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DIE AUFERSTEHUNG

Eine Interpretation zum


BILD VON FRA BEATO ANGELICO

Esther Keller-Stocker, Schweiz ¦ www.theologie-vision.eu ¦ 19861; 20142; Febr. 20203 1 / 24


Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

Inhaltsverzeichnis

1. ÜBER FRA BEATO ANGELICO ........................................................................................... 3


2. DAS BILD „AUFERSTEHUNG“ ........................................................................................... 4
2.1. DIE ANORDNUNG DES BILDES .................................................................................. 4
2.2. ZAHLEN ..................................................................................................................... 7
2.3. WENN HÄNDE SPRECHEN ........................................................................................ 8
3. MARIA MAGDALENA ..................................................................................................... 11
3.1. MARIA MAGDALENA UND DIE DÄMONEN ............................................................ 11
3.2. MARIA MAGDALENA UND DIE WEISHEIT ............................................................... 13
3.3. MARIA MAGDALENA VOR DEM OFFENEN SARG ................................................... 14
3.4. DAS WEISSE KOPFTUCH ......................................................................................... 17
4. DER AUFERSTANDENE ................................................................................................... 18
1. DER HEILIGENSCHEIN ................................................................................................ 18
2. LOGOS - WEISHEIT..................................................................................................... 20

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

1. ÜBER FRA BEATO ANGELICO


Fra Beato Angelico wurde um 1387 in der Nähe von Florenz
auf den Namen Guido di Piero geboren. Er wuchs im
fruchtbaren Mugellotal inmitten bunter Frühlingswiesen auf.
Diese Gegend hatte auf sein Schaffen einen grossen Einfluss.
Über seine Jugend und seine Heimat ist wenig bekannt. Erst
1433, als er bereits ein grosser Meister war, erhalten wir
Nachricht über seine Kunst.1
Der junge Guido di Piero trat 1407 unter dem Namen Fratello Giovanni ins
Dominikanerkloster von Fiesole ein. Die ersten 10 Jahre seines Mönchseins verbrachte
er in Cortona bei Arezzo, dessen landschaftliche Berglage die von Fiesole noch übertraf.
Zurück in Fiesole wirkte der Künstler in der klösterlichen Stille, umgeben von der
blühenden Natur, in der Frische des Bergwindes in religiöser und musischer Hingabe
dem Geist volkstümlicher, spätmittelalterlicher Frömmigkeit verpflichtet. So schreibt B.
Oertel:
Madonnen- und Heiligengestalten in zarter Anmut, im Glanz des Goldes und der
leuchtenden, Buntheit der Farben sind das unübertroffene Beispiel seiner bewusst
religiösen Haltung2.

Als die Dominikaner in das grössere, renovierte Kloster San Marco in Florenz
übersiedelte, bemalte Fra Giovanni deren Räumlichkeiten. Acht Jahre lang schmückte er
in unermüdlicher Ausdauer die Säle und Refektorien, die Kreuzgänge und fast alle Zellen
mit seinen Fresken. Paul Schubrig schreibt dazu:
In unendlicher Variation stellte er die Heilsgedanken der Passion
und Dominikanertheologie, die innige Verherrlichung der
Gottesmutter und die Leiden der Märtyrer vorführend dar. In
diesen Fresken erhebt sich Fra Giovanni zu einer Würde, Grösse
und Monumentalität, die ihn an die Seite der Besten stellt. Der
Verzicht auf alles Nebensächliche lässt die Szene einheitlich und
erhaben wirken; das Männliche hat im Kloster natürlich Vortritt,
aber wo von Maria die Rede ist, da bricht gesammelte
Zärtlichkeit und schwärmerische Verehrung durch 3.

Die Fresken im Kloster San Marco in Florenz sind der Höhepunkt seines Lebenswerkes
und zugleich der reinste Ausdruck seines künstlerischen Wollens. 1445 rief Papst Eugen
IV. den Mönch nach Rom, um eine Kapelle im verfallenen Vatikan auszumalen. Sieben
Jahre lang blieb Fra Giovanni in Rom. In den Sommermonaten weilte der Künstler auf
dem Berg von Orvieto, um der Bruthitze Roms zu entgehen. In Orvieto begann er den
Dom auszumalen, allerdings ohne sein Werk zu beenden. 1452 kehrt er noch einmal in
sein Heimatkloster San Marco zurück. Er verstarb er 1455 in Rom.

1
Bild aus http://www.mega.it/eng/egui/pers/beato.htm. Paul Schubrig, Fra Angelico, der Maler
und Mönch
2
B. Oertel, Fra Angelico in RGG Bd. II, Sp. 1011 „Fra Angelico“
3
Paul Schubrig, Fra Angelico, der Maler und Mönch, S. 4

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Zu seinem Beinamen Beato Angelico kam er wegen seinen Engeldarstellungen. Im


frühen 19. Jahrhundert wurde die Beatifizierung des Künstlers in der romanischen
Kunsttheorie als Legitimationsgrundlage katholischer Restauerationsbestrebungen
wieder aufgegriffen.

2. DAS BILD „AUFERSTEHUNG“


2.1. DIE ANORDNUNG DES BILDES
Im Bild tritt uns das Ereignis der Auferstehung als Dreieck aus dem dunklen Halbrund der
Höhle entgegen. Die Höhle erscheint als eine in sich geschlossene, dunkle, verborgene
Welt. Das Bild erinnert an die Höhlenmalereien im franko-kantabrischen Raum aus
vorgeschichtlicher Zeit. Die Höhle stellt symbolisch den Mutterleib dar4 und ist seit jeher
der Rückzugsort des Bewusstseins: Aus der Höhle des Berges als Sinnbild des
mütterlichen Urschosses wird uns das göttliche Licht geboren.
Das Dreieck ist Zeichen der christlichen Trinität. Doch im Bild
erfährt es eine andere Aussage: Das Dreieck symbolisiert die
Geburt des Göttlichen, aber nicht als Geburt eines Kindes sondern
als Geburt einer Idee, die Idee vom Auferstandenen. Die Idee
kommt von Maria Magdalena. Es ist ihre Idee. Dabei sind ihre
Augen in die Tiefe gerichtet, in die abgründige Finsternis, aus der
ihr die Idee vom Auferstandenen aufsteigt. Das Bild erzählt von einer neuen Schöpfung
der Grossen Mutter, von der ewigen Wiedergeburt aus dem Tode, vom ewig Wahren.
Das Bild erinnert auch an den Prolog des Johannes. Dort steht:
Im Anfang war das Wort (Logos), und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.
Alles ist durch Ihn entstanden, und ohne Ihn entstanden ist nichts von dem, was
besteht. In Ihm war das Leben, und das Leben war der Menschen Licht. Und das Licht
scheint in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht angenommen. (Johannes 1,1-5)

Der Prolog orientiert sich an der Idee von «Licht und Finsternis», das im Alten Orient von
der persischen Religion übernommen wurde. Dem Licht ist das Gute zugeordnet, der
Finsternis das Böse. Beato Angelico gestaltet im späten europäischen Mittelalter Licht
und Finsternis in ihrer urtümlichen Art, nämlich «das Licht ist aus der Finsternis
geboren», aus dem Urschoss der Mutter. Im Gegensatz zum Johannesprolog entspringt
hier der lichte Logos dem mütterlichen Urschoss.
Der Auferstandene als Logos ist nicht allein. Denn ohne den menschlichen Geist kann er
nicht wahrgenommen werden genauso wenig wie die Schöpfung ohne den Menschen
wahrgenommen wird. Und so wird der Auferstandene begleitet von den vier Frauen und
dem Engel.
Der Auferstandene erscheint im lichten Gewand wie der Engel. Die Farbe ihrer
Gewänder bilden mit der Farbe des Sarges eine Einheit - eine Dreiheit von Mutter und
ihren beiden himmlischen Söhnen, dem Auferstandenen und dem Engel. Der Sarg

