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Die Linke in der Krise

28. März 2016


Von 
FREUNDINNEN UND FREUNDE DER KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT

Im öffentlichen Interesse von der Flüchtlingskrise überlagert, schwelt die Krise der
Euro-Zone weiter. Nichts geändert hat sich auch an der Konfusion, die in der Linken
über diese Krise und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung herrscht. In der Hoffnung
auf sachhaltigen Streit hatten wir dazu vor einer Weile den Beitrag »Krisenlösung als
Wunschkonzert« in »analyse & kritik« veröffentlicht; tatsächlich folgten darauf auch
einige Erwiderungen, die aber sämtliche von uns angeschnittenen Fragen
wohlweislich umschifften (vgl. dazu »Zugaben zum Wunschkonzert«). Auf diese
Fragen sowie die Einschätzung der Syriza-Regierung in Griechenland geht der
folgende Beitrag, der im Dezember 2015 im Rahmen der »Marx-Expedition« an der
Universität Leipzig gehalten wurde, nochmals ein.

Anlass für die Kritik, die wir vor mittlerweile fast drei Jahren in dem Text
Krisenlösung als Wunschkonzert formuliert haben, war die Beobachtung, dass
bestimmte fragwürdige Vorstellungen über das Verhältnis von Krise und Staat bis weit
in nominell radikale Kreise hinein gang und gäbe geworden sind. In einem Satz
zusammengefasst wollten wir damals der Auffassung entgegentreten, alternativ zum
sogenannten Neoliberalismus, der sich in gnadenloser Austeritätspolitik auf Kosten der
Lohnabhängigen austobt, während er andererseits quasi aus reiner Willkür die Banken
und Anleger rettet, gäbe es eine andere, soziale Krisenlösung, die gerade durch eine
Umverteilung von oben nach unten und umfangreiche Staatsprogramme nicht nur den
Lohnabhängigen allerlei Härten erspart, sondern auch die ramponierte Ökonomie
wieder flott macht. Diese Vorstellungen fallen hinter alle kritischen Einsichten zurück,
die seit Marx über das Kapital und seine Krisen formuliert worden sind. Eine Kritik
solcher Vorstellungen kann vielleicht einen bescheidenen Beitrag dazu leisten kann,
dass sich aus der ganzen Misere heraus wider Erwarten doch noch eine
sozialrevolutionäre Bewegung entwickelt; wir überschätzen die Bedeutung einer
solchen Kritik allerdings auch nicht, will sagen, bestimmte sozialreformerische
Illusionen sind sicherlich nicht der größte oder sogar alleinige Hemmschuh für die
Herausbildung einer solchen Bewegung. Festhalten muss man erstmal, dass in all den
Kämpfen, die es im Zuge der Krise gegeben hat, nirgends der entscheidende Sprung
von Streiks und Platzbesetzungen zur Betriebsbesetzung und zu irgendeiner Form von
Räten gewagt worden ist. Die Vorstellung, sich gemeinsam die Produktionsmittel
anzueignen, ist auch dort, wo eine irrwitzige Arbeitslosigkeit herrscht und es wirklich
ums Eingemachte geht, offenbar so undenkbar geworden, dass es gar kein
Polizeiaufgebot braucht, um die Leute daran zu hindern; das scheint uns das
eigentliche Problem zu sein.Nachtrag: Es sind zwar vereinzelt bankrotte Betriebe von
den jeweiligen Belegschaften übernommen worden, aber es hat sich nirgends eine
Bewegung angedeutet, die über solche Selbsthilfemaßnahmen hinaus die gemeinsame
Aneignung der Produktionsmittel anvisieren würde. Ebenso kann man in den
Vollversammlungen auf den besetzten Plätzen einen Nachhall des Rätegedankens
ausmachen, der aber ohne das genannte Ziel seine revolutionäre Schwungkraft verliert.
Damit will ich nur klarstellen, dass wir nicht einem bestimmten Muster linksradikaler
Kritik folgen, wonach irgendwelche Reformisten ein eigentlich zur Revolution
drängendes Proletariat vom rechten Weg abbringen. Darauf komme ich nachher
nochmal am Fall Griechenland zurück.

