt. Zugegeben, Gewalt löst keine über die Trennung von Staat und Kirche geführt, vor allem mit einem von
Probleme, doch immer schärfere Sicherheitsmaßnahmen und ein maßloser Chirac eingesetzten „Weisenrat“2, der Gesetzesvorschläge erarbeiten sollte
Krieg gegen den Terrorismus auch nicht. Ich habe mich gefragt, weshalb die zum Tragen von Glaubenssymbolen in der Schule. Das ließ mich an eine
Terroristen des 11. September, genau wie meine Figur im Theaterstück, be- alte Frau denken, bei der ich anlässlich eines Aufenthalts in der Gironde
sessen sind von Wolkenkratzern als einem Symbol des triumphierenden Ka- wohnte. Ihr Sohn ist mit einer Marokkanerin verheiratet und hat mit ihr
pitalismus (Mammon), der den Rest der Welt zugrunde richtet, weshalb sie zwei Kinder. Eines Tages kam die alte Frau bestürzt und den Tränen nah
die Zerstörung dieses Symbols auswählten: Mammon durchbohrten, damit von einem Besuch bei der Familie ihres Sohns zurück. Grund ihres Kum-
die ganze Menschheit wachgerüttelt und sensibilisiert wird für eine Realität, mers: Die älteste Enkelin hatte mit ihrer Mutter die Moschee besucht. „Die
die so nicht weitergehen kann. Gewalt ist keine Lösung an sich, sie bereitet Moschee, stellen Sie sich das vor! Ein französisches Mädchen in der Mo-
nach Meinung meiner Figur in On joue la comédie jedoch den Weg für die schee!“ Das war entsetzlich für die alte Frau, und ich frage mich, ob nicht
Tochter des Friedens und für eine gerechte Welt. Es stellt sich die Frage, ob viele Franzosen ‚französischer Herkunft‘ das gleiche Problem damit haben,
die Großen dieser Welt, anstatt hartnäckig die Terroristen zu bekämpfen, dass der Islam Schulen, Häuser, Familien, Straßen, Büros… mit seinen of-
nicht besser den Kampf gegen die Ursachen von Gewalt und Unsicherheit fenkundigen Zeichen und Symbolen überschwemmt. Muss an die Ängste
aufnehmen sollten. der Bürger in einigen deutschen Städten erinnert werden, sobald man auf
ihrem Gebiet neue Moscheen errichtet? Pervers an dem Bericht der Kom-
mission ist nicht, dass er die Trennung von Kirche und Staat wirklich garan-
Politik und die Versuchung, sich anzupassen tieren will, (die meiner Meinung nach durch vereinzelt getragene religiöse
Symbole in keinster Weise gefährdet wird), sondern dass er seine wahren
Im Irak hat das kriegerische Lager sich schließlich durchgesetzt. Wir hätten Gründe verschweigt: Es geht nur um das muslimische Kopftuch, nicht um
den Sieg eher dem Friedenslager gewünscht, allerdings nicht dem des Jac- das christliche Kreuz und auch nicht um den Davidstern. Weshalb steht nur
ques Chirac und seinem Streben nach Vorherrschaft, mit dem er aus reinem das muslimische Tuch zur Debatte? Um die muslimische Frau zu befreien,
Opportunismus eine weltweite Bewegung sammeln wollte. Der gleiche Op- wird behauptet. Ich gebe zu, dass die meisten unter einem Kopftuch ver-

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steckten Frauen in Afghanistan unter den Taliban, im Iran unter den Ajatol- mend geteilten Welt. Soyinka erinnert an seine Schulzeit: Damals sah man
lahs und sogar im Norden Nigerias, nachdem es sich für die Scharia ent- die Schuluniform als Lösung an für die an der Kleidung sichtbar werdende
schied, das Tuch nicht aus freien Stücken tragen; doch kann man dieses Trennung von Arm und Reich, auch von christlichen und muslimischen
Maß an die in Frankreich und auch Deutschland lebenden Muslime anle- Schülern. „Erziehung“, schreibt er, „beinhaltet einen Anpassungsprozess.
gen? Hier gehen die Frauen zu Hunderten, zu Tausenden auf die Straße Wenn wir einen Jugendlichen zu einem andern sagen hören: Ich bin reicher
und bringen zum Ausdruck, dass für sie das Kopftuch eine persönliche Ent- als du, zeigen wir sofort unsere Missbilligung. Genauso ist es nötig, dass wir
scheidung ist, demnach Ausdruck ihrer individuellen Freiheit. Es stellt sich alle Zeichen verbannen, die ein sensibler junger Mensch so verstehen könn-
die Frage: Hat man das Recht, jemanden gegen seinen Willen zu befreien? te: Ich bin heiliger als du.“3
Jemanden, der eine solche Art der Befreiung gar nicht will. Auch Bush be- Auch ich bin der Meinung, dass man Kindern den Gedanken einschär-
hauptet, dem Irak eine Art Befreiung zu bringen, die jedoch ein Teil der Ira- fen muss, dass sie ohne Klassenunterscheidung zu derselben Nation gehö-
ker nicht wünscht. Was entsteht daraus? Eine Zunahme von Gewalt. Das ren, und dass die Schule der ideale Ort für eine solche Erziehung ist. Doch
Gesetz gegen das Kopftuch in französischen Schulen bewirkt, ob man es ich frage mich: Ist das Verbot des offen getragenen religiösen Symbols nicht
will oder nicht, in großem oder in kleinem Maßstab, dass muslimische ein Wassertropfen im Meer?
Schüler in solchen konfessionellen Schulen Zuflucht suchen, die das Kopf- Man muss sich weiter fragen, wie mit den Zeichen anderer Religionen
tuch dulden; dass Schüler und ihre Eltern in Ländern Exil suchen, in denen als der jüdischen, christlichen, muslimischen umzugehen ist: Darf ein Schü-
kein Gesetz dieser Art existiert; Resignation und Frustration auf Seiten de- ler zum Beispiel ein Amulett tragen, eine Halskette oder einen Gürtel mit
rer, die mit dem Gesetz leben müssen, weil sie nicht die Mittel haben, sich Kaurimuscheln oder anderen, einem sogenannten heidnischen Kult zuge-
ihm zu entziehen; und schließlich Gewalt als ein Ausdruck der Frustration. hörigen Dingen (Fetisch oder Grigri genannt)? Ein mit Symbolen des Sa-
Man fragt sich, ob dieses Gesetz der französischen Gesellschaft bessere In- tanskults bedrucktes T-Shirt? In Afrika schämte man sich solcher Zeichen,
tegration bringt oder eher das Gegenteil. Sicher ist, dass eine gesellschaftli- besonders in der Schule, weil sie von den christlichen Missionaren als rück-
che Gruppe durch das Gesetz ausgegrenzt, um nicht zu sagen legal diskri- schrittlich bezeichnet wurden. Die Zuflucht zur Vermischung verschiedener
miniert wird in einem Frankreich mit zwei Kategorien Franzosen: solche Religionen erklärt sich zum Teil mit dem Bedürfnis, die Ausübung traditio-
christlichen Glaubens, von dem Gesetz nicht betroffen, und solche musli- neller Glaubensformen hinter christlicher Fassade zu verbergen, um nicht
mischen Glaubens, die das Gesetz betrifft. Bewegen wir uns da nicht rück- als ‚Wilder‘ angesehen zu werden. Eins meiner allerersten Stücke hieß La
wärts, hin zu einer Zeit, als man in den Kolonien zwischen ‚Eingeborenen‘ Fiancée du Vaudou; darin entlarve ich die Heuchelei einer gewissen Bürger-
und Kolonialherren unterschied und das in einer „Französischen Union, ge- schicht in Lomé, die sich als christlich ausgibt und dabei heimlich auf
gründet auf Gleichheit der Rechte und Pflichten, ohne Unterscheidung Fetischpriester zurückgreift, wenn es darum geht, konkrete Probleme zu
nach Herkunft, Rasse und Religion?“ Es muss nicht daran erinnert werden, lösen. Regelmäßiger Besuch der Sonntagsmesse, ein Kreuz oder Marienme-
dass die Gleichheit immer mehr in den zur Schau gestellten Prinzipien und daillon, vor dem Haus die Statuette der Jungfrau oder eines anderen Heili-
Werten bestanden hat als in der Realität. Die Frage überschreitet jetzt die gen, Taufe und christlicher Vorname zeigen nicht mehr nur die Zugehörig-
französischen Grenzen, und fast überall in der Welt gibt es Reaktionen, keit zu einer Religion, sondern zugleich die Anpassung an eine Kultur, von
seien sie im Sinne der von den Franzosen gewünschten und durch die Na- der diejenigen ausgeschlossen sind, die weiterhin traditionelle Religionen
tionalversammlung mit großer Mehrheit beschlossenen oder nicht. ausüben. Unter diesen Bedingungen ist nicht zu vermeiden, dass sich kulti-
Auch der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka hat seine Meinung sche und kulturelle Zeichen vermischen und verwirren. Zum Beispiel hat es
zu der Frage geäußert, und zwar in einem vom Courrier International veröf- Extremfälle gegeben, wo sterbende alte Menschen durch ihre Kinder zum
fentlichten Artikel. Soyinka findet das Gesetz in dem Maß positiv, wie es christlichen Glauben ‚konvertiert wurden‘, nur weil die Kinder für ihre El-
Diskriminierungen einschränkt in einer politisch, religiös und sozial zuneh- tern ein ‚ordentliches‘ Begräbnis wünschten. Die Reaktion der Staatsmacht

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auf solche Verhaltensmuster war stets unbeholfen und deshalb kurzlebig. kanischen Kultur, welche Amerikaner, Haitianer und Menschen der Antil-
Am Beispiel von Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo: Un- len zum ersten und einzigen Vodún-Festival 1991 einlud. Auch hier hat es
ter Mobutus Herrschaft war es im Namen der Authentizität nicht nur ver- nicht an Spekulationen gefehlt. Soglo, der genau zum Zeitpunkt seiner
boten, ‚importierte‘ Vornamen zu tragen, sondern auch Jackett und Kra- Wahl schwer erkrankte, soll von seinen Gegnern auf geheimnisvolle Weise
watte. Doch wie lange hatte dieser Authentizitätsgedanke Bestand? Solange verhext und nur durch einen Vodún-Priester gerettet worden sein. Als An-
Mobutu an der Macht blieb! Wenn seine Regierungszeit auch weltweit eine erkennung habe er die Ausübung des Vodún wieder in einen ehrenvollen
der längsten war, Mobutu nahm die schöne Idee mit in seinen Sturz und ins Rang erhoben. Doch bereits 1996 kommt durch neue Wahlen Mathieu
Grab. In Togo widmeten in den Jahren 1974 bis 1990 die nationalen Me- Kérékou zurück an die Macht. Der durch die Ereignisse zum Demokraten
dien lange Artikel und Sendungen der Frage authentischer Vornamen, gewandelte Marxist ist jetzt ein militanter Christ und Lehrer in der Sonn-
nachdem Etienne Eyadema seinen ‚importierten‘ Vornamen abgelegt hatte, tagsschule. Als christlicher Präsident unterstreicht er seine offiziellen An-
um Gnassingbé Eyadema zu werden. Es war unmöglich, ein Kind mit ‚im- sprachen durch Bibelzitate. Das Vodún-Festival findet unter ihm nicht
portiertem‘ Vornamen in der Schule anzumelden oder einen Kranken in die mehr statt, es werden sogar einige Vodún-Statuen auf seinen Befehl umge-
Krankenhausliste einzutragen; zumindest war dann eine andere Nationali- stürzt. So scheint es allen durch staatliche oder kirchliche Institutionen ver-
tät als die togolesische erforderlich. Erst musste 1990 ein Wind demokrati- hängten Maßnahmen zu ergehen, besonders in Bereichen, die zuallererst
scher Revolte wehen, ehe wir Togoer erfahren durften, dass kein Dekret, auf persönlicher Entscheidung beruhen sollten. Selbst wenn der Zweck im
kein Gesetz uns zwingt, ‚importierte‘ Vornamen abzulegen. Es wurde viel allgemeinen lobenswert ist wie: nationalen Werten wieder zu Ehre und An-
über die ganz persönlichen Gründe spekuliert, weshalb der Diktator sich in sehen verhelfen, Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung, das Ge-
Gnassingbé umbenannte: In Wirklichkeit sollte Gnassingbé sein Familien- fühl der Zugehörigkeit zur gleichen Nation stärken, die Motivation kann
name sein und Eyadema sein traditioneller Vorname. Demnach trug er zwei nur eine persönliche sein, und das begrenzt meiner Meinung nach die
Vornamen und suchte nach der Gelegenheit, einen loszuwerden; als Anlass Reichweite solcher Maßnahmen.
diente ihm ein von ‚französischen Imperialisten‘ angestiftetes ‚Attentat‘ auf
ihn (echt oder vermeintlich). Es war also ein Akt der Vergeltung, als er den
Vornamen ablegte, auf den er während seiner Militärzeit in der französi- Die Scham, ‚Anders‘ zu sein
schen Kolonialarmee getauft worden war. Die Behauptung, Gnassingbé sei
der Familiennname, scheint zu stimmen, denn auch seine Kinder heißen so. Die Scham, ‚Anders‘ zu sein, ist sehr real, besonders für ein Kind. Jeder
Im Nachbarland Benin, das als Wiege des Vodún-Kults gilt, befand sich kann sie nachempfinden, vor allem dann, wenn das ‚Anderssein‘ hässliche
jede staatliche Macht in einiger Verlegenheit gegenüber dem von den christ- Vorurteile wachruft. Anlässlich einer Theater-Werkstatt im Kulturzentrum
lichen Missionaren verunglimpften Glaubenskomplex. Vor 1989 führte der Centre Régional d’Action Culturelle in Lomé, zu der ich eingeladen war,
kommunistische Diktator Mathieu Kérékou einen erbitterten Kampf gegen schlug ich eines Tages als Übung einen Textauszug aus On joue la comédie
das, was er ‚Aberglauben‘ nannte. Anscheinend wollte er bis zum Verbot vor, wobei Teilnehmer der Werkstatt und eingeladene Gäste die verschiede-
von Zeichen der kulturellen Zugehörigkeit gehen. Nach den Wahlen von nen Rollen übernehmen sollten. Sofort sagt ein Weißer Gast, dass er sich
1991, als Kérékou unterlag und Nicéphore Soglo an die Macht kam, reha- weigern würde, die Rolle des Weißen Polizisten zu spielen, weil dieser ei-
bilitierte dieser den Vodún-Kult: Er führte einen ‚Tag des Vodún‘ ein, ließ nem rassistischen Staat dient und gegenüber den Schwarzen rassistische
in den größeren Städten des Landes Vodún-Statuen aufstellen und begrün- Vorurteile hat. Diese Scham ist noch akzentuierter, wenn der Fremde den
dete vor allem ein Vodún-Festival. Soglo hatte ein weites Ziel im Auge, als Eindruck hat, zum Befremdenden zu werden, zum seltenen Tier, das bei
er Vodún nicht allein zur nationalen Angelegenheit machte, auf die man den ‚Anderen‘ Neugier weckt. Ich löste die Situation mit Humor wie eine
stolz sein kann, sondern auch zu einem Zeichen der Zugehörigkeit zur afri- meiner Figuren in Le Médicament, wo der zuerst Angekommene sich beim

