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Alle Rechte vorbehalten


Übersetzung neu bearbeitet von M. Berger
Titel der Originalausgabe: »Little Lord Fauntleroy«
Umschlag und Illustrationen: Franz J. Tripp
Druck: Carl Ueberreuter, Wien
Papier: Matthäus Salzers Söhne, Wien
Eine große Überraschung

Cedric selbst wußte nichts davon. Papa war ja gestorben,


als Cedric noch so klein war, so daß er sich kaum noch
an ihn erinnern konnte. Nur das wußte er noch, daß Pa­
pa groß war und blaue Augen hatte und einen langen
Schnurrbart, und daß es wunderschön gewesen war, auf
seinen Schultern in der Stube herumzureiten. Nach Papas

Tod hatte Cedric herausgefunden, daß es am besten war,


mit Mama gar nicht von ihm zu sprechen.
Als sein Vater krank wurde, war Cedric fortgeschickt
worden, und als er wiederkam, war alles vorbei. Seine
Mutter, die auch sehr krank gewesen war, durfte gerade
wieder aufstehen und in ihrem Stuhl am Fenster sitzen.
Sie war blaß und schmal geworden, und alle Grübchen
waren aus ihrem hübschen Gesicht verschwunden; ihre
Augen sahen groß und traurig aus, und sie trug schwarze
Kleider.
»Herzlieb«, sagte Cedric (so hatte Papa sie immer ge­
nannt, und der kleine Junge hatte es ihm nachgemacht),
»Herzlieb, geht es Papa wieder besser?«
Er fühlte, wie ihre Arme zitterten. Nun drehte er seinen
Lockenkopf um und sah ihr ins Gesicht. Und da war’s
ihm, als ob er selbst zu weinen anfangen müsse.
»Herzlieb«, fragte er, »geht es ihm gut?«
Und plötzlich sagte ihm sein liebevolles, kleines Herz,
es sei vielleicht besser, die Arme um ihren Hals zu schlin­
gen und seine Wange dicht an ihre Wange zu schmiegen.
Das tat er denn auch, und sie legte ihr Gesicht auf seine
Schulter, weinte bitterlich und drückte ihn so fest an sich,
als ob sie ihn nie mehr lassen wollte.
»Ja, es geht ihm gut«, schluchzte sie; »es geht ihm
recht, recht gut, aber wir – wir haben niemanden mehr
auf der Welt als uns beide. Keinen einzigen Menschen.«
Da begriff Cedric, so klein er war, daß sein großer,
schöner, junger Papa nie wiederkommen würde; daß er
tot war, wie er es auch von anderen Leuten gehört hatte,

obgleich er nicht recht verstehen konnte, was das für ein


seltsames Ding war, das so viel Leid brachte. Weil Mama
immer zu weinen anfing, wenn er von Papa sprach, nahm
er sich vor, nicht allzu oft von ihm zu reden. Er war auch
dahintergekommen, daß es besser war, wenn er sie nicht
zu viel dasitzen und ins Feuer oder zum Fenster hinaus­
starren ließ.
Bekannte hatten er und Mama nur wenige, und man­
che Leute hätten ihr Leben wohl recht einsam gefunden.
Aber Cedric wußte nicht, daß es einsam war, bis er älter
wurde und erfuhr, warum niemand zu ihnen kam. Seine
Mutter war eine Waise gewesen und ganz allein in der
Welt gestanden, als sein Vater sie geheiratet hatte. Sie
war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer
alten Dame gelebt, die nicht gut zu ihr war.
Eines Tages hatte Hauptmann Cedric Errol, der einen
Besuch im Hause machte, bemerkt, wie sie mit Tränen in
den Augen die Treppe hinaufeilte. So lieb und traurig
hatte sie ausgesehen, daß der Hauptmann sie nicht mehr
vergessen konnte. Und nachdem mancherlei Seltsames
geschehen war, lernten sie sich gut kennen und gewannen
einander sehr lieb. Sie wurden Mann und Frau, obwohl
ihre Heirat ihnen den Zorn verschiedener Leute eintrug.
Am zornigsten war der Vater des Hauptmanns, der in
England lebte, ein sehr reicher, vornehmer, aber jähzor­
niger alter Edelmann, der Amerika und die Amerikaner
gar nicht mochte. Er hatte außer Hauptmann Cedric
noch zwei ältere Söhne, und das Gesetz bestimmte, daß
der älteste den Titel und die großen Familiengüter erbte;

starb der älteste Sohn, so war der nächste Sohn der Erbe.
Obgleich Hauptmann Cedric also einer so vornehmen
Familie angehörte, bestand wenig Aussicht, daß er selbst
sehr reich werden würde.
Aber der jüngste hatte natürliche Gaben mitbekom­
men, die den beiden älteren Brüdern versagt blieben:
schöne Gesichtszüge, eine kraftvolle, anmutige Gestalt,
ein frohes Lächeln und eine heiterliebenswürdige Stimme.
Er war tapfer und freimütig und voll großer Güte, und
alle Herzen flogen ihm zu. Ganz anders seine älteren
Brüder: beide waren weder schön, noch gut, noch klug.
Als Knaben waren sie in der Schule nicht beliebt, und auf
der Universität kümmerten sie sich wenig um ihr Studi­
um, sondern verschwendeten Zeit und Geld und hatten
nur wenige Freunde. Der alte Graf erlebte an ihnen eine
Enttäuschung nach der anderen.
Es war sehr bitter für den alten Herrn, daß der dritte
Sohn, der nur ein kleines Vermögen erben würde, so be­
gabt, so anziehend, so tüchtig und schön war. Manchmal
haßte er den jungen Mann beinahe, weil er all die guten
Eigenschaften besaß, die eigentlich zu dem vornehmen
Titel und den großartigen Besitzungen gehörten. Und
doch hatte er seinen Jüngsten im Grunde seines stolzen,
eigensinnigen Herzens sehr lieb. In einem seiner Wutan­
fälle hatte er ihn auf Reisen nach Amerika geschickt. Er
wollte ihn einmal eine Zeitlang nicht um sich haben, da­
mit er ihn nicht ständig mit seinen Brüdern vergleichen
müßte, die ihm gerade um jene Zeit durch ihr leichtsinni­
ges Leben besonders viel Kummer bereiteten.

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Aber nach einem halben Jahr etwa fühlte er sich ein­


sam, und heimlich sehnte er sich nach seinem Sohn. Er
schrieb daher an Hauptmann Cedric und befahl ihm,
nach Hause zu kommen. Der Brief kreuzte sich mit ei­
nem Brief des Sohnes, in dem dieser dem Vater von sei­
ner Liebe zu der anmutigen Amerikanerin erzählte, die er
heiraten wollte. Als der Graf diesen Brief erhielt, geriet er
außer sich vor Wut. Sein Kammerdiener, der gerade im
Zimmer war, dachte, der Schlag würde Seine Lordschaft
rühren, so wütete er. Eine Stunde lang raste er wie ein
Tiger, dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Sohn.
Er verbot ihm, je wieder in die Nähe der alten Heimat zu
kommen und je wieder an seinen Vater oder an seine
Brüder zu schreiben; er könne leben, wie es ihm beliebe,
und sterben, wo es ihm beliebe, von seiner Familie sei er
für immer geschieden, und er habe auf keinerlei Hilfe
von seinem Vater zu rechnen, so lange er lebe.
Der Hauptmann war tief betrübt über diesen Brief. Er
liebte England, und er liebte das schöne Heim, in dem er
geboren war. Er liebte sogar seinen jähzornigen, alten
Vater und hatte Mitleid mit ihm, weil er so oft enttäuscht
worden war. Aber er wußte, daß er in Zukunft von ihm
nichts mehr zu erwarten hatte. Zuerst war er ratlos, was
beginnen. Er hatte nie arbeiten gelernt und war ohne jede
geschäftliche Erfahrung, doch er besaß Mut und Wil­
lenskraft.
Nach allerlei Schwierigkeiten fand er schließlich eine
Stelle in New York und heiratete. Das war nun ein ganz
anderes Leben als früher in England! Aber er war jung

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und glücklich und hoffte, daß harte Arbeit ihn weiter­


bringen würde. Sie wohnten in einem kleinen Haus in ei­
ner ruhigen Straße. Dort wurde ihr kleiner Junge geboren,
und alles war so froh und heiter, wenn auch einfach, daß
Hauptmann Cedric es nie bereute, die hübsche Gesell­
schafterin der reichen, alten Dame geheiratet zu haben,
nur weil sie so reizend war und er sie liebte und sie ihn.
Ihr kleiner Junge sah sowohl ihr als auch seinem Vater
ähnlich. Obwohl er in einem so stillen, bescheidenen
kleinen Haus geboren war, schien doch kein Kind vom
Glück mehr begünstigt als er. Zunächst einmal war er
immer gesund, so daß er niemandem Mühe machte;
zweitens war er von so freundlicher Gemütsart und so
einnehmend in seinem Wesen, daß jeder seine Freude an
ihm hatte; und drittens war er wunderschön anzusehen.
Er hatte schönes, weiches, goldblondes Haar, das sich im
Alter von sechs Monaten zu losen Locken ringelte. Er
hatte große, braune Augen und lange Augenwimpern
und ein liebreizendes, kleines Gesicht. Sein Rücken war
so kräftig und die kleinen Beine so stämmig, daß er mit
neun Monaten plötzlich zu laufen anfing. Sein ganzes
Wesen war so freundlich und sonnig, daß alle, die ihn
kannten, ihn liebgewannen – sogar der Kaufmann an der
Ecke, der für den mürrischsten Kerl auf Gottes Erdboden
galt.
Als er alt genug war, mit seinem Kindermädchen spa­
zieren zu gehen, trug er eine kurze, weiße Hose und einen
großen, weißen Hut auf den blonden Locken und zog ei­
nen kleinen Wagen hinter sich her. Da sah er so hübsch

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und so kräftig und rosig aus, daß alle Leute ihn ansahen.
Wenn dann das Kindermädchen nach Hause kam, er­
zählte es seiner Mutter, wie vornehme Damen ihren Wa­
gen hatten anhalten lassen, um mit ihm zu sprechen, und

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wie sie sich gefreut hätten, weil er so unbefangen mit ih­


nen schwatzte, als hätte er sie schon immer gekannt.
Sein größter Reiz war diese heitere, furchtlose, drollige
Art, mit den Menschen Freundschaft zu schließen. Der
Grund lag wohl darin, daß sein vertrauensvolles, kleines
Herz allen Menschen gut war. Vielleicht hatte sich diese
Fähigkeit bei ihm stärker entwickelt, weil er viel mit sei­
nem Vater und seiner Mutter zusammen war, die immer
liebevoll und zärtlich und rücksichtsvoll miteinander
umgingen. Nie hörte er zu Hause ein unfreundliches oder
unhöfliches Wort. Immer war er lieb und zärtlich behan­
delt worden, und so war seine kindliche Seele voll Güte
und Wärme. Immer hatte er seine Mutter mit zärtlichen
Namen rufen hören, und darum gebrauchte er sie auch,
wenn er mit ihr sprach. Immer hatte er gesehen, daß sein
Vater über sie wachte und sie umsorgte, und so lernte
auch er, für sie zu sorgen.
Als er nun wußte, daß sein Vater nie mehr wieder­
kommen würde, und als er sah, wie traurig seine Mutter
war, da wuchs in seinem Herzen das Gefühl, daß er alles
tun müsse, um sie glücklich zu machen. Und dieses Ge­
fühl verließ ihn nie, obwohl er noch nicht viel größer als
ein Baby war, wann immer er auf der Mutter Schoß klet­
terte, sie küßte und seinen Kopf an ihre Schulter lehnte,
ihr seine Spielsachen und Bilderbücher zeigte oder sich
still neben sie auf das Sofa kuschelte. Er war noch so
klein, daß ihm nichts anderes einfiel, was er für sie hätte
tun können; so tat er denn, was er konnte, und er war ihr
ein größerer Trost, als er selber wußte.

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»Ach, Mary!« hörte er sie einmal zu der alten Dienerin


sagen, »ich fühle ganz deutlich, daß er mir auf seine
kindliche Art helfen will – ich weiß es ganz sicher. Er
sieht mich manchmal mit so einem liebevollen, besorgten
Blick an, als täte ich ihm leid, und dann kommt er und
liebkost mich oder zeigt mir etwas. Er ist ein richtiger
kleiner Mann, ich glaube wirklich, er versteht es.«
Als Cedric größer wurde, belustigte er die Erwachse­
nen durch mancherlei drollige kleine Gewohnheiten. Sei­
ner Mutter war er ein so guter Kamerad, daß sie kaum
nach anderem Umgang verlangte. Sie gingen spazieren,
plauderten und spielten. Schon als kleiner Junge lernte er
lesen, und abends lag er nun oft auf dem Teppich beim
Kamin und las vor – manchmal kleinere Geschichten,
manchmal große Bücher, wie die Erwachsenen sie lesen,
und manchmal sogar die Zeitung. Oft hörte dann Mary
in ihrer Küche Frau Errol laut auflachen über seine spaß­
haften Aussprüche.
Mary liebte ihn sehr und war auch sehr stolz auf ihn.
Seit seiner Geburt war sie bei seiner Mutter, und nach
dem Tode seines Vaters war sie Köchin, Hausmädchen,
Kinderfrau – alles in einem. Sie war stolz auf seinen kräf­
tigen, kleinen Körper und auf seine guten Manieren, und
besonders stolz war sie auf sein helles, lockiges Haar.
»’ristokratisch, was?« pflegte sie zu sagen. »Den rei­
chen Buben möcht’ ich sehn, der so dreinschaut und so
sicher daherstapft wie er. Jeder Mensch, Mann und Frau
und Kind, alles dreht sich auf der Straße nach ihm um,
wenn er so daherkommt, den Kopf hoch, daß die Locken

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nur so fliegen und glänzen. Wie ein junger Lord schaut er


aus.«
Cedric wußte nicht, daß er wie ein junger Lord aussah.
Er wußte gar nicht, was ein Lord war. Sein bester Freund
war der Kaufmann an der Ecke – der mürrische Kauf­
mann, der gegen ihn nie mürrisch war. Er hieß Mister
Hobbs, und Cedric bewunderte und verehrte ihn sehr. Er
hielt ihn für einen sehr reichen und mächtigen Mann,
denn er hatte so viele Sachen in seinem Laden – Pflaumen
und Feigen und Orangen und Keks –, und er hatte ein
Pferd und einen Wagen. Cedric hatte auch den Milch­
mann und den Bäcker und die Apfelfrau sehr gern, aber
am liebsten hatte er Mister Hobbs. Er besuchte ihn jeden
Tag, so gut stand er mit ihm. Oft saß er lange in seinem
Laden und besprach mit ihm, was es Neues gab. Es war
ganz erstaunlich, über was sie alles sprachen – wieviel sie
sich zum Beispiel über den 4. Juli, den Tag der amerika­
nischen Unabhängigkeitserklärung, zu erzählen hatten.
Wenn sie einmal vom 4. Juli anfingen, schienen sie kein
Ende finden zu können. Mister Hobbs hatte eine sehr
schlechte Meinung von den Engländern, und er erzählte
Cedric die ganze Geschichte der Revolution. Wunderbare
vaterländische Geschichten erzählte er von der Tücke des
Feindes und von der Tapferkeit der Revolutionshelden.
Cedric hörte aufgeregt zu, seine Augen glänzten, seine
Backen wurden ganz rot, und seine Locken waren eine
einzige gelbe Wirrnis. Zu Hause angelangt, konnte er
kaum das Essen hinunterschlucken, so brannte er darauf,
seiner Mutter alles wiederzuerzählen.

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Vor der Wahl nahm ihn Mister Hobbs mit zu einem


großen Fackelzug, und viele der Männer, die mit Fackeln
dahinmarschierten, erinnerten sich später an einen unter­
setzten Mann, der neben einer Laterne gestanden war
und einen hübschen, kleinen Jungen auf der Schulter hat­
te, der laut jubelnd seine Mütze schwang.
Es war nicht lange nach dieser Wahl – Cedric war etwas
über sieben Jahre alt –, als das merkwürdige Ereignis ein­
trat, das seinem Leben eine so wunderbare Wendung ge­
ben sollte. Seltsam – gerade an jenem Tag hatte er mit Mi­
ster Hobbs über England und die Königin gesprochen, und
Mister Hobbs hatte ein paar sehr harte Dinge über die Ari­
stokratie gesagt, besonders über die Grafen und Herzoge.
Es war ein heißer Vormittag gewesen. Nach einem lustigen
Spiel mit ein paar Freunden war Cedric in den Laden ge­
gangen, um sich auszuruhen, und er fand Mister Hobbs
mit bösem Gesicht über der »Londoner Illustrierten«, in
der irgendeine Feierlichkeit bei Hofe abgebildet war.
»Ah«, sagte er, »das ist die Art, wie sie’s jetzt treiben.
Aber eines schönen Tages werden sie genug davon haben
– wenn die Geknechteten sich erheben und sie alle in die
Luft sprengen, die Grafen und die Herzoge und die ganze
Gesellschaft!«
Cedric hatte sich, wie gewöhnlich, auf den hochbeini­
gen Stuhl am Ladentisch gesetzt, den Hut aus der Stirne
gerückt, die Hände in den Taschen – eine zarte Aufmerk­
samkeit für Mister Hobbs.
»Haben Sie in Ihrem Leben viele Herzoge gekannt, Mi­
ster Hobbs?« erkundigte sich Cedric, »oder Grafen?«

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»Nein«, erwiderte Mister Hobbs entrüstet, »da sei


Gott vor. Möchte gerne einen hier in meinem Laden er­
wischen, das wäre was! Ich würde keinen habgierigen
Tyrannen auf meinen Kekskisten ’rumsitzen lassen!«

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Und stolz auf seine Gesinnung, blickte er herausfor­


dernd im Laden umher und wischte sich den Schweiß
von der Stirn.
»Vielleicht würden sie keine Grafen sein, wenn sie’s
besser wüßten«, sagte Cedric, der mit ihrem beklagens­
werten Stand ein unbestimmtes Mitleid empfand.
»Und ob sie’s nicht sein würden!« erwiderte Mister
Hobbs. »Sie bilden sich ja noch weiß Gott was darauf
ein! Sie sind so, eine üble Bande!«
Sie waren mitten in ihrem Gespräch, als Mary er­
schien. Cedric dachte, sie wollte vielleicht Zucker einkau­
fen, aber das wollte sie nicht. Sie sah blaß aus als, ob sie
sich über irgend etwas aufgeregt hätte.
»Komm nach Haus, Herzchen«, sagte sie, »die Gnädi­
ge wünscht dich.«
Cedric glitt den Stuhl herunter. »Soll ich mit ihr fortge­
hen, Mary?« fragte er. »Auf Wiedersehen, Mister Hobbs.
Ich komme wieder.« Es wunderte ihn, daß Mary ihn so ei­
genartig anblickte und dabei ständig ihren Kopf schüttelte.
»Was ist los, Mary?« forschte er. »Ist es das heiße Wetter?«
»Nein«, sagte Mary, »aber sonderbare Dinge passieren
bei uns.«
»Hat Herzlieb Kopfweh von der Hitze?« fragte Cedric.
Aber das war es nicht. Als sie an ihr Haus kamen,
stand ein Wagen vor der Tür, und in dem kleinen Salon
unterhielt sich jemand mit Mama. Mary führte ihn eilig
ins Schlafzimmer hinauf und zog ihm seinen besten
Sommeranzug an, den weißen Flanellanzug mit der roten
Schärpe, dann kämmte sie ihm das Haar.

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»Lords, was?« er hörte sie murmeln. »Und der Adel


und die ’ristokratie, die können mir gestohlen werden!«
Es war wirklich alles sehr rätselhaft, aber Cedric war
ganz sicher, daß Mama ihm die ganze Aufregung erklä­
ren würde, und so ließ er denn Mary vor sich hinbrum­
men, ohne viel zu fragen. Als er fertig angezogen war, lief
er hinunter in den Salon. Ein großer, magerer alter Herr
mit einem scharfgeschnittenen Gesicht saß in einem
Lehnstuhl. Seine Mutter stand mit blassem Gesicht
daneben, und er bemerkte Tränen in ihren Augen.
»Oh Ceddi!« rief sie und eilte ihm entgegen, fing ihn
mit ihren Armen auf und küßte ihn bang und beunruhigt.
Der große, alte Herr erhob sich aus seinem Stuhl und
betrachtete Cedric mit scharfem Blick.
»So, so«, sagte er endlich langsam, »das ist also der
kleine Lord Fauntleroy.«

Cedrics Freunde
So verwundert und erstaunt ist wohl selten ein kleiner
Junge gewesen wie Cedric in der Woche, die nun folgte.
Erstens war schon die Geschichte, die seine Mutter ihm
erzählte, äußerst merkwürdig. Er mußte sie zwei- oder
dreimal hören, bis er sie verstand. Er konnte sich gar
nicht ausdenken, was Mister Hobbs dazu sagen würde.
Es fing an mit Grafen. Sein Großvater, den er nie gesehen
hatte, war ein Graf, und sein ältester Onkel würde im

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Lauf der Zeit auch ein Graf geworden sein, wenn er nicht
durch einen Sturz vom Pferd getötet worden wäre; und
nach dessen Tode wäre sein anderer Onkel ein Graf ge­
worden; der aber war in Rom plötzlich am Fieber ge­
storben. Danach wäre sein eigener Vater, wenn er noch
am Leben gewesen wäre, ein Graf geworden. Weil sie
aber alle tot waren und nur Cedric noch übrigblieb, er­
gab es sich, daß er nach dem Tode seines Großvaters
Graf sein würde – und vorläufig war er Lord Fauntleroy.
Er wurde ganz blaß, als er zum erstenmal davon hörte.
»Ach Herzlieb!« sagte er, »ich möchte lieber kein Graf
sein. Keiner von den andern Jungen ist ein Graf. Kann
ich nicht keiner sein?«
Aber es schien unvermeidlich. Und als sie am Abend
zusammen am offenen Fenster saßen, das auf die armse­
lige Straße hinausging, sprachen sie lange darüber, er und
seine Mutter. In seiner Lieblingshaltung, beide Hände um
ein Knie geschlungen, saß Cedric auf einer Fußbank;
ganz rot und ratlos war sein Gesicht von dem anstren­
genden Nachdenken. Sein Großvater wollte ihn nach
England holen, und seine Mutter hielt es für richtig, daß
er hinführe.
»Denn«, sagte sie und sah mit kummervollen Augen
zum Fenster hinaus, »ich weiß, dein Vater würde es so
haben wollen, Ceddie. Er liebte seine Heimat sehr, und es
ist mancherlei zu bedenken, was so ein kleiner Junge
noch nicht verstehen kann. Es wäre selbstsüchtig von
mir, wenn ich dich nicht reisen ließe. Wenn du erwach­
sen bist, wirst du das begreifen.«

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Cedric schüttelte traurig den Kopf. »Es wird mir sehr


schwer, von Mister Hobbs fortzugehen«, sagte er. »Ich
glaube, ich werde ihm fehlen, und er wird mir auch feh­
len. Alle werden mir fehlen.«
Als Mister Havisham – der Rechtsanwalt, den Graf Do­
rincourt nach Amerika geschickt hatte, um Lord Fauntle­
roy nach England zu bringen – am nächsten Tage wieder­
kam, erfuhr Cedric viel Neues. Aber es war ihm kein rech­
ter Trost, daß er sehr reich sein würde, wenn er erwachsen
wäre, daß er hier ein Schloß und dort ein Schloß und gro­
ße Parks und tiefe Bergwerke und riesige Güter mit vielen
Pächtern besitzen würde. Der Gedanke an seinen Freund,
Mister Hobbs, beunruhigte ihn, und gleich nach dem
Frühstück suchte er ihn in seinem Laden auf.
Er fand ihn beim Lesen der Morgenzeitung und ging in
ernster Haltung auf ihn zu. Eins war ihm klar: Mister
Hobbs würde sich sehr aufregen, wenn er hörte, was
über Cedric gekommen war. Auf dem Weg zum Laden
hatte er sich überlegt, wie er ihm die Neuigkeit am besten
beibringen könnte.
»Hallo!« sagte Mister Hobbs. »Morgen!«
»Guten Morgen«, erwiderte Cedric.
Er kletterte nicht wie gewöhnlich auf seinen hohen
Stuhl, sondern setzte sich auf eine Kekskiste und umfaßte
sein Knie. Eine Weile war er so still, daß Mister Hobbs
ihn schließlich fragend über den Rand seiner Zeitung hin
ansah.
»Hallo!« sagte er noch einmal.
Cedric nahm seine ganze Kraft zusammen.

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»Mister Hobbs«, sagte er, »wissen Sie noch, wovon


wir gestern gesprochen haben?«
»Hm, ja«, erwiderte Mister Hobbs, »– war’s nicht von
England?«
»Ja«, sagte Cedric, »aber gerade als Mary mich holen
kam, wissen Sie noch?«
Mister Hobbs kratzte sich den Kopf.
»Wir diskutierten über die Königin Viktoria und über
die ’ristokraten.«
»Ja«, sagte Cedric ein wenig zögernd, »und – und über
die Grafen; wissen Sie es nicht mehr?«
»Aber freilich«, gab Mister Hobbs zu, »wir haben sie
ein bißchen durchgehechelt, das stimmt schon.«
Cedric errötete bis unter die Locken auf seiner Stirn. In
so einer peinlichen Lage war er noch nie gewesen! Er
fürchtete auch, es könnte vielleicht für Mister Hobbs ein
bißchen peinlich werden.
»Sie sagten«, fuhr er fort, »Sie würden keinen auf Ih­
ren Kekskisten ’rumsitzen lassen.«
»Das stimmt«, erwiderte Mister Hobbs mannhaft.
»Und dabei bleib’ ich auch. Sie sollen’s nur versuchen!«
»Mister Hobbs«, sagte Cedric, »auf dieser Kiste sitzt
jetzt einer!«
Mister Hobbs wäre beinahe von seinem Stuhl gefallen.
»Was!« rief er laut.
»Jawohl«, erklärte Cedric mit gebührender Beschei­
denheit; »ich bin einer – oder wenigstens werde ich ein­
mal einer sein. Mister Hobbs, ich möchte Sie nicht hin­
tergehen.«

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Mister Hobbs war ganz aufgeregt. Plötzlich stand er


auf und sah nach dem Thermometer.
»Die Hitze ist dir in den Kopf gestiegen!« rief er, wie­
der zu seinem jungen Freund gewandt, und sah ihn prü­
fend an. »’s ist wirklich ein heißer Tag! Wie ist dir denn?
Hast du Schmerzen? Wann hat’s denn damit angefan­
gen?«
Er legte seine große Hand auf den Kopf des Jungen.
Das brachte ihn noch mehr in Verlegenheit.
»Danke«, sagte Ceddie, »mir fehlt nichts. Mein Kopf
ist ganz in Ordnung. Leider ist es wahr, Mister Hobbs.
Mister Havisham hat es Mama erzählt, und der ist ein
Rechtsanwalt.«
Mister Hobbs sank in seinen Stuhl zurück und wischte
sich die Stirn mit dem Taschentuch.
»Einer von uns hat den Sonnenstich!« rief er.
»Nein«, erwiderte Cedric, »bestimmt nicht. Wir müs­
sen uns eben dreinfinden, Mister Hobbs, so gut es geht.
Mister Havisham hat die ganze lange Reise von England
nach Amerika gemacht, um es uns zu erzählen. Großpa­
pa hat ihn geschickt.«
Ganz bestürzt starrte Mister Hobbs auf das unschuldi­
ge, ernsthafte kleine Gesicht vor ihm.
»Wer ist dein Großvater?« fragte er.
Cedric steckte die Hand in die Tasche und holte mit
großer Sorgfalt einen Zettel heraus; darauf stand irgend
etwas in seiner eigenen runden, unregelmäßigen Schrift.
»Ich habe mir’s nicht recht merken können, da hab’ ich
es lieber aufgeschrieben«, sagte er. Laut und langsam las

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er vor: »John Arthur Molyneux Errol, Graf von Dorin­


court. So heißt er und wohnt in einem Schloß – in zwei
oder drei Schlössern, glaub’ ich. Und mein Papa, der ge­
storben ist, war sein jüngster Sohn, und ich wäre nicht
Lord oder Graf geworden, wenn Papa nicht gestorben
wäre, und mein Papa wäre auch kein Graf geworden,
wenn nicht seine beiden älteren Brüder gestorben wären.«
Dem armen Mister Hobbs schien es heißer und heißer
zu werden. Er wischte sich Stirn und Glatze und holte
tief Atem. Allmählich begriff er, daß irgend etwas sehr
Merkwürdiges geschehen war. Aber dann sah er den
kleinen Jungen an, wie er da auf der Kekskiste vor ihm
saß, ein wenig besorgt, sonst aber ganz unverändert: der­
selbe hübsche, heitere, tüchtige kleine Kerl, in seinem
schwarzen Anzug mit der roten Schleife.
»Wie? – Wie war nun also dein Name?« erkundigte
sich Mister Hobbs.
»Cedric Errol, Lord Fauntleroy«, antwortete Cedric.
»So hat Mister Havisham mich genannt. Als ich ins
Zimmer kam, sagte er: ›Also das ist der kleine Lord
Fauntleroy!‹«
»Na«, sagte Mister Hobbs, »da brat’ mir einer einen
Storch!«
Das war ein Ausdruck, den er immer gebrauchte, wenn
er erstaunt oder aufgeregt war.
Nach Cedrics Meinung war es ein durchaus schickli­
cher und passender Ausdruck. Seine Liebe und Achtung
für Mister Hobbs waren so groß, daß er stets seine Aus­
drücke bewunderte und für gut hielt.

25

Nachdenklich blickte er zu Mister Hobbs hinüber.


»England ist sehr weit weg, nicht wahr?« fragte er.
»Auf der anderen Seite vom Atlantischen Ozean«,
antwortete Mister Hobbs.
»Das ist das Schlimmste an der Geschichte«, sagte Ce­
dric. »Vielleicht sehe ich Sie da lange Zeit nicht mehr.
Daran mag ich gar nicht denken, Mister Hobbs.«
»Auch die besten Freunde müssen scheiden«, erwiderte
Mister Hobbs.
»Wir sind nun schon viele Jahre lang gute Freunde«,
meinte Cedric, »nicht wahr?«
»Seit du auf der Welt bist«, antwortete Mister Hobbs.
»Etwa sechs Wochen warst du alt, als sie mit dir zum er­
stenmal hier auf der Straße ausgefahren sind.«
»Ach«, bemerkte Cedric mit einem Seufzer, »damals
hätte ich nie gedacht, daß ich ein Graf werden muß.«
»Du meinst nicht«, fragte Mister Hobbs, »daß du dich
drücken könntest?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete Cedric. »Mama sagt,
Papa hätte bestimmt gewünscht, daß ich es annehme.
Aber wenn ich nun schon ein Graf werden muß, so kann
ich wenigstens eines tun: ich kann versuchen, ein guter
Graf zu werden. Ein Tyrann werde ich nicht. Und wenn
es wieder zu einem Krieg zwischen England und Amerika
kommen sollte, so werde ich das nicht zulassen.«
Sein Gespräch mit Mister Hobbs war lang und ernst.
Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte,
war Mister Hobbs nicht so erbittert, wie man hätte er­
warten können. Er trachtete sich mit der Sache abzufin­

26

den, und noch ehe die Unterhaltung beendet war, hatte


er eine lange Reihe Fragen gestellt. Da Cedric nur auf
wenige davon etwas Rechtes zu sagen wußte, suchte er
sie selbst zu beantworten; und, einmal losgelassen auf
diese Dinge, auf Grafen und Barone und gräfliche Güter,
gab er Erklärungen zum besten, die wahrscheinlich Mi­
ster Havisham sehr erstaunt hätten, wenn sie ihm zu Oh­
ren gekommen wären.
Mister Havisham erlebte überhaupt mancherlei Über­
raschendes. Er hatte sein ganzes Leben in England ver­
bracht und war nicht an amerikanische Menschen und
amerikanische Sitten gewöhnt. Seit fast vierzig Jahren
stand er in Geschäftsverbindung mit der Familie des Gra­
fen Dorincourt, und er wußte genau Bescheid über ihre
großen Güter, ihren großen Reichtum und ihre große
Vornehmheit. In seiner kühlen, geschäftlichen Art nahm
er Anteil an diesem kleinen Jungen, der einst der Herr
und Eigentümer all dieses Reichtums sein würde – der
künftige Graf Dorincourt.
Er wußte, welche Enttäuschungen der alte Graf an sei­
nen beiden ältesten Söhnen erlebt hatte und wie wütend er
über Hauptmann Cedrics amerikanische Heirat gewesen
war. Er wußte, wie sehr der Graf die sanfte, kleine Witwe
noch immer haßte, und daß er nie anders von ihr sprach
als in bitteren, heftigen Worten. Weiter nichts sei sie, sagte
er, als ein gewöhnliches amerikanisches Mädel, das seinen
Sohn umgarnt und zur Heirat verleitet habe, weil sie es
auf den Sprößling eines Grafen abgesehen hatte.
Der alte Rechtsanwalt hatte das eigentlich auch ge­

27

glaubt. In seinem Leben waren ihm sehr viele egoistische,


gewinnsüchtige Leute begegnet, und von den Amerika­
nern hatte er keine sehr gute Meinung. Als sein Wagen
ihn in diese einfache Straße gebracht und vor dem be­
scheidenen, kleinen Haus gehalten hatte, war ihm ein
Schrecken in die Glieder gefahren. Es war wirklich eine
entsetzliche Vorstellung, daß der künftige Besitzer von
Schloß Dorincourt und Burg Wyndham und Chorlworth
und all den anderen Herrlichkeiten in so einer schäbigen
Straße geboren und erzogen sein sollte, in einer Straße
mit einem Gemischtwarenladen an der Ecke. Er fragte
sich, wie das Kind wohl sein mochte und wie erst die
Mutter.
Als Mary ihn in den kleinen Salon führte, sah er sich
prüfend um. Der Raum war einfach, aber gemütlich ein­
gerichtet; nirgends waren minderwertige, geschmacklose
Nippsachen oder billige, schreiende Bilder an den Wän­
den. Der geringe Wandschmuck zeugte im Gegenteil von
gutem Geschmack.
»Soweit nicht übel«, sagte er zu sich selbst; »aber
vielleicht war hier der Geschmack des Hauptmanns
ausschlaggebend?« Doch als Frau Errol ins Zimmer
trat, kam es ihm in den Sinn, daß sie selbst doch auch
etwas damit zu tun hätte. In ihrem schlichten, schwar­
zen Kleid, das ihre schlanke Gestalt eng umschloß, sah
sie wie ein junges Mädchen und nicht wie die Mutter
eines siebenjährigen Jungen aus. Ihr liebreizendes, jun­
ges Gesicht war von Leid überschattet, und in ihren
großen, braunen Augen lag ein zärtlicher, weicher Aus­

28

druck – jener kummervolle Blick, der seit dem Tode ih­


res Mannes aus ihren Zügen nie ganz geschwunden
war.
Lange Erfahrung hatte den Rechtsanwalt gelehrt, die
Menschen auf den ersten Blick zu durchschauen. Kaum
hatte er Cedrics Mutter erblickt, so wußte er, daß der al­
te Graf einen großen Irrtum beging, wenn er sie für eine
ordinäre, geldgierige Frau hielt. Mister Havisham war
nie verheiratet, ja nicht einmal verliebt gewesen, und
doch erriet er sofort, daß dieses reizende, junge Geschöpf
mit der sanften Stimme und den traurigen Augen den
Hauptmann Cedric einzig und allein geheiratet hatte,
weil sie ihn von ganzem Herzen liebte. Er sah auch, daß
er keine Schwierigkeiten mit ihr haben würde, und es
kam ihm der Gedanke, daß schließlich der kleine Lord
Fauntleroy vielleicht gar keine so schreckliche Belastung
für seine gräfliche Familie sein würde. Der Hauptmann
war ein schöner Mensch gewesen, die junge Mutter war
sehr hübsch, und vielleicht war auch der Junge irgendwie
annehmbar.
Als er Frau Errol mitteilte, warum er gekommen sei,
wurde sie sehr bleich.
»Oh!« sagte sie, »wird er von mir fortmüssen? Wir
hängen so sehr aneinander! Er ist alles, was ich habe.
Ich habe versucht, ihm eine gute Mutter zu sein!« Ihre
Stimme zitterte, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Sie wissen nicht, was er mir gewesen ist«, fügte sie
hinzu.

29

Der Anwalt räusperte sich.


»Ich muß Ihnen leider mitteilen«, sagte er, »daß Graf
Dorincourt Ihnen nicht – nicht sehr freundlich gesinnt
ist. Er ist ein alter Mann mit starken Vorurteilen, und er

30

war äußerst aufgebracht über die Heirat seines Sohnes.


Ich bedaure, der Überbringer einer so unangenehmen
Nachricht sein zu müssen, aber sein Entschluß, Sie nicht
sehen zu wollen, steht fest. Es ist seine Absicht, Lord
Fauntleroy unter seiner eigenen Aufsicht erziehen zu las­
sen – er soll bei ihm leben. Der Graf hat eine Vorliebe für
Schloß Dorincourt und verbringt dort einen großen Teil
des Jahres. Er leidet an entzündlicher Gicht und lebt
nicht gern in London. Lord Fauntleroy wird sich deshalb
meist in Dorincourt aufhalten. Der Graf bietet Ihnen
›Ulmenhof‹ als Heim an, das in angenehmer Umgebung
nicht weit vom Schloß gelegen ist. Ebenso sichert er Ih­
nen ein standesgemäßes Einkommen zu. Es wird Lord
Fauntleroy gestattet sein, Sie zu besuchen. Die einzige
Bedingung des Grafen ist, daß Sie ihn nicht aufsuchen
und den Park nicht betreten. Sie sollen also nicht eigent­
lich von Ihrem Sohn getrennt werden. Ich versichere Ih­
nen, gnädige Frau, die Bedingungen sind nicht so hart
wie – wie sie hätten sein können. Die Vorteile einer sol­
chen Umgebung und Erziehung, das werden Sie gewiß
einsehen, sind doch sehr groß.«
Er fürchtete, sie würde nun vielleicht in Tränen aus­
brechen oder eine Szene machen, wie andere Frauen, die
er kannte, es sicher getan hätten. Es war ihm sehr pein­
lich und unbehaglich, eine Frau weinen zu sehen.
Aber nichts dergleichen geschah. Sie trat ans Fenster
und stand eine Weile mit abgewandtem Gesicht. Er sah,
daß sie sich zu fassen suchte.
»Hauptmann Errol hing sehr an Dorincourt«, sagte sie

31

schließlich. »Er liebte England und alles, was englisch


war. Unter der Trennung von seiner Heimat hat er sehr
gelitten. Er war stolz auf sie und auf seinen Namen. Sein
Wunsch wäre es, ja, ich weiß, daß es sein Wunsch wäre,
daß sein Sohn diese schönen alten Orte kennenlernt und
eine Erziehung erhält, wie sie seiner künftigen Stellung
entspricht.«
Dann trat sie wieder zum Tisch und sah Mister Havis­
ham mit sanftem Blick an.
»Mein Mann hätte es so gewünscht«, sagte sie. »Es ist
das beste für meinen Jungen. Ich weiß – ich bin sicher, so
herzlos wird der Graf nicht sein, daß er ihn lehren wird,
mich nicht mehr lieb zu haben, und ich weiß – selbst
wenn er es versuchen sollte –, daß mein Junge viel zu
sehr seinem Vater gleicht, als daß er sich ungünstig be­
einflussen ließe. Und solange wir einander sehen dürfen,
darf es mir nicht zu schwer fallen.«
Sie denkt wirklich wenig an sich selbst, sagte sich der
Rechtsanwalt im stillen. Für sich selbst stellt sie keine
Bedingungen.
»Gnädige Frau«, sprach er dann laut, »ich achte Ihre
Rücksicht auf Ihren Sohn. Er wird es Ihnen zu danken
wissen, wenn er ein Mann ist. Ich versichere Ihnen, Lord
Fauntleroy wird sorgfältig behütet werden, und es wird
alles geschehen, ihm das Leben angenehm zu machen.«
»Ich hoffe«, sagte die zarte kleine Mutter mit halber­
stickter Stimme, »daß sein Großvater meinen Ceddie
liebgewinnen wird. Der Junge hat ein sehr liebevolles
Herz, und er ist immer geliebt worden.«

32

Wieder räusperte sich Mister Havisham. Er konnte


sich nicht recht vorstellen, wie der gichtische, jähzornige
alte Graf irgendeinen Menschen liebgewinnen sollte.
Doch er wußte, daß er zu diesem Kinde, seinem künfti­
gen Erben, in seiner reizbaren Art nett sein würde. Und
wenn Ceddie seinem Namen einigermaßen Ehre machte,
so würde sein Großvater stolz auf ihn sein.
»Es wird Lord Fauntleroy an nichts fehlen, dessen bin
ich ganz sicher«, erwiderte er. »Nur im Hinblick auf das
Glück des Kindes wünscht der Graf, daß Sie in der Nähe
wohnen und es häufig sehen können.«
Es durchfuhr ihn jedoch zum zweiten Male ein gelinder
Schreck, als Frau Errol Mary den Auftrag gab, den Klei­
nen zu suchen.
»Wird nicht schwer zu finden sein, gnä’ Frau«, sagte
Mary zu Mister Havishams Bestürzung, »sicher hockt er
wieder bei Mister Hobbs auf dem hohen Schemel am La­
dentisch zwischen der Seife, den Kerzen und den Kartof­
feln und dem ganzen Zeug und schwatzt über Politik.«
»Mister Hobbs kennt ihn, seit er ganz klein war«, er­
klärte Frau Errol dem Rechtsanwalt. »Er ist immer sehr
freundlich gegen Ceddie, die beiden sind sehr gute
Freunde.«
Aufs neue fühlte Mister Havisham seine Zweifel auf­
steigen. In England pflegen die Söhne adeliger Familien
nicht mit Gemischtwarenhändlern Freundschaft zu
schließen. Wie peinlich wäre es, wenn das Kind schlechte
Manieren hätte oder eine Neigung zu schlechter Gesell­
schaft! Wäre es möglich, dachte er, daß der Junge statt

33

der guten Anlagen seines Vaters diese unangenehmen Ei­


genschaften von seinen Onkeln geerbt hätte?
Solche unbehagliche Gedanken gingen ihm während
des Gespräches mit Frau Errol durch den Sinn, bis das
Kind hereinkam. Als die Tür aufging, scheute er sich
förmlich, Cedric anzusehen. Wer Mister Havisham kann­
te, wäre sicher erstaunt gewesen über seine sonderbaren
Empfindungen, als er nun den Jungen auf seine Mutter
zulaufen sah. Er erlebte einen recht aufregenden Um­
schwung seines Gefühls. Sofort erkannte er: dies war ei­
nes der reizendsten Kinder, die er je gesehen hatte. Seine
Schönheit war auffallend. Er hatte eine kräftige, anmuti­
ge Gestalt und ein männliches kleines Gesicht. Hoch trug
er den kindlichen Kopf, und sein ganzes Benehmen hatte
etwas Mutiges und Tapferes an sich. Seinem Vater sah er
so ähnlich, daß man beinahe erschrecken konnte. Von
ihm hatte er das goldblonde Haar, von der Mutter die
braunen Augen, doch keine Trauer oder Schüchternheit
lag darin – so unschuldig und furchtlos blickten sie in die
Welt, als ob er nie in seinem Leben etwas gefürchtet oder
bezweifelt hätte.
Das ist das hübscheste und besterzogene Kind, das ich
je gesehen habe, dachte Mister Havisham. Laut sagte er
nur: »Also das ist der kleine Lord Fauntleroy.«
Cedric hatte keine Ahnung, daß er beobachtet wurde,
und gab sich ganz wie immer. In seiner freundlichen Art
schüttelte er Mister Havisham die Hand, als sie einander
vorgestellt wurden, und er antwortete auf seine Fragen
mit demselben unbefangenen Freimut, mit dem er Mister

34

Hobbs begegnete. Er war weder schüchtern noch dreist,


und als sich Mister Havisham mit seiner Mutter unter­
hielt, bemerkte er, daß Cedric dem Gespräch aufmerk­
sam wie ein Erwachsener zuhörte.
»Er scheint ein frühreifer kleiner Kerl zu sein«, sagte
Mister Havisham zu der Mutter.
»In manchen Dingen, ja«, antwortete sie. »Er hat im­
mer sehr rasch gelernt und ist viel mit Erwachsenen zu­
sammen gewesen. Eine drollige Vorliebe hat er für lange
Wörter und Ausdrücke, die er in Büchern gelesen oder
von anderen gehört hat, aber er hat auch viel Freude an
kindlichen Spielen. Er ist ziemlich begabt, glaube ich,
aber oft ist er ein richtiger wilder Junge.«
Daß diese Feststellung stimmte, sah Mister Havisham
bei seiner nächsten Begegnung mit Cedric. Als sein Wa­
gen um die Ecke bog, fiel ihm eine Schar kleiner Jungen
in die Augen, die in höchster Aufregung schienen. Zwei
von ihnen waren gerade dabei, zu einem Wettlauf zu
starten, und einer von den beiden war Seine junge Lord­
schaft. Er schrie und jauchzte und vollführte genau soviel
Lärm wie der lauteste seiner Kameraden. Schon stand er
neben dem anderen Jungen, ein rotbestrumpftes Bein ei­
nen Schritt vorgestellt.
»Eins – zwei – drei – los!« rief der Starter mit gellender
Stimme.
Mister Havisham lehnte sich mit einem eigenartigen
Gefühl der Spannung zum Wagenfenster hinaus. Wie
jetzt die kleinen roten Beine Seiner Lordschaft auf das
Stichwort hin in die Luft flogen und über den Boden ra­

35

sten, so etwas hatte der alte Rechtsanwalt noch nie gese­


hen. Die Händchen zu Fäusten geballt, das Gesicht ge­
strafft, so flog Cedric dahin, sein helles Haar flatterte
hinter ihm her.
»Hurra, Ced Errol!« brüllten die Buben und tanzten
und schrien vor Aufregung. »Lauf, Billy Williams!«
»Tempo, Ceddie!« »Lauf, Billy!« »Tempo! Tempo!«
»Ich glaube wahrhaftig, er gewinnt«, sagte Mister
Havisham. Die Art, wie die roten Beine auf und nieder
flogen, das Gebrüll der Jungen, die wilden Anstrengun­
gen Billy Williams’, dessen braune Beine in gefährlich
nahem Abstand den roten folgten – das alles brachte
ihn in eine gewisse Erregung. »Wahrhaftig – ich
wünschte, er gewinnt!« sagte er und räusperte sich ent­
schuldigend.
In diesem Augenblick steigerte sich das Gebrüll der
aufgeregt herumtanzenden Buben zu einem gellenden
Schreien. Mit einem letzten gewaltigen Satz hatte der
künftige Graf Dorincourt den Laternenpfahl erreicht,
zwei Sekunden bevor der keuchende Billy Williams an­
langte.
»Hoch Ceddie Errol!« brüllten die Buben. »Hoch!
Hoch! Hoch! Bravo, Ceddie Errol!«
Mister Havisham zog den Kopf ins Wageninnere zu­
rück und lehnte sich mit einem trockenen Lächeln in die
Kissen.
»Bravo, Lord Fauntleroy!« sagte er leise.
Als sein Wagen vor Frau Errols Haus hielt, kamen der
Sieger und der Besiegte daher, umringt von der lärmen­

36

den Schar. Cedric ging neben Billy Williams und sprach


auf ihn ein. Sein siegesfrohes Gesicht war hochrot, die
Locken klebten ihm an der heißen, feuchten Stirn, seine
Hände steckten in den Hosentaschen.
»Weißt du«, sagte er, offenbar bemüht, dem unterle­
genen Rivalen die Niederlage zu erleichtern, »ich glaube,
ich hab’ gewonnen, weil meine Beine ein bißchen länger
sind als deine. Bestimmt deswegen. Weißt du, ich bin ja
drei Tage älter als du, und das ist auch ein Vorteil. Drei
Tage bin ich älter.«
Diese Art, die Sache darzustellen, schien Billy Williams
so zu trösten, daß er die Welt wieder freundlicher ansah
und sogar ein wenig großtun konnte, fast als hätte er den
Wettlauf gewonnen und nicht verloren. Ja, irgendwie
brachte Ceddie Errol es fertig, daß man sich wohlfühlte!
Selbst in der ersten Freude über seinen Sieg erinnerte er
sich daran, daß der Unterlegene wahrscheinlich nicht so
vergnügt war wie er selber.
An diesem Morgen hatte Mister Havisham eine ziem­
lich lange Unterredung mit dem Sieger im Wettlauf,
während der er mehr als einmal auf seine trockene Art
lächelte und sich mit seiner knochigen Hand übers Kinn
fuhr.
Frau Errol war aus dem Zimmer gerufen worden, und
so blieben der Rechtsanwalt und Cedric allein. Zunächst
wußte Mister Havisham nicht recht, was er mit seinem
kleinen Gegenüber reden sollte. Endlich fiel ihm ein, er
könne vielleicht Cedric mit ein paar Worten auf die Be­
gegnung mit seinem Großvater vorbereiten und auf die

37

große Veränderung, die ihm bevorstand. Er merkte, daß


Cedric keine Ahnung hatte von alledem, was ihn in Eng­
land erwartete. Der Junge wußte nicht einmal, daß seine
Mutter nicht im selben Hause wohnen würde wie er. Sie
hatten es für richtiger gehalten, ihm das erst mitzuteilen,
wenn die erste Aufregung vorbei wäre.
Mister Havisham saß in einem Lehnstuhl am offenen
Fenster. Ihm gegenüber stand ein zweiter, noch größerer
Lehnstuhl; darin saß Cedric und blickte Mister Havis­
ham an. Schon während seine Mutter noch im Zimmer
war, hatte er Mister Havisham still beobachtet. Ein kur­
zes Schweigen trat ein, nachdem Frau Errol das Zimmer
verlassen hatte. Cedric schien mit Mister Havisham be­
schäftigt, und Mister Havisham dachte ganz offensicht­
lich über Cedric nach. Wie aber sollte ein älterer Herr ein
Gespräch mit einem kleinen Jungen anfangen, der Wett­
läufe gewann und kurze Hosen trug und dessen rotbe­
strumpfte Beine nicht lange genug waren, um über den
Stuhlrand zu hängen, wenn er sich tief in den Sessel hin­
einsetzte –?
Aber Cedric half dem Rechtsanwalt aus der Verlegen­
heit, indem er selbst die Unterhaltung eröffnete.
»Wissen Sie«, sagte er, »ich weiß gar nicht, was das ist,
ein Graf.«
»Wirklich nicht?« fragte Mister Havisham.
»Nein«, erwiderte Cedric. »Und ich finde, wenn man
selber einer wird, so sollte man das wissen. Finden Sie
nicht?«
»Allerdings«, gab Mister Havisham zu.