Zentral für die zu kritisierende linke Krisendeutung ist zunächst der Begriff des
Neoliberalismus. In unserem Verständnis ist Neoliberalismus eine bestimmte
wirtschaftspolitische Doktrin, die auf die Entfesselung der Marktkräfte schwört, eine
Politik des harten Geldes und der ausgeglichenen Staatshaushalte befürwortet und sich
praktisch unter anderem in Privatisierungen von Staatsbetrieben und sozialer
Vorsorgeeinrichtungen niederschlägt. Dass es seit den späten 1970er Jahren eine
gewisse Entwicklung in diese Richtung gegeben hat, ist unbestritten. Die Frage ist
allerdings erstens, wie man das erklärt, und zweitens, ob es so ungebrochen ist, dass
man Neoliberalismus gleich als eine Art Epochenbegriff verwendet.

Mit der Rede von Hegemonie, Diskursen und Definitionsmacht tritt das objektive
ökonomische Geschehen in den Hintergrund; es entsteht der Eindruck, eigentlich
hätte sich alles auch vollkommen anders entwickeln können.

Zum ersten ist festzuhalten, dass die Konterreformen ab den späten 1970er Jahren auf
eine reale Krise geantwortet haben; die Wachstumsraten waren eingebrochen, Inflation
und Arbeitslosigkeit schossen gleichzeitig in die Höhe und in der Arbeiterklasse hatte
sich in den Nachkriegsdekaden und besonders nach dem Aufbruch von 1968 eine
Anspruchshaltung durchgesetzt, die –aus Sicht der Mächtigen – auf jeden Fall
geschliffen werden musste. In der handelsüblichen linken Deutung war das Ganze
dagegen ein Ergebnis erfolgreicher Kämpfe um Hegemonie, d.h. neoliberale Kreise
waren in der Lage, durch ideologische Kampagnen und beharrliche Lobbyarbeit ihre
Vorstellungen als alleingültige in der Öffentlichkeit und im Staat zu verankern. Kurz
gesagt: Neoliberale Think Tanks haben die Gesellschaft einem großen Brainwashing
unterzogen und sodann die Politik gehijackt, indem sie dort bestimmte Leitbilder
installiert haben. Mit der Rede von Hegemonie, Diskursen und Definitionsmacht tritt
das objektive ökonomische Geschehen in den Hintergrund; es entsteht der Eindruck,
eigentlich hätte sich alles auch vollkommen anders entwickeln können. Eigentlich
könnte man, wenn man genügend Diskursmacht besitzt, den Kapitalismus auch ganz
anders gestalten. Das wird vielleicht nicht immer so ausdrücklich gesagt, schwingt
aber implizit in einer solchen Beschreibung der Geschichte immer mit.

Was die zweite Frage betrifft, wie ungebrochen dieser Neoliberalismus überhaupt
herrscht, hat Paul Mattick in seinem sehr aufschlussreichen Krisenbuch Business as
usual nochmal gezeigt, dass staatliche Politik keineswegs irgendeinem ideologischen
Leitfaden folgt, sondern eher einem pragmatischen Durchwursteln gleicht. Die
Staatseingriffe sind in der vermeintlichen Ära des Neoliberalismus nicht
zurückgegangen; gerade in dieser Ära ist die Staatsverschuldung munter weiter
gewachsen. In den USA zum Beispiel, wo Ronald Reagan 1980 mit dem Versprechen
ins Amt gewählt wurde, sie einzudämmen, hatte sie sich am Ende seiner
Regierungszeit verdreifacht. Und wenn irgendetwas die Vorstellung eines
ungebrochenen Neoliberalismus widerlegt, dann gerade die aktuelle Krise und ihr
staatliches Management. Zu ihrer unmittelbaren Vorgeschichte in Amerika gehört
eben auch eine krasse Niedrigzinspolitik der US-Notenbank. Nach dem Crash der New
Economy zu Beginn der Nullerjahre wurde auf diese Weise verzweifelt versucht, eine
lahmende Konjunktur durch eine Flut des billigen Geldes zu beleben. Robert Brenner
hat das treffend als »Börsenkeynesianismus« bezeichnet. Als dann alles in sich
zusammenfiel, haben die Regierenden auf alle Bekenntnisse zur freien Marktwirtschaft
gepfiffen; Banken und Unternehmen wurden gerettet und verstaatlicht, es gab riesige
Konjunkturprogramme, in Deutschland wurde mit der Abwrackprämie die vielzitierte
Massenkaufkraft gestärkt und die Beschäftigung durch das Kurzarbeitergeld gestützt;
auf dem Höhepunkt der Rezession betraf das mehr als eine Million Arbeiter in
Deutschland. Das alles war mitnichten neoliberal, sondern lupenreiner
Keynesianismus.

