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N , im
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise.
Von
Friedrich Pollock.
die Fachgrenzen hinaus zu gehen, will man sich nicht mit sehr
abstrakten und lebensfremden Sätzen begnügen. Ebenso wird
eine Prognose der ökonomischen und gesellschaftlichen Zukunft
versucht werden. Das dringende Bedürfnis zu wissen, wohin die
Reise geht, lässt den blossen Wahrscheinlichkeitscharakter derarti-
*) Für viele Anregungen und die Sammlung eines Teils der dieser Arbeit zugrunde-
liegenden sehr umfangreichen Materialien bin icli Gerhard Meyer und Rudolf Katz
zu Dank verpflichtet. F. P.
I.
x Etwa dem von Mitchell (Business Cycles, New York 1927) oder Spiethoff
)
(Art. Krisen in Handw. d. Staatsw. IV. Aufl.).
2) Vgl. etwa M. Wirth, Geschichte der Handelskrisen,
Frankfurt a. M., 3. Aufl.
1883; ferner aus der neueren Literatur Wageinann a. a. 0.
: J. Lescure, Des
;
bundsbericht Ohlins, a. a. O. S. 308 IT. Ueber die Krise von 1857 unterrichten
324 Friedrich Pollock
aber nur gezeigt werden, dass der heutige Zustand mit früheren
grosse Ähnlichkeiten aufweist, die zu der Annahme systembeding-
ter, aus den Krisen des vorigen Jahrhunderts bekannter Ursachen
berechtigen.
Nun ist es aber offenbar, dass die seit dem Ende
des Jahres
1929 in USA wütende Wirtschaftskrise, die allmählich fast alle
Länder ergriffen 1
hat ), hinsichtlich Schwere, Dauer sowie geogra-
phischer und branchenmässiger Verbreitung alle ihre Vorgänger
weit übertrifft. Die grösste Ähnlichkeit zeigt in vieler Hinsicht
die 1873 ausgebrochene Krise, die erst etwa 1879, nach manchen
Autoren sogar erst gegen das Ende der achtziger Jahre oder noch
später überwunden war. Sie hat alle europäischen Länder und
die meisten Wirtschaftszweige erfasst. Einzelne Warenpreise
zeigten schwere Zusammenbrüche, allen voran der Eisenpreis,
der bei seinem Höchststand im Jahre 1873 116 sh 11 d notiert hatte
und 1879 auf 47 sh gestürzt war. Aber hier handelt es sich um
einen Sonderfall, der durch das Zusammentreffen einer Absatzstok-
kung mit einer aussergewöhnlichen Senkung der Produktionskosten
charakterisiert ist. Der Eisenpreis beeinflusst naturgemäss sehr
stark den Preisindex der industriellen Rohstoffe, der für Deutsch-
land 1873 mit 123,8, 1878 mit 69,7 angegeben wird (1913 100) 2 ). =
Andere Zahlen bleiben weit hinter den heutigen zurück. So
sinkt die englische Ausfuhr von 1873-79 wertmässig um kaum 25 %
gegen einen Rückgang von etwa 40 %
1929/32 für Grossbritannien
und rund 60 %
1928/32 für USA. Die Zahl der arbeitslosen
Trade Unions Mitglieder erreicht 1879 mit 11,4 %
ihr Maximuni,
während die American Federation of Labor für Dezember 1932
unter ihren Mitgliedern 35 %
Vollarbeitslose und 20 Kurzar- %
beiter zählt 3). Die Löhne fielen zwar in einzelnen Industriezweigen
erheblich, aber in England sanken sie nur von 108 in 1873
auf 102 in 1879, um dann bis 1887 ziemlich konstant zu bleiben
(Basis 1867-77= 100) 4 ), während der Index der nordamerikanischen
und deutschen Industrielöhne von 1930 bis Ende 1933 eine Senkung
von über 20 %
aufweist dabei ist wegen der unzureichenden
;
teilweise erfasst 1 ).
Die Schwere der heutigen Krise bedarf also einer
besonderen Erklärung. Man hat versucht, sie mit der „Theorie
der langen Wellen" zu geben. Danach bewegten sich die acht- bis
zehnjährigen Konjunkturzyklen in einem grösseren „säkularen"
System aufwärts- oder abwärts gerichteter Kräfte, und wenn der
Zusammenbruch der Konjunktur auf ein Wellental im System der
langen Wellen treffe, dann komme es zu einer besonders schweren
Krise. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und in
der Gegenwart liege ein solches Zusammentreffen vor. Die
Beweise, welche hierfür mit grossem Müheaufwand gegeben wurden,
beruhen auf unzulässigen Verallgemeinerungen vereinzelter Tat-
bestände 2 ). Es muss also nach einer besseren Erklärung für den
aussergewöhnlichen Charakter der Krise gesucht werden.
