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starb der älteste Sohn, so war der nächste Sohn der Erbe.
Obgleich Hauptmann Cedric also einer so vornehmen
Familie angehörte, bestand wenig Aussicht, daß er selbst
sehr reich werden würde.
Aber der jüngste hatte natürliche Gaben mitbekom
men, die den beiden älteren Brüdern versagt blieben:
schöne Gesichtszüge, eine kraftvolle, anmutige Gestalt,
ein frohes Lächeln und eine heiterliebenswürdige Stimme.
Er war tapfer und freimütig und voll großer Güte, und
alle Herzen flogen ihm zu. Ganz anders seine älteren
Brüder: beide waren weder schön, noch gut, noch klug.
Als Knaben waren sie in der Schule nicht beliebt, und auf
der Universität kümmerten sie sich wenig um ihr Studi
um, sondern verschwendeten Zeit und Geld und hatten
nur wenige Freunde. Der alte Graf erlebte an ihnen eine
Enttäuschung nach der anderen.
Es war sehr bitter für den alten Herrn, daß der dritte
Sohn, der nur ein kleines Vermögen erben würde, so be
gabt, so anziehend, so tüchtig und schön war. Manchmal
haßte er den jungen Mann beinahe, weil er all die guten
Eigenschaften besaß, die eigentlich zu dem vornehmen
Titel und den großartigen Besitzungen gehörten. Und
doch hatte er seinen Jüngsten im Grunde seines stolzen,
eigensinnigen Herzens sehr lieb. In einem seiner Wutan
fälle hatte er ihn auf Reisen nach Amerika geschickt. Er
wollte ihn einmal eine Zeitlang nicht um sich haben, da
mit er ihn nicht ständig mit seinen Brüdern vergleichen
müßte, die ihm gerade um jene Zeit durch ihr leichtsinni
ges Leben besonders viel Kummer bereiteten.
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und so kräftig und rosig aus, daß alle Leute ihn ansahen.
Wenn dann das Kindermädchen nach Hause kam, er
zählte es seiner Mutter, wie vornehme Damen ihren Wa
gen hatten anhalten lassen, um mit ihm zu sprechen, und
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Cedrics Freunde
So verwundert und erstaunt ist wohl selten ein kleiner
Junge gewesen wie Cedric in der Woche, die nun folgte.
Erstens war schon die Geschichte, die seine Mutter ihm
erzählte, äußerst merkwürdig. Er mußte sie zwei- oder
dreimal hören, bis er sie verstand. Er konnte sich gar
nicht ausdenken, was Mister Hobbs dazu sagen würde.
Es fing an mit Grafen. Sein Großvater, den er nie gesehen
hatte, war ein Graf, und sein ältester Onkel würde im
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Lauf der Zeit auch ein Graf geworden sein, wenn er nicht
durch einen Sturz vom Pferd getötet worden wäre; und
nach dessen Tode wäre sein anderer Onkel ein Graf ge
worden; der aber war in Rom plötzlich am Fieber ge
storben. Danach wäre sein eigener Vater, wenn er noch
am Leben gewesen wäre, ein Graf geworden. Weil sie
aber alle tot waren und nur Cedric noch übrigblieb, er
gab es sich, daß er nach dem Tode seines Großvaters
Graf sein würde – und vorläufig war er Lord Fauntleroy.
Er wurde ganz blaß, als er zum erstenmal davon hörte.
»Ach Herzlieb!« sagte er, »ich möchte lieber kein Graf
sein. Keiner von den andern Jungen ist ein Graf. Kann
ich nicht keiner sein?«
Aber es schien unvermeidlich. Und als sie am Abend
zusammen am offenen Fenster saßen, das auf die armse
lige Straße hinausging, sprachen sie lange darüber, er und
seine Mutter. In seiner Lieblingshaltung, beide Hände um
ein Knie geschlungen, saß Cedric auf einer Fußbank;
ganz rot und ratlos war sein Gesicht von dem anstren
genden Nachdenken. Sein Großvater wollte ihn nach
England holen, und seine Mutter hielt es für richtig, daß
er hinführe.
»Denn«, sagte sie und sah mit kummervollen Augen
zum Fenster hinaus, »ich weiß, dein Vater würde es so
haben wollen, Ceddie. Er liebte seine Heimat sehr, und es
ist mancherlei zu bedenken, was so ein kleiner Junge
noch nicht verstehen kann. Es wäre selbstsüchtig von
mir, wenn ich dich nicht reisen ließe. Wenn du erwach
sen bist, wirst du das begreifen.«
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che nicht wieder. Wenn ich nun reich wäre, würde ich
Jake ausbezahlen und Dick ein ›Meisterschild‹ kaufen –
mit einem ›Meisterschild‹ kommt man weit, sagt Dick.
Ich würde ihm einen neuen Anzug schenken und neue
Bürsten und ihn ordentlich in Schwung bringen. Er sagt,
wenn man einmal ordentlich in Schwung ist, dann geht
alles wie geschmiert.«
»Was würdest du denn für dich selber kaufen, wenn
du reich wärst?«
»Ach, eine ganze Masse Sachen!« antwortete Lord
Fauntleroy munter, »aber erst würde ich Mary Geld ge
ben für Bridget – das ist ihre Schwester, die hat zwölf
Kinder, und ihr Mann ist arbeitslos. Sie kommt immer
her und weint, und Herzlieb schenkt ihr Sachen in einem
Korb, und dann fängt sie wieder zu weinen an und sagt:
›Gott vergelt’s Ihnen, meine schöne Dame!‹
Und ich glaube, Mister Hobbs würde sich sehr über ei
ne goldene Uhr mit Kette als Andenken an mich freuen,
und über eine Meerschaumpfeife. Und dann möchte ich
eine Mannschaft zusammenbringen.«
»Eine Mannschaft!« rief Mister Havisham.
»Jawohl, eine richtige Mannschaft, wie bei einer repu
blikanischen Wahlversammlung«, erklärte Ceddie, der
ganz aufgeregt wurde. »Mit Fackeln und Uniformen und
allem, was dazugehört für alle Jungen und für mich sel
ber auch. Das möchte ich für mich haben, wenn ich reich
wäre.«
Die Tür ging auf und Frau Errol trat ein.
»Verzeihen Sie, daß ich so lange ausgeblieben bin«,
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Er ist zwar noch ein Kind, aber ich denke doch, daß man
sich schon auf ihn verlassen kann.«
Frau Errol holte Cedric wieder herein. Mister Havis
ham hörte sie miteinander reden, ehe sie ins Zimmer tra
ten.
»Es ist Rheumatismus«, sagte Cedric, »eine schreckli
che Art. Und er muß immer dran denken, daß die Miete
noch nicht bezahlt ist, und Bridget sagt, davon wird es
immer schlimmer. Pat könnte eine Stelle in einem Laden
kriegen, aber er hat keine anständigen Kleider.«
Sein kleines Gesicht war ganz bekümmert, als er her
einkam. Bridget tat ihm offenbar sehr leid.
