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Nummer 29 | 19.

Juli 2013

und niemand sieht hin


Entführt, gequält, verkauft: Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel foltern Beduinen
Flüchtlinge, um Lösegeld zu erpressen – von den Ärmsten der Armen.
Erkundungen in einer Welt, die jede Menschlichkeit verloren hat
im
Selomon, 28, Immigrant aus Eritrea, wurde in einem Camp im Sinai
gefoltert. Wie die meisten Opfer in dieser Geschichte hat er
Angst, sein Gesicht zu zeigen und seinen richtigen Namen zu nennen.
Aber seine verstümmelten Hände können alle sehen.

reich
des
todes
Die ganze Welt schaut nach Kairo – zugleich
foltern Beduinen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel
Tausende afrikanische Migranten, um Lösegeld
zu erpressen. Und gleich nebenan machen ahnungslose
deutsche Touristen Urlaub. Unterwegs durch
eine Region, in der kriminelle Gewalt, Tourismus und
Weltpolitik nahe beieinanderliegen
Von michael obert | Fotos: moises saman
S
Al-Arissa-Checkpoint, Nordsinai, Ägypten: Ein Beduine telefoniert vor
einem Posten der ägyptischen Armee im Randgebiet von Al-Arish.

Seine Handgelenke sind seltsam nach innen ge-


krümmt, die Ärmel seines weißen Wollpullis
viel zu lang. Erst als Selomon sich auf den Tisch
aufstützt, tauchen die schmutzigen Verbände
um seine Hände auf. Mit den Zähnen wickelt
er den linken ab, zum Vorschein kommt eine
Klaue. Der Großteil seiner Handfläche ist weg-
gerissen. Nur der Daumen und ein halber Zei-
gefinger sind noch übrig, eine Zange aus Kno-
chen und Haut. »Sie haben mich an Eisenketten
an der Decke aufgehängt«, sagt Selomon leise.
»Vier Tage lang, an einem Haken wie ein ge-
schlachtetes Tier.«
Wir sitzen in einem kleinen Café am Levins-
ky-Park, einem verwahrlosten Grünstreifen im
Süden von Tel Aviv. Die Szenen vor dem Fenster
lassen kaum vermuten, dass wir uns in der is-
raelischen Stadt am Mittelmeer befinden. Die
Hautfarbe der meisten Passanten ist schwarz. Die
Schriftzüge an den Scheiben der Friseursalons
und Restaurants sind nicht in Hebräisch, son-
dern in der ostafrikanischen Sprache Tigrinya
verfasst. Viele Geschäfte hier werden von Eri-
treern geführt. Ha’ir Hakvusha – »besetzte Stadt«
– nennen die Tel Aviver diese Gegend, in der
überwiegend afrikanische Einwanderer leben.
»Ich wollte nie nach Israel«, sagt Selomon
und legt seinen Handstummel auf den Tisch.
»Nicht einmal wenn sie mir einen Privatjet ge-
schickt hätten.« Im Dezember 2011 floh der
28-jährige Informatiker vor der Diktatur in sei-
nem Heimatland Eritrea in den benachbarten
Sudan. »Mit meiner Ausbildung hätte ich in
Angola, Uganda oder Südafrika gelebt wie ein
König.« Doch dann wird er im Ostsudan von
lokalen Räuberbanden gekidnappt, die ihn an
ein international operierendes Netzwerk von

Selomon hofft auf eine Handtransplantation in einer


westlichen Klinik – aber er weiß, dass er den 200 000
Dollar teuren Eingriff nicht bezahlen können wird.
Ein afrikanischer Obdachloser schläft auf einem Spielplatz im Levinsky-Park, Wüste Sinai. Der Wind hat ein Kleidungsstück in die
einer Gegend im Süden Tel Avivs, in der die meisten afrikanischen Immigranten landen. Büsche geweht (links). Rechts: Sonnenuntergang
auf der Straße, die afrikanische Flüchtlinge benutzen,
um vom Sinai nach Israel zu gelangen.

Menschenhändlern verkaufen. Diese ver- »30 000 Dollar«, sagt Selomon und starrt ins Unten: Ein junger Afrikaner liegt auf der Neve-
schleppen Selomon über die Grenze nach Leere. »30 000 Dollar wollten sie von meiner Sha’anan-Straße, ebenfalls im Süden Tel Avivs. Die
Bewohner nennen dieses Viertel wegen der vielen
Ägypten und weiter auf die Sinai-Halbinsel Schwester in Eritrea haben.« Gelinge es den
Flüchtlinge »besetzte Stadt« – und übersehen, dass
– in ein Foltercamp der hier lebenden Be- Kidnappern mit ihren Foltermethoden nicht, es sich bei den »Besatzern« um schwer traumatisierte
duinen, arabische Viehzüchter mit nomadi- das Lösegeld zu erpressen, dann töteten sie Opfer von brutaler Folter und Vergewaltigung handelt.
schen Wurzeln. »Das sind keine Menschen«, ihre Geiseln. »Oder sie schneiden dir Nieren,
sagt Selomon; sein verstümmelter Zeigefin- Leber, Herz und Augen heraus und verkaufen
ger zittert. »Das sind blutrünstige Bestien.« sie an Organhändler.«
Im Schatten der Schlagzeilen über den Von den rund 60 000 afrikanischen Mi-
Putsch in Kairo, bei dem das Militär kürz- granten, die es nach Schätzungen der Tel
lich Ägyptens Präsident Mohammed Mursi Aviver Organisation Ärzte für Menschen-
stürzte, halten Beduinen in der Wüste des rechte in den vergangenen Jahren illegal über
Sinai afrikanische Migranten als Geiseln ge- die ägyptische Grenze nach Israel geschafft
fangen. Tausende wurden in den vergangenen haben, sind bis zu 7000 in den Folterkam-
Jahren gefoltert. Die ägyptische Halbinsel am mern der Beduinen misshandelt worden.
Roten Meer, beliebtes Ferienparadies der Mehr als 4000 haben die Torturen nicht über-
Deutschen, grenzt im Westen an den Suez- lebt; ihre Leichen verrotten in der Wüste.
Kanal und im Osten an Israel und den Rund tausend Menschen sollen sich derzeit
Gaza-Streifen. Rund 300 000 Beduinen be- in den Fängen der Kidnapper befinden.
wohnen das dünn besiedelte Wüstengebiet; Auf der Sinai-Halbinsel ist die ägypti-
einzelne Gruppen haben sich auf den Men- sche Militärpräsenz seit dem Camp-David-
schenhandel spezialisiert. Friedensabkommen mit Israel von 1978 er-
Die Migranten kommen vor allem aus Eri- heblich eingeschränkt. Die UN-Blauhelm-
trea, aber auch aus dem Sudan, aus Äthiopien soldaten, die den Frieden in der strategisch
und Somalia. Ihre Kidnapper schlagen sie mit wichtigen Wüstenregion überwachen sollen,
Stöcken, Ketten und Eisenstangen, bis sie ih- halten sich vor allem an ihren Stützpunkten
nen die Telefonnummern ihrer Familien ver- auf. Das so entstandene Machtvakuum haben
raten. Sobald die Verbindung steht, beginnt die Beduinenstämme in den vergangenen
die Folter. Die Kidnapper drücken ihren Op- Jahrzehnten genutzt, um Milizen zu gründen
fern Zigaretten in den Gesichtern aus, brand- und eigene Machtstrukturen zu etablieren.
marken sie mit glühendem Metall, über- Besonders seit dem Sturz von Hosni Mu-
schütten sie mit kochendem Wasser. Sie um- barak im Februar 2011 hat sich der Sinai, der
wickeln ihre Finger mit Kabeln und drücken fast so groß wie Bayern ist, zu einem Territo-
sie in die Steckdose, bis das Fleisch schwarz rium ohne Recht und Gesetz entwickelt.
wird, oder sie gießen ihnen Diesel über den Während Urlauber im Süden der Halbinsel
Kopf und zünden sie an, während die Ange- an Hotelstränden in der Sonne baden, verset-
hörigen der Gefolterten daheim ihre Schreie zen bewaffnete kriminelle Banden und mili-
über Handy mit anhören müssen. tante Islamisten den Norden in Angst und