4
Erich Neumann, Die Grosse Mutter, S.56f.

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symbolisiert wie die Höhle den ver-schlingenden und wiedergebärenden Aspekt der
Grossen Mutter. Maria Magdalena, die über dem Sarg steht, repräsentiert den
menschlichen Aspekt der Grossen Mutter. Sie vertritt den Geist-Aspekt des Archetyps
und ist demnach eine Inkarnation der Sophia (hebr. Chokmah)
Doch diese Frau hat in einem patriarchalem System keinen Platz und wird zum Stein des
Anstosses, denn erst mit Petrus, der nur am Rande in das Geschehen involviert ist, findet
dieses Ereignis in der Gesellschaft überhaupt Beachtung, und erst durch Paulus, der mit
dem Geschehen überhaupt nichts zu tun hatte, erhält es seine religös zentralen
Bedeutung. - Beato Angelico gestaltet Maria Magdalena nach dem platonischen Ideal als
die Reine und Schöne, deren Verklärtheit wir auch sonst in seinen Marienbildern finden.
Trotz der patriarchalen Umdeutung bleibt Maria Magdalena die Trägerin der Gottesidee.
Auch die Evangelisten bemüht, Petrus den Vorzug vor Maria Magdalena zu
geben5. Denn eine Frau ist für den Mann Projektionfläche seiner unbewussten
Seelenhälfte6. Je weniger ein Mann seine weibliche Seelenhälfte in sein Ich-Bewusstsein
integriert hat, umso grösser wird das Gefälle zwischen seinem männlichen Ich und der
unbewussten weiblichen Seelenhälfte. Je grösser das Gefälle, umso negativer und
primitiver wird das entsprechende Frauenbild7 und muss verdrängt werden. – Fra Beato
Angelico zeigt mit dem Bild dagegen ein differenziertes Frauenbild.
Im Bild bildet der Sarg die Grundlinie des Dreiecks dar, er ist also die Bedingung der
Auferstehung. Nicht Gott ist es, der Jesus zur Auferstehung verhilft, sondern die Grosse
Mutter. Das heisst: ohne Sarg keine Auferstehung. Nur wer sich dem mütterlichen
Todesaspekt aussetzt, wird wiedergeboren8. In unserem Bild ist es einzig Maria
Magdalena, die in die gähnende Leere des Sarges schaut, in die unendliche Finsternis
des Todes des mütterlichen Urschosses. Wenn sie so in die Tiefe des Sarges schaut,
möchte man meinen, ihr Gesicht müsste sich verdunkeln. Doch ihr Antlitz erstrahlt im
Licht. Und ihr schneeweisses Kopftuch wird zum leuchtenden Gegenpol zur abgründigen
Schwärze der Tiefe - und zur Schwärze der Kutte, die Petrus trägt. Das reine Licht in
weiss wirkt wie ein Prisma, aus dem sich die Gestalt des Auferstandenen erhebt und als
Geist über dem Haupte der Maria schwebt. Maria Magdalene bildet mit dem
Auferstandenen im Himmel, dem Sarg als Unterweilt den Weltenbaum. Sie ist der
Mittelpunkt der Hauptachse zwischen Himmel und Erde
Der Auferstandene gehört zum Sarg wie das Kind zu seiner Mutter. Doch vertritt er auch
Gott, der nach judenchristlicher Tradition im Himmel wohnt. Der Himmel ist hier die

5
Elisabeht Schüssler-Fiorenza u.a. in «Jesus und die verschwundenen Frauen
- eine Spurensuche» auf Youtube
6
Marie-Theres von Franz in der Mensch und seine Symbole, S. 177f.
7
Vgl. etwa die Prophetin Kassandra von Troja. Sie wird in Fachkreisen als mythische Figur
wahrgenommen, obwohl sie mit dem Untergang Trojas, das als historisch gilt, in Verbindung
steht. Demgegenüber gilt der Prophet Zarathustra als historische Figur, nur kann MANN nicht
genau sagen, wann er gelebt hatte: Lebte er 1768 v. Chr. oder 1000 v. Chr. oder doch eher 600
v. Chr.? Man weiss nur, dass seine Mutter – der Legende nach! – aus Raga stammte! Beide
Namen aus wikipedia: «Kassandra» vom 19.05.2019, «Zarathustra» vom 14.05.2019
8
Erich Neumann, die Grosse Mutter, S. 161

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obere Seite der Höhle, die obere Hälfte des mütterlichen Urschosses. Der Auferstandene
gehört also zum Archetyp der Grossen Mutter. Es ist dann die patriarchale Theologie -
vorab der Startheologe Paulus, der Christus vom Gott Vater auferstehen lässt! (Gal. 1,1).
Maria Magdalena und der Auferstandene stellen ein Paar dar, das Urpaar in seiner ewig
göttlichen Umarmung. Die Umar-mung wird nur sachte durch die Schleifen ihrer Kleider
angedeutet. Als Ritus finden wir die Vorstellung von der göttlichen Vereinigung mit den
Menschen überall auf der Welt. In altägyptischen Texten wird die rituelle Vereinigung des
Gottes Amun mit der Königin zur Zeugung des Pharaos beschrieben. Im Alten Testament
wird die Vereinigung von himmlischen Wesen mit einer irdischen Frau zwar negativ be-
urteilt9, doch gibt es auch Erzählungen, wonach Jahwe sich selber mit einer irdischen Frau
verbindet und mit ihr den lang ersehnten Sohn zeugt10. Auch im Neuen Testament wird
die göttliche Zeugung des Jesuskindes erwähnt11. Das Bild von Fra Beato Angelico erzählt
uns aber von einer Kopfgeburt - Eine Kopf-geburt, die ganz anders verläuft, als uns etwa
von Athene und Ares überliefert ist: Athene und Ares sind nämlich wider-natürlich aus
dem Kopf des Zeus ent-sprungen. Doch Zeus musste zuerst die Mutter der Kinder, die
Göttin Metis (Weisheit), verschlingen, um die Kinder dann mit Hilfe der Axt des
Hephaistos aus dem eigenen Kopf zu lassen. Neben der Gewalt an Metis musste Zeus sich
also selber Gewalt antun. Ganz anders in unserem Bild, nicht durch Gewalt und
Verbrechen wird der neue Gott geboren, sondern durch die Hingabe eines weiblichen
Menschen. In ihrer Hingabe überwindet sie das Grauen des Todes und wird belohnt durch
einen neuen göttlichen Inhalt. Dies ereignet sich, wie oft Götter-geburten in der Höhle,
im Urschoss der Mutter.
Paulus von Tarsus, der uns die ältesten Schriften des Neuen Testaments lieferte,
verdrängte Maria Magdalena als erste Zeugin der Auferstehung ganz bewusst12, dies,
weil in seiner patriarchalen Logik Frauen nicht als Zeugen auftreten können. Bei den
Evangelisten Matthäus und Lukas tritt anstelle der Kopfgeburt die Geburt des
Jesuskindes. Die Mutter Jesu ersetzt damit die Leistung von Maria Magdalena. Die
Evangelisten verweisen die Frauen auf ihren Platz, auf den Platz der Mutter und
Gebärerin.

9
Zur Zeugung und Geburt des ägyptischen Pharao "Die Geburt des Gottkönigs" - Studien zur
Überlieferung eines altägyptischen Mythos", bearbeitet und kommentiert von Helmut Brunner,
1964.
10
Negativ: I. Mose 6,1-4. Positiv: I. Mose 18; Richter 13; I. Samuel 1, vgl. meine Interpretationen
zuI. Mose 18 und II. Mose 3
11
Matth. 1,18; Luk. 1,26ff.
12
Vgl. meine Aufsätze zu „Römer 3,24-26“ und "Paulus und die Frauen am Grab"

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2.2. ZAHLEN
Die Frauen sind im Bild links angeordnet. Links signalisiert die unbewussten Seite, die
unbekannte Seite des Patriarchats. Das Patriarchat orientiert sich an der rechten Seite,
an der Petrus kniet. Er ist der einzige, der im Patriarchat als Zeuge zugelassen ist. Links,
lateinisch sinister, ist gleichbedeutend mit dunkel, unheimlich. Links ist der dunkle Fleck
im patriarchalen Bewusstsein, ein Tabu. Doch wie es Sigmund Freud ausdrückt, ist tabu
auch heilig13. Andererseits vertreten die Frauen im Bild Menschen - Menschen, wie man
sie überall trifft. Einerseits repräsentieren sie im Bild die ewig sich wiederholende
irdische Gebärfähigkeit der Frauen, aber auch den geistigen Aspekt des Neuen, das sich
aus vergangenen kolletiven Inhalten zu neuen Ideen formieren.
Im Bild sind sie zu Viert: Vier ist die Zahl der Ganzheit aber auch die Zahl des kollektiven
Unbewussten. Es ist ein anderes Symbol für das Grosse Runde, ein Aspekt der Grossen
Mutter. Und so stellen sie im Bild auch die weibliche Ganzheit dar, die als dunkler
Bereich aus dem patriarchalen Bewusstsein verschwindet14.
Von der oberen Mitte des Bildes nach rechts sind die drei männlichen Figuren in einer
Gerade angeordnet. Im Gegensatz zu den vier Frauen sind zwei der männlichen Figuren
Geistgestalten. Die Dreizahl im Bild erinnert an die christliche Trinität von Gott Vater, Sohn
und Heiligem Geist. Doch auch diese Vorstellung ist hier abgewandelt als Gott,
himmlischer Bote und irdischer Zeuge. Die Köpfe der männlichen Gestalten erscheinen als
Punkte einer Geraden. Sie symbolisiert die patriarchale Sukzession vom Höchsten zum
Tiefsten, vom Auferstandenen über den Engel zu Petrus. Das Patriarchat sieht nur den
Mann als das Höchste, als Gott, als Auferstandener. Doch der Auferstandene ist aus dem
Kopf der Maria Magdalena entsprungen und ohne sie nicht vorhanden.
Im Bild erfährt Petrus durch Maria Magdalena die Auferstehung. Er schaut auch nur auf
sie und ebenso geht eine subtil angeordnete Gerade durch den Körper Maria
Magdalenas, den Engel und Petrus. Da diese Gerade durch die Körper geht,
repräsentiert sie die Gefühlsebene. Gefühl und Frau bedeutet für den patriarchalen
Mann einmal Sexualität, Konflikt und Strafe, andererseits verkörpert die Frau die
visionär begabte weibliche Seelenhälfte des Mannes und berührt ihn. So standen
prophetisch begabte Frauen schon immer beim Anfang einer Neuorientierung an der
Spitze der Bewegung15. - Hier zeigt sich dies in der Längsachse in der Mitte des Bildes:
Maria Magdalena bildet den Mittelpunkt der Hauptachse, sie ist die Verbindung von
Himmel und Unterwelt, das Zentrum der Welt. Die Hauptachse mit dem
Auferstandenen, Maria Magdalena und dem Sarg bilden die eigentliche Trinität.
Auch die Gesamtheit des lichten Teils des Bildes ist als Dreieck angeordnet. Das Dreieck
repräsentiert die Offenbarung der Grossen Mutter und die Geburt ihres Sohnes. In
diesem Sinne erinnert das Bild an das Fruchtbarkeitssymbol der altorientalischer
Muttergottheit.