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Anblick des Fremden in einen Ethnologen verwandelt; Astrid, eine Deut- Bart trugen oder orientalische Gesichtszüge hatten, ohne sachliche Krite-
sche, die den Afrikaner Fofana geheiratet hat, kann die dummen Fragen rien, allein wegen ihrer äußeren Erscheinung. Auch die Kandidaten für
von Markus nicht mehr ertragen: „Fehlt bloß noch, dass er uns fragt, wie Selbstmordattentate in Israel tragen die Zeichen erst unmittelbar vor der
man es macht, wenn ein Schwarzer mit einer Weißen schläft. Dabei tut er Tat. Was das Zeichen nicht ausdrückt, sagt die gewalttätige Aktion. Was der
so, als ob ihn das Fremde entzückt, oder das Befremdende. Ach wie süß die Tiger nicht durch seine ‚Tigritude‘ verkündet, sagt er durch Gewalt. Und
Kleinen, wie Milchkaffee.“4 vielleicht ist es nicht sehr wirkungsvoll, sich leidenschaftlich auf die Unter-
Das ist nicht bloße Fiktion. Bei einem folkloristischen Tanz-Festival in drückung der ‚Tigritude‘ zu versteifen, ohne etwas gegen die tieferen Grün-
Fribourg (Schweiz) saß ich beim Frühstück neben einem Herrn, der mich de der Aggressivität des Tigers zu tun.
pausenlos mit der gleichen Art von Fragen bedrängte: „Wachsen Ihre Haa- Doch irgendwo muss man anfangen, wird man uns sagen. Lassen wir
re gar nicht? Aber die Innenseite Ihrer Hände ist ja weiß! …“ Weitere klas- also zum Beispiel Frankreich mit der Unterdrückung des so genannten re-
sische Fragen, die man Afrikanern stellt, betreffen den Animismus, den ligiösen Zeichens, dem Kopftuch, in den Schulen beginnen, und in fünf,
Vodún-Kult, die Beschneidung… zehn oder zwanzig Jahren werden wir sehen, ob dies einer besseren Integra-
Ich komme zurück zu der charismatischen Persönlichkeit des Wole So- tion dienlich war.
yinka. In der Stunde, als Afrikaner und Schwarze überall in der Welt begei- Was wir in diesem gleichen Kontext jedoch beobachten, immer noch
stert über die Négritude diskutierten, sprach Soyinka den Satz aus, der ihn in Frankreich: Chirac, dem Sarkosy ein wenig die Hand führte, ernannte
berühmt machte: „Der Tiger verkündet nicht seine ‚Tigritude‘, er springt einen ‚der Migration entstammenden‘ Präfekten, Aïssa Dermouche, was
seine Beute an und zerfleischt sie.“ Das war bereits die Weigerung, sich mit man jahrzehntelang nicht erlebt hatte. Natürlich stürzten sich die Medien
Zeichen (der Tiger trägt sie wie der Schwarze auf der Haut) als ideologische auf das Ereignis, und so wurde es nach dem Irak-Krieg zu einem Jahr-
oder philosophische Basis für die Sammlung unterdrückter Völker zufrie- hundert-Ereignis. Mit der Folge, dass der neue Präfekt ins Visier von (un-
den zu geben. Was zählt, ist die Aktion. Und welche Art Aktion? Zwangs- bekannten) Attentätern geriet, auch die Schule, die er leitete, und das Gym-
läufig eine aggressive, da es gilt, die Beute anzuspringen und zu zerfleischen. nasium seines Sohns. Was bedeutet das? Von einigen Nuancen abgesehen
Natürlich kann man in pazifistischer Sorge erklären, dass es nicht das ist, ein Scheitern der Integrationspolitik. Sarkosy, selbst als Minister für die
was Soyinka befürwortet hat, er, der heute an eine einigere Welt appelliert. Einwanderung zuständig, versäumte keine Gelegenheit zu mahnen, damit
Und doch, sein Ausfall gegen die Anhänger der Négritude (besonders deren Chirac, der keinen einzigen Präfekten fremder Herkunft hatte, einen er-
Metaphorik) gibt Anlass zum Nachdenken: Wenn nun die Aggressivität of- nennt; daraufhin die freiwillige oder gesteuerte Aufregung um diese Ernen-
fen zum Zeichen würde? Einem Zeichen, dass man die Bedingungen nicht nung und schließlich die Attentate: Das alles beweist, Aïssa Dermouche ist
akzeptiert, dass man eine gewisse Situation der Ungerechtigkeit umstürzen kein Präfekt wie jeder andere. Was immer er tut, wie groß auch seine Kom-
will? Wir müssen nur an den 11. September 2001 denken, um den Sinn petenz sein mag, er wird stets als ein Schaukasten-Präfekt gesehen werden,
dieses Zeichens zu verstehen, schrecklicher als alle Zeichen der Kleidung als ein Instrument ideologischer oder sogar wahltaktischer Propaganda, von
oder äußeren Erscheinung. Hätten die Terroristen, als sie die Flugzeuge ent- einigen seiner Landsleute vielleicht als ein von der Staatsmacht benutz-
führten, um die Zwillingstürme zu durchbohren, irgendwelche Zeichen der tes Mittel, um Frankreich nach außen hin reinzuwaschen von Ungleichheit
Zugehörigkeit zum Netzwerk von Bin Laden an sich getragen, sie wären und Ungerechtigkeit. Man kann den Gedanken weiterspinnen: Fran-
vielleicht der Flughafenkontrolle aufgefallen oder den Polizei- und Zollbe- zösische Regierungen schufen seinerzeit ein Ministerium oder staatliches
amten. Sie waren wie all die anderen Passagiere, und doch hat sie das nicht Sekretariat für Integration, das unter Mittérand generell mit Migranten
gehindert, ihre Planungen umzusetzen. Die Aufmerksamkeit für das Zei- und Migrantinnen besetzt war, beispielsweise dem aus Togo stammen-
chen kam erst nach den Attentaten und nicht gerade wohlüberlegt, denn in den Koffi Yamgnan. Die Frage aber lautet: Ist es Aufgabe dieses Ministe-
den Vereinigten Staaten wurden Menschen verhaftet, weil sie Turban oder riums, eine Integrationspolitik zu erarbeiten und umzusetzen oder nur zur

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Schau zu stellen, dass der Staat in Sachen Integration Anstrengungen unter- le, wenn nicht nationalistische Schwärmerei und eine gewisse (bewusste
nimmt? oder unbewusste) Arroganz unter die löblichen Absichten. Als Beispiel sei
die missglückte Befreiung der kolumbianischen Grünen-Präsidentschafts-
kandidatin Ingrid Betancourt genannt, die von bewaffneten Revolutionä-
Verwechslung von Zeichen und Werten: die Falle ren Kräften Kolumbiens (FARC) als Geisel genommen wurde. Alle Bemü-
hungen, ganz gleich welcher Nation, wären im Hinblick auf die Befreiung
In einem meiner neuesten Stücke Dina und Sichem, aufgeführt im Oktober eine gute Sache gewesen. Doch die französische Diplomatie wollte das Ziel
2003 in Bayreuth im Rahmen des Weltkongresses von APELA (Association mit einer extravaganten Operation erreichen und verletzte die territoriale
Pour l’Étude des Littératures Africaines), zeige ich, dass der in den Medien Integrität Brasiliens. Woraufhin der brasilianische Abgeordnete Luis Carlos
gerade sehr beliebte Ausdruck ‚jemand fremder Herkunft‘ unser Gewissen Hauly im August 2003 in Le Monde erklärte: „Die Franzosen täten besser
mahnt. Zu dem Stück inspirierte mich die biblische Geschichte von Dina daran, uns nicht wie eine ihrer Kolonien zu behandeln, wie sie es in Afrika
und Sichem (Genesis 34 Vers 1 bis 34), und mich fasziniert hier besonders tun.“5 Auf welches afrikanische Land spielt der brasilianische Abgeordnete
das Scheitern der Integration, einer falschen Integration, welche Dinas Brü- an? Die französischen Interventionen in Afrika, alle aus vertretbaren Grün-
der dem Sichem und seinen Landsleuten angeboten haben. Die Bibel er- den, sind zahlreich und vielgestaltig: Es gibt solche, die umstrittene Dikta-
zählt, dass Sichem, Prinz des Landes Sichem, Dina liebt, die Tochter Jakobs, toren offen unterstützten wie in Togo, andere, die zu einer Teilung der
der mit seiner Familie eingewandert ist und sich hier niederlässt. Hamor, Si- Macht zwischen Rebellenarmee und gewähltem Präsidenten führten wie in
chems Vater, bittet für seinen Sohn um Dinas Hand. Dinas Brüder stim- Côte d’Ivoire, aber auch Interventionen, wo man an der Seite loyaler Trup-
men der Heirat unter der Bedingung zu, dass sich alle Männer des Landes pen gegen meuterndes Militär kämpfte wie in Zentralafrika zu Zeiten von
beschneiden lassen, so wie sie selbst es sind. Sichem und seine Landsleute Ange Patassé. Man kann jedoch sagen, dass die französische Intervention in
akzeptieren die Bedingung. Doch am dritten Tag nach der Beschneidung, Afrika nicht immer da geschehen ist, wo man sie erwartet hätte, da, wo sie
als die Männer noch unter Schmerzen leiden, greifen Jakobs Söhne Simeon der Bevölkerung wirklich hätte helfen können wie in Ruanda.
und Levy zum Schwert und töten sie, raffen danach ihr Hab und Gut als Die Äußerungen des brasilianischen Abgeordneten zeigen deutlich, wie
Kriegsbeute zusammen. Die Beschneidung, in erster Linie ein kultisches er die Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika sieht: Die französi-
und kulturelles Zeichen, wird hier als Mittel zur Integration vorgeschlagen, schen Machthaber betrachten afrikanische Staaten als Kolonien und beneh-
nicht den Eingewanderten von den Einheimischen sondern umgekehrt, und men sich in paternalistischer Manier so, als hätten sie es mit Menschen zu
ist eine Falle, eine List, um den andern zu beherrschen und sich seiner Gü- tun, die ihre Werte nicht teilen oder noch nicht reif sind, sie zu teilen. Noch
ter zu bemächtigen. Ob Migrant oder ursprünglicher Bewohner, das Be- schlimmer: Mit Menschen, die sich in die französische Arroganz zu fügen
dürfnis, dem andern eine Niederlage zuzufügen, ihn zu demütigen und für haben. So in Ex-Biafra, in Zaire unter Mobutu, im Kongo, als es darum
die eigenen Zwecke zu missbrauchen, scheint mir in Beziehungen zwischen ging Sassou-NGesso wieder in den Sattel zu heben, in Zentralafrika unter
Menschengruppen eine Quelle für Konflikte und auch für rassistisches Ver- Herrschern wie Bokassa und Ange Patassé, in Benin und auf den Komoren,
halten zu sein. wo ein gewisser Bob Denard sich das Recht nahm, nach seinem Belieben
Ich komme auf die Werte zurück, die man lautstark und wohltönend Regierungen zu bilden und umzustürzen, immer unter dem (mehr oder we-
hinausschreit und die doch wenig zählen, weil die in Wahrheit verfolgten niger passiven) Auge des Quai d’Orsay.
Ziele die von Macht und Stärke sind. Georges Bush hat eine Achse des Bö-
sen gezeichnet, wobei er selbst auf der Seite des Guten steht. Saddam Hus-
sein ruft zum Heiligen Krieg gegen den amerikanischen Satan auf. Chirac
beruft sich auf die französischen Werte. In allen Fällen mischt sich nationa-