Syrien
Irak

Tel Aviv

Al-Arish Israel

Jordanien
Kairo
Sinai-
Halbinsel

Ägypten Saudi-Arabien

Sharm-
El-Sheikh

12 Süddeutsche Zeitung Magazin


Ein Späher steht auf dem Dach eines ummauerten Gebäudes in der Gegend von Al-Mahdia im Sinai.

»Wir lösen
Hier, ganz nah an der Grenze zu Israel, befinden sich die Foltercamps. Jeder einzelne Keller käme dafür in Frage.

Probleme mit der


Waffe«, sagt
Hamdi Al-Azazi
Schrecken. Sie verüben Bombenanschläge auf
Gasleitungen und feuern mit Maschinengeweh-
ren und Raketen auf Polizeistationen und Check-
points. Immer wieder gibt es Tote und Verletzte.
Experten fürchten, auf dem Sinai könnte eine
neue Operationsbasis für das Terrornetzwerk al-
Qaida entstehen. Direkt an der Grenze zu Israel.
In diesem Chaos, das nach dem Putsch in
Kairo noch zugenommen hat, gehen die Kid-
napper und Folterer, die laut den Vereinten Na-
tionen einem der weltweit grausamsten Netz-
werke des Menschenhandels angehören, unbe-
helligt ihren blutigen Geschäften nach. »Wenn
ihr in den Sinai fahrt, werden sie euch abknal-
len«, sagt Selomon; dann streckt er uns seinen
Handstummel hin. Zwischen Zeigefinger und
Daumen klemmt ein kleiner Zettel. »Meine
Schwester hat sie aufgehoben, vielleicht funk­
tioniert sie noch.« Es ist die Telefonnummer
seines Folter­camps.
Die Spur der Menschenhändler führt nach
Al-Arish, in die Hauptstadt der ägyptischen Pro-
vinz Nordsinai. Vier Autostunden nordöstlich
von Kairo und keine siebzig Kilometer von der
Grenze zum Gaza-Streifen und zu Israel entfernt
drängen sich Tausende unverputzter Backstein-
häuser in der Wüste. Hinter einem langen Strand
am türkisfarbenen Mittelmeer steht die ägyp-
tische Staatsmacht fast täglich unter Beschuss.
Die Fassade der Polizeistation ist von Kugeln
durchsiebt. Militante Islamisten haben sie aus
vorbeifahrenden Geländewagen mit Schnell-
feuergewehren angegriffen. In Stellungen aus
Sandsäcken und Stacheldraht verschanzt sollen
Soldaten hinter aufgebockten Maschinengeweh-
ren die Polizisten beschützen, die an den zahl-
reichen Checkpoints der Stadt rund um die Uhr
Straßenkontrollen vornehmen.
Seit dem Putsch in Kairo hat sich die ohnehin
brisante Sicherheitslage noch verschärft: Isla-
misten griffen den Flughafen von Al-Arish an,
feuerten in simultanen Attacken mit schweren
Waffen auf Militär- und Regierungseinrich-
tungen in der Stadt und stürmten den Sitz des
Gouverneurs, um ihre schwarze Fahne zu hissen.
Kurz nach unserer Ankunft liefern sich ver-
feindete Beduinengangs aus ihren Autos heraus
eine Schießerei. Gewehrsalven, quietschende
Reifen; Scheiben klirren. Auf der Kreuzung
zuckt ein Hund in einer Blutlache. Worum geht
es? »Auf dem Sinai sprechen wir nicht mehr mit-

Süddeutsche Zeitung Magazin 15


Ein Taxi wird am Al-Arissa-Checkpoint durchsucht. Der Posten wurde schon
Dutzende Male von militanten Beduinen aus der Region angegriffen.

