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Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Familienforschung e.V.

(AMF) ZEITSCHRIFT FÜR MITTELDEUTSCHE N


Vorstand
eMail-Adresse: vorstand@amf-verein.de
FAMILIENGESCHICHTE
Vorsitzender: ZMFG 52. Jahrgang Heft 2 April — Juni 2011
Günther Un ger, Berliner Straße 31a, 47533 Kleve, Tel.: 02821-45262, Fax: 02821-45263
Stellvertretender Vorsitzender:
Tobias Sch win ger, Schloßgarrenstraße 14, 86695 Nordendorf, Tel.: 08273-9983318,
Fax: 08273-9983309
Schatzmeister: Auswandererbriefe als kommunikative Brücken
Gertraudis E n d e , Professor-Wagenfeld-Ring 110, 02943 Weißwasser, Tel.: 03576-243365
Schriftführer: Wege und Formen der (Selbst-) Verständigung in transatlantischen Netzwerken
Guido Dankwarth, M. A, Bergstraße 22, 12169 Berlin, Tel.: 030-7973737
Von Ursura LEBMKUHL
Koordination der Arbeitskreise (AK):
Harald Misch nick, Oberhdchstidter Straße 16, 61476 Kronberg
Mitteldeutsche Orisfamilienbiicher (MOFB):
Frank Fu chs, Am Berg 5, 08491 Lauschgriin im Vogtland, Fax: 03765-3947013 Einleitung
Regionalkoordination Nord:
Mario Seifert, Hessestralle 16, 14469 Potsdam, Tel.: 0331-295835 Im 19. Jahrhundert war Deutschland ein Auswandererland. Zwischen 1820 und 1914 zog
Regionalkoordination Siid:
es allein nach Amerika mehr als fünf Millionen Deutsche. Über ihre Erfahrungen, ihre
Carolin He t tn er, Heinrich-Heine-Strafle 7, 08645 Bad Elster, Tel.: 037437-549776
Archiv und Bibliothek: Ängste und Erwartungen berichten die Briefe, die sie aus Amerika an daheim gebliebene
Wolfgang Becher, privat: Gabelentzstrafe 14, 04600 Altenburg, Tel.: 03447-504227 Freunde und Verwandte schrieben: „Meine liebe Marie!“— so schrieb die 1884 mit 18
(Archiv: s. u.) Jahren zusammen mit ihrer Freundin Anna von Hamburg nach New York ausgewanderte
| Bitte bei allen Anfragen doppeltes Briefporto beifügen! Wilhelmine Wiebusch an die daheim gebliebene Freundin — „Donnerweiter hab ich noch
]
ganz vergessen zu erzählen was es hier für schöne Früchte in Kamerika [sic!} giebt, wir Essen
Archiv: Archiv der AMF, Staatsarchiv Leipzig, Schongauerstraße 1, 04328 Leipzig jeden Tag Pfirsiche Melonen und Bananen dann wollte ich Dir auch noch sagen wenn Du
Tel.: 0341-25 64 77 81, Fax: 0341-25 64 77 82; eMail: archiv@amf-verein.de
Öffnungszeiten: Mo, Mi 8.00-12.00 Uhr; Di, Do 8.00-15.00 Uhr alte Schuhe oder Stipfeln hast werfe sie nicht weg sondern binde eine rothe oder blaue Schleife
Geschifts- AMFP-Geschiftsstelle, Berliner Straße 31a, 47533 Kleve daran und hänge sie an der Wand in deinem Zimmer, na du Vater, aber so was wirst Du sagen,
stelle: Tel: 02821-45262, Fax: 02821-45263, eMail: geschaceftsstelle@amf-verein.de aber das muff Du wifen liebe Marie das ist hier in Amerika Antik. “?
Internet: Homepage: http://famf-verein.de (Mirgliederbereich: http://intern.amf-verein.de) Wilhelmine Wiebusch fand in New York eine Anstellung als Dienstmädchen und
Elektronischer Biichertisch: hitp://amf-versand.de berichtet in ihren Briefen vom Alltag in einer großbürgerlichen jüdischen Familie, vom
Mitgliederdatenbank: https://db.genealogy.netfvereine/index.php?vercin=AMF
Leben in New York, von ihren Zukunftsträumen und ihren Gefühlen. Sie übermittelt
Vereins- Volksbank an der Niers, Kto.-Nr. 45263037 (BLZ 320 613 84)
konto: IBAN (internat. Kontonummer) DE 30 3206 1384 0045 2630 37 dabei auch — wie in dem Briefausschnitt oben — Elemente aus der neuen Kultur, die im
BIC (internat. BLZ) GENODEDI1GDL (11 Stellen) heimatlichen Zusammenhang Befremden auslösen, im Kontext der neuen Heimat aber
einen sozialen und kulturellen Sinn haben. In diesem Sinne „übersetzt“ sie die neue All-
IMPRESSUM tagswelt und erweitert damit den Wissensvorrat der Daheimgebliebenen.
Zeitschrift für Mitteldeutsche Familiengeschichte (ZMEG) - ISSN 1864-2624 Für Marie, wie für viele andere Auswanderer auch, war der Kontakt zu mitausgewan-
HERAUSGEBER und Vertac: © Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Pamilienforschung e.V., Leipzig derten Freunden, mit denen die Migrationserfahrung geteilt werden konnte, Teil der
SCHRIFTLEITUNG: Dr. Peter Bahl, Gurlittstraße 5, 12169 Berlin, Tel. 030-7539998,
eMail: PeterBahl@gmx.de (Rubrik Vereinsmitteilungen: Guido Dankwarth M. A., siehe oben) Selbstverständigung in der neuen kulturellen Umgebung. Auswanderernetzwerke in den
Manuskripte und Besprechungsexemplare bitte an die Schriftleitung senden. Jeder Manuskripr-Einsender erkennt USA, seien sie familiärer oder einfach nur freundschaftlicher Natur, bildeten einen kom-
das Recht zur redaktionellen Bearbeitung an. Eingereichte Manuskripte dürfen nicht bereits an anderer Stelle veröf-
fentlich sein und auch nicht gleichzeitig einer anderen Zeitschrift angeboten werden. Für unaufgefordert eingesandte munikativen Referenzrahmen innerhalb der neuen Heimat, mit dem Fremdheitserfah-
Manuskripte wird keine Hafrung übernommen. Für den Inhalt der namentlich gezeichneten Beiträge sind deren
Verfasser verantwortlich; sie müssen nicht die Meinung des Herausgebers widerspiegeln. Nachdruck ohne schrifliche
Genehmigung der Schrifileirung nicht gestatrer. Jahresabonnement: 30,— €. Einzelheft und Register je 8,75 € einschl. 1 Gemeint ist hier „Amerika“.
Porto und Verpackung. 2 WoLrGangG Heaısıch, Warter D. KAMPHOBFNER, ULBIKE SOMMER: Briefe aus Amerika: Deutsche Aus-
Satz: Oliver Rösch M.A., Würzburg - Druck: MercedesDruck GmbH, Berlin wanderer schreiben aus der Neuen Welr 1830-1930. München 1988, S. 158.

