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Saul O’Hara

Heiraten ist immer ein Risiko

DREI MASKEN VERLAG GmbH München • Herzog-Heinrich-Straße 18 • 80336 München


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Saul O’Hara

Heiraten ist immer ein Risiko


(Risky Marriage)

Komödie in einem Vorspiel und drei Akten

Aus dem Englischen von Hans-Joachim Pauli


Personen:

Inspektor Campbell
Oberst John Brocklesby
Lydia Barbent
Honoria Dodd
Lance Fletcher
Jennifer
Poll
Perkins, Butler

Schauplätze:

Vorspiel: Promenadenbank
1. Akt: Halle im Haus der Brocklesbys
2. Akt: Dieselbe Szene
3. Akt: Dieselbe Szene

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Vorspiel

Promenadenbank. Der Oberst und der Inspektor schwat-


zen in der Sonne.
Inspektor: Alt muß man werden, Oberst. Alt werden,
um zu entdecken, daß mit dem Alter das Leben
beginnt; gerade dann, wenn die Gelbschnäbel
meinen, es sei vorüber. Erst das Alter befähigt
uns zum Nichtstun. Das Nichtstun ist eine Kunst,
Oberst, und die einzige, in der es keine Wun-
derkinder gibt.
Oberst: Der Ruhestand sagt Ihnen also zu?
Inspektor: Der Ruhestand ist der Stand der Weisheit.
Nichts ist wichtig. Nichts ist wichtig außer
dem Sessel, in dem man lebt, der Bibliothek, in
der man blättert, der Pfeife, die man raucht.
Ich habe eine Pfeife gesehen, Oberst, in einem
alten Laden, nicht weit von hier. Eine richtige
Pastorenpfeife, zweihundert Jahre alt, mit einem
wundervollen geschnitzten Meerschaumkopf. Und
einem geschwungenen Rohr, fünfzehn Zoll lang.
Ein halbes Jahrhundert rauche ich jetzt schon
diesen Stummel, um zu lernen, daß der Rauch des
Tabaks kühl sein muß und nicht heiß. Alle Genüs-
se müssen kühl sein. Nur Jugendtorheit ersetzt
Geschmack durch Temperatur. Jene Pfeife, Oberst,
so stelle ich mir das Glück vor.
Oberst: Warum haben Sie sie nicht gekauft?
Inspektor: Ich hatte nicht das Recht dazu. Ich bin
nicht pensioniert.
Oberst (schockiert): Nicht pensioniert?
Inspektor: Nein.
Oberst: Aber Sie wollen doch nicht andeuten, Sie
seien beruflich in Brighton?

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Inspektor: Ich bin beruflich in Brighton.
Oberst: Sie irren sich, bestimmt. Ich habe mit mei-
nen eigenen, lesenden Augen der Presse ent-
nommen, daß Sie pensioniert sind. Hier, sehen
Sie selbst; ich habe ja die Ausschnitte ge-
sammelt.
Inspektor: Oberst, Sie sind nicht mehr jung genug,
um an Zeitungen zu glauben.
Oberst: Es ist empörend.
Inspektor: Was, daß ich noch im Dienst bin?
Oberst: Der Zustand unserer Presse.
Inspektor: Ich hoffe wirklich, Sie haben nichts
gegen meinen Beruf?
Oberst: Ich? Gegen die Polizei? Nicht das mindeste.
Ich bin ein Gentleman, ich lebe von meinem
Einkommen. Was sind Einkünfte ohne die Polizei?
Für Geld ist Polizeideckung wichtiger als Gold-
deckung. Wohin würden wir gelangen, wenn nie-
mand Diebe und andere von der Gier getriebene
Elemente davon abhielte, sich zu nehmen, was
sie brauchen? Nein, Inspektor, ich liebe die
Polizei.
Inspektor: Ein erfreulicher Standpunkt.
Oberst: Im Gegenteil, einfach ein englischer. Darf
ich mich erkundigen, wann Sie in den Ruhestand
treten werden?
Inspektor: In vier Wochen.
Oberst: Und Sie wollen noch arbeiten?
Inspektor: Ich muß, Oberst. Ich muß.
Oberst: Es ist eine Rücksichtslosigkeit Ihrer Vor-
gesetzten, das zu verlangen.
Inspektor: Wissen Sie, es ist eigentlich nur mein
eigenes Verlangen. Ich bereite meinen Tod vor.

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Oberst: Ihren Tod?
Inspektor: Ja, Oberst. Sehen Sie, die Jugend, in ih-
rer grenzenlosen Kenntnislosigkeit, hält den Tod
für etwas Schreckliches, Unvorstellbares. Was
ist ihr Fehler? Sie erkennt nicht den Ubergang.
Aber die Natur benutzt die letzten Jahrzehnte
unseres Lebens, um uns auf den Tod vorzuberei-
ten. Das Blut rinnt bedächtiger. Die Triebe hö-
ren auf, unseren Körper in Unruhe zu versetzen.
Die Ziele entschwinden unserem Gesicht. So ist
der Tod ein gemütliches Wegsterben, ein Hindäm-
mern. Kein Schrecken. Was uns aber mit eisernen
Klammern ans Leben fesselt, sind ungelöste Auf-
gaben. Ob eines Mannes Tod gelingt, hängt davon
ab, ob sein Leben gelungen ist.
Oberst: Und Sie wären nicht zufrieden, Inspektor?
Inspektor: Mein Leben ist, wie die Bildhauer sagen
würden, ein Torso.
Oberst: Ein Torso? Ah, Sie meinen diese menschlichen
Figuren, denen der Kopf fehlt.
Inspektor: Bei mir handelt es sich natürlich um sol-
che, denen der Kopf noch nicht fehlt. Kurz ge-
sagt, Oberst, ob ich jemals meine Shagpfeife
mit jener Meerschaumpfeife werde vertauschen
können, hängt davon ab, ob es mir gelingt, zwei
Fälle, an denen ich seit Jahrzehnten arbeite,
in diesen vier Wochen zum Abschluß zu bringen.
Oberst: Sie erwecken meine Neugierde. Fälle, an denen
einer der fähigsten Kriminalisten Englands jahr-
zehntelang vergebens arbeitet?
Inspektor: Es handelt sich um zwei der fähigsten Mör-
der Englands.
Oberst: Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir davon zu
erzählen? Ich bin ein alter Soldat, Inspektor.
Mit Mördern hatte ich noch nie zu tun.
Inspektor: Der eine Fall könnte Sie vielleicht

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interessieren. Stellen Sie sich einen Mann vor,
der sechs Mal verheiratet war.
Oberst: Aber das ist kein Verbrechen, Inspektor. Das
ist eine Strafe.
Inspektor: Reich verheiratet.
Oberst: Ja, so.
Inspektor: Alle seine Frauen waren reich. Er hat
sie beerbt. Sein Vermögen ist ungeheuer. Er
ist ein angesehener Bürger unseres Landes.
Pfarrer verkehren mit ihm, Beamte, Politiker.
Erstaunlich, wie?
Oberst: Entschuldigen Sie meine Schwerfälligkeit,
Inspektor. Mir ist die kriminalistische Seite
des Falles entgangen.
Inspektor: Habe ich vergessen zu erwähnen, daß er
seine Frauen umgebracht hat? Ja natürlich,
das hat er. Er hat sie ermordet, alle sechs.
Oberst: Ein Blaubart.
Inspektor: Ein kaltblütiger Geschäftsmann, der aus
dem geringstmöglichen Kapital, einem Hammer,
einer Säge, ein paar Flaschen Gift, den höchst-
möglichen Profit herausschlägt.
Oberst: Ein Ungeheuer.
Inspektor: Ein Gentleman.
Oberst: Warum verhaften Sie ihn nicht?
Inspektor: Lieber Oberst, ich kann ihm nicht das
Mindeste beweisen. (Oberst kichert) Alle
sechs Morde könnten auch Unglücksfälle gewe-
sen sein. Natürlich ist eine solche Häufung
von Mißgeschicken seltsam, aber es gibt ja
Leute, die vom Unglück verfolgt sind.
Oberst: (verständnisvoll): Pechvögel.
Inspektor: Ich kenne jede einzelne seiner Untaten,

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und ich bin machtlos.
Oberst: Ein bemerkenswerter Mensch.
Inspektor: Allerdings. Obgleich ich nie begreifen
werde, was zum Teufel die Frauen an Ihnen ge-
funden haben, Oberst Brocklesby.
Oberst: Sprechen Sie jetzt von mir, lieber Inspektor?
Inspektor: Sie sind nicht jung und waren, nach Photos
zu urteilen, nie schön. Sie besitzen weder Ver-
stand noch Zartgefühl, weder Charme noch Kennt-
nisse. Sie sind ein Ausbund von Mittelmäßigkeit.
Was ist das Geheimnis Ihrer Erfolge? Oder ist
eben dies das Geheimnis?
Oberst: Ah, ich verstehe nun. Sie spaßen. Es gibt
nichts Erquickenderes als den alten, echten bri-
tischen Humor. Bitte rechnen Sie es ganz zu
meinen Lasten, Inspektor, wenn ich offen zugebe,
daß ich die Pointe Ihres ausgezeichneten Scher-
zes nicht begriffen habe. (Steht auf)
Inspektor: Mein Fehler, Oberst! Leider mein Fehler.
Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die Morgen-
zeitungen mitzubringen, lieber Oberst?
Oberst: Gar nichts, mein lieber Inspektor. (Ab)
(Der Inspektor liest die Zeitung. Kommen Barbent
und Dodd)
Dodd: Der Mensch ist gut, Mrs. Barbent. Das können
Sie mir aufs Wort glauben.
Barbent: Das muß ich Ihnen aufs Wort glauben, Miss
Dodd, denn ich habe sonst keinen anderen Beweis.
Dodd: Der Kopf des Menschen ist oft angefüllt mit
schrecklichen Irrtümern, die auf unerklärliche
Weise in ihn hineingeraten sind, und der Name
des schlimmsten Irrtums lautet: Verbrechen. Es
gibt unwissende Gehirne. Aber es gibt keine
schlechten Herzen, in der Welt nicht eines.

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Barbent: Und das sagen Sie, angesichts Ihrer Anstalt
voll kleiner Schurkinnen.
Dodd: Sie dürfen meine Zöglinge nicht so nennen,
Mrs. Barbent. Sie kennen sie nicht. Natürlich,
einigen von Ihnen fehlen die genauen Begriffe
vom Wert des Eigentums, und andere sind wenig
aufgeklärt über den Sinn der Autorität. Aber
es sind liebe Kinder. Und sie alle haben ein
Herz.
Barbent: Sie habe auch alle eine Vorstrafe.
Dodd: Ich glaube nicht an Vergangenheit. Der frühere
Mensch, das ist der Mensch, den es nicht gibt.
Meine Schützlinge sind Kinder aus Fleisch und
Blut, und seit ich sie kenne, hat keine von ih-
nen eine Handlung getan, die geeignet wäre, ei-
nen Schatten auf ihr Herz zu werfen.
Barbent: Ihr Vertrauen in die Menschen ist unheil-
bar.
Dodd: Unbegründetes Mißtrauen ist ein sehr ernster
Fehler, Mrs. Barbent. Ich hoffe, Sie sagen alle
diese zynischen und pessimistischen Dinge nicht
nur, weil Sie befürchten, ich könnte Sie um
Geld für mein Heim zur Belehrung moralisch un-
unterrichteter junger Mädchen bitten.
Barbent: Liebe Miss Dodd, ich habe keinen Respekt
vor Ihren scheußlichen kleinen Gören, aber
überaus großen vor Ihren Ansichten.
Dodd: Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich wäre
Ihnen wirklich dankbar wenn Sie uns eine be-
stimmte Summe zur Verfügung stellen würden.
Es kann auch gern viel sein. Offengestanden,
ich fürchte, daß ich fast am Ende bin. Wissen
Sie, daß ich meinen Butler werde entlassen
müssen?
Barbent: Perkins?
Dodd: Sie haben ihn bemerkt, nicht wahr? Er ist

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der vollkommenste Butler dieser Insel. Er kann
alles, weiß alles, findet alles.
Barbent: Und ist diskret?
Dodd: Die Diskretion selbst. Mich von ihm zu tren-
nen, ist das größte Opfer, das ich meinen Mäd-
chen bringen kann. Und selbst das verschafft
mir keine wesentliche finanzielle Erleichterung.
Aber ich kann die Kinder doch nicht wieder in
die Welt hinausschicken. Die Umstände dort wür-
den ihnen nicht erlauben, sich nach den Grund-
sätzen zu richten, die ich ihnen beigebracht
habe.
Fletcher (kommt): Verzeihen Sie, Sie sind Miss Dodd,
nicht wahr? Eine Ihrer bezaubernden Schülerin-
nen sagte mir, daß ich Sie hier finden könnte.
Sie beschrieb Sie als die Dame mit dem merkwür-
digsten Hut und den freundlichsten Augen; eine
zureichende Definition, um mich der Sprache der
Logiker zu bedienen. Ich heiße Fletcher.
Dodd: Sie sind der Mr. Fletcher?
Fletcher: Derselbe.
Barbent: Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu ma-
chen, Mrs. Fletcher. Wie geht es Mr. Beaumont?
Fletcher: Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mittei-
len, daß er tot ist, Madam. Aber er starb
glücklich.
Dodd: Mr. Fletcher, sind Sie der junge Lehrer, der
bei mir unterrichten sollte? Mein Gott, das ist
ja eine Katastrophe.
Fletcher: Nicht doch.
Dodd: Der Telegraph
' ist an allem schuld. Sehen Sie,
Mr. Fletcher, ich bat Sie telegraphisch, nicht
herzukommen. Aber die Post ist so furchtbar
unzuverlässig, und vermutlich habe ich über-
haupt vergessen, das Telegramm aufzugeben,

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weil ich Telegramme nicht ausstehen kann; ich
hasse diese gedruckten Buchstaben und diese
geklebten Unterschriften. Sie sind so abstoßend
unpersönlich, finden Sie nicht? Kurz, Mr.
Fletcher, meine Situation hat sich seit unse-
rer ersten Korrespondenz leider sehr geändert.
Ich kann Sie nicht mehr bezahlen. Und nun sind
Sie umsonst hier.
Fletcher: Ja, wenn Sie mich nicht bezahlen können,
bin ich freilich umsonst hier, Miss Dodd.
Dodd: Ein schlimmer Empfang für Sie. Bitte lassen
Sie mich nur zur Ruhe kommen, ich will Ihnen
alles erklären. Aber zuerst … Liebe
Mrs. Barbent, das ist Mr. Fletcher, ein überaus
hoffnungsvoller junger Pädagoge. Mr. Fletcher,
das ist Mrs. Barbent, eine Dame, deren Güte sie
zur letzten Stütze unseres unglücklichen
kleinen Unternehmens gemacht hat.
Fletcher: Guten Tag, Mrs. Barbent.
Barbent: Bitte machen Sie sich kein zu hohes Bild
von meiner Tugend, Mr. Fletcher. Die einzigen
Beweggründe, die mich veranlassen, dem Heim
hin und wieder beizuspringen, sind die Freund-
schaft zu unserer lieben Honoria, der keiner
leicht etwas abschlägt, und der eitle Wunsch,
meine kleine Position in der Gesellschaft mit
etwas Würde zu erfüllen.

Dodd: Mr. Fletcher, ich offenbare Ihnen die ganze


Wahrheit. Ich kann es mir nicht leisten, eine
zusätzliche Lehrkraft anzustellen. Meine Mit-
tel sind erschöpft. Ich kann das Heim noch ein
paar Monate über Wasser halten, wenn ich sehr
sparsam bin. Ich hatte mit einem bescheidenen
staatlichen Zuschuß gerechnet, aber sie haben
mir geschrieben, daß sie das Geld gerade nicht
zur Hand haben; sie haben anscheinend wieder
die günstige Gelegenheit, ein U-Boot zu kau-
fen, oder etwas ähnliches. Und so, lieber

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Mr. Fletcher …
Fletcher: Aber Miss Dodd, das haben Sie mir doch al-
les telegraphiert.
Dodd: Telegraphiert?
Fletcher: Ja.
Dodd: Sagten Sie nicht, ich hätte nicht telegra-
phiert?
Fletcher: Sicher nicht. Sie haben mir auf telegra-
phischem Wege abgesagt.
Dodd: Ja dann, warum sind Sie dann gekommen?
Fletcher: Um zu arbeiten, Miss Dodd. Und da Sie mir
kein Geld zahlen können, werde ich zunächst
ohne Gehalt arbeiten.
Dodd: Mr. Fletcher, ich sage Ihnen mit Entschieden-
heit, daß das nicht geht.
Fletcher: Das geht schon.
Dodd: Ein junger Mann muß Geld verdienen.
Fletcher: Er muß leben, und vergnügt leben. Zu
meinen wichtigsten Vergnügungen gehört eine
Arbeit, die mich befriedigt, Miss Dodd; da
fängt der Spaß an. Ich habe ein bißchen Geld.
Dodd: Wieviel Geld haben Sie?
Fletcher: Genug, um durchzukommen.
Dodd: Also keines.
Fletcher: Doch, Miss Dodd.
Dodd: Wieviel?
Fletcher: Hundert Pfund im Jahr.
Dodd: Davon kann man kein Denkmal unterhalten,
geschweige einen lebenden jungen Mann. Hät-
ten Sie Geld im Überfluß, Mr. Fletcher, dann
nähme ich Ihr Angebot ohne Bedenken an.