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»Würden Sie so gut sein«, fuhr Cedric höflich fort –


»würden Sie so gut sein und mir das auseinandersetzen?
Wer macht jemand zu einem Grafen?«
»Ein König oder eine Königin in erster Linie!« erklärte
Mister Havisham. »Gewöhnlich wird er in den Grafen­
stand erhoben, weil er seinem Fürsten irgendeinen Dienst
erwiesen oder sonst eine große Tat getan hat.«

39

»Ach«, meinte Cedric, »das ist, wie wenn jemand Prä­


sident wird.«
»So?« fragte Mister Havisham, »wird jemand deswe­
gen zum Präsidenten gewählt?«
»Ja«, versicherte Cedric freudig. »Wenn ein Mann sehr
gut ist und sehr viel weiß, dann wird er Präsident. Dann
gibt es Fackelzüge und Musik, und alle Leute halten Re­
den. Ich hab’ manchmal gedacht, ich könnte später viel­
leicht Präsident werden, aber nie hab’ ich daran gedacht,
ein Graf zu werden. Ich wußte ja gar nichts von Grafen«,
fügte er hastig hinzu, damit es Mister Havisham ja nicht
für unhöflich hielt, daß er sich das nie gewünscht hatte.
»Es ist etwas ganz anderes als bei einem Präsidenten«,
sagte Mister Havisham.
»Ach?« wunderte sich Cedric. »Wieso denn? Gibt’s da
keine Fackelzüge?«
Mister Havisham hielt jetzt die Zeit für gekommen, die
Dinge etwas ausführlicher zu behandeln.
»Ein Graf ist – ist eine sehr wichtige Persönlichkeit«,
begann er.
»Ein Präsident auch!« fiel Cedric ihm ins Wort. »Die
Fackelzüge sind oft acht Kilometer lang, und es werden
Raketen abgeschossen, und die Musik spielt! Mister
Hobbs hat mich einmal mitgenommen.«
»Ein Graf«, fuhr Mister Havisham etwas unsicher fort,
»ist häufig von uralter Abstammung –«
»Was ist das?« fragte Ceddie.
»Von sehr alter Familie – außerordentlich alt.«
»Ach so!« sagte Cedric und streckte die Hände noch

40

tiefer in die Hosentaschen. »Da ist die Apfelfrau am Park


wahrscheinlich auch von sehr alter Familie. Ja, die ist si­
cher von uralter Abs – Abstammung. So furchtbar alt ist
sie – Sie würden sich wundern, daß sie noch stehen kann.
Ich glaube, sie muß hundert Jahre alt sein, und doch sitzt
sie da im Freien, sogar wenn’s regnet. Sie tut mir so leid,
mir und all den anderen Jungen.
Billy Williams hatte einmal beinah einen ganzen Dol­
lar, da hab’ ich ihm zugeredet, er solle jeden Tag für
fünf Cents Äpfel bei ihr kaufen, bis das Geld weg war.
Das hätte für zwanzig Tage gelangt, aber nach acht Ta­
gen bekam er die Äpfel satt. Gerade damals – das traf
sich gut – hatte mir ein Herr fünfzig Cents geschenkt,
und da habe eben ich die Äpfel weiter gekauft. Es tut
einem doch leid, wenn jemand so arm ist und eine so
uralte Abs – Abstammung hat; ihre ist ihr in die Kno­
chen gefahren, sagt sie, und Regen macht es noch
schlimmer.«
Mister Havisham blickte etwas verlegen in das ernst­
hafte Gesicht seines Gegenübers.
»Ich fürchte, du hast mich nicht ganz richtig verstan­
den«, erklärte er. »Mit uralter Abstammung meine ich
nicht hohes Alter. Ich meine damit, daß der Name einer
solchen Familie seit langer Zeit bekannt ist. Vielleicht
schon seit Hunderten von Jahren sind Männer dieses
Namens in der Geschichte ihres Landes berühmt gewe­
sen.«
»Wie George Washington«, sagte Ceddie. »Von dem
hab’ ich gehört, seit ich auf der Welt bin, und schon vor­

41

her war er längst bekannt. Mister Hobbs sagt, er wird


gar nie vergessen werden.«
»Der erste Graf Dorincourt«, sagte Mister Havisham
feierlich, »wurde vor vierhundert Jahren in den Grafen­
stand erhoben.«
»Das ist wirklich schon lange her!« erwiderte Ceddie.
»Haben Sie das Herzlieb schon erzählt? Das würde sie
sicher sehr interessieren. Wir wollen’s ihr gleich sagen,
wenn sie wieder hereinkommt. Sie hört so gern merk­
würdige Sachen. Was macht ein Graf denn noch, außer
daß er erhoben wird?«
»Viele von ihnen haben geholfen, England zu regieren.
Manche waren sehr tapfer und haben in alten Zeiten in
großen Schlachten gekämpft.«
»Das möchte ich auch«, rief Ceddie. »Es ist ein großer
Vorteil, ein tapferer Mann zu sein. Früher hatte ich
manchmal Angst – so im Finstern, wissen Sie; aber dann
dachte ich an die Soldaten in der Revolution und an
George Washington – und da ist mir die Angst vergan­
gen.«
»Es hat manchmal noch einen anderen Vorteil, ein
Graf zu sein«, versetzte Mister Havisham langsam und
richtete seine klugen Augen mit einem eigentümlichen
Ausdruck auf den kleinen Knaben. »Manche Grafen ha­
ben sehr viel Geld.«
Er war neugierig, ob sein junger Freund die Macht des
Geldes kannte.
»Viel Geld zu haben ist sehr nett«, meinte Cedric
harmlos. »Ich wünschte, ich hätte viel Geld.«

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»So?« sagte Mister Havisham. »Und warum denn?«


»Ach«, erklärte Ceddie, »wenn man Geld hat, kann
man eine Menge Dinge tun. Da ist gleich die Apfelfrau.
Wenn ich reich wäre, könnte ich ihr ein Zelt kaufen für
ihren Stand und einen kleinen Ofen, und dann würde ich
ihr jeden Tag, den es regnet, einen Dollar geben. Dann
könnte sie zu Hause bleiben … Und – o ja! ein Um­
schlagtuch würde ich ihr schenken. Da würden ihr die
Knochen nicht mehr so weh tun.«
»Hm!« machte Mister Havisham. »Und was würdest
du noch tun, wenn du reich wärst?«
»Oh, noch eine ganze Menge! Natürlich würde ich
Herzlieb alle möglichen schönen Sachen kaufen. Schöne
Schuhe und Schmuck und goldene Fingerhüte und Ringe
und ein Lexikon und einen Wagen, damit sie nicht mehr
auf die ’lektrische zu warten braucht. Wenn sie gern ein
rosaseidenes Kleid haben möchte, würde ich ihr auch
eins kaufen, aber sie will immer nur schwarze Kleider.
Aber ich würde sie in die großen Warenhäuser führen,
und sie müßte sich etwas aussuchen, alles – was ihr ge­
fällt. Und dann Dick –«
»Wer ist Dick?« fragte Mister Havisham.
»Dick ist ein Schuhputzer«, erklärte Seine junge Lord­
schaft. Er geriet mehr und mehr in Feuer über all diese
aufregenden Pläne. »Er ist einer der nettesten Schuhput­
zer, die Sie sich denken können. An einer Straßenecke
steht er, mitten in der Stadt. Ich kenn’ ihn seit Jahren.
Einmal, als ich noch sehr klein war, bin ich mit Herzlieb
in die Stadt gegangen, und sie hat mir einen wunder­

43

schönen Ball gekauft, der sprang sooo hoch. Ich trug


ihn, und plötzlich rollte er mitten auf die Straße, zwi­
schen die Wagen und Pferde. Ich war so erschrocken,
daß ich anfing zu weinen – ich war noch sehr klein da­
mals. Und Dick putzte gerade einem Herrn die Schuhe,
und er sagte: ›Hallo‹ und rannte zwischen die Pferde und
holte meinen Ball und wischte ihn an seinem Rock ab
und gab ihn mir und sagte: ›Alles in Ordnung, Jung­
chen!‹
Herzlieb fand das sehr schön von ihm und ich auch,
und seitdem reden wir jedesmal mit ihm, wenn wir in die
Stadt gehen. Er sagt ›Hallo!‹ und ich sage ›Hallo!‹ und
dann reden wir ein bißchen, und er erzählt mir, wie das
Geschäft geht. Leider nicht gut in letzter Zeit …«
»Und was möchtest du für Dick tun?« erkundigte sich
der Rechtsanwalt und rieb sich das Kinn mit einem son­
derbaren Lächeln.
»Oh«, sagte Lord Fauntleroy und setzte sich mit ge­
schäftsmäßiger Miene in seinem Stuhl zurecht, »ich wür­
de Jake ausbezahlen.«
»Wer ist Jake?« fragte Mister Havisham.
»Dicks Teilhaber! Und einen schlimmeren kann man
nicht auf dem Halse haben, sagt Dick. Er macht dem Ge­
schäft keine Ehre. Er schwindelt die Leute an, und dann
wird Dick wütend. Sie würden gewiß auch wütend wer­
den, wenn Sie den ganzen Tag Schuhe putzten, immer
anständig und ehrlich, und Ihr Teilhaber schwindelt an­
dauernd. Alle Leute mögen Dick gut leiden, aber Jake
können sie nicht ausstehen, und deshalb kommen man­

44

che nicht wieder. Wenn ich nun reich wäre, würde ich
Jake ausbezahlen und Dick ein ›Meisterschild‹ kaufen –
mit einem ›Meisterschild‹ kommt man weit, sagt Dick.
Ich würde ihm einen neuen Anzug schenken und neue
Bürsten und ihn ordentlich in Schwung bringen. Er sagt,
wenn man einmal ordentlich in Schwung ist, dann geht
alles wie geschmiert.«
»Was würdest du denn für dich selber kaufen, wenn
du reich wärst?«
»Ach, eine ganze Masse Sachen!« antwortete Lord
Fauntleroy munter, »aber erst würde ich Mary Geld ge­
ben für Bridget – das ist ihre Schwester, die hat zwölf
Kinder, und ihr Mann ist arbeitslos. Sie kommt immer
her und weint, und Herzlieb schenkt ihr Sachen in einem
Korb, und dann fängt sie wieder zu weinen an und sagt:
›Gott vergelt’s Ihnen, meine schöne Dame!‹
Und ich glaube, Mister Hobbs würde sich sehr über ei­
ne goldene Uhr mit Kette als Andenken an mich freuen,
und über eine Meerschaumpfeife. Und dann möchte ich
eine Mannschaft zusammenbringen.«
»Eine Mannschaft!« rief Mister Havisham.
»Jawohl, eine richtige Mannschaft, wie bei einer repu­
blikanischen Wahlversammlung«, erklärte Ceddie, der
ganz aufgeregt wurde. »Mit Fackeln und Uniformen und
allem, was dazugehört für alle Jungen und für mich sel­
ber auch. Das möchte ich für mich haben, wenn ich reich
wäre.«
Die Tür ging auf und Frau Errol trat ein.
»Verzeihen Sie, daß ich so lange ausgeblieben bin«,

45

sagte sie zu Mister Havisham, »aber es war eine arme


Frau da, die in großer Not ist.«
»Dieser junge Herr«, versetzte Mister Havisham, »bat
mir inzwischen von seinen Freunden erzählt, und was er
für sie tun würde, wenn er reich wäre.«
»Bridget gehört auch zu seinen Freunden«, sagte Frau
Errol, »sie ist draußen in der Küche, ich habe eben mit
ihr gesprochen. Sie ist in großer Not – ihr Mann hat
rheumatisches Fieber.«
Cedric rutschte aus seinem großen Stuhl hinab.
»Ich glaube, ich muß nach ihr sehen«, meinte er, »und
sie fragen, wie es ihrem Mann geht. Er ist ein sehr netter
Mann, wenn er gesund ist. Einmal hat er mir ein Schwert
aus Holz gemacht.«
Cedric lief aus dem Zimmer, und Mister Havisham er­
hob sich. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben.
Doch er zögerte. Schließlich sagte er:
»Vor meiner Abreise von Schloß Dorincourt hatte ich
eine Unterredung mit dem Grafen, bei der er mir ver­
schiedene Anweisungen gegeben hat. Sein Wunsch ist,
daß sein Enkel dem Leben in England und auch der Be­
gegnung mit ihm selbst mit freudiger Erwartung entge­
gensieht. Deshalb hat er mich beauftragt, Seiner Lord­
schaft mitzuteilen, daß der Umschwung in seinem Leben
ihm Geld bringen wird und alles, was ein Kind sich nur
wünschen kann. Falls er irgendwelche Wünsche äußert,
so soll ich sie ihm erfüllen und ihm sagen, daß alles von
seinem Großvater kommt. Gewiß, der Herr Graf dürfte
wohl kaum an solche Dinge gedacht haben, aber wenn es

46

Lord Fauntleroy Freude machen sollte, dieser armen Frau


zu helfen, so glaube ich im Sinne des Grafen zu handeln,
wenn ich ihm diesen Wunsch erfülle.«
Zum zweiten Male hatte er die Worte des Grafen in
eine andere Form gekleidet. Seine Lordschaft hatte näm­
lich gesagt:
»Machen Sie es dem Bengel klar, daß ich ihm geben
kann, was er haben will. Machen Sie ihm klar, was es
heißt, der Enkel des Grafen Dorincourt zu sein. Kaufen
Sie ihm alles, was er sich wünscht. Stecken Sie ihm die
Taschen voll Geld und sagen Sie ihm, es käme von sei­
nem Großvater.«
Cedrics Mutter freute sich sehr, daß Ceddie nun der
armen Bridget helfen konnte. Es war ihr nun leichter ums
Herz bei dem Gedanken über die erste Folge des seltsa­
men Schicksals ihres Jungen: daß er Gutes tun konnte an
denen, die Güte nötig hatten. Eine warme Röte stieg in
ihr hübsches Gesicht.
»Oh!« sagte sie, »das war sehr gütig von dem Grafen.
Cedric wird sich sehr freuen. Er hat Bridget und Michael
immer sehr gern gehabt. Es sind auch anständige Leute,
und ich habe oft bedauert, daß ich ihnen nicht mehr hel­
fen konnte. Michael ist ein tüchtiger Arbeiter, wenn er
gesund ist. Aber er ist lange krank gewesen und braucht
nun teure Arzneien und warme Sachen und nahrhaftes
Essen. Er und Bridget werden gewiß sparsam mit allem
umgehen, was man ihnen gibt.«
Mister Havisham versenkte seine dünne Hand in die
Innenseite seines Rockes und brachte eine große Briefta­

47

sche zum Vorschein. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf


seinem scharfen Gesicht. Im stillen überlegte er sich, was
Graf Dorincourt wohl zu diesem ersten, seinem Enkel
gewährten Wunsche sagen würde.
»Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist«, sagte er zu
Frau Errol, »daß Graf Dorincourt ein außerordentlich
reicher Mann ist. Er kann es sich leisten, jede Laune zu
befriedigen. Ich glaube, es ist ganz in seinem Sinne, wenn
wir diesen Wunsch Lord Fauntleroys erfüllen. Bitte rufen
Sie ihn wieder herein, und wenn Sie es gestatten, werde
ich ihm fünf Pfund für diese Leute geben.«
»Fünfundzwanzig Dollar!« rief Frau Errol. »Das ist ja
ein Vermögen für die Frau! Ich kann es selber kaum
glauben.«
»Glauben Sie es nur ruhig«, sagte Mister Havisham
mit seinem trockenen Lächeln. »Im Leben Ihres Sohnes
ist ein Wendepunkt eingetreten, und viel Macht wird
einst in seinen Händen liegen.«
»Ach, und er ist noch so jung – noch ein richtiges
Kind! Wie soll ich ihn lehren, sie richtig anzuwenden?
Fast könnte ich Angst haben … Mein guter, kleiner Ced­
die!«
Der Rechtsanwalt räusperte sich leicht. Dieser weiche,
schüchterne Blick aus ihren braunen Augen rührte sein
kühles, altes Herz.
»Ich glaube, gnädige Frau«, sagte er, »– wenn ich aus
meiner heutigen Unterredung mit Lord Fauntleroy
schließen darf –, daß der künftige Graf Dorincourt eben­
soviel an andere wie an seine eigene Person denken wird.

48

Er ist zwar noch ein Kind, aber ich denke doch, daß man
sich schon auf ihn verlassen kann.«
Frau Errol holte Cedric wieder herein. Mister Havis­
ham hörte sie miteinander reden, ehe sie ins Zimmer tra­
ten.
»Es ist Rheumatismus«, sagte Cedric, »eine schreckli­
che Art. Und er muß immer dran denken, daß die Miete
noch nicht bezahlt ist, und Bridget sagt, davon wird es
immer schlimmer. Pat könnte eine Stelle in einem Laden
kriegen, aber er hat keine anständigen Kleider.«
Sein kleines Gesicht war ganz bekümmert, als er her­
einkam. Bridget tat ihm offenbar sehr leid.
»Herzlieb hat mir gesagt, Sie wollten etwas von mir«,
wandte er sich an Mister Havisham. »Ich war draußen
bei Bridget.«
Mister Havisham sah ihn freundlich an. Er wußte aber
nicht recht, wie er die Sache anfangen sollte. Frau Errol
hatte ganz recht – Lord Fauntleroy war wirklich noch ein
richtiges Kind.
»Der Graf Dorincourt –« begann er zögernd und blick­
te dann unwillkürlich zu Frau Errol hinüber.
Plötzlich kniete die Mutter neben Ceddie nieder und
umschlang seine kleine Gestalt zärtlich mit beiden Ar­
men.
»Ceddie«, sagte sie, »der Graf ist dein Großvater, der
Vater von deinem Papa. Er ist sehr, sehr gütig, und er hat
dich lieb und möchte, daß auch du ihn lieb hast, weil sei­
ne Söhne, die früher seine kleinen Jungen waren, nun alle
tot sind. Er will, du sollst glücklich sein und andere

49

glücklich machen. – Er ist sehr reich und will, daß du al­


les bekommst, was du haben möchtest. Das hat er Mister
Havisham gesagt, und er hat ihm viel Geld für dich mit­
gegeben. Du darfst Bridget davon geben – so viel, daß sie
ihre Miete bezahlen und alles kaufen kann, was Michael
braucht. Ist das nicht schön, Ceddie? Ist das nicht gut
von deinem Großpapa?« Und sie küßte das Kind auf sei­
ne runden Wangen, die plötzlich vor Freude und Aufre­
gung glühten.
Cedric sah von seiner Mutter zu Mister Havisham hin­
über:
»Kann ich das Geld jetzt haben?« rief er. »Jetzt gleich?
Sie geht gerade fort.«
Mister Havisham gab ihm das Geld. Es waren lauter
neue, grüne Scheine – ein hübsches kleines Päckchen.
Ceddie stürmte aus dem Zimmer.
»Bridget!« hörten sie ihn auf dem Weg in die Küche
rufen, »Bridget, warte doch noch ein bißchen! Hier ist
das Geld für dich – nun kannst du die Miete bezahlen.
Mein Großpapa hat es mir geschenkt. Es ist für dich und
Michael!«
»Ach, Master Ceddie!« rief Bridget ganz erschrocken,
»das sind ja fünfundzwanzig Dollar! Wo ist denn die
gnädige Frau?«
»Ich glaube, ich muß ihr die Sache erklären«, sagte
Frau Errol.
Auch sie ging hinaus, und Mister Havisham blieb eine
Weile allein. Er trat ans Fenster und blickte nachdenklich
auf die Straße hinaus. Er dachte an den alten Grafen Do­

50

rincourt – da saß er nun in seiner großen, prunkvollen


Bibliothek, einsam und von Gicht geplagt, von Glanz
und Pracht umgeben, aber von niemandem wirklich ge­
liebt, weil er selber in seinem ganzen langen Leben nie
jemanden wirklich geliebt hatte. Er hatte immer nur an
sich selbst gedacht in seinem Hochmut und Jähzorn.
Und nun, da er ein alter Mann war, hatte ihm dieses
selbstsüchtige Leben nichts eingebracht als Reizbarkeit
und Krankheit und einen Haß gegen die Welt, die seinen
Haß gründlich erwiderte. Trotz seiner glanzvollen Stel­
lung war Graf Dorincourt unbeliebt und ganz einsam. Er
hätte sein Schloß voll Gäste laden können, wenn er ge­
wollt hätte. Aber er wußte, daß die Leute, auch wenn sie
seine Einladungen annahmen, im Grunde Angst hatten
vor seinem bösen Gesicht und seinen spöttischen, bei­
ßenden Reden. Er hatte eine scharfe Zunge und ein Herz
voll Bitterkeit, und es machte ihm Freude, andere zu ver­
höhnen und in Verlegenheit zu bringen, weil sie leicht
verletzt oder stolz oder schüchtern waren.
Mister Havisham wußte das alles nur zu gut, und es
ging ihm durch den Kopf, als er auf die stille, schmale
Straße hinüberblickte. In scharfem Gegensatz dazu stieg
vor seinen Augen das Bild des fröhlichen, frischen Jungen
auf, wie er da in dem großen Stuhl gesessen und ihm in
seiner freimütigen Art von seinen Freunden erzählt hatte,
von Dick und Bridget und der Apfelfrau. Er dachte an
das riesige Einkommen, an die fürstlichen Besitzungen,
an den Reichtum und an die Macht zum Guten oder Bö­
sen, die einst in seinen Händen liegen würde.

51

»Es wird vieles anders werden«, sagte er sich, »ganz


anders.«
Bald darauf kamen Ceddie und seine Mutter wieder
herein. Cedric strahlte. Er setzte sich zwischen seine Mut­
ter und den Rechtsanwalt, ganz erfüllt davon, wie sehr
Bridget sich gefreut hatte.
»Sie hat geweint!« rief er. »Vor Freude, sagte sie! Ich
hab’ noch nie jemand vor Freude weinen sehen. Großpa­
pa muß sehr gut sein. Ich hab’ gar nicht gewußt, daß er
so gut ist. Es ist viel, viel schöner, ein Graf zu sein, als ich
zuerst gedacht hab’! Ich bin beinah froh – ich bin beinah
sehr froh, daß ich einer werden soll.«

Vor der Abreise


In der nächsten Woche bekam Cedric mit jedem Tag eine
bessere Meinung von den Vorteilen, die das Leben eines
Grafen bot. Er konnte es kaum fassen, daß er alles, was
er sich wünschte, wirklich haben oder tun konnte. Nur
das hatte er nach einigen Gesprächen mit Mister Havis­
ham verstanden: die Wünsche, die ihm zunächst am Her­
zen lagen, sollten ihm nun erfüllt werden. Voll Freude
ging er ans Werk, und in der Woche vor der Abreise
nach England erlebte Mister Havisham mancherlei
Merkwürdiges. Unvergeßlich blieb ihm, wie sie eines
Morgens zusammen in die Stadt fuhren, um Dick aufzu­
suchen, und wie sie eines Nachmittags die Apfelfrau

52

»von uralter Abstammung« in helles Staunen versetzten,


als sie vor ihrem Stand stehenblieben und ihr mitteilten,
sie werde nun ein Zelt und einen Ofen und ein Um­
schlagtuch bekommen und dazu noch eine Geldsumme,
die ihr ganz phantastisch vorkam.

53

»Ich muß nach England fahren und ein Lord werden«,


erklärte Cedric in seiner gewinnenden Art. »Und ich
möchte nicht, daß mir jedesmal, wenn es regnet, Ihre
Knochen im Kopf ’rumgehen. Meine eigenen Knochen
tun mir nie weh, da weiß ich wahrscheinlich gar nicht,
wie weh Knochen tun können. Aber Sie haben mir immer
sehr leid getan, und hoffentlich wird es jetzt besser.«
»Sie ist eine sehr nette Apfelfrau«, erklärte er Mister
Havisham auf dem Heimweg. Die Eigentümerin des
Standes war einfach sprachlos gewesen und hatte noch
gar nicht recht an ihr Glück glauben können.
»Einmal bin ich hingefallen und hab’ mir das Knie
aufgeschlagen, da hat sie mir einen Apfel geschenkt, ganz
umsonst. Das hab’ ich nie vergessen. Leute, die zu einem
gut sind, vergißt man doch nicht.«
Der Besuch bei Dick verlief sehr aufregend. Dick hatte
gerade wieder viel Ärger mit Jake gehabt und war sehr
niedergeschlagen. Als Cedric ihm ruhig mitteilte, warum
sie gekommen seien, war er beinah stumm vor Staunen.
Dieses Geschenk war für Dick einfach unfaßbar; es
machte allen seinen Sorgen ein Ende. Die Art, wie Lord
Fauntleroy ihm die ganze Sache erklärte, war schlicht
und gar nicht feierlich und machte großen Eindruck auf
Mister Havisham, der daneben stand und zuhörte. Die
Mitteilung, daß sein kleiner Freund ein Lord geworden
sei und sogar Gefahr lief, ein Graf zu werden, brachte
Dick so aus der Fassung, daß ihm vor Staunen die Bürste
aus der Hand fiel. Während er sich bückte, um sie aufzu­
heben, stieß er einen eigentümlichen Ausruf hervor – das

54

heißt, Mister Havisham kam er eigentümlich vor –, Ce­


dric hatte ihn schon öfter gehört.
»Da soll doch gleich –« sagte er, »was für Zeug er­
zählst du mir da?« Darüber geriet Seine Lordschaft of­
fensichtlich in einige Verlegenheit; doch er hielt sich tap­
fer.
»Alle denken zuerst, es sei nicht wahr«, sagte er. »Mi­
ster Hobbs dachte, ich hätte den Sonnenstich. Ich dachte
selbst erst, es würde mir nicht sehr gefallen, aber jetzt
habe ich mich daran gewöhnt, und es gefällt mir schon
besser. Der Mann, der jetzt Graf ist, ist mein Großvater.
Er will, ich soll alles machen, wozu ich Lust habe. Er ist
sehr gut, wenn er auch ein Graf ist. Und er hat mir durch
Mister Havisham viel Geld geschickt, und da hab’ ich dir
etwas mitgebracht, damit du Jake ausbezahlen kannst.«
Das Ende vom Lied war, daß Dick tatsächlich Jake
ausbezahlte und alleiniger Eigentümer des Geschäfts
wurde. Er bekam auch verschiedene neue Bürsten, eine
neue Ausstattung und ein fabelhaftes Schild. Er konnte
ebensowenig an sein Glück glauben wie die Apfelfrau
»von uralter Abstammung« und ging umher wie ein
Schuhputzer im Traum. Er starrte seinen jungen Gönner
an, und es war ihm zumute, als könne er jeden Augen­
blick aufwachen. Noch immer schien er das Ganze nicht
recht begriffen zu haben, bis Cedric ihm die Hand zum
Abschied hinstreckte.
»Leb wohl«, sagte er, und obgleich er sich Mühe gab,
ruhig zu sprechen, zitterte seine Stimme ein wenig. »Hof­
fentlich geht’s Geschäft recht gut. Es tut mir leid, daß ich

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von dir weggehen muß, aber vielleicht komme ich wie­


der, wenn ich ein Graf bin. Und bitte, schreib mir öfter,
weil wir doch immer so gute Freunde waren. Wenn du
mir schreibst, mußt du den Brief an diese Adresse schik­
ken«, und er gab ihm einen Zettel. »Und ich heiße nicht
mehr Cedric Errol, ich heiße jetzt Lord Fauntleroy und –
leb wohl, Dick.«
Dicks Augen sahen verdächtig feucht um die Wimpern

56

aus. Er war kein gebildeter Schuhputzer, und es wäre


ihm schwergefallen, zu sagen, was er in diesem Augen­
blick empfand. Er versuchte es deshalb gar nicht erst,
sondern bemühte sich, etwas hinunterzuschlucken, was
ihm immer wieder im Halse aufstieg.
»Ich wollte, du gingst nicht weg«, sagte er mit heiserer
Stimme. Dann blickte er zu Mister Havisham hinüber
und griff an die Mütze. »Schönen Dank, Herr, daß Sie
ihn hergebracht haben, und auch für das andre. Er ist –
er ist ein merkwürdiger kleiner Kerl«, fügte er hinzu.
»Hab’ immer große Stücke auf ihn gehalten. Er ist ein
tüchtiger kleiner Kerl, und – und ein feiner kleiner Bur­
sche.«
Als sie gegangen waren, sah ihnen Dick lange nach.
Noch immer hing ihm ein Nebel vor den Augen, und der
Brocken steckte ihm auch noch in der Kehle, während er
der kleinen Gestalt nachblickte, die neben ihrem großen,
steifen Begleiter so tapfer einhermarschierte.
Bis zum Tage der Abreise verbrachte Seine Lordschaft
soviel Zeit wie nur möglich im Laden bei Mister Hobbs.
Schwermut hatte sich auf Mister Hobbs herabgesenkt, er
sah sehr bedrückt aus. Als ihm sein junger Freund voll
Freude das Abschiedsgeschenk überreichte – eine goldene
Uhr mit Kette –, war Mister Hobbs kaum imstande, sich
gebührend zu bedanken. Er legte das Etui auf sein breites
Knie und putzte sich ein paarmal hintereinander heftig
die Nase.
»Es steht was drin«, sagte Cedric, »– wenn man den
Deckel aufklappt. Ich hab’ dem Mann selber gesagt, was

57

er ’reinschreiben soll: ›Mister Hobbs von seinem ältesten


Freund Lord Fauntleroy. Fällt auf diese Uhr dein Blick,
denke gern an mich zurück.‹ Sie dürfen mich nie verges­
sen!« Wieder putzte Mister Hobbs seine Nase sehr ge­
räuschvoll.
»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte er. Auch er re­
dete ein wenig heiser, wie vor ihm Dick. »Und laß dir’s
nicht etwa einfallen, mich zu vergessen, wenn du nun un­
ter englische Aristokraten gerätst.«
»Ich werde Sie auch nie vergessen«, antwortete Seine
Lordschaft. »Bei Ihnen bin ich immer sehr glücklich ge­
wesen – fast am glücklichsten. Hoffentlich besuchen Sie
mich einmal. Sicher würde sich mein Großpapa sehr
freuen. Vielleicht schreibt er Ihnen und lädt Sie ein, wenn
ich ihm von Ihnen erzähle. Sie – Sie hätten doch nichts
dagegen, daß er ein Graf ist? Ich meine, Sie würden doch
nicht absagen, wenn er Sie einladen sollte, bloß weil er
einer ist?«
»Ich würde dich besuchen kommen«, erwiderte Mister
Hobbs leutselig.
So schien die Sache abgemacht. Wenn er vom Grafen
eine dringende Einladung erhalten sollte, ein paar Mona­
te nach Schloß Dorincourt zu kommen, so würde Mister
Hobbs seine republikanischen Vorurteile beiseite legen,
seinen Koffer packen und kommen.
Schließlich waren alle Vorbereitungen beendet. Es kam
der Tag, da die Koffer aufs Schiff gebracht wurden, und
es kam die Stunde, da der Wagen vor der Tür stand.
Plötzlich überfiel Cedric ein merkwürdiges Gefühl von

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Einsamkeit. Mama hatte sich lange Zeit in ihrem Zim­


mer eingeschlossen. Als sie herunterkam, waren ihre Au­
gen groß und feucht, und ihre Lippen zitterten. Cedric
ging auf sie zu. Sie beugte sich zu ihm nieder, und er
schlang die Arme um ihren Hals, und sie küßten einan­
der. Er wußte, irgend etwas machte sie beide traurig,
aber was es war, wußte er nicht. Doch ein lieber Gedan­
ke kam ihm.
»Wir haben dieses kleine Haus gern gehabt, nicht
wahr, Herzlieb?« sagte er. »Wir werden es immer gern
haben, nicht wahr?«
»Ja – ja«, antwortete sie leise. »Ja, mein Liebling.«
Und dann stiegen sie in den Wagen, und Cedric setzte
sich ganz dicht neben sie. Als sie sich aus dem Fenster
beugte, um noch einmal zurückzublicken, sah er sie an
und streichelte ihre Hand.

Und dann waren sie mit einemmal auf dem Schiff mitten
im wildesten Durcheinander. Wagen kamen unten ange­
fahren, und Reisende stiegen aus. Andere Reisende regten
sich fürchterlich auf, weil ihr Gepäck noch nicht da war
und vielleicht zu spät kommen würde. Riesige Koffer und
Kisten wurden hingeworfen und herumgezerrt. Matrosen
wickelten Taue ab und liefen eilig hin und her. Offiziere
erteilten Befehle. Damen und Herren, Kinder und Kin­
dermädchen kamen an Bord – manche lachend und ver­
gnügt, andere still und traurig; einige weinten und drück­
ten das Taschentuch an die Augen. Auf Schritt und Tritt
gab es für Cedric etwas zu sehen. Er betrachtete die auf­

59

gewickelten Taue, die eingerollten Segel, die hohen Ma­


ste, die den heißen, blauen Himmel fast zu berühren
schienen. Er überlegte, wie er mit den Matrosen ins Ge­
spräch kommen und sich vielleicht wertvolle Auskunft
über Seeräuber verschaffen könnte.
Im allerletzten Augenblick – er lehnte an der Reling des
Oberdecks, beobachtete die letzten Vorbereitungen und
freute sich über die Aufregung und das Geschrei der Ma­
trosen und der Dockarbeiter – bemerkte er plötzlich ein
Gedränge ganz in seiner Nähe. Jemand bahnte sich einen
Weg durch eine Gruppe von Menschen und lief auf ihn
zu. Es war ein Junge, der etwas Rotes in der Hand hielt
– es war Dick! Ganz atemlos kam er auf Cedric zuge­
stürzt.
»Bin den ganzen Weg gerannt«, keuchte er. »’s Ge­
schäft geht prima. Das hab’ ich für dich gekauft von
dem, was ich gestern verdient hab’. Du kannst’s tragen,
wenn du zu den feinen Leuten kommst. Das Papier hab’
ich verloren, wie ich mich durch die Kerle da unten
durchgewühlt hab’. Sie wollten mich nicht ’rauflassen, ’s
ist ein Taschentuch.«
Er sprudelte alles heraus wie einen einzigen Satz. Eine
Glocke fing an zu läuten, und mit einem Sprung war er
fort, noch ehe Cedric etwas sagen konnte.
»Leb wohl!« keuchte Dick. »Trag es, wenn du zu den
feinen Leuten kommst.« Und weg war er.
Ein paar Sekunden später sah er ihn sich durch die
Menschenmassen auf dem unteren Deck drängen und ans
Ufer rennen, gerade bevor der Laufsteg eingezogen wurde.

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61
Cedric hielt das Taschentuch in der Hand. Es war aus
leuchtendroter Seide und mit lila Hufeisen und Pferde­
köpfen geschmückt.
Taue spannten sich und knirschten, ein großer Wirr­
warr entstand. Die Leute an Land riefen und schrien zu
ihren Angehörigen und Freunden herüber, und die Leute
auf dem Schiff riefen zurück.
»Lebt wohl! Lebt wohl! Auf Wiedersehen!« Alle schie­
nen sie zu rufen: »Vergeßt uns nicht! Schreibt gleich! Auf
Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«
Der kleine Lord beugte sich über die Reling und wink­
te mit seinem roten Taschentuch.
»Leb wohl, Dick!« rief er aus Leibeskräften. »Danke
schön! Leb wohl, Dick!«
Der große Dampfer fuhr ab, und die Leute riefen und
winkten. Cedrics Mutter zog ihren Schleier über die Au­
gen, und am Ufer wimmelte alles durcheinander. Aber
Dick sah weiter nichts als das helle Kindergesicht unter
dem hellen Haar, das sonnbeglänzt im Winde flatterte,
und er hörte weiter nichts, als die warme Kinderstimme
ihr »Leb wohl, Dick!« rufen. Langsam fuhr so der kleine
Lord Fauntleroy aus seinem Geburtsland fort, dem un­
bekannten Land seiner Vorfahren entgegen.

62

In England
Erst auf der Reise erzählte Cedrics Mutter ihrem Jungen,
daß sie in England nicht im gleichen Hause wohnen
würde wie er. Als er es begriffen hatte, erfaßte ihn bitte­
rer Kummer. Mister Havisham erkannte, wie klug der
Graf daran getan hatte, es so einzurichten, daß Cedrics
Mutter in nächster Nähe wohnen und ihn häufig sehen
sollte, denn es war nun klar, daß er sonst die Trennung
nicht ertragen hätte. Frau Errol verstand es in ihrer klu­
gen und liebevollen Art, Cedric das Gefühl zu geben, daß
sie ihm ganz nahe bleiben würde. So milderte sich all­
mählich seine Furcht vor einer wirklichen Trennung, und
er war nicht mehr so bedrückt wie zuerst.
»Mein Haus ist gar nicht weit vom Schloß, Ceddie«,
sagte sie, sooft die Rede darauf kam. »Es ist sogar ganz
nahe, und du kannst mich jeden Tag besuchen, und denk
nur, was du mir dann alles zu erzählen hast! Und wir
werden so froh sein! Es ist ein wunderschönes Schloß.
Dein Vater hat mir oft davon erzählt. Er hat es sehr ge­
liebt. Und du wirst es auch lieben.«
»Ich würde es mehr lieben, wenn du auch dort wärst«,
sagte der kleine Lord und seufzte tief.
Es konnte nicht anders sein: der seltsame Zustand, daß
sein »Herzlieb« in dem einen Haus wohnen sollte und er
in einem andern, blieb ihm ein Rätsel.