13
Sigmund Freud, Traumdeutung, S. 13
14
Erich Neumann, die Grosse Mutter, S. 211
15
Mircea Eliade, die Religionen und das Heilige, S. 431f.

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Die beiden im neben stehenden Bild angefügten Amulette zeigen


die Fruchtbarkeitssymbole, in denen die Aspekte der Grossen
Mutter, Gesicht, Brüste und Scham eingeritzt sind.

Aus Othmar Keel, Christoph Uelinger: Göttinnen, Götter und


Gottessymbole, S. 63, Abb. 48, 49.

Das Dreieck im Bild von Fra Giovanni ist aber weit differenzierter als die altorientalischen
Abbildungen. Im Zentrum steht der Geistaspekt der Grossen Mutter. Dieser ist auch in
den Amuletten aus dem Alten Orient wahrnehmbar durch den Kopf der Aschera, aber
die Betonung des Amulettes liegt in der primären Fruchtbarkeitssymbolik. Im Bild von
Fra Beato Angelico ist die primäre Fruchtbarkeit der Frauen zwar offensichtlich, aber der
Geistaspekt wird betont, in seiner höchsten Vollendung durch Maria Magdalena in der
geistigen Vereinigung mit dem Auferstandenen, aber auch durch die drei Frauen und
ihren Bezug zum Engel, ihrem Animus, von dem sie die Botschaft erhalten.
Alle weiblichen und männlichen Gestalten zusammengezählt, ergeben die Zahl 7. Die
Zahl Sieben hat eine Sonderstellung: Die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen bei
Schnweewitchen, die sieben Weltwunder, die sieben Tage einer Woche, die Erschaffung
der Welt in sieben Tagen im biblischen Schöpfungsbericht und ein Geheimnis hat 7
Siegel (Offenb. 5,5) usw. Die Zahl Sieben war für Augustin die Zahl der Totalität, für
universitas (Gesamtheit, Weltall) und perfectio (Vollkommenheit). Diese Totalität liegt
hier in der Höhle, im göttlichen Mutterschoss begründet16 - Im patriarchalen Denken
steht Drei für Geist und Denken, Vier für Körper und Seele. Doch hier tritt die Eine,
Maria Magdalena, aus der Frauengruppe heraus und symbolisiert mit dem
Auferstandenen den Geistaspekt der Grossen Mutter.

2.3. WENN HÄNDE SPRECHEN


Betrachtet man die Hände der einzelnen Figuren, so fällt auf, dass die drei Frauen
neben Maria Magdalena ihre Kleider oder das Salböl festhalten. Ganz anders Maria
Magdalena: Um den toten Jesus zu finden, überwindet sie Angst und Schrecken und
berührt mit der einen Hand den Sarg, die andere Hand hält sie an die Stirn. Man weiss
nicht, will sie die tiefsten Winkel ergründen oder sich des ihr entgegenschlagenden
Lichtes erwehren. Auf alle Fälle sind ihre Hände frei.

Die Situation der abgebildeten Frauen erinnert an das Gleichnis der zehn weisen und
törichten Jungfrauen, die dem Bräutigam nachts entgegenkommen:
Dann wird das Reich der Himmel zehn Jungfrauen gleich sein, die ihre Lampen nahmen
und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf aber von ihnen waren töricht, und fünf
waren klug. Die törichten nämlich nahmen ihre Lampen und nahmen kein Öl mit sich.
Die klugen dagegen nahmen ausser ihren Lampen Öl in ihren Gefässen mit. Doch als
der Bräutigam ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Mitten in der Nacht
aber erscholl ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam! Gehet hinaus ihm entgegen! Da
erwachten alle jene Jungfrauen und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber

16
Manfred Lurker, Die Botschaft der Symole, S. 308, wikipedia: Sieben

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

sagten zu den klugen: Gebet uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen! Da
antworteten die klugen: Es möchte für uns und für euch nicht reichen; gehet vielmehr
zu den Krämern und kaufet euch! Während sie aber hingingen, um zu kaufen, kam der
Bräutigam; und die welche bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die
Türe wurde verschlossen. Später kamen dann auch die übrigen Jungfrauen und sagten:
Herr, Herr, öffne uns! Er aber antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich
kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.
(Matt. 25,1-13)

Unser Bild scheint diesem Gleichnis eine neue


Interpretation zu geben. So stellt die
Grabeshöhle das Himmelreich dar. Die bei
Matthäus erwähnten weisen Jungfrauen
werden hier im Bild zu törichten, weil sie
pflichtbewusst die vollen Öldosen bei sich
tragen, um sich an ihnen festzuhalten, während
Maria Magdalena diese Pflicht vergass! Und
trotz oder gerade wegen diesem Mangel ist sie
als einzige dem himmlischen Bräutigam nahe.
Nichts in den Händen hat auch der Mönch.
Demütig kniet er am Boden, die Hände über die Brust gelegt und schaut auf Maria
Magdalena. Seine Hände sind genauso gefaltet wie es der Künstler in einem anderen
Bild, dem Bild «die Verkündigung» anbringt. Dort faltet Maria die Mutter Gottes als
Zeichen des Gehorsams und der Demut genauso ergeben die Hande vor der Brust. Im
Bild «die Verkündigung» empfängt die Mutter Gottes wie die drei Frauen am Grab vom
göttlichen Boten die frohe Botschaft ihrer Empfängnis. Ganz anders Petrus, er erhält die
Botschaft nicht von einem göttlichen Gesandten und auch nicht vom Auferstandenen,
sondern von Maria Magdalena.
Petrus kniet da in seiner Mönchstracht, aussen der schwarze Mantel, darunter das helles
Hemd. Das Hemd erinnert an das Gewand der zwei himmlischen Gestalten. Die Hemden
der Geistgestalten erscheinen wie aus Marmor gemeisselt, aus Marmor wie der Sarg.
Marmor entsteht durch metamorphe Umwandlung von Kalksteinen, Dolomiten und
anderen carbonatreichen Gesteinen unter Einfluss von hohen Druck und hoher
Temperatur infolge hoher Sedimentsauflast und/oder tecktonischer Versenkung oder
durch Aufzeitung im Kontakt mit Gesteinsschmelze17.

Marmor steht für Alter, Schönheit und Dauerhaftigkeit. Die Entstehung des Marmors
weist auf Kampf und harte Arbeit. Marmor ist Stein, kalt und hart. Als Symbol ist es ewig
und weckt im Menschen starke Gefühle, die in Liebe oder im Krieg ausgetragen werden.
Der Weg der Erkenntnis ist steinig, das Erbe reich. Marmor steht auch für Sturheit und
für falsche Meinung. Man wähnt sich am Ziel, doch der Weg ist hart und weit18.