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Ich glaube, daß meine Anstalt hilft, das Los
der Menschen zu verbessern. Aber ich bin durch-
aus nicht gewillt, im Namen der Menschlichkeit
irgendjemanden zu ruinieren.
Fletcher: Ausgenommen sich selbst, nicht wahr?
Dodd: Mr. Fletcher, wollen Sie nicht davon absehen,
persönliche Dinge in eine rein geschäftliche
Unterredung zu mischen?
Fletcher: Gern. Ich versichere Ihnen, daß mich al-
lein das Interesse an meiner wissenschaftli-
chen Fortbildung zu Ihnen führt. Ihr Institut
genießt einen hervorragenden Ruf in der Fach-
welt.
Dodd: Ja, es sind ja nur gutgemeinte Bemühungen.
Ich bin nur ein Laie. Ich meine … Mr. Fletcher,
Sie versuchen, mich durch Komplimente herumzu-
bringen.
Fletcher: Natürlich. Wann kann ich anfangen?
Dodd: Sie sind ein hartnäckiger Mensch.
Fletcher: Also der richtige Mann für schwererzieh-
bare Kinder.
Dodd: Ich fürchte, ja.
Fletcher: Abgemacht, Miss Dodd.
Barbent: Ein reizender Eifer, nicht wahr? Es stände
besser um unsere Welt, wenn mehr junge Leute
sich von Selbstlosigkeit leiten ließen, anstatt
vom Motorradfahren oder vom Bolschewismus. Ich
schicke Ihnen noch heute Ihren Scheck, liebe
Honoria.
Dodd: Sie sind ein heiliger Engel, Mrs. Barbent.
Fletcher: Mrs. Barbent.
(Dodd und Fletcher ab. Der Inspektor legt die
Zeitung weg)

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Inspektor: Guten Morgen, Mrs. Barbent.
Barbent: Sie?
Inspektor: In Person.
Barbent: Welcher Teufel führt Sie hierher?
Inspektor: Sie, Mrs. Barbent.
Barbent: Ich denke, Sie sind pensioniert.
Inspektor: Sie denken nicht, Sie lesen Zeitung. Lei-
der sind Sie ungenau informiert. Ich werde erst
in vier Wochen das Glück der Muße und der rei-
nen Betrachtung genießen. Bis dahin steht mir
schwere Arbeit bevor. Im Vertrauen, ich habe
noch zwei Fälle zu lösen.
Barbent: Ich möchte wissen, womit ich das Vertrauen
eines Polizisten verdient habe.
Inspektor: Mit sechs Gattenmorden, Mrs. Barbent.
Barbent: Was soll das heißen?
Inspektor: Soll heißen, daß Sie im Lauf Ihres frei-
lich nicht kurzen Lebens folgende Gentlemen,
Mr. Inglethorpe, Mr. Musgrave, Mr. Clithering,
Mr. Knox, Mr. Meredith und Mr. Barbent geheiratet,
getötet und beerbt haben. Insofern sind Sie
einer der von mir erwähnten Fälle.
Barbent: Ich habe Ihnen versichert, daß Sie sich ir-
ren, Inspektor. Mehrmals.
Inspektor: Ja, sechs Mal.
Barbent: Auch Scotland Yard kann irren.
Inspektor: Nicht sechs Mal, Mrs. Barbent.
Barbent: Wenn das so ist, fordere ich Sie auf, mich
zu verhaften.
Inspektor: Ich bin untröstlich. Mrs. Barbent, aber
zu meinem eigenen Schmerz verfüge ich über
keine Beweise.

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Barbent: Woher nehmen Sie dann die Frechheit, darüber
zu reden.
Inspektor: Nur zu Ihnen, Mrs. Barbent. Sie werden
doch nichts herumerzählen, nicht wahr?
Barbent: Und Sie glauben ernstlich, ich würde mich
mit Ihnen über Ihre Phantasien unterhalten?
Inspektor: Mrs. Barbent, der Mensch braucht nicht nur
Erfolg, er braucht auch Anerkennung. Das er-
habenste Genie will seine Leistung im Erstaunen
der Mitmenschen gespiegelt sehen. Ich hoffte, es
wäre Ihnen nicht unangenehm, mit einem Vertrau-
ten über Ihre Geschicklichkeit zu schwatzen.
Barbent: Die Unverschämtheit der britischen Polizei
übertrifft noch ihre Unfähigkeit. Leben Sie
wohl, Inspektor, es hat mich nicht gefreut.
Inspektor (unlogisch): Gestatten Sie, daß ich meine
Promenade fortsetze. Ich sehe ja dort Oberst
Brocklesby. (Ruft) Oberst.
Barbent: Wer ist dieser elende Zwerg? Noch ein Po-
lizist?
Inspektor: Leider mutet man mir zu, allein zu ar-
beiten. Oberst Brocklesby ist lediglich ein
reicher Nichtstuer. Aber Sie gestatten …
Barbent: Bleiben Sie, Mr. Campbell. Ich glaube nicht,
daß es den guten Sitten entspricht, eine Dame
einfach stehen zu lassen, wie?
Inspektor: Indessen … (Er winkt)
Barbent: Oberst Brocklesby wird sich sehr gern be-
mühen, hierherzukommen.
Oberst (kommt): Hier sind Ihre Zeitungen.
Inspektor: Besten Dank, Oberst.
Barbent: Halten Sie es nicht für angebracht, mir
diesen Gentleman vorzustellen?

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(Inspektor gibt vor zu zögern)
Oberst: Würden Sie freundlicherweise die Dame mit mir
bekannt machen?
Inspektor (mit scheinbarem Widerwillen): Oberst
Brocklesby. Mrs. Barbent.
Oberst: Mein Entzücken ist unendlich.
Barbent: Ich glaube, ich sah Sie gestern beim Kur-
konzert.
Oberst: Wie liebenswürdig. Natürlich vermochten auch
Sie nicht, meiner Aufmerksamkeit zu entgehen.
Inspektor: Ja, es ist wirklich schrecklich voll hier.
Oberst: Ich bin ganz offen, ich erhole mich nur an
Orten, wo ich meinen Mitmenschen begegne. Ich
plaudere mit diesem, trinke mein Ale mit jenem.
Ich genieße die Schönheit der Natur und genieße
sie doppelt, wenn ich meine Eindrücke mit einer
anderen empfindenden Seele austausche. Ich wage
gelegentlich einen Blick auf unseren bezaubern-
den Damenflor. Wirklich, ich erlaube mir, jenen
Leuten zu mißtrauen, die sich in Heiden, Mooren,
Inseln und anderen Wüsteneien verstecken. Ich
vermute, sie langweilen sich dort zu Tode, bloß
um den Anschein höherer Geistigkeit zu erwecken.
Am unehrlichsten aber erscheinen mir die, welche
sagen: Mein Gott, Brighton, da ist es so voll;
und wo sagen sie es? In Brighton.
Barbent: Sehr fein gegeben. Uhd wie bekommt Ihnen
die Seeluft?
Oberst: Ein Jungbrunnen. Ich hoffe, dieselbe sagt
Mr. Barbent ebenfalls zu?
Barbent:·Ich bin Witwe, Oberst.
Oberst:·Verzeihen Sie.
Barbent: Ich hoffe, ich werde die Ehre haben, Ihre
Frau Gemahlin begrüßen zu können?

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Oberst: Mrs. Brocklesby ist leider im Frühjahr einem
Unglück zum Opfer gefallen.
Barbent: Wir sind also Schicksalsgenossen.
Oberst: Darf ich mir erlauben zu sagen, wie sehr
mich diese Begegnung berührt. Es gibt Zusam-
mentreffen, Mrs. Barbent, die sich einer
materialistischen Beurteilung entziehen. Die
Beteiligten nennen es Zufall und sehen nicht,
daß eine höhere Intelligenz nach ihren höhe-
ren Zwecken alles gefügt hat.
Barbent: Inspektor?
Inspektor: Bitte?
Barbent: Waren Sie nicht im Begriff, Ihre Prome-
nade fortzusetzen, Inspektor?
Oberst: Für eine erfolgreiche Kur ist Beharrlich-
keit von Nöten, nicht wahr?
Inspektor: Sie sind so aufmerksam, Oberst. Wir
sollten unsere Übel radikal zur Strecke brin-
gen, oder gar nicht erst anfangen. Wenn Sie
es mir also verzeihen, so will ich mich jetzt
entfernen. (Ab)
Barbent: Einen so bezaubernden Plauderer ich Sie
nennen muß, Oberst Brocklesby, dem Tiefer-
blickenden entgeht nicht, daß Sie im Grunde
sehr allein sind.
Oberst: Ein Mann hat nur einen treuen Kameraden,
die Einsamkeit.
Barbent: Haben Sie denn keine Anverwandten? Keine
Geschwister, Kinder, Neffen?
Oberst: Niemanden. Ich bin allein in der Welt wie
ein schwarzer Eichbaum in der Heide.
Barbent: Wie zu gut ich Sie verstehe.
Oberst: Sie verstehen mich so vollkommen, daß ich
annehmen muß, das bittere Los der Einsamkeit

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sei auch Ihnen nicht fremd?
Barbent: So ist es.
Oberst: Keine Geschwister, Kinder, Neffen?
Barbent: Nicht einmal eine Freundin.
Oberst (großzügig): Freundin schadet gar nichts.
Barbent: Ich gehöre zu den Menschen, welche einsam
geboren sind.
Oberst: Sagen Sie das nicht, Mrs. Barbent. Eine
schöne Frau und einsam, das ist wie - ein Ge-
neral ohne Armee.
Barbent: Wie entzückend Sie scherzen, Oberst.
Oberst: Der Witz liegt darin, daß ich die Männer
Englands einer Armee vergleiche, die nur auf
Ihr Kommando wartet, um scharenweise dahinzu-
sterben.
Barbent: Dahinzusterben, wieso?
Oberst: In Bewunderung Ihrer Schönheit.
Barbent: So meinen Sie das?
Oberst: Aufrichtig.
Barbent: Wo nähmen wir die Stärke her, alles zu
ertragen, wenn wir nicht lächeln könnten. Un-
ter Schmerzen vielleicht. Aber lächeln. Ich
gestehe Ihnen, daß ich seit dieser Viertel-
stunde froh bin über meinen Entschluß, den
Sommer hier zu verbringen.
Oberst: Es ist wundervoll hier. Freilich, ein we-
nig kostspielig?
Barbent: Nicht für mich. Ich bin von der allgemei-
nen Notlage des oberen Mittelstandes verschont
geblieben. Aber ich höre, Vater Staat erweist
sich wenig dankbar seinen treuen Offizieren
gegenüber?
Oberst (cholerisch): Wenig dankbar! Sie sind sehr

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höflich gegen Vater Staat. Dieses Gemeinwesen,
welches sich als Wohlfahrtsstaat feiern zu
lassen beliebt, verschwendet alle Sorge an die
niederen Klassen, deren geringe Bedürfnisse
solchen Überfluß gar nicht aufzunehmen vermö-
gen. Diejenigen aber, die mit ihrem Blut den
einstigen Reichtum und die vergangene Größe
Englands errichteten, sie sterben in Not und
Vergessenheit. Sie hatten den Erdball zu
Füßen und haben jetzt oft nicht mehr ein Kis-
sen, ihr heldisches Haupt zu betten, Millionen
Meilen haben sie kämpfend zurückgelegt; das ist
alles, was sie zurückgelegt haben. Entschuldi-
gen Sie, daß ich mich errege. Aber Undankbar-
keit erregt mich. Meine Freunde nennen mich
einen zornigen alten Mann.
Barbent: Es ist wohl schlimm. Nun, Oberst Brooklesby,
es hat mich gefreut... (Will ab)
Oberst: Glücklicherweise treffen solche elenden Um-
stände auf mich selbst nicht zu. Ich darf sagen,
daß mein Vermögen nicht unbeträchtlich ist. Es
wäre taktlos, Ihnen mitzuteilen, wie hoch …
Barbent: Uber hunderttausend?
Oberst: Weit.
Barbent: Genug, Oberst. Ich will es nicht wissen.
Oberst: Aber sind irdische Güter ein Ersatz für
mangelndes Verständnis?
Barbent: Der Mensch hat eine Seele.
Oberst: Daß Sie das sagen, meine Gnädigste, vollen-
det mein Glück. Es ist eine meiner Lieblings-
meinungen. Mrs. Barbent, ich habe eine Bitte an
Sie, eine kühne Bitte. Aber ich bin Soldat.
Soldat aus der Zeit, da England noch gewohnt
war zu siegen. Nennen Sie mir Ihren Vornamen!

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Barbent: Oberst!
Oberst: Ihren Vornamen!
Barbent: Nun, Lydia.
Oberst: Lydia. (Küßt ihr die Hand)
Barbent: Oberst, wissen Sie, daß Sie imstande sind,
eine Frau zu töten?
Oberst: Natürlich weiß ich das. (Erschrickt) Worauf
spielen Sie an?
Barbent: Le mort douce. Und jetzt, jetzt gehen Sie!
Oberst: Sehen wir uns wieder, Lydia?
Barbent: Vielleicht. (Er küßt ihr die Hand, geht.
Sie bemerkt) Ein elementarer Trottel.
Oberst (zufrieden): Die ist dämlicher als alle.
(Sie winken sich zu, gehen winkend ab)
Inspektor (kommt mit einer sehr langen Pfeife.
Entzündet sie, raucht, sagt): Köstlich.

21
ERSTER AKT

Halle im Haus der Brocklesbys. Türen zum Entree, zur


Küche, zum Garten und, unter der Treppe, zum Keller
und Weinkeller. Galerie mit zwei Türen.

(Der Vorhang hebt sich. Pause. Der Kronleuchter


fällt herunter. Pause. Dodd und Perkins)
Dodd: Perkins, hier liegt ein Kronleuchter.
Perkins: Sehr wohl, Madam. Er scheint von der Decke
gefallen zu sein.
Dodd: Wie recht Sie immer haben, Perkins. Tragen
Sie ihn hinaus.
Perkins: Sehr wohl. (Betrachtet die zerrissene Be-
festigung, stutzt)
Dodd: Was ist, Perkins?
Perkins: Nichts, Madam. Die Befestigung ist durch-
gewetzt.
Dodd: Welcher Leichtsinn. Er hätte jemandem auf den
Kopf fallen können. (Perkins geht mit dem Leuch-
ter ab, kommt wieder. Dodd) Ich bin überzeugt,
daß Sie sich bei Oberst Brocklesby wohlfühlen
werden, Perkins. Es ist eine gute Position. Ich
hätte Sie niemals an einen Haushalt abgegeben,
der nicht über die notwendigen gesellschaftli-
chen Qualitäten verfügt, um Ihre Vorzüge zu
würdigen.
Perkins: Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madam. Darf
ich indessen erwähnen, daß ich es vorzöge, auf
meinem bisherigen Posten zu verbleiben.
Dodd: Nein, Perkins. Das dürfen Sie nicht.
Perkins: Ich sträube mich nicht gegen die Notwendig-

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keit Madam. Ich gestatte mir nur auszudrücken,
daß ich diese Notwendigkeit schmerzlich empfin-
de. Ich bin sehr gern bei Ihnen gewesen.
Dodd: Ihre Empfindung macht mir Ehre. Aber Sie soll-
ten nicht sagen, daß Sie bedauern, mich zu ver-
lassen. Hiermit drücken Sie mittelbar eine Kri-
tik an Ihrer neuen Herrschaft aus, Perkins. Ein
Butler hat eventuell das Recht, seine Herr-
schaft zu schätzen, aber er hat niemals das
Recht, sie einzuschätzen.
Perkins: Verzeihen Sie meinen Fehler, Madam. Ich
hatte keine Respektlosigkeit gegenüber den
Herrschaften im Sinn. Ich wollte nur äußern,
daß ich, auf der rein menschlichen Ebene, trau-
rig bin.
Dodd: Es wird Ihnen hier gefallen, Perkins.
Perkins: Ich bliebe lieber bei Ihnen.
Dodd: Perkins, meinen Sie, die Tatsache, daß unser
Kontrakt gelöst ist, gibt Ihnen die Freiheit,
mir das Herz zu brechen?
Perkins: Ich bitte um Verzeihung, Madam. Gewiß nicht.
Dodd: Gut. Wir reden nicht mehr davon.
(Brocklesby und Lydia, durch die Gartentür)
Lydia: Tritt doch vor, John, und begrüße Miss Dodd.
(Er tut es. Sie schlägt die Tür zu, blickt
nach der Decke) Wo ist denn der Kronleuchter?
Dodd: Denken Sie, er war heruntergefallen, als wir
eintraten.
Lydia: Wie unangenehm. Es ist zu schwer, einen echt
gotischen Kronleuchter zu finden; gewöhnlich
versuchen sie, einen mit Imitationen hereinzu-
legen. Wie geht es Ihnen, Miss Dodd?
Dodd: Danke, fein. Wie geht es Ihnen; lieber Oberst?
Ich bin gekommen, um Ihnen Perkins vorzustel-