Die Bankenrettungen sind natürlich auch den Linken nicht entgangen, nur deuten sie
sie auf ihre Weise, nämlich als Privilegierung der Reichen, als Verteidigung von
Renditeansprüchen. Die Empörung darüber, dass auf der einen Seite Milliarden in ein
marodes Finanzsystem gepumpt werden, um dann auf der anderen Seite
Sozialleistungen zusammenzustreichen, ist natürlich völlig nachvollziehbar. Aber es
bleibt eine völlig hilflose Empörung, wenn ausgeblendet wird, dass die
Bankenrettungen aus Sicht des Staates eine schlichte Notwendigkeit waren, weil
andernfalls eine unkontrollierbare Kettenreaktion von Pleiten gedroht hätte und das
gesamte System möglicherweise zum Stillstand gekommen wäre. Der Finanzsektor ist
die Schaltstelle der gesamten Ökonomie, alle Unternehmen sind auf ihn angewiesen,
kein Staat kann es riskieren, ihn bankrottgehen zu lassen. Auch Katja Kipping hätte als
Bundeskanzlerin nichts anders gehandelt. Mit den Bankenrettungen hat der Staat nicht
irgendeine Klientel bedient, sondern seinen Job als Generalbevollmächtigter des
Gesamtkapitals gemacht.

Grundsätzlich besteht das Problem, dass sich Linke mit ihrer Kritik des
Neoliberalismus in einem ziemlich faden nationalökonomischen Disput verzetteln,
auch wenn ihnen das vielleicht nicht einmal bewusst ist. Denn grob vereinfacht
gesprochen ist der Gegenspieler des Neoliberalismus in der bürgerlichen
Wirtschaftstheorie eben der Keynesianismus, und in diesem Gegensatz der beiden
Doktrinen spiegeln sich reale Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise,
was im Ergebnis heißt, dass in gewissem Sinne immer jede Seite gegen die andere
Recht behält. Die Neoliberalen gehen von der Angebotsseite aus; ihr Rezept lautet: die
Unternehmen entlasten, die Löhne in Schach halten, die Arbeitsmärkte flexibilisieren
etc. pp.; sollten Schwierigkeiten auftreten, werden die Selbstheilungskräfte des
Marktes sie besser lösen als jede Regierung es könnte, die unzulässigerweise in der
Wirtschaft herumpfuscht. Die Keynesianer gehen dagegen gerade vom
Nachfrageproblem und der Krisenanfälligkeit der Ökonomie aus. Wenn es eng wird,
soll der Staat mit Konjunkturmaßnahmen einspringen, sich zu diesem Zweck
verschulden und die Schulden dann wieder abbauen, wenn die Konjunktur endlich
anspringt. Garantiert ist bei diesem Programm aber nur die wachsende
Staatsverschuldung; ob und wann die Privatunternehmen wieder munter werden, steht
vollkommen in den Sternen, liegt jedenfalls außerhalb der Macht des Staates. Wenn
heute ehemalige Autonome wie Karl-Heinz Roth zwecks Überwindung der Euro-Krise
für »sozialökologische Investitionsprogramme« eintreten, ist das ziemlich trostlos, und
aktuell kommt natürlich dazu, dass die Aussichten keynesianischer Politik angesichts
der jetzt schon heiklen Staatsverschuldung ziemlich schlecht sind. Und wenn linke
Krisenaktivisten als Argument gegen die Sparpolitik die Massenkaufkraft ins Feld
führen – und das ist bis in postautonome Publikationen der Fall –, zeugt das auch nur
von Hilflosigkeit. Denn das spezifisch linkskeynesianische Argument, die
Massenkaufkraft sei doch wichtig für das Gedeihen der Wirtschaft, war noch nie etwas
anderes als der triste Versuch, dem Klassengegner das proletarische Lohninteresse als
ein Gebot der gesamtwirtschaftlichen Vernunft aufzuschwatzen. Der Klassengegner
weiß es aber besser, und tatsächlich ist noch keine einzige Krise in der Geschichte
durch Lohnerhöhungen und üppige Sozialausgaben überwunden worden, sondern
immer nur durch das genaue Gegenteil davon.