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rungen bewältigt und Krisen überwunden werden konnten. So erfahren wir aus einem
anderen Brief an Marie: > el DD DA
„Gestern war meine Freundin Anna hier bei mir, wir beide halten noch immer fest zusammen al SP Af
in Freud und Leid, diesen Somer haben wir beide eine stürmische Zeit mit durchgemacht, wir
waren weit von einander entfernt, wir haben uns hir auch schon viele andere Freunde erworben,
und fühlen uns grade so zu Hause wie in Hamburg, zuweilen kennen wohl Augenblicke wo
wir uns nach unserer Nordischen Heimath zurück sehnen, doch so schnell wie die Gedanken
kommen, verschwinden sie auch wieder, denn das Welt-Meer ligt daschwischen.“
Die Geschichtswissenschaft hat sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fast aus-
schließlich für Politikgeschichte und die Geschichte „großer Männer“ interessiert und die
Geschichte der Masse des Volkes nicht beachtet. Das wissenschaftliche Interesse am Alltag
einfacher Menschen, an ihren Lebens- und Überlebensstrategien, ihren Weltsichten und
ihren Gefühlen — kurz an der subjektiven Dimension historischer Erfahrung — hat sich
erst in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt. Eine um die subjektive Dimension und Abb. 1: Umschlag eines Amerika-Auswandererbriefs, adressiert nach Dresden.
die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen der Alltagswelt erweiterte Quelle: Forschungsbibliothek Gotha, Nordamerika-Briefsammlung
Sozialgeschichte gehört heute allerdings zum. festen Kanon geschichtswissenschaftlicher
Forschung. In den frühen Debatten um die Alltagsgeschichte, ihren Forschungsansätzen
Kommunikarionsmitel, mit dessen Hilfe die Kontakte zur Familie und zu Freunden in der
und ihrer Quellengrundlage, wurde schnell klar, dass das Leben, Denken und Fühlen der
alten Heimat aufrechterhalten wurden. Uber die Briefe wurden jedoch auch Erfahrungen
„einfachen Menschen“ nicht über Behördenakten oder Grundbucheinträge zu erfassen
ausgetauschr, die den Empfänger teilhaben ließen an den Neuigkeiten und der Andersar-
ist. Man benötigt andere Quellen, sogenannte Ego-Dokumente, um über die sozialen,
tigkeit des Lebens in der neuen Heimat. Briefe vermittelten damit neues Wissen, durch
emotionalen und mentalen Lebensumstände „einfacher Menschen“ Aufschluss zu gewin-
das auch der heimatliche Wissenskanon erweitert wurde. Schließlich dienten die Briefe
nen. Zu den klassischen Ego-Dokumenten zählen Tagebücher und Autobiographien.
auch als Kommunikationsraum, in dem alte und neue Konflikte ausgetragen, manchmal
Diese Art der Selbstzeugnisse wurde in der Regel von gebildeten Menschen verfasst. Für
auch gelöst wurden, und zwar über den Atlantik hinweg. Auswandererbriefe sind insofern
die Alltagsgeschichte stellte sich nun das Problem, dass ein Bauer oder Handwerker, der
auch eine wichtige Quelle für die historische Netzwerkforschung und für Fragestellungen
seinen Ort nur gelegentlich kurz verlässt, keinen Grund hatte, Briefe oder Tagebücher
der transnationalen Geschichte,
zu schreiben. Auswanderer hingegen, die mit dem Gedanken leben mussten, die Lieben
daheim nie wieder zu sehen, hielten nur zu gern die Verbindung durch Korrespondenz
Die Entstehung der Nordamerika-Briefsammlung
aufrecht. Einige von ihnen verfassten sogar Tagebücher, die insbesondere die Erfahrung
der Ausreise und der Ankunft in der neuen Heimat reflektieren.? Die überraschende Folge Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Prämissen wurde unter der Leitung von Wolf-
ist, dass Auswandererbriefe heute den umfangreichsten Bestand von Schreiben der weniger gang Helbich in den 1980er Jahren — zu einer Zeit, als eine öffentliche Einwerbung von
gebildeten Schichten im 19. Jahrhundert ausmachen. Auswandererbriefe können insofern Dokumenten bei Privatleuten in der DDR nicht möglich war — an der Ruhr-Universität
zur Gruppe der Selbstzeugnisse gezählt werden, als sie einen hohen Grad an Selbstrefle- Bochum mit großzügiger Unterstützung durch die Stiftung Volkswagenwerk die weltweit
xivität aufweisen. Die Briefe berichten z. T. minutiös und detailliert über Tagesabläufe, mit Abstand bedeutendste Sammlung von deutschen Auswandererbriefen (Bochumer
subjektive Befindlichkeiten, Lebensentwürfe, über Zukunftsängste aber auch über positive Auswandererbrief-Sammlung, BABS) aufgebaut. Neben einer gut 5 000 Texte umfassen-
Entwicklungen im Leben der Auswanderer. Sie sind insofern auch eine wichtige Quelle den Sammlung gedruckter Briefe enthält die Sammlung ca. 7000 unveröffentlichte
für die noch sehr junge historische Teildisziplin der Emotionengeschichte. Briefe, vor allem aus dem’ Zeitraum 1830-1930, teils im Original, teils in Kopien des
Auswandererbriefe eröffnen darüber hinaus auch einen historischen Zugang zur Funk- Originals, zusammen mit sehr umfangreichem biographischen und deskriptiven Material.
tion von translokalen Personen-Netzwerken (d. h. von Netzwerken, deren Mitglieder an Die unveröffentlichten Briefe sind von der Library of Congress in Washington D.C. mi-
verschiedenen, häufig weit voneinander entfernt liegenden Orten in verschiedenen kul- kroverfilmt worden und stehen dort interessierten Wissenschaftlern zur Verfügung. Die
turellen und nationalen Kontexten lebten) in einer Zeit, als Reisen noch beschwerlich Bochumer Sammlung hatte allerdings eine teilungsbedingte Schwäche: Sie war eine so
und kaum erschwinglich und Telefon und Interner unbekannt waren. Der Brief war ein gut wie ausschließlich westdeutsche Institution. Der Bestand an nach Ostdeutschland
adressierten Auswanderer-Briefen war sehr gering. Es klaffte hier für das Territorium der
3 In der Gothaer Sammlung befinden sich neun, z. T. mehrere hundert Seiten umfassende Tagebücher und Neuen Bundesländer eine tiefe Lücke. Wenn man so will, war die Bochumer Auswanderer-
Lebenserinnerungen deutscher Auswanderer. briefsammlung selbst ein Zeugnis der jüngeren deutschen Geschichte.

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Um:aus einer extrem westlastigen Sammlung eine gesamtdeutsche zu machen, ergriffen Während die Bochumer Sammlung überwiegend mit Hilfe von Pressemitreilungen zu-
Wissenschaftler — Historiker und Germanisten sowie Archivare und Bibliothekare aus sammengetragen wurde, sollte die Sammlung in den neuen Ländern auch die Schulen mit
Deutschland und den USA — gut zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die einbeziehen. Lehrer sollten zur Behandlung des Themas Auswanderung/Einwanderung
Initiative „Briefe aus den Neuen Ländern“, Ein wesentliches Ziel dieses Projektes war es, im Unterricht ermutigt werden und auf diesem Wege Schüler motivieren, in Familie
die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bochumer Auswandererbrief-Sammlung und Bekanntenkreis möglicherweise vorhandene Briefe aus Amerika aufzuspüren und
über ihre BRD-Zentriertheit hinsichtlich Sammelgebiet und Briefbestand hinaus wächst, sie im Original oder als Kopie der neuen Sammlung zur Verfügung zu stellen. Dazu sind
durch Dokumente aus den neuen Ländern ergänzt wird und sich damit zu einer gesamt- umfangreiche Materialien für die Nutzung von Auswandererbriefen im Unterricht der
deutschen Auswandererbrief-Sammlung entwickelt. Das war im wissenschaftlichen Sekundarstufe I und I vorbereitet und mit den zuständigen Kultusministerien in den fünf -
Interesse in vielerlei Hinsicht dringend wünschenswert. Die Probleme und Formen der neuen Bundesländern abgestimmt worden. Entgegen unseren Erwartungen war dieser Weg
Auswanderung waren in Deutschland nicht nur insgesamt regional verschieden, sondern der Materialsammlung allerdings wenig erfolgreich. Die Zusammenarbeit mit Schulen
auch und gerade zwischen den westdeutschen und den ostelbischen Territorien. Damit und die systematische Anfrage bei Staats-, Kreis-, und Kommunalarchiven sowie weiteren
ist aber nur eine von vielen Forschungsperspektiven angesprochen. Die teilungsbedingte Archiven in staatlicher, kirchlicher oder auch privater Trägerschaft auf dem Gebiet der
Forschungsliicke war sicherlich am ausgeprigtesten im Bereich alltags- und mentalitits- Neuen Länder brachte keine nennenswerten Sammelerfolge.
historischer Fragestellungen, kann aber auch hinsichtlich von Untersuchungen zur Sprach- Das Projekt griff deshalb wieder zurück auf die Veröffentlichung von Berichten in Lo-
entwicklung festgestellt werden. ._. kalzeitungen und genealogischen Zeitschriften und intensivierte die Öffentlichkeitsarbeit
Die Sammlung von Auswandererbriefen in den Neuen Ländern war darüber hinaus mit Beginn der Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Zu unserer großen
aber auch in kulturpolitischer Hinsicht dringend geboten. Es ging dabei letztendlich um Überraschung konnten innerhalb von nur drei Jahren knapp 3 000 neue Briefe gesammelt
die Rettung wertvollen Kulturguts, denn die Briefe in Privatbesitz werden mit jedem Jahr werden. Die neu eingeworbenen Briefe aus Ostdeutschland umfassen 38 Briefserien (mehr
weniger. Bei dieser Art von Quellen in privater Hand muss davon ausgegangen werden, als 10 Briefe von einem Briefschreiber oder einer Familie) sowie weitere 188 Einzelbriefe
dass nach höchstens vier Generationen in der Familie kein Interesse mehr an solchem Ma- aus den USA und Kanada mit insgesamt ca. 250 identifizierten Briefschreibern, 211 Briefe
terial besteht und es bei Tod, Haushaltsauflösung oder Entrümpelung unwiederbringlich in fünf Serien und 36 Einzelbriefen aus Lateinamerika mit einer Konzentration auf Brasi-
verlorengehr. Bei den meisten Briefen aus dem 19. Jahrhundert ist diese Schwelle bereits lien, zwei Briefserien aus Australien, eine Briefserie aus Malaysia und ein Einzelbrief aus
überschritten, und der Bestand wird rapide geringer. Es war also Eile geboten, um dieses Afrika, In der regionalen Verteilung der gesicherten Auswandererbriefe liegen Thüringen
gerade auch für zukünftige Forschung etwa im Bereich der „transnationalen Geschichte“ und Sachsen dabei quantitativ an erster Stelle.
ungemein wichtige Quellengut zu retten.
Unterstürzt durch eine großzügige Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemein- Regionale Verteilung der Briefe aus den neuen Bundesländern
schaft und in Kooperation mit der Forschungsbibliothek Gotha wurde in den Jahren 2004
bis 2007 eine zweite Sammelaktion, diesmal mit der geographischen Konzentration auf die
neuen Bundesländer, durchgeführt. Ausgehend von dem regional sehr unterschiedlichen
Umfang der Auswanderung aus den deutschen Ländern im 19. Jahrhundert — mit einem & Thürmgen
deutlichen quantitativen Schwerpunkt auf dem Südwesten — und der Erfahrung mit den
Rückläufen und Sammelergebnissen der Bochumer-Sammlung war davon auszugehen, % Sachsen
dass im Rahmen dieser Sammelaktion im optimalen Falle erwa 4 000 neue Briefe einge-
worben werden könnten. Sondierende Versuche, in den neuen Bundesländern ähnlich
46% E Sachsen-Anhalt
vorzugehen wie in den 1980er Jahren in Westdeutschland, bestätigten allerdings zunächst
die Befürchtung, dass es unvergleichlich viel schwerer sein würde, 2004 in Ostdeutschland
Auswandererbriefe zu gewinnen, als 1984 in Westdeutschland. Das mag mit der Geschich- Berlin-Brandenburg
te, den geschichtlichen Erfahrungen und auch mit geschichtsbedingrten Einstellungen und
Haltungen zu tun haben, vor allem aber auch mit den verflossenen 20 Jahren. Tod, Umzug # Mecklenburg-
und Ignoranz sind die unerbittlichen Feinde des Überlebens alter Briefe, und deren Verlust Vorpommern
ist endgültig und durch nichts wieder gutzumachen. Eile, große Eile war deshalb geboten,
und es ist kaum zu hochtrabend, von der dringend notwendigen Rettung hochwertigen
Kulturguts zu sprechen. „Rettung“ heißt hier vor allem Sicherung der zum größten Teil
bereits äußerst fragilen Briefe in einer präservatorisch hochspezialisierten Bibliothek. Grafik: U. Lehmkuhl. Quelle: Nordamerika-Briefsammlung, Liste Neue Sammlung,