23
len. (Perkins verbeugt sich) Und wie fühlt sich
das jungvermählte Paar?
Lydia: O Honoria, es ist der Himmel, wieder einmal
jungverheiratet zu sein. Nicht wahr, John?
Oberst: In der Tat, Miss Dodd. Zwei alte Weiden am
Fluß, vom Morgentau einer neuen Liebe ver-
jüngt. Mag sein, man könnte unseren Entschluß
überstürzt nennen, aber ich habe ihn noch kei-
ne Sekunde bereut.
Dodd: Die plötzlichen Heiraten sind immer die be-
sten. Die anderen finden gewöhnlich gar nicht
statt.
Lydia: Ich komme mir vor, als lebten wir seit al-
ler Ewigkeit zusammen.
Oberst: Und in alle Ewigkeit werden wir unser
Glück ineinander finden.
Dodd: Amen. Ich habe selbst wenig Erfahrung in der
Sache, aber ich höre, glückliche Ehen sind so
selten geworden. Mr. Carnegie, ein hervorragen-
der amerikanischer Philosoph, vergleicht die
Ehe mit einer Firma, welche mit einer Wahrschein-
lichkeit von achtzig Prozent bankrott macht.
Lydia: Das unterscheidet die Amerikaner von uns zi-
vilisierten Nationen. Sie finden in allem eine
geschäftliche Seite.
Oberst: Man muß zusammenstimmen, Miss Dodd. Man
muß zusammenstimmen. Das ist das ganze Geheim-
nis einer glücklichen Ehe. Ein Gespräch unter
Eheleuten bedarf der Zungen nicht mehr. Die
Geister verstehen sich. Fragen werden nicht
ausgesprochen, Antworten müssen nicht gegeben
werden. Heute morgen, angesichts des vortreff-
lichen Wetters, dachte ich bei mir: Man müßte
Pilze sammeln gehen. Nach dem Regen werden
sie aus dem Boden schießen. Und schon sagte
meine geliebte Lydia …

24
Lydia: Wollen wir nicht Pilze sammeln gehen, John? -
sagte ich.
Oberst: Sehen Sie, das ist Zusammenstimmen.
Lydia: Es war ein so reizender Spaziergang. Das Körb-
chen von Binsen über dem Arm, wie eine Schäferin,
und am anderen Arm John, mein starker Schäfer.
Denken Sie nur, beim Wasserfall wäre ich fast
von der Brücke gestürzt. Ich stolperte, und John
rettete mich. Ja, wir sind ein schwaches Ge-
schlecht. Was wären wir ohne die Männer? Natür-
lich hat er sich so ungeschickt dabei angestellt,
daß ich beinahe erst recht hineingefallen wäre.
Oberst: Wie kannst du das sagen?
Lydia: Du hast mich ja mehr gestoßen als gehalten.
Dodd: Alle Männer sind Tölpel. Das macht ihre Tyran-
nei so entzückend erfolglos.
Oberst: Liebe Miss Dodd, Sie können sich meine Auf-
regung vorstellen. Mir stand ja das Herz fast
still, als ich meine geliebte Lydia über dem
Abgrund schweben sah. Ich wußte ja kaum mehr,
was ich tat. Ach, so töricht ist große Leiden-
schaft, daß sie uns leicht ihres eigenen Gegen-
standes beraubt. (Küßt Lydia die Hand) Wir ha-
ben herrliche Pilze gefunden.
Dodd: Überlassen Sie sie Perkins. Perkins versteht
sich wundervoll auf Pilze.
Oberst, Lydia: So?
Dodd: Ich hatte zwar nie Gelegenheit, das festzu-
stellen, denn ich selbst esse keine Pilze. Aber
Perkins versteht sich auf alles wundervoll.
Perkins.
Perkins: Madam?
Dodd: Perkins, ich übergebe Sie meinen besten
Freunden. Sie werden mich nicht enttäuschen,
nicht wahr?

25
Perkins: Ich werde mein Amt zu Ihrer vollen Zu-
friedenheit ausfüllen, Madam.
Oberst: Na, Perkins, wir werden schon miteinander
zurechtkommen. Hier sind die Schlüssel; Haus,
Garten, Keller, Ihr Zimmer. Falls Sie den
Schlüssel zum Weinkeller vermissen, den habe
ich. Den gebe ich nicht aus der Hand, ich war
in Indien. Ich nehme nicht an, daß Sie trin-
ken?
Perkins: Nein, Sir.
Oberst: Wie gesagt, meine indischen Dienstboten
hatten sämtlich mehrere religiöse Gelübde ab-
gelegt, keinen Tropfen Alkohol zu berühren.
Seither pflege ich den Schlüssel zu behalten.
Perkins: Jawohl, Sir.
Lydia: Geben Sie die Pilze in die Küche. Lucy soll
zum Lunch eine Suppe machen. Sie soll keine
wegwerfen, es ist eben die richtige Mischung.
Oberst: Und entfernen Sie vorher die Reste des
Kronleuchters vom Teppich.
Lydia: Jetzt müssen Sie aber unbedingt unser Häus-
chen ansehen, liebste Honoria. Mein Zimmer
hat so einen lieblichen Blick. Uber die Hü-
gel, über die See, wie es im Lied heißt. (Sie
gehen nach oben und in Lydias Zimmer)
Perkins (untersucht die Pilze): Alle in Ordnung.
(Geht ab)
Lydia (geht mit Dodd über die Galerie): Und dies
ist Johns Raum. Ja, dieser Ort läßt uns nicht
mehr los. Wir haben uns entschlossen, hier
bis zu unserem Tod zu leben. (In Brocklesbys
Zimmer ab)
(Der Oberst, der mit ihnen Lydias Zimmer ver-
lassen hat, eilt die Treppe hinunter, wühlt
eine Handvoll Pilze in den Korb, folgt ihnen
dann)

26
Perkins (kommt mit Schaufel und Feger, beginnt,
Scherben aufzunehmen. Sieht zufällig in den
Korb, stutzt): Nanu? Das ist doch ein Spei-
teufel? (Nimmt den Pilz heraus, sucht) Ein
Hörnling. Eine Totentrompete. Merkwürdig.
(Wirft die Pilze auf die Schaufel, geht ab)
Oberst (kommt mit Dodd die Treppe herunter): Wir ha-
ben das Haus für ein halbes Jahr gemietet. Und
hier ist der Garten.
(Beide ab. Lydia hat sich etwas hinter ihnen
gehalten, wirft eine Handvoll Pilze in den
Korb, folgt ihnen dann)
Perkins (kommt, nimmt den Korb. Stutzt): Eh? Ein
Giftreizger? Tatsächlich. Und ein Dickfuß. Und
ein Hexenschwamm. (Steckt diese in die Tasche,
geht mit dem Korb ab) Höchst merkwürdig.
(Poll, Jennifer, Fletcher. Poll schmeißt sich
in einen Sessel)
Poll (brüllt): Na, Perkins, sind Sie sehr glücklich
bei der alten Wohltätigkeitsfregatte?
Perkins (kommt): Guten Tag, Miss Poll.
Jennifer: Perkins ist ein Gentleman, Poll, deswegen
haut er dir jetzt keine runter. Wenn ich Perkins
wäre, würde ich dir …
Poll: Na, was?
Jennifer: Auch keine runterhauen. So sind Perkins
und ich die beiden einzigen Männer, die sich
zu benehmen wissen.
Perkins: Guten Tag, Miss Jennifer.
Fletcher: Wie geht es Ihnen, Perkins? Wir wollen
Miss Dodd abholen.
Perkins: Wie geht es Ihnen, Sir? Miss Dodd befindet
sich im Garten. Ich werde Sie melden.
Jennifer: Perkins.

27
Perkins: Miss Jennifer?
Jennifer: Perkins, wir vermissen Sie sehr.
Perkins: Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss,
Jennifer.
Jennifer: Sie waren der einzige Mensch von Erzie-
hung in diesem Haus voll verwahrloster Ge-
schöpfe.
Poll: Du bist doch auch eins, Süße.
Jennifer: Eben. Ich vermisse den wohltätigen Ein-
fluß, den Mr. Perkins stets ausgeübt hat. Auf
dich allerdings nie.
Poll: Auf mich kann kein Einfluß ausgeübt werden.
Ich bin bereits moralisch deformiert.
Fletcher: Sie sind noch viel zu jung, Poll, um
über Moral zu reden.
Poll: Wollen Sie damit sagen, ich sei zu jung für
Unmoral, Mr. Fletcher? Bevor Sie so etwas be-
haupten, sollten Sie mal meine Einweisungs-
papiere sehen.
Jennifer: Deine Art, sinnlos zu prahlen, hat etwas
schrecklich vulgäres, Poll.
Poll: Es genügt für die Welt, wenn du fein bist.
Jennifer: lch sage nicht, daß ich fein bin. Ich
sage, daß auf mich ein Einfluß ausgeübt.wer-
den kann, und Perkins kann es bestätigen.
Perkins: Durchaus, Miss Jennifer. Und es ist ein
Vergnügen, Sie zu beeinflussen. Oft ist es
die Vorzüglichkeit des Materials, wofür
fälschlich der Künstler gelobt wird.
Jennifer: Oh, Perkins, das sagen Sie nur aus Höf-
lichkeit. Sie sind immer höflich.
Perkins: Höflichkeit gehört zu meinem Beruf, Miss
Jennifer.

28
Jennifer: Sie sagen nicht die Wahrheit, Perkins. Sie
sind von Natur aus höflich.
Fletcher: Man sollte nur einen Beruf ergreifen, der
seinen Anlagen entspricht.
Poll: Diese Lehre ist der Gipfel der Lasterhaftig-
keit.
Fletcher: Lasterhaftigkeit, wieso?
Poll: Sich für sein Vergnügen bezahlen lassen,
Mr. Fletcher, wie nennt man das? Ich gehe ja
auch nicht nach Tanger ins Bordell.
Jennifer: Perkins, Sie müssen zugeben, daß ich Ihre
Verstellung durchschaut habe. Sie sind im In-
nern genau so, wie Sie sich benehmen.
Perkins: Nicht in jedem einzelnen Fall.
Jennifer: Aber im tiefsten Grunde doch. Es ist sehr
bequem und sehr unfair, eine Maske zu tragen,
die einem ähnelt. Wie soll ich Sie entlarven?
Wirklich, ich wünschte, ich wüßte, woran man
erkennt, wenn Perkins einen leiden kann.
Perkins: Ich würde mir jedenfalls erlauben, darauf
hinzuweisen.
Jennifer: Täten Sie es doch.
Perkins: Ich versichere Sie meiner besonderen
Sympathie, Miss Jennifer.
Jennifer: Ja?
Perkins: So wie alle Schülerinnen von Miss Dodd.
Sie gestatten, daß ich mich jetzt zurückziehe,
um Sie zu melden. (Ab)·
Jennifer: Wenn er doch nicht so ein Gentleman wäre.
Aber dann wäre er nicht Perkins. (Ihm nach)
Poll: Die Tante hier hat Draht, was?
Fletcher: Reden Sie englisch oder mit jemand anderem.

29
Poll: Wenn Sie mich erziehen, werde ich immer sinn-
lich.
Fletcher: Nebenprodukte meiner Arbeit interessie-
ren mich nicht.
Poll: Die typische Verantwortungslosigkeit des
Gelehrten. (Sie setzt sich so, daß er viel
von ihren Beinen zu sehen bekommt.)
Fletcher: Es stört mich nicht im geringsten, daß
ich Ihre Oberschenkel sehe. Sie können es sich
ruhig bequem machen.
Poll (setzt sich ordentlich hin): Ich habe mal ei-
nen Film von einem Sadisten gesehen. Der war
ein buckliger Mann, klein und blaß, und mit
einem purpurnen Schlafrock und einer purpur-
nen Haube auf und einem riesigen gewichsten
Schnurrbart. Und der wohnte in einem Zimmer,
das war ganz mit schwarzem Samt ausgeschla-
gen und Peitschen an den Wänden. Und der hat-
te immer Frauen. Und unter dem Bett war eine
Schlange, vierzig Fuß lang, und die Frauen
mußten die Schlange küssen und starben dahin,
aus gar keinem Grund, rein seelisch. Das war
schick.
Fletcher: Hat das was mit mir zu tun?
Poll: Es ist wahr, Mr. Fletcher, ich bin ungerecht.
Sie haben keinen Schnurrbart. Aber niemand
könnte Sie hindern, sich einen wachsen zu
lassen, nicht wahr?
Fletcher: Liebe Poll, ich habe das Gefühl, daß Ih-
nen der Nutzen der Erziehung nie recht klar
geworden ist.
Poll: Wenn das das einzige Gefühl ist, das Sie ha-
ben …
Fletcher: Ich befolgte einmal einen Befehl meiner
Mutter nicht. Durch diesen Ungehorsam machte
ich mich zur Waise.

30
Poll: Haben Sie sie umgelegt?
Fletcher: Gott bewahre.
Poll: Wie sah sie aus?
Fletcher: Ich habe es vergessen; an Unangenehmes er-
innert man sich nicht gut. Sie war riesengroß,
glaube ich. Ja, sie hatte eine laute, tiefe
Stimme und erteilte mir fortgesetzt Befehle.
Poll: Bin ich ihr ähnlich?
Fletcher: Kein bißchen.
Poll: Männer heiraten immer ihre Mutter, nicht wahr?
Fletcher: Strenggenommen war sie nur meine Adoptiv-
mutter. Meine Mutter war ganz anders. Sie wür-
den mich an sie erinnern, aber sie pflegte täg-
lich ihr Haar zu kämmen.
Poll: Und wie war das mit dem Befehl?
Fletcher: Meine Adoptivmutter und ich lebte an der
See. Ich besaß ein kleines Faltboot. Aber es
war eine Küste, wo ich nicht paddeln durfte,
weil den halben Tag über eine mächtige Strömung
jeden ins offene Meer hinauszog. Eines Tages
hatte ich Streit mit ihr; sie fuhr in die Stadt
und ließ einen Zettel auf dem Tisch zurück.
Den. (Holt ihn hervor) ·
Poll (liest): Wenn du mich nicht kennenlernen
willst, Lancelot, wage es nicht zu paddeln. -
Und?
Fletcher: Was hätten Sie gemacht?
Poll: Ich wäre gepaddelt.
Fletcher: Sie sind sehr unvernünftig, Poll, und sehr
schlecht erzogen.
Poll: Was taten Sie?
Fletcher: Ich ging paddeln, wurde abgetrieben und
wäre vor Nacht ertrunken, wenn mich nicht die

31
Besatzung eines kleinen irischen Frachters auf-
gefischt hätte.
Poll: Und die haben Sie nachhaus geschickt?
Fletcher: Das konnten sie nicht. Ich redete ihnen
ein, ich hätte meinen Namen vergessen, und ich
hätte keine Eltern. Der Kapitän trug einen ro-
ten Bart, der mir sehr gefiel. Er stammte aus
Dublin und hieß Francis Fletcher.
Poll: Er nahm Sie mit?
Fletcher: Nach Madeira und dann nach Singapore und
Hongkong und in die ganze Welt. Und als er mir
beigebracht hatte, was er wußte, schickte er
mich in die Schule und auf die Universität,
und dann starb er und hinterließ mir hundert
Pfund im Jahr.
Poll: Hatte Ihre Adoptivmutter viel Geld?
Fletcher: Ich glaube, ja. Mein Vater war kurz vor
der Geschichte gestorben und stammte aus ei-
ner sehr reichen Familie. Aber Sie können mir
glauben, daß ich mein Leben lang nicht daran
gedacht habe. Warum erzähle ich Ihnen das ei-
gentlich alles?
Poll: Um mir zu beweisen, daß man folgsam sein
muß.
Fletcher: Richtig, richtig.
(Aus dem Garten Lydia, Oberst, Dodd, Jennifer)
Dodd: Es ist zu aufmerksam, Mr. Fletcher, daß Sie
mich abholen. Ich bin eine alte, verschrum-
pelte Frau, ich verdiene das nicht.
Lydia: Das ist Mr. Fletcher, John. Der entzückende
junge Mann, den Miss Dodd in ihr Heim für ver-
wahrloste Mädchen aufgenommen hat.
Oberst: Ich verstehe. Koedukation.
Fletcher: Guten Tag, Mrs. Brocklesby. Guten Tag,

32
Mr. Brocklesby.
Poll: Hallo, ihr.
Dodd: Poll, Liebling, die herkömmlichen Umgangsfor-
men haben den Zweck, das Leben zu erleichtern;
sie entheben dich fortwährender moralischer
Entscheidungen. Du kennst beispielsweise
Mrs. und Mr. Brocklesby nicht lange genug, um
mit Sicherhait bestimmen zu können, daß ein
rüpelhafter Ton ihnen gegenüber am Platz ist.
Begreifst du?
Poll (ihr zuliebe): Guten Tag. Wie geht es Ihnen?
Lydia: Ihre Methode ist bewundernswert, Honoria.
Dodd: Ich verabschiede mich, meine liebe
Mrs. Brocklesby. Ihr Heim ist bezaubernd und Ihre
Ehe so erfolgreich. Ich kann Ihnen nicht sagen,
wie glücklich ich darüber bin. Es war so schwer
für Sie. Sie haben es getragen wie eine Heldin,
aber ich habe immer empfunden, wie tief verzwei-
felt alle diese entsetzlichen Schläge Sie ge-
macht haben müssen. Nun ist endlich alles gut.
Ich bin sicher, Oberst Brockleby ist Manns ge-
nug, um Sie für die Trennung von sechs aufrech-
ten Gatten zu entschädigen. Leben Sie recht
wohl. (Ab mit Anhang)
Oberst: So, du warst schon öfter verheiratet?
Lydia: Ja, John.
Oberst: Sechs Mal?
Lydia: Ja, John.
Oberst: Warum hast du mir das verschwiegen?
Lydia: Liebling, ich wollte dich nicht mit meinem
Kummer belästigen.
Oberst: Ich pfeife auf deinen Kummer. Ich rede von
meinem. Ich habe eine sechsmal geschiedene
Frau, verdammt.