Angeblich reisen Ärzte aus Kairo


in die Wüste Sinai, um afrikanischen
Flüchtlingen ihre Organe zu rauben

einander«, sagt Hamdi Al-Azazi wenig später chen dieses oder jenes Organ. Es ist wie bei
in seinem kleinen Büro in einer Nebenstraße Ersatzteilen für ein Auto.«
von Al-Arish. »Wir lösen Probleme mit der Die Ärzte sollen mit schweren Geländewa-
Waffe.« gen aus Kairo in die Wüste des Sinai reisen,
In der »Kommandozentrale« des Men- um afrikanischen Flüchtlingen in Operati-
schenrechtlers – grauer Schnauzbart, blaues onszelten ihre Organe zu rauben, diese in
Hemd, Bundfaltenhose – sind die Rollläden Kühlschränken nach Kairo zu bringen und
Tag und Nacht heruntergelassen. Die Tür ist sie dort zu implantieren. Allerdings ist Ham-
mit Stahlriegeln gesichert. Eine Neonröhre di Al-Azazi der einzige unserer Gesprächs-
spendet Licht, ein Ventilator surrt. »In den partner, der diese mobilen Kliniken gesehen
letzten zwei Jahren haben wir in der Wüste haben will.
Hunderte verstümmelter Afrikaner gefun- Fast täglich bekommt er Morddrohungen.
den«, erzählt Al-Azazi und zeigt uns auf sei- Zweimal ist auf ihn geschossen worden. Als
nem Computer die Fotos der Leichen: tot sein elfjähriger Sohn Abdul gegenüber im
geprügelt, verhungert, verbrannt, selbst im Laden kürzlich einen Schokoriegel kaufen
Tod noch aneinandergekettet. Körper ohne wollte, wurde er von einem Geländewagen
Köpfe. Ein Baby mit aufgeschlagener Schädel- angefahren. Al-Azazi ist überzeugt: »Ein An-
decke. Eine junge Frau, mit Petroleum über- schlag der Menschenhändler.« Sein Sohn
gossen und angezündet. »Bevor sie starb«, überlebte, aber seine Hände und Beine sind
präzisiert Al-Azazi. gebrochen, sein Gesicht wird für immer von
An der Wand hängt ein Plakat seiner Or- Narben entstellt sein.
ganisation New Generation Foundation for »Ihre Drohungen machen mich nur noch
Human Rights. Die einheimischen Aktivisten entschlossener«, sagt Al-Azazi auf dem Weg
versorgen Afrikaner, die den Foltercamps ent- zum Friedhof. Während wir an Bauruinen
kommen oder nach Zahlung des Lösegeldes und hoch gesicherten Checkpoints vorbei-
freigelassen werden, mit Essen, Kleidung und fahren, spricht er in einem fort von seiner
Medizin. Auf seinem Computer zeigt uns Al- Religion, dem Islam. Der verbiete es ihm,
Azazi noch grausamere Fotos: Körper von Ver­ wegzusehen, wenn andere Menschen leiden.
storbenen mit aufgesägten, leeren Brustkörben; »Egal ob sie Muslime sind oder nicht.«
andere sind in der Mitte oder an den Seiten Aus der ganzen Gegend rufen ihn die Leu-
mit großen Stichen zugenäht. »Nieren, Leber, te an, wenn sie Leichen gefolterter Afrikaner
Herz, Augenlinsen«, zählt Al-Azazi auf – Or- in der Wüste finden. Al-Azazi holt sie ab,
ganräuber sollen sie herausgeschnitten haben. wäscht sie, salbt sie mit wohlriechenden Es-
Al-Azazi hat die Fotos dem früheren Chef senzen und hüllt sie in weißes Tuch ein; dann
der Rechtsmedizin in Kairo vorgelegt, der die begräbt er sie mit eigenen Händen. »Über
Nähte als »professionelle Arbeit« einstuft. Ein 500«, sagt er, als wir vor dem Friedhofstor am Die letzten Folteropfer hat er vor zwei Tagen seines Foltercamps ist stundenlang besetzt. Blog das Fehlen des Rechts auf Meinungsfrei-
umfangreicher Bericht der Europäischen Rand von Al-Arish aus dem Auto steigen. Das begraben. Zwei Männer und eine junge Frau Selomons Geschichte beginnt an einem küh- heit in ihrem Land kritisiert hatten.
Union zeichnet das Bild einer regelrechten Massengrab sieht aus wie eine Müllhalde. mit weit aufgerissenen Augen, die sich nicht len Morgen im Dezember 2011 an der Uni- Eritrea liegt an der Küste des Roten
Industrie des Organhandels auf dem Sinai. »Hier sieben«, sagt Al-Azazi und stapft über mehr schließen ließen und ihn seither in sei- versität von Asmara, der Hauptstadt von Eri- Meeres, oberhalb des Horns von Afrika. Vor
Ein Beduine teilte kürzlich anonym dem zerrissene Sandalen, Kleiderfetzen, Plastikfla- nen Träumen heimsuchen. trea, wo er im letzten Semester Computer- zwanzig Jahren erkämpfte das Land seine Un-
amerikanischen TV-Sender CNN mit: »Ärzte schen hinweg, während er die Markierungen Am Abend rufen wir die Telefonnummer technik studiert. Mitten in die Vorlesung abhängigkeit vom benachbarten Äthiopien.
aus Kairo rufen mich an und sagen mir, wir abliest, die er in die Friedhofsmauer geritzt an, die uns Selomon, der Mann ohne Hände, stürmen plötzlich Polizisten und verhaften Seither herrscht in Eritrea eine brutale Dikta-
haben hier einen Privatpatienten und brau- hat. »Hier vier, hier neun, hier ein Baby.« in Tel Aviv gegeben hat. Aber die Nummer mehrere seiner Freunde, weil diese in einem tur. Im Einparteienstaat mit strikter Planwirt-

Auch der Eritreer Hagos, 23, hat die Folterlager im Sinai überlebt,
er wohnt jetzt in einem staatlichen Heim in Israel. Süddeutsche Zeitung Magazin 17
Links: Mikele aus Eritrea zeigt dem Fotografen seinen von Folter geschundenen
Rücken. Er lebt heute in Kairo.