»Herzlieb hat mir gesagt, Sie wollten etwas von mir«,
wandte er sich an Mister Havisham. »Ich war draußen
bei Bridget.«
Mister Havisham sah ihn freundlich an. Er wußte aber
nicht recht, wie er die Sache anfangen sollte. Frau Errol
hatte ganz recht – Lord Fauntleroy war wirklich noch ein
richtiges Kind.
»Der Graf Dorincourt –« begann er zögernd und blick
te dann unwillkürlich zu Frau Errol hinüber.
Plötzlich kniete die Mutter neben Ceddie nieder und
umschlang seine kleine Gestalt zärtlich mit beiden Ar
men.
»Ceddie«, sagte sie, »der Graf ist dein Großvater, der
Vater von deinem Papa. Er ist sehr, sehr gütig, und er hat
dich lieb und möchte, daß auch du ihn lieb hast, weil sei
ne Söhne, die früher seine kleinen Jungen waren, nun alle
tot sind. Er will, du sollst glücklich sein und andere
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Und dann waren sie mit einemmal auf dem Schiff mitten
im wildesten Durcheinander. Wagen kamen unten ange
fahren, und Reisende stiegen aus. Andere Reisende regten
sich fürchterlich auf, weil ihr Gepäck noch nicht da war
und vielleicht zu spät kommen würde. Riesige Koffer und
Kisten wurden hingeworfen und herumgezerrt. Matrosen
wickelten Taue ab und liefen eilig hin und her. Offiziere
erteilten Befehle. Damen und Herren, Kinder und Kin
dermädchen kamen an Bord – manche lachend und ver
gnügt, andere still und traurig; einige weinten und drück
ten das Taschentuch an die Augen. Auf Schritt und Tritt
gab es für Cedric etwas zu sehen. Er betrachtete die auf
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Cedric hielt das Taschentuch in der Hand. Es war aus
leuchtendroter Seide und mit lila Hufeisen und Pferde
köpfen geschmückt.
Taue spannten sich und knirschten, ein großer Wirr
warr entstand. Die Leute an Land riefen und schrien zu
ihren Angehörigen und Freunden herüber, und die Leute
auf dem Schiff riefen zurück.
»Lebt wohl! Lebt wohl! Auf Wiedersehen!« Alle schie
nen sie zu rufen: »Vergeßt uns nicht! Schreibt gleich! Auf
Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«
Der kleine Lord beugte sich über die Reling und wink
te mit seinem roten Taschentuch.
»Leb wohl, Dick!« rief er aus Leibeskräften. »Danke
schön! Leb wohl, Dick!«
Der große Dampfer fuhr ab, und die Leute riefen und
winkten. Cedrics Mutter zog ihren Schleier über die Au
gen, und am Ufer wimmelte alles durcheinander. Aber
Dick sah weiter nichts als das helle Kindergesicht unter
dem hellen Haar, das sonnbeglänzt im Winde flatterte,
und er hörte weiter nichts, als die warme Kinderstimme
ihr »Leb wohl, Dick!« rufen. Langsam fuhr so der kleine
Lord Fauntleroy aus seinem Geburtsland fort, dem un
bekannten Land seiner Vorfahren entgegen.
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In England
Erst auf der Reise erzählte Cedrics Mutter ihrem Jungen,
daß sie in England nicht im gleichen Hause wohnen
würde wie er. Als er es begriffen hatte, erfaßte ihn bitte
rer Kummer. Mister Havisham erkannte, wie klug der
Graf daran getan hatte, es so einzurichten, daß Cedrics
Mutter in nächster Nähe wohnen und ihn häufig sehen
sollte, denn es war nun klar, daß er sonst die Trennung
nicht ertragen hätte. Frau Errol verstand es in ihrer klu
gen und liebevollen Art, Cedric das Gefühl zu geben, daß
sie ihm ganz nahe bleiben würde. So milderte sich all
mählich seine Furcht vor einer wirklichen Trennung, und
er war nicht mehr so bedrückt wie zuerst.
»Mein Haus ist gar nicht weit vom Schloß, Ceddie«,
sagte sie, sooft die Rede darauf kam. »Es ist sogar ganz
nahe, und du kannst mich jeden Tag besuchen, und denk
nur, was du mir dann alles zu erzählen hast! Und wir
werden so froh sein! Es ist ein wunderschönes Schloß.
Dein Vater hat mir oft davon erzählt. Er hat es sehr ge
liebt. Und du wirst es auch lieben.«
»Ich würde es mehr lieben, wenn du auch dort wärst«,
sagte der kleine Lord und seufzte tief.
Es konnte nicht anders sein: der seltsame Zustand, daß
sein »Herzlieb« in dem einen Haus wohnen sollte und er
in einem andern, blieb ihm ein Rätsel.
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Verwandter ist und noch dazu alles tut – ja, dann hat
man ihn eben sehr lieb.«
Kaum hatten sich die Seekranken erholt, kaum lagen
sie auf Deck in ihren Liegestühlen, so schienen auch
schon alle die romantische Geschichte des Jungen zu
kennen, und alle interessierten sich für den kleinen Lord,
der sich munter auf dem Schiff herumtrieb, mit seiner
Mutter oder dem langen, dürren, alten Rechtsanwalt
umherspazierte oder mit den Matrosen plauderte. Alle
hatten ihn gern. Überall schloß er Freundschaft – dazu
war er stets bereit. Wenn die Herren an Bord auf und ab
gingen und er mit ihnen gehen durfte, beantwortete er al
le ihre Scherze mit freimütiger Heiterkeit. Wenn die Da
men mit ihm sprachen, gab es immer Gelächter in der
Gruppe, deren Mittelpunkt er war. Wenn er mit den
Kindern spielte, ging es immer besonders ausgelassen und
fröhlich zu.
Seine besten Freunde aber hatte er unter den Matrosen.
Er bekam wunderbare Geschichten zu hören von Seeräu
bern und Schiffbrüchen und einsamen Inseln. Er lernte
Taue spleißen und ein Spielzeugschiff auftakeln und
wußte Bescheid mit »Topsegeln« und »Großsegeln«, daß
es nur so eine Art hatte. Seine Redeweise bekam manch
mal einen ganz seemännischen Anstrich. Einmal rief er
lautes Gelächter in einer Gruppe von Damen und Herren
hervor, die, in Tücher und Mäntel gehüllt, an Deck sa
ßen, als er mit harmlosem Lächeln sagte: »Da fahr’ mir
doch gleich der Klabautermann in die Planken, heut’ ist’s
aber frisch!«
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verkaufte. Ich gebe ihn her, einzig und allein, weil ich ihn
so lieb habe, daß ich nicht an mich denken will, und weil
sein Vater es so gewünscht hätte.«
Mister Havisham rieb sich das Kinn.
»Seltsam«, sagte er. »Er wird sehr böse sein. Er wird es
nicht verstehen.«
»Er wird es schon verstehen, wenn er darüber nach
denkt«, erwiderte sie. »Ich habe das Geld nicht wirklich
nötig. Warum sollte ich da eine Rente annehmen von ei
nem Mann, der mich so sehr haßt, daß er mir meinen
Buben nimmt – das Kind seines Sohnes?«
Mister Havisham schien eine Weile nachzudenken.
»Ich werde Ihre Botschaft ausrichten«, sagte er schließ
lich.