33
Lydia: John, diese Verdächtigung ist sehr kränkend
für mich. Ich kenne keinen tadelnswerteren
Schritt als die Ehescheidung. Mögen ihn einige
sehr moderne Leute lediglich als den Schritt
von einem Irrtum zurück zum Ausgangspunkt an-
sehen, für mich bedeutet er den Schritt von
der Anständigkeit zur Verworfenheit. Die Ge-
sellschaft würde nie darüber hinwegsehen.
Oberst: Aber was zum Teufel ist aus dieser ganzen
Rotte von Männern geworden?
Lydia: Gott hat sie zu sich genommen, mein Lieber.
Oberst: Du meinst …
Lydia: Sie sind tot.
Oberst: Seltsam. Gleich sechs auf einmal.
Lydia: Es geschah natürlich nacheinander, Liebling.
Perkins (kommt): Darf ich servieren?
Lydia: Komm, John. Bitte. Erlauben wir der Vergan-
genheit nicht, ihre düsteren Schatten über un-
sere Suppe zu werfen. Riecht sie nicht wunder-
voll?
Oberst: Ein anregender Duft, wirklich. Diese Suppe
macht Tote lebendig.
(Sie setzen sich)
Lydia: Guten Appetit, Liebster.
Oberst: Guten Appetit.
Lydia: Ich habe jetzt richtigen Hunger.
Oberst: Ich hätte es keine Sekunde länger aushal-
ten können, Liebste.
Lydia: Was ich sagen wollte …
Oberst: Ja?
Lydia: Laß es dir gut schmecken.

34
Oberst: Danke.
Lydia: Bitte.
Oberst: Also, guten Appetit.
Lydia: Guten Appetit.
Oberst: Guten Appetit.
Lydia: Du ißt ja nicht.
Oberst: Ich warte, daß du anfängst.
Lydia: Die Frau herrscht in der Küche, der Mann bei
Tisch.
Oberst: Die Suppe ist noch heiß.
Lydia: Du mußt vorsichtig vom Rand abnehmen.
Oberst: Bitte greif doch zu. Ich möchte genießen,
wie es dir mundet.
Lydia: Wo ist denn der Pfeffer? {Sie steht auf,
bleibt bei der Anrichte) Koste doch einmal.
Oberst: Warum ich so·leidenschaftlich gern Pilze
esse, das macht das Bodannahe, was du spürst.
Jeder Mensch hat einen Antäus in sich, der
will Erde essen. Natürlich wäre das nicht zu-
träglich. Aber der Pilz zieht die kräftigste
Feuchtigkeit und die tiefsten Gewürze aus dem
Erdenschoße, und was du im Mund hast, sind
Dinge wie Wald, Humus, schwarzer Boden. Ja.
Lydia: Du willst doch nicht andeuten, daß Lucy
nachlässig geputzt hat, John?
Oberst: Ausgeschlossen, Liebste.
Lydia: Dann iß. Die Suppe kann ja nicht mehr heiß sein
sein.
Oberst: Ich warte ja auf den Pfeffer.
Lydia: Entschuldige. (Bringt ihn)
Oberst (pfeffert entsetzlich): Ah, ich glaube, ich

35
habe sie ganz verpfeffert. Wie töricht. Jetzt
mußt du die köstliche Suppe allein essen, mein
Kind.
Lydia: Nicht doch, John. Hier, nimm meine. (Schiebt
sie hinüber)
Oberst (schiebt sie zurück): Um keinen Preis.
Lydia (schiebt): Ohne dich bringe ich keinen Bissen
herunter.
Oberst (schiebt): Bitte dich, iß jetzt. Das Getue
ist ja ekelhaft.
Lydia: Sag mal, du warst doch auch schon verheira-
tet?
Oberst: Allerdings, meine Liebe.
Lydia: Öfter?
Oberst: Nein. Sechs Mal.
Lydia: Du bist doch hoffentlich nicht geschieden
worden?
Oberst: Lydia! Meine Gattinnen sind selbstverständ-
lich gestorben.
Lydia: Alle?
Oberst: Alle.
Lydia: Sonderbar.
Oberst: Nun ja. Wie deine Gatten.
Lydia: Wie meine Gatten?
Oberst: Genau so.
Lydia: Wirklich? (Pause) Ehrlich gesagt, John, ich
mag keine Pilze.
Oberst: Ich auch nicht. Ich pflücke sie mit Begei-
sterung, aber ich hasse es, sie zu essen. Ich
wollte es nicht sagen, um dir die Freude nicht
zu verderben.

36
Lydia: Du bist solch ein Liebling, dich für mich zu
opfern. Ich verschwieg es aus dem gleichen
Grund, John.
Oberst: Wie entzückend von uns. (Er küßt ihr die
Hand) Wir stimmen so wunderbar zusammen. Könn-
test du dir vorstellen, daß wir uns scheiden
ließen, Geliebte?
Lydia: Scheiden? (Sie überlegt) John, ich hoffe sehr,
daß ich diese Bemerkung als schlechten Scherz
auffassen darf. Ich habe dir meine Ansicht über
die Scheidung mitgeteilt. Sie deckt sich völlig
mit dem, was jener entzückende Geistliche am
Altar zu uns sagte, John. Wir gehören zusammen,
bis daß der Tod uns scheidet.
Oberst: Bis daß der Tod uns scheidet? Wie du möch-
test, Liebste.

37
ZWEITER AKT

Dieselbe Szene. Perkins räumt auf, findet ein Koch-


buch.
Perkins: Koche mit Liebe? (Zettel fallen heraus. Er
hebt sie auf) Ah, Nachrichten aus der geheimen
Werkstatt der Hausfrau. (Liest) Hochzeitsknödel.
Butterschmalz wird mit drei oder vier Eiern
schaumig gerührt. Daran gibt man feingeschnit-
tenes Rauchfleisch, geriebenen Parmesan, Weiß-
kohl, Würfel von Semmeln, der Teig wird abge-
schmeckt mit einer Prise Muskat, einer Prise
Arsen, einer Prise Salz … (Er stutzt) Hoch­
zeitsknödel? Höchst sinnig. (Liest einen ande-
ren Zettel) Marzipankugeln à la Brinvilliers.
Mandeln, mit etwas Rosenwasser gerieben. Feiner
Zucker darüber. Auf gelindem Feuer rühren. Die
Blausäure wird erst nach dem Abkühlen hinzuge-
fügt. Ein unwiderstehlicher Leckerbissen für
Männer, die Süßigkeiten lieben … (Er seufzt,
wirft die Zettel in dem Kamin. Nimmt eine
Trittleiter, stellt das Buch in ein Bücherbord.
Die Leiter bricht zusammen. Er rettet sich,
seufzt. Auftritt Lydia, gefolgt vom Oberst und
dem Inspektor.)
Lydia: Haben Sie mein Kochbuch gesehen, Perkins?
Perkins: Ja, Madam. Ich habe es ins Fach gestellt.
Oberst: Was machen Sie denn mit der Leiter?
Perkins: Sie ist reparaturbedürftig, Sir. (Ab)
Oberst: Dummkopf. (Zum Inspektor) Er bricht alles
entzwei.
Inspektor (hat sich das Kochbuch herausgenommen,
blättert immer darin): Ich bin der erste Gast,
nicht wahr? Es tut mir so leid. Zufrühkommen

38
ist die peinlichste Form der Unpünktlichkeit.
Aber ich war schrecklich gespannt, ob ich Sie
beide gesund wiedersehen würde. Geht es denn
wirklich gut?
Oberst: Was sollte denn nicht gut gehen?
Inspektor: Ihre Ehe.
Oberst: Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen,
Inspektor.
Inspektor: Nach meinen Erfahrungen ist die Ehe eine
Vereinbarung von Menschen zweierlei Ge-
schlechts zwecks Schaffung von Komplikationen.
Ein Mensch, sagt man, hat Platz in einem Fisch-
magen, aber für zwei ist das heilige Paradies
zu eng. Die kleinste Eigenheit, der geringfü-
gigste Unterschied des Geschmacks schwillt zum
unerträglichen Kriegsgrund an, sobald zwei zi-
vilisierte Individuen das irrsinnige Experi-
ment unternehmen, miteinander zu leben.
Oberst: Ich versichere Sie, Inspektor, nie wurde
eine Ehe auf Grund ähnlicherer Interessen ge-
schlossen.
Inspektor: Sie wälzen mir einen Fels vom Herzen,
Oberst Brocklesby. Offengestanden war ich
tief besorgt.
Oberst: So?
Inspektor: Ja, ich habe Sie doch zusammengebracht.
Oberst: Sie? Oh, verdammt.
Inspektor: Ich meine, der Zufall hat sich meiner
bedient. Aber obgleich nur ein unwissender
Gehilfen Hymens, fühle ich doch Verantwortung
für mein Werk.
Oberst: Beunruhigen Sie sich nicht.
Inspektor: Verzeihen Sie einem hartnäckigen alten
Junggesellen, wenn er hier vor wirklichen

39
Fachleuten in Ehefragen dilettiert. Ist ja was
ganz anderes als Mord, wie? Zwei Welten.
(Plötzlich) Aber Sie sehen leider müde aus,
Mrs. Brocklesby.
Lydia: Ich komme wenig zum Schlafen in letzter Zeit.
Inspektor: Ja, ja, die Flitterwochen. Man sagt ja,
sie gehen vorüber, aber ich wünsche Ihnen auf-
richtig, daß Sie nie darüber hinauskommen.
Sind Sie dünner geworden, Oberst?
Oberst: Bin etwas appetitlos.
Inspektor: Ein großes Kompliment für Mrs. Brocklesby.
Gegen Liebe hilft keine Kochkunst. (Er stellt,
zu Lydias großer Erleichterung, das Kochbuch
weg)
Lydia: Werden Sie bald pensioniert?
Inspector: Bald.
Lydia: Das wird ja für Sie sehr erfreulich sein.
Inspektor: Erst nach Abschluß jener zwei Fälle.
Ich glaube, ich erzählte Ihnen davon.
Lydia: Nur von einem.
Oberst: Auch mir nur von einem.
Inspektor: Sehen Sie, es macht genau zwei.
Oberst: Und wie weit sind Sie damit, Inspektor?
Inspektor: Weit und nicht weit. Wenn ich Ihnen ei-
nen Stimmungsbericht geben darf, so würde ich
sagen, die Dinge stehen gut.
Lydia: Das ist mir lieb zu hören.
Inspektor: Ich bin nun einmal eigensinnig. Bis ich
pensioniert werde, will ich die Angelegenheit
unter Dach haben.
Lydia: Wann werden Sie denn pensioniert?
Inspector: Morgen.

40
Oberst: Wollen Sie nicht einen Blick auf die be-
leuchteten Rosen werfen, Inspektor? (Alle ab)
(Perkins mit Dodd)
Dodd: Und wie befinden Sie sich, Perkins?
Perkins: Danke, Madam.
Dodd: Danke? Was heißt danke, Perkins? Danke ist kei-
ne Antwort.
Perkins: Der Haushalt ist wohlgeordnet, Madam. Der
Lohn zufriedenstellend.
Dodd: Sie wissen ganz gut, daß ich Sie nicht danach
gefragt habe.
Perkins: Entschuldigen Sie, Madam. Ich mißverstand
Sie wohl.
Dodd: Perkins. Was fühlen Sie, woran denken Sie?
Perkins: Ich fühle die Eitelkeit aller Dinge,
Madam. Ich denke des Todes, wie es die Weisen
vorschreiben.
Dodd: Sie sind nicht glücklich?
Perkins: Ich habe kein Recht, mich hierüber zu
äußern.
Dodd: Das ist anständig, Perkins, sehr anständig.
Wer erhält Englands Größe? Nicht seine
Obristen, die kenne ich. Nicht seine Kauf-
leute, die ich natürlich nicht kenne. Nicht
seine Dramatiker, die sind alle Iren. Also
wer, Perkins? Seine Dienerschaft. Englands
Dienerschaft erhält Englands Größe. Wieviel
Skandale würden täglich die Gesellschaft un-
seres Landes erschüttern, wenn nicht die
Verschwiegenheit des Personals dies verhin-
derte. Diskretion hat die Aufgabe der Tugend
übernommen. Die Weltgeschichte hat, glaube
ich, eine feine Nase für den Zeitpunkt, wo
eine Klasse verrottet ist und des Bestehens

41
unwert. Dem britischen Butler blieb es vorbe-
halten, die Weltgeschichte zu täuschen. Der
britische Butler ist die Karyatide des Empire.
Sie verstehen mich, Perkins?
Perkins: Sehr wohl, Madam.
Dodd: Gut. Und jetzt melden Sie mich. (Perkins ab)
Wie herzlos ich bin. Ich hatte gehofft, ich
wäre fähig, ohne Perkins auszukommen, und ich
habe mich nie gefragt, ob Perkins fähig ist,
ohne mich auszukommen. Ich muß Mamas Perlen
verkaufen. Die werden uns eine Weile über Was-
ser halten. Du hast etwas gutzumachen, Honoria.
(In den Garten ab)
(Perkins mit Fletcher)
Fletcher: Guten Abend, Perkins. Ich werde verfolgt.
Perkins: Sehr wohl, Sir. Handelt es sich um ein
Tier oder um ein Wesen höherer Intelligenz?
Fletcher: Weder noch, Perkins.
(Poll, dann Jennifer)
Fletcher: Sehen Sie sich das an. Anatomisch ist das
ganz ähnlich gebaut wie Shakespeare oder
Milton, aber der Intellekt? Versklavt vom
Fleisch.
Poll: Ich zweifle sehr, ob Mr. Milton meine Figur
hatte.
Fletcher: Sie versteht kein Wort.
Poll: Ich verstehe ganz gut, daß Sie schon wieder
eklig sind.
Fletcher: Ich bin nicht eklig, ich bin objektiv.
Poll: Eben. Wie können Sie mir gegenüber objektiv
sein, wenn ich Sie liebe?
Fletcher: Mögen Sie ein Stück Schokolade?
Poll: Immer.

