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Kopf hoch!"
Hans hielt also nach Möglichkeit den Kopf
hoch, benützte von nun an auch die Spaziergänge
zum Lernen und lief still und verscheucht mit über
nächtigem Gesicht und blaurandigen, müden Augen
herum.
„Was halten Sie von Giebenrath; er wird
doch durchkommen?" sagte der Klassenlehrer ein
mal zum Rektor.
„Er wird, er wird," jauchzte der Rektor. „Das
ist einer von den ganz Gescheiten; sehen Sie ihn
nur an, er sieht ja direkt vergeistigt aus."
In den letzten acht Tagen war die Vergeisti
gung eklatant geworden. In dem hübschen, zarten
Knabengesicht brannten tiefliegende, unruhige Augen
mit trüber Glut, auf der schönen Stirn zuckten
feine, Geist verratende Falten und die ohnehin
dünnen und hageren Arme und Hände hingen
mit einer müden Grazie herab, die an Botticelli
erinnerte.
Es war nun soweit. Morgen früh sollte er
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und Freude.
„Na, sagst du gar nichts?"
„Wenn ich das gewußt hätte," fuhr es ihm
heraus, „dann hätt' ich auch vollends Primus
werden können."
„Nun geh' heim," sagte der Rektor, „und sag'
es deinem Papa. In die Schule brauchst du jetzt
nicht mehr zu kommen, in acht Tagen fangen ja
ohnehin die Ferien an."
Schwindelig kam der Junge auf die Straße
hinaus, sah die Linden stehen und den Marktplatz
in der Sonne daliegen, alles wie sonst, aber alles
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"Ja."
„Über was?"
„Hier, über den See und über den Herbst."
„Zeig mir's!"
„Nein, es ist noch nicht fertig."
„Aber wenn's fertig ist?"
„Ja, meinetwegen."
Die zwei erhoben sich und gingen langsam ins
Kloster zurück.
„Da, hast du eigentlich schon gesehen, wie schön
das ist?" sagte Heilner, als sie am „Paradies"
vorüberkamen, „Hallen, Bogenfenster, Kreuzgänge,
Refektorien, gotisch und romanisch, alles reich und
kunstvoll und Künstlerarbeit. Und für was der
Zauber? Für drei Dutzend arme Buben, die
Pfarrer werden wollen. Der Staat hat's übrig."
Hans mußte den ganzen Nachmittag überHeilner
nachdenken. Was war das für ein Mensch? Was
Hans an Sorgen und Wünschen kannte, existierte
für jenen gar nicht. Er hatte eigene Gedanken
und Worte, er lebte wärmer und freier, litt selt
same Leiden und schien seine ganze Umgebung zu
verachten. Er verstand die Schönheit der alten
Säulen und Mauern. Und er trieb die geheim
nisvolle, sonderbare Kunst, seine Seele in Versen
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diktiert.
Um vier Uhr trat der Repetent ohne anzu
klopfen in den Hörsaal und erstattete dem Ephorus
im Flüsterton Bericht.
"Stille!" gebot der Ephorus, und die Schüler
saßen regungslos in den Bänken und sahen ihn
erwartungsvoll an.
"Ihr Kamerad Hindinger", fuhr er leiser fort,
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"scheint in einem Weiher ertrunken zu sein. Sie
müssen nun helfen, ihn zu suchen. Herr Professor
Meyer wird Sie führen, Sie haben ihm pünktlich
und wörtlich zu folgen und keinerlei eigenmächtige
Schritte dabei zu tun."
Erschrocken und flüsternd brach man auf, den
Professor an der Spitze. Vom Städtchen stießen
ein paar Männer mit Seilen, Latten und Stangen
zu dem eiligen Zuge. Es war bitter kalt und
die Sonne stand schon am Rande der Wälder.