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Die auf den ersten Blick signifikanten Unterschiede in der. Quantität der Herkunftsre- Transkribieren, hinsichtlich des Briefschreibers biographisch Recherchieren, zuvor noch
gion sind nicht auf die geringere Anzahl von Auswanderern 7. B. aus Brandenburg oder zur Ermöglichung der Bearbeitung und Erschließung das Einwerben von Stiftungsmitteln.
Mecklenburg zurückzuführen. Sie resultieren vielmehr aus der relativen Entfernung zum Selbst dann, wenn Briefe derart aufbereitet sind und für Wissenschaftler und Öffentlichkeit
Sammelort, in diesem Fall Gotha. Bereits die Bochumer Briefsammlung hatte die Erfah- bereit liegen, kommen Schulbuchautoren selten angereist, um unveröffentlichtes Mate-
rung gemacht, je weiter entfernt ein potentieller Briefbestand vom Sammelort liegt, desto rial zu sichten. Sie und ähnliche Benutzer bedienen sich lieber aus Büchern, die in der
zurückhaltender sind die Briefebesitzer mit der Kontaktaufnahme und der Bereitstellung Bibliothek zu bestellen sind, so dass eine weitere Station hinzukommt: Die Publikation
der Briefe zur Digitalisierung oder gar zur Archivierung der Originale in der Nordamerika- von Auswandererbrief-Editionen. Aus der Nordamerika-Auswandererbriefsammlung sind
Briefsammlung. Wir gehen aufgrund der Anzahl der bisher bei uns eingegangenen Briefe bisher vier Editionen hervorgegangen, zwei davon auch ins Englische übersetzt,“ Und
davon aus, dass gerade in den nördlichen Regionen-sich noch eine signifikante Anzahl aus diesen Bänden stammen die meisten der zahlreichen Zitate in den verschiedensten
von Briefen in privater Hand befindet. Lehrmaterialien. (Weitere Literaturangaben finden sich bei www.auswandererbriefe.de).
Die Briefe der neuen Sammlung wurden mit Unterstiitzung der Forschungsbibliothek
Gotha digitalisiert und liegen sämtlich als Faksimile vor. Allerdings fehlte uns bislang das Editionen von Auswandererbriefen
Geld, um den nächsten Schritt zu gehen und eine online recherchierbare Briefdatenbank
aufzubauen. Unterstützung erhielt das Sammelprojekt darüber hinaus von mehr als zehn Die Sammlung und Publikation von Auswandererbriefen begann praktisch gleichzeitig
ehrenamtlichen Mitarbeitern, die die handschriftlichen und häufig kaum entzifferbaren mit dem Beginn der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert. In den 1830er Jahren sind
Briefe transkribierten, im Unterschied zur Bochumer Sammlung nicht mehr mit der allein in Deutschland vier Editionen erschienen, darunter die vielbeachteten Editionen
Schreibmaschine, sondern mit Hilfe des Computers. Alle Briefe der neuen Sammlung von Friedrich Lange und Gottfried Duden.” In den beiden folgenden Jahrzehnten erschie-
liegen so in maschinenlesbarer Form vor, was bisher vor allem das Forschungsinteresse nen weitere zwei Dutzend. Thre Formen waren vielgestaltig, redaktionelle Eingriffe die
von Linguisten geweckt hat. Denn die Briefe geben auch Aufschluss über die Entwicklung Regel. Die bekannteste dieser auch in Abhängigkeit von der politischen Grofwetterlage
der deutschen Dialekte. Unter Einschluss der ca. 7 000 Briefe der alten, westdeutschen „bearbeiteten“ Editionen ist sicherlich die von Johannes Gillhoff mit den Briefen von
Sammlung befindet sich nunmehr in der Forschungsbibliothek Gotha die weltweit größte „Jürn-Jakob Swehn. Der Amerikafahrer.® Diese frühen Briefeditionen dienten meist
Sammlung deutscher Auswandererbriefe. Wir erhalten regelmäßig weitere Hinweise auf der Propagierung der Auswanderung oder aber der Warnung davor. Zusätzlich wurden
Briefe und Tagebücher, die sich noch in privater Hand befinden und freuen uns, wenn buchstäblich Tausende von Briefen in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Diese Ver-
wir sie in unsere Sammlung aufnehmen können. offentlichungen haben zweierlei gemeinsam: Fast alle sollten einem Zweck dienen, ob
Während sich Fragestellungen und Forschungsansitze im Zuge des rasanten Wachs- fiir oder aber gegen die Auswanderung oder auch nur zum Profit durch die Attraktivität
tums der Auswandererbriefforschung seit der Griindungszeit der Bochumer Sammlung des exotischen Genres. Durch den Verlust der Originale ist niche mehr festzustellen, was
deutlich vermehrt und zum Teil verändert haben, ist die nachdriickliche Betonung der der Briefschreiber und was der Herausgeber formuliert (oder gestrichen hat). Weitgehend
Erschließung des gesammelten Briefmaterials geblieben. Die Briefe müssen transkribiert mit Recht haben Historiker diese edierten Briefe groflenteils ignoriert. Der erste Band
und die Biographien der Briefeschreiber rekonstruiert werden. Die Erstinformationen, die
die Sammlung dabei von den Briefeinsendern erhält, sind von unschätzbarem Wert für
jede weitere wissenschafdiche Erschließung. Ohne den biographischen Kontext sind die 4 Worreane Herprcr: Alle Menschen sind dort gleich ... Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19.
Briefe als historisches Dokument kaum brauchbar. Die Rekonstruktion der Aufenthaltsorte und 20. Jahrhundert. 1. Aufl. Düsseldorf 1988; Worrcaxne Heisıca (Hrsg.): „Amerika ist ein freies Land
der Auswanderer in den USA und ihr dortiger Werdegang sind heute dann, wenn z. B. ...“. Auswanderer schreiben nach Deutschland. Darmstadt 1985; Worrcane HELsicH/ WALTER D. Kamp-
das Geburtsjahr oder das Auswanderungsjahr bekannt sind, mit Hilfe der elektronischen HOEENER: Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg: Briefe von Front und Farm, 1861-1865. Paderborn
2002; HEeLsıcH/KAMPHOEFNER/SOMMER, Briefe aus Amerika: (wie Anm. 2); WALTER D. KAMPHOBFNER/
Medien sehr viel einfacher zu rekonstruieren als in den 1980er Jahren. Die meisten ame- WOLFGANG J. HELBICH: Germans in the Civil War: The letters they wrote home. Civil war America. Cha-
rikanischen Zensusakten liegen über „Ancestry.com“ digital recherchierbar vor; auch die pel Hill 2006; Warrer D. KAMPHOEFNER/ WOLFGANG J. HELBICH/ULRIKE SOMMER: News from the land
Passagierlisten sind zum großen Teil digitalisiert. Das Deutsche Auswandererhaus in Bre- of freedom: German immigrants write home. Documents in American social history. Ithaca, 1991.
merhaven und das Ellis Island Museum in New York bieten auch für Hobby-Genealogen Gorrrrien Dupe: Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika's und einen mehr-
("4
jährigen Aufenthalt am Missouri (in den Jahren 1824, 25, 26 und 1827), in bezug auf Auswanderung
Zugriff auf diese wertvollen Datenbanken. und Übervölkerung, oder, Das Leben im Innern der Vereinigten Staaten und dessen Bedeutung für die
Es ist und bleibt ein weiter Weg von dem lange Jahre vergessenen, vergilbten Brief auf häusliche und politische Lage der Europäer. Elberfeld 1829; FRIEDrRICH LANGE: Briefe aus Amerika von
dem Dachboden, den jüngere Leute der deutschen Schrift wegen kaum noch entziffern neuester Zeit, besonders für Auswanderungslustige: Aus der Brieftasche eines dorthin gewanderten Deut
können, bis zum Abdruck des Textes im Geschichtsbuch oder auf den in einer Bildungs- schen. Ilmenau 1834.
6 Vgl. z. B. JOHANNES GILLHOFF: Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer. Berlin 1918; JOHANNES GILLHOFE:
institution verteilten Kopien. Dazwischen liegen — wie wir gesehen haben — Aufrufe zur Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer. Berlin 1939; ELDON L. KNUTH/JoOHANNES GiLLHOFF: Who wrote
Einsendung, der Entschluss des Besitzers, dem zu folgen, das Ordnen, Karalogisieren, those letters? In search of Jürnjakob Swehn. Bloomington, Ind. 2005.