Diese im Grunde nicht besonders komplizierten Gedanken können dort nicht


auftauchen, wo man im Namen linker Politik an die Schalthebel des Staates will. Und
genau das will offenbar ein wachsender Teil der Leute, die sich radikale Linke nennen.
Es ist ziemlich verblüffend, wie wenig darüber gestritten wird; was vielleicht auch an
einer gewissen Bündnisseligkeit liegt, das heißt der Wunsch, gemeinsam auf die
Straße zu gehen, verdrängt offenbar die Frage, wohin die Reise eigentlich gehen soll.

Diese im Grunde nicht besonders komplizierten Gedanken können dort nicht


auftauchen, wo man im Namen linker Politik an die Schalthebel des Staates will.

Die theoretische Begleitmusik für die Hinwendung zum Staat wurde maßgeblich von
einem Mann namens Nicos Poulantzas komponiert. Auch wer den Namen noch nie
gehört hat, kennt wahrscheinlich die Formel vom Staat als »materieller Verdichtung
eines Kräfteverhältnisses«, die seit einigen Jahren unentwegt angeführt wird; diese
Formel ist im Kern die Einladung an radikale Linke, ihre kleinlichen Vorurteile gegen
den Staat zu überwinden und einfach mitzumachen. Die Zeitschrift Arranca, die in
grauen Vorzeiten mal von Autonomen gegründet wurde, hat Poulantzas‘ vor ein paar
Jahren als »wichtigen Ratgeber in Strategiefragen« empfohlen; der Text ist
überschrieben We may not like it, but we have to be part of it, und hinter »it« verbirgt
sich niemand anderes als eben Staat. Der Befund lautet, dass sich Kämpfe sowieso
immer schon auf dem Terrain des Staats abspielen, es also ein Außerhalb nicht gibt;
was aber keine schlechte Nachricht sein soll, denn was der Staat ist, hängt letztlich
eben von den »Kräfteverhältnissen« ab, die man nur ausreichend verschieben muss,
d.h. die Eigenlogik des Staates verflüchtigt sich in dieser Perspektive tendenziell und
am Horizont zeichnet sich ein allmählicher Übergang zum Sozialismus auch auf
parlamentarischem Wege ab. Poulantzas‘ hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er
eine antiparlamentarische, antiinstitutionelle Strategie als linksradikales
Abenteurertum ablehnt; den Anspruch autonomer Bewegungen, den Staat von außen
anzugreifen und durch Räte zu ersetzen, hielt er für illusorisch und gefährlich.