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Frau Errol hatte es für das beste gehalten, ihm nicht zu


sagen, warum das alles so eingerichtet werden sollte.
»Es ist mir lieber, wenn er es nicht erfährt«, sagte sie
zu Mister Havisham. »Er würde es nicht begreifen; es
würde ihn nur erschrecken und ihm weh tun. Er wird
dem Grafen bestimmt viel natürlicher und herzlicher ent­
gegenkommen, wenn er nicht weiß, daß sein Großvater
so bitter gegen mich empfindet. Cedric hat noch nie Haß
und Härte kennengelernt, und es würde ihn unglücklich
machen, wenn er erführe, daß mich jemand haßt. Er ist
so liebevoll, und er hat mich so lieb! Es ist besser für ihn,
daß er es erst erfährt, wenn er älter ist, und noch besser
für den Grafen. Es würde eine Schranke zwischen ihnen
aufrichten, obwohl Ceddie noch ein Kind ist.«
Am meisten gefiel den Menschen, die Ceddie kennen­
lernten, das verständige Wesen, das er im Gespräch zeig­
te. Unwiderstehlich wirkten die altklugen Bemerkungen,
die er gelegentlich von sich gab, und dazu das runde,
ernsthafte Kindergesicht. Nach und nach fand auch Mi­
ster Havisham besonderes Vergnügen daran, mit dem
kleinen Lord zu plaudern.
»Also, du wirst versuchen, den Grafen gern zu ha­
ben?« fragte er.
»Ja«, antwortete Cedric. »Er ist mein Verwandter, und
natürlich muß man seine Verwandten gern haben. Au­
ßerdem ist er sehr gut gegen mich gewesen. Wenn je­
mand so viel für einen tut und möchte, daß man alles
hat, was man sich wünscht, hat man ihn natürlich gern,
auch wenn er kein Verwandter ist. Aber wenn er ein

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Verwandter ist und noch dazu alles tut – ja, dann hat
man ihn eben sehr lieb.«
Kaum hatten sich die Seekranken erholt, kaum lagen
sie auf Deck in ihren Liegestühlen, so schienen auch
schon alle die romantische Geschichte des Jungen zu
kennen, und alle interessierten sich für den kleinen Lord,
der sich munter auf dem Schiff herumtrieb, mit seiner
Mutter oder dem langen, dürren, alten Rechtsanwalt
umherspazierte oder mit den Matrosen plauderte. Alle
hatten ihn gern. Überall schloß er Freundschaft – dazu
war er stets bereit. Wenn die Herren an Bord auf und ab
gingen und er mit ihnen gehen durfte, beantwortete er al­
le ihre Scherze mit freimütiger Heiterkeit. Wenn die Da­
men mit ihm sprachen, gab es immer Gelächter in der
Gruppe, deren Mittelpunkt er war. Wenn er mit den
Kindern spielte, ging es immer besonders ausgelassen und
fröhlich zu.
Seine besten Freunde aber hatte er unter den Matrosen.
Er bekam wunderbare Geschichten zu hören von Seeräu­
bern und Schiffbrüchen und einsamen Inseln. Er lernte
Taue spleißen und ein Spielzeugschiff auftakeln und
wußte Bescheid mit »Topsegeln« und »Großsegeln«, daß
es nur so eine Art hatte. Seine Redeweise bekam manch­
mal einen ganz seemännischen Anstrich. Einmal rief er
lautes Gelächter in einer Gruppe von Damen und Herren
hervor, die, in Tücher und Mäntel gehüllt, an Deck sa­
ßen, als er mit harmlosem Lächeln sagte: »Da fahr’ mir
doch gleich der Klabautermann in die Planken, heut’ ist’s
aber frisch!«

65

Es überraschte ihn, daß sie lachten. Er hatte diesen


seemännischen Ausdruck von einer älteren »Teerjacke«
namens Jerry gehört, in dessen Geschichten er häufig
vorkam. Nach den Berichten über seine Abenteuer zu
schließen, hatte Jerry zwei- oder dreitausend Fahrten ge­
macht, hatte jedesmal Schiffbruch erlitten und war un­
weigerlich an einer einsamen Insel gestrandet, auf der es
nur so wimmelte von blutdürstigen Menschenfressern. Er
war auch mehrmals teilweise gebraten und verzehrt und
mindestens fünfzehn- bis zwanzigmal skalpiert worden.
»Deshalb hat er gar keine Haare mehr«, erklärte der
kleine Lord seiner Mutter. »Wenn man ein paarmal

66

skalpiert worden ist, wächst das Haar nicht mehr nach.


Jerrys Haar wächst nicht mehr seit dem letzten Mal, als
der König der Parromatschawikins ihn mit einem Messer
skalpiert hat, das aus dem Schädel des Häuptlings der
Wopslemumpkies gemacht war. Er sagt, das wäre das
Schrecklichste gewesen, was er jemals erlebt hat. Er hatte
solche Angst, als der König sein Messer schwang, daß al­
le seine Haare zu Berge standen, und sie legten sich auch
nicht, als er schon skalpiert war. Nun trägt sie der König
ebenso, und es sieht aus wie eine Bürste. Was Jerry alles
erlebt hat – so was hab’ ich noch nie gehört! Ich würde
es so gern Mister Hobbs erzählen!«
Elf Tage, nachdem er seinem Freund Dick Lebewohl
gesagt hatte, erreichten sie Liverpool. Am Abend des
zwölften Tages hielt der Wagen, der Cedric, seine Mutter
und Mister Havisham vom Bahnhof abgeholt hatte, vor
dem Tor von »Ulmenhof«. Vom Hause konnten sie in
der Dunkelheit nicht viel sehen. Cedric unterschied nur
eine Anfahrt unter hohen, breitästigen Bäumen, und
nachdem der Wagen diese Anfahrt ein Stück hinabgerollt
war, tat sich eine Haustür auf, und ein Lichtstrom flutete
ins Dunkel heraus.
Mary war mit ihnen gekommen, um ihrer Herrin wei­
ter zu dienen. Sie war schon früher im Hause angelangt.
Als Cedric aus dem Wagen sprang, sah er ein paar
Dienstboten in der großen, hellen Halle, und dann er­
blickte er Mary in der offenen Tür.
Mit einem frohen Aufschrei sprang der kleine Lord ihr
entgegen.

67

»Bist du glücklich angekommen, Mary?« fragte er.


»Hier ist Mary, Herzlieb«, rief er dann der Mutter zu
und küßte die alte Dienerin auf die rauhe, rote Wange.
»Ich bin froh, daß Sie hier sind, Mary«, sagte Frau Er­
rol leise. »Es ist für mich ein großer Trost, Sie wiederzu­
sehen. Da ist alles gleich nicht so fremd.« Und sie streck­
te ihr die Hand hin, die Mary ermutigend drückte. Sie
wußte, wie »fremd« sich diese junge Mutter fühlen muß­
te, die ihre Heimat verlassen hatte und nun ihr Kind her­
geben sollte.
Neugierig betrachtete die englische Dienerschaft den
Jungen und seine Mutter. Sie hatte allerhand über die
beiden munkeln hören. Sie wußte, wie aufgebracht der
alte Graf über seines Sohnes Heirat gewesen war und
warum Frau Errol im »Ulmenhof« wohnen mußte und
ihr Sohn im Schloß. Sie wußte auch Bescheid über das
große Vermögen, das er einst erben würde, und über den
jähzornigen, alten Grafen, der an Gicht litt und böse
Launen hatte.
»Er wird’s nicht leicht haben, der arme kleine Kerl«,
hatten sie untereinander gesagt.
Aber sie wußten nicht, wie dieser kleine Lord geartet
war, der nun in ihrer Mitte leben sollte. Sie konnten die
Wesensart des künftigen Grafen Dorincourt nicht recht
verstehen.
Er zog seinen Mantel aus, ganz als wäre er gewöhnt,
alles selber zu machen, und dann fing er an, sich umzu­
sehen. Er betrachtete die geräumige Halle und die Bilder
und Geweihe und all die sonderbaren Dinge, die da hin­

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gen und standen. Ihm schienen sie sonderbar, weil er sol­


che Sachen noch nie in einem Privathaus gesehen hatte.
»Herzlieb«, sagte er, »das ist ein sehr hübsches Haus,
findest du nicht? Ich bin froh, daß du hier wohnen wirst.
Es ist ein ganz großes Haus.«
Es war allerdings ein großes Haus im Vergleich zu dem
in der einfachen Straße von New York, und es war sehr
nett und freundlich. Mary führte sie hinauf in ein Schlaf­
zimmer mit heller, geblümter Tapete. Ein offenes Feuer
brannte im Kamin, und auf dem weißen Fell davor
schlief eine große, schneeweiße Angorakatze.
»Die hat Ihnen die Wirtschafterin vom Schloß ge­
schickt, gnä’ Frau«, erläuterte Mary. »Das ist eine sehr
freundliche, gute Dame. Sie hat alles für Sie einrichten
lassen. Ich hab’ selber einmal ein paar Minuten mit ihr
gesprochen. Sie hat den Herrn Hauptmann sehr gern ge­
habt, gnä’ Frau, und ist traurig, daß er nicht mehr am
Leben ist. Und sie hat gemeint, wenn die große Katze da
auf dem Fell am Feuer schläft, so fühlen sie sich in die­
sem Zimmer vielleicht ein bißchen wie zu Hause.«
Als sie fertig waren, gingen sie hinunter in ein anderes
großes Zimmer. Die Möbel waren schwer und schön ge­
schnitzt. Vor dem Feuer lag ein großes Tigerfell, und zu
beiden Seiten stand ein Lehnstuhl. Die vornehme, weiße
Katze hatte Lord Fauntleroys Streicheln gnädig hinge­
nommen und war mit ihm die Treppe heruntergekom­
men. Als er sich nun auf das Tigerfell warf, schmiegte sie
sich dicht an ihn, als ob sie Freundschaft schließen woll­
te. Das gefiel Cedric so gut, daß er seinen Kopf ganz tief

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zu ihrem hinabbeugte und sie weiter streichelte und gar


nicht hörte, was seine Mutter und Mister Havisham
sprachen.
Sie redeten allerdings ziemlich leise. Frau Errol sah ein
wenig blaß und erregt aus.
»Er muß doch nicht schon fort? Er kann doch heute
nacht noch bei mir bleiben?«
»Gewiß«, antwortete Mister Havisham ebenso leise,
»es ist nicht nötig, daß er heute schon weggeht. Ich selbst
werde mich gleich nach dem Essen ins Schloß begeben
und dem Grafen unsere Ankunft melden.«
Frau Errol warf einen Blick auf Cedric. Anmutig lag er
auf dem schwarz-gelben Fell. Der Feuerschein fiel auf
sein rosiges Gesicht und auf das wirre Lockenhaar. Die
große Katze schnurrte in schläfrigem Wohlbehagen.
Frau Errol lächelte wehmütig.
»Graf Dorincourt weiß nicht, was er mir nimmt«, sag­
te sie traurig. Dann blickte sie den Rechtsanwalt an.
»Wollen Sie ihm bitte sagen«, fügte sie hinzu, »daß ich
das Geld lieber nicht haben möchte?«
»Das Geld!« rief Mister Havisham. »Sie meinen doch
nicht die Rente, die er Ihnen aussetzen will?«
»Doch«, erwiderte sie. »Ich möchte es lieber nicht ha­
ben. Das Haus muß ich annehmen, und ich bin ihm
dankbar dafür, weil es mir ermöglicht, meinem Kinde
nahe zu sein. Aber Geld habe ich selber genug, um be­
scheiden zu leben, und ich möchte lieber seines nicht an­
nehmen, da er so sehr gegen mich eingenommen ist. Es
würde mir fast so vorkommen, als ob ich ihm Cedric

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verkaufte. Ich gebe ihn her, einzig und allein, weil ich ihn
so lieb habe, daß ich nicht an mich denken will, und weil
sein Vater es so gewünscht hätte.«
Mister Havisham rieb sich das Kinn.
»Seltsam«, sagte er. »Er wird sehr böse sein. Er wird es
nicht verstehen.«
»Er wird es schon verstehen, wenn er darüber nach­
denkt«, erwiderte sie. »Ich habe das Geld nicht wirklich
nötig. Warum sollte ich da eine Rente annehmen von ei­
nem Mann, der mich so sehr haßt, daß er mir meinen
Buben nimmt – das Kind seines Sohnes?«
Mister Havisham schien eine Weile nachzudenken.
»Ich werde Ihre Botschaft ausrichten«, sagte er schließ­
lich.
Dann wurde das Essen hereingebracht, und sie setzten
sich alle zu Tisch. Die weiße Katze bekam einen Stuhl ne­
ben Cedric und schnurrte während der ganzen Mahlzeit.
Später am Abend machte Mister Havisham im Schloß
seine Aufwartung und wurde sofort zum Grafen geführt.
Dieser saß in einem großen Lehnstuhl am Feuer, das
kranke Bein auf einem Gichtschemel. Unter seinen bu­
schigen Augenbrauen hervor blickte er dem Anwalt
scharf ins Gesicht, aber Mister Havisham bemerkte sehr
wohl, daß er trotz der gespielten Gleichgültigkeit ge­
spannt und erregt war.
»Nun«, sagte er, »wieder zurück, Havisham? Was
gibt’s Neues?«
»Lord Fauntleroy und seine Mutter sind im ›Ulmenhof‹
angekommen«, erwiderte Mister Havisham. »Sie haben

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die Reise gut überstanden und befinden sich bei ausge­


zeichneter Gesundheit.«
Der Graf gab einen halb ungeduldigen Laut von sich
und spielte ruhelos mit seiner Hand.
»Freut mich«, sagte er kurz. »Soweit alles in Ordnung.

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Trinken Sie ein Glas Wein, und machen Sie sich’s be­
quem. Was sonst?«
»Seine Lordschaft bleibt heute nacht bei seiner Mutter.
Morgen werde ich ihn ins Schloß bringen.«
Der Arm des Grafen ruhte auf der Seitenlehne seines
Stuhles; er hob die Hand und legte sie über die Augen.
»Nun, so reden Sie doch weiter«, sagte er. »Sie wissen
ja, ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten mir nichts weiter in
der Sache schreiben. Ich weiß also gar nichts. Wie ist
denn der Bengel? Die Mutter interessiert mich nicht; aber
wie ist der Junge?«
Mister Havisham trank einen Schluck von dem Port­
wein, den er sich eingeschenkt hatte, und behielt das Glas
in der Hand.
»Es ist nicht leicht, den Charakter eines siebenjährigen
Kindes zu beurteilen«, äußerte er sich vorsichtig.
»Ein Dummkopf, was?« rief der Graf. »Oder ein Töl­
pel? Sein amerikanisches Blut schlägt durch, was?«
»Ich glaube nicht, daß es ihm Schaden angetan hat,
Mylord«, erwiderte der Rechtsanwalt in seiner trocke­
nen, bedächtigen Art. »Ich verstehe mich nicht auf Kin­
der, aber mir schien er ein wohlgeratener, kleiner Bur­
sche.«
Seine Sprechweise war immer bedächtig und zurück­
haltend, aber jetzt übertrieb er noch ein wenig in dieser
Hinsicht. Er war nämlich zu dem Schluß gekommen, daß
es besser sei, den Grafen selbst urteilen zu lassen und ihn
auf die erste Begegnung mit seinem Enkel nicht weiter
vorzubereiten.

73

»Gesund und gut gewachsen?« fragte Mylord.


»Offenbar kerngesund und auch ganz gut gewachsen«,
erwiderte der Rechtsanwalt.
»Gerade Glieder, anständiges Gesicht?«
Der Anflug eines Lächelns spielte um Mister Havis­
hams dünne Lippen. Er dachte an das anmutige Bild am
Kamin im »Ulmenhof«: der hübsche kleine Lord auf dem
Tigerfell – das helle wirre Haar –, das frische, rosige
Kindergesicht.
»Ein recht hübscher Junge, glaube ich, Mylord. Frei­
lich – ich bin kein Kenner. Aber Sie werden ihn wohl,
wenn ich so sagen darf, etwas anders als die meisten eng­
lischen Kinder finden.«
»Das bezweifle ich nicht«, knurrte der Graf. Die Gicht
zwickte ihn gerade recht bös. »Eine freche Bande, diese
amerikanischen Kinder; das hab’ ich oft genug gehört.«
»Bei ihm ist es nicht gerade Frechheit«, erwiderte Mi­
ster Havisham. »Ich kann nicht recht sagen, was den Un­
terschied eigentlich ausmacht. Er ist mehr mit Erwachse­
nen als mit Kindern zusammen gewesen. Der Unterschied
scheint mir in einer Mischung von Frühreife und Kind­
lichkeit zu liegen.«
»Amerikanische Frechheit!« widersprach der Graf.
»Hab’ das schon öfter gehört. Sie nennen’s Frühreife und
Freiheit. Ekelhafte, freche Manieren sind es, weiter
nichts!«
Mister Havisham nahm wieder einen Schluck Portwein.
Er widersprach seinem adeligen Gönner überhaupt nur
selten – niemals aber dann, wenn seines adeligen Gönners

74

Bein an Gicht litt. In solchen Zeiten war es immer das be­


ste, ihn in Ruhe zu lassen. Eine Weile herrschte Schwei­
gen. Schließlich fing Mister Havisham wieder an:
»Ich habe Ihnen im Auftrag von Frau Errol etwas aus­
zurichten.«
»Mit ihr will ich nichts zu tun haben!« brummte Seine
Lordschaft. »Je weniger ich von ihr höre, desto besser.«
»Es handelt sich um eine ziemlich wichtige Sache«, er­
klärte der Anwalt. »Sie will die Rente, die Sie ihr ausge­
setzt haben, nicht annehmen.«
Der Graf fuhr merkbar zusammen.
»Was soll das heißen?« schrie er. »Was soll das heil­
ten?«
Mister Havisham wiederholte seine Worte und setzte
hinzu:
»Sie sagt, es sei nicht nötig, und da die Beziehungen
zwischen Ihnen und ihr nicht freundlich seien –«
»Nicht freundlich!« fuhr der Graf wütend auf. »Das
will ich meinen! Der bloße Gedanke an sie ist mir schon
zuwider. Sie ist sicher eine geldgierige Amerikanerin mit
einer scharfen, schrillen Stimme! Ich will sie nicht se­
hen!«
»Mylord«, sagte Mister Havisham, »Sie können sie
kaum geldgierig nennen. Sie hat nichts verlangt. Sie will
nicht einmal das Geld nehmen, das Sie ihr anbieten.«
»Das ist nur Berechnung!« fauchte der alte Graf. »Sie
will damit erreichen, daß ich sie empfange. Bildet sich
ein, ich würde ihren Mut bewundern. Tu ich aber nicht!
Ich will nicht, daß sie wie eine Bettlerin lebt, mir direkt

75

vor der Nase. Da sie nun die Mutter des Jungen ist, hat
sie standesgemäß aufzutreten, und damit Punktum. Sie
wird das Geld erhalten, ob sie will oder nicht.«
»Sie wird es nicht ausgeben«, sagte Mister Havisham.
»Ist mir ganz egal, ob sie’s ausgibt oder nicht!« don­
nerte Mylord. »Sie wird’s eben kriegen. Sie soll mir nicht
bei den Leuten herumlaufen und erzählen, sie müsse wie
eine Bettlerin leben, weil ich nichts für sie täte! Sie will
dem Jungen eine schlechte Meinung von mir beibringen,
das ist es! Wahrscheinlich hat sie ihn schon jetzt gegen
mich aufgehetzt.«
»Nein«, sagte Mister Havisham. »Ich habe Ihnen noch
eine andere Botschaft auszurichten, die Ihnen beweisen
wird, daß sie das nicht getan hat.«
»Ich will es nicht hören!« keuchte der Graf, ganz außer
Atem vor Zorn, Aufregung und Gicht.
Aber Mister Havisham richtete seine Botschaft den­
noch aus.
»Sie läßt Sie bitten, gegenüber Lord Fauntleroy nicht
zu äußern, daß Sie ihn von ihr getrennt haben, weil Sie
sie hassen. Er hat sie sehr lieb, und ihrer Meinung nach
würde das eine Schranke zwischen Ihnen und ihm auf­
richten. Sie sagt, er würde es nicht verstehen. Es würde
dahin führen, daß er vielleicht Angst vor Ihnen bekäme
oder jedenfalls weniger Zuneigung für Sie empfände. Sie
hat ihm nur gesagt, er sei noch zu jung, um die Gründe
zu verstehen. Er würde sie erfahren, wenn er älter sei. Sie
will, daß Ihre erste Begegnung mit dem Kind ungetrübt
verläuft.«

76

Der Graf sank in seinen Stuhl zurück. Seine tiefliegen­


den Augen funkelten unter den buschigen Brauen.
»Papperlapapp!« sagte er noch immer atemlos. »Pap­
perlapapp! Sie wollen doch nicht behaupten, daß die
Mutter ihm nichts gesagt hat?«
»Kein Wort, Mylord«, erwiderte der Rechtsanwalt
kühl. »Das kann ich Ihnen versichern. Das Kind ist be­
reit, Sie für den liebenswürdigsten, liebevollsten Großva­
ter der Welt zu halten. Nicht das geringste Wort hat man
ihm gesagt, das ihm Anlaß geben könnte, an Ihrer Voll­
kommenheit zu zweifeln. Und da ich ihm während mei­
nes Aufenthaltes in New York, Ihren Anordnungen ent­
sprechend, jeden Wunsch erfüllt habe, sieht er in Ihnen
den Inbegriff aller Großmut und Güte.«
»So, tut er das?« meinte der Graf.
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, fuhr Mister Havis­
ham fort, »daß der Eindruck, den Lord Fauntleroy von
Ihnen empfangen wird, ganz und gar von Ihnen abhängt.
Und wollen Sie mir bitte verzeihen, wenn ich mir die
Freiheit nehme, Ihnen einen Rat zu geben: Ich glaube, Sie
werden in jeder Hinsicht besser mit ihm auskommen,
wenn Sie es vermeiden, geringschätzig von seiner Mutter
zu reden.«
»Bah!« sagte der Graf, »das ganze Kerlchen ist sieben
Jahre alt!«
»Er hat diese sieben Jahre in engster Gemeinschaft mit
seiner Mutter verbracht«, erwiderte Mister Havisham,
»und ihr gehört seine ganze Liebe.«

77

Im Schloß
Es war spät am Nachmittag, als der Wagen mit dem
kleinen Lord und Mister Havisham die lange Allee hin­
auffuhr, die zum Schloß führte. Der Graf hatte bestimmt,
daß sein Enkel allein in die Bibliothek geschickt werden
sollte, wo er ihn zu empfangen gedachte. Während der
Wagen durch die Allee rollte, saß Lord Fauntleroy be­
quem in die weichen Kissen zurückgelehnt und beobach­
tete alles mit großer Aufmerksamkeit. Alles, was er sah,
fesselte ihn: der Wagen mit den prachtvollen großen
Pferden und ihrem blitzenden Geschirr, der hochgewach­
sene Kutscher und der lange Lakai in ihren funkelnden
Livreen, und besonders das Wappen mit der Krone auf
dem Wagenschlag. Er hatte gleich mit dem Lakaien ein
Gespräch angeknüpft und ihn gefragt, was alles bedeute.
Als der Wagen das große Parktor erreichte, lehnte er
sich weit aus dem Fenster, um die riesigen, steinernen Lö­
wen zu betrachten, die den Eingang schmückten. Das Tor
wurde von einer mütterlichen, rotwangigen Frau geöffnet,
die aus einem hübschen, efeubewachsenen Häuschen her­
austrat. Zwei Kinder kamen aus der Haustür gelaufen und
starrten mit runden, weitaufgerissenen Augen auf den
kleinen Jungen im Wagen, der sie ebenfalls ansah. Die
Mutter knickste und lächelte, und auf einen Wink von ihr
machten auch die beiden Kinder kleine Verbeugungen.

78

»Kennt sie mich denn?« fragte der kleine Lord. »Ich


glaube, sie kennt mich.« Und er nahm seine schwarze
Samtmütze vor ihr ab und lächelte.
»Guten Tag!« rief er fröhlich.
Die Frau war erfreut, so schien es ihm. Das Lächeln
auf ihrem rotwangigen Gesicht vertiefte sich.
»Gott segne Eure Lordschaft!« sagte sie. »Viel Glück
und Segen! Willkommen!«
Lord Fauntleroy schwenkte seine Mütze und nickte ihr
noch einmal zu, als der Wagen an ihr vorbeifuhr.

79

»Die Frau gefällt mir«, sagte er. »Sie sieht aus, als ob
sie Jungen gern hätte. Ich würde gern herkommen und
mit ihren Kindern spielen. Ob sie wohl so viele hat, daß
wir eine Mannschaft bilden können?«
Mister Havisham sagte ihm nicht, daß man ihm
schwerlich erlauben würde, sich seine Spielgefährten un­
ter den Pförtnerkindern zu suchen. Er dachte, es habe ja
noch Zeit, bis er das erfahre.
Weiter rollte der Wagen zwischen herrlichen, großen
Bäumen dahin, die von beiden Seiten der Allee ihre breit
ausladenden Äste zu einem Bogengang wölbten. Solche
Bäume hatte Cedric noch nie gesehen, so riesenhaft und
majestätisch. Gleich über dem Boden kamen die Äste aus
den gewaltigen Stämmen. Er wußte ja noch nicht, daß
Schloß Dorincourt eines der prächtigsten Schlösser und
der Park einer der größten und schönsten in ganz Eng­
land war und daß diese Bäume und die Allee kaum ihres­
gleichen hatten. Aber eines wußte er: es war alles sehr
schön.
Eine große, seltsame Freude erfüllte ihn über all die
Schönheit ringsumher, sooft er zwischen den gewaltigen
Ästen hindurch einen Blick auf die schönen, großen Ra­
senflächen des Parks und auf die anderen Bäume er­
haschte, die feierlich allein oder in Gruppen standen. Ein
paarmal lachte er hell auf, wenn ein Kaninchen aus dem
Grün sprang und davonhoppelte. Einmal stieg ein Volk
Rebhühner aufschwirrend in die Luft und flog davon. Da
jubelte er laut und klatschte in die Hände vor Lust.
»Hier ist’s aber schön«, sagte er zu Mister Havisham.

80

»So einen schönen Park hab’ ich noch nie gesehen. Hier
ist’s noch viel hübscher als im Zentralpark.«
Er wunderte sich sehr, wie lange sie schon unterwegs
waren.
»Wie weit ist es denn vom Tor bis zur Haustür?« frag­
te er endlich.
»Fünf bis sechs Kilometer«, antwortete der Rechtsan­
walt.
Jeden Augenblick sah Cedric etwas Neues, das ihn fes­
selte und beglückte. Ganz begeistert war er über die
Wildtiere, die im Grase lagen oder standen und, aufge­
schreckt vom Geräusch der rollenden Räder, die zierli­
chen, geweihgeschmückten Köpfe furchtsam der Allee
zuwandten.
»Ist hier ein Zirkus gewesen?« rief er, »oder sind sie
immer hier? Wem gehören sie denn?«
»Sie sind immer hier«, erklärte Mister Havisham. »Sie
gehören dem Grafen, deinem Großvater.«
Bald darauf sahen sie das Schloß. Grau und schön und
stattlich stieg es vor ihnen auf. Im Licht der letzten Son­
nenstrahlen funkelten die vielen Fenster. Türmchen und
Zinnen ragten auf und dicke, runde Türme; wuchernder
Efeu umrankte die Mauern. Ringsherum fielen Terrassen
ab und breiteten sich Rasenflächen und leuchtende Blu­
menbeete.
»Das ist das Allerschönste, was ich je gesehen habe«,
sagte Cedric, das runde Gesicht ganz rot vor Freude. »Es
sieht aus wie das Königsschloß in meinem Märchen­
buch.«

81

Er sah die große Eingangstür auffliegen. Da standen in


zwei langen Reihen viele Diener, die ihm alle entgegen­
blickten. Er wunderte sich, warum sie alle da standen,
und ihre Livreen machten ihm großen Eindruck. Er wuß­
te ja nicht, daß sie zu Ehren des kleinen Jungen da wa­
ren, dem all diese Pracht eines Tages gehören sollte: das
schöne Schloß, das aussah wie der Palast eines Märchen­
königs, der herrliche Park, die hohen alten Bäume, die
Wiesen mit dem Farnkraut und den Glockenblumen, wo
Hasen und Kaninchen spielten und braune, großäugige
Rehe im tiefen Gras lagen.
An der Spitze der Diener stand eine ältere Frau in ei­
nem schlichten, stattlichen, schwarzen Seidenkleid. Sie
hatte graues Haar und trug ein Häubchen. Als er die
Halle betrat, stand sie näher bei ihm als die anderen, und
er hatte den Eindruck, daß sie zu ihm sprechen wolle.
Mister Havisham, der ihn an der Hand führte, blieb ei­
nen Augenblick stehen.
»Dies ist Lord Fauntleroy, Frau Mellon«, sagte er. »Lord
Fauntleroy, dies ist Frau Mellon, die Wirtschafterin.«
Cedric gab ihr die Hand. Seine Augen leuchteten auf.
»Sie haben doch die Katze geschickt, nicht wahr?« sag­
te er. »Ich danke Ihnen herzlich dafür, Frau Mellon.«
Frau Mellons hübsches, altes Gesicht sah ebenso er­
freut aus wie vorhin das der Pförtnersfrau am Tor.
»Die Katze hat zwei schöne, kleine Kätzchen hiergelas­
sen«, sagte sie. »Ich werde sie ins Zimmer Eurer Lord­
schaft hinaufschicken lassen.« Dann wandte sie sich zu
Mister Havisham: »Ich würde seine Lordschaft überall

82

erkannt haben. Er hat ganz die Art und das Gesicht vom
Herrn Hauptmann. Dies ist ein großer Tag, Herr Rechts­
anwalt.«
Ein paar Minuten später öffnete der alte Lakai, der
Cedric begleitet hatte, die Tür zur Bibliothek und melde­
te hoheitsvoll: »Lord Fauntleroy, Mylord.«
Cedric trat über die Schwelle ins Zimmer. Es war ein
großer, wunderschön eingerichteter Raum mit schweren,
geschnitzten Möbeln. Die Möbel waren so dunkel und
die Vorhänge so schwer, die Fensternischen so tief und
die Entfernung zwischen Tür und Fenster so groß, daß
der ganze Raum sehr düster wirkte, zumal die Sonne
mittlerweile untergegangen war. Zuerst dachte Cedric, es
wäre niemand im Zimmer, aber bald entdeckte er einen
großen Lehnstuhl neben dem offenen Kaminfeuer, und in
diesem Stuhl saß jemand – jemand, der sich zunächst
nicht nach ihm umdrehte.
Aber bei jemand anderem erregte er doch eine gewisse
Aufmerksamkeit. Auf dem Fußboden neben dem Stuhl
lag ein Hund, eine riesige, gelbe Dogge, fast so groß wie
ein Löwe. Dieses mächtige Tier erhob sich langsam und
majestätisch und ging schweren Schritts auf den kleinen
Jungen zu.
»Dougal«, ertönte nun eine Stimme aus dem Lehn­
stuhl, »hierher!«
Aber der kleine Lord kannte Furcht ebensowenig wie
Lieblosigkeit – sein Leben lang war er mutig und tapfer
gewesen. Er legte die Hand auf das Halsband des großen
Hundes, als wäre das die natürlichste Sache der Welt,

83

und dann gingen sie einträchtig miteinander auf den Gra­


fen zu.
Da sah der Graf auf. Cedric erblickte einen großen, al­
ten Mann mit wirrem, weißem Haar und buschigen Au­
genbrauen und einer Nase, die wie ein Adlerschnabel zwi­
schen den tiefliegenden, funkelnden Augen herausragte.
Der Graf erblickte eine anmutige Kindergestalt in einem
schwarzen Samtanzug mit Spitzenkragen. Blonde Locken
umrahmten das hübsche, kleine Gesicht, aus dem ihm ein
Paar großer, brauner Augen treuherzig entgegenblickte.
Glich das Schloß dem Palast eines Märchenkönigs, so
schien wahrhaftig der kleine Lord hier ein Märchenprinz
zu sein. Freilich hatte er nicht die leiseste Ahnung davon,
und vielleicht wäre er auch ein bißchen zu stämmig ge­
wesen für einen Märchenprinzen. Aber dem leicht erreg­
baren, alten Mann strömte plötzlich vor Freude alles Blut
zum Herzen, als er sah, was für ein kraftvoller, schöner
Junge sein Enkel war und wie furchtlos er zu ihm auf­
blickte, die Hand auf dem Nacken des großen Hundes.
Es gefiel dem grimmigen alten Edelmann, daß das Kind
keinerlei Schüchternheit oder Furcht zeigte, weder vor
dem Hund noch vor ihm selbst.
Cedric sah ihn an, gerade wie er die Pförtnersfrau
und die Haushälterin angesehen hatte, und trat dicht zu
ihm.
»Bist du der Graf?« fragte er. »Ich bin dein Enkel –
Mister Havisham hat mich geholt, du weißt doch. Ich bin
Lord Fauntleroy.«

84

Er streckte ihm die Hand hin, denn das hielt er für höf­
lich und richtig auch einem Grafen gegenüber. »Ich hof­
fe, es geht dir gut«, fuhr er mit gewinnender Freundlich­
keit fort. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.«
Der Graf reichte ihm die Hand, und ein sonderbarer
Glanz kam in seine Augen. Er war so erstaunt, daß er
kaum wußte, was er sagen sollte. Unter seinen buschigen
Brauen hervor starrte er auf die anmutige, kleine Er­
scheinung und betrachtete sie vom Kopf bis zum Fuß.
»So, so, freust du dich, mich kennenzulernen?«
»Ja«, antwortete Lord Fauntleroy, »sehr!«
Ein Stuhl stand in der Nähe, und so setzte er sich. Es
war ein hochlehniger, ziemlich großer Stuhl, und seine
Füße reichten nicht bis auf den Boden, als er sich bequem
zurechtgesetzt hatte. Aber das schien ihn nicht zu stören.
Aufmerksam und doch bescheiden betrachtete er seinen
Großvater.
»Ich hab’ mich die ganze Zeit gefragt, wie du wohl
aussehen würdest«, bemerkte er. »Auf dem Schiff, wenn
ich so in meiner Koje gelegen bin, hab’ ich immer ge­
dacht, ob du wohl meinem Papa ähnlich siehst.«
»Nun, und sehe ich ihm ähnlich?« fragte der Graf.
»Ach, weißt du«, erwiderte Cedric, »ich war noch sehr
klein, als er starb, und vielleicht kann ich mich nicht
mehr richtig erinnern, wie er aussah. Aber ich glaube
nicht, daß du ihm ähnlich siehst.«
»Da bist du also enttäuscht?« vermutete der Großva­
ter.
»O nein!« entgegnete Cedric höflich. »Freilich habe ich

86

es gern, wenn jemand meinem Vater ähnlich sieht. Aber


ich freue mich natürlich, daß ich meinen Großvater ken­
nenlerne, auch wenn er meinem Vater nicht ähnlich ist.
Du weißt ja, wie es ist, wenn man seine Angehörigen
gern hat und bewundert.«
Der Graf lehnte sich in seinen Stuhl zurück und machte
große Augen. Es ließ sich nicht gerade behaupten, daß er
wußte, wie es war, wenn man seine Angehörigen gern
hatte und bewunderte. Er hatte den größten Teil seiner
Zeit damit verbracht, sich mit ihnen zu zanken, sie zu be­
schimpfen und zum Hause hinauszuwerfen, und alle haß­
ten ihn von Herzen.
»Jeder Junge hat doch seinen Großvater lieb«, fuhr der
kleine Lord fort, »besonders einen Großvater, der so gut
zu einem gewesen ist wie du zu mir.«
Wieder leuchtete es auf in den Augen des alten Man­
nes.
»So«, sagte er, »ich bin also gut zu dir gewesen?«
»Ja«, antwortete der kleine Lord fröhlich, »ich bin dir
ja so dankbar wegen Bridget und wegen der Apfelfrau
und wegen Dick!«
»Bridget!« rief der Graf. »Dick! Die Apfelfrau!«
»Ja«, erläuterte Cedric, »das sind die, für die du mir all
das Geld geschickt hast – das Geld, das Mister Havisham
mir geben sollte, wenn ich’s haben wollte –, das hast du
doch selber so gesagt.«
»Ach so!« rief Seine Lordschaft, »das meinst du! Das
Geld, das du ausgeben durftest. Also laß hören – was
hast du dir dafür gekauft?«

87

Er runzelte die Brauen und sah dem Kind scharf in die


Augen. Im stillen war er sehr neugierig, was der Kleine
sich wohl gegönnt haben mochte.
»Ach, vielleicht hast du gar nichts gewußt von Dick
und der Apfelfrau und von Bridget«, sagte Lord Fauntle­
roy. »Ich habe ganz vergessen, daß du ja so weit von ih­
nen wohnst. Sie sind alle gute Freunde von mir. Und Mi­
chael hat Fieber gehabt, mußt du wissen –«
»Wer ist Michael?« fragte der Graf.
»Michael ist der Mann von Bridget, und sie waren in
großer Not. Wenn ein Mann krank ist und nicht arbeiten
kann und zwölf Kinder hat – na, du weißt doch, wie das
ist. Und Michael ist immer ein guter Mann gewesen, nie
hat er getrunken. Und Bridget kam immer zu uns und
weinte. Und an dem Nachmittag, als Mister Havisham
bei uns war, saß sie auch in der Küche und weinte, weil
sie fast nichts mehr zu essen hatten und die Miete nicht
bezahlen konnten. Und ich unterhielt mich gerade mit ihr
in der Küche, da ließ Mister Havisham mich rufen und
sagte, du hättest ihm Geld für mich mitgegeben. Da bin
ich schnell zu Bridget gelaufen und habe es ihr gegeben,
und da war auf einmal alles gut. Bridget konnte es kaum
glauben. Deshalb bin ich dir ja so dankbar.«
»So«, sagte der Graf mit seiner tiefen Stimme, »das
wäre also eines von den Dingen, die dir Freude machten.
Was weiter?«
Dougal hatte neben dem großen Stuhl gelegen. Der
Hund hatte sich dort niedergelassen, sobald Cedric auf
den Stuhl geklettert war. Ein paarmal hatte er den Kopf

88

gewendet und zu dem Jungen aufgeblickt, als ob das Ge­


spräch ihn interessiere. Der alte Graf kannte den Hund
sehr gut und hatte ihn mit stiller Verwunderung beob­
achtet. Es war keineswegs Dougals Gewohnheit, rasch
Freundschaft zu schließen, und es erstaunte den Grafen,
wie ruhig das gewaltige Tier die Liebkosungen der Kin­
derhand hinnahm. Eben warf der Hund dem kleinen
Lord noch einmal einen prüfenden Blick zu, dann legte er
bedächtig den riesigen, löwengleichen Kopf auf das
schwarzsamtene Knie des Kindes.
Cedric fuhr fort, seinen neuen Freund zu streicheln,
während er antwortete:
»Ja, dann kam Dick. Du würdest Dick bestimmt gern
haben, er ist so gerade.«
Das verstand der Graf nicht gleich.
»Was bedeutet das?« erkundigte er sich.
Der kleine Lord zögerte eine Weile und dachte nach.
Er wußte selbst nicht genau, was es bedeutete. Es stand
fest für ihn, daß es etwas Lobenswertes sein müsse, weil
Dick das Wort so gern gebraucht hatte.
»Ich glaube, es bedeutet, daß er nie jemanden bemo­
geln würde«, rief er, »oder nie einen Jungen hauen, der
kleiner ist als er, und daß er den Leuten die Schuhe sehr
gut putzt und sie so glänzend macht, wie er nur kann. Er
ist nämlich ein Schuhputzer.«
»Und er gehört zu deinen Bekannten, was?« fragte der
Graf.
»Er ist ein alter Freund von mir«, erwiderte sein Enkel.
»Nicht ganz so alt wie Mister Hobbs, aber genug alt. Er

89

hat mir ein Geschenk gebracht, gerade im letzten Augen­


blick, ehe das Schiff abfuhr.«
Er griff in die Tasche und zog ein sauber zusammenge­
legtes, rotes Etwas heraus und entfaltete es mit liebevol­
lem Stolz. Es war das rotseidene Taschentuch mit den
großen, lila Hufeisen und den Pferdeköpfen.
»Das hat er mir geschenkt«, sagte Seine kleine Lord­
schaft. »Man kann’s um den Hals binden oder auch in
der Tasche lassen. Er hat es gekauft von dem ersten Geld,
das er verdient hat, nachdem ich Jake ausbezahlt und
ihm die neuen Bürsten geschenkt hatte. Es ist ein Anden­
ken. In Mister Hobbs’ Uhr habe ich Verse eingravieren
lassen: ›Fällt auf diese Uhr dein Blick, denke gern an
mich zurück.‹ Wenn mein Blick auf dieses Tuch fällt,
werde ich immer an Dick denken.«
Die Empfindungen des Ehrenwerten Grafen Dorin­
court wären schwer zu beschreiben gewesen. Er war
nicht leicht aus der Fassung zu bringen, denn er hatte viel
von der Welt gesehen. Aber hier trat ihm etwas so völlig
Neues entgegen, daß es ihm fast den Atem verschlug. Er
hatte Kinder nie gemocht, denn er war mit seiner eigenen
Person stets so beschäftigt gewesen, daß er keine Zeit ge­
habt hatte, sich ihnen wirklich zu nähern. Seine Söhne
hatten ihn nicht interessiert, solange sie noch klein waren
– obgleich er sich dunkel erinnerte, daß er Cedrics Vater
recht nett und hübsch gefunden hatte. Er war so eigen­
süchtig gewesen, daß ihm die Freude entgangen war,
Selbstlosigkeit an anderen zu bemerken. Nie hatte er er­
fahren, wie liebevoll und treu ein Kind sein kann.

90

Er hatte nie daran gedacht, daß er seinen Enkel gern


haben könnte. Er hatte den kleinen Cedric holen lassen,
weil sein Stolz es ihm gebot. Der Junge sollte dereinst
seine Stellung einnehmen. Aber Graf Dorincourt wollte
nicht, daß sein Name durch einen ungebildeten Flegel lä­
cherlich gemacht werde. Er war fest davon überzeugt,
daß der Junge zu einem Tölpel heranwachsen würde,
wenn er ihn in Amerika erziehen ließe.
An seinen beiden ältesten Söhnen hatte er so viele Ent­
täuschungen erlebt, und über die amerikanische Heirat
Hauptmann Errols war er so wütend gewesen, daß er nie
und nimmer geglaubt hätte, er könne noch etwas Erfreuli­
ches von einem seiner Nachkommen erleben. Als der Die­
ner Lord Fauntleroy gemeldet hatte, zögerte der Graf, den
Jungen anzusehen, aus Angst, dieser würde so aussehen,
wie er fürchtete. Deswegen hatte er auch das Kind allein
zu sich kommen lassen. Sein Stolz hätte es nicht ertragen,
wenn jemand Zeuge seiner Enttäuschung gewesen wäre.
Er hatte sich daher namenlos erleichtert gefühlt, als der
Junge in seiner freien, anmutigen Haltung auf ihn zuge­
kommen war, die Hand furchtlos am Halsband des gro­
ßen Hundes. Selbst in den Augenblicken seiner zuver­
sichtlichsten Hoffnungen hatte der Graf nicht angenom­
men, daß sein Enkel so aussehen würde. Fast schien es zu
gut, um wahr zu sein, daß dies der Junge war, den zu se­
hen er gefürchtet hatte – das Kind der Frau, die er haßte
–, dieser schöne, kleine Kerl mit seinem freimütigen Auf­
treten! Der Graf war von diesem unerwarteten Eindruck
ganz erschüttert.