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mit wissenschaftlichem Anspruch, herausgegeben von Karl Larsen, erschien 1912 in Ko- schaftlichen Aussage; die Zhemenedition, bei der (alle verfügbaren) Briefe so ausgewählt
penhagen und wurde sogleich ins Deutsche übersetzt.” sind, dass sie bestimmte Sachverhalte, Fragestellungen oder Mentaliditen erhellen.*
Es folgren.in den 1920er und 1930er Jahren vor allem skandinavische Briefsammlun- Die rege Editionstitigkeit unterstreicht die Bedeutung der Auswandererbriefe als zen-
gen in den USA, herausgegeben von. Historikern, die den Beitrag ihrer Nationalität zur wale Quelle fiir die Kultur- und Alltagsgeschichre der Migration, aber auch für die Sozial-,
Entwicklung der USA dokumentieren wollten, danach ein gutes Dutzend weitere, aber Mentalicäts- und Sprachgeschichte. Sie sind nach wie vor neben den wenigen erhaltenen.
erst 1972 das Werk von Charlotte Erickson zu britischen Auswanderern, das heute generell Tagebiichern die einzigen zeitgenössischen sozialgeschichtlichen Zeugnisse fiir die Prozesse
als die erste tatsächlich wissenschaftliche Edition gilt. In dem Maße, wie sich Historiker der Auswanderungsentscheidung sowie der Orientierung und Integration im Gastland
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der Sozial- und Alltagsgeschichte zuwandten und sowie über die Prozesse der Übersetzung und Verständigung mit der neuen Kultur und
dabei in ihrer Forschung auch auf Auswandererbriefe als Ego-Dokumente zuriickgriffen, zwischen der alten und der neuen Heimat. Zunächst interessierten sich fiir diese Briefe
erschienen in einer ersten Welle nationale oder regionale Briefeditionen (sehr unterschied- ausschließlich Historiker,die sich mit dem Phänomen Auswanderung befassten, und sie
licher Qualität). Zu den ersten gehörten Schweden, Dänemark und Norwegen, England stellen auch heute noch eine deutliche Mehrzahl der Wissenschaftler, die mit Auswanderer-
und Schottland, Wales, Niederlande, Deutschschweiz, Tessin, Italien, Polen.” Der Reigen. briefen arbeiten. Aber es kamen andere Disziplinen hinzu ~ Sprachwissenschaft, Historische
der „nationalen“ und regionalen Bände endete im Wesentlichen 1988 mit einer spiten, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie und vor allem auch Wissenschaftler, die über das
aber mustergültigen deutschen Edition, den bereits oben genannten von Wolfgang Hel- Eigenleben der ethnischen Gruppen in Nordamerika arbeiten. Religionswissenschaftler
bich, Ulrike Sommer und Walter Kamphoefner editierten und eingeleiteten „Briefe aus oder Kirchenhistoriker haben sich mit diesem umfangreichen Quellencorpus noch nicht
Amerika“.?9 oe befasst, obwohl gerade auch für sie hier wahre Schätze verborgen liegen.
Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts war die Edition mithin die quantitativ wichtigste
Veréffentlichungsform von oder aufgrund von Auswandererbriefen. Die besten unter ihnen Funktion und Inhalt der Auswandererbriefe
zeichneten sich durch akribische Texttreue und umfassende biographische und sachliche
Kontextualisierung aus. Unter den neueren Editionen (seit 1972) lassen sich grob sechs Was waren Funkrion und Inhalt dieser Briefe für die auswandernden Zeitgenossen? An-
"Typen unterscheiden: die nationale, regionale oder lokale Edition, die eine gewisse Reprisen- ders als bei heutigen Migrationen nach Deutschland und wohin auch immer bedeuteten
tativitär für die entsprechende Wanderungsbewegung bieten soll;! die 6iographiezentrierte Abschied und Trennung der Auswanderer von ihrer Familie beinahe mit Sicherheit
Edition zu einer bestimmten Wanderungsbewegung;'* die biographiezentrierte Edition zu Abschied und Trennung für immer. Umso wichtiger war es, den emotionalen und sozia-
einer Person; die didaktische Edition, die bei Wahrung wissenschaftlicher Mindeststandards len Rückhalt der Zurückgebliebenen zu behalten und sie der eigenen Zuwendung zu
Zweck und Zielgruppe angepasst ist;'* die Thesenedition zur Untermauerung einer wissen- versichern. Die Briefe waren also nicht nur eine Verbindung über den Atlantik, über die
der Rest der Familie über das Ergehen der Auswanderer auf dem Laufenden gehalten
wurde und umgekehrt, sondern eine moralische Rückversicherung, eine Vergewisserung
des nicht Vergessenwerdens und eine Verständigung über die Veränderungsprozesse
kultureller, wirtschaftlicher und sprachlicher Art, die die Ausgewanderten an sich selbst
7 Karı HALFDAN EDUARD LARSEN: Die in die Fremde zogen. Auswandererschicksale in Amerika (1873— erlebten und über die sie in den Briefen berichteten. Zwar liegt uns in der Regel nur eine
1912) auf Grundlage von Briefen und Tagebüchern. Übers. von Alfons Fedor Cohn Berlin 1913.
CHARLOTTE ERICKSON: Invisible Immigrants: The Adaptation of English and Scottish Immigrants in
Seite der Korrespondenz vor. Aus den Inhalten der Auswandererbriefe lässt sich jedoch
auf Nachfragen und Sorge auf Seiten der Daheimgebliebenen schließen. Der Kommuni-
co

nineteenth-century America, London 1972.


Grorero Crepa: Lemigrazione ticinese in Australia. 2 Bde. Locarno 1976; GIORGIO CHEDA: Lemigrazio- kationsprozess war ohne Zweifel ein zweiseitiger, der die beiderseitige Fürsorge durch
\o

ne ticinese in California. Locarno 1981; Aran Conway: The Welsh in America. Letters from the Im- ausführliche Berichte über Familienmitglieder und Bekannte, eindringliche einschlägige
migrants. Minneapolis 1961; Davin Frrzearrick: Oceans of Consolation: Personal Accounts of Irish
Migration to Australia. Ithaca, N.Y. 1994; Kersy A. Mier: Irish immigrants in. the landof Canaan:
Fragen, erbetene oder unerbetene Ratschläge, natürlich auch entsprechende Beteuerungen,
Letters and memoirs from colonial and revolutionary America, 1675-1815. Oxford; New York 2003. Abbirte, Besserungsgelöbnisse zum Ausdruck brachte,
10 Herercn/KampHOEFNER/SOMMER: Briefe aus Amerika (wie Anm. 2); KAMPHOEFNER/HELBICH/SOM- Nahezu ebenso wichtig waren die nach Deutschland geschickten Briefe als Antwort
MER: News from the land of freedom (wie Anm. 4). auf die ausdrückliche oder indirekte Frage, ob die Verwandten oder Bekannten denn
1 CHEDA, L'emigrazione ticinese in California (wie Anm. 9); HELBICH/KaMPHOEENER/SoMMER: Briefe aus
nachkommen, auch auswandern sollten. Entgegen einem bis heute weit verbreiteten

Amerika (wie Anm. 2).


12 Frrzearrick, Oceans of Consolation (wie Anm: 9). Eindruck schrieben die meisten Auswanderer nicht Lobeshymnen auf die neue Heimat
13 Die Briefe von Carl Schurz an Gottfried Kinkel. Eingel. und hrsg. von Eberhard Kessel. Heidelberg und animierten die Lieben in Deutschland nicht, die Koffer zu packen und die Passage zu
14 Hewsics (Hrsg): „Amerika ist ein freies Land ...“ (wie Anm. 4); Horst-RÜDIGEr Jarck, ELKE NIEwÖH- 15 STEPHEN FENDER: Sea Changes: British Emigration and American Literature. Cambridge (England),
NER, Gern Bigger: Brücken in eine neue Welt: Auswanderer aus dem ehemaligen Land Braunschweig. New York 1992 (Cambridge studies in American literature and culture).
Wiesbaden 2000 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek). 16 Hreica/Kamrroeener, Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg (wie Anm. 4).

