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»Prall gefüllt mit nützlichen Ideen – ein Ratgeber für Eltern, der sich lohnt.

«
Publishers Weekly
Mit ihrem internationalen Bestseller hat die gefeierte Psychologin Dr. Becky Kennedy eine
wahre Erziehungsrevolution ausgelöst: Millionen Eltern, frustriert von Ratschlägen, die
entweder nicht funktionieren oder sich einfach nicht richtig anfühlen, folgen ihrem
bestärkenden und wirksamen Ansatz.
In Good Inside zeigt sie ein völlig neues Erziehungsprinzip, das auf ermutigenden und leicht
umsetzbaren Strategien beruht – und Eltern dabei hilft, Selbstzweifel hinter sich zu lassen und
eine starke und liebevolle Führung zu entwickeln.
Dieses Buch bietet nicht nur eine erfrischende Perspektive auf Kindererziehung, sondern
enthält auch unzählige praktische Lösungsansätze für konkrete Situationen wie Wutanfälle,
Trennungsängste, Geschwisterrivalität und vieles mehr. Eine unverzichtbare Ressource, die
dabei hilft, Kinder auf ein Leben voller Selbstvertrauen, Mut und Resilienz vorzubereiten.
»Nichts gibt uns mehr Sicherheit, als wenn wir als der gute Mensch erkannt werden, der wir
sind. Vergessen Sie das nie, auch wenn es das Einzige in diesem Buch sein sollte, woran Sie
sich später erinnern. Sie sind grundlegend gut. Ihr Kind ist grundlegend gut. Wenn Sie sich auf
diese Wahrheit besinnen, bevor Sie damit beginnen, sich um Veränderungen zu bemühen,
sind Sie auf dem richtigen Weg.«
Wir alle verlieren bei der Erziehung manchmal die Geduld oder sagen Dinge, die wir am
liebsten zurücknehmen würden. Doch wie finden wir danach wieder Zugang zu unserem
Kind? Wie gewinnen wir neues Vertrauen in unsere Fähigkeiten als Eltern?
Dr. Becky Kennedy zeigt in ihrem inspirierenden Buch:

• die richtigen Worte für jedes Verhalten


• wie wir eine tiefere Bindung zu unserem Kind aufbauen
• ein Erziehungsprinzip, das unserem Familienleben mehr Leichtigkeit und Harmonie schenkt
• wie wir starke, resiliente und selbstbewusste Menschen großziehen
• alltagsnahe und leicht umsetzbare Strategien
So vermittelt sie einen Erziehungsstil, der wirksam ist und sich gut anfühlt. Denn dafür ist es
nie zu spät!

Dr. Becky Kennedy, klinische Psychologin und selbst dreifache Mutter, wurde vom Time
Magazine zur Elternflüsterin des neuen Jahrtausends gekürt. Ihr innovativer Ansatz im
Umgang mit Kindern hat sie zu einer gefragten Expertin gemacht. Kennedy übersetzt
fundiertes Erziehungswissen in alltagsnahe und leicht umsetzbare Strategien und erreicht
damit Eltern in den sozialen Medien ebenso wie über ihren beliebten Podcast. Ihr Ziel ist es,
Müttern und Vätern effektive Werkzeuge an die Hand zu geben, um Herausforderungen bei der
Kindererziehung besser zu bewältigen.
Good Inside ist ihr erstes Buch und wurde aus dem Stand ein New-York-Times-Bestseller. Es
wurde bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
www.goodinside.com
#1 New York Times Bestseller

Dr. Becky Kennedy

Das Gute sehen


Wie wir die Eltern werden,
die wir sein wollen
Deutsch von Elisabeth Liebl
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Personen geändert. Angaben, die eine genaue Identifizierung der beschriebenen
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Penguin Random House Verlagsgruppe FSC® N001967


Copyright © 2022 by Rebecca Kennedy
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Good Inside. A Guide to Becoming
the Parent You Want to Be bei Harper Wave,
an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einer Originalvorlage von
HarperCollins US
Umschlagdesign: Jennifer Rozbruch
Umschlagillustration: Eiko Ojala
Redaktion und Übersetzung der Zitate im Umschlag: Anya Lothrop
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-30686-1
V002
www.koesel.de
Für meinen Ehemann,
der die erdende Kraft in meinem Leben ist.
Und für meine Kinder, die mich mehr gelehrt haben,
als ich sie jemals lehren werde.
Inhalt
Einführung
Die zehn Grundprinzipien guter Erziehung
Kapitel 1 Das Gute sehen
Kapitel 2 Beides ist wahr
Kapitel 3 Machen Sie sich Ihre Aufgabe bewusst
Kapitel 4 Die ersten Jahre sind entscheidend
Kapitel 5 Es ist nie zu spät
Kapitel 6 Resilienz vor Glück
Kapitel 7 Das Verhalten ist ein Fenster
Kapitel 8 Weniger Scham, mehr Verbundenheit
Kapitel 9 Bleiben Sie bei der Wahrheit
Kapitel 10 Selbstfürsorge
Verbundenheit aufbauen und Verhaltensweisen angehen
Kapitel 11 Bindungskapital aufbauen
Kapitel 12 Wenn Kinder nicht hören
Kapitel 13 Wutanfälle
Kapitel 14 Aggressive Wutanfälle (Schlagen, Beißen und Mit-Sachen-
Werfen)
Kapitel 15 Geschwisterrivalität
Kapitel 16 Unhöfliches und trotziges Verhalten
Kapitel 17 Quengeln
Kapitel 18 Lügen
Kapitel 19 Ängste
Kapitel 20 Schüchternheit und Zaghaftigkeit
Kapitel 21 Mangelnde Frustrationstoleranz
Kapitel 22 Ernährung und Essgewohnheiten
Kapitel 23 Körperliche Selbstbestimmung
Kapitel 24 Weinen
Kapitel 25 Selbstbewusstsein aufbauen
Kapitel 26 Perfektionismus
Kapitel 27 Trennungsangst
Kapitel 28 Schlafen
Kapitel 29 Kinder, die nicht gerne über Gefühle sprechen
(gefühlsstarke Kinder)
Zu guter Letzt
Danksagung
Register
Über die Autorin
Anmerkungen
Einführung
»Dr. Becky, unsere Fünfjährige hat gerade eine schwierige Phase.
Sie ist gemein zu ihrer Schwester, ungezogen uns gegenüber und in
der Schule rastet sie manchmal total aus. Wir wissen einfach nicht
mehr weiter. Können Sie uns helfen?«

»Dr. Becky, mein Kind hat schon gelernt, aufs Töpfchen zu gehen,
aber jetzt pinkelt es uns plötzlich das Haus voll. Wir haben schon
alles versucht: Belohnungen, Schimpfen – nichts funktioniert.
Können Sie uns helfen?«

»Dr. Becky, meine Zwölfjährige hört einfach nicht auf mich! Das ist
zum Aus-der-Haut-Fahren! Können Sie mir helfen?«

Ja. Ich kann Ihnen helfen. Wir finden heraus, was da los ist. Als
klinische Psychologin arbeite ich in meiner Praxis schon seit vielen
Jahren mit Eltern, die sich in herausfordernden Situationen an mich
wenden, in denen sie sich frustriert, ausgelaugt und verzweifelt
fühlen. Auch wenn sich diese Fälle oberflächlich betrachtet
voneinander unterscheiden – die Fünfjährige mit dem frechen
Mundwerk, das eigentlich schon »stubenreine« Kind, das wieder
rückfällig wird, und die aufsässige Zwölfjährige –, verbindet sie
jedoch ein gemeinsamer Wunsch der Eltern: Sie alle wollen es besser
machen. Immer wieder erzählen sie mir: »Ich weiß, welche Art Vater
oder Mutter ich sein will. Ich weiß nur nicht, wie ich da hinkomme.
Bitte helfen Sie mir, diese Lücke zu schließen.«
Ich beginne Sitzungen meist damit, gemeinsam mit den Eltern ein
einzelnes Verhaltensmuster des Kindes zu untersuchen. Denn dieses
Verhalten gibt uns einen Hinweis darauf, womit ein Kind – und häufig
das ganze Familiensystem – sich herumschlägt. Indem wir bestimmte
Verhaltensweisen des Kindes unter die Lupe nehmen, erkennen wir,
was dieses Kind braucht und welche Kompetenzen ihm fehlen. Wir
decken die Trigger für die Eltern auf und entdecken so Bereiche, in
denen sie wachsen können. Und schon ist der Schritt getan von »Was
ist nur los mit meinem Kind? Können Sie das abstellen?« hin zu dem
Punkt, an dem die Eltern sich fragen: »Womit hat mein Kind
Probleme? Und wie kann ich ihm dabei helfen?« Und dies führt
hoffentlich zu der Frage: »Was löst diese Situation in MIR aus?«
In meiner Arbeit geht es mir darum, verzweifelten und frustrierten
Eltern zu helfen, Hoffnung zu schöpfen, zu Kraft und Selbstreflexion zu
finden – ohne dabei auf die gängigen Erziehungsstrategien
zurückzugreifen. Ich rate Ihnen bei provokantem Verhalten Ihres
Kindes nicht zur Time-out-Technik (der modernen Form des
Eckenstehens), nicht zu Lob- und Fleißstickern oder überhaupt zu
einem Lohn-und-Strafe-System. Aber was rate ich Ihnen dann?
Zuallererst müssen Sie zu verstehen versuchen, dass das
problematische Verhalten nur die Spitze des Eisbergs ist und dass
unter der Oberfläche die ganze innere Welt Ihres Kindes liegt. Und
diese will nur eines: verstanden werden.

Lassen Sie uns einen anderen Weg gehen


Ich habe meinen Doktor in klinischer Psychologie an der Columbia
University in New York gemacht. In dieser Zeit arbeitete ich in der
zugehörigen Uniklinik auch praktisch mit Kindern, nämlich als
Spieltherapeutin. So viel Freude mir die Arbeit mit den Kindern auch
machte, so war ich doch frustriert darüber, dass ich mit deren Eltern
kaum Kontakt hatte. Oft habe ich mir gewünscht, auch die Eltern
miteinbeziehen zu können, statt nur mit den Kindern zu arbeiten und
mit den Eltern lediglich begleitende Gespräche zu führen. Gleichzeitig
hatte ich auch erwachsene Klient*innen zur Therapie, wobei sich eine
Gemeinsamkeit herausstellte, die mich zusehends faszinierte: in der
Arbeit mit Erwachsenen trat glasklar zutage, wo in der Kindheit etwas
schiefgelaufen war – kindliche Bedürfnisse, die nicht erfüllt worden
waren; auffällige Verhaltensweisen, hinter denen (ungehört verhallte)
Hilferufe steckten. Mir wurde klar, dass ich die Erkenntnisse darüber,
was diese Erwachsenen gebraucht und nie bekommen hatten, sinnvoll
in meine Arbeit mit Kindern und ganzen Familien einfließen lassen
konnte.
Als ich dann meine Praxis eröffnete, arbeitete ich zunächst
ausschließlich mit Erwachsenen, die entweder selbst Therapie
suchten oder zur Elternberatung kamen. Nachdem ich Mutter
geworden war, baute ich die Elternberatung aus – in Einzelberatung
und monatlichen Elterngruppen. Schließlich schrieb ich mich für ein
Fortbildungsprogramm für klinische Psycholog*innen ein, das von sich
behauptete, mit seinem »evidenzbasierten« Ansatz den
»Goldstandard« in Sachen Disziplin und Verhaltensauffälligkeit bei
Kindern zu lehren. Die Methoden, die man uns dort beibrachte, fühlten
sich logisch und »sauber« an. Nach Abschluss des Programms hatte
ich genau die Interventionstechniken gelernt, die auch heute noch
regelmäßig von Erziehungsberater*innen angepriesen werden. Ich
hatte das Gefühl, ein perfektes System erlernt zu haben, mit dem
sich unerwünschtes Verhalten abstellen und prosoziale
Verhaltensweisen fördern ließen – ein »braveres« Verhalten im
Grunde, das den Eltern das Leben erleichterte. Doch schon wenige
Wochen später war mir eines klar: Was ich da tat, fühlte sich
schrecklich an. Immer, wenn ich Eltern einen solchen
»evidenzbasierten« Ratschlag gab, spürte ich, wie sich mein Magen
zusammenzog. Ich wurde einfach den Verdacht nicht los, dass diese
Maßnahmen (von denen ich nicht wollen würde, dass sie jemand an
mir anwendet) nicht der richtige Ansatz sein konnten, um mit Kindern
zu arbeiten.
Zugegeben, rein logisch hörten sich all diese Methoden recht sinnvoll
an. Aber sie zielten durchweg darauf ab, »schlechtes« Verhalten
abzustellen und stattdessen ein angepasstes Verhalten zu
erzwingen – auf Kosten der Eltern-Kind-Beziehung. So wurden
beispielsweise die erwähnten Time-outs (Auszeiten, bei denen das
Kind in sein Zimmer geschickt wird) nachdrücklich empfohlen, um
Verhaltensänderungen zu bewirken. Aber schickt man dabei die
Kinder nicht gerade in dem Moment in ihr Zimmer, in dem sie ihre
Eltern am meisten brauchen würden? Wo blieb denn da die … nun,
die menschliche Seite?
Schließlich wurde mir bewusst: All diese »evidenzbasierten« Ansätze
beruhten auf den Prinzipien des Behaviorismus, einer Theorie, die
sich auf das beobachtbare Verhalten eines Menschen konzentriert
und nicht auf dessen innere Zustände wie Gefühle, Gedanken oder
Wünsche. Dem Behaviorismus kommt es mehr darauf an, Verhalten
zu formen, als Verhalten zu verstehen. Dabei wird das Verhalten als
das Problem angesehen und nicht einfach nur als Ausdruck von
tieferen, unerfüllten Bedürfnissen. Deshalb, so begriff ich, fühlte ich
mich mit diesen »evidenzbasierten« Ansätzen so unwohl – weil sie
das Feuer (was ist mit dem Kind wirklich los) mit dem Rauch (seinem
Verhalten) verwechselten. Denn schließlich ist unser Ziel ja nicht,
Verhalten zu formen. Unser Ziel ist es, ein menschliches Wesen
großzuziehen.
Nachdem ich diese Einsicht einmal gewonnen hatte, ließ sie mich
nicht mehr los. Ich war sicher, dass es andere Möglichkeiten geben
musste, mit Familien zu arbeiten. Möglichkeiten, die funktionierten,
ohne dass darunter die Eltern-Kind-Bindung litt. Und so verband ich
alles, was ich über Bindungstheorie, Achtsamkeit und das System der
inneren Familie (die theoretischen Ansätze, die meine Arbeit
bestimmen) wusste, zu einer praxisnahen und leicht nachvollziehbaren
Methode, um mit Familien therapeutisch zu arbeiten.
Wenn wir als Eltern unsere Haltung in Erziehungsfragen von
»Konsequenzen« auf »Verbundenheit« umstellen, überlassen wir das
familiäre Ruder nicht unseren Kindern. Auch wenn ich Time-outs,
Strafen oder gar das Nichtbeachten von Kindern strikt ablehne, so ist
mein eigener Erziehungsstil doch nicht lax oder übermäßig tolerant.
Mein Ansatz beinhaltet klare Grenzen, elterliche Autorität und klare
Richtlinien – und gleichzeitig ein positives Miteinander sowie
gegenseitiges Vertrauen und Respekt.

Tiefschürfende Gedanken, praxistaugliche Strategien


(und wie Sie mit diesem Buch arbeiten können)
Wenn ich mit Klienten*innen arbeite, so versichere ich ihnen immer
wieder, dass praktikable, lösungsorientierte Therapieansätze
gleichzeitig eine Heilung auf tieferer Ebene herbeiführen. Viele
Erziehungsmethoden setzen den Eltern sozusagen die Pistole auf die
Brust: Sie haben die Wahl, ob sie a) das Verhalten ihres Kindes auf
Kosten der Beziehung verbessern wollen, oder b) der Beziehung zum
Kind den Vorrang geben und dafür auf klare Ansagen und eine
Verhaltensänderung verzichten. Der Ansatz, den ich Ihnen in diesem
Buch vorstelle, ermöglicht es Eltern, äußerlich besser zu handeln und
sich innerlich besser zu fühlen. Sie können das Band zu Ihrem Kind
festigen und vertiefen und zugleich erleben, wie sich Verhalten und
Kooperationsbereitschaft verbessern.
Die Botschaft, dass das eine das andere nicht ausschließt, ist das
Herzstück der Ratschläge in diesem Buch. Die Informationen, die ich
Ihnen gebe, sind theorie- und praxisorientiert; sie sind
wissenschaftlich fundiert und auf eine Weise intuitiv, die viel Raum für
Kreativität lässt. Selbstfürsorge der Eltern und Wohlergehen des
Kindes stehen gleichberechtigt im Fokus. Wenn Klient*innen in meine
Praxis kommen, um sich ein paar Tipps »abzuholen«, wie sich ein
bestimmtes Verhalten bei ihrem Kind abstellen lässt, so gehen sie
gewöhnlich mit sehr viel mehr wieder nach Hause: mit einem
differenzierten Verständnis für das Kind hinter dem problematischen
Verhalten und dem nötigen Rüstzeug, um dieses Verständnis
praktisch anzuwenden. Meine Hoffnung ist, dass Sie aus der Lektüre
dieses Buches denselben Nutzen ziehen und dass Sie daraus mit
mehr Selbstmitgefühl, Selbstkontrolle und Selbstvertrauen
hervorgehen – und dass Sie sich gewappnet fühlen, diese
entscheidenden Fähigkeiten auch Ihren Kindern mitzugeben.
Dieses Buch ist eine Einführung in ein Erziehungsmodell, das ebenso
viel mit der kindlichen Entwicklung wie Ihrer eigenen zu tun hat. Die
ersten zehn Kapitel behandeln die Erziehungsgrundsätze, die ich
selbst auch befolge: zu Hause bei meinen drei Kindern, bei meinen
Klient*innen und deren Familien und – über soziale Medien – bei all
den Eltern, mit denen ich im Laufe der Jahre Kontakt hatte. Ich
möchte mit diesen Prinzipien bei Kindern und Eltern eine Heilung
anstoßen und praxistaugliche Strategien anbieten, die das
Zusammenleben in der Familie harmonischer machen. Die Grundidee
hierbei ist: Verstehen Eltern die emotionalen Bedürfnisse ihres
Kindes, so können sie nicht nur das Verhalten ihres Kindes zum
Besseren verändern, sondern auch die Art und Weise, wie die Familie
insgesamt funktioniert und wie ihre Mitglieder miteinander umgehen.
In der zweiten Hälfte dieses Buches finden Sie als Erstes Strategien
für das, was ich Aufbau des Beziehungskapitals nenne. Hierbei
handelt es sich um bewährte Strategien, mit denen Sie mehr
Verbundenheit und Nähe zu Ihren Kindern herstellen können. Egal,
welches Problem Sie haben – selbst wenn bei Ihnen zu Hause nur
schlechte Stimmung herrscht und Sie keine Ahnung haben, warum –,
mit diesen Techniken können Sie anfangen, gegenzusteuern.
Anschließend werden wir uns speziellen Verhaltensproblemen von
Kindern zuwenden, die hilfesuchende Eltern regelmäßig in meine
Praxis führen: alles von Geschwisterrivalität über Trotzanfälle und
Lügen bis hin zu Ängstlichkeit, fehlendem Selbstvertrauen und
Schüchternheit. Natürlich passt dabei nicht jede Strategie für jedes
Kind – die individuellen Bedürfnisse Ihres Kindes kennen letztlich nur
Sie. Doch diese Strategien werden Ihnen helfen, die Dinge mit
anderen Augen zu sehen, wenn Probleme auftreten. Und sie werden
Sie in die Lage versetzen, mit solchen Situationen auf eine Weise
umzugehen, die sich für Sie gut und für Ihr Kind sicher anfühlt.
***
Vermutlich überrascht es Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich
keine Verfechterin von Schwarz-Weiß-Lösungen bin. Ich glaube, dass
Sie als Vater oder Mutter gleichzeitig bestimmt und warmherzig sein
können, dass Sie Kindern Grenzen setzen und ihnen dabei
Wertschätzung zeigen können und dass sich Verbundenheit und das
konsequente Ausüben elterlicher Autorität nicht widersprechen. Und
ich glaube auch, dass sich dieser Ansatz im Endeffekt für Sie als
Eltern »richtig« anfühlen wird – nicht nur im Kopf, sondern auch tief in
Ihrem Herzen. Denn wir alle wollen doch unsere Kinder als gute
Kinder sehen und uns selbst als gute Eltern. Wir alle möchten darauf
hinarbeiten, dass unser Zuhause harmonischer wird. Und jeder
einzelne dieser Wünsche kann wahr werden. Wir müssen uns nicht
für das eine und gegen das andere entscheiden. Wir können beides
haben.
Die zehn Grundprinzipien guter
Erziehung
Kapitel 1

Das Gute sehen


Zuallererst möchte ich Ihnen sagen, was ich über Sie und Ihre Kinder
denke: Sie sind schlicht und einfach gut. Das gilt auch, wenn Sie Ihren
Nachwuchs mal ein »verzogenes Gör« schimpfen. Oder wenn Ihr
Kind abstreitet, gerade den Bauklötzchenturm seiner Schwester
umgestoßen zu haben (und das, obwohl Sie es gesehen haben). Was
ich damit sagen will, ist, dass wir alle tief in uns mitfühlend, liebevoll
und großzügig sind. Das Prinzip des grundlegenden Gutseins ist der
Leitgedanke meiner ganzen therapeutischen Arbeit – ich glaube fest
daran, dass Kinder und Eltern grundlegend gut sind. So kann ich
voller Neugierde nach der Ursache problematischen Verhaltens
suchen. Und diese Neugierde befähigt mich wiederum, wirksame
Konzepte und Strategien zu entwickeln, um Änderung herbeizuführen.
Nichts, was Sie in diesem Buch lesen werden, ist so wichtig wie
dieses Prinzip des grundlegenden Gutseins. Denn sobald wir uns
sagen: »Okay, Moment mal … Ich bin gut, mein Kind ebenso …«,
reagieren wir anders, als wenn wir uns in unseren Entscheidungen
von Frust und Ärger leiten lassen.
Leider passiert es viel zu schnell, dass Frustration und Ärger den
Ton in der Familie angeben. Natürlich sind wir als Eltern nicht mit
Absicht zynisch oder negativ oder sehen mit Genugtuung das
Schlechteste in unserem Kind. Aber wenn uns eine Situation
erzieherisch massiv herausfordert, gehen wir oft von der (weitgehend
unbewussten) Annahme grundlegenden Schlechtseins aus. Weil wir
denken, unser Sohn wolle bewusst unsere Großzügigkeit ausnutzen,
fragen wir uns: »Meint er wirklich, dass ich ihm das durchgehen
lasse?« Wenn das Verhalten unserer Tochter nicht unseren
Erwartungen entspricht, fragen wir sie: »Was stimmt mit dir nicht?«
Oder wir haben das Gefühl, unser Kind testet ständig Grenzen aus
oder provoziert uns, und wir brüllen es an: »Du weißt genau, dass
man so etwas nicht macht!« Aber genauso zweifeln wir auch an uns
selbst: »Was ist mein Problem? So etwas dürfte mir eigentlich nicht
passieren!« Und schon fängt sie an, sich zu drehen: die Spirale aus
Verzweiflung, Selbsthass und Scham.
Viele Erziehungsmethoden gehen davon aus, dass hinter alldem ein
grundlegendes Schlechtsein steckt und dass man Kinder kontrollieren
muss, statt ihnen zu vertrauen. Dabei empfiehlt man uns, unsere
Kleinen auf ihr Zimmer zu schicken, statt sie zu umarmen. Ihr
Verhalten wird als manipulativ wahrgenommen anstatt als Hilfeschrei.
Ich hingegen bin zutiefst davon überzeugt, dass wir alle gut sind. Und
lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Diese Überzeugung soll
weder schlechtes Benehmen entschuldigen noch führt sie zu einem
übermäßig toleranten Erziehungsstil. Wenn Sie Ihr Kind als
grundlegend gut ansehen, heißt das nicht, dass es künftig alles darf.
Noch bedeutet es, dass Kinder dann völlig außer Rand und Band
geraten. Ich kenne niemanden, der sagen würde: »Mein Sohn ist gut,
da darf er seinen Freund auch mal anspucken.« Oder: »Meine
Tochter ist gut, da macht es nichts, wenn sie ihre Schwester hin und
wieder beschimpft.« Ganz im Gegenteil. Die Annahme, dass wir alle
grundlegend gut sind, erlaubt uns, den Menschen (Ihr Kind) von
seinem Verhalten (Ungezogenheit, Treten, böse Worte wie »Ich
hasse dich«) zu trennen. Wenn wir die zwei Fragen »Wer ist mein
Kind?« und »Was macht mein Kind?« trennen, können wir mit
Konflikten umgehen, ohne die Eltern-Kind-Beziehung zu belasten, und
trotzdem etwas bewirken.
Das Vertrauen in das grundlegende Gutsein Ihrer Kinder erlaubt
Ihnen, Ihre Familie mit sicherer Hand zu führen. Wenn Sie an die
Fähigkeit Ihres Kindes glauben, sich »gut« zu benehmen und das
Richtige zu tun, können Sie ihm den Weg weisen. Kinder brauchen
nämlich genau diese Art Anleitung. Sie sehnen sich nach einem
Menschen, dem sie vertrauen können und der ihnen die Richtung
zeigt. Nur wenn sie sich sicher und geborgen fühlen, können sie ihre
Gefühle regulieren und Resilienz entwickeln, also die Fähigkeit,
schwierige Situationen zu meistern. Kinder brauchen einen sicheren
Rahmen, in dem sie ohne Angst, als »schlecht« gesehen zu werden,
experimentieren und Fehler machen dürfen. Nur so können sie lernen
und wachsen und eine starke Bindung zu Ihnen aufbauen.
Das mag banal klingen. Denn natürlich sind Ihre Kinder gut! Sie
lieben sie ja schließlich und würden dieses Buch gar nicht erst lesen,
wenn Sie nicht das Gute in ihnen fördern wollten. Aber aus dieser
Perspektive heraus zu handeln ist mitunter schwieriger, als es auf den
ersten Blick aussieht, vor allem in herausfordernden oder emotional
aufgeladenen Situationen. Dann verhärtet sich beinahe reflexartig
unsere Sichtweise, und das aus zwei Gründen: Erstens sind wir
evolutionsbedingt auf Negatives ausgerichtet. Das heißt, wir
fokussieren uns mehr auf die Schwierigkeiten, die wir mit unserem
Nachwuchs (oder mit uns selbst, unserer Partnerin, ja mit der ganzen
Welt) haben, als auf das, was gut läuft.
Zweitens beeinflussen unsere eigenen Kindheitserfahrungen unsere
Sicht der Dinge und damit auch die Reaktionen auf das Verhalten
unserer Kinder. Viele von uns hatten Eltern, deren Erziehungsstil sich
eher auf Verurteilen als auf interessierte Anteilnahme stützte, auf
Kritik statt Verständnis und auf Strafe statt Auseinandersetzung. (Das
liegt vermutlich daran, dass ihre eigenen Eltern auch schon so mit
ihnen umgegangen sind.) Und wenn wir nicht ganz bewusst einen
Kurswechsel anstreben, wiederholt sich der Lauf der Geschichte.
Daher sehen viele Eltern im Verhalten ihrer Kinder den Ausdruck
dessen, wer sie im Innersten sind, statt sich zu fragen, welche
Bedürfnisse hinter diesem Verhalten stehen. Wie wäre es aber, wenn
wir ihr Verhalten als Spiegel ihrer Bedürfnisse und nicht ihrer Person
sähen? Dann nämlich könnten wir unseren Kindern helfen, Zugang zu
ihrem grundlegenden Gutsein zu finden und auf diesem Weg ihr
Verhalten zum Positiven zu verändern, statt sie für ihre Fehler zu
verurteilen und sie mit dem Gefühl zurückzulassen, unverstanden und
einsam zu sein. Unsere Sichtweise zu ändern ist nicht ganz einfach,
aber es lohnt sich.

Den Schaltkreis neu vernetzen


Bitte versetzen Sie sich jetzt in Ihre Kindheit zurück und überlegen
Sie, wie Ihre Eltern in folgenden Situationen wohl reagiert hätten:
Sie sind drei Jahre alt und haben seit Kurzem eine kleine
Schwester, die von allen bestaunt und angehimmelt wird. Ihre
Eltern erwarten, dass Sie sich freuen, aber Sie tun sich schwer
mit der neuen Geschwisterrolle und haben oft Wutanfälle.
Schließlich platzt es aus Ihnen heraus: »Bringt meine Schwester
ins Krankenhaus zurück! Ich hasse sie!« Was passiert jetzt?
Wie reagieren Ihre Eltern?
Sie sind sieben und betteln um noch einen Keks, obwohl Ihr
Vater Ihnen ausdrücklich gesagt hat, dass Sie jetzt keinen mehr
bekommen. Sie haben es satt, ständig immer nur Nein zu hören.
Sobald Sie allein in der Küche sind, bedienen Sie sich einfach.
Ihr Vater sieht Sie mit dem Keks in der Hand. Was geschieht
jetzt? Was tut Ihr Vater?
Sie sind dreizehn und quälen sich mit einem Aufsatz für die
Schule herum. Schließlich schwindeln Sie Ihren Eltern vor, sie
seien damit fertig. Nach ein paar Tagen beschwert sich der
Lehrer telefonisch bei Ihren Eltern, dass Sie den Aufsatz immer
noch nicht abgegeben haben. Was passiert jetzt? Was sagen
Ihre Eltern, wenn Sie nach Hause kommen?

Halten wir eines fest: Wir alle machen Fehler. Wir alle verhalten uns in
schwierigen Momenten manchmal nicht gerade vorbildlich, und das
gilt für jedes Alter. Aber am meisten prägen uns unsere ersten
Lebensjahre. Denn hier beginnt unser Körper abzuspeichern, wie wir
mit schwierigen Situationen umgehen sollen, und zwar je nachdem,
wie unsere Eltern in schwierigen Situationen reagieren. Mit anderen
Worten: Unser innerer Monolog in Problemsituationen (»Jetzt sei nicht
so empfindlich«, »Ich reagiere total übertrieben«, »Ich bin so doof«
oder ganz im Gegenteil »Ich tue mein Bestes«, »Ich möchte ja nur
verstanden werden«) spiegelt wider, wie sich unsere Eltern in den
entsprechenden Momenten verhalten haben. Überdenken wir nun
unsere Antworten auf diese »Was geschieht dann?«-Fragen, wird uns
klar, welche Art von Schaltkreis in unserem Körper angelegt wurde.
Lassen Sie mich kurz erklären, was ich mit dem Begriff
»Schaltkreis« meine. Babys – winzige, hilflose Wesen – sind
sozusagen darauf »programmiert«, eine möglichst starke Bindung zu
ihrer Bezugsperson herzustellen, weil dies ihre Überlebenschancen
erhöht. In den ersten Lebensjahren speichert daher der Körper ab,
unter welchen Bedingungen wir Liebe, Aufmerksamkeit, Verständnis
und Zuneigung erfahren und wann wir zurückgewiesen, bestraft oder
uns selbst überlassen werden. Diese »Datensammlung« beeinflusst
unsere Entwicklung massiv, weil wir uns ein Verhalten, das uns Liebe
und Aufmerksamkeit sichert, schnell aneignen, während wir kritisierte
oder missbilligte Verhaltensweisen als »schlecht« etikettieren und
künftig eher vermeiden.
Nur: Nichts an uns ist wirklich schlecht. Hinter der Aussage »Bringt
meine Schwester ins Krankenhaus zurück! Ich hasse sie!« verbirgt
sich ein Kind, das unter massiven Verlustängsten leidet und sich von
der neuen Familiensituation bedroht fühlt. Das Kind, das sich trotzig
einen Keks nimmt, fühlt sich wahrscheinlich in anderen
Lebensbereichen zu wenig beachtet und zu sehr kontrolliert. Und der
unvollendete Aufsatz ist vermutlich ein Signal für die Probleme und
Unsicherheiten eines Teenagers. Hinter »schlechtem Benehmen«
verbirgt sich immer ein gutes Kind. Doch wenn Eltern bestimmte
Verhaltensweisen stets mit schroffen Worten unterbinden, ohne das
gute Kind dahinter zu sehen, verinnerlicht das Kind die Vorstellung,
dass es schlecht ist. Kein Kind möchte aber schlecht sein. Deshalb
entwickelt es Strategien wie einen negativen inneren Monolog, mit
dem es sich ausschimpft, um seine Schlechtigkeit, also das »böse
Kind«, zu vernichten. Es will das »gute Kind« finden, also jene
Verhaltensweisen, die ihm Anerkennung und Verbundenheit
verschaffen.
Welche Erfahrungen haben Sie als Kind mit »schlechtem« Benehmen
gemacht? Hat Ihr Körper gelernt, dieses mit Verurteilung, Strafe und
Alleinsein zu verbinden? Oder mit klaren Grenzen, Mitgefühl und
Verbundenheit? Oder einfacher gefragt, in dem Wissen, dass
»schlechtes Benehmen« in Wirklichkeit Ausdruck innerer Nöte ist: Auf
welche Reaktionen sind Sie programmiert? Begegnen Sie sich selbst
eher mit Kritik oder eher mit Mitgefühl? Mit Vorwürfen oder mit
Neugier?
Wir gehen mit uns selbst so um, wie wir es von unseren
Bezugspersonen gelernt haben. Und genauso verhalten wir uns auch
unseren eigenen Kindern gegenüber. Kein Wunder also, dass sich die
Vorstellung vom »inneren Schlechtsein« von Generation zu
Generation weitervererbt: Meine Eltern haben auf meine inneren Nöte
mit Strenge und Kritik reagiert. → Ich habe gelernt, in solchen
Momenten an meinem grundlegenden Gutsein zu zweifeln. → Jetzt,
als Erwachsene, reagiere ich auf meine inneren Nöte mit
Selbstvorwürfen und Selbstkritik. → Wenn mein Kind sich
danebenbenimmt, wird derselbe Schaltkreis in meinem Körper
aktiviert. → Ich reagiere gezwungenermaßen schroff auf die inneren
Nöte meines Kindes. → Ich installiere den gleichen Schaltkreis im
Körper meines Kindes. Also lernt mein Kind, an seinem
grundlegenden Gutsein zu zweifeln, wenn es in Not ist. → Und so
weiter und so fort.
Lassen Sie uns an dieser Stelle innehalten. Legen Sie eine Hand auf
Ihr Herz und lassen Sie sich selbst diese wichtige Botschaft spüren:
»Ich bin hier, weil ich etwas verändern möchte. Ich will mein von
Generation zu Generation vererbtes familiäres Muster durchbrechen
und durch ein neues ersetzen: Ich will, dass meine Kinder sich in ihrer
Haut wohlfühlen, dass sie sich als geschätzt und liebenswert
wahrnehmen, auch wenn sie schwierige Momente durchmachen. Und
der erste Schritt dazu ist, dass ich wieder Zugang finde zu meinem
eigenen Gutsein. Mein Gutsein war stets da.« Sie tragen keine
Schuld an den generationsübergreifenden Mustern. Ganz im
Gegenteil. Wenn Sie dieses Buch lesen, heißt das für mich, dass Sie
den Teufelskreis durchbrechen wollen. Sie haben beschlossen, das
LETZTE Familienmitglied zu sein, das mit diesen schädlichen Mustern
groß geworden ist. Sie sind bereit, die Last der früheren
Generationen auf Ihre Schultern zu nehmen und zum Wohl der
kommenden einen anderen Weg zu wählen. Wow.
Sie machen es keineswegs falsch – vielmehr sind Sie mutig und
tapfer. Und Sie lieben Ihr Kind über alles. Nur echte Held*innen
können es schaffen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen: Alle
Achtung!
Die weitherzigste Sicht
Oft kann man das Gute in anderen Menschen erkennen, indem man
sich eine ganz einfache Frage stellt: »Was ist meine weitherzigste
Sicht auf das, was gerade passiert ist?« Eben das mache ich oft im
Umgang mit meinen Kindern und meinen Freunden. Und ich arbeite
daran, dieses Prinzip auch in meiner Ehe und mir selbst gegenüber
anzuwenden. Jedes Mal, wenn ich diese Frage (auch
unausgesprochen) formuliere, spüre ich, wie mein Körper sich
entspannt und ich mit anderen Menschen auf eine Weise
kommuniziere, die sich viel besser anfühlt.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: Ihr ältester
Sohn hat in ein paar Tagen Geburtstag und Sie haben vor, zur Feier
des Tages mit ihm allein essen zu gehen. Also versuchen Sie, Ihr
jüngeres Kind darauf vorzubereiten. »Ich möchte dir sagen, was für
Samstag geplant ist«, eröffnen Sie ihm. »Nico hat Geburtstag, und
Papa und ich gehen mit ihm in ein Restaurant. Oma kommt und bleibt
bei dir, bis wir wieder da sind. Das dauert ungefähr eine Stunde.«
Der Kleine explodiert: »Du und Papa, ihr geht ohne mich mit Nico
aus? Ich hasse dich! Du bist die gemeinste Mutter der Welt!«
Nanu? Was ist da gerade passiert? Und wie reagieren Sie? Hier ein
paar Optionen: 1) »Die gemeinste Mutter? Ich habe dir gerade erst
ein neues Spielzeug gekauft! Du bist einfach nur undankbar!« 2)
»Wenn du so etwas sagst, macht das Mama sehr traurig.« 3) Sie
ignorieren den Wutausbruch und lassen Ihr Kind stehen. 4) »Oh, das
sind aber deutliche Worte, da muss ich erst mal durchatmen … Ich
höre da heraus, dass du ganz schön wütend bist. Erzähl mir mehr.«
Ich bin für Option 4. Denn die ergibt am meisten Sinn, wenn ich die
weitherzigste Sicht auf das Verhalten meines Kindes praktiziere. Bei
Option 1 schließe ich aus den Worten meines Kinds ganz einfach,
dass es ungezogen und undankbar ist. Bei Option 2 gebe ich meinem
Kind zu verstehen, dass seine Gefühle zu stark und beängstigend
sind, um damit umgehen zu können, dass sie andere verletzen und
somit seine sichere Bindung zu mir als Bezugsperson gefährden. (Auf
das Thema Bindung gehen wir in Kapitel 4 noch näher ein, aber Kern
der Sache ist: Wenn wir die Wirkung unseres Kindes auf uns selbst
in den Mittelpunkt stellen, bereiten wir eher der Co-Abhängigkeit den
Weg als dass wir Emotionsregulierung — den kompetenten Umgang
mit den eigenen Gefühlen — und Empathie fördern. Bei der dritten
Option vermittle ich meinem Kind die Botschaft, dass ich es für
unvernünftig und seine Sorgen für unwichtig halte. Die weitherzigste
Sicht auf seine Reaktion hingegen ist folgende: »Hmm. Mein Kind
wünscht sich aufrichtig, bei diesem besonderen Mittagessen dabei zu
sein. Das verstehe ich. Es ist traurig und eifersüchtig. Mit diesen
schmerzlichen Gefühlen kann es noch nicht umgehen. Deshalb
nehmen sie in diesem kleinen Körper so viel Raum ein, dass sie als
heftige und verletzende Worte herausbrechen.« Ich gehe also davon
aus, dass mein Kind gut ist, und reagiere einfühlsam. Ich erkenne
seine Antwort als Ausdruck von großem Kummer und nicht als
Zeichen, dass es schlecht ist.
Dank der weitherzigsten Sicht lernen Eltern, dem Beachtung zu
schenken, was im Inneren ihres Kindes vorgeht (große Gefühle,
große Sorgen, große Wünsche, große Empfindungen), statt nur auf
das Verhalten zu schauen, in dem sich diese inneren Zustände
entladen (heftige Worte und manchmal auch heftige Handlungen).
Wenn wir unseren Kindern dieses Prinzip vorleben, lehren wir sie, es
uns gleichzutun. Wir lenken ihre Aufmerksamkeit auf ihr inneres
Erleben, zu dem ihre Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen,
Bedürfnisse, Erinnerungen und Bilder gehören.
Um uns selbst regulieren zu können, müssen wir zuerst lernen, die
Vorgänge in unserem Inneren wahrzunehmen. Wir fördern also in
unseren Kindern das Herausbilden einer Basis für gesunde
Bewältigungsstrategien, indem wir uns auf die inneren Vorgänge
konzentrieren statt auf das Außen. Wenn Sie das Verhalten Ihres
Kindes so weitherzig wie möglich betrachten, heißt das nicht, dass
Sie »es ihm leicht machen«. Vielmehr setzen Sie seine
Verhaltensweisen in einen größeren Zusammenhang, wodurch es ihm
leichterfällt, wichtige Strategien zur Gefühlsregulation für seine
Zukunft zu entwickeln. Und gleichzeitig bleiben die Verbundenheit und
die enge Beziehung zu Ihrem Kind bestehen.
Ein weiterer Grund, warum ich gerne die weitherzigste Sicht
anwende, ist folgender: Immer, aber ganz besonders dann, wenn
Kinder ihre Emotionen nicht mehr regulieren können (was nur
bedeutet, dass ihre Bewältigungsstrategien noch nicht genügend
ausgebildet sind), verlassen sich Kinder auf die Reaktionen ihrer
Eltern, um Antworten zu finden auf Fragen wie: »Wer bin ich in
diesem Moment? Bin ich ein schlechtes Kind, das schlechte Dinge
tut? Oder bin ich ein gutes Kind, das einen schweren Moment hat?«.
Unsere Kinder entwickeln ihr Selbstbild, indem sie die Antworten ihrer
Eltern auf diese Fragen übernehmen. Wenn wir uns selbstbewusste
Kinder wünschen, die sich in ihrer Haut wohlfühlen, müssen wir ihnen
zu verstehen geben, dass sie auch dann gut sind, wenn sie sich
problematisch verhalten.
Ich rufe mir oft in Erinnerung, dass Kinder sich dem Bild anpassen,
das ihre Eltern von ihnen haben, und sich dementsprechend verhalten.
Sagen wir unseren Kindern, sie seien egoistisch, dann denken sie
tatsächlich nur an sich selbst. Und raten Sie mal, was geschieht,
wenn wir unserem Sohn vorhalten, seine Schwester habe viel
bessere Manieren als er: Er benimmt sich natürlich weiterhin
unhöflich. Aber auch das Gegenteil ist wahr. Sagen wir unseren
Kindern: »Du bist ein gutes Kind, das gerade einen schwierigen
Moment erlebt. Ich bin für dich da, ich bin bei dir«, dann neigen sie
eher dazu, ihre inneren Kämpfe großherzig anzunehmen. Und das
erleichtert es ihnen wiederum, ihr Verhalten zu regulieren und die
richtige Entscheidung zu treffen.
Ich konnte einmal beobachten, wie mein älterer Sohn überlegte, ob
er sein Knabberzeug mit seiner Schwester teilen sollte. Ich wollte
gerade sagen: »Na komm schon! Deine Schwester würde bestimmt
mit dir teilen!«, als sich eine andere Stimme in mir zu Wort meldete:
»Großzügigste Sicht! Großzügigste Sicht!« Also erklärte ich ihm
stattdessen: »Ich weiß, dass du genauso gut teilen und großzügig
sein kannst wie alle anderen Familienmitglieder. Ich gehe jetzt aus
dem Zimmer, und du und deine Schwester könnt das untereinander
ausmachen.« Ich hörte, wie er seiner Schwester die Bitte nach dem
Cracker abschlug, aber ihr ein paar seiner Salzbrezeln gab. Ziel
erreicht? Nein, aber wenn ich nur das Ziel im Auge habe, übersehe
ich die kleinen Fortschritte, und die sind mir ebenso wichtig. Mein
Sohn entschied sich für das kleinere Opfer. Das akzeptiere ich.
Nichts ist so wertvoll wie wenn wir lernen, unser grundlegendes
Gutsein auch in schwierigen Momenten zu erkennen. Denn dies
verstärkt unsere Fähigkeit, unser Verhalten zu überdenken und etwas
daran zu verändern. Wir werden nur dann die richtigen
Entscheidungen treffen, wenn wir uns selbst und unserer Umgebung
vertrauen können. Nichts gibt uns mehr Sicherheit, als wenn wir als
der gute Mensch erkannt werden, der wir sind. Vergessen Sie das
nie, auch wenn es das Einzige in diesem Buch sein sollte, woran Sie
sich später erinnern. Sie sind grundlegend gut. Ihr Kind ist
grundlegend gut. Wenn Sie sich auf diese Wahrheit besinnen, bevor
Sie damit beginnen, sich um Veränderungen zu bemühen, sind Sie auf
dem richtigen Weg.
Kapitel 2

Beides ist wahr


Als Sara, Mutter zweier Jungen, in meine Praxis kam, war sie
frustriert und verärgert und machte sich gleichzeitig Vorwürfe. Sie
hatte tolle Kinder und einen liebevollen Ehemann, aber war es leid,
dass sie ihre Söhne andauernd zurechtweisen musste, was
gemeinsamen Spaß unmöglich machte. »Ich wünschte, ich könnte mit
ihnen herumalbern, aber einer muss ja die Regeln durchsetzen und
dafür sorgen, dass alles läuft«, erklärte sie mir. Gemeinsam
arbeiteten wir dann auf die Erkenntnis hin – wie ich es mit vielen
Eltern tue –, dass sie beides gleichzeitig sein konnte: witzig und
unnachgiebig, albern und konsequent. Ihr wurde klar, dass sie nicht
nur beides sein durfte, sondern dass sie sich vermutlich auch besser
fühlen würde – und ihr Familiensystem besser funktionieren würde –,
wenn sie tatsächlich beides wäre.
Dieser Gedanke liegt vielen meiner Erziehungstipps zugrunde: Wir
müssen uns nicht zwischen zwei vermeintlich unvereinbaren Realitäten
entscheiden. Wir können auf Strafe verzichten und trotzdem wird sich
das Verhalten unserer Kinder mit der Zeit bessern. Wir können klare
Erwartungen formulieren und trotzdem herumalbern. Wir können
Grenzen vorgeben und durchsetzen und dabei unsere Liebe zeigen.
Wir können uns gleichzeitig um uns und um unsere Kinder kümmern.
In gleicher Weise können wir auch das Richtige für unsere Familie tun
und den Ärger unserer Kinder über unsere Entscheidung annehmen.
Wir können Nein sagen und gleichzeitig Mitgefühl für die Enttäuschung
unserer Kinder aufbringen.
Multiplizität – die Fähigkeit, mehrere Realitäten gleichzeitig zu
akzeptieren – ist entscheidend für gesunde Beziehungen. Wenn sich
zwei Personen in einem Raum befinden, gibt es dort auch zwei
unterschiedliche Konstellationen von Gefühlen, Gedanken,
Bedürfnissen und Perspektiven. Beziehungen, in denen sich zwei
Menschen gesehen und verstanden fühlen, auch wenn sie nicht einer
Meinung sind, werden erst dadurch möglich, dass beide gleichzeitig
ihre eigene Wahrheit und die des anderen annehmen. Multiplizität ist
die Voraussetzung dafür, dass zwei Menschen miteinander
klarkommen und sich nah sein können – beide wissen, dass ihr
Erleben als wahr akzeptiert und für wichtig gehalten wird, auch wenn
es sich von dem des anderen unterscheidet. Starke Verbindungen
entstehen nur, wenn keiner von beiden für sich beansprucht, absolut
recht zu haben. Damit sich Menschen in einer Beziehung sicher
fühlen, müssen sie einander verstehen, nicht überzeugen.
Was meine ich mit verstehen statt überzeugen? Der Versuch, zu
verstehen, bedeutet, dass wir die Perspektive, die Gefühle und das
Erleben eines anderen Menschen wahrnehmen und mehr darüber
erfahren wollen. Im Prinzip teilen wir dem anderen mit: »Ich erlebe
etwas auf diese Art und du auf eine andere. Ich möchte wissen, wie
es für dich ist.« Das bedeutet nicht, dass Sie zustimmen oder sich
anpassen (denn dies käme einer Perspektive gleich, in der es »nur
eine Wahrheit« gibt). Es heißt auch nicht, dass einer von beiden
»unrecht hat« oder dass seine persönliche Wahrheit nicht gültig ist.
Es bringt ganz einfach unsere Bereitschaft zum Ausdruck, unser
eigenes Erleben für einen Moment beiseitezustellen, um uns auf das
des anderen einzulassen. Setzen wir uns zum Ziel, den anderen zu
verstehen, akzeptieren wir, dass es nicht nur eine richtige Sicht der
Dinge gibt, sondern mehrere Erlebniswelten und Standpunkte.
Verständnis bezweckt eines: Verbundenheit. Und weil die Bindung zu
unseren Kindern sie lehrt, ihre Emotionen zu regulieren und mit sich im
Einklang zu sein, wird Verständnis als Kommunikationsziel uns immer
wieder begegnen.
Was ist aber das Gegenteil von »verstehen«? In unserem
Zusammenhang ist es »überzeugen«. Letzteres ist der Versuch, eine
bestimmte Realität durchzusetzen – zu beweisen, dass »nur eine
Sicht wahr ist«. Dahinter steckt die Absicht, »recht« zu haben und
dem anderen zu zeigen, dass er »falsch« liegt. Wir nehmen dabei an,
dass es nur einen richtigen Standpunkt gibt. Wenn wir jemanden zu
überzeugen versuchen, sagen wir im Wesentlichen: »Du hast unrecht.
Du siehst, erinnerst, fühlst, erlebst das nicht richtig. Lass mich dir
erklären, warum meine Sichtweise richtig ist, dann wird dir ein Licht
aufgehen und du wirst mir zustimmen.« Überzeugungsversuche zielen
nur auf eines ab: recht zu haben. Leider hat das zur Folge, dass sich
der andere unverstanden und ungehört fühlt. Und an diesem Punkt
werden die meisten Menschen wütend und streitlustig, weil der
andere ihre Erlebniswelt oder ihren Wert nicht zu akzeptieren scheint.
Wenn sich ein*e Partner*in unverstanden und ignoriert fühlt, kann
keine Verbundenheit entstehen.
Verstehen (»beides ist wahr«) und Überzeugen (»nur eines ist
wahr«) sind zwei diametral entgegengesetzte Formen des Umgangs
mit anderen Menschen. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie bei jeder
Interaktion zuerst verstehen, in welchem Modus Sie gerade sind.
Befinden Sie sich im »Nur eines ist wahr«-Modus, dann sind Sie
voreingenommen gegenüber dem Erleben des anderen, weil Sie es
als Angriff auf Ihre eigene Wahrheit empfinden. Folglich werden Sie
versuchen, Ihren Standpunkt zu behaupten. Das drängt wiederum den
andern in die Defensive, weil er an seiner eigenen Erlebensweise
festhalten will. Im »Nur eines ist wahr«-Modus eskaliert eine
Unterhaltung schnell. Beide Gesprächspartner denken, dass sie über
einen Sachverhalt reden, während es ihnen in Wirklichkeit nur darum
geht, als reale und wertvolle Menschen mit einem realen, wahren
Erleben wahrgenommen zu werden.
Im »Beides ist wahr«-Modus hingegen sind wir neugierig auf das
Erleben des anderen und akzeptieren es. Wir empfinden es als
Chance, jemanden besser kennenzulernen. Wir begegnen anderen
Menschen offen und locken sie so aus der Defensive. Beide
Gesprächspartner fühlen sich ernst genommen und verstanden, was
ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Beziehung zu vertiefen.
Studien über Ehe-, Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen haben
immer wieder gezeigt, dass diese besser funktionieren, wenn wir im
Verstehens-, also im »Beides ist wahr«-Modus sind. Bei der
Gottman-Methode zum Beispiel, einer wissenschaftlich belegten Form
der Paartherapie, die von den Psychologen John und Julie Gottman
entwickelt wurde, besteht einer der Grundpfeiler darin, dass zwei
Sichtweisen als berechtigt anerkannt werden. Die klinische
Psychologin Faye Doell hat in einer Studie über die zwei Arten des
Zuhörens gezeigt, dass Menschen, die zuhören, um zu verstehen,
insgesamt zufriedener sind mit ihrer Beziehung als solche, die
zuhören, um zu reagieren.1 Und der Neuropsychiater Daniel Siegel,
Mitverfasser des Buches Achtsame Kommunikation mit Kindern,
verweist häufig darauf, wie wichtig es in Beziehungen ist, »sich
gefühlt zu fühlen«. Er beschreibt dies als Gehaltenwerden unseres
Geistes im Geist des anderen, aber im Grunde genommen geht es
darum, dass wir uns mit dem Erleben einer anderen Person
verbinden.2 Studien haben sogar ergeben, dass die besten
Führungskräfte ihren Mitarbeitern mehr zuhören und sie bestätigen,
als selbst zu sprechen. Mit anderen Worten, sie lernen die Realität
ihrer Angestellten kennen, statt sie davon überzeugen zu wollen, dass
die Geschäftsleitung immer recht hat.3
Auch bei unseren inneren Monologen ist die »Beides ist wahr«-
Perspektive die bessere. Multiplizität heißt, dass ich meine Kinder
lieben und mir Zeit für mich selbst wünschen kann. Ich kann dankbar
sein, ein Dach über dem Kopf zu haben, und gleichzeitig Leute
beneiden, die mehr Unterstützung bei der Kinderbetreuung haben. Ich
kann ein guter Vater sein und meine Kinder hin und wieder
anschreien. Unsere Fähigkeit, gleichzeitig eine Vielfalt scheinbar
gegensätzlicher Gedanken und Gefühle in uns zu tragen – das
Bewusstsein, dass wir mehrere Realitäten zugleich erleben können –,
ist der Schlüssel zu unserer geistigen Gesundheit. Der Psychologe
Philip Bromberg hat das vielleicht am besten ausgedrückt:
»Gesundheit ist die Fähigkeit, im Raum zwischen den verschiedenen
Wirklichkeiten zu stehen, ohne auch nur eine davon zu verlieren – die
Fähigkeit, sich als ein Selbst zu fühlen, obwohl wir viele sind.«4 Es
geht uns dann am besten, wenn wir die Vielfalt der Gefühle,
Gedanken, Bedürfnisse und Empfindungen in unserem Inneren
wahrnehmen, ohne dass ein einzelnes davon zum Ich »wird«; wenn
wir unser Selbst inmitten einer Flut von Empfindungen ausmachen
können: »Ich merke, dass ein Teil meines Selbst nervös ist, ein
anderer begeistert.« Oder: »Ich merke, dass ein Teil von mir meine
Kinder anschreien möchte und ein anderer weiß, dass ich erst mal tief
durchatmen muss.« Anders ausgedrückt: Wir leben unser
gesündestes Selbst, wenn wir uns bewusst sind, dass zwei (oder
mehr!) Dinge wahr sein können.
Im »Beides ist wahr«-Modus zu erziehen kann uns Erwachsenen zu
mehr Belastbarkeit verhelfen. Ich versuche immer, zwei Realitäten
gleichzeitig im Auge zu behalten: Ich kann auf eine Art erziehen, die
sich sowohl für mich als auch für meine Kinder gut anfühlt, in der
feste Grenzen und eine liebevolle Beziehung einander nicht
ausschließen. Eine Art, die meinen Kindern einerseits gibt, was sie im
jeweiligen Moment brauchen, und andererseits den Grundstein für
ihre künftige Resilienz legt. Auf der Mikroebene bietet sich der
»Beides ist wahr«-Modus als Lösung für all unsere Probleme an: Ich
kann die Bildschirmzeit einschränken, und mein Kind darf darüber
wütend sein. Ich kann mich aufregen, weil mein Kind gelogen hat, und
mich gleichzeitig fragen, was an der Wahrheit so bedrohlich war, dass
es sie lieber verheimlichen wollte. Ich kann die Ängste meiner Tochter
als irrational betrachten und trotzdem ihre Bedürfnisse verstehen. Und
vielleicht das Wichtigste überhaupt: Ich kann manchmal
herumschreien und dennoch eine liebevolle Mutter sein. Ich kann
Fehler machen und sie wieder ausbügeln. Ich kann bereuen, was ich
gesagt habe, und in Zukunft angemessener reagieren.
Die »Beides ist wahr«-Perspektive hilft uns allen, eine oft
widersprüchlich erscheinende Welt zu begreifen. Besonders wichtig
aber ist das Prinzip für Kinder. Sie müssen spüren, dass ihre Eltern
zwar ihre Gefühle verstehen und akzeptieren, dass diese aber
trotzdem nicht überhandnehmen und Entscheidungen beeinflussen
sollten. Und genau das ist für die meisten Menschen das Ziel. Als
Eltern können wir Entscheidungen treffen, die wir für richtig halten,
und uns gleichzeitig der Gefühle annehmen, die sie in unseren Kindern
auslösen. Das sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Wesentlich
ist, dass wir darauf hinarbeiten, beide Wahrheiten zu berücksichtigen,
beide Realitäten zuzulassen, um gegenseitiges Verständnis und damit
Verbundenheit mit unseren Kindern aufzubauen.
Wenden wir diese Idee doch einmal auf die Beziehungen zwischen
Erwachsenen an. Angenommen, Sie haben an Ihrem Arbeitsplatz ein
gutes Jahr hinter sich und man hat Ihnen zum Jahresende eine längst
fällige Gehaltserhöhung versprochen. Aber beim Mitarbeitergespräch
erklärt Ihnen Ihre Vorgesetzte: »Unser Budget ist drastisch reduziert
worden, deshalb müssen wir ein paar Leute entlassen. Sie werden
Ihren Job behalten, aber ich kann Ihnen dieses Jahr auf keinen Fall
eine Gehaltserhöhung geben. Ich hoffe, es klappt nächstes Jahr!«
Halten Sie einen Moment inne und überlegen Sie. Was für Gefühle
bringen Sie Ihrer Vorgesetzten in diesem Moment entgegen? Sind Sie
enttäuscht? Dankbar? Froh? Verärgert? Ich könnte wetten, dass Ihre
Gefühle widersprüchlich sind. Vermutlich sind hier zwei Dinge wahr:
»Ich bin froh, dass ich meinen Arbeitsplatz nicht verloren habe, und
ich bin enttäuscht, dass nichts aus der Gehaltserhöhung wird.« Wir
sollten das, was Ihre Vorgesetzte tut, davon trennen, was ihre
Handlungsweise für Sie bedeutet. Ihre Chefin hat eine bestimmte
Entscheidung getroffen: Ich kann diese Mitarbeiterin weiterhin
beschäftigen, aber ich kann ihr dieses Jahr keine Gehaltserhöhung
geben. Sie wiederum fühlen sich enttäuscht, betrogen, verärgert,
aber auch ein bisschen erleichtert. Ihr Ärger wird keinen Einfluss auf
die Entscheidung Ihrer Vorgesetzten haben. Umgekehrt ändern deren
Überlegungen nichts an Ihren Gefühlen. Beides ist gerechtfertigt.
Beides ist wahr.
Wir müssen uns nicht für eine einzige Wahrheit entscheiden.
Tatsächlich gibt es in den meisten Bereichen unseres Lebens mehrere
Realitäten, die sich nicht unbedingt vereinbaren lassen. Sie existieren
einfach nebeneinander, und es ist für uns am besten, wenn wir sie
alle zulassen. Ihre Dankbarkeit für den Erhalt Ihrer Stelle muss Ihre
Enttäuschung über die ausgebliebene Gehaltserhöhung nicht
überlagern. Ihr Ärger über Ihr niedriges Gehalt tut der Erleichterung,
den Job behalten zu haben, keinen Abbruch.
Gehen wir einen Schritt weiter. Ihre Vorgesetzte merkt am nächsten
Tag, dass Sie ein wenig geknickt sind. Sie schafft es aber nicht, aus
der »Nur eines ist wahr«-Perspektive herauszukommen. Also tritt sie
an Sie heran und sagt: »Ich konnte Ihnen diese Gehaltserhöhung
einfach nicht gewähren. Na, kommen Sie. Seien Sie doch froh, dass
Sie Ihren Arbeitsplatz noch haben.« Wie fühlen Sie sich jetzt? Was
geschieht in Ihrem Inneren? Machen Sie eher sich selbst Vorwürfe
(»Was ist los mit mir, ich bin so egoistisch!«) oder Ihrer Vorgesetzten
(»Was ist los mit ihr, sie ist so selbstsüchtig!«)? Vielleicht kochen Sie
vor Wut oder fühlen sich unterbewertet. Wenn Sie diesen Gefühlen
keine Beachtung schenken, entwickeln Sie leicht eine gewisse
Abneigung gegen Ihre Arbeit oder Ihre Vorgesetzte. Folglich sind Sie
vielleicht in Zukunft weniger motiviert. Warum fühlt sich die »Nur eines
ist wahr«-Perspektive so mies an? Warum löst sie eine
Kettenreaktion nicht gerade idealer Verhaltensweisen aus?
Tief in unserem Inneren wünschen wir uns alle, dass andere unser
Erleben, unsere Gefühle und unsere Wahrheiten anerkennen. Wenn
wir uns von anderen verstanden fühlen, können wir mit unserer
Enttäuschung besser umgehen und fühlen uns innerlich sicher genug,
um auch den Standpunkt des anderen zu begreifen. Nehmen wir an,
Ihre Vorgesetzte hätte Ihre Empfindungen verstanden und gesagt:
»Ich konnte die Gehaltserhöhung einfach nicht durchsetzen, aber ich
kann Ihre Enttäuschung nachvollziehen. Ich würde genauso
reagieren«. Schon hätte sich der emotionale Grundton der Situation
verändert. Ihre Chefin muss sich nicht für die ausgebliebene
Gehaltserhöhung entschuldigen, solange sie beide Wahrheiten gelten
lässt und ausdrücklich anerkennt, dass Ihre negativen Gefühle
berechtigt sind. Und Sie können die Sache auf sich beruhen lassen.
»Beides ist wahr« ist ein Grundsatz guter Erziehung, weil es uns
erlaubt, das Erleben unseres Kindes oder eines anderen Elternteils
ebenso wie unser eigenes als real und berechtigt zu betrachten, es
zur Sprache zu bringen und ihm seine Bedeutung zu lassen. Es ruft
uns in Erinnerung, dass Logik Gefühle nicht außer Kraft setzt: Ich
kann einen Grund für mein Handeln haben und die emotionale
Reaktion des anderen Menschen ist berechtigt. Beides ist wahr.
Das »Beides ist wahr«-Prinzip wird in vielen der hier besprochenen
Erziehungsproblemen ein Thema sein: wie man protestierenden
Kindern Grenzen setzt; wie wir Auswege aus Machtkämpfen finden;
wie wir auf verletzende Worte unseres Kindes reagieren; wie wir zu
unserer Gelassenheit zurückfinden, wenn uns die Erziehungsarbeit
überfordert, und vieles mehr. Ich werde an dieser Stelle nur ein paar
Beispiele anführen. Meine Hoffnung ist, dass Sie dieses Konzept auch
auf andere Lebensbereiche übertragen. Dies ist nämlich das
letztendliche Ziel, zu dem ich Sie hinführen möchte. Ja, dies ist ein
Erziehungsratgeber, aber im Grunde geht es hier um Beziehungen im
Allgemeinen. Die Prinzipien, die ich Ihnen hier für die Beziehung zu
Ihren Kindern vorstelle, gelten auch für die zu Ihrem Partner, Ihren
Freunden, Ihrer Familie und – was vielleicht das Wichtigste ist – in
Ihrer Beziehung zu sich selbst. Halten Sie beim Lesen der Beispiele
also einen Moment inne und fragen Sie sich: »Wo sonst in meinem
Leben kann ich mir diese Idee zunutze machen?« Trauen Sie sich, mit
dem »Beides ist wahr«-Prinzip zu experimentieren und es überall
dort, wo es Ihnen hilfreich erscheint, in die Praxis umzusetzen.

»Beides ist wahr«, wenn Sie trotz Protest Grenzen


setzen wollen
Folgende Situation kommt zwischen Eltern und Kindern häufig vor: Ihr
Sohn möchte sich eine Fernsehsendung oder einen Film anschauen,
den Sie für sein Alter als ungeeignet einstufen. Er ist stocksauer und
behauptet, dass alle seine Freunde den Film gesehen haben, dass
Sie die schlechtesten Eltern der Welt sind und dass er nie mehr mit
Ihnen reden wird.
Ihre Entscheidung: Mein Kind darf diese Sendung/diesen Film nicht
sehen.
Die Gefühle Ihres Kindes: Wut, Enttäuschung, das Gefühl des
Ausgeschlossenseins.
Darf nur eines von beidem wahr sein, dann bringen die Gefühle Ihres
Kindes wahrscheinlich Ihre Entscheidung ins Wanken. Und wenn Sie
denken, dass Ihre Entscheidung von der Sorge um die Gefühle Ihres
Kindes abhängen sollte, dann werden Sie ganz sicher Ihre Meinung
ändern, weil Sie ja ein guter, liebevoller Vater sein möchten.
Was aber, wenn beides wahr ist? Dann müssen Sie sich nicht für
das eine oder das andere entscheiden und können sich sagen: »Ich
halte an meinem Entschluss fest, lasse aber gleichzeitig gelten, dass
mein Sohn wütend und enttäuscht ist bzw. sich ausgeschlossen
fühlt.«
Treffen Sie eine Entscheidung, von der Sie überzeugt sind, die aber
Ihren Sohn mit Sicherheit wütend macht, dann können Sie ihm
Folgendes erklären: »Beides ist wahr, Spatz. Erstens habe ich
entschieden, dass du diesen Film nicht sehen darfst. Und zweitens
bist du wütend auf mich, ja richtig böse. Das höre ich. Und ich
verstehe es sogar. Es ist dein gutes Recht, sauer zu sein.« Sie
müssen zwischen einer unumstößlichen Entscheidung und der
liebevollen Bestätigung nicht wählen. Sie müssen nicht auf das
verzichten, was sich für Sie richtig anfühlt, um das ganz reale Erleben
Ihres Kindes anzuerkennen. Beides kann wahr sein.
Und hier finden wir auch gleich ein weiteres Beispiel für das »Beides
ist wahr«-Prinzip: Sie dürfen stolz auf Ihren neuen Erziehungsansatz
sein (»Ja, ich habe erzieherisch einen Erfolg erzielt!«) und Ihr Kind
darf trotzdem wütend sein. Schließlich handelt es sich nicht um einen
Zauberspruch, der das Problem augenblicklich löst oder die Situation
entschärft. Aber mit diesen Worten erkennen Sie die menschliche
Seite Ihres Kindes an und bauen eine Beziehung auf, die langfristig
halten wird.
Aber natürlich wird eine gute Erziehung nicht immer gleich mit gutem
Benehmen belohnt. Was dann?
Sagen wir, Sie folgen der »Du darfst ruhig sauer sein«-Linie und Ihr
Sohn schreit: »Ja, ich bin sauer! Ich hasse dich!«. Erstens: Bleiben
Sie gelassen und bestätigen Sie sich innerlich Ihren Standpunkt (»Ich
weiß, dass ich eine gute Entscheidung getroffen habe. Ich habe
Vertrauen in mich.«). Bestätigen Sie dann die Sichtweise Ihres
Kindes: »Ja, das weiß ich. Ich weiß, dass du echt sauer bist. Das
verstehe ich.« Halten Sie Ihre Grenze aufrecht. Sie können auch
etwas hinzufügen, wenn Sie spüren, dass sich Ihr Kind ein wenig
öffnet: »Es gibt viele andere Filme, die wir uns zusammen anschauen
können, möchtest du dir einen davon aussuchen?« Oder: »Vielleicht
gibt es eine andere Möglichkeit, wie wir heute Abend zusammen
Spaß haben können?« Aber denken Sie daran, Sie haben bereits
getan, was nötig war – für Sie beide.

»Beides ist wahr« als Ausweg aus Machtkämpfen


Machtkämpfe zeigen uns fast immer auf, dass das »Beides ist
wahr«-Prinzip auf der Strecke geblieben ist. Es handelt sich um Ich-
gegen-dich-Situationen, Sie gegen Ihr Kind. Nehmen wir
beispielsweise an, Ihr Kind soll sich fertig machen, um nach draußen
zu gehen:
Eltern: »Du musst dir die Jacke anziehen, bevor du draußen
spielen gehst!«
Kind: »Nein! Mir wird nicht kalt, ich will ohne Jacke raus!«
Vielleicht denken Sie nun, bei diesem Wortgefecht gehe es um den
Sachverhalt (eine Jacke anziehen oder nicht). Aber im Prinzip wollen
beide Gesprächspartner*innen einfach nur verstanden werden. Sie
als Eltern wünschen sich, dass Ihr Kind spürt, dass Sie nur sein
Bestes wollen. Ihr Kind will Ihnen zeigen, wie selbstständig es ist und
dass es die Verantwortung für seinen Körper übernehmen kann.
Wenn wir das Gefühl haben, nicht verstanden zu werden, können wir
keine Probleme lösen. Deshalb sollte Ihr Hauptziel in diesem
Machtkampf nicht die Problemlösung sein, sondern das Wiederfinden
Ihrer »Beides ist wahr«-Einstellung. Denn sobald wir uns in unserem
Erleben und unseren Wünschen wirklich verstanden fühlen, müssen
wir uns nicht länger zur Wehr setzen – uns Menschen sind nämlich
einzelne Entscheidungen weit weniger wichtig als das Gefühl,
verstanden zu werden. Denn darauf kommt es uns fast immer am
meisten an.
Finden wir in diesem Szenario hingegen zur Idee zurück, dass
beides wahr ist, können wir vom Ich-gegen-dich-Modus umschalten
auf Ich-und-du-gegen-ein-Problem. Das ändert alles. Jetzt ziehen wir
am selben Strang, sehen uns gemeinsam ein Problem an und fragen
uns, was wir dagegen tun können.
Schauen wir uns das Beispiel oben nun in diesem Licht an:
Eltern: »Du musst eine Jacke anziehen, bevor du nach draußen
gehst. Es ist eiskalt!«
Kind: »Mir wird nicht kalt! Ich komme auch ohne Jacke klar, lass
mich rausgehen!«
Eltern: »Moment, eine Sekunde. Lass mich kurz überlegen.
Schauen wir mal, ob ich verstehe, worum es hier geht. Ich mache
mir Sorgen, dass du frierst, weil es draußen sehr windig ist. Du
hast das Gefühl, dir wird nicht kalt und du bist ziemlich sicher,
dass du ohne Jacke klarkommst, ja? Habe ich das richtig
verstanden?«
Kind: »Ja.«
An diesem Punkt gibt es verschiedene Möglichkeiten, denn das
Gespräch öffnet sich. Schauen wir uns die folgenden zwei Optionen
an.
Eltern: »Hmm … was können wir da tun? Ich bin sicher, wir
finden eine Lösung, mit der wir beide zufrieden sind.«
Kind: »Kann ich meine Jacke mitnehmen und sie anziehen, falls
ich friere?«
Eltern: »Klar! Das ist eine tolle Idee!«
Wenn Kinder sich verstanden fühlen und ihre Eltern als Mitspieler
statt als Gegner erleben, wenn sie um Hilfe bei der Problemlösung
gebeten werden, dann wirkt sich das positiv aus.
Sagen wir, Sie bestehen darauf, dass Ihr Kind die Jacke anzieht –
draußen herrscht eine Temperatur von zwei Grad bei Windstärke 8.
Da geht es nicht um Kontrolle, sondern tatsächlich um die Sicherheit
Ihres Kindes.
Eltern: »Hmm … was können wir da tun? Ich bin für deine
Sicherheit verantwortlich, und in diesem Moment bedeutet
Sicherheit, dass du eine Jacke trägst. Und du möchtest selbst
entscheiden und es ist dir unangenehm, dass ich dir sage, was du
zu tun hast.«
Kind: »Ich zieh die Jacke nicht an!«
Eltern: »Ich habe dich verstanden. Beides ist wahr: Du musst
eine Jacke anziehen, wenn du nach draußen willst. Und du darfst
mir auch böse sein deswegen. Meine Entscheidung muss dir nicht
gefallen.«
Sogar bei dieser einseitigen Entscheidung akzeptiere ich das Erleben
meines Kindes. Ich versuche nicht, es zu überzeugen, dass es nur
eine Wahrheit gibt, nämlich dass bei dieser Kälte die Jacke das einzig
Sinnvolle ist. Ich überzeuge mich selbst davon, dass die Jacke wichtig
ist, ich setze eine Grenze, indem ich bestimme, dass sie getragen
werden muss, und dann benenne ich die Gefühle und gebe ihnen
Raum. Ich habe meine Entscheidung getroffen und mein Kind hat
seine Gefühle dazu. Keiner hat recht. Beides ist wahr.

»Beides ist wahr« als Antwort auf verletzende Worte


Ihres Kindes
Eine weitere typische Situation, die ich aus den Schilderungen meiner
Leserinnen und Klienten kenne, ist folgende: Sie sagen Ihrem Kind,
dass es vor dem Abendessen (oder dem Zubettgehen oder der
Schule) nicht fernsehen darf. »Ich hasse dich!«, schreit es. »Du bist
so blöd!«
Okay, atmen Sie erst einmal tief durch. Versuchen wir zu verstehen,
was los ist. Das Verhalten des Kindes gewährt einen Einblick in seine
tiefsten Gefühle. Seine unbeherrschten Worte sind also erst einmal
ein Anzeichen dafür, dass es die Kontrolle über seine Emotionen
verloren hat. Denken Sie daran, Ihr Kind ist grundlegend gut. Die
Ursache von schlechtem Benehmen sind Gefühle, die wir nicht
bewältigen können. Was hilft nun dabei, mit dem Unbewältigten
fertigzuwerden? Genau, die Verbundenheit.
Verletzende Worte, die zweite:
Kind: »Ich hasse dich! Du bist so blöd!«
Mutter (atmet tief durch, sagt zu sich selbst): »Mein Kind ist
wütend. Sein äußeres Verhalten hat nichts mit seinen Gefühlen
mir gegenüber zu tun. Es ist ein gutes Kind, das einen
schwierigen Moment durchlebt.« Dann (laut): »Ich mag es nicht,
wenn du so mit mir redest. Du musst echt wütend sein, vielleicht
auch über andere Dinge, um so etwas zu sagen. Ich brauche
einen Moment, um mich zu beruhigen. Du vielleicht auch. Und
dann reden wir miteinander.«
Sie benennen also das Verhalten, das Sie ärgert, aber Sie betrachten
es nicht als die einzige Wahrheit. Sie akzeptieren das
dahinterstehende Gefühl, auch wenn es auf unkontrollierte Weise
herausbricht.

»Beides ist wahr« zur Bewältigung negativer Gefühle


Am hilfreichsten ist das »Beides ist wahr«-Motto vielleicht, wenn
unsere Gedanken in die »Rabeneltern«-Spirale abdriften:
Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, die Angst, dass wir unsere Kinder
verkorksen.
In solchen Situationen besinne ich mich auf die ultimative »Beides ist
wahr«-Aussage: Ich bin eine gute Mutter, die einen schwierigen
Moment durchmacht. Man rutscht so leicht in eine »Nur das eine ist
wahr«-Denkweise hinein: »Ich bin unfähig, ich vermassle alles, ich
kann das nicht, ich bin der schlechteste Vater, den man sich vorstellen
kann.« Diese Art von innerem Dialog verursacht Schuld- und
Schamgefühle, und wenn wir in dieser Denkweise gefangen bleiben,
werden wir nichts ausrichten. Ich werde später noch ausführlicher
über Schamgefühle sprechen, aber erst einmal sollten Sie Folgendes
zur Kenntnis nehmen: Scham ist eine unangenehme Emotion, die uns
unserer Selbstsicherheit beraubt. Je mehr wir uns also davon
überzeugen, dass nur eines wahr ist, und zwar dass wir schlechte
Eltern sind, desto tiefer sackt unser Selbstwertgefühl ab und desto
eher verhalten wir uns auf eine Weise, die sich schlecht anfühlt – was
wiederum unser negatives Selbstbild verstärkt.
Was ist also die Alternative? Auch hier müssen wir Identität (wer wir
sind) und Verhalten (was wir tun) trennen. Diese Unterscheidung soll
Ihnen nicht als Entschuldigung oder Ausflucht dienen. Gemeint ist,
dass Sie sich Ihres grundlegenden Gutseins bewusst sind und
gleichzeitig hart daran arbeiten, sich zu verbessern. Prägen Sie sich
diese Feststellung ein und wiederholen Sie sie immer wieder: »Beides
ist wahr: Ich mache einen schwierigen Moment durch und ich bin ein
guter Vater. Ich bin ein guter Vater, der einen schwierigen Moment
durchlebt.«
Kapitel 3

Machen Sie sich Ihre Aufgabe


bewusst
Nur genau definierte Rollen und Zuständigkeiten lassen ein System
reibungslos funktionieren. Sind sich hingegen einzelne Teilnehmer
nicht im Klaren über ihre Rolle oder greifen in die Funktionen anderer
ein, bricht das System zusammen. Familiensysteme (ja,
Familiengemeinschaften sind auch Systeme) bilden da keine
Ausnahme. Jedes Familienmitglied hat darin eine bestimmte Aufgabe.
Die der Eltern ist es, die Sicherheit ihrer Kinder zu gewährleisten,
indem sie Grenzen setzen, sie bestätigen und ihnen mit Empathie
begegnen. Kinder müssen hingegen lernen, ihre Emotionen zu
erkennen, auszudrücken und zu regulieren. Beide dürfen ihren
Aufgabenbereich nicht überschreiten. Kinder sollten nicht über unsere
Grenzen bestimmen und wir nicht darüber, was sie fühlen dürfen.
In einem Familiensystem haben einige Rollen Vorrang gegenüber
anderen. Sicherheit ist das oberste Gebot und steht noch vor Glück
und Zufriedenheit oder der Frage, ob unsere Kinder mit uns zufrieden
sind. Unsere Hauptaufgabe ist es, ihre körperliche und seelische
Sicherheit zu gewährleisten. Nichts macht Kindern mehr Angst als
wenn sie bemerken, dass ihre Eltern diese Pflicht vernachlässigen
(vor allem, wenn dahinter die Angst der Eltern vor der Reaktion ihrer
Kleinen steckt). Ihr Unbewusstes erhält so die Botschaft: Gerätst du
außer Kontrolle, dann ist niemand da, der eingreifen und dir helfen
kann. Natürlich können Sie von Ihrem Nachwuchs keinen Dank
erwarten dafür, dass Sie einschreiten und für seine Sicherheit sorgen.
Aber ich garantiere Ihnen, dass sich Kinder genau das wünschen. Nur
so können sie die emotionalen Regulierungsstrategien entwickeln, die
sie zu gesunden Erwachsenen heranreifen lassen. Das nächste Mal,
wenn Sie Ihre streitenden Kinder trennen, Ihre Tochter am
Handgelenk festhalten, damit sie ihren Bruder nicht schlagen kann,
oder Ihr Kind auf sein Zimmer bringen, um sich mit ihm hinzusetzen,
weil es die Kontrolle verloren hat und Halt braucht, erinnern Sie sich:
»Ich erfülle hiermit meine Aufgabe und sorge für die Sicherheit
meines Kindes. Mein Kind erfüllt seine Aufgabe und drückt seine
Gefühle aus. Wir beide tun das, was wir zu tun haben. Damit kann ich
umgehen.«
Sicherheit ist also unser Hauptziel. Und der beste Weg, sie zu
erreichen, ist Grenzen zu setzen. Wenn hinter unseren Grenzen eine
Absicht steckt, bieten sie Schutz und Halt. Wir setzen Grenzen aus
Liebe zu unseren Kindern, weil wir sie davor bewahren wollen,
falsche Entscheidungen zu treffen. Unsere Kleinen müssen auf dem
Gehsteig an der Hand gehen, weil wir wissen, dass sie sonst ihrem
Verlangen nachgeben könnten, auf die Straße zu laufen. Wir verbieten
unseren Kindern, Horrorfilme anzuschauen, weil wir wissen, dass
diese unter Umständen Ängste auslösen, mit denen unsere Kinder
noch nicht umgehen können. Unsere Kinder brauchen klare Grenzen
(womit keine Einschüchterungsversuche gemeint sind!), damit sie die
Gewissheit haben, dass wir sie beschützen, solange sie das
entwicklungsbedingt noch nicht selbst können.
Aber warum sind sie dazu noch nicht in der Lage? Es fällt Kindern,
kurz gesagt, leichter, starke Gefühle wahrzunehmen, als diese zu
regulieren. Die Kluft, die sich zwischen dem Empfinden und der
Regulierung starker Gefühle auftut, kommt in Form von
fehlreguliertem Verhalten wie Schlagen, Treten und Schreien zum
Ausdruck. In ihrem Buch Achtsame Kommunikation mit Kindern
erklären der Neuropsychiater Daniel Siegel und die Psychotherapeutin
Tina Payne, warum Kinder so oft außer Kontrolle geraten. Sie
vergleichen dazu das Gehirn mit einem zweigeschossigen Haus. Das
Erdgeschoss ist zuständig für die elementarsten Funktionen wie das
Atmen, aber auch für unsere Impulse und Emotionen. Das
Obergeschoss übernimmt komplexere Prozesse wie Planung,
Entscheidungsfindung, Selbstwahrnehmung und Empathie. Und genau
da liegt das Problem: Das Untergeschoss mit seinen intensiven
Emotionen und Empfindungen ist schon bei kleinen Kindern voll
ausgebaut und funktionsfähig. Aber das Obergeschoss bleibt bis ins
Alter von über zwanzig Jahren in der Bauphase. Eine unglaubliche
Verzögerung! Kein Wunder, dass Kinder sich mit Zukunftsplanung,
Selbstreflexion und Empathie schwertun, wo diese doch alle im
Obergeschoss zu Hause sind. Daran sollten wir unbedingt denken:
Wenn Kinder von ihren Gefühlen überwältigt werden und unfähig sind,
sie zu regulieren und kluge Entscheidungen zu treffen, entspricht das
exakt der Entwicklungsstufe ihres Gehirns. Zwar ist das für Eltern
anstrengend und ausgesprochen unbequem, aber es ist völlig normal.
In diesem Bild des zweigeschossigen Hauses stellen die Eltern im
Wesentlichen die Treppe dar. Sie haben die Funktion, das
Erdgeschoss des Kindergehirns (überwältigende Gefühle) mit dem
Obergeschoss (Selbstwahrnehmung, Regulation, Planen,
Entscheidungsfindung) zu verbinden. Dieses Ziel können Sie nur
erreichen, wenn Sie Ihre Aufgabe kennen. Unsere Kinder sollen das
ganze Spektrum ihrer Gefühle wahrnehmen und neue Erfahrungen
sammeln können. Unsere Aufgabe ist es, ihnen beizubringen, all die
Situationen zu bewältigen, mit denen das Leben sie konfrontiert. Nur
so können sie Resilienz entwickeln. Das bedeutet aber keinesfalls,
dass wir ihre Gefühle abstellen oder sie von ihren Wahrnehmungen
ablenken sollen. Ziel ist ja gerade, dass sie lernen, mit all ihren
Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken und Bedürfnissen
umzugehen. Wir sind es in erster Linie, die sie dabei anleiten sollen.
Kindern Vorhaltungen zu machen oder an ihre Vernunft zu appellieren
bringt allerdings rein gar nichts. Ausschlaggebend sind die
Erfahrungen, die sie mit uns machen.
Unseren Kindern zu helfen, ihre Gefühle zu regulieren, ist ein
wichtiger – vielleicht häufig unterbewerteter – Bestandteil unserer
Schutzfunktion. Wir halten sozusagen die emotionalen Flammen in
Schach, die in unseren Sprösslingen auflodern. Stellen Sie sich vor, in
Ihrem Haus würde ein Feuer ausbrechen. Als Erstes müssten Sie
versuchen, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Ja, natürlich sollten
Sie dafür sorgen, dass Ihr Zuhause feuerfest ist, aber diese Aufgabe
können Sie erst in Angriff nehmen, wenn das Feuer gelöscht ist und
Sie sich wieder sicher fühlen. Wenn Eltern Mühe haben, Grenzen zu
setzen oder ihre eigenen starken Gefühle zu regulieren, dann ist das,
als ob sie bei einem Brand alle Türen öffnen und Öl ins Feuer gießen
würden, sodass es sich im ganzen Gebäude ausbreiten kann.
Deshalb haben Feuerkontrolle und Grenzen setzen den absoluten
Vorrang.
Eltern bringen Grenzen sowohl mit Worten als auch durch
Körpersprache zum Ausdruck. Wenn ich »Körper« sage, dann meine
ich nicht, dass Sie physische Gewalt anwenden, um Ihre Macht zu
behaupten oder das Kind einzuschüchtern. Einem Kind wehzutun oder
Angst zu machen ist absolut inakzeptabel. Immer. Aber manchmal
genügen Worte nicht, um unser Kind zu schützen. Wenn ich meiner
Tochter untersage, ihren Bruder zu schlagen, kann es sein, dass sie
erst aufhört, wenn ich sie am Handgelenk packe. Hört mein Sohn
nicht auf meine Aufforderung, vom Tisch herunterzusteigen, muss ich
ihn zu seiner eigenen Sicherheit eben herunterheben – auch wenn er
weint und schreit. Wehrt sich meine Tochter dagegen, im Kindersitz
angeschnallt zu werden, muss ich mich gegen sie durchsetzen. Selbst
wenn ich sie dafür in den Sitz drücken muss, während sie »Nein, nein,
nein!« brüllt. Heißt das, dass ich meine übermäßige Kraft gerne
anwende? Nein, ich würde zu gerne darauf verzichten. Viel lieber
würde ich mich auf mein Kernziel – Bindung und Regulation –
konzentrieren, damit es gar nicht erst zu solchen Situationen kommt.
(Mehr dazu später.) Aber wenn es nicht so läuft, wie wir uns das
vorstellen, wenn die Sicherheit unseres Kindes auf dem Spiel steht,
dann müssen wir unsere Aufgabe erfüllen und es schützen.
Sich seiner Aufgabe bewusst zu sein bedeutet nicht, dass sie immer
leicht zu erfüllen ist. Kürzlich erzählte mir eine Mutter in meiner
Privatpraxis folgende Geschichte: »Ich kam ins Spielzimmer und sah,
wie Reina und Kai zufrieden spielten – sie bauten eine ganze Anlage
mit Bauklötzen, Lastern und kleinen Figuren. Aber natürlich war die
Szene zu schön, um wahr zu sein. Sie fingen an sich zu streiten, was
wohin sollte. Reina nahm eine der Figuren und warf sie nach Kai. Und
dann noch eine. Ich sagte: ›Reina, hör sofort auf, mit den Figuren zu
werfen!‹ Aber sie gehorchte nicht und machte weiter. Das totale
Chaos!«
An dieser Mutter ist nichts verkehrt. Auch nicht an Reina (bzw. Kai).
Was also geht hier vor? Ganz einfach: Es wurde keine Grenze
gesetzt. Grenzen sind nicht, was wir den Kindern verbieten. Die
Grenze wird gezogen, wenn wir den Kindern sagen, was wir tun
werden. Grenzen verkörpern Ihre Autorität als Eltern. Ihr Kind muss
nichts tun. Im Fall von Reina und Kai hätte ein produktives Eingreifen
etwa folgendermaßen aussehen können: Die Mutter tritt zwischen die
Kinder, bringt die Figuren außer Reinas Reichweite und sagt: »Ich
lasse dich diese Figuren nicht werfen.« Oder, falls sie die sorgfältig
aufgestellten Figuren nicht durcheinanderbringen möchte, kann sie
Reina in einen anderen Raum bringen und sich zu ihr setzen. So
sehen Grenzen aus. Mit der für die meisten Eltern naheliegenden
Aufforderung »Hör sofort auf zu werfen!« setzen wir keine Grenze.
Hier ein paar weitere Beispiele, wie Sie Grenzen setzen können:

»Ich lasse dich deinen Bruder nicht schlagen.« Sie stellen sich
zwischen die Kinder und verhindern mit Ihrem Körper weitere
Schläge.
»Ich lasse dich nicht mit der Schere in der Hand herumrennen.«
Sie umfassen Ihr Kind an der Taille, damit es nicht weglaufen
kann.
»Die Bildschirmzeit ist zu Ende. Ich schalte jetzt den Fernseher
aus.« Sie tun dies und legen die Fernbedienung außer
Reichweite.

Hier nun ein paar Gegenbeispiele, bei denen wir, statt Grenzen zu
setzen, diese Aufgabe den Kindern überlassen haben. In solchen
Szenarien eskaliert das Benehmen für gewöhnlich trotz unserer
Bemühungen. Das liegt nicht daran, dass unsere Kinder nicht »hören
wollen«. Ihr Körper stößt schlichtweg nicht auf Schranken. Wenn kein
fest entschlossener Erwachsener da ist, der für ihre Sicherheit sorgt,
bringt sie das noch mehr außer Kontrolle als das ursprüngliche
Problem.

»Hör bitte auf, deinen Bruder zu schlagen!«


»Hör auf, herumzurennen! Ich habe ›Stop‹ gesagt! Wenn du
weiter mit dieser Schere in der Hand herumläufst, bekommst du
keinen Nachtisch!«
»Hatten wir nicht vereinbart, dass nach dieser Sendung Schluss
ist? Warum machst du jetzt Schwierigkeiten und hältst dich nicht
an die Abmachung?«

In jedem dieser Beispiele fordern Eltern ihre Kinder dazu auf, ein
Bedürfnis oder einen Wunsch zu unterdrücken. Dazu sind sie aber auf
ihrem derzeitigen Entwicklungsstand gar nicht fähig. Wir können
einem Kind nicht einfach befehlen, mit etwas aufzuhören – sei es mit
Schlagen, Rennen oder dem Erbetteln von zusätzlicher Bildschirmzeit.
Gut, wir können das natürlich tun. Auch mir passiert so etwas! Aber
wir werden mit diesen Appellen nichts erreichen. Warum? Weil wir
niemand anderen regulieren können – nur uns selbst. Und wenn wir
unser Kind dazu auffordern, unseren Job für uns zu tun, dann kann es
seine Gefühle noch weniger bewältigen. Denn im Prinzip sagen wir
damit: »Ich sehe, dass du die Kontrolle verloren hast. Da ich nicht
weiß, wie ich dir helfen kann, überlasse ich es dir, wieder ins
Gleichgewicht zu kommen.« Das ist für das Kind beängstigend, denn
genau in solchen Momenten braucht es unbedingt einen
Erwachsenen, der eine sichere, konsequente Grenze setzt. Und diese
Grenze ist eine Form von Liebe. Sie sagen dadurch: »Ich weiß, dass
du grundlegend gut bist und dich nur gerade deine Emotionen
überrollt haben. Ich werde dir den Halt geben, den du brauchst. Ich
werde dich daran hindern, dich so zu verhalten. Ich werde dich davor
bewahren, dass dein Kontrollverlust dich steuert.«
Wünschen wir uns das nicht alle, wenn wir die Fassung verloren
haben? Jemanden, der ruhig bleibt, Verantwortung übernimmt und
dafür sorgt, dass wir uns wieder sicher fühlen?
Natürlich besteht unsere Aufgabe nicht allein darin, für die
körperliche Unversehrtheit unserer Kinder zu sorgen. Wir haben uns
auch um ihre seelische Gesundheit zu kümmern. Dabei helfen uns
Bestätigung und Empathie.
Bestätigung bedeutet, das emotionale Erleben einer anderen Person
als real und wahr zu betrachten und nicht als bloße Einbildung, von
der wir den anderen mit Argumenten und Überzeugungskraft
abbringen wollen. Bestätigung hört sich so an: »Du bist wütend, das
ist klar, ich sehe das.«
Abwertung, also das Abtun des Erlebens oder der Wahrheit einer
anderen Person, klingt hingegen so: »Du hast keinen Grund, so
wütend zu sein, sei doch nicht so empfindlich!«
Denken Sie daran, alle Menschen – Kinder genauso wie
Erwachsene – haben das tiefe Bedürfnis, als der Mensch
wahrgenommen zu werden, der sie sind. Und wer wir sind hängt zu
jedem Zeitpunkt davon ab, wie wir uns fühlen. Wenn andere
unsere Gefühle bestätigen, beginnen wir unser eigenes Erleben zu
regulieren, weil uns jemand bestätigt, dass es real ist. Wenn unser
Erleben hingegen abgewertet wird, geraten wir meistens noch mehr
aus dem Gleichgewicht, weil uns jemand sagt, es entspräche nicht
der Wirklichkeit. Und das fühlt sich extrem unangenehm an.
Empathie, unser zweites Hilfsmittel bei der emotionalen Fürsorge
unserer Kinder, bezeichnet die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen
Menschen zu verstehen und nachzuvollziehen. Und das wollen wir
dann tun, wenn wir die Gefühle des anderen als berechtigt ansehen.
Zuerst kommt also die Bestätigung (»Das emotionale Erleben meines
Kindes ist real.«) und dann die Empathie (»Ich kann versuchen, seine
Gefühle zu verstehen und darauf einzugehen, statt sie zu
unterbinden.«). Empathie entsteht durch unsere Fähigkeit, neugierig
zu sein: Wir versuchen zu verstehen, was in unserem Kind vorgeht,
statt darüber zu urteilen. Empathie gibt Kindern – und auch
Erwachsenen – das Gefühl, dass da jemand am gleichen Strang
zieht. Es ist fast, als ob ein anderer Mensch uns einen Teil unserer
emotionalen Bürde abnimmt. Denn Gefühle drücken sich nur dann im
Verhalten aus, wenn sie innerlich nicht zu bewältigen sind, wenn sie zu
heftig sind, um reguliert und in Schach gehalten zu werden. Wenn uns
jemand Empathie entgegenbringt (»Oje, das muss sich wirklich
schlimm anfühlen!«), machen wir die Erfahrung, die Daniel Siegel als
»sich gefühlt fühlen« bezeichnet. Außerdem spüren wir, dass eine
andere Person in unserem emotionalen Erleben anwesend ist, und
dadurch fällt es uns leichter, damit umzugehen. So lernen wir
allmählich, unsere Gefühle zu regulieren. Haben sich Kinder diese
Fähigkeit einmal angeeignet, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich
ihre Gefühle im Verhalten äußern. Ihr Kind sagt dann zum Beispiel:
»Ich bin so sauer auf meine Schwester« (wodurch es seine Wut
reguliert), anstatt sie zu schlagen (Fehlregulierung). Es sagt: »Ich will
herumrennen!« (wodurch es ein Bedürfnis reguliert), statt mit einer
Schere in der Hand durch den Flur zu sausen (Fehlregulierung). Oder:
»Ich wünschte, ich könnte mir gleich noch eine Sendung anschauen«
(wodurch es seine Enttäuschung reguliert), statt in Tränen
auszubrechen (Fehlregulierung).
Aber Bestätigung und Empathie sorgen nicht nur dafür, dass sich
Kinder gut fühlen, sondern haben noch tiefergehende Auswirkungen.
Eines der wichtigsten Ziele in der Kindheit ist es, gesunde Strategien
zur Emotionsregulierung aufzubauen: Wege zu finden, Gefühle
zuzulassen und damit umzugehen, sowie die Fähigkeit zu entwickeln,
sich im Strudel seiner Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse
zurechtzufinden, statt davon überrollt zu werden. Empathie und
Bestätigung vonseiten der Eltern sind entscheidend, damit ein Kind
lernt, seine Gefühle zu regulieren. Deshalb sollten wir sie nicht als
»Nachsicht« oder »Sentimentalität« abtun, sondern als
ernstzunehmende und entscheidende Faktoren der Erziehung.
Nun haben wir also ein Gesamtbild unserer Aufgabe. Wenden wir
uns daher noch einmal den Beispielen zu, in denen wir Grenzen
gesetzt haben, um uns anzusehen, wie wir Bestätigung und Empathie
einfließen lassen können.

»Ich lasse dich deinen Bruder nicht schlagen«. Sie stellen sich
zwischen die Kinder und verhindern mit Ihrer körperlichen
Anwesenheit weitere Schläge. »Ich weiß, dass du frustriert bist!
Es ist schon hart, einen Bruder zu haben, der krabbeln kann und
nach all deinen Sachen greift. Aber ich bin ja da. Ich werde dir
helfen herauszufinden, wie du deine Bauklötzchenlandschaft
schützen kannst.«
»Ich lasse dich nicht mit der Schere in der Hand herumrennen«.
Sie umfassen Ihr Kind in der Taille, damit es nicht weglaufen
kann. »Ich weiß, dass du Lust hast zu rennen! Du kannst die
Schere hinlegen und herumlaufen oder du schneidest fertig aus
und saust später herum. Was möchtest du lieber machen? Ach
so, beides? Ich weiß, Spatz. Aber ich lasse dich so etwas
Gefährliches nicht tun, auch wenn du mir deswegen böse bist.
So lieb hab ich dich. Du darfst mir ruhig böse sein, ich verstehe
das.«
»Die Bildschirmzeit ist zu Ende. Ich schalte jetzt den Fernseher
aus.« Sie machen das Gerät aus und legen die Fernbedienung
außer Reichweite. »Du möchtest noch eine Sendung sehen. Das
weiß ich. Für mich ist es auch schwierig, die Fernsehzeit zu
beenden. Magst du mir sagen, wie die Sendung heißt, die du dir
morgen anschauen möchtest? Ich werde den Namen
aufschreiben, damit wir ihn nicht vergessen.«

Aus welchem Grund nun helfen Grenzen, Bestätigung und Empathie


einem Kind, Regulierungsstrategien zu entwickeln? Grenzen zeigen
unseren Kindern, dass sogar die heftigsten Gefühle nicht für immer
außer Kontrolle geraten. Kinder müssen spüren, an welchem Punkt
sie von ihren Eltern ein »Ich lasse dich nicht« hören, damit sie von
gefährlichen Handlungen abgehalten werden. Nur so speichern sie in
ihrem Körper die Botschaft ab: »Es wirkt vielleicht so, dass dieses
Gefühl die Oberhand gewinnt und die Welt kaputt macht und dass es
einfach zu stark ist, aber da mir meine Eltern Grenzen setzen, spüre
ich, dass es einen Weg gibt, damit fertigzuwerden. Dieses Gefühl
macht mir Angst und überwältigt mich, aber ich sehe, dass meine
Eltern damit umgehen können.« Mit der Zeit verinnerlichen Kinder
diese Grenzen und lernen dabei, sich selbst zu kontrollieren.
Dank Bestätigung und Empathie wird Kindern hingegen bewusst,
dass sie trotz ihres Fehlverhaltens grundlegend gut sind. Wie wir
wissen, können wir uns nur dann verändern, wenn wir uns unseres
guten Kerns sicher sind. Oft denken wir: »Erst wenn ich mich
verändert habe, werde ich mich wertvoll und liebenswert fühlen.«
Aber es verhält sich genau umgekehrt. Es ist unser Gutsein, das uns
erdet. Unser Gutsein hilft uns, mit schwierigen Gefühlen
zurechtzukommen und uns nicht damit zu identifizieren. Durch
Wertschätzung und Empathie sagen Eltern ihrem Kind im Grunde
genommen genau das: »Du bist du. Du bist liebenswert. Du bist
grundlegend gut.«
Damit haben Sie Ihre Jobbeschreibung: Ihre Aufgabe ist es, für die
emotionale und körperliche Sicherheit Ihres Kindes zu sorgen, indem
Sie Grenzen setzen, es bestätigen und ihm mit Empathie begegnen.
Und worin besteht die Aufgabe Ihres Kindes im Familiensystem? Die
Antwort auf diese Frage ist eigentlich zweitrangig. Als Eltern müssen
wir uns auf unsere eigene Arbeit konzentrieren, weil nur diese
innerhalb unseres Kontrollbereichs liegt. Trotzdem ist es hilfreich,
über die anderen Rollen im System Bescheid zu wissen – darum geht
es ja in diesem Kapitel. Die Aufgabe des Kindes im Familiensystem
besteht zunächst einmal darin, zu erforschen und zu lernen, indem es
seine Gefühle und Bedürfnisse wahrnimmt und zum Ausdruck zu
bringt. Das Kind muss lernen, wozu es fähig ist, was sicher ist,
welche Rolle es in der Familie einnimmt, wie selbstständig es ist und
was geschieht, wenn es etwas Neues ausprobiert. Um sich dieses
Wissen anzueignen, muss es das Terrain auskundschaften. Damit ist
gemeint, dass es Grenzen austestet, mit neuen Strategien
experimentiert oder mit anderen Kindern spielt, aber auch seine
Eltern herausfordert, seine Wünsche einfordert und manchmal »einen
Anfall hat«. Wenn Sie das Familiensystem als Ganzes betrachten,
können Sie sehen, auf welch raffinierte Weise diese Aufgaben
ineinandergreifen: Das Kind drückt Gefühle aus, und die Eltern
können sie bestätigend anerkennen und nachvollziehen. Wenn sich
diese Gefühle in gefährlichem Verhalten äußern, dann setzen wir mit
Bestätigung und Empathie angemessene Grenzen.
Sobald Sie die Rollen in einem Familiensystem verstanden haben,
können Sie Ihre Gedanken über die schwierigen Momente des Kindes
neu ordnen. Wenn Kinder mit sich zu kämpfen haben, dann erfüllen
sie gerade ihre Aufgabe. Diese Sicht der Dinge wird Ihnen in
Erinnerung rufen, dass es gute Kinder sind, die ihren Part im
Familiensystem übernehmen, und nicht böse Kinder, die schlimme
Dinge tun.
Mir selbst hilft das Nachdenken über die Aufgabenverteilung in der
Familie, herausfordernden Situationen den richtigen Stellenwert
einzuräumen. Ein Beispiel: Ich teile meinem Sohn mit, ich müsse jetzt
mit der Arbeit anfangen. Kurz darauf höre ich, wie er nach mir schreit.
Dann kann ich mir sagen: »Sieht so aus, als wäre da etwas
schiefgelaufen. Aber warte mal, haben wir beide nicht gerade unsere
Aufgabe erfüllt?«
Dann denke ich noch einmal daran, was ich zu meinem Sohn gesagt
habe, bevor ich mich von ihm getrennt habe: »Spatz, ich weiß, dass
es schwer für dich ist, wenn Mama arbeiten muss. Mir ist klar, dass
du gerne mit Mama zusammen bist! Papa wird sich jetzt um dich
kümmern, und wir sehen uns dann beim Mittagessen. Mama kommt
immer zu dir zurück.« Ich habe Grenzen gesetzt, die sich für mich
richtig anfühlten, und ich habe die Gefühle meines Kindes mit meinen
Worten bestätigt und mit meinem Tonfall Empathie ausgedrückt. Mein
Sohn hat protestiert. Er hat geschrien. Und geweint. Er hat seine
Aufgabe erfüllt: Er hat Gefühle durchlebt und sie zum Ausdruck
gebracht. Darauf habe ich geantwortet: »Ich weiß, dass es schwer
ist, Spatz. Du darfst wütend sein. Ich hab dich lieb.« Dann bin ich
weggegangen. Bestätigung, Empathie, Grenzen setzen. Er hat weiter
geweint, neue Gefühle erlebt und sie gezeigt. Also haben wir beide
unseren Job gemacht, oder? Ich will ganz ehrlich sein: Solche
Momente heben meine Stimmung nicht gerade. Kein »Juhu, super
gemacht!«. Aber wenn ich mir die Rollenverteilung bewusst mache,
finde ich zu meiner Gelassenheit zurück und zweifle weder an mir
selbst (»Mache ich etwas falsch?«) noch an meinem Kind (»Was
stimmt nicht mit meinem Sohn, dass er immer noch weint, wenn ich
weggehe?«). Den meisten Eltern, die ich kenne, ist es eine große
Hilfe, diese Momente in einem anderen Licht zu sehen. Es verhindert,
dass ihre Gedanken in die »Wir sind Rabeneltern«-Schleife geraten.
Für mich gilt das ganz bestimmt.
Kapitel 4

Die ersten Jahre sind


entscheidend
Warum mühen wir uns überhaupt mit Kindererziehung ab? Warum
setzen wir Grenzen durch, die Wutanfälle provozieren, sprechen über
Gefühle und suchen nach den Problemen, die sich hinter bestimmten
Verhaltensweisen verbergen? Hat das tatsächlich einen Zweck?
Werden sich insbesondere Kleinkinder überhaupt an diese Jahre
erinnern?
Ja. Erziehung ist wichtig. Und ja, Kinder werden sich an ihre frühen
Jahre »erinnern«, auch an ihr erstes, zweites und drittes Lebensjahr.
Natürlich nicht in dem Sinn, wie wir das Wort normalerweise
verwenden – Kleinkinder können vergangene Erlebnisse nicht
bewusst aus dem Gedächtnis abrufen und in Worte fassen. Ihre
Erinnerungen sind an einem anderen Ort verankert, an dem sie noch
stärker wirken: im Körper. Schon bevor Kinder sprechen können,
speichern sie über die Interaktion mit ihren Eltern ab, was sich
akzeptabel oder beschämend anfühlt, was kontrollierbar erscheint
und was überwältigend. Deshalb fallen unsere »Erinnerungen« aus
der frühesten Kindheit tatsächlich stärker ins Gewicht als das, was
uns später im Gedächtnis haften bleibt. Eltern bestimmen durch die
Art, wie sie mit ihren kleinen Kindern umgehen, welche
Ausstattung sie ihrem Nachwuchs auf den Lebensweg
mitgeben. Denn Kinder verdauen die Informationen, die sie über
diese Interaktion aufnehmen, und wenden sie pauschal auf die Welt
an.
Wir haben dieses Thema schon einmal angeschnitten, doch es lohnt
sich, es noch einmal zur Sprache zu bringen: Unsere frühesten
Beziehungen haben Einfluss darauf, welche Teile in uns wir als
liebenswert erachten, welche wir abschalten und für welche wir uns
schämen. Anders gesagt prägen die Erfahrungen, die ein Mensch in
seinen ersten Lebensjahren mit den Eltern macht, sein Selbstbild und
die Erwartungen, die er an andere stellt. Auch bestimmen sie, was
sich sicher und gut anfühlt und was bedrohlich und schlecht. Ein
kleines Mädchen zum Beispiel, dem man ständig sagt, es solle »nicht
so empfindlich sein«, lernt schon früh, dass seine Gefühle »falsch«
sind und andere abschrecken. Wenn Eltern ihren Sohn immer wieder
dazu auffordern, mit dem Weinen aufzuhören, wird er Verletzlichkeit
mit Ablehnung verknüpfen, auch wenn er sich später nicht bewusst
daran erinnern kann. Außerdem werden in den frühesten
Kindheitsjahren die Weichen für die Emotionsregulierung gestellt. Wie
wir bereits wissen, ist damit die Fähigkeit gemeint, mit Gefühlen und
Bedürfnissen umzugehen und darauf zu reagieren. Unsere frühesten
Kindheitserinnerungen bestimmen, welche Gefühle wir als
bewältigbar und zulässig und welche als »übertrieben« oder »falsch«
empfinden. Die richtige Erziehung ist mir nicht deshalb so wichtig, weil
ich Kindern und Eltern mehr Wohlfühlmomente verschaffen möchte –
auch wenn diese natürlich schön sind. Es geht mir vielmehr darum,
dass die früheste Kindheit über die Zukunft eines Menschen
entscheidet. Damit wir uns zu selbstzufriedenen Erwachsenen
entwickeln, die Misserfolge hinnehmen, entschieden Grenzen setzen,
für sich selbst eintreten und sich in andere hineinversetzen können,
muss unser Gehirn schon früh entsprechend vernetzt werden. In den
ersten Lebensjahren entsteht das Fundament für den Rest des
Lebens.
Bevor ich zum nächsten Punkt übergehe, noch eines: Das
menschliche Gehirn ist erstaunlich anpassungsfähig, und wir können
es immer neu vernetzen. Wir können verlernen, umlernen und uns
verändern. Wurden Sie nach der Lektüre der vorigen Kapitel von
elterlichen Schuldgefühlen geplagt? Sind Sie besorgt, Sie hätten alles
falsch gemacht oder »den Zug verpasst«, weil Ihre Kinder die
wichtigsten Jahre schon hinter sich haben?
Atmen Sie erst einmal tief durch. Begrüßen Sie Ihre Schuldgefühle
und rufen Sie sich dann in Erinnerung, dass Sie gute Eltern sind, die
an sich und ihren Beziehungen arbeiten. Sie tun also Ihr Bestes. Im
nächsten Kapitel werden wir die Kraft der Wiedergutmachung
hochleben lassen, weil sie tatsächlich existiert und immer erhalten
bleibt. (Das Kapitel heißt ja nicht zufällig »Es ist nie zu spät.«) Auf
den folgenden Seiten werde ich Sie mit den theoretischen Grundlagen
bekannt machen, die erklären, warum die frühen Kindheitsjahre
entscheidend sind. Haben wir das erst einmal klar vor Augen, sind wir
auch motivierter, was die harte Erziehungsarbeit angeht.
Unterbrechen Sie die Lektüre, sobald Scham- und Schuldgefühle
aufkommen. Vielleicht blättern Sie dann direkt zu Kapitel 10 vor, in
dem es um Selbstfürsorge geht. Probieren Sie ein paar der
vorgeschlagenen Strategien aus, bevor Sie weiterlesen. Und
vergessen Sie nicht: Wir alle geben unser Bestes. Das gilt auch,
wenn Ihr Nachwuchs die »frühesten Kindheitsjahre« schon hinter sich
hat. Erziehen ist harte Arbeit. Sie haben Ihren Job gut gemacht und
tun das immer noch.
Um die Wichtigkeit der ersten Jahre zu begreifen, ist es hilfreich,
wenn wir zwei psychologische Modelle der Eltern-Kind-Beziehung
zumindest in groben Zügen verstehen: die Bindungstheorie und die
Inneren Familiensysteme. Diese beiden Theorien erklären, warum die
ersten Lebensjahre so wichtig sind, auch wenn Kinder sich nicht
bewusst daran erinnern.

Bindungstheorie
Kinder kommen mit dem angeborenen Bedürfnis zur Welt, sich an ihre
Bezugspersonen zu »binden«. Die Bindungstheorie geht auf den
Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby zurück, der sie in
den 1970er Jahren entwickelte. Er beschrieb darin Bindung als ein
System der Nähe: Kinder, die es verstehen, sich die Nähe (im Sinne
von körperlicher Nähe) einer Bezugsperson zu sichern, erhalten mit
höherer Wahrscheinlichkeit Fürsorge und Schutz, was ihre
Überlebenschancen steigert. Kinder hingegen, die eine geringere
Nähe zu ihrer Bezugsperson herstellen, haben geringere Aussichten,
zu überleben, weil sie weniger Zuwendung und Schutz erfahren.
Bowlby drückte es so aus: Bindung ist nicht nur ein »willkommenes
Extra«, sondern ein primärer Evolutionsmechanismus. Tatsächlich
entscheidet Bindung darüber, ob das Baby seine Grundbedürfnisse
wie Nahrung, Wasser und emotionale Sicherheit stillen kann. Die
Bindungstheorie besagt, dass Kinder darauf »programmiert« sind,
nach Bindungspersonen zu suchen, die ihnen die Zuwendung und den
Schutz bieten, die sie zum Überleben brauchen.
Kinder entwickeln verschiedene Formen der Bindung, je nachdem,
welche Erfahrungen sie in der frühen Kindheit mit ihren
Bezugspersonen gemacht haben. Diese Bindungstypen haben
Auswirkungen auf das innere Arbeitsmodell des Kindes – auf die
Gedanken, Erinnerungen, Überzeugungen, Emotionen und
Verhaltensweisen, die beeinflussen, wie das Kind mit sich selbst und
anderen interagiert, sowie auf die Art der Beziehungen, die es später
eingeht. Das innere Arbeitsmodell basiert auf dem, was ein Kind
durch persönliche Interaktion über die Ansprechbarkeit,
Verfügbarkeit, Beständigkeit, Hilfestellung und Reaktionsfähigkeit
seiner Bezugsperson lernt. Kinder hinterfragen unsere Interaktionen
mit ihnen anhand von gewissen Überlegungen: Bin ich liebenswert
und gut, und ist meine Anwesenheit erwünscht? Werde ich beachtet
und gehört? Was kann ich von anderen erwarten, wenn ich mich
aufrege? Was kann ich von anderen erwarten, wenn ich von
Gefühlen überwältigt werde? Was kann ich von anderen erwarten,
wenn wir nicht einer Meinung sind? Aus den Antworten auf diese
Fragen leiten sie verallgemeinernd ab, wer sie sein dürfen und wie
die Welt funktioniert. Wenn wir unsere Kinder auffordern, ihre
Bildschirmzeit einzuhalten oder ihnen den Wunsch nach längerem
Aufbleiben abschlagen, mag es uns tatsächlich nur um diese Dinge
gehen. Aber für Kleinkinder geht es um etwas viel Größeres. Sie
leiten daraus ab, ob es in Beziehungen allgemein in Ordnung ist,
Wünsche und Gefühle zu hegen, die zu schwierigen Momenten
führen.
Vergessen Sie nicht: Kinder lernen während der Zeit, in der sie an
uns Eltern gebunden sind, wie Beziehungen funktionieren. Sie sind
völlig abhängig von uns, um überleben zu können, und wissen das
instinktiv auch. Deshalb sammeln sie Informationen über ihr Umfeld
und richten ihr Verhalten auf das Ziel aus, eine möglichst starke
Bindung herzustellen und ihren Eltern so nah wie möglich zu sein. Um
es auf den Punkt zu bringen: Die Art, wie wir auf die Bedürfnisse
unserer Kinder eingehen, die Bandbreite von Gefühlen, die wir ihnen
zugestehen, die Regelmäßigkeit unseres Da-Seins, die Tatsache, ob
wir nach Auseinandersetzungen zur Wiedergutmachung bereit sind
oder nicht, unser gelassenes oder aufbrausendes Reagieren – all
diese Verhaltensweisen haben Auswirkungen, die weit über die
Familieneinheit hinausgehen.
Was uns die Bindungstheorie mit auf den Weg gibt, ist Folgendes:
Kleinkinder versuchen, sich so gut wie möglich ihrem Umfeld
anzupassen. Dabei speichern sie Informationen ab und entwickeln
daraus Erwartungen. Diese frühe Vernetzung beeinflusst, wie sie sich
und andere wahrnehmen – bis weit über die Kindheit hinaus.
Schauen wir uns nun ein paar Beispiele an, die zeigen, welche
»Lehren« über Bindung das Kind aus frühen Interaktionen zieht.
Natürlich handelt es sich dabei um Verallgemeinerungen, aber ich
gehe davon aus, dass meine Beispielinteraktionen stellvertretend für
Erfahrungen stehen, die sich im Leben des Kindes beständig
wiederholen.
VERHALTEN: Das Kind weint, als seine Eltern es an der Schule
absetzen.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 1: »Hör auf, dich wie ein Baby
aufzuführen!«
Bindungslektion Nr. 1: Wenn ich mich verletzlich fühle, macht man
mich lächerlich und versteht mich nicht. Ich darf meine Verletzlichkeit
in engen Beziehungen nicht zeigen. Sie wird dort zum Problem.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 2: »Der Abschied fällt dir heute
schwer. Das verstehe ich. An manchen Tagen ist das so. Ich weiß,
dass du hier in der Schule in Sicherheit bist, und wir wissen beide,
dass Mama immer zurückkommt. Ich hole dich ab.«
Bindungslektion Nr. 2: Ich kann erwarten, dass andere meine
Gefühle ernst nehmen. Wenn ich mich verletzlich fühle und traurig
bin, erhalte ich Bestätigung und Unterstützung. Verletzlichkeit stellt in
engen Beziehungen kein Problem dar.
VERHALTEN: Das Kind hat einen Wutanfall, weil es kein Eis zum
Frühstück kriegt.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 1: »Ich werde nicht mit dir
sprechen, solange du dich so danebenbenimmst. Geh in dein
Zimmer und komm erst heraus, wenn du dich beruhigt hast!«
Bindungslektion Nr. 1: Wenn ich etwas will, vertreibe ich andere
Menschen. Ich werde zu einem schlechten Kind, und man lässt mich
allein. Andere Menschen sind nur dann gern in meiner Nähe, wenn
ich nett und gefügig bin.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 2: »Ich weiß, Mäuschen. Du
möchtest ein Eis zum Frühstück. Aber das kommt nicht in Frage. Du
darfst darüber ruhig wütend sein.«
Bindungslektion Nr. 2: Ich darf eigene Wünsche haben. Eigene
Wünsche sind in engen Beziehungen erlaubt.
VERHALTEN: Auf einer Geburtstagsparty klammert sich das Kind
an seinen Vater, statt sich den anderen Kindern anzuschließen.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 1: »Du kennst doch alle hier. Na
komm schon, du brauchst doch keine Angst zu haben!«
Bindungslektion Nr. 1: Ich kann meinen Gefühlen nicht trauen, weil
sie lächerlich und übertrieben sind. Andere Leute wissen besser als
ich, wie ich mich fühlen sollte.
Mögliche Reaktion der Eltern Nr. 2: »Irgendwie fühlst du dich nicht
ganz wohl hier. Das verstehe ich. Nimm dir ruhig Zeit, bis du dich
bereit fühlst.«
Bindungslektion Nr. 2: Ich kann meinen Gefühlen trauen. Ich darf
mich unsicher fühlen. Ich weiß, was ich fühle, und kann erwarten,
dass andere Leute mich respektieren und unterstützen.
Von ihren ersten Lebenstagen an lernen unsere Kinder, was Nähe
schafft und was Distanz. Mit dem Ziel, eine sichere Bindung
herzustellen, passen sie ihr Verhalten an. Wählen Eltern jeweils die
Reaktionsmöglichkeit Nr. 1 (und in der Annahme, dass dieses
Verhaltensmuster regelmäßig vorkommt), zieht das Kind den Schluss,
dass bestimmte Gefühle die Bindung gefährden. Es wird dann
versuchen, diese Gefühle abzuschalten, wahrscheinlich indem es
Schamgefühle entwickelt und sich Selbstvorwürfe macht. Schließlich
hängt davon im wahrsten Sinne des Wortes sein Überleben ab.
Entscheiden sich Eltern hingegen jeweils für Reaktionsmöglichkeit
Nr. 2 (auch hier nehmen wir an, dass dies allgemeine
Verhaltensmuster sind), zieht das Kind daraus die Lehre, dass seine
Gefühle real und berechtigt sind und in engen Beziehungen Platz
haben.
Ich möchte allerdings klarstellen, dass auch Reaktionsmöglichkeit
Nr. 2 das Problem nicht augenblicklich lösen wird. Tränen und
Geschrei lassen sich nicht auf Knopfdruck abstellen. Trotzdem wird
Ihr Handeln zweierlei positive Auswirkungen haben: Mit Ihrer Hilfe
wird Ihr Kind in naher Zukunft Regulierungsstrategien erlernen, durch
die es bald in der Lage ist, mit seiner Enttäuschung umzugehen. Und
langfristig wird es Selbstvertrauen, Akzeptanz und Offenheit
gegenüber anderen entwickeln, statt in Scham, Selbstverachtung und
Abwehrhaltung zu verfallen.
Springen wir nun um ein paar Jahrzehnte in die Zukunft. Das innere
Arbeitsmodell und das Bindungssystem der inzwischen erwachsenen
Person basiert immer noch auf dem, was sie über die Interaktion mit
ihren Eltern gelernt hat. Inzwischen wendet sie das Erlernte jedoch
auf andere enge Beziehungen an. Vielleicht denkt sie: »Meine
Verletzlichkeit ist unerwünscht in engen Beziehungen, ich muss allein
damit zurechtkommen.« Oder: »Ich darf nicht um Dinge bitten,
solange ich nicht sicher bin, dass ich sie von der anderen Person
bekomme – nur so kann ich mich in einer Beziehung sicher und wohl
fühlen.« Wollen wir, dass unsere Kinder später Beziehungen
anstreben, in denen sich Abhängigkeit und Unabhängigkeit die Waage
halten, in denen sie Nähe zulassen können, ohne sich selbst zu
»verlieren«, in denen sie ihre Schwachstellen offenbaren und auf
Unterstützung hoffen dürfen, dann müssen wir viel Arbeit in ihre
frühen Kindheitsjahre investieren. Denn je sicherer und geborgener
sich ein Kind bei seinen Eltern fühlt und je größer die Bandbreite der
Gefühle, die es innerhalb dieser Beziehung empfinden kann, desto
mehr Sicherheit und Geborgenheit wird es auch in seinen
Beziehungen im Erwachsenenalter erfahren.
Wie also können wir heute zu unseren Kindern eine sichere Bindung
aufbauen, auf deren Grundlage sie später mit anderen Menschen
dasselbe tun können? Im Allgemeinen geben Eltern, die mit
Zuwendung, Wärme, Verlässlichkeit und Trost erziehen, ihrem Kind
eine sichere Grundlage mit. Es fühlt sich in der Welt sicher und lebt
in der Überzeugung: »Es wird immer jemand für mich da sein und
mich trösten, wenn etwas schiefgeht«. Das Kind kann getrost auf
Erkundungsreise gehen: Neues ausprobieren, Risiken auf sich
nehmen, Misserfolge wegstecken und seine Verletzlichkeit zeigen.
Das Paradoxe daran ist: Je stärker die Bindung an unsere Eltern ist,
desto eher werden wir Neugierde und Forschergeist an den Tag
legen. Je mehr wir uns auf die sichere Beziehung zu unseren Eltern
verlassen können, desto selbstsicherer werden wir. Anders gesagt:
Abhängigkeit und Unabhängigkeit stehen nicht unbedingt im
Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich gegenseitig. Beides
ist wahr! Je deutlicher Kinder die Verlässlichkeit ihrer Eltern
spüren, desto unabhängiger können sie sein. Das Vertrauen in
die Anwesenheit eines Menschen, der sie versteht, nicht über sie
urteilt, sie unterstützt und tröstet, wenn etwas schiefgeht, lässt Kinder
zu selbstsicheren, zuversichtlichen und mutigen Erwachsenen werden.

Das System der Inneren Familie


Das System der Inneren Familie (IFS) ist eine therapeutische
Methode, die davon ausgeht, dass jeder Mensch verschiedene
Persönlichkeitsanteile in sich trägt. Eine Grundannahme der IFS ist,
dass es in der Natur des Geistes liegt, sich in verschiedene Anteile
oder »Unterpersönlichkeiten« aufzuteilen. Überlegen Sie doch nur
mal, wie das bei Ihnen ist. Vielleicht sind Sie offen gegenüber Leuten,
die Sie gut kennen, aber in einem neuen Umfeld eher zurückhaltend.
Vielleicht stehen Sie für sich ein, wenn es nötig ist, können sich aber
im Hintergrund halten, wenn jemand anderer die Führungsrolle
übernimmt. Vielleicht sind Sie im Berufsleben souverän, aber im
privaten Bereich schüchtern. Sie haben ein mutiges Selbst, ein
ängstliches Selbst, ein selbstbewusstes Selbst und ein respektvolles
Selbst. Ihre Persönlichkeit ist vielschichtig, nicht eindimensional. Und
keiner dieser Teile ist schlecht. Und auch nicht schlechter oder besser
als ein anderer Teil – Sie sind die Summe all dieser Teile. Je besser
Sie damit klarkommen, wenn irgendeiner dieser Teile »Ärger macht«,
desto entspannter werden Sie sich in den unterschiedlichsten
Situationen fühlen. Dies zu verstehen ist die Voraussetzung für unser
Selbstvertrauen, unsere Stabilität und unser Selbstwertgefühl. Wenn
uns Gefühle aus dem Konzept bringen und uns zu automatischen
Reaktionen verleiten, bedeutet das fast immer, dass einer unserer
Persönlichkeitsanteile die Oberhand gewonnen hat. Unsere Identität
entgleist und wir »werden« zu diesen Gefühlen.
Der Begriff »Anteile« erlaubt uns, innerlich und äußerlich unsere
widersprüchlichen oder zumindest nebeneinander existierenden
Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Wir können uns gleichzeitig
geerdet und bekümmert oder ausgeglichen und innerlich zerrissen
fühlen. Wir können wütend sein und dabei wissen, dass wir ein guter
Mensch sind. In meiner Praxis sehe ich immer wieder, wie befreiend
und erleichternd es für Erwachsene ist, von Persönlichkeitsanteilen zu
sprechen. Es befähigt sie, einfühlsam mit negativen Erfahrungen
umzugehen. Und weil ich die Erfahrung gemacht habe, welche Kraft in
diesem Begriff steckt, benutze ich ihn liebend gerne auch im Umgang
mit Kleinkindern, um schon früh in ihnen die Idee zu verankern, dass
Empfindungen, Gefühle und Gedanken Teile von uns darstellen, auf
die wir eingehen können, und nicht Erfahrungen, die uns übermannen
müssen.
Wenn wir IFS und Bindungstheorie kombinieren, verstehen wir die
frühkindliche Entwicklung zunehmend besser. Die Bindungstheorie
besagt, dass unsere Kinder sich an ihre Eltern binden müssen, um zu
überleben, weil nur so ihre Bedürfnisse gestillt werden. Aus diesem
Grund nehmen Kinder ihr Umfeld aus der Perspektive wahr: »Was
verschafft mir die größte Überlebenschance?« Wenn wir diese
Sichtweise mit dem IFS-Modell verbinden, wird sie nuancierter:
»Welche Anteile von mir bewirken Verbundenheit, Aufmerksamkeit,
Verständnis und Anerkennung? Ich sollte sie mehr zum Zug kommen
lassen, weil sie mir ein Maximum an Bindung und damit die
größtmögliche Überlebenschance einbringen! Diese
Persönlichkeitsanteile sind gut und kontrollierbar. Sie helfen mir, Nähe
zu anderen herzustellen, und schaffen Verbundenheit. Und welche
Persönlichkeitsanteile rufen Ablehnung und Distanz hervor? Ich sollte
diese Teile von mir unterdrücken, weil sie die Bindung und somit mein
Überleben gefährden. Diese Teile sind schlecht und nicht zu
bewältigen. Sie können unmöglich Zuneigung hervorrufen. Sie sind
bindungslos.«
Kinder lernen diese »Lektionen« über die Interaktion mit ihren Eltern.
Und zwar nicht durch Worte, sondern durch Erfahrungen. Das Kind
verinnerlicht, welches Verhalten seine Eltern mit einem Lächeln, mit
Fragen, mit Umarmungen und mit Präsenz belohnen (zum Beispiel:
»Du darfst dich so fühlen. Erklär mir das genauer, ich bin bei dir und
höre dir zu.«) und welchem sie mit Strafe, Ablehnung, Kritik und
Distanzierung begegnen (zum Beispiel: »Geh sofort in dein Zimmer!
Ich will nicht in deiner Nähe sein, wenn du dich so aufführst!«).
Richard Schwartz, der Begründer der Therapieform namens System
der Inneren Familie (Internal Family Systems/IFS), schreibt: »Kinder
haben entwicklungstechnisch die Tendenz, Erfahrungen in Identität zu
übersetzen: ›Ich werde nicht geliebt‹ verstehen sie als ›Ich bin nicht
liebenswert‹. ›Mir geschehen schlechte Dinge‹ wird zu ›Ich bin
schlecht‹.« Mit anderen Worten leiten Kinder aus den Erfahrungen mit
ihren Bezugspersonen ab, wer sie sind. Das Kind teilt seine Gefühle
nach den Reaktionen seiner Eltern ein: Gefühle, die das Interesse
seiner Eltern wecken, gewährleisten deren Präsenz – woraus es
folgert, dass die Teile in ihm, die diese Gefühle verspüren,
kontrollierbar, liebens- und lobenswert sind. Andere Gefühle werden
von den Eltern unterbunden, bestraft, abgelehnt oder zu etwas
»Erfreulicherem« gemacht – woraus das Kind den Schluss zieht, dass
jene Anteile, die diese Gefühle verspüren, schädlich, schlecht, nicht
liebenswert oder nicht auszuhalten sind.
Aus diesem Grund ist es so wichtig, das Verhalten von den
Gefühlen und Erlebnissen, die dahinterstecken, zu unterscheiden.
Zwar sollten wir einem Kind, das die Kontrolle verloren hat und »sich
schlecht benimmt«, eine Grenze setzen. Aber das Wissen, dass sich
hinter dem Verhalten ein Kind (oder in der IFS-Sicht ein
Persönlichkeitsanteil des Kindes) verbirgt, das leidet, ein unerfülltes
Bedürfnis hat und dringend Verbundenheit braucht, ist entscheidend.
Kinder interpretieren unser Verhalten ihnen gegenüber nicht als
Reaktion auf die unmittelbare Situation, sondern als Botschaft, die
sich auf ihr Wesen bezieht: So sollst du sein. Wenn Ihre Kleine also
sagt: »Ich hasse meinen Bruder, bring ihn zurück ins Krankenhaus!«
und Sie schreien: »Sprich nicht so über deinen Bruder, du liebst ihn
doch!«, dann leitet sie daraus ab, dass ihre Worte unangemessen
waren. Sie lernt, dass Eifersucht und Wut gefährliche Emotionen sind,
die man besser nicht verspürt. Deshalb ist es so wesentlich, das,
was das Kind tut (manchmal etwas »Schlechtes«), von dem zu
unterscheiden, wie das Kind ist (grundlegend gut). Selbstverständlich
wollen wir nicht, dass unsere Tochter Schläge austeilt (Verhalten),
aber sie soll das Recht haben, wütend zu sein (Gefühl). Natürlich
wollen wir nicht, dass unser Sohn im Laden einen Tobsuchtsanfall hat
(Verhalten), aber er soll weiterhin Zugang zu seinen Wünschen haben
sowie das Recht, seine Anliegen zu verteidigen (Gefühle).
Selbstverständlich wollen wir nicht, dass unser Kind zum Abendessen
nur Honeypops mit Schokoüberzug isst (Verhalten), aber es soll
wissen, dass es selbst über seinen Körper entscheiden darf und
spüren, was sich in seinem Bauch gut anfühlt (Gefühle). Also müssen
wir unserem Kind ausdrücklich sagen, dass wir die Gefühle, die sich
hinter seinem Verhalten verbergen, anerkennen. Und wir müssen ihm
auch dann unsere Liebe zeigen, wenn es sich danebenbenimmt. Denn
sonst nimmt es Verhalten und Gefühle als Einheit wahr und lernt,
dass sichere Bindung nur dann möglich ist, wenn es die hinter dem
Verhalten verborgenen Gefühle verleugnet. Daraus entstehen
langfristig problematische Beziehungsmuster.
Die frühen Jahre sind also tatsächlich entscheidend. Sie bereiten
unsere Kinder darauf vor, zuversichtliche, unabhängige,
selbstbewusste Erwachsene mit gesunden zwischenmenschlichen
Beziehungen zu werden – oder eben nicht. Natürlich liegen die Dinge
nie ganz so einfach und es bestehen zu jedem Zeitpunkt im Leben
Gelegenheiten, diese Qualitäten zu fördern. Aber dennoch können Sie
sich in all den nervenaufreibenden Momenten mit Ihrem Kleinen, in
denen Sie sich fragen, ob sich der ganze Aufwand überhaupt lohnt
(ein Kleinkind zu erziehen ist wirklich harte Arbeit!), mit dieser Antwort
trösten: Die Mühe, die Sie für die Erziehung auf sich nehmen, zahlt
sich immer aus.
Kapitel 5

Es ist nie zu spät


Die häufigste Frage, die Eltern mir stellen, ist diese: »Ist es denn nun
schon zu spät?«. Ich antworte immer mit Nein. Es ist nie zu spät.
Oft haken die Eltern dann nach: »Aber mein Kind ist schon drei, und
ich habe gehört, die ersten drei Jahre seien entscheidend.« Oder:
»Mein Sohn ist acht und wahrscheinlich schon zu alt.« Und: »Meine
Tochter ist sechzehn: Ich habe das Gefühl, meine Chance verpasst zu
haben«. Manchmal bekomme ich sogar zu hören: »Ich bin jetzt Oma
und wünschte, ich hätte mit meinen eigenen Kindern alles ganz
anders gemacht. Jetzt ist es vermutlich zu spät, oder?« Lassen Sie
es mich noch einmal sagen: NEIN. Es ist nie zu spät, um Fehler
wettzumachen, sich seinen Kindern wieder anzunähern und deren
Entwicklung in eine neue Richtung zu lenken. Das Gleiche gilt
übrigens auch für Sie selbst. Sie können sich zu jedem Zeitpunkt
überlegen, mit welchen von Ihren Anteilen Sie sich versöhnen und neu
verbinden wollen. Wir Erwachsene können daran arbeiten, uns anders
zu vernetzen und unsere Entwicklung in neue Bahnen zu lenken. Es ist
nicht zu spät. Es ist niemals zu spät.
Mein Erziehungskonzept baut insgesamt auf einer Reihe von Fragen
auf: Sind wir bereit, uns auf neue Ideen einzulassen, etwas an uns
und unserem Verhalten zu ändern, ohne dabei unser Selbstwertgefühl
zu verlieren? Wie können wir lernen, unsere Strategien zu verändern
und Fehler wiedergutzumachen, zuerst im Umgang mit uns selbst und
schließlich auch mit unseren Kindern? Und wie bewältigen wir die
Schuldgefühle, die hochkommen, wenn wir uns fragen, wie wir in der
Vergangenheit mit unseren Gefühlen umgegangen sind und wie wir
uns verhalten haben? Denn diese Schuldgefühle zu bewältigen ist die
Voraussetzung dafür, Änderungen in anderen Bereichen unseres
Lebens bewirken zu können. Gerade weil wir unsere Kinder lieben
und alles daransetzen, gute Eltern zu sein, sind mit dem Thema
Erziehung besonders intensive Gefühle verbunden.
Kindererziehung ist nichts für schwache Nerven. Sie verlangt uns
unheimlich viel ab und sie setzt, was vielleicht noch wichtiger ist, ein
gewisses Maß an Selbstreflexion voraus, einen echten Lern- und
Entwicklungsprozess. Ich denke, dass wir bei der Erziehung unserer
Kinder vor allem uns selbst weiterentwickeln und wachsen. Durch
unsere Kinder setzen wir uns unweigerlich mit uns, unserer Kindheit
und der Beziehung zu unserer Ursprungsfamilie auseinander. Anhand
der so gewonnenen Erkenntnisse können wir an uns arbeiten, lernen
und verlernen, ungesunde Zyklen durchbrechen und Heilung erfahren.
Gleichzeitig aber müssen wir für unsere Kinder da sein und mit ihren
Wutanfällen, dem Schlafmangel und der Erschöpfung fertigwerden.
Das ist ziemlich viel auf einmal. Lassen Sie uns also einen Moment
innehalten, um uns dieser unglaublichen Herausforderung bewusst zu
werden. Legen Sie eine Hand auf ihr Herz und sagen Sie: »Ich arbeite
an mir selbst und gleichzeitig für das Wohl meiner Familie. Ich
versuche, schädliche Muster zu durchbrechen und meine Kinder von
Anfang an so zu erziehen, dass sie Resilienz entwickeln und sich wohl
in ihrer Haut fühlen. Darauf kann ich stolz sein.«
Ich hoffe, Sie werden dieses Kapitel immer wieder lesen, vor allem
dann, wenn Ihre Selbstvorwürfe sich zu Wort melden (»Das ist alles
meine Schuld«), Sie in Weltuntergangsstimmung sind (»Ich habe mein
Kind für immer verkorkst«) und alle Hoffnung verloren scheint
(»Unsere Familie wird sich nie ändern«). Es soll Ihnen als
Orientierung dienen, damit Sie Ihre Zuversicht wiederfinden. Und es
soll Sie daran erinnern, dass Veränderung und Wiedergutmachung
möglich sind.

Die Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu vernetzen


Beides ist wahr: Das Gehirn vernetzt sich früh, aber es kann sich
auch erstaunlich gut neu strukturieren. Der Begriff Neuroplastizität
bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, umzulernen und sich neuartigen
Anforderungen anzupassen. Das Gehirn kann sich während der
gesamten Lebensdauer neu vernetzen. Unser Körper ist zu unserem
Schutz da. Wenn also unser Gehirn der Meinung ist, unsere
gewohnten Denk- und Verhaltensmuster seien dieser Aufgabe nicht
mehr gewachsen, entwickelt es neue Muster, neue Überzeugungen
und neue Systeme zum Umgang mit der Umwelt. Das wird zwar mit
zunehmendem Alter schwieriger – je älter wir sind, desto mehr
Ausdauer und Einsatz brauchen wir, um etwas zu ändern –, aber
letzten Endes kann Hans doch lernen, was Hänschen nie gelernt hat.
Die Vernetzung des kindlichen Gehirns ist stark mit der Bindung an
eine Bezugsperson verknüpft. Die Eltern-Kind-Beziehung beeinflusst
die Entwicklung des medialen präfrontalen Cortex – jenes Teils des
Gehirns, der für Emotionsregulierung, geistige Flexibilität, Empathie
und Verbundenheit zuständig ist. Mit anderen Worten wirken sich die
frühesten Erfahrungen eines Kindes stark auf die Entwicklung seines
Gehirns aus. Dennoch ist wissenschaftlich belegt, dass Bindung kein
Schicksal ist. Ein Mensch, der auf einen unsicheren Bindungsstil
programmiert ist, kann sich umprogrammieren auf sichere Bindung.
Der Psychologe Louis Cozolino hat gezeigt, welche Rolle Therapie im
neuroplastischen Prozess spielt: Die sichere Bindung zum
Therapeuten kann zu einer neuen Vernetzung im Gehirn führen, die
Emotionsregulierung und Stressmanagement verbessert. Dieses
Prinzip lässt sich auf die Familie übertragen, weil Eltern daran
arbeiten können, die Bindung zu ihren Kindern zu festigen. Die
Voraussetzung ist, dass Sie als Eltern bereit sind, etwas zu ändern
und Ihre Fehler wiedergutzumachen. Wenn Sie dann, ohne in eine
Verteidigungshaltung zu gehen, mit Ihrem Kind über Momente
sprechen, die es als schlimm empfunden hat, dann kann sich das
Gehirn des Kindes neu vernetzen.
Unser Gehirn ist auch erstaunlich lernfähig. Jahrzehntelange
Forschung hat gezeigt, dass das Gehirn sich an seine Umwelt
anpasst. Die Neurowissenschaftlerin Marian Diamond hat in den
frühen 1970ern als Erste entdeckt, dass ein »verarmtes« Umfeld das
Hirn schrumpfen lässt, während ein »bereichertes« sein Wachstum
fördert. Wenn sich die Umgebung verändert, passt sich das Gehirn
an. Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass dies auch für die
Erziehung gilt. Diamond untersuchte die Wirksamkeit von
Erziehungsprogrammen für zwei- bis elfjährige Kinder und fand
heraus, dass zwischen den verschiedenen Altersstufen kein
Unterschied bestand, solange die Erziehungsmaßnahmen dem Alter
des Kindes angemessen waren. Ältere Kinder entwickelten im
gleichen Maße neue Strategien wie Kleinkinder. Dieses Ergebnis
stimmt zuversichtlich und widerlegt unsere Befürchtung, wir hätten ein
für alle Mal »Schaden angerichtet«.
Wann ist nun der richtige Zeitpunkt für Veränderungen in puncto
Erziehungsstil und -maßnahmen? Dazu schreiben die Autoren der
Studie: »Es ist wichtig, dass unsere Erkenntnisse nicht als
Entschuldigung für das Aufschieben von Erziehungsmaßnahmen
herhalten müssen, weil dies das Leiden von Kindern und Familien nur
unnötig verlängert. Was die Behandlung kindlicher
Verhaltensstörungen mit den üblichen Erziehungsstrategien angeht, ist
die richtige Devise nicht: ›Je früher, desto besser‹, sondern: ›Es ist
nie zu früh und nie zu spät‹.«
Eltern sind der wichtigste Fixpunkt in der Lebenswelt des Kindes.
Daher überrascht es kaum, dass sich Kinder neu vernetzen, wenn
Mutter und Vater sich verändern. Studien haben gezeigt, dass Kinder
mit Problemen ihr Verhalten oft nicht dann ändern, wenn sie therapiert
werden, sondern wenn ihre Eltern eine Beratung oder Therapie in
Anspruch nehmen. Dies ist ein wichtiger Punkt. Denn es bedeutet,
dass sich das Verhalten eines Kindes – der Ausdruck seiner
Emotionsregulierungsmuster – parallel zur emotionalen Reife seiner
Eltern entwickelt. Nun stehen uns zweierlei Sichtweisen offen – eine
pessimistische: »Oh nein, ich verkorkse mein Kind, weil ich verkorkst
bin«. Und eine optimistische: »Das ist ja toll. Wenn ich daran arbeite,
meine eigene Emotionsregulierung zu verbessern, dann tut mir das
gut und mein Kind verändert sich ebenso. Eine echte
Motivationsspritze!«
Ich jedenfalls sage den Eltern immer Folgendes: Es ist nicht Ihr
Fehler, dass Ihr Kind Probleme hat. Aber Sie tragen im
Familiensystem als Erwachsene die Verantwortung, für ein Umfeld zu
sorgen, in dem Ihr Kind lernen, wachsen und gedeihen kann. Wir
wissen inzwischen, dass die Vernetzung des Gehirns unserer Kinder
von ihrer Interaktion mit uns Eltern abhängt. Verhalten wir uns immer
gleich, verfestigen sich unweigerlich die Muster, die sich bereits
herausgebildet haben. Wenn wir hingegen nachdenken, uns
weiterentwickeln und Neues ausprobieren, wenn wir an uns arbeiten
und anders auf unsere Kinder zugehen, dann unterstützen wir sie
beim Aufbau neuer Schaltkreise, während wir gleichzeitig uns selbst
helfen. Aus diesem Grund halten Sie dieses Buch in Händen. Sie
haben den Mut, nachzudenken, zu wachsen und Neues
auszuprobieren. Und das ist auch mein Ziel. Ich habe nämlich keine
Gebrauchsanweisung. Genau wie Sie habe ich meine Ängste und
verliere manchmal die Geduld. Ich betrachte mich als Mitglied dieser
fantastischen Gemeinschaft von Teufelskreis-Durchbrechern und ewig
Lernenden.

Die Kraft der Wiedergutmachung


Es gibt keine perfekten Eltern. Jede Mutter, jeder Vater hat mitunter
das Gefühl, gerade völlig entgleist zu sein. Man verliert die Geduld,
brüllt Dinge, die man am liebsten sofort zurücknehmen würde, wirft
wütende oder verurteilende Blicke auf sein wohlmeinendes Kind.
Atmen Sie tief durch. Mir ist es schon so ergangen und Ihren
Freund*innen ebenfalls. Das ist völlig normal – und auch in Ordnung!
Wichtig ist, was als Nächstes geschieht. Es sind nicht die
problematischen Momente, die unsere Erziehungsarbeit ausmachen.
Entscheidend ist, dass wir nach der Auseinandersetzung wieder auf
unsere Kinder zugehen, dass wir zu verstehen versuchen, wie sie
diese Momente erlebt haben, und daran arbeiten, den Riss in der
Beziehung zu kitten.
Wenn wir uns als Eltern fragen, ob es zu spät ist, nehmen wir an,
dass schon definitiv feststeht, welchen Lauf die Beziehung zu
unserem Kind nehmen wird. So übersehen wir etwas ganz
Wesentliches: Wir können unserer Beziehungsgeschichte immer
wieder ein neues Erfahrungskapitel hinzufügen und so ihr Ende
umschreiben. Stellen Sie sich vor, Sie hatten einen anstrengenden
Tag. Ihr Kind bettelt trotz Ihres Neins weiter um einen Keks, bis Sie
es schließlich entnervt anbrüllen: »Jetzt hör doch endlich auf! Du bist
total undankbar und verwöhnt, ich weiß nicht, was ich mit dir noch
machen soll!« Darauf läuft Ihr Kind heulend in sein Zimmer und
schreit: »Ich hasse dich!« Na schön. Fangen wir mit dem Wichtigsten
an: Tief durchatmen. Was auch immer Sie nun denken – »Ja, so
etwas ist mir auch schon herausgerutscht!« Oder: »He, war
Dr. Becky gestern Abend etwa bei mir zu Hause?« Oder sogar: »Ist
das alles? Die sollte mich mal hören, wenn ich die Beherrschung
verliere.« Oder: »Ich reagiere total anders, wenn mir der Kragen
platzt.« –, ich bin weiterhin davon überzeugt, dass Sie grundlegend
gute Eltern sind. Und ich weiß, dass Sie daran arbeiten, sich zu
bessern. Bleiben Sie also bitte dran, wenn ich zum nächsten
wichtigen Teil übergehe.
Ihr Kind ist jetzt allein in seinem Zimmer. Wie ist ihm zumute? Meist
ist es unglücklich. Es kann seine Gefühle nicht regulieren, fühlt sich
hilflos angesichts des Aufruhrs in seinem Körper und befindet sich in
einem physiologischen Alarmzustand (»Dieses Gefühl ist zu stark, ich
fühle mich nicht sicher«). Sein Körper muss herausfinden, wie er das
Gefühl, sicher und geborgen zu sein, zurückbekommt. Aber das Kind
ist allein, ohne einen vertrauten Erwachsenen, der ihm helfen könnte.
Kinder, die mitten im Unglück allein gelassen werden, greifen oft auf
eine von zwei Bewältigungsstrategien zurück: Selbstzweifel oder
Selbstvorwürfe. Die erste Strategie besteht darin, ein Gefühl der
Sicherheit zurückzugewinnen, indem sie an ihrem eigenen Erleben
zweifeln. Kinder sagen sich dann zum Beispiel: »Moment mal, meine
Eltern haben diese schrecklichen Dinge gar nicht zu mir gesagt. Das
kann gar nicht sein. Nein, ich habe das falsch abgespeichert.
Schließlich haben sie sich bisher nicht entschuldigt oder darüber
geredet. Das würden sie bestimmt tun, wenn sie so etwas gesagt
hätten.« Kinder schützen sich durch ihre Selbstzweifel vor den
aufwühlenden Empfindungen, die aufkämen, wenn sie das
Vorgefallene akzeptierten. Sie tun dies, weil sie allein mit ihren
Emotionen nicht fertigwerden. Selbstzweifel sind eine Möglichkeit zur
Flucht und Selbsterhaltung. Aber gleichzeitig verinnerlicht das Kind die
Überzeugung: »Ich bilde mir manche Dinge ein. Meine Reaktionen
sind übertrieben. Ich kann meinen Gefühlen nicht trauen. Andere
Leute wissen besser, was mit mir los ist.« Das lässt einen
gefährlichen Schaltkreis entstehen, der Teenager und Erwachsene
hervorbringt, welche sich nicht auf ihre eigene Wahrnehmung und
Intuition verlassen. Stattdessen leiten sie aus dem Verhalten anderer
Menschen ab, wer sie sind und was sie verdient haben.
Selbstvorwürfe hingegen sind eine weitere Strategie, wenn Eltern
nicht versuchen, nach Konfliktsituationen wieder Verbundenheit
herzustellen. Selbstvorwürfe verschaffen dem Kind das Gefühl, die
Kontrolle zu haben. Denn solange es sich selbst überzeugt, ein
schlechtes Kind zu sein, das schlechte Dinge tut, kann es ja etwas
verändern. Es würde genügen, sich zu bessern, um sich sicherer zu
fühlen. Der Psychiater Ronald Fairbairn hat es vielleicht am besten
auf den Punkt gebracht, als er in Bezug auf die kindliche Entwicklung
schrieb: »Es ist immer noch besser, Sünder zu sein in einer von Gott
beherrschten Welt, als in einer Welt zu leben, die der Teufel regiert.«5
Wenn Kinder sich nicht darauf verlassen können, dass ein
Erwachsener in schwierigen Momenten für sie da ist, ihnen hilft und
sich wieder mit ihnen versöhnt … dann wäre die Welt ein
ausgesprochen gefährlicher Ort. Der Gedanke: »Ich bin innerlich
schlecht« ist deshalb für ein Kind tröstlich, weil es dann wenigstens
seine Umgebung als sicher und gut ansehen kann.
Nun sind wir also an dem Punkt angelangt, an dem wir uns fragen,
ob es zu spät ist, richtig? Nach schwierigen Momenten überhäufen
wir uns mit Selbstvorwürfen (»Ich bin so ein schlechter Vater, so eine
schlechte Mutter«). Diese Überzeugung, der Aufgabe nicht
gewachsen zu sein, hält uns aber davon ab, produktive
Veränderungen anzugehen. Wie wäre es, wenn wir stattdessen
unsere Kinder und gleichzeitig uns selbst anders vernetzen?
Aus diesem Grund gehört »Wiedergutmachung« zu meinen
Lieblingswörtern in puncto Erziehung. Klar, wir können uns auf
unseren »Kram« konzentrieren, können an unserer
Emotionsregulierung arbeiten oder Erziehungstricks und -strategien
lernen. Aber das Ziel ist keineswegs, immer alles richtig zu machen.
Das schafft sowieso kein Mensch. Meiner Meinung nach sollten wir
es uns zum obersten Ziel machen, Meister in Sachen
Wiedergutmachung zu werden. Das trägt der Tatsache Rechnung,
dass Eltern immer wieder unangemessen handeln werden und daher
schwierige Momente und Fehlschläge nicht ausbleiben. Wenn wir
aber lernen, ohne Rechtfertigungshaltung auf unsere Kinder
zuzugehen und ihnen zu zeigen, dass das Leid, das diese Momente
der »Entzweiung« bei ihnen verursachen, uns am Herzen liegt, dann
haben wir damit die allerwichtigste Erziehungsaufgabe überhaupt
erfüllt.

Wie sieht Wiedergutmachung aus?


Nun, es gibt nicht nur eine Art der Wiedergutmachung. Das Wichtigste
ist, dass Sie nach einem Verbindungsabbruch wieder Kontakt mit dem
Kind aufnehmen – durch Ihre ruhige und mitfühlende Präsenz, die
Ihren Moment fehlregulierter Reflexhandlungen wieder ausgleicht.
Wenn wir zu einem Moment zurückkehren, der sich für das Kind
schlecht angefühlt hat, und ihn mit Verbundenheit und emotionaler
Sicherheit verknüpfen, verändern wir die Erinnerung, die sich in
seinem Körper festgesetzt hat. Die Erinnerung ist dann nicht mehr mit
Gedanken wie »Ich bin allein und innerlich schlecht« verbunden. Sie
wird nuancierter, wenn wir über Kritik, Gebrüll und Unverständnis eine
Decke aus Unterstützung, Sanftheit und Einfühlsamkeit breiten. Und
es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr sich die Erinnerung des
Körpers umwandeln lässt. Das motiviert mich bei meinen eigenen
Kindern immer wieder zur Wiedergutmachung.
Ich werde das Thema Wiedergutmachung im nächsten Teil dieses
Buches noch ausführlicher behandeln und Ihnen anhand von
praktischen Beispielen zeigen, wie Sie solche vertrackten Momente
doch noch retten können. An dieser Stelle aber möchte ich Ihnen ein
paar grundlegende Empfehlungen mitgeben: Entschuldigen Sie sich.
Teilen Sie Ihre Überlegungen mit Ihrem Kind und benennen Sie, was
Ihrer Ansicht nach vorgefallen ist. So weiß Ihr Kind, dass es sich das
alles nicht nur eingebildet hat. Erklären Sie ihm, dass Sie gerne
anders reagiert hätten und sich vorgenommen haben, so etwas
künftig anders zu handhaben. Es ist wichtig, dass Sie ausdrücklich
die Verantwortung übernehmen. (»Mamas Gefühle waren so heftig,
dass ich sie herausgeschrien habe. Das waren meine Gefühle, und
es ist meine Aufgabe, besser mit ihnen umzugehen. Wenn ich schreie,
ist das nicht deine Schuld, und es ist nicht deine Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass das nicht passiert. Ich hab dich lieb.«) Es ist falsch,
dem Kind zu unterstellen, sein Verhalten hätte Ihre unangebrachte
Reaktion verursacht. Und denken Sie daran: Als Eltern haben Sie
eine Vorbildfunktion. Wenn Ihr Kind wahrnimmt, dass Sie zu
Veränderungen fähig sind, dann folgert es daraus, dass es selbst
auch etwas aus seinem Fehlverhalten lernen und die Verantwortung
für sein beschämendes Auftreten übernehmen kann.
Wiedergutmachung kann schon zehn Minuten nach einem Streit,
aber auch zehn Tage oder zehn Jahre später erfolgen. Zweifeln Sie
nie an der Kraft der Wiedergutmachung. Jedes Mal, wenn Sie nach
einem Streit auf Ihr Kind zugehen, geben Sie ihm die Möglichkeit, sich
neu zu vernetzen. Es kann das traurige Ende der Geschichte –
Einsamkeit und Angst – umschreiben, sodass diese einen Ausklang in
Verbundenheit und Verständnis findet. Ihr Kind wird so weniger zu
Selbstvorwürfen neigen und eine größere Verbundenheit zu Ihnen
spüren. Außerdem stellen Sie bei ihm auf diese Art die Weichen für
gesündere Beziehungen im Erwachsenenleben. Wie wir wissen, fehlt
es ja auch in stabilen Beziehungen nicht an Konflikten. Die Stabilität
rührt daher, dass die Partner*innen nach Meinungsverschiedenheiten
wieder aufeinander zugehen können und Missverständnisse aus dem
Weg räumen.
Bevor Sie nun zum nächsten Kapitel übergehen, können Sie vielleicht
gleich mit Ihrem Kind über eine problematische Situation reden. Oder
Sie nehmen sich vor, den Wiedergutmachungsversuch morgen früh
bzw. nach der Schule zu starten. Übernehmen Sie die Verantwortung.
Und denken Sie daran: »Gute Eltern machen nicht alles richtig. Aber
gute Eltern machen alles wieder gut.«
Ich liebe die Geschichten über Wiedergutmachung, die Eltern mit mir
in meiner Community in den sozialen Netzwerken teilen. Es geht darin
um Töchter und Söhne in jeder Lebensphase, vom Säuglings- bis zum
Erwachsenenalter. Hier der Beitrag eines Vaters: »Jetzt versuche ich
mich schon mit meinem neun Monate alten Baby an der
Wiedergutmachung. Vielleicht versteht es nicht jedes Wort, aber ich
weiß von Ihnen, dass es meine Absicht spürt, meinen Fehler
wiedergutzumachen. Kürzlich sagte ich zu ihm: ›Du hast geweint, und
wir wussten nicht weshalb. Es tut mir leid, dass ich laut geworden
bin. Ich weiß, dass dich das erschreckt hat. Ich bin für dich da, und
ich habe dich lieb.‹« Eine Mutter postete: »Mich quälen
Schuldgefühle, weil ich meine Tochter bisher immer mit Strafen und
Auszeiten erzogen habe. Ich dachte immer, ich hätte meine Kinder für
immer verkorkst und jetzt sei es zu spät. Aber heute habe ich meiner
Achtjährigen gesagt, ich hätte inzwischen viel über die Bedürfnisse
von Kindern gelernt und wünschte, ich hätte ihr nicht so oft eine
Auszeit aufgebrummt, wenn sie mich am meisten brauchte. Ich konnte
förmlich sehen, wie sich ihr Körper entspannte. Wir umarmten uns.
Das war unheimlich wichtig.« Und ich werde mich mein Leben lang an
die Großmutter erinnern, die schrieb: »Vor ein paar Monaten bat mich
mein Sohn, Ihrer Community beizutreten, um Ihre
Erziehungsmethoden zu verstehen. Das war ein echtes Aha-Erlebnis.
Ich habe ihn heute Morgen angerufen und ihm gesagt, ich würde am
liebsten die Zeit zurückdrehen und ihn ganz anders erziehen. Erst jetzt
sei mir klar geworden, wie schlimm es für ihn war, wenn ich ihn
anschrie und nur seine schlechten Seiten sah. Er weinte. Ich glaube,
er hatte wirklich das Bedürfnis, das von mir zu hören. Wir unterhielten
uns noch eine Weile darüber. Es war einer der wichtigsten Momente
in unserer Beziehung.«
Ob Sie einen großen oder nur einen kleinen Schaden beheben
wollen, Ihre Kinder spüren die Wiedergutmachung körperlich. Das
Gefühl der Verbundenheit und Ihre Erklärungen werden die im
kindlichen Körper gespeicherte Erinnerung an Einsamkeit und
Verwirrung bald abmildern. Entscheidend ist nicht das Ausmaß. Jeder
noch so kleine Schritt zur Wiedergutmachung zählt.
Kapitel 6

Resilienz vor Glück


Meine Kinder sollten eigentlich viel glücklicher sein, als sie es sind«,
sagte eine Mutter einmal zu mir. »Sie haben alles, was man sich nur
wünschen kann, aber trotzdem beklagen sie sich über jedes
Kinkerlitzchen.«
»Meine Tochter macht sich so viele Gedanken über ernsthafte
Themen wie Obdachlosigkeit, Tod und die Ungerechtigkeit in der
Welt«, erzählte ein Vater in meiner Praxis. »Dabei ist sie erst sieben!
Ich sage ihr immer: ›Hör auf, dir Sorgen zu machen! Denk doch an all
die schönen Dinge in deinem Leben!‹ Aber sie kann nachts trotzdem
nicht schlafen«.
»Ich war ein sehr einsames, deprimiertes Kind«, gestand mir eine
andere Mutter. »Ich versuche, mit meinen Kindern anders umzugehen
als meine Eltern mit mir. Aber mein Partner wirft mir vor, dass ich
unseren Kindern das Leben zu leicht mache, statt ihnen auch mal die
Verantwortung zu überlassen. Ist das denn so schlimm? Möchten Sie
denn nicht, dass Ihre Kinder glücklich sind, Dr. Becky?«
Ob ich möchte, dass meine Kinder glücklich sind? Na klar! Und wie!
Aber ich glaube nicht, dass hier das eigentliche Problem liegt. Es geht
um etwas weit Tieferes. Überlegen Sie doch einmal: Was macht uns
eigentlich glücklich? Macht es Kinder glücklich, wenn wir ihnen alle
Sorgen abnehmen und sicherstellen, dass sie nie einsam sind und
sich immer wohlfühlen? Lernen sie dadurch, das Glück in sich zu
suchen? Was meinen wir wirklich, wenn wir sagen: »Ich möchte doch
nur, dass meine Kinder glücklich sind«? Worum geht es, wenn wir
sagen: »Kopf hoch!« und: »Du hast doch so viel, worüber du dich
freuen kannst!« oder: »Warum kannst du nicht einfach glücklich
sein?«? Meiner Ansicht nach geht es diesen Eltern weniger darum,
wie man glücklich wird, sondern eher darum, wie man Angst und
seelisches Leid vermeidet. Denn wenn wir das Glücklichsein in den
Mittelpunkt stellen, vernachlässigen wir all die anderen Emotionen, die
zum Leben gehören. So versäumen wir, unseren Kindern
beizubringen, wie sie mit diesen anderen Gefühlen umgehen können.
Dabei ist ihr Umgang mit Leid oder Schwierigkeiten entscheidend
dafür, was sie in den nächsten Jahrzehnten für ein Selbstbild formen
und wie sie ihre Probleme angehen. Und sie lernen diesen Umgang
nur, indem sie damit konfrontiert sind.
Mir sind noch nie Eltern begegnet, die für ihren Nachwuchs nicht das
Beste wollen. Da bin auch ich keine Ausnahme: Ich will das Beste für
meine Kinder! Aber ich bin nicht sicher, dass »das Beste« für sie
bedeutet, einfach »glücklich zu sein«. Viel wichtiger scheint es mir
doch, Resilienz zu entwickeln. Schließlich beruht Glück auf der
Fähigkeit, unangenehme Gefühle zu regulieren. Wir müssen uns
sicher fühlen, bevor wir glücklich sein können.
Warum müssen wir zuerst lernen, mit Problemen umzugehen?
Warum kann Glück nicht einfach alle anderen Emotionen »besiegen«
und »ausschalten«? Das wäre doch viel einfacher! Leider gilt für die
Erziehung wie für das Leben überhaupt, dass man ohne Zeitaufwand
und harte Arbeit nicht zum Ziel kommt. Ihrem Kind beim Aufbau seiner
Resilienz zu helfen ist alles andere als einfach, aber ich garantiere
Ihnen: Es lohnt sich.
Stellen Sie sich Ihren Körper als großes Gefäß vor. In diesem Gefäß
schwimmen die unterschiedlichen Emotionen herum, zu denen Sie
fähig sind. Teilen wir sie der Einfachheit halber in zwei Kategorien ein:
einerseits die unangenehmen Gefühle und andererseits die
angenehmen, die uns glücklich machen. Jedes dieser Gefühle
verändert kontinuierlich seine Größe und nimmt dadurch mal mehr,
mal weniger Raum ein. Wie Sie bestimmt wissen, verfügt unser
Körper über eine angeborene Alarmanlage und betrachtet es als
seine Hauptaufgabe, kontinuierlich Ausschau nach Gefahren zu
halten. Wenn wir mit Emotionen wie Enttäuschung, Frustration, Neid
und Traurigkeit nicht fertigwerden, wenn diese den ganzen Raum in
unserem Gefäß einnehmen, dann setzt unser Körper eine
Stressreaktion in Gang.
Und es sind nicht nur schwierige Emotionen, die unserem Körper ein
Gefühl der Unsicherheit vermitteln. Uns geht es schlecht, weil es uns
schlecht geht. Wir haben Angst, Angst zu haben. Anders
ausgedrückt (vorausgesetzt es ist keine körperliche Bedrohung
vorhanden, sondern nur die »Bedrohung« durch unangenehme,
überwältigende Emotionen): Die Tatsache, dass wir ein Gefühl nicht
zulassen und es unterdrücken wollen, lässt unser Unwohlsein stärker
und immer stärker werden. Und das ist dann keine Reaktion auf das
ursprüngliche Erlebnis mehr, sondern entsteht aus unserer
Überzeugung, dass negative Gefühle falsch, schlecht, bedrohlich oder
überwältigend sind und wir sie loswerden müssen. So verwurzelt sich
die Beklemmung in uns.
Beklemmung ist das Unvermögen, unangenehme Emotionen
auszuhalten, das Gefühl, im eigenen Körper nicht zu Hause zu sein,
die Vorstellung, man müsse sich in einem bestimmten Moment anders
fühlen. Es geht nicht darum, dass jemand ein unverbesserlicher
Pessimist ist oder das Glas immer halb leer sieht. Angst ist ganz
einfach ein Produkt der Evolution. Unser Körper lässt nicht zu, dass
wir uns entspannen, solange wir unsere Emotionen als bedrohlich und
beängstigend empfinden. Und was ist dann mit dem Glück? Nun, es
wird auf den Grund des Gefäßes verdrängt und kommt nicht mehr an
die Oberfläche.
Natürlich muss das nicht so sein. Ausschlaggebend ist, dass wir mit
einem möglichst breiten Spektrum an Emotionen umgehen können. Je
besser wir mit Frustration, Enttäuschung, Neid und Traurigkeit
fertigwerden, desto mehr Raum bleibt, um Glück zu erleben.
Emotionsregulierung heißt, dass wir ein Polster um negative Gefühle
bilden. Ein Polster, das sie abfedert und daran hindert, sich im ganzen
Gefäß auszubreiten. Zuerst die Regulierung, dann das Glück.
Dasselbe Prinzip gilt auch für unsere Erziehungsarbeit: Je größer die
Bandbreite der Gefühle (nochmals, es geht nicht um
Verhaltensweisen), die wir an unseren Kindern benennen und
zulassen können, desto größer das Spektrum der Gefühle, die sie
sicher bewältigen können. Und desto höher die Wahrscheinlichkeit,
dass sie mit sich selbst im Einklang sind.
Wünsche ich mir, dass meine Kinder glücklich sind?
Selbstverständlich. Ich möchte, dass sie als Kinder und als
Erwachsene Glück erfahren. Und gerade deshalb liegt es mir am
Herzen, dass sie Resilienz entwickeln. Resilienz bedeutet, dass wir
eine große Bandbreite an Emotionen zulassen können, ohne das
Gefühl zu haben, nicht mehr wir selbst zu sein. Resilienz hilft uns,
Stress, Misserfolge, Fehler und Schwierigkeiten wegzustecken.
Resilienz macht Glück überhaupt erst möglich.

Die Kraft der Resilienz


Resilienz heißt nicht, immun zu sein gegen Stress oder Probleme.
Denn diese gehören ganz einfach zum Leben dazu. Aber unsere
Resilienz bestimmt unsere Einstellung zu schwierigen Situationen und
wie wir sie erleben. Resiliente Menschen können Stresssituationen
besser bewältigen. Um es in einer stark vereinfachten Gleichung
auszudrücken: Stress + Bewältigungsstrategien = innere Erfahrung.
Die gute Nachricht ist, dass Resilienz kein unabänderlicher
Charakterzug ist, der manchen schon in die Wiege gelegt wurde und
anderen fehlt. Es handelt sich vielmehr um eine erlernbare Strategie.
Eltern sollten ihre Kinder schon von klein auf darin unterstützen, diese
Fähigkeit zu entwickeln. Denn an den äußeren Stressfaktoren lässt
sich nicht immer etwas ändern, an unserer Resilienz aber können wir
jederzeit arbeiten.
Es wird Sie vermutlich überraschen, wie sehr Kinder auf Resilienz
angewiesen sind. Der Wiederaufbau eines Turms aus Bauklötzen, ein
kniffliges Puzzle, das Lesenlernen oder eine etwaige soziale
Ausgrenzung – all diese Situationen erfordern Resilienz. Kinder, die
diese Fähigkeit haben, atmen einmal tief durch, sagen sich etwas
Nettes und machen dann weiter, auch wenn sie vor einer großen
Herausforderung stehen und keine Garantie auf Erfolg haben.
Erwachsene glauben oft, Resilienz sei die Fähigkeit, eine
Herausforderung erfolgreich zu meistern – also den Turm
fertigzubauen, das letzte Puzzleteil einzufügen, das schwierige Kapitel
zu lesen oder das Ausgeschlossensein als halb so wild abzutun. In
Wirklichkeit aber geht es bei Resilienz nicht um das Ergebnis. Wenn
uns allen der Erfolg immer gewiss wäre, müssten wir unseren »Na
komm schon, das schaffst du!«-Muskel gar nie anspannen. Resilienz
bezeichnet die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu ertragen, in und mit
einer problematischen Situation zurechtzukommen, auch dann den
Halt und die positive Einstellung nicht zu verlieren, wenn wir nicht
wissen, ob wir am Ende unser Ziel erreichen. Wir entwickeln
Resilienz an dem Punkt, wo wir den »Sieg« noch nicht errungen
haben, und genau aus diesem Grund tun wir uns manchmal so
schwer damit. Aber eben deshalb ist Resilienz auch so
erstrebenswert. Je länger wir Herausforderungen aushalten, desto
größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Ziele erreichen.
Wie können wir also die Resilienz unserer Kinder fördern? Die
Psychologen Robert Brooks und Sam Goldstein, Autoren von Das
Resilienz-Buch (Stuttgart 2017), haben herausgefunden, was Kinder
von ihren Eltern brauchen, um Resilienz zu entwickeln: Empathie. Die
Eltern sollten zuhören können und das Kind so akzeptieren, wie es ist.
Sie sollten ihm durch verlässliche Präsenz ein Gefühl der Sicherheit
vermitteln. Sie sollten herausfinden, wo seine Stärken liegen, es
Fehler machen lassen und ihm beibringen, Verantwortung zu
übernehmen und Strategien zur Problemlösung zu entwickeln.
Mit meinem Buch möchte ich Ihnen Instrumente an die Hand geben,
um diese wichtige Aufgabe zu erfüllen. Die Konzepte und Maßnahmen
auf den folgenden Seiten sind so konzipiert, dass sie Kinder beim
Aufbau lebenslanger Resilienz unterstützen. Ich gebe Ihnen klare
Anleitungen und praktische Beispiele an die Hand, die Ihnen zeigen,
wie Sie Ihrem Kind helfen, schwierige Situationen auszuhalten und
Bewältigungsstrategien zu entwickeln. So wird das Kind merken,
dass es mit Problemen fertigwerden kann, statt ihnen aus dem Weg
zu gehen.
Aber wichtiger noch als genau zu wissen, was ich in
Problemsituationen zu meinen Kindern sagen kann, ist für mich das
übergeordnete Ziel oder Prinzip. Wenn es uns nämlich darum geht,
das Kind zu unterstützen, statt ihm alle Steine aus dem Weg zu
räumen, oder wenn wir ihm beibringen wollen, sich seinen Problemen
zu stellen, statt vor ihnen wegzulaufen, dann müssen wir uns von
einer Frage leiten lassen: Helfe ich meinem Kind, unangenehme
Gefühle auszuhalten und aufzuarbeiten oder ermutige ich es dazu, sie
zu vermeiden und möglichst schnell zu verdrängen? Unser Ziel ist
Ersteres.
Bei allen praktischen Strategien, die ich Ihnen ans Herz legen
möchte, steht der Wunsch im Mittelpunkt, Kindern bei der Entwicklung
ihrer Resilienz zu helfen. Als Elternteil stelle ich mir die Aufgabe,
meinem Kind in seiner Not beizustehen, damit es weiß, dass es nicht
allein ist, statt es aus der Not zu befreien. Denn dann wäre es in der
nächsten schwierigen Situation allein – ohne die nötigen Strategien,
um sie zu bewältigen. Wenn mein Kind zum Beispiel sagt: »Mein
Bauklötzchenturm fällt immer um. Hilf mir doch mal!«, dann könnte ich
natürlich sagen: »Na komm, ich baue dir ein stabiles Fundament«.
Damit wäre die frustrierende Situation gleich vorüber. Wenn ich aber
stattdessen antworte: »Ach wie ärgerlich!«, und dann voller Neugier
sage: »Hmm, ich frage mich, wie wir den Turm stabiler kriegen …«,
nehme ich Verbindung zu meinem frustrierten Kind auf. Wenn mein
Sohn sagt: »Ich bin der Einzige in meiner Klasse, der noch keinen
Zahn verloren hat«, dann versuche ich nicht, ihn von seiner
Enttäuschung abzulenken: »Du wirst sehen, das dauert nicht mehr
lange. Dafür bist du eines der wenigen Kinder, die schon selbst ein
Buch lesen können.« Stattdessen zeige ich mich einfühlsam: »Alle
haben schon einen Zahn verloren, nur du nicht? Und du willst auch
endlich einen verlieren? Das verstehe ich. Ich weiß noch, dass es mir
ähnlich ging, als ich im Kindergarten war.« Das Ziel ist, dass sich
mein Kind in seiner Frustration weniger allein fühlt. Indem wir stets
die Devise »Verbundenheit aufbauen!« im Hinterkopf behalten,
spornen wir uns selbst an, mit unserem Kind in erster Linie in seinem
Erleben präsent zu sein, statt es herauszuführen.

Glück versus Resilienz


Lassen Sie uns an den Anfang dieses Kapitels zurückkehren, zu
dieser Frage einer Mutter: »Möchten Sie nicht, dass Ihre Kinder
glücklich sind, Dr. Becky?« Meine Antwort lautet: Glück ist nicht mein
oberstes Ziel bei der Erziehung meiner eigenen Kinder. Natürlich
wünsche ich ihnen kein Unglück. Aber genau hier liegt eben die Ironie
der Erziehung: Je mehr wir unsere Kinder jetzt glücklich machen
und ihnen »ein gutes Gefühl« geben wollen, desto mehr
programmieren wir sie auf ein Erwachsenenleben voller Angst.
Heißt unser Ziel Glück, dann müssen wir unseren Kindern alle
Probleme aus dem Weg schaffen, statt ihnen das Rüstzeug zu
geben, sie selbst zu lösen. Wir leben in einer zielorientierten
Gesellschaft und wollen unsere Kinder glücklich und erfolgreich
sehen. Deshalb spielen wir ihre Enttäuschungen oft herunter oder
machen sie ungeschehen, um ihnen ein unmittelbares Erfolgserlebnis
zu verschaffen. Wir befreien sie aus Stresssituationen und verhelfen
ihnen zum Triumph, wir verwandeln ihre unangenehmen Empfindungen
in angenehmere.
Dieser Impuls ist nur zu verständlich, aber er zeugt von
Kurzsichtigkeit. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, wirkt sich unsere
Art, mit Kindern umzugehen, nicht nur auf ihre Gegenwart, sondern
auf ihr ganzes weiteres Leben aus. Wir verdrahten dabei nämlich die
Schaltkreise in ihrem Gehirn, dank derer sie in schwierigen
Situationen Gefühle bewältigen und einen inneren Dialog führen
können. Sagen wir uns, dass wir unsere Kinder ja nur glücklich
machen wollen, dann übernehmen wir die Aufgabe des
Glückswächters. Wir helfen dann unseren Kindern, unangenehme
Gefühle zu vermeiden, statt ihnen beizubringen, damit umzugehen.
Das legt im Kopf des Kindes einen Schaltkreis an, der da lautet:
»Unbehagen ist schlecht, falsch und ein Zeichen, dass ich diese
Gefühle sofort loswerden muss. Ich habe nie gelernt, mit ihnen
umzugehen«. Das ist etwas ganz anderes als der Schaltkreis, der
durch die Förderung der Resilienz entsteht: »Unangenehme Gefühle
sind normal, ich wachse an ihnen. Ich habe keine Angst davor, denn
ich habe schon als Kind gelernt, sie zuzulassen – weil meine Eltern
mich mit diesen Gefühlen angenommen haben.«
Wenn wir unseren Kindern mitteilen: »Ich will nur, dass du glücklich
bist«, dann geben wir ihnen zu verstehen, dass sie ihre unerfreulichen
Gefühle besser verdrängen, damit es ihnen schnellstens wieder gut
geht. Zeigt sich unsere Tochter enttäuscht – »Alle anderen Kinder
laufen schneller als ich« –, dann erinnern wir sie daran, dass sie
super in Mathe ist. Erzählt unser Sohn geknickt: »Anuj hat mich nicht
zu seiner Geburtstagsparty eingeladen«, dann versichern wir ihm,
dass bestimmt nur wenige Kinder auf dem Fest waren und Anuj ihn in
Wirklichkeit sehr mag. Wir meinen es gut, aber unser Kind hört
heraus: »Ich soll nicht traurig sein. Wenn ich mich nicht gut fühle,
muss ich zusehen, dass sich das so schnell wie möglich ändert.«
Dieses Prinzip gilt auch für tiefgreifende Stressfaktoren im Leben,
wie beispielsweise Todesfälle in der Familie, Scheidungen, Umzüge
oder die Pandemie. Sätze wie: »Das wird schon wieder« oder »Du
bist noch so jung, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«
signalisieren den Kindern, dass ihre bedrohlichen Gefühle nicht in
Ordnung sind. Viele Eltern erklären mir, sie wollten ihre Kinder vor
belastenden Gefühlen bewahren. Das ist zwar gut gemeint, erweist
sich aber meist als Eigentor. Denn gewöhnlich lassen Bemühungen,
das Kind zu »schützen«, es in Wirklichkeit mit Gefühlen allein, die es
bereits hat. Das macht ihm mehr Angst als die Gefühle selbst. Wir
Eltern müssen Kinder nicht vor belastenden Gefühlen bewahren,
sondern sie darauf vorbereiten. Dies gelingt uns am besten mit
Ehrlichkeit und liebevoller Präsenz. Das bedeutet, dass Sie Ihr Kind
nicht mit schönfärberischen Worten wie »Oma ist nicht mehr da, sie
ist jetzt an einem besseren Ort« abspeisen, sondern aufrichtig sind:
»Ich muss dir etwas sagen, was nicht einfach für dich sein wird. Oma
ist gestern gestorben. Das heißt, ihr Herz hat aufgehört zu schlagen.«
Dann bleiben Sie still neben Ihrem Kind sitzen, um zu sehen, wie es
reagiert. Vielleicht fügen Sie nach einiger Zeit hinzu: »Es ist in
Ordnung, wenn du jetzt traurig bist.« Oder: »Toll, dass du solche
Fragen stellst, ich bin so froh, dass wir darüber reden können.« So
lernen unsere Kinder etwas Allgemeingültiges: Kummer gehört zum
Leben, und wenn etwas Schlimmes passiert, können wir mit
Menschen, die wir lieben, darüber reden, um damit fertigzuwerden.
Diese Lektion ist nicht nur für Kinder wichtig. Auch Erwachsene
können Kummer nicht vermeiden. Ich habe noch von keinem
Erwachsenen gehört: »Wow, meine Eltern haben mich von all diesen
unangenehmen Gefühlen befreit! Enttäuschung, Frustration und
Neid – sie haben mir das alles ausgeredet! Sie haben mich so sehr
abgelenkt, dass mir solche Gefühle heute völlig fremd sind! Ich bin
immer glücklich!« Hingegen kenne ich eine ganze Menge
Erwachsene, deren innere Alarmglocken zu läuten beginnen, sobald
sie Enttäuschung, Frustration oder Eifersucht nicht auf der Stelle
verdrängen können. Erwachsene, in deren Kindheit Glück im
Mittelpunkt stand, gehen nicht nur unvorbereitet in belastende
Momente, sondern haben auch mehr darunter zu leiden. Denn tief in
ihrem Inneren sind sie überzeugt, etwas falsch zu machen, wenn sie
unglücklich und traurig sind. Für Erwachsene bedeutet Resilienz, mit
Problemen umgehen zu können. Und das ist nur dann möglich, wenn
in unserer Kindheit jemand da war, der unseren Kummer akzeptiert
und zugelassen hat, dass wir ihn empfinden. Haben wir gelernt, dass
wir uns nur dann im Einklang mit uns selbst fühlen können, wenn das
Leben unseren Wünschen gemäß verläuft und wir »glücklich« sind,
steht uns ein böses Erwachen bevor.
Wäre es nicht wunderbar, wenn die jetzige Elterngeneration neue
Träume für ihre Kinder entwickeln würde, wenn sie den Schwerpunkt
der Erziehung zuallererst auf die gesunde emotionale Entwicklung der
Kinder legen würde? Es wäre doch fantastisch, wenn man künftig mit
folgendem Vorsatz an die Erziehung heranginge: »Ich will, dass mein
Kind fähig ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden, die das Leben ihm
in den Weg stellt. Ich möchte, dass es von klein auf Unterstützung
erfährt, wenn es Kummer hat, damit es später allein damit
fertigwerden kann.«
Sie sind als Architektin oder Architekt für die Resilienz Ihres Kindes
verantwortlich. Innere Widerstandskraft ist das größte Geschenk, das
Sie Ihren Kleinen mit auf den Weg geben können. Denn die Fähigkeit,
den vielen Herausforderungen des Lebens zu begegnen, ist der beste
Pfad zum Glück.
Kapitel 7

Das Verhalten ist ein Fenster


Stellen Sie sich folgende Szene vor: Es ist halb sechs Uhr abends,
und es geht in Ihrem Haushalt, wie immer um diese Zeit, alles drunter
und drüber. Sie bereiten gerade in der Küche das Abendessen zu, als
Ihnen aus dem Kinderzimmer lautes Gekreisch ans Ohr dringt. Die
Kinder streiten um ihr Lieblingsspielzeug. Ihr Handy zeigt den Eingang
einer E-Mail an – sie stammt von Ihrer Vorgesetzten, die Ihnen
mitteilt, Ihr neuestes Projekt müsse geändert werden. Als Sie gerade
den Herd einschalten wollen, bemerken Sie, dass das Hähnchen, das
Sie zubereiten wollten, längst gegessen worden ist. Also nehmen Sie
eine Packung Cornflakes aus dem Vorratsschrank und beschließen,
dass diese heute als Abendessen auf den Tisch kommen. Ihre
Partnerin kommt nach Hause und beschwert sich: »Es ist kein
Klopapier mehr da – warum hast du keins gekauft?«
Sie schmeißen die Cornflakes-Packung auf den Boden, deren Inhalt
sich auf dem Fußboden verteilt, und schreien: »Kannst du vielleicht
auch mal etwas für diese Familie tun? Ich kann nicht mehr!« Und
darauf stürzen Sie wutentbrannt aus dem Raum.
Nun lassen Sie uns die Szene mal genauer unter die Lupe nehmen.
Worum geht es hier wirklich? An welchem Punkt sind Sie explodiert
und haben die Cornflakes auf den Boden geschmissen? Von außen
gesehen haben Sie die Kontrolle über Ihr Verhalten verloren. Aber
dahinter verbirgt sich, wie ich glaube, eine innere Not, ein Mensch,
der das frustrierende Gefühl hat, er genüge den Ansprüchen nicht
und erhalte weder Beachtung noch Unterstützung.
Ist das nicht interessant? Von außen sehen wir ein bestimmtes
Verhalten, dahinter aber wird der Mensch erkennbar. Die Cornflakes
hinzuwerfen war keineswegs das zentrale Ereignis. Aber es stößt ein
Fenster auf, das uns einen Blick auf dieses zentrale Ereignis
ermöglicht. Verhalten in all seinen Erscheinungsformen ist so ein
Fenster: Es gibt Einblick in die Gefühle, Gedanken, Wünsche,
Empfindungen, Wahrnehmungen und ungestillten Bedürfnisse einer
Person. Verhalten ist nie das Wesentliche, sondern vielmehr ein
Hinweis auf etwas viel Wichtigeres, das nach Aufmerksamkeit
schreit.
Gehen wir zurück in Ihre Küche. Sie haben die Beherrschung
verloren. Was würden Sie in dieser Situation von Ihrem Gegenüber
brauchen? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, wüsste ich natürlich, dass
es nicht in Ordnung ist, eine Packung Cornflakes auf den Boden zu
schmeißen und herumzuschreien. Meine Reaktion wäre ein Ausdruck
der Tatsache, dass meine Gefühle das Steuer übernommen haben.
Sie hieße nicht, dass ich den Unterschied zwischen richtig und falsch
nicht kenne. Was ich gerade gar nicht brauchen könnte, ist, dass mich
mein Partner in irgendeiner Weise belehrt, kritisiert, bestraft oder
beschämt. Stattdessen bräuchte ich ein Gefühl von Sicherheit und
Gutsein. Hätte ich mich dann beruhigt, würde ich darüber
nachdenken, wie ich überhaupt an diesen Punkt gekommen bin. Wie
haben sich die belastenden Gefühle so sehr aufgestaut, dass sie
derart heftig aus mir herausgeplatzt sind? Und wie kann ich lernen,
besser mit Frustration oder dem Gefühl, den Ansprüchen nicht zu
genügen, umzugehen? Denn nur so wird es mir in Zukunft gelingen,
solche heftigen Emotionen besser zu regulieren.
Damit ich mich verändern und künftig gelassener und weniger
aufbrausend reagieren kann, muss ich zunächst herausfinden, was in
mir, also hinter der Fassade meines Verhaltens, passiert ist. Das
mag unlogisch klingen. Aber wenn wir uns zu sehr darauf
konzentrieren, ein bestimmtes Verhalten zu beurteilen bzw. verändern
zu wollen, dann stehen wir uns selbst im Weg. Wir zielen nämlich am
Wesentlichen, das heißt an der Ursache unseres Verhaltens, vorbei.
Schauen wir uns an, wie Ihr*e Partner*in reagieren könnte:
Partner*in-Reaktion 1: Becky ist so unvernünftig. Wie konnte sie nur
so heftig reagieren? Hat sie denn gar keinen Respekt vor mir? So
geht das einfach nicht! Sie hat aus einer Mücke einen Elefanten
gemacht! Ich muss ihr klar machen, dass dieses Benehmen nicht in
Ordnung ist, und zu ihr sagen: »Becky, es geht nicht, dass du
Cornflakes auf den Boden schmeißt! Das weißt du ganz genau! Du
hast dich total danebenbenommen! Für die nächsten drei Abende
hast du Fernsehverbot.«
Gefühlszustand des*r Partners*in: Verärgert, distanziert, empört,
verurteilend.
Partner*in-Reaktion 2: Wow, Becky hat ja ziemlich überreagiert. Das
fand ich jetzt gar nicht in Ordnung. Ich frage mich, was in diesem
Moment in ihr vorging. Man kann doch nicht einfach Essen auf den
Boden schmeißen – das sollte sie eigentlich wissen. Irgendetwas
muss diese starken Gefühle in ihr ausgelöst haben. Sie ist ja ein
guter Mensch, also muss sie wirklich aufgewühlt sein. Das ist mir
auch schon passiert, und in diesen Momenten habe ich mich auch
nicht besonders toll verhalten. Ich gehe jetzt zu ihr und sage: »He,
das war ganz schön heftig. Aber ich bin sicher, dass du gerade
ernsthaft zu kämpfen hast. Ich weiß, dass du dich nicht gerne so
benimmst. Lass uns darüber reden. Deine Reaktion ist mir nicht so
wichtig, aber ich möchte verstehen, was in dir vorgeht. Ich bin für
dich da. Zusammen klären wir das.«
Gefühlszustand des*r Partners*in: Neugierig, empathisch, leicht
zögerlich, aber auf der gleichen Wellenlänge.
Ich denke, wir alle würden die zweite, weitherzige Reaktion
vorziehen. Sie betrachtet das Verhalten als Fenster zum eigentlichen
Problem, während die erste Reaktion sich nur auf das Verhalten
selbst konzentriert.
Und wie ist das nun mit unseren Kindern? Uns Eltern riet man
jahrelang zu Erziehungsstrategien, die das Verhalten in den
Mittelpunkt stellen. Sticker-Tabellen, Belohnungen, Lob, Ignorieren,
Time-Outs – lauter Methoden, die auf eine Verhaltensänderung
abzielen. Nun müssen Sie wissen, dass ich eine Pragmatikerin bin.
Ich weiß also, dass wir manchmal das Verhalten unserer Kinder
ändern wollen. Das ist auch bei mir nicht anders! Aber es geht um
das Wie. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was sich hinter der
Fassade verbirgt. Wenn wir Kindern die Mittel geben, die lodernden
Flammen in ihrem Inneren in Schach zu halten, werden auch die
Explosionen im Außen weniger. Nur wenn wir die Ursachen für ihr
Verhalten verstehen, können wir Kindern bei der Entwicklung von
Resilienz und Emotionsregulierung helfen, die mit der Zeit
unweigerlich zu Veränderungen im Verhalten führen. Das braucht
Geduld, aber hat sich die Veränderung einmal eingestellt, bleibt sie
auch erhalten. Das Kind hat sie verinnerlicht und kann sie in den
verschiedensten Situationen anwenden.
Nehmen wir an, Ihr Sohn nimmt seiner kleinen Schwester
Spielsachen weg. Wenn wir uns auf sein Verhalten konzentrieren,
sehen wir ein egoistisches Kind, das nicht teilen will. Ganz anders,
wenn wir sein Verhalten als Hinweis auf die Gefühle betrachten,
welche das neue Geschwisterkind in ihm auslöst. Schlagartig wird
klar, wie unsicher seine Welt ihm vorkommen muss und wie groß
seine Angst ist, dass ihm wichtige Dinge genommen werden. Und
schon reagieren wir anders. Vielleicht nehmen wir unserem Sohn das
Spielzeug trotzdem weg und geben es dem Baby zurück, aber wir
reden danach mit ihm: »Es ist wirklich nicht einfach, ein Baby in der
Familie zu haben!« Jetzt, wo wir verstehen, was hinter der Fassade
vor sich geht, können wir unserem Sohn mehr Zeit mit uns allein
geben oder die Themen in einem Rollenspiel aufgreifen. (»Der
Kipplaster möchte seiner kleinen Schwester, dem Bagger, das
Spielzeug wegnehmen! Hmm, was können wir da tun? Komm, wir
helfen dem Kipplaster, eine bessere Entscheidung zu treffen.«)
Schließlich ging es ja nie um das Spielzeug, sondern um das
Bedürfnis Ihres Sohnes, in einer für ihn neuen Welt wieder mehr
Sicherheit zu spüren. Sobald er wieder ins Gleichgewicht gefunden
hat, wird sich sein Verhalten von selbst ändern. Denn es ist
tatsächlich nur ein Symptom, das irgendwann verschwindet, wenn Sie
das eigentliche Problem an der Wurzel packen.
Und noch eine Anregung aus meiner eigenen Familie: Bei uns hat es
das Baby meist nicht gestört, wenn mein älteres Kind ihm sein
Spielzeug weggenommen hat. Und da ich weniger am Verhalten
interessiert war als an dem, was sich daraus ablesen ließ, habe ich
häufig gar nichts unternommen. Ich habe stattdessen abgewartet.
Mein Kind musste das Spielzeug nicht zurückgeben. In diesen
Momenten habe ich das Richtige getan: Ich habe das grundlegend
Gute in meinem Kind gesehen und hatte keine Angst, dass es sich
ewig so verhalten würde. Daher habe ich nicht reagiert. Ich wusste,
dass das eigentliche Problem nichts mit dem Spielzeug zu tun hatte,
sondern dass es einzig und allein um die Gefühle des älteren Kindes
ging. Und ob Sie’s glauben oder nicht: Meistens hat es das Spielzeug
von selbst zurückgegeben.

Die Beziehung hat Vorrang


Wenn wir Methoden zur Änderung des Verhaltens anwenden, können
wir dieses kurzfristig beeinflussen. Das will ich gar nicht leugnen. Ich
bestreite auch nicht, dass ein tiefergehendes Eingreifen manchmal
Zeit braucht und wir uns diesen Luxus nicht immer leisten können. Es
gibt Situationen, in denen wir das Verhalten eines Kindes unverzüglich
korrigieren müssen. Und manchmal reichen unsere Ressourcen ganz
einfach nicht aus für den Mehraufwand des Dahinterblickens. Wir sind
häufig schon damit überfordert, Arbeit, Familie und die Anforderungen
des Eltern- und Menschseins unter einen Hut zu bringen.
Aber wenn wir außer Acht lassen, was sich hinter der Fassade
verbirgt, ändert sich nichts an der Dynamik, die dem Verhalten des
Kindes zugrunde liegt. Das ist, als ob wir eine undichte Stelle an der
Decke einfach mit Klebeband abdichten würden, statt herauszufinden,
wo das Wasser herkommt. Richten wir unser Augenmerk zuerst auf
das Verhalten, versäumen wir es, unseren Kindern bei der
Entwicklung von sinnvollen Strategien zu helfen. Überdies nehmen wir
die Gelegenheit nicht wahr, sie als Menschen statt als Ansammlung
verschiedener Verhaltensweisen zu sehen.
Wenn ich das Wegnehmen von Spielzeug nur als unerwünschtes
Verhalten sehe, fixiere ich mich immer mehr darauf, es zu ändern.
Dann darf mein Kind jeden Tag, an dem es der Schwester kein
Spielzeug wegnimmt, einen goldenen Stern auf seine Sticker-Tabelle
kleben. Oder ich sage ihm: »Wenn du ihr Spielzeug wegnimmst,
bekommst du heute Fernsehverbot!« Ich kann auch ein Time-out
verordnen: »Du gehst jetzt auf dein Zimmer«. Diese Methoden haben
gleich mehrere Nachteile: Ihr Kind bleibt allein, wenn es Nähe braucht.
Und es glaubt zu verstehen, dass es in Ihren Augen ein »schlechtes
Kind« ist, welches man durch Kontrolle zu gutem Benehmen zwingen
muss. (Denken Sie daran, unsere Kinder verinnerlichen stets jene
Version ihres Selbst, die wir ihnen vermitteln). Vor allem aber gehen
diese Erziehungsmethoden nicht auf das ein, was tatsächlich im Kind
vorgeht: die überwältigenden Gefühle, die überhaupt erst zu diesem
Verhalten geführt haben.
Bei Kindern, die es allen recht machen wollen, erscheinen
verhaltensorientierte Methoden sogar besonders wirksam. Denn
diese Kinder bemühen sich immer, möglichst dem Wunschbild der
Eltern zu entsprechen. Diese Tendenz zu verstärken mag sich
zunächst zwar »auszahlen«. Für die Kinder wird das aber später zum
Problem: Als Erwachsene fällt es ihnen schwer, Nein zu sagen. Und
sie sind unfähig, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, geschweige
denn geltend zu machen. Oder sie stellen das Wohl der anderen
immer über ihr eigenes.
Und wie wirken sich diese Korrekturmethoden bei Kindern aus, die
es nicht allen recht machen wollen? Nun, sie verstärken häufig das
provozierende Verhalten, statt es zu verbessern. Denn findet unser
Innenleben keine Beachtung und kein Verständnis, dann treiben wir
unser äußeres Verhalten immer weiter auf die Spitze in der Hoffnung,
dass wir endlich ernst genommen und unsere Bedürfnisse erfüllt
werden. Kurz gesagt, wenn wir Eltern das Verhalten als
»Hauptgeschehen« betrachten, statt es als Fenster zu sehen, das
uns den Blick auf ein unbefriedigtes Bedürfnis eröffnet, können wir
unter Umständen das Verhalten kurzfristig abstellen. Aber das
dahinterstehende Bedürfnis bleibt und bricht sich irgendwann
unvermittelt wieder Bahn. Wir kämpfen also auf verlorenem Posten.
Wenn wir uns nicht um den Ursprung der undichten Stelle kümmern,
tropft das Wasser weiterhin durch die Decke.
Das zweite Problem dieser Kontrollmethoden wird schon durch das
Wort »Kontrolle« offensichtlich. Der Kontrolle mehr Bedeutung zu
geben als der Beziehung ist ein gefährliches Spiel. Interessiert Sie
einzig, dass Ihr Kind sich anders benimmt, dann mögen Sticker-
Tabellen und Time-outs bei kleineren Kindern Erfolg haben. Aber
sobald sie älter werden und die goldenen Sterne ihre Attraktivität
verloren haben, ist das Ergebnis dieser Technik mitunter
erschreckend. In meine Sprechstunde kam einmal ein Elternpaar, das
mit mir über seinen sechzehnjährigen Sohn sprechen wollte. Er
besitze, wie sie sagten, überhaupt keine Selbstkontrolle. Er war
gemein zu seinen Geschwistern, ging abends aus und kam lange
nach der vereinbarten Zeit heim. Schließlich weigerte er sich gar, zur
Schule zu gehen. An diesem Punkt kamen die Eltern in meine Praxis.
In der frühen Kindheit des Jungen hatten die Eltern durchweg auf
verhaltensorientierte Erziehungsmethoden gesetzt: Strafen,
Belohnungen, Sticker-Tabellen, Time-outs und andere Formen der
Kontrolle. Die Eltern meinten, ihr Sohn sei schon immer ein
»schwieriges Kind« gewesen. Sie hatten schon allerhand Experten zu
Rate gezogen, die ihnen zu ihrem jeweiligen Programm aus
Belohnung, Strafe und harten Konsequenzen rieten. Diese Methoden
erwiesen sich durchaus als erfolgreich, aber nur so lange, bis sich ein
neues problematisches Verhalten zeigte. Dann griffen die Eltern
wieder zu einer der Methoden, um das neue Problem zu beseitigen.
Kaum war es verschwunden, trat ein anderes an seine Stelle. Dieser
Teufelskreis dauerte über ein Jahrzehnt an.
Als die Eltern in meine Sprechstunde kamen, fiel mir beim Zuhören
etwas auf: Sie hatten es sechzehn Jahre lang versäumt, eine
Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Da klaffte eine riesige Lücke.
Wenn wir mit Belohnungstafeln, Verstärkung, Stickern und Auszeiten
auf unsere Kinder reagieren, geben wir ihnen im Grunde zu
verstehen, dass die Einhaltung von Verhaltensregeln für uns das
Allerwichtigste ist. Wir interessieren uns nicht für ihre seelische Not
und ihre Persönlichkeit. (Dabei ist genau dieses Interesse für den
Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen entscheidend.) Unsere
Kinder spüren das. Der Sohn dieses Paares teilte den beiden nun,
nach sechzehn Jahren, mit: »Mir sind eure Sticker-Tabellen und
Strafen egal. Ich bin jetzt älter und lasse mir keine Auszeiten mehr
vorschreiben. Ich habe keine Angst mehr vor euch, und ihr habt
keinen Einfluss auf mich, weil es nichts gibt, was uns verbindet.«
Sobald unsere Kinder älter werden, funktionieren verhaltensorientierte
Methoden nicht mehr. Dann lassen sich Kinder nicht mehr durch
Belohnungssysteme motivieren. Allein schon ihre Körpergröße
verhindert, dass wir Strafen und harte Konsequenzen durchsetzen.
Wenn wir Kontrolltechniken anwenden, statt eine Beziehung zu
unserem Kind aufzubauen, wird es zwar älter, bleibt aber emotional
auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkinds stehen. Denn in all den
Jahren hat es keine Methoden zur Emotionsregulierung oder
Eigenmotivation entwickeln können. Es hat nie gelernt, seine
Wünsche auch mal zurückzustellen. All das aber ist unabdingbar, um
das Leben erfolgreich zu meistern. Wenn wir zu sehr damit
beschäftigt sind, das äußere Verhalten unserer Kinder durch äußere
Kontrolle zu verändern, verpassen wir es, ihnen diese grundlegenden
Strategien beizubringen.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Verbundenheit als Ziel
besser ist als Verhaltensänderung: Bauen wir die Beziehung zu
unseren Kindern nicht auf einer stabilen Grundlage aus Vertrauen,
Verständnis und Interesse auf, dann ist da nichts, was sie an uns
bindet.
Ich verwende gerne den Begriff »Bindungskapital«. Damit ist der
Vorrat an positiven Gefühlen gemeint, die uns mit unseren Kindern
verbinden. In schweren Zeiten oder wenn Spannungen in der
Beziehung auftreten, können wir davon zehren. Allerdings sollten wir
mit dem Anlegen des Vorrats beginnen, solange unsere Kinder noch
klein sind, sonst haben wir nichts, worauf wir zurückgreifen können,
wenn sie zu Teenagern und jungen Erwachsenen geworden sind. An
diesem Punkt lassen sich die verhaltensorientierten Methoden, die
uns so wichtig waren, ohnehin nicht mehr anwenden. Ganz einfach,
weil unsere Kinder nun größer und unabhängiger sind. Jetzt können
sie sich gegen unsere Sticker-Tabellen, Belohnungen und Strafen
auflehnen.
Ist es also zu spät für unsere Beispielfamilie? Ist es zu spät für Ihre
Familie? Nein, natürlich nicht. Wie wir wissen, ist es nie zu spät. Aber
es steht uns harte Arbeit bevor. Veränderungen sind möglich und
schwierig. Ich habe mit anderen Experten zusammen lange mit dieser
Familie gearbeitet, und wir konnten wichtige Veränderungen erzielen.
Der Prozess war anstrengend, ein ständiges Auf und Ab. Als wir die
gemeinsame Arbeit beendeten, hatte die Familie große Fortschritte
gemacht, aber auch noch viel vor sich. Ich habe immer noch Kontakt
zu dieser Familie, die sich unglaublich offen und nachdenklich gezeigt
hat. Wir tauschen uns immer noch über die anhaltende Bemühung der
Eltern aus, die Beziehung zu ihrem nunmehr zwanzigjährigen Sohn zu
kitten, und darüber, was sie in der Erziehung ihrer jüngeren Kinder
nun anders machen. »Ich wünschte, ich hätte mir über all dies früher
Gedanken gemacht«, sagte mir der Vater ungefähr ein Jahr nach
Beginn unserer Sitzungen. »So viele Fachleute haben uns zu
verhaltensorientierten Methoden mit Auszeiten, Strafen und
Belohnungen geraten, und das alles erschien uns immer ganz logisch.
Zudem haben sie uns beeindruckende statistische Werte genannt:
Das Problemverhalten werde um 90 Prozent abnehmen. Wer würde
sich das nicht wünschen? Aber ich habe dabei das Wesentliche aus
den Augen verloren. Wir wollen ja nicht das Verhalten unseres
Sohnes ›formen‹, sondern ihn dabei unterstützen, sich zu einem guten
Menschen zu entwickeln. Wir möchten ihn verstehen, ihm beistehen,
wenn ihn etwas belastet. Ich bin früher nicht auf den Gedanken
gekommen, dass unser Erziehungskonzept die Probleme in
Wirklichkeit verstärkt. Das sollten Eltern unbedingt wissen.«
Das sehe ich genauso. Und deshalb ist dieses Buch entstanden.

Evidenzbasierte Erziehungsmethoden
Ich mag Wissenschaft. Und Beweise. Es gibt tonnenweise
wissenschaftliche Literatur – sehr überzeugende Studien in
glaubwürdigen Zeitschriften –, die die Wirksamkeit
verhaltensorientierter Erziehungsmethoden statistisch belegen. Eltern
fragen mich oft: »Wie können Sie gegen eine Methode sein, die
problematisches Verhalten nachweislich verändert? Was kann daran
schlecht sein?« Nun, schlecht ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich
habe folgendes Problem damit: Die belegten Verhaltensänderungen
lassen uns aus den Augen verlieren, was wirklich wichtig ist, weil wir
uns auf das konzentrieren, was innerhalb eines kurzen Zeitraums
feststellbar ist. Das ist ein bisschen widersinnig. Einer meiner
Lieblingssupervisoren sagte einmal zu mir: »Wenn ich wollte, könnte
ich anhand einer Studie nachweisen, dass meine Methode
Problemverhalten um hundert Prozent reduziert! Eltern müssten ihr
kleines Kind nur jedes Mal, wenn es unerwünschtes Verhalten zeigt,
schlagen oder eine Nacht lang auf der Straße schlafen lassen. Dann
würde meine Studie mit absoluter Sicherheit zeigen, dass jedes Kind
nach wenigen Wochen gefügiger wäre.« Natürlich trat mein
Supervisor nicht für Kindesmisshandlungen ein. Er wollte nur darauf
hinweisen, dass statistische Daten gründlich hinterfragt werden
müssen und dass niemand mit Zahlen prahlen sollte, die auf
angsteinflößenden Methoden und Zwang beruhen. Evidenzbasierte
Erziehung misst ihren Erfolg oft daran, ob ein Verhalten sich ändert
oder nicht. Sie stützt sich auf ein Konzept, welches das Verhalten
über alles stellt. Aber wenn Sie mich fragen, genügt das nicht, um
den Erfolg dieser Art der Erziehung nachzuweisen. Wenn Ihr Sohn
aufgehört hat, seinem Schwesterchen das Spielzeug wegzunehmen,
sich aber immer noch Sorgen macht, dass das Baby seine ganze
Welt auf den Kopf gestellt hat, dann haben Sie ihm nicht wirklich
geholfen. Sie haben nur sich selbst geholfen, und das auch nur
vorübergehend. So lange nämlich, bis die Gefühle, die das Verhalten
ausgelöst haben (und sich weiter verstärken, weil sie unbeachtet und
unbewältigt geblieben sind), an anderer Stelle wieder zum Vorschein
kommen.
Sich zu sehr auf Verhaltensänderung zu konzentrieren kann dazu
führen, dass wir unsere menschliche Seite aus den Augen verlieren.
Wir beurteilen uns selbst und unsere Kinder nur nach dem, was wir
nach außen zeigen, und lassen die Elemente, die unser Wesen
vervollständigen, außer Acht – unsere Gefühle, Ängste, Bedürfnisse
und unser Mitgefühl. Für mich gilt auch hier: Beides ist wahr.
Statistische Daten sind wichtig. Wir sollten aber auch hinterfragen,
auf welche Grundlage wir uns da stützen. Zahlen, die auf
Verhaltensänderung durch Kontrolle, Zwang und Verlassensängste
beruhen, sollten wir mit Skepsis betrachten. Für mich sind solche
Daten jedenfalls kein überzeugendes Argument.
Ein weiterer Grund dafür, warum verhaltensorientierte Methoden
zunächst attraktiv wirken, ist, dass sie greifbar und klar
herüberkommen. Seien wir ehrlich: Es ist leicht zu verstehen, wenn
man positives Verhalten mit einem Aufkleber belohnt. Viel schwieriger
ist es, herauszufinden, warum Ihr Kind dieses positive Verhalten
überhaupt verweigert hat. Auszeiten kommen uns einfacher vor als
komplizierte Fragen. Aber wenn wir die »schwierigere« Methode
wählen, sind wir danach einen großen Schritt weiter. In seinem
wegweisenden Buch Discipline: From Compliance to Community
schreibt der bekannte Sozialwissenschaftler Alfie Kohn: Wenn Eltern
oder Fachleute »ihre Aufgabe darin sehen, das Verhalten des Kindes
zu verändern, lassen sie sich unwissentlich auf eine Theorie ein, die
eben das ausschließt, was das eigentlich Wichtigste ist: die
Gedanken und Gefühle, Bedürfnisse und Sichtweisen, Beweggründe
und Wertvorstellungen des Kindes zu begreifen, kurz gesagt das, was
zu diesen Verhaltensweisen führt. Das Verhalten ist nur das, was sich
an der Oberfläche zeigt. Was aber in Wirklichkeit zählt, ist die
Person, die es an den Tag legt, und ihre Gründe dafür.« Klassische
Disziplin, so erklärt er, kann kurzfristig »Verhalten ändern, aber sie
trägt nichts zur Entwicklung bei«. Stattdessen fordert Kohn,
Erwachsene sollten die Fähigkeit entwickeln, »die Handlungen zu
›durchschauen‹, um ihre Auslöser zu verstehen und einen Weg zu
finden, wie wir auf letztere einwirken können.«
Wie können wir das also angehen? Wie durchschauen wir die
Handlung, um die tieferliegenden Beweggründe zu verstehen? Das
Konzept klingt gut, lässt sich aber nicht so einfach umsetzen, wenn
unser Sohn frech zu uns ist, unsere Tochter mit Essen um sich
schmeißt oder beide zusammen die Polstermöbel als Trampolin
benutzen. Den Anfang machen wir, wie ich bereits sagte, indem wir
neugierig sind. Beginnen wir mit ein paar Fragen, die Sie sich nach
jeder schwierigen Situation stellen können:

Was ist die weitherzigste Sicht auf das Verhalten meines


Kindes?
Was ging in diesem Moment in meinem Kind vor?
Was hat mein Kind unmittelbar vor seinem Fehlverhalten
empfunden?
Welches Bedürfnis konnte mein Kind schlecht regulieren?
Was für Parallelen zu meinem eigenen Leben gibt es? Und wenn
ich mich ähnlich verhalten habe, womit hatte ich in jenem
Moment zu kämpfen?
Was fühlt mein Kind, das ich nicht verstehe?
Mein Kind ist ein grundlegend gutes Kind, das einen schwierigen
Moment erlebt. Aber womit tut es sich so schwer?
Welche tieferliegenden Aspekte kommen in diesem Verhalten
zum Ausdruck?

Nachdem wir über diese Fragen nachgedacht und sie ehrlich


beantwortet haben, können wir uns mit den Themen befassen, die wir
dadurch aufgedeckt haben. Und dann können wir dem Kind, das sich
eben noch danebenbenommen hat, die Art von Aufmerksamkeit
schenken, die Verbundenheit fördert.
Lassen Sie mich das an einem konkreten Beispiel veranschaulichen.
Sie haben gerade Ihrem Vierjährigen gesagt, dass er noch kurz still
sein muss, weil Sie ein geschäftliches Telefonat zu erledigen haben.
Aber statt auf Sie zu hören, fegt er Sachen von Ihrem Schreibtisch
herunter und fängt an zu brüllen. Nachdem Sie das Gespräch beendet
haben, schimpfen Sie nicht mit ihm, sondern erinnern sich daran, dass
sein Verhalten ein Fenster ist. Nun überlegen Sie, wie Ihre
weitherzigste Sichtweise aussehen könnte: Ihr Kind hat sich nach
Aufmerksamkeit gesehnt, sich unbeachtet gefühlt, und es konnte
diese Gefühle in seinem kleinen Körper nicht bewältigen. Sie denken
an einen Moment zurück, in dem Sie sich die Aufmerksamkeit Ihres
Partners gewünscht haben, während er auf dem Smartphone
herumscrollte. Sie erinnern sich, wie verärgert Sie waren und wie Sie
schließlich Ihren Partner angeschrien haben – gar nicht so anders als
das, was gerade zwischen Ihnen und Ihrem Sohn vorgefallen ist!
Wenn Ihnen das jetzt klar ist, sagen Sie zu Ihrem Kind: »Es war
offensichtlich schwierig für dich, still zu sein, während ich telefoniert
habe. Ich weiß, wie schlecht es sich anfühlt, wenn wir beide beim
Spielen sind und ich plötzlich ans Telefon gehen muss. Das verstehe
ich. Lass uns diese Situation gleich nochmal üben. Wie wäre es,
wenn wir uns beim nächsten Mal heimlich die Hand geben würden,
wenn ich telefonieren muss, damit du weißt, dass ich immer noch für
dich da bin?«
Viele Eltern halten ein solches Vorgehen, das auf Strafe verzichtet,
für bedenklich. Zumindest geht es gegen ihre Intuition, denn sie
befürchten, dass es das »ungezogene« Kind in seinem
problematischen Verhalten bestärkt, wenn sie ihm »positive
Aufmerksamkeit« widmen. Ein Vater sagte kürzlich zu mir: »Seit ich
meine Tochter nicht mehr bestrafe, ist da ein Teufelskreis entstanden.
Sie stellt etwas an und bekommt dafür noch zusätzlich Zeit mit mir.
Ich will ihr nicht beibringen, dass sie sich so meine Aufmerksamkeit
verschaffen kann, aber momentan verhält es sich genauso. Hilfe!«
Ich verstehe diese Bedenken. Aber statt auf das problematische
Verhalten zu reagieren, indem man auf Distanz geht, ist es meiner
Ansicht nach besser, die Beziehung in einem anderen Moment zu
stärken. Verhaltensprobleme sind oft ein Schrei nach Aufmerksamkeit
oder Verbundenheit. Wenn diese Bedürfnisse gestillt werden, erübrigt
sich der Schrei. Deshalb lässt sich problematisches Verhalten selten
unmittelbar danach »reparieren«. Es braucht anhaltende Zuwendung,
damit sich ein Fortschritt einstellt. Und Kinder, die sich in diesem
Teufelskreis von unerwünschtem Verhalten befinden, benötigen mehr
vorbeugende Aufmerksamkeit, mehr Momente alleine mit einem
Elternteil, die Gewissheit, dass sie beachtet und wertgeschätzt
werden und eine Identität haben, die über ihr Fehlverhalten
hinausreicht. Ein Mehr an Zuwendung könnte bedeuten, jeden Tag
zehn Minuten ablenkungsfreie Zeit einzuplanen (ich nenne das
Spielzeit ohne Smartphone, kurz: SOS – mehr dazu gleich). Oder Sie
machen dem Kind einen Vorschlag: »Sollen wir uns ein Eis holen? Wir
haben uns eine Stärkung verdient!« Wenn Sie Zeit mit Ihrem Kind
verbringen, speziell wenn es sich öfter danebenbenimmt, dann
signalisieren Sie ihm damit: »Ich sehe mehr in dir als ein schlechtes
Kind.«
Und während sich das Kind schlecht benimmt? Atmen Sie tief durch,
erinnern sich daran, dass es nicht immer nur aufwärts gehen kann
und dass wir nicht gleich eine Party für unser Kleines schmeißen
müssen, wenn wir uns ihm nach einem Fehlverhalten wieder
zuwenden. Sie könnten sagen: »Schatz, ich weiß, dass du es gerade
schwer hast, und wir werden herausfinden, wie du deinem Bruder
sagen kannst, dass du wütend bist, ohne dabei dich und deinen
Körper zu gefährden. Jetzt muss ich noch schnell die Wäsche falten.
Magst du dich zu mir setzen? Später nehmen wir uns noch ein
bisschen Zeit füreinander, nur du und ich allein, in Ordnung? Ich hab
dich lieb.«
Es ist nicht ganz einfach, Verhalten als Fenster zu betrachten und zu
lernen, wie wir einen Blick hindurch auf die Vorgänge im Inneren
werfen können. Wenn Ihnen das schwerfällt, ist das völlig okay! Es ist
alles in Ordnung mit Ihnen. Höchstwahrscheinlich hat auch nie jemand
Ihre kindlichen Verhaltensweisen als Teil eines größeren Ganzen
gesehen. Verhalten als Signal zu betrachten, erfordert Übung.
Machen Sie sich keinen Stress. Es braucht kontinuierliche Übung,
genau wie beim Muskeltraining. Sie müssen dranbleiben, selbst wenn
Sie einmal einen Durchhänger haben. Aber wenn Sie den Fortschritt
dann sehen, können Sie stolz auf sich sein. Ihre Bemühungen haben
sich gelohnt, und das ist ein tolles Gefühl!
Kapitel 8

Weniger Scham, mehr


Verbundenheit
Obwohl ich von den Eltern, die den Weg in meine Praxis finden, die
unterschiedlichsten Geschichten über das »schlechte« Benehmen
ihres Kindes zu hören bekomme, haben diese Geschichten häufig ein
gemeinsames Thema. Nehmen wir nur die folgenden drei Beispiele:
»Meine Tochter entschuldigt sich nie. Gestern hat sie das
Schmusetier ihrer Schwester versteckt, die daraufhin untröstlich war.
Als sie sich weigerte, ihr Fehlverhalten zuzugeben und sich zu
entschuldigen, ist mir der Geduldsfaden gerissen. Das war einfach
so gemein. Kennt sie denn überhaupt kein Mitgefühl?«
»Mein Sohn ist so unglaublich stur. Er hat echt Schwierigkeiten mit
Mathe, und ich nehme mir extra Zeit, um ihm zu helfen, aber er hört
einfach nicht zu, wenn ich ihm etwas beibringen will. Und dann
explodiert er mit einem Mal. Es ist zum Verrücktwerden. Ich begreife
einfach nicht, warum er nicht will, dass ich ihm helfe.«
»Meine Tochter lügt ständig. Normalerweise geht es dabei um
Kleinigkeiten wie zum Beispiel, dass sie Süßigkeiten isst, die ich ihr
verboten habe. Letztens allerdings ging es um etwas
Schwerwiegenderes. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie aus ihrer
Fußballmannschaft geflogen ist. Ich erinnere sie daran, dass sie mir
die Wahrheit sagen soll und dass Lügen falsch ist, aber sie macht
einfach weiter.«
Was also ist hier los? Haben diese Kinder mit dem gleichen
tiefersitzenden Problem zu kämpfen? Auf den ersten Blick scheint es
keine Gemeinsamkeiten zu geben, ich aber sehe in allen drei Fällen –
bei der Weigerung, sich zu entschuldigen, der Sturheit und den
Lügen – ein Kind, das sich verschließt. Jedes dieser Kinder leidet
unter seiner schmerzlichen Wirklichkeit – der Tatsache, dass es der
Schwester das Schmusetier weggenommen hat, dass es in Mathe
schlecht ist oder dass es etwas möchte und nicht bekommt. In jedem
Fall beschreiben die Eltern ein Kind, das sich wegen irgendetwas
schuldig, gedemütigt oder schlecht fühlt und dann auf fehlregulierte
Weise reagiert, um der Schuld oder dem miesen Gefühl zu entgehen.
Das ist die Essenz der Scham – die Erfahrung »Ich kann nicht ich
selbst sein. Ich darf nicht so fühlen.«

Das Risiko bei Scham


Jeder Mensch erlebt Scham anders, daher sollten wir uns zuerst auf
eine Arbeitsdefinition einigen. Scham ist für mich das Gefühl von:
»Dieser Anteil meines Selbst ist nicht bindungsfähig. Niemand will ihn
erfahren oder kennenlernen.« Es handelt sich um das starke Gefühl,
nicht zu wollen, dass jemand uns so sieht, wie wir in diesem
Augenblick sind. Scham lehrt uns, dass wir in diesem Moment den
Kontakt mit anderen besser vermeiden – dass wir uns verstecken und
abwenden sollten, von den anderen weg-, statt auf sie zugehen
sollten. Scham löst im Kind extreme Angst aus: die Vorstellung »Ich
bin zutiefst schlecht. Ich bin wertlos, nicht liebenswert und nicht
würdig, mit anderen zusammen zu sein. Ich werde für immer allein
sein.« Da das Überleben des Kindes davon abhängt, Bindungen
eingehen zu können, versteht sein Körper die Scham als
»allerhöchste Gefahr!« Nichts bringt ein Kind mehr aus dem
Gleichgewicht als Dinge zu tun oder zu empfinden, die die Angst
schüren, verlassen zu werden – denn das wäre lebensbedrohlich.
Dennoch hat Scham auch noch eine andere Seite: Sie ist tatsächlich
ein wichtiger entwicklungsgeschichtlicher Anpassungsvorgang. Wenn
wir als Kind allein sind, sind wir in Gefahr. Im Bindungssystem ist
Scham für das Kind das Signal, dass es einen Persönlichkeitsanteil
verstecken muss, der Bindung verhindert. Scham fühlt sich so
schrecklich an, weil sie dem Körper eine schmerzliche, aber
überlebenswichtige Erkenntnis bringt: Wenn du dich weiter so
benimmst wie jetzt, werden deine Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Du
wirst stattdessen Zurückweisung erfahren – häufig in Form von
Verurteilung, Abwertung, Ignoriertwerden, Strafe,
Ausgeschimpftwerden oder Alleinsein in deinem Zimmer. Und das
fühlt sich an wie Verlassenwerden. Die Scham sagt uns: Du musst
dich ändern, damit du sicher sein kannst.
Vor diesem Hintergrund ist schon eher nachvollziehbar, warum
Scham für das Bedrohungsradar des Kindes (oder Erwachsenen)
eine hilfreiche Emotion ist. Scham lässt das Kind sozusagen
»erstarren«. Das ist ein Schutzmechanismus, der sich in der
Unfähigkeit äußern kann, sich zu entschuldigen, Hilfe anzunehmen
oder die Wahrheit zu sagen. Das Problem ist, dass dieses betäubte,
erstarrte Kind uns Eltern in den Wahnsinn treibt, weil wir denken, es
ignoriere uns, oder weil wir sein Verhalten als bewusste Provokation
oder Interesselosigkeit betrachten. Statt in alldem das Gefühl von
Scham zu erkennen und anzusprechen, schreien wir unser Kind an,
lassen uns auf einen Machtkampf ein oder schicken es in sein
Zimmer – was die Scham nur verstärkt und den Teufelskreis
ankurbelt. Erkennen wir die Scham jedoch als das, was sie ist,
können wir anders reagieren.

Wie Sie Scham erkennen und abbauen


Scham zu erkennen ist eines der wichtigsten Instrumente im
Werkzeugkasten von Eltern. Scham in all ihren Spielarten erspüren zu
können, ist sozusagen eine elterliche Superkraft, die uns erlaubt,
unser Verhalten entsprechend abzustimmen – und nicht nachgiebig,
sondern effektiv darauf zu reagieren. Bei vielen schwierigen
Momenten mit unseren Kindern spielt Scham eine entscheidende
Rolle. Scham lässt jede Situation explosiver werden. Wenn Sie
das nächste Mal einen Machtkampf mit Ihrem Junior austragen oder
denken: »Ich weiß ja, dass Erziehung kein Kinderspiel ist, aber muss
es gleich so schwierig sein?«, dann achten Sie darauf, ob nicht
irgendwo die Scham Öl ins Feuer kippt.
Unser Ziel als Eltern sollte es sein, zu merken, wann sich die Scham
unserer Kleinen bemächtigt. Wir müssen verstehen, in welchen
Situationen unsere Kinder sich schämen, und darauf achten, wie sich
das in ihrem Verhalten äußert. Als Nächstes sollten wir Mittel und
Wege finden, um ihre Schamgefühle zu lindern, damit unsere Kinder
sich sicher und angenommen fühlen können. Die Devise lautet: Erst
schauen, dann abbauen.
Wie können wir also vorgehen? Nehmen wir als Beispiel das
Mädchen, das das Schmusetier ihrer Schwester versteckt hat.
Obwohl die Schwester heiße Tränen vergoss, weigerte das Mädchen
sich, sich zu entschuldigen. Diese Weigerung ist ein klassisches
Beispiel für aufsteigende Scham: Das Kind wirkt dann kalt und wenig
mitfühlend, obwohl es in diesem Augenblick von seinem Schlechtsein
überwältigt wird und regelrecht erstarrt. Das Mädchen kann sich nicht
entschuldigen, denn das hieße, dass es sich als einen Menschen
»sieht«, der etwas Schlimmes getan hat. Es müsste sich also mit
dem unerwünschten Gefühl auseinandersetzen, dass es für andere
nicht liebenswert ist. (»Niemand würde ein Kind wollen oder lieben,
das so schlecht ist.«) Es wird mit der Angst vor dem
Verlassenwerden nicht fertig, die unweigerlich aufkäme, sollte es sich
entschuldigen. Lieber erstarrt es also, um seine Notlage nicht zu
verstärken. Ja, das alles läuft in ihm ab, während es sich schlicht
weigert, sich zu entschuldigen.
Scham kann sich auch als Gleichgültigkeit, als Gefühllosigkeit oder
im Ignorieren der Eltern äußern. Wann immer Ihr Kind irgendwie
»festzustecken« scheint, überlegen Sie, ob es vielleicht gerade
Scham erlebt. Wenn Sie diese Scham erkennen, sollten Sie zunächst
innehalten. Wird unser Kind von Scham überwältigt, sollten wir in der
Lage sein, unsere ursprüngliche »Zielsetzung« – die Entschuldigung,
die Dankbarkeit für die Mathe-Nachhilfe oder eine ehrliche Antwort –
erst einmal zurückzustellen und uns stattdessen auf den Abbau seiner
Scham konzentrieren.
Eine Reaktion wie die folgende hilft bei Scham jedenfalls nicht
weiter: »Ida, du musst dich einfach entschuldigen. Das ist doch nur
ein Wort! So machst du die Situation nur schlimmer! Wie kann dir
deine kleine Schwester nur so wenig bedeuten? LOS JETZT!« In
diesem Fall bekommt Ida die Rolle des »bösen Kindes« zugewiesen
und rutscht immer weiter in ihr Schlechtsein und in ihren betäubenden
Zustand der Scham ab.
Scham zu erkennen und abzumildern, sieht eher so aus: »Es ist nicht
ganz leicht, deine ›Entschuldigungsstimme‹ zu finden. Mir geht es
manchmal genauso. Daher werde ich dir jetzt meine leihen, bis du die
deine wiedergefunden hast.« Dann sagen Sie, als Elternteil, zu dem
anderen Kind: »Es tut mir leid, dass ich dein Schmusetier genommen
habe. Ich weiß, das war schlimm für dich. Was kann ich denn tun,
damit es dir wieder besser geht?« Und dann – jetzt kommt der
wichtigste Teil – schauen Sie die Tochter nicht vorwurfsvoll an,
ermahnen sie nicht und sagen auch nicht: »Siehst du, wie leicht das
war!« Stattdessen vertrauen – ja, richtig gelesen, VERTRAUEN – Sie
darauf, dass die Lektion schon ankommt, und gehen zur
Tagesordnung über. Vielleicht können Sie, wenn klar ist, dass die
Scham aus dem Spiel ist (und das merken Sie daran, dass Ihre
Tochter sich wieder spielerisch verhält), etwas sagen wie: »Sich zu
entschuldigen ist nicht leicht. Sogar für mich, und ich bin erwachsen!«
Oder Sie schnappen sich ein paar Stofftiere und spielen eine Situation
durch, die für eines dieser Tiere nicht leicht ist und etwas mit
Entschuldigungen zu tun hat. Dann halten Sie inne und passen auf,
was Ihre Tochter dazu meint.
Aber vergessen Sie nicht: Diese Art des Lernens, der Reflexion und
des Wachstums funktioniert nicht, solange noch Scham im Raum ist.
Wir müssen bereit sein, unsere Ziele hintenanzustellen. Was unser
Bedürfnis nach »fair sein« angeht, drücken wir die Pausetaste,
sobald wir sehen, dass das Kind sich schämt. Wir verzichten darauf,
eine Verhaltensänderung einzufordern, sondern zeigen dem Kind,
dass es liebenswert ist und geschätzt wird. Auf diese Weise stärken
wir unsere Bindung. Und schon löst sich die Erstarrung auf. Diesen
Schritt können Sie nicht überspringen. Unser Körper erlaubt das nicht.
Finden Sie dieses Beispiel zu »weichgespült«? Zu »gefühlsduselig«?
Glauben Sie, dass Sie Ihr Kind auf diese Weise zu leicht vom Haken
lassen? Mir jedenfalls erging es so. Ich habe mich besorgt gefragt,
ob ich mein Kind nicht in seiner Bockigkeit bestärke, wenn ich mich
statt seiner entschuldige. Solche Bedenken kommen vielen Eltern:
»Es geht doch nicht, dass ich als Mutter mich für meine 15-jährige
Tochter entschuldige. Das ist doch lächerlich! Sie muss sich eben
überwinden und lernen, das selbst zu tun!« Aber Kinder verspüren in
jedem Alter Scham, ob sie nun fünf sind oder 15. Also schauen Sie
genau, womit Sie es zu tun haben. Wenn Ihr Teenie lügt, weil sie aus
der Fußballmannschaft geflogen ist, dann ist vielleicht auch sie
einfach »erstarrt«, auch wenn sich diese Erstarrung in Lügen äußert
statt in Bockigkeit. In diesem Fall würde ich natürlich andere Worte
gebrauchen (vielleicht: »Ich verstehe ja, dass es schwierig ist, über
Dinge zu reden, von denen wir uns wünschten, sie wären nicht
wahr.«), aber die Art des Eingreifens wäre die gleiche.
Halten wir mal kurz inne, atmen tief durch und kommen zurück zu
unserem Prinzip des Gutseins unserer Kinder (und natürlich zu
unserem eigenen Gutsein): Unsere Kinder sind grundlegend gut. Wir
müssen sie nicht erst lehren, liebenswürdig zu sein. Wir müssen ihnen
vielmehr helfen, mit bestimmten Schwierigkeiten fertigzuwerden, die
von außen manchmal aussehen wie rüdes Verhalten, dem Kind aber
in Wirklichkeit Schutz bieten sollen. Wenn ich Ihnen hier empfehle,
Scham zu lindern, indem Sie Ihrem Sprössling vorleben, wie man sich
entschuldigt (statt von ihm eine Entschuldigung zu erzwingen), dann
tue ich das nicht, weil es sich für das Kind »besser anfühlt«. Ich tue
es, weil dadurch wahrscheinlicher wird, dass das Kind über sein
Fehlverhalten nachdenkt und eine eigene Entschuldigung findet.
Natürlich kann es auch an äußeren Faktoren liegen, wenn unsere
Kinder Scham empfinden – nicht, weil die Kinder irgendetwas
»falsch« gemacht hätten, sondern weil wir bedauerlicherweise in
einer Welt leben, in der man Kinder an Dingen misst, auf die sie
keinen Einfluss haben. Vielleicht denkt Ihr Kind zum Beispiel, dass es
sich für seinen Körper schämen muss, oder dafür, ärmer zu sein als
die Klassenkameraden – es kann ganz schön hart sein, heutzutage
Kind zu sein. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Je mehr Sie Ihrem
Kind helfen, Scham zu lindern und Verbundenheit zu stärken, wo
immer Sie das können, desto eher wird es mit beschämenden
Momenten umgehen können, die sich Ihrem Einfluss entziehen. Denn
ganz egal, weswegen Ihr Kind Scham empfindet, der beste Weg, das
abzustellen, ist immer der gleiche: zu wissen und Ihrem Kind zu
vermitteln, dass es grundlegend gut ist, dass es liebenswert ist und
wertvoll.

Wenn Sie nichts gegen die Scham unternehmen


Gelingt es uns nicht, Scham zu erkennen und zu lindern, und lassen
wir sie in unseren Kindern weiter wuchern, dann gibt es mit Sicherheit
unangenehme Langzeitauswirkungen. Viele Eltern kennen diese heute
aus erster Hand, denn die Generation unserer Eltern hat sich (stark
verallgemeinert) nicht sonderlich darum bemüht, den Gefühlsaspekt
hinter bestimmten Verhaltensweisen anzusprechen. Viele von uns
haben die Scham im Körper gespeichert. Sie hat jene Anteile von uns
in Beschlag genommen, die unsere Eltern abgelehnt haben. Doch
später dann war es plötzlich erlaubt, sich so zu verhalten, wie man es
uns als Kinder noch verboten hat (ja, wir wurden förmlich dazu
ermutigt): zum Beispiel eine kontroverse Meinung zu äußern, klar Nein
zu sagen oder unsere Emotionen zu teilen, sodass andere Menschen
zu uns eine Bindung eingehen konnten. Trotzdem blieb die Scham,
und wir hatten das Gefühl, im Alter von drei oder acht Jahren (oder
wann auch immer sich diese Verhaltensweisen entwickelt haben)
stecken geblieben zu sein. Und statt sie auf reife Art auszuleben,
gehen wir ihnen aus dem Weg, weil sie uns immer noch Angst
machen.
Nehmen wir einmal an, Sie sind in einer Familie aufgewachsen, in
der es wichtig war, »stark« zu sein, was letztlich – wie Sie sehr wohl
wussten – nur hieß, dass man seine Gefühle verbergen musste.
Vielleicht erinnern Sie sich, dass Ihre Eltern Dinge gesagt haben wie:
»Du bist so eine Heulsuse.« Oder: »Du bist ein richtiger Trauerkloß.«
Und: »Kein Mensch will mit dir etwas zu tun haben, wenn du so drauf
bist.« Das familiäre Ethos lautete: »Jetzt reiß dich mal zusammen und
lächle.« Was also passierte mit jenem Teil von Ihnen, der sich
verletzlich fühlte, traurig war oder ängstlich? Nun, er hat gelernt, dass
er sich möglichst nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollte. Im Grunde
bekam er gesagt: »Du bist schlecht! Du bist gefährlich! Sicherheit
heißt, eine Bindung zu anderen zu haben. Und diese Nähe bedrohst
du! Also halt dich gefälligst zurück, um meinetwillen!« Das. Ist.
Scham.
Natürlich ist die Vorstellung, dass dieser Anteil von Ihnen
zwischenmenschliche Bindungen verhindert und zu Vereinsamung
führt, falsch, was die Welt im Großen und Ganzen angeht – Sie
können Gefühle haben und starke Bindungen zu anderen Menschen.
Aber in Ihrer Familie, zu jener Zeit, als sich Ihr Körper fürs
Überleben vernetzte, stimmte diese Vorstellung eben. Und alte
Gewohnheiten sind schwer abzulegen.
Springen wir nun noch einmal ein paar Jahre in die Zukunft. Sie sind
verheiratet und haben Stress im Beruf. Ihre Chefin setzt Sie ständig
herab, Sie haben Angst, Ihre Stellung zu verlieren. Sie stehen
dauernd unter Anspannung. Und Sie spüren diesen Anteil in sich, der
am liebsten heulen würde, sich der Partnerin offenbaren, diese
schreckliche Erfahrung teilen, um endlich irgendwo Unterstützung zu
finden. Da meldet sich aus dem Unbewussten die Lektion aus der
Kindheit zu Wort, die stets Ihr Handeln diktiert: »Unterstützung? Du
glaubst, du bekommst Unterstützung, wenn du dich dermaßen
verwundbar und ängstlich zeigst? Solche Gefühle gefährden die
Beziehung, statt sie zu stärken! Du musst sie auf jeden Fall
unterdrücken, zum eigenen Schutz!« Also reden Sie nicht mit Ihrer
Partnerin oder mit einem Freund. Sie fressen alles in sich hinein, bis
irgendwann ganz automatisch Wut und Frustration aus Ihnen
herausbrechen. Möglicherweise ziehen Sie sich auch ganz von der
Familie zurück. Sie fangen an zu trinken, damit Sie diese Gefühle
wenigstens kurzfristig verdrängen können. Vielleicht spricht Ihre
Partnerin Sie ja an: »Ich habe das Gefühl, dass hier etwas ganz und
gar nicht stimmt. Rede mit mir, lass mich teilhaben.« Aber Ihr Körper
schickt immer noch die Botschaft: »Ha! Darauf falle ich nicht herein!
Ich weiß es besser. ›Lass mich teilhaben‹? Pff, am Ende stehe ich
doch allein da.«
Scham verhindert auch bei Erwachsenen Wachstum und positive
Veränderung. Unsere Scham beeinflusst, wie wir enge Beziehungen
gestalten und aufrechterhalten, wie wir mit unseren Kindern umgehen
und mit ihren schwierigen Momenten. Wenn Sie nun also anfangen,
die Scham bei Ihren Kindern zu erkennen und zu lindern, nehmen Sie
sich doch einen Augenblick Zeit, auch auf sich selbst zu blicken.
Welche Anteile meines Selbst habe ich »wegzusperren« gelernt?
Welchen Einfluss hat dies heute auf mich? Wie triggert mein Kind
manchmal eben diesen Wegsperrreflex? Welche Anteile meines
Selbst brauchen auch heute noch Anerkennung, Mitgefühl und die
Erlaubnis, da zu sein?

Zuallererst: Verbundenheit
Nach vielen Monaten der gemeinsamen Arbeit sagte mir eine meiner
Klientinnen, sie hätte für sich ein Mantra gefunden: »Zuallererst
Verbundenheit!« Sie erzählte, dass sie dieses Mantra zu Beginn jedes
einzelnen Tages spreche. Sie hatte es sogar auf einen Zettel
geschrieben, der an ihrem Kühlschrank klebte. Den Sinn ihres
Mantras erklärte sie so: »Mir scheint hinter allem, was Sie sagen, die
Idee der Verbundenheit zu stehen. Die Verbundenheit kommt an
erster Stelle, alles andere danach. Mein Sohn sagt: ›Ich hasse
dich!‹ – und ich stelle zuerst eine Verbindung her zu dem, was in
seinem Innersten passiert. Meine Tochter hört nicht auf mich – und ich
verbinde mich mit dem, was in ihrem Innersten geschieht. Auch wenn
mein Mann wegen irgendetwas sauer auf mich ist, stelle ich eine
Verbindung her zu dem, was er sagt, bevor ich in
Verteidigungsstellung gehe. Das funktioniert sogar bei mir selbst!
Egal, was ich denke oder fühle, es wird nie schlimm oder
übermächtig, wenn ich die Verbundenheit mit mir selbst und mit
anderen Menschen an erste Stelle setze. Dieses Mantra hat mir in
jeder familiären Situation geholfen.«
Das hat mich beeindruckt: »Zuallererst Verbundenheit.«
Verbundenheit ist das Gegenteil von Scham. Sie ist sogar das richtige
Gegenmittel gegen Scham. Scham ist ein Alarmzeichen dafür, dass
Alleinsein, Gefahr und Schlechtsein droht. Verbundenheit hingegen ist
ein Zeichen für Präsenz, Sicherheit und Gutsein. Eines allerdings
möchte ich klarstellen: Verbundenheit bedeutet nicht Zustimmung. Bei
der Zustimmung geht es meist um ein bestimmtes Verhalten,
Verbundenheit meint hingegen die Beziehung zu der Person, die hinter
dem Verhalten steht.
Und das ist ein weiterer Grund, warum negative Verhaltensweisen
nicht »bestärkt« werden, wenn wir unseren Kindern in ihren
schwierigen Momenten mit Verbundenheit begegnen: Scham hat noch
nie zu positiven Verhaltensänderungen geführt – zu keiner Zeit, an
keinem Ort, bei keinem einzigen Menschen. Scham ist klebrig. Wir
bleiben darin hängen. Verbundenheit ist offen, sie ermöglicht uns,
weiterzugehen. Verbundenheit heißt, dass wir unseren Kindern
signalisieren: »Es ist okay, in diesem Moment du zu sein. Selbst wenn
du zu kämpfen hast, ist es okay, du zu sein. Ich bin hier bei dir, so wie
du bist.«
Kapitel 9

Bleiben Sie bei der Wahrheit


Das klingt geradezu banal, eine Verhaltensregel, die auf der Hand
liegt. Vielleicht sogar die verständlichste Idee im ganzen Buch. Und
doch ist dieser Grundsatz in der Praxis gar nicht so leicht
umzusetzen. Offen mit Ihren Kindern zu reden, ohne Ausflüchte oder
Vorwände, bedeutet, dass Sie zuerst einmal mit Ihren eigenen
Gefühlen ins Reine kommen müssen, auch mit den unangenehmen.
Um Ihrer Kinder willen. Und das fällt den meisten von uns nicht
gerade leicht.
Wenn Sie dieses Buch lesen, betrachten Sie es vermutlich als das
oberste Gebot, stets bei der Wahrheit zu bleiben. Sie glauben nicht,
dass Sie Lügen erzählen. Und das bringen Sie auch Ihren Kindern bei.
Aber wenn sich eine komplexe, vielschichtige Situation ergibt, ist es
nicht immer einfach, bei der Wahrheit zu bleiben. Wenn Ihre Tochter
einen Streit zwischen Ihnen und Ihrem Mann mitangehört hat und Sie
sie hinterher beruhigen wollen, melden sich bei Ihnen vielleicht
Gefühle von Zweifel, Trauer oder Frustration in Bezug auf Ihre
Partnerschaft und die Art, wie Sie damit umgehen. Sich
einzugestehen, dass Sie sich darüber ärgern, dass Ihr Sohn es nicht
in die Fußballmannschaft seiner Schule geschafft hat – und dass
Traurigkeit manchmal längere Zeit anhält –, erinnert uns daran, wie
schwer es auch für uns selbst ist, mit Gefühlen der Zurückweisung
umzugehen. Wenn wir Erfahrungen wie Rassismus erklären müssen,
weckt dies in uns mitunter Wut, Angst oder Schuldgefühle oder eine
Mischung aus alldem. Müssen Sie Ihrem Kind erklären, woher Babys
wirklich kommen – und zwar mit all den körperlichen Details, die es
unbedingt verstehen will –, dann kommen vielleicht komplexe Gefühle
an die Oberfläche, die damit zu tun haben, wie Geschlecht und
Sexualität in Ihrer Ursprungsfamilie behandelt wurden.
Wie gut wir mit unseren Kindern über wichtige, heikle und bittere
Wahrheiten reden können, hängt davon ab, wie gut wir mit unseren
Emotionen umgehen können, die dabei unweigerlich ausgelöst
werden. Daher ist die Arbeit an uns selbst eines der wichtigsten
Prinzipien bei der Erziehung unserer Kinder. Je besser wir unsere
eigenen Schaltkreise kennen, je mehr wir selbst darüber gelernt
haben, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen, desto eher können
wir für unsere Kinder da sein. Unsere erzieherischen Fähigkeiten
hängen eng zusammen mit unserer Bereitschaft, uns auf unsere
persönlichen Wahrheiten einzulassen. Wenn dies gelingt, können wir
auch die nötige Verbundenheit mit unseren Kindern aufbauen.
Eltern befürchten meist, dass die Wahrheit für ihre Kinder zu
erschreckend, ja einfach zu viel ist, aber normalerweise ist uns nicht
klar, was Kindern denn nun wirklich Angst macht. Es ist weniger die
Information selbst, die sie beunruhigt, als das Gefühl, verwirrt, allein
und ganz im Ungewissen zu sein. Kinder bemerken Veränderungen
in ihrem Umfeld sehr genau. (»Warum reden plötzlich alle über
›Erdbeben‹?« Oder: »Warum sehen meine Eltern so besorgt aus?«
Und: »Was hatte das Gespräch über Oma, das ich gehört habe, wohl
zu bedeuten?«) Wenn sie auch nicht verstehen, was sich verändert,
die Angst dahinter spüren sie. Sie fühlen die Bedrohung, bis ein
Erwachsener kommt und sie abstellt, sodass sie sich wieder sicher
fühlen können. Das liegt einfach an der Entwicklungsgeschichte des
Menschen: Wenn ein Kind im Wald ein Rascheln hört, dann muss es
annehmen, dass da ein Bär lauert, bis ein Erwachsener ihm sagt,
dass es nur ein Eichhörnchen war. Oder der Erwachsene entdeckt
tatsächlich einen Bären. Wie auch immer, das Kind verspürt Angst,
bis ein Erwachsener kommt. Und sogar dann, wenn dieser »das
Schlimmste« bestätigen sollte, fühlt sich das Kind sicherer, weil der
Erwachsene jetzt da ist, um es zu beschützen. Unsere
unterstützende, ehrliche, fürsorgliche Präsenz wiegt Kinder in
Sicherheit. Wenn sie die Gewissheit haben, dass sie sich auf uns
verlassen können, sind selbst schwierige Wahrheiten leichter zu
verdauen.
Und wenn kein Erwachsener da ist? Wenn ein Kind eine als
bedrohlich empfundene Veränderung wahrnimmt und mit seiner Angst
ohne jede Erklärung allein gelassen wird? Die Psychologie kennt
dafür einen Fachbegriff: »unformulierte Erfahrung«.6 Gemeint ist
damit im Grunde das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, ohne
dass man erklären kann, was da passiert. Unformulierte Erfahrungen
sind für ein Kind beängstigend, weil das Gefühl, dass »etwas nicht
stimmt«, den ganzen Körper erfasst, ohne dass das Kind einen
Sicherheitsanker findet. Müssen Kinder Erklärungen für unklare
bedrohliche Erfahrungen ohne die Unterstützung von Erwachsenen
finden, greifen sie zu Strategien, die ihnen das Gefühl vermitteln
sollen, ein Mindestmaß an Kontrolle zu haben: Selbstvorwürfe (»Ich
muss das durch mein Verhalten ausgelöst haben. Ich bin schlecht.
Niemand kommt mit mir zurecht.«) und Selbstzweifel (»Ich habe die
Anspannung um mich herum falsch verstanden. Ich kann mich auf
meine Gefühle nicht verlassen. Wenn wirklich etwas anders wäre,
würden meine Eltern ja mit mir darüber reden.«).
Was kann man stattdessen tun? Geben Sie dem Kind klare, direkte,
ehrliche Informationen, während es eng mit Ihnen verbunden ist, mit
seinem liebenden, vertrauenswürdigen Erwachsenen. So fühlen
Kinder sich sicher und können Resilienz entwickeln. Um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich halte überhaupt nichts
davon, Kinder unnötig zu erschrecken. Ganz im Gegenteil: Ich bin
eine leidenschaftliche Verfechterin der Befähigung. Und Kinder eignen
sich oft Fähigkeiten an, indem sie lernen, wie sie mit Stress umgehen
können. Dazu aber braucht es Eltern, die bereit sind, sich der
Wahrheit Schritt für Schritt anzunähern, statt ihr aus dem Weg zu
gehen. Der Pfad zur Emotionsregulierung beginnt mit dem
Verstehen. Sieht das Kind, wie der Erwachsene mit schwierigen
Wahrheiten umgeht, lernt es dabei, seine eigenen Gefühle in den Griff
zu bekommen.
Natürlich hängt es immer von der jeweiligen Situation ab, was genau
»die Wahrheit« ist. Sie müssen Ihrem Kind nicht gleich sämtliche
Fakten ungeschminkt servieren. Häufig kennen Sie diese auch selbst
nicht. Daher möchte ich Ihnen hier vier verschiedene Ansätze
vorstellen, wie Sie Ihrem Kind die Wahrheit einer spezifischen
Situation vermitteln können: durch Bestätigen der Wahrnehmungen
des Kindes; Würdigen seiner Fragen; Benennen dessen, was Sie
nicht wissen, und Konzentration auf das Wie statt auf das genaue
Was.

Die Wahrnehmung bestätigen


Wenn ich mit meinen Kindern in eine dieser »Wahrheitssituationen«
gerate, fange ich meist so an: »XY ist passiert. Du hast ganz recht,
wenn dir das aufgefallen ist.« Das ist ein entscheidender Punkt.
Unsere Kinder spüren und sehen vieles von dem, was um sie herum
vorgeht. Sie haben nur nicht genug Lebenserfahrung, um zu
unterscheiden, was gefährlich, was einfach nur störend und was
sicher ist. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass
Kinder in ihrer Umgebung mehr Details bemerken als Erwachsene.
Wir sagen uns oft Dinge wie: »Mein Kind ist viel zu klein, um so etwas
zu bemerken.« Oder: »Ich glaube nicht, dass er das mitbekommen
hat.« Leider ist das keineswegs der Fall. Wenn Sie etwas in Ihrer
Umgebung bemerkt haben, dann hat Ihr Kind das ebenfalls registriert.
Kinder sind im Allgemeinen hilflos – daher sind sie gute Beobachter,
denn Veränderungen (d. h. potenzielle Bedrohungen) zu erkennen, ist
der Weg zu mehr Sicherheit.
Nehmen wir einmal an, Sie und Ihre dreijährige Tochter spielen
gerade mit Bauklötzchen. Ihr Partner saugt den Flur. Ein Staubsauger
macht Erwachsenen gewöhnlich keine Angst. Wir haben genug
Lebenserfahrung, die uns sagt, dass der Staubsaugerlärm mit einer
sinnvollen »Geschichte« zusammenhängt: Da wird sauber gemacht,
und wir sind daher völlig sicher. Für ein kleines Kind kommt der
plötzliche Lärm eher unerwartet. Vielleicht fängt es an zu weinen,
klammert sich an Sie oder läuft vor dem Staubsauger weg. Um die
Wahrnehmung des Kindes zu bestätigen, können Sie sagen: »Wir
haben mit Bauklötzchen gespielt und dann hat Papa den Staubsauger
eingeschaltet. Das war ziemlich laut … und es hat dich überrascht …
Ich weiß, laute Dinge, die wir nicht erwarten, erschrecken uns
manchmal. Das war der Staubsauger. Staubsauger machen immer
Lärm! Aber ich bin ja da. Du bist ganz sicher.«
Ihr Kind will Sie nicht ärgern oder aus einer Mücke einen Elefanten
machen. Es ist ja nicht der Staubsauger, der Ihr Töchterchen
erschreckt, sondern ein plötzliches, lautes Geräusch, das es nicht
versteht. Zielsetzung in diesem Szenario ist nicht, dass das Kind das
Gedröhne überhören soll. Es geht vielmehr darum, dass es eine
Geschichte rund um das Geräusch entwickeln kann. Sobald Kinder
lernen, das Geräusch des Staubsaugers mit einer solchen Geschichte
zu verbinden, und dabei die sichere Gegenwart ihrer Eltern spüren,
verliert das Geräusch seinen Schrecken.
Dieser Ansatz ist auch von Bedeutung für Situationen, auf die ein
Kind nicht sichtbar reagiert. Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre
Partnerin streiten sich in der Küche, während Ihr Sohn zu Abend isst.
Das Ganze schaukelt sich auf, und Sie werfen sich gegenseitig
lautstark Beschimpfungen an den Kopf. Ihre Stimmen klingen wütend,
und man kann Ihnen beiden am Gesichtsausdruck ansehen, wie
aufgebracht Sie sind. Zu benennen, was wahr ist, könnte sich da so
anhören: »Mama und ich haben gerade sehr laut gesprochen. Das
hast du ganz richtig bemerkt.« Würde ich das auch sagen, wenn mein
Sohn einfach weiterfuttert und nicht so aussieht, als würde er eine
Erklärung brauchen? Absolut! Ich weiß, dass Kinder darauf
programmiert sind, solche Dinge zu registrieren. Daher würde ich
annehmen, dass mein Kind zwar gelassen wirkt, die Angst sich jedoch
gerade in seinen Körper eingräbt. Und ich möchte es nicht damit allein
lassen. Meine Erklärung der »lauten Stimmen« war recht simpel – ich
habe sie erwähnt und dadurch die Wahrnehmung meines Kindes
bestätigt. Und das ist wirklich wichtig. Die Wahrheit zu sagen, heißt
häufig auch, die einfachste und klarste Version der Ereignisse zu
präsentieren. Dabei muss ich mich selbst oft erinnern: »Sag nur, was
passiert ist. Benenne es und liefere keine komplizierten Erklärungen.«
So kann ich meinem Kind geben, was es in diesem Moment am
meisten braucht: mein Dasein und eine Geschichte, die es verstehen
kann.
Natürlich kann ich, abhängig von der Situation, auch mehr tun. Ich
könnte meinem Kind versichern, dass es keine Schuld trägt (das ist
vor allem dann gut, wenn ein Kind die heftigen Gefühle bei Ihnen
bemerkt oder einen Streit zwischen Erwachsenen mitbekommen hat).
Oder ich kann mir ein Mantra ausdenken, das die Sorgen meines
Kleinen beruhigt (nützlich beim Staubsaugerdilemma: »Das ist laut,
aber ich bin sicher. Das ist laut, aber ich bin sicher.«) Aber all diese
Dinge greifen erst dann, wenn wir die Wahrnehmung des Kindes als
korrekt bestätigt haben.
Das ist aus folgendem Grund unbedingt nötig: Wenn wir nicht richtig
benennen, was passiert ist, wenn wir einfach davon ausgehen, dass
das keine große Sache war oder unser Kind noch zu klein ist, um
darauf zu achten, dann lernt unser Kind, an seiner Wahrnehmung zu
zweifeln. Für das Kind heißt das: »Hm, vielleicht hat sich in meinem
Umfeld gar nichts geändert. Vielleicht habe ich mich geirrt.« Mit der
Zeit schleift sich diese Botschaft dann ein. Das ist, als würden wir
unseren Kindern beibringen, vor den Tatsachen die Augen zu
verschließen. Und diese Gewohnheit macht sich dann auch im
Teenager- oder Erwachsenenalter bemerkbar. Sie möchten, dass Ihr
Sohn sich Freunden gegenüber traut, seine Meinung zu sagen und
sich dem Gruppendruck zu widersetzen? Wenn ein Kind sagen soll:
»He, das fühlt sich nicht richtig an. Ich mache das nicht«, dann muss
es gelernt haben, seiner Umweltwahrnehmung und seinen Gefühlen
zu vertrauen. Sie möchten, dass Ihre Tochter für sich einsteht, wenn
sie sich bei einem Date nicht wohlfühlt? Wenn sie als Kind von ihren
Eltern gehört hat, dass ihre Wahrnehmung richtig ist (was ihr
Selbstvertrauen gestärkt hat), dann neigt sie eher zu Ansagen wie:
»Nein, das möchte ich nicht.« Oder: »Hör auf, ich mag nicht.«
Wenn Sie die Wahrnehmung Ihres Kindes bestätigen, befähigen Sie
es, auch später im Leben zu erkennen, wenn etwas nicht richtig läuft.
Und Sie geben ihm die Kraft und das Selbstvertrauen, den Mund
aufzumachen. Diese Fähigkeit entwickelt sich nicht von selbst, wenn
unser Nachwuchs erst einmal ins Teenager- oder Erwachsenenalter
kommt – sie schreibt sich schon in jungen Jahren in unseren Körper
ein. Sollten Sie nun erschrocken ausrufen: »Oh mein Gott! Mein Kind
ist schon vierzehn und ich habe das nicht gemacht. Ich habe die
entscheidende Phase verpasst!«, so möchte ich Ihnen eines der
wichtigsten Prinzipien in Erinnerung rufen: Es ist nie zu spät! Wir
können das Gehirn immer wieder neu vernetzen. Reden Sie mit Ihrem
Vierzehnjährigen über Ihren Erziehungsstil, über Ihre Einsichten und
darüber, dass Sie jetzt einiges anders machen wollen. Versuchen Sie
es mit Sätzen wie: »Es ist absolut in Ordnung, wie du dich fühlst.«
Oder: »Du steckst in deinem Körper. Nur du kannst wissen, wie sich
das anfühlt oder was du möchtest.« Sie schaffen das.

Die Fragen Ihres Kindes würdigen


Nun zu den Fragen. Was tun, wenn unsere Kinder Fragen stellen, bei
denen wir uns innerlich winden, weil sie viel zu »reif« für ihr Alter
sind? Fragen wie: »Wirst du eines Tages sterben?« Oder: »Okay,
aber wie kommt das Baby in den Bauch hinein?«
Wenn Sie so sind wie die meisten Eltern, dann haben Sie jetzt den
starken Impuls, sich um diese Fragen irgendwie herumzumogeln, weil
Sie denken, dass Ihr Kind für diese Information noch nicht bereit ist.
Ich sehe das so: Wenn Kinder solche Fragen stellen, dann sind sie
auch bereit für die Antworten. Oder zumindest für eine erste Antwort
mit echten Worten und echten Wahrheiten. Danach können Sie
innehalten und erspüren, ob es noch weitere Erklärungen braucht.
Anders als es auf den ersten Blick aussieht, ist eine Frage nicht bloß
ein Zeichen für Unwissenheit. Sie signalisiert auch, dass es ein
Bewusstsein für die Antwort gibt und zumindest die Bereitschaft,
etwas zu lernen.
Um eine Frage zu stellen, müssen wir ein grundlegendes Wissen
besitzen und neugierig sein. Nehmen wir einmal an, ich habe eine
Freundin, die Physikerin ist, und sie erzählt mir: »Becky, ich führe
gerade eine Studie über molekulare Photolyse durch. Das ist so
aufregend! Du kannst mich alles fragen, was du darüber wissen
willst!« Schön, aber ich wüsste nicht, was ich fragen sollte. Ich habe
von molekularer Photolyse keine Ahnung. Ich könnte höchstens
fragen: »Was ist das?« Könnte ich tiefergehende Fragen stellen,
hieße das, dass ich mich mit dem Thema bereits beschäftigt habe.
Kinder, die über die anatomischen Einzelheiten der Empfängnis
Bescheid wissen wollen, haben schon Überlegungen angestellt, wie
das Ganze vor sich gehen könnte. Kinder, die Fragen stellen,
brauchen Antworten, damit sie mit den Gefühlen, Gedanken und
Bildern nicht allein bleiben, die sie sich längst gemacht haben. Also
vergessen Sie besser Ihren »So weit ist er/sie noch nicht«-Impuls und
erinnern sich: »Bereit oder nicht, die Grundlagen sind da.«

Benennen, was Sie nicht wissen


Manchmal aber können wir als Eltern die Fragen unserer Kinder nicht
wahrheitsgemäß beantworten – nicht, weil wir nicht wollen, sondern
weil wir die Antworten nicht kennen. Unseren Kindern ehrlich zu
sagen, was wir nicht wissen, ist ein weiterer wichtiger Schritt auf
dem Wahrheitspfad. In den ersten Tagen der Corona-Pandemie
haben viele Eltern mir gesagt: »Ich weiß nicht, was vorgeht. Daher
kann ich meinem Kind nicht sagen, dass das alles bald zu Ende sein
wird.« Sie haben das fehlende Wissen als Rechtfertigung genutzt, um
nicht mit den Kindern über das Virus und die Veränderungen in ihrem
Leben reden zu müssen. Dabei ist der entscheidende Punkt doch
dieser: Kinder brauchen keine Versicherungen in puncto Zukunft. Sie
müssen sich im gegenwärtigen Moment unterstützt fühlen. Sie
brauchen keine Antworten, sondern das Gefühl, mit ihren Emotionen
nicht allein zu sein. Im Grunde ist es genau das, was auch
Erwachsene brauchen und was wir so früh wie möglich in den
Körpern unserer Kinder verankern sollten: Du wirst nicht immer alle
Antworten kennen, aber du kannst daran arbeiten, dich im
gegenwärtigen Augenblick sicher und kompetent zu fühlen.
Wenn ich keine klaren Antworten habe, verwende ich eine
»Folgendes weiß ich nicht und Folgendes weiß ich«-Formulierung.
Der »Folgendes weiß ich«-Anteil besteht in diesen Fällen im
Wesentlichen darin, dass ich meine Präsenz unterstreiche und meine
Fähigkeit, für mein Kind da zu sein. Das ist schließlich das Einzige,
was wirklich sicher ist. Ich sage dann vielleicht in etwa: »Du machst
dir Sorgen, weil du heute Blut abgenommen bekommst. Ich weiß
nicht, wie lange das dauern wird oder wie sehr es weh tun wird. Ich
weiß aber: Es wird wehtun, und dann wird es irgendwann wieder
aufhören wehzutun. Ich werde die ganze Zeit bei dir sein. Wir stehen
das zusammen durch.«
Oder nehmen wir ein schwerwiegenderes Problem: Sie sagen Ihrem
Sohn, dass Oma Krebs hat. Er fragt: »Aber sie wird doch wieder
gesund? Geht es ihr nicht bald besser?« Wenn Sie hier die Wahrheit
sagen über das, was Sie nicht wissen, hört sich das vielleicht so an:
»Eine gute Frage. Ich hoffe, es geht ihr bald besser, Schatz. Die
Wahrheit ist … wir wissen es nicht. Keiner weiß, ob es ihr besser
gehen wird. Aber ich weiß, dass ich dir die Wahrheit sagen werde,
auch wenn sie sich nicht gut anfühlt. Und dass ich immer für dich da
bin, welche Gefühle das mit Oma auch immer in dir auslöst.«

Die Konzentration auf das Wie


Wenn Eltern sich vorgenommen haben, ehrlich zu kommunizieren,
versteifen sie sich häufig zu sehr auf das Was, also auf den Inhalt
der Worte: »Was soll ich zu meinem Kind sagen, um ihm
beizubringen, dass sein Opa gestorben ist?« Oder: »Mit welchen
Worten soll ich ihm erklären, warum manche Menschen obdachlos
sind?« Und: »Wie soll ich meinem Kind verständlich machen, dass wir
meinen Bruder nicht mehr besuchen, weil sein Verhalten anderen nicht
guttut und er sich nie ändern wird?« Kurze Pause! Es gibt keine
vollkommenen Worte für unvollkommene Situationen. Tatsächlich ist
das Wie, mit dem Sie solche Botschaften vermitteln, wichtiger als die
genauen Worte – unser Sprechtempo, unser Tonfall, zwischendurch
innezuhalten, zu erfragen, wie es dem Kind geht, es zu umarmen,
Sätze wie »Was für eine wichtige Frage« oder »Ich bin froh, dass wir
das besprechen«. Und selbst wenn es eine perfekte Formulierung
gäbe: Worte, die kalt und unbeteiligt gesprochen werden, die auf die
Erfahrung Ihres Kindes nicht eingehen, werden es trotzdem verwirrt,
einsam und überfordert zurücklassen. Ihr Kind und sein Körper
werden sich in erster Linie an Ihre liebevolle Präsenz erinnern, an die
Aufmerksamkeit, die Sie ihm geschenkt haben.
Wenn Sie mit Ihrem Kind über schwierige Wahrheiten reden müssen,
sollten Sie es auf das, was kommt, vorbereiten. Ich sage zum
Beispiel: »Ich möchte mit dir über etwas reden, das in uns allen
starke Gefühle auslösen wird.« Sagen Sie das langsam, und sehen
Sie Ihrem Kind dabei in die Augen. Dann atmen Sie tief durch – so
erden Sie Ihren eigenen Körper und können diese Stärke auch Ihrem
Kind »leihen«, damit es sich in solch einem schwierigen Moment
regulieren kann. Auf jeden Fall sollten Sie ehrliche Worte verwenden
und auf Schönfärberei verzichten. Beschreiben Sie, was passiert ist.
Zum Beispiel: »Heute ist Opa gestorben. Sterben heißt, dass der
Körper aufhört zu arbeiten.« Und nicht: »Opa ist von uns gegangen.«
Oder: »Opa hat sich für lange Zeit schlafen gelegt.« Nachdem Sie so
eine schwierige Wahrheit verkündet haben, legen Sie eine Pause ein.
Haken Sie nach, wie es Ihrem Kind damit geht, bevor Sie
weitermachen. Zum Beispiel: »Wie fühlt es sich für dich an, darüber
zu reden?« Oder: »Es ist in Ordnung, wenn du jetzt traurig bist. Mir
geht es genauso.« Vielleicht schauen Sie Ihr Kind liebevoll an und
legen Ihre Hand auf seinen Rücken.
Wenn Ihr Kind seine Gefühle mitteilt – mit Worten (»Ich bin echt
traurig«) oder anderweitig (durch Weinen oder einen wütenden
Blick) –, bestätigen Sie seine Emotionen und geben ihm so die
Erlaubnis, zu fühlen. Sollte Ihr Kind eine Frage stellen, die eine
schwierige Antwort erfordert, fangen Sie vielleicht besser an mit:
»Das ist eine wirklich wichtige Frage. Ich werde dir darauf antworten.
Das ist möglicherweise nicht ganz leicht zu hören, aber ich bin bei
dir.« Vielleicht möchten Sie sich auch erst sammeln, bevor Sie
antworten: »Das ist eine sehr gute Frage, und ich möchte dir eine
ebenso gute Antwort geben. Aber ich brauche ein wenig Zeit, um
darüber nachzudenken. Wenn ich die Antwort dann weiß, werde ich
sie dir auf jeden Fall sagen, weil es mir so wichtig ist, deine Fragen
zu beantworten.« Der entscheidende Punkt ist, dass Sie dann
unbedingt wirklich antworten, wenn Sie bereit sind, auch wenn Ihr
Kind seine Frage nicht wiederholen sollte. Andernfalls wird es nur
mehr Angst empfinden, weil es mit den Gefühlen und dem Wissen
allein ist, die es überhaupt erst dazu gebracht haben, diese Frage zu
stellen. Vor allem vergessen Sie eines nicht: Tränen sind erlaubt, auch
Ihnen. Machen Sie klar, dass dies Ihre Gefühle sind und dass Sie
trotzdem der starke Elternteil sind, der für seine Kinder da ist, auch
wenn Sie selbst intensive Gefühle verspüren. Niemand ist gegen
Emotionen immun. Ihren Kindern zu zeigen, dass auch Erwachsene
schwierige Gefühle haben, dass auch Sie damit ringen und sie
verarbeiten müssen, ist vermutlich die beste Lektion, die Sie Ihren
Kleinen mitgeben können.
Kapitel 10

Selbstfürsorge
Es gibt ein paar Dinge, die ich später einmal nicht gerne von meinen
Kindern hören möchte: »Meine Mutter? Sie hat alles für mich getan.«
Oder: »Bei meiner Mutter kam ich immer zuerst.« Und: »Meine
Mutter hat sich nie um sich selbst gekümmert. Sie war immer voll
damit beschäftigt, uns zu versorgen.« Ich hoffe, dass sie nie eine wie
auch immer geartete Version der Worte sagen: »Meine Mutter hat
sich bei meiner Erziehung vollkommen aufgerieben.«
Was aber möchte ich meine Kinder gerne sagen hören? Wie wäre
es mit: »Meine Mutter? Sie wusste genau, wann sie Zeit für sich
selbst brauchte, und hat genau das richtige Gleichgewicht zwischen
ihren und meinen Bedürfnissen gefunden«? Oder: »Meine Mutter war
ein wunderbares Beispiel für Selbstfürsorge. Sie hat mir beigebracht,
wie wichtig es ist, sich um sich selbst zu kümmern, und dass man
sich trotzdem auch anderen Menschen zuwenden kann.« Vielleicht
sogar: »Meine Mutter hat mir gezeigt, dass Elternsein nicht heißt,
sich selbst zu verlieren. Bei der Elternschaft geht es vielmehr darum,
sein Kind dabei zu unterstützen, zu wachsen und sich zu entwickeln,
während man sich gleichzeitig selbst weiterentwickelt.«
In der heutigen Welt der intensivierten Elternschaft herrscht ein
weitverbreitetes Missverständnis: dass Kinder zu haben bedeutet, die
eigene Identität aufzugeben. Dass wir, sobald wir uns um kleine
Kinder zu kümmern haben, kein Anrecht mehr darauf haben, etwas
für uns selbst zu tun. In Wirklichkeit nutzt diese selbstlose
Elternschaft keinem: den Eltern nicht, die erschöpft und nachtragend
werden, wenn sie so viel von sich geben, ohne dann wieder
aufzutanken, und den Kindern nicht, die merken, wie kaputt ihre Eltern
sind und deshalb Gefühle der Schuld, der Angst und der Unsicherheit
entwickeln.
Dass Eltern mit der Selbstfürsorge Probleme haben, hat viele
Gründe. Sie fürchten, »egoistisch« zu sein. Sie stehen unter dem
Druck, jeden freien Moment der »Verbesserung« ihrer Kinder widmen
zu wollen, damit sie einmal »Erfolg« haben. Oder sie haben einfach
nicht die Zeit und Energie, nach einem langen Tag noch etwas für sich
selbst zu tun. Für Eltern, die mehrere Jobs haben oder lange
Arbeitszeiten oder keine zuverlässige Kinderbetreuung, liegt jede
Form von Selbstfürsorge schlichtweg außer Reichweite.
Und haben Eltern dann doch einmal Gelegenheit, ihre Batterien
wieder aufzuladen, entwickeln sie Schuldgefühle, die sich noch
verstärken, wenn die Kinder lauthals protestieren. Wenn Sie
beispielsweise einmal Nein sagen zum Spielnachmittag Ihres
Jüngsten (ein kleiner Akt der Selbstfürsorge), dann wirft Ihr Kind
Ihnen vielleicht an den Kopf: »Ich kann keine Freunde einladen, weil
du keine anderen Leute im Haus haben willst?« Wenn Sie sich für
einen geruhsamen Spaziergang entscheiden, dann heißt es
womöglich: »Du gehst alleine spazieren? Du willst nicht mit mir
zusammen sein?« Und wenn Sie sich dann tatsächlich mal wieder mit
Freund*innen verabreden, ist die Kleine empört: »Du gehst lieber mit
Freunden weg, als mich ins Bett zu bringen?«
Aber trotz aller Behauptungen des Gegenteils fühlen Kinder sich
sicher, wenn Eltern Grenzen setzen, mit denen sie sich Raum zur
Selbstfürsorge geben. Schließlich sind Eltern die
Führungspersönlichkeiten in der Familie, und Kinder wollen sehen,
dass diese stark und selbstsicher sind. Selbstlose Eltern – das heißt,
dass die Führungsgestalt kein Selbst hat. Und diese Vorstellung
macht jedem Kind Angst. Kinder möchten keineswegs das Gefühl
haben, dass ihr Oberhaupt jemand ist, der nicht greifbar ist, von
anderen missachtet oder übergangen wird, sich selbst verloren hat.
Niemand ist von Natur aus darauf programmiert, die eigenen
Bedürfnisse für die eines anderen zurückzustecken. Wenn Sie dazu
neigen, sich für das Familiensystem aufzuopfern, dann haben Sie
diese Werte vermutlich in der frühen Kindheit gelernt, während die
Schaltkreise Ihres Körpers sich gerade entwickelten.
Haben Sie also tatsächlich Probleme damit, etwas für sich selbst zu
tun, sollten Sie mit Selbstmitgefühl anfangen. Sagen Sie sich: »In
meiner frühen Kindheit muss eine meiner Überlebensstrategien
gewesen sein, die Bedürfnisse anderer zu erspüren. Und das hat so
viel Raum eingenommen, dass ich nicht auf meine eigenen
Bedürfnisse achten konnte.«
Wir müssen lernen, unsere Denk- und Verhaltensmuster zu
respektieren, bevor wir uns der Herausforderung stellen, sie zu
ändern und etwas Neues auszuprobieren. Wir müssen unsere inneren
Kämpfe verstehen, damit wir Zugang zu unserem grundlegenden
Gutsein finden. Ohne diesen Zugang kann kein Wandel stattfinden.
Nachdem wir uns so mit Güte begegnet sind, können wir unseren
inneren Dialog ändern und sagen: »Ich arbeite an einem neuen
Muster. Ich versuche, meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu
ergründen und zu lernen, dass diese wertvoll sind. Wenn ich etwas
Neues ausprobiere, wird mein Körper sich unwohl fühlen. Das
Unwohlsein ist ein Zeichen, dass ich einen neuen Schaltkreis lege, der
in meiner frühen Kindheit nicht vorhanden war. Mein Unwohlsein ist ein
Signal, dass ein Wandel stattfindet … und kein Beleg dafür, dass ich
etwas falsch mache.«
Selbstfürsorge kann sich außer Reichweite anfühlen, wenn wir sie
als eine weitere Aufgabe auf unserer To-do-Liste betrachten. »Wie
bitte? Ich muss erst alles Mögliche an mir selbst ändern, bevor sich
etwas in der Beziehung zu meinen Kindern verändert?« Aber natürlich
können Sie auch einen anderen Blickwinkel einnehmen, der die
Hoffnung sichtbar werden lässt, die darin liegt: »Mir bietet sich hier
eine echte Chance. Ich kann meine eigenen Wunden heilen, während
ich gleichzeitig meine Kinder auf eine Weise erziehe, die mich stolz
macht. Beides ist gleichzeitig möglich.«
Über elterliche Selbstfürsorge könnte ich ein ganzes Buch schreiben.
Tatsächlich würde ich das auch gerne tun, aber erst nachdem ich
nach dem Schreiben dieses Buches meine Reserven wieder aufgefüllt
habe: mit Ruhe und Auszeit vom Schreiben, um das Bedürfnis meines
Körpers nach Stille und Erholung zu erfüllen. In der Zwischenzeit
möchte ich Ihnen ein paar meiner liebsten Selbstfürsorgestrategien
ans Herz legen, die Sie auch anwenden können, wenn Sie nur wenig
Zeit haben. Denn wir können unseren Kindern nur dann unsere
Energie widmen, wenn wir selbst genug davon zur Verfügung haben.
Wir können nicht geduldig sein, wenn wir keine Geduld mit uns selbst
haben. Wir können uns nicht äußerlich wandeln, wenn wir innerlich
nicht die nötigen Grundlagen schaffen. Unsere Beziehung zu anderen
Menschen kann nur so gut sein wie die Beziehung zu uns selbst.

Tipps zur Selbstfürsorge


1. Atmen
Ja, ich weiß. Jeder redet heute übers Atmen und wie wichtig das
ist … Sie können es nicht mehr hören. Ich verstehe das. Und doch:
Ich kann das Thema nicht ignorieren, und ich würde Sie dringend
bitten, es auch nicht zu tun. Und das hat seinen Grund: Jede
Strategie der Selbstfürsorge, die ich anbieten kann, funktioniert nur,
wenn wir uns zuerst erden, damit wir überhaupt Zugang finden zu
jenen Gehirnbereichen, auf die diese Strategien einwirken. Und es
gibt nichts, was uns mehr erdet als tiefes Atmen. Der Atem ist der
Schlüssel zu dem inneren Raum, in dem all Ihre
Bewältigungsmechanismen zu Hause sind.
Tiefes Atmen ist so effektiv, weil es wichtige körperliche Prozesse
regelt, vor allem jene, die uns helfen, unser Stressniveau und den
Blutdruck zu senken. Die Zwerchfellatmung, auch bekannt als
»Bauchatmung«, regt den Vagusnerv an, den längsten und
komplexesten aller Hirnnerven. Der Vagusnerv ist einer der
Hauptbestandteile Ihres parasympathischen Nervensystems, auch
das »Ruhe- und Erholungssystem« genannt (der Gegenspieler des
Sympathikus bzw. »Kampf- oder Flucht-Systems«). Er verhilft dem
Körper zu einem Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. In anderen
Worten: Die tiefe Bauchatmung aktiviert Schaltkreise im Körper, die
einen Beruhigungsprozess einleiten. Wenn wir aufgewühlt, wütend,
frustriert, ängstlich oder aus dem Gleichgewicht sind, schaltet die
tiefe Bauchatmung jene Gehirnareale ein, die die Botschaft senden:
»Du bist sicher … alles ist in Ordnung … du wirst auch diesen Sturm
überstehen.« Sobald unser Körper sich wieder selbst reguliert,
können wir gute Entscheidungen treffen und mit uns selbst und
anderen Menschen auf eine Weise umgehen, die sich gut anfühlt.
Und so geht’s:
Ich wende dabei die »Heiße Schokolade«-Atmung an, die ich auch
meinen Kindern beibringe. Üben Sie also ruhig zusammen mit Ihren
Kleinen.

Setzen Sie sich bequem auf den Stuhl. Beide Fußsohlen ruhen
sicher auf der Erde, der Rücken ist gerade.
Schließen Sie die Augen oder richten Sie Ihren Blick locker auf
einen Punkt am Boden.
Legen Sie eine Hand auf den Bauch, die andere auf die Brust.
Nun stellen Sie sich vor, dass Sie eine Tasse heiße Schokolade
vor sich haben. Atmen Sie langsam ein, um den Duft der
Schokolade ganz auszukosten. Atmen Sie so langsam aus, dass
Sie die Sahne nicht wegpusten, die auf der Oberfläche
schwimmt. Sie können sich auch vorstellen, dass Sie einen
Strohhalm zwischen den Lippen halten. Dadurch verlangsamt
sich Ihre Ausatmung weiter. Langsames Ausatmen ist der
Schlüssel zur Entspannung. Wiederholen Sie das fünf- bis
zehnmal.
Es ist ganz normal, wenn Ihre Gedanken Sie ablenken.
Benennen Sie die Gedanken, die aufkommen. Sagen Sie:
»Hallo, Gedanke.« Oder: »Hallo, Sorge.« Und: »Hallo,
Planung.« Dann atmen Sie wieder ein.

2. Annehmen, Anerkennen, Zulassen


Wenn Sie Ihren Gefühlen ausweichen, hat das nie den Effekt, den Sie
gerne hätten. Je mehr Sie Kummer vermeiden wollen, je mehr Sie ihn
krampfhaft zu verdrängen versuchen, desto schlimmer wird er. Unser
Körper interpretiert Verdrängung als Signal der Gefahr und löst unser
inneres Alarmsystem aus. Je mehr Energie wir aufwenden, um
Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer wegzuschieben, desto stärker
melden diese sich wieder zurück. Statt unsere Gefühle zu
verdrängen, sollten wir es anders angehen. Zum Beispiel indem wir
uns sagen: »Die [Angst/Wut/Trauer] ist nicht mein Feind. Meine
[Angst/Wut/Trauer] darf hier sein. Ich werde mit dem unangenehmen
Gefühl fertig.« Diese Taktik ist bei jedem unangenehmen Gefühl
nützlich. Wenn Sie das nächste Mal den Eindruck haben, in einer
Emotion, die Sie lieber vermeiden würden, förmlich zu ertrinken,
erinnern Sie sich an dieses Procedere: erst annehmen, dann
bestätigen, dann zulassen. Wenn es ein Geheimrezept für die
Selbstregulierung gibt, dann ist es dieses.
Und so geht’s:

Annehmen: Benennen Sie Ihr Gefühl. Zum Beispiel: »Das ist


wirklich ein schlimmer Moment.« Und: »Heute war ein harter
Tag.« Oder: »Ich merke, dass ich jetzt ängstlich bin.« Und: »Mir
ist eng um die Brust, mein Herz rast.«
Anerkennen: Respektieren Sie Ihre Gefühle und machen Sie
sich klar, dass diese nicht lügen. Nun erzählen Sie sich eine
Geschichte darüber, warum Ihre Gefühle sinnvoll sind. Zum
Beispiel: »Ich bin total erschöpft. Zwei Kinder versorgen und
das Abendessen zubereiten, während sie miteinander
streiten … kein Wunder, dass sich das schlimm anfühlt.« Oder:
»Meine Chefin hat mich angeschnauzt, und mein Freund hat das
gemeinsame Abendessen abgesagt. Das war kein einfacher
Tag.« Oder: »Ich habe so viel um die Ohren, so viel zu tun. Mein
Gehirn ist mit all den Aufgaben überfordert. Da ist es klar, dass
sich mein Körper nervös und verspannt anfühlt.« Wenn wir uns
klarmachen, dass unsere Empfindungen und Erfahrungen einen
»Sinn haben«, fühlen wir uns in unserem Körper eher zu Hause.
Also bauen Sie solche Sätze in Ihren inneren Dialog ein.
Zulassen: Geben Sie sich die Erlaubnis, diese Gefühle zu
haben, egal wie sie sich äußern. Ich weiß, das hört sich unsinnig
an, aber es ist eine wirklich wirksame Strategie. Sagen Sie sich
(laut oder leise): »Ich darf das Gefühl haben, dass das Leben
schwer ist.« Oder: »Es ist mir erlaubt, mich genauso zu fühlen,
wie ich es tue.« Oder: »Es ist in Ordnung, wenn ich im
Augenblick das Gefühl habe, dass Elternsein nicht unbedingt
Spaß macht.« Eines dürfen wir dabei nicht vergessen: Wir
können unseren Ärger zulassen und trotzdem ruhig mit unseren
Kindern reden. Wir können unsere Frustration erlauben und
unseren Kindern trotzdem einen liebevollen Blick schenken.

3. Wie Sie die eigenen Bedürfnisse erfüllen und mit


Ärger fertigwerden
Machen wir ein kleines Experiment! Ich möchte, dass Sie folgenden
Satz laut sagen (möglichst dann, wenn Sie vor einem Spiegel stehen)
und darauf achten, wie Ihr Körper reagiert: »Ich darf etwas für mich
tun, selbst wenn dies für andere Unannehmlichkeiten bedeutet.«
Halten Sie kurz inne. Kann Ihr Körper annehmen, was Sie gerade
gesagt haben, oder sträubt sich etwas dagegen? Wie fällt Ihre
übliche Reaktion auf diese Aussage aus? Kommen Ihnen dazu
irgendwelche Bilder oder Erinnerungen? Das einzige Ziel dabei ist,
etwas über sich selbst zu erfahren. Keine Reaktion ist besser als die
andere. Alle Informationen sind gute Informationen.
Was ist Ihnen aufgefallen? War Ihnen dabei unwohl? Haben Sie
vielleicht den Impuls verspürt, sich selbst auf der Stelle zu
korrigieren? Oder konnten Sie den Satz voller Überzeugung sagen?
Konnten Sie kaum glauben, dass solche Worte aus Ihrem Mund
kommen?
Viele Menschen haben Schwierigkeiten, für sich einzutreten und zu
akzeptieren, dass jemand anderer deshalb Unannehmlichkeiten hat,
sei es nun, dass wir um Hilfe bitten, uns Zeit für uns nehmen oder die
Kinderbetreuung unserem*r Partner*in überlassen. Das fällt uns so
schwer, dass wir häufig unsere Bitte zurücknehmen: »Ach, ist ja egal.
Ich kann das auch selbst machen.« Oder: »Dann gehe ich halt ein
andermal mit meiner Freundin spazieren.« Und: »Gut, dann stehe
eben ich morgens mit den Kindern auf.« Solche Kommentare
vollenden meist ein Verhaltensmuster. Zuerst wünschen Sie sich
etwas für sich. Dann schlagen Sie es vor oder bitten darum. Doch der
Partnerin oder dem Freund kommt das ungelegen. Also nehmen Sie
Ihre Bitte zurück, was heißt, dass Ihre Bedürfnisse nicht erfüllt
werden.
Es ist an der Zeit, dass wir dieses Muster ändern – aber das geht
nur, wenn wir akzeptieren können, dass unsere Wünsche für andere
manchmal mit Unannehmlichkeiten verbunden sind. Es ist nun einmal
nicht unsere Aufgabe, andere Menschen glücklich zu machen. Und es
ist nicht deren Aufgabe, in lautem Jubel auszubrechen, wenn wir für
uns selbst eintreten. Wir brauchen Kooperation von unseren
Mitmenschen, keine Zustimmung.
Ich versuche mir regelmäßig ins Gedächtnis zu rufen, dass es für
andere ungelegen kommen mag, wenn ich etwas brauche, und dass
das schon in Ordnung geht. Unannehmlichkeiten für andere sollten
kein Grund dafür sein, dass meine Bedürfnisse nicht erfüllt werden.
Das zu verstehen und anzunehmen, erlaubt mir beispielsweise, ohne
Schuldgefühle einen Spaziergang zu machen. Wenn mein Partner
genervt ist, versuche ich, dem so zu begegnen: »Ach, ich weiß, dass
es nervig sein kann, die Kinder allein zu haben. Ich verstehe das.«
Und dann gehe ich trotzdem los. Wenn ich akzeptiere, dass andere
durch mich manchmal Unannehmlichkeiten haben, kann ich mir
zugestehen, dass ich bestimme, wo das Abendessen bestellt wird,
auch wenn eines der Kinder zetert. Wenn ich Sushi möchte statt
Pizza, muss ich mich auf Gegenwind von meinem Sohn einstellen.
Viele Menschen wurden so erzogen, dass sie es als ihre persönliche
Verantwortung betrachten, anderen keine Ungelegenheiten zu
bereiten. Sehen wir dann, dass unsere Partnerin, unsere Freundinnen
oder unsere Kinder sich aufregen, wenn wir etwas für uns selbst
wollen oder Nein sagen, machen wir automatisch einen Rückzieher. In
diesem Falle atmen Sie tief durch und machen sich bewusst: Um
unsere eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, müssen wir manchmal
mit dem Unmut der anderen leben können. So lernen wir, uns
selbst nicht zu verlieren.
Und so geht’s:

Sagen Sie sich: »Es ist in Ordnung, wenn jemand sich ärgert,
weil ich für mich eintrete. Das heißt nicht, dass ich ein
schlechter Mensch bin. Und es hindert mich nicht daran, bei
meiner Entscheidung zu bleiben.«
Stellen Sie sich einen Tennisplatz vor. Sie stehen auf der einen
Seite, Ihr Gegenüber auf der anderen. Rufen Sie sich
Folgendes ins Gedächtnis: »Ich bin hier … und hier mit mir sind
meine Bedürfnisse und Entscheidungen. Der andere ist DORT,
auf seiner Seite. Die Gefühle, die er wegen meiner
Entscheidung hat … sind auf SEINER Seite des Platzes, nicht
auf der meinen. Ich kann sie sehen. Ich kann sie sogar
verstehen … aber ich bin nicht der Grund dafür, und ich bin nicht
dafür verantwortlich, dass sie verschwinden.«

4. Diese eine Sache nur für mich


Wenn Ihnen Selbstfürsorge immer wieder schwerfällt, dann beginnen
Sie einfach mit einer einzigen Maßnahme, die nicht gleich alles über
den Haufen wirft. Beginnen Sie nicht mit einem halb-stündigen
Workout oder gar mit 21 Uhr als unumstößlicher Zeit fürs
Schlafengehen. Es sollte etwas sein, von dem Sie sicher sind, dass
Sie es auch beibehalten können. Bei der Selbstfürsorge geht es
letztlich darum, dass wir uns selbst ein Versprechen geben und
dieses auch halten, obwohl unser ganzes Leben darauf ausgerichtet
ist, für andere da zu sein. Wenn Sie hier nicht gerade ein Vollprofi
sind, dann müssen Sie klein anfangen und Ihren Selbstfürsorge- und
Selbstwertmuskel ordentlich trainieren.
Hier ein paar Vorschläge für den Anfang:

Trinken Sie morgens ein Glas Wasser.


Meditieren Sie für zwei Minuten.
Trinken Sie Ihren Kaffee, solange er noch heiß ist.
Machen Sie sich ein richtiges Frühstück.
Hören Sie entspannende Musik.
Lesen Sie ein paar Seiten in einem Buch.
Heulen Sie sich mal so richtig aus.
Setzen Sie sich und machen Sie fünf »Heiße Schokolade«-
Atemzüge.
Nehmen Sie kurz die Kindhaltung aus dem Yoga ein.
Malen Sie ein Bild aus.
Reden Sie mit einer Freundin.
Kämmen Sie sich die Haare.
Schreiben Sie in Ihr Tagebuch.

Um etwas für uns selbst zu tun, müssen wir letztlich dazu fähig sein,
Nein zu Menschen zu sagen, die ausgerechnet in diesem Augenblick
etwas von uns wollen. Nachstehend finden Sie ein paar Tipps, wie Sie
Nein sagen können, damit Ihre »Diese eine Sache für mich«-Strategie
auch von Erfolg gekrönt ist.

»Ach, nein, das passt für mich nicht.«


»Nein, ich kann nicht.«
»Es freut mich, dass du mich gefragt hast. Aber nein, ich habe
keine Zeit.«
»Ich mache gerade etwas nur für mich selbst. Du musst also ein
paar Minuten warten.«
»Nein, ich kann jetzt nicht kommen. Ich weiß, dass Warten nicht
einfach ist. Aber ich bin sicher, dir fällt etwas ein, was du tun
kannst, bis ich komme.«

5. Wiedergutmachung – an uns selbst


Es gibt da etwas, das ich mit Sicherheit von allen Eltern weiß, die
dieses Buch in Händen halten: Sie wollen für Ihre Kinder da sein. Sie
wollen sie auf eine Weise erziehen, die sich sinnvoll und richtig
anfühlt. Und Sie wollen Kinder großziehen, die sich in ihrer Haut
wohlfühlen und ihr Gutsein in die Welt tragen. Sie nehmen sich die
Zeit, dieses Buch zu lesen, was bedeutet, dass Sie bereit sind, die
kostbarste Ressource von allen – Ihre Aufmerksamkeit – auf
Nachdenken, Lernen, Sich-Weiterentwickeln und Experimentieren zu
verwenden.
Ich weiß, dass viele von Ihnen alte Kreisläufe durchbrechen. Sie sind
der Dreh- und Angelpunkt in Ihrer Familie, und Sie sagen: »Die
schädlichen Beziehungsmuster enden hier und jetzt. Ich werde
meinen Kindern etwas anderes, etwas Besseres vermitteln.«
Kreisläufe zu durchbrechen, ist eine Heldentat. Und Sie sind einfach
fantastisch.
Und noch etwas weiß ich: Sie werden Mist bauen. Sie werden Ihre
Kinder anschreien. Es wird Ihnen etwas entschlüpfen, und Sie werden
dann denken: »Oh nein, warum habe ich das gesagt? Ich wollte das
nicht sagen!« Aber das ist in Ordnung. Definieren Sie sich nicht durch
Ihre automatischen Muster, Ihre Augenblicke der Erschöpfung oder
Ihre momentanen Verhaltensweisen. Sie sind als Mutter oder Vater
grundlegend gut. Und Sie arbeiten an sich, während Sie gleichzeitig
Ihren Kindern geben, was Sie können.
Selbstfürsorge heißt auch, dass wir Meister der Wiedergutmachung
werden. Wir müssen großzügig sein mit uns selbst, wenn wir Fehler
machen oder uns auf eine Weise verhalten, mit der wir uns nicht
wohlfühlen. In diesem Buch geht es viel um Wiedergutmachung für
unsere Kinder. Aber um diese leisten zu können, müssen wir erst
einmal lernen, gut zu uns selbst zu sein.
Und so geht’s:

Legen Sie eine Hand auf Ihr Herz, und sagen Sie sich: »Es ist in
Ordnung, dass ich zu kämpfen habe. Es ist okay, Fehler zu
machen. Es ist in Ordnung, dass ich nicht alles weiß. Ich erlaube
mir, nicht alles im Griff zu haben. Selbst wenn bei mir im Außen
alles drunter und drüber geht, bleibe ich im Inneren doch
grundlegend gut. Ich bin im Innersten gut.«
Wenn Sie mit bestimmten Dingen in Ihrer Erziehung unzufrieden
sind und sich über sich selbst ärgern, wenn Sie von Ihren
Reaktionen enttäuscht sind, dann sagen Sie sich: »Ich bin nicht
mein momentanes Verhalten. Ich bin nicht mein momentanes
Verhalten.«
Verbundenheit aufbauen und
Verhaltensweisen angehen
Kapitel 11

Bindungskapital aufbauen
Neulich in meiner Sprechstunde. Die Eltern, die mir gegenübersaßen,
eröffneten das Gespräch mit einem Hilferuf: »Dr. Becky, wir wissen
gar nicht, wo wir anfangen sollen. Unser Zuhause ist ein einziges
Chaos. Bei uns wird nur noch herumgeschrien. Und wir geben nur
noch leere Drohungen von uns, weil wir nicht wissen, was wir sonst
tun sollen. Unsere Kinder hören einfach nicht auf uns. Es ist, als
würden wir in einem endlosen Teufelskreis feststecken: hier die
Wutanfälle unserer Vierjährigen, da die Unverschämtheiten unseres
Siebenjährigen. Und Heston, unser Ältester, sagt plötzlich, er sei
dumm und habe keine Freunde. Wenn wir versuchen, mit ihm zu
reden, schreit er nur, wir würden überhaupt nichts verstehen, und
dann schlägt er die Tür zu seinem Zimmer zu. Izzy, die Vierjährige,
wird jeden Morgen hysterisch, wenn wir sie im Kindergarten abliefern.
Danach sind wir mit den Nerven am Ende, und das ist eine
schreckliche Art und Weise, den Tag zu beginnen. BITTE HELFEN
SIE UNS!«
Ich atmete kurz durch. »Erstens: Ich freue mich, dass Sie hier sind«,
sagte ich. »Zweitens: Ich werde all Ihre Probleme lösen. Jedes
einzelne.«
Die Eltern lachten. Ich lächelte. Und fuhr dann fort: »Gut, das ist
vielleicht nicht ganz richtig. Wir werden vielleicht gar keines lösen,
zumindest nicht heute. Denn der Knackpunkt ist: Sie können Verhalten
nicht ändern, bevor Sie nicht eine Bindung aufgebaut haben. Also
werden wir uns zuerst darauf konzentrieren. Das eigentliche Problem
sind nicht die Dinge, die Sie gerade aufgezählt haben, nicht die
Wutanfälle, nicht die frechen Antworten, das Türenknallen oder das
Geheul am Eingang zum Kindergarten. Das eigentliche Problem ist,
dass Ihr Familiensystem aus dem Gleichgewicht ist. Niemand fühlt
sich darin sicher und geborgen.«
An diesem Punkt atmeten die Eltern sichtbar auf. Allein die
Tatsache, dass jemand das Problem benannte – eins, das wirklich mit
ihren Erfahrungen zusammenpasste – und sich sicher war, einen Weg
zu finden, war schon eine Erleichterung. Wir hielten uns also nicht mit
dem Geschrei oder den leeren Drohungen auf, sondern brachten das
Gespräch gleich auf das Thema »Verbundenheit«. Ich stellte den
Eltern ein paar einfache, aber wirkungsvolle Strategien zum
Bindungsaufbau vor. Auf diese praktisch erprobten Mittel greife ich
immer wieder zurück – privat ebenso wie in der Beratung –, um die
Bindung innerhalb des Familiensystems zu stärken und es wieder ins
Gleichgewicht zu bringen.
Einige dieser Maßnahmen erwecken vielleicht den Eindruck, als
würden sie nur in einer »idealen Welt« funktionieren. Aber meiner
Ansicht nach ist hier für jeden etwas dabei. Es ist hier nicht von
Belang, wie sich das Ungleichgewicht in Ihrer Familie äußert, ob in
einem frechen Mundwerk, Lügen, Geschwisterrivalität, Wutanfällen
oder anderen Verhaltensproblemen, die ich in den folgenden Kapiteln
anschneiden werde. Die vorgestellten Strategien ziehen positive
Veränderungen nach sich, wie auch immer sich die Probleme an der
Oberfläche darstellen mögen. Sie funktionieren deswegen, weil sie
den Eltern helfen, zu ihren Kindern Bindung und Nähe aufzubauen,
statt sich auf Maßnahmen zur Verhaltensänderung zu konzentrieren.
Denn wie wir mittlerweile wissen, ist Verhalten nicht das Problem,
sondern nur ein Symptom. Wirklich effektive Strategien setzen an der
Wurzel an und bewirken schon deshalb mehr familiären Frieden.
Ich erkläre meinen Klient*innen immer: Wenn Eltern in endlosen
Kämpfen mit ihrem Kind stecken, verbirgt sich dahinter meist eines
von zwei Problemen. Entweder fühlen die Kinder sich ihren Eltern
nicht so verbunden, wie sie sich das wünschen. Oder sie haben mit
massiven Problemen bzw. unerfüllten Bedürfnissen zu kämpfen, mit
denen sie sich alleingelassen fühlen. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind
habe ein emotionales Bankkonto. Die Währung auf diesem Konto ist
Verbundenheit. Wie Ihr Kind sich im jeweiligen Moment verhält, hängt
ganz von seinem Kontostand ab. Ich habe schon einmal den Begriff
»Bindungskapital« erwähnt. Wenn wir wahrhaftig mit unserem Kind
verbunden sind, seine Erfahrung nachvollziehen können, seine
Gefühle akzeptieren und uns bemühen zu begreifen, was in ihm
vorgeht, dann vermehren wir dieses Kapital. Mit einem ordentlichen
Polster an Bindungskapital fühlen unsere Kinder sich sicher,
geborgen, wertvoll und kompetent. Diese positiven Gefühle zeigen
sich äußerlich in »gutem« Verhalten – als Kooperation, Flexibilität und
Regulierungsfähigkeit. Um positive Veränderungen anzustoßen,
müssen wir also zuerst Verbundenheit aufbauen. Mehr Verbundenheit
bedeutet, dass unsere Kinder sich besser fühlen und sich in der
Folge besser verhalten. Aber vergessen Sie nicht: Das Verhalten ist
das letzte Glied in der Kette. Wir können das Pferd nicht von hinten
aufzäumen. Am Anfang steht immer die Verbundenheit.
Wir sollten auch im Hinterkopf behalten, dass Bindungskapital sich
vermehren, aber auch weniger werden kann. Wie vom Bankkonto
heben wir auch hier regelmäßig Beträge ab. Als Eltern geben wir
Bindungskapital aus, wenn wir unsere Kinder bitten, ihr Zimmer
aufzuräumen, wenn wir ihnen sagen, dass wir ein paar Minuten ohne
sie brauchen, um einen wichtigen Anruf zu tätigen, und wenn wir ihnen
sagen: »Wir müssen jetzt nach Hause gehen, Liebes« oder: »Schluss
mit Fernsehen.« Eltern geben viel Bindungskapital aus, weil wir von
unseren Kindern immer wieder Dinge fordern müssen, die sie nicht
unbedingt tun wollen. Daraus folgt, dass Eltern mehr
Bindungskapital aufbauen müssen, als sie ausgeben. Wir
brauchen ordentliche Rücklagen, damit uns nicht mittendrin das Geld
ausgeht.
Und die Erfolgsstrategie beim Aufbau von Bindungskapital ist
folgende: Wir erzielen die höchste Rendite, wenn wir Ruhe bewahren.
In der Hitze des Gefechts auf Verbundenheit zu setzen, wird nicht
funktionieren, weil unser Körper nicht gut lernen kann, wenn wir im
Kampf-Flucht-Modus sind. In ruhigeren Momenten können wir einen
Gang zurückschalten, die Bindung zum Kind herstellen, uns sein
Gutsein in Erinnerung rufen und so eine stärkere Beziehung aufbauen.
Die folgenden Maßnahmen sind für die ruhigeren Momente gedacht.
Denn diese sind die beste Zeit, um die Beziehung zu Ihrem Kind zu
verbessern. Eine Zeit, in der neue Fähigkeiten erworben und die
Weichen für einen Wandel gestellt werden. Wenn sich in meiner
Familie etwas nicht gut anfühlt, zahle ich als erstes mit diesen
Strategien auf das Bindungskonto ein.

Spielzeit ohne Smartphone (SOS)


SOS ist die Erziehungsmaßnahme, die ich am häufigsten empfehle.
Wenn Sie nach einer Strategie suchen, die wirklich etwas bringt, dann
steht SOS ganz oben auf der Liste.
Spielzeit ohne Smartphone ist genau das, was der Begriff aussagt:
Sie spielen zusammen und lassen das Telefon im anderen Zimmer.
Auf die Idee kam ich, als mir auffiel, wie sehr es mich ablenkt, wenn
ich Zeit mit meinem Kind verbringen will und mein Handy irgendwo in
Reichweite liegt. Dann fühle ich mich stets versucht, draufzugucken:
noch schnell eine SMS beantworten, bei Amazon eine Bestellung
aufgeben oder eines der anderen tausend Dinge tun, die tagsüber so
anfallen. Ich kann mir hundert Mal sagen, dass ich nicht zum Handy
greife und stattdessen Qwirkle spiele oder Lego … aber die
Verlockung ist einfach zu stark.
Was unsere Kinder sich am meisten wünschen, ist unsere ungeteilte
Aufmerksamkeit. Sie signalisiert ihnen, dass sie geborgen sind,
wichtig und wertvoll, und dass sie geliebt werden. Und doch ziehen
technische Geräte unsere Aufmerksamkeit magnetisch an, und
unsere Kinder spüren das. Dabei bin ich keineswegs gegen Technik
und ihre Spielereien. Aber ich schlage vor, dass wir ihrer Anwendung
Grenzen setzen – nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für uns
selbst. Wir brauchen diese Grenzen in der Nutzung solcher Geräte,
um uns selbst zu helfen, unsere Aufmerksamkeit ganz den Kindern zu
widmen. Nicht ständig. Aber für einen bestimmten Zeitraum.
Zeit mit Ihrem Kind zu verbringen und dabei präsent zu sein, ist der
beste Weg zum Aufbau von Bindungskapital. Sie möchten, dass Ihr
Kind Ihnen zuhört? Greifen Sie auf SOS zurück. Ihr Kind ist zornig und
frech? SOS hilft. Ihre beiden Kinder streiten den lieben langen Tag?
Überlegen Sie sich für jedes Kind eine SOS-Strategie. Ich könnte
damit endlos weitermachen, aber Sie verstehen sicher schon, worum
es mir geht.
Die SOS muss nicht länger sein als 10 bis 15 Minuten. Ziel ist es, in
die Welt Ihres Kindes einzutreten – ein gewaltiger Unterschied zum
Rest des Tages, wo wir gewöhnlich die Kinder bitten, sich auf unsere
Welt einzulassen. Während der SOS erlauben Sie Ihrem Sprössling,
das Spiel zu bestimmen. Sie nehmen sich die Zeit zu beobachten,
ohne einzugreifen – Ihre Präsenz in seiner Welt ist es, die zählt.
Und das Tolle an der SOS: Die Eltern können das Spiel wirklich
genießen. Ohne Smartphone im Raum können wir uns viel besser auf
das Spiel konzentrieren. Während der SOS sage ich mir: »Becky, es
gibt nichts Wichtigeres zu tun als das, was du gerade tust.« Oder:
»Ich muss nichts anderes tun. Es genügt völlig, wenn ich mit meinem
Sohn spiele. Ich tue das Richtige.« Und das klappt, weil ein
abwesendes Handy mich nicht daran erinnern kann, dass ich noch
andere Dinge zu erledigen habe. Ich kann mich ganz auf das Spiel
konzentrieren.

Und so können Sie die SOS in Ihrer Familie


umsetzen:

1. Geben Sie dieser Zeit einen Namen, um zu verdeutlichen, dass


sie etwas Besonderes ist. Ich nenne sie SOS, weil mir die
Abkürzung gefällt und meinen Kindern ebenso. Aber Sie können
sie natürlich auch anders taufen, zum Beispiel »Papa-Marco-
Zeit« oder »Mama-Tochter-Zeit«.
2. Begrenzen Sie sie auf 10 bis 15 Minuten.
3. Kein Telefon, kein Bildschirm, keine Geschwister, keine
Ablenkung.
4. Ihr Kind sucht das Spiel aus. Das ist der entscheidende Punkt.
5. Ihr Kind steht im Mittelpunkt. Die einzige Aufgabe, die Sie
haben, ist zu beobachten, nachzuahmen, widerzuspiegeln und zu
beschreiben, was Ihr Kind tut.

Dabei sollten Sie Ihr Handy deutlich sichtbar weglegen. Das


signalisiert Ihrem Kind, dass Sie wissen, wie oft Sie von dem guten
Stück abgelenkt werden. Diese kleine Geste stellt sicher, dass es
sich geschätzt und beachtet fühlt.
So können Sie Ihren Kindern die SOS vorstellen

Für kleine Kinder: »So, jetzt ist SOS angesagt! Ich lege mein
Handy ins andere Zimmer, damit ich mich ganz auf dich
konzentrieren kann. Nur wir beide, und du darfst aussuchen,
was wir zusammen machen!«
Für ältere Kinder: »Hallo, Schatz. Weißt du was: Ich brauche
heute ein bisschen SOS mit dir – nur du und ich, und das Telefon
liegt in der Küche. Ich weiß, dass es lästig ist, wenn es klingelt
und mich ablenkt. Sollen wir uns später ein bisschen Zeit für uns
gönnen? Wir nehmen uns 10 oder 15 Minuten, und du kannst
bestimmen, was wir machen.«

Vergessen Sie nicht: Bei der SOS geht es um die Welt Ihres Kindes.
Stellen Sie keine Fragen, sondern lassen Sie sich auf seine Ideen ein.
Wenn sich das ungewohnt anfühlt, dann ist das in Ordnung! Die
meisten Eltern sind nicht daran gewöhnt, so mit ihrem Kind
umzugehen. Versuchen Sie es einfach wie folgt:

Beschreiben: »Du baust einen Turm.« Oder: »Du malst jetzt mit
roter Farbe.«
Nachahmen: Wenn Ihr Kind eine Blume malt, nehmen Sie Ihr
Blatt Papier zur Hand, setzen sich neben die Kleine und malen
auch eine Blume. Sie müssen dabei nicht reden. Wenn Sie es
auf diese Weise spiegeln, zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie ihm
Ihre ganze Aufmerksamkeit widmen und dass es Ihnen am
Herzen liegt.
Reflektierendes Zuhören: Wenn Ihr Kind sagt: »Ich möchte mit
dem Lastwagen spielen!«, antworten Sie: »Du möchtest mit
dem Lastwagen spielen.« Sagt es: »Das Schweinchen möchte
in die Scheune«, sagen Sie: »Dieses Schweinchen will also in
die Scheune?«

Sollten Ihnen diese Vorschläge merkwürdig erscheinen, dann denken


Sie daran: Ihr Ziel ist einzig und allein, ohne jede Ablenkung und
Unterbrechung eine innige Zeit mit Ihrem Kind zu verbringen. Und
wenn für 15 Minuten keine Zeit ist? Dann versuchen Sie es mit zehn
oder fünf oder zwei Minuten. SOS sorgt dafür, dass Ihr Kind sich
wichtig und geliebt vorkommt. Sobald sich dieses Gefühl einstellt,
wird sich auch sein Verhalten ändern.

Das Auffüll-Spiel
Dieses Spiel habe ich erfunden, als mein Ältester nach der Geburt
unseres jüngsten Kindes Probleme hatte. Seitdem wende ich es
immer an. Mein Sohn war trotzig und frech und wurde schnell
wütend … lauter Dinge, angesichts derer ich lieber weniger Zeit mit
ihm verbracht hätte. Aber ich merkte bald, dass er zu kämpfen hatte.
Hinter seiner Wut standen Fragen wie: »Werde ich immer noch
beachtet?« Oder: »Werden meine Bedürfnisse erfüllt?« Und:
»Bekomme ich auch genug von Mama und Papa ab?« Er war so
gestresst davon, dass wir plötzlich zu fünft waren, dass sein
emotionales Bankkonto sich mehr oder weniger leer anfühlte. Er
brauchte also eine Bindungskapitalspritze, obwohl er mich durch sein
Verhalten eigentlich eher wegstieß.
Also erfand ich das Auffüll-Spiel. Immer wenn er schwierig wurde,
reagierte ich nicht instinktiv. Ich atmete vielmehr einmal tief durch und
sagte dann langsam und in liebevollem Ton: »Ich glaube, du möchtest
mir sagen, dass dein Mama-Füllstand nicht besonders hoch ist?«
Dass ich sanft reagierte, ließ ihn sanft antworten. Oft sagte er etwas
wie: »Ja … ich bin nur bis hier voll.« Damit zeigte er auf seine Beine.
Dann umarmte ich ihn liebevoll und drückte ihn, bis der Mama-
Füllstand bis zum Kopf reichte. Dann drückte ich ihn noch einmal fest,
damit er »ein bisschen extra Mama« hatte, was ihm über die nächste
Zeit half. Änderte sich dadurch sein Verhalten? Nein. Jedenfalls nicht
gleich. Dieses »Spiel« hatte keine Sofortwirkung, aber es markierte
einen klaren Wendepunkt. Es war der erste Schritt, denn es machte
deutlich, was mein Kind brauchte: mehr von seinen Eltern.
Wenn das Benehmen Ihres Kindes Sie nächstes Mal eher zur Flucht
reizt, führen Sie das Auffüll-Spiel ein. Erklären Sie Ihrem Kind, dass
es sich nur deshalb so verhält, weil es nicht genug von Mama (oder
Papa) hat. Es braucht also eine ordentliche Dosis seiner Eltern, am
besten voller Lachen und Herumalbern.
Sobald klar ist, wie nützlich das Auffüll-Spiel ist (Sie werden
voraussichtlich schnell sehen können, wie Sie beide sich beruhigen),
werden Sie von selbst Auffüllen spielen wollen, bevor der Tank so
leer ist, dass das Kind mit ungezogenem Verhalten darauf
aufmerksam machen muss. Vielleicht spielen Sie Auffüllen, bevor Sie
miteinander Lego spielen oder bevor Ihre Tochter sich abends die
Zähne putzt. Sie können Ihre Kinder auch fragen. »Kann ich alle mit
Papa auffüllen, bevor wir loslegen?« Dann machen Sie das Auffüll-
Spiel mit jedem Kind einzeln.

So können Sie Ihren Kindern das Auffüll-Spiel zeigen

1. Sagen Sie zu Ihrem Kind: »Ich glaube nicht, dass du schon ganz
mit Mama/Papa aufgefüllt bist. Ich glaube, der Mama-Füllstand
geht höchstens bis zu den Knöcheln! Also los: Füllen wir dich
auf!«
2. Drücken Sie Ihr Kind lange und fest.
3. »Und jetzt? Waaas? Nur bis zu den Knien? Na, dann los zu
Runde zwei …«
4. Drücken Sie Ihr Kind nochmals. Ziehen Sie dabei ruhig ein
Gesicht, als müssten Sie Ihre ganze Kraft einsetzen.
5. »Was? Nur bis zum Bauch? Ich dachte, ich wäre schon höher
gekommen. Na, dann gibt es mehr Mama in Runde drei.«
6. Sobald Ihr Kind sich ganz aufgefüllt fühlt, bekommt es noch eine
Umarmung. Sagen Sie zum Beispiel: »Ich gebe dir lieber noch
was extra, nur für den Fall. Es geht im Moment so viel
durcheinander, dass es vielleicht nicht schlecht ist, ein bisschen
extra Mama zu haben.«

Wann Sie das Auffüll-Spiel einsetzen sollten

Wenn Ihre Kinder morgens aufwachen, um ihnen einen guten


Start in den Tag zu geben.
Vor jeder Trennung: Das Auffüll-Spiel macht ganz klar, dass das
Kind die Eltern verinnerlichen kann, bevor sie sich
verabschieden.
Bevor Sie Ihren Arbeitstag beginnen. Das Auffüll-Spiel erlaubt
Ihrem Kind, trotzdem mit Ihnen verbunden zu sein.
Vor schwierigen Augenblicken (zum Beispiel bevor Sie Ihren
Sohn bitten, seine Spielsachen mit der kleinen Schwester zu
teilen; bevor er in die Küche kommt, wo seine kleine Schwester
von seinem Lieblingsteller isst; bevor Ihr Kind mit einem Puzzle
anfängt, das schwer zu lösen ist).
Als Reaktion auf schwieriges Verhalten. Wenn Sie das Verhalten
Ihres Kindes durch die Brille seines Gutseins und seines
Bindungskapitals sehen, ist das ein echtes Geschenk. Indem Sie
es »mit sich auffüllen«, helfen Sie ihm, seine Emotionen zu
regulieren, weil es sich grundlegend gut und geborgen fühlt.

Die emotionale Impfung


Die emotionale Impfung funktioniert genauso wie eine gegen
Krankheiten: Wir stärken heute unseren Körper, damit wir mit
Beschwerden in der Zukunft besser zurechtkommen. Wir wissen ja,
dass Menschen schwierige Augenblicke überwinden, nicht indem sie
ihre Gefühle verdrängen oder ändern, sondern indem sie lernen,
diese zu kontrollieren. Hat Ihr Kind Probleme, weniger Bildschirmzeit
zu akzeptieren, dann wird es nicht eines Tages freiwillig und voller
Begeisterung aufs iPad verzichten. Aber es kann (hoffentlich) seine
Emotionen annehmen und sich darin bestätigt fühlen, was ihm
erleichtert, das iPad auch mal aus der Hand zu legen. Ist Ihr Kind
keine gute Verliererin beim Sport oder bei Brettspielen, wird es nicht
plötzlich weniger wettbewerbsbetont sein oder eine »Es ist ja nur ein
Spiel«-Einstellung entwickeln, die zu mehr Fairness führen würde.
Aber es kann seine Emotionen akzeptieren und sich darin bestätigt
fühlen. Und das bringt ein tiefes Durchatmen mit sich und ein weniger
dramatisches Ende.
Wenn es also darum geht, unsere Emotionen zu regulieren, statt sie
zu vermeiden, abzustellen oder zu verändern – wie können wir dann
unseren Kindern helfen, ihre schwierigen Momente zu überwinden?
Eine der besten Strategien: Wir bereiten sie darauf vor. Mit einer
emotionalen Impfung stellen wir eine Verbindung her, bevor es zu
heftigen Gefühlen kommt. So stärken wir die Emotionsregulierung
des Kindes, bevor es diese braucht. Wir stellen den Kontakt zu
unserem Sohn oder unserer Tochter her und diskutieren bzw.
akzeptieren die Herausforderung, vor der sie bald stehen werden. Wir
üben ein, wie man damit umgehen kann – und zwar im Voraus. Auf
diese Weise vermitteln wir unserem Kind »Antikörper zur
Emotionsregulierung«, bevor seine Emotionen hochkochen. Wir
regulieren seine Gefühle vor, und wenn der herausfordernde
Augenblick da ist, kann unser Kind besser damit umgehen. Das heißt
nicht, dass es plötzlich ein guter Verlierer ist, wenn es beim »Mensch
ärgere dich nicht« Letzter wird. Aber wir wissen doch alle, dass
Übung den Meister macht.
Fehlreguliertes Verhalten bei Kindern tritt vor allem dann auf, wenn
sie starke Emotionen erleben und sich damit allein fühlen. Die
emotionale Impfung gibt uns Gelegenheit, diese Augenblicke mit
Verbundenheit zu entschärfen, noch bevor sie auftreten. Das schiebt
dem emotionalen Zusammenbruch einen Riegel vor.
Und das Schönste ist: Nicht nur unsere Kinder profitieren von der
emotionalen Impfung, sondern sie tut auch uns Eltern gut. Stellen Sie
sich eine Situation vor, die heute schwierig für Sie sein könnte. Nun
erwecken Sie im Voraus Fürsorge, Verständnis und Erlaubnis: »Ich
darf mich so fühlen. Ich werde tief durchatmen, um mich auf das
Kommende vorzubereiten … Vielleicht kann ich dann auf den
Schaltkreis von Atmen und Selbstmitgefühl zurückgreifen, wenn es so
weit ist.« Sie werden überrascht sein, wie gut das funktioniert.

Wie Sie Ihren Kindern eine emotionale Impfung


verabreichen
Emotionale Impfung = Verbundenheit + Bestätigung + eine
Geschichte zum besseren Verständnis. All das erfolgt vor dem
»eigentlichen Ereignis«. Im Folgenden zwei Beispiele zur
Veranschaulichung:
Emotionale Impfung für das Ende der Bildschirmzeit
Eltern: »Lass uns doch, bevor wir das iPad einschalten,
überlegen, wie es sich anfühlen wird, wenn es wieder
ausgeschaltet wird. Es ist schwierig, mit Dingen aufzuhören, die wir
mögen, nicht wahr? Mir geht es genauso.«
Kind: »Kannst du jetzt nicht einfach den Film starten?«
Eltern: »Gleich. Aber zuerst atme ich einmal tief durch und
bereite meinen Körper darauf vor, dass nachher wieder
ausgeschaltet wird. Und zwar so …« Sie machen das Ganze vor.
»Ich frage mich, ob wir nicht jetzt schon ein paar von den Sätzen
loswerden können, die sonst nachher kommen werden, um uns
körperlich darauf einzustellen.« Dann, in lockerem (nicht
spöttischem) Ton: »Nur noch fünf Minuten! Meine Freunde dürfen
viel länger gucken als ich! Ich wollte gerade … bitte, bitte … Du
lässt mich nie machen, was ich will.«

Was machen Sie da letztlich? Sie laden eine schwierige


Übergangssituation mit Verbundenheit und Albernheiten auf,
bevor sie tatsächlich eintritt. Das heißt nun nicht, dass Ihr Kind
nach der Sendung ganz locker-flockig sagt: »Da hast du das
iPad wieder, Mama!« Sie vermitteln Ihrem Kind vielmehr die
Fähigkeit, mit schwierigen Emotionen zurechtzukommen. Und in
allernächster Zukunft wird der Moment kommen, in dem Ihr Kind
vor dem Fernseher sagt: »Och, am liebsten würde ich noch eine
Folge angucken«, statt mit der Fernbedienung nach Ihnen zu
werfen und lauthals zu brüllen.

Emotionale Impfung gegen Schwierigkeiten mit den


Hausaufgaben
Eltern: »Ich denke über deine Hausaufgaben nach. Es ist
wahrscheinlich schwierig, sich hinzusetzen und einfach
anzufangen. Das verstehe ich. Mir ging es immer genauso. Und es
war auch so langweilig.«
Kind: »Ja, genau.«
Eltern: »Ich frage mich, ob wir nicht zusammen mal tief ein- und
ausatmen sollten. Ich habe nämlich gelesen, dass schwierige
Dinge leichter fallen, wenn man sich im Voraus darauf einstellt.«
Es ist in Ordnung, wenn Ihr Kind nicht gleich mitmachen will. Sie
legen trotzdem eine Hand auf ihr Herz, schließen die Augen oder
richten den Blick auf den Boden. Dann sagen Sie: »Wenn ich
anfange, die Hausaufgaben zu machen, kann es sein, dass ich
genervt bin. Das ist okay! Ich atme jetzt schon im Voraus tief ein
und aus und erinnere mich daran, dass es in Ordnung ist, wenn
sich die Hausaufgaben schwer anfühlen. Und dass ich auch mit
schwierigen Dingen fertig werde.«

Was machen Sie da letztlich? Sie laden die Situation mit


Verbundenheit auf und bestätigen Ihr Kind in seinen Gefühlen,
bevor der eigentliche schwierige Moment eintritt.

Die Gefühlsbank
In puncto Gefühle wissen wir eines ganz genau: Sie sind nur so lange
furchteinflößend, wie wir mit ihnen allein sind. Wenn jemand zu uns
sagt: »He! Du fühlst dich [traurig/ängstlich/wütend/ausgeschlossen].
Das ist in Ordnung. Ich bin für dich da. Erzähl mir davon«, dann lässt
das Gefühl sofort nach. Wir fühlen uns nicht mehr überrollt, sondern
sicher und geborgen.
Wenn Kinder aufgewühlt sind, ist das ein bisschen so, als würde sie
etwas auf eine Gefühlsbank niederdrücken. Das kann eine Wutbank
sein, eine Enttäuschungsbank oder auch eine Niemand-mag-mich-
Bank. Was Kinder (und Erwachsene) am liebsten mögen, wenn sie
auf einer solchen Bank sitzen müssen, ist, dass sich jemand zu ihnen
setzt. Sobald jemand neben uns sitzt, fühlt die Bank sich gleich
weniger dunkel und kalt an. Denn wir haben einen »Bankwärmer«.
Wenn Ihr Sohn zu Ihnen sagt: »Ich wünschte, ich hätte keinen
kleinen Bruder. Er bringt immer meine ganzen Sachen
durcheinander!«, dann sitzt er vermutlich auf der »Es ist nicht leicht,
mein Leben zu teilen«-Bank. Setzen Sie sich zu ihm. Vielleicht müssen
Sie eine Grenze ziehen, aber Sie können sich trotzdem zu ihm setzen:
»Ah, du denkst darüber nach, wie schwer das Teilen ist. Das
verstehe ich, Liebes. Ich lasse dich nicht im Stich. Du darfst
deswegen wütend sein. Ich bin trotzdem hier bei dir.«
Wenn Ihre Tochter damit zu kämpfen hat, dass ihre beste Freundin
in eine andere Stadt zieht, und Sie anschreit: »Warum können wir
nicht umziehen, damit ich weiter mit Liv zusammen sein kann? Ich
hasse es, hier zu leben. Ich hasse euch alle!«, dann atmen Sie am
besten erst einmal kurz durch. Hinter diesem Angriff steht ein Gefühl.
Ihre Tochter braucht Bestätigung und Unterstützung. Sie sitzt auf der
Verlust-Bank. Setzen Sie sich zu ihr: »Ich verstehe dich ja. Das ist
wirklich schlimm.«
Und … Sie können sich auch auf Ihrer eigenen Bank zu sich selbst
setzen. Suchen Sie den Anteil von sich, der trösten kann. (Er ist
immer da! Ohne Ausnahme!) Bitten Sie ihn, sich zu Ihrem ängstlichen,
traurigen oder selbstkritischen Selbst zu setzen. Sagen Sie zu dem
von Gefühlen gebeutelten Teil: »Ich bin ja da, liebes überwältigtes
Gefühl. Ich verstehe dich. Ich höre dir zu. Du bist ein Teil meines
Selbst, nicht mein ganzes Selbst. Ich setze mich zu dir.«

Und so setzen Sie sich zu Ihrem Kind auf seiner


Gefühlsbank
Wenn Ihr Kind Ihnen das nächste Mal von einem schwierigen Gefühl
erzählt, erinnern Sie sich: »Setz dich zu ihr. Setz dich auf ihre Bank,
ohne sie von da wegziehen zu wollen. So baust du eine Verbindung zu
ihr auf und stärkst ihre innere Resilienz.« Zeigen Sie Ihrem Kind, dass
Sie bei ihm sind, statt ihm zu sagen, dass es sich anders fühlen soll.

Was Sie sagen können:

»Das hört sich wirklich schlimm an.«


»Das ist echt übel. Wirklich.«
»Ich bin so froh, dass du mit mir darüber redest.«
»Ich glaube dir.«
»Heutzutage ein Kind zu sein, ist alles andere als leicht. Ich
verstehe das.«
»Du bist ganz traurig deswegen. Und das darfst du sein,
Schatz.«
»Ich bin hier bei dir. Ich freue mich, dass wir darüber reden
können.«
»Manchmal können wir uns eben nicht sofort besser fühlen.
Wenn es hart auf hart kommt, ist manchmal das Beste, was wir
tun können, nett zu uns selbst zu sein und mit Menschen zu
reden, die uns verstehen.«
»Ich habe dich lieb, ganz egal, wie du dich fühlst und was in
deinem Leben vorgeht.«

Was Sie tun können:

Setzen Sie sich zu Ihrem Kind aufs Bett oder Sofa, wenn es mit
Ihnen spricht.
Sagen Sie wenig, solange es redet. Sie können nicken und es
mitfühlend anschauen.
Bieten Sie Ihrem Kind eine Umarmung an, wenn es aufgewühlt
ist.
Atmen Sie beide tief ein und aus.

Albern sein
Das Elterndasein ist manchmal nicht gerade erhebend. Schon die
ganze Logistik strengt an (»Ich hole dich von der Schule ab, dann
bringe ich dich zum Zahnarzt. Danach hast du Fußballtraining. Abends
machen wir Hausaufgaben, dann das Abendessen, und heute gehst
du mal früh ins Bett, okay?«). Da gerät man nur allzu leicht in eine
Beziehung zu dem Kind, die sich ermüdend, frustrierend und einfach
anstrengend anfühlt. Ich stelle in meiner Praxis immer wieder fest,
dass in vielen Familien einfach das Albernsein fehlt. Das
Herumblödeln. Das Quatschmachen. Der SPASS!
Spaß ist wichtig. Wirklich wichtig. Herumblödeln und Rumalbern sind
optimale Möglichkeiten, um Bindungskapital aufzubauen. Lachen
reduziert Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin. Und es vermehrt
Antikörper bzw. andere Immunzellen. Wir sollten das Lachen also
sehr ernst nehmen, denn jedes Mal, wenn wir kichern oder
losprusten, macht es unseren Körper ein klein wenig gesünder.
Außerdem fühlen sich unsere Kinder wichtig, geborgen und geliebt,
wenn wir mit ihnen alberne Tanzpartys veranstalten, uns verrückte
Lieder ausdenken und Fangen spielen. Da es eine unserer
Hauptaufgaben als Eltern ist, unseren Kindern das Gefühl der
Geborgenheit zu vermitteln, ist Albernheit ein wichtiger Aspekt
unseres Elterndaseins. Wir können nicht lachen, wenn wir uns bedroht
fühlen. Wenn wir also mit unseren Kindern lachen, dann vermitteln wir
ihnen die Botschaft: »Dies hier ist dein absolut sicheres Heim. Hier
wirst du beschützt. Du kannst hier ganz du selbst sein.«
Manchen Eltern fällt es leichter als anderen, sich albern zu verhalten.
In diesem Fall können Sie diesen Absatz überspringen. Fühlt es sich
für Sie hingegen unnatürlich und komisch an, wenn Sie mit Ihren
Kindern herumalbern (weil Sie sich für einen ernsthaften Menschen
halten), dann halten Sie kurz inne und machen Sie sich bewusst, dass
der erste Schritt in Richtung mehr Leichtigkeit ist, sich dieser Sperre
bewusst zu werden. Alle Eltern haben in bestimmten Bereichen
Schwierigkeiten mit der Erziehung, ob es nun ums Grenzensetzen, um
den Umgang mit Konflikten, um Albernheiten oder um andere Dinge
geht. Ist herumzualbern nichts für Sie, dann liegt das vermutlich
daran, dass man Ihnen das nie vorgelebt hat. Eltern, die mit ihrem
Kind nicht einfach so herumblödeln können, sind höchstwahrscheinlich
in einem Haushalt aufgewachsen, wo Albernheit im Keim erstickt
wurde: durch Scham (»Hör sofort auf, du blamierst mich ja bis auf die
Knochen!«), durch Ignorieren (Eltern lösen sich aus dem Kontakt,
wenn ein Kind spielen oder herumalbern will) oder durch Strafen
(»Hier wird keine Fäkalsprache gebraucht. Geh sofort auf dein
Zimmer.«). War dies in Ihrer Familie der Fall, dann haben Sie
vermutlich gelernt, Ihre alberne Ader verkümmern zu lassen, denn wir
spalten uns automatisch von allem ab, das schon früh negative
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Möchten Sie sich wieder mit Ihrer
verspielten Seite verbinden, sollten Sie vielleicht das Kapitel über
Selbstfürsorge noch einmal lesen. Dort finden Sie Tipps, wie Sie
Zugang zu Ihrer albernen Seite finden. Denn dieser Teil von Ihnen ist
immer noch da, er ist nur verschüttet und traut sich nicht so recht
heraus.
Nachstehend finden Sie ein paar von meinen Ideen für alberne und
spielerische Aktivitäten. Aber es gibt unglaublich viele Möglichkeiten,
herumzublödeln. Wenn Kinder lachen, fängt die Luft an zu prickeln.
Wenn Sie dann einfach mitmachen, ohne damit etwas erzwingen oder
erreichen zu wollen, machen Sie alles richtig.

Und so könnte es gehen:

Tanzpartys zum Herumalbern


»Die Talentshow«: Alle Familienmitglieder werden nacheinander
auf die Bühne gerufen und müssen alberne Bewegungen
vorführen. Alle anderen gucken erstaunt zu und klatschen wie
wild, wenn die »Schauspielerin« sich verbeugt. Wenn ein Kind
nur zugucken und nicht auf die Bühne will, ist das auch in
Ordnung. Drängen Sie niemanden und beschämen Sie
niemanden. (An dieser Stelle einen Gruß an unseren tollen
Babysitter Jordan, der dieses Spiel erfunden hat!)
Denken Sie sich Songs oder Reime aus.
Familienkaraoke
Verkleiden Sie sich. Spielen Sie Familie (wobei die Kinder die
Eltern sind) oder machen Sie andere Fantasiespiele.
Bauen Sie eine Kissenburg.
Reagieren Sie spielerisch auf schlechte Manieren,
Ignoriertwerden und Rumgejammere, zum Beispiel so: »Oh je,
jetzt sind die Dankeschöns schon wieder verschwunden! Wo
können sie nur sein? Ach, warte mal. Gefunden! Da! Unterm
Sofa! Ich bau sie dir wieder ein. Okay! Geschafft. Puh!«
Fragen Sie sich: »Was habe ich am liebsten gespielt, als ich
noch klein war? Was habe ich mir von anderen immer für Spiele
gewünscht?« Ich habe einmal mit einer Familie gearbeitet, bei
der der Vater wirklich Schwierigkeiten hatte, mit seinen Kindern
zu spielen. Bis er sich erinnerte, dass er als Kind immer
Crossfire gespielt hatte, ein Videospiel. Er bestellte es sofort für
sich und seine Kinder. Das war der erste Schritt auf seinem
Weg zum spielerischen Vater.

»Habe ich dir schon mal erzählt, wie …«


Zu den schwierigsten Augenblicken in der Beziehung zwischen Eltern
und Kindern kommt es, wenn wir in einem Teufelskreis von
problematischen Verhaltensweisen feststecken: Unser Kind benimmt
sich daneben. Wir reagieren nach altem Muster und schreien etwas
wie: »Warum führst du dich schon wieder dermaßen auf?« Worauf
das Kind sich nach Innen zurückzieht, nicht mehr mit uns redet und
uns vollkommen ratlos zurücklässt. Solche Phasen sind schwierig,
weil das Problem zu »heiß« ist, um es direkt anzugehen: zu viel
Scham (bei den Kindern), zu viele automatische Reaktionen nach
alten Mustern (bei den Eltern). Unsere Versuche, mit dem Problem
umzugehen, stoßen fast immer auf wenig Gegenliebe (»Du verstehst
mich einfach nicht. Lass mich in Ruhe!«) oder schaukeln das Problem
sogar noch weiter hoch (Sie versuchen, mit Ihrem Kind zu reden, aber
das Ganze endet in einem noch heftigeren Streit). Wir müssen also
eine Strategie finden, die uns ermöglicht, das Problem einzukreisen,
statt es frontal anzugehen. Wir kommen sozusagen durch die
Hintertür, statt einfach durch die Haustür hereinzustürmen.
Das ist genau der richtige Zeitpunkt für die »Habe ich dir schon mal
erzählt, wie …«-Strategie. Bei diesem Ansatz zeigen die Eltern durch
das Einbringen ihrer eigenen Erfahrung mit dem Thema, dass sie die
Probleme des Kindes nachvollziehen können. Sie fördern dadurch
Verbundenheit, erkennen das grundlegende Gute in dem Kind an und
zeigen auf, wie Problemlösung funktionieren kann. All das, ohne direkt
über das Problem zu reden, denn das wäre für das Kind in diesem
Augenblick vermutlich zu viel.

Und so wenden Sie die Strategie an

1. Machen Sie sich bewusst, worum es bei diesem Problem geht.


(Kann Ihre Tochter sich nicht über die Erfolge anderer freuen?
Kann Ihr Sohn sich nicht auf die Mathe-Hausaufgaben
konzentrieren, wenn diese ihm schwerfallen?)
2. Betrachten Sie das Problem als das Ihre: Erinnern Sie sich an
eine Zeit, in der es Ihnen als Kind ähnlich erging.
3. Reden Sie mit dem Kind nicht in der Hitze des Gefechts,
sondern erst dann, wenn die Situation sich wieder etwas
beruhigt hat: »Habe ich dir schon mal erzählt, wie …?« Und
dann erzählen Sie Ihrem Sprössling, wie es Ihnen damals
erging.
4. Beziehen Sie Ihr Kind in die Geschichte ein, in der Sie
idealerweise das Problem nicht genial gelöst haben, sondern
vergleichbare Schwierigkeiten hatten und gerade so
durchgekommen sind.
5. Beenden Sie die Geschichte nicht mit einem Hinweis auf die
Parallelen zwischen den beiden Situationen. (»Ist das nicht ganz
ähnlich, wie gerade eben, als du …?«) Das ist gar nicht nötig.
Lassen Sie die Geschichte einfach wirken, sodass sie Ihr Kind
an dem Punkt erreicht, an dem es sich verbunden fühlen wollte.

Warum ist diese Strategie so wirkungsvoll? Weil Sie Ihrem Kind,


wenn Sie eine Geschichte erzählen, bei der Sie genau die gleichen
Schwierigkeiten hatten, letztlich sagen: »Du bist grundlegend gut. Du
bist liebenswert. Du bist wertvoll. Du bist ein gutes Kind, das einen
schwierigen Moment erlebt. Ich sehe das Gute hinter deinem
Verhalten, weil ich auch gut bin und ich den gleichen Kampf
auszufechten hatte.« Das dürfen Sie Ihrem Kind in einem solchen
Moment nicht sagen, denn das wäre zu intensiv. Ihre Kleine würde es
entrüstet von sich weisen. Aber wenn Sie einfach eine Geschichte
von sich selbst erzählen, klingt das schon durch.
Zweitens stellen Sie damit tief drinnen eine enge Verbindung her. Sie
zeigen dem Kind Ihre Verletzlichkeit. Wir vergessen meist, dass
unsere Kinder uns als unfehlbar betrachten. Schließlich gehen uns
Dinge, mit denen sie Schwierigkeiten haben, ganz locker von der
Hand. Das fängt bei so einfachen Sachen an wie Anziehen oder
Schuhe-Binden und hört bei so komplexen Dingen auf wie
Matheaufgaben lösen oder Autofahren. Die Kluft, die sich zwischen
den Problemen des Kindes und den Fähigkeiten der Eltern auftut, ist
für Kinder einschüchternd. Dadurch kann sich (unbeabsichtigt) Scham
einstellen. Jeder von uns hätte Schwierigkeiten damit, etwas zu
lernen und Neues auszuprobieren, wenn wir dabei immer nur von
Experten umgeben wären. Stellen Sie sich vor, Sie würden kochen
lernen und ein Starkoch würde Ihnen dabei dauernd über die Schulter
gucken. Oder Sie müssten Tennis bei Roger Federer lernen. Sie
lernen viel leichter von einem Menschen, der zwar besser kocht als
Sie, aber immer noch gelegentlich den Knoblauch anbrennen lässt.
Oder Tennis bei jemandem, der zwar für seine Collegemannschaft
gespielt hat, dem aber trotzdem gelegentlich Doppelfehler
unterlaufen. Solche Menschen wissen viel, aber nicht zu viel. Wenn
sie uns von ihren Fehlern erzählen, dann sagen sie im Grunde:
»Fehler gehören zum Lernen dazu. Gut zu sein heißt nicht, dass man
nicht zu kämpfen hat. Denn beides ist wahr: Du kannst gut sein und
trotzdem Probleme haben … wie ich.« Ach, was für eine
Erleichterung. Genau das wollen wir unseren Kindern mit auf den
Weg geben.
Was aber ist der wichtigste Teil dieser Strategie? Wenn Sie eine
Geschichte erzählen, in der Sie selbst mit dem gleichen Problem zu
kämpfen hatten wie jetzt Ihr Kind, geschieht etwas Faszinierendes:
Ihr Kind findet Zugang zu seinem inneren Problemlöser. Das ist viel
schwieriger, wenn es das Problem nur als das seine ansieht und das
Problemlöser-Selbst damit überfordert ist. Wenn es Ihre Geschichte
hört, überlegt es sich vielleicht Lösungsmöglichkeiten – für Sie. Damit
aber stärkt es seine eigenen Problemlöser-Schaltkreise, sodass es
dazu, wenn diese dann benötigt werden, leichter Zugang bekommt.
Bei Erwachsenen ist das im Übrigen ganz ähnlich. Manchmal geht uns
dann ein Licht auf, wenn wir über die Schwierigkeiten anderer
Menschen sprechen, und wir sehen Möglichkeiten, die uns zuvor nicht
bewusst waren, als sich das Gespräch um uns drehte. Manchmal
müssen wir einen Kampf nach außen verlagern, damit Scham und
Selbstvorwürfe im Innern aufhören können. Und schon ist da mehr
Raum für die mitfühlenderen, auf Problemlösung ausgerichteten
Stimmen in uns.

Schreiben Sie das Ende um


Wir alle verbocken mal etwas. Das gilt für Sie ebenso wie für mich.
Auch für die »perfekten Eltern« auf Instagram. Wir schreien unsere
Kinder an, fallen in alte Muster zurück, reagieren unsere Probleme an
unseren Kindern ab, machen ihnen Vorwürfe und verpassen ihnen
Etiketten … All das tun wir nicht etwa, weil wir »Rabeneltern« sind,
sondern weil wir schlicht und simpel Menschen sind. Wenn wir also
mit unseren Kindern Situationen erleben, die wir später bedauern,
was können wir dann im Nachhinein tun? Wiedergutmachen.
Wie wir in Kapitel 5 besprochen haben, bietet uns die
Wiedergutmachung die Möglichkeit, das Ende der Geschichte zu
ändern. Statt dass Ihr Kind die Erinnerung an ein Erlebnis
abspeichert, bei dem es sich verängstigt und allein gefühlt hat (und
solche Erinnerungen müssen gar nicht bewusst sein, um im Körper
gespeichert zu werden), erinnert es sich jetzt daran, wie seine Eltern
zu ihm zurückkamen, um ihm wieder ein Gefühl von Sicherheit zu
vermitteln. Und das schafft eine ganz neue Situation.
Ich denke oft, dass gesunde Beziehungen nicht die sind, in denen es
nie zu Konflikten kommt, sondern jene, bei denen Risse gut geflickt
werden. In allen Beziehungen gibt es schwierige Momente, und doch
können gerade sie eine Quelle inniger Verbundenheit sein. Zu solchen
Rissen kommt es, wenn zwei Menschen ganz in ihrem eigenen
Erleben feststecken und nicht fähig sind, für einen Moment aus ihren
Gefühlen herauszutreten, um sich auf den anderen einzulassen.
Selbst wenn wir daran arbeiten, unsere Trigger zu erkennen, wenn
wir uns unserer Muster bewusster werden, sodass diese nicht das
Ruder übernehmen, können wir in engen Beziehungen Risse nicht