Dann wurde das Essen hereingebracht, und sie setzten
sich alle zu Tisch. Die weiße Katze bekam einen Stuhl ne
ben Cedric und schnurrte während der ganzen Mahlzeit.
Später am Abend machte Mister Havisham im Schloß
seine Aufwartung und wurde sofort zum Grafen geführt.
Dieser saß in einem großen Lehnstuhl am Feuer, das
kranke Bein auf einem Gichtschemel. Unter seinen bu
schigen Augenbrauen hervor blickte er dem Anwalt
scharf ins Gesicht, aber Mister Havisham bemerkte sehr
wohl, daß er trotz der gespielten Gleichgültigkeit ge
spannt und erregt war.
»Nun«, sagte er, »wieder zurück, Havisham? Was
gibt’s Neues?«
»Lord Fauntleroy und seine Mutter sind im ›Ulmenhof‹
angekommen«, erwiderte Mister Havisham. »Sie haben
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Trinken Sie ein Glas Wein, und machen Sie sich’s be
quem. Was sonst?«
»Seine Lordschaft bleibt heute nacht bei seiner Mutter.
Morgen werde ich ihn ins Schloß bringen.«
Der Arm des Grafen ruhte auf der Seitenlehne seines
Stuhles; er hob die Hand und legte sie über die Augen.
»Nun, so reden Sie doch weiter«, sagte er. »Sie wissen
ja, ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten mir nichts weiter in
der Sache schreiben. Ich weiß also gar nichts. Wie ist
denn der Bengel? Die Mutter interessiert mich nicht; aber
wie ist der Junge?«
Mister Havisham trank einen Schluck von dem Port
wein, den er sich eingeschenkt hatte, und behielt das Glas
in der Hand.
»Es ist nicht leicht, den Charakter eines siebenjährigen
Kindes zu beurteilen«, äußerte er sich vorsichtig.
»Ein Dummkopf, was?« rief der Graf. »Oder ein Töl
pel? Sein amerikanisches Blut schlägt durch, was?«
»Ich glaube nicht, daß es ihm Schaden angetan hat,
Mylord«, erwiderte der Rechtsanwalt in seiner trocke
nen, bedächtigen Art. »Ich verstehe mich nicht auf Kin
der, aber mir schien er ein wohlgeratener, kleiner Bur
sche.«
Seine Sprechweise war immer bedächtig und zurück
haltend, aber jetzt übertrieb er noch ein wenig in dieser
Hinsicht. Er war nämlich zu dem Schluß gekommen, daß
es besser sei, den Grafen selbst urteilen zu lassen und ihn
auf die erste Begegnung mit seinem Enkel nicht weiter
vorzubereiten.
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vor der Nase. Da sie nun die Mutter des Jungen ist, hat
sie standesgemäß aufzutreten, und damit Punktum. Sie
wird das Geld erhalten, ob sie will oder nicht.«
»Sie wird es nicht ausgeben«, sagte Mister Havisham.
»Ist mir ganz egal, ob sie’s ausgibt oder nicht!« don
nerte Mylord. »Sie wird’s eben kriegen. Sie soll mir nicht
bei den Leuten herumlaufen und erzählen, sie müsse wie
eine Bettlerin leben, weil ich nichts für sie täte! Sie will
dem Jungen eine schlechte Meinung von mir beibringen,
das ist es! Wahrscheinlich hat sie ihn schon jetzt gegen
mich aufgehetzt.«
»Nein«, sagte Mister Havisham. »Ich habe Ihnen noch
eine andere Botschaft auszurichten, die Ihnen beweisen
wird, daß sie das nicht getan hat.«
»Ich will es nicht hören!« keuchte der Graf, ganz außer
Atem vor Zorn, Aufregung und Gicht.
Aber Mister Havisham richtete seine Botschaft den
noch aus.
»Sie läßt Sie bitten, gegenüber Lord Fauntleroy nicht
zu äußern, daß Sie ihn von ihr getrennt haben, weil Sie
sie hassen. Er hat sie sehr lieb, und ihrer Meinung nach
würde das eine Schranke zwischen Ihnen und ihm auf
richten. Sie sagt, er würde es nicht verstehen. Es würde
dahin führen, daß er vielleicht Angst vor Ihnen bekäme
oder jedenfalls weniger Zuneigung für Sie empfände. Sie
hat ihm nur gesagt, er sei noch zu jung, um die Gründe
zu verstehen. Er würde sie erfahren, wenn er älter sei. Sie
will, daß Ihre erste Begegnung mit dem Kind ungetrübt
verläuft.«
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Im Schloß
Es war spät am Nachmittag, als der Wagen mit dem
kleinen Lord und Mister Havisham die lange Allee hin
auffuhr, die zum Schloß führte. Der Graf hatte bestimmt,
daß sein Enkel allein in die Bibliothek geschickt werden
sollte, wo er ihn zu empfangen gedachte. Während der
Wagen durch die Allee rollte, saß Lord Fauntleroy be
quem in die weichen Kissen zurückgelehnt und beobach
tete alles mit großer Aufmerksamkeit. Alles, was er sah,
fesselte ihn: der Wagen mit den prachtvollen großen
Pferden und ihrem blitzenden Geschirr, der hochgewach
sene Kutscher und der lange Lakai in ihren funkelnden
Livreen, und besonders das Wappen mit der Krone auf
dem Wagenschlag. Er hatte gleich mit dem Lakaien ein
Gespräch angeknüpft und ihn gefragt, was alles bedeute.
Als der Wagen das große Parktor erreichte, lehnte er
sich weit aus dem Fenster, um die riesigen, steinernen Lö
wen zu betrachten, die den Eingang schmückten. Das Tor
wurde von einer mütterlichen, rotwangigen Frau geöffnet,
die aus einem hübschen, efeubewachsenen Häuschen her
austrat. Zwei Kinder kamen aus der Haustür gelaufen und
starrten mit runden, weitaufgerissenen Augen auf den
kleinen Jungen im Wagen, der sie ebenfalls ansah. Die
Mutter knickste und lächelte, und auf einen Wink von ihr
machten auch die beiden Kinder kleine Verbeugungen.
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»Die Frau gefällt mir«, sagte er. »Sie sieht aus, als ob
sie Jungen gern hätte. Ich würde gern herkommen und
mit ihren Kindern spielen. Ob sie wohl so viele hat, daß
wir eine Mannschaft bilden können?«
Mister Havisham sagte ihm nicht, daß man ihm
schwerlich erlauben würde, sich seine Spielgefährten un
ter den Pförtnerkindern zu suchen. Er dachte, es habe ja
noch Zeit, bis er das erfahre.
Weiter rollte der Wagen zwischen herrlichen, großen
Bäumen dahin, die von beiden Seiten der Allee ihre breit
ausladenden Äste zu einem Bogengang wölbten. Solche
Bäume hatte Cedric noch nie gesehen, so riesenhaft und
majestätisch. Gleich über dem Boden kamen die Äste aus
den gewaltigen Stämmen. Er wußte ja noch nicht, daß
Schloß Dorincourt eines der prächtigsten Schlösser und
der Park einer der größten und schönsten in ganz Eng
land war und daß diese Bäume und die Allee kaum ihres
gleichen hatten. Aber eines wußte er: es war alles sehr
schön.