91

Und dann fingen sie an, sich miteinander zu unterhal­


ten. Und dieses Gespräch bewegte den Grafen noch tie­
fer, ja, es verwirrte ihn beinah. Alle Leute waren in seiner
Gegenwart furchtsam und verlegen, und daran war er so
gewöhnt, daß er auch von seinem Enkel nichts anderes
erwartet hatte als Schüchternheit und Angst. Aber Cedric
fürchtete sich vor dem Grafen so wenig, wie er sich vor
Dougal gefürchtet hatte. Er war nicht dreist, er war nur
unbefangen und freundlich, und er hätte gar nicht ge­
wußt, warum er verlegen sein oder Angst haben sollte. Es
konnte dem Grafen nicht verborgen bleiben, daß dieser
kleine Junge ihn für einen Freund hielt und danach be­
handelte.
Trotz seiner Hartherzigkeit und seinem Hochmut emp­
fand der alte Graf doch im stillen eine nie gekannte
Freude über dieses Vertrauen. Schließlich berührte es ihn
nicht unangenehm, jemandem zu begegnen, der ihm
nicht mißtraute, nicht auswich, der nicht gleich die un­
angenehmen Seiten seines Wesens herauszufinden schien;
einem Menschen, der ihn mit klaren, arglosen Augen an­
sah – wenn es auch nur ein kleiner Junge in einem Samt­
anzug war.
So lehnte sich denn der alte Mann in seinem Lehnstuhl
zurück und ließ seinen Besucher noch mehr von sich er­
zählen. Und immer lag, während er ihn beobachtete, ein
seltsames Leuchten in seinen Augen. Der kleine Lord
antwortete bereitwillig auf all seine Fragen und plauderte
ganz ernsthaft in seiner unbefangenen Art. Er erzählte
ihm alles von Dick und Jake und von der Apfelfrau und

92

von Mister Hobbs. Er beschrieb ihm die republikanische


Versammlung im Glanze ihrer Fahnen und Fackeln. Im
Laufe des Gesprächs kam er auch auf den 4. Juli und die
Revolution, und er war gerade dabei, in laute Begeiste­
rung auszubrechen, als ihm plötzlich etwas einfiel und er
unvermittelt innehielt.
»Was ist denn los?« fragte sein Großvater. »Warum
erzählst du denn nicht weiter?«
Lord Fauntleroy rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl
hin und her. Irgend etwas brachte ihn offenbar in Verle­
genheit.
»Ich dachte gerade, daß du das vielleicht nicht gern
hörst«, erwiderte er. »Vielleicht war jemand von deinen
Leuten dabei. Ich hatte vergessen, daß du ein Engländer
bist.«
»Du kannst ruhig weitererzählen«, sagte Mylord.
»Von meinen Leuten war niemand dabei. Du hast ver­
gessen, daß du auch ein Engländer bist.«
»O nein!« rief Cedric rasch, »ich bin ein Amerikaner!«
»Du bist ein Engländer«, sagte der Graf streng. »Dein
Vater war ein Engländer.«
Es belustigte ihn, das zu sagen, aber Cedric belustigte es
keineswegs. Dem Jungen war es nie in den Sinn gekom­
men, daß das Gespräch eine solche Wendung nehmen
könnte. Er fühlte, wie ihm über und über heiß wurde.
»Ich bin in Amerika geboren«, widersprach er. »Man
ist ein Amerikaner, wenn man in Amerika geboren ist. Es
tut mir leid«, setzte er artig und rücksichtsvoll hinzu,
»daß ich dir widersprechen muß. Mister Hobbs hat mir

93

gesagt, wenn es wieder zu einem Krieg käme, würde ich –


müßte ich ein Amerikaner sein.«
Der Graf stieß ein grimmiges Lachen aus – es war kurz
und grimmig, aber es war ein Lachen.
»So, müßtest du das?« sagte er.
Er haßte Amerika und die Amerikaner, aber es belu­
stigte ihn, wie ernsthaft und eifrig dieser kleine Vater­
landsverteidiger war. Er dachte, daß aus einem so guten
Amerikaner wohl eines Tages ein recht guter Engländer
werden würde.
Es blieb keine Zeit mehr, das Thema Revolution ein­
gehend zu erörtern – Lord Fauntleroy wollte auch aus
Höflichkeit nicht wieder darauf zurückkommen –, denn
es wurde gemeldet, es sei angerichtet.
Cedric kletterte aus seinem Stuhl heraus und trat zu
seinem Großvater. Er blickte bedenklich auf dessen gich­
tisches Bein.
»Soll ich dir helfen?« fragte er höflich. »Du kannst
dich auf mich stützen. Einmal hat sich Mister Hobbs den
Fuß verletzt, ein Kartoffelsack ist ihm draufgefallen, und
da hat er sich auch auf mich gestützt.«
Der Graf musterte seinen kühnen, jungen Enkel vom
Kopf bis zum Fuß.
»Meinst du, daß du das kannst?« fragte er barsch.
»Ich glaube, ja«, erwiderte Cedric. »Ich bin stark. Ich
bin sieben, mußt du wissen. Du könntest dich mit dem
einen Arm auf den Stock stützen und mit dem andern auf
mich. Dick sagt, ich hätte sehr anständige Muskeln für
sieben Jahre.«

94

Er ballte die Hand zur Faust und führte sie an die


Schulter, damit der Graf die Muskeln fühlen könnte,
über die sich Dick so anerkennend ausgesprochen hatte.
»Nun«, sagte der Graf, »versuchen wir’s.«
Cedric gab ihm seinen Stock und half ihm beim Auf­
stehen. Das tat sonst der Lakai, und er bekam dabei
manchen Fluch zu hören. Mylord war in der Regel kein
sehr höflicher Herr, und gar manches Mal zitterte seinen
Leuten das Herz unter ihren eindrucksvollen Livreen.
Aber heute fluchte er nicht, obgleich ihn sein gichti­
sches Bein mehr als einmal zwickte. Er wollte eben ein­
mal einen Versuch machen. Langsam erhob er sich und
legte seine Hand auf die kleine Schulter, die ihm so tapfer
dargeboten wurde. Der kleine Lord tat vorsichtig einen
Schritt nach vorn, den Blick auf das kranke Bein geheftet.
»Bitte, stütz dich auf mich«, sagte er mit ermutigender
Zuversicht. »Ich gehe ganz langsam.«
Wäre der Graf von einem Lakaien geführt worden, so
hätte er sich weniger auf seinen Stock und mehr auf den
Arm seines Begleiters gestützt. Doch es gehörte zu seinem
Versuch, daß er es auch seinem Enkel nicht allzu leicht
machte. Er war im Gegenteil eine recht schwere Last,
und nach ein paar Schritten rötete sich das Gesicht des
kleinen Lords, und sein Herz klopfte ziemlich rasch, aber
er straffte sich und dachte an seine Muskeln und Dicks
lobende Worte.
»Stütz dich nur fest auf mich«, keuchte er, »es geht
ganz gut – wenn – wenn es nicht sehr weit ist.«
Es war eigentlich kein sehr langer Weg bis ins Eßzim­

95

mer, aber Cedric kam es ziemlich weit vor, bis sie den
Stuhl an der Spitze der Tafel erreichten. Die Hand auf
seiner Schulter schien bei jedem Schritt schwerer zu wer­
den, und sein Gesicht wurde immer röter, immer heißer
und sein Atem immer kürzer – aber er dachte nicht dar­
an, es aufzugeben. Er straffte seine Muskeln, trug den
Kopf hoch und redete dem mühsam dahinhinkenden
Grafen gut zu.
»Tut dir dein Fuß sehr weh, wenn du darauf stehst?«
fragte er. »Hast du ihn schon in heißes Senfwasser ge­
steckt? Mister Hobbs hat das immer getan. Arnika soll
auch sehr gut sein.«
Der große Hund trottete langsam neben ihnen her, der
Lakai folgte. Zuweilen lächelte er verstohlen, wenn er
sah, wie Cedric alle Kraft zusammennahm. Und auch der
Graf machte eine sonderbare Miene, als er einmal von
der Seite auf das feuerrote, kleine Gesicht herabblickte.
Nun betraten sie das Zimmer, wo gespeist werden sollte.
Cedric sah einen sehr großen, prachtvollen Raum vor sich.
Ein Diener, der hinter dem Stuhl an der Spitze der Tafel
stand, starrte sie verwundert an, als sie hereinkamen.
Aber schließlich hatten sie den Stuhl erreicht. Die
Hand lag nicht mehr auf Cedrics Schulter, und der Graf
saß endlich wieder.
Cedric zog Dicks Taschentuch heraus und wischte sich
die Stirn.
»Es ist sehr warm heute abend, nicht?« sagte er. »Viel­
leicht brauchst du ein Feuer, weil – wegen deinem Fuß,
aber mir kommt’s sehr warm vor.«

96

Er wollte seinen Großvater nicht kränken, und deshalb


mochte er nicht den Eindruck erwecken, als ob er irgend
etwas in seiner Umgebung überflüssig fände.
»Du hast eben ein schweres Stück Arbeit geleistet«,
sagte der Graf.
»O nein!« wehrte Lord Fauntleroy ab, »schwer war es
eigentlich nicht, mir ist nur ein bißchen warm geworden.
Im Sommer wird’s einem eben manchmal warm.«
Und kräftig rieb er sich die feuchten Locken mit dem
prachtvollen Taschentuch. Sein Stuhl stand dem seines
Großvaters gegenüber an der anderen Seite des Tisches:
ein Armstuhl, der für einen größeren Menschen als er be­
stimmt war. Alles, was er bisher gesehen hatte – die riesi­
gen Zimmer mit den hohen Decken, die schweren Möbel,
der lange Lakai, der große Hund, der Graf selbst – alles
war, als sei es darauf berechnet, Cedric fühlen zu lassen,
wie klein er war. Aber das störte ihn nicht. Er hatte sich
nie für groß oder wichtig gehalten und war durchaus be­
reit, sich der neuen Umgebung anzupassen.
Vielleicht hatte er nie so winzig ausgesehen wie jetzt,
als er in dem riesigen Stuhl am Ende des Tisches saß.
Trotz seiner Einsamkeit beliebte es dem Grafen, in gro­
ßem Stil zu leben. Er freute sich an seinem Essen, und er
aß in großer Aufmachung. Cedric blickte zu ihm hin über
die funkelnde Pracht von Kristall und Silber, die ihm zu­
nächst fremd, aber auch ungemein blendend schien.
Das Essen war für den Grafen meist eine sehr ernste
Angelegenheit – und es war auch eine sehr ernste Angele­
genheit für die Köchin, wenn es Seiner Lordschaft nicht

97

schmeckte oder er keinen Appetit hatte! Heute jedoch


schien sein Appetit ein wenig besser als sonst, vielleicht
weil er noch an etwas anderes zu denken hatte als an den
Geschmack der Vorspeisen und die Zubereitung des Bra­
tens. Sein Enkel gab ihm zu denken! In einem fort sah er
ihn an. Selbst sprach er nicht sehr viel, aber es gelang
ihm, den Jungen zum Reden zu bringen. Nie wäre es ihm
auch nur im Traum eingefallen, daß ihn das Plaudern ei­
nes Kindes unterhalten könnte. Aber Lord Fauntleroy be­
lustigte und erstaunte ihn zugleich. Es fiel ihm mehrmals
wieder ein, wie er der kindlichen Schulter sein Gewicht
hatte fühlen lassen, um zu sehen, wie weit der Mut und
die Ausdauer des Jungen reichen würden. Er freute sich
aufrichtig, daß sein Enkel keinen Augenblick daran ge­
dacht hatte, das einmal Unternommene aufzugeben.
»Du hast deine Grafenkrone nicht immer auf?« erkun­
digte sich Lord Fauntleroy achtungsvoll.
»Nein«, erwiderte der Graf mit seinem grimmigen Lä­
cheln, »sie steht mir nicht.«
»Mister Hobbs hat erst gemeint, du trägst sie immer«,
berichtete Cedric. »Aber dann hat er sich’s überlegt und
meinte, wahrscheinlich nimmst du sie manchmal ab, um
den Hut aufzusetzen.«
»Ja«, sagte der Graf, »ich nehme sie gelegentlich ab.«
Einer der Diener drehte sich plötzlich um und ließ hinter
der vorgehaltenen Hand ein sonderbares Hüsteln hören.
Cedric war zuerst mit dem Essen fertig. Er lehnte sich
in seinen Stuhl zurück und ließ seine Blicke durch das
Zimmer schweifen.

98

»Du mußt sehr stolz sein auf dein Haus«, sagte er, »so
ein wunderschönes Haus. Nie hab’ ich so was Schönes
gesehen; aber ich bin ja erst sieben, da hab’ ich noch
nicht viel gesehen.«
»Und du denkst, ich müßte stolz darauf sein, was?«
sagte der Graf.
»Ich glaube, da wäre jeder Mensch stolz darauf,«, er­
widerte Lord Fauntleroy. »Ich wäre stolz darauf, wenn es
mein Haus wäre. Alles ist so schön. Und der Park und
die Bäume, und wie die Blätter rauschen!«
Dann hielt er einen Augenblick inne und blickte nach­
denklich über den Tisch.
»Es ist ein sehr großes Haus für nur zwei Menschen,
nicht?« sagte er.
»Jedenfalls groß genug für zwei«, antwortete der Graf.
»Findest du es zu groß?«
Der kleine Lord zögerte einen Augenblick.
»Ich dachte nur«, sagte er, »wenn zwei Leute drin
wohnen, die nicht gute Kameraden sind, dann könnten
sie sich vielleicht manchmal einsam fühlen.«
»Glaubst du, daß ich einen guten Kameraden abgeben
werde?« erkundigte sich der Graf.
»Ja«, erwiderte Cedric, »ich glaube schon. Mister
Hobbs und ich waren sehr gute Freunde. Er war der be­
ste Freund, den ich je gehabt hab’, außer Herzlieb.«
Es zuckte in den buschigen Brauen des Grafen.
»Wer ist Herzlieb?«
»Das ist meine Mutter«, sagte Lord Fauntleroy, und
seine Stimme klang leise und traurig.

100

Vielleicht war er ein wenig müde, weil seine Schlafens­


zeit herankam, und vielleicht war es ganz natürlich, daß er
nach den Aufregungen der letzten Tage müde war. Viel­
leicht brachte die Müdigkeit auch ein unbestimmtes Gefühl
von Einsamkeit mit sich, und es fiel ihm ein, daß er heute
nicht zu Hause schlafen würde, behütet von den lieben
Augen dieses seines »besten Freundes«. Sie waren immer
die besten Freunde gewesen, Cedric und seine Mutter. Er
mußte nun immerzu an sie denken, und je mehr er an sie
dachte, um so weniger Lust hatte er zu reden. Als das
Mahl schließlich beendet war, bemerkte der Graf einen
leichten Schatten auf Cedrics Gesicht. Doch Cedric hielt
sich tapfer, und obwohl der lange Lakai auf der anderen
Seite seines Herrn ging, ruhte doch auf dem Rückweg zur
Bibliothek die Hand des Grafen wieder auf der Schulter
seines Enkels, wenn auch nicht so schwer wie vordem.
Als der Diener sie allein gelassen hatte, setzte sich Ce­
dric neben Dougal auf den Teppich vor dem Kamin.
Schweigend kraulte er eine Weile die Ohren des Hundes
und blickte ins Feuer.
Sein Großvater beobachtete ihn. Der Junge sah ernst
und nachdenklich aus, und ein- oder zweimal seufzte er
leise. Der Graf saß ganz still und hielt den Blick auf sei­
nen Enkel geheftet.
»Fauntleroy«, sagte er schließlich, »woran denkst du?«
Cedric blickte auf und versuchte zu lächeln.
»Ich dachte an Herzlieb«, sagte er, »und – und ich
glaube, es ist besser, wenn ich ein bißchen aufstehe und
hin und her gehe.«

101

Er erhob sich, steckte die Hände in die Hosentaschen


und begann auf und ab zu gehen. Seine Augen glänzten,
und er preßte die Lippen fest aufeinander, aber er hielt
den Kopf hoch und ging festen Schritts im Zimmer auf
und ab. Dougal stand auf und sah ihn an, dann ging er
langsam zu ihm hinüber und begann, ihm zögernd zu
folgen. Fauntleroy zog eine Hand aus der Tasche und
legte sie dem Hund auf den Kopf.
»Er ist ein guter Hund«, sagte er. »Er ist mein Freund.
Er weiß, wie mir zumute ist.«
»Wie ist dir zumute?« fragte der Graf.
Es verursachte ihm Unbehagen, daß der Junge sich da
mit seinem ersten Anfall von Heimweh herumschlug.
Aber es gefiel ihm, wie tapfer er damit fertig zu werden
suchte. Dieser kindliche Mut war nach seinem Herzen.
»Komm her«, sagte er.
Fauntleroy ging zu ihm hin.
»Ich bin noch nie von zu Hause fort gewesen«, sagte
der Junge mit bekümmertem Blick. »Man kriegt ein so
sonderbares Gefühl, wenn man die ganze Nacht in einem
fremden Schloß bleiben muß statt in seiner eigenen
Wohnung. Aber Herzlieb ist ja nicht weit fort von mir.
Sie hat gesagt, ich sollte immer daran denken – und –
und ich bin ja schon sieben –, und ich kann mir das Bild
ansehen, das sie mir gegeben hat.«
Er griff in die Tasche und brachte ein kleines, violettes
Samtetui zum Vorschein.
»Da ist es«, sagte er. »Siehst du, wenn man auf die Fe­
der drückt, springt es auf, und da ist sie drin.«

102

Er war dicht zum Stuhl des Grafen getreten. Als er das


kleine Etui herauszog, schmiegte er sich an die Seitenleh­
ne des Stuhls und gleichzeitig an den Arm des alten
Mannes, so vertrauensvoll, als hätten sich dort schon
immer Kinder angelehnt.
»Da ist sie«, sagte er, als das Etui aufgesprungen war.
Mit einem Lächeln blickte er auf.
Der Graf runzelte die Brauen. Er wollte das Bild nicht
sehen, aber er sah es trotzdem an, und ein Gesicht blickte
ihm entgegen, so liebreizend und jung – ein Gesicht, so
ähnlich dem des Kindes neben ihm –, daß er fast er­
schrak.
»Wahrscheinlich glaubst du, daß du sie sehr gern
hast?« sagte er.
»Ja«, antwortete der kleine Lord leise und mit schlich­
ter Offenheit, »das glaub’ ich, und ich glaube, es ist auch
wahr. Weißt du, Mister Hobbs war mein Freund, und
Dick und Bridget und Mary und Michael, die waren
auch meine Freunde. Aber Herzlieb – nun, sie ist eben
mein bester Freund, und wir sagen einander alles. Ich
muß sie beschützen und für sie sorgen, und wenn ich
groß bin, will ich für sie arbeiten und Geld verdienen,
weil mein Vater gestorben ist und sie nur mehr mich
hat.«
»Wie stellst du dir denn das vor?« erkundigte sich sein
Großvater.
Der kleine Lord glitt wieder auf den Kaminteppich. Da
saß er nun, das Bild noch in der Hand. Er schien ernst­
lich nachzudenken, ehe er antwortete.

103

»Ich hatte dran gedacht, in Mister Hobbs’ Geschäft


einzutreten«, sagte er, »aber am liebsten möchte ich Prä­
sident werden.«
»Wir werden dich statt dessen ins Oberhaus schicken«,
sagte sein Großvater.
»Nun«, bemerkte Lord Fauntleroy, »wenn ich nicht
Präsident werden kann und wenn das eine gute Branche
ist, hätte ich nichts dagegen. Die Gemischtwarenbranche
ist manchmal sehr langweilig.«
Vielleicht überlegte er sich die Sache, denn nachdem er
das gesagt hatte, saß er eine Weile ganz still und blickte
ins Feuer.
Der Graf sagte nichts mehr. Er lehnte sich in seinem
Stuhl zurück und beobachtete ihn. Viele seltsame, neue
Gedanken gingen dem alten Edelmann durch den Sinn.
Dougal hatte sich ausgestreckt und war eingeschlafen,
den Kopf auf den mächtigen Pfoten. Ein langes Schwei­
gen folgte.
Etwa eine halbe Stunde später wurde Mister Havisham
hereingeführt. In dem großen Zimmer war es sehr still.
Der Graf saß noch immer nachdenklich in seinem Stuhl.
Er hielt mahnend die Hand in die Höhe, als Mister Ha­
visham näher kam. Dougal schlief noch immer, und dicht
neben dem großen Hund schlief, den lockigen Kopf auf
dem Arm, der kleine Lord.

104

Der Graf und sein Enkel


Als der kleine Lord am Morgen erwachte – am Abend
vorher, als man ihn ins Bett getragen hatte, war er gar
nicht mehr wach geworden –, hörte er als erstes das
Knistern eines Holzfeuers und leises Stimmengemur­
mel.
»Sie müssen achtgeben, Dawson, daß Sie nichts davon
laut werden lassen«, hörte er eine Frauenstimme sagen.
»Er weiß nicht, warum sie nicht bei ihm sein darf, und er
soll den Grund nicht erfahren.«
»Wenn Seine Lordschaft es so angeordnet hat«, ant­
wortete eine andere weibliche Stimme, »so werde ich
mich wohl danach richten müssen. Aber Sie entschuldi­
gen schon, daß ich mir die Freiheit nehme, grausam
nenn’ ich das! Diese arme, hübsche, junge Frau, kaum
hat sie den Mann verloren, auch noch von ihrem eigenen
Fleisch und Blut zu trennen. Und so ein hübscher Junge
noch dazu, der kleine Lord!«
Cedric rührte sich in seinem Bett, drehte sich auf die
andere Seite und schlug die Augen auf.
Alles sah hell und freundlich aus. Im Kamin brannte
ein Feuer. Durch die efeuumrankten Fenster fielen die
Sonnenstrahlen herein und tanzten fröhlich auf den bun­
ten, großgeblumten Vorhängen und den Möbelbezügen.
Die beiden Frauen traten an sein Bett, und er sah, daß ei­

105

ne davon Frau Mellon war, die Wirtschafterin; die an­


dere war eine Frau in mittleren Jahren mit einem freund­
lichen, gutmütigen Gesicht.
»Guten Morgen, Mylord«, sagte Frau Mellon. »Haben
Sie gut geschlafen?«
Seine Lordschaft rieb sich die Augen und lächelte.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, wieso
ich hier bin.«
»Sie sind gestern abend ’raufgetragen worden, als Sie
schon eingeschlafen waren«, sagte die Wirtschafterin.

106

»Das ist Ihr Schlafzimmer, und dies ist Dawson, die Sie
versorgen wird.«
Fauntleroy setzte sich im Bett auf und streckte Dawson
die Hand hin, wie er sie auch dem Grafen hingestreckt
hatte.
»Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte er. »Es ist sehr
lieb von Ihnen, und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie
mich versorgen wollen.«
»Sie können sie Dawson nennen, Mylord«, lächelte die
Wirtschafterin. »Sie ist dran gewöhnt, daß sie Dawson
genannt wird.«
»Fräulein Dawson oder Frau Dawson?« erkundigte
sich Seine Lordschaft.
»Einfach Dawson, Mylord«, antwortete Dawson sel­
ber. Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Weder Frau noch
Fräulein, wenn’s Ihnen recht ist. Wollen Sie jetzt aufste­
hen, und soll Dawson Sie anziehen, und wollen Sie dann
im Kinderzimmer frühstücken?«
»Danke, ich hab’ schon vor Jahren gelernt, mich allein
anzuziehen«, antwortete der kleine Lord. »Herzlieb hat
es mich gelehrt. Herzlieb ist meine Mutter. Wir hatten
nur Mary für die ganze Arbeit, Waschen und alles – und
da ging es natürlich nicht, daß sie noch extra Arbeit mit
mir kriegte. Ich kann auch ganz gut allein baden, wenn
Sie nur so gut sein wollen und die Ohren nachsehen,
wenn ich fertig bin.«
Dawson und die Wirtschafterin wechselten Blicke.
»Dawson wird alles tun, was Sie wünschen«, sagte
Frau Mellon.

107

»Das will ich, und von Herzen gern«, sagte Dawson


mit ihrer guten, gemütlichen Stimme. »Er soll sich allein
anziehen, wenn es ihm so lieber ist, und ich werd’ dabei­
stehen und ihm helfen, wenn er mich braucht.«
»Danke schön«, erwiderte der kleine Lord. »Manch­
mal ist es ein bißchen schwierig mit den Knöpfen, und da
muß ich jemanden fragen.«
Er fand Dawson sehr nett, und noch ehe er mit Baden
und Anziehen fertig war, waren sie sehr gute Freunde,
und er wußte schon eine Menge von ihr. Er hatte heraus­
gefunden, daß ihr Mann Soldat gewesen und in einer
richtigen Schlacht gefallen war, und ihr Sohn war Matro­
se und auf einer großen Fahrt unterwegs. Er hatte See­
räuber und Menschenfresser gesehen und Chinesen und
Türken, und seltene Muscheln hatte er mitgebracht und
Korallen – Dawson konnte sie ihm zeigen, wenn er woll­
te, denn sie hatte welche oben in ihrem Koffer. Das alles
fesselte ihn sehr.
Dann ging er ins Nebenzimmer, um zu frühstücken. Es
war wieder ein sehr großes Zimmer, und daneben lag
noch eines, das, wie Dawson ihm sagte, auch ihm gehöre.
Da überkam ihn das Gefühl, daß er eigentlich sehr klein
sei, wieder so stark, daß er es Dawson anvertrauen muß­
te, als er sich an den hübsch gedeckten Frühstückstisch
setzte.
»Ich bin doch noch sehr klein dafür«, sagte er nach­
denklich, »daß ich in einem so großen Schloß wohnen
und so viele große Zimmer für mich haben soll – finden
Sie nicht?«

108

»Nein, gar nicht!« erwiderte Dawson, »das kommt Ih­


nen nur am Anfang ein bißchen sonderbar vor. Aber Sie
werden sich rasch daran gewöhnen, und dann wird’s Ih­
nen hier schon gefallen, ’s ist doch so ein schönes Haus,
wissen Sie.«
»Freilich ist es ein wunderschönes Haus«, sagte der
kleine Lord und seufzte. »Aber es würde mir besser gefal­
len, wenn Herzlieb auch hier sein könnte. Ich hab’ sonst
immer mit ihr gefrühstückt und ihr Zucker und Sahne in
den Tee gegeben und ihr das geröstete Brot gereicht. Das
war natürlich viel gemütlicher.«
»Ach, wissen Sie«, tröstete ihn Dawson, »Sie können
sie ja jeden Tag besuchen, und denken Sie nur, was Sie
ihr alles erzählen müssen! Warten Sie nur, bis Sie überall
gewesen sind und alles gesehen haben – die Hunde und
die Ställe mit den Pferden. Eins davon wird Ihnen beson­
ders gefallen –«
»Wirklich?« rief Fauntleroy fröhlich. »Ich hab’ Pferde
sehr gern. Jim hatte ich sehr gern. Das war das Pferd, das
bei Mister Hobbs den Gemüsewagen zog. Jim war ein
schönes, gutes Pferd, wenn es nicht gerade bockte.«
»Na warten Sie nur«, sagte Dawson, »bis Sie die Ställe
hier gesehen haben und alles, was drin ist. Und Sie haben
ja noch nicht einmal ins nächste Zimmer geguckt!«
»Was ist denn da drin?« fragte Fauntleroy.
»Frühstücken Sie nur erst zu Ende, dann werden Sie es
schon sehen«, erwiderte Dawson.
Da wurde er natürlich sehr neugierig und beeilte sich
sehr mit seinem Frühstück. Es mußte bestimmt etwas Be­

109

sonderes im nächsten Zimmer sein, weil Dawson ein so


geheimnisvolles Gesicht machte.
»So, ich bin fertig«, sagte er ein paar Minuten später
und glitt von seinem Stuhl. »Kann ich mir’s jetzt anse­
hen?«
Dawson nickte und ging ihm voran, geheimnisvoller
denn je. Er wurde immer neugieriger.
Als sie die Tür zum Nebenzimmer öffnete, blieb er auf
der Schwelle stehen und sah sich sprachlos vor Staunen
um.
Er steckte die Hände in die Taschen und wurde rot bis
unter die Haare, weil das so überraschend und aufregend
war. So etwas zu sehen, hätte jeden Jungen überwältigt.
Das Zimmer war groß – kleine Zimmer schien es hier
überhaupt nicht zu geben –, und es kam ihm noch schö­
ner vor als alle anderen. Die Möbel schienen nicht so
schwer und alt wie die in den unteren Räumen. Die Vor­
hänge und Teppiche und Wände waren heller. Schränke
voller Bücher standen da, und auf den Tischen viele, viele
Spielsachen – schöne, sinnreich erdachte Dinge, wie er sie
in den Schaufenstern von New York bestaunt hatte.
»Es sieht aus wie ein Zimmer für einen Jungen«, stieß
er schließlich aufgeregt hervor. »Wem gehören denn alle
die Sachen?«
»Sehen Sie sie nur näher an«, sagte Dawson, »sie gehö­
ren Ihnen!«
»Mir!« rief er, »mir! Wieso gehören sie mir? Wer hat
sie mir geschenkt?« Und mit einem Freudenschrei stürzte
er darauf zu. Er konnte es fast nicht glauben. »Von

110

Großpapa!« sagte er mit leuchtenden Augen, »bestimmt


kommt das alles von Großpapa!«
»Gewiß, von Seiner Lordschaft«, erwiderte Dawson.
»Wenn Sie schön artig sind und den ganzen Tag froh und
munter bleiben, dann schenkt er Ihnen, was Ihr Herz be­
gehrt.«
Es war ein furchtbar aufregender Vormittag. Was gab
es da alles anzusehen und zu untersuchen! Jedes neue
Spielzeug nahm ihn so in Anspruch, daß er kaum davon
loskam, um das nächste zu betrachten. Und wie merk­
würdig: dies alles war für ihn allein vorbereitet worden!
Schon ehe er New York verlassen hatte, waren Leute aus
London hierhergekommen und hatten die Zimmer einge­
richtet, die er bewohnen sollte, und hatten die Spielsa­
chen und Bücher gebracht, von denen man dachte, daß
sie am meisten nach seinem Sinn wären.
»Haben Sie jemals gesehen«, sagte er zu Dawson, »daß
jemand einen so guten Großvater hat wie ich?«
Einen Augenblick schien Dawson unschlüssig. Sie hatte
keine sehr günstige Meinung von Seiner Lordschaft, dem
Grafen. Sehr lange war sie zwar noch nicht im Hause,
aber sie hatte doch schon manche offene Bemerkung
über die Eigenheiten des alten Herrn im Dienerzimmer
hören können.
»Von all den bösartigen, jähzornigen, alten Kerlen, de­
nen ich, Gott sei’s geklagt, gedient habe«, hatte der läng­
ste der Lakaien gesagt, »ist er bei weitem der schlimmste.«
Dieser Lakai – er hieß Thomas – hatte seinen Kollegen
im Untergeschoß auch einige Bemerkungen hinterbracht,

111

die der Graf Mister Havisham gegenüber in einem Ge­


spräch über eben diese Vorbereitungen geäußert hatte.
»Verwöhnt ihn nur recht und stopft seine Zimmer voll
Spielsachen«, hatte Mylord gesagt. »Stellt ihm hin, was
ihm Spaß macht – dann wird er seine Mutter bald ver­
gessen haben. Das ist so Kinderart!«
Seine Lordschaft hatte eine schlechte Nacht gehabt und
den Vormittag in seinem Zimmer verbracht. Gleich nach
dem Essen ließ er seinen Enkel zu sich kommen.
Fauntleroy ging sofort. In großen Sprüngen lief er die
breite Treppe hinunter. Der Graf hörte ihn durch die
Halle stürmen, und dann ging die Tür auf, und Cedric
kam mit strahlenden Augen und erhitzten Wangen her­
ein.
»Ich hab’ schon drauf gewartet, daß du nach mir
schickst«, sagte er. »Ich bin schon längst fertig. Ich hab’
mich ja so sehr über all die Sachen gefreut, und ich danke
dir tausendmal dafür! Den ganzen Morgen hab’ ich da­
mit gespielt!«
»So«, sagte der Graf, »sie gefallen dir also?«
»Sie gefallen mir – ach, ich kann dir gar nicht sagen,
wie sie mir gefallen!« rief Fauntleroy ganz rot vor Freu­
de. »Ein Spiel ist dabei, das ist wie Baseball, aber es wird
auf einem Brett gespielt, mit schwarzen und weißen Stei­
nen. Ich hab’ versucht, es Dawson beizubringen, aber sie
hat es nicht ganz verstanden – sie hat ja auch nie Baseball
gespielt, weil sie eine Dame ist, und ich fürchte, ich hab’
es ihr nicht sehr gut erklärt. Aber du weißt doch, wie
Baseball gespielt wird, nicht wahr?«

112

»Es tut mir leid«, erwiderte der Graf, »es ist ein ameri­
kanisches Spiel, nicht wahr? So ähnlich wie Kricket?«
»Kricket hab’ ich nie spielen sehen«, sagte Fauntleroy.
»Aber Mister Hobbs hat mich ein paarmal zu Baseball­
spielen mitgenommen. Es war so spannend und aufre­
gend! Soll ich mein Spiel holen und es dir zeigen? Viel­
leicht interessiert es dich, und du vergißt deinen Fuß. Tut
dir dein Fuß heute sehr weh?«
»Mehr, als mir lieb ist«, war die Antwort.
»Dann wirst du ihn vielleicht doch nicht vergessen
können«, meinte der Kleine besorgt. »Vielleicht ist es dir
nur lästig, wenn ich dir das Spiel erkläre? Oder glaubst
du, daß es dir Spaß machen könnte?«
»Geh und hol es«, sagte der Graf.
Das war zweifellos ein neuartiger Zeitvertreib: die Be­
schäftigung mit einem Kind, das sich anbot, ihm Spiele
beizubringen. Aber gerade das Neuartige an der Sache
belustigte ihn. Ein verstecktes Lächeln spielte um den
Mund des Grafen, als Cedric mit der Schachtel in den
Armen zurückkam.
»Darf ich den kleinen Tisch da zu deinem Stuhl her­
überschieben?« fragte er eifrig.
»Klingle nach Thomas«, sagte der Graf, »der wird es
für dich tun.«
»Ach, das kann ich selber machen«, antwortete Faunt­
leroy. »Er ist nicht so schwer.«
»Wie du willst«, erwiderte sein Großvater. Das Lä­
cheln vertiefte sich auf dem Gesicht des alten Mannes,
während er die Vorbereitungen beobachtete. Der Kleine

113

war mit Leib und Seele bei der Sache. Das Tischchen
wurde herangeschoben, das Spiel ausgepackt und aufge­
stellt.
»Es ist sehr interessant, wenn man erst angefangen
hat«, sagte Fauntleroy. »Du nimmst die schwarzen Stei­
ne, ich nehme die weißen.«
Äußerst angeregt erklärte er alle Einzelheiten des Spie­
les, machte die Haltungen des »Fängers« und des »Wer­
fers« vor und beschrieb mit höchst gesteigerten Ausdrük­
ken einen »heißen Ball«, den er eines unvergeßlichen Ta­
ges hatte auffangen sehen, als Mister Hobbs ihn zu einem
Match mitgenommen hatte.
Als schließlich genug erklärt und vorgemacht worden
war und das Spiel im Ernst seinen Anfang nahm, fühlte
sich der Graf noch immer gut unterhalten. Sein junger
Gefährte war ganz bei der Sache. Sein frohes Lachen,
wenn er einen guten Wurf getan hatte, seine Begeisterung
über eine »Vollrunde«, seine unparteiische Freude über
sein eigenes Glück und das Glück seines Gegenspielers –
das alles hätte jedes Spiel anregend machen müssen!
Hätte man dem Grafen Dorincourt vor einer Woche
gesagt, daß er an diesem besonderen Tag in der Gesell­
schaft eines kleinen Jungen seine Gicht und seine
schlechte Laune über einem Kinderspiel vergessen würde
– so hätte man wohl allerlei Unangenehmes von ihm zu
hören bekommen. Und doch hatte er sich selbst ganz
vergessen, als sich die Tür auftat und Thomas einen Be­
such meldete.
Der Besucher, ein älterer, schwarz gekleideter Herr,

114

kein geringerer als der Pfarrer des Dorfes, war so ver­


blüfft über das erstaunliche Bild, das sich ihm bei seinem
Eintritt bot, daß er unwillkürlich zurückwich und beina­
he mit Thomas zusammengestoßen wäre.
Keine seiner Pflichten empfand Pfarrer Mordaunt so
lästig wie die notwendigen Besuche im Schloß seines ade­
ligen Gutsherrn. Denn der Graf machte ihm diese Besu­
che so unangenehm wie er nur konnte – und das war
sehr unangenehm. Von Kirchenpflichten und Wohltätig­
keit wollte der Graf nichts wissen, und er geriet in höch­
ste Wut, wenn sich einer seiner Pächter herausnahm, arm
oder krank oder sonstwie hilfsbedürftig zu sein. War es
sehr schlimm mit seiner Gicht, so verkündete er ohne
Umstände, daß er mit Geschichten über das Elend seiner
Leute nicht gelangweilt zu werden wünsche. War es mit
der Gicht nicht so arg und er infolgedessen in etwas
menschlicherer Stimmung, so gab er dem Pfarrer gele­
gentlich etwas Geld, doch nicht, ohne ihn zu ärgern und
das ganze Kirchspiel wegen seiner Dummheit und Armut
zu beschimpfen.
In all den Jahren, die der Pfarrer nun schon das Kirch­
spiel von Dorincourt betreute, hatte er es noch nie erlebt,
daß Seine Lordschaft aus freien Stücken jemandem einen
Gefallen getan oder an jemand anderen gedacht hätte als
an sich selbst.
Heute war er wegen eines besonders dringenden Falles
ins Schloß gekommen. Diesmal aber scheute er den Be­
such beim Grafen aus zwei Gründen mehr denn je:
Erstens wußte er, daß Seine Lordschaft seit mehreren

115

Tagen an einem heftigen Gichtanfall litt und darum in so


schauderhafter Laune war, daß Gerüchte darüber selbst
bis ins Dorf gedrungen waren.
Der zweite Grund, warum sich der Pfarrer vor diesem
Besuch fürchtete, wog noch schwerer, denn es war ein

116

neuer Grund, und er war bereits überall mit dem größten


Eifer erörtert worden.
Alle wußten, wie aufgebracht der alte Herr gewesen
war, als der schöne Hauptmann Cedric die Amerikanerin
geheiratet hatte. Und alle wußten, wie grausam er gegen
den Hauptmann gewesen war, und wie der lustige, lie­
benswürdige, junge Mann, der einzige von der ganzen
vornehmen Familie, der sich im Dorf allgemeiner Be­
liebtheit erfreut hatte, schließlich im fremden Land – arm
und unversöhnt mit seinem Vater! – gestorben war. Sie
wußten auch, wie sehr Seine Lordschaft das arme, junge
Geschöpf haßte, das seines Sohnes Frau gewesen war.
Wie er den bloßen Gedanken an ihr Kind gehaßt und den
Jungen nie hatte sehen wollen – bis seine beiden älteren
Söhne starben und ihn ohne Erben zurückließen. Weiter
wußten sie, daß er der Ankunft seines Enkels ohne jede
Freude entgegengesehen hatte und schon von vornherein
davon überzeugt gewesen war, daß der Junge ein schlecht
erzogener, frecher amerikanischer Bengel sein würde,
höchstwahrscheinlich eine Schande für seinen adeligen
Namen.
Während der ehrwürdige Pfarrer Mordaunt unter den
großen alten Bäumen der Allee dahingeschritten war,
war es ihm durch den Sinn gegangen, daß dieser kleine
amerikanische Junge gerade am Abend zuvor im Schloß
angekommen sein mußte. Mit ziemlicher Sicherheit
konnte man annehmen, daß die Befürchtungen des Gra­
fen begründet sein würden, und mit noch größerer Si­
cherheit, daß Seine Lordschaft, wenn der arme, kleine

117

Kerl ihn enttäuscht hatte, in einer maßlosen Wut sein


würde, bereit, sie am erstbesten auszulassen, der ihm in
den Weg lief – und das würde unglücklicherweise wohl
er selber, der Pfarrer Mordaunt, sein.
Um so erstaunter war er, als Thomas die Tür zur Bi­
bliothek öffnete und frohes Kinderlachen ihm entgegen­
klang.
Da stand der Stuhl des Grafen, der Gichtschemel mit
dem kranken Fuß darauf und daneben ein kleiner Tisch,
auf dem ein Spiel aufgebaut war. Ganz dicht neben dem
alten Mann, ja tatsächlich an seinen Arm und an sein ge­
sundes Knie gelehnt, stand ein kleiner Junge mit strah­
lendem Gesicht und vor Aufregung blitzenden Augen.
»Zwei heraus!« rief der kleine Fremde. »Diesmal hast du
kein Glück gehabt, was?« – Und dann merkten beide zu
gleicher Zeit, daß jemand ins Zimmer getreten war.
Der Graf sah sich um und runzelte die buschigen Brau­
en, wie es seine Art war. Und als er Mister Mordaunt er­
kannte, wunderte dieser sich noch mehr, denn der Graf
sah nicht böser aus als gewöhnlich, wie es der Pfarrer
erwartet hatte, sondern eher weniger böse.
»Aha!« sagte er in seinem barschen Ton, hielt ihm aber
gnädig die Hand hin. »Guten Tag, Mordaunt. Wie Sie
sehen, habe ich eine neue Beschäftigung gefunden.«
Er legte die andere Hand auf Cedrics Schulter – viel­
leicht regte sich in der Tiefe seines Herzens ein Funken
stolzer Genugtuung, daß er einen solchen Erben vorstel­
len konnte. Etwas wie Freude blitzte in seinen Augen, als
er den Knaben unmerklich vorwärts schob.

118

»Dies ist der neue Lord Fauntleroy«, sagte er. »Faunt­


leroy, dies ist Mister Mordaunt, unser Pfarrer.« Fauntle­
roy blickte zu dem Herrn im geistlichen Gewand auf und
gab ihm die Hand.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er.
Diese Redensart hatte er sich gemerkt, denn er hatte sie
ein paarmal von Mister Hobbs gehört, als dieser einen
neuen Kunden mit besonderer Feierlichkeit begrüßen
wollte. Cedric war der Meinung, man müsse mit einem
Pfarrer noch höflicher umgehen als mit anderen Leuten.
Mister Mordaunt hielt die kleine Hand eine Weile in
der seinen, während er dem Kind ins Gesicht blickte und
unwillkürlich lächelte. Der Kleine gefiel ihm auf den er­
sten Blick – so ging es übrigens den meisten Leuten. Und
es waren nicht die Schönheit und die Anmut des Knaben,
die ihm am meisten Eindruck machten, es war vielmehr
seine schlichte, natürliche Freundlichkeit, die alles, was
er sagte, mochte es noch so drollig und unerwartet her­
auskommen, ehrlich und aufrichtig erscheinen ließ. Wäh­
rend der Pfarrer Cedric anblickte, hatte er den Grafen
ganz vergessen. Es gibt nichts Stärkeres als ein gutes
Herz, und dieses gute Herz hier, obgleich es nur einem
kleinen Kinde gehörte, schien irgendwie die düstere
Stimmung des großen, trübseligen Zimmers zu klären
und heller zu machen.
»Ich freue mich ungemein, dich kennenzulernen,
Fauntleroy«, sagte der Pfarrer. »Du hast eine lange Reise
gemacht, um zu uns zu kommen, und wir sind alle froh,
daß du glücklich angekommen bist.«

119

»Es war wirklich sehr weit«, antwortete Fauntleroy,


»aber Herzlieb, meine Mutter, war bei mir, und so hab’
ich mich nicht einsam gefühlt, und das Schiff war wun­
derschön.«
»Nehmen Sie Platz, Mordaunt«, sagte der Graf. Mister
Mordaunt setzte sich. Er blickte von Fauntleroy zum
Grafen.
»Man kann Euer Lordschaft von Herzen gratulieren«,
sagte er warm. Aber der Graf schien offensichtlich nicht
geneigt, seine Gefühle über diesen Gegenstand zu äu­
ßern.
»Er sieht seinem Vater ähnlich«, sagte er schroff.
»Hoffen wir, daß er sich klüger aufführt!« Und dann
fügte er hinzu: »Nun, was gibt’s heute, Mordaunt? Wer
ist in Not?«
Das klang lange nicht so schlimm, wie Mister Mor­
daunt befürchtet hatte, aber er zögerte eine Sekunde, ehe
er sprach.
»Es handelt sich um Higgins«, sagte er, »Higgins vom
Rainhof. Er hat viel Unglück gehabt. Letzten Herbst war
er selber krank, und dann hatten die Kinder Scharlach.
Ich kann nicht behaupten, daß er sich aufs Wirtschaften
besonders gut versteht, aber er hat auch Pech gehabt,
und natürlich ist er vielfach im Rückstand. Augenblick­
lich geht’s um die Pacht. Newick hat ihm gedroht: Wenn
er nicht zahlt, muß er ’raus. Das wäre natürlich sehr
schlimm für ihn. Seine Frau ist krank, und gestern ist er
bei mir gewesen und hat mich gebeten, ob ich mich nicht
bei Ihnen für ihn einsetzen und Sie um Aufschub bitten

120

könnte. Er glaubt, wenn Sie ihm Zeit lassen, kann er mit


den Zahlungen wieder nachkommen.«
»Das glauben sie alle«, sagte der Graf und machte ein
unwirsches Gesicht.
Fauntleroy trat einen Schritt vor. Er war zwischen sei­
nem Großvater und dem Besucher gestanden und hatte
gespannt zugehört. Sofort hatte er sich für Higgins inter­
essiert. Er hätte gern gewußt, wie viele Kinder es waren
und ob der Scharlach ihnen sehr weh getan hatte. Seine
Augen waren gespannt auf Mister Mordaunt gerichtet,
während dieser in seinem Bericht fortfuhr.
»Higgins ist ein anständiger Mensch«, sagte er, um
seine Bitte zu bekräftigen.
»Aber ein schlechter Pächter«, erwiderte Seine Lord­
schaft. »Immer ist er im Rückstand, wie Newick mir
sagt.«
»Jetzt ist er in großer Not«, meinte der Pfarrer. »Er hat
seine Frau und seine Kinder sehr lieb, und wenn ihnen
der Hof genommen wird, müssen sie buchstäblich ver­
hungern. Zwei von den Kindern sind noch sehr schwach
vom Scharlach her, und der Arzt hat ihnen Wein und
Leckerbissen verordnet, die Higgins einfach nicht kaufen
kann.«
An diesem Punkt des Gesprächs kam Fauntleroy wie­
der einen Schritt näher.
»Bei Michael war es genauso«, sagte er.
Der Graf blickte überrascht auf. »Dich hatte ich ganz
vergessen«, sagte er. »Ich habe nicht daran gedacht, daß
wir einen Menschheitsbeglücker im Zimmer haben. Wer

121

war Michael?« Und wieder funkelten die tiefliegenden


Augen des alten Mannes belustigt.
»Er war der Mann von Bridget, und er hatte das Fie­
ber«, antwortete Fauntleroy. »Und er konnte die Miete
nicht bezahlen und keinen Wein und so Sachen kaufen.
Und du hast mir Geld gegeben, daß ich ihm helfen konn­
te.«
Diesmal runzelte der Graf die Brauen in einer sonder­
baren Art, die kaum mehr etwas Drohendes an sich hat­
te. Er blickte zu Mister Mordaunt hinüber.
»Ich weiß nicht, was für einen Gutsherrn er abgeben
wird«, sagte er. »Ich hatte Havisham beauftragt, er solle
dem Jungen geben, was er wollte – und was er wollte,
war offenbar Geld, das er an Bettler weiterverschenkte.«
»Aber sie waren doch keine Bettler!« rief Fauntleroy
eifrig. »Michael ist ein ausgezeichneter Maurer! Sie ar­
beiten alle!«
»Aha!« sagte der Graf, »sie waren also keine Bettler,
sondern ausgezeichnete Maurer und Schuhputzer und
Apfelfrauen.«
Sekundenlang blickte er den Jungen schweigend an.
Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen, und obgleich
er vielleicht nicht den edelsten Beweggründen entsprang,
war es kein schlechter Gedanke. »Komm her«, sagte er
schließlich.
Fauntleroy trat so dicht wie möglich zu ihm, ohne dem
kranken Fuß zu nahe zu kommen.
»Was würdest du in diesem Falle tun?« fragte Seine
Lordschaft.