schaft werden Oppositionelle gefoltert luft kommt durch die Schlitze hinter dem
und Journalisten eingesperrt. Amnesty Motor. »Ich wollte einfach nur ein neues
­International prangert das Regime wegen Leben beginnen«, erzählte uns Selomon
systematischer Unterdrückung seiner Bür- im Café am Levinsky-Park. Doch die Wüs-
ger an: erzwungener und zeitlich unbe- te des Sinai erfüllt keine Wünsche. Als
grenzter Militärdienst für Männer und schwer bewaffnete Beduinen die Heck-
Frauen, religiöse Verfolgung, Todesurteile. klappe des Lastwagens aufreißen, sind sie-
250 000 Menschen sind in den vergange- ben Afrikaner erstickt, darunter zwei Kin-
nen Jahren aus Eritrea geflohen. der und ein Baby.
Als sich Selomon nach der Verhaftung Seit Tagen suchen wir in Al-Arish nach
seiner Freunde für ihre Freilassung ein- jenen tausend afrikanischen Geiseln, die in
setzt, wird er selbst verhört – und flüchtet den Foltercamps der Beduinen Selomons
über die Grenze in den benachbarten Su- Schicksal teilen. Doch wo immer wir nach
dan, bevor die Schergen des Regimes ihn ihnen fragen – beim Gouverneur des Nord-
festnehmen können. Er schlägt sich bis ins sinai, bei der lokalen Militärführung, bei
Flüchtlingscamp Shagarab durch und den Generälen der Grenzpatrouillen –,
wähnt sich dort in Sicherheit. Doch als er schließen sich die Türen, werden Telefonge-
auf dem Weg zur Essensausgabe ist, sprin- spräche unterbrochen, eben noch freund-
gen – unter den Augen sudanesischer Sol- liche Gesichter zu steinernen Masken. Es ist,
daten, die von den Vereinten Nationen für als suchten wir nach Gespenstern.
den Schutz der Flüchtlinge bezahlt werden Im Krankenhaus finden wir nur noch
Oben: Die Beine von Beserate, 18, Immigrantin aus
– sechs mit Kalaschnikows bewaffnete die Handschellen, mit denen entkommene Eritrea. Sie erholt sich gerade von einer Hauttrans-
Männer von einem Landcruiser. oder freigekaufte und oft schwer verletzte plantation, die notwendig wurde, weil sich im Folter-
Es sind Menschenjäger vom Stamm der Folteropfer an die Betten gekettet wurden. camp durch das Scheuern der engen Fußfesseln
Rashaida, eines losen Verbunds noma- »Verlegt ins Gefängnis«, sagt uns ein Arzt ihre Knöchel entzündeten.
discher Clans. Mit Gewehrkolben schlagen in einem fleckigen weißen Kittel, als wir Unten: Seble, 24, lebt in einer Unterkunft in Tel Aviv.
sie Selomon nieder und werfen ihn auf die nach dem Verbleib der Afrikaner fragen. Hinter ihr liegen Wochen der Misshandlung und Folter,
Ladefläche ihres Pick-ups. Eine monate- »Oder abtransportiert nach Kairo.« Aber die Erinnerung daran wird sie ein Leben lang verfolgen.
lange Odyssee nach Norden beginnt. sicherheitshalber sollen wir doch mal in
Von einer kriminellen Bande an die der Leichenhalle nachsehen.
nächste weiterverkauft, wird er von einem Wenn die Geiseln die Torturen in den
gut organisierten Netzwerk über die Gren- Foltercamps überleben und tatsächlich
ze nach Ägypten geschafft, mit rund 150 freikommen, ist ihr Leidensweg noch
anderen entführten Eritreern in einen als ­lange nicht beendet: Viele irren tagelang
Geflügeltransporter getarnten Lastwagen in der Wüste umher. Die israelische Re-
gepfercht und über die Suez-Kanal-Brücke gierung hat einen Großteil des 240 Kilo-
auf den Sinai gekarrt. Die einzige Frisch- meter langen und fast fünf Meter hohen

Aus dem Folter-


camp fliehen
zu können heißt
nicht etwa,
frei zu sein

Hamdi Al-Azazi, Menschenrechtsaktivist, hat Hun-


derte Flüchtlinge außerhalb des Friedhofs von Al-Arish
beerdigt. Von keinem der Toten ist der Name bekannt.
Plastiktüten, Kinderspielzeug, ratlose Gesichter, ein Rettungsring: eine Tageseinrichtung für Kinder,
deren Mütter aus den Folterlagern freigelassen wurden und nun in Israel leben.
Viele sind Vergewaltigungskinder, ihre Väter meist Beduinen.

Auf dem Fernseher in Sebles Zimmer stapeln sich Ein krabbelndes Baby im Frauenzentrum von Tel Aviv.
ihre Habseligkeiten, auf dem Bildschirm
laufen Musikvideos aus dem eritreischen Fernsehen.

Stahlzauns fertiggestellt, der sich entlang der wird der Zutritt verwehrt. Mit der Begründung,
Grenze zu Ägypten von Eilat an der Nordspitze die ehemaligen Geiseln der Beduinen seien
des Roten Meeres bis nach Gaza zieht und Wirtschaftsflüchtlinge, damit illegal im Land
afrikanische Flüchtlinge aus dem Sinai fern- und ohne ­Anspruch auf politisches Asyl.
halten soll. Und so werden Eritreer in ihr Land zurück-
Im offiziellen israelischen Wortlaut werden geschickt, obwohl sie dort Gefahr laufen, erneut
sie mistanenim genannt, »Eindringlinge«, eine eingesperrt und gefoltert oder gar als »Verräter«
Bezeichnung, die lange für unerwünschte Paläs­ hingerichtet zu werden, weil sie ihre Heimat
tinenser verwendet wurde und afrikanische illegal verlassen haben. »Damit verstößt Ägyp-
­Migranten in die Nähe von Terroristen rückt. ten gegen die Genfer Flüchtlingskonvention«,
Politiker vom rechten Flügel bezeichnen sie als sagt Mohammed Dairi vom UNHCR-Büro
»Krebsgeschwür in unserem Körper«, und Pre- in Kairo.
mierminister Benjamin Netanjahu sieht durch Wir haben die Hoffnung, in Al-Arish einige
sie den jüdischen Charakter Israels bedroht. der Afrikaner zu finden, schon fast aufgegeben,
Das kürzlich verschärfte »Gesetz zur Bekämp- da bestätigt uns ein Informant, dass in den Poli-
fung der Infiltration« sieht vor, dass afrika- zeigefängnissen der Stadt 122 ehemalige Gei-
nische Flüchtlinge bis zu drei Jahren festgehal- seln festgehalten werden. Der einzige Weg zu
ten werden können. Ohne Gerichtsverfahren. ihnen führt über den Polizeichef der Provinz
Und mitsamt ihrer Kinder. Nordsinai. Den wollen wir auch fragen, warum
Derzeit lässt die israelische Regierung Ge- die Staatsgewalt nichts gegen die Kidnapper
fängnisse bauen, in denen mehr als 10 000 Mig- und Folterer unternimmt.
ranten inhaftiert werden können. »Israel, eine General Sameh Beshadi lässt uns in sein Büro
Nation, die selbst von Flüchtlingen gegründet bitten. Kaffee wird serviert. Mit Kardamon. Er
wurde, verstößt gegen das internationale stehe uns in fünf Minuten zur Verfügung, lässt
Flüchtlingsrecht«, sagt Sigal Rozen von der er ausrichten. Nach zwei Stunden will er uns
Menschenrechtsorganisation Hotline for Mig- dann plötzlich doch nicht mehr treffen. Auf ein-
rant Workers in Tel Aviv. mal brauchen wir eine spezielle Genehmigung,
Auf ägyptischer Seite ergeht es denen, die die um ihm ein paar Fragen zu stellen. Zu beantra-
Torturen in den Foltercamps der Beduinen über- gen in Kairo.
leben, nicht besser. Denn statt gegen die Täter »Zugang zu afrikanischen Häftlingen verbo-
gehen Ägyptens Behörden gegen die Opfer vor. ten«, sagt der junge Offizier, der uns aus dem
Am Grenzzaun riskieren sie, von Patrouillen er- hoch gesicherten Präsidium hinausbegleitet.
schossen zu werden. Schwerverletzte werden im »Vorsichtsmaßnahme gegen schlechte Presse.«
Krankenhaus von Al-Arish zwar notdürftig ver- Dann senkt er die Stimme und verrät uns, dass
sorgt, aber mit Handschellen an die Betten geket- die Stammesgebiete in der Wüste, wo die Folter-
tet. »Damit sie nicht abhauen«, sagt der Arzt im camps liegen, für Fremde der reine Selbstmord
fleckigen Kittel. »Diese Leute sind Kriminelle.« seien. Auch für Polizisten. »Die Beduinen knal-
Wer keine äußeren Anzeichen von Folter auf- len uns dort draußen einfach ab«, flüstert er.
weist, wandert direkt ins Polizeigefängnis, wo »Nicht für eine Million würde ich freiwillig ei-
Afrikaner oft monatelang ohne ausreichend nen Fuß in diese Wüste setzen.«
Wasser und Nahrung in winzigen Zellen zusam- Es dauert Tage, bis wir jemanden finden, der