42
Fletcher: Fein. Und was wollen Sie hier?
Poll: Ich bin Ihnen hinterhergelaufen. Ich laufe jetzt
immer hinter Ihnen her, weil ich Sie doch liebe.
Fletcher: Noch ein Stück?
Poll: Natürlich. Sie haben doch nicht etwa was für
mich übrig?
Fletcher: Die Psychologen sagen, Süßigkeiten seien
ein guter Ersatz für Liebe.
Poll: Nichts für mich. Bei meinem Liebesbedürfnis wö-
ge ich morgen zehn Zentner.
Perkins (fest): Miss Poll, Miss Jennifer. Ich fürchte,
ich kann Sie nicht anmelden.
Jennifer: Wie verständnisvoll, Perkins. Ich rede auch
so sehr viel lieber mit Ihnen.
(Lydia)
Perkins: Mr. Fletcher, Madam.
Lydia: Wie hübsch, daß Sie da sind, Mr. Fletcher.
Fletcher: Ich bedanke mich für die Einladung.
Lydia: Nur auf einen kleinen Cocktail, Mr. Fletcher.
lch sehe so gern junge Leute um mich. Sie
könnten mein Sohn sein, Mr. Fletcher, und ich
wäre so stolz auf Sie. Ihre Mutter muß Sie sehr
geliebt haben.
Fletcher: Ich weiß es nicht, Mrs. Brocklesby. Ich
war, was man ein schwieriges Kind nennt.
Lydia: Dann besonders, Mr. Fletcher. Dann besonders.
Mütter sind so. (Oberst, Inspektor, Dodd)
Mr. Fletcher ist gekommen, John.
Oberst: Ah, freut mich. Machen Sie Fortschritte,
junger Mann? Was haben Sie eigentlich ausge-
fressen?
Lydia: Mr. Fletcher ist Pädagoge, John. Er ist sehr

43
bekannt, er hat schon in der Zeitung gestanden.
Oberst: Entschuldigen Sie, Mr. Fletcher. Ich lese
niemals den Polizeibericht.
Lydia: John, was für einen Unfug du redest.
Oberst: Ja, ich wüßte selbst keinen vernünftigen
Grund dafür anzugeben. Es ist einfach eine Ab-
neigung.
Lydia: Wen haben Sie uns denn da mitgebracht?
Fletcher: Das sind unsere beiden Musterschülerin-
nen, Mrs. Brocklesby. Poll und Jennifer, zwei
überaus strebsame junge Damen und allen Töch-
tern unserer Insel ein leuchtendes Vorbild.
Poll: Nichts davon ist wahr. Mr. Fletcher sagt das,
um uns zu beschämen. Ein Trick, verstehen Sie?
Er benutzt immer Tricks. In Wirklichkeit sind
wir verwahrlost, und er hat uns auch nicht
mitgebracht.
Dodd: Poll ist ein sehr gescheites Kind. Ich habe
sie gelehrt, stets die Wahrheit zu sagen und
stets zu allen Menschen freundlich zu sein,
und sie sucht sich immer den Grundsatz von
beiden heraus, der ihr gerade paßt. Ich hoffe,
es ist Ihnen nicht unangenehm, daß ich meinen
beiden Großen erlaubt habe herzukommen?
Poll: Aber … (Hält den Mund)
Lydia: Durchaus nicht, liebe Honoria. Ich bin
überzeugt, sie sind nicht halb so schlecht,
wie es den Anschein hat. Was darf Perkins
Ihnen einschenken?
Dodd: Sherry bitte. Und die Kinder bekommen auch
ein kleines Gläschen Sherry.
Poll: Für mich Whisky, bitte.
Jennifer: Aber Poll.
Poll: Hör auf, mich zu erziehen. Du trinkst auch

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lieber Gin.
Jennifer (zeigt): Mit so viel Zitrone.
Poll: Ja, auf eine Flasche.
Perkins: Sherry für Miss Poll.
Inspektor: Ich bitte um Cognac, da kann nichts pas-
sieren.
Lydia: Was sollte denn passieren, Inspektor?
Inspektor: Kopfweh.
Lydia: Das ist wahr. Der Oberst nimmt auch gewöhnlich
Cognac.
Inspektor: Dann nehme ich vielleicht lieber Whisky,
wenn es Ihnen nichts ausmacht.
Perkins: Whisky, sehr wohl.
Lydia: Mir einen Angostura, Perkins.
Oberst: Mir auch.
Lydia: Dir? Ich denke, du magst keine Cocktails?
Oberst: Nein. Heute ja.
Lydia: John, ich hasse Männer, die nicht wissen,
was sie wollen.
Oberst: Ich weiß es ja, Liebste.
Lydia: Du wechselst deinen Geschmack immer in dem
Moment, wo ich ihn begriffen habe. Das ist
doch flatterhaft. Ich hoffte, du wärest ein
Charakter, und nun muß ich erleben, daß du
fähig bist, deinen Geschmack zu wechseln.
Oberst: Nimm ein Sandwich, Liebste. Weißbrot beru-
higt.
Lydia: Bring das Zeug aus meinen Augen, John.
Poll: Das sieht lecker aus. Nehmen Sie eins, Oberst
Brocklesby?

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Oberst: Danke, mein Kind. Danke. Ich glaube, ich
sollte nicht essen, wovon meine Frau nicht
ißt.
Poll (kniet sich in den Sessel, beugt sich vor):
Sandwich, Mr. Fletcher?
Dodd: Bitte denk daran, wie du sitzt, Poll.
Poll: Ich denke an nichts anderes. Ich beabsichtige,
Mr. Fletchers Sexualität zu erregen.
Dodd: Poll, das geht doch nicht.
Poll: Es ist wirklich beinahe unmöglich, Miss Dodd.
In diesem Mann ist eine Kälte! (Setzt sich auf
seinen Schoß) Sehen Sie, er legt nicht einmal
seinen Arm um mich. Ich bin kein Weib für ihn,
ich bin ein pädagogischer Frosch.
Fletcher: Ja, aber ein Frosch verfügt natürlich
über eine größere Lernfähigkeit.
Poll: Ich habe mal einen Film gesehen, von einem
Vivisektor. Der hatte ein weißes Studio mit
einem gekachelten Fußboden, und eine Blutrinne
in der Mitte. Der schnitt immer den Fröschen
bei lebendigem Leib den Bauch auf, und erbe-
rührte ihr Herz mit einer vernickelten Pinzette.
Wegen der Wissenschaft angeblich, aber in
Wahrheit war es ihm nur recht, wenn er ihnen
wehtat. Das war aufregend. Er hatte schmale,
kalte Augen und faszinierte die Frauen.
Fletcher: Sie übersehen, Poll, daß man dem Vivi-
sektor nicht nachsagen kann, er handle im
Interesse der Frösche, während ich meine
opfervolle Tätigkeit ausschließlich um Ihret-
willen …
Poll: Um meinetwillen! Nicht einmal meine Brust
hat er berührt! Sie haben nicht nur keine Ge-
fühle, Mr. Fletcher, Sie haben nicht einmal
Reflexe.

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Dodd: Poll, nein.
Lydia: Lassen Sie sie nur, Honoria. Das Kind ist doch
wirklich originell.
Poll (verläßt Fletcher): Sie wollen bloß, daß ich
weitermache, damit Sie allen Leuten erzählen
können, wie entzückend verworfen ich mich be-
nommen habe.
Inspektor: Kinder sind so intelligent.
Oberst: Das verwächst sich.
Dodd: Poll, du beleidigst Mrs. Brocklesby. Das ist
für mich sehr schmerzlich.
Poll (sofort): Entschuldigen Sie bitte, Mrs.
Brocklesby. Ich meine es nicht böse. Ich bin
einfach ein Opfer des Milieus, ich stamme aus
einer gutbürgerlichen Familie. (Setzt sich zu
Dodd) Es tut mir furchtbar leid, Miss Dodd.
Wir werden jetzt ganz still sitzen und über-
haupt nie wieder was anstellen.
Lydia: Wo ist meine Bonbondose?
Oberst: Welche Bonbondose denn?
Lydia: Die silberne Bonbondose, John, wo ist sie?
Oberst: Warum fragst du mich das?
Lydia: Sie stand auf dem Tischchen neben dir. Ich
habe sie dort gesehen.
Oberst: So nimm doch eins von meinen Bonbons.
Lydia: Von deinen, ha! Ich will meine eigenen Bon-
bons. Ich bin an sie gewöhnt. Es sind Marzi-
pankugeln.
Oberst: Meine ja auch. So nimm doch schon, und gut.
Lydia: Laß mich mit deinen schauderhaften Marzipan-
kugeln zufrieden. Und sage sofort, wo die Dose
ist.

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Oberst: Lydia, das ist doch jetzt völlig gleichgül-
tig.
Lydia: So?
Dodd: Mein Gott, das ist mir aber sehr peinlich,
Mrs. Brocklesby.
Inspektor: Weshalb? Haben Sie sie?
Dodd: Nein, natürlich nicht.
Fletcher: Machen Sie ein kriminalistisches Experi-
ment, Inspektor?
Inspektor: Ich? Sie haben doch vorhin damit herum-
gespielt, nicht wahr?
Fletcher: Gut beobachtet, ist schon halb verblödet.
Poll: Meine Fresse, ich lach mich tot. (Tut es.
Alle sehen sie ernst an) Ich habe sie nicht.
Mr. Fletcher kann mich durchsuchen.
Lydia: Ich weiß sehr gut, wer sie hat. John, ich
ersuche dich zum letzten Mal …
Oberst: Bitte regen Sie sich doch alle nicht auf.
Die Dose ist verloren, sie wird sich wieder-
finden.
Lydia: Ich soll mich nicht aufregen? Ich habe al-
len Grund, mich aufzuregen. So eine Quälerei.
Ich halte das nicht mehr aus. (Schreit)
Perkins: Verzeihen Sie, Madam. Darf ich mir erlau-
ben anzudeuten, daß sich die Dose wieder ein-
finden wird.
Lydia: Perkins, wie kommen Sie zu der Dose?
Perkins: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen,
daß ich sie besitze, Madam.
Lydia: Aber Sie haben etwas bemerkt, Perkins,
wie? Oh, John, John.
Perkins: Gestatten Sie, Miss Jennifer. (Nimmt die

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Dose aus ihrer Handtasche)
Jennifer: Oh, Perkins, wie wundervoll Sie wieder
waren. (Erklärt) Jedesmal, wenn ich etwas ge-
stohlen habe, blickt mir Perkins immer so
durchdringend in die Augen. Und wenn er dann
mit seiner männlichen Stimme sagt, “gestatten
Sie, Miss Jennifer”, - das spüre ich bis in
die Kniekehlen.
Dodd: Jennifer, ich bin sehr traurig. Ich glaubte,
du hättest verstanden, was ich dir über die
zivilisatorische Bedeutung des Eigentums er-
klärt habe.
Jennifer: Aber Miss Dodd, ich habe einen hochent-
wickelten Sinn für Eigentum, ich bin wie ver-
rückt darauf. Und seit ich bei Ihnen bin,
stehle ich doch wirklich nur noch nutzlose
Dinge.
Inspektor: Warum stehlen Sie sie dann überhaupt?
Jennifer: Sie haben noch nie gestohlen, wie?
Inspektor: Meines Wissens nicht.
Jennifer: Da wären Sie der erste.
Inspektor: Ich habe den anderen Beruf ergriffen.
Jennifer: Kriminaler, was? Nicht die halbe Befrie-
digung. Glauben Sie mir, es geht nichts über
das Gefühl, in Whitechapel geboren zu sein
und es dennoch bis zur Vollendung gebracht zu
haben. Würden Sie sich zutrauen, Mrs.
Brocklesby, am hellen Nachmittag bei
Talbridges,ein Kleid herauszubringen?
Lydia: Nein, o Gott.·
Jennifer (stolz): Es galt vor mir als undurch-
führbar. Oder halten Sie sich für fähig, ei-
nem Mann, während er Sie küßt, die Börse aus
der Gesäßtasche zu ziehen?
Lydia: Nein, dazu wäre ich nicht fähig.

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Jennifer: Meine Spezialität. Aber seit ich in den
Händen von Miss Dodd bin, hatte ich das Glück,
ein noch tieferes Vergnügen kennenzulernen,
das Vergnügen, die Gegenstände von Perkins
wieder abgenommen zu kriegen. Perkins ist der
einzige Gentleman, den ich kenne.
Oberst: Oho, bin ich keiner?
Jennifer: Sie? Nicht einmal Mr. Fletcher ist einer.
Wirklich, seit Perkins fort ist, weiß ich
nicht, wofür ich lebe. Sie müßten mein Zimmer
sehen, eine Rumpelkammer. Handschuhe, Schlüs-
sel, Feuerlöscher, Salzstreuer, Oberst
Brocklesbys Börse …
Oberst: Was?
Jennifer: Ja, wir hatten doch schon einmal das
Vergnügen, erinnern Sie sich nicht?
Lydia: Willst du sagen, daß Oberst Brocklesby dich
geküßt hat?
Jennifer: Ich habe doch wohl Geschmack. Was ich
aber sagen will: Es war ein Fehler von uns,
Miss Dodd, nicht zu bemerken, daß es ohne
Perkins nicht geht.
Dodd: Es scheint so. Mrs. Brooklesby, als ich heu-
te Ihrer freundlichen Einladung folgte, hatte
ich die geheime Absicht, eine Bitte an Sie zu
richten.
Oberst: Schon wieder. Wie lange, glauben Sie, ha-
ben wir Lust, Ihnen schwer verdientes Geld
in den Rachen zu werfen mit dem einzigen Er-
folg, daß in dieser Stadt für verbrecheri-
schen Nachwuchs reichlich gesorgt ist?
Dodd: Ich wollte Sie bitten, mir Perkins zurückzu-
geben. Sie sehen, wie außerordentlich unent-
behrlich er für uns ist.
Oberst: Was wollen Sie haben? Perkins? Mit Ver-

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gnügen, Miss Dodd. Recht gern.
Lydia: Wir sind natürlich äußerst zufrieden mit
Perkins. Aber Sie haben ältere Rechte, liebe
Honoria.
Dodd: Also abgemacht. Und herzlichen Dank, Perkins,
nächste Woche sind Sie wieder bei mir.
Perkins: Sehr wohl, Madam.
Oberst: Eh, aber sagen Sie … Als Sie Perkins gehen
ließen, war es doch, weil … Ich meine …
Dodd (lügt): Meine Verhältnisse haben sich unerwar-
tet gebessert, Oberst Brocklesby. Durch eine
Erbschaft, ja. Ganz plötzlich.
Oberst: Aber das freut mich, Miss Dodd. Ungeheuer
freut mich das, auf Ehre. Um die Wahrheit zu
sagen, Miss Dodd, ich hätte gern ein paar Worte
mit Ihnen gesprochen.
Dodd: Mit Vergnügen, Oberst. Aber ich glaube, es ist
Zeit, nachhause zu gehen. Die Kinder müssen ins
Bett.
Oberst: Nur ein paar Worte.
Dodd: Also macht euch fertig, Mädchen. Und ent-
schuldigt euch bei Mrs. Brocklesby, bedankt euch
für den ungewöhnlich reizenden Abend.
(Alle gehen ab außer Oberst, Dodd, Perkins)
Inspector (abgehend): Es war wirklich sehr ermuti-
gend, bei Ihnen zu sein, Mrs. Brocklesby. Hier
geht alles nach Wunsch, scheint mir. Eine Oase
in dieser Welt der Enttäuschungen.
Oberst: Ihr Bedürfnis nach diesem Dienstboten, liebe
Miss Dodd, hat meine Gedanken wieder einmal auf
Ihr Schicksal gelenkt. Es ist ein einsames Le-
ben ohne Mann, nicht wahr?
Dodd: Besser als ein einsames Leben mit Mann, das
ist mein Trost.

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Oberst: Perkins, Sie können später abräumen.
Perkins: Sehr wohl, Sir. (Ungern ab)
Oberst: Ich bewundere Sie seit langer Zeit, liebe
Miss Dodd. Eine kleine, zierliche, liebens-
würdige Person, erfüllen Sie in diesem harten
Leben Ihre Aufgabe, ganz allein, wenn ich
nicht irre. Denn Sie sind doch ohne Verwandte?
Keine Geschwister, Kinder, Neffen, wie? Ich
rechne Sie zu den großen englischen Erziehern,
liebe Miss Dodd, zu den Cecil Rhodes und Lord
Kitcheners. Ich hoffe, Ihnen ist nicht unange-
nehm, daß ich Sie bewundere?
Dodd: Nicht im mindesten, Oberst. Ich sagte, kein
Mann sei besser als ein dummer Mann, aber na-
türlich ist der dümmste Flirt besser als kein
Flirt.
Oberst: Von einem überlegenen Feind geschlagen zu
werden, ist ehrenvoll. (Zu Perkins, der sich
hereingeschmuggelt hat). Perkins, ich ersuche
Sie, das Abräumen zu verschieben.
Perkins: Sehr wohl, Sir. (Ab)
Oberst: Sehen Sie, allein die Liebe und die Fürsor-
ge, die Sie diesen entzückenden Kindern entge-
genbringen. Meine Lydia besitzt leider sehr
wenig von diesen Tugenden. Ich bedarf der Lie-
be und der Fürsorge. Obgleich viele mich für
einen harten Mann halten würden, so bin ich
doch sehr verletzlich. Ja, aus einem kurzen
Irrtum folgt oft ein langes Unglück. Aber,
lassen wir das. Ich wollte Ihnen nur sagen,
Honoria, daß ich, seit ich Sie kenne, wieder
an das weibliche Geschlecht glaube.
Dodd: Was für ein Unsinn, Oberst. Sie haben eine
wundervolle Frau. Heute war sie ein bißchen
nervös, vielleicht fühlt sie sich nicht ganz
wohl.