17
Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Marmor
18
Frei nach Traumdeutung in:
http://www.deutung.com/lilith/index.php?symbol=Marmor&keyword=m

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Das Hellste im ganzen Bild ist wie gesagt das Kopftuch der Maria
Magdalena. Es ist die eigentliche Provokation des Bildes, denn Maria
Magdalena ist hier das eigentliche Oberhaupt der Kirche. Petrus in seiner
schwarzen Mönchskutte unter der das starre marmorne Gewand
hervorlugt, repräsentiert dagegen die traditionelle Kirche, die
patriarchalen Prinzipien, die Dogmen und den Tod.
Dies kommt auch im Engel zum Ausdruck, der in
theatralischem Gehabe auf dem Sarg sitzt und
den Frauen doziert. Seine Hände unterstützen
das grosse Ereignis, das er ihnen kundtut. Seine
Haltung, seine Flügel verkünden Dynamik. Doch
in seiner marmorn hellen Gestalt sieht er dem
Sarg ähnlich, ist Stein – starr, uralt, kalt und beständig, ein
ewiges Symbol. Er ist eine typische Animusfigur. Als solcher
verkörpert er die patriarchale Realität der Frauen, aber auch
ihre geheimsten Wünschen. Jung, hübsch und akademisch
gelehrt ist er. Seine Erotik verhüllt er
im reichen Gewand, nur die Spitzen
seiner Füsse lugen hervor. Seine
Füsschen sind in rote Pantöffelchen gehüllt und erinnern an
Schlangenhaftes. Denkt man an die Schlange, die Eva im
Paradies begegnete, dann ist hier das Schlangenhafte
zurückgebildet. Es ist ein Signal des Verbotenen und
Sündhaften. So bekommen die Frauen die Füsschen gar nicht zu
sehen. – Er sitzt da im wallenden Kleid und verkündet den
Frauen in überlegenen Gestik, was Maria Magdalena
unmittelbar neben ihnen erfährt.
Im Gegensatz zur weiblichen Weichheit der Engelsgestalt ist der Auferstandene ein
Mann. Sein Körper ist natürlich ebenfalls verhüllt, doch sein Leib ist betont
hingebungsvoll den Frauen zugewandt. Ein züngelndes rotes Füsschen in herzigem
Pantöffelchen unter dem Gewand hat er gar nicht nötig. Hingabe ist die Botschaft, die er
den Frauen verkündet, aber nicht durch überlegenes Dozieren sondern durch seine
Hingabe. In der rechten Hand hält er den Hirtenstab als Zeichen der Macht – Einer
Macht, die die Schwachen vor dem Starken schützt.
In der linken Hand hält er die grüne Feder, die Feder der Maat,
der altägyptischen Weisheits- und Gerechtigkeitsgöttin. Im alten
Ägypten war sie die mächtige Göttin der kosmischen
Weltordnung. Sie fütterte den ägyptischen Pharao mit
«Kosmosordnung». Nun wird der Auferstandene zum neuen
Pharao und Träger der Weltordnung. Die grüne Farbe der Feder
lässt aber auch an Osiris denken, dem grünen Gott, in dessen
Tod Leben und Fruchtbarkeit entsteht. Die grüne Farbe findet
sich wieder in den Kleidern der Frauen und signalisiert ihre fruchtbare Verbindung zum
ewigen Gott, zum göttlichen Sohn der Grossen Mutter.

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3. MARIA MAGDALENA
3.1. MARIA MAGDALENA UND DIE DÄMONEN
Maria Magdalena ist in einem königlichen Kleid aus Purpur gekleidet, das ihre
Weiblichkeit betont. Anders die drei Frauen neben ihr, die ihren Körper traditionell in
viel Stoff gehüllt haben. Maria Magdalena steht zu ihrer Weiblichkeit, trotz ihrer
schmerzlichen Erfahrung als Frau in ihrer patriarchalen Welt. Lukas etwa berichtet, sie
sei besessen gewesen von sieben Dämonen (Lukas 8,2). Es war der unbewusste Animus,
der die patriarchale Norm ihrer Zeit in sieben Gestalten repräsentierte und sie von innen
her beherrschte19. Die sieben Dämonen waren eine Verstärkung des Patriarchets und
riefen ihr zu: „Du nicht – weil weiblich!“ und trieben sie so in den Wahnsinn.
Anders Jesus von Nazareth: Wie Hanna Wolff gezeigt hat, überwandt er seine
Frauenfeinlichkeit in Gesprächen mit Frauen. Da war etwa die Kanaanäerin, die Jesus für
ihre Tochter um Hilfe bittet.
Und Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegend von Tyrus und Sidon zurück.
Und da kam eine kanaanäische Frau aus jenem Gebiet und schrie: Hab Erbarmen mit
mir, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon furchtbar gequält. Er
aber antwortete ihr mit keinem Wort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Stell sie
zufrieden, denn sie schreit hinter uns her! Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen
Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr,
hilf mir! Er antwortete: Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es
den Hunden hinzuwerfen. Sie sagte: Stimmt, denn die Hunde fressen ja ohnehin von
den Brotbrocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau,
dein Glaube ist gross! Dir geschehe, wie du willst. Und von Stund an war ihre Tochter
geheilt. (Matthäus 15,21-28)

Auf die Bitte der Kanaanäerin reagiert Jesus zunächst nicht. Erst auf den Rat seiner
Jünger gab er sich mit ihr ab und stellte aggressiv klar, dass er als Jude gekommen sei,
um Israel zu retten. Er meinte: «Schliesslich wirft man das Brot der Kinder nicht den
Hunden vor». Sie liess nicht locker und sagte: Aber die Brotsamen, die von den Herren
herunterfallen, sind alleweil gut genug für den Hund! Diese vorbildlichen Demut zwang
Jesus zur Umkehr und damit zur Integration seiner eigenen unbewussten Weiblichkeit20.
Mit der Integration der eigenen Weiblichkeit hatte es Jesus nicht mehr nötig, Frauen zur
Projektionsscheibe der eigenen primitiven Weiblichkeit zu machen und sie zu
verdrängen. Deshalb konnte er auch den dämonischen Bann über Maria Magdalena
brechen. Im Auferstandenen manifestiert sich nun ihr achter Dämonen, einer der sie in
liebender Hingabe begleitet und beschützt.
Unsere Gelehrte sind aber häufig darauf bedacht, ihr den Auferstandenen
abzuerkennen. So schreibt Ulrich Wilckens etwa:

19
Marie-Louise von Franz, Der Animus, der innere Mann in der Frau, beides in «der Mensch und
seine Symbole», 191f.
20
Hanna Wolf, Der Mann Jesus

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

So deutet Markus am Schluss seines Buches an, wo die Erkenntnis, wer Jesus in
Wahrheit sei, ihren legitimen Ursprung habe nicht im Munde der Frauen sondern in
dem der Jünger. Die Frauen haben in ihrer Furcht die Botschaft des Engels nicht
verstanden; so blieb die grosse Kunde noch verborgen. Erst durch die Erscheinung des
Auferstandenen selbst ist sie offenbar geworden, und seine Jünger, Petrus an ihrer
Spitze, sind es gewesen, die sie zuerst verküdigt haben!21
Anders schreibt Eugen Drewermann:
Daher ist gerade diese Frau aus Magdala, diese Verzweifelte, die ersten, die dem Herrn
begegnet. Der „Erste“ in der Bibel ist stets der Träger, die Symbolgestalt dessen, was
wesenhaft und generell für alle Menschen gilt22.

In unserem Bild ist das Kopftuch der Maria der am hellsten leuchtenden Punkt im
Gemälde. Unweigerlich erinnert es an Paulus, der von den Frauen verlangt, einen
Schleier zu tragen. Als Begründung gibt Paulus an, dass das Haupt jedes Mannes Christus
sei, das Haupt der Frau aber der Mann.
Männer entehren ihr Haupt, wenn sie beim Beten oder aus Eingebung reden.
Umgekehrt ist es bei der Frau, sie soll beim Beten oder wenn sie aus Eingebung redet,
das Haupt verhüllen.

Seine Begründung:
Der Mann ist das Abbild Gottes, die Frau aber nur das Abbild des Mannes, weil die Frau
um des Mannes willen erschaffen wurde und nicht umgekehrt.

Doch dann bricht Paulus ab, sich wohl der christlichen Gleichheit besinnend und
argumentiert das Tragen des Schleiers anders:
Deshalb soll die Frau eine Macht (d.h. Schleier) auf dem Haupte haben um der Engel
willen. Doch ist im Herrn weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die
Frau23.

Das Bild von Fra Beato Angelico erscheint im Vergleich zur Forderung des Paulus wie
eine Provokation, wie wenn er dessen Anspruch ins richtige Licht setzen müsste: Denn
gerade im Verborgenen, unter dem Kopftuch (Schleier) einer Frau verbirgt sich der
Ursprung des Auferstandenen, ohne den auch Paulus seine Theologie nicht hätte
schreiben können.

21
Ulrich Wilckens, Auferstehung, S. 53
22
Eugen Drewermann, die Botschaft der Frauen, S. 155; S. 175
23
I. Kor. 11,1-11

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

3.2. MARIA MAGDALENA UND DIE WEISHEIT


Maria Magdalena verkündet als erste den Auferstandenen und damit eine neue
göttliche Schöpfung24. Demzufolge vertritt sie Gott auf Erden. So wird auch die
alttestamentliche, antikjüdische Weisheit, Chokmah, interpretiert. Diese verkörpert das
göttliche Gesetz und letztlich Gott selber auf Erden. König Salomo betet:
Strahlend und unverwelklich ist die Weisheit;
leicht wird sie erschaut von denen, die sie lieben,
und gefunden von denen, die sie suchen.
(Weisheit Salomos, 6,12)

Strahlend steht auch Maria Magdalena hinter dem Sarg. Der Mönch/Petrus sieht sie als
einziger und kniet vor Ehrfurcht am Boden. Aus seinem Blickwinkel stellt sie seine Anima
dar, die weibliche Lichtgestalt, die Manifestation der göttlichen Weisheit.
Alles, was es nur Verborgenes und Sichtbares gibt, erkannte ich; denn die
Werkmeisterin aller Dinge, die Weisheit, lehrte es mich. In ihr wohnt ein vernunftvoller,
heiliger Geist, einzigartig, mannigfaltig und fein, beweglich, klar und unbefleckt,
zuverlässig und unverletzlich, dem Guten zugetan und kraftvoll, unhemmbar,
wohltätig. (Weisheit Salomos 7,21f.)