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Die ‚Anderen‘ und die demokratischen Werte Wo bleiben die Werte? Wie viele Leben sind im Kampf gegen das Böse
geopfert worden, wie viele unschuldige Frauen und Kinder sind tot? Im
Ein Thema in der Apartheids-Diskussion, das ich in On joue la comédie pa- Namen des zu verteidigenden Guten hat man Zuflucht genommen zur
rodiere, entspricht genau dem Verhaltensmuster: Die ‚Anderen‘, das sind Lüge. Im Namen des Guten hat man willkürlich US-amerikanische Bür-
nicht wir; die ‚Anderen‘ kann man so behandeln, wie wir selbst nicht ger arabischer Herkunft nach ihren Gesichtszügen verhaftet und ins Ge-
behandelt werden möchten. So sagt etwa eine Weiße Figur in On joue fängnis geworfen, nach ihrer Kleidung und Religion. Und die, welche auf
la comédie, sich einer rassistischen Sprache bedienend, in Sachen Demokra- der anderen Seite den großen US-amerikanischen Satan bekämpften, waren
tie: die gleichen, die Tausende ihrer Landsleute töteten, ins Gefängnis warfen,
folterten, verjagten, weil sie eine andere Religion oder politische Meinung
In der Frage des Wahlrechts, das eng mit den höchsten demokratischen hatten oder wegen ihrer Kritik am Diktator. Zu Frankreich und seinen
Grundrechten verbunden ist, urteilen Sie selbst: Welcher Eingebore- Werten: Auch Frankreich ist ein Land der Polizeikontrollen nach äußerem
nenstamm hat jemals vor der Berührung mit dem Westen Demokratie Erscheinungsbild, der Abschiebung von Ausländern mit eigens gemieteten
gekannt? Und wie viele Eingeborene, die Analphabeten sind und ohne
Charterflügen, Zentren zum Aufspüren von illegal Eingereisten, ein Land,
jede Kenntnis, können denn überhaupt lesen, was auf dem Wahlzettel
in dem Menschen ohne Ausweispapiere in den Hungerstreik treten, wo
steht? Nein, meine Damen und Herren, die Sie Christen sind und die
Dutzende von Asylsuchenden nach Schließung des Zentrums Sangatte auf
Bibel kennen, erinnern Sie sich, was unser Herr Jesus Christus sagte:
die Straße gesetzt wurden; ein Land mit einem zum Glück gerade abge-
Man soll nicht Perlen vor die Säue werfen. Die Demokratie ist ein kost-
bares Gut. In der Hand von Negern jedoch gleicht sie den vor die Säue schafften Gesetz der doppelten Strafe, um nur von der offiziellen Behand-
geworfenen Perlen. Es bedeutet eine Entwertung von Demokratie, lung derjenigen auf französischem Territorium zu sprechen, die sich recht-
wenn man sie an kaum dem Status des Primitiven entwachsene Stämme fertigen müssen, warum und mit welchem Recht sie hier sind. Ich spreche
übergibt.6 nicht vom Front National und von Le Pen, den einige Frankreichs Schan-
de nennen; auch nicht von einem Frankreich, das mit 17 % für Le Pen
Gleich vielen afrikanischen Intellektuellen, die Anspruch erheben auf De- votierte.
mokratie, muss ich mir solche Äußerungen auch heute noch anhören und In Wahrheit erzeugt Rassismus Scham und zuerst beim Rassisten selbst.
fühle mich häufig herausgefordert, darauf zu antworten. Haben Afrikaner Diskriminierung erzeugt Scham, zuerst bei dem, der sie ausübt; er muss
nicht andere Prinzipien, andere Werte als die vom Westen importierten? sich rechtfertigen und Argumente finden. Das gilt auch für alle Formen der
Warum gibt man nicht gleich in offiziellen Ansprachen Diktatoren den Unterdrückung. Saddam Hussein, ein Sunnit an der Macht, rechtfertigte
Rat, sich zu Staatschefs auf Lebenszeit zu machen, zu Monarchen nach gött- sich für Unterdrückung und Ermordung der Schiiten, indem er sich auf Ar-
lichem Recht, so wie die Weißen im Apartheids-Regime über den Schwar- gumente wie Stabilität, Sicherheit und Ordnung berief, auf territoriale Inte-
zen standen … nach Gottes Willen? Dann wäre die Sache klar, und ein Ey- grität und Achtung vor dem Gesetz. Vor allem brachte er das Schreckge-
adema hätte es nicht nötig, staatliche Gelder zu vergeuden und wichtige spenst des muslimischen Fundamentalismus ins Spiel, für den Fall, dass
materielle Mittel, nicht nötig, Sicherheitskräfte einzusetzen, die in erster Li- demokratische Wahlen zufällig den Schiiten, die in der Mehrheit sind, den
nie Zivilisten terrorisieren und belästigen, nicht nötig, Zeit und Kraft des Griff nach der Macht erlauben würden. Die gleichen Argumente rechtfer-
Volkes zu vergeuden, um Wahlbeobachter einzuladen, unterzubringen und tigten die Apartheid und rechtfertigen heute die willkürliche Verhaftung
zu verpflegen (auf wessen Kosten?), nicht nötig, Verwundete und Tote in amerikanischer Staatsbürger arabischer Herkunft oder muslimischen Glau-
Kauf zu nehmen, nur für eine Wahl, die keine ist, die überhaupt keinen bens. Die gleichen Argumente rechtfertigen in den europäischen Ländern
Sinn hat. Ist das nicht schlicht und einfach eine Beleidigung (mit Frank- die Abschiebung von Ausländern und systematische Kontrollen nach äuße-
reich als Komplizen) für die Intelligenz der afrikanischen Völker? ren Merkmalen. Ich sagte zu Anfang, dass ich, als ich On joue la comédie

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schrieb, niemals selbst Opfer irgendeiner Diskriminierung war. Doch dann Integrationskult und Integrationskultur
ist mir eine Anzahl Fakten ins Auge gefallen, deren Gewicht meiner Ansicht
nach auf derselben Wertewaage zu messen ist wie die Apartheid: 1958, ich Vor kurzem nahm ich an einem Treffen in Bayreuth teil, bei dem ein kirch-
war noch ein Kind, wurde ich Zeuge massiver Ausweisung aus der Côte licher ‚Tag der offenen Tür‘ vorbereitet wurde. Ich hatte zuvor schon an einer
d’Ivoire, die Tausende Togoleser und Dahomeyer betraf (die Ivorer nannten ähnlichen Veranstaltung unter dem Namen ‚Ausländertag‘ teilgenommen;
übrigens alle Dahomeyer). 1967, nach dem zweiten Staatsstreich von Eya- das Motto solcher Tage sollte lauten: ‚Miteinander statt nebeneinander‘! Wir
dema, wurde ein togolesischer Gewerkschaftsführer namens Salami, der die diskutierten über die unterschiedlichen Probleme, mit denen Ausländer, be-
neue Staatsmacht störte, an die Landesgrenze gebracht; man erklärte, er sei sonders Asylsuchende, konfrontiert werden, unter allen übrigen Problemen
Dahomeyer oder Nigerianer, ich weiß es nicht mehr genau. Die gleichen das der Sprache. Zu der Tatsache, dass viele Ausländer wenig Interesse am
Abschiebemaßnahmen betrafen einen gewissen Sédor, einen Beamten im Erlernen der deutschen Sprache bekunden, meinte ein Teilnehmer: Viele
Präsidium der Republik Togo, sowie meinen Kollegen Guy Midiohouan. Asylsuchende fragten sich, wozu sie die Sprache eines Landes lernen sollen,
Vor allem aber wurden beim Regierungsantritt von Koffi Busia in Ghana in dem sie vielleicht nicht bleiben dürfen, eines Landes, aus dem man sie je-
Hunderttausende Togoer, Dahomeyer und Nigerianer mit der Begründung derzeit mit Polizeigewalt ausweisen kann. Ich erwiderte ihm, dass die Poli-
ausgewiesen, sie seien Totengräber der ghanaischen Wirtschaft. Was ver- zisten, die solche Abschiebungen vornehmen, nicht aus freien Stücken han-
birgt sich hinter diesen Akten der Diskriminierung und der Fremdenfeind- deln, sondern auf Befehl, und der Befehl beruht auf einem Gesetz. Die Frage
lichkeit, dass man sie mit nicht haltbaren Gründen zu rechtfertigen sucht? muss lauten: Welche Chance haben wir, dieses Gesetz zu ändern? Schon
Bei den einen die Angst und bei den andern ein Ausnutzen der Angst. Im dass derartige Veranstaltungen stattfinden (kirchliche, Tages- oder Wochen-
Fall der Ivorer von 1958 wird die Angst deutlich: Nicht nur essen die Frem- seminare, Festivals und andere kulturelle Aktivitäten, die sich der Auslän-
den ihr Brot, es droht Gefahr, dass sie ihnen auch noch ihr eigenes Brot vor derfrage widmen) bezeugt gleichermaßen den guten Willen und das Unbe-
dem Mund wegschnappen. Deutlich auch im Fall von Eyademas Machtauf- hagen. Der gute Wille ist die Bereitschaft, den Fremden aufzunehmen, ihm
stieg: Ein ‚Fremder‘ wäre fähig, die Arbeiter gegen seine mit Gewalt errun- die gastfreundlichen Werte des Landes anzubieten, ihm bei der Integration
gene Macht aufzuwiegeln; man musste diesen ‚Fremden‘ spüren lassen, zu helfen, daneben aber auch die ihn aufnehmende Bevölkerung zu infor-
dass ihn die Angelegenheiten des Landes (in dem er geboren wurde und mieren und von der Notwendigkeit der Integration zu überzeugen. Das Un-
dessen Nationalität er besitzt) nichts angehen. Muss noch daran erinnert behagen entsteht aus dem Wissen um die Probleme, denen sich der Fremde
werden, dass sich in neuerer Zeit mit der gleichen Begründung die Abset- ausgesetzt sieht wie Isolation, Unkenntnis der Sprache und Kultur des Lan-
zung eines Präsidentschaftskandidaten in der Côte d’Ivoire rechtfertigen des, Intoleranz und Diskriminierung auf dem Gebiet Arbeit und Leben all-
ließ, ein Ereignis, das 2002–2003 zu einem Blutbad in diesem Land führ- gemein – wegen seines offensichtlichen Andersseins. In allen Fällen tritt die
te? Im Fall von Busia galt es, den Sündenbock zu benennen, der kein ande- Bekundung des guten Willens rasch in den Hintergrund, sobald sich die all-
rer als ‚der Fremde‘ sein konnte, es ging um demagogische Ausnutzung des täglichen Probleme zeigen. Der Kult wird nicht automatisch zur Kultur.
durch ihn geweckten Hasses und der Angst. Erst gestern (30. Juli 2003) verfolgte ich eine Sendung in TV5, darin
Nun sind jedoch alle Länder der Welt oder fast alle gegen die Apartheid eine Reportage über die belgische Gruppe Barricade. Diese Gruppe organi-
gewesen, so wie sie fast alle gegen den Nationalsozialismus waren. Alle oder siert eine Vielzahl von Aktivitäten, u. a. um die Rechte von Migranten und
fast alle lehnen Fremdenfeindlichkeit ab. Was für eine Komödie wird da ge- Migrantinnen zu verteidigen. Ein Mitglied der Gruppe berichtete, dass der
spielt? Tod der Nigerianerin Sémira Adamu, Tod nach Misshandlungen durch die
Polizei, einen Prozess der Bewusstseinsbildung und Mobilisierung auslöste
bezüglich der Art, wie Migranten behandelt werden. Doch was ist von die-
ser Mobilisierung heute geblieben? Die geschlossenen Zentren existieren