122

Mister Mordaunt war über den Gang der Ereignisse


erstaunt. Schon viele Jahre hatte er im Gutsbezirk von
Dorincourt gelebt. Er kannte die Pächter und alle Leute
im Dorf. Und da er sich seine Gedanken machte, war
ihm klar, welche große Macht zum Guten oder Bösen
künftig in der Hand dieses kleinen Jungen liegen würde,
der da vor ihm stand, die braunen Augen weit offen, die
Hände tief in den Hosentaschen. Es kam ihm auch in den
Sinn, daß der launenhafte alte Mann vielleicht schon jetzt
Entscheidungen in seine Hand legen würde. Wenn nun
dieses junge Menschenkind nicht schlicht und großmütig
war, so konnte das sehr übel ausgehen, nicht nur für an­
dere, sondern auch für das Kind selbst.
»Was würdest du in so einem Falle tun?« fragte der
Graf noch einmal.
Fauntleroy legte ihm vertrauensvoll eine Hand aufs Knie.
»Wenn ich sehr reich wäre«, sagte er, »und nicht bloß
ein kleiner Junge, so würde ich ihn auf dem Hof lassen
und ihm die Sachen geben, die er für seine Kinder
braucht. Aber ich bin ja nur ein kleiner Junge.« Und
nach einer Pause, in der sein Gesicht sich plötzlich erhell­
te, sagte er: »Du kannst doch alles tun, was du willst,
nicht wahr?«
»Hm!« machte Mylord und blickte ihn scharf an. »Also
das ist deine Meinung?« Er war keineswegs ungehalten.
»Ich meine, du kannst allen Leuten geben, was du
willst«, sagte Fauntleroy. »Wer ist Newick?«
»Mein Verwalter«, erwiderte der Graf. »Manche mei­
ner Pächter haben ihn nicht besonders gern.«

123

»Schreibst du ihm gleich einen Brief?« drängte Faunt­


leroy. »Soll ich dir Tinte und Feder bringen? Ich kann
das Spiel ja abräumen.«
Es war ihm offenbar keinen Augenblick in den Sinn
gekommen, daß man Newick seine Drohung ausführen
lassen könnte.
Der Graf schwieg eine Weile, noch immer den Blick
auf den Jungen geheftet. »Kannst du schreiben?« fragte
er schließlich.
»Ja«, antwortete Cedric, »aber nicht sehr gut.«
»Nimm die Sachen vom Tisch«, befahl Mylord, »und
hole Tinte und Feder und einen Bogen Papier von mei­
nem Schreibtisch.«
Mister Mordaunt wurde immer neugieriger. Fauntleroy
hatte alle Befehle flink und geschickt ausgeführt. Im Nu
waren das Papier, das große Tintenfaß und die Feder bereit.
»Da!« sagte er fröhlich, »jetzt kannst du schreiben.«
»Du sollst schreiben«, sagte der Graf.
»Ich?« rief Fauntleroy und wurde ganz rot. »Nützt
denn das etwas, wenn ich schreibe? Und wenn ich kein
Wörterbuch habe, mache ich manchmal Fehler.«
»Das macht nichts«, antwortete der Graf. »Higgins
wird es mit der Rechtschreibung nicht so genau nehmen.
Der Wohltäter bist ja du. Tauche die Feder ein.«
Fauntleroy ergriff die Feder und tauchte sie in das Tin­
tenfaß, dann setzte er sich zurecht, tief über den Tisch
gebeugt.
»Also«, sagte er, »was soll ich schreiben?«
»Du kannst schreiben: ›Higgins soll fürs nächste un­

124

behelligt bleiben‹, und dich ›Fauntleroy‹ unterzeichnen«,


sagte der Graf.
Fauntleroy nahm die Feder und tauchte sie ein zweites
Mal in die Tinte. Dann stützte er den Arm auf und be­
gann zu schreiben. Es war ein ziemlich langsames,
schwieriges Verfahren, doch er war mit ganzer Seele bei
der Sache. Nach einer Weile jedoch war das Schriftstück
vollendet, und er übergab es seinem Großvater mit einem
etwas unsicheren Lächeln.

125

»Glaubst du, daß es so geht?« fragte er.


Der Graf überflog den Brief, und um seine Mundwin­
kel zuckte es.
»Ja«, antwortete er, »Higgins wird es durchaus befrie­
digend finden.« Und er reichte es Mister Mordaunt.
Der Pfarrer las das Folgende:

»Sehr geerder Herr Newick


bitte Higgins soll führs nexte unbehelicht bleiben und
danke filmals
mit forzüglicher hochachtung
Fauntleroy.«

»So hat Mister Hobbs seine Briefe immer unterschrie­


ben«, erklärte Fauntleroy, »und ich dachte, ich schreibe
lieber ›bitte‹ dazu. Ist das richtig, wie ich ›unbehelicht‹
geschrieben hab’?«
»Im Wörterbuch steht es ein bißchen anders«, antwor­
tete der Graf.
»Das hab’ ich gleich gefürchtet«, sagte Fauntleroy.
»Ich hätte fragen sollen. So geht es mir immer mit länge­
ren Wörtern! Ich schreib’ es lieber noch einmal ab.«
Das tat er denn auch, und es kam eine sehr eindrucks­
volle Abschrift zustande. Gegen die Tücken der Recht­
schreibung hatte er sich durch Befragen des Grafen gesi­
chert.
»Rechtschreibung ist eine komische Sache«, sagte er.
»Oft ist es ganz anders, als man denkt. Manchmal glaub’
ich fast, ich werde nie ganz richtig schreiben lernen.«

126

Bei seinem Weggehen nahm Mister Mordaunt den


Brief mit – und noch etwas anderes nahm er auch mit:
nämlich ein besseres, hoffnungsvolleres Gefühl, als er je
von einem Besuch im Schloß Dorincourt mit heimge­
bracht hatte.
Als er gegangen war, kam Fauntleroy, der ihn zur Tür
begleitet hatte, wieder zu seinem Großvater zurück.
»Darf ich jetzt zu Herzlieb gehen?« fragte er. »Ich
glaube, sie wartet auf mich.«
Der Graf schwieg einen Augenblick.
»Im Stall ist etwas für dich, das du dir noch vorher an­
sehen solltest«, sagte er. »Läute dem Diener.«
»Ich danke dir vielmals«, sagte Fauntleroy mit einem
jähen Erröten, »aber ich glaube, ich sehe es lieber mor­
gen an. Sie wartet sicher schon die ganze Zeit auf mich.«
»Also gut«, antwortete der Graf. »Wir werden den
Wagen bestellen.« Dann fügte er trocken hinzu: »Es ist
ein Pony.«
Fauntleroy holte tief Atem.
»Ein Pony!« rief er. »Wessen Pony?«
»Deines«, erwiderte der Graf.
»Meines?« rief Cedric. »Es gehört mir – wie die Sachen
oben im Spielzimmer?«
»Ja«, sagte sein Großvater. »Möchtest du es sehen?
Soll ich es holen lassen?«
Fauntleroys Wangen wurden immer röter.
»Nie hätte ich gedacht, daß ich ein Pony haben wür­
de!« sagte er. »Nie, niemals! Da wird sich Herzlieb aber
freuen! Du schenkst mir alles, nicht wahr?«

127

»Möchtest du es sehen?« beharrte der Graf.


Wieder holte Fauntleroy tief Atem. »Ich möchte es
furchtbar gern sehen«, sagte er, »so furchtbar gern, daß
ich’s kaum erwarten kann Aber ich fürchte, ich hab’ heu­
te keine Zeit mehr dazu.«
»Mußt du unbedingt deine Mutter heute nachmittag
besuchen?« fragte der Graf. »Du kannst es nicht auf­
schieben?«
»Aber sie hat doch den ganzen Morgen über an mich
gedacht«, sagte Fauntleroy, »und ich an sie!«
»Soso«, meinte der Graf, »du hast an sie gedacht. Läu­
te dem Diener.«
Als sie unter den hohen Bäumen durch die Allee fuh­
ren, war der Graf sehr schweigsam. Um so lebhafter war
Fauntleroy. Er redete ununterbrochen von dem Pony.
War es braun oder schwarz oder wie? Wie groß war es?
Wie hieß es? Was fraß es am liebsten? Wie alt war es?
Durfte er morgen ganz zeitig aufstehen und es ansehen?
»Da wird sich Herzlieb aber freuen!« sagte er wieder
und wieder. »Sie wird dir ja dankbar sein, daß du so gut
zu mir bist! Sie weiß, daß ich Ponys immer furchtbar
gern gehabt hab’! Aber wir haben nie gedacht, daß ich
selber eins kriegen würde. In New York war ein Junge,
der hatte eins und ritt jeden Morgen aus, und da gingen
wir immer an seinem Haus vorbei, um ihn reiten zu se­
hen.«
Er lehnte sich in die Kissen zurück und betrachtete den
Grafen voll Bewunderung.
»Ich glaube, du bist der beste Mensch auf der Welt«,

128

brach es schließlich aus ihm heraus. »Du tust immer nur


Gutes, nicht wahr? – Und du denkst immer an andere
Leute. Herzlieb sagt, das ist die beste Art, gut zu sein:
nicht an sich selbst zu denken, sondern an andere. Gera­
deso machst du es, nicht wahr?«
Seine Lordschaft war äußerst verblüfft, sich in so rosi­
gen Farben dargestellt zu sehen. Er wußte nicht recht,
was er sagen sollte – darüber mußte er erst einmal nach­
denken. Jeden seiner häßlichen, selbstsüchtigen Beweg­
gründe von einem schlichten Kindergemüt in einen guten
und edlen verwandelt zu sehen, war ein merkwürdiges
Erlebnis.
Fauntleroy sprach immer weiter, den Blick bewun­
dernd auf seinen Großvater gerichtet.
»Du machst so viele Menschen glücklich«, sagte er.
»Michael und Bridget und ihre zwölf Kinder, und die
Apfelfrau, und Dick, und Mister Hobbs, und Mister
Higgins und seine Frau und ihre Kinder, und Mister
Mordaunt – denn der hat sich natürlich auch sehr gefreut
– und Herzlieb und mich, wegen dem Pony und all den
anderen vielen Sachen. Weißt du, ich hab’ sie alle an
meinen Fingern abgezählt – es sind siebenundzwanzig
Menschen, zu denen du gut gewesen bist!«
»Und ich war derjenige, der gut zu ihnen war?« fragte
der Graf.
»Ja, natürlich«, antwortete Fauntleroy. »Du hast sie
alle glücklich gemacht. Weißt du«, fuhr Cedric nach ei­
nem rücksichtsvollen Zögern fort, »die Leute haben
manchmal eine ganz falsche Meinung von Grafen, wenn

129

sie selber keine kennen. Mister Hobbs zum Beispiel. Aber


ich werd’ ihm schreiben und ihm alles erklären.«
»Wie dachte denn Mister Hobbs über Grafen?« fragte
Seine Lordschaft.
»Ja, weißt du«, erwiderte Cedric, »das kam daher, daß
er keine kannte, er hatte nur von ihnen in Büchern gele­
sen. Er hat geglaubt – du darfst ihm das nicht übelneh­
men –, sie seien alle blutige Tyrannen, und er hat gesagt,
in seinem Laden dürfen nie welche ’rumlungern. Aber
wenn er dich gekannt hätte, würde er bestimmt ganz an­
ders darüber gedacht haben. Ich werde ihm von dir er­
zählen.«
»Was wirst du ihm erzählen?«
»Daß du der beste Mensch bist, von dem ich je gehört
habe«, erwiderte Fauntleroy begeistert, »und daß du
immer an andere denkst und sie glücklich machst und –
ich möchte genau wie du werden, wenn ich groß bin.«
»Genau wie ich!« wiederholte Seine Lordschaft. Fahle
Röte stieg ihm ins welke Gesicht, und plötzlich wandte er
sich ab und sah zum Wagenfenster hinaus auf die großen
Buchen mit ihrem leuchtenden, sonnendurchschienenen
Laub.
»Ja, genau wie du«, wiederholte Fauntleroy, und dann
fügte er bescheiden hinzu, »wenn ich es kann. Vielleicht
kann ich es nicht, aber ich möchte es versuchen.«
Der Wagen rollte durch die herrliche Allee, unter den
mächtigen, breitästigen Bäumen dahin, durch Schatten­
grün und Sonnengefunkel. Wieder kamen sie an den Stel­
len vorbei, wo das Farnkraut wuchs und die Glocken­

130

blumen im Winde schwangen. Cedric sah die Rehe im


tiefen Gras erschrocken die großen Augen wenden, als
der Wagen vorbeifuhr, und hie und da ein braunes Ka­
ninchen vorüberhopsen. Er hörte das Schwirren der Reb­
hühner und den Gesang der Vögel, und es schien ihm al­
les noch schöner als am Tage vorher. Sein ganzes Herz
war voll Freude und Glück über die Schönheit ringsum­
her.
Der alte Graf aber sah und hörte ganz andere Dinge,
obwohl er anscheinend ebenfalls hinausblickte. Er sah
ein langes Leben, in dem weder gute Taten noch liebevol­
le Gedanken vorkamen. Er sah lange Jahre, in denen ein
Mann – jung, gesund, reich und mächtig – seine Jugend
und Kraft, seinen Reichtum und seine Macht dazu miß­
braucht hatte, nur sich selbst zu leben und die Zeit totzu­
schlagen, Tag für Tag und Jahr für Jahr.
Er sah Leute, die ihn haßten und fürchteten, und ande­
re, die ihn kriecherisch umschmeichelten, aber keinen,
dem wirklich etwas daran lag, ob er lebte oder starb, es
sei denn, er hätte irgend etwas dadurch zu gewinnen oder
zu verlieren. Er blickte hinaus auf die weiten Felder, die
ihm gehörten, und er wußte, was Fauntleroy nicht wuß­
te: wie weit sie reichten, welchen Reichtum sie darstell­
ten, und wie viele Menschen ihr Heim auf seinem Grund
und Boden hatten. Und er wußte auch – was Fauntleroy
ebenfalls unbekannt war –, daß in all diesen Familien,
arm oder reich, wahrscheinlich kein einziger Mensch war
– mochte er den Grafen um seinen Reichtum und seinen
Namen und seine Macht noch so sehr beneiden –, der

131

den Besitzer all dieses Glanzes »gut« genannt oder der,


wie dieser arglose, kleine Junge, gewünscht hätte, so wie
er zu sein!
Fauntleroy dachte, dem Grafen müsse wohl sein Fuß
sehr weh tun, denn er hatte die Brauen finster zusam­
mengezogen und blickte in den Park hinaus. Rücksichts­
voll, wie er war, wollte Cedric ihn nicht stören, und so
freute er sich nun schweigend an den Bäumen und Blu­
men und Tieren. Endlich, nachdem sie durch das Tor
und auf grünen, heckenumsäumten Wegen gefahren wa­
ren, hielt der Wagen. Sie hatten Ulmenhof erreicht.
Fauntleroy war herausgesprungen, fast ehe der Lakai
Zeit hatte, den Wagenschlag zu öffnen.
Der Graf fuhr aus seinem Sinnen auf.
»Was!« rief er, »sind wir schon da?«
»Ja«, sagte Fauntleroy. »Hier ist dein Stock. Stütz dich
nur auf mich beim Aussteigen.«
»Ich steige nicht aus«, erwiderte Seine Lordschaft kurz.
»Du willst – du willst Herzlieb nicht besuchen?« rief
Fauntleroy ganz bestürzt.
»›Herzlieb‹ wird mich entschuldigen«, sagte der Graf
trocken. »Geh und erzähle ihr, daß nicht einmal ein neu­
es Pony dich abhalten konnte, zu ihr zu fahren.«
»Da wird sie aber sehr enttäuscht sein«, sagte Fauntle­
roy. »Sie würde dich sicher gern kennenlernen.«
»Das glaube ich nicht«, lautete die Antwort. »Der Wa­
gen wird dich auf dem Rückweg wieder abholen. – Wei­
terfahren, Thomas!«
Thomas schloß den Wagenschlag. Nach einem ver­

132

blüfften Blick auf seinen Großvater rannte Fauntleroy die


Auffahrt hinauf. Der Graf hatte Gelegenheit – wie einst
Mister Havisham –, ein Paar kräftige, junge Beine mit er­
staunlicher Geschwindigkeit dahinfliegen zu sehen. Ihr
Eigentümer hatte es offenbar sehr eilig. Langsam rollte
der Wagen davon, aber Seine Lordschaft lehnte sich nicht
gleich zurück. Er blickte noch hinaus. Durch eine Lücke
in den Bäumen konnte er die Haustür von »Ulmenhof«
sehen. Sie stand weit offen. Der Kleine stürmte die Stufen
hinauf. Eine zarte, jugendliche Gestalt in einem schwar­
zen Kleid eilte ihm entgegen. Es war, als flögen sie auf­
einander zu: Fauntleroy warf sich seiner Mutter in die
Arme und bedeckte ihr geliebtes Gesicht mit Küssen.

In der Kirche
Am nächsten Sonntag hatte Pfarrer Mordaunt viele Zu­
hörer. Er konnte sich kaum an einen Sonntag erinnern,
an dem die Kirche so voll gewesen war. Leute waren er­
schienen, die ihm nur allzu selten die Ehre antaten, seiner
Predigt zu lauschen. Sogar aus Hazelton, dem nächsten
Kirchdorf, waren etliche gekommen. Da saßen die stäm­
migen, sonnverbrannten Pächter und ihre behäbigen,
rotbackigen Frauen in ihren besten Hauben und bunte­
sten Umschlagtüchern mit einem halben Dutzend Kin­
dern. Die Doktorsfrau war da mit ihren vier Töchtern.
Mister Kimsey, der Apotheker, der für jedermann im

133

Umkreis von zehn Meilen Pillen drehte und Pulver misch­


te, saß samt seiner Gattin in seinem Kirchenstuhl. Frau
Dibble saß an ihrem Platz und Fräulein Smiff, die Dorf­
schneiderin, und Fräulein Perkins, die Putzmacherin; der
Gehilfe des Doktors war anwesend – kurz, fast jede Fa­
milie aus der Gegend war vertreten. Im Laufe der Woche
hatten viele wunderbare Geschichten über den kleinen
Lord die Runde gemacht. Frau Dibble, die Schwester ei­
nes Dienstmädchens im Schloß, hatte viel zu tun gehabt –
für zehn Pfennig Nadeln hier und für fünf Pfennig da,
und als Zugabe all die Neuigkeiten, die sie zu erzählen
wußte –, und die kleine Ladenklingel über der Tür hatte
sich von dem vielen Kommen und Gehen zu Tode ge­
bimmelt. Frau Dibble wußte aufs Haar genau, wie die
Zimmer des kleinen Lords eingerichtet waren, was für
teure Spielsachen drin standen, daß ein braunes Pony auf
ihn wartete mit einem eigenen jungen Reitknecht, und
ein richtiger kleiner Wagen mit silbernem Geschirr …!
Sie konnte auch ganz genau berichten, was sich die ein­
zelnen Dienstboten erzählt hatten, als sie das Kind am
Abend seiner Ankunft zum erstenmal sahen; und wie je­
des weibliche Wesen im Untergeschoß gesagt hatte, es sei
eine Schande, den lieben, kleinen Kerl von seiner Mutter
zu trennen; wie ihnen allen das Herz im Leibe gezittert
hätte, als er allein in die Bibliothek zu seinem Großvater
mußte, denn »kein Mensch konnte ja wissen, was ihm da
bevorstand, wo Seine Lordschaft in einer Laune war, daß
ein Erwachsener Angst kriegen würde, und nun so ein
Kind …«

134

»Aber glauben Sie mir, Frau Jennifer«, ereiferte sich


Frau Dibble, »Furcht kennt der Bub einfach nicht – das
hat Mister Thomas selber gesagt; hingesetzt hat er sich
und freundlich gelächelt und mit Seiner Lordschaft gere­
det, als wären sie vom ersten Augenblick an die besten
Freunde gewesen. Und der Graf war so verblüfft, sagt
Mister Thomas, daß er nur zuhören und ihn anstarren
konnte. Und Mister Thomas ist der Meinung, Frau Bates,
daß der Graf, so schlecht er auch ist, im stillen froh war
und stolz dazu; denn einen hübscheren, kleinen Kerl mit
besseren Manieren – ganz wie ein Großer, sagt Mister
Thomas – gibt es gar nicht.«
Und dann war die Geschichte mit Higgins dazuge­
kommen. Pfarrer Mordaunt hatte sie zu Hause bei Tisch
zum besten gegeben, und das Dienstmädchen hatte sie
gehört und in der Küche weitererzählt, und dann war sie
wie ein Lauffeuer durchs Dorf gegangen.
Und am Markttag war Higgins in der Stadt von allen
Seiten bestürmt worden, und Mister Newick hatte ein
paar Leuten den mit »Fauntleroy« unterzeichneten Brief
gezeigt.
Es gehörte keineswegs zu den Gewohnheiten des Gra­
fen, regelmäßig zur Kirche zu gehen; aber es gefiel ihm,
an diesem ersten Sonntag zu erscheinen, und so zeigte er
sich denn in dem riesigen gräflichen Kirchenstuhl, Faunt­
leroy ihm zur Seite.
An diesem Morgen standen viele Kirchgänger zögernd
auf dem Kirchhof oder auf der Straße herum. Am Ein­
gang des kleinen Gotteshauses hatten sich Gruppen ge­

135

bildet, und es wurde lebhaft erörtert, ob Seine Lordschaft


wirklich kommen würde oder nicht. Als die Erregung auf
dem Höhepunkt angelangt war, stieß eine der Frauen ei­
nen leisen Ruf aus.
»Da!« sagte sie, »das muß seine Mutter sein! – So ein
hübsches junges Ding!«
Alle, die es gehört hatten, drehten sich um und sahen
die schlanke, schwarze Gestalt den Weg heraufkommen.
Sie trug den Schleier zurückgeschlagen. Man sah ihr lieb­
liches Gesicht und das helle, weiche Haar unter der klei­
nen Witwenhaube.
Sie dachte nicht an die Menschen um sie her, sie dachte
an Cedric und an seine Besuche bei ihr und an seine
Freude über das Pony, auf dem er am Tage vorher zu ihr
geritten war, kerzengerade im Sattel und sehr stolz und
glücklich. Aber bald mußte sie merken, daß man sie an­
sah und daß ihr Erscheinen eine gewisse Aufregung ver­
ursachte. Zuerst fiel ihr eine alte Frau mit einem roten
Umschlagtuch auf, die vor ihr knickste. Dann tat eine
andere das gleiche und sagte: »Gott segne Sie, gnädige
Frau!« und ein Mann nach dem andern nahm den Hut
ab, wie sie nun vorüberging. Im ersten Moment begriff
sie das Ganze nicht, aber dann wurde ihr klar, daß sie
dies taten, weil sie Lord Fauntleroys Mutter war. Sie er­
rötete ein wenig und lächelte und nickte, und zu der alten
Frau, die sie gesegnet hatte, sagte sie mit ihrer sanften
Stimme »Danke schön«. Für jemand, der immer im Ge­
wühl einer amerikanischen Großstadt gelebt hatte, be­
deutete diese schlichte Ehrerbietung etwas ganz Neues.

136

Zunächst verwirrte es sie etwas, aber die warme Freund­


lichkeit rührte sie.
Kaum hatte sie durch die steinerne Vorhalle die Kirche
betreten, als das große Ereignis des Tages eintrat. Der
gräfliche Wagen mit seinen schönen Pferden und den li­
vrierten Lakaien bog um die Ecke und fuhr nun den Weg
herab.
»Da kommen sie!« ging es von Mund zu Mund.
Dann hielt der Wagen, Thomas stieg ab und öffnete
die Tür, und ein kleiner Junge mit glänzenden, blonden
Locken sprang heraus.
Alle starrten ihn neugierig an.
»Der Hauptmann, wie er leibt und lebt!« sagten ein
paar von den Zuschauern, die seinen Vater gekannt hat­
ten. »Dem Hauptmann wie aus dem Gesicht geschnitten!«
Cedric stand im Sonnenschein und sah teilnehmend zu,
wie Thomas dem Grafen heraushalf. Sobald er nützlich
sein konnte, streckte er die Hand aus und bot seinem
Großvater die Schulter, als wäre er zwei Meter lang. Nun
konnten sich alle selbst davon überzeugen: mochten an­
dere noch so viel Angst vor ihm haben, seinem Enkel
flößte Graf Dorincourt keine Furcht ein.
»Stütz’ dich nur auf mich«, hörten sie ihn sagen. »Wie
sich die Leute alle freuen, dich zu sehen, und wie gut sie
dich kennen!«
»Nimm die Mütze ab, Fauntleroy!« sagte der Graf.
»Sie verbeugen sich vor dir.«
»Vor mir?« rief Fauntleroy. Im Nu zog er die Mütze
vom Kopf und entblößte sein helles Haar. Verwundert

137

leuchteten seine Augen, als er sich vor jedem einzelnen


gleichzeitig zu verneigen suchte.
»Gott segne Eure Lordschaft!« sagte die knicksende al­
te Frau im roten Umschlagtuch, die auch zu seiner Mut­
ter gesprochen hatte. »Er schenke Ihnen ein langes Le­
ben!«
»Danke vielmals«, erwiderte Fauntleroy.
Dann betraten sie die Kirche, und während sie durch
das Schiff zu dem viereckigen Kirchenstuhl mit den roten
Kissen und Vorhängen schritten, starrten alle Leute sie
an. Als Fauntleroy endlich saß, machte er zwei Entdek­
kungen, die ihn freuten und interessierten. Erstens: ihm
gegenüber, wo er sie sehen konnte, saß seine Mutter und
lächelte ihm zu; und zweitens: an dem einen Ende des
Kirchenstuhls knieten an der Mauer zwei steinerne Ge­
stalten. Einander zugewandt, knieten sie zu beiden Seiten
eines steinernen Pultes, das zwei Gebetbücher trug, die

138

139
spitzen Hände wie im Gebet gefaltet. Sie waren seltsam
und altertümlich angezogen. Auf der Platte des Pultes
stand etwas, wovon er nur die wunderlichen Worte ent­
ziffern konnte:

»Hir ruhet der Leip von Gregore Arthure, ersten


Grafen von Dorincourt, desgleichen der von Alisone
Hildegarde, seiner Ehefrauen.«

»Darf ich leise etwas fragen?« flüsterte Seine junge


Lordschaft, verzehrt von Neugier.
»Was gibt’s denn?« fragte sein Großvater.
»Wer sind denn die dort?«
»Zwei deiner Vorfahren«, antwortete der Graf, »die
vor ein paar hundert Jahren gelebt haben.«
»Vielleicht«, sagte Lord Fauntleroy mit ehrfürchtigem
Blick, »hab’ ich von denen meine Rechtschreibung geerbt.«
Und dann widmete er sich dem Gottesdienst. Als die
Orgel einsetzte, stand er auf und blickte lächelnd zu sei­
ner Mutter hinüber. Er liebte Musik über alles; seine
Mutter und er sangen oft zusammen. So fiel er denn ein
mit seiner reinen, hohen Stimme. Er vergaß sich selbst
über der Freude des Singens. Auch der Graf vergaß sich
selbst ein wenig, als er so in der vorhanggeschützten Ecke
des Kirchenstuhles saß und den Jungen beobachtete. Ce­
dric hielt das dicke Gesangbuch offen in beiden Händen
und sang, den Kopf erhoben, froh drauflos, so laut er
konnte. Und wie er so dastand, stahl sich ein Sonnen­
strahl durch die Scheibe eines bunten Fensters und ließ

140

sein helles Haar aufleuchten. Als seine Mutter ihn so ste­


hen sah, ging ihr ein Zittern durchs Herz, und ein Gebet
drängte sich ihr auf die Lippen: »Erhalte ihm, Gott, das
reine, schlichte Glück seiner kindlichen Seele und laß das
seltsame, große Schicksal, das ihm zugefallen, ihn nicht
verstricken in Unrecht und Übel!« Viele sorgliche Ge­
danken regten sich in ihrem liebevollen Herzen in diesen
seltsam-neuen Tagen.
»O Ceddie!« hatte sie am Abend vorher zu ihm gesagt,
als sie ihn beim Abschiednehmen umschlungen hielt, »o
Ceddie, ich wünschte um deinetwillen, ich wäre sehr klug
und könnte dir viele weise Ratschläge geben. Aber sei im­
mer gut, Liebling, sei immer tapfer und gütig und aufrich­
tig, dann wirst du niemandem weh tun, und die Welt wird
vielleicht durch dich besser werden. Und das ist das Wich­
tigste, Ceddie – wichtiger als alles andere: daß die Welt ein
bißchen besser wird, weil der Mensch wirklich gut ist.«
Als er ins Schloß zurückgekehrt war, hatte Fauntleroy
ihre Worte dem Grafen wiederholt.
»Ich hab’ an dich gedacht, als sie das sagte«, schloß er;
»und ich hab’ ihr gesagt, daß die Welt bestimmt schon
besser geworden ist, weil du gelebt hast, und ich würde
versuchen, so zu werden wie du.«
»Und was hat sie da gesagt?« fragte Seine Lordschaft
ein wenig beunruhigt.
»Sie hat gesagt, das wäre recht, und man müßte immer
auf das Gute in den Menschen achten und auch so zu
werden versuchen.«
Vielleicht dachte der alte Mann an diese Worte, als er

141

nun durch den Spalt des roten Vorhangs in die Kirche


blickte. Oft sah er über die Köpfe der Leute hinüber zu
der Stelle hin, wo allein die Frau seines Sohnes saß. Er
sah das schöne Gesicht, das der Tote, dem er nie verzie­
hen, geliebt hatte, er sah die Augen, die so sehr denen des
Kindes neben ihm glichen. Aber es wäre schwer gewesen,
seine Gedanken zu erraten.
Als sie aus der Kirche traten, warteten viele der Kirch­
gänger, um sie vorbeigehen zu sehen. In der Nähe des
Kirchhoftores stand ein Mann, den Hut in der Hand. Als
sie näher kamen, trat er einen Schritt auf sie zu, dann zö­
gerte er. Es war ein Pächter mittleren Alters, das Gesicht
von Sorgen durchfurcht.
»Nun, Higgins«, sagte der Graf.
Rasch drehte sich Fauntleroy um und sah ihn an.
»Ach!« rief er erfreut, »ist das Mister Higgins?«
»Ja«, antwortete der Graf trocken. »Vermutlich will er
sich seinen neuen Gutsherrn ansehen.«
»Ja, Mylord«, sagte der Mann. Die Röte stieg in sein
sonnverbranntes Gesicht. »Mister Newick hat mir ge­
sagt, Seine junge Lordschaft wäre so freundlich gewesen,
ein gutes Wort für mich einzulegen, und ich hätte mich
gern bei ihm bedankt, wenn’s gestattet ist. – Ich habe Eu­
er Lordschaft für viel zu danken«, wandte er sich an Ce­
dric. »Für sehr viel. Ich –«
»Ach«, sagte Fauntleroy, »ich habe ja nur den Brief ge­
schrieben. Mein Großvater hat alles getan. Sie wissen ja,
wie gut er immer zu allen Leuten ist. Geht es Frau Hig­
gins jetzt wieder besser?«

142

Higgins sah ein wenig verdutzt aus. Er wunderte sich


auch nicht wenig, als er da plötzlich seinen Gutsherrn als
freundlichen Wohltäter von herzgewinnender Güte ge­
priesen hörte.
»Ich – ja freilich, Euer Lordschaft«, stammelte er; »der
Frau geht’s besser, seit die Sorge von ihr genommen ist.
Die Sorge – die hat sie so ’runtergebracht.«
»Ich freu’ mich, daß sie wieder gesund ist«, sagte
Fauntleroy. »Meinem Großvater hat es furchtbar leid ge­
tan, daß Ihre Kinder Scharlach hatten, und mir auch. Er
hat ja selber Kinder gehabt. Ich bin der Junge seines Soh­
nes, wissen Sie.«
Higgins hielt es für geraten, den Grafen nicht anzuse­
hen, denn es war bekannt, daß dessen väterliche Liebe
sich vollauf damit begnügt hatte, seine Söhne ein- bis
zweimal im Jahr zu sehen. Und einmal, als sie krank
wurden, war er schleunigst nach London abgereist, weil
er mit Ärzten und Krankenschwestern nichts zu tun ha­
ben wollte. Es mochte daher für Seine Lordschaft pein­
lich sein, mit anzuhören, daß er an Scharlachfieber Anteil
nähme.
»Sehen Sie, Higgins«, mischte der Graf sich mit einem
feinen, grimmigen Lächeln ins Gespräch, »Sie haben sich
eben alle in mir geirrt. Lord Fauntleroy versteht mich.
Wenn Sie sich verläßliche Auskunft über mich holen wol­
len, so wenden Sie sich am besten an ihn. Steig ein,
Fauntleroy.«
Fauntleroy sprang in den Wagen, und sie rollten den
heckenumsäumten Weg hinab. Selbst als sie in die Land­

143

straße einbogen, lag noch immer das grimmige Lächeln


um die Lippen des Grafen.

Cedric lernt reiten


Oftmals noch hatte Lord Dorincourt Anlaß, sein grim­
miges Lächeln aufzusetzen. Je näher er seinen Enkel ken­
nenlernte, um so öfter trat das Lächeln auf sein Gesicht,
und es kamen sogar Augenblicke, da es seine Grimmig­
keit fast verlor. In der Zeit, ehe Lord Fauntleroy nach
England gekommen war, hatten den alten Mann seine
Einsamkeit, seine Gicht und seine siebzig Jahre ziemlich
verdrießlich gemacht. Nach einem langen Leben voll auf­
regender Zerstreuungen war es nicht erfreulich, selbst in
dem prachtvollsten Zimmer ganz allein herumzusitzen,
einen Fuß auf dem Gichtschemel. Es gab keine andere
Abwechslung für den Grafen als einen Wutanfall oder
einen Zornesausbruch gegen einen ängstlichen Lakaien,
der schon den bloßen Anblick seines Herrn haßte.
Und dann kam Lord Fauntleroy. Der Graf sah den
Jungen, und sofort fühlte er sich – zum Glück für das
Kind – in seinem großväterlichen Stolz geschmeichelt. Es
gefiel ihm, Cedrics Schönheit und sein furchtloses Wesen
dem Dorincourtschen Blut zuzuschreiben. Und als er
dann den Kleinen reden hörte und sah, wie wohlerzogen
Cedric war, wenn er auch die Bedeutung seiner neuen
Stellung nicht begriff, da gefiel dem alten Grafen sein

144

Enkel immer besser, ja, er fand ihn sogar recht unterhalt­


sam. Es hatte ihm Spaß gemacht, das Schicksal des ar­
men Higgins in die Hand des Kindes zu legen. Mylord
nahm nicht den geringsten Anteil am Wohlergehen ande­
rer Menschen, aber der Gedanke behagte ihm, daß die
Leute nun über seinen Enkel redeten und daß Fauntleroy
schon als Kind bei den Pächtern beliebt sein würde.

145

An dem Morgen, als das neue Pony zum ersten Male


ausprobiert wurde, war der Graf so erfreut und befrie­
digt gewesen, daß er seine Gicht darüber beinahe verges­
sen hatte. Als der Reitknecht das hübsche Tier vorführte,
das den glänzenden Hals in der Sonne wölbte und den
schönen Kopf zurückwarf, saß der Graf am offenen Fen­
ster der Bibliothek und sah zu, wie der kleine Lord seine
erste Reitstunde erhielt. Er war gespannt, ob der Junge
Angst zeigen würde. Das Pony war nicht gerade klein,
und oft hatte der Graf erlebt, daß Kinder bei ihrem er­
sten Reitversuch den Mut verloren.
Außer sich vor Entzücken, stieg Fauntleroy auf. Er hat­
te noch nie auf einem Pony gesessen, und er sprühte vor
Lebensfreude. Wilkins, der Reitknecht, führte das Tier
am Zügel vor dem Bibliothekfenster auf und ab.
»Der hat Mut«, verkündete Wilkins später im Stall.
»Keine Schwierigkeit, ihn hinaufzukriegen. Kein Alter
hätte gerader sitzen können als er, wie er nun glücklich
oben war. Und er sagt zu mir – ›Wilkins‹, sagt er, ›sitz’
ich auch gerade? Im Zirkus sitzen sie immer ganz gera­
de‹. Und ich sag’: ›Kerzengerade, Euer Lordschaft‹ – und
er lacht und freut sich und sagt: ›Sie müssen mir’s gleich
sagen, wenn ich nicht gerade sitze, Wilkins.‹«
Aber Geradesitzen und Herumgeführtwerden waren
doch nicht ganz das Wahre. Nach einer Weile rief Faunt­
leroy seinem Großvater am Fenster zu:
»Kann ich nicht allein reiten? Und kann ich nicht ein
bißchen schneller reiten? Der Junge in New York ist auch
Trab und Galopp geritten!«

146

»Glaubst du, du könntest das auch?« fragte der Graf.


»Ich möcht’ es wenigstens versuchen«, erwiderte
Fauntleroy.
Seine Lordschaft gab Wilkins ein Zeichen; dieser holte
nun sein eigenes Pferd, bestieg es und faßte Fauntleroys
Pony am Zügel.
»Nun laß ihn traben«, sagte der Graf.
Die nächsten Minuten waren für den jungen Reiters­
mann ziemlich aufregend. Er fand Traben lange nicht so
einfach wie Schrittreiten, und je schneller das Pony trab­
te, um so schwieriger wurde die Sache.
»Es wi-wirft einen tü-tüchtig, wa-was?« sagte er zu
Wilkins. »Wi-wirft es S-Sie ni-nicht?«
»Nein, Mylord«, antwortete Wilkins. »Mit der Zeit
werden Sie sich dran gewöhnen. Heben Sie sich in den
Steigbügeln.«
»Ich he-hebe mich ja d-die ganze Zeit«, sagte Fauntleroy.
Es warf ihn ziemlich kräftig auf und ab, mit ungemüt­
lichen Stößen und Püffen. Er war außer Atem, und sein
Gesicht rötete sich, aber mit aller Kraft hielt er durch
und saß so gerade, wie er nur konnte. Das sah der Graf
deutlich von seinem Fenster aus. Als die Reiter wieder in
Sprechweite kamen – ein paar Minuten waren sie von
den Bäumen verdeckt gewesen –, war Fauntleroys Hut
verschwunden, seine Backen waren feuerrot, seine Lip­
pen fest zusammengepreßt, aber er trabte noch immer
tapfer einher.
»Halt einen Augenblick an!« gebot sein Großvater.
»Wo ist dein Hut?«

147

Wilkins griff an den seinen, »’runtergefallen, Mylord!«


gab er an Cedrics Statt mit offensichtlichen Vergnügen
zurück. »Ich durfte aber nicht anhalten und ihn aufhe­
ben.«
»Ist nicht ängstlich, was?« fragte der Graf trocken.
»Der und ängstlich, Mylord!« rief Wilkins. »Der weiß
gar nicht, was das ist. Ich hab’ schon manchem jungen
Herrn das Reiten beigebracht, aber so hartnäckig sitzen
bleiben hab’ ich noch keinen gesehn.«
»Müde?« sagte der Graf zu Fauntleroy. »Möchtest du
absteigen?«
»Es wirft einen mehr als man denkt«, gab Seine
Lordschaft offen zu. »Und es macht auch ein bißchen
müde, aber ich möchte noch nicht absteigen. Ich möch­
te es auch lernen. Und sobald ich wieder ein bißchen
mehr Atem hab’, möcht’ ich zurückreiten und meinen
Hut holen.«
Wenn der klügste Mensch der Welt Fauntleroy hätte
belehren wollen, wie er sich das Wohlgefallen seines
Großvaters am sichersten erringen könnte, so hätte er
ihm nichts Wirksameres beibringen können! Als das Po­
ny wieder der Allee zutrabte, stieg eine leise Röte in das
grimmige, alte Gesicht, und die Augen unter den buschi­
gen Brauen leuchteten auf in einer Freude, wie sie Seine
Lordschaft kaum mehr zu erfahren gehofft hatte. Und
ganz gespannt blickte er hinaus, bis der Klang der Pfer­
dehufe wieder herüberhallte. Erst nach längerer Zeit er­
schienen die Reiter wieder, diesmal in viel schnellerer
Gangart.

148

»Da sind wir«, keuchte Cedric, als sie hielten. »Ich bin
Galopp geritten. Nicht so gut wie der Junge in New
York, aber ich bin doch im Sattel geblieben!«
Seit dieser ersten Reitstunde waren er und Wilkins und
das Pony sehr gute Freunde. Kaum ein Tag verging, an
dem die Dorfleute sie nicht munter auf der Landstraße
oder durch die grünen Heckenwege traben sahen. Die
Dorfkinder kamen vor die Haustüren gelaufen, um das
stolze braune Pony und seinen Reiter zu sehen, der so
kerzengerade im Sattel saß. Und dann riß der junge Lord
die Mütze vom Kopf und schwenkte sie in der Luft und
rief ihnen ein lautes »Hallo! Guten Morgen!« zu – nicht
sehr gräflich, dafür aber um so herzlicher. Manchmal
hielt er an und redete mit den Kindern, und eines Tages
erzählte Wilkins, wie Fauntleroy darauf bestanden hatte,
in der Nähe der Dorfschule abzusteigen und einen lah­
men Jungen, der gerade sehr müde aus der Schule kam,
auf seinem Pony nach Hause reiten zu lassen.
»Und der Donner soll mich rühren«, sagte Wilkins, als
er die Geschichte im Stall erzählte, »der Donner soll mich
rühren, wenn der sich hätte was dreinreden lassen! Ich
durfte nicht absteigen, denn auf einem großen Pferd hätte
der Junge sich vielleicht ungemütlich gefühlt, sagte er.
Und dann sagte er ›Wilkins‹, sagte er, ›der Junge da ist
lahm und ich nicht, und ich möchte auch mit ihm reden!‹
Und ich muß den Buben hinaufheben, und Mylord stapft
neben ihm her, die Hände in den Hosentaschen, die
Mütze tief im Nacken, und unterhält sich mit ihm. Und
wie wir an das Häuschen kommen, wo der Bub wohnt,

149

kommt die Mutter ’raus, ganz aufgeregt, was denn los


sei, und er reißt die Mütze vom Kopf und sagt: ›Ich habe
Ihren Sohn nach Hause gebracht, gnädige Frau‹, sagt er,
›weil ihm sein Bein weh getan hat. Ich glaube, der Stock
da ist nicht fest genug als Stütze. Ich werde meinen
Großvater bitten, daß er ihm ein paar Krücken machen
läßt.‹ Und der Donner soll mich rühren, wenn die Frau
nicht ganz wirr war vor Staunen! Ich glaub’, ich selber
wär’ an ihrer Stelle geplatzt vor Verwunderung!«
Als der Graf von der Geschichte hörte, war er nicht
böse, wie Wilkins gefürchtet hatte. Im Gegenteil, er lach­
te laut heraus und rief Fauntleroy zu sich und ließ sich
alles erzählen, vom Anfang bis zum Ende, und dann lach­
te er von neuem. Tatsächlich hielt ein paar Tage später
der gräfliche Wagen vor dem Häuschen, wo der lahme
Junge wohnte, und Fauntleroy sprang heraus und mar­
schierte zur Tür, zwei kräftige und doch leichte neue
Krücken wie ein Gewehr geschultert, und überreichte sie
Frau Hartle (so hieß die Mutter des lahmen Jungen) mit
folgenden Worten: »Einen schönen Gruß von meinem
Großvater, bitte schön, und die sind für Ihren Jungen,
und wir hoffen, es wird bald besser mit ihm.«
»Ich habe einen Gruß von dir ausgerichtet«, erklärte er
dem Grafen, als er wieder im Wagen saß. »Du hast es
mir zwar nicht aufgetragen, aber ich dachte, du hättest’s
vielleicht vergessen. Es ist dir doch recht, nicht?«
Und der Graf lachte wieder und hatte offenbar nichts
dagegen einzuwenden. In der Tat befreundeten sich die
beiden mit jedem Tag mehr, und mit jedem Tag steigerte

150

sich Fauntleroys Glauben an die Güte Seiner Lordschaft.