In gewissem Sinne ist die vielzitierte Formel vom Staat als »materieller Verdichtung
eines Kräfteverhältnisses« natürlich nicht falsch. Marx und Engels nannten den Staat
1848 im Kommunistischen Manifest einen »Ausschuss, der die gemeinschaftlichen
Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet« (MEW 4, 464). Diese
Charakterisierung ist heute selbstverständlich unzureichend, weil sich seitdem die
Kämpfe der Lohnabhängigen im Staat niedergeschlagen haben, angefangen beim
Wahlrecht bis hin zu sozialstaatlichen Abmilderungen der proletarischen Existenz. Die
Arbeiterbewegung hat sich in den Staat hineingekämpft, wodurch sich beide, die
Arbeiterbewegung wie der Staat, verändert haben. Die Frage ist schlichtweg, welche
Grenzen dem gesetzt sind beziehungsweise wodurch das Kräfteverhältnis seinerseits
bestimmt wird. Dass z.B. die westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg
unabhängig von der jeweiligen Regierung sozialdemokratische Züge hatten, war der
relativ starken Position der Arbeiter im Nachkriegsboom geschuldet, als weitgehend
Vollbeschäftigung herrschte. Das war keine Frage von Diskursen, Hegemonie oder
Deutungsmacht, sondern schlichtweg von Wachstumsraten, die mit gewissen
Verteilungsspielräumen einhergingen; umgekehrt sind die aktuellen Angriffe auf die
Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in größten Teilen Europas nicht Ausdruck
einer neoliberalen Hegemonie, sondern angesichts der Krise ziemlich alternativlos. In
dieser Situation mündet die Rede vom Staat als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses
schnell in Illusionen; der Staat und die Produktionsweise, aus der er hervorgeht und
die er organisiert, erscheinen dann wie eine Art Knetmasse, die durch Kämpfe beliebig
geformt werden kann, durchaus geeignet für eine »sozialökologische Transformation«
oder ähnliches. Marx ging es in seiner Kapitalkritik gerade darum, den
Zwangscharakter der herrschenden Produktionsweise aufzuzeigen, dass sie also nach
bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert; diese Gesetze kann man natürlich
abschaffen, indem man die Produktionsweise abschafft, aber man kann sie nicht auf
deren Boden beliebig außer Kraft setzen. Und logischerweise kann die Abschaffung
dieser Produktionsweise nicht Sache von Regierungen sein, die ja selbst auf Gedeih
und Verderb von einer funktionierenden Ökonomie abhängen.

Thomas Seibert, ein Wortführer des außerparlamentarischen


Bündnisses Interventionistische Linke und zugleich Vorstandsmitglied des Instituts
solidarische Moderne, dessen offizieller Auftrag darin besteht, eine rot-rot-grüne
Bundesregierung vorzubereiten, beschreibt diese Perspektive als »Kreuzung von
außerparlamentarischer Selbstermächtigung in weiter Perspektive und linker
Realpolitik in kürzerer Frist«. Seibert erklärt dazu: »Historisch ist so etwas nie lange
gut gegangen. Grund genug, das diesmal anders anzugehen: Sich realpolitisch auf
wenige, dafür richtungsweisende Dinge beschränken, und dazu außerparlamentarisch
auf konfliktive Gegenmacht setzen - auch und gerade zur linken Realpolitik.« Das ist
gemeint mit der Formel vom »Doppel einer regierenden und einer kämpfenden
Linken«. Charakteristisch für diese Perspektive ist also, dass sie sich nicht in linker
Realpolitik erschöpfen will und sogar noch ein vages Bewusstsein davon hat, dass die
außerparlamentarische Selbstermächtigung früher oder später mit dem Staat
aneinander gerät; dass sie andererseits aber trotzdem die Regierungsmacht als
entscheidenden Hebel für eine sogenannte Transformation betrachtet. Was als gewitzte
Doppelstrategie verkauft wird, ist nüchtern betrachtet nur eine große Konfusion.

Der Aufstieg von Syriza, genau wie der von Podemos in Spanien, war nicht
Ausdruck einer Bewegung, sondern Ausdruck ihres Niedergangs.