Maria Magdalena findet sich im Verborgensten, im Totenreich, wo sich kein Mensch


freiwillig aufhält. Dorthin folgt ihr der Mönch, sieht aber nicht den Auferstandenen
sondern sie und ihre Verkündigung.
Von der Botschaft der Weisheit heisst es:
Sie erstreckt sich machtvoll von einem Ende (der Welt) zum anderen und durchwaltet
das All aufs beste. (Weisheit Salomos 8,1)

Und genauso erstreckt sich die Botschaft Maria Magdalenas über die ganze Welt. Doch
sie und ihr Wissen weilen im Verborgenen, weil sie vom patriarchalen Bewusstsein nicht
akzeptiert wird.
Die Weisheit ist als wunderschöne göttliche Frau vorgestellt, die man in ihrem Glanze
bewundert. Sie ist die weibliche Manifestaton des Höchsten. Im Alten Testament wird
das weiblich Göttliche konkretistisch als Volk oder Frau erfahren. In Gestalt der Weisheit
ist sie Vermittlerin zwischen Gott und dem Menschen. Auf alle Fälle ist sie genauso ein
Seelenbild wie das männlich Göttliche.
In Sprüche 8 bildet die Weisheit mit Jahwe ein Paar. So heisst es:
Von meiner Jugend an habe ich die Weisheit
geliebt und gesucht;
ich begehrte sie als meine Braut heimzuführen,
und wurde ein Liebhaber ihrer Schönheit.
Ihren edlen Ursprung tut sie dadurch kund,
dass sie mit Gott in vertrautem Verkehr steht,
und der Herr des (Welt-)Alls liebt sie.

24
Vgl. Wilfried Eckey zu «Anfang» in «das Markus-Evangelium», S. 60

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

Sie ist ja eingeweiht in Gottes Wissen


und trifft die Auswahl unter seinen Werken.
(Weisheit Salomos 8,2-4).

Auch im Bild von Beato Angelico wird Maria Magdalena mit dem
Auferstandenen als Paar dargestellt. Dies ist an den Schleifen um die
beiden Körper ersichtlich. Die eine Schleife umhüllt die beiden Körper
(roter Pfeil). Die Schleife des Auferstandenen geht von rechts nach
links, also von der bewussten Seite weist sie ins Unbewusste, d.h. die
konkrete Person Jesus wird im Tode zum Auferstandenen. Die Schleife
bei Maria Magdalena umhüllt sie von oben links nach unten rechts, sie
kommt also aus der himmlischen Sphäre des Unbewussten in die
Realität (gelber Pfeil).

3.3. MARIA MAGDALENA VOR DEM OFFENEN SARG


Maria Magdalena vor dem offenen Grab im Zentrum des Bildes
erinnert an den Hohepriester in III. Mose 16. Dieser tritt einmal im Jahr, am
Versöhnungstag, vor die Bundeslade im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels. Im
Gegensatz zum Hohenpriester tritt Maria Magdalena nur einmal in ihrem Leben und für
die gesamte Christenheit einmalig für alle Ewigkeit vor den offenen Sarg.
Nach dem Priesterkodex war die Bundeslade mit einem Sühnedeckel, hebräisch
Kapporeth, verschlossen. Maria Magdalena steht aber vor dem offenen Sarg. Sie hat
keinen Deckel nötig, den sie vor dem Abgrund des Sarges und damit vor der
Todessymbolik der Grossen Mutter schützt. Denn der eigentliche Abgrund ist für sie das
Patriarchat mit seinen Dämonen.
Der Hohepriester bringt Opferblut vor die Gotteslade und besprengt sie damit. Das Blut
ist das magische Elixier, das zur Sühne und damit zur kultischen Reinigung der
Priesterschaft, des Volkes und des ganzen Tempels gebracht wird. Maria Magdalena
benötigt kein Blut. Sie geht hin mit leeren Händen, sie selber ist Opfer, daran erinnert
auch ihr rotes Kleid. Dieses weist auch auf ihre monatlichen Blutung hin, an ihre
kultische Unreinheit, die es ihr aus patriarchaler Sicht verbietet, an dieser Stelle zu
stehen. Doch all diese Klischees weichen vor der neuen Gottesidee zurück. So schreibt
man dem auferstandenen Jesus auch die Heilung einer blutflüssigen Frau zu25. So ist die
richtige Einstellung vor dem Sarg Hingabe, die den Tod überwindet und nicht Ämter und
Autoritäten, die sich Männer gegenseitig zusichern.
Statt das Opferblut bringt Maria Magdalena also sich selber, ihre Hingabe und ihren Mut
mit vor das offene Grab und wagt es auch ihre Hand auf dessen Rand des Sarges zu
legen, um in die unergründliche Tiefe des Todes zu schauen. Sie tritt mit der richtigen
Einstellung an das Grab, denn sie stirbt nicht wie die beiden Söhnen Aharons, die mit
falschem Feueropfer vor Jahwe getreten und dafür vom Zorn Gottes getötet wurden26.

25
Markus 5,5-34 parr. Matth. 9,18ff.; Luk. 8,40ff.
26
III. Mose 10,1f.

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Auch nicht wie der Priester Uzza, welcher die Lade vor ihrer Zerstörung stützen wollte27
und dabei umkam.
Maria Magdalena vor dem offenen Grab erinnert auch an das Hymnusfragment in
Römer 3,25: Dort wird Christus mit dem Sühnedeckel (griechisch Hilasterion) im
Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels verglichen. Nach dem Hymnus ist der Sühnetod
Jesu am Kreuz für alle sichtbar geworden. - Doch historisch gesehen schauten von der
Anhängerschaft Jesu nur die Frauen hin. Dies wird im Hymnus verschwiegen. Sein Fokus
orientiert sich ausschliesslich am alttestamentlichen Sühnedeckel (Kapporeth), der von
männlichen Theologen formuliert wurde. Genauso ist die neue Botschaft patriarchal nur
genehm, wenn sie Männer wie Paulus als «mein Evangelium» predigen und dabei die
Frauen ausschliessen.
Als der neue Hohepriester vertritt Maria Magdalena im Bild auch das Ursprüngliche, das
im biblischen Wort Aaron «Lade» zum Ausdruck kommt. Denn nicht nur die Bundeslade
heisst Aaron sondern auch der alttestamentliche Hohepriester (III. Mose 16), und der
Jebusiterpriester in Jerusalem (II. Sam. 24) wird ebenso mit denselben Konsonanten
gebildet. Die drei Begriffe sind sich so ähnlich und erinnern an den Ortsnamen Arinna im
fernen Anatolien, dem Hauptsitz der hethitischen Sonnengöttin, der obersten
Staatsgottheit des Hethiterreiches. Wie Peter Porzig in «die Lade Jahwes im Alten
Testament» zeigt, suchten die Theologen, die das Alte Testament geschrieben hatten,
die Bedeutung der Lade immer mehr zu bagatellisieren. So schreibt er etwa:
Im Grunde erfüllt hier wie dort die Lade, die Funktion eines Götterbilds,
das es für die exilisch-nachexilische Theologie verständlicherweise
nicht gegeben haben darf (S. 27).

Meines Erachtens steht hinter der alttestamentlichen Bundeslade die oberste


hethitische Staatsgöttin, die Sonnengöttin von Arinna. Denn die israelitischen Stämmen
formierten sich im 13. Jahrhundert v. Chr., zu einer Zeit, in der sich das hethitische
Grossreich und Ägypten sich zusammengerauft hatten. So ist historisch für das 14. und
13. Jahrhundert vor Chr. folgendes festzuhalten:
1. Der hethitische Grosskönig Šuppiluliuma I. griff die Ägypter im Norden Kanaan an
und schleppte mit den Kriegsgefangenen die Beulenpest in Anatolien ein28.
Beim Überfall der Hethiter in die ägyptischen Garnisonen dürften Personen aus dem
hethitischen Heer vor den Kranken nach Palästina geflohen sein. Die Ägypter waren
bekannt, dass sie geflohene Feinde an ihre Aussengrenzen ansiedelten. So dürften
die geflohenen hethitischen Adligen von der ägyptischen Behörden als Stadtfürsten
in Palästina eingesetzt worden sein, in Städten wie Silo, Bethel, Sichem und
Jerusalem, in denen nach alttestamentlichen Überlieferungen «Aaron («Lade»)
stand, respektive ein Jebusiterkönig Araunah «seinem Gott» opferte29.
Der Enkel von Šuppiluliuma I. - Ḫattušili III. - verfolgte als oberster Befehlshaber

27
II. Samuel 6,6f.
28
Trevor Bryce, The Kingdom of the Hittites, p. 183f.
29
Näheres in meinem Aufsatz: Arawnah und David (II. Sam. 24)