Er bezweifelte nicht im geringsten, daß sein Großvater
der liebenswürdigste, großmütigste alte Herr sei, den es
je gegeben habe. Gewiß: seine eigenen Wünsche wurden
erfüllt, fast ehe er sie ausgesprochen hatte. Förmlich
überschüttet wurde er mit Geschenken, so daß er
manchmal ganz verdutzt über all seine Besitztümer war.
Offenbar sollte er alles haben, was er sich wünschte, und
alles tun dürfen, wozu er Lust hatte. Und obgleich eine
solche Behandlung sicher nicht für alle kleinen Jungen
passend gewesen wäre, so konnte sie doch Cedric nicht
schaden. Vielleicht wäre er trotz seines lieben, schlichten
Wesens doch etwas dadurch verzogen worden, wären
nicht die Stunden bei seiner Mutter im Ulmenhof gewe­
sen. Dieser sein »bester Freund« wachte aufmerksam und
liebevoll über ihn. Die beiden führten so manches lange
Gespräch miteinander, und nie ging er ins Schloß zurück,
ohne ein paar schlichte, reine Worte mitzunehmen, die
sich ihm tief ins Herz geprägt hatten.
Ein Umstand allerdings beschäftigte und verwirrte den
kleinen Jungen sehr. Er grübelte über diesem Rätsel viel
häufiger, als irgendwer vermutete. Selbst seine Mutter
wußte nicht, wie oft er darüber nachdachte. Der Graf
hatte lange Zeit keine Ahnung, daß er es überhaupt tat.
Aber da Cedric rasch und scharf beobachtete, konnte es
ihm nicht entgehen, daß seine Mutter und sein Großvater
nie zusammenzukommen schienen. Er hatte schließlich
festgestellt, daß sie in Wahrheit nie zusammenkamen.
Nicht einmal, wenn der gräfliche Wagen vor Ulmenhof

151

hielt, stieg der Graf aus, und in den seltenen Fällen, da


Seine Lordschaft zur Kirche ging, fügte es sich immer so,
daß Fauntleroy allein mit seiner Mutter an der Kirchen­
tür sprach oder sie nach Hause begleitete. Und doch wur­
den jeden Tag Obst und Blumen aus den Gewächshäu­
sern des Schlosses nach Ulmenhof geschickt. Und was der
Graf kurz nach jenem Sonntag getan hatte, als Frau Errol
nach der Kirche unbegleitet nach Hause gegangen war,
das setzte seiner Güte in Cedrics Augen die Krone auf.
Etwa eine Woche später, als Cedric wie gewöhnlich
seine Mutter hatte besuchen wollen, stand vor der Tür
statt des großen Wagens mit dem feurigen Zweigespann
ein hübscher, leichter Einspänner mit einem schönen
Fuchs davor.
»Das ist ein Geschenk von dir an deine Mutter«, hatte
der Graf barsch gesagt. »Sie kann nicht zu Fuß ’rumlau­
fen. Sie braucht einen Wagen. Der Kutscher, der ihn
fährt, wird danach sehen. Es ist ein Geschenk von dir.«
Fauntleroy konnte nicht entfernt ausdrücken, wie er
sich freute. Kaum konnte er erwarten, bis sie nach Ul­
menhof kamen. Seine Mutter schnitt gerade Rosen im
Garten. Er stürzte aus dem Wagen und flog ihr entgegen.
»Herzlieb!« rief er, »denk dir nur, der gehört dir! Er
sagt, es wäre ein Geschenk von mir an dich. Es ist dein
eigener Wagen, in dem du fahren kannst, wohin du
willst.«
Er war so überglücklich, daß sie nicht wußte, was sie
sagen sollte. Sie brachte es nicht übers Herz, das Ge­
schenk zurückzuweisen und ihm die Freude zu ver­

152

derben. Sie mußte in den Wagen steigen, so wie sie war,


samt ihren Rosen, und sich ein Stück spazierenfahren las­
sen. Auf der ganzen Fahrt erzählte ihr Cedric von der
Güte und Freundlichkeit des Großvaters. Es waren so
harmlose Geschichten, daß sie manchmal ein wenig la­
chen mußte, und dann zog sie ihren Jungen dichter an
sich und küßte ihn, froh in dem Gedanken, daß er in dem
alten Mann, der so wenig Freude hatte, nur das Gute
sah.

153

Gleich am nächsten Tag schrieb Fauntleroy an Mister


Hobbs. Einen sehr langen Brief schrieb er, und als die er­
ste Niederschrift fertig war, brachte er sie seinem Groß­
vater zur Begutachtung.
»’s ist nämlich eine so unsichere Sache mit der Recht­
schreibung«, meinte er. »Und wenn du mir die Fehler
sagst, schreibe ich’s noch einmal ab.«
Er hatte folgendermaßen geschrieben:

»Mein lieber Mister Hobbs,


ich möchte ihnen gern einmal von meinen Grosfater
erzählen er ist der beste Graf den sie je gekannt haben
und es ist ein irtuhm das Grafen tirannen sind er ist gar
kein tiran ich wünschte, Sie kennten ihn, Sie würden
gute Freunde sein ganz bestimmt er hat die Gicht im
bein und ist schwehr leidend aber so geduldig ich liebe
ihn immer mehr und jedermann müßte einen Grafen
wie ihn lieben der so gut zu allen leuten ist ich wünsch­
te Sie könnten sich mit ihm unterhalten er weis alles
man kann ihn alles fragen aber er hat nie baseball ge­
spielt er hat mir ein poni geschenkt und meiner Mama
einen schönen Wagen und ich habe drei Zimmer und
file file Spielsachen. Sie würden staunen das Schloß
würde ihnen sehr gefalen und der Park auch es ist ein
großes Schloß man könnte sich drin veriren sagt Wil­
kins das ist mein Reitknecht er sagt es ist ein ferlies un­
ter dem Schloß es ist so hübsch alles im park Sie wür­
den staunen so große Bäume und Rehe und Karnin­
chen mein Grosfater ist sehr reich aber er ist nicht stolz

154

und hochmütig wie Sie dachten das Grafen wären ich


bin gern bei ihm die Leute sind so höflich und freund­
lich sie nemen den hut vor einem ab und die Frauen
kniksen und manche sagen Gott segne sie jetzt kann
ich reiten aber zuerst hat es mich in die höhe geworfen
wen ich getrabt bin mein Grosfater hat einen armen
Mann auf seinem hof gelassen als er seine pacht nicht
bezahlen konnte und Frau Mellon hat ihm Wein hinge­
tragen und sachen führ seine kranken kinder ich würde
Sie gern wiedrsehn lieber Mister Hobbs und ich
wünschte Herzlieb wonte im Schloß aber ich bin sehr
glücklich wen ich sie nicht zu sehr fermisse und ich hab
meinen Grosfater lieb und alle tun es. Bitte schreiben
sie balt ihrem sie liebenden alten Freund
Cedric Errol

PS nimand ist in dem ferlies mein Grosfater hat nie


jemand drin schmachten lassen
PS er ist so ein guter Graf er erinnert mich an Sie er
ist algemein beliebt.«

»Vermißt du deine Mutter sehr?« fragte der Graf, als


er fertig gelesen hatte.
»Ja«, sagte Fauntleroy, »ich vermisse sie die ganze Zeit.«
Er ging zum Grafen und stellte sich vor ihn hin, legte
ihm die Hand aufs Knie und sah ihn an.
»Vermißt du sie nie?« fragte er.
»Ich kenne sie ja nicht«, antwortete Seine Lordschaft
etwas mürrisch.

155

»Ich weiß«, sagte Fauntleroy, »und das wundert mich


so. Sie hat gesagt, ich soll dir deswegen nicht mit Fragen
kommen, und – ich will es auch nicht tun, aber weißt du,
manchmal läßt es mir keine Ruhe, und da muß ich drü­
ber nachdenken, und ich versteh’ alles nicht. Aber ich
werde dir nicht mit Fragen kommen. Und wenn ich sie
sehr vermisse, dann schau’ ich zu meinem Fenster hinaus,
wo ich ihr Licht durch eine offene Stelle zwischen den
Bäumen sehe, das zündet sie jeden Abend für mich an. Es
ist sehr weit weg, aber jeden Abend, wenn’s dunkel wird,
stellt sie es ans Fenster, und dann kann ich es sehen, und
ich weiß, was es sagt.«
»Was sagt es denn?« fragte Mylord.
»Es sagt: ›Schlaf gut, Gott schütze dich die ganze
Nacht!‹ Genau was sie jeden Abend zu mir gesagt hat, als
wir noch zusammen waren. Und jeden Morgen hat sie
gesagt: ›Gott segne dich den ganzen Tag!‹ Siehst du,
drum kann mir nie etwas geschehen –«
»Gewiß, ich zweifle nicht daran«, meinte Seine Lord­
schaft trocken. Und er senkte die buschigen Brauen und
sah den kleinen Jungen so lange und so unverwandt an,
daß Fauntleroy sich wunderte, woran er wohl denken
mochte.

156

Die Hütten im Dorf


In Wahrheit dachte Seine Lordschaft Graf Dorincourt in
diesen Tagen an mancherlei Dinge, die ihm früher nie in
den Sinn gekommen wären. Und alle seine Gedanken
hingen irgendwie mit seinem Enkel zusammen. Sein her­
vorstechendster Wesenszug war Stolz, und dem tat der
Junge in jeder Hinsicht Genüge. Diesem Stolz verdankte
der Graf das neue Interesse am Leben, welches sich all­
mählich bei ihm einstellte. Es begann ihm Freude zu ma­
chen, der Welt seinen Erben zu zeigen. Die Menschen
wußten, welche Enttäuschungen ihm seine Söhne bereitet
hatten, und so gewährte es ihm nun ein gewisses Tri­
umphgefühl, diesen neuen Lord Fauntleroy herauszustel­
len, der niemanden enttäuschen konnte. Manchmal ver­
gaß er über all diesem Neuen seine Gicht, und nach eini­
ger Zeit zeigte sein Arzt sich ganz überrascht. Es ging
seinem Patienten besser, als er je zu hoffen gewagt. Viel­
leicht wirklich, weil ihm die Zeit nicht mehr so dahin­
schlich und er an etwas anderes zu denken hatte als an
seine Schmerzen und Beschwerden.
Eines schönen Morgens staunten die Dorfleute, als der
kleine Lord auf seinem Pony mit einem anderen Begleiter
als Wilkins daherkam. Dieser neue Begleiter ritt ein gro­
ßes, starkes Pferd und war kein anderer als der Graf
selbst. Fauntleroy hatte die Unternehmung vorgeschla­

157

gen. Als er gerade dabei gewesen war, sein Pony zu


besteigen, hatte er etwas nachdenklich zu seinem Groß­
vater gesagt:
»Schade, daß du nicht mitkommst. Das Reiten macht
mir gar nicht so viel Freude, wenn ich denke, daß du
ganz allein in dem großen Schloß zurückbleibst. Ich
wünschte, du kämst mit.«
Und ein paar Minuten später hatte es in den Stallge­
bäuden die größte Aufregung gegeben, denn es war Befehl
gekommen, Selim für den Grafen zu satteln. Von da ab
wurde Selim beinahe täglich gesattelt, und die Leute ge­
wöhnten sich daran, den hochgewachsenen, alten Mann
mit seinem stolzen Adlergesicht auf dem großen, grauen
Pferd neben dem braunen Pony zu sehen, das Lord Faunt­
leroy trug. Auf diesen gemeinsamen Ritten durch die grü­
nen Heckenwege und auf den schönen Landstraßen be­
freundeten sich die beiden Reiter immer inniger. Allmäh­
lich bekam der alte Mann sehr viel von »Herzlieb« und
ihrem Leben zu hören. Während Fauntleroy neben dem
großen Pferd einherritt, plauderte er munter drauflos. Ein
fröhlicherer Gefährte war nicht denkbar; Cedric hatte ei­
ne so glückliche Natur. Er bestritt den Hauptteil der Un­
terhaltung, der Graf hörte oft schweigend zu und betrach­
tete das frohe, lebenssprühende Gesicht. Manchmal ver­
anlaßte er seinen jungen Begleiter, das Pony ein Stück ga­
loppieren zu lassen. Wenn der Kleine davonschoß, ker­
zengerade und furchtlos im Sattel, dann beobachtete der
Graf den Jungen mit Stolz und Freude. Und wenn Faunt­
leroy nach einem solchen Galopp jauchzend wieder beim

158

Grafen anlangte, fühlten beide, daß sie sehr gute Freunde


geworden waren.
Eines entdeckte der Graf auf diesen Ritten: die Frau
seines Sohnes führte kein untätiges Leben. Es dauerte
nicht lange, bis er erfuhr, daß die Armen im Dorf sie sehr
gut kannten. Herrschte Krankheit oder Not und Armut
in einem der Dorfhäuser, so hielt gar oft ihr Wagen da­
vor.
»Weißt du«, erzählte ihm Fauntleroy eines Tages, »alle
sagen ›Gott segne Sie!‹ wenn sie Herzlieb sehen, und die
Kinder freuen sich, wenn sie kommt. Ein paar gehen sogar
nach Ulmenhof und lernen nähen bei ihr. Sie sagt, sie fühlt
sich jetzt so reich, daß sie den Armen helfen möchte.«
Mit einer gewissen Genugtuung hatte der Graf ent­
deckt, daß die Mutter seines Erben jung und schön und
in ihrer ganzen Erscheinung eine vollkommene Dame
war. Auch daß sie bei den Armen beliebt und gern gese­
hen war, gefiel ihm recht gut. Und doch gab es ihm oft
vor Eifersucht einen Stich, wenn er sah, wie sie das Herz
ihres Kindes erfüllte und wie der Junge an ihr, seinem ge­
liebtesten Menschen, hing. Der alte Mann wollte selbst
an erster Stelle stehen.
An jenem Morgen hatte er an einer hochgelegenen Stel­
le des Moors sein Pferd angehalten. Mit der Reitpeitsche
wies er über die weite, schöne Landschaft zu ihren Füßen.
»Weißt du, daß dieses ganze Land mir gehört?« sagte
er zu Fauntleroy.
»Wirklich?« antwortete der. »Das ist sehr viel für ei­
nen Menschen, aber es ist sehr schön.«

159

»Weißt du, daß alles eines Tages dir gehören wird –


dies hier und noch viel mehr?«
»Mir!« rief Fauntleroy etwas beunruhigt. »Wann
denn?«
»Wenn ich tot bin«, antwortete sein Großvater.

160

»Dann will ich es gar nicht haben«, sagte Fauntleroy.


»Du sollst immer leben!«
»Sehr liebenswürdig«, meinte der Graf in seiner trok­
kenen Art, »trotzdem wird eines Tages alles dir gehören.
Dann bist du Graf Dorincourt.«
Eine Weile saß der kleine Lord ganz still in seinem
Sattel. Er blickte über die weiten Moore, die grünen
Wiesen, die schönen Baumgruppen, die Bauernhäuser,
das hübsche Dorf und über die Bäume, hinter denen
grau und feierlich die Türme des großen Schlosses auf­
ragten. Dann stieß er einen seltsamen, kleinen Seufzer
aus.
»Woran denkst du?« fragte der Graf.
»Ich dachte«, erwiderte Fauntleroy, »wie klein ich
doch noch bin – und an das, was Herzlieb neulich zu mir
gesagt hat.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Sie hat gesagt, es wäre gar nicht so leicht, sehr reich
zu sein. Wenn man immer so viel Geld und Sachen hat,
kann man manchmal ganz vergessen, daß es anderen
nicht so gut geht, und daran soll man aber als Reicher
immer denken. Ich sprach mit ihr davon, wie gut du im­
mer bist, und sie sagte, das ist ein besonderes Glück, weil
ein Graf so viel Macht hat; und wenn er nur an sein ei­
genes Vergnügen dächte und nicht an die Menschen, die
auf seinem Grund und Boden lebten, so würde er ihnen
vielleicht nicht helfen – und es gibt doch so viele Men­
schen, die seine Hilfe brauchen. Und ich hab’ gerade all
die Häuser da angeschaut und mir gedacht, wie ich das

161

alles herausfinden muß, wenn ich ein Graf bin. Wie hast
denn du alles über sie herausgefunden?«
Das Wissen Seiner Lordschaft um seine Pächter be­
stand darin, daß er feststellte, welche ihre Pacht pünkt­
lich zahlten und welche nicht, und daß er die, welche
nicht zahlten, an die Luft setzte. So war denn diese Frage
nicht ganz leicht zu beantworten. »Newick tut das für
mich«, sagte er, zerrte an seinem großen, grauen
Schnurrbart und sah dem kleinen Frager etwas unbehag­
lich ins Gesicht. »Wir wollen jetzt heimreiten«, fügte er
hinzu; »und wenn du ein Graf bist, so sieh zu, daß du ein
besserer wirst als ich!«
Auf dem Nachhauseweg war er sehr still. Es kam ihm
so unglaublich vor, daß er, der nie in seinem Leben je­
manden wirklich lieb gehabt hatte, nun diesen Jungen
immer lieber gewann. Zuerst war er nur stolz gewesen
auf Cedrics Schönheit und Furchtlosigkeit, doch jetzt
mischte sich in sein Gefühl etwas anderes als Stolz.
Manchmal lachte er trocken vor sich hin, wenn es ihm in
den Sinn kam, wie gern er den Jungen um sich hatte, wie
gern er seine Stimme hörte und wie er im stillen sich
ernstlich wünschte, daß sein Enkel auch ihn gern haben
und gut zu ihm reden möge.
Es war kaum acht Tage nach diesem Ritt, daß Fauntle­
roy von einem Besuch bei seiner Mutter nachdenklich
und beunruhigt in die Bibliothek kam. Er setzte sich in
jenen hochlehnigen Stuhl, in dem er am Abend seiner An­
kunft gesessen hatte, und blickte eine Weile ins Kamin­
feuer. Der Graf beobachtete ihn schweigend, neugierig,

162

was nun kommen würde. Offenbar hatte Cedric etwas


auf dem Herzen. Schließlich sah er auf. »Weiß Newick
wirklich alles über die armen Leute?« fragte er.
»Er sollte alles über sie wissen«, erwiderte Seine Lord­
schaft. »Hat er vielleicht etwas vernachlässigt?«
So widerspruchsvoll es scheinen mochte, gab es doch
nichts, was den Grafen mehr unterhielt und freute, als
das Interesse des Jungen an den Pächtern und Gutsleuten.
Ihn selbst hatten sie nie interessiert, aber es gefiel ihm
sehr, daß sich Cedric – bei all seiner Kindlichkeit – doch
schon über so ernste Probleme Gedanken machte.
»Da gibt es eine Gegend am anderen Ende des Dor­
fes«, sagte Fauntleroy und blickte mit weitoffenen, ent­
setzten Augen zu ihm auf, »Herzlieb ist selber dort gewe­
sen. Die Häuser stehen ganz dicht und fallen beinah ein;
man kann kaum Atem holen; und die Leute sind so arm,
und alles ist entsetzlich! Oft sind sie krank, und die Kin­
der sterben. Vor lauter Elend werden die Menschen bös­
artig. Es ist viel schlimmer als bei Michael und Bridget!
Es regnet durchs Dach! Herzlieb hat eine arme Frau be­
sucht, die dort wohnt. Sie hat mich gar nicht zu sich ge­
lassen, ehe sie sich ganz umgezogen hatte. Die Tränen
sind ihr über die Wangen gelaufen, als sie mir davon er­
zählt hat!
Ich hab’ ihr gesagt, du weißt bestimmt nichts davon
und ich werde es dir sagen«, fuhr er fort. Er sprang von
seinem Stuhl herab, lief zum Grafen und lehnte sich an
sein Knie. »Du kannst das sicher in Ordnung bringen«,
sagte er, »wie du auch die Sache mit Higgins in Ordnung

163

gebracht hast. Du bringst ja alles für alle Leute in Ord­


nung. Ich hab’ ihr gesagt, du würdest es tun, und Newick
hat wahrscheinlich vergessen, dir davon zu berichten.«
Der Graf blickte nieder auf die Hand auf seinem Knie.
Newick hatte nicht vergessen, es ihm zu berichten, im
Gegenteil, mehr als einmal hatte Newick ihm erzählt von
den unmöglichen Zuständen in jenen Hütten, die als
»Grafenhäuser« bekannt waren. Er wußte genau Be­
scheid über die baufälligen, elenden Hütten und die
schlechte Entwässerung, über die feuchten Wände, die
zerbrochenen Fenster und die schadhaften Dächer; er
wußte auch Bescheid über die Armut und das Fieber und
das Elend.
Pfarrer Mordaunt hatte ihm alles in den grellsten Far­
ben ausgemalt, und Seine Lordschaft hatte ihn mit hefti­
gen Ausdrücken abgewiesen. Einmal – als er besonders
arg von der Gicht geplagt worden war – hatte er sogar
geäußert: je eher das Gesindel in den Grafenhäusern
zugrunde ginge und auf Kosten der Gemeinde einge­
scharrt würde, um so besser – und damit hatte die Sache
ein Ende gehabt. Aber als er jetzt auf die kleine Hand auf
seinem Knie und von der kleinen Hand in das ehrliche,
offene Gesichtchen blickte, schämte er sich tatsächlich
ein wenig über die »Grafenhäuser« und über sich selbst.
»Du willst also einen Erbauer von Musterhäusern aus
mir machen?« sagte er. Und tatsächlich legte er seine
Hand auf die des Kindes und streichelte sie.
»Die Häuser müssen niedergerissen werden«, bat
Fauntleroy eindringlich. »Herzlieb hat es gesagt. Wir

164

wollen – wir wollen morgen hingehen und sagen, daß sie


niedergerissen werden. Die Leute werden sich so freuen,
wenn du kommst! Sie werden dann gleich wissen, daß du
gekommen bist, um ihnen zu helfen!« Seine Augen glänz­
ten wie Sterne, und sein Gesicht glühte vor Eifer.
Der Graf stand auf und legte seine Hand auf die Schul­
ter des Kindes. »Wir wollen unsern Abendspaziergang
auf der Terrasse machen«, sagte er; »dabei können wir
über die Sache sprechen.«
Ein paarmal lachte er laut, während sie auf der breiten
Steinterrasse hin und her wanderten. Doch seine Gedan­
ken schienen nicht unangenehmer Art, und noch immer
lag seine Hand auf der Schulter seines kleinen Gefährten.

Der Graf in Unruhe


Ja, Frau Errol hatte viele traurige Mißstände entdeckt
während ihrer Arbeit bei den Armen des kleinen Dorfes,
das von den Höhen im Moor aus einen so malerischen
Eindruck machte. Näher betrachtet, erschien keineswegs
alles so malerisch. Da hatte sie Armut gefunden, wo
Wohlstand hätte herrschen können. Und nach einer Wei­
le war sie dahintergekommen, daß Erleboro für das ärm­
ste und am meisten vernachlässigte Dorf in der ganzen
Gegend galt. Pfarrer Mordaunt hatte ihr viel von seinen
Schwierigkeiten und Enttäuschungen erzählt, und mehr
noch hatte sie selber herausgefunden.

165

Besonders schlimm stand es um die baufälligen »Gra­


fenhäuser« und ihre verwahrlosten und kranken Bewoh­
ner. Als Frau Errol zum erstenmal dort hinkam, war sie
entsetzt. Wenn sie die schmierigen, schlechtversorgten
Kinder ansah, die da inmitten von Laster und roher
Gleichgültigkeit heranwuchsen, mußte sie an ihren eige­
nen Jungen denken, wie er in dem großen, prächtigen
Schloß lebte, behütet und bedient wie ein junger Prinz –
kein Wunsch blieb ihm unerfüllt, und Luxus und Schön­
heit und Behagen umgaben ihn … Da kam ihr ein kühner
Gedanke. Wie andere, so hatte auch sie allmählich ge­
merkt, daß es ihrem Jungen beschieden war, dem Grafen
sehr zu gefallen, und daß ihm wahrscheinlich nichts, was
er sich wünschte, verweigert werden würde.
»Der Graf würde ihm jeden Wunsch erfüllen«, sagte
sie zu Mister Mordaunt, »sogar jede Laune. Warum soll­
ten wir das nicht zum Wohle anderer ausnützen? Ich will
es jedenfalls versuchen, und ich hoffe zuversichtlich, daß
die Sache gut ausgeht.«
Die Sache ging tatsächlich gut aus. Die Macht, die den
Grafen am tiefsten beeinflußte, war das vollkommene
Vertrauen seines Enkels – daß Cedric glaubte, sein Groß­
vater werde tun, was recht und großmütig war. Um kei­
nen Preis sollte der Junge entdecken, daß der Graf nicht
die geringste Neigung zur Großmut hatte und daß er nur
bei jeder Gelegenheit seinen eigenen Willen, ob oder un­
recht, durchzusetzen strebte. Das hatte sich Seine Lord­
schaft fest vorgenommen. So ließ er denn – obwohl er
sich darum selbst verlachte – nach einigem Überlegen

166

Newick holen und sprach lange mit ihm. Schließlich


wurde beschlossen, die elenden Hütten niederzureißen
und neue Häuser zu bauen.
»Auf den dringenden Wunsch Lord Fauntleroys!« sag­
te er trocken. »Er hält es für eine Verbesserung des Gu­
tes. Sie können den Mietern sagen, daß es seine Idee ist.«
Und er blickte zu dem kleinen Lord hinüber, der, mit
Dougal spielend, auf dem Kaminteppich lag. Der große
Hund war zum ständigen Begleiter des Kindes geworden.
Ging Cedric zu Fuß, so stolzierte er feierlich hinter ihm
her, ritt oder fuhr der Junge, so folgte Dougal ebenso
hoheitsvoll dem Pferd oder dem Wagen. Natürlich
sprach sich der bevorstehende Neubau in Dorf und Stadt
bald herum. Zuerst wollten es viele einfach nicht glau­
ben. Als aber das kleine Heer von Arbeitern erschien und
die baufälligen, schmutzigen Hütten abzureißen begann,
kamen die Leute dahinter, daß Lord Fauntleroy ihnen ei­
ne neue Wohltat erwiesen hatte und daß infolge seiner
unschuldigen Vermittlung die Schande der »Grafenhäu­
ser« ein Ende finden sollte. Hätte er gewußt, wie sie von
ihm sprachen und ihn rühmten und ihm Großes für die
Zukunft prophezeiten, so wäre er äußerst erstaunt gewe­
sen. Aber er hatte keine Ahnung davon. Er lebte sein
glückliches Kinderleben, spielte im Park, jagte die Kanin­
chen aus ihren Löchern, lag im Gras unter den Bäumen
oder auf dem Kaminteppich in der Bibliothek. Oft las er
herrliche Bücher und sprach darüber mit dem Grafen,
und dann erzählte er seiner Mutter die Geschichten. Er
verfaßte lange Briefe an Dick und an Mister Hobbs, die

167

auf sehr komische Weise zurückschrieben, und ritt aus


mit seinem Großvater oder mit Wilkins. Wenn sie durch
die Marktstadt ritten, beobachtete er, wie die Leute sich
umwandten und ihnen nachsahen und wie ihre Gesichter
oft aufleuchteten, wenn sie den Hut zum Gruß abnah­
men. Er dachte, das sei nur, weil sein Großvater bei ihm
war.
»Sie haben dich so gern«, sagte er einmal mit strahlen­

168

dem Blick auf den Grafen. »Siehst du, wie sie sich freuen,
wenn sie dich sehen? Hoffentlich haben sie eines Tages
auch mich so gern! Es muß schön sein, wenn alle Leute
einen so gern haben.«
Und er fühlte sich stolz als Enkel eines so allgemein
verehrten und beliebten Mannes.
Als die Häuser im Bau waren, ritten der Junge und sein
Großvater oft zusammen hin, um die Fortschritte zu
beobachten. Fauntleroy nahm großen Anteil an dem Bau.
Er pflegte abzusteigen und mit den Arbeitern Bekannt­
schaft zu schließen, er fragte sie über Holz- und Maurer­
arbeiten aus und erzählte ihnen von Amerika. Nach zwei
oder drei derartigen Gesprächen war er in der Lage, dem
Grafen auf dem Heimritt einen Vortrag über die Ziegel­
erzeugung zu halten.
»Ich lass’ mir solche Sachen immer gern erklären«,
sagte er, »denn man weiß nie, ob man sie nicht einmal
brauchen kann.«
War er fort, so sprachen die Arbeiter über ihn und
lachten über seine drolligen Aussprüche. Sie konnten ihn
gut leiden und sahen es gern, wenn er bei ihnen stand
und sich mit ihnen unterhielt, die Hände in den Taschen,
den Hut im Nacken und hellen Eifer im Gesicht. Zu
Hause erzählten sie ihren Frauen von ihm, und die Frau­
en tauschten diese Geschichten wieder untereinander aus.
So kam es, daß fast alle von dem kleinen Lord redeten
oder irgendeine Geschichte von ihm wußten. Allmählich
sprach es sich herum, daß der »böse Graf« endlich etwas
gefunden hatte, was ihm nicht gleichgültig war, etwas,

169

das sein hartes, verbittertes, altes Herz berührt, ja er­


wärmt hatte.
Aber keiner wußte in Wahrheit, wie tief es sich er­
wärmt hatte und wie der alte Mann Tag für Tag dieses
Kind lieber gewann, das einzige Wesen, das ihm je ver­
traut hatte …
Von seinem Gefühl für Cedric sprach er mit nieman­
dem. Wenn er zu den andern von ihm sprach, tat er es
immer mit demselben grimmigen Lächeln. Aber Fauntle­
roy wußte bald, daß sein Großvater ihn liebte und ihn
gern um sich hatte – dicht bei seinem Stuhl in der Biblio­
thek, sich gegenüber bei Tisch oder neben sich, wenn er
ausfuhr oder ritt oder seinen Abendspaziergang auf der
breiten Terrasse machte.
»Weißt du noch«, sagte Cedric einmal und blickte, auf
dem Kaminteppich liegend, von seinem Buch auf, »weißt
du noch, was ich damals am ersten Abend zu dir gesagt
hab’ über gute Kameradschaft? Wir sind gute Kameraden
geworden, nicht wahr? Bessere Freunde gibt’s bestimmt
nicht.«
»Ich glaube, wir vertragen uns ganz gut«, erwiderte
Seine Lordschaft. »Komm her!«
Fauntleroy rappelte sich auf und ging zu ihm.
»Gibt’s irgend etwas, was du dir wünschst«, fragte der
Graf, »irgend etwas, was du nicht hast?«
Die braunen Augen des Jungen senkten sich nachdenk­
lich in die seines Großvaters.
»Nur eines«, antwortete er.
»Was?«

170

Fauntleroy schwieg einen Augenblick. Er hatte nicht


umsonst all diese Dinge oft und oft überlegt.
»Was also?« wiederholte Mylord.
»Herzlieb!« sagte Cedric.
Der alte Graf zuckte leicht zusammen.
»Aber du siehst sie ja beinah jeden Tag«, sagte er.
»Genügt das nicht?«
»Früher hab’ ich sie die ganze Zeit gesehen«, sagte
Fauntleroy. »Sie hat mir vorm Einschlafen einen Kuß ge­
geben, und früh war sie immer da, und wir konnten ein­
ander alles erzählen, ohne erst warten zu müssen.«
Schweigend sahen die alten und die jungen Augen eine
Weile einander an. Dann runzelte der Graf die Stirn.
»Denkst du denn immer an deine Mutter?« sagte er.
»Ja«, erwiderte Fauntleroy, »immer! Und sie denkt
immer an mich. Ich würde dich ja auch nie vergessen,
wenn ich nicht bei dir wäre. Weißt du, ich würde nur
noch mehr an dich denken.«
»Bei Gott«, sagte der Graf, »du wärst’s imstande!«
Die jähe Eifersucht, die ihn überfiel, wenn der Junge so
von seiner Mutter sprach, schmerzte ihn jetzt noch mehr
als früher – hatte er doch den Jungen immer lieber ge­
wonnen.
Aber es sollte nicht lange dauern, bis er andere
schmerzhafte Dinge erlebte, die so viel härter zu ertragen
waren, daß er zeitweise fast vergaß, wie sehr er die Frau
seines Sohnes gehaßt hatte. Seltsam und aufregend war
es. Eines Abends, kurz bevor die neuen »Grafenhäuser«
fertig wurden, gab es im Schloß Dorincourt große Gesell­

171

schaft. Das war seit langen Zeiten nicht vorgekommen.


Ein paar Tage vor dem großen Ereignis waren Sir Harry
Lorridaile und Lady Lorridaile, des Grafen einzige
Schwester, in Dorincourt eingetroffen – eine Tatsache,
die im Dorf größte Aufregung verursachte und Frau Dib­
bles Ladenglocke in dauernde Bewegung brachte. Es war
nämlich bekannt, daß Lady Lorridaile seit ihrer Verheira­
tung erst ein einziges Mal – vor fünfunddreißig Jahren –
Schloß Dorincourt besucht hatte. Sie war eine schöne, al­
te Frau mit weißen Locken und weichen, rosigen Wan­
gen, und sie hatte ein Herz wie Gold. Doch auch sie hatte
das Leben und Treiben ihres Bruders niemals gebilligt,
und da sie einen starken Willen hatte und sich keines­
wegs scheute, ihre Meinung frei herauszusagen, so war
sie seit ihrer Jugendzeit – nach einigen heftigen Ausein­
andersetzungen mit Seiner Lordschaft – nur noch selten
mit ihm zusammengetroffen.
Eines Tages war ein großer, schöner junger Mensch,
etwa achtzehn Jahre alt, nach Lorridaile Park gekom­
men, der sich als ihr Neffe Cedric Errol vorgestellt hatte.
Er sagte, er sei in der Nähe gewesen und habe seine Tan­
te Constantia begrüßen wollen, von der seine Mutter ihm
erzählt habe. Lady Lorridaile war dem jungen Mann sehr
herzlich entgegengekommen. Sie hatte ihn eine ganze
Woche dabehalten und ihn verwöhnt und verhätschelt.
Sie hielt große Stücke auf ihn – er war so ausgeglichen,
so warmherzig und anregend, daß sie ihn noch oft wie­
derzusehen hoffte. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Denn als er wieder in Dorincourt eintraf, war der Graf

172

gerade sehr schlechter Laune und verbot ihm, je wieder


nach Lorridaile Park zu gehen. Doch stets hatte Lady
Lorridaile ihn in freundlicher Erinnerung behalten. Ob­
wohl sie bedauerte, daß er sich in Amerika zu einer un­
besonnenen Heirat hatte hinreißen lassen, war sie sehr
empört gewesen, als sie hörte, daß sein Vater ihn versto­
ßen hatte und daß niemand recht wußte, wo und wie er
lebte. Schließlich hieß es, er sei gestorben. Dann war Be­
vis, der älteste Sohn des Grafen, tödlich verunglückt, und
Maurice, der zweite Sohn, in Rom an Fieber gestorben,
und bald darauf kam die Kunde von dem amerikanischen
Kind, das ausfindig gemacht und als Lord Fauntleroy
nach England gebracht werden sollte.
»Wahrscheinlich wird ihn mein Bruder zugrunde rich­
ten wie die anderen«, sagte sie zu ihrem Mann, »wenn
nicht seine Mutter genug Energie hat, um das zu verhin­
dern.«
Als sie hörte, Cedrics Mutter lebe zwangsweise von
ihm getrennt, war sie so entrüstet, daß sie kaum Worte
fand.
»Es ist empörend, Harry!« sagte sie. »Stell dir vor: ein
Kind dieses Alters wird seiner Mutter weggenommen und
muß nun mit einem Menschen wie meinem Bruder zu­
sammenleben! … Wenn ich wüßte, ob ein Brief etwas
nützen könnte …«
»Er wird bestimmt nichts nützen«, sagte Sir Harry.
»Natürlich nicht«, antwortete sie. »Ich kenne Seine
Lordschaft, den Grafen Dorincourt, leider nur allzugut.
Aber es ist schändlich.«

173

Allmählich hörte Lady Lorridaile auch allerlei über das


Kind. Sie vernahm von Higgins und von dem lahmen
Dorfjungen und von den »Grafenhäusern« und von vie­
len anderen Ereignissen; gern hätte sie den Kleinen ein­
mal gesehen! Und gerade als sie sich überlegte, wie sich
das einrichten ließe, erhielt sie zu ihrer größten Verwun­
derung einen Brief ihres Bruders, in dem er sie und ihren
Mann nach Dorincourt einlud.
»Unglaublich!« rief sie. »Das Kind scheint tatsächlich
Wunder zu wirken! Mein Bruder soll den Jungen abgöt­
tisch lieben und ihn kaum aus den Augen lassen. Und er
ist so stolz auf ihn! Ich glaube wirklich, er will ihn uns
vorführen.« Auf der Stelle nahm sie die Einladung an.
Als sie und Sir Harry in Schloß Dorincourt ankamen,
war es spät am Nachmittag, und sie ging gleich in ihr
Zimmer, ohne ihren Bruder vorher zu sehen, kleidete sich
zum Essen um und trat dann in den Salon. Der Graf
stand am Feuer, groß und eindrucksvoll … neben ihm
aber stand ein kleiner Junge in schwarzem Samt mit ei­
nem großen Spitzenkragen – ein kleiner Junge mit so
liebreizendem Gesicht und schönen, braunen Augen, daß
sie kaum einen Ausruf freudiger Überraschung unter­
drücken konnte.
Sie begrüßte den Grafen mit dem Namen, den sie seit
ihrer Mädchenzeit nicht mehr gebraucht hatte.
»Nun, Molyneux«, sagte sie, »ist das hier das Kind?«
»Ja, Constantia«, antwortete der Graf, »das ist der
Junge. Fauntleroy, dies ist deine Großtante, Lady Con­
stantia Lorridaile.«

174

»Guten Tag, Großtante«, sagte Fauntleroy. Lady Lor­


ridaile legte ihm die Hand auf die Schulter, und nachdem
sie ein paar Sekunden in sein emporgehobenes Gesicht
geblickt hatte, küßte sie ihn herzlich.
»Nenne mich nur Tante Constantia«, sagte sie; »ich
habe deinen armen Papa sehr lieb gehabt, und du siehst
ihm sehr ähnlich.«
»Ich freue mich immer, wenn mir jemand sagt, daß ich
ihm ähnlich sehe«, antwortete Fauntleroy, »denn ich
glaube, alle Menschen haben ihn gern gehabt – gerade
wie Herzlieb – Tante Constantia« (die beiden letzten
Worte sagte er nach einem kurzen Zögern).
Lady Lorridaile war ganz entzückt. Sie beugte sich
herab und küßte ihn noch einmal, und von dem Augen­
blick an waren sie Freunde.
»Nun, Molyneux«, sagte sie später zu dem Grafen, als
sie etwas abseits von den andern waren, »es hätte nicht
besser ausgehen können!«
»Ganz meine Meinung«, erwiderte Seine Lordschaft
trocken.
»Er ist ein prachtvoller kleiner Kerl. Wir sind ausge­
zeichnete Freunde. Er hält mich für den liebenswürdig­
sten, bestgelaunten Menschheitsbeglücker. Ich will dir
gestehen, Constantia – denn du würdest es ohnedies her­
ausfinden –, daß ich einigermaßen in Gefahr bin, durch
den Jungen zu einem alten Narren zu werden.«
»Was denkt denn seine Mutter von dir?« erkundigte
sich Lady Lorridaile mit der ihr eigenen Unumwunden­
heit.