Eine große, seltsame Freude erfüllte ihn über all die
Schönheit ringsumher, sooft er zwischen den gewaltigen
Ästen hindurch einen Blick auf die schönen, großen Ra
senflächen des Parks und auf die anderen Bäume er
haschte, die feierlich allein oder in Gruppen standen. Ein
paarmal lachte er hell auf, wenn ein Kaninchen aus dem
Grün sprang und davonhoppelte. Einmal stieg ein Volk
Rebhühner aufschwirrend in die Luft und flog davon. Da
jubelte er laut und klatschte in die Hände vor Lust.
»Hier ist’s aber schön«, sagte er zu Mister Havisham.
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»So einen schönen Park hab’ ich noch nie gesehen. Hier
ist’s noch viel hübscher als im Zentralpark.«
Er wunderte sich sehr, wie lange sie schon unterwegs
waren.
»Wie weit ist es denn vom Tor bis zur Haustür?« frag
te er endlich.
»Fünf bis sechs Kilometer«, antwortete der Rechtsan
walt.
Jeden Augenblick sah Cedric etwas Neues, das ihn fes
selte und beglückte. Ganz begeistert war er über die
Wildtiere, die im Grase lagen oder standen und, aufge
schreckt vom Geräusch der rollenden Räder, die zierli
chen, geweihgeschmückten Köpfe furchtsam der Allee
zuwandten.
»Ist hier ein Zirkus gewesen?« rief er, »oder sind sie
immer hier? Wem gehören sie denn?«
»Sie sind immer hier«, erklärte Mister Havisham. »Sie
gehören dem Grafen, deinem Großvater.«
Bald darauf sahen sie das Schloß. Grau und schön und
stattlich stieg es vor ihnen auf. Im Licht der letzten Son
nenstrahlen funkelten die vielen Fenster. Türmchen und
Zinnen ragten auf und dicke, runde Türme; wuchernder
Efeu umrankte die Mauern. Ringsherum fielen Terrassen
ab und breiteten sich Rasenflächen und leuchtende Blu
menbeete.
»Das ist das Allerschönste, was ich je gesehen habe«,
sagte Cedric, das runde Gesicht ganz rot vor Freude. »Es
sieht aus wie das Königsschloß in meinem Märchen
buch.«
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erkannt haben. Er hat ganz die Art und das Gesicht vom
Herrn Hauptmann. Dies ist ein großer Tag, Herr Rechts
anwalt.«
Ein paar Minuten später öffnete der alte Lakai, der
Cedric begleitet hatte, die Tür zur Bibliothek und melde
te hoheitsvoll: »Lord Fauntleroy, Mylord.«
Cedric trat über die Schwelle ins Zimmer. Es war ein
großer, wunderschön eingerichteter Raum mit schweren,
geschnitzten Möbeln. Die Möbel waren so dunkel und
die Vorhänge so schwer, die Fensternischen so tief und
die Entfernung zwischen Tür und Fenster so groß, daß
der ganze Raum sehr düster wirkte, zumal die Sonne
mittlerweile untergegangen war. Zuerst dachte Cedric, es
wäre niemand im Zimmer, aber bald entdeckte er einen
großen Lehnstuhl neben dem offenen Kaminfeuer, und in
diesem Stuhl saß jemand – jemand, der sich zunächst
nicht nach ihm umdrehte.
Aber bei jemand anderem erregte er doch eine gewisse
Aufmerksamkeit. Auf dem Fußboden neben dem Stuhl
lag ein Hund, eine riesige, gelbe Dogge, fast so groß wie
ein Löwe. Dieses mächtige Tier erhob sich langsam und
majestätisch und ging schweren Schritts auf den kleinen
Jungen zu.
»Dougal«, ertönte nun eine Stimme aus dem Lehn
stuhl, »hierher!«
Aber der kleine Lord kannte Furcht ebensowenig wie
Lieblosigkeit – sein Leben lang war er mutig und tapfer
gewesen. Er legte die Hand auf das Halsband des großen
Hundes, als wäre das die natürlichste Sache der Welt,
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Er streckte ihm die Hand hin, denn das hielt er für höf
lich und richtig auch einem Grafen gegenüber. »Ich hof
fe, es geht dir gut«, fuhr er mit gewinnender Freundlich
keit fort. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.«
Der Graf reichte ihm die Hand, und ein sonderbarer
Glanz kam in seine Augen. Er war so erstaunt, daß er
kaum wußte, was er sagen sollte. Unter seinen buschigen
Brauen hervor starrte er auf die anmutige, kleine Er
scheinung und betrachtete sie vom Kopf bis zum Fuß.
»So, so, freust du dich, mich kennenzulernen?«
»Ja«, antwortete Lord Fauntleroy, »sehr!«
Ein Stuhl stand in der Nähe, und so setzte er sich. Es
war ein hochlehniger, ziemlich großer Stuhl, und seine
Füße reichten nicht bis auf den Boden, als er sich bequem
zurechtgesetzt hatte. Aber das schien ihn nicht zu stören.
Aufmerksam und doch bescheiden betrachtete er seinen
Großvater.
»Ich hab’ mich die ganze Zeit gefragt, wie du wohl
aussehen würdest«, bemerkte er. »Auf dem Schiff, wenn
ich so in meiner Koje gelegen bin, hab’ ich immer ge
dacht, ob du wohl meinem Papa ähnlich siehst.«
»Nun, und sehe ich ihm ähnlich?« fragte der Graf.
»Ach, weißt du«, erwiderte Cedric, »ich war noch sehr
klein, als er starb, und vielleicht kann ich mich nicht
mehr richtig erinnern, wie er aussah. Aber ich glaube
nicht, daß du ihm ähnlich siehst.«
»Da bist du also enttäuscht?« vermutete der Großva
ter.
»O nein!« entgegnete Cedric höflich. »Freilich habe ich
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mer, aber Cedric kam es ziemlich weit vor, bis sie den
Stuhl an der Spitze der Tafel erreichten. Die Hand auf
seiner Schulter schien bei jedem Schritt schwerer zu wer
den, und sein Gesicht wurde immer röter, immer heißer
und sein Atem immer kürzer – aber er dachte nicht dar
an, es aufzugeben. Er straffte seine Muskeln, trug den
Kopf hoch und redete dem mühsam dahinhinkenden
Grafen gut zu.
»Tut dir dein Fuß sehr weh, wenn du darauf stehst?«
fragte er. »Hast du ihn schon in heißes Senfwasser ge
steckt? Mister Hobbs hat das immer getan. Arnika soll
auch sehr gut sein.«
Der große Hund trottete langsam neben ihnen her, der
Lakai folgte. Zuweilen lächelte er verstohlen, wenn er
sah, wie Cedric alle Kraft zusammennahm. Und auch der
Graf machte eine sonderbare Miene, als er einmal von
der Seite auf das feuerrote, kleine Gesicht herabblickte.
Nun betraten sie das Zimmer, wo gespeist werden sollte.
Cedric sah einen sehr großen, prachtvollen Raum vor sich.
Ein Diener, der hinter dem Stuhl an der Spitze der Tafel
stand, starrte sie verwundert an, als sie hereinkamen.