II.
*) der Einzelheiten vgl. die einschlägigen Kapitel bei Sir Arthur Salter,
Wegen
Recovery, London 1932 B. Ohlin, a. a. O. A. H. Hansen, Economic Stabilization
; ;
III.
„Over the whole ränge of human effort and human need, demand
and supply found their adjustments without anyone estimating
the one or planning the other. The individual producer pushed
and groped his way to a new or expanding market... His guide
was no estimate of world demand and production, but the moving
index of changing prices. If he and his competitors made more
than the consumer, within whatever market they could reach,
would buy, prices would fall the less efficient and advantageously
;
thus in time fall below demand prices would rise and a little
; ;
x
) Sir Arthur Salter, a. a. O. S. 10 f.
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 329
J
) Vgl. hierzu auch Jahrgang
I, S. 11 ff. dieser Zeitschrift.
2
) hier sowohl die grosse Einzelunternehmung wie die
Wir verstehen darunter
als Einheit auftretenden wirtschaftlichen Verbände, Kartelle, Konzerne ; bisher
auch, mit bestimmten Einschränkungen, die Gewerkschaften.
330 Friedrich Pollock
der Geldgeber mit der Grösse des Eigenkapitals der Kreditnehmer rascher wächst
als deren Kreditwürdigkeit.
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 331
ii) Vgl. Freder ick C. Mills, Economic Tendencies in the United States, New
IV
Unzählige Vorschläge sind für die Überwindung der
Wirtschafts-
krise gemacht worden. Von den Mahnungen der strenggläubigen
Liberalen, dass beim integralen Laissez-faire auf allen
Gebieten
wirtschaftlicher Tätigkeit das einzige Heil liege und dass
man
den bewährten Kräften der Selbstheilung des Systems vertrauen
solle, bis zur Forderung eines radikalen planwirtschaftlichen
Um- und Neubaues gibt es eine bunte Skala von Projekten 2 ). Wir
*) Das abgesehen vonoffener Streichung drastischste Mittel der Schul den abwertung,
die Inflation, kommt gegenwärtig (Oktober 1933) in USA auf allerhand Umwegen
zur Anwendung. Teilweise Streichung ohne Bankrotterklärung erfolgte im Zusam-
menhang mit den Osthilfe Massnahmen in Deutschland.
2) Die ohnedies bestehenden schweren Interessengegensätze werden bedeutend
verschärft durch die Rücksicht auf die Kriegsindustrie (zu der allmählich alle grösseren
Produktionszweige einschliesslich der Landwirtschaft gezahlt werden müssen), in
der jeder Grosstaat eine maximale Produktionskapazität zu behalten wünscht.
334 Friedrich Pollock
lich, dass,wie bei der Überwindung früherer Krisen, die Einführung neuer kapital-
intensiver Produktionsmethoden in den alten Industrieen eine erhebliche Rolle
spielen wird.
a
Auch die Sowjetunion. Frankreich und
) USA scheinen entschlossen zu sein,
von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
3
) „Most of the 500.000 villagcs have
not yet been touched by metalled roads or
railways post Offices are many miles apart and telegrapb Offices still
;
; more d ist an
t
from each other. Except in the north-west, the whole of Uie country isdependent
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 335
on the monsoon, and all major agricultural Operations are fixed and timed by this
phenomenon. Unless perennial irrigation is available climatic conditions thus restrict
agricultural Operations to a few montlis of the year." Report of the Indian Statutory
Commission, vol. I, London 1930 (S. 16). Vgl. auch Report of the Royal Commission
on Agriculture in India, London 1928.
336 Friedrich Pollock
x
) In einem zuerst in der Londoner „Nation" abgedruckten Artikel, deutscu
in Schmollers Jahrbuch, August 1933 unter dem Titel : „Nationale Selbstgenüj»
samkeit".
2
) A. a. O. S. 79 IT.
a
) Als solche Wirtschaftsblöcke, zu denen bereits mehr als blosse Ansätze vorliegen
könnten etwa folgende Kombinationen gedacht werden :
1. Das britische Empire mit Einschluss von Skandinavien und Teilen Südamerikas
2. Frankreich und seine Kolonien unter Einschluss eines Teiles des Donauraumes'
der östlichen Randstaaten und wahrscheinlich mit gewissen handelspolitischen Privi-
legien in der Sowjetunion,
3. USA unter Einbeziehung von Teilen Südamerikas und Chinas,
4. die Sowjetunion.
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 337
V.