Und als endlich der kleine steife Körper des
Knaben gefunden war und in den verschneiten
Binsen auf eine Trage gelegt wurde, war schon
tiefe Dämmerung. Die Seminaristen standen wie
scheue Vögel ängstlich umher, starrten auf die Leiche
und rieben sich ihre blauen, steif gewordenen Finger.
Und erst als der ertrunkene Kamerad vor ihnen
hergetragen ward und sie ihm schweigend über
die Schneefelder nachfolgten, wurden plötzlich ihre
beklommenen Seelen von einem Schauder berührt
und witterten den grimmen Tod wie Rehe den
Feind.
In dem kläglichen, frierenden Häuflein schritt
Hans Giebenrath zufällig neben seinem gewesenen
Freunde Heilner. Beide bemerkten die Nachbar
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schaft im gleichen Augenblick, da sie über dieselbe
Unebenheit des Feldes gestolpert waren. Es mochte
sein, daß der Anblick des Todes ihn überwältigt
und für Augenblicke von der Nichtigkeit aller Selbst
sucht überzeugt hatte, jedenfalls fühlte Hans, als
er unvermutet des Freundes bleiches Gesicht so
nahe erblickte, einen unerklärten tiefen Schmerz
und griff in plötzlicher Regung nach des andern
Hand. Heilner entzog sie ihm unwillig und blickte
beleidigt beiseite, suchte auch sogleich einen andern
Platz und verschwand in die hintersten Reihen des
Zuges.
Da schlug dem Musterknaben Hans das Herz
in Weh und Scham und er konnte nicht hindern,
daß ihm, während er auf dem gefrornen Felde
stolpernd weiter marschierte, Träne um Träne
über die frostblauen Backen lief. Er begriff, daß
es Sünden und Versäumnisse gibt, die man nicht
vergessen kann und die keine Reue gut macht, und
es kam ihm vor, als liege nicht der kleine Schneiders
sohn, sondern sein Freund Heilner vorn auf der
erhöhten Bahre und nehme den Schmerz und Zorn
über seine Untreue weit in eine andere Welt mit
sich hinüber, wo man nicht nach Zeugnissen und
Examen und Erfolgen rechnet, sondern allein
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nach der Reinheit oder Befleckung des Ge
wissens.
Inzwischen war man auf die Landstraße ge
langt und kam rasch vollends ins Kloster, wo alle
Lehrer, den Ephorus an der Spitze, den toten
Hindinger empfingen, der im Leben vor dem bloßen
Gedanken an eine solche Ehre davongelaufen wäre.
Einen toten Schüler blicken die Lehrer stets mit
ganz andern Augen an, als einen lebenden, sie
werden dann für einen Augenblick vom Wert und
von der Unwiederbringlichkeit jedes Lebens und
jeder Jugend überzeugt, an denen sie sich sonst so
häufig sorglos versündigen.
Auch am Abend und am ganzen folgenden
Tage wirkte die Anwesenheit der unscheinbaren Leiche
wie ein Zauber, milderte, dämpfte und umflorte
alles Tun und Reden, so daß für diese kurze Zeit
Hader, Zorn, Lärm und Lachen sich verbargen
wie Nixen, die für Augenblicke von der Oberfläche
eines Gewässers verschwinden und es regungslos
und scheinbar unbelebt liegen lassen. Wenn zwei
miteinander von dem Ertrunkenen sprachen, so
nannten sie stets seinen vollen Namen, denn dem
Toten gegenüber kam ihnen der Spitzname Hindu
unwürdig vor. Und der stille Hindu, der sonst
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„Nein."
„Es ist gut. Gehen Sie."
Vor Tisch wurde er wieder abgerufen und in
den Schlafsaal gebracht. Dort wartete der Ephorus
mit dem Oberamtsarzt auf ihn. Er wurde unter
sucht und ausgefragt, doch kam nichts Klares zum
Vorschein. Der Arzt lachte gutmütig und nahm
die Sache leicht.