In Israel werden die afrikanischen Flüchtlinge »Eindringlinge« genannt


mengepfercht werden. Selbst dem Flüchtlings- bereit ist, uns in die Stammesgebiete zu begleiten.
hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) »Die Banden sehen ein fremdes Auto mit zwei

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Erst missbraucht, dann ohne Rechte: Flüchtlinge wie Beserate, 18, die im Sinai unsägliches Leid erfahren haben,
können in Israel künftig bis zu drei Jahren inhaftiert werden. So sieht es das Gesetz »zur Bekämpfung der Infiltration« vor. Scheich Ibrahim Al-Manei empfängt uns sieren zahlreiche Geschichten, in denen die Foltercamps zu stürmen und Schluss zu
im Schneidersitz in einem Rohbau mit Folterer mit tödlichen Autounfällen, mysteri- machen mit den Verstümmelungen, den Ver-
nackten Betonsäulen und getönten Fens­ ösen Krankheiten und plötzlichem Ruin be- gewaltigungen, den Morden? »Kein Beduine
tern. Der kräftige kleine Mann ist um die straft wurden. »Sie machen Millionen«, sagt darf sich in die Angelegenheiten anderer Fa-
sechzig Jahre alt, er trägt ein weißes Al-Manei. »Aber Allah holt sich ihr Leben.« milien einmischen«, sagt Al-Manei. »Das gäbe
Gewand und ein weißes Kopftuch mit Ob der Stammesführer den Menschenhan- Blutfehden mit unzähligen Toten.«
schwarzer Kordel. Al-Manei gehört zu den del wirklich beenden oder eher das beschä- Und der Organhandel? »Bullshit!«, braust
Beduinenführern, die den Menschenhan- digte Image der Beduinen flicken will, bleibt er auf. »Staub, Hitze, die große Entfernung
del ablehnen. Er nimmt entflohene Afri- unklar. Fest steht, dass er sehr genau weiß, wer nach Kairo – wie soll das funktionieren?« An
kaner bei sich auf, gibt ihnen Kleidung die Afrikaner gefangen hält. Warum trommelt mobile Kliniken, die selbst für die Beduinen
und zu essen und lässt sie medizinisch ver- er nicht einfach seine Miliz zusammen, um unsichtbar in der Wüste operierten, glaubt er
sorgen. Die letzten habe er vor einer Wo-
che sicher nach Kairo bringen lassen und Oben: Mohnblumen an der Wand, Obst im Korb, Plastik um sie herum.
dort einer Hilfsorganisation übergeben. In Tel Aviv ist Weini, 25, immerhin sicher, erkannt werden will sie dennoch nicht. Wie fast alle
Um die Menschenhändler zu isolieren, Flüchtlinge aus Eritrea hat sie in Israel kaum eine Perspektive.
trifft er sich mit den Oberhäuptern der Be-
duinenfamilien. Die sollen die Folterer
nicht mehr in ihren Supermärkten, Apo-
theken, Werkstätten bedienen und ihnen
ihre Töchter nicht zur Heirat geben. »Die
ersten Frauen haben sich von Menschen-
händlern scheiden lassen«, freut er sich; das
Teeglas wirkt zerbrechlich in seinen gewal-
tigen Händen. »Kommen Sie in einem Jahr
wieder, dann haben wir den Menschenhan-
del von innen ausgetrocknet.«
Experten schätzen, dass insgesamt mehr
als 10 000 Afrikaner aus den Foltercamps
freigekauft wurden. Bei einem Lösegeld
von durchschnittlich 30 000 Dollar wür-
den sich die Einnahmen auf 300 Millionen
Dollar belaufen. Wer gerade nicht flüssig
ist, tauscht drei Geiseln gegen einen Toyo-
ta Landcruiser. Für sieben Afrikaner gibt
es bereits einen Lastwagen. Werden die
Menschenhändler wegen ein wenig sozi-
alem Druck auf solche Profite verzichten?
»Schmutziges Geld fließt in schmutzige
Dinge«, sagt Al-Manei. »Villen, Waffen,
­Partys, Prostitution.« In der Gegend kur-
Weißen auf dem Rücksitz«, erklärt uns Abdel, Buschwerk, Geröll. Viele der einfachen mehrere Tausend Einwohner. Über die Hälfte
ein Beduine mit spitz zulaufendem Wiesel- Kastenhäuser sind halb verfallen. Frauen der Beduinen kann nicht lesen und schrei-
gesicht. »Sie handeln schnell: Erst nehmen sie schleppen Wasserkanister von Brunnen nach ben. Die desolate wirtschaftliche Lage, sagt
euren Wagen, dann seid ihr dran.« Zwei Hause. Im Schatten einer Akazie polieren Ju- Abdel, sei der Nährboden für die grausamen
­Optionen hätten wir in einem solchen Fall:
»Entführung oder eine Kugel in den Kopf.«
gendliche ihre Pistolen. »Keine Arbeit, kein
Geld, keine Zukunft«, sagt Abdel auf dem
Auswüchse des Menschenhandels.
Eine gute Stunde östlich von Al-Arish er-
Wer kein Geld
Der Kontakt zu Abdel kommt über die Ak-
tivisten um Hamdi Al-Azazi zustande. Der
Beifahrersitz. »Kein Wunder, dass viele von
uns zu Kriminellen werden.«
reichen wir die in der Wüste verstreuten Back-
steinhäuser von Al-Mehdia. Wenige Kilometer
hat, tauscht drei
drahtige kleine Beduine mit den weit ausein-
anderstehenden gelben Zähnen will uns zu
Die Diktatur von Hosni Mubarak war bei
den muslimisch-konservativen Beduinen be-
von der israelischen Grenze entfernt stehen
sich hier bis an die Zähne bewaffnete Bedui-
Geiseln gegen
Scheich Ibrahim Al-Manei bringen. In der
Gegend, in der die Foltercamps liegen, besitzt
sonders verhasst. Er ging pauschal und rück-
sichtslos gegen die Stämme vor, verteilte ihr
nenbanden, Schmugglerclans und Islamisten
gegenüber. Schon nach den ersten Häusern
einen Toyota
der Beduinenführer eine Reihe von Schmugg-
lertunnels in den Gaza-Streifen. Sein Sawarka-
Land an sein Gefolge und schloss Beduinen
kollektiv aus dem Staatswesen aus. Im Süden
tauchen Pick-ups mit aufgebockten Maschi-
nengewehren auf; dahinter junge Beduinen,
oder sieben
Stamm soll über eine schwer bewaffnete,
mehrere tausend Mann starke Miliz verfügen.
der Halbinsel – in den Touristenhochburgen
um Sharm-El-Sheikh – häufte die Regie­
die Gesichter mit rotweißen Tüchern ver-
mummt, die Finger am Abzug. Abdel streckt
gegen einen
In einem Beduinentaxi umfahren wir die
Checkpoints am Ortsausgang von Al-Arish
rungsclique märchenhafte Reichtümer an.
Der Norden hingegen blieb unentwickelt.
den Kopf aus dem Fenster – sie kennen ihn
und winken uns durch. »Wenn du hier nicht
Lastwagen
und folgen den Wüstenpisten in Richtung Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Kindersterb- dazugehörst«, sagt er, »bist du tot.« Al-Mehdia
israelische Grenze. Ziegenherden, dorniges lichkeit ebenfalls. Auf einen Arzt kommen gilt als gefährlichster Ort auf dem Sinai.
Unten: Auch in Kairo gibt es geschützte Häuser für Gefolterte.
22 Süddeutsche Zeitung Magazin Dieser Mann schläft in einem Haus in der Nähe von Gizeh.
Eine Beduinenfrau sitzt unter einem Baum in Al-Mahdia, einer Gegend im
Nordsinai nah der israelischen Grenze, die von bewaffneten beduinischen
Schmugglern kontrolliert wird.
Man darf Zabib Sultan, 30, aus Eritrea ins Gesicht schauen und ihren richtigen Namen
schreiben, obwohl auch sie das Schicksal teilt, im Sinai gefoltert worden zu sein.
Sie leitet jetzt das Zentrum für eritreische Frauen in Tel Aviv und bekommt fast täglich
telefonische Hilferufe aus den Foltercamps.