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noch, die Abschiebung illegaler Einwanderer geht mit praktisch den glei- ‚Überlegung eines Gelehrten‘
chen Methoden weiter wie jene, die zum Tod von Sémira Adamu führten,
und das, weil im Grunde genommen Gesellschaft und Gesetze die gleichen Solche Art von Argumentation ist verbreitet, ich habe nichts erfunden. Im
geblieben sind. Theoretisch wird also erkannt, dass in einer zivilisierten Ge- Jahr 2002 (mehr als 30 Jahre, nachdem ich On joue la comédie schrieb), hät-
sellschaft menschliche Werte die Handlungsweise bestimmen sollten, doch te ich in Bordeaux beinahe einen diplomatischen Zwischenfall ausgelöst;
gleichzeitig vergessen die von den täglichen Sorgen beanspruchten Men- mein Tischnachbar war Generalkonsul, was ich nicht wusste, und ich griff
schen sehr rasch, dass diese Werte unaufhörlich verteidigt werden müssen. ihn nach seiner Rede scharf an: Er hatte damit begonnen, dass Rassismus
Schlimmer noch, manchmal verbreitet sich die heimtückisch entstandene für ihn und seine Kinder undenkbar sei, schließlich habe er einen Einsatz in
und genährte Angst vor der Gefahr, die der Fremde darstellt, und dazu eine Brasilien gehabt, wo sich alle menschlichen ‚Rassen‘ vermischen; er und sei-
gewisse Rationalisierung des Rassismus sogar unter denen, die vorher ent- ne Kinder haben Weiße Freunde, Schwarze, ‚Gelbe‘, ‚Indianische‘ … Doch
schlossen dagegen ankämpften. Weiß man in Frankreich denn wirklich, wie dann kam er zum eigentlichen Kern seiner Rede: In Kamerun, habe er fest-
der Front National von seinen 5 % auf 17 % bei der Präsidentschaftswahl gestellt, seien die Menschen faul. Meine Frage kam prompt: „Kennen Sie
2002 gekommen ist? Man hat das Abstrafen der Regierung Jospin dafür Gesellschaften, in denen alle Menschen faul sind?“ Und der Herr Konsul
verantwortlich gemacht, eine Protestwahl also. Manchmal, und das ist cha- spricht über sein Land, ein reiches Land durch den Fleiß seiner Bürger;
rakteristisch und gilt sogar für persönliche Beziehungen, wählt man den wenn dagegen Kamerun arm ist wie fast alle afrikanischen Länder, so des-
Rassisten und Rassismus, um zu strafen, um persönliche Rechnungen zu halb, weil die Menschen hier faul sind. Und Brasilien, das er so gut kennt?
begleichen. Wenn es dahin kommen kann, so flößt letztendlich der Rassis- Wenn der Graben zwischen sehr reichen Brasilianern und ihren armen
mus doch nicht den ganzen Abscheu ein, den man angeblich mit ihm ver- Landsleuten, zwischen denen, die alle Chancen für Universitätsstudien ha-
bindet. Mitglieder des Ku Klux Klan, von Journalisten danach gefragt, ob ben und den anderen, die nicht mal auf einen Schulabschluss hoffen kön-
sie Rassisten seien, wagen vor der Fernsehkamera nicht, es zu bejahen; doch nen, wenn dieser Graben so groß ist, dann ist es sicher Verdienst der einen,
sie erklären bereitwillig, Separatisten zu sein, ein Euphemismus, der alles fleißig geboren zu sein, und Fehler der anderen, dass sie vom Wesen her faul
sagt, denn diese Anhänger des Ku Klux Klan bekennen sich offen dazu, der sind. Auch in Europa kann man Obdachlose dann nur noch zum Krema-
ihrer Ansicht nach überlegenen ‚Rasse‘ anzugehören, die seit jeher den Rest toriumsofen verurteilen, denn sie verdienen es nicht, in einer Gesellschaft
der Menschheit beherrscht hat und gegenüber anderen ‚Rassen‘ ihre Rein- zu leben, die von Gott zur Gesellschaft der Reichen bestimmt wurde. Wenn
heit bewahren muss. Es ist wahr, dass Rassismus erschreckt und nur wenige ich jetzt darüber nachdenke, ist eine derart oberflächliche Analyse der
Leute mit seinem Bild identifiziert werden wollen; und doch stellt er eine Gründe für Armut in Afrika und Reichtum in Europa nicht wert, dass man
Zuflucht dar. In On joue la comédie lege ich einem Gefängniswärter folgen- darüber Worte verliert.
de Worte in den Mund, mit denen er sich an Chaka (hinter Gittern) wendet: Genauso wenig wie der Generalkonsul ist in On joue la comédie nicht
der Gefängniswärter ein Rassist, nein, es seien die Schwarzen, die man auf-
Weißt du, Neger, ich bin kein Rassist. Als meine älteste Tochter klein grund „ihres natürlichen Mangels“ zu Recht als minderwertig behandelt.
war und es in meinem Viertel nicht viele weiße Kinder gab, nun, da er- Er, der Wärter, habe doch nicht das Gesetz der Rassentrennung erfunden,
laubte ich ihr eben manchmal, mit der Tochter meines schwarzen
es sei der Staat gewesen. Und die Argumentation ließe sich weiterführen:
Dienstmädchens zu spielen. Allerdings, als sie groß war und mit einem
Nicht der Staat habe die ‚Rassen‘ gemacht, sondern Gott. Vielleicht ist es
Neger ausgehen wollte, hab ich keinen Augenblick gezögert und sie
interessant, die Fortsetzung des Dialogs zwischen dem Wärter und Chaka
selbst der Polizei übergeben. So ist das. Mit mir gibt es keine Probleme,
zu hören:
solange man sich an das Gesetz der Rassentrennung hält.7

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Chaka (ironisch): Du bist wirklich ein Gelehrter! politik in Südafrika wenn nicht inspiriert, so doch zu ihrer Rechtfertigung
Wärter: Pass auf, Neger, ich erlaube dir nicht, mich zu duzen. Vergiss gedient haben, und das gilt auch für anderes politisches Handeln auf der
bloß nicht, dass du einem Weißen Respekt schuldest. Gut, vielleicht bin Basis: Vernichtung eines Volkes durch ein anderes, Versklavung eines Vol-
ich gelehrt und sogar ohne großes Studieren; ich hab eben meine kleine kes durch ein anderes, Kolonisierung eines Volkes durch ein anderes, Aus-
Philosophie. Es ist so: Gott hat auf der einen Seite die Weißen gemacht beutung eines Volkes durch ein anderes… Ich erfinde nichts, ich berichte
und auf der andern die Schwarzen. Die Weißen sind keine Schwarzen, nichts Neues, also höre ich auf, den Wahnsinn zu evozieren.
und vor allem können die Schwarzen keine Weißen sein. Also müssen Tatsächlich finden nicht nur die ‚Gelehrten‘, sondern all jene mit der
die einen wie die andern da bleiben, wo sie sind. Weil die Welt nun aber ‚kleinen Philosophie‘ Argumente, um ihre Überzeugungen und ihr Han-
so geschaffen wurde, müssen die einen Herren sein und die andern Die- deln zu rechtfertigen. Mit der Folge, dass der erstbeste Weiße sie benutzt,
ner. Die Weißen haben die Rolle der Herren gewählt, also müssen die sobald er Angst hat, der Schwarze könnte den ihm als Weißen schuldigen
Schwarzen sich mit der Dienerrolle begnügen. Das ist der einzige Weg
Respekt verweigern. Und so muss derjenige, der sich beschwert, Opfer von
zum Frieden in der Welt.
Rassismus zu sein, eigene Mängel eingestehen, die seine Behandlung als
Chaka (immer noch ironisch, applaudiert): Bravo Wärter, und das
Minderwertiger, als Untermensch rechtfertigen. Der berühmte Satz von
nennen Sie eine kleine Philosophie? Ich kann Ihnen versichern, es ist die
Montesquieu gilt noch heute: „Die, um die es hier geht, sind von Kopf bis
Überlegung eines Gelehrten.8
Fuß schwarz und haben so platte Nasen, dass man sie fast nicht bedauern
Der Wärter sucht in seiner Argumentation Hilfe bei Gott, dem Staat, der kann.“9 Treibt man die Ironie in dem Montesquieu-Zitat noch etwas wei-
Natur, dem Argument Ordnung und Frieden in der Welt. Strenggenom- ter, so könnte man sagen, dass die ‚Neger‘ unser Bedauern verdienten, wenn
men sei es Gott gewesen, der eine ‚Rasse‘ der Faulen und eine der Fleißigen sie nur am Kopf oder am halben Körper schwarz wären und ihre Nasen et-
schuf, eine ‚Rasse‘ der Intelligenten und eine der Dummköpfe. Zu der Fra- was spitzer oder gerader oder runder. Ich lasse in On joue la comédie einen
ge des Duzens: Ich war neulich zum Frühstück bei sehr wohlmeinenden Weißen Redner folgende Worte sagen:
Leuten eingeladen. Wie fast immer, wenn Weiße mit Schwarzen am Tisch
sitzen, kommt es zu dieser Art von Debatte, sobald über Afrikas Probleme Sind wir Rassisten? Ich würde das verneinen. Aber sagen Sie mir doch:
gesprochen wird, AIDS in Afrika, Kriege in Afrika, Diktaturen in Afrika, Isst der Neger denn wie der Weiße, mit den gleichen Tischmanieren?
Krankheiten in Afrika… und über die Beziehungen zwischen Weißen und Halten Sie es für nötig, dass der Neger das gleiche Wissen erlangt wie
Schwarzen. Ein Tischgast nahm die Gelegenheit wahr und berichtete mir der Weiße? Ist der noch primitive Neger überhaupt in der Lage, Schön-
seine Erfahrung mit einem in Frankreich angekommenen Madegassen: heit und Größe der westlichen Kultur zu würdigen?10
Dieser war entzückt, dass er zum ersten Mal von Weißen mit ‚Monsieur‘
angeredet wurde, dass man ihn siezte, ihm die Wagentür aufhielt … Ein
Klischee? All das spielte sich im Jahr 2003 ab! Das Erstaunen unseres Ma- Schlussfolgerung: Das Lachen als Therapie
degassen resultiert aus der Tatsache, dass sich die Weltordnung scheinbar zu
seinen Gunsten verkehrt hat, dass die Weißen nicht mehr den Platz der Von 1995 bis 2002 verfasste ich den Roman Le Médicament, den ich sicher
Weißen einnehmen und die Schwarzen nicht mehr den Platz der Schwar- niemals geschrieben hätte, wäre ich nicht nach Deutschland gekommen,
zen, dass der für ewig zum Diener Geschaffene sich als Herr behandelt wo ich nicht nur die Erfahrungen des Migranten machte, sondern auch die
sieht. Was für ein Aufstieg! des Asylbewerbers. Die Romanfiguren sind also Zeitgenossen und mir sehr
Was bleibt zu den Äußerungen des Wärters noch zu sagen? Ich habe sie nah. Ich beginne mit einer Szene, in welcher eine Exil-Iranerin, die in ihrem
mir nicht ausgedacht und muss wohl kaum daran erinnern, dass solche ‚ge- Land Professorin war, zur Pflegehelferin ausgebildet werden soll.
lehrten Überlegungen‘ über die Ungleichheit der ‚Rassen‘ die Apartheids- Wachtraum, erste Version: Die Ausbilderin, von Schluckauf, Husten

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und Erstickungsanfällen geschüttelt, kotzt schließlich, Tränen in den Au- Sie hat noch nie gehört, dass in Afrika Menschen wegen ihrer politi-
gen, eine größere Menge Putzlappen aus und befiehlt Frau Rézah, sie zu schen Meinung verfolgt werden.
schlucken, wenn sie Pflegehelferin werden will. Diese antwortet, in ihrem Sie ist nicht bereit, mehr Steuern zu zahlen, damit Asylbewerber sich be-
Bauch sei kein Platz. Die Ausbilderin brüllt: „Was hast du gegessen? Un- reichern.
nütze Diplome, was? Dein ganzes altes Leben, all die Dinge, die hier nicht Der Brief war signiert mit: Eine Lörracher Bürgerin.
mal so viel wert sind wie ein guter Scheuerlappen? Du wirst schon sehen!“ Die Argumente der Bürgerin erfordern eine Analyse:
Und die Ausbilderin packt Frau Rézah, reißt sie zu Boden, exakt in die Hal- Erstens: Der Vergleich zwischen den Lebensbedingungen einer wäh-
tung eines Hundes, drückt ihr gewaltsam die Kiefer auseinander und ver- rend des Zweiten Weltkriegs umgesiedelten Deutschstämmigen und denje-
sucht, ihr die Putzlappen in den Mund zu stopfen. Als das nicht gelingt, nigen, die man ausländischen Asylbewerbern heute anbietet: Objektiv ge-
schreit sie: „Meine Nerven! Meine Nerven! Wie soll man nutzlose Urkun- sehen sind letztere besser, und man muss die Gereiztheit derer verstehen,
den im Bauch eines störrischen Tiers durch Scheuerlappen ersetzen?“11 die mehr als die Fremden erlitten haben in einem Land, das sie als ihr eige-
Die Ausbilderin forscht nach, ob die Kandidatin auch nichts anderes nes betrachten. Die Empörung der Bürgerin ist umso größer, als sie über-
verschluckt hat als das, was man ihr eintrichtern möchte, häufig das, was zeugt ist, dass die Fremden sich an der Arbeit ihrer Vorfahren und an ihren
man selbst ausgekotzt hat. Dass dies bei Kandidaten und Kandidatinnen eigenen Steuern bereichern. Solcher Art Überlegung begegnet man nicht
für Zivilisation oder Integration nicht gelingt, ist für die so genannten ‚Zi- selten. Ich führe selbst zur Zeit Klage vor dem Gericht in Bayreuth gegen ei-
vilisierten‘ natürlich ärgerlich; dass die Schülerin nicht bereit ist, ein sich nen Angestellten des Arbeitsamts, der zu meinem Arbeitslosengeld für 2000
duckender, treuer Hund zu sein, entnervt die Lehrerin, und sie lässt die meinte: „Sie verdienen mehr als viele Deutsche.“ Gehen nationale Bevorzu-
störrische Schülerin durch die Prüfung fallen. gung (die es überall gibt, wie gesagt werden muss) und europäische Bevor-
Die Ausbilderin kann auch nicht glauben, dass es in Afrika politisch zugung mitten in der europäischen Union nicht in die gleiche Richtung? Ich
Verfolgte gibt. Sie hält alle Asylsuchenden für Lügner, die man verjagen habe soeben ein Stück über die biblische Gestalt der Ruth geschrieben, und
muss, und gründet zu diesem Zweck eine Anti-Lügner-Brigade. Muss ich während des Schreibens vertiefte ich meine Gedanken zu Immigration und
sagen, was an der Figur der Ausbilderin Fiktion ist und was dem entspricht, Fremdsein. Das Buch Ruth ist eines der kleinsten in der Bibel, doch meiner
was ich selbst erlebt habe? Zu Beginn meines Asylverfahrens war ich in Lör- Ansicht nach voller Lehren für uns heute. Es erzählt eine Geschichte von
rach; im November 1994 wurde durch ein neues Gesetz beschlossen, nicht Einwanderung und Rückkehr: Naemi, eine Frau aus Bethlehem, flieht mit
anerkannten Asylsuchenden die Sozialhilfe von 400 Mark nicht mehr aus- ihrem Mann Elimelech und den Söhnen Chiljon und Mahlon vor einer
zuzahlen, sondern in Form von Lebensmitteln zuzuteilen. Es gab eine Zu- Hungersnot nach Moab, einem feindlichen Land in Israel. Die Geschichte
sammenkunft von Antragstellern, und sie beschlossen, als Ausdruck ihrer erzählt nichts darüber, wie sie in Moab aufgenommen werden, doch ver-
Unzufriedenheit die Lebensmittel abzulehnen. Was in Anwesenheit der mutlich akzeptierte man sie, denn beide Söhne heiraten Moabiterinnen,
Presse auch geschah. Als Reaktion auf diese Demonstration erschien eine Orpa und Ruth. Dann sterben die Männer. Als Naemi erfährt, dass die
Dame und verteilte Kopien eines Schreibens mit der folgenden Erklärung: Ernten in Bethlehem wieder reichlich sind, entscheidet sie, die weder Mann
Die Asylbewerber müssen sich mit Lebensmitteln zufrieden geben, noch Kinder mehr hat, in ihre Heimat zurückzukehren. Ruth entschließt
wenn sie tatsächlich verfolgt sind und ihr Land aus politischen Gründen sich, bei ihr zu bleiben: „Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen, dein
verlassen haben und nicht auf der Suche nach Wohlstand. Sie können wäh- Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“12, sagt sie zu ihr. Bemer-
len: Lebensmittel oder Abschiebung. kenswert ist, dass wir hier die Umkehrung einer Situation erleben: Ruth, in
Sie selbst ist als Flüchtling aus dem Osten gekommen und erhielt, ob- Moab heimisch, befindet sich in Bethlehem in der Rolle der Fremden,
wohl nach Herkunft und Sprache deutsch, alles in allem nicht mehr als eine nachdem zuvor Naemi die umgekehrte Situation erlebte. Die Lehre der Bi-
Mark pro Tag. bel ist einfach: Jeder kann von einem Tag zum anderen, aus dem einen oder