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buchen. (Eine kleine Minderheit tat es, aber dabei handelte es sich um besonders gelagerte geschichtlichen Narrativen bleibt aber nach wie vor das „Visual History Archive“, auch
Fälle oder schlichten Leichtsinn. Wir berichten davon später.) Stattdessen schrieben sie bekannt als „Spielberg“-Archiv, das der Regisseur und Filmemacher im Zusammenhang mit
seitenlang über Klima und Boden, Verdienst und Preise, Berufschancen für bestimmte den Dreharbeiten zum Film „Schindler’s List“ zusammengetragen hat. Bisher noch nicht
Handwerke und Dienstmägde, Heimweh und die Amerikaner, um dann fast formelhaft systematisch ausgewertet ist auch eine Sammlung von Briefen und Oral Histories der mehr
zu schließen: Zu- oder abraten tun wir nicht; wir schildern nur, wie es ist; entscheiden als einhundert deutschen Wissenschaftler und Techniker, die nach dem Zweiten Weltkrieg
müsst Ihr Euch selbst. zur Weiterentwicklung der Raumfahrtmedizin und Raumfahrttechnik aus Heidelberg
Warum diese Zurückhaltung? Der im 19. Jahrhundert noch enorm starke Familienzu- und Berlin in die USA geschickt worden sind. Dieser bisher noch nicht gehobene Schatz
sammenhalt, von dem eben die Rede war, brachte auch eine selbstverständliche, praktisch liegt nach wie vor am Institut für Raumfahrtphysiologie der Freien Universität Berlin.
nie in Frage gestellte, Verpflichtung mit sich: Die nachwandernden Verwandten mussten Parallel zur Edition von Auswandererbriefen wurden seit Ende der 1970er Jahre in
aufgenommen werden, bis sie eine Wohnung gefunden hatten, ernährt und versorgt, bis Deutschland, aber auch in den USA, zahlreiche Dissertationen, Bücher, Artikel und auch
sie auf eigenen Füßen standen, und nicht zuletzt musste für sie gedolmetscht und ihnen einige Habilitationsschriften zur deutschen Amerika-Auswanderung verfasst, in denen in
bei der Arbeitssuche geholfen werden — Hilfeleistungen, die kostspielig sein und sich zunehmendem Masse auch Auswandererbriefe verarbeitet worden sind, häufig jedoch in
auch über längere Zeit erstrecken konnten. Zu alledem waren die Briefschreiber bereit, erster Linie zu Illustrationszwecken. Erst in den 1990er Jahren erschienen vermehrt wis-
ob nun den Konventionen sich beugend oder auch aus eigenem Antrieb und gern. Doch senschaftliche Publikationen, die den originären Quellenwert von Auswandererbriefen
erfahrungsgemäß war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Neueinwanderer von Amerika erkannten und diese als zusätzliche Quelle im Rahmen der Auswanderungs- und Migra-
enttäuscht waren oder das Heimweh übermächtig wurde, und sie ihren Auswanderungs- tionsforschung auswerteten. Dabei interessierten vor allem zwei Bereiche: Informationen,
entschluss bereuten, vor allem in den ersten Monaten. Und sich neben allen Bemühungen, die auch in anderen Quellen — Zeitungen, Statistiken, Akten — gefunden werden können,
Kosten und Unbequemlichkeiten nun auch Vorwürfe anhören zu müssen, weil man den und solche, die ausschließlich Briefe (und die seltenen erhalten gebliebenen Tagebücher)
falschen Rat zur Nachwanderung gegeben hatte — nein, das wollte sich niemand antun, zu liefern vermögen. Die Feststellung ist nicht übertrieben, dass seit Mitte der neunziger
Tatsächlich scheint es, als sei mehr deutlich ab- als direkt zugeraten worden. Jahre im deutschen Sprachraum zur Amerika-Auswanderung keine Dissertation eingereicht
wurde und kein wissenschaftliches Buch erschien, das auf das Heranziehen der Aussagen
Auswandererbriefe und Migrationsforschung in Auswandererbriefen verzichrer härtre. Das wissenschaftliche Interesse der Historiker
konzentrierte sich auf die Erforschung der Beziehungen zwischen Auswanderern und den
Deutsche Historiker haben die Massenbewegung der sechs Millionen Deutschen nach Daheimgebliebenen sowie den Prozess der Integration und Akkulturation in der Aufnah-
Nordamerika im 19. Jahrhundert erst sehr spät zu erforschen begonnen. Lange sah man megesellschaft.”” Aber auch Fragen etwa nach der Motivation und dem wirtschaftlichen
Auswanderer als vaterlandslose Gesellen, deren Verlust die Macht des Reiches schwächte, Hintergrund der Auswanderung, beruflichem Fortkommen und Sozialstatus, ethnischem
und während Auswanderung und Auslandsdeutsche als Untersuchungsgegenstand in den. Eigenleben in Vereinen, Schulen, Kirchen, Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und ihren
1930er Jahren Hochkonjunktur hatten, waren sie als Forschungsgebiet gerade deshalb Minderheiten, besonders Arbeitswelt, Lebensstandard, Diskriminierung und Politik,
bis in die 1970er Jahre als nationalistisch wenn nicht nazistisch diskreditiert und fast Strukturen von Siedlung und Kettenwanderung, sowie Wertewandel werden behandelt.
tabu. Wie bereits erwähnt, traf die allımähliche Normalisierung und weitgehend Rehabi- Außerhalb der Geschichtswissenschaft haben insbesondere Linguisten die Auswan-
litierung des Themas Auswanderung zusammen mit dem Siegeszug der Sozialgeschichte dererbriefe als zentrale Quelle entdeckt. Auswandererbriefe stellen das umfangreichste
und der Historischen Demographie, deren Schwergewicht zwar zunächst auf Statistiken Corpus von Schriftlichkeit einfacher, wenig gebildeter Menschen in Deutschland aus
und berechenbaren Größen lag, die aber bald auch einen Zweig entwickelte, der sich
mit „Ego-Dokumenten“ — Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Zeitzeugen-
17 Geore Ferric: Lokales Leben, atlantische Welt die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach
Interviews — befasste. Etwa gleichzeitig mit den Auswandererbriefen zog eine andere Ka- Nordamerika im 18. Jahrhundert. 1. Aufl. Osnabrück 2000 (Studien zur Historischen Migrationsfor-
tegorie von Briefen die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und Publikum auf sich, schung); MARK HÄSERLEIN: Vom Oberrhein zum Susquehanna Studien zur badischen Auswanderung
der Feldpost- oder Kriegsbrief, und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass diese beiden nach Pennsylvania im 18. Jahrhundert. Sturegart 1993 (Veröffentlichungen der Kommission für Ge-
Briefarten ganz wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die vor allem die Trennung schichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen); Dirk HosrDer/JörG Nac-
LER: People in transit: German migrations in comparative perspective, 1820-1930. Washington, D.C;
für immer, die große Entfernung und vor allem die Funktion des Zusammenhaltens der Cambridge; New York 1995 (Publications of the German Historical Institute); JOCHEN Kreger: Würt-
Familie betreffen. Heute kommen ora! histories und Interviews hinzu, z. T auch gefilmt, temberger in Amerika. Untersuchungen zur räumlichen und sozialen Dimension der Nordamerikaemi-
in denen Flüchtlinge und Migranten ihre Lebensgeschichte als Erinnerungsgeschichte gration von der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert. Ruhr-Universigit Bochum 2009; Uwe Reich:
erzählen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auf das große Interviewprojekt der Aus Cottbus und Arnswalde in die Neue Welt Amerika-Auswanderung aus Ostelbien im 19. Jahrhun-
dert. Osnabrück 1997 (Studien zur Historischen Migrationsforschung); HELMUT SCHMAHL: Verpflanzr,
Stiftung „Erinnerung, Zukunft, Verantwortung“ hinzuweisen, in dem Zwangsarbeiter aus aber nicht entwurzelt die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin
Osteuropa ihre Lebensgeschichte erzählen. Die größte existierende Sammlung von lebens- im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M., Berlin 2000 (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte).

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Ursula Lehmkuhl _ Auswandererbriefe als kommunikative Brücken

dem 19. Jahrhundert dar. Und ein Linguist hat bereits seine erfolgreiche Münsteraner der Briefe entsprechen nur in den seltensten Fällen den Konventionen bildungsbürgerlicher
Habilitationsschrift (2002) auf der Grundlage solcher Briefe verfasst.'® Ihn interessierten Briefkultur. Die Schreibpraktiken und -konventionen von Auswanderern unterscheiden
also weniger der Inhalt als die Sprache der Schreiben, denn die Briefe geben Aufschluss sich deutlich davon, wie Bruce Elliott, David Gerber und Suzanne Sinke gezeigt haben.?!
über die Entwicklung der deutschen Dialekte im 19. Und frühen 20. Jahrhundert. Für Dies und andere Faktoren beschreiben aber zugleich die Schwierigkeiten, die mit dieser
Historiker und die angrenzenden Disziplinen, die sich mit Auswanderung, Einwande- Quellenart verbunden sind. Die zu ermittelnden biographischen Informationen über
rung, Migration überhaupt, kulturellem Zusammenleben oder ethnischem Eigenleben Briefschreiber und -empfänger bleiben in vielen Fällen sehr unvollständig, und zudem ist
eingewanderter Minderheiten befassen, interessiert die Sprache vor allem als Messlatte von den allermeisten Korrespondenzen nur die eine Seite vorhanden. Dies erschwert die
des Bildungsgrades. historische Arbeit der Kontextualisierung ebenso wie die Tatsache, dass es sich um eine
Briefinhalte, die auch in anderen Quellen erscheinen, sind zwar weniger unentbehrlich, zweiseitige Kommunikation handelt, bei der offen bleibr, inwieweit der Schreiber den Er-
aber keineswegs überflüssig. Zunächst stellen sie ein wichtiges Korrektiv dar für bis heute wartungen des Adressaten entgegenzukommen sucht. Diese und andere Gründe mögen
geäußerte Pauschalurteile, die z. B. in der Presse eifrig gepflegt wurden, wie „alle deutschen erklären, warum das.Genre oder der Quellentyp „Auswandererbrief“ im engeren Sinne,
Einwanderer waren entschieden gegen die Sklaverei“, Sortiert man ein paar Dutzend Briefe nämlich im Sinne einer originären „Auswandererbriefforschung“ erst in jüngerer Zeit ins
aus den 1850er und 1860er Jahren nach der darin zum Ausdruck kommenden Haltung Blickfeld der Forschung gerückt ist. So beschäftigte sich 2003 eine dreitägige internationale
zu dieser Frage, so muss man konstatieren, dass der Stapel derer, denen die Sklaverei völlig Konferenz mit der Quellengattung und dem Quellentyp des „Auswandererbriefs“.? Ausge-
egal ist, die sie als notwendiges Übel rechtfertigen oder sie schlichtweg gutheißen, beinahe hend von der Erfahrung mit der Sperrigkeit des Quellenmaterials und den Schwierigkeiten
ebenso hoch ist wie jener mit der erwarteten Meinung. Daneben verleihen sie Sachver- seiner Erschließung und Interpretation sollten sich gut 50 Referenten aus elf Ländern
halten — zum Beispiel der Stellung der Frau in der amerikanischen Gesellschaft — Farbe neuen Ansätzen und Interpretationen von Auswandererbriefen widmen. Tatsächlich
und Lebendigkeit, indem sich plötzlich aus grauen Zahlenkolonnen oder soziologischen geschah dies auf der Konferenz jedoch nur ansatzweise.“ Ein knappes Drittel der Refe-
Diagrammen leibhaftige Menschen mit ihren konkreten Erlebnissen herausschälen. rate erschien 2006 in dem Konferenzband Letters Across Borders? Hier verweisen die
In diesem Zusammenhang wurde das Problem der Aussagekraft und Repräsentativität Herausgeber erneut auf die problematische Zugänglichkeit des Genres und den diffusen
des Quellenmaterials kritisch diskutiert.” Das Problem der Repräsentativität von Auswan- Charakter des Auswandererbriefes als historische Quelle, unterstreichen aber zugleich
dererbriefen ist allenfalls in Ansätzen geklärt. Diejenigen Briefe, die heute noch erhalten sein historisches Potential insbesondere für die Erfassung der subjektiven Dimensionen
und der Forschung zugänglich sind, stellen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten der Auswanderungserfahrung.”
Korrespondenz über den Atlantik dar, den man mir 1 von 10 000 beziffern kann. Und Ebenfalls 2006 publizierte einer der Herausgeber des Konferenzbandes, David Gerber,
gemessen an der sozialen Verteilung der deutschen Auswanderer insgesamt sind Briefe aus eine Monographie, die sich ausschließlich dem Quellentyp und seiner Interpretation
dem Mittelstand deutlich überrepräsentiert. Wie Wolfgang Helbich und Walter Kamp- widmete und die als Meilenstein in der Auswandererbriefforschung zu bewerten ist.” In
hoefner, aber auch David Fitzpatrick herausgearbeitet haben, ist der erhalten gebliebene Authors of their Lives unternimmt Gerber den Versuch, Auswandererbriefe theoretisch
Briefbestand zudem eher für diejenigen repräsentativ, die die Briefe aufbewahrt haben, als fundiert neu zu lesen und auf der Basis einer kritischen Reflexion der bisher geleisteten
für die zeitgenössischen Briefschreiber und -empfänger.” Offen bleibt eine für das Genre wissenschafilichen Arbeit historisch-anthropologische Interprerationsperspeltiven für die
praktikable Definition von Reprisentativitit wie auch die Frage nach dem Stellenwert Auswandererbriefforschung zu entwickeln. In einem umfangreichen. theoretischen Teil
von Repräsentativität bei Auswandererbriefen überhaupt. diskutiert Gerber soziologische, sozialanthropologische und auch literaturwissenschaft-
liche Ansätze und verdichtet sie schließlich zu einem Forschungsprogramm, das darauf
Auswandererbriefforschung zielt, den Auswandererbrief als eigenständige historische Quelle aufzuwerten und ihn aus
dem Schartendasein eines häufig nur zur Hustration herangezogenen Sekundärdoku-
Es ist einleitend bereits gesagt worden: Das Besondere an der Quelle „Auswandererbrief“ ments herauszuholen. Gerber rekonstruiert auf der Grundlage des Briefmaterials die
ist der Umstand, dass wir es hier mit Texten aus der Feder einfacher Menschen zu tun ha-
ben, die ohne die Auswanderungserfahrung kaum geschrieben und schriftliche Zeugnisse
hinterlassen hätten. Orthographie, Syntax, Semantik/Lexik und der argumentative Aufbau 21 Bauck S. BLirort, Davi A. GERBER, Suzanne M. Syke: Letters Across Borders: The Epistolary Prac-
tices of International Migrants. 1st ed. New York 2006.
22 Reading the Immigrant Letter“, organisiert von Bruce Elliott, Carleton University, Ottawa.
18 STEPHAN Eispass: Spt
Sprachgeschichte von unten. . Untersuchungen zum geschriebenen
geschri Alltagsdeutsch i 23 Worrcarc Hausıch: Tagungsbericht Reading the Emigrant Letter: Innovative approaches and interpre-
19. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Reihe Germanistische Linguistik, 263). ® = ations. 07.08.2003--09.08.2003, Ottawa, Ont. In: H-Soz-u-Kult (2003).
19 WOLFGANG Hewsren/Warrer D. KaMmpHOEFNER: How Representative are Emigrant Letters? An Explo- 24 Letters Across Borders (wie Anm. 21).
ration of the German Case. In: Letters across Borders (wie Anm. 21). 25 Ebd,S. 4.
20 Vgl. Frrzeatrick, Oceans of Consolation (wie Anm. 9), HELBICH AND KAMPHOBFNER, How Representa- - 26 Davip A. Geraer: Authors of their Lives: The Personal Correspondence of British Immigrants to North
tive are Emigrant Letters? (wie Anm. 19).” America in the nineteenth century. New York 2006.