175

»Ich habe sie nicht gefragt«, antwortete der Graf und


verzog ein wenig das Gesicht.
»Nun«, sagte Lady Lorridaile, »laß mich offen reden.
Ich muß dir sagen, daß ich dein Vorgehen keineswegs bil­
lige. Ich selber habe die Absicht, Frau Errol so bald wie
möglich einen Besuch zu machen. Wenn du deshalb Streit
mit mir anfangen willst, so sag es lieber gleich. Was ich
von dem jungen Geschöpf höre, bringt mich zu der Über­
zeugung, daß ihr das Kind alles zu verdanken hat. Wir
haben sogar in Lorridaile Park gehört, daß die Ärmeren
unter deinen Leuten sie vergöttern.«
»Sie vergöttern ihn«, sagte der Graf mit einer Kopfbe­
wegung nach Fauntleroy hinüber. »Was Frau Errol an­
geht – nun, du wirst da eine hübsche, kleine Frau finden.
Ich bin ihr einigermaßen verpflichtet, weil sie dem Jun­
gen etwas von ihrer Schönheit mitgegeben hat. Du
kannst sie besuchen, wenn du willst. Ich verlange weiter
nichts, als daß sie in Ulmenhof bleibt und daß du mir
nicht damit kommst, ich solle sie besuchen«, und wieder
verzog er das Gesicht ein wenig.
»Er haßt sie nicht mehr so wie früher, das ist ganz
klar«, sagte Lady Lorridaile später zur Sir Harry. »Und
bis zu einem gewissen Grad ist er ein anderer Mann ge­
worden. So unglaublich es klingen mag, Harry – meiner
Meinung nach wird er noch ganz menschlich werden,
einzig und allein durch seine Zuneigung zu diesem Kind.
Der Junge hat ihn wirklich lieb – er lehnt sich an seinen
Stuhl und an sein Knie. Seinen eigenen Kindern wäre das
so wenig eingefallen, wie einem Tiger schön zu tun.«

176

Gleich am nächsten Tag machte sie ihren Besuch bei


Frau Errol. Als sie wiederkam, sagte sie zu ihrem Bruder:
»Molyneux, das ist die reizendste kleine Frau, die mir
je begegnet ist! Ihr verdankst du alles, was du an dem
Jungen hast, nicht nur seine Schönheit. Du begehst einen
großen Fehler, wenn du sie nicht bittest, bei dir zu woh­
nen und für dich zu sorgen. Ich werde sie nach Lorridaile
Park einladen.«
»Sie wird den Jungen nicht allein lassen«, erwiderte
der Graf.
»Den Jungen muß ich auch haben«, sagte Lady Lorri­
daile lachend.
Aber sie wußte recht wohl, daß er ihr Fauntleroy nicht
überlassen würde. Jeden Tag sah sie deutlicher, wie eng
die beiden miteinander verwachsen waren, wie der ganze
Ehrgeiz des stolzen alten Mannes und all seine Hoffnung
und Liebe auf das Kind gerichtet waren und wie das
warmherzige kleine Geschöpf seine Zuneigung mit voll­
kommenem Vertrauen und Glauben erwiderte.
Sie kannte auch den Hauptanlaß für die große Gesell­
schaft, die der Graf nun gab: er wollte seinen Enkel und
Erben der Welt zeigen, er wollte den Leuten beweisen,
daß das Kind, von dem so viel geredet wurde, in Wahr­
heit ein noch vollkommenerer Prachtjunge war, als das
Gerücht behauptete.
»An Bevis und Maurice hat er bittere Enttäuschungen
erlebt«, sagte sie zu ihrem Mann. »Das war allgemein
bekannt. Er hat die beiden tatsächlich gehaßt. Hier kann
sein Stolz nun endlich einen Triumph feiern.«

177

Wohl jeder der Gäste war neugierig auf den kleinen


Lord Fauntleroy. Alle waren gespannt, ob er zu sehen
sein würde.
Und als die Zeit kam, war er zu sehen.
»Er hat gute Manieren«, hatte der Graf gesagt, »er
wird niemandem im Wege sein. Kinder sind meistens
entweder Idioten oder lästige Rangen – meine waren bei­
des –; aber er kann tatsächlich antworten, wenn man zu
ihm spricht, und still sein, wenn er nicht gefragt wird. Er
ist einem nie zur Last.«
Aber Cedric hatte an diesem Abend kaum Gelegenheit,
lange still zu sein. Jeder hatte ihm etwas zu sagen, jeder
wollte ihn zum Reden bringen. Die Damen liebkosten ihn
und stellten ihm viele Fragen, und auch die Herren woll­
ten alles mögliche von ihm wissen und scherzten mit ihm
wie die Herren auf dem Schiff, mit dem er übers Meer
gekommen war. Fauntleroy begriff nicht recht, warum
sie so oft lachten, wenn er eine Antwort gab, aber er war
so daran gewöhnt, daß die Erwachsenen belustigt schie­
nen, obwohl er ganz ernst sprach, daß er sich nichts wei­
ter daraus machte.
Eine junge Dame war da, die, wie er hörte, eben aus
London gekommen war. Er mußte sie immerfort anse­
hen, so reizend erschien sie ihm: sie war ziemlich groß
und schlank, ihren stolzen, feinen Kopf umrahmte wei­
ches, dunkles Haar, und sie hatte große, tiefblaue Augen
und rosige Wangen. Sie trug ein schönes, weißes Kleid
und Perlen um den Hals. Mit dieser jungen Dame begab
sich etwas Merkwürdiges: es standen so viele Herren um

178

sie herum und schienen eifrig darauf bedacht, ihr zu ge­


fallen, daß es Fauntleroy dünkte, sie müsse eine Prinzes­
sin sein. Er fand sie so anziehend, daß er ihr unwillkür­
lich näher und näher rückte, bis sie sich schließlich um­
drehte und zu ihm sprach.
»Komm her, Lord Fauntleroy«, sagte sie lächelnd,
»und sag mir, warum du mich so ansiehst.«
»Ich dachte, wie wunderschön Sie sind«, erwiderte
Seine junge Lordschaft.
Da lachten alle Herren laut heraus, und auch die junge
Dame lachte ein bißchen, und das Rot ihrer Wangen
wurde ein wenig tiefer.
»Ah, Fauntleroy«, sagte einer der Herren, der am herz­
lichsten gelacht hatte, »nütze deine Zeit! Wenn du älter
bist, hast du nicht mehr den Mut, so etwas zu sagen.«
»Aber das muß doch jeder sagen«, meinte Fauntleroy
liebenswürdig. »Finden Sie sie denn nicht hübsch?«
»Wir dürfen nicht sagen, was wir denken«, erwiderte
der Herr, und die anderen lachten noch mehr.
Aber die schöne, junge Dame – sie hieß Fräulein Vivian
Herbert – streckte die Hand aus, zog Cedric zu sich her­
an und sah nun aus der Nähe womöglich noch hübscher
aus.
»Lord Fauntleroy soll ruhig sagen, was er denkt«, be­
merkte sie.
»Und ich bin ihm sehr dankbar. Ganz gewiß denkt er,
was er sagt!«
Und sie gab ihm einen Kuß auf die Wange.
»Ich finde Sie hübscher als irgendwen, den ich je gese­

180

hen hab’«, sagte Fauntleroy mit unschuldig bewundern­


dem Blick, »außer Herzlieb. Natürlich könnte ich nie je­
manden ganz so hübsch wie Herzlieb finden. Ich finde,
sie ist am hübschesten von allen Menschen auf der
Welt.«
»Da hast du gewiß recht«, sagte Fräulein Vivian Her­
bert und lachte und gab ihm noch einen Kuß.
Sie behielt ihn einen großen Teil des Abends neben
sich, und in der Gruppe, deren Mittelpunkt sie bildeten,
ging es sehr fröhlich zu. Er wußte nicht, wie es kam, aber
es dauerte nicht lang, so erzählte er ihnen von Amerika
und von der Republikanischen Versammlung, von Mister
Hobbs und von Dick, und schließlich zog er stolz Dicks
Abschiedsgeschenk aus der Tasche – das rotseidene Ta­
schentuch.
»Ich hab’ es heute eingesteckt, weil Gesellschaft ist«,
sagte er. »Es würde Dick sicher freuen, wenn er wüßte,
daß ich es in einer Gesellschaft trage.«
Und so absonderlich auch das große, flammendrote
Taschentuch aussah – es lag ein ernster, liebevoller Blick
in Cedrics Augen, der seinen Zuhörern das Lachen fast
vertrieb.
»Mir gefällt es«, sagte er, »weil Dick mein Freund ist.«
Mister Havisham war schon am Nachmittag erwartet
worden, aber sonderbarerweise kam er zu spät. So etwas
war noch nie dagewesen in all den Jahren, seit er in
Schloß Dorincourt ein- und ausging. Er verspätete sich
derart, daß die Gäste schon aufstanden, um zu Tisch zu
gehen, als er endlich eintraf. Erstaunt betrachtete ihn der

181

Hausherr: der gemessene, ruhige Mann war sichtlich er­


regt, und sein scharfgeschnittenes, altes Gesicht war
bleich.
»Ich bin aufgehalten worden«, sagte er leise zum Gra­
fen, »durch – ein außerordentliches Ereignis.«
Daß er sich aufregte, kam bei dem bedachtsamen, alten
Rechtsanwalt ebenso selten vor, wie daß er unpünktlich
war. Heute war er offensichtlich verstört. Bei Tisch aß er
fast nichts, und zwei-, dreimal, wenn er angeredet wurde,
fuhr er zusammen, als wären seine Gedanken weit weg.
Als beim Nachtisch Fauntleroy hereinkam, blickte er ihn
ein paarmal beunruhigt an. Fauntleroy bemerkte es und
wunderte sich darüber. Er und Mister Havisham ver­
standen sich gut und pflegten einander sonst freundlich
zuzunicken.
Heute abend schien der Rechtsanwalt das Zunicken
vergessen zu haben.
In der Tat hatte er alles vergessen außer den sonder­
baren, beunruhigenden Nachrichten, die er dem Grafen
noch heute mitteilen mußte. Das würde eine furchtbare
Aufregung geben und alles mit einem Schlage verän­
dern.
Wie das lange Festmahl schließlich zu Ende kam, wuß­
te er später nicht mehr genau. Er saß da wie im Traum,
und mehrere Male fühlte er den fragenden Blick des Gra­
fen auf sich ruhen.
Aber schließlich ging es doch zu Ende, und die Herren
gesellten sich zu den Damen im Salon. Lord Fauntleroy
saß auf einem Sofa neben Fräulein Vivian Herbert, der

182

gefeierten Schönheit des letzten Londoner Winters. Sie


hatten zusammen Bilder angesehen, und er bedankte sich
gerade bei seiner neuen Freundin, als die Tür aufging.
»Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie so nett zu mir wa­
ren«, sagte er. »Ich war noch nie bei einer Gesellschaft,
und ich habe mich herrlich unterhalten.«
So herrlich hatte er sich unterhalten, daß ihm die Au­
genlider schwer wurden, und nach eine Weile fielen sie
ihm ganz zu. Sie öffneten sich nicht einmal mehr richtig,
als viel, viel später ihn jemand sanft auf die Wange küß­
te. Es war Fräulein Vivian Herbert, die wegging und leise
zu ihm sagte:
»Gute Nacht, kleiner Lord Fauntleroy, schlaf gut.«
Kaum hatte der letzte Gast das Zimmer verlassen, so
erhob sich Mister Havisham von seinem Platz am Kamin,
trat an das Sofa und blickte auf das schlafende Kind. Der
kleine Lord hatte es sich bequem gemacht. Seine überein­
andergeschlagenen Beinchen hingen über den Rand des
Sofas. Einen Arm hatte er lässig um den Kopf gelegt, die
warme Röte gesunden, glücklichen Kinderschlafs lag auf
seinem ruhigen Gesicht.
Als Mister Havisham ihn so ansah, rieb er sich das
wohlrasierte Kinn mit besorgter Miene.
»Na, Havisham«, sagte des Grafen Stimme hinter ihm,
»was gibt’s denn? Offenbar ist was passiert. Was denn,
wenn ich fragen darf?«
Mister Havisham wandte sich vom Sofa ab, und rieb
noch immer sein Kinn.
»Schlechte Nachrichten«, antwortete er, »böse Nach­

183

richten, Mylord – sehr böse Nachrichten. Ich bedaure,


ihr Überbringer zu sein.«
Der Graf hatte während des Abends ein paarmal ein
unbehagliches Gefühl gehabt, wenn zufällig sein Blick
auf Mister Havisham gefallen war. Und wenn er sich un­
behaglich fühlte, war er immer schlechter Laune.
»Warum sehen Sie den Jungen so an?!« rief er gereizt.
»Den ganzen Abend haben Sie ihn angesehen als ob – sa­
gen Sie, warum lungern Sie denn wie ein Unglücksrabe
immerfort um das Kind herum? Was haben Ihre Neuig­
keiten mit Lord Fauntleroy zu tun?«
»Mylord«, erwiderte Mister Havisham, »ich will keine
Zeit verlieren. Meine Nachrichten haben sehr viel mit
Lord Fauntleroy zu tun. Und wenn sie richtig sind – so
ist das nicht Lord Fauntleroy, der da schlafend vor uns
liegt, sondern nur der Sohn von Hauptmann Errol. Und
Lord Fauntleroy ist das Kind Ihres Sohnes Bevis und be­
findet sich zur Zeit in einem Hotel in London.«
Der Graf umklammerte die Armlehnen seines Stuhls
mit beiden Händen, bis die Adern darauf hervortraten;
auch auf seiner Stirn schwollen die Adern. Sein leiden­
schaftliches, altes Gesicht war leichenblaß.
»Was soll das heißen?« rief er. »Sie sind ja verrückt!
Wer hat diese Lüge aufgebracht?«
»Wenn es eine Lüge ist«, antwortete Mister Havisham,
»so sieht sie der Wahrheit leider sehr ähnlich. Heute früh
war eine Frau in meiner Kanzlei. Sie gab an, Ihr Sohn
Bevis habe sie vor sechs Jahren in London geheiratet. Der
Trauschein stimmte. Ein Jahr nach der Eheschließung

184

haben sie sich gezankt, und er hat ihr regelmäßig Geld


gezahlt, um sie auf gute Art los zu sein. Die Frau hat ei­
nen fünfjährigen Sohn. Sie ist eine Amerikanerin aus
niedrigem Stand, eine ungebildete Person. Bis vor kurzem
hatte sie nicht recht begriffen, worauf ihr Sohn Anspruch
erheben kann. Dann hat sie einen Rechtsanwalt um Rat
gefragt und auf diese Art erfahren, daß ihr Junge der
rechtmäßige Lord Fauntleroy ist, der Erbe des Grafen
Dorincourt. Natürlich besteht sie jetzt darauf, daß seine
Ansprüche anerkannt werden.«
Das grimmige, alte Gesicht des Grafen war totenbleich.
Ein bitteres Lächeln grub sich um seine Lippen.
»Kein Wort würde ich davon glauben«, sagte er,
»wenn es sich nicht um eine so gemeine, schuftige Ge­
schichte handelte, die ganz zum Wesen meines Sohnes
Bevis paßt. Ja, es sieht Bevis ganz ähnlich. Er war immer
eine Schande für die Familie; immer ein schwacher, un­
ehrlicher, lasterhafter Bursche – mein Sohn und Erbe,
Bevis Lord Fauntleroy. Die Frau ist eine ungebildete, ge­
wöhnliche Person, sagten Sie?«
»Ich muß leider zugeben, daß sie kaum ihren eigenen
Namen schreiben kann«, antwortete der Rechtsanwalt.
»Sie ist vollkommen ungebildet und hat es ganz unver­
blümt auf das Geld abgesehen – darauf allein kommt es
ihr an. In gewissem Sinne ist sie hübsch, aber –«
Der vornehme, alte Rechtsanwalt verstummte, offen­
bar von Widerwillen erfüllt.
Wie lila Stricke standen die Adern auf der Stirn des
Grafen, und daneben perlten kalte Schweißtropfen. Er

185

zog sein Taschentuch heraus und wischte sie weg. Sein


Lächeln wurde noch bitterer.
»Und ich«, sagte er, »ich habe mich gegen – gegen die
andere Frau gewandt, die Mutter dieses Kindes« (er zeig­
te auf die schlafende Gestalt auf dem Sofa). »Ich habe
mich geweigert, sie als Schwiegertochter anzuerkennen.
Und doch konnte sie ihren Namen schreiben! Ich glaube,
das nennt man Vergeltung.«
Plötzlich sprang er von seinem Stuhl auf und begann,
im Zimmer hin und her zu gehen. Wütende, furchtbare
Worte kamen über seine Lippen. Dennoch bemerkte Mi­
ster Havisham, daß er selbst auf dem Gipfel seiner Wut
das schlafende Kind auf dem gelben Kissen nicht zu ver­
gessen schien und kein einziges Mal so laut sprach, daß
es hätte davon aufwachen müssen.
»Ich hätte es wissen können«, sagte er. »Vom ersten
Augenblick an haben sie mir Schande gemacht! Bevis war
der Schlimmere von beiden. Noch will ich das nicht
glauben! Bis zum letzten werde ich es anfechten. Aber es
sieht Bevis ähnlich – es sieht ihm ähnlich!«
Aber als er schließlich alles erfahren hatte, was es zu
berichten gab, als er das Schlimmste wußte, betrachtete
ihn Mister Havisham mit besorgtem Blick. Er sah gebro­
chen und verstört und verändert aus. Seine Wutanfälle
waren ihm immer schlecht bekommen, aber dieser heuti­
ge war ärger gewesen als alle vorhergehenden, weil er
etwas mehr gewesen war als bloße Wut.
Endlich trat er langsam zum Sofa und blieb davor stehen.
»Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich ein Kind lieb­

186

gewinnen könnte«, sprach er, und seine barsche Stimme


klang leise und unsicher, »ich hätte es nicht geglaubt.
Kinder waren mir immer zuwider – meine eigenen noch
mehr als andere. Diesen Jungen habe ich lieb, und er hat
mich lieb. Ich bin nicht beliebt, ich war es nie. Aber er
hat mich lieb. Nie hat er Angst vor mir gehabt – immer
hat er mir vertraut. Er würde meinen Platz besser ausge­
füllt haben als ich. Das weiß ich. Er hätte seinem Namen
Ehre gemacht.«
Er beugte sich nieder und blickte lange Zeit in das
friedliche Gesicht des schlafenden Kindes. Seine buschi­
gen Brauen waren finster zusammengezogen, und doch
schien er selbst gar nicht finster. Er streckte die Hand aus
und strich das helle Haar aus der Stirn des Kleinen, dann
wandte er sich ab und läutete.
Als der Lakai erschien, deutete er auf das Sofa.
»Bringe –«, sagte er, und dann bekam seine Stimme ei­
nen sonderbaren Klang, »– bringe Lord Fauntleroy in
sein Zimmer.«

Besorgnis in Amerika
Als Cedric Mister Hobbs verlassen hatte, um nach
Schloß Dorincourt zu übersiedeln und Lord Fauntleroy
zu werden, und als der Gemischtwarenhändler Zeit hatte
zu bedenken, daß der Atlantische Ozean zwischen ihm
und dem kleinen Gefährten lag, der so manche angeneh­

187

me Stunde bei ihm verbracht hatte, da begann er sich


sehr, sehr einsam zu fühlen. In Wahrheit war Mister
Hobbs nicht besonders gescheit, sondern eigentlich ein
ziemlich langsamer, schwerfälliger Mensch. Er hatte nie
leicht Bekanntschaften geschlossen. Seine einzige Unter­
haltung bestand im Studium der Zeitung, während seine
geistigen Leistungen sich auf das Berechnen seiner Ein­
nahmen und Ausgaben beschränkten.
Zuerst hatte Mister Hobbs das Gefühl, als wäre Cedric
in Wirklichkeit nicht weit weg, als müsse er bald wieder­
kommen: eines Tages würde er von der Zeitung aufsehen,
und da würde der Junge in der Tür stehen in weißem An­
zug und roten Strümpfen, den Strohhut im Nacken, und
die fröhliche Stimme würde sagen: »Hallo, Mister Hobbs!
Heiß heute, nicht?« Aber als die Tage dahingingen und
nichts derartiges geschah, fühlte Mister Hobbs sich unbe­
haglich und lustlos. Nicht einmal seine Zeitung freute ihn
mehr. Wenn er mit dem Lesen fertig war, legte er das
Blatt aufs Knie und starrte lange den hochbeinigen Sche­
mel an. Es waren einige Schrammen an den hohen Bei­
nen, die ihn ganz bedrückt und schwermütig stimmten –
Schrammen, die von den Absätzen des künftigen Grafen
Dorincourt stammten. Merkwürdigerweise hatten Cedric
sein adeliges Blut und seine vornehme Abstammung nicht
davon abhalten können, im Eifer des Gesprächs mit den
Beinen zu baumeln und die Absätze kräftig gegen die
Stuhlbeine zu schlagen.
Wenn Mister Hobbs diese Schrammen genug ange­
starrt hatte, zog er seine goldene Uhr heraus, klappte sie

188

auf und blickte auf die Inschrift: »Mister Hobbs von sei­
nem ältesten Freund Lord Fauntleroy. Fällt auf diese Uhr
dein Blick, denke gern an mich zurück.« Und wenn er sie
eine Weile betrachtet hatte, ließ er sie wieder zuschnap­
pen, seufzte und stand auf, stellte sich in die Tür – zwi­
schen die Kartoffelkiste und das Apfelfaß – und blickte
auf die Straße hinaus.
Das ging so zwei bis drei Wochen, bis ihm ein neuer
Einfall kam. Da er langsam und schwerfällig war,
brauchte er immer ziemlich lange, bis er auf einen neuen
Gedanken verfiel. In der Regel mochte er neue Gedanken
nicht, er hatte die alten lieber. Jedoch nach zwei, drei
Wochen, die eher alles schlimmer statt besser gemacht
hatten, dämmerte ihm langsam und bedächtig ein neuer
Plan. Er würde Dick aufsuchen! Viele Pfeifen mußte er
rauchen, bis er zu dem Entschluß kam, aber schließlich
war es so weit: er würde Dick aufsuchen! Er wußte von
Dick – Cedric hatte ihm alles erzählt –, und er hoffte, es
könnte ihm einen gewissen Trost bereiten, mit Dick über
Cedric zu sprechen.
So kam es denn, daß eines Tages, als Dick gerade eifrig
einem Kunden die Schuhe putzte, ein kleiner, dicker
Mann mit breitem Gesicht und kahlem Kopf auf dem
Gehsteig stehenblieb und ein paar Minuten lang das
Schild des Schuhputzers anstarrte, auf dem zu lesen stand:

»Professor Dick Tipton


ist unübertrefflich.«

189

So lange starrte er es an, daß Dick aufmerksam wurde,


und nachdem er den Schuhen seines Kunden den letzten
Glanz verliehen hatte, sagte er:
»Schuhputzen gefällig, Herr?«
Der dicke Mann kam bedächtig näher und stellte sei­
nen Fuß auf das Bänkchen.
»Ja«, sagte er.
Als Dick sich an die Arbeit machte, sah der Mann von
Dick zum Schild und vom Schild zu Dick.
»Wo haben Sie das her?« fragte er.
»Von einem Freund von mir«, erwiderte Dick; »noch
ein ganz kleiner Kerl – hat mir die ganze Ausstattung ge­
schenkt, der beste kleine Kerl auf der ganzen Welt. Er ist
jetzt in England – einer von denen ihren Lords gewor­
den.«
»Lord – Lord –«, fragte Mister Hobbs langsam. »Lord
Fauntleroy – künftiger Graf Dorincourt?«
Dick ließ beinah seine Bürste fallen.
»Was!« rief er, »Sie kennen ihn auch?«
»Ich hab’ ihn gekannt«, antwortete Mister Hobbs und
wischte sich die heiße Stirn, »seit er auf der Welt ist. Wir
sind Freunde, er und ich.«
Mister Hobbs war sichtlich bewegt, als er nun von Ce­
dric sprach. Er zog die prachtvolle, goldene Uhr aus der
Tasche, öffnete sie und zeigte Dick den inneren Deckel.
»›Fällt auf diese Uhr dein Blick, denke gern an mich zu­
rück‹«, las er vor. »Das hat er mir zum Abschied als An­
denken geschenkt. ›Sie dürfen mich nie vergessen!‹ hat er
gesagt. Ich hätte ihn nie vergessen«, fuhr er kopfschüttelnd

190

fort, »wenn er mir auch nichts geschenkt hätte und ich nie
wieder das geringste von ihm zu sehen bekomme. Er war
ein Freund, den keiner vergessen kann.«

191
»Er war der netteste, kleine Kerl, den ich gesehen
hab’«, sagte Dick. »Und Verstand hatte der Kleine – so
viel Verstand in dem Alter ist mir noch nicht vorgekom­
men. Große Stücke hab’ ich auf ihn gehalten, große Stü­
cke – wir waren auch gute Freunde – von allem Anfang
an. Ich hab’ einmal seinen Ball unter einem Bus für ihn
vorgeholt, und das hat er mir nicht vergessen.«
»Sehr schade, daß sie aus dem einen Grafen gemacht
haben. Der wäre eine Zierde für die Gemischtwaren­
branche geworden – eine wahre Zierde!« Mister Hobbs
schüttelte den Kopf mit tieferem Bedauern denn je.
Es zeigte sich, daß sie einander sehr viel zu sagen hat­
ten, was nicht alles auf einmal geschehen konnte. So
wurde beschlossen, daß Dick am nächsten Abend Mister
Hobbs in seinem Laden besuchen sollte. Dieser Plan ge­
fiel Dick außerordentlich. Fast sein ganzes Leben lang
hatte er sich auf der Straße herumgetrieben, aber er war
nie schlecht gewesen und hatte sich im stillen immer nach
einem geordneteren Dasein gesehnt. Seit er ein selbstän­
diges Geschäft besaß, verdiente er genug, daß er unter ei­
nem Dach schlafen konnte statt irgendwo auf der Straße,
und er hoffte, daß er es mit der Zeit vielleicht noch wei­
ter bringen würde. Da kam ihm eine Einladung zu einem
achtbaren Mann, der einen Eckladen besaß und sogar ein
Pferd und einen Gemüsewagen, wie ein höchst bedeut­
sames Ereignis vor.
»Wissen Sie Bescheid mit Grafen und Schlössern?« er­
kundigte sich Mister Hobbs. »Ich wüßte gern ein paar
Einzelheiten.«

192

»Da ist in der ›Groschenzeitung‹ eine Geschichte, die


von ihnen handelt«, sagte Dick. »Sie heißt ›Verbrechen
einer Grafenkrone oder die Rache der Gräfin May‹. Feine
Sache. Paar von meinen Freunden sind darauf abberniert
und lesen’s.«
»Bringen Sie’s mit, wenn Sie zu mir kommen«, sagte
Mister Hobbs, »ich bezahl’ es. Bringen Sie alles mit, wo
Grafen drin vorkommen. Wenn’s keine Grafen sind,
tun’s auch Barone oder Herzöge – obwohl er nie von Ba­
ronen oder Herzögen geredet hat.«
Dies war der Anfang einer guten Freundschaft. Als
Dick am nächsten Abend im Laden erschien, empfing ihn
Mister Hobbs sehr gastlich. Er bot ihm einen Stuhl an,
mit dem Rücken gegen die Tür, neben einem Apfelfaß,
und nachdem sein junger Besucher Platz genommen hat­
te, wies er mit der Hand, in der er die Pfeife hielt, auf die
Äpfel und sagte:
»Bitte, bedienen Sie sich.«
Dann sah er sich die mitgebrachten Hefte an, und hier­
auf lasen und sprachen sie über den englischen Adel. Mi­
ster Hobbs mußte sehr kräftig an seiner Pfeife ziehen und
sehr häufig den Kopf schütteln. Am heftigsten schüttelte
er ihn, als er Dick den hohen Schemel mit den Schram­
men an den Beinen zeigte.
»Da ist er immer gesessen«, sagte er, »das sind seine
Spuren. Ich seh’ sie mir immer wieder an. Merkwürdig
geht’s zu auf dieser Welt, merkwürdig.«
Überlegungen dieser Art und Dicks Besuch schienen
ihm sehr gut zu tun. Ehe Dick nach Hause ging, aßen sie

193

zu Abend in der kleinen Hinterstube: Brot und Käse und


Sardinen und andere Sachen aus Blechbüchsen aus dem
Laden. Und Mister Hobbs machte feierlich zwei Flaschen
Bier auf und schenkte zwei Gläser voll.
»Auf sein Wohl!« sagte er, sein Glas erhebend, »und
mag er ihnen eine Lektion geben – den Grafen und Baro­
nen und Herzögen und der ganzen Bande!«
Nach diesem Abend sahen die beiden einander ziem­
lich häufig, und Mister Hobbs fühlte sich viel behagli­
cher und weniger vereinsamt. Sie lasen die »Groschen­
zeitung« und viele andere interessante Dinge und erwar­
ben sich beträchtliche Kenntnisse über die Lebensge­
wohnheiten des Adels, welche diesen verachteten Stand,
falls sie ihm zu Ohren gekommen wären, sehr erstaunt
hätten. Eines Tages unternahm Mister Hobbs eine Pil­
gerfahrt zu einer Buchhandlung in der Stadt mit der aus­
gesprochenen Absicht, seine Bibliothek zu vergrößern.
Er wandte sich an einen Verkäufer und lehnte sich weit
über den Ladentisch.
»Ich möchte«, sagte er, »ein Buch über Grafen.«
»Was?« rief der Verkäufer.
»Ein Buch«, wiederholte Mister Hobbs, »über Grafen.«
»Ich fürchte«, erwiderte der junge Mann und machte
ein merkwürdiges Gesicht, »damit kann ich Ihnen nicht
dienen.«
»Nicht dienen?« meinte Mister Hobbs bestürzt. »Na –
sagen wir über Barone und Herzöge.«
»So ein Buch ist mir leider nicht bekannt«, antwortete
der Verkäufer.

194

Mister Hobbs war sehr enttäuscht. Er blickte zu Boden


– er blickte zur Decke.
»Auch keins über weibliche Grafen?« erkundigte er
sich.
»Ich fürchte, nein«, sagte der Verkäufer lächelnd.
»Na«, rief Mister Hobbs, »da brat mir einer einen
Storch!«
Er wollte gerade gehen, als der Verkäufer ihn zurück­
rief und fragte, ob ihm vielleicht mit einer Geschichte ge­
dient sei, in der Adelige die Hauptgestalten wären. Mi­
ster Hobbs sagte ja, damit wäre ihm gedient, wenn er
nun einmal nicht ein ganzes Buch bloß über Grafen ha­
ben könne. So verkaufte ihm denn der junge Mann ein
Buch »Der Tower von London«, verfaßt von Mister
Harrison Ainsworth, und das trug Mister Hobbs befrie­
digt nach Hause.
Als Dick kam, fingen sie an, es zu lesen. Es war ein
wunderbares, aufregendes Buch, und es spielte in der
Zeit jener berühmten englischen Königin, die von man­
chen »die blutige Mary« genannt wird. Als nun Mister
Hobbs von den Taten der Königin Mary hörte und von
ihrer Gewohnheit, den Leuten die Köpfe abschlagen, sie
foltern oder lebendig verbrennen zu lassen, da wurde er
sehr erregt. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und starr­
te Dick an, und schließlich mußte er sich mit seinem ro­
ten Taschentuch den Schweiß von der Stirne wischen.
»Da ist er ja nicht sicher!« sagte er. »Er ist nicht si­
cher! Wenn die Frauensleute sich auf den Thron setzen
und solche Sachen befehlen können, wer weiß denn da,

195

was ihm jetzt in dieser Minute geschieht? Er ist bestimmt


nicht mehr sicher!«
»Na«, sagte Dick, obwohl er selber auch etwas beun­
ruhigt aussah, »die hier in dem Buch ist nicht dieselbe,
die jetzt Königin ist. Die jetzige heißt ja – Viktoh-rie, und
die hier in dem Buch – die heißt Mary.«
Mehrere Tage lang war Mister Hobbs beunruhigt. Erst
als er Fauntleroys Brief erhalten und ihn ein paarmal ge­
lesen hatte – teils für sich, teils laut für Dick – und auch
den Brief, den Dick um dieselbe Zeit bekam, faßte er sich
wieder etwas.
Beide freuten sich gewaltig über ihre Briefe. Sie lasen
sie immer wieder und sprachen darüber und hatten ihre
Freude an jedem einzelnen Wort. Und sie brachten Tage
damit zu, die Antworten zu verfassen, und lasen sie vor
dem Abschicken fast ebenso oft durch wie die Briefe, die
sie bekommen hatten.
Für Dick war das Briefschreiben eine harte Arbeit. All
seine Lese- und Schreibkenntnisse stammten aus der Zeit,
als er bei seinem älteren Bruder gewohnt und eine
Abendschule besucht hatte. Aber da er ein aufgeweckter
Junge war, hatte er seine kurze Bildungszeit gut genutzt.
Auch hatte er sich seitdem öfters Wörter aus Zeitungen
zusammenbuchstabiert und sich mit einem Stück Kreide
auf Gehsteigen und Mauern im Schreiben geübt. Er hatte
Mister Hobbs von seinem Leben erzählt und von seinem
älteren Bruder, der nach dem Tode ihrer Mutter sehr gut
zu ihm gewesen war. Der Vater war schon früher gestor­
ben. Dicks Bruder hieß Ben, und er hatte für Dick

196

gesorgt, so gut er konnte, bis der Junge alt genug war,


Zeitungen zu verkaufen und Botengänge zu machen. Sie
hatten beieinander gewohnt, und als er älter wurde, war
Ben gut vorwärts gekommen und hatte eine ganz nette
Stelle in einem Laden gehabt.

197

»Und dann«, rief Dick empört, »geht der Kerl hin und
heiratet sich ein Mädel! Total verrückt war er nach ihr,
sein ganzer Verstand zum Teufel! Geht hin und heirat’
sie und fangen an zu wirtschaften in zwei Hinterstuben!
Und die war eine Böse – eine richtige Wildkatze. Zerfetz­
te alles, wenn sie in Wut kam – und in Wut war sie im­
merfort. Und ihr Baby war geradeso – schrie und plärrte
Tag und Nacht! Und ich mußte drauf aufpassen! Und
wenn’s schrie, schmiß sie mir Sachen auf den Kopf.
Einmal feuerte sie einen Teller nach mir, der traf aber
das Baby – hat ihm das ganze Kinn zerschnitten. Der
Doktor sagte, die Narben wird es sein Leben lang mit
sich ’rumtragen; eine liebevolle Mutter! Wir hatten was
auszustehn, Ben und ich und der Kleine! Sie war wütend
auf Ben, weil er nicht mehr Geld verdiente. Und schließ­
lich ist er mit einem andern Mann nach dem Westen ge­
gangen, eine Rinderfarm aufmachen. Noch keine Woche
war er fort, und wie ich abends heimkomme vom Zei­
tungsverkaufen, war die Wohnung verschlossen und
leer, und die Wirtin sagte mir, Minna wär’ fort. Jemand
anders sagte, sie wäre übers Meer mit einer Dame, die
auch ein Baby gehabt hätte, als Amme. Ich hab’ nie wie­
der ein Wort von ihr gehört seitdem, und Ben auch
nicht. Wenn ich Ben gewesen wäre, ich hätt’ ihr keine
Träne nachgeweint – hat er wahrscheinlich auch nicht.
Aber zuerst hat er viel auf sie gehalten. Ich sag’s Ihnen ja
– verrückt war er nach ihr. Sie war ein sauberes Mädel,
wenn sie ’rausgeputzt war und nicht in Wut. Große,
schwarze Augen hatte sie und schwarze Haare. Die dreh­

198

te sie zu einem Strick, so dick wie ihr Arm, und den


wand sie sich so um den Kopf, ein paarmal rundherum.
Und ich sag’ Ihnen, ihre Augen, die blitzten nur so. Die
Leute sagten, sie hätte italienisches Blut und davon wäre
sie so sonderbar.«
Er erzählte Mister Hobbs viel von ihr und von seinem
Bruder Ben, der, seitdem er nach dem Westen gegangen
war, ein paarmal an Dick geschrieben hatte. Ben hatte
kein Glück gehabt, er war nur von Ort zu Ort gezogen.
Schließlich hatte er sich auf einer Farm in Kalifornien
niedergelassen, wo er noch um die Zeit arbeitete, als
Dick mit Mister Hobbs bekannt wurde.
Eines Tages saßen sie zusammen vor der Ladentür, und
Mister Hobbs stopfte seine Pfeife.
Als er das Streichholz aus der Schachtel nahm, hielt er
plötzlich inne und blickte auf den Ladentisch.
»So was!« sagte er. »Wenn das nicht ein Brief ist! Ich
hab’ ihn vorhin gar nicht gesehn. Der Briefträger muß
ihn hingelegt haben, wie ich nicht aufgepaßt hab’, oder
die Zeitung ist drübergerutscht.«
Er griff danach und betrachtete ihn sorgfältig.
»Von ihm!« rief er. »Ausgerechnet von ihm!«
Seine Pfeife war vergessen. Ganz aufgeregt setzte er
sich wieder auf seinen Stuhl, zog das Taschenmesser her­
aus und öffnete den Umschlag.
»Neugierig, was er diesmal zu schreiben hat«, meinte
er. Dann entfaltete er den Brief und las folgendes:

199

»Schloß Dorincourt
Lieber Mister Hobbs,

ich schreibe ihnen in großer Eile weil ich ihnen was


merkwürdiges zu erzählen habe. Ich weis das Sie sehr
überrascht sein werden mein lieber Freund wenn ich es
ihnen erzähle. Es ist alles ein irthum und bin kein Lord
und brauche auch kein Graf zu sein da ist eine Dahme
die mit meinem Onkel Bevis verheiratet war und sie hat
einen kleinen Jungen und der ist Lord Fauntleroy weil es
in England so ist, der kleine Bub vom ältesten Sohn vom
Grafen wird der Graf wenn alle andern tot sind. Ich mei­
ne wenn sein Fater und Grosfater tot sind mein Grosfater
ist nicht tot aber mein Onkel Bevis und deshalb ist sein
Junge Lord Fauntleroy und nicht ich weil mein Papa der
jüngste Sohn war und ich heiße Cedric Errol wie wo ich
in New York war und alles wird dem andern Jungen ge­
hören. Ich dachte zuerst ich müßte ihm mein Poni geben
und den Wagen aber mein Grosfater sagt das brauche ich
nicht meinem Grosfater tut es sehr leid und ich glaube
ihm gefällt die Dahme nicht aber fileicht denkt er Herz­
lieb und ich sind traurig weil ich nun kein Graf werde ich
würde jetzt lieber ein Graf werden als früher denn das
Schloß hier ist sehr schön und ich habe alle so gern und
wenn man reich ist kann man so filerlei tun und jetzt bin
ich nicht reich weil mein Papa der jüngste Sohn war und
der ist nicht sehr reich ich werde nun arbeiten lernen so
daß ich für Herzlieb sorgen kann ich habe Wilkins ge­
fragt wie es mit Reitknecht werden ist fileicht kann ich

200

Reitknecht oder Kutscher werden, die Dahme hat ihren


kleinen Jungen ins Schloß gebracht und mein Grosfater
und Mister Havisham haben mit ihr geredet ich glaube
sie war zornig sie redete so laut und mein Grosfater war
auch zornig ich hatte ihn noch nie so böse gesehn ich
wolte es ihnen und Dick gleich erzählen weil es Sie inter­
essieren wird so für heute nichts weiter mit herzlichen
Grüßen ihr alter Freund

Cedric Errol
(nicht Lord Fauntleroy)«

Mister Hobbs sank in seinen Stuhl zurück. Der Brief


fiel auf sein Knie, das Taschenmesser glitt zu Boden und
der Umschlag dazu, »Na«, rief er, »da hat mir einer ei­
nen Storch gebraten!«
So verblüfft war er, daß sein Lieblingsausdruck anders
als sonst herauskam. Sonst hatte es immer geheißen: »Da
brat mir einer einen Storch«, aber diesmal sagte er: »Da
hat mir einer einen Storch gebraten.« Vielleicht hatte ihm
wirklich jemand einen Storch gebraten – so was kann
man nie wissen.
»Na«, sagte Dick, »da ist also die ganze Herrlichkeit
vorbei.«
»Vorbei!« wiederholte Mister Hobbs. »Meiner Mei­
nung nach eine abgekartete Sache dieser englischen ’ri­
stokraten, die ihm seine Rechte nehmen wollen, weil er
ein Amerikaner ist. Ich hab’s ja gleich gesagt, er ist nicht
sicher – da haben wir die Bescherung! Höchstwahr­

201

scheinlich hat sich die ganze Regierung verschworen, ihm


sein rechtmäßiges Eigentum wegzunehmen.«
Er ließ Dick nicht fort, bis es schon ganz spät war und
sie alles miteinander besprochen hatten. Als der junge
Freund ihn endlich verließ, begleitete ihn Mister Hobbs
bis an die nächste Straßenecke. Auf dem Rückweg blieb
er vor dem leeren Haus, in dem Cedric gewohnt hatte,
stehen und starrte auf das »Zu vermieten« und sog in
großer Verwirrung an seiner Pfeife.

Die beiden Anwärter


Wenige Tage nach der Gesellschaft im Schloß wußte je­
der eifrige Zeitungsleser in England von den romanhaf­
ten Geschehnissen in Dorincourt. Mit allen Einzelheiten
erzählt, bildete dies eine spannende Geschichte. Da war
der kleine amerikanische Junge, den man nach England
geholt hatte, um ihn zu einem Lord Fauntleroy zu ma­
chen, und von dem es hieß, er sei so gut und schön und
tüchtig, daß er alle Herzen im Sturm gewonnen habe; da
war der alte Graf, sein Großvater, stolz auf den neuen
Erben; da war die hübsche, junge Mutter, der der Graf
die Heirat mit Hauptmann Errol nie verziehen hatte; da
war die sonderbare Eheschließung des ältesten Sohnes
Bevis, des verstorbenen Lords Fauntleroy. Und nun
tauchte plötzlich diese fremde Frau mit ihrem Sohn auf
und behauptete, er sei der echte Lord Fauntleroy und

202

müsse zu seinem Recht kommen! Über dies alles wurde


viel geredet und geschrieben, und es erregte ungeheures
Aufsehen. Dann kam das Gerücht auf, Graf Dorincourt
sei mit der Wendung der Dinge keineswegs einverstanden
und werde vielleicht die Ansprüche der Frau anfechten,
so daß eine großartige Gerichtsverhandlung zu erwarten
stand.
Auch im Schloß herrschte überall große Aufregung: in
der Bibliothek, wo der Graf und Mister Havisham sich
besprachen; im Dienerzimmer, wo Mister Thomas und
die anderen männliche und weiblichen Diener die ganze
Zeit laut durcheinanderschwatzten; in den Ställen, wo
Wilkins ganz niedergedrückt herumarbeitete und das
braune Pony schöner striegelte denn je und ganz traurig
zum Kutscher bemerkte: »Nie hab’ ich einem jungen
Herrn das Reiten beigebracht, der’s leichter begriffen
oder mehr Mut gehabt hat als er. Hinter dem herzurei­
ten, war ein Vergnügen.«
Doch inmitten all dieser Bestürzung war einer ganz ru­
hig und unbekümmert – der kleine Lord Fauntleroy, der
nicht mehr Lord Fauntleroy sein sollte. Als man ihm die
neue Lage der Dinge erklärt hatte, war er allerdings zu­
nächst ein wenig besorgt und verblüfft gewesen, doch das
hatte seinen Grund nicht in gekränktem Ehrgeiz.
Als der Graf ihm sagte, was geschehen war, hatte er
auf seiner Fußbank gesessen, die Hände ums Knie ge­
schlungen, wie er es zu tun liebte, wenn er einer span­
nenden Geschichte zuhörte. Und als die Geschichte zu
Ende war, sah er sehr ernst aus.

203

»Mir ist davon ganz sonderbar zumute«, sagte er –


»ganz sonderbar!«
Schweigend sah der Graf den Jungen an. Auch ihm
war sonderbar zumute von der Geschichte – sonderbarer,
als ihm je zumute gewesen war, und dies um so mehr, als
er auf dem kleinen, sonst so glücklichen Gesicht einen
beunruhigten Ausdruck sah.
»Werden sie Herzlieb ihr Haus wegnehmen – und ih­
ren Wagen?« fragte Cedric angstvoll.
»Nein!«, sagte der Graf sehr entschieden und merk­
würdig laut. »Ihr können sie nichts wegnehmen.«
»Ah!« meinte Cedric, offensichtlich erleichtert, »das
können sie nicht?«
Dann blickte er zu seinem Großvater auf. Bange Er­
wartung lag in seinen Augen, die sehr groß und weit
schienen.
»Dieser andere Junge«, sagte er, und seine Stimme zit­
terte, »der wird – der wird nun dein Junge sein – wie ich
bis jetzt – nicht?«
»Nein!« antwortete der Graf – und so hitzig und laut
sagte er es, daß Cedric fast erschrak.
»Nein?« rief er ganz verwundert. »Nein? – ich dachte –«
Plötzlich stand er von seinem Stuhl auf.
»Kann ich dein Junge bleiben, auch wenn ich kein Graf
werde?« sagte er. »Willst du, daß ich dein Junge bleibe,
so wie jetzt?« Jeder Zug des kleinen Gesichtes drückte
die höchste Spannung aus.
Wie ihn da der alte Graf vom Kopf bis zum Fuß ansah!
Wie seine buschigen Brauen sich zusammenzogen, und

204

wie merkwürdig die tiefliegenden Augen darunter her­


vorleuchteten!
»Mein Junge!« sagte er – und ob ihr’s glauben wollt
oder nicht: seine Stimme klang seltsam gebrochen, rauh
und heiser, und obwohl er noch bestimmter und gebiete­
rischer sprach als vorher, schien sie doch ein bißchen zu
zittern – »ja, du bist und bleibst mein Junge, solange ich
lebe. Und bei Gott, manchmal ist mir zumute, als wärst
du der einzige Junge, den ich je gehabt habe.«
Cedrics Gesicht wurde rot bis unter die Haarwurzeln,
rot vor Erleichterung und Freude. Er sah seinem Großva­
ter gerade in die Augen.
»Wirklich?« sagte er. »Dann ist mir das mit dem
Grafwerden ganz egal. Es ist mir gleichgültig, ob ich ein
Graf bin oder nicht. Ich dachte – siehst du, ich dachte,
daß der, der später der Graf wird, auch dein Junge sein
müßte, und – ich dürfte es nicht mehr sein. Deshalb war
mir so sonderbar zumute.«
Der Graf legte ihm die Hand auf die Schulter und zog
ihn näher zu sich heran.
»Sie werden dir nichts nehmen, was ich für dich halten
kann«, sagte er mit einem tiefen Atemzug. »Noch will
ich nicht glauben, daß sie dir überhaupt etwas nehmen
können. Du bist für die Stellung wie geschaffen, und –
vielleicht wirst du sie doch ausfüllen. Aber was auch
kommen möge – du sollst alles haben, was ich dir geben
kann – alles!«
Es war fast, als spräche er gar nicht zu einem Kind, ei­
ne solche Entschlossenheit lag auf seinem Gesicht und in

205

seinem Ton. Es war mehr, als gäbe er sich selbst ein Ver­
sprechen – und vielleicht tat er das auch.