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

nach der Schlacht von Kadeš (1274 v. Chr.) die Ägypter bis nach Damaskus30. Auch
von hier aus dürften einige Hethiter in Kanaan/Palästina geblieben sein, zumal in
Anatolien das Klima immer kälter und trockener wurde. Wie prekär die Situation in
Zentralanatolien war, geht aus dem berühmten Hilferuf der Grosskönigin Puduhepa
an Ramses II. hervor: «Ich habe kein Getreide in meinem Land»31.
2. Die oberste Staatsgöttin der Hethiter war die Sonnengöttin von Arinna, was sogar
Francis Breyer zugeben muss32. Von den hethitischen Adligen, die in Kanaan als
Stadtfürsten eingesetzt wurden, war sie wie in Anatolien die oberste Landes- und
Königsmutter. So nennt sich Ḫattušili III.
Der Tabarna Ḫattušili, der Grosskönig, der König des Landes Ḫattuša,
der Held, der Geliebte der Sonnengöttin von Arinna 33

Auch im alttestamentliche Hohenlied handelt es sich um eine Göttin und ihren


Sohngeliebter. Und darin wird der Held von seiner göttlichen Mutter zum König
gekrönt (Hl. 3,6-11). Dass die Sonnengöttin von Arinna sich hier kanaanäische Züge
aneignete, dürfte auch klar sein.
3. Schaschu-Beduinen stellten einen grossen Teil der frühen Israeliten34. Im 13.
Jahrhundert v. Chr. standen sie sowohl im Dienst der Ägypter als auch der Hethiter.
Einige Schaschu-Männer waren es auch, die dem Pharao Ramses II. falsche
Informationen lieferten, sodass sich dieser in falscher Sicherheit wähnte und Kadeš
sofort angriff.
4. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts erfasste die klimatische Katastrophe35 den ganzen
östlichen Mittelmeerraum und Flüchtlinge von Norden wanderten Richtung
Ägypten. - Da stellt sich die Frage, wie sich die Leute auf dieser langen Strecke
ernährt hatten: Ich denke an die riesigen Schaf- und Ziegenherden, die für die Opfer
an die Göttinnen und Götter benötigt wurden. Solche Tiere konnten leicht
mitgeführt werden. Und im Kampf ums Überleben waren sicher immer wieder
Kleinvieh entlaufen, irrten herum und wurden von den Flüchtlingen eingefangen. -
In Kanaan angekommen, suchten sie am ehesten Unterschlupf in hethitisch
regierten Gebieten.

30
Trevor Bryce, The Kingdom of the Hittites, p. 239
31
Eric H. Cline, 1177 v. Chr., S. 206ff., bes. S. 207. Im späteren Friedensvertrag der Hethiter mit
den Ägyptern vereinbarten die beiden Mächten, dass sie die Flüchtlinge zurückgeben, in
Francis Breyer, Ägypten und Anatolien, S. 232
32
Francis Breyer, «Ägypten und Anatolien», S. 425; Vgl. meinen Aufsatz
«Die Göttin hinter der biblischen Bundeslade»
33
Francis Breyer, Ägypten und Anatolien, S. 425
34
Thomas Staubli, Das Image der Nomaden im Alten Israel, S. 3f.; 38ff.
35
Terra-x, Klima macht Geschichte, Teil 1, ab 36 min.

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

3.4. DAS WEISSE KOPFTUCH


Aus dem schneeweissen Kopftuch Maria Magdalenas erhebt sich der Gedanke Maria
Magdalenas wie eine Sonne. Der Künstler Beato Angelico verknüpft das Kopftuch intuitiv
mit der ursprünglichen Gottheit der 12 Stämme Israels, der Aaron ha-Berith (der
Bundeslade). Die Vorstellung von der Bundeslade ist jedoch nicht vor der Zerstörung des
Jerusalemer Tempels im 6. Jh. v. Chr. nachzuweisen. Sie soll die ursprüngliche Gottheit
verdrängen, nämlich die Sonnengöttin von Arinna. Bei Fra Beato Angelico mag auch die
alteuropäische Sonnengöttin eingeflossen sein.
Als Vertreterin der Sonnengöttin weist Maria Magdalena der Menschheit den richtigen
Weg wie die alttestamentliche Weisheit, die Nachfolgerin altorientalischer Göttinnen. So
heisst es von die Weisheit:
Ruft nicht die Weisheit vernehmlich?
erhebt nicht die Einsicht ihre Stimme?
Oben auf den Höhen am Wege,
da wo die Pfade sich kreuzen, steht sie.
Zur Seite der Tore am Ausgang der Stadt,
am Eingang der Pforten ruft sie laut:
Euch, ihr Männer, gilt meine Predigt,
an die Menschenkinder geht mein Ruf.....36

Um das Wort Gottes zu verkünden, steht die Weisheit wie eine altorientalische Dirne in
den Gassen. Das heisst, die Weisheit als unabhängige Göttin wurde von
alttestamentlichen Theologen als erotisch anzügliche Frau vorgestellt37. Auch Maria
Magdalena galt in den Evangelien als Dirne. Es ist ein patriarchaler Trick, um ihre
Bedeutung bei der Entstehung des Christentums herunterzuspielen: Man disqualifiziert
sie moralisch und dann ist sie aus der Sicht patriarchaler Theologen, die nie als Hurer
bezeichnet werden, nicht mehr relevant!
In unserem Bild erkennt Maria Magdalena in der Stille der Höhle den Auferstanden und
trägt Petrus das Erschaute als Botschaft zu. Sie wirkt in der Stille, in der Finsternis,
während die Weisheit (hebräisch Chokmah) in den lärmigen Strassen die Botschaft ihres
Gottes verkündet. Chokmah wird bei Jesus Sirach etwa als blosses Werkzeug Gottes
dargestellt, andererseits tritts sie in Weisheit Salomo Gott als eigenständige Grösse
gegenüber38. Im Prolog des Johannesevangeliums wird die Weisheit mit dem Logos-
Christus identifiziert, doch wirkt sie in den Frauen weiter, die in der Nachfolge Christi
Führungsrollen übernahmen. Darauf hat Martin Scott gewiesen: In dieser dominanten
Stellung steht nun Maria Magdalena da. Sie ist der Erste Christ und das eigentliche
christliche Vorbild.39

36
Sprüche 8,1-4
37
Jesus Sirach 9
38
Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, S. 43ff.
39
Martin Scott, Sophia and the Johannine Jesus

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

Die alttestamentliche Chokmah ist ständig in Bewegung und tanzt vor Gott, um Jahwe zu
gefallen40. Maria Magdalena ist nicht im Tanz mit Gott vereint sondern steht vor dem
Grab, vor dem Schrecken des Todes. In dieser Situation findet die Vereinigung von Gott
und Mensch statt, die in den hellen Schleifen über den Gewändern der beiden
Gestalten, des Auferstandenen und der Maria als Kreis angetönt ist41.

4. DER AUFERSTANDENE
1. DER HEILIGENSCHEIN
Im Bild ist der Kopf des Auferstandenen umgeben von einem
roten Kreuz in einem Heiligenschein. Das Kreuz ist eines der weit
verbreitesten und ältesten Symbole der Welt. Die Arme des
Kreuzes repräsentieren die Zahl Vier. Die Zahl Vier spielt beim
Verständnis der vier Himmelsrichtungen eine grosse Rolle. Die
Kreuzung der beiden Arme entsprechen der Durchdringung
zweier entgegengesetzter Bereiche, des Himmels mit der Erde
oder der Zeit mit dem Raum, das Leben mit dem Tod.
Das Kreuz steht auch als Zeichen des Scheideweg, der wichtigen Entscheidungen des
Lebens, aber es ist auch der Ort, wo sich die Wege der Toten und der Lebenden kreuzen.
Das ursprünglichste Symbol des Kreuzes dürfte die Darstellung der Tag- und
Nachtgleichen und der Sonnenwende gewesen sein.42 Das Kreuz des Auferstandenen ist
umgeben von einem Kreis, einem Rad. Im Rad erscheint das Kreuz als dessen Speichen
und wird damit zum typischen Sonnensymbol, das man bei asiatischen und
germanischen Völkern begegnet. Im Christentum erhielt das Kreuz durch den
Kreuzestod Christi die besondere Bedeutung göttlichen Leidens und Triumphes. In der
Psychologie versteht man das Kreuz als Symbol der Vereinigung unbewusster
Gegensätze und ist Ausdruck sich widerstrebender Kräften, die im Leiden erfahren und
ausgehalten werden. Dabei wird der Auferstandene als seelisches Urbild verstanden, das
in sich die widerstrebenden Kräften vereint und dem Leiden Sinn gibt
Der Vorläufer des christlichen Auferstandenen ist der altägyptische Totengott Osiris. Von
ihm schreibt Gregoire Kolpaktchy:
Der alte Ägypter war fasziniert, hypnotisiert vom Rätsel des Todes. Das ganze Weltall
war für ihn ein grandioser, kosmischer Sarkophag, in dessen Mitte sich Osiris befand,
der gefallene kosmische Mensch, gefesselt, eingekerkert, paralysiert. Sein Leib war den
Kräften des Bösen preisgegeben. Er war identisch mit dem «Ersten Menschen» der
Gnostiker und des Mani, mit dem Adam Kadmon der Kabbala, als der Protagonist der
kosmischen Urtragödie. Das «gütige Wesen» wurde geopfert, preisgegeben; und dieses
Opfer bleibt bis auf heute rätselhaft und voll Geheimnis...
Osiris, der kosmische Gottmensch, ist die Achse des Weltalls. Die Tragödie seines Todes
ist das Symbol des urkosmischen Welteneinsturzes. Hinter der Legende, welche uns

40
Sprüche 8,30
41
Erich Neumann, zur psychologischen Bedeutung des Ritus, Par. 29
42
Manfred Lurker, «Die Botschaft der Symbole», S. 135

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

Plutarch mitteilt, vermag man die Umrisse einer uralten esoterischen Realität zu
erkennen, welche allen grossen Weltreligionen zugrunde liegt43.