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Ursula Lehmkuhl Auswandererbriefe als kommunikative Brücken

PL US -- NEP aia Lebensgeschichten von vier Auswanderern und untersucht die Beziehungen zwischen den
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Korrespondenten und ihren Familien mit dem Fokus auf Identititen und Beziehungsge-
flechre. Deutlich setzt er sich ab von der bis dahin dominierenden sozialhistorischen
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Auswertung von Auswandererbriefen.”” Während Gerbers theoretische Überlegungen
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i stieß die Distanzierung von der Nutzung von Auswandererbriefen für die Beantwortung
sozialhistorischer Fragestellungen auf deutlichen Widerspruch. Das eigentliche Verdienst
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Gerbers, nämlich theoretisch fundierte Perspektiven für die Lektüre und Interpretation

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von Auswandererbriefen eröffnet zu haben, geriet im Eifer des Gefechts erwas aus dem
Blickfeld. Zukünftige Forschung zum Thema „Auswandererbriefe“ kann und muss dort
odie eile ansetzen, wo Gerber aufgehört hat. Dabei ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten

ZZ der Weiterentwicklung seines Ansatzes, z. B. indem man die Briefe im Hinblick auf die
darin enthaltenen Informationen zur Netzwerkbildung zwischen den Auswanderern in
den USA und mit den Daheimgebliebenen in Deutschland auswertet. Auch die eingangs
erwähnte subjektive Perspektive der Emotionen bietet einen innovativen Zugang, der den
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7 fi AL Eigenwert der Briefe betont.
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Zukünftige Perspektiven der Auswandererbrief-Forschung

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Unter den Brießserien, dieim Rahmen der Briefsammlung in den neuen Bundesländern der
Forschungsbibliothek Gotha übermittelt worden sind, befindet sich eine Serie, die sich in

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vielerlei Hinsicht von den übrigen Briefserien unterscheidet. Es handelt sich dabei um eine
Briefserie einer aus Thüringen ausgewanderten Familie, die 201 Briefe aus dem Zeitraum
1852 bis 2005 umfasst. Unter den ca. 10 000 Briefen der Nordamerika-Briefsammlung
in Gotha gibt es keine zweite Briefserie, die mit großem Abstand so umfangreich ist und
keine, die einen so langen Zeitraum umfasst (1852-2005). Zusätzlich zu den 201 Briefen
liegen oral histories und familiengeschichtliche Überlieferungen, z. B. Chroniken vor,
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die nicht nur zusätzliche Einblicke in die Geschichte dieses Familiennetzwerkes geben,

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i i» sondern auch bei der Kontextualisierung der Briefinhalte von unschätzbarem Wert sind.
bess ANTS ra Die Brießerie besteht aus Teilsequenzen, die von 19 unterschiedlichen Autoren aus der
Familie des 1851 ausgewanderten Johann Heinrich Carl Bohn (geb. 1816 in Remptendorf,
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Thüringen) stammen. Zu den Hauptbriefeschreibern gehören: der Auswanderer Johann
Heinrich Carl Bohn (9 Briefe, 1856-1883), sein ältester Sohn Carl Heinrich Bohn (23
Briefe, 1861-1878) sowie seine beiden jüngsten Söhne William E. Bohn (23 Briefe,
1905-1967) und Frank Bohn (26 Briefe, 1907-1967), dann die Linie Kuchenbecker,

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ZE | insbesondere Ernst und Marie Kuchenbecker (51 Briefe, 1891-1932), Karl Kuchenbecker
(8 Briefe, 1898-1909) und Adolf Kuchenbecker (16 Briefe, 1950-1960), und schließlich
Abb. 2: Auszug aus einem Brief aus der Briefseric D8bling/Luther 27 Ebd, S.28,13,27.
(ausgewandert 1858 aus Salzungen) 28 Vgl. u. a. die Rezensionen von Wolfgang Helbich in: sehepunkte, 6 (2006), Nr. 12 [15. 12. 2006]; Paul
Quelle: Forschungsbibliothek Gotha, Nordamerika-Briefsammlung, Dauphinais in: Historian 69 (2007), S. 584 f.; David Fitzpatrick in: The Journal of British Studies 46,
2005/005.092 (K), Débling/Luther (2007), S. 429 f£; William W. Giffin in: Journal of American Ethnic History 26 (2007), S. 103 fF; Daniel
Gorman in: History: Review of New Books 34 (2006), S. 79 £; Eva-Marie Kröller in: Ontario History 99
(207), S. 267 fF; Francoise Noél in: American Historical Review 111 (2006), 5. 1169 £; Daniel Soyer in:
Reviews in American History 35 (2007), S. 32-38; William E. Van Vugt in: Journal of American History,
Dec. 2006, S. 858 f.

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Ursula Lehmkuhl Auswandererbriefe als kommunikative Brücken

