Sie sind auf Seite 1von 5

Die Kindheit des M enschen

Von A dolf Portmann

Der Beginn unseres Kongresses darf wohl auch eine Stunde der Besin-
nung sein. So mochte ich denn mit Ihnen die Frage erórtern, was die bio-
logische Arbeit der jíingsten Zeit ais Beitrag zu einem werdenden Men-
schenbild und insbesondere zu einer Interpretation der Kindheit bieten
kann. Ist dodi in den letzten zwei Jahrzehnten vieles in Gang gekom-
men, das die Schwelle der Handbiicher und Lehrwerke noch nicht tiber-
schritten hat.
Unsere Um sdiau mufi in der palaontologischen Forschung einsetzen.
Sie fragen vielleicht, w as uns wohl die Kenntnis der Fossilien uber die
menschliche Kindheit aussagen kann. Ich mochte schon jetzt betonen,
da£ dies sehr viel ist. Noch vor drei Jahrzehnten und bis in die jiingste
Zeit hinein war die Ansicht unter den Fachgelehrten verbreitet, daJ3 sich
die Stammesgeschichte der Hominiden erst spat im Tertiár von der Men-
schenaffenlinie gesondert habe. Wesen vom Typus der Menschenaffen
erschienen vielen ais unsere eigentlichen Vorláufer. In der jíingsten Zeit
aber haben neue Funde das Bild von Grand auf gewandelt. Es ist die
bereits von Darwin 1871 ausgesprochene Ansicht wieder bekráftigt wor-
den, daů die menschlichen Entwicklungslinien einen sehr langen Eigen-
weg durchlaufen haben. Die Trennung der Pongiden von den hominiden
Primaten wird heute zum mindesten um etwa 30 Millionen Jahre in das
Oligozán zuriickverlegt. Fiihrende Palaontologen suchen tiefer in der
Vergangenheit, in der Periode des Eozán und Paláozan, so daB also etwa
50—60 Millionen Jahre menschlichen Eigenweges anzusetzen wáren.
Diese A uffassung, die sich zur Zeit immer mehr durchsetzt, fiihrt zu
einer neuen Einschátzung der Stellung unserer Mensdienaffen zum Men­
schen. Die gemeinsamen Vorfahren liegen weit zurůdk in der Erdver-
gangenheit. W as uns die Menschenaffen heute vor Augen stellen, darf
also nicht ais unmittelbares Vorfahren-Stadium taxiert werden, nicht
ais „prahom inid“, sondern ais eine Parallelentwicklung, ais „parahomi-
nid". Wie bedeutsam auch in allen Fallen die Kindheit der Anthropoiden
fur uns ais Information ist, so m ůssen wir sie doch jetzt im Lichte der
neuen Information lesen lernen, und unsere eigene Kindheit wird bei
dieser Gelegenheit wieder aufs neue ratselvoll.
Die D iskussion um dieses Problém ist aber erst in jiingster Zeit sinn-
voll geworden. Erst 1915 stellen wir die erste Schimpansengeburt in
Gefangenschaft fest, erst seit 1956 gelingt die Aufzucht des Gorillas im
Tiergarten. Seit 1960 mehren sich ausfůhrliche Analysen des Verhaltens
dieser GroBaffen im Freiland: E rst seit diesen Arbeiten w issen wir um
die lange Kindheit von etwa 3 Jahren, um Juvenilzeiten von 3—4Vs Jahren
und um Subadultperioden von 3—4 Jahren, Die neuen Einsichten bezeu-
gen eine sehr lange, fur die Úbernahm e von Gruppentraditionen geeig-
nete Kindheitsperiode und Juvenilzeit, und es ist daher um so auffalli-
ger, daB sich die entsprechende menschliche Entwicklung sehr friih iu
anderen Bahněn vollzieht.