Seit Anfang dieses Jahres sind solche Überlegungen keine reinen Gedankenspiele
mehr. Mit Syriza gibt es in Griechenland nun eine Linksregierung und man kann sich
anschauen, wie sie sich zu den Bewegungen in Griechenland einerseits, zur
europäischen Krisenpolitik andererseits verhält.Nachtrag: Grundsätzlich lesenswert zu
SYRIZA sind die dreiteilige Serie von Cognord im Brooklyn Rail(Februar, März und
Juli 2015, Teil 1 hier: www.brooklynrail.org/2015/03/field-notes/if-syriza-is-the-
answer-then-t…) sowie die Texte der griechischen Gruppe TPTG »On SYRIZA and
its victory in the recent general elections in Greece« und »60 days older and deeper in
debt«, unter www.tapaidiatisgalarias.org/?page_id=105. Thomas Seibert schrieb
dazu vor den Wahlen, Syriza wolle »eine Regierung des Protests sein: Sie wird nicht
anstelle der Leute auf den Plätzen sprechen, sondern sie will und wird sich auch als
Regierung von den Plätzen adoptieren lassen.« (Ein putziges Bild: Tsipras und
Varoufakis als Waisenkinder…) In Wirklichkeit gab es zu diesem Zeitpunkt aber
überhaupt keine Plätze, das heißt Platzbesetzungen mehr. Der Aufstieg von Syriza,
genau wie der von Podemos in Spanien, war nicht Ausdruck einer Bewegung, sondern
Ausdruck ihres Niedergangs. Die parlamentarische Option bekam in genau dem
Moment Auftrieb, als alle Streiks, Riots und Platzbesetzungen gegen die
Austeritätspolitik zu nichts geführt hatten. Schon deshalb war es ziemlich weit
hergeholt, den Wahlsieg von Syriza als historischen Aufbruch zu feiern. Griechische
Genossinnen haben im Gegenteil nach dem Wahlsieg berichtet, dass die vorher in den
Kämpfen stark delegitimierte Politik wieder legitimiert wurde und ein ausgeprägtes
patriotisches Bewusstsein um sich gegriffen hat; wer mal eine Rede von Tsipras
gelesen hat, wird sich das gut vorstellen können. Will sagen, auch wenn wir, wie
eingangs bemerkt, nicht die Deutung teilen, dass Linksparteien irgendwelche an sich
großartigen Bewegungen zähmen, sollte man sich nüchtern anschauen, welche
Bewusstseinsformen solche Parteien an der Macht fördern und wohl vermutlich
fördern müssen. Was sie brauchen, sind gute Staatsbürger, und nicht das, was Seibert
doppeltgemoppelt als »konfliktive Gegenmacht« bezeichnet.

Realistischerweise hat Syriza ihr Programm dann auch umso stärker


eingedampft, je wahrscheinlicher ein Wahlsieg wurde.

Was die Programmatik von Syriza und ihr Verhältnis zur europäischen Krise angeht,
ist die Lage etwas vertrackter. Eigentlich ist es verwunderlich, dass eine linke Partei
überhaupt darum gekämpft hat, in dieser Situation das Ruder zu übernehmen, denn ein
drohender Staatsbankrott ist die definitiv schlechteste Ausgangslage für ein soziales
Reformprogramm. Realistischerweise hat Syriza ihr Programm dann auch umso
stärker eingedampft, je wahrscheinlicher ein Wahlsieg wurde. Letztlich bestand es vor
allem darin, wenigstens keine weitere Kürzungen bei Löhnen, Staatsjobs und Renten
vorzunehmen, hier und da auch ein paar der vorherigen Sparmaßnahmen wieder
zurückzunehmen, aber nur ein paar. Im Kern ging es darum, weiterhin Kredite von der
sogenannten Troika aus IWF, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission zu
bekommen, ohne an die bisherigen Auflagen zum Sparen und Privatisieren gebunden
zu sein.

Syriza ist mit diesem Anliegen in den dramatischen Verhandlungen im letzten


Sommer bekanntlich auf ganzer Linie gescheitert und hat danach eine Kehrtwende
gemacht, das heißt Tsipras und Co. setzen nun genau die Politik fort, die sie
ursprünglich beenden wollten. Dass der Machtpoker zwischen griechischer Regierung
und Troika so ausgehen würde, war nicht überraschend, aus dem einfachen Grund,
dass die griechische Regierung keinen Machthebel in den Verhandlungen hatte; die
Drohung mit dem Grexit war unrealistisch, weil alle wussten, dass die große Mehrheit
der Griechen wie auch von Syriza notfalls um jeden Preis im Euro bleiben wollten.