Ihn treffen? Scheich Ibrahim verschluckt Eritrea ist eines der ärmsten Länder der
sich fast an seinem Tee. Unter keinen Um- Welt. Selomons Familie, einfache Bauern,
ständen will er uns zeigen, wo Ouda Abu verkauft ihr Haus und ihr Vieh, um das Lö-
Saad wohnt. »Zuerst foltert er Sie, um he- segeld per Western Union an einen Mittels-
rauszufinden, wer Sie geschickt hat«, sagt mann der Erpresser in Israel zu überweisen.
unser Gastgeber. »Dann vergräbt er Sie le- Doch der Erlös reicht bei Weitem nicht, um
bendig in der Wüste.« Nicht einmal der den Sohn freizukaufen. Und während seine
mächtige Scheich Ibrahim Al-Manei würde Schwester bei Verwandten und Bekannten
es wagen, an seine Tür zu klopfen. sammelt, auch in der Exilgemeinschaft in
Die Bosse des Netzwerks haben Tausende Europa und den USA, reißen die Anrufe der
auf dem Gewissen. Und jedes Schicksal hat Kidnapper nicht ab. Jedes Mal wenn sie
seine eigene Geschichte. Selomon, der junge das Telefon abnimmt, hört sie Selomons
Eritreer aus dem Café in Tel Aviv, wird nach Schreie.
seiner Ankunft auf dem Sinai aus dem Ge- Seine Peiniger fesseln ihm die Füße mit
flügellaster gezerrt und mit 25 anderen afri- schweren Ketten, die seine Haut bis auf die
kanischen Geiseln in einen Keller gesperrt. Knochen aufreiben. Vor einer benachbarten
Kein Licht, keine Toilette. Tagelang be- Kellerzelle stehen täglich Beduinen an, um
kommt er nichts zu essen und zu trinken. Frauen zu vergewaltigen. Mit dem heißen
Seine neuen Besitzer schlagen ihn, bis er die Gummi geschmolzener Kühlerschläuche
Telefonnummer seiner Schwester in Asmara verbrennen sie ihre Brustwarzen und stoßen
verrät. Als sie abnimmt, muss sie mit anhö- Eisenstangen in ihre Vaginen. Selbst wenn
ren, wie ihr Bruder um Hilfe schreit. Dann eine der Frauen ihren Verletzungen erliegt,
ein lautes Krachen. Wie von morschem lösen sie ihre Fesseln nicht. Tagelang bleiben
Holz. Mit schweren Eisenstangen brechen die Überlebenden an die Toten gekettet.
die Beduinen Selomons Handgelenke; seine Selomon hängen sie schließlich an den
Schwester lassen sie wissen: »30 000 Dollar Händen an der Decke auf, »an einem Haken
– oder wir bringen ihn um!« wie ein geschlachtetes Tier«. Als er vier Tage

Al-Arish, Ägypten: Die Leichenhalle des örtlichen Krankenhauses, wo viele tote


Afrikaner liegen und für die Beerdigung vorbereitet werden.

nicht. Überlebende der Foltercamps berich- die Zahlung der Lösegelder zu beschleunigen. len Familien der Gegend seien einzelne Leute
ten zwar von einem Mann mit weißem Kittel
und Arztkoffer, den die Kidnapper ihren Gei-
Allerdings muss man sich dann fragen, was es
mit den Fotos von professionell zugenähten
beteiligt, windet sich Al-Manei; dann nennt
er uns doch einen Namen: Ouda Abu Saad
Sie stehen Schlange,
seln vorführen, um ihnen dann zu drohen:
»Wenn eure Familie nicht zahlt, schneidet der
Leichen auf sich hat. Der organisierte Organ-
handel auf dem Sinai bleibt nebulös.
vom Stamm der Jalouf. Bis vor wenigen Jah-
ren hütete Saad noch Ziegen. Doch dann
um Frauen
Doktor eure Nieren raus.« Aber selbst gesehen
hat einen Organraub niemand. Vielleicht ist
Scheich Ibrahim Al-Manei lässt uns noch
einmal Tee eingießen. Wer sind die Köpfe des
baute er in kürzester Zeit mehrere millionen-
teure Märchenpaläste mit fernöstlich anmu-
zu vergewaltigen
die Drohung eine perfide Psycho-Folter, um Netzwerks der Menschenhändler? In fast al- tenden Pagodendächern in die Wüste.