Wenige Tage, nachdem sie Mister Havisham in seiner


Kanzlei aufgesucht hatte, war die Frau, die Lady Fauntle­
roy zu sein behauptete, mit ihrem Kind im Schloß er­
schienen. Sie war weggeschickt worden. Der Graf würde
sie nicht empfangen, wurde ihr vom Diener an der Tür
mitgeteilt. Sein Rechtsanwalt werde ihre Sache ordnen.
Es war Thomas, der ihr das ausrichtete. Später im
Dienstbotenzimmer äußerte er offen seine Meinung über
sie. »Ich hab’ lang genug in feinen Familien gedient«,
sagte er, »um eine Dame zu erkennen, wenn ich sie sehe.
Und wenn das eine Dame war, dann versteh’ ich nichts
von Frauenzimmern.«
»Die im Ulmenhof«, fügte Thomas selbstbewußt hin­
zu, »Amerikanerin oder nicht, die ist eine von der richti­
gen Sorte, das sieht unsereins auf den ersten Blick. Hab’
es selber zu Henry gesagt, als wir’s erstemal dort waren.«
Die Frau war wieder fortgegangen. Ihr zwar hübsches,
aber gewöhnliches Gesicht hatte halb verängstigt, halb
trotzig ausgesehen. Bei seinen Zusammenkünften mit ihr
hatte Mister Havisham bemerkt, daß sie trotz ihrer Hef­
tigkeit und ihrer unfeinen, unverschämten Art gar nicht
so klug und so mutig war, wie sie erscheinen wollte.
Manchmal schien ihr die Lage, in die sie sich begeben
hatte, über den Kopf zu wachsen. Es war, als hätte sie
nicht mit einem derartigen Widerstand gerechnet.
»Zweifellos ist sie eine Frau aus niederen Kreisen«, sag­

206

te der Anwalt zu Frau Errol. »Sie ist ungebildet und weiß


nicht, wie sie sich benehmen soll. Der Besuch im Schloß
hat sie vollkommen eingeschüchtert. Der Graf wollte sie
überhaupt nicht sehen, aber auf meinen Rat ist er mit mir
in das ›Wappen von Dorincourt‹ gegangen, wo sie wohnt.
Als sie ihn ins Zimmer treten sah, wurde sie leichenblaß,
obwohl sie gleich wütend auf uns losfuhr und in einem
Atem Forderungen stellte und Drohungen ausstieß.«
Der Graf war in seiner abweisendsten Haltung in ihr
Zimmer getreten. Wie ein ehrwürdiger Riese hatte er da­
gestanden und die Frau mit kaltem Blick gemessen. Er
hatte sie wortlos angestarrt und sie reden und fordern
lassen, bis sie nicht mehr weiter wußte, und schließlich
hatte er gesagt:
»Sie behaupten, die Frau meines ältesten Sohnes zu
sein. Wenn das richtig ist und wir Ihre Beweise nicht wi­
derlegen können, so haben Sie das Recht auf Ihrer Seite.
In diesem Falle ist Ihr Junge Lord Fauntleroy. Die Sache
wird gründlich untersucht werden, darauf können Sie
sich verlassen. Wenn Ihre Ansprüche berechtigt sind,
wird für Sie gesorgt werden. Ihr Sohn wird dann bedau­
erlicherweise mein Erbe sein. Aber ich wünsche Sie oder
das Kind nicht zu sehen, solange ich lebe.«
Darauf hatte er ihr den Rücken gewandt und war so
stolz und gelassen aus dem Zimmer gegangen, wie er es
betreten hatte.
Wenige Tage später wurde Frau Errol, die in ihrem
kleinen Zimmer Briefe schrieb, ein Besuch gemeldet. Das
Mädchen, das ihn eingelassen hatte, schien äußerst er­

207

regt. Seine Augen waren rund vor Staunen, und da es


jung und unerfahren war, blickte es voll ängstlicher Teil­
nahme auf seine Herrin.
»Es ist der Graf selber, gnä’ Frau!« sagte es zitternd.
Als Frau Errol das Besuchszimmer betrat, stand ein
hochgewachsener, eindrucksvoller alter Mann am Ka­
min. Er hatte ein schönes, grimmiges altes Gesicht mit
Adlerprofil, weißem Schnurrbart und einem eigensinni­
gen Ausdruck.
»Frau Errol, wenn ich nicht irre?« sagte er.
»Ja«, antwortete sie.
»Ich bin Graf Dorincourt.«
Einen Augenblick hielt er inne, fast unwillkürlich, und
blickte ihr in die Augen, die sie zu ihm erhoben hatte. So
ähnlich waren sie den großen, liebevollen Kinderaugen,
die er während der letzten Monate so häufig zu den sei­
nen hatte aufblicken sehen, daß ihn ein ganz merkwürdi­
ges Gefühl überkam.
»Der Junge sieht Ihnen sehr ähnlich«, sagte er unver­
mittelt.
»Das hat man mir oft gesagt, Mylord«, erwiderte sie,
»aber ich habe immer gern gedacht, daß er auch seinem
Vater ähnlich sieht.«
Lady Lorridaile hatte recht gehabt: sie hatte wirklich
ein gewinnendes Wesen, und ihr Auftreten war schlicht
und würdevoll. Sie schien nicht im geringsten verlegen
über sein plötzliches Erscheinen.
»Ja«, sagte der Graf, »er sieht auch – meinem Sohn
ähnlich.« Dann zerrte er heftig an seinem weißen

208

Schnurrbart. »Wissen Sie«, sagte er, »warum ich zu Ihnen


gekommen bin?«
»Mister Havisham ist bei mir gewesen«, begann Frau
Errol, »und er hat mir von den Ansprüchen erzählt, die
erhoben worden sind –«
»Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen«, erwiderte
der Graf, »daß ich diese Ansprüche untersuchen und an­
fechten lassen werde, falls sie doch nicht berechtigt sein
sollten. Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß
Ihr Junge mit allen Mitteln des Gesetzes verteidigt wer­
den wird. Seine Rechte –«
»Er darf nichts erhalten, was ihm von Rechts wegen
nicht zukommt, selbst wenn das Gesetz es ihm verschaf­
fen könnte«, sagte Frau Errol.
»Das kann das Gesetz leider nicht«, entgegnete der
Graf. »Wäre es möglich, so würde es auch geschehen.
Diese anmaßende Person und ihr Kind –«
»Vielleicht hat sie es so lieb wie ich Cedric, Mylord«,
sagte Frau Errol. »Und wenn sie die Frau Ihres ältesten
Sohnes war, so ist ihr Sohn Lord Fauntleroy und meiner
nicht.«
Sie hatte ebensowenig Angst vor ihm wie Cedric und
sah ihn auch ebenso furchtlos an. Dem Grafen, der sich
sein Leben lang wie ein Tyrann aufgeführt hatte, gefiel
das im stillen.
»Vermutlich«, sagte er mit einem leicht hämischen
Zug, »würden Sie es begrüßen, wenn er nicht Graf Do­
rincourt würde?«
Ihr schönes junges Gesicht errötete jäh.

209

»Es ist ein glänzendes Los, Graf Dorincourt zu sein,


Mylord«, erwiderte sie. »Ich weiß das sehr wohl, aber
am meisten liegt mir am Herzen, daß er wird, was sein
Vater war – ein tapferer, gerechter, aufrichtiger
Mensch.«
»Im Gegensatz zu dem, was sein Großvater ist, was?«
fragte Seine Lordschaft spöttisch.
»Ich habe bis jetzt nicht das Vergnügen gehabt, seinen
Großvater zu kennen«, erwiderte Frau Errol, »doch ich
weiß, daß mein Junge glaubt –« sie hielt einen Augen­
blick inne, dann sah sie ihm ruhig ins Gesicht und fügte
hinzu: »Ich weiß, daß Cedric Sie lieb hat.«
»Würde er mich liebgewonnen haben«, fragte der Graf
trocken, »wenn Sie ihm gesagt hätten, warum ich Sie
nicht im Schloß aufgenommen habe?«
»Nein«, antwortete Frau Errol. »Ich glaube nicht.
Deshalb wollte ich, daß er es nicht erfährt.«
»Nun«, sagte Mylord unwirsch, »es gibt recht wenige
Frauen, die es ihm nicht gesagt hätten.«
Plötzlich begann er im Zimmer auf und ab zu gehen
und zerrte heftiger denn je an seinem großen Schnurr­
bart.
»Ja, er hat mich lieb«, sagte er, »und ich habe ihn lieb.
Ich habe noch nie jemanden lieb gehabt. Er hat mir von
Anfang an gefallen. Ich bin ein alter Mann, und ich hatte
das Leben satt. Er hat mir etwas gegeben, wofür es sich
zu leben lohnt. Ich bin stolz auf ihn. Der Gedanke be­
friedigte mich, daß er eines Tages das Haupt der Familie
sein würde.«

210

Er trat wieder zu Frau Errol.


»Ich bin unglücklich«, sagte er. »Unglücklich!«
Man sah es ihm an. Sein Stolz konnte nicht verhindern,
daß seine Stimme bebte und seine Hände zitterten. Einen
Augenblick schien es sogar, als ob in seinen scharfen,
tiefliegenden Augen Tränen stünden.
»Vielleicht bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich un­
glücklich bin«, sagte er und starrte auf sie nieder. »Ich
habe Sie gehaßt. Ich bin eifersüchtig auf Sie gewesen.
Durch diese unselige, schändliche Sache ist das anders
geworden. Nachdem ich jene abstoßende Person erblickt
hatte, welche die Frau meines Sohnes Bevis zu sein be­
hauptet, fühlte ich, es würde geradezu eine Erleichterung
sein, Sie vor mir zu sehen. Ich bin ein starrköpfiger, alter
Narr gewesen, und ich habe Sie wohl sehr schlecht be­
handelt. Sie sind wie der Junge, und der Junge ist das
Wichtigste in meinem Leben. Ich bin zu Ihnen gekom­
men, weil Sie wie der Junge sind und weil er Sie liebt und
weil ich ihn liebe. Seien Sie so gut zu mir, wie Sie kön­
nen, um des Jungen willen.«
Er sagte das alles in seinem barschen Ton, beinah un­
höflich, aber er schien so gebrochen, daß Frau Errol im
Innersten ergriffen war. Sie stand auf und schob einen
Lehnstuhl ein wenig näher zu ihm hin.
»Möchten Sie sich nicht setzen?« sagte sie in ihrer stil­
len, gewinnenden Art. »Es ist so vieles über Sie gekom­
men, daß Sie müde sein müssen, und Sie brauchen Ihre
ganze Kraft.«
Es war ihm ebenso neu, daß jemand so schlicht und

212

liebevoll zu ihm sprach und für ihn sorgte, wie daß je­
mand keine Furcht vor ihm empfand, und er wurde wie­
der an »seinen Jungen« erinnert.
Diese Enttäuschung war eine gute Schule für ihn. Wäre
er nicht unglücklich gewesen, so hätte er Cedrics Mutter
vielleicht weiter gehaßt, aber im Augenblick empfand er
sie wirklich als wohltuend. Fast jede Frau wäre ihm als
Gegenstück zu der neuen Lady Fauntleroy angenehm er­
schienen. Das liebe Gesicht, die sanfte Stimme und die
anmutige Würde Frau Errols aber ließen ihn nun sogar
seine Niedergeschlagenheit etwas vergessen. Er setzte sich
in den angebotenen Lehnstuhl und wurde allmählich mit­
teilsamer.
»Was auch geschehen möge«, sagte er, »der Junge
wird genug haben. Es wird für ihn gesorgt, jetzt und in
Zukunft.«
Ehe er sich verabschiedete, sah er sich im Zimmer um.
»Gefällt Ihnen das Haus?« fragte er.
»Sehr gut«, antwortete sie.
»Das ist ein gemütliches Zimmer«, sagte er. »Darf ich
einmal wiederkommen und diese Dinge weiter mit Ihnen
besprechen?«
»Sooft Sie wollen, Mylord«, erwiderte sie.
Und als er in den Wagen stieg und heimfuhr, waren
Thomas und Henry, die auf dem Bock saßen, sprachlos
vor Staunen über diese neue Wendung der Dinge.

213

Dick als Retter in der Not


Die Geschichte Lord Fauntleroys und die Schwierigkei­
ten des Grafen Dorincourt waren natürlich in den engli­
schen Zeitungen zur Sprache gebracht worden, und bald
berichteten auch die amerikanischen Blätter darüber.
Mister Hobbs las so viel über Cedrics Schicksal, daß ihm
ganz schwindlig davon wurde. Ein Blatt beschrieb seinen
jungen Freund als hilflosen Säugling, ein anderes als jun­
gen Mann an der Oxforder Universität, der alle Prüfun­
gen mit Auszeichnung bestand und sich durch das Ab­
fassen griechischer Gedichte hervortat. Eine Zeitung be­
hauptete, er sei verlobt mit einer auffallend schönen jun­
gen Dame, der Tochter eines Herzogs. Eine andere mel­
dete, er habe soeben geheiratet – nur das eine stand nir­
gends: daß er ein kleiner Junge zwischen sieben und acht
Jahren mit kräftigen Beinen und einem Lockenkopf war.
Dann folgten Beschreibungen des neuerdings aufge­
tauchten Lord Fauntleroy und seiner Mutter. Manchmal
erschien sie als eine Zigeunerin, manchmal als Schau­
spielerin, dann wieder als schöne Spanierin. Aber dar­
über bestand Einmütigkeit, daß Graf Dorincourt ihr
Todfeind sei und um keinen Preis ihren Sohn als Erben
anerkennen wolle. Da in den von ihr vorgelegten Bewei­
sen irgendwo eine Lücke zu klaffen schien, konnte man
sich auf einen langen Rechtsstreit gefaßt machen, der in­

214

teressanter zu werden versprach als alles bisher vor Ge­


richt Verhandelte.
Mister Hobbs pflegte nun Zeitungen zu lesen, bis sich
ihm alles im Kopf drehte, und abends besprach er dann
die Sachlage mit Dick. Sie erfuhren, was für eine wichtige
Persönlichkeit ein Graf Dorincourt war, wie ungeheuer
hoch seine Einkünfte waren, wie viele Güter er besaß und
wie vornehm und schön das Schloß war, das er bewohn­
te. Je mehr sie erfuhren, um so aufgeregter wurden sie.
»Ich glaube, man müßte etwas tun«, sagte Mister
Hobbs. »So was sollte man sich erhalten, ob man Graf
wird oder nicht!«
Aber sie konnten leider nichts tun als jeder einen Brief
an Cedric schreiben, in dem sie ihn ihrer Freundschaft
und Teilnahme versicherten. Sie schrieben, sobald sie die
Neuigkeit gehört hatten. Ehe sie ihre Briefe abschickten,
tauschten sie diese untereinander aus.

Mister Hobbs las in Dicks Brief das Folgende:

»Liber Freind,
ich habe deinen liben Brif erhalten un Mister Hobbs
seinen und es tut uns sehr leit das du solches Pech hast
un wir sagen dir halte durch so lange du kannst und
laß dir keinen vorwegkommen. Es gibt eine Menge
Schurken die dich um alles bringen wenn du nich auf­
past. Möchte dir nur mitteilen das ich nich fergessen
habe was du for mich getan hast un wenn dir nichts
besseres bleibt so komm wieder rüber und werde mein

215

Teilhaber. Das Geschäft geht prima und ich werde


drauf sehen daß dir nichts geschiet.
Fir heute weiter nichts Dick.«

Und in Mister Hobbs’ Brief las Dick:

»Sehr geehrter Herr,


Ihr wertes Schreiben erhalten und möchte sagen, es
sieht faul aus. Halte es für eine verabredete Sache und
den Leuten, die es aufgebracht haben, müßte scharf auf
die Finger gesehen werden. Schreibe Ihnen dies um Ih­
nen zweierlei mitzuteilen: 1) werde ich mir diese Ge­
schichte näher ansehen. 2) Machen Sie sich keine Sor­
gen, werde einen Rechtsanwalt befragen und alles tun,
was in meiner Macht steht. Falls es zum Ärgsten
kommt und wir diesen Grafen nicht gewachsen sind,
steht Ihnen eine Teilhaberschaft in der Gemischtwa­
renbranche stets offen, wenn Sie das Alter dazu haben,
und ein Heim bei Ihrem Freund
Ihrem erg.
Silas Hobbs.«

»Na«, sagte Mister Hobbs, »der wär’ versorgt bei uns


zwei, wenn er kein Graf wird.«
»Stimmt«, meinte Dick.
Am nächsten Morgen erlebte einer von Dicks Kunden
eine ziemliche Überraschung. Es war ein junger Rechts­
anwalt, der gerade zu praktizieren anfing, so arm wie ein
sehr junger Anwalt nur sein kann, aber ein gescheiter,

216

energischer, junger Mann, scharfsinnig und gutmütig. Er


hatte eine schäbige Kanzlei in der Nähe von Dicks Stand
und ließ sich jeden Morgen die Schuhe putzen. Häufig

217
waren sie nicht gerade wasserdicht, aber er hatte stets ei­
nen Scherz oder ein freundliches Wort für Dick.
Als er an diesem besonderen Morgen den Fuß auf das
Bänkchen stellte, hielt er eine illustrierte Zeitschrift in der
Hand – eine vielseitige Zeitschrift mit Bildern von be­
merkenswerten Leuten und Dingen. Er hatte sie gerade
bis zu Ende durchgelesen, und als der zweite Schuh ge­
putzt war, reichte er sie Dick:
»Da hast du eine Zeitschrift, Dick. Kannst sie dir an­
sehen beim Frühstück! Bild drin von einem englischen
Schloß und der Schwiegertochter eines englischen Gra­
fen. Eine hübsche, junge Person mit prachtvollem Haar –
sie scheint aber einen ordentlichen Skandal dort drüben
aufzuwirbeln. Du solltest dich mit dem Adel vertraut
machen, Dick. Da fang gleich mit dem Sehr Ehrenwerten
Grafen Dorincourt und Lady Fauntleroy an! Hallo, was
ist denn los?«
Die Bilder, von denen er gesprochen hatte, befanden
sich auf der ersten Seite, und Dick starrte eines davon mit
offenem Mund an, sein eckiges Gesicht war blaß vor Er­
regung.
»Was hab’ ich zu zahlen, Dick?« fragte der junge
Mann. »Was hat dich denn so aus dem Häuschen ge­
bracht?«
Dick sah wirklich aus, als wäre ihm etwas Ungeheures
widerfahren. Er zeigte auf das Bild, unter dem gedruckt
stand:
»Mutter des Anwärters (Lady Fauntleroy).«
Es war das Bild einer hübschen Frau mit großen Augen

218

und schwarzem Haar, das sie in schweren Flechten um


den Kopf trug.
»Die!« sagte Dick. »Du meine Güte, die kenn’ ich bes­
ser als Sie!«
Der junge Mann fing zu lachen an.
»Wo hast du denn ihre Bekanntschaft gemacht, Dick?«
fragte er. »Im Seebad? Oder bei deinem letzten Aufent­
halt in Paris?«
Dick vergaß ganz, über den Witz zu grinsen. Er begann
so hastig seine Bürsten und Geräte zusammenzupacken,
als könnte er seinen Stand nicht rasch genug verlassen.
»Das ist sie«, sagte er, »ich kenne sie! Und für heute
mache ich Feierabend.«
Keine fünf Minuten waren vergangen, so rannte er
auch schon im Galopp durch die Straßen zu Mister
Hobbs’ Eckladen. Dieser traute kaum seinen Augen, als
er über den Ladentisch blickte und Dick mit der Zeit­
schrift in der Hand hereinstürmen sah. Der Junge war
ganz außer Atem, so außer Atem, daß er fast nicht spre­
chen konnte und nur die Zeitschrift auf den Ladentisch
warf.
»Hallo!« rief Mister Hobbs. »Hallo! Was haben Sie
denn da?«
»Sehen Sie sich’s an!« keuchte Dick. »Sehen Sie sich
die Frau da auf dem Bild an! Die ist keine Aristokratin,
die nicht!« Und voll tiefster Verachtung: »Die is nicht die
Frau von einem Lord. Ich laß mich erschlagen, wenn das
nicht Minna is – Minna! Die würd’ ich überall wiederer­
kennen – un Ben auch. Brauchen ihn bloß zu fragen!«

219

Mister Hobbs sank auf seinen Stuhl.


»Ich hab’ ja gewußt, daß es eine abgekartete Sache
war«, sagte er. »Ich hab’ es gewußt; und sie haben’s an­
gestiftet, weil er ein Amerikaner ist.«
»Haben’s angestiftet!« rief Dick verächtlich. »Sie hat’s
angestiftet, sie allein. Die hat’s immer hintern Ohren ge­
habt. Und ich will Ihnen sagen, was mir eingefallen ist,
gleich wie ich ihr Bild gesehn hab’. In einem von den
Blättern, die wir gelesen haben, war ein Brief drin, da
stand was von ihrem Jungen, und ’s hieß, der hätte eine
Narbe am Kinn! Und nun zählen Sie zwei und zwei zu­
sammen – die und die Narbe! Der Junge da von ihr ist
kein Lord, sowenig wie ich einer bin! Der ist Ben sein
Junge – der kleine Kerl, den sie getroffen hat, wie sie den
Teller nach mir geschmissen hat.«
Mister Hobbs war ganz überwältigt von der Last seiner
Verantwortung, und Dick sprühte nur so von Leben und
Tatkraft. Er schrieb einen Brief an Ben. Dann schnitt er
das Bild aus der Zeitschrift und legte es bei. Mister Hobbs
schrieb einen Brief an Cedric und einen an den Grafen. Sie
waren mitten im Schreiben, als Dick ein neuer Einfall kam.
»Sie«, sagte er, »der Herr, der mir die Zeitung ge­
schenkt hat, ist ein Rechtsanwalt. Fragen wir ihn lieber,
was da am besten zu tun ist. Rechtsanwälte wissen im­
mer alles.«
Dieser Vorschlag erfüllte Mister Hobbs mit gewaltiger
Achtung vor Dicks Klugheit.
»Stimmt!« erwiderte er. »Die Sache schreit förmlich
nach einem Rechtsanwalt.«

220

Er überließ den Laden einem Stellvertreter, zwängte


sich in seinen Rock und marschierte mit Dick in die
Stadt. Dann erschienen die beiden mit ihrer romanhaften
Geschichte in Mister Harrisons Kanzlei, sehr zur Ver­
wunderung des jungen Anwalts.
Wäre er nicht ein sehr junger und sehr unternehmender
Anwalt gewesen mit massenhaft überflüssiger Zeit, so
hätte er wahrscheinlich für ihr Anliegen nicht so viel
Teilnahme übrig gehabt, denn es klang alles sehr be­
fremdlich und phantastisch. Aber zufällig war er überaus
begierig, etwas zu tun zu bekommen, und zufällig kannte
er Dick, und Dick verstand es, die Geschichte äußerst ge­
schickt und wirkungsvoll vorzutragen.
»Und«, fügte Mister Hobbs hinzu, »sagen Sie, wieviel
Sie die Stunde kriegen, und lassen Sie sich die Sache
gründlich durch den Kopf gehn – ich komme für die Ko­
sten auf – Silas Hobbs, Ecke Blankstraße, Gemüse- und
Gemischtwaren.«
»Na«, meinte Mister Harrison, »das wird eine große
Sache, wenn’s gut geht, und sie kann für mich fast eben­
so bedeutend sein wie für Lord Fauntleroy. Schaden
kann’s jedenfalls nicht, wenn man in die Geschichte ein
bißchen ’reinleuchtet. Wie’s scheint, bestehen einige
Zweifel wegen des Kindes. Die Frau hat sich bei gewissen
Angaben über sein Alter mehrmals widersprochen und
dadurch Verdacht erregt.«
Und noch ehe die Sonne unterging, waren zwei Briefe
geschrieben, die in zwei verschiedene Richtungen abge­
sandt wurden – der eine verließ New York mit einem

221

nach England bestimmten Postdampfer, der andere mit


einem Zug, der Post und Reisende nach Kalifornien be­
förderte. Der erste war an Mister T. Havisham gerichtet,
der andere an Benjamin Tipton.

Die Entlarvung
Dem Anschein nach hatten einst wenige Minuten ge­
nügt, um das ganze Lebensschicksal des kleinen Jungen,
der seine rotbestrumpften Beine in Mister Hobbs’ Laden
von jenem hohen Schemel herabbaumeln ließ, von
Grund auf umzuwandeln. Wenige Minuten, um aus ei­
nem einfachen amerikanischen Kind den Erben eines
Grafentitels und eines gewaltigen Vermögens zu machen.
Wenige Minuten hatten aber auch genügt, um ihn
scheinbar zurückzuverwandeln in einen armseligen, klei­
nen Betrüger ohne eine Spur von Anrecht auf den Glanz,
in dem er sich ein paar Wochen gesonnt hatte … Nun,
so seltsam es scheint, es dauerte nicht halb so lange, wie
man denken könnte – da war das Ganze wieder umge­
stoßen, und er bekam alles wieder, was das Schicksal
ihm zu nehmen gedroht hatte …
Es ging sogar ziemlich schnell, denn die Frau, die sich
Lady Fauntleroy nannte, war lange nicht so geschickt,
wie sie schlecht war. Von Mister Havisham über ihre
Heirat und ihren Jungen ins Kreuzverhör genommen,
hatte sie sich ein paar Male verschnappt und auf diese

222

223
Weise berechtigten Argwohn erregt. Da war es zu Ende
gewesen mit ihrer Geistesgegenwart und Selbstbeherr­
schung, und in ihrer Wut und Erregung hatte sie sich
noch deutlicher verraten. Alle unstimmigen Angaben be­
trafen das Kind. Darüber schien kein Zweifel zu beste­
hen, daß sie mit Bevis, Lord Fauntleroy, verheiratet ge­
wesen war, daß er sich mit ihr entzweit und ihr dann
Geld gegeben hatte, um sie los zu sein. Doch Mister Ha­
visham fand heraus, daß ihre Angabe, der Junge sei in ei­
nem gewissen Londoner Stadtteil zur Welt gekommen,
nicht stimmte. Und mitten in die Aufregung, die dieser
Entdeckung folgte, platzten die Briefe des jungen New
Yorker Anwalts und die beiden Schreiben von Mister
Hobbs.
Das war ein Abend, als diese Briefe kamen und Mister
Havisham mit dem Grafen in der Bibliothek besprach,
was nun zu tun sei!
»Schon nach meinen drei ersten Begegnungen mit ihr«,
sagte Mister Havisham, »habe ich Verdacht geschöpft.
Das Kind scheint mir älter, als sie angibt. Als von seinem
Geburtstag die Rede war, hat sie sich arg verhaspelt.
Dann suchte sie die Sache wieder zurechtzudrehen. Ver­
schiedene Verdachtsmomente, die mir aufgefallen sind,
klären sich durch diese Briefe. Das beste wäre wohl, wir
telegraphieren den beiden Tiptons, sie möchten sofort
herüberkommen, und wir stellen sie ihr überraschend ge­
genüber! Sie ist schließlich nur eine ungeschickte Lügne­
rin. Meiner Meinung nach wird sie zu Tode erschrecken
und sich auf der Stelle verraten.«

224

Und so wurde es gemacht. Sie erfuhr nicht das gering­


ste, und Mister Havisham nahm ihr jeden Grund zum
Argwohn, indem er auch weiterhin mit ihr zusammen­
kam und ihr versicherte, ihre Behauptungen würden
nachgeprüft. Sie begann sich allmählich so sicher zu füh­
len, daß ihre Zuversicht wuchs, und sie trat so unver­
schämt auf, wie man es von ihr nicht anders erwarten
konnte.
Doch eines schönen Morgens, als sie in ihrem Wohn­
zimmer im Gasthof zum »Wappen von Dorincourt« saß
und herrliche Pläne für die Zukunft schmiedete, wurde
ihr Mister Havisham gemeldet. Als er eintrat, folgten ihm
nicht weniger als drei Leute: ein Junge mit magerem, ek­
kigem Gesicht, ein großer, junger Mann und als dritter
Graf Dorincourt.
Sie sprang auf und stieß einen Schreckensschrei aus –
er brach aus ihr heraus, ehe sie ihn unterdrücken konnte.
Zwei der Besucher hatte sie Tausende von Meilen ent­
fernt geglaubt, wenn sie überhaupt an sie gedacht hatte,
was seit Jahren kaum mehr geschehen war. Niemals hat­
te sie erwartet, sie wiederzusehen. Es läßt sich nicht ver­
hehlen, daß Dick grinste, als er sie sah.
»Hallo, Minna«, sagte er.
Der große, junge Mann – es war Ben – stand ganz still
und sah sie an.
»Kennen Sie sie?« fragte Mister Havisham, der von ei­
nem zum andern blickte.
»Ja«, erwiderte Ben. »Ich kenne sie, und sie kennt
mich.« Er drehte ihr den Rücken zu, trat ans Fenster und

225

sah hinaus, als ob ihr Anblick ihm verhaßt sei – und es


war ja auch so. Als die Frau sich so entlarvt sah, verlor
sie alle Selbstbeherrschung und bekam einen jener Wut­
anfälle, die für Ben und Dick nichts Neues mehr waren.
Dick grinste noch etwas mehr, als er sie beobachtete und
die Schimpfworte vernahm, mit denen sie alle Anwesen­
den bedachte, und die Drohungen, die sie ausstieß. Ben
jedoch drehte sich nicht nach ihr um.
»Vor jedem Gericht kann ich beschwören, daß sie es
ist«, sagte er zu Mister Havisham, »und ein Dutzend
Zeugen kann ich bringen, die es auch beschwören. Ihr
Vater ist ein braver Mann, wenn er’s auch nicht weit ge­
bracht hat in der Welt. Ihre Mutter war genau wie sie.
Sie ist gestorben, aber der Vater lebt noch, und er ist an­
ständig genug, sich ihrer zu schämen. Er wird Ihnen sa­
gen, wer sie ist und ob sie mich geheiratet hat oder
nicht.«
Dann ballte er plötzlich die Hand und fuhr auf sie los:
»Wo ist der Junge?« fragte er. »Ich nehme ihn mit! Der
ist fertig mit dir, so wie ich!«
Und kaum hatte er das gesagt, so tat sich die Tür zum
Schlafzimmer ein wenig auf, und der Junge, wohl durch
die lauten Stimmen neugierig gemacht, guckte durch den
Spalt. Er war kein hübsches Kind, aber er hatte eigentlich
ein nettes Gesicht. Ben, seinem Vater, sah er auffallend
ähnlich, wie alle beobachten konnten. Auch die dreiecki­
ge Narbe auf seinem Kinn fehlte nicht. Ben ging zu ihm
hin und nahm ihn an der Hand; seine eigene zitterte.
»Ja«, sagte er, »daß der mein Bub ist, das kann ich

226

auch beschwören. Tom«, wandte er sich an den Kleinen,


»ich bin dein Vater. Ich bin dich holen gekommen. Wo
ist dein Hut?«
Der Junge wies auf einen Stuhl, auf dem der Hut lag.
Offensichtlich war es ihm nicht unangenehm, fortgeholt
zu werden. Er war an so sonderbare Dinge gewöhnt, daß
es ihn gar nicht überraschte, als ein Fremder ihm mitteil­
te, er sei sein Vater. Viel, ach viel hatte er einzuwenden
gegen diese Frau, die vor ein paar Monaten bei seinen
Pflegeeltern aufgetaucht war und behauptet hatte, sie sei
seine Mutter. Ein Wechsel war ihm deshalb durchaus
willkommen. Ben nahm den Hut vom Stuhl und ging mit
dem Kind zur Tür.
»Sollten Sie mich noch brauchen«, sagte er zu Mister
Havisham, »so wissen Sie, wo ich zu finden bin.«
Er verließ das Zimmer, den Jungen an der Hand, ohne
die Frau noch einmal anzusehen. Sie raste förmlich vor
Wut.
»Beruhigen Sie sich, junge Frau«, sagte Mister Havis­
ham. »Auf die Art kommen Sie nicht weiter. Wenn Sie
nicht eingesperrt werden wollen, müssen Sie sich wirklich
anders aufführen.«
Es lag etwas so Geschäftsmäßiges in seinem Ton, daß
sie es nunmehr für das klügste hielt, sich aus dem Staube
zu machen. Sie warf ihm einen wilden Blick zu, stürzte
an ihm vorbei ins Nebenzimmer und schlug die Tür hin­
ter sich zu.
»Mit der werden wir keine Not mehr haben«, sagte
Mister Havisham.

227

Und er behielt recht. Noch am selben Abend verließ sie


das »Wappen von Dorincourt«, nahm den Zug nach
London und ward nicht mehr gesehen.
Auch der Graf verließ nach dieser Unterredung das
Zimmer; sogleich bestieg er seinen Wagen.
»Nach Ulmenhof«, sagte er zu Thomas.
»Nach Ulmenhof«, sagte Thomas zum Kutscher,
während er auf den Bock kletterte, »und du kannst dich
drauf verlassen, die Sache nimmt eine überraschende
Wendung.«
Als der Wagen vor Ulmenhof hielt, war Cedric im Be­
suchszimmer bei seiner Mutter.
Der Graf trat unangemeldet ein. Er sah jetzt um einen
Zoll größer und um viele Jahre jünger aus als sonst.
»Wo ist«, sagte er, »Lord Fauntleroy?«
Frau Errol ging ihm entgegen; sie war jäh errötet.
»Wirklich Lord Fauntleroy?« fragte sie; »wirklich?« Der
Graf streckte seine Hand aus und faßte die ihre.
»Ja«, antwortete er.
Dann legte er die andere Hand auf Cedrics Schulter.
»Fauntleroy«, sagte er in seiner trockenen, gebieteri­
schen Art, »frage deine Mutter, wann sie zu uns ins
Schloß kommen will.«
Fauntleroy flog seiner Mutter an den Hals.
»Sie soll bei uns bleiben?« rief er, »ganz bei uns?«
Der Graf sah Frau Errol an, und Frau Errol sah den
Grafen an. Seine Lordschaft hatte ganz im Ernst gespro­
chen. Er war entschlossen, mit der Ordnung dieser Ange­
legenheit keine Zeit mehr zu verlieren. Nur zu gern woll­

228

te er jetzt mit der Mutter seines Erben Freundschaft


schließen.
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie mich haben wollen?«
fragte Frau Errol mit ihrem reizenden, sanften Lächeln.
»Ganz sicher«, erwiderte er barsch. »Wir haben Sie
schon immer haben wollen, es ist uns nur nicht recht
klargeworden. Wir hoffen sehr, Sie werden kommen.«

229

Sein achter Geburtstag


Ben nahm seinen Jungen und fuhr mit ihm nach Kalifor­
nien zurück. Es geschah dies unter sehr erfreulichen Um­
ständen: Kurz vor seiner Abreise hatte Mister Havisham
eine Unterredung mit ihm, in der ihm der Rechtsanwalt
mitteilte, daß Graf Dorincourt etwas für den Jungen zu
tun wünsche, der beinahe Lord Fauntleroy geworden wä­
re. So habe er sich entschlossen, Geld in einer eigenen
Rinderfarm anzulegen und sie von Ben bewirtschaften zu
lassen unter Bedingungen, die ihm ein gutes Auskommen
gewährten und die Zukunft seines Sohnes sicherten. So
reiste Ben denn ab als künftiger Herr einer Farm, die
schon fast seine eigene war – und es nach einigen Jahren
auch tatsächlich wurde. Tom wuchs zu einem tüchtigen,
jungen Menschen heran und liebte seinen Vater über al­
les. So erfolgreich und glücklich waren sie, daß Ben zu
sagen pflegte, Tom habe ihn reichlich entschädigt für al­
les, was er früher durchgemacht hatte.
Aber Dick und Mister Hobbs – der tatsächlich mit den
andern beiden herübergekommen war, um aufzupassen,
daß die Sache auch ordentlich betrieben werde – kehrten
fürs nächste noch nicht nach Amerika zurück. Gleich zu
Anfang hatte der Graf beschlossen, für Dick zu sorgen
und ihm eine gute Ausbildung geben zu lassen. Und Mi­
ster Hobbs, der seinen Laden der Obhut eines verläßli­

230

chen Vertreters anvertraut hatte, fand, er könne es sich


leisten, die Festlichkeiten abzuwarten, die für Lord
Fauntleroys achten Geburtstag geplant waren. Alle Päch­
ter samt ihren Familien waren eingeladen. Sie sollten im
Park bewirtet werden, man würde tanzen, und spielen,
und am Abend sollten Holzstöße angezündet und ein
Feuerwerk abgebrannt werden.
»Genau wie der 4. Juli!« sagte Lord Fauntleroy.
»Schade, daß mein Geburtstag nicht am 4. Juli ist! Dann
hätten wir beides zusammen feiern können.«
Es läßt sich leider nicht leugnen, daß der Graf und Mi­
ster Hobbs zunächst nicht so ganz ein Herz und eine See­
le waren. Der Graf kannte sehr wenige Gemischtwaren­
händler, und unter Mister Hobbs’ näheren Bekannten be­
fanden sich nicht allzu viele Grafen. So gedieh die Unter­
haltung nicht sonderlich bei ihren seltenen Zusammen­
künften. Es läßt sich auch nicht verschweigen, daß Mi­
ster Hobbs einigermaßen überwältigt war von den Herr­
lichkeiten, die er nun sah.
Das Einfahrtstor und die steinernen Löwen und die Al­
lee machten gleich zu Anfang nicht wenig Eindruck auf
Mister Hobbs, und als er das Schloß sah und die Blu­
menbeete und die Gewächshäuser und die Terrassen und
die Pfauen und das Verlies und die Rüstungen und Waf­
fen und die große Treppe und die Ställe und die Diener in
Livree, da war er wirklich ganz verblüfft. Aber die Ge­
mäldegalerie schien das Maß vollzumachen.
»So was wie ein Museum, nicht?« sagte er zu Fauntle­
roy, als dieser ihn in den schönen Raum führte.

231

»N-ein!« meinte Fauntleroy ein wenig zweifelnd. »Ich


glaube nicht, daß es ein Museum ist. Mein Großvater
sagt, das sind meine Vorfahren.«
Er mußte Frau Mellon zu Hilfe rufen, die vieles von
den Bildern zu erzählen wußte, wer sie gemalt hatte und
wann sie entstanden waren. Sie erzählte allerlei romanti­
sche Geschichten von den Lords und Ladies, die sie dar­
stellten. Mister Hobbs fand diese Geschichten sehr fes­
selnd, und die Gemäldegalerie gefiel ihm schließlich fast
am besten von allem. Oft kam er vom Dorf herüber, wo
er im »Wappen von Dorincourt« wohnte, um ein halbes
Stündchen in der Galerie herumzuschlendern. Dann
starrte er die gemalten Damen und Herren an, die ihn
auch ihrerseits anstarrten, und mußte fast die ganze Zeit
den Kopf schütteln.
»Und alle waren sie Grafen!« sagte er dann wohl,
»oder doch fast alle! Und er wird auch einmal einer sein,
und alles wird ihm gehören.«
Das war ein großer Tag, als endlich der Geburtstag des
kleinen Lords herankam! Wunderschön sah der Park aus
mit den vielen Menschen in ihren besten, buntesten Klei­
dern und mit den vielen Fahnen, die von den Zelten und
hoch vom Schloß herabflatterten! Keiner war ferngeblie­
ben, der nur irgendwie kommen konnte, denn alle freu­
ten sich von Herzen, daß ihr kleiner Lord auch weiterhin
Lord Fauntleroy bleiben und eines Tages Graf Dorin­
court sein würde. Jedermann wollte ihn sehen, ihn und
seine hübsche, liebenswürdige Mutter, die sich so viele
Freunde erworben hatte. Und wirklich waren sie nun

232

auch dem Grafen etwas freundlicher gesinnt, weil der


kleine Junge ihn so liebte und ihm vertraute, und auch,
weil er endlich mit der Mutter seines Erben Freundschaft
geschlossen hatte. Es hieß sogar, er fange an, sie auch
liebzugewinnen, und vielleicht würde er sich im Umgang
mit dem kleinen Lord und des kleinen Lords Mutter
noch zu einem recht menschlichen, alten Edelmann ent­
wickeln, und alle würden dann froher sein und sich woh­
ler fühlen.
Es wimmelte von Menschen unter den Bäumen, in den
Zelten und auf den großen Rasenflächen. Pächter waren
da in ihren Sonntagsanzügen und Pächtersfrauen in Ka­
potthüten und Umschlagtüchern, Mädchen mit ihren
Burschen, fröhlich herumtollende Kinder und alte Weib­
lein, die eifrig miteinander schwatzten. Im Schloß waren
viele Damen und Herren versammelt, die sich eingefun­
den hatten, um den ganzen Spaß mitanzusehen, den Gra­
fen zu beglückwünschen und Frau Errol kennenzulernen.
Lady Lorridaile und Sir Harry waren gekommen und Sir
Thomas mit seinen Töchtern und natürlich Mister Ha­
visham. Auch das schöne Fräulein Vivian Herbert er­
schien in einem bezaubernden Kleid und mit einem Son­
nenschirm aus Spitzen und einem Kreis von bewundern­
den Herren – obwohl ihr offensichtlich Fauntleroy besser
gefiel als all die andern zusammengenommen. Als er sie
sah, lief er ihr entgegen und schlang die Arme um ihren
Hals. Da legte auch sie die Arme um ihn und küßte ihn
so herzlich, als wäre er ihr kleiner Lieblingsbruder, und
dann sagte sie:

233

»Lieber kleiner Lord Fauntleroy! Ich freue mich ja so


sehr, so sehr!«
Und dann ging sie mit ihm herum, und er durfte ihr al­
les zeigen. Da führte er sie hin, wo Mister Hobbs und
Dick standen, und sagte zu ihr: »Dies ist mein alter, alter
Freund Mister Hobbs – Fräulein Herbert, und dies ist

234

mein andrer alter Freund Dick. Ich hab’ ihnen erzählt,


wie hübsch Sie sind, und versprochen, daß sie Ihre Be­
kanntschaft machen würden, wenn sie zu meinem Ge­
burtstag kämen.« Sie gab beiden die Hand und redete
freundlich mit ihnen und fragte sie nach Amerika und
nach ihrer Reise und ihrem Leben seit ihrer Ankunft in
England. Fauntleroy stand daneben und betrachtete sie
mit strahlendem, bewunderndem Blick. Ganz rot waren
seine Wangen vor Freude, als er sah, daß sie Mister
Hobbs und Dick so gut gefiel.
»Na«, sagte Dick später höchst feierlich, »das ist das
hübscheste Mädel, das ich je gesehen hab’! Sie ist – na
eben hübsch ist sie, das ist sicher!«
Jeder sah ihr nach, wenn sie vorüberging, und jeder
sah dem kleinen Lord nach. Und die Sonne schien, und
die Fahnen flatterten, und es wurde gespielt und getanzt,
und je mehr die Fröhlichkeit wuchs und der festliche
Nachmittag fortschritt, um so froher strahlte der kleine
Lord in seinem Glück.
Die ganze Welt schien ihm wunderbar schön.
Und noch jemand war glücklich: ein alter Mann, der
trotz seines hohen Ranges und seines großen Reichtums
nicht oft wahrhaft glücklich gewesen war. Ich glaube al­
lerdings, daß er sich glücklich fühlte, weil er ein besserer
Mensch geworden war. So gut, wie Fauntleroy dachte,
war er zwar keineswegs geworden, aber wenigstens hatte
er angefangen, etwas lieb zu haben, und ein paarmal hat­
te es ihm eine gewisse Freude gemacht, zu tun, was das
unschuldige, freundliche Herz eines Kindes ihm nahelegte

235

– das war immerhin ein Anfang. Und mit jedem Tag hat­
te er an der Frau seines Sohnes größeren Gefallen gefun­
den. Es war richtig, was die Leute sagten: er gewann
auch sie allmählich lieb! Oft saß er in seinem Lehnstuhl
und hörte ihr zu, wenn sie mit ihrem Jungen sprach.
Der alte Graf Dorincourt war sehr zufrieden mit ihm,
als er ihm an diesem Tag zusah. Er bewegte sich unter
den Leuten im Park, unterhielt sich mit denen, die er
kannte, und machte bereitwillig seine kleine Verbeugung,
wenn ihn jemand grüßte. Er kümmerte sich um seine
Freunde Dick und Mister Hobbs oder stand neben seiner
Mutter oder Fräulein Herbert und hörte zu, wie sie sich
unterhielten. Und am allerzufriedensten war der alte Graf
mit seinem Erben, als sie zusammen zu dem großen Zelt
hinuntergingen, wo die wichtigsten Pächter der Dorin­
courtschen Güter sich zum festlichen Mahl niedergelas­
sen hatten.
Es wurden Ansprachen gehalten, und nachdem sie auf
die Gesundheit des Grafen getrunken hatten, stießen sie
auf das Wohl des kleinen Lords Fauntleroy an. Wenn es
nur den leisesten Zweifel an der Beliebtheit Seiner jungen
Lordschaft gegeben hätte, der jubelnde Beifall, der nun
losbrach, hätte ihn im Nu beseitigt.
Der kleine Lord war überglücklich. Er lächelte und
verbeugte sich und errötete vor Freude.
»Ist das, weil sie mich gern haben, Herzlieb?« fragte er
seine Mutter. »Wirklich? Ich bin ja so froh!«
Da legte der Graf ihm die Hand auf die Schulter und
sagte:

236

»Fauntleroy, du mußt ihnen danken für ihre Freund­


lichkeit.«
Fauntleroy blickte erst ihn an und dann seine Mutter.
»Muß ich?« fragte er ein ganz klein wenig schüchtern.
Sie lächelte, und auch Fräulein Herbert lächelte, und bei­
de nickten. Da trat er einen kleinen Schritt vor. Alle sa­
hen ihn an – und er sprach, so laut er konnte –, seine
kindliche Stimme klang hell und klar:
»Ich danke Ihnen allen von ganzem Herzen!« sagte er,
»und – hoffentlich unterhalten Sie sich gut an meinem
Geburtstag – denn ich hab’ mich selber so gut unterhal­
ten – und – und – ich bin sehr froh, daß ich ein Graf
werden soll – erst dachte ich, es würde mir nicht gefallen,
aber jetzt gefällt es mir – und ich bin so gerne hier, es ist
so schön – und – und – und wenn ich ein Graf bin, will
ich versuchen, so gut zu sein wie mein Großvater.«
Unter Jubel und Händeklatschen trat er mit einem
Seufzer der Erleichterung zurück, legte seine Hand in die
des Grafen und schmiegte sich lächelnd an ihn.
Und nun wäre eigentlich meine Geschichte zu Ende,
aber ich muß noch eine denkwürdige Tatsache mitteilen:
Mister Hobbs fand so viel Gefallen an dem Leben in
vornehmen Kreisen und hatte so wenig Lust, seinen jun­
gen Freund zu verlassen, daß er tatsächlich seinen Eckla­
den in New York verkaufte, sich in dem englischen Dorf
Erleboro niederließ und dort ein Geschäft eröffnete, das
sich der Kundschaft des Schlosses erfreute und infolge­
dessen ausgezeichnet ging. Und obwohl das Verhältnis
zwischen ihm und dem Grafen nicht gerade zu einer Bu­

237

senfreundschaft gedieh, so wurde doch, ihr könnt es mir


glauben, dieser Mister Hobbs allmählich aristokratischer
als Seine Lordschaft selbst! Er las jeden Morgen die Hof­
nachrichten und befaßte sich eingehend mit allen Vor­
gängen im Oberhaus. Und als Dick ein Jahr später nach
Beendigung seiner Ausbildung nach Kalifornien fuhr, um
seinen Bruder zu besuchen, und den guten Mister Hobbs
fragte, ob er nicht nach Amerika zurück wolle, da schüt­
telte er nur ernsthaft den Kopf.
»Nicht für immer«, sagte er, »dort leben möchte ich
nicht mehr. Ich will in seiner Nähe bleiben und ein biß­
chen nach dem Rechten sehn. Es ist ja ein ganz gutes
Land, Amerika, für den, der jung und unternehmend ist –
aber es hat seine Fehler. Es gibt keine Vorfahren dort
und keine Grafen!«

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