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Oberst: Nicht ganz wohl, aber das ist es. Welcher
Scharfblick. Meine liebe Miss Dodd, Lydias
Gesundheitszustand macht mir die ernsthafte-
sten Sorgen. (Zu Perkins) Perkins, ich glaube,
deutlich genug ausgedrückt zu haben, daß Sie
hier überflüssig sind.
Perkins: Sehr wohl, Sir.
Dodd: Ihr Verhalten enttäuscht mich, Perkins.
Perkins: Entschuldigen Sie, Madam. (Ab)
Oberst: Sie weigert sich, einen Arzt zu konsultie-
ren. Aber mir macht man nichts vor. Wir alten
Soldaten haben einen sechsten Sinn dafür, wen
Freund Hein zum letzten Duell herausgefordert
hat. Honoria, wenn ich einmal des Trostes be-
dürfen werde, werde ich dann Trost finden?
Dodd: Was Sie sagen, ist alles sehr merkwürdig,
Oberst. Gute Nacht, Oberst.
Oberst: Ich werde ihn finden. Ich spüre es. (Küßt
ihr die Hand. Lydia kommt) Ich habe Miss Dodd
ein paar Ratschläge gegeben, Liebste, wo sie
ihr Vermögen anlegen kann.
Lydia (freundlich): Sie können sich John völlig
überlassen. In Geldsachen ist er ein Genie.
(Lydia und Dodd ab)
Oberst (reibt sich die Hände, sagt mehrmals): Die
bringt keinen um. (Lydia kommt zurück. Er er-
schrickt) Hilfe!
Lydia: Seit wann bist du schreckhaft?
Oberst: Eh. Widerwärtige Herumschleicherei.
Lydia: Nimm dich doch zusammen.
Oberst: Ich hatte geglaubt, eine Frau zu heiraten,
die mir einen gemütlichen Lebensabend in ei-
nem gemütlichen Heim sichert; nun ist es eine
Meduse.

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Lydia: Brocklesby, sei ein Mann.
Oberst: Ich bin ein Mann.
Lydia: John, bist du sicher?
Oberst: Ich bin ein Mann. Des Mannes Trachten ist
auf Ungeheures gerichtet. Mächtig ist sein Pla-
nen, die Welt ist der Ort seines Handelns. Also
bedarf er besonders der Pflege. Die eisige Käl-
te seines Intellekts erfordert die wohlige Wär-
me seines Heims. Ruhe will ich haben, verstehst
du. Meine Ruhe.
Lydia (verächtlich): Deine Ruhe.
Oberst: Ruhe, zum Teufel, jawohl. Ruhe, Ruhe. Ruhe
und keine Hölle.
Lydia: John, soll das heißen, daß du mir nicht ver-
traust?
Oberst: Im Gegenteil. Ich traue dir alles zu.
Lydia: John, Vertrauen ist die Grundlage einer guten
Ehe.
Oberst: Du wagst es, von Vertrauen zu sprechen?
Lydia: Kannst du nicht einen Moment aufhören, die
Welt vom sentimentalen Gesichtspunkt zu be-
trachten? Du versuchst, mich umzubringen,
nicht wahr?
Oberst (geschockt): Nein, nein. Das würde ich nicht
so ausdrücken …
Lydia: Ich versuche, dich umzubringen.
Oberst: Oh.
Lydia: Das ist eine Vertrauensgrundlage.
Oberst: Was für eine unbritische Art, über diese
intimen Beziehungen zu sprechen.
Lydia: Offenheit ist vielleicht nicht delikat,
aber gelegentlich ist sie praktisch. Es hat

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sich herausgestellt, John, daß wir gleich
stark sind. Wenn wir fortfahren, uns zu be-
kämpfen, werden wir uns aufreiben. Aber es
hat, so weit ich sehe, keinen Zweck, uns ge-
genseitig umzubringen; erbtechnisch, meine
ich.
Oberst: Was sollen wir tun?
Lydia: Schließen wir Frieden, John.
Oberst: Das hättest du eher sagen können.
Lydia: Ein Schuft, wer zu früh aufgibt. Ich hatte
noch allerhand Chancen, dich zu erledigen,
Liebster.
Oberst: Hast du gedacht .
Lydia: Aber es zeigte sich, du warst der erste mei-
ner Männer, der mir gewachsen war. Offen, John,
du bist der erste meiner Männer, der mir sym-
pathisch ist. Wenn ich dich diese Minute um-
bringen könnte, ich bin mir nicht sicher, ob
ich es täte.
Oberst: Lydia, du bist berückend. (Küßt ihr die
Hand)
Lydia: Also, Waffenstillstand?
Oberst: Waffenstillstand.
Lydia: Freundschaft?
Oberst: Freundschaft. Aber Lydia, da ist noch eine
Frage, die mich quält.
Lydia: Quäl dich nicht, Liebster. Sag es.
Oberst: Sind die Sardellenbrötchen in Ordnung?
Lydia: Was mich betrifft, ja.
Oberst: Die Leberwurst ist gut. Der Käse auch.
Lydia: Das hätte ich wissen wollen.
(Sie stürzen sich auf die Platten und fressen)

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Oberst: Lydia, das feiern wir. Champagner muß her.
(In den Weinkeller ab)
(Auftritt eines Tigers. Perkins, unter einem
Tigerfell versteckt, schleicht sich ins Zimmer
und bleibt zu Füßen der fressenden Lydia lie-
gen. Knall)
Oberst (kommt, mit Sekt): Auf die einzige Frau der
Welt, die ich verehre.
Lydia: Auf das Vertrauen.
Oberst: Sag mal, Lydia, wie bist du eigentlich in
unseren Beruf gekommen?
Lydia: Auf ganz natürliche Weise. Ich wurde mit
siebzehn Jahren verheiratet. An einen Herrn,
der fünfzig war und einen Bauch und eine Glatze
hatte. Ich fand ihn scheußlich. Aber mein Vater
sagte, du heiratest doch das Geld, nicht den
Mann. Gut, sagte ich mir. Wenn ich das Geld
heirate, dann sehe ich nicht ein, warum ich den
Mann aufheben soll.
Oberst: Das Geld heiraten, das ist ein guter Grund-
satz.
Lydia: Ja, in dem Sinn bin ich eigentlich nie Witwe
geworden. (Oberst kichert, sie fährt fort) Un-
glücklicherweise hatte Inglethorpe einen Sohn …
Oberst: Wer?
Lydia: Mein erster Mann. Inglethorpe. Kennst du ihn
etwa?
Oberst: Erzähle nur weiter.
Lydia: Er hatte einen kleinen Sohn, der den Hauptteil
des Vermögens geerbt hätte. Ich mußte das auf-
säßige Scheusal adoptieren.
Oberst: Das war einfach.
Lydia: Es war nicht einfach, Inglethorpe nach Kali-
fornien zu bekommen.

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Oberst: Warum Kalifornien?
Lydia: Nur nach kalifornischem Recht kannst du ein
adoptiertes Kind beerben. So liegt
Inglethorpes stilles Grab in einem Palmenhain
bei Sun City.
Oberst: Und das des Kindes?
Lydia: Es ist das kühle Meer. Gibst du mir noch ein
Sandwich, John? Ja, das war ein eleganter Tod.
Oberst: Wie hast du es gemacht?
Lydia: Nach Inglethorpes Unfall kehrten wir nach
England zurück und ließen uns an der Küste
nieder. Das Kind hatte in Amerika paddeln ge-
lernt. Ich verbot ihm, in Gegenwart von Zeu-
gen, im Meer zu paddeln. Schriftlich, wenn ich
mich gut erinnere.
Oberst: Eh, und?
Lydia: Ich sagte dir doch, es war ein aufsäßiges
Kind. Es ertrank.
Oberst: Du rechnetest damit, daß es tun würde, was
du ihm verboten hattest. Wie geschickt von
dir. Siehst du, Lydia, Geschicklichkeit steht
dir. Ich liebe weibliche Frauen.
Lydia: Das ist nun schon alles, John. Die Sache
leuchtete mir ein. Ich heiratete Mr. Musgrave,
Mr. Clithering, Mr. Knox, Mr. Meredith, Mr. Barbent
und Mr. Brocklesby.
Oberst: Sei nicht taktlos, Liebling. Weißt du, wer
ich bin?
Lydia: Nein. Bist du wer?
Oberst: Doch. Kein Geringerer als der Vetter deines
ersten Mannes.
Lydia: Nicht möglich. Du bist Vetter John? John,
das Biest? Das Skelett im Inglethorpeschen Fa-
milienschrank, was?

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Oberst: Ah, du hast von mir gehört?
Lydia: Nur Gutes.
Oberst: Ich sehe. Und du, Liebling, bist die direkte
Ursache meiner Karriere. (Küßt ihr die Hand)
Ich hatte Schulden. Enorme Schulden. Nun sind
Schulden nichts Unehrenhaftes für einen
Gentleman, besonders in Indien nicht, aber da
war ein völlig verkalkter General, kurz, die
Sache hatte ihre unangenehmen Seiten. Die Ret-
tung war natürlich Vetter Inglethorpe in Ka-
lifornien. Aber er starb, mit deiner gütigen
Hilfe, meine Liebe, und alles, was ich erhielt,
war ein äußerst, wirklich ein äußerst unlie-
benswürdiger Brief von seiner Witwe. Wie ich
dich gehaßt habe, damals.
Lydia: Entschuldige, John. Wenn ich geahnt hätte …
Oberst: Ich war vollkommen am Ende. Andere hätten
sich auf der Stelle erschossen, ich heiratete.
Die gute Mathilde war wirklich sehr reich.
Doch es ging nicht.
Lydia: War sie nicht reich genug?
Oberst: Glaube mir, Lydia, es war mir niemals ums
Geld zu tun. Aber sie beraubte mich des höch-
sten Gutes, das ein Mann besitzt. Der Freiheit.
Ich war keine drei Wochen vermählt, da er-
schien sie vor meinen Augen.
Lydia: Wer?
Oberst: Die große, dunkle, rätselhafte …
Lydia: Wer ist es, von dem du sprichst, John?
Oberst: Die Kara Kum.
Lydia: Die Kara wer?
Oberst: Die Wüste, Liebling. Jedesmal, wenn meine
Flitterwochen vorüber waren, überkam mich
seither das Gefühl der Weite, der Unendlich-

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keit. Die Kara Kum nahm von mir Besitz, von mei-
nen Gedanken und Träumen. Und …
Lydia: Was seid ihr Männer für Heuchler. Erzähle mir
doch nicht, du habest deine Frauen wegen dieser
Kara Dings umgebracht, statt wagen ihres Vermö-
gens.
Oberst: Es war nicht das Geld, Lydia. Im Innersten
war es nicht das Geld.
Lydia: Pah.
Oberst: Lydia, du bist so wunderbar weiblich. Voll-
kommen ohne Gefühl. Macht es dir etwas aus,
wenn ich dir sage, daß ich dich hinreißend
finde?
Lydia: lch finde dich einfach vollkommen, John. Las-
sen wir uns scheiden?
Oberst: Scheiden? Du hast doch meinen Antrag abge-
lehnt?
Lydia: Damals kannte ich dich nicht, wie ich dich
jetzt kenne, John.
Oberst: Es kommt natürlich etwas überraschend.
Lydia: Laß mich hoffen, John.
Oberst: Lydia, ich willige ein.
Lydia: Wann?
Oberst: Wann du willst, Geliebte.
Lydia: So bald als möglich.
Oberst: Und für immer und allezeit. (Umarmung)
Lydia: Und jetzt bin ich müde. Ah, ich werde
schlafen wie ein Dachs.
Oberst: Und ich. Seit sechs Nächten habe ich kein
Auge zugetan.
Lydia: Du Ärmster.

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Oberst: lch hatte immer eine hohe Meinung von deinen
Fähigkeiten
Lydia: Du allerliebster Schmeichler. (Sie gehen eng
umschlungen die Treppe hinauf und in ihre Zim-
mer)
Oberst: Gute Nacht und süße Träume.
Lydia: Gute Nacht, mein Einziger.
Oberst: Gute Nacht.
Lydia: Gute Nacht.
(Beide ab)
Perkins (entsteigt dem Tiger): An diesem denkwürdi-
gen Abend entsteigt ein Mensch einem Tiger,
und eine ganze Republik von Tigern grinst aus
zwei Menschen. Oh, mißratene Schöpfung. (Er
gießt sich ein Glas Sekt ein, schüttet es
hinunter)
(Eins der beiden Telefone schnarrt. Er hebt
ab)
Jawohl, Sir,·Perkins. Nein, es befindet sich
niemand in der Halle. Jawohl, Sir, ich verbin-
de. (Wählt) Ist dort Rechtsanwalt Seymore?
Oberst Brooklesby wünscht Sie zu sprechen, Sir.
Allerdings, jetzt noch.
(Das andere Telefon)
Perkins. Jawohl, Madam, ich verbinde. (Wählt)
Sir Arthur Hoggs bitte. Sir Arthur? Mrs.
Brocklesby wünscht Sie zu sprechen, Mylord.
Selbstverständlich ist es dringend. (Er ver-
folgt beide Gespräche)
Er verabredet sich mit seinem Rechtsanwalt.
Sie verabredet sich mit ihrem Rechtsanwalt.
Für morgen früh. Für morgen früh. Ah, er will
sein Testament ändern. Sie will ihr Testament
ändern. Enterben? Tatsache, er will sie ent-
erben. Sie will ihn auch enterben. Total.
Vollständig. Um zehn Uhr. Morgens. (Hängt ein)

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Ja, das Vertrauen. Es ist eine unwiderstehliche
Macht, sofern keine gegensätzlichen Interessen
vorliegen, Wo es nichts zu erben gibt, gibt es
nichts zu morden. Das heißt, ab morgen früh,
zehn Uhr, sind sie voreinander sicher. Die un-
zähligen Menschenfallen, die dieses Haus zu
einer Mördergrube machten, die Gifte, Fallöcher
und Katapulte werden verschwinden. Harmonie
wird ihren Einzug halten. Man wird sich in Zart-
heit und Verständnis trennen. Ha! So trennen
sich zwei geschwollene Vipern, die entdeckt ha-
ben, daß es ihnen nicht möglich ist, sich gegen-
seitig zu verschlingen, und sich aus ihrem ab-
scheulichen Kreis lösen und, unhörbar, nach
verschiedenen Richtungen ins Gras der sommerli-
chen Wiese entgleiten, gierend, den kochenden
Zahn ins wehrlosere Opfer zu schlagen. Oh, Miss
Dodd! Wer wird Sie retten, Madam? Wer behütet
Ihr gütiges Leben? Wohlan, es gilt zu handeln.
(Er denkt nach, geht zum Telefon, telefoniert)
Perkins, Sir. Ich bitte, die Störung zu entschul-
digen; hier ist ein Anruf für Sie. Der Herr
nennt seinen Namen nicht, Sir. Er sagt, er sei
aus der Kanzlei von Sir Arthur. Jawohl, Sir, ich
verbinde. (Mit verstellter Stimme) Hallo, Oberst?
Oberst Brocklesby? Ihre Frau beabsichtigt, Sie
zu enterben. Morgen, um zehn. Ja. Bis dahin ha-
ben Sie noch Zeit. Zeit wofür? Hähä-hähä.
(Hängt ein, telefoniert)
Perkins, Madam. Ein dringender Anruf von
Seymore, Seymore, Filby und Seymore. Ich weiß,
Madam, es ist die Anwaltsfirma von Oberst
Brocklesby. Aber der Herr verlangt ausdrücklich
Sie. Jawohl, Madam, ich verbinde. (Mit verstell-
ter Stimme) Mrs. Brocklesby? Interessiert es Sie
zu erfahren, daß Sie morgen enterbt sind? Von
Ihrem Mann, ganz richtig. Morgen um zehn, bis da-
hin haben Sie noch Zeit. Wie? Tut nichts zur
Sache. Wie? Ein Freund.
(Hängt ein)

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Nichts vereinbart sich mit den Pflichten eines
Butlers weniger als Indiskretion. Ich glaube
jedoch, daß es zu meinen Pflichten als Mensch
gehört, dieser Sache ein Ende zu setzen. (Ab)
(Pause)
(Lydia und der Oberst schleichen, in Nacht-
kleidern, aus ihren Zimmern; begegnen sich.
Lydia schreit)

62
DRITTER AKT

Am Abend danach. Dieselbe Szene. Portieren vor den


Fenstern. Sarg.
Inspektor (kommt mit einem Kranz, stellt ihn an den
Sarg. Die Schleife trägt die Inschrift:
In alter Treue. Er bleibt vor dem Sarg stehen.
Der Oberst kommt herein. Inspektor, ohne sich
umzudrehen): Gab es irgendwelche Mißhelligkei-
ten zwischen der Verstorbenen und Ihnen?
Oberst: Nein.
Inspektor: Niemals?
Oberst: Bei unserem letzten Abendessen tranken wir
_\
zwei Flaschen Champagner zusammen. Worauf,
glauben Sie, daß wir angestoßen haben? Auf
Mißhelligkeiten?
Inspektor: Die Flaschen wurden gefunden. Auch die
Gläser. Sie lebten also in vollkommenem Ein-
vernehmen?
Oberst: Wir sind keine Engel, Inspektor. Wir haben
alle unsere Launen, unser Machtbedürfnis, un-
sere Interessen. Was ich sagen kann, ist, wir
führten eine glückliche bürgerliche Ehe.
Inspektor: Wie oft waren Sie verheiratet, Oberst?
Oberst: Sechs Mal. lch meine, sieben. Ich kann mich
mit ihrem Tod nicht abfinden.
Inspektor: Waren Ihre früheren Ehen glücklich?
Oberst: Alle.
Inspektor: lch habe nicht immer getan, was ich ge-
wußt habe, noch immer gewußt, was ich getan
habe. Aber in einem Punkt bin ich Herr meiner
selbst geblieben: ich habe nie geheiratet.