Aber schließlich hatten sie den Stuhl erreicht. Die
Hand lag nicht mehr auf Cedrics Schulter, und der Graf
saß endlich wieder.
Cedric zog Dicks Taschentuch heraus und wischte sich
die Stirn.
»Es ist sehr warm heute abend, nicht?« sagte er. »Viel
leicht brauchst du ein Feuer, weil – wegen deinem Fuß,
aber mir kommt’s sehr warm vor.«
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»Du mußt sehr stolz sein auf dein Haus«, sagte er, »so
ein wunderschönes Haus. Nie hab’ ich so was Schönes
gesehen; aber ich bin ja erst sieben, da hab’ ich noch
nicht viel gesehen.«
»Und du denkst, ich müßte stolz darauf sein, was?«
sagte der Graf.
»Ich glaube, da wäre jeder Mensch stolz darauf,«, er
widerte Lord Fauntleroy. »Ich wäre stolz darauf, wenn es
mein Haus wäre. Alles ist so schön. Und der Park und
die Bäume, und wie die Blätter rauschen!«
Dann hielt er einen Augenblick inne und blickte nach
denklich über den Tisch.
»Es ist ein sehr großes Haus für nur zwei Menschen,
nicht?« sagte er.
»Jedenfalls groß genug für zwei«, antwortete der Graf.
»Findest du es zu groß?«
Der kleine Lord zögerte einen Augenblick.
»Ich dachte nur«, sagte er, »wenn zwei Leute drin
wohnen, die nicht gute Kameraden sind, dann könnten
sie sich vielleicht manchmal einsam fühlen.«
»Glaubst du, daß ich einen guten Kameraden abgeben
werde?« erkundigte sich der Graf.
»Ja«, erwiderte Cedric, »ich glaube schon. Mister
Hobbs und ich waren sehr gute Freunde. Er war der be
ste Freund, den ich je gehabt hab’, außer Herzlieb.«
Es zuckte in den buschigen Brauen des Grafen.
»Wer ist Herzlieb?«
»Das ist meine Mutter«, sagte Lord Fauntleroy, und
seine Stimme klang leise und traurig.
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»Das ist Ihr Schlafzimmer, und dies ist Dawson, die Sie
versorgen wird.«
Fauntleroy setzte sich im Bett auf und streckte Dawson
die Hand hin, wie er sie auch dem Grafen hingestreckt
hatte.
»Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte er. »Es ist sehr
lieb von Ihnen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie
mich versorgen wollen.«
»Sie können sie Dawson nennen, Mylord«, lächelte die
Wirtschafterin. »Sie ist dran gewöhnt, daß sie Dawson
genannt wird.«
»Fräulein Dawson oder Frau Dawson?« erkundigte
sich Seine Lordschaft.
»Einfach Dawson, Mylord«, antwortete Dawson sel
ber. Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Weder Frau noch
Fräulein, wenn’s Ihnen recht ist. Wollen Sie jetzt aufste
hen, und soll Dawson Sie anziehen, und wollen Sie dann
im Kinderzimmer frühstücken?«
»Danke, ich hab’ schon vor Jahren gelernt, mich allein
anzuziehen«, antwortete der kleine Lord. »Herzlieb hat
es mich gelehrt. Herzlieb ist meine Mutter. Wir hatten
nur Mary für die ganze Arbeit, Waschen und alles – und
da ging es natürlich nicht, daß sie noch extra Arbeit mit
mir kriegte. Ich kann auch ganz gut allein baden, wenn
Sie nur so gut sein wollen und die Ohren nachsehen,
wenn ich fertig bin.«
Dawson und die Wirtschafterin wechselten Blicke.
»Dawson wird alles tun, was Sie wünschen«, sagte
Frau Mellon.
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»Es tut mir leid«, erwiderte der Graf, »es ist ein ameri
kanisches Spiel, nicht wahr? So ähnlich wie Kricket?«
»Kricket hab’ ich nie spielen sehen«, sagte Fauntleroy.
»Aber Mister Hobbs hat mich ein paarmal zu Baseball
spielen mitgenommen. Es war so spannend und aufre
gend! Soll ich mein Spiel holen und es dir zeigen? Viel
leicht interessiert es dich, und du vergißt deinen Fuß. Tut
dir dein Fuß heute sehr weh?«
»Mehr, als mir lieb ist«, war die Antwort.
»Dann wirst du ihn vielleicht doch nicht vergessen
können«, meinte der Kleine besorgt. »Vielleicht ist es dir
nur lästig, wenn ich dir das Spiel erkläre? Oder glaubst
du, daß es dir Spaß machen könnte?«
»Geh und hol es«, sagte der Graf.
Das war zweifellos ein neuartiger Zeitvertreib: die Be
schäftigung mit einem Kind, das sich anbot, ihm Spiele
beizubringen. Aber gerade das Neuartige an der Sache
belustigte ihn. Ein verstecktes Lächeln spielte um den
Mund des Grafen, als Cedric mit der Schachtel in den
Armen zurückkam.
»Darf ich den kleinen Tisch da zu deinem Stuhl her
überschieben?« fragte er eifrig.
»Klingle nach Thomas«, sagte der Graf, »der wird es
für dich tun.«
»Ach, das kann ich selber machen«, antwortete Faunt
leroy. »Er ist nicht so schwer.«
»Wie du willst«, erwiderte sein Großvater. Das Lä
cheln vertiefte sich auf dem Gesicht des alten Mannes,
während er die Vorbereitungen beobachtete. Der Kleine
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war mit Leib und Seele bei der Sache. Das Tischchen
wurde herangeschoben, das Spiel ausgepackt und aufge
stellt.
»Es ist sehr interessant, wenn man erst angefangen
hat«, sagte Fauntleroy. »Du nimmst die schwarzen Stei
ne, ich nehme die weißen.«
Äußerst angeregt erklärte er alle Einzelheiten des Spie
les, machte die Haltungen des »Fängers« und des »Wer
fers« vor und beschrieb mit höchst gesteigerten Ausdrük
ken einen »heißen Ball«, den er eines unvergeßlichen Ta
ges hatte auffangen sehen, als Mister Hobbs ihn zu einem
Match mitgenommen hatte.
Als schließlich genug erklärt und vorgemacht worden
war und das Spiel im Ernst seinen Anfang nahm, fühlte
sich der Graf noch immer gut unterhalten. Sein junger
Gefährte war ganz bei der Sache. Sein frohes Lachen,
wenn er einen guten Wurf getan hatte, seine Begeisterung
über eine »Vollrunde«, seine unparteiische Freude über
sein eigenes Glück und das Glück seines Gegenspielers –
das alles hätte jedes Spiel anregend machen müssen!
Hätte man dem Grafen Dorincourt vor einer Woche
gesagt, daß er an diesem besonderen Tag in der Gesell
schaft eines kleinen Jungen seine Gicht und seine
schlechte Laune über einem Kinderspiel vergessen würde
– so hätte man wohl allerlei Unangenehmes von ihm zu
hören bekommen. Und doch hatte er sich selbst ganz
vergessen, als sich die Tür auftat und Thomas einen Be
such meldete.