Der Auferstandene repräsentiert die neue Sonne, die die


Tyrannei der alten Sonne überwunden hat. Er überwindet die
göttliche Tyrannei patriarchaler Egozentrik, in dessen Namen die
fürchterlichsten Gräuel passieren. Mit dem Erscheinen des
Auferstandenen soll eine neue Herrschaft entstehen, eine
Herrschaft, die die Schwachen schützt und sie zu ihrem Recht
verhilft.
Das rote Farbe des Kreuzes erinnert an die Aggression des alten Gottes und an die
Kriege in seinem Namen. Im Kreuz erfährt die rote Farbe eine Wandlung, sie wird zur
Farbe der Liebe, der Ordnung der Gleichwertigkeit, die Farbe des fruchtbaren
Neubeginns. Der Auferstandene im Licht der Idee Mariens erinnert an das antike
Verständnis von eidos: Im Neuplatonismus verstand man unter Ideen die immanenten
dynamischen Urbilder des als erstes aus dem Ur-Einen hervorgehenden Geistes (nous).
In ihrer Gesamtheit sind sie das Sein des Geistes44. Im christlichen Verständnis sind die
Ideen Urbilder aller geschaffenen Dingen die ewigen und unveränderlichen Gedanken
Gottes. Alles Seiende hat Dasein und Bestand nur durch Teilhabe am Göttlichen45.
Diesen Gedanke kennen wir aus dem Prolog zum Johannesevangelium. Doch im
Gegensatz zum luftigen Verständnis vom johanneischen Logos wird er im Bild
«Auferstehung» auf eine konkrete irdische Basis gesetzt: Eine Frau denkt sich den Logos
und ist damit mit dem Konkreten verbunden.
Maria Magdalena sucht ihren toten Geliebten und findet den Auferstandenen. Damit
gerät sie selber in den Bann des göttlichen Mysteriums, das im Alten Orient weit
verbreitet war. Das Mysterium der Göttin Isis, die ihren toten Geliebten sucht, findet
und trauert. Isis gebiert darauf Horus. Im Neuen Testament wird dieses Motiv auf
Maria, der Mutter Jesu übertragen, die zur Gottesgebärerin hochstilisiert wird. In der
Renaissance ist sie ein häufiges Motiv in der Malerei, so bei Leonardo da Vinci mit seinen
eindrücklichen Marienbilder. Diese haben nach Sigmund Freud ihren Ursprung in der
Problematik der Kindheit des Künstlers und weisen auch auf dessen Homosexualität
hin46. Das Bild «Auferstehung» von Fra Beato Angelico ist rund 50 Jahre älter als die
Marienbilder von Leonardo da Vinci und wird zum späten Mittelalter gezählt, doch kann
es mit Leichtigkeit mit den modernsten psychologischen und feministischen Ideen
Schritt halten.

43
Gregoire Kolpaktchy, Das ägyptische Totenbuch, S. 14f.
44
«Idee» in Religion in «Geschichte und Gegenwart», Band III, Spalte 562ff.
45
Wolfgang Bauer, Irmtraud Dümoth, Sergius Golowin, Lexikon der Symbole, S. 199ff.
46
Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerungen des Leonardo da Vinci

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

2. LOGOS - WEISHEIT
Der Text über die Weisheit in Sprüche 8,22-31 diente dem Evangelisten Johannes als
Vorlage für seinen Prolog (Johannes 1). So schreibt Martin Scott:
There can be little doubt that one of the earliest significant images used by the
Christian Church to help define the relationship of Jesus to God was the Jewish figure of
Wisdom. While Paul, the Synoptics and the author of Hebrews may spring to mind as
the clearest examples of the direct adoption of Wisdom as a Christian category, the
author of John was no less interested in this aspect of Jesus relationship to God. It may
rightly be said that Jesus only thought of himself as a messenger of Wisdom, but it is
nevertheless clear that the New Testament writers applied the concept of Wisdom in
varying degrees directly to Jesus, and that they ultimately saw it as an appropriate
vehicle for expressing the pre-existence of Christ. What is perhaps most remarkable is
not the fact that these writers thought of Jesus as the embodiment of God’s Wisdom,
but that they felt able to take over what we have seen to be an entirely feminine image
in both the Old Testament and later Jewish writings, and apply it without apparent
difficulty directly to the masculine figure, Jesus. It might have been open to question
whether these authors were conscious of a problem at this point, or whether they
merely regarded the gender of Jesus or Wisdom as unimportant in the quest for an
adequate Christology, buth the last chapter has shown that, at least for some Jewish
writers of the era immediately before and spanning the writing of the New Testament,
the gender of Sophia was important as an issue in the discussion of her role. In this
chapter I hope to demonstrate that the question of gender is not lightly passed over, at
least by the author of the Fourth Gospel, but is rather of great significance especially in
relation to the adoption of the Logos motif in the Prologue47.

In Sprüche 8,22-31 erzählt die Weisheit von ihrer Entstehung:


Jahwe schuf (1)mich, seines Waltens Erstling,
als Anfang (2) seiner Werke seit jeher.
Von Ewigkeit her bin ich gebildet (3)
von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt.
Noch ehe die Meere (4) waren, ward ich geboren (5),
noch vor den Quellen, reich an Wasser.
Bevor die Berge eingesenkt wurden,
vor den Hügeln ward ich geboren.
Noch hat er die Erde nicht gemacht noch die Fluren,
noch die ersten Schollen des Erdreichs.
Als er den Himmel festigte, war ich dort,
als er den Horizont absteckte über der Urflut (6),
als er die Wolken droben instand setzte
und die Quellen der Urflut stark machte,
als er dem Meer seine Schranken setzte,
dass die Wasser seinen Befehlen gehorchten,
als er die Grundfesten der Erde legte,
da war ich als Liebling (7) ihm zur Seite,
war lauter Entzücken Tag für Tag
und spielte vor ihm allezeit,

47
Martin Scott in «Sophia and the Johannine Jesus», S. 83f.

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

spielte auf seinem Erdenrund


und hatte mein Ergötzen an den Menschenkindern.

Dass hier Chokma von Jahwe erschaffen worden ist, wird von Exegeten bezweifelt. So
betont Felix Christ, dass Sprüche 8 ursprünglich nur von der Weisheit handelt und erst
sekundär mit dem alttestamentlichen Gott in Verbindung gebracht wurde. Er schreibt:
Die Weisheit wurde als Erstling vor aller Welt erschaffen. Im Zusammenhang von Prov.
8 betont das Motiv der Ersterschaffenheit das Alter der Weisheit. Der Satz von der
Erschaffung der Weisheit durch Gott ist eine jüdische Korrektur der mythischen
Vorstellung von der Selbständigkeit der Weisheit. Während die Weisheit Hi. 28,23 und
Bar. 3,32.36 «gefunden» " wird, wird sie hier und Sir. 1,1; 4,9; 24,3.8.9 «geschaffen».
Das Judentum musste die «Gattin Gottes» irgendwie Jahwe unterordnen. So wurde aus
der Genossin Gottes eine Tochter, ein Geschöpf oder eine Eigenschaft Jahwes48.

Einzelne Motive des Gedichts sind sehr interessant. Deshalb habe ich sie nummeriert,
um nun einzeln auf sie einzugehen:
1. «Jahwe schuf mich»
Qnh kann erschaffen aber auch erwerben, kaufen, loskaufen heissen. So kann der
erste Vers übersetzt werden mit «Jahwe hat mich als Erste erworben auf seinem
Wege». Auch in Ezechiel 16 kommt dieses Motiv vor. Hier findet Gott auf dem
offenen Felde ein neugeborenes Mädchen, Jerusalem, welches er später zur Frau
nimmt.
2. «Als Anfang seiner Werke seit jeher»
Qädäm heisst Anfang, aber in erster Linie Osten. Quädäm im Sinne von Osten und
Anfang weist auf einen Sonnengott, welcher am Morgen (= Anfang) seine Bahn
zieht. - Im Originaltext von Sprüche 8 steht ale-däräk. Däräk wird in der Zürcher
Bibel mit «Werke» übersetzt, heisst aber Weg. Es ist der Weg, welcher der
Sonnengottheit mit seinem Anhang (von Toten und Geistern) auf dem Tagesschiff
fährt.
In Sprüche 8,22 trifft Jahwe die Weisheit zu Beginn seines Weges und sie begleitet ihn
auf seiner Bahn. Das erinnert stark an den altägyptischen Text, wonach Maat den Gott
Re auf seiner Sonnenbahn begleitet.
Bewaffne dich mit Maat, Urheber dessen, was es gibt, Schöpfer dessen, was ist.
Du gehst auf mit Maat, du lebst von Maat, du fügst deine Glieder zu Maat, du
gibst, dass aat auf deinem Kopfe thront, dass sie Platz nimmt auf deinem Haupt.
Deine Tochter Maat, du erstehst bei ihrem Anblick, du lebst vom Wohlgeruch
ihres Taues. Maat legt sich als Amulett an deinen Hals, setzt sich auf deine Brust.
Dein rechtes Auge ist Maat, dein linkes Auge ist Maat, dein Fleisch und deine
Glieder sind Maat. Du gehst durch die beiden Länder mit Maat, du gehst, indem
deine Hände Maat tragen. Dein Gewand ist Maat, das Kleid deiner Glieder ist

48
Felix Christ, Jesus Sophia, S. 25

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

Maat, du isst Maat, du trinkst Maat, dein Brot ist Maat, dein Bier ist Maat. Der
Atem deiner Nase ist Maat49.