„We are, if we could but grapple with our fate, the most fortunate of
the generations of men. In a Single lifetime Science has given us more
power over Nature, and extended further the ränge of vision of the explo-
ring mind, than in all recorded history. Now, and now only, our material
resources, technical knowledge and industrial skill, are enough to afford
to every man of the world's teeming population physical comfort, adequate
leisure, and access to everything in our rieh heritage of civilisation that
he has the personal quality to enjoy" 1 ).
„There is a tragic irony in our economic Situation to-day. We have
not been brought to our present state by any natural calamity... We
have a superabundance of raw materials, of equipment for manufacturing
these materials into the goods we need, and transportation and commercial
facilities for making them who need them" 1 ).
available for all
„Only now for the first time in human history can we speak of an opulent
life released from drudgery for the whole Community as a possibility for
which the means are visible and at our immediate Service and command.
That possibility has come within sight and reach only as science has
unlocked one after another the hitherto concealed treasure Chambers of
nature, giving us the entry of knowledge to new resources in power and
materials, and in devices for using them to the uttermost for the service
of human needs" 2 ).
„The economic crisis which to-day oppresses the business world is the
stupidest and most gratuitous in history. All essential circumstances —
J
) Franklin D. Roosevelt, Looking Forward, London 1933, p. 45.
) Fred Henderson, The Economic Consequcnccs of Power Production, London
1931, p. 61.
340 Friedrich Pollock
*) Aus einer Rede Lord D'Abernons, zitiert bei Henderson a. a. O., S. 60.
Sperrungen von uns.
) Auch aus der Fachpresse erhält man nur gelegentlich konkrete Angaben. So
berichtet z. B. über die Vernichtung von Kaffee in Brasilien The Commercial and
Financial Chronicle vom 1.7.1933, dass die Regierung in zwei Jahren mehr als 16 Mil-
lionen Säcke Kaffee hat zerstören lassen (die Jahresernte wird 1933 auf 26 Millionen
Säcke geschätzt) in diesem Jahr wurden 30 Milrcis für jeden vernichteten Sack
;
„It not the pro fit which tlie fortune hunter actually takes which
is
makes the bulk of the trouble it is the waste and maladjustment
;
he creates in trying to take it. For every success there are scores
of failures, and most of the
failures are responsible for at least as much
dislocation as the successes. In an economy of abundance, properly
organized, we could probably stand the cash drain on purchasing power
caused by the profiteers and absentee owners. What
no System can bear
indefinitely is the continual rowelling of its vitals by those who are trying
to get rieh... If we took all the income away from the wealthy and distri-
buted it to the rest of the population, the Standard of living would be
increased, aecording to Professor Bowley, only some ten percent. But
if we could eliminate the gyrations of those who are trying to become weal-
thy, we could abolish poverty and double the Standard of living virtually
over night" 2 ).
monopolahnlicner
auch die Massnahmen monopolistischer oder
Einschränkung
Wirtschaftsverbände zugerechnet werden, die eine
Preise betreiben Sie
der Produktion zwecks Hochhaltung der (zu
Preismechanismus
richten nicht nur durch die Störung des
Preise wahrend
durch die bekannte Hochhaltung der „gebundenen"
an, sondern verlnn-
der Krise) unter Umständen grossen Schaden
Ä^nSuSÄSÄ-
i> z.
VI.
i) Eslassen sich manche Beispiele dafür geben, dass diese Wahl bewusst getroffen
wird. In der Regel mag der Entschluss, „Eigennutz vor
Gemeinnutz" gehen zu
lassen, dadurch erspart bleiben, dass die Möglichkeit einer fruchtbaren Umgestaltung
der Produktionsverhältnisse nicht zugegeben wird.
346 Friedrich Pollock
*) Vgl. Berle and Means, The Modern Corporation and Private Property.
New
York 1932. Besprechung in dieser Zeitschrift Jahrgang II, S. 317 f.
2
) Hier soll gleichzeitig für alle anderen in diesem Zusammenhang behandelten
Anpassungsphänomene nochmals bemerkt werden, dass dieselben Massnahmen
häufig auch zerstörende Wirkungen im Gefolge haben. So hat z. B. die Selbstfinan-
zierung bezw. die leichte Kreditbeschaffung häufig zu den schwersten Fehlinvestitionen
geführt.
3
) In USA warensie in der Regel bis zur „Nira" — Gesetzgebung gezwungen, sich
dieses „corporate system" zu bedienen.
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 347
wird. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass alle neu angewandten
Methoden sich als unbrauchbar erweisen werden. Vielmehr spricht
vieles dafür, dass diese und noch stärkere Eingriffe in Zukunft
nötig sein werden.