Dass die Sympathien von Linken bei diesem Kräftemessen auf der Seite von Syriza
lagen und namentlich die deutsche Regierung zu einer Hassfigur wurde, ist
verständlich. Jeder Teilerfolg von Syriza hätte schließlich bedeutet, dass der
griechischen Bevölkerung bestimmte Einschnitte erstmal erspart bleiben würden. Das
würden wir nie bestreiten. Aber diese simple Feststellung ist etwas völlig anderes, als
den Wahlsieg solcher Linksparteien zu einem historischen Ereignis zu erklären, durch
den ein sogenannter Politikwechsel eingeläutet wird oder zumindest hätte werden
können, wäre die harte Linie insbesondere der deutschen Regierung im großen
Schuldenstreit auf mehr Widerstand gestoßen. Die immensen Hoffnungen, die Linke
Anfang des Jahres in Syriza gesetzt haben, sind jetzt natürlich erstmal perdu, wobei
ihnen als Grund für das Debakel eben die Härte der Troika gilt, ein kleinerer Teil, der
als der linkere gilt, wirft Syriza vor, die Möglichkeit eines Grexit nicht offensiv genug
genutzt zu haben. Die grundsätzliche Möglichkeit eines Politikwechsels, einer ganz
anderen Krisenlösung, wird weiter unterstellt, auch wenn diesmal noch nichts daraus
geworden ist.

Die Staatsverschuldung ist heute deutlich höher als bei Beginn der Troika-
Programme, Wirtschaftswachstum nicht in Sicht.

Dass die drastischen Sparauflagen für Griechenland alternativlos wären, würden wir
nicht behaupten. Interessant ist vielmehr, dass die in Europa herrschende
Austeritätspolitik schon seit geraumer Zeit nicht nur von Linken und Keynesianern
kritisiert wird, sondern selbst von Marktliberalen. Ein Beispiel dafür wäre die britische
Zeitschrift Economist, die diese Politik schon seit Jahren als überzogen bezeichnet.
Auch stramm marktwirtschaftlich eingestellten Beobachtern kann schließlich nicht
entgehen, dass die selbsterklärten Ziele dieser Politik in Griechenland weit verfehlt
wurden. Die Staatsverschuldung ist heute deutlich höher als bei Beginn der Troika-
Programme, Wirtschaftswachstum nicht in Sicht. Deshalb bekommen sogar Liberale
allmählich kalte Füße und trauen den vielbeschworenen Zauberkräften des Marktes
selbst nicht mehr so Recht; das heißt sie ahnen, dass die griechische Wirtschaft völlig
kollabieren könnte, wenn die Gläubigerstaaten nicht Geld abschreiben und ihr dadurch
zumindest eine Atempause verschaffen. Dass Griechenland seine Schulden niemals
wird zurückzahlen können, ist dabei ohnehin klar. An diesem einen Punkt haben Linke
also Recht, wenn sie meinen, innerhalb der gegebenen Verhältnisse gäbe es eine
Alternative zur jetzigen Politik. Aber darüber hinaus?

Grundsätzlich liegt in der Frage der Austerität ein Dilemma für das staatliche
Krisenmanagement. Kürzungen der Staatsausgaben wirken natürlich erstmal
krisenverschärfend, gerade in einem Land wie Griechenland, wo der öffentliche Sektor
größeres Gewicht hat. Die keynesianische Alternative, dass der Staat sich ordentlich
verschuldet und z.B. in die Infrastruktur investiert, ist aber wie erwähnt gerade in der
jetzigen Situation auch keine Lösung. Oder am Punkt der Löhne verdeutlicht: Dass
Lohnsenkungen zwangsläufig die Konjunktur wieder ankurbeln, ist Ideologie, denn
möglicherweise besteht auch an einer billigeren Arbeitskraft schlicht kein Interesse.
Dass umgekehrt Lohnerhöhungen die Konjunktur wieder ankurbeln, ist aber natürlich
erst Recht Ideologie, denn das keynesianische Nachfrageargument geht, wie oben
gezeigt, in die Irre. Natürlich braucht das Kapital Nachfrage, aber wenn es diese
Nachfrage quasi selber bezahlen muss, kann es seine Waren auch gleich
verschenken.Nachtrag: Auch auf dem Umweg von Staatsausgaben bietet die
»Stärkung der Massenkaufkraft« keinen Ausweg aus der Krise. Finanziert werden
kann sie nur durch Staatsschulden – für die es aber Grenzen gibt, denn für die
Gläubiger muss es immer plausibel sein, dass sie am Ende der Krise auch wieder
zurückgezahlt werden, und dieses Ende ist nicht in Sicht – oder durch höhere Steuern.
Besteuert man aber das Kapital, um ihm zu mehr Nachfrage zu verhelfen, dann nimmt
man letztlich nur mit der linken Hand, was man mit der rechten gibt.