Die Evolution unserer Kindheit ist ein wesentlicher Teil des groBen
R atsels der Hominisation. Ich habe deshalb schon seit langer Zeit eine
eingehendere vergleichende A nalyse der Ontogenese hoherer Sáuger
durchgefuhrt, um eine M odellvorstellung zu gewinnen, wie die Kindheit
eines echten Sáugetiers von menschlicher Korper- und HirngroBe be-
schaffen sein miiBte. D ieses M odell zeigt uns einen Geburtszustand, der
ais weit entwickelter Nestfliichter bezeichnet werden muB. Ein solches
Menschentier w eist im Augenblick der Geburt Korperproportionen, vor
allem GliedmaBen- und Rum pfproportionen auf, die jenen des Erwach-
senen entspredxen. Das Gehirn dieses M odellsáugers miiBte sow eit ent-
wickelt sein, daB seine M asse nur noch etwa auf das Doppelte vermehrt
werden muB. Dieser Verm ehrungsfaktor variiert bei hoheren Sáuger-
gru pp en vo n l,5—2,5.
Suchen wir den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der werdende
Mensch diesem typischen G eburtszustand des hohen Sáugetiers ent-
spricht, so weisen mehrere entscheidende Tatsachen auf das Ende des
ersten Lebensjahres nadi der Geburt! Dies ist die Zeit, in der das Wachs-
tum der Beine einsetzt und annáhernd artgemáBe Proportionen erreicht
werden. Um dieselbe Zeit entwickelt sid i unsere artgemáBe aufrechte
Haltung sowie das Spredien und das einsiditige Handeln. A udi erreicht
die Gehirnentwicklung den Wert, der fur hohere Sáuger typisch ist. Der
Vermehrungsfaktor bis zum Erw adisenen ist von nun an nur nodh etwa
1,5. Ein lángst bekanntes M erkmal gewinnt in diesem Zusammenhang
eine neue Bedeutung. Seit 1903 w issen wir, daB die W uchsweise des
M ensdien bis zum Ende des ersten nachgeburtlidien Jahres fotalen
Charakter hat. Alle diese Korrelationen fiihren uns dazu, die eigentliche
fotale Periode des M ensdien bis zum Ende des ersten Jahres nach der
Geburt anzusetzen. Diese ganze Entwicklungszeit gliedert sich entspre-
chend in eine Periode des uterinen Lebens und in eine zweite Etappe, die
idi ais die Periode des „sozialen U terus11bezeichnen wiirde.
In dieser zweiten Lebensperiode tritt das entsdieidend M ensdilidie
besonders auffállig hervor. W esentlidie Reifungsvorgánge, die bei allen
hóheren Sáugern im Uterus ablaufen, sind bei uns in die Sozialphase ver-
legt. Die M itarbeit der Gruppe wird zum entscheidenden Faktor der
Ontogenese. Ihre Rolle ais Vorbild, die Bedeutung des Nadhahmens, der
Stimulation durch die Gruppe, der Freude des Gelingens beim Kind: das
alles gilt fiir die Ausformung sowohl der aufrechten Haltung wie audi
der Fáhigkeit des Sprechens und des Denkens. Das Jahr der sozialen
Uterus-Zeit stellt uns ein Komplex-Gefiige vor Augen, das aus der Rei-
fung erblicher Aulagen unter der obligatorischen Mitwirkung traditio-
neller Elemente des Gruppenlebens entsteht.
Die Evolutionstheorie hat in ihrer jungsten Phase des Neo-Darwinis-
mus resp. der „synthetischen Evolutionstheorie“ diesen besonderen
Eigenwert der menschlichen Evolution durchaus erkannt und stellt fest,
daB die Evolution durch Obernahme des Traditionsgutes die natiirlichen
Faktoren der Evolution iiberspielt hat und daB wesentliche Kennzeichen
des menschlichen Soziallebens auf die Ausschaltung der natiirlichen Se-
lektion gerichtet sind.