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anderen Grund zum Flüchtling werden. So hörte ich Deutsche an ihre Mit- gibt, jedenfalls keine politischen Debatten, und dass strenggenommen alle
bürger und Mitbürgerinnen erinnern, insbesondere Intellektuelle und Afrikaner sich mit ihren despotischen Regierungen abzufinden haben. Je-
Künstler, die emigrieren mussten, um dem Machtmissbrauch der Nazis zu doch kann die Position der ‚Bürgerin‘ auch gerechtfertigt werden, und zwar
entfliehen. Dennoch kommen solche Gedanken einem Menschen wie der mit dem Verhalten mancher Afrikaner selbst, die, kaum in Europa an-
‚Bürgerin‘ nicht in den Sinn; das Asylrecht versteht sie allenfalls als eine Art gekommen, nichts anderes im Sinn haben als reich zu werden; und für die-
Almosen, das Menschen zugestanden wird, die es nicht verdienen. – Be- ses Ziel sind sie zu fast allem bereit: Drogenhandel, Prostitution, Schwarz-
merkenswert an Ruths Einstellung ist auch ihre Erklärung, ein Akt freiwilli- handel, Scheinehen. Le Médicament versäumt nicht, ohne zu richten auch
ger Integration. Zugleich würdigt sie Naemi, die sich zuvor in die moabiti- auf derartige Fälle anzuspielen. Wenn die Haltung der ‚Bürgerin‘ sich also
sche Kultur einfügen musste, mit einer gleichen Tat. Angehörige feindlicher rechtfertigen lässt, dann ist einleuchtend, dass ‚diese Leute‘ (in der Argu-
Völker können also durch persönliche Beziehungen Wege gegenseitiger In- mentation der gängige Ausdruck) nicht wegen ihrer politischen Überzeu-
tegration finden. Und ist Integration nicht tatsächlich eine individuelle, gung nach Europa kommen. – Bringen die Gedanken über Ruth hier Licht
wechselseitige Angelegenheit, ein Bemühen des einen gegenüber dem ande- ins Dunkel? Ruth wählt nicht aus wirtschaftlichen Gründen das Exil, sie
ren, des Aufnehmenden ebenso wie des Aufgenommenen? – Wie dem auch folgt ihren Gefühlen. Naemi, welche die Situation in Moab kennt, beklagt
sei, Ruth wird in Bethlehem Ährenleserin auf den Feldern des Boaz. Interes- Ruth, weil sie in Bethlehem fast zum Betteln gezwungen ist. Was aber soll-
sant am Prinzip des Ährenlesens: Die Fremden, die Ährenleser/innen dür- te aus Naemi werden, die alt ist, ohne Familie und Unterstützung, ohne
fen laut levitischem Gesetz den Schnittern folgen und die herabgefallenen Arbeitskraft, wenn Ruth sie verließe? Wir sind hier in einer Situation, wo
Körner auflesen. Schnitter werden für ihre Arbeit bezahlt, Ährenleser/innen der Einheimische den Fremden braucht oder symbolisch das Land die Im-
leben nur von der Großzügigkeit des sozialen Gesetzes (den zu Boden gefal- migration. Kofi Annan hat, so schreibt die Journalistin Rafaële Rivais am
lenen Körnern). In Le Médicament wie in der Realität demonstrieren Asyl- 31. Januar 04 in Le Monde, die europäische Rechte mit einer Rede brüs-
suchende dafür, nicht dass man ihnen weiterhin die 400 Mark Sozialhilfe kiert, die er am 29. Januar 2004 in Brüssel hielt. Man hatte von dem UNO-
auszahlt, sondern dass man ihnen erlaubt zu arbeiten. Die einzige bezahlte Generalsekretär eine Rede zum Irak-Krieg erwartet anlässlich der Überrei-
Arbeit, die man Asylbewerbern zugesteht, ist die ‚soziale Arbeit‘, ähnlich chung des Sacharow-Preises, den man ihm 2003 verlieh (der Preis wird an
der von Strafgefangenen, die mit 2 Mark pro Stunde bezahlt wird. So ver- Persönlichkeiten vergeben, die sich im Kampf um die Menschenrechte her-
langen Asylbewerber eigentlich nur, vom Ährenleser zum Schnitter aufzu- vortun); stattdessen sprach Kofi Annan fast ausschließlich über die Proble-
steigen, genauer gesagt: eine Gesetzesänderung, die sie den Einheimischen me der Einwanderung und forderte alle europäischen Länder auf, ihre
fast gleichstellen würde. Natürlich wird eine Person wie die ‚Bürgerin‘, Grenzen für legale Immigration zu öffnen. Die Rede, so schreibt Rafaële
ängstlich bedacht auf ein ihr vermeintlich durch Geburt zustehendes Recht, Rivais, wurde von den Abgeordneten der europäischen Rechten mit Miss-
keine Gesetzesänderung zulassen. Auch alle rechtsextremen Parteien in Eu- fallen aufgenommen, während der Europaabgeordnete der Grünen Daniel
ropa gehen in die gleiche, der Vernunft entgegengesetzte Richtung: Ein Ge- Cohn-Bendit in ihr Akzente sah, die denen von Martin Luther King glei-
setz nationalen und europäischen Vorrechts ist nicht fern. chen: „I have a dream…“ Die Umstände für die Rede waren nicht zufällig
Zweitens: Das Erstaunen der ‚Bürgerin‘ oder ihre Frage, ob es denn tat- gewählt: Schließen die Menschenrechte nicht auch das Recht des einzelnen
sächlich politisch Verfolgte in Afrika gibt, ist doppelt aufschlussreich: Da ist Menschen mit ein, sich da niederzulassen, wo er arbeiten kann und es ihm
zum einen ihre Ignoranz, was die reale politische Situation afrikanischer und den Seinen besser ergeht? Wie kann dieses Recht allgemein nur den Be-
Länder angeht. Vielleicht liegt der Grund hierfür in der dürftigen Informa- wohnern des Nordens zugestanden werden (falls sie es sich nicht einfach an-
tion durch europäische Medien in allem, was die Westlichen Länder nicht eignen wie in der Kolonialzeit), nicht aber den Menschen des Südens? In Le
unmittelbar berührt oder für sie von großem Interesse ist, vielleicht auch in Médicament gibt es einen Anwalt, einen Deutschen namens Leval, der von
dem Gedanken oder Klischee, dass es in Afrika keine wirklichen Staaten Hugenotten abstammt, von Menschen also, deren Familiengeschichte

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durch Migration geprägt ist; zu der Romanfigur des Maître Leval hat mich nicht die gleichen Vorstellungen vom Wert eines Kindes haben und vom
eine tatsächlich existierende Persönlichkeit inspiriert, ein Mann, der sich Vorrecht, das dem Kind zusteht; sie haben nicht die gleiche mütterliche
ganz der Verteidigung der Rechte von Asylsuchenden widmet. Ich lege ihm Sensibilität wie wir.“ So urteilt jemand, der für die humanitäre Hilfe in
eine Rede in den Mund, die Martin Luther King hätte halten können und Afrika arbeitet, der selbst in Afrika gewesen ist. Wie kann man da der ‚Bür-
die Kofi Annan als guter Diplomat vielleicht nicht zu halten gewagt hätte: gerin‘ Vorwürfe machen, die Afrika nur sehr vage aus den Medien kennt?
Besonders da sie in den Medien ähnliche Vorwürfe gehört hat wie die des
Angenommen, dass in der Vergangenheit afrikanische Chefs Afrikaner Mitarbeiters der humanitären Organisation? Ich habe oft mit Verwunde-
verkauften, wenn wir die heutige Woge der Migration betrachten, so rung gewisse Bilder gesehen, mit denen humanitäre Organisationen um
fragen wir uns, ob die Geschichte nicht dabei ist, sich zu wiederholen. Spendengelder für die Menschen der ‚Dritten Welt‘ bitten. Zur Zeit kann
Wer verkauft diese Männer, Frauen und Kinder, wie Vieh eingepfercht man in deutschen Städten ein solches Plakat der Organisation Misereor se-
in Lastwagen und Schiffe mit Ziel Europa oder USA, die ihr Leben aufs hen. Es zeigt zwei Schwarze Kinder, dem Anschein nach sauber, wenn ihre
Spiel setzen? Armut? Massaker? Kriege? Nein! Ein System, ein interna-
Kleidung auch sichtbar abgetragen ist; eins von ihnen hält einen Fußball in
tionales Netzwerk, das Armut schafft, Kriege erzeugt, Massaker ver-
der Hand, und beide formen mit zwei Fingern ein Zeichen, das sowohl
kauft und aus allem Profit schlägt. Wer kann heute behaupten, dass sei-
‚zwei‘ als auch ‚victoire – Sieg‘ bedeuten kann; darunter steht die Botschaft:
nem Land dieses System, dieses Netzwerk fremd ist? Wir sind das
„Two for One World“. Die Absicht ist klar und lobenswert, und sie trifft in
Eldorado, das gelobte Land für die Opfer von Elend, Kriegen, Massa-
kern, die wir mit verursacht haben. Sobald jedoch die Opfer bei uns an- gewissem Sinn den Traum von Martin Luther King: Eine Welt menschli-
kommen, machen wir aus ihnen Drogenhändler, Diebe, Bettler, cher Solidarität, in der wir uns alle zusammengehörig fühlen. Und doch
Schwarzarbeiter, Prostituierte, Pestkranke. Und das System arbeitet muss man sich fragen, ob die für das Ziel eingesetzten Mittel frei sind von
weiter. Und wir bleiben das Eldorado. Für alle Zeit, so soll es sein! Doppeldeutigkeit. Der Name der Organisation, Misereor, konfrontiert uns
Diese Leute! Diese Leute … die Bürgerin spricht ihren Satz nicht zu bereits mit einer Realität, die niemand leugnen kann: Neben der Welt des
Ende.13 Überflusses existiert eine Welt des Elends; man kann noch weiter gehen
und sagen, dass die zwei Euro von der Welt des Überflusses gefordert wer-
Was motiviert Menschen wie Leval, um nicht von Kofi Annan zu sprechen? den für die Welt der Armen, mit denen man Mitleid haben muss. Ich früh-
Nicht allein die Situation derer, die hier nur schlechte Arbeit finden und in stückte einmal an einem Tisch, wo wir sozusagen die Eine Welt darstellten:
schlechten Wohnverhältnissen leben, der ‚Untermenschen‘ in Europa, son- Deutsche und Afrikaner, Erwachsene und Kinder. Eines der afrikanischen
dern auch die fast tägliche Tragödie illegaler Flüchtlinge, die auf dem Weg Kinder wollte nicht essen. Sofort kam von einer Frau, einer Deutschen, die
nach Europa im Meer ertrinken oder auf andere Weise umkommen. Bemerkung: „Wenn du wüsstest, dass in Afrika viele nichts zu essen ha-
Die ‚Bürgerin‘ kann sich gewiss nicht vorstellen, weshalb man ‚diese ben…“, und ein anderer Gast ging noch weiter: „Ja, das stimmt, es ist
Leute‘ verteidigt, die selbst schuld sind, wenn sie vor Krieg, Elend, Massa- Realität!“ Eine andere Realität ist, dass es sich hier um Menschen mit sehr
kern fliehen. Strenggenommen sind ‚diese Leute‘ in einem Maß anders, guten Absichten handelte; es wäre also unhöflich gewesen, ihnen zu entgeg-
dass uns alles, was sie betrifft, in Erstaunen versetzt, angefangen mit ihrer nen, dass sie Wahrheiten wiederkäuen, die zudem ungeeignet sind, um
Haltung gegenüber Katastrophen, Landplagen usw. Ich hörte einmal im Kinder ganz gleich welchen Landes und welcher Hautfarbe zum Essen zu
Fernsehen einen verantwortlichen Mitarbeiter einer humanitären Organisa- bringen. Irgendwie war unsere Eine Welt zerbrochen durch das Eindringen
tion; er kam aus Liberia zurück, wo er Kriegsopfern geholfen hatte, und be- jener anderen Welt, wo Menschen sich nicht an einen reich gedeckten Tisch
richtete von einer Mutter, welche die für ihr Kind bestimmte Nahrungsra- setzen und wo Kinder sich niemals weigern würden (was zu prüfen wäre),
tion selbst aß auf die Gefahr hin, das Kind verhungern zu lassen. Und der die angebotene Nahrung zu essen. Um auf das Bild zurückzukommen:
Mann erklärte den Fernsehzuschauern: „Daran sehen Sie, dass diese Leute Wird sein erklärtes Ziel nicht wieder in Frage gestellt durch die Art und