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Oberst Brocklesby, Sie nennen eine Ehe dann
unglücklich, wenn beide Teile am Leben blei-
ben?
Oberst: Tue ich das?
Inspektor: Sieben glückliche Ehen, sagen Sie, mit
tödlichem Ausgang?
Oberst: Heiraten ist immer ein Risiko.
Inspektor: Für Ihre Frauen.
Oberst: Für mich, Inspektor. Sterben ist leicht.
Übrigbleiben ist schwer. Ich will nicht sagen,
daß man sich nicht mit der Zeit daran gewöhnt;
woran gewöhnt sich der Mensch nicht, wie?
Aber es ist auch eine große Anhäufung von Leid,
die sich auf die Seele legt wie der Ruß der
Jahre auf ein altes Haus.
Inspektor: Oberst Brocklesby ...
Oberst: Sie haben mich den ganzen Vormittag ver-
hört. Was soll das?
Inspektor: Reine Routine, Oberst.
Oberst: Ich verstehe. Eine Formalität.
Inspektor: Ja.
Oberst: Ich sage Ihnen, der Sekt war schuld.
Inspektor: Erzählen Sie die Vorgänge des gestrigen
Abends der Reihe nach.
Oberst: Wir waren in heiterster Stimmung zu Bett
gegangen. Nach einiger Zeit stellte ich fest,
daß ich nicht schlafen konnte.
Inspektor: Woran lag das?
Oberst: Am Sekt. Ich stand also wieder auf.
Inspektor: Warum?
Oberst: Warum …

64
Inspektor: Beantworten Sie meine Frage.
Oberst: Da es keinen Zweck hatte, im Bett zu liegen,
war es vermutlich das Nächstliegende, das Bett
wieder zu verlassen. Als ich zur Tür heraus kam,
traf ich auf Lydia, die ebenfalls nicht schlief.
Sie lachte sehr, als sie mich sah; wir hatten
uns ja eben vorher feierlich verabschiedet.
Inspektor: Weiter.
Oberst: Wir entdeckten, daß wir beide Appetit auf
Mixed Pickles hatten, und Lydia ging in den Kel-
ler, um sie zu holen. Perkins war schon zu Bett.
Nach einer Weile fiel mir auf, daß Lydia nicht
wiederkam.
Inspektor: Was taten Sie inzwischen?
Oberst: Ich las den Leitartikel der Times.
Inspektor: Was taten Sie noch?
Oberst: Nichts weiter.
Inspektor: Wie lange blieb Mrs. Brocklesby im Keller?
Oberst: Lange. Viel zu lange.
Inspektor: Und Sie lasen die ganze Zeit über den
Leitartikel?
Oberst: Mindestens zehn Mal, Inspektor, was eine
große Neuerung in den Beziehungen zwischen der
Times und ihrem Publikum darstellen dürfte.
Inspektor: Was stand in dem Leitartikel?
Oberst: Ich kann ihn auswendig. (Zitiert) Unsere
alte Insel gleicht einem Schiff zwischen zwei
sich bekämpfenden Stürmen. Wir navigieren, wäh-
rend der östliche Orkan und der westliche
Tornado ihre Blitz gegeneinander schleudern.
Für uns kann es nur einen Kurs geben, den ent-
schlossenen Kurs nationale Selbständigkeit.
Wie ein Mann müssen alle Briten zu ihren west-
lichen Bundesgenossen halten, ohne indessen die

65
Stimmen derjenigen zu überhören, die die Ver-
nunft weltweiter Handelsbeziehungen …
Inspektor: Schon gut. Und was taten Sie dann?
Oberst: Dann geriet ich in Sorge und ging nachse-
hen. Und da fand ich sie.
Inspektor: Wo?
Oberst: Am Fuß der Kellertreppe. Tot, zwischen
Pickles. Sie muß auf dem Rückweg hintenüber
von der Treppe gestürzt worden sein.
Inspektor: Gestürzt worden? Von wem?
Oberst: Vom Sekt.
Inspektor: Verstehe. Oberst Brocklesby. Bitte be-
sinnen Sie sich, so genau Sie können. Wie
lange haben Sie auf sie gewartet?
Oberst: Eine Viertelstunde.
Inspektor: Wenn das wahr wäre, Oberst, wäre Ihre
Geschichte wahr.
Oberst (erstaunt), Ja?
Inspektor: Wir haben natürlich festgestellt, wie-
viel Zeit eine Person höchstens benötigt,
um in den Keller zu gehen, die Tür zu öff-
nen, ein Glas herauszunehmen und zurückzu-
kommen. Sie benötigt, sämtliche natürlichen
Verzögerungen einberechnet, sechs Minuten.
Wenn Ihre Frau in fünfzehn Minuten nicht zu-
rückgekehrt war, kann das nur eines bedeu-
ten.
Oberst: Daß sie tot war.
Inspektor: Ja. (Klingelt) Sollte sich indessen
herausstellen, daß Sie ihr bereits nach fünf
Minuten folgten …
Perkins (kommt)! Sie haben geklingelt, Sir?
Inspektor: Perkins, was taten Sie am gestrigen

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Abend als letztes?
Perkins: Ich entschlief, Sir.
Inspektor: Ich meine, bevor Sie zu Bett gingen.
Brachten Sie den Sekt für Mr. und Mrs.
Brocklesby?
Perkins: Nein, Sir. Der Besuch des Weinkellers ist
das ausschließliche Vorrecht von Mr. Brocklesby.
Ich wartete, bis die Herrschaften sich zurück-
gezogen hatten, und legte mich dann auch hin.
Inspektor: Weiter wissen Sie nichts?
Perkins: Doch, Sir.
Inspektor: Was?
Perkins: Ich hörte einen Schrei.
Inspektor: Einen Schrei?
Perkins: Einen Schrei, Sir. Und zwar um 32 Minuten
und 20 Sekunden nach Null Uhr. Ich habe die
Zeit auf dem Wecker festgestellt und sofort
notiert.
Inspektor: Warum taten Sie das?
Perkins: Ich führe ein Tagebuch, Sir.
Inspektor: Der Schrei kam aus dem Keller, nicht
wahr?
Perkins: Ich bedaure, Ihre Frage verneinen zu müs-
sen, Sir. Er kam von der Galerie.
Inspektor: Hat Ihre Frau geschrien, Oberst
Brocklesby?
Oberst: Ja, als sie mich plötzlich sah.
Inspektor: Sagten Sie nicht, sie lachte?
Oberst: Erst schrie sie, dann lachte sie.
Inspektor: Warum schrie sie?
Oberst: Sie wird mich nicht erkannt haben.

67
Inspektor: Sie meinen, wenn sie Sie erkannt hätte,
hätte sie nicht geschrien?
Oberst: Natürlich nicht.
Inspektor: Perkins, ich hoffe sehr, daß Sie noch
mehr gehört haben.
Perkins: Gewiß, Sir. Ich hörte die Herrschaften
miteinander sprechen.
Inspektor: Nach dem Schrei?
Perkins: Jawohl, Sir.
Inspektor: Und dann?
Perkins: Dann begab sich Mrs. Brocklesby in den Kel-
ler.
Inspektor: Wann war das?
Perkins: Um 16 Minuten vor 1 Uhr, Sir. Hiernach be-
gab sich Mr. Brocklesby in den Keller.
Inspektor: Sofort?
Perkins: Nicht unmittelbar, Sir. Es fehlten 5 Sekun-
den bis 1 Uhr.
Inspektor: Also über eine Viertelstunde später?
Perkins: Jawohl, Sir. Anschließend kam Mr. Brocklesby
zu mir und sagte, daß Mrs. Brocklesby verun-
glückt sei. Ich benachrichtigte die Polizei und
den Arzt.
Inspektor: Ja. Ihre Angaben waren sehr wertvoll,
Perkins. Sie können gehen.
Perkins: Sehr wohl, Sir. (Ab)
Inspektor: Das ist der undurchsichtigste Tatbestand,
der mir je begegnet ist. Ein Mordfall im Haus
unbescholtener, tugendhafter Leute, das ist
nicht mehr als die Regel. Aber ein echter Un-
glücksfall im Haus eines Mörders … Zum Ver­
rücktwerden.

68
Oberst: Ihr Taktgefühl sollte Ihnen verbieten, mich
so zu nennen, bevor Sie über Beweise verfügen.
Inspektor: Ich habe ja Beweise. Beweise für Ihre Un-
schuld. Was ist los, Brocklesby, werden Sie
alt? Na ja, na ja. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie mir einen Raum überlassen könnten, um mei-
nen Bericht zu schreiben. Meine letzte Amts-
handlung.
Oberst: Hadern Sie nicht mit sich, Inspektor. Des
Menschen Tun ist unvollkommen. Keiner be-
schließt sein Leben mit einer glatten Bilanz.
Wollen Sie in die Bibliothek gehen? (Inspektor
ab. Oberst klopft gegen den Sarg.) Hast du gut
zugehört, he? Ärgerst du dich? Du listige alte
Ratte. Du warst zu schlau. Es geht nichts über
die direkte Methode. Ein kleiner Stoß, was
bleibt? Eine Leiche und kein Beweis. (Ab)
(Kommen Perkins und Jennifer. Sie bringt einen
Kranz, “unserer Wohltäterin", stellt ihn an
den Sarg.)
Jennifer: Die arme Mrs. Brocklesby. Es ist schreck-
lich, tot zu sein, meinen Sie nicht auch?
Perkins: Hierüber läßt sich schwer Genaueres sagen,
Miss Jennifer.
Jennifer: Keiner möchte es doch wirklich. Was ist
denn das für ein Medaillon, da auf dem Sarg?
Perkins: Ein Talisman, wie Madam zu sagen pflegte.
Er enthält, wenn ich nicht irre, ein Bildnis
ihres ersten Mannes.
Jennifer: Ob sie ihn jetzt wiederfindet?
Perkins: Es ziemt sich wohl, daran zu glauben.
Jennifer: Aber sie hatte mehrere, nicht wahr?
Perkins: Sechs, Miss Jennifer.
Jennifer: Ich bin so bedrückt, Perkins. Nicht weil

69
ich Mrs. Brooklesby so sehr hätte leiden
mögen, obgleich sie sich natürlich so be-
zaubernd verdient um uns gemacht hat. Es ist
einfach der Abschied. Das Gefühl einer unab-
änderlichen Trennung, einer Trennung für im-
mer. Perkins, ich könnte Sie nie verlassen.
Perkins: Auch ich würde das überaus bedauern, Miss
Jennifer.
Jennifer: Wissen Sie, warum ich immer noch stehle,
Perkins?
Perkins: Aus einem gewissen künstlerischen Ehr-
geiz heraus, vermute ich.
Jennifer: Unsinn. Was für einen Zweck hätte eine
Kunst, die einen nicht bereichert? lch stehle,
um Sie nicht verlassen zu müssen, Perkins.
Miss Dodd würde meine Erziehung für vollendet
erklären und mich auf der Stelle zu irgend so
einem vulgären Minister oder Parlamentsmit-
glied als Sekretärin vermitteln, wenn ich
nicht gelegentlich Rückfälle in mein altes
Laster inszenieren würde. Perkins, wenn ich
Sie verlöre, würde ich mich töten wie eine
indische Witwe. Natürlich würde ich nie sa-
gen, daß die Inder uns in irgendeinem Punkt
überlegen sind, aber wenn Sie mich verließen,
würde ich handeln wie sie.
Perkins: Ich glaube nicht, daß Sie das tun sollten,
Miss Jennifer.
Jennifer: Das können Sie nicht verhindern.
Perkins: Vielleicht könnte ich den schmerzlichen
Fall einer solchen Trennung hinausschieben,
Miss Jennifer. Darf ich Sie fragen, ob Sie
sich ein Leben als Mrs. Perkins vorzustellen
vermöchten?
Jennifer: Was meinen Sie damit?
Perkins: Miss Jennifer, ich möchte Sie um die große

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Ehre ersuchen, mir Ihre Hand fürs Leben zu rei-
chen.
Jennifer: Ich bin sehr erfreut über Ihren Vorschlag,
Mr. Perkins, aber auch überrascht. Sie haben nie-
mals besondere Gefühle für mich gezeigt.
Perkins: Ich erachte es nicht für passend, Gefühle
zu offenbaren, außer in denjenigen Augen-
blicken, die dies nach allgemeiner Überein-
kunft erfordern. Um einen solchen Augenblick
dürfte es sich jetzt handeln. Liebe Miss
Jennifer, vom Tag Ihrer Einlieferung an war ich
bezaubert von Ihrem zierlichen und angenehmen
Wesen, von der Zartheit Ihrer Haut, der Dunkel-
heit Ihrer Augen und der Flinkheit Ihrer Fin-
ger. Ich habe in der darauffolgenden Zeit Ihre
Anmut und die Anmut Ihrer Meinungen in zuneh-
mendem Maß schätzen gelernt, und ich erlaube
mir auszudrücken, daß ich Sie, aus den genann-
ten und einer Reihe ähnlicher Gründe, aufs
Innigste liebe.
Jennifer: Ich bin überaus glücklich, das zu erfah-
ren, Mr. Perkins. Sie wissen, wie sehr ich Sie
achte und bewundere. Sie wissen vielleicht
nicht, wie sehr ich Sie liebe. Aber doch ist es
so. Mit großer Macht liebe ich Sie.
Perkins: Meine liebe Jennifer.
Jennifer: Mein Gemahl. (Er küßt sie auf die Stirn.
Sie sagt) Man kommt.
(Beide ab. Eintreten Fletcher und Poll. Er
bringt einen Kranz, "Der dankbare Lehrkörper",
lehnt ihn gegen den Sarg.)
Poll: Ich werde nie begreifen, warum man mit toten
Leuten so viel Rummel macht. Sie haben doch
nichts davon.
Fletcher: Man tut es, weil man ein schlechtes Ge-
wissen hat. Während ihres Lebens hat man es un-

71
terlassen, freundlich zu ihnen zu sein, und
man beruhigt sich, indem man das verspätet
nachholt.
Poll: Aber kein Mensch hatte je das Bedürfnis, zu
der da freundlich zu sein. Natürlich mußte
man so tun, solange man Geld aus ihr quetschte.
Aber was für eine Albernheit, zu heucheln,
wenn nichts mehr dabei herausspringen kann.
Fletcher: Ich glaube, man ehrt sie einfach, weil
sie tot ist.
Poll: Das ist kein Grund.
Fletcher: Irgendetwas Verehrenswürdiges ist in je-
dem Menschen, Poll. Daran denkt man in dem
Moment, wo man keine Chance mehr hat, ihn zu
bessern.
Poll: Ich finde es ganz vernünftig, daß er sie um-
gebracht hat.
Fletcher: Wer?
Poll: Der Oberst. Ist Ihnen das nicht klar?
Fletcher: Warum, um himmelswillen, sollte er das
getan haben?
Poll: Es war der siebente Tag.
Fletcher: Von was?
Poll: Von ihrer Ehe. Der siebente Tag ist der kri-
tische Tag in jeder Ehe.
Fletcher: Aha .
Poll: Können Sie sich vorstellen, daß es Ihnen
Vergnügen machen würde, mich umzubringen?
Fletcher: Überhaupt nicht.
Poll: Aber ich bin hübsch.
Fletcher: Ich hatte Gelegenheit, einen umfangrei-
chen Teil davon zu sehen.