Die Ontogenese der Sprache mag ais Zeugnis fůr unseren Eigenweg
der A usform ung dienen. Es zweifelt niemand daran, daB Erbanlagen zur
LautauBerung und insbesondere spezifische Erbanlagen fiir das Sprechen
(im weitesten Sinne) bestehen. Man denkt weniger oft daran, daB auch
die Erbanlagen der menschlichen Sprachapparatur sich erst postembryo-
nal voli au sf ormen. Im Moment der Geburt ist in sáugetiertypischer Weise
der Luftweg vom Nahrungsweg getrennt. Der Kehldeckel beriihrt den obe-
ren Gaumenrand. D as ist die Situation, die bei allen Saugern, auch bei den
Menschenaffen bestehen bleibt, so daB in diesem Falle des typischen
Saugers die Mundhohle nidht vollwertig ais ein Teil des Vokalraums
funktioniert. Anders beim Menschen: im ersten Jahr nach der Geburt
beginnt ein eigentlicher Deszensus des Larynx, wodurdi die Epiglottis
sehr viel tiefer gerůckt wird und die Mundhohle mit ihrer besonders be-
weglichen Zunge zur Nasenhohle ais eigentlicher Vokalraum hinzutritt.
Der D eszensus des Larynx wird im zweiten Jahr intensiver. Sein defini-
tives Ende findet er aber erst gegen die Pubertát hin. Wir konnen hier
auf Einzelheiten nicht eintreten. Es muB aber doch betont werden, daB
auch die relative Homogenitat unseres Zahnbogens das Fehlen eigent­
licher Liidken sow ie die Wachstumshemmung im Bereich des Milchgebis-
ses mit an der Ausformung des Stimmapparats beteiligt sin .
A usreifung der somatischen Apparatur der kiinftigen Spra e, Aus
reifung der zentralen Nervenorgane und Entwicklung des G eh irn s zur
Bewaltigung der Obernahme des ganzen Traditionsgutes all das ist
eine groBe E in h e it unseres E n tw icklun gsgesch ehens und setzt auch die
gleichzeitige Ausform ung des einsichtigen H andelns voraus. Im Zusam-
menhang rait der t)bernahme des gewaltigen Traditionsgutes einer
Gruppe muB auch die Gliederung unserer Kindheit und Jugend gesehen
werden, die im korperlichen wie im geistigen ein Kennzeichen der huma-
nen Lebensform ist. A u f d as raschwuchsige Erstjahr nach der Geburt
folgt die jahrelange auffállige Verlangsam ung des W achstums; sie steht
in stárkem Gegensatz zur Gleichformigkeit der W uchsvorgánge bei den
Menschenaffen. SchlieBlich kommt es zur dritten Eigenart unserer Post-
embryonalzeit, zum PubertátsschuB, der zugleich mit einer Umstimmung
der geistigen Dominanten verbunden ist. W áhrend die Kindheitsperiode
von der Imagination beberrscht wird — immer im Einklang mit der Ent-
faltung auch der rationalen Fáhigkeiten — so beginnt diese rationale
Komponente in der dritten groBen Periode unserer Jugend eine beson-
ders intensive Entwicklung.
Wohl kann die Verhaltensforschung bei A ffen und Menschenaffen
eine durch die Sozialform bedingte Gliederung in Kindheit, Juvenil- und
Subadultperioden durchfuhren, doch ist diese Trennung nicht durch Ver-
anderungen der W uchsweise mitbestimmt, wie sie unseren eigenen Ent-
wicklungsgang kennzeichnen.