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Weise, wie manche es lesen könnten? Das Mitleid mit der Welt des Elends, der ersten von der Gesellschaft Coca-Cola eingestellt wurde: Als er sich zum
das wir empfinden sollen, macht aus jener Welt sofort eine von der unseren ersten Mal bei seinem Chef vorstellt, will der wissen: „Wie soll ich dich nen-
abgesonderte Welt. Selbst Träumer und Utopisten können sich nicht vor- nen?“ Der Schwarze glaubt, er werde nach seinem Namen gefragt und sagt
stellen, dass die, zu deren Gunsten die zwei Euro erbeten werden, jemals ihn. Doch der Chef beharrt darauf: „Wie soll ich dich nennen?“ Der
zur Welt des Überflusses gehören werden. Ich möchte auch noch etwas zu Schwarze antwortet dem Chef, er könne ihn beim Nachnamen oder beim
dem Fußball sagen, den eines der Kinder in Händen hält: Objektiv betrach- Vornamen rufen. „Das ist es nicht, wonach ich dich frage. Ich will wissen,
tet sind dies Kinder wie andere, spielende Kinder. Doch ist eine andere Les- ob ich dich Negro oder Nigger rufen soll.“
art möglich: Beim Anblick der Kinder wird der Gedanke an Fußballstars In einem Gespräch mit einem Afrikaner über einen anderen Afrikaner
geweckt, die oft aus armen Ländern zu uns kommen, und das macht uns wird häufig ‚dein Kollege‘ oder ‚Ihr Landsmann‘ gesagt, ohne zu wissen, ob
die Kinder sympathisch; und wirft die Frage auf: Was können sie uns außer die beiden Personen tatsächlich Kollegen sind oder aus demselben Land
sportlichen und musikalischen Leistungen eigentlich bringen? Ein Inge- kommen. Soll damit ausgedrückt werden, dass sie, wie es sich auch verhal-
nieur aus Benin, der in Deutschland arbeitet, erzählte von seinen anfängli- ten mag, sowieso alle gleich sind? (Es ist wahr, auch Afrikaner selbst be-
chen Erfahrungen: Es war schwer für ihn, seinen Beruf glaubhaft zu ma- zeichnen sich untereinander als ‚Bruder‘ oder ‚Cousin‘, wobei sie manchmal
chen, und das ging so weit, dass er schließlich Probleme damit hatte, sich die Brüderlichkeit bis zu den Arabern ausdehnen). Die Schwierigkeit ist also
vorzustellen. Man sagte laut oder hinter seinem Rücken: „Sportler, ja! Mu- manchmal die der Schwarzen selbst, sich zu definieren, zugegebenermaßen.
siker, ja! Doch Ingenieur…“ In Le Médicament gibt es die Romanfigur des Ich hörte einmal die franko-kamerunische Autorin Calixthe Beyala im
Markus Weber, der ebenso von Klischees beherrscht ist wie die ‚Bürgerin‘; Fernsehen erklären, sie sei ‚schwarz‘ und nicht ‚black‘, und sie definierte
als er einem Afrikaner begegnet, der ihm sagt, er sei an der Universität, fragt den Schwarzen als jemanden, der eine Kultur besitzt, die der andere nicht
Markus Justine (die Ich-Erzählerin): habe.
Das Problem, einen Schwarzen zu benennen, stellt sich also auf unter-
– Und was studiert er, dein Landsmann, Justine? schiedliche Weise: Wie kann man ihn benennen, um seine ‚Minderwertig-
– Weiß ich nicht, Warum hast du ihn nicht selbst gefragt? keit‘ auszudrücken? Wie ihn benennen, wenn man zeigen will, dass man
– Er sagte, dass er an der Uni ist und …
ihn nicht nur für ‚irgendeinen Schwarzen‘ hält? Wie kann man ihn benen-
– Wenn jemand an der Uni ist, muss er dann unbedingt Student sein?
nen, wenn man ihn nicht verletzen möchte? Die Romanfigur des Markus
– Das nicht, aber er sieht aus wie ein Tänzer aus Nigeria, denn ich mal
prägt aus diesem Dilemma heraus unfreiwillig einen Neologismus. So sagt
kannte.
die Erzählerin in Le Médicament: „Ich muss heimlich über die Probleme la-
– Was für einen Tänzer aus Nigeria kennst du denn? fragt Jürgen.
– Bestimmt kennt er welche, sage ich lachend, schließlich sind alle chen, die Markus damit hat, uns zu benennen; er hat ein neues Wort erfun-
Schwarzen Tänzer.14 den: Ne-Schwar-Farbige.“15 Ein weiteres Problem ist, anzuerkennen, dass
der Schwarze etwas anderes ist als ein guter Sportler, guter Musiker oder gu-
So ungefähr läuft das immer. Alle Schwarzen sind Landsleute, weil Afrika ter Tänzer; man besteht übrigens auf der positiven Bewertung und beson-
ein und dasselbe Land ist. Alle Schwarzen an einer europäischen Universi- deren Begabung in diesen Bereichen.
tät sind Studenten, nichts Höheres. Alle Schwarzen sind Tänzer. Ist das gro- Kann die ‚Bürgerin‘ und können viele ihrer Landsleute es zulassen, dass
tesk? Aber die Realität selbst ist in einer Weise grotesk, dass sie eine Reihe in ihrem Land manche Flüchtlinge eine weitaus bessere wirtschaftliche Situ-
von Problemen deutlich macht: ation und soziale Stellung genießen als in den bei ihrer Flucht aufgegebenen
Es ist in der Tat schwierig, nicht nur mit einem Schwarzen über einen Verhältnissen? Dafür müssten sie die Länder kennen, aus denen die Flücht-
anderen Schwarzen zu reden, sondern schlicht den Schwarzen zu benennen; linge kommen, so wie Naemi Ruths Heimatland kennt. Ein persönliches
das zeigt sich an der Geschichte eines Schwarzen Amerikaners, der als einer Bekenntnis: Zu Beginn des Asylverfahrens muss der Kandidat ein Ge-

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spräch mit einem Beamten der Ausländerbehörde führen; im Verlauf mei- Anhang
nes Gesprächs wollte der meine Aussagen aufnehmende Beamte mich sofort
aus dem Asylbewerberheim herausholen; das war in Offenburg, und ich
teilte mein Zimmer mit sieben anderen Personen. Der Beamte muss gedacht
haben, bei dem Status, den ich offensichtlich in meinem Land hatte, sei es
für mich unzumutbar, längere Zeit in solchen Verhältnissen zu leben. Anmerkungen
Das, womit Frau Rézah genau wie Chaka sich verteidigen und versu-
chen, ihre Identität zu bewahren, ist das Lachen, der Humor, die Fähigkeit, Susan Arndt: Erfindungen Afrikas. Ein hoffnungsvoll-folgenloser Essay
sich zu distanzieren. Chaka, der sich selbst schon als ‚Prophet des Lachens‘ 1 Zit. in: Glasenapp: Das Leben Richard Wagners, 460.
ausgerufen hat, reizt den Wärter mit seinem Sarkasmus und bringt ihn 2 Weber: „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“, 14.
dazu, ein noch lächerlicheres Verbot zu verhängen: „Wärter: Lachen verbo- 3 Hitler: Mein Kampf, 689–690.
4 Zit. in: Gründer (Hg.): „… da und dort ein junges Deutschland gründen“, 251.
ten! Lachen verboten! Lachen verboten! (Chaka lacht weiter).“16 Frau
5 Wissmann: Afrika, 67.
Rézah schließlich reagiert im Wachtraum, also aus zeitlicher Distanz und 6 Giesebrecht (Hg.): Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolo-
amüsiert eine Realität ab, welche sie damals vielleicht Tränen kostete. nien, 40.
7 Ebenda, 47.
Aus dem Französischen übersetzt von Sigrid Groß 8 Ebenda, 45, 47.
9 Zit. in: Tetzlaff: Koloniale Entwicklung und Ausbeutung, 206.
10 Zit. in: Kundrus: Moderne Imperialisten, 250.
11 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages,
628.
12 Zit. in: Gründer (Hg.): „… da und dort ein junges Deutschland gründen“,
327.
13 Zit. in: ebenda, 330.
14 Zit. in: ebenda.
15 Kowalczuk: Geist im Dienste der Macht, 411.
16 Ansprenger: „Zur Wiedervereinigung der deutschen Afrikawissenschaft“, 72.
17 Arnold: „Probleme der Herausbildung und Entwicklung des Realismus in afri-
kanischen Literaturen. Thesen“, 47, 51.
18 Ders.: „Afrikanistische Literaturwissenschaft in Leipzig 1965 bis 1994“, 79.
19 Breitinger: „Afrikanische Literatur und deutsche Universität: Eine Polemik“,
162.
20 Zit. in: Steffahn (Hg.): Albert Schweitzer, 161.
21 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 162.

Femi Osofisan: Stirbt das Theater in Afrika?


Überlegungen aus nigerianischer Perspektive
1 Eine erste und etwas ausführlichere Version dieses Aufsatzes wurde auf der
Jahreskonferenz der US-amerikanischen African Literature Association vom
14. bis 18. April 2004 in Madison (Wisconsin) vorgestellt.

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Lewis Nkosi: Die Geburt der afrikanischen Universität 7 Mohamed: Babu Alipofufuka, 10.
1 Ashcroft, Griffith und Tiffin: The Post-Colonial Studies Reader, 425. 8 Kezilahabi: Nagona, 59.
2 Ebenda. 9 Ebenda, 165.
3 Appiah: In My Father’s House, 149. 10 Ebenda, 162.
4 Laye: L’enfant noir, 145 (Übersetzung K. Schramm). 11 Mohamed: Dunia Yao, 3.
5 Appiah: In My Father’s House, 87. 12 Kezilahabi: Nagona, 18.
6 Beti: Der arme Christ von Bomba, 90, 94. 13 Ebenda, 2.
7 Ebenda, 51–52 (Hervorhebung des Autors. 14 Harrow: Thresholds of Change in African Literature, 3.
8 Kane: L’aventure ambiguë, 57.
9 Ebenda, 56. Emman Frank Idoko: Theatre for Development, Rollenspiel und
10 Achebe: Der Pfeil Gottes, 60 (Hervorhebung des Autors. Strategien der Gefängnisreformation
11 Beti: Der arme Christ von Bomba, 55. 1 Da ich im Folgenden aus meiner eigenen Theaterarbeit mit Gefängnisinsassen
12 Ebenda, 57. – ausschließlich Männern – berichte, wird in diesem Zusammenhang auch nur
13 Ebenda, 204. von Männern (Darstellern, Theaterleitern) gesprochen.
14 Ebenda, 336.
15 Ebenda, 57. Frowin Paul Nyoni: Theatre for Development im Kampf gegen
16 Lord Macaulay: „Minute on Indian Education“, 430. HIV/AIDS bei Oberschülerinnen in Tansania: Am Beispiel von TUSEME
17 Ebenda. 1 Nyoni: „Judges on Trial“ (unveröffentlichtes Manuskript, uraufgeführt im
18 Fanon: Die Verdammten dieser Erde, 37. Rahmen des TUSEME-Workshop über AIDS 2001).
2 Unveröffentlichter TUSEME Bericht (2001), 49.
Sélom Komlan Gbanou: Afrikanische Theater.
Zwischen Anglophonie und Frankophonie Ambroise Kom: Kritische und gesellschaftspolitisch engagierte Kultur
1 Ricard: „Théâtre anglophone, théâtre francophone“, 5. fördern! Beispiele aus Kamerun und Deutschland
2 Kwahulé: Pour une critique du théâtre ivoirien contemporain, 8. 1 Mutations vom 5. August 2004.
3 Breitinger: „Introduction“, 12 (Übersetzung der Herausgeberinnen). 2 ‚Alter Afrikaner‘ (‚Vieux Nègre‘) ist ein Spitzname, den der kamerunische
4 Soyinka: Myth, Literature and African World, 1 (Übersetzung der Herausgebe- Volksmund Ferdinand Oyono verliehen hat, in Erinnerung an Oyonos be-
rinnen). rühmten Roman Le Vieux Nègre et la médaille.
5 Obafemi: Suicide Syndrome, 31. 3 Chomant: „Enseignant et mentor“, 81–82.
6 Ders.: The New Dawn, 73. 4 Mouralis: „Le savoir et la fiction“, 31.
5 Beti: La France contre l’Afrique, 159.
Zakes Mda: Südafrikanisches Theater im Zeitalter der Aussöhnung 6 Kom (Hg.): Mongo Beti parle, 79.
1 Greig: „From Revolt to Anachronism“. 7 Eckhard Breitinger entdeckte diesen Schriftsteller, als dieser 1987 vom Kame-
2 Kakaza: „Broadway in Braamfontein?“. run Komitee e. V. zu einer Tournee mit Veranstaltungen in beiden deutschen
Staaten eingeladen wurde; er ermöglichte Philombes Aufenthalt und Lesungen
Said A. M. Khamis: „Msitu Mpya, Komba Wapya“: in Bayreuth. Er hielt bis zu dessen Tod Kontakt mit Philombe und ermöglichte
Die Veränderungen der politischen Landschaft und der Swahili Roman außerdem die Transkribierung der Endfassung des Romans Bedi-Ngula,
1 Mbotela: Uhuru wa Watumwa, 31. l’ancien maquisard, die Philombe auf dieser Tournee fertigstellte.
2 Wamitila: „Reading the Kenyan Swahili Prose Works“, 121. 8 Kotei: „The Book Today in Africa“, 481.
3 Hyden und Bratton: „Preface“, ix.
4 Kezilahabi: Gamba la Nyoka, 150.
5 Roth: „Writing American Fiction“, 33.
6 Nicol: „Introduction“, 3.