Derartige Interventionen grössten Stiles zeigen sich allenthalben
in der Aussenhandelspolitik. Aus dem früher angewandten Pro-
tektionismus hat sich eine mehr oder weniger lückenlose Aussen-
handelskontrolle entwickelt, die zu einer staatlichen Leitung des
Aussenhandels hintendiert. Lautman hat in seinem vorzüglichen
Buch über die Aussenhandelspolitik mit Recht darauf hingewiesen,
dass die Entwicklung bei der Leitung des Aussenhandels nicht
stehen bleiben könne, sondern mit innerer Notwendigkeit zu einer
einheitlichen Leitung der gesamten "Wirtschaft dränge 1).
Erfolgt diese Leitung durch eine staatliche Zentrale, dann ist
der äusserste Punkt bezeichnet, bis zu dem die Produktionsverhält-
nisse modifiziert werden können, ohne dass die Grundlagen des
kapitalistischen Systems aufgehoben werden. Es bestehen aber
erhebliche Zweifel, ob eine solche kapitalistische Planwirtschaft
überhaupt möglich ist. Zunächst würde sie nur bedeuten, dass die
mächtigsten und den Staat beherrschenden kapitalistischen Grup-
pen allen übrigen die Bedingungen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit
diktierten. Das muss in einer konsequenten Planwirtschaft dahin
führen, dass jede selbständige Unternehmertätigkeit aufhört und
durch die Anordnungen der zentralen Planstelle ersetzt wird.
Diese hätte für eine Beseitigung der Konjunkturschwankungen
im
Sinne einer gleichmässigen Wachstumsregulierung zu sorgen.
Es
wird immer mehr anerkannt, dass mit einer
bloss quantitativen
Kredit- und Währungspolitik keine Stabilisierung
der Konjunktur
erreicht werden kann 2). Das führt aber zu der Notwendigkeit
einer umfassenden Kenntnis der
gesamten Wirtschaftsprozesse und
einer darauf basierenden, bis ins einzelne gehenden Regelung
zumindest der Investitionen und damit des grössten Teiles der
Pro-
duktion 3 ). Eine solche totale Regelung, die technisch mit
den
heute verfügbaren Mitteln in weitem Masse möglich wäre,
ist
qualitativ etwas ganz anderes als die bisher vorgenommenen
partiellen Eingriffe. Sie setzt voraus, dass die mächtigsten Grup-
pen sich zugunsten des kapitalistischen Gesamtinteresses über
eine planwirtschaftliche Politik verständigen, die die Gewinnin-
.. .
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 349
J Vgl. die neueste Kritik bei John Strachey, a. a. 0. S. 246 ff. (vgl. auch
)
die Besprechung in diesem Heft der Zeitschrift, S. 456.)
*) Die früher von uns geäusserte Ansicht, dass die Degradation des Kapital-
besitzes zu einem blossen Rententitel eine kapitalistische Planwirtschaft unannehmbar
mache (vgl. diese Zeitschrift Jahrg. I, S. 27), können wir angesichts der inzwischen
sichtbar gewordenen Möglichkeiten der Massenbeherrschung nicht mehr zu den schwer-
wiegenden Einwanden zählen.
3
)
sich, dass in einer solchen Ordnung bei weitem nicht alle
Schon hieraus ergibt
Kräfte für die Bedürfnisbefriedigung angewandt werden, die in einer daran orientierten
Wirtschaft hierfür dienstbar gemacht werden könnten.
350 Friedrich Pollock
VIP).
) Der Raum gestattet weder eine nähere Begründung der folgenden Prognosen,
x
noch ihre Illustration mit dem reichlich vorhandenen Material. Sie mögen deshalb
als Arbeitshypothesen genommen werden.
) Hierzu gesellt sich der Kampf der Monopole innerhalb der Landesgrenzen um
a
den Konsumenten.
Bemerkungen zur Wirtschaftskrise 351
») F. A. Roosevelt, a. a. O. S. 223 f.
*) Die aus dem Mittelstand stammende gebildete Jugend bildet eines der wichtigsten
Rekrutierungsgebiete für den staatlichen Machtapparat. In diesem Zusammenhang
ist es lehrreich, dass in Japan im Jahre 1933 von 55.000 Studenten, die ihre Examina
abgeschlossen haben, mehr als 30.000 Ingenieure, Techniker, Ärzte usw. keine Arbeit
finden konnten. Von 21.000 Diplomkaufleuten haben nur 9.000 feste Stellungen
erhalten. Aus japanischen Zeitungen, abgedruckt in „Lu" vom 6.X. 33.
352 Friedrich Pollock
Ketlsctuift Mr Sozialforeobung II /3
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