Wer die unauflosbare Einheit des Zusam m enwirkens von Erbfaktoren
und Kulturgut der Gruppe am W erk sehen will, der m ag sich einen Au-
genblick dem Phánomen der Akzeleration zuwenden, d as unseren Erzie-
hern und Árzten, allen anthropologisch Interessierten iiberhaupt so un-
durchsichtig erscheint. E s ist bezeichnend, daB die Versuche der Erkla-
rung von rein genetisdien H ypothesen bis zu rein s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e n
Theorien, von physiologischen Reizwirkungen bis zu seelisch-geistigen
Beeinflussungen alle Kom binationen durdilaufen haben. So schienen
vielen Forschern vor allem Erbfaktoren verantwortlich. E s wurde auf
das Phánomen der Heterosis, d. h. des Hypertrophierens der Wuchsform
bei Mischung von relativ stark differenzierendem artgemaBem Erbgut
hingewiesen. Man hat in dieser Richtung die Ausw irkung der steigenden
Zahl von Fernehen geltend gem adit. M an ist aber auch von Ernáhrungs-
theorien ausgegangen. Die Steigerung des EiweiBkonsums, die ver-
mehrte Rolle der Vitamine, die neue Beziehung zu Licht und Sonne wur-
den betont. Doch auch die Psychologie der Tem peramente ist mobilisiert
worden. Man hat das Phánomen der Landflucht vor allem einem labile-
ren Charaktertypus zugeordnet, der in gróBerer Zahl das GroBstadt-
mi ieu aufgesucht hat. SchlieBlich ist die steigende Reizflut der modernen
Lebenstedmik ais wirkender Faktor betont worden. Ich habe selber den
Versuch unternommen, eine Selektion der Reizarten zu betonen und da-
bei vor allem auch auf die Moglidikeit neurosekretorischer Lenkung be-
stimmter Reizarten im Gehirn hinzuweisen. Ziehen wir ein vorláufiges
Fazit aus allen diesen Theorien, so tritt in erster Linie hervor das stete
Ineinanderwirken von Erbfaktoren der vitalen Spharen unserer Sauger-
organisation mit der besonderen geistigen Beziehung zuř Welt, insbe-
sondere auch zur Sozialwelt. Diese Dominanz der Kultur uber die Natur-
phánomene ist nicht umsonst, wie wir schon erwahnt haben, auch von
den G enetikem ais das zentrale Faktum der Hominisation erkannt
worden.
Das zentrale Problém der Menschwerdung liegt nach wie vor in der
Entstehung einer ganz besonderen Weltbeziehung, deren Eigenart wir
mit dem Begriff des „Geistigen" zu kennzeichien versuchen. Die biolo-
gische Arbeit kann zuř Zeit diesem Ursprungsproblem vor allem seine
raum-zeitlidie Stelle anweisen. Sie zeigt Etappen des Weges und mufl
diesen Eigenweg auf Millionen Jahre ausdehnen. Sie zeigt ferner, und
das scheint mir ihre wichtigste Aufgabe, die klar erkennbaren Merkmale
in diesem Geschehen, die ais humane Besonderheit beurteilt werden
diirfen.
So arbeitet der Biologe an einer Lehre vom Menschen, welche die
durch Beobachtung und w issen sch aftlich eM eth o dik nachweisbaren griin-
denden Eigenschaften der Menschwerdung aufzeigt. Idh mochte das Er-
gebnis dieser Bestrebungen ais eine grxindende, eine basale Anthropolo-
gie bezeichnen. Streng von dieser zu sondern sind die Versuche, unsere
menschliche A ufgabe ganz zu erfiillen, indem wir diesem Leben nach
unserer Einsicht im Rahmen der jeweils historischen Gegebenheiten
einen Sinn zu geben versuchen. Sinngebung ist nie aufhorende Aufgabe
jeder Generation, seit es den Typus Homo in klarer Auspragung gibt. Es
besteht wenig Aussicht, daB die Sinngebung sich sehr rasch planetar ver-
einheitlidien konnte. Zu groB sind die Kontraste, die durch Verschieden-
heit der Anlagenmischung und des geschichtlichen S d íid c sa ls entstanden
sind. W as die W issenschaft fordern kann, ist aber zum mindesten eine
Sonderung der basalen Merkmale von den jetzt eben erwahnten Sinn-
gebungen, die ich ais terminále Anthropologie benennen mochte. Der
wissenschaftliche Geist darf den Ansprudi erheben, die basale Anthr° '
pologie im Laufe der Zeit immer klárender und dadurdi auch verbmd-
licher zu fassen, und er darf fordern, daB die notwendigen Versudie der
Sinngebung sich nicht, wie das bisher durch Jahrtausende gesdiah und
noch immer geschieht, fůr giiltiger ausgeben, ais die Ergebmsse der grun-
denden Forschung.
A n acir. d. V e r f , P rof. D r. phil., Dr. m ed. h. c. A dolf Portrnann, P rofeasor der Zoologie an der Uni-
v e r s it a t , C H 4000 Baael/Schw elz, R helnfelderstrafle 14

Das könnte Ihnen auch gefallen