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Susan Kiguli: Femrite und die Rolle der Schriftstellerin in Uganda: Verlag (Olten/Freiburg i. Br.) 1979. Die Übersetzung besorgten Hugo Loet-
Persönliche Einsichten scher und Franz Z. Küttel. Diese Übersetzung wurde für die o. a. Ausgabe im
1 Nnaemeka: „Feminism, Rebellious Women, and Cultural Boundaries“, 108. Peter Hammer Verlag von Gudrun Honke überarbeitet.
2 Kiguli: „I Am Tired of Talking in Metaphors“, 4–5. 2 Ebenda, 61–62.
3 Were: „Karooro looks Beyond Sex with The Official Wife“, 6 (Hervorhebung 3 Ebenda, 63.
der Autorin). 4 Ebenda.
4 Gureme: „Karooro Shatters Dirty Language“, 8. 5 Ebenda, 96–97.
5 Kiguli: „The Swing“, 93. 6 Booker: The African Novel in English, 106.
7 Armah: Die Schönen sind noch nicht geboren, 105.
Omofolabo Ajayi-Soyinka: Ein Theaterstück, sein Publikum und 8 Ebenda.
seine Gesellschaft: Die soziale Semiotik von Àrélù 9 Ebenda, 109.
1 Dieser Essay wurde zuerst vorgestellt im Sommer 1988 auf der Jahreskonferenz 10 Ebenda, 110.
der Association of Nigerian Artists (ANTA) an der Obafemi Awolowo Uni- 11 Ebenda.
versität Ile-Ife, Nigeria. 12 Booker: The African Novel in English, 106.
2 Jeyifo: The Yoruba Popular Traveling Theatre of Nigeria, 114. 13 Armah: Die Schönen sind noch nicht geboren, 67–68.
3 Barkindo: „Is Our Democracy Heading for the Stone Age?“ (ursprüngliche 14 Ebenda, 68.
Äußerung um 1980). 15 Ebenda.
4 Diese Aussage war Teil der öffentlichen Kampagne von Chief M. A. Akinloye 16 Ebenda, 76.
und wurde von den Medien vielfach aufgegriffen und wiederholt. 17 Ebenda.

Karim Traoré: Idrissa Ouédraogos Yaaba oder die ästhetische Fruchtbarkeit Nuruddin Farah: Tamarinden und Kosmopolitanismus
der Trockenheit 1 Killam und Rowe (Hg.): The Companion to African Literatures, 96.
1 Barlet: „Le regard occidental sur les images d’Afrique“ (Übersetzung des Au-
tors). János Riesz: Afrika-Bilder – Bilder von Afrika(ner/inne/n)?
2 Diawara: African Cinema, 162–163 (Übersetzung des Autors). Begriffliche und methodologische Überlegungen zu einer
3 Zit. in: Glinga: Literatur in Senegal, S. 5. verwirrenden Gemengelage
1 Beller und Leerssen (Hg.): Imagology (Übersetzung des Autors).
Ezenwa-Ohaeto: Von Literatur, Umwelt und Selbstmord schreiben 2 Ousmane: Guelwaar, 10.
1 Aidoo: „Unwelcome Pals and Decorative Slaves“, 17. 3 Arndt: „Einleitung“, 35.
2 Achebe: Home and Exile, 95 (Übersetzung Ch. Matzke). 4 Mphalhele: The African Image, 19 (Übersetzung des Autors).
3 Ebenda, 86 (Übersetzung Ch. Matzke). 5 Ebenda (Übersetzungen des Autors).
4 Ebenda, 88 (Übersetzung Ch. Matzke). 6 Bitterli: Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners, 7.
5 Ebenda, 91 (Übersetzung Ch. Matzke). 7 Ebenda, 8.
6 Nwankwo: Shadows of the Masquerade, 17–18 (Übersetzung Ch. Matzke). 8 Ebenda, 73.
7 Osofisan: The Nostalgic Drum, 103 (Übersetzung Ch. Matzke). 9 Burke: „Krieg, Reaktion und Widerspruch“, 88.
8 Ngaage: „The Star of the Morning“, 157 (Übersetzung Ch. Matzke). 10 Medeiros: L’Occident et l’Afrique, 5.
9 Soyinka: Die Last des Erinnerns, 87. 11 Schmeling und Schmitz-Emans (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur,
17–34.
Babila Mutia: Die Bedeutung der Figur: Armahs ‚Teacher‘ in The Beautyful 12 Burger: The Image of the Black in Western Art, I,1, 9 (Übersetzung des Au-
Ones Are Not Yet Born neu betrachtet tors).
1 Armah: Die Schönen sind noch nicht geboren, 96. Erstmals erschien die deut- 13 Honour: „Einleitung“ zu Band IV, 1, 14 (Übersetzung des Autors).
sche Ausgabe von Ayi Kwei Armahs Roman The Beautyful Ones im Walter 14 Memmi: „Préface“, 2 (Übersetzung des Autors).

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15 Zit. in AAVV: Alexandre Iacovleff, 215 (Übersetzung des Autors). Hermann Schulz: „Sie sind wie wir“: Erfahrungen eines Autors
16 Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren, 11. mit dem Thema Afrika und mit dem deutschen Publikum
17 Gehrmann: Kongo-Greuel, 274. 1 Bredow: „Abgang des Patriarchen“, 36.
18 Mbondobari: Archäologie eines modernen Mythos, 55–59.
19 Schmeling und Schmitz-Emans (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Ulli und Georgina Beier: Afrikaner in Australien – Gespräche mit
8–9. zwei Musikern und einem Wissenschaftler aus Süd-, Ost- und Westafrika
1 Um den Rhythmus und den Charakter des Interviews beizubehalten, wurde in
Peter Ripken: Afrikas Literaturen in Deutschland – ein weites Feld der Übersetzung auf den geschlechterneutralen Plural verzichtet. Der maskuli-
1 Okri, zit. in: Loimeier: „Journal für Literatur“. ne Plural steht hier immer als neutraler Plural. – Anm. D. Übers.
2 Bebey: „Francis Bebey refuse d’être ‚Africain à plein temps‘“, 50–51.
3 Achebe: „Afrikanische Literatur als Wiedergeburt der Feier“, 61–62. Sénouvo Agbota Zinsou: Literatur und aktuelle Weltpolitik:
Macht, Rassismus und Globalisierung
Leo Kreutzer: Für ein Verständnis afrikanischer Literaturen 1 Zinsou: On joue la comédie, 43–44.
als Unabhängigkeitserklärungen 2 „Weisenrat“, zusammengesetzt unter anderem aus Repräsentanten der ver-
1 Ripken: „Wer hat Angst vor afrikanischer Literatur?“, 349. schiedenen Religionsgemeinschaften und damit beauftragt, Präsident Chirac
2 Forster: „Vorrede zur Sakontala“, 289. Vorschläge zu unterbreiten zum Tragen religiöser Symbole.
3 Ebenda. 3 Soyinka: „A l’école, il faut réhabiliter la laïcité“, 36.
4 Said: Orientalismus, 28. 4 Zinsou: Le Médicament, 244.
5 Hall: „Wann gab es ‚das Postkoloniale‘?“, 226. 5 Paranagua: „La France presente ses excuses“, 24.
6 Herder: „Ausweg zu Liedern fremder Völker“, 59. 6 Zinsou: On joue la comédie, 4.
7 Ebenda, 59–60. 7 Ebenda, 46.
8 Ripken: „Wer hat Angst vor afrikanischer Literatur?“, 349. 8 Ebenda, 47.
9 Kane: Der Zwiespalt des Samba Diallo, 85. 9 Montesquieu: „De l’esclavage des nègres“, 108.
10 Hall: „Wann gab es ‚das Postkoloniale‘?“, 226. 10 Zinsou: On joue la comédie, 3.
11 Ders.: Le , 479.
Joachim Fiebach: Euripides und Brecht bei Soyinka: Dionysos, 12 Die Bibel, „Das Buch Ruth“, 1, 16, 272.
Ogun und Handgranaten 13 Zinsou: Le Medicament, 317–318.
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2 Ders.: Die Bakchen des Euripides, 172. 15 Ebenda, 448.
3 Ders.: Opera Wonyosi, 9 (alle Übersetzungen ursprünglich englischer Zitate 16 Ebenda, 52.
verantworten die Herausgeberinnen).
4 Ebenda, 46–47.
5 Ders.: Die Bakchen des Euripides, 95.
6 Ders.: Opera Wonyosi, 1.
7 Ders., zit. in: Jeyifo: Literary Aesthetics and the Neocolonial ‚Danse Macabre‘, 6.
8 Soyinka: „The Fourth Stage“, 141–142.
9 Ders., zit. in: Agetua: When the Man Died, 37, 39.
10 Soyinka: „Who is Afraid of Elesin Oba?“, 119.
11 Barber: I Could Speak Until Tomorrow, 25–26, 36–37.
12 Ebenda, 248.
13 Soyinka: Opera Wonyosi, Foreword.
14 Ders.: „Orisha Liberates the Mind“, 4.

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– Manjangwa: A Promise of Rains. Nairobi: East African Publishing House, Literature and Culture. Ibadan: New Horn Press, 1988, S. 110–131
1974 – From Zia with Love. London: Methuen, 1992
Shabangu, Mncedisi. Wangishiya Wangesheya. (unveröffentlichtes Theaterstück) – Orisha Liberates the Mind. Wole Soyinka in Conversation with Ulli Beier on
Shafi, Adam Shafi. Kasri ya Mwinyi Fuad. Dar es-Salaam: Tanzania Publishing Yoruba Religion. Bayreuth: Iwalewa-Haus, 1992
House, 1978 [dt.: Der Palast des Grundbesitzers Fuad] – The Beatification of Area Boy. London: Methuen Drama, 1995
– Kuli. Dar es-Salaam: Tanzania Publishing House, 1979 [dt.: Der Hafen- – The Burden of Memory. The Muse of Forgiveness. New York: Oxford UP, 1999
arbeiter] (dt. Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet – und was Afrika sich
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– Othello. Harlow: Longman, 2003 (dt. Othello. Sämtliche Werke. Tragödien. Sutherland, Efua. The Marriage of Anansewa. London: Longman, 1975
Berlin, Weimar: Aufbau, 1964, S. 389–496) (Erstveröffentlichung 1604) Suzman, Janet. Three Sisters. (unveröffentlichtes Theaterstück)
– As you Like it. Harmondsworth: Penguin Books, 1981 (dt. Wie es euch gefällt. Tausend und eine Nacht. München: C. H. Beck, 2004
Sämtliche Werke. Komödien. Berlin, Weimar: Aufbau, 1964, S. 639–725) Taylor, Jane und William Kentridge. Ubu and the Truth Commission. Cape Town:
(Erstveröffentlichung 1600/1623) UCT UP, 1998
Sinxo, Guybon. Imfene ka Debeza. Lovedale: Lovedale Institution Press, 1925 Tetzlaff, Rainer. Koloniale Entwicklung und Ausbeutung. Wirtschafts- und Sozialge-
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Sofola, Zulu. The Disturbed Peace of Christmas. Ibadan: Daystar Press, 1971 Timm, Uwe. Morenga. Köln: Kiepenheur & Witsch, 1985
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– Memories in the Moonlight. Ibadan: Evands, 1986 che. Dissertation, Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1983