Erna und Roland Wehrmann (21 Briefe, 1957-1968). Letzterer ist der Einsender’
der Söhnen des 1852 mit seiner eigenen und einer verschwägerten Familie ausgewanderten
umfangreichen Briefserie. Johann Heinrich Karl Bohn, mit dessen Briefen die Serie beginnt. Wehrmanns langjäh-
Johann Heinrich Carl Bohn wanderte 1852 aus, zusammen mit seiner Frau, Johanne rige familiengeschichtliche Nachforschungen, sein stetiger Kontakt mit amerikanischen
Heinrike Köchel, fünf Kindern sowie der Familie Meisgeier, gleichfalls aus Remptendorf. Nachfahren der Familie, seine voluminösen Aufzeichnungen und Materialsammlungen
Er folgte seiner Schwester Christiane Karoline Bohn, die bereits seit 1845 in den USA erwiesen sich als ganz ungewöhnlich hilfreich. Eine vergleichbare Fülle von Informatio-
lebte und sich in Warrensville, Ohio, niedergelassen harte. Johann Heinrich Carl und nen, insbesondere zu den amerikanischen Verästelungen des komplexen transatlantischen
seine Familie siedelten zunächst ebenfalls in Ohio (Orange), beides winzige Siedlungen Familienverbandes, verdanken wir dem amerikanischen Bohn-Nachfahren und Familien-
im Cuyahoga County, beides heute Vororte von Cleveland, nur etwa drei Kilometer von- historiker Pfarrer Duane Manson, dessen Materialien auch or histories und Berichte über
einander entfernt. Dieser Teil der Bohn-Familie bildete die Basis des Familiennetzwerkes, die bis heute abgehaltenen Familientreffen enthalten.
das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich vergrößerte. Zwischen 1852 In den USA gibt es Hinweise auf die Bohn-Familie in gut 20 Archiven und Biblio-
und 1878 wurden 14 weitere Kinder geboren: Acht in der ersten, 1840 in Deutschland theken, aber die mit Abstand reichhaltigsten Depositorien sind die Tamiment Library
geschlossenen Ehe Johann Heinrich Carls, außerdem jeweils drei weitere in 1870 bzw. 1874 und die Robert E Wagner Labor Archives der New York University, die Hunderte von
in den USA geschlossenen Ehen. Das Familienoberhaupt, das Thüringen bereits wohlha- Frank und William Bohn-Briefen und veröffentlichte Artikel sowie zahlreiche Hinweise
bend verlassen hatte, etablierte sich in dieser Zeit als erfolgreicher und begüterter Farmer. auf deren politische und universitäre Aktivitäten enthält, Durch ihre publizistische und
Wie groß das Vermögen war, mit dem Johann Heinrich Carl Bohn ausgewandert ist, organisatorische Tätigkeit sind Leben, Wirken und Denken dieser beiden Mitglieder des
wissen wir nicht. Es dürfte aber beträchtlich gewesen sein. Denn bereits um 1850 gehörte amerikanischen Familienzweigs mit Abstand am besten dokumentiert. Die zahlreichen
Ohio zu den reichsten Bundesstaaten der USA gemessen an der Höhe des versteuerbaren Briefe der beiden ältesten Söhne des Auswanderers, Carl und Gustav, die beide als Frei-
Besitzes seiner Einwohner, und Farmland war mit 15 bis 20 Dollar pro „acre“ teuer. Im willige vier bzw. drei Jahre lang im Bürgerkrieg dienten, werden durch eine veröffentlichte
Vergleich dazu kostete ein „acre“ Land in Kalifornien zur gleichen Zeit lediglich 5 Dollar. Regimentsgeschichte (107 Ohio Inf.) und die umfangreichen, vollständig erhaltenen
Es ist sicherlich seinem relativen Wohlstand geschuldet, dass Johann Heinrich Carl Militär-Materialien in den National Archives in Washington ergänzt.
Bohn, entgegen der in anderen Briefen sehr häufig anzutreffenden Zurückhaltung der Die bisher geleisteten Archivstudien in Deutschland und den USA haben eine deutliche
Ausgewanderten, den Verwandten in Remptendorf nachdrücklich zur Auswanderung Erweiterung und Vertiefung der bisherigen Erkenntnisse ergeben. Vor allem im Thürin-
rier und die Situation in den USA äußerst positiv schilderte. In seinem ersten Brief in die gischen Staatsarchiv Greiz findet sich eine ausführliche Dokumentation zu den Besitz-
alte Heimat an den dabeimgebliebenen Schwager Christian Heinrich Werner rät er unter verhältnissen des recht wohlhabenden ursprünglichen Auswanderers, zur Auswanderung
dem 3. Juni 1856 beispielsweise dringend dazu, dass die bald volljihrige Patentochter aus der Region um Remptendorf im allgemeinen und vor allem zu den Ereignissen um
Pauline in die USA kommen soll. Hier habe sie bessere Heirarschancen und würde selbst die Revolution von 1848, in denen der Auswanderer Bohn ein wichtiger Akteur war. Die
als Hausmidchen noch besser leben als eine reiche Bäuerin in Thüringen: sozialistisch-humanitäre Grundhaltung des Familienoberhaupts spielte und spielt gleichsam
„... Auch eure Kinder werden gewiß recht Herangewachsen sein?, Du wirst uns das nich- als „Familienmythos“ für das Selbstverständnis der Bohns eine zentrale Rolle — über die
stens mit Schreiben, unsere Pathe Pauline wird bald groß genug sein vor zu Heurathen? wiv beiden im als 18 und 20jährige aus politischer Überzeugung auf der Seite der Nordstaaten
würden Euch aber Rathen dieselbe lieber nach Americka zu [Spediren?], was sicher das beste im amerikanischen Bürgerkrieg gegen die Sklaverei kämpfenden erste beiden Söhne des
vor Sie wäre, hier hat es ein Dienstmidchen gewif viel beßer, wie bei Euch eine Bauersfrau in Auswanderers, Carl und Gustav Eduard, die beiden in der sozialistischen Bewegung der
noch ziemmlich guten [- - -ständten], auch fehlt es hir nicht an guten Heurathsgelegenbeiten USA am Ende des 19. Jahrhunderts politisch aktiven jüngsten Söhne, Frank und William
Sie würde uns ein recht Willkommener Gast sein, und würden vor Sie Sorgen wie voror ere E. Bohn, bis hin zu dem Nachfahren und Einsender Roland Wehrmann, dessen Briefe
eigenen Kinder.= Wen sie nur einmal hir wäre, gereuen thite sies gewiß nicht. . ein deutliches Bewusstsein dieser Tradition erkennen lassen, nicht zuletzt beim Austritt
Und er schließt seinen Brief mit dem Hinweis: des zwangsvereinigten SPD-Mitgliedes aus der SED Anfang der 1950er Jahre. Für den
„Es ist uns Bekannt das sich die Regierungen Deutschlants alle mühe geben um die Ab- Historiker faszinierend sind Entstehung, Tradierung und die Bedeutung dieses „Grün-
schreckendsten. Beispiele über Amerika zu Verbreiten; wir dürfen aber nicht im geringsten dungsmythos® der Bohn-Sippe für einige der Briefeschreiber: Johann Heinrich Carl Bohn,
über unsere Umgebung klagen, es kommt das immer auf das Verhalten einer Familie selbst der achtundvierziger Revolutionär, der enttäuscht Deutschland verlässt, wird bis in die
an, meine Nachbarn sind wenigstens 99 Procent besser wie in Remptendorf, - - - wir können 1960er Jahre hinein in den Briefen der Bohn-Nachkommen gefeiert,
nichts weiter Dancken, Dancken unsern Schöpfer Danken, der uns hierher geleitet hat.“ Durch den archivalisch bestätigten revolutionären Hintergrund der Auswanderung
Roland Wehrmann aus Remptendorf in Thüringen gehört zur bislang letzten Genera- Bohns erhält seine in zahlreichen Briefen in die alte Heimat geäußerte Deutschland- und
tion der Briefschreiber und korrespondierte selbst noch mit zwei in Amerika geborenen Fürstenkritik besonderes Gewicht, ebenso wie Berichte eines seiner Söhne über die langen
abendlichen politischen Diskussionen im Kreise gleichgesinnter deutscher Einwanderer.
29 Forschungsbibliothek Gotha, Nordamerikabriefsammlung, 2004/005.949 (K), Wehrmann-Bohn. Auch die Karriere der oben bereits erwähnten beiden jüngsten Söhne — Frank und Wil-

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Ursula Lehmkuhl Auswandererbriefe als kommunikative Brücken

liam E. — Studium, verschiedene Universitäts-Dozenturen, u. a. an der Columbia Universi- in keinem der Briefe erwähnt. Vielmehr sprechen die Briefe auch nach 1861 weiterhin
ty, Tätigkeit als „Lecturer“ in verschiedenen außeruniversitären Einrichtungen hauptsäch- von Gustav. Erst durch das Zusammenführen yon Informationen wie Geburtsjahr, Ge-
lich der Arbeiterbewegung bzw. des progressive movement und vor allem langjährige aktive burtsort (Sachsen/Saxony) und die Regimentsbezeichnung (6. Ohio Kavallerie) konnte
internationale Tätigkeit für die in den USA verfemte Sozialistische Partei, ist ohne Zweifel eindeutig der in den Bürgerkriegs-Akten auftauchende „Christopher Bohn“ als Gustav
von der politischen Familientradition beeinflusst. Herauszuheben und von besonderem identifiziert werden.
Interesse ist die politische Karriere von Frank Bohn. Er war Gründungsmitglied der „Indu- Zu den offenen Punkten, die im Zuge weiterer Forschung geklärt werden sollen, gehört
strial Workers of the World“, einer internationalen Gewerkschaftsbewegung, „National schließlich auch die Frage, warum die Familie in Ohio gesiedelt hat und nicht in einer
Secretary“ der „Socialist Labor Party of America“ (in dieser Eigenschaft nahm er 1907 in anderen Gegend, Aber auch der ungewöhnliche Umstand, dass die Schwester des Auswan-
Stuttgart am Treffen der Zweiten Internationalen teil) und später der „Socialist Party of derers zuerst ausgewandert ist, soll geklärt werden. Schließlich sollen aber auch mit Hilfe
America” und fungierte als Herausgeber der „International Socialist Review“. : dieses außergewöhnlichen Quellenfundus neue Fragestellungen und Untersuchungsper-
In besonders materialreicher Weise dokumentiert diese Briefserie diejenigen Faktoren, spekriven an das historische Phänomen „Auswandererbrief“ herangetragen werden. Aus-
die Familien, getrennt durch den Atlantik, über Generationen hinweg zusammengehalten gehend von der Grundannahme, dass Schreiben eine zentrale kommunikative Praxis
haben, wozu natürlich Interesse oder Bedürfnis auf beiden Familienzweigen erforderlich ist, soll auf der Grundlage dieser Briefserie die soziale und kommunikative Praxis eines
sind. Durch die Verwobenheit der verschiedenen Familienstränge werden verschiedene transnationalen Familiennetzwerkes über unterschiedliche Generationen und historische
Muster deutlich — auch die des frühen Abbruchs der transatlantischen Beziehungen. Der Umbruchsituationen hinweg (Revolution 1848, Erster und Zweiter Weltkrieg, sowjetische
Reichtum an Informationen gibt schließlich auch einen hervorragenden Einblick in die Besatzung, Mauerbau, DDR, Wiedervereinigung) untersucht werden. Dabei soll neben
Entstehung und Pflege von Familien-Netzwerken zwischen über die USA verstreuten den sozialhistorisch relevanten Fragen nach sozialer Inklusion und Exklusion, den Kohä-
"Ihüringer Auswanderern. Solche Netzwerke sind in den letzten Jahren auch in der Mi- sionsfaktoren innerhalb des Netzwerkes und seiner Bedeutung als soziales Kapital für
grationsforschung in ihrer Bedeutung erkannt worden, aber es gibt erst Ansätze zu einer die ausgewanderten Familienmitglieder auch die subjektive und damit mikrohistorische
wissenschaftlichen Erforschung, teils aus Quellenmangel, teils wegen der großen Kom- Dimension der Auswanderungserfahrung (Erwartungen, Identitäten, Kontinuitäts- und
plexität der Materie. Umbrucherfahrung etc.) in den Blick genommen werden. Hierzu werden die individuel-
Letzter Punkt — die hohe Komplexität — gilt für unsere umfangreiche Serie in einem len Lebensgeschichten bzw. Lebenslaufkonstruktionen und die Schreibpraxis brieflicher
besonderen Maße, Nicht nur zeugte unser Auswanderer Johann Heinrich Carl Bohn in Selbstthematisierung analysiert und die Koordinations- und Kommunikations- sowie die
drei Ehen 16 Kindern. Auch seine Söhne, beispielsweise der zweite Sohn, Gustav Heinrich, Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Netzwerkes insbesondere in jenen Phasen, in de-
hatte neun Kinder. Allein in den ersten drei Generationen zählte die engere Familie über nen sich ein Wandel kultureller Identität abzeichnet oder in denen Umbrucherfahrungen
60 Mitglieder. Der Auswanderer Johann Heinrich Carl Bohn war nicht nur wohlhabend, thematisiert werden, rekonstruiert. Das Forschungsprojekt leistet damit nicht nur einen
sondern sehr daran interessiert, dass seine Kinder sich schnell in die neue Gesellschaft Beitrag zur historischen Netzwerkanalyse, sondern auch zur Auswandererbriefforschung
integrierten. Wohlwissend, dass Sprache und Bildung der Zugang zu wirtschaftlichem im engeren Sinne und zwar insofern, als das Genre „Auswandererbrief“ als Medium der
Erfolg war, legte er großen Wert darauf, dass sie Englisch lernten. Es ist frappierend, wie transnationalen Selbstverstindigung, der Tradierung von Identität stiftenden Familien-
schnell in dieser Familie die deutschen Vornamen amerikanisiert wurden, Das war bei mythen sowie als Medium des Kulturtransfers betrachtet und ausgewertet wird. Die hi-
Carl, dem Erstgeborenen, der sich in den USA Charles nannte, nicht weiter problematisch. storische Quelle ,,Auswandererbrief* kann in diesem Zusammenhang wie ein narratives
Aber für Gustav, den Zweitgeborenen, stellte sein nur schwer ins Englische übertragbarer Interview gelesen werden. Zusammen mit den zusätzlich überlieferten Quellenmaterialien,
Vorname auch eine gewisse Bürde dar, die dazu führte, dass er mit dem Eintritt in das 6. insbesondere der Erfahrungsbetichte aus den regelmäßigen Familientreffen, geben sie
Ohio Kavallerie-Regiment 1861 zum Kampf für die Ideale der Freiheit und Menschen- indirekt Aufschluss über die Rezeption der Brieftexte innerhalb des Familiennetzwerkes.
rechte im amerikanischen Bürgerkrieg, kurzerhand seinen deutschen Vornamen durch
einen englischen ersetzte und sich fortan „Christopher“ nannte.
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Diese kleine Episode weist auf eine weitere Schwierigkeit in der Rekonstruktion von
Lebensläufen und Netzwerkzusammenhängen hin. Während wir aus den Regimentsakten Jede Art von Unterstützung der Bemühungen, Auswandererbriefe zu suchen, zu finden
zum amerikanischen Bürgerkrieg relativ leicht Informationen über Karl alias „Charles“ und zu retten, wird von Wissenschaftlern, Interessenten und künftigen Lesern der resul-
Bohn ermitteln konnten, war dies für Gustav nur über einige Umwege möglich, denn tierenden Publikationen begrüßt und geschätzt. Beim Suchen und Einsenden dieser
ein „Gustav Bohn“ wurde in den Akten nicht geführt und der „Edward Bohn“, den wir Dokumente geht es nicht nur um einen Beitrag zu einer von Wissenschaftlern dringend
gefunden haben, konnte nicht mit Gustav Eduard identisch sein. Der schlichte Austausch benötigten Sammlung, von der besonders bedeutsame Briefe in Buchform erscheinen
des deutschen Vornamens durch einen im englischen leichter auszusprechenden und nicht sollen. Es geht vor allem — wie eingangs dargelegt worden ist — um die Rettung von wert-
nur seine graduelle Veränderung im Sinne einer Anpassung an die englische Sprache wird vollem Kulturgut. Leser, die Auswandererbriefe aus dem 19. oder 20. Jahrhundert besitzen