Der Besucher, ein älterer, schwarz gekleideter Herr,
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In der Kirche
Am nächsten Sonntag hatte Pfarrer Mordaunt viele Zu
hörer. Er konnte sich kaum an einen Sonntag erinnern,
an dem die Kirche so voll gewesen war. Leute waren er
schienen, die ihm nur allzu selten die Ehre antaten, seiner
Predigt zu lauschen. Sogar aus Hazelton, dem nächsten
Kirchdorf, waren etliche gekommen. Da saßen die stäm
migen, sonnverbrannten Pächter und ihre behäbigen,
rotbackigen Frauen in ihren besten Hauben und bunte
sten Umschlagtüchern mit einem halben Dutzend Kin
dern. Die Doktorsfrau war da mit ihren vier Töchtern.
Mister Kimsey, der Apotheker, der für jedermann im
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spitzen Hände wie im Gebet gefaltet. Sie waren seltsam
und altertümlich angezogen. Auf der Platte des Pultes
stand etwas, wovon er nur die wunderlichen Worte ent
ziffern konnte:
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»Da sind wir«, keuchte Cedric, als sie hielten. »Ich bin
Galopp geritten. Nicht so gut wie der Junge in New
York, aber ich bin doch im Sattel geblieben!«
Seit dieser ersten Reitstunde waren er und Wilkins und
das Pony sehr gute Freunde. Kaum ein Tag verging, an
dem die Dorfleute sie nicht munter auf der Landstraße
oder durch die grünen Heckenwege traben sahen. Die
Dorfkinder kamen vor die Haustüren gelaufen, um das
stolze braune Pony und seinen Reiter zu sehen, der so
kerzengerade im Sattel saß. Und dann riß der junge Lord
die Mütze vom Kopf und schwenkte sie in der Luft und
rief ihnen ein lautes »Hallo! Guten Morgen!« zu – nicht
sehr gräflich, dafür aber um so herzlicher. Manchmal
hielt er an und redete mit den Kindern, und eines Tages
erzählte Wilkins, wie Fauntleroy darauf bestanden hatte,
in der Nähe der Dorfschule abzusteigen und einen lah
men Jungen, der gerade sehr müde aus der Schule kam,
auf seinem Pony nach Hause reiten zu lassen.
»Und der Donner soll mich rühren«, sagte Wilkins, als
er die Geschichte im Stall erzählte, »der Donner soll mich
rühren, wenn der sich hätte was dreinreden lassen! Ich
durfte nicht absteigen, denn auf einem großen Pferd hätte
der Junge sich vielleicht ungemütlich gefühlt, sagte er.
Und dann sagte er ›Wilkins‹, sagte er, ›der Junge da ist
lahm und ich nicht, und ich möchte auch mit ihm reden!‹
Und ich muß den Buben hinaufheben, und Mylord stapft
neben ihm her, die Hände in den Hosentaschen, die
Mütze tief im Nacken, und unterhält sich mit ihm. Und
wie wir an das Häuschen kommen, wo der Bub wohnt,
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alles herausfinden muß, wenn ich ein Graf bin. Wie hast
denn du alles über sie herausgefunden?«
Das Wissen Seiner Lordschaft um seine Pächter be
stand darin, daß er feststellte, welche ihre Pacht pünkt
lich zahlten und welche nicht, und daß er die, welche
nicht zahlten, an die Luft setzte. So war denn diese Frage
nicht ganz leicht zu beantworten. »Newick tut das für
mich«, sagte er, zerrte an seinem großen, grauen
Schnurrbart und sah dem kleinen Frager etwas unbehag
lich ins Gesicht. »Wir wollen jetzt heimreiten«, fügte er
hinzu; »und wenn du ein Graf bist, so sieh zu, daß du ein
besserer wirst als ich!«
Auf dem Nachhauseweg war er sehr still. Es kam ihm
so unglaublich vor, daß er, der nie in seinem Leben je
manden wirklich lieb gehabt hatte, nun diesen Jungen
immer lieber gewann. Zuerst war er nur stolz gewesen
auf Cedrics Schönheit und Furchtlosigkeit, doch jetzt
mischte sich in sein Gefühl etwas anderes als Stolz.
Manchmal lachte er trocken vor sich hin, wenn es ihm in
den Sinn kam, wie gern er den Jungen um sich hatte, wie
gern er seine Stimme hörte und wie er im stillen sich
ernstlich wünschte, daß sein Enkel auch ihn gern haben
und gut zu ihm reden möge.
Es war kaum acht Tage nach diesem Ritt, daß Fauntle
roy von einem Besuch bei seiner Mutter nachdenklich
und beunruhigt in die Bibliothek kam. Er setzte sich in
jenen hochlehnigen Stuhl, in dem er am Abend seiner An
kunft gesessen hatte, und blickte eine Weile ins Kamin
feuer. Der Graf beobachtete ihn schweigend, neugierig,
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dem Blick auf den Grafen. »Siehst du, wie sie sich freuen,
wenn sie dich sehen? Hoffentlich haben sie eines Tages
auch mich so gern! Es muß schön sein, wenn alle Leute
einen so gern haben.«
Und er fühlte sich stolz als Enkel eines so allgemein
verehrten und beliebten Mannes.
Als die Häuser im Bau waren, ritten der Junge und sein
Großvater oft zusammen hin, um die Fortschritte zu
beobachten. Fauntleroy nahm großen Anteil an dem Bau.
Er pflegte abzusteigen und mit den Arbeitern Bekannt
schaft zu schließen, er fragte sie über Holz- und Maurer
arbeiten aus und erzählte ihnen von Amerika. Nach zwei
oder drei derartigen Gesprächen war er in der Lage, dem
Grafen auf dem Heimritt einen Vortrag über die Ziegel
erzeugung zu halten.
»Ich lass’ mir solche Sachen immer gern erklären«,
sagte er, »denn man weiß nie, ob man sie nicht einmal
brauchen kann.«
War er fort, so sprachen die Arbeiter über ihn und
lachten über seine drolligen Aussprüche. Sie konnten ihn
gut leiden und sahen es gern, wenn er bei ihnen stand
und sich mit ihnen unterhielt, die Hände in den Taschen,
den Hut im Nacken und hellen Eifer im Gesicht. Zu
Hause erzählten sie ihren Frauen von ihm, und die Frau
en tauschten diese Geschichten wieder untereinander aus.
So kam es, daß fast alle von dem kleinen Lord redeten
oder irgendeine Geschichte von ihm wußten. Allmählich
sprach es sich herum, daß der »böse Graf« endlich etwas
gefunden hatte, was ihm nicht gleichgültig war, etwas,
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Besorgnis in Amerika
Als Cedric Mister Hobbs verlassen hatte, um nach
Schloß Dorincourt zu übersiedeln und Lord Fauntleroy
zu werden, und als der Gemischtwarenhändler Zeit hatte
zu bedenken, daß der Atlantische Ozean zwischen ihm
und dem kleinen Gefährten lag, der so manche angeneh
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auf und blickte auf die Inschrift: »Mister Hobbs von sei
nem ältesten Freund Lord Fauntleroy. Fällt auf diese Uhr
dein Blick, denke gern an mich zurück.« Und wenn er sie
eine Weile betrachtet hatte, ließ er sie wieder zuschnap
pen, seufzte und stand auf, stellte sich in die Tür – zwi
schen die Kartoffelkiste und das Apfelfaß – und blickte
auf die Straße hinaus.