Grob vereinfacht ist das der auf Dauer ziemlich langweilige Streit zwischen
Neoliberalen und Keynesianern, ein Streit, der sich durch und durch auf dem Boden
der gegebenen Verhältnisse bewegt und allein um die Frage dreht, wie man den Laden
wieder flott machen kann, das heißt ein Streit um Mittel und nicht um Zwecke. Die
einen warnen vor ausufernder Staatsverschuldung und Inflation, die anderen, dass
Sparen inmitten der Rezession ins Verderben führt.

Wer auf Linksregierungen hofft oder ganz allgemein von der Möglichkeit einer
sozialen Krisenlösung spricht, bezieht Position für die eine Seite in diesem faden
Streit. Die tatsächliche Politik bewegt sich pragmatisch zwischen diesen
idealtypischen Positionen. Der IWF hat sich teilweise für einen Schuldenerlass für
Griechenland ausgesprochen, die Troika ist dafür, dass die griechischen Reichen mehr
Steuern zahlen, Varoufakis wollte bestimmte Märkte liberalisieren usw.usf. Und alle
zusammen hoffen beinahe wie auf ein Wunder, dass das Kapital in Griechenland
investiert und die Wirtschaft wieder wächst. Mit Johannes Agnoli gesprochen: Der
Staat ist der »Staat des Kapitals«, egal, wer auf den Regierungssesseln sitzt. Und in
Gestalt von Syriza sind die, die dort zurzeit sitzen, weit entfernt von irgendwelchen
Transformationsprogrammen; das alles sind bloß Wunschprojektionen linker
Beobachter. Was Syriza tut, könnte man frei nach John Holloway eher mit der Formel
fassen: Die Macht übernehmen, ohne die Welt zu verändern.

Jeder Erfolg der Arbeiter vertieft die Krise - Einen schöneren Kontrast zum
linken Luftschloss einer sozialverträglichen Krisenlösung kann man sich kaum
vorstellen.

Dass sich die Lohnabhängigen gegen das wehren müssen, was man Austeritätspolitik
nennt, ist völlig klar. Die Feststellung, dass jede Krise des Kapitals nur auf ihre Kosten
überwunden werden kann, ist ja nicht als Defätismus gemeint. Aber die Frage ist, in
welchem Bewusstsein, mit welchem weitergehenden Ziel man sich wehrt. Damit bin
ich wieder am Ausgangspunkt meines Beitrags angelangt. Die sogenannten Wobblies
– die revolutionären Syndikalisten der »Industrial Workers of the World« – haben in
der Großen Depression der 1930er Jahre den simplen, klaren Satz geschrieben: »Jeder
Erfolg der Arbeiter vertieft die Krise.« Die Wobblies wollten das als Ermunterung zu
militanten Streiks verstanden wissen, die durch eine solche Vertiefung der Krise
revolutionäre Bedeutung gewinnen sollten. Einen schöneren Kontrast zum linken
Luftschloss einer sozialverträglichen Krisenlösung kann man sich kaum vorstellen.
Die Wobblies konnten allerdings nur deshalb auf die Vertiefung der Krise setzen, weil
sie eine ziemlich konkrete Vorstellung von der Revolution und der klassenlosen
Gesellschaft hatten. Das ist heute anders, und deshalb stehen alle im Wald, nicht nur
die Freundinnen und Freunde von Syriza, sondern auch ihre linksradikalen Kritiker.

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft

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