Im Bild steht Maat mit Isis vorne auf dem Sonnenschiff und wacht darüber, dass die
Kosmosordnung eingehalten wird 50.

Im Alten Testament kommt Jahwe häufig als Sonnengott vor etwa in Ezechiel 16:
Da ging ich bei dir vorüber und sah dich zappeln in deinem Blute und sprach zu dir, wie
du dalagst in deinem Blute: «Bleibe leben und wachse heran wie das Gespross des
Feldes»….51.

Jahwe zieht als Sonne entlang seiner Himmelsbahn und sieht auf dem Felde das
neugeborene Mädchen liegen. Es steht dann in seiner Macht, das Mädchen am Leben
oder in seiner Gluthitze ausdorren zu lassen.
In Hiob 28 sucht der Mensch die Weisheit:
Doch die Weisheit - wo ist sie zu finden?
Wo ist die Stätte der Erkenntnis?
Der Mensch kennt nicht den Weg zu ihr
sie ist nicht zu finden im Land der Lebendigen (V. 12f.)

3. «In Ewigkeit bin ich gebildet» (nks):


Nsk bedeutet "ein Gussbild giessen", trotz dem 2. Gebot:
Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im
Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. (II.
Mose 20,3).

4. «Noch ehe die Meere waren, ward ich geboren.»


Cholalthi (= geboren) weist auf einem Mythos von der Geburt der Weisheit durch
Gott Vater und Mutter. Tehomoth (Meere) ist Plurar von Tehom, dem hebräisierten
Ausdruck für Tiamat, der mesopotamischen Urgöttin. Sie war das Salzmeer, das sich

49
H. H. Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit
50
Wadi Sebua, LD III, 181 aus Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das
Alte Testament, S. 189
51
Ezechiel 16,6f. Vgl. dazu meine Aufsätze «Ezechiel 16» und I. Mose 18 unter mhr

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

mit Apsu, dem Süsswasser, ewiglich verschmolz und so die Götter erschuf. So heisst
es im mesopotamischen Schöpfungsmythus Enuma Elis:
Als droben der Himmel (noch) nicht genannt,
Drunten der Grund (noch) nicht benannt war,
Als der uranfängliche Apsu, ihr Erzeuger,
Und Mummu-Tiamat, die sie alle gebiert,
Noch ihre Wasser zusammenfliessen liessen,
Ried nicht entsprossen, Rohrwuchs nicht erschienen,
Von den Göttern keiner erstanden,
Sie (noch) unbenannt und die Geschicke nicht bestimmt waren, Da wurden in ihrer
Mitte die Götter erschaffen52.

5. «Als er den Horizont absteckte über der Urflut»


«Urflut» wird hebräisch Tehom (Urgewässer, Urmutter) bezeichnet. «Als er den
Horizont absteckte über der Urflut» erinnert an Marduk. Dieser besiegte die
Urmutter Tiamat und zeriss sie in zwei Teile, in Himmel und Meer. Diese Tat galt als
Schöpfungstat Marduks. Erich Neumann deutet diesen Mythos als Trennung des
kollektiven Ich-Bewusstseins (Marduk) vom kollektiven Unbewussten53.
6. «Da war ich als Liebling ihm zur Seite»
Alttestamentler übersetzen Amun mit "Liebling", "Kulttänzerin" oder "verlobt". Auch
könne das rätselhafte Wort mit Werkmeisterin wiedergegeben werden. Dabei wird
das Wort vom sumerischen Uman (= Architekt) abgeleitet. Felix Christ sieht in
diesem Vers eine Korrektur des älteren Mythologems des Dabeiseins der Gefährtin
Gottes. H. - F. Weiss54 vermutet in V. 27-30 den entmythologisierten Restbestand
einer älteren mythologischen Vorstellung von einer weltschaffenden Muttergöttin.
Für mich stellt sich die Frage, wieso kann Amun nicht identisch sein mit dem
ägyptischen Sonnengott Amun/Amon? Dieser wurde zwar immer als männliche
Person dargestellt? Doch heisst es von ihm, dass seine Gestalt niemand kennt. Als
Sonnengott könnte er die alte hethitische Sonnengöttin von Arinna aufgesogen
haben, die im 2. Jahrtausend vor Christus von den Ägyptern durch den Sonnengott
Re ersetzt wurde. Meines Erachtens klingt in Sprüche 8 noch das Wissen von der
Sonnengöttin nach.
Gerda Weiler erkennt in den Sprüche 8,22-31 die Grosse Göttin und ihren
Sohngeliebten. Sie übersetzt den Text wie folgt:
Bevor die Welt geschaffen wurde, war ich da. Ich, die heilige Weisheit.
Ich bin eingesetzt von Anfang her,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Ich war da, bevor die Erde geschaffen wurde,

52
Babylonischer Mythos Enuma Elis (deutsch: „Als oben [der Himmel noch nicht genannt war].
Neu gefunden im Internet „http://welt-erschafft.de/ori_enuma_elish.html“
53
Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins
54
H. - F. Weiss, «Schöpfung in Christus». Zur Frage der christlichen Begründung der
Schöpfungstheologie im Neuen Testament. Beiträge zur Theologie in Geschichte und
Gegenwart, Roststock 1976, S. 27-30

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Interpretation zu «Auferstehung» von Fra Beato Angelico

da die Tiefen noch nicht waren,


da war ich schon geboren,
da die Brunnen noch nicht mit Wasser quollen.
Ehe denn die Berge eingesetzt waren,
vor den Hügeln war ich geboren.
Noch bevor der Himmel feststand,
bevor die Wolken zogen,
bevor das Meer der Erde Grenzen setzte,
da war ich da, ich, die Mutter alles Lebendigen.
Ich bin die Mutter des Gottes,
er spielte auf dem Erdboden vor mir.
Meine Lust ist bei den Menschenkindern55.

Als Ergebnis zu Sprüche 8,22-31 war Chokmah ursprünglich eine Sonnengöttin, eine
Schöpfungs- und Kosmosgottheit. Als gegossenes Standbild wurde sie in Prozessionen
mitgetragen. Das Wort «Amun» im Sinne von Liebling und Kulttänzerin weist auf eine
heilige Hochzeit mit einem irdischen Mann, der als Sohngeliebter, die Fruchtbarkeit und
Fortbestand des Lebens garantiert. Dies sind altorientalische Vorstellungen, die in
Kanaan an die Sonnengöttin von Arinna («Bundeslade») übertragen wurde und uns noch
in II. Samuel 6 erhalten geblieben ist56.
Die Weisheit ist wie jede göttliche Figur aus der Reflexion über Unerklärbares
entstanden. Sie ist zu einer Figur verdichtetet, und in unserem Bild von Beato Angelico
wird sie in der Idee von Maria Magdalena zum Mann. Dass beim Auferstandenen eine
Umwandlung des Geschlechts stattfand, sieht man auch an der grünen Feder, die
ursprünglich zur Maat gehörte, der altägyptischen Göttin der Kosmosordnung. Mit der
grünen Feder weist auch der Auferstandene selber auf die mütterlichen Kosmosordnung
hin. Zu dieser gehört auch die Gleichwertigkeit der Geschlechter. Solche
mutterrechtlichen Gesellschaften soll es zu Beginn historischer Zeit gegeben haben, wie
es verschiedentlich beschrieben wurde57.

*ENDE*

55
Gerda Weiler in «Ich verwerfe den Krieg in meinem Lande», S. 395
56
Vgl. Kultische Dirnen vor dem Zelt Jahwes in I. Samuel 1 und David tanzt vor der Lade, dazu
meine Interpretation zu II. Samuel 6
57
etwa Thorkild Jacobsen in «Alter Orient - Mythos und Wirklichkeit», Herausgeber Henri
Frankfort; Ernest Bornemann «das Patriarchat»; Heide Göttner-Abendroth «das Matriarchat»
Marija Gimbutas, «Die Sprache der Göttin»

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