„Das sind kleine Nervengeschichten, Herr Epho
rus," kicherte er sanft. „Ein vorübergehender Zu
stand von Schwäche — eine Art leichter Schwindel.
Man muß sehen, daß der junge Mann täglich
an die Luft kommt. Fürs Kopfweh kann ich ihm
ein paar Tropfen verschreiben."
Von da an mußte Hans täglich nach Tisch
eine Stunde ins Freie. Er hatte nichts dagegen.
Schlimmer war es, daß der Ephorus ihm Heil
ners Begleitung auf diesen Spaziergängen aus
drücklich verbot. Dieser wütete und schimpfte, mußte
jedoch nachgeben. So ging Hans stets allein und
fand eine gewisse Freude daran. Es war Früh
lingsbeginn. Über die runden, schöngewölbten
Hügel lief wie eine dünne, lichte Welle das keimende
Grün, die Bäume legten ihre Wintergestalt, das
braune Netzwerk mit den scharfen Umrissen, ab
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„Ach nichts."
„Nein, red' nur!"
„Ich dachte bloß — weil du so allerlei erzählt
hast -"
„Was denn?"
„Sag', Hans, bist du eigentlich nie einem Mäd
chen nachgelaufen?"
Es entstand eine Stille. Davon hatten sie
noch nie gesprochen. Hans fürchtete sich davor
und doch zog dieses rätselhafte Gebiet ihn wie ein
Märchengarten an. Er fühlte, wie er rot wurde,
und seine Finger zitterten.
„Nur einmal," sagte er flüsternd. „Ich war
noch ein dummer Bub."
Wieder Stille.
„— und du, Heilner?"
Heilner seufzte.
„Ach laß! — Weißt du, man sollte gar nicht
davon reden, es hat ja keinen Wert."
„Doch, doch."
„— Ich hab' einen Schatz."
„Du? Ist's wahr?"
„Daheim. Vom Nachbar. Und diesen Winter
hab' ich ihr einen Kuß gegeben."
„Einen Kuß —?"
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bergen.
So fühlte dieser sich verlassen und ungeliebt,
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saß im kleinen Garten an der Sonne oder lag
im Wald und hing seinen Träumereien oder quäle
rischen Gedanken nach. Mit Lesen konnte er sich
nicht helfen, da ihm dabei immer bald Kopf und
Augen schmerzten und weil aus jedem seiner Bücher
ihm sogleich beim Aufschlagen das Gespenst der
Klosterzeit und des dortigen Angstgefühls auferstand,
ihn in luftlose bange Traumwinkel trieb und dort
mit glühendem Blicke festbannte.
ist was Feines, weißt du, und 'n guten Kopf muß
einer auch haben, sonst kann er Grobschmied werden.
Da guck' mal her!"
Er brachte ein paar kleine, feingearbeitete Ma
schinenteile herbei, aus blankem Stahl, und zeigte
sie Hans.
"Ja, da darf kein halber Millimeter dran fehlen.
Alles von Hand geschafft, bis auf die Schrauben.
Da heißt's Augen auf! Die werden jetzt noch
poliert und gehärtet, dann hat s
ich's."
"Ja, das ist schön. Wenn ich nur wüßte —"
August lachte.
"Hast Angst? Ja, ein Lehrbub wird halt
kuranzt, da hilft alles nix. Aber ich bin auch noch
da, und ich helf' dir dann schon. Und wenn du
am nächsten Freitag anfängst, dann hab' ich gerade
mein zweites Lehrjahr fertig und kriege am Sams
tag den ersten Wochenlohn. Und am Sonntag
wird gefeiert, und Bier, und Kuchen, und alle
dabei, du auch, dann siehst du mal, wie's bei uns
hergeht. Ja, da schaust du! Und überhaupt sind
wir ja früher auch schon so gute Freunde gewest."
Beim Essen sagte Hans seinem Vater, er habe
Lust zum Mechaniker und ob er in acht Tagen
anfangen dürfe.
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Ende