72
Poll: Und Sie würden mich nicht umbringen?
Fletcher: Nein.
Poll: Kein bißchen?
Fletcher: Kein bißchen.
Poll: Sie sind so ein Ekel. Ich liebe Sie, und Sie
haben nicht einmal das Bedürfnis, mich umzu-
bringen. Wie, glauben Sie, daß Sie sich beneh-
men, Mr. Fletcher?
Fletcher: Sehr zurückhaltend, hoffe ich.
Poll: Sie benehmen sich wie ein Flegel. Wie ein
Flegel und wie ein Dummkopf. Sie werden sich
solange zurückhalten, Mr. Fletcher, bis da
nichts mehr zurückzuhalten ist. Sie werden
Ihre paar Gefühle solange zwischen Ihren Fin-
gern herumdrehen und von allen Seiten betrach-
ten, bis sie so abgenützt sind wie ein alter
Penny, den keiner mehr will. Sie glauben, weil
ich Ihnen nachlaufe, bin ich nichts wert, Sie
Blödian. Sie sind selber nicht mehr wert als
ein eingemotteter nagelneuer Anzug von vor
zehn Jahren.
Fletcher: Poll, ich liebe dich.
Poll: Was sagen Sie?
Fletcher: Ich sagte, ich liebe dich.
Poll: Aber das dürfen Sie nicht sagen. Ich habe
doch nicht nur Spaß gemacht. Eigentlich habe
ich gar keinen Spaß gemacht, Mr. Fletcher.
Fletcher: Ich mache auch keinen Spaß, Poll.
Poll: Oh:
Fletcher: Du sagst ja nichts.
Poll: Mir fehlen die Worte, Mr. Fletcher.
Fletcher: Mir auch. (Er küßt sie)

73
Poll: Mr. Fletcher … Lance, warum weiß ich nicht,
was ich sagen soll?
Fletcher: Weil die Liebe eine ernste und erwachsene
Angelegenheit ist; das bist du nicht gewöhnt.
Poll: Denkst du. Ich liebe dich. (Sie küßt ihn) Ich
liebe dich, ich liebe dich. Ich habe mal einen
Film gesehen, Lance. Da bekamen zwei zwölf
Kinder. Ein Mann und eine Frau.
Fletcher: Das muß ein hervorragender Film gewesen
sein. (Sie küssen sich.)
(Perkins kommt)
Perkins: Ich bitte um Vergebung, Sir. Ich bringe
nur einen Gegenstand, den Miss Jennifer verges-
sen hat zurückzulassen. (Legt das Medaillon
auf den Sarg.)
Fletcher (stutzt): Was ist das?
Perkins: Mrs. Brocklesbys Medaillon, Sir.
Fletcher: Höchst merkwürdig. Meine gräßliche Adop-
tivmutter pflegte ganz das nämliche zu tragen.
Sie bewahrte meinen Papa darin auf.
Perkins: Sollte es sich bei Ihrem Herrn Vater um
Mr. Inglethorpe gehandelt haben, Sir?
Fletcher: Ja.
Perkins: Dann ist Ihre Identität unzweifelhaft,
Sir. (Öffnet das Medaillon.) Sie sind der
Adoptivsohn der Verschiedenen.
Fletcher: Verdammt.
Poll: Hast du sie denn nicht erkannt?
Fletcher: Natürlich. Ich habe es nur nicht begrif-
fen. Jetzt, wo ich weiß, wer sie ist, weiß
ich, daß ich sie von Anfang an nicht leiden
konnte.
(Der Oberst kommt herein.)

74
Poll: Ich bin bloß froh, daß ich Dir meinen Antrag
gemacht habe, bevor ich wußte, wie enorm reich
du bist.
Fletcher: Reich?
Poll: Wenn sie deine Adoptivmutter war? Die alte
Fregatte hat einen ungeheuren Haufen Geld ge-
habt.
Fletcher: Meine Güte. Ich erbe das ja.
Oberst: Sie beabsichtigen, Mrs. Brocklesby zu beer-
ben, junger Mann?
Fletcher: Es tut mir so leid für Sie, Oberst. Aber
was könnte ich dagegen unternehmen?
Oberst: Das will ich Ihnen verraten. Würden Sie mich
mit Mr. Fletcher allein lassen, mein Kind?
Fletcher: Lauf Miss Dodd entgegen, Liebling. Sag ihr,
wir haben Geld, Liebling.
(Poll und Perkins ab)
Oberst: Junger Mann, Sie werden verstehen, daß mir
diese neue Lage unangenehm ist.
Fletcher: Durchaus, Oberst.
Oberst: Durchaus nicht. Denn Sie ahnen noch nicht,
wie hoch das Vermögen ist. Mit diesem Geld hat-
te ich gerechnet, nicht wahr? Längst Leib,
längst Gut; der Letzte macht die Tür zu. Ja,
ich gehe so weit zu sagen, daß ich mir dieses
Geld redlich verdient habe. Weswegen, glauben
Sie, habe ich diese Frau geheiratet?
Fletcher: Ich habe nie darüber nachgedacht, Oberst.
Aber hätte ich es, wäre ich vermutlich zu dem
Schluß gekommen, daß es nur aus schurkischen
Motiven gewesen sein kann.
Oberst: Hör mal, wie sprichst du mit deinem einzigen
leiblichen Verwandten?

75
Fletcher: Der Mann meiner Stiefmutter ist nicht
mein leiblicher Verwandter.
Oberst: Lancelot Inglethorpe …
Fletcher: Gott, was für ein Name.
Oberst: Lancelot Inglethorpe, erinnerst du dich
nicht deines lieben Onkels John?
Fletcher: Nein.
Oberst: Nein? Hattest du keinen Onkel in Indien?
Fletcher: Onkel John? Indien? Der! Oh ja, Sir,
nun verstehe ich alles.
Oberst: Ich wußte, daß mein Name mit einem Schlag
alle Bindungen des Blutes wieder knüpfen und
alle zärtlichen Gefühle der Kindheit wieder
ins Leben rufen würde. Mein lieber Neffe.
Mein Junge. Ich bin sicher, daß du nicht
fähig bist, deinen wiedergefundenen Onkel all
seiner Hoffnungen zu berauben. Laß mir das
Geld bis zu meinem Tod, Lancelot. Für dich
würde ich natürlich sorgen.
Fletcher: Sir, das Geld gehört mir, nicht wahr?
Und ich brauche es.
Oberst: Wozu?
Fletcher: Für das Heim, Sir.
Oberst: Überlasse das Heim Miss Dodd. Sie hat
selbst ihre Erbschaft gemacht.
Fletcher: Keinen Pfennig, Sir.
Oberst: Ich weiß es aus ihrem eigenen Munde.
Fletcher: Sie hat Sie mit ihrem eigenen Munde be-
logen, Sir, um unter einem geeigneten Vor-
wand Perkins der Hölle Ihres Familienle-
bens zu entreißen. In Wahrheit hat sie nicht die
Mittel, eine Maus zu ernähren.
Oberst: Das ist der zweite Schlag, der mich in

76
diesen zehn Minuten trifft.
Fletcher: Wieso Sie?
Oberst: Lassen wir das. Mein lieber Junge, ich muß
dir eine traurige Mitteilung machen. Du könn-
test das Geld nicht für das Heim verwenden,
selbst wenn du es hättest.
Fletcher: Was soll das, Sir?
Oberst: Weißt du, woher das Vermögen deiner Mutter
stammt? Deine Mutter war sechsmal verheiratet.
Deine Mutter hat sechs Männer beerbt. Diesel-
ben kamen auf folgende Weise zum Tode. Einer
stürzte von einem Aussichtsturm, einem löste
sich während eines Pferderennens der Sattel,
einer starb an Fischvergiftung, einer ertrank
in der Badewanne, einer wurde von einer Büste
Heinrichs VIII. erschlagen, einem versagten
die Bremsen.im Auto. Das war Archie
Inglethorpe.
Fletcher: Himmel, Sie wollen doch nicht andeuten,
daß sie sie alle umgebracht hat?
Oberst: Jeden einzelnen von ihnen. Wie übrigens
dich auch.
Fletcher: Mich?
Oberst: Gewiß. Sie kannte dich als eigensinniges
Kind. Sie untersagte dir, mit dem Boot hinaus-
zufahren und ließ dich zur Zeit der gefähr-
lichsten Strömung allein. War es nicht so?
Fletcher: Ja, so war es!
Oberst: Die gesamte Erbmasse, mein Lieber, ist zu-
sammengemordet. Blutgeld. Sündenmammon. Du
würdest nicht wagen, diese Art von Geld für
eine sittliche Anstalt, wie Miss Dodds Heim
es ist, zu verwenden.
Fletcher: Wenn nicht für eine sittliche Anstalt,
wofür denn?

77
Oberst: Sehr philosophisch geurteilt, Neffe. Aber
glaubst du, die Gesellschaft irgendeines Landes
besteht aus Philosophen? Was würde die Stadt-
verwaltung sagen? Der Kirchenvorstand? Der
pädagogische Rat? Wer würde mit deiner guten
Miss Dodd noch ein einziges Wort wechseln,
wenn die Herkunft ihrer finanziellen Mittel
bekannt würde?
Fletcher: Wofür Sie möglicherweise Sorge tragen würden?
Oberst: Möglicherweise.
Fletcher: Erpressung, Sir?
Oberst: Um Gotteswillen, nein. Ein Geschäft. Du
hast übersehen, mein lieber Neffe, daß du
mein einziger Verwandter bist, mithin mein
einziger Erbe. Ich bin alt und selbst nicht
unbemittelt. Im Fall du dich weigern soll-
test, mir Mrs. Brocklesbys Vermögen bis zu mei-
nem Tode zu überlassen, würde ich dich natür-
lich enterben.
Fletcher: Natürlich.
Oberst: Im anderen Fall aber erbst du nach meinem
Tode beide Vermögen und bist einer dar reich-
sten Männer Englands. So ist die Lage. Du
kannst auf der Stelle Geld haben, das du nicht
verwenden kannst, oder nach einer Weile·die
doppelte Menge, ehrlich und unbemakelt. Nun
wähle.
Fletcher: Gütiger Oheim, ich nehme Ihren Vorschlag
an, und mögen Sie morgen tot umfallen.
Oberst: Ich danke dir, mein Junge. (Ab)
(Kommen Poll und Dodd, mit einem Kranz.
Schleife: "Der Würdigsten").
Dodd (drückt Fletcher die Hände): Mein herzliches,
aufrichtiges Beileid, lieber Mr. Fletcher.

78
Fletcher: Bitte?
Dodd: Ihre Mutter war eine außerordentliche Frau.
Die arme Lydia. So lange sie lebte, habe ich
nie gewagt, sie mit ihrem Vornamen anzureden.
Mein Respekt war noch größer als meine Liebe.
Sie hatte, was heute kaum mehr einer beisam-
men hat, Kraft und Güte.
Fletcher: Sie kannten sie besser als wir alle, Miss
Dodd. Aber, beschweren Sie sich nicht mit
traurigen Gedanken.
Dodd: Ich bin gar nicht traurig, Mr. Fletcher. Lydia
hatte ein großes Leben und ein schmerzloses
Ende. Ich könnte sie beneiden, wie soll ich
sie beweinen? Und außerdem bin ich sehr froh
über die Veränderung Ihrer Vermögenslage,
Lancelot. Ich verspreche mir natürlich, daß
Sie unser Heim nicht im Stich lassen werden.
Aber ich hatte mir wirklich auch um Sie Sorgen
gemacht; Sie konnten nicht leben mit so wenig
Geld.
Fletcher: Miss Dodd, ich habe immer noch kein Geld.
Poll: Was?
Fletcher: Später, Poll. (Zu Dodd) Mrs. Brocklesby
Vermögen liegt fest, und ich kann leider erst
nach dem Tod des Obersten darüber verfügen.
Dodd: Oh. Das trifft mich hart, Mr. Fletcher. Ich
weiß, es ist sehr eigensüchtig von mir, jetzt
an mich zu denken, aber ich habe gelernt, daß
man sich sehr eigensüchtig zeigen muß, wenn
man den Menschen helfen will. Und ich glaube
doch, daß ich den Menschen geholfen habe,
nicht? Wenn es auch nur ein bißchen war.
Fletcher: Lassen Sie sich nicht entmutigen, Miss
Dodd. Wir kommen schon irgendwie durch.
Poll (flüstert): Hast du dich von dem alten Gauner
übers Ohr hauen lassen?

79
Fletcher: Er hat mich erpreßt.
Poll: Süßer, wie schön. Wo sind deine dunklen Punk-
te?
Dodd: Poll, ich glaube, du solltest nicht mit Mr.
Fletcher flüstern.
Poll: Ich weiß, Miss Dodd. Flüstern gibt einem die
Gelegenheit, etwas Unrechtes zu sagen, und
die Hälfte allen Unrechts kommt von der Gele-
genheit.
Dodd: Gut aufgepaßt.
Poll: Das Unrechte ist, Mr. Fletcher und ich wollen
heiraten.
Dodd: Mein Kind, was für eine gute, pädagogische
Idee. Du wirst Mr. Fletcher sehr günstig beein-
flussen. Ich kann euch nicht sagen, wie ich
mich über diese Heirat freue.
Jennifer (kommt): woher wißt ihr denn, schon wieder
alles?
Poll: Was denn?
Jennifer: Daß er mich heiratet.
Poll: Lance, wenn du ihr auch einen Antrag gemacht
hast, hättest du das bei dem meinen zumindest
erwähnen können.
Jennifer: Wer redet denn von Mr. Fletcher? Miss Dodd,
Mr. Perkins hat mir die Ehre angetan einzuwil-
ligen, mein Gatte zu werden.
Dodd: Nein, was für ein wundervoller Tag ist das,
und er schien doch eher unangenehm zu beginnen.
Nun werdet ihr mich beide nicht mehr verlas-
sen. (Kommt Oberst) Oberst, ich bin so glück-
lich.
Oberst: Ich auch, Miss Dodd. Ich meine, ich bin be-
kümmert, tief bekümmert.

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Dodd: Oh, was schwatze ich. Verzeihen Sie mir meine
Ungeschicklichkeit, Oberst. Glauben Sie mir,
ich fühle so sehr mit Ihnen. Es war solch ein
schrecklicher Schlag, und für uns alle so
überraschend. Glücklicherweise kann man nicht
sagen, daß er Sie unvorbereitet traf.
Oberst: Das kann man nicht sagen, hihi. (Stutzt)
Wieso nicht?
Dodd: Sie sagten mir erst gestern, Ihre Frau fühle
sich nicht wohl.
Oberst: Nicht wahr, ich sah es voraus? Sie war
schon längere Zeit sehr leidend.
Fletcher: Und nun ist sie richtig von der Treppe
gefallen.
Dodd: Ich schäme mich fast, Oberst, Ihnen zu ge-
stehen, daß mich auch frohe Gefühle bewegen.
Diese beiden lieben Mädchen verheiraten sich
nämlich.
Oberst: Miteinander?
Dodd: Viel besser. Poll heiratet Mr. Fletcher und
Jennifer Mr. Perkins.
Oberst: Eine angenehme Nachricht. Meine Glückwün-
sche, meine Glückwünsche. Ich hoffe nur, Miss
Dodd, daß Sie Mr. Fletcher schon soweit gebes-
sert haben, daß er das verantwortungsvolle
Amt eines Familienvaters … Da fällt mir ein,
ich habe noch einen alten und sehr guten
Cognac im Keller. Wollen Sie mir die Gefäl-
ligkeit tun, ihn zur Feier des Tages mit mir
zu trinken? Wir haben alle Grund zur Freude,
nicht wahr? (In den Keller ab)
Poll: Der Arme. Schicksalsschläge scheinen bei ihm
die umgekehrte Wirkung hervorzurufen.
Dodd: Das Wesen des Menschen ist einfach, Poll. Er
tut immer das Gegenteil.

81
Inspektor (stürzt herein): Elendes Los der Be-
schränktheit.
Dodd: Guten Tag, Inspektor.
Inspektor: Ich bin ein Narr. lch bin ein Dummkopf.
Ich bin ein vollkommen pensionsreifer Idiot.
Dodd: Wir kennen uns bereits, nicht wahr?
Inspektor: Ich sage, er kann es nicht gewesen sein.
Wieso nicht? Wieso, wieso? Natürlich war er
es. Eine Viertelstunde früher oder später, al-
les egal. Die Lösung muß im Keller liegen.
Verstehen Sie mich? Die Frage ist, was tat
sie dort? Was tat Lydia Brocklesby eine Vier-
telstunde lang im Keller?
(Alles Licht geht aus. Pause. Perkins steigt
mit einem Leuchter in der Hand aus der Keller-
luke.)
Perkins: Ich muß Ihnen die bedauerliche Mitteilung
machen, daß mit Oberst Brooklesbys Rückkunft
nicht mehr zu rechnen ist.
Fletcher: Wie?
Perkins: Die elektrische Leitung scheint durch ei-
nen unerklärlichen Schaden mit der Stahltür
des Getränkekellers in Verbindung gebracht
worden zu sein. Oberst Brocklesby sind hieran
gestorben.
(Jennifer umschlingt ihn, Poll Fletcher)
Dodd: Entsetzlich.
Inspektor: Nicht zu entsetzlich, Miss. Heiraten
ist immer ein Risiko.

Ende

82

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