512 513
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rior Medien, 1999 International, Paris 1975)
– Le jeu et le sérieux: essai d’anthropologie littéraire sur la poésie épique des chas- – „L’Ami-de-celui-qui-vient-après-le-Directeur“. In: Ders. Le Fossoyeur de Yoka
seurs du Mande (Afrique de l’Ouest) Köln: Rüdiger Köppe Verlag, 2000 Lyé Mudaba. Paris: Hatier Collection Monde Noir, 1987: 35–78
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dichtung im Mande (Westafrika)“. Habilitationsschrift. Bayreuth: Universität – Dina und Sichem. (unveröffentliches Theaterstück, aufgeführt im Oktober
Bayreuth 1997) 2003 in Bayreuth im Rahmen des Weltkongresses von APELA)
Vera, Yvonne. Nehanda. Harare: Baobab, 1993 (dt. Nehanda. Fl-Triesen: Edition
Isele, 2000)
– Without a Name. Harare: Baobab, 1994 (dt. Frau ohne Namen. München:
Marino Verlag, 1997)
Vignondé, Jean- Norbert. „Le théâtre en Afrique noire“. In: Palabres II, No. 1 &
2, 1997, S. 7–13
Waberi, Abduhraman. Le Pays sans ombre/Cahier nomade. Paris: Le Serpent à plu-
mes, 1994/1996 (dt. Legende von der Nomadensonne. München: Marino,
1998)
Wamitila, Kyallo Wadi. „Reading the Kenyan Swahili Prose Works: A Terra Incog-
nita in Swahili-Literature“. In: Rose Marie Beck, Thomas Geider und Werner
Graebner (Hg.). Afrikanistische Arbeitspapiere 51. Institut für Afrikanistik,
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Wangusa, Ayeta Anne. Memoirs of a Mother. Kampala: Femrite, 1998
Weber, Max. „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“. In: Gesammelte
politische Schriften. Tübingen: Mohr, 1988, S. 1–25 (Erstveröffentlichung 1895)
Were, Joseph. „Karooro Looks Beyond Sex with The Official Wife“. In: The Moni-
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für den Aufenthalt und Dienst in den deutschen Schutzgebieten. Berlin: E. S.
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Zgambo, Derrick [d. i. David Kerr]. Passages. Lusaka: Neczam, 1978
Zimmerer, Jürgen. „Die Geburt des ‚Ostlandes‘ aus dem Geistes des Kolonialis-
mus. Die nationalsozialistische Eroberungs- und Beherrschungspolitik in
(post-)kolonialer Perspektive“. In: Sozial.Geschichte 19/1, 2004, S. 10–43
Zinsou, Sénouvo Agbota. „La Fiancée du Vaudou“. Manuskript, Radio France
Internationale: Concours Théâtral Interafricain, 1968
– „L’amour d’une sauvage“. Manuskript des Repräsentanten des Theaterwettbe-
werbs 1968, Radiosendung im Rahmen des Wettbewerbs, Archiv des Radion
France Internationale, 1968

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Herausgeberinnen

Susan Arndt, Dr. phil., geb. 1967 in Magdeburg, verh., 3 Kinder, studier-
te Anglistik, Germanistik und Afrikawissenschaften in Berlin und London;
promovierte 1997 unter Betreuung von Eckhard Breitinger mit einer Arbeit
über Literaturen in Nigeria; 1996/97 Senior Fellow am St. Antony’s Col-
lege in Oxford; 1997–2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für
Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; zur Zeit Mitar-
beiterin am Zentrum für Literaturforschung Berlin (Projekt „Afrika ↔ Eu-
ropa. Transporte, Übersetzungen, Migrationen des Literarischen“). Buch-
publikationen: African Women’s Literature. Orature and Intertextuality
(Bayreuth 1998), Feminismus im Widerstreit. Afrikanischer Feminismus in
Gesellschaft und Literatur (Münster 2000), AfrikaBilder. Studien zu Rassis-
mus in Deutschland (Hg., Münster 2001), The Dynamics of African Femi-
nism. Defining and Classifying African Feminist Literatures (Trenton, Asma-
ra 2002), Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk
(Mithg., Münster 2004), Globalising Africa. Colonialism, Migration and
New Diasporas in African Literatures (Mithg., Bayreuth 2005) sowie weite-
re Publikationen zu Intertextualität; Oraturen und Literaturen in Westafri-
ka; Performance und populärer Kultur in Afrika; Gender, Frauenliteratur
und Feminismus in Afrika; sowie Rassismus und Weißsein. Zur Zeit arbei-
tet sie an einer Habilitationsschrift zum Thema Konstruktionen von Weiß-
sein in Literaturen aus und über Afrika.

Katrin Berndt, Dr. phil., geb. 1974 in Bad Salzungen; Studium der An-
glistik und Ethnologie in Leipzig, danach Tätigkeit als Redakteurin und
freie Lektorin; 2001 Forschungssemester an der Universität Leeds; 2004
Promotion an der Universität Bayreuth zur weiblichen Identitätskonstruk-
tion in der zeitgenössischen anglophonen Literatur Zimbabwes; gegenwär-
tig Lehrbeauftragte für Englische Literatur am Institut für Anglistik, Uni-
versität Leipzig; Habilitationsvorhaben zur ästhetischen Rezeption von
Freundschaftsbeziehungen in den Romanen anglophoner Autorinnen und
Autoren; Forschungsschwerpunkte: englischsprachige Literatur des 20. Jahr-
hunderts, dabei besonders Autorinnen der Moderne und Postmoderne;
postkoloniale Theorie und Prosa; populäre Musikgeschichte; feministische
Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen: Yoko Ono ‚In her own write‘. Ihr

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musikalisches Schaffen und der Einfluß von John Lennon (Marburg 1999); Paten und Patinnen (Übersetzungen, Porträts)
Female Identity in Contemporary Zimbabwean Fiction (Bayreuth 2005). Ar-
tikel zu afrikanisch-amerikanischem Feminismus, anglophoner afrikani-
scher Literatur, zur Musikgeschichte und feministischen Kulturgeschichte. Monika Bilstein ist ausgebildete Sortimentsbuchhändlerin und Fremdspra-
chenkorrespondentin für Spanisch. Seit 1987 ist sie im Peter Hammer Ver-
lag tätig, dem sie seit 2001 als Verlagsleiterin und Geschäftsführerin vorsteht.
Kerstin Bolzt studierte Englische Kulturwissenschaft an der Universität
Passau. Gegenwärtig promoviert sie bei Eckhard Breitinger über Geschlech-
terrollen in den Bereichen Musik, Literatur und Film des zeitgenössischen
Zimbabwe und arbeitet als Lehrbeauftragte am Institut für Afrikastudien
der Universität Bayreuth.
Thomas Brückner studierte Afrikanistik, Kultur- und Literaturwissen-
schaften an der Universität Leipzig und promovierte über orale Elemente in
der Literatur Nigerias. Er ist Übersetzer afrikanischer Literatur und Kultur-
vermittler und wirkt gegenwärtig als Gastprofessor in Växjö, Schweden.
Christiane Fluche studierte Anglistik, Germanistik und Soziologie an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und promovierte bei Eckhard Brei-
tinger über die Romane der Igbo Schriftstellerinnen Buchi Emecheta und
Flora Nwapa. Zur Zeit arbeitet sie als freie Fachzeitschriftenredakteurin
und Übersetzerin.
Marion Frank-Wilson studierte Anglistik, afrikanische Literatur und
Komparatistik an der Universität Bayreuth und promovierte bei Eckhard
Breitinger über Theater als Mittel der AIDS-Aufklärung in Uganda. Sie ar-
beitet als Bibliothekarin für den Bereich Afrika an der Indiana University in
Bloomington, USA.
Erdmute Greis-Behrendt arbeitete drei Jahrzehnte als Journalistin für die
britische Nachrichtenagentur Reuters und studiert seit 1998 Afrikawissen-
schaften und Anglistik/Amerikanistik an der Humboldt-Universität zu
Berlin.
Sigrid Groß studierte Übersetzungswissenschaften und arbeitet als Über-
setzerin für afrikanische Literaturen für den Peter Hammer Verlag in Wup-
pertal.
Jule Koch studierte Theaterwissenschaft und Kulturwissenschaft an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Sie initiierte und organisierte mehrfach
das Festival neuropolis – das Theatertreffen der Berliner Hochschulen – und
war in verschiedenen freien Theaterprojekten aktiv. Gegenwärtig arbeitet
sie als Theaterpädagogin am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau.

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Dirck Linck studierte Literaturwissenschaft und Geschichte an der Univer- duiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“. Er ist Mithe-
sität Hannover und promovierte mit einer Arbeit über das Werk von Josef rausgeber der Zeitschrift für Germanistik und verschiedener Buchreihen.
Winkler. Seit 2002 wirkt er an der FU Berlin als Mitarbeiter im Sonderfor- Forschungsschwerpunkte: Lachkulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit;
schungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Geschichte des Romans, Hermeneutik der Fremde.
Künste“. Martin Rohmer studierte Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Litera-
Manfred Loimeier studierte Germanistik, Rhetorik, Kunstgeschichte und tur und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München
Philosophie an den Universitäten Tübingen, Wien, Basel und Berlin und und an der University of Glasgow. Er promovierte unter Betreuung von
promovierte bei János Riesz und Eckhard Breitinger. Er arbeitet als Autor, Eckhard Breitinger über Theater in Zimbabwe an der Humboldt-Universi-
Hörfunkautor und Journalist über afrikanische Literaturen. tät Berlin und ist gegenwärtig im Kulturreferat der Landeshauptstadt Mün-
Christine Matzke studierte Anglistik, Amerikanistik und Historische Eth- chen tätig.
nologie in Frankfurt am Main, London und Leeds, wo sie mit einer Arbeit Katharina Schramm hat in Berlin Afrikanistik und Ethnologie studiert
zu Theater in Eritrea promovierte. Gegenwärtig arbeitet sie als wissen- und im Fach Ethnologie mit einer Arbeit über die Rückkehrbewegung von
schaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Afrikawissenschaften an der Hum- African Americans nach Ghana promoviert. Sie arbeitet derzeit als Lehrbe-
boldt-Universität zu Berlin. auftragte am Institut für Ethnologie der FU Berlin.
Dirk Naguschewski hat Französisch, Bibliothekswissenschaft sowie Allge- Petra Schwarzer unterrichtet an der Carl-von-Ossietzky-Universität Ol-
meine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität denburg im Fach Anglistik Kulturstudien und Literaturdidaktik sowie in-
Berlin und in Rennes studiert. Er promovierte über den Status des Franzö- terdisziplinäre kulturelle Frauen- und Geschlechterforschung. Des Weiteren
sischen im frankophonen Afrika und ist gegenwärtig Mitarbeiter am Zent- führt sie Lehrerfortbildungsveranstaltungen zu den Neueren Englischspra-
rum für Literaturforschung in Berlin. chigen Literaturen durch.
Festus Fru Ndeh hat Ende 2004 seine Dissertation an der Universität Du- Marek Spitczok von Brisinski hat zu Theater, Literatur und Gesellschaf-
isburg-Essen zur Überlieferung mündlicher Erzähltraditionen in der Litera- ten in Afrika geforscht, unterrichtet und veröffentlicht. Zur Zeit promoviert
tur des anglophonen Kamerun abgeschlossen. Seine Forschungsinteressen er bei Eckhard Breitinger über Community Theatre als Medium für Bildung
liegen im Bereich der postkolonialen Literatur sowie der Literatur der Dia- und Versöhnung in Südafrika. Seit 2001 leitet er Workshops in künstleri-
spora, worüber er einige Artikel veröffentlicht hat. schen Formen der sozialen Kommunikation für Kinder, Jugendliche und
Marion Pape lehrt an der Universität von KwaZulu-Natal und forscht u. a. Erwachsene in Berlin.
über Literatur von Frauen über den nigerianischen Bürgerkrieg. Gerhard Katharina Städtler ist Romanistin und Germanistin. Sie hat in Augsburg
Grotjahn-Pape ist Übersetzer. Beide leben in Durban, Südafrika. zur altprovenzalischen mittelalterlichen Frauenlyrik promoviert und in Bay-
Marly Riemer ist freiberufliche Layouterin und seit 1998 nebenberufliche reuth mit einer Arbeit zur Emergenz des afro-frankophonen literarischen
Studentin an der Humboldt-Universität zu Berlin in den Fachbereichen Feldes in Paris habilitiert. Gegenwärtig wirkt sie als Privatdozentin für Ro-
Afrikawissenschaften und Europäische Ethnologie. manische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth.
Werner Röcke hat 1963 bis 1969 Evangelische Theologie und Germanistik Adele Tröger studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissen-
in Göttingen und an der FU Berlin studiert. Der Promotion 1975 folgten schaft an der Universität Bayreuth. Sie arbeitet als Lektorin und Übersetze-
1984 die Habilitation und 1986 die Berufung zum Professor an der Univer- rin in Sydney, Australien – und gelegentlich für Eckhard Breitingers Verlag.
sität Bayreuth, wo er mehrere Jahre als Vizepräsident wirkte. Seit 1993 ist er Adama Ulrich hat Kulturtheorie und Ästhetik an der Humboldt-Universi-
an der Humboldt Universität zu Berlin Professor für Ältere deutsche Litera- tät zu Berlin studiert und bei Eckhard Breitinger über neue Tendenzen in
tur und Teilprojektleiter in den Sonderforschungsbereichen „Kulturen des der dramatischen Literatur Westafrikas promoviert. Gegenwärtig arbeitet
Performativen“ und „Transformationen der Antike“ sowie Mitglied im Gra- sie als Rundfunkjournalistin in Berlin.

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Sibylle Weingart studierte Geschichte und Kulturwissenschaften in Paris,
Hamburg und Yaoundé/Kamerun. Seit ihrem Studium ist sie im interna-
tionalen Kulturaustausch und in der soziokulturellen Arbeit tätig und arbei-
tet seit 2002 im Kultur- und Kommunikationszentrum Pavillon in Hanno-
ver.

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