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In Gizeh hat dieser gefolterte Eritreer ein winziges Zimmer gefunden.
Nun sucht er Trost bei der Heiligen Familie. dels ganze Überredungskunst gebraucht, bis »Nichts«, sagt er und lächelt. »Ich bekam re- füllten, einen Metallrost darüber legten und
sich einer der Folterer bereit erklärte, mit uns gelmäßig mein Geld.« Der Lohn des Folter- ihre Opfer auf die glühenden Stäbe warfen.
zu sprechen. Der massige Beduine ist um die knechts: knapp 120 Euro im Monat. Der »Afrikanisches Barbecue«, sagt der Mann und
vierzig Jahre alt, trägt eine Pumphose und Mann lässt keinerlei Anzeichen von Mitge- nippt an seinem Tee. »Schwarzes Fleisch.«

Deutschland sieht pult mit den Fingern zwischen seinen


nackten Zehen. Er sei vor Kurzem ausgestie-
fühl erkennen. Stattdessen erzählt er gelassen,
als spräche er über die Pfirsichernte, wie sie
Wie kann ein Mensch einem anderen sol-
che Grausamkeiten zufügen? »Unser Hand-

dem Morden tatenlos zu gen, sagt er. Aus Angst vor den Islamisten. Ob
das stimmt, ist jetzt nicht wichtig. Wir wol-
Frauen in Strohzäune einrollten und anzün-
deten; wie sie ein Baby von der Brust der
werk haben wir im Gefängnis gelernt«, sagt
der Beduine, »in den Folterkammern von
len wissen, was in einem Beduinen vorgeht, Mutter rissen, es erwürgten und damit Fuß- Mubarak.« Viele seiner Kollegen seien in den
wenn er Afrikaner zu Tode quält. ball spielten; wie sie ein Erdloch mit Glut Verliesen des Regimes jahrelang selbst ge-

später heruntergelassen wird, sind seine nische Flüchtlinge menschenwürdig behan-


Gliedmaßen abgestorben. Er wird seine Fin- deln und ihnen die Möglichkeit geben, Asyl
ger nie mehr spüren. zu beantragen. Ein Druckmittel hat die Euro-
Wir fahren aus Al-Mehdia hinaus in die päische Union in der Hand: das Assozi-
Wüste, in Richtung des israelischen Grenz- ierungsabkommen mit Ägypten. »Artikel 2
zauns. »Die Camps sind schwer zu finden«, aller EU-Abkommen mit den Mittelmeeran-
sagt Abdel, der Beduine, der uns seit Tagen rainerstaaten«, so Groth, »verpflichtet unsere
durch die Stammesgebiete führt. »Sie wer- Partner, die Menschenrechte einzuhalten.«
den ständig verlegt.« In jedem der einstö- Dies gelte auch für die Übergangsregierung,
ckigen Backsteinhäuser, die wir passieren, die seit dem Putsch in Kairo vom Militär ein-
könnte sich genau in diesem Moment Selo- gesetzt ist.
mons Geschichte wiederholen. »Wird irgend- Es ist eine bittere Ironie, dass ausgerech-
wo im Nahen Osten auch nur ein einziger net diejenigen am entschlossensten gegen
Europäer entführt«, sagt Abdel auf dem Bei- die Kidnapper und Folterer vorgehen, die
fahrersitz, »dann geht ein Aufschrei durch weltweit als Terroristen gefürchtet sind: die
die Medien und alle Hebel werden in Bewe- radikalen Islamisten. Auf dem Sinai operie-
gung gesetzt, um die Geisel zu befreien – ren mehrere solcher militanter Gruppie-
aber bei Tausenden von Afrikanern sieht die rungen, darunter die Tawhid wal-Jihad, die
Welt weg und lässt sie krepieren.« »Armee des Monotheismus und des Heiligen
Tatsächlich sehen die Europäische Union Krieges«, die zum Terrornetzwerk al-Qaida
und auch Deutschland, der drittgrößte Han- gehört. Für die Islamisten ist die Folter wehr-
delspartner Ägyptens, dem Foltern und Mor- loser Menschen haram – Sünde. Und wäh-
den auf dem Sinai bisher weitgehend taten- rend Europa wegsieht, halten sie sich nicht
los zu. Die Bundesregierung ist laut eigener mit langen Reden auf.
Auskunft auf eine Kleine Anfrage im Bun- »Eine Woche lang warnten sie Abu Sania
destag im Oktober 2012 bestens über die per SMS, er solle die Misshandlungen been-
grausamen Verbrechen der Beduinen infor- den und auf den Pfad Gottes zurückkehren«,
miert, dennoch sprachen deutsche Politiker erzählt Abdel über einen für seine Grausam-
beim Staatsbesuch des mittlerweile ge- keit berüchtigten Folterer vom Stamm der
stürzten ägyptischen Präsidenten Moham- Ermilad. Als dieser nicht hören wollte, feu-
med Mursi in Berlin kürzlich lieber über erten maskierte Männer auf den Landcruiser
Wirtschaftsabkommen, Schuldenerlass, Ent- seines Bruders; er war sofort tot. »Die Botschaft
wicklungshilfe und Tourismus. In Angela ist klar«, sagt Abdel. »Wenn du nicht aussteigst,
Merkels abschließender Presseerklärung zu bist du der Nächste.« Aus Angst vor der Rage
Mursis Besuch erwähnte die Bundeskanzle- der Religionskrieger, heißt es, liefen den Bos-
rin den grausamen Menschenhandel auf sen die Handlanger reihenweise davon.
dem Sinai mit keinem Wort. Paradoxer geht es kaum: Die militanten
»Die Bundesregierung muss endlich Islamisten retten afrikanische Migranten vor
Druck auf Kairo ausüben«, fordert Annette der Folter. Weil Gott ihnen verbietet, wegzu-
Groth, menschenrechtspolitische Sprecherin sehen, wenn wehrlose Menschen leiden. Und
der Fraktion Die Linke im Bundestag, die dann befiehlt derselbe Gott ihren radikalen
sich seit längerer Zeit mit dem Thema be- Gesinnungsgenossen, sich an einem viel be-
fasst. »Die ägyptische Regierung muss ent- suchten Ort in Tel Aviv, New York, London
schieden gegen die begangenen Verbrechen oder Kabul in die Luft zu sprengen.
vorgehen und die Schuldigen vor Gericht Die Sonne nähert sich bereits dem Hori-
stellen und bestrafen.« zont, als wir uns auf einer Matte in der Wüste
Darüber hinaus müsse Ägypten die inter- niederlassen – um Tee zu trinken mit einem
nationalen Konventionen befolgen, afrika- Mörder. Es hat unzählige Telefonate und Ab-

Scheich Ibrahim Al-Manei, ein mächtiger Anführer des beduinischen Stammes der Sawarka, ist erklärter
28 Süddeutsche Zeitung Magazin Gegner des Menschenhandels und kümmert sich um Überlebende der Foltercamps.
Mikeles Rücken erzählt die ganze Geschichte seines Leids. Er hat überlebt und
wohnt nun mit zwölf anderen Eritreern in einem sicheren Haus in Kairo.