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Ursula Lehmkuhl

oder von solchen wissen oder erfahren, werden deshalb herzlich gebeten, zur Erhaltung Der ,,Forty-Eighter Friedrich Bernhard Teuthorn
dieses wichtigen Schriftgutes beizutragen, indem sie sich wenden an — oder Briefbesit-
zer hinweisen auf — Forschungsbibliothek Gotha, Postfach 100130, 99851 Gotha, Tel. Auswandern nach Amerika aus politischen Gründen
03621-30800, Fax 03621-308038, Email: auswandererbricfe@flb-gotha.de. Wer Interesse
an Auswandererbriefen oder Lehrmaterial hat, findet unter www.auswandererbriefe.de Von PETER TRUTHORN
ausführliche Informarionen, zahlreiche Briefe und umfangreiches didaktisches Material,
das nach vorheriger Anmeldung zur freien Verfügung steht.
Gesammelt werden nicht allein Auswandererbriefe, die aus den USA geschrieben worden. Vorbemerkung
sind. Auch Briefe aus anderen Weltregionen sind herzlich willkommen. Sie würden die zwangsläufig dazu,
Grundlage schaffen, für eine stärkere kulturvergleichende Untersuchung der Auswande- Viele Familienforscher kommen im Laufe ihrer Forschungen fast
sich mit Auswanderung zu beschäftigen. Dabei überwie gt die Auswan derung nach den
rungserfahrung. Die bereits vorhandenen Auswandererbriefe aus Brasilien bilden hier ei- zwische n 1820 und 1920 erreicht en dieses Land
Vereinigten Staaten von Amerika . Denn
nen ersten Ausgangspunkt für innovative Forschung in Kooperation mit Spezialisten aus
dem Bereich der Lateinamerikastudien. Eine kulturvergleichende Analyse von kulturellen rund 5,5 Millionen Deutsche.
neue Heimat
Transfer- und Übersetzungsprozesse im Zusammenhang mit internationaler Migration Was für die aufgegebene Heimat ein Aderlass war, bedeutete für ihre
für diejenig en Auswand erer, deren Hauptm otiv es nicht
Blurzufuhr. Dies galt besonders
eröffner ein breites Feld an neuen Fragestellungen, anhand derer sich das, was derzeit im
oder drohend er Armut zu entkom men, sondern die aus politisc hen Grün-
Zusammenhang mit Ansätzen der Globalgeschichte und der transnationalen Geschichte war, lastender zu
te Enge und Bevorm undung
eher theoretisch diskutiert wird, historisch-empirisch untersuchen ließe. den die Heimat verließen. Sie, die die ihnen auferleg
unaufge braucht e Energie und Begeist erung
Hause nicht länger aushielten, brachten. ihre
die
als wertvollstes Kapital if die neue Welt. Hier sind vor allem diejenigen zu nennen,
Repression
nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 die Heimat wegen drohender
waren
verlassen mussten oder aus Enttäuschung freiwillig verließen. Denn zu Hause
ihnen Erfolg und persönli che Entfalt ung versagt. Für sie bürgerte sich der Begriff der
Franz
Forty-Eighter ein. Aus ihrer Reihe wurden u. a. Friedrich Hecker (1811-1881),
. Aber auch
Gelegenheitsfunde Sigel (1824-1902) und Gustav Struve (1805-1870) bekannt und berühmt
der in diesem Zusammenhang bisher nicht aufgefallene Friedrich Bernhard Teuthorn war
tion
einer von ihnen. Alexandra Haueisen hat ihm in ihrer kürzlich vorgelegten Disserta
Kirchenbuch Ganzer (Kr. Ruppin), Brandenburg viel Platz gewidmet.

Sterberegister 1767, S. 507: „den 7ten Nov. wurde der Conrector von der Stadt Schule zu Havelberg Herkunft
Herr George Gut-Schmidt todt von der Post gebracht und den 9ten ejus. mit einer Parentation
begraben.“ Friedrich Bernhard Teuthorn entstammte einer Familie, die seit Anfang des 16. Jahrhun-
derts in Frankenhausen am Kyffhäuser nachgewiesen ist, dort in Ratsämtern und obrig-
Kirchenbuch Garz (Kr. Ruppin), Brandenburg keitsnahen Funktionen Macht ausgeübt, es dabei zu Wohlstand gebracht und diesen
über mehr als drei Jahrhunderte verteidigt hatte. Schon imimer waren Söhne weggezogen,
Trauung 1713 S. 158: Jochim Zotzmann, Wein Meister in Potsdam, biirtig aus Gantzer, mit Sabine wenn es für ihre Befähigung in der Heimat keine Verwendung gab. So sind Mitglieder der
Agnesen Aleids nach 3 mahligen Aufgeboth den 30 8br [= Octobris] allhier copuliret. ; Familie in anderen Regionen Deutschlands in Verwaltungsfunktionen und angesehenen
Trauung 1752, S. 163: Herr Tobias Schmid, Rector der Garnison Schule in Potsdam, mit Jungfer Berufen nachgewiesen. Aber spätestens mit der Französischen Revolution begann auch
Dorothea Elisabeth Meierin, meiner 2ter [!] Tochter copuliret den 29ten Sept. — [Ergänzend dazu in Frankenhausen ein Umbruch. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als herkömmliche Pri-
aus der Liste der in Garz tätig gewesenen Pfarrer, S. 323:] Nr. 8 Hr. Michael Meier aus Naumburg vilegien nicht nur hinterfragt wurden, sondern schließlich. nichts mehr galten, wurden
an der Saale gebiirtig. Er war vorher 4 Jahr Conrector in Potsdam gewesen und von da aus als Pre-
Wegzug und Veränderung für das Überleben zwangsläufig zur Normalität.
diger nach Schrepkow in der Prignitz versetzt worden. Von dort aus wurde er nach 9 Jahren 1740
von hiesigen Herrn Patronen hicher berufen und starb den 20 Sept. 1779 im 75 Jahr seines Alters,
Ein Zweig der Teuthorns war mit dem Handel über Artern nach Leipzig gekommen,
an der Ruhr, nachdem er 36 Jahr hier Prediger gewesen.
Friedrich Bernhards Vater Carl Friedrich (1782-1838) betrieb in Leipzig eine Spedition.
Felicitas Spring 1812 hatte er die Pfarrerstochter Christine Charlotte Schilling verwitwete Meißner ge-
heiratet. Ihr verstorbener Mann war der Wirt des Gasthauses „Zur Goldenen Krone“ in
Leipzig am Brühl gewesen. Beide erlebten die sich in Leipzig spiegelnden Ereignisse der

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ZEITSCHRIFT FÜR MITTELDEUTSCHE
FAMILIENGESCHICHTE

Herausgegeben
von der
Arbeitsgemeinschaft
für mitteldeutsche Familienforschung e.V.
(AMF)

Jahrgang
52 (2011) und 53 (2012)

Selbstverlag der AMF


Leipzig

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