Das ging so zwei bis drei Wochen, bis ihm ein neuer
Einfall kam. Da er langsam und schwerfällig war,
brauchte er immer ziemlich lange, bis er auf einen neuen
Gedanken verfiel. In der Regel mochte er neue Gedanken
nicht, er hatte die alten lieber. Jedoch nach zwei, drei
Wochen, die eher alles schlimmer statt besser gemacht
hatten, dämmerte ihm langsam und bedächtig ein neuer
Plan. Er würde Dick aufsuchen! Viele Pfeifen mußte er
rauchen, bis er zu dem Entschluß kam, aber schließlich
war es so weit: er würde Dick aufsuchen! Er wußte von
Dick – Cedric hatte ihm alles erzählt –, und er hoffte, es
könnte ihm einen gewissen Trost bereiten, mit Dick über
Cedric zu sprechen.
So kam es denn, daß eines Tages, als Dick gerade eifrig
einem Kunden die Schuhe putzte, ein kleiner, dicker
Mann mit breitem Gesicht und kahlem Kopf auf dem
Gehsteig stehenblieb und ein paar Minuten lang das
Schild des Schuhputzers anstarrte, auf dem zu lesen stand:
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fort, »wenn er mir auch nichts geschenkt hätte und ich nie
wieder das geringste von ihm zu sehen bekomme. Er war
ein Freund, den keiner vergessen kann.«
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»Er war der netteste, kleine Kerl, den ich gesehen
hab’«, sagte Dick. »Und Verstand hatte der Kleine – so
viel Verstand in dem Alter ist mir noch nicht vorgekom
men. Große Stücke hab’ ich auf ihn gehalten, große Stü
cke – wir waren auch gute Freunde – von allem Anfang
an. Ich hab’ einmal seinen Ball unter einem Bus für ihn
vorgeholt, und das hat er mir nicht vergessen.«
»Sehr schade, daß sie aus dem einen Grafen gemacht
haben. Der wäre eine Zierde für die Gemischtwaren
branche geworden – eine wahre Zierde!« Mister Hobbs
schüttelte den Kopf mit tieferem Bedauern denn je.
Es zeigte sich, daß sie einander sehr viel zu sagen hat
ten, was nicht alles auf einmal geschehen konnte. So
wurde beschlossen, daß Dick am nächsten Abend Mister
Hobbs in seinem Laden besuchen sollte. Dieser Plan ge
fiel Dick außerordentlich. Fast sein ganzes Leben lang
hatte er sich auf der Straße herumgetrieben, aber er war
nie schlecht gewesen und hatte sich im stillen immer nach
einem geordneteren Dasein gesehnt. Seit er ein selbstän
diges Geschäft besaß, verdiente er genug, daß er unter ei
nem Dach schlafen konnte statt irgendwo auf der Straße,
und er hoffte, daß er es mit der Zeit vielleicht noch wei
ter bringen würde. Da kam ihm eine Einladung zu einem
achtbaren Mann, der einen Eckladen besaß und sogar ein
Pferd und einen Gemüsewagen, wie ein höchst bedeut
sames Ereignis vor.
»Wissen Sie Bescheid mit Grafen und Schlössern?« er
kundigte sich Mister Hobbs. »Ich wüßte gern ein paar
Einzelheiten.«
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»Und dann«, rief Dick empört, »geht der Kerl hin und
heiratet sich ein Mädel! Total verrückt war er nach ihr,
sein ganzer Verstand zum Teufel! Geht hin und heirat’
sie und fangen an zu wirtschaften in zwei Hinterstuben!
Und die war eine Böse – eine richtige Wildkatze. Zerfetz
te alles, wenn sie in Wut kam – und in Wut war sie im
merfort. Und ihr Baby war geradeso – schrie und plärrte
Tag und Nacht! Und ich mußte drauf aufpassen! Und
wenn’s schrie, schmiß sie mir Sachen auf den Kopf.
Einmal feuerte sie einen Teller nach mir, der traf aber
das Baby – hat ihm das ganze Kinn zerschnitten. Der
Doktor sagte, die Narben wird es sein Leben lang mit
sich ’rumtragen; eine liebevolle Mutter! Wir hatten was
auszustehn, Ben und ich und der Kleine! Sie war wütend
auf Ben, weil er nicht mehr Geld verdiente. Und schließ
lich ist er mit einem andern Mann nach dem Westen ge
gangen, eine Rinderfarm aufmachen. Noch keine Woche
war er fort, und wie ich abends heimkomme vom Zei
tungsverkaufen, war die Wohnung verschlossen und
leer, und die Wirtin sagte mir, Minna wär’ fort. Jemand
anders sagte, sie wäre übers Meer mit einer Dame, die
auch ein Baby gehabt hätte, als Amme. Ich hab’ nie wie
der ein Wort von ihr gehört seitdem, und Ben auch
nicht. Wenn ich Ben gewesen wäre, ich hätt’ ihr keine
Träne nachgeweint – hat er wahrscheinlich auch nicht.
Aber zuerst hat er viel auf sie gehalten. Ich sag’s Ihnen ja
– verrückt war er nach ihr. Sie war ein sauberes Mädel,
wenn sie ’rausgeputzt war und nicht in Wut. Große,
schwarze Augen hatte sie und schwarze Haare. Die dreh
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»Schloß Dorincourt
Lieber Mister Hobbs,
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Cedric Errol
(nicht Lord Fauntleroy)«
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seinem Ton. Es war mehr, als gäbe er sich selbst ein Ver
sprechen – und vielleicht tat er das auch.
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liebevoll zu ihm sprach und für ihn sorgte, wie daß je
mand keine Furcht vor ihm empfand, und er wurde wie
der an »seinen Jungen« erinnert.
Diese Enttäuschung war eine gute Schule für ihn. Wäre
er nicht unglücklich gewesen, so hätte er Cedrics Mutter
vielleicht weiter gehaßt, aber im Augenblick empfand er
sie wirklich als wohltuend. Fast jede Frau wäre ihm als
Gegenstück zu der neuen Lady Fauntleroy angenehm er
schienen. Das liebe Gesicht, die sanfte Stimme und die
anmutige Würde Frau Errols aber ließen ihn nun sogar
seine Niedergeschlagenheit etwas vergessen. Er setzte sich
in den angebotenen Lehnstuhl und wurde allmählich mit
teilsamer.
»Was auch geschehen möge«, sagte er, »der Junge
wird genug haben. Es wird für ihn gesorgt, jetzt und in
Zukunft.«
Ehe er sich verabschiedete, sah er sich im Zimmer um.
»Gefällt Ihnen das Haus?« fragte er.
»Sehr gut«, antwortete sie.
»Das ist ein gemütliches Zimmer«, sagte er. »Darf ich
einmal wiederkommen und diese Dinge weiter mit Ihnen
besprechen?«
»Sooft Sie wollen, Mylord«, erwiderte sie.
Und als er in den Wagen stieg und heimfuhr, waren
Thomas und Henry, die auf dem Bock saßen, sprachlos
vor Staunen über diese neue Wendung der Dinge.
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»Liber Freind,
ich habe deinen liben Brif erhalten un Mister Hobbs
seinen und es tut uns sehr leit das du solches Pech hast
un wir sagen dir halte durch so lange du kannst und
laß dir keinen vorwegkommen. Es gibt eine Menge
Schurken die dich um alles bringen wenn du nich auf
past. Möchte dir nur mitteilen das ich nich fergessen
habe was du for mich getan hast un wenn dir nichts
besseres bleibt so komm wieder rüber und werde mein
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waren sie nicht gerade wasserdicht, aber er hatte stets ei
nen Scherz oder ein freundliches Wort für Dick.
Als er an diesem besonderen Morgen den Fuß auf das
Bänkchen stellte, hielt er eine illustrierte Zeitschrift in der
Hand – eine vielseitige Zeitschrift mit Bildern von be
merkenswerten Leuten und Dingen. Er hatte sie gerade
bis zu Ende durchgelesen, und als der zweite Schuh ge
putzt war, reichte er sie Dick:
»Da hast du eine Zeitschrift, Dick. Kannst sie dir an
sehen beim Frühstück! Bild drin von einem englischen
Schloß und der Schwiegertochter eines englischen Gra
fen. Eine hübsche, junge Person mit prachtvollem Haar –
sie scheint aber einen ordentlichen Skandal dort drüben
aufzuwirbeln. Du solltest dich mit dem Adel vertraut
machen, Dick. Da fang gleich mit dem Sehr Ehrenwerten
Grafen Dorincourt und Lady Fauntleroy an! Hallo, was
ist denn los?«
Die Bilder, von denen er gesprochen hatte, befanden
sich auf der ersten Seite, und Dick starrte eines davon mit
offenem Mund an, sein eckiges Gesicht war blaß vor Er
regung.
»Was hab’ ich zu zahlen, Dick?« fragte der junge
Mann. »Was hat dich denn so aus dem Häuschen ge
bracht?«
Dick sah wirklich aus, als wäre ihm etwas Ungeheures
widerfahren. Er zeigte auf das Bild, unter dem gedruckt
stand:
»Mutter des Anwärters (Lady Fauntleroy).«
Es war das Bild einer hübschen Frau mit großen Augen
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Die Entlarvung
Dem Anschein nach hatten einst wenige Minuten ge
nügt, um das ganze Lebensschicksal des kleinen Jungen,
der seine rotbestrumpften Beine in Mister Hobbs’ Laden
von jenem hohen Schemel herabbaumeln ließ, von
Grund auf umzuwandeln. Wenige Minuten, um aus ei
nem einfachen amerikanischen Kind den Erben eines
Grafentitels und eines gewaltigen Vermögens zu machen.
Wenige Minuten hatten aber auch genügt, um ihn
scheinbar zurückzuverwandeln in einen armseligen, klei
nen Betrüger ohne eine Spur von Anrecht auf den Glanz,
in dem er sich ein paar Wochen gesonnt hatte … Nun,
so seltsam es scheint, es dauerte nicht halb so lange, wie
man denken könnte – da war das Ganze wieder umge
stoßen, und er bekam alles wieder, was das Schicksal
ihm zu nehmen gedroht hatte …
Es ging sogar ziemlich schnell, denn die Frau, die sich
Lady Fauntleroy nannte, war lange nicht so geschickt,
wie sie schlecht war. Von Mister Havisham über ihre
Heirat und ihren Jungen ins Kreuzverhör genommen,
hatte sie sich ein paar Male verschnappt und auf diese
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Weise berechtigten Argwohn erregt. Da war es zu Ende
gewesen mit ihrer Geistesgegenwart und Selbstbeherr
schung, und in ihrer Wut und Erregung hatte sie sich
noch deutlicher verraten. Alle unstimmigen Angaben be
trafen das Kind. Darüber schien kein Zweifel zu beste
hen, daß sie mit Bevis, Lord Fauntleroy, verheiratet ge
wesen war, daß er sich mit ihr entzweit und ihr dann
Geld gegeben hatte, um sie los zu sein. Doch Mister Ha
visham fand heraus, daß ihre Angabe, der Junge sei in ei
nem gewissen Londoner Stadtteil zur Welt gekommen,
nicht stimmte. Und mitten in die Aufregung, die dieser
Entdeckung folgte, platzten die Briefe des jungen New
Yorker Anwalts und die beiden Schreiben von Mister
Hobbs.
Das war ein Abend, als diese Briefe kamen und Mister
Havisham mit dem Grafen in der Bibliothek besprach,
was nun zu tun sei!
»Schon nach meinen drei ersten Begegnungen mit ihr«,
sagte Mister Havisham, »habe ich Verdacht geschöpft.
Das Kind scheint mir älter, als sie angibt. Als von seinem
Geburtstag die Rede war, hat sie sich arg verhaspelt.
Dann suchte sie die Sache wieder zurechtzudrehen. Ver
schiedene Verdachtsmomente, die mir aufgefallen sind,
klären sich durch diese Briefe. Das beste wäre wohl, wir
telegraphieren den beiden Tiptons, sie möchten sofort
herüberkommen, und wir stellen sie ihr überraschend ge
genüber! Sie ist schließlich nur eine ungeschickte Lügne
rin. Meiner Meinung nach wird sie zu Tode erschrecken
und sich auf der Stelle verraten.«
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– das war immerhin ein Anfang. Und mit jedem Tag hat
te er an der Frau seines Sohnes größeren Gefallen gefun
den. Es war richtig, was die Leute sagten: er gewann
auch sie allmählich lieb! Oft saß er in seinem Lehnstuhl
und hörte ihr zu, wenn sie mit ihrem Jungen sprach.
Der alte Graf Dorincourt war sehr zufrieden mit ihm,
als er ihm an diesem Tag zusah. Er bewegte sich unter
den Leuten im Park, unterhielt sich mit denen, die er
kannte, und machte bereitwillig seine kleine Verbeugung,
wenn ihn jemand grüßte. Er kümmerte sich um seine
Freunde Dick und Mister Hobbs oder stand neben seiner
Mutter oder Fräulein Herbert und hörte zu, wie sie sich
unterhielten. Und am allerzufriedensten war der alte Graf
mit seinem Erben, als sie zusammen zu dem großen Zelt
hinuntergingen, wo die wichtigsten Pächter der Dorin
courtschen Güter sich zum festlichen Mahl niedergelas
sen hatten.
Es wurden Ansprachen gehalten, und nachdem sie auf
die Gesundheit des Grafen getrunken hatten, stießen sie
auf das Wohl des kleinen Lords Fauntleroy an. Wenn es
nur den leisesten Zweifel an der Beliebtheit Seiner jungen
Lordschaft gegeben hätte, der jubelnde Beifall, der nun
losbrach, hätte ihn im Nu beseitigt.
Der kleine Lord war überglücklich. Er lächelte und
verbeugte sich und errötete vor Freude.
»Ist das, weil sie mich gern haben, Herzlieb?« fragte er
seine Mutter. »Wirklich? Ich bin ja so froh!«
Da legte der Graf ihm die Hand auf die Schulter und
sagte:
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