Früchte schmecken süß, ihre Haare kitzeln


an den Zähnen. Eine Schar kleiner Kinder
kommt angelaufen und setzt sich zu uns in
den Sand. Abu erzählt, dass er zwei Jahre vor
dem Abschluss der Sekundarschule steht.
Was will er einmal werden? Lehrer? Arzt? Er
kenne einen, antwortet er, der seinen Ab-
schluss als Jahrgangsbester machte: »Und
trotzdem fand er nirgendwo Arbeit.«
Was also will Abu machen, wenn er mit der
Schule fertig ist? »Afrikaner foltern«, sagt der
Junge plötzlich. Wir steigen nicht darauf ein.
Vielleicht hat er gehört, dass wir an dem The-
ma interessiert sind, und will uns imponieren.
Aber Abu geht mit leuchtenden Augen ins De-
tail: »Ihnen glühende Nägel durch die Hände
schlagen, sie mit kochendem Wasser übergie-
ßen« – die Kleinen kreischen vor Vergnügen
– »30 000 Dollar Lösegeld kassieren und sie
dann für 5000 Dollar weiterverkaufen.«
Vielleicht nur eine grausame Kinderfanta-
sie. Doch in diesem Moment sagt sie uns
mehr über die Zukunft des Nordsinai als die
rosigen Versprechen von Scheich Al-Manei.
Was hatte uns der Folterer auf der Matte in
der Wüste noch prophezeit? »Wenn wir eines
foltert worden. Mit den Methoden, die sie Tages keine Schwarzen mehr bekommen,
jetzt an ihren Geiseln erprobten. Die bestia- holen wir unsere Geiseln eben in Kairo.«
lischen Auswüchse des Menschenhandels auf Wir sind schon in der ägyptischen Haupt-
dem Sinai: ein Erbe der ägyptischen Diktatur. stadt angekommen – da klingelt das Handy.
Selomons Martyrium dauert acht Monate.
Dann hat seine Schwester das Lösegeld von Kinder geben Auf dem Display leuchtet die Nummer auf,
die uns Selomon gegeben hat, die Nummer
30 000 Dollar tatsächlich beisammen und
kann es an den Mittelsmann der Beduinen in als Berufswunsch aus dem Foltercamp auf dem Sinai. Wir ho-
len tief Luft und nehmen das Gespräch an.
Israel überweisen. Inzwischen hat Selomon
die Hälfte seines Körpergewichts verloren und an: Afrikaner Ihr Name sei Tzega, sagt die verzweifelte
Stimme einer Frau auf Englisch. Sie sei 21
wiegt nur noch wenig mehr als vierzig Kilo. Er
kann nicht mehr stehen, kaum mehr sprechen. foltern Jahre alt und stamme aus Eritrea. Ihr Löse-
geld betrage 40 000 Dollar.
Am 26. Juni 2012 werfen ihn die Beduinen in Im Hintergrund meinen wir, ein metal-
der Nähe der Grenze bewusstlos in die Wüste. lisches Geräusch zu hören. Plötzlich stößt
Andere Eritreer, die mit ihm freigelassen wer- Tzega einen markerschütternden Schrei aus.
den, schleppen ihn hinüber nach Israel. »Ich blute! Ich blute!«, ruft sie immerzu ins
»Lasst mich sterben«, fleht er im Kranken- Telefon. »Helft mir! Mein Gott, sie schneiden
haus in Tel Aviv die Chirurgen an. Von den mir die Finger ab!« Dann wird die Verbin-
gebrochenen Gelenken ab sind seine Hände Bis zuletzt bleiben die afrikanischen Geiseln dung gekappt.
tot. Die Ärzte amputieren einen Großteil. Sie- auf dem Sinai für uns unsichtbar, und wäh-
Fotos: Moises Saman / Magnum Photos / Agentur Focus
ben Operationen, drei Monate im Kranken- rend wir uns schon wieder auf dem Rückweg
haus. Seit seiner Entlassung lebt Selomon in aus den Stammesgebieten nach Al-Arish
einem Flüchtlingsheim in Tel Aviv, nicht weit befinden, scheint uns dies plötzlich wie eine M i c h a e l O b e r t und der Fotograf
vom Levinsky-Park. Metapher: Weil die Welt diese Menschen M o i s e s S a m a n sind als erfahrene Krisen-
Seine Zukunft? Der junge Eritreer hofft nicht zu Gesicht bekommt und kaum je- und Kriegsberichterstatter einiges gewohnt.
Doch die grausamen Geschichten der Folter-
auf eine Handtransplantation. »200 000 Dol- mand ihre Geschichte kennt, können ihre opfer, die sie in Tel Aviv und Kairo trafen,
lar«, hatte Selomon bei unserem Treffen im Kidnapper sie ungehindert weiter foltern. verfolgen sie noch immer. Seit ihrer Rückkehr
Café leise gesagt und dabei auf seine Stum- In einem Gehöft legen wir eine letzte Rast aus dem Nahen Osten haben die beiden
mel gestarrt; dann zählte er die Länder auf, ein. Abu, ein 15-jähriger Junge mit Milchbart Journalisten in Europa zahlreiche Kliniken und
Hilfsorganisationen kontaktiert, um Selomon,
die in dieser hoch komplizierten Chirurgie und Strohhalm zwischen den Zähnen, führt dem jungen Eritreer, der durch ihre Geschichte
Jugendlicher Beduine
führend sind: »USA, Kanada, Dänemark, uns durch die Pfirsichbäumchen, die hinter im Stammesgebiet
führt, zu einer Handtransplantation oder
östlich von Al-Arish.
Deutschland.« einem Kastenhaus in der Wüste wachsen. Die zu Prothesen zu verhelfen – bisher erfolglos.

Die Namen aller Opfer wurden von der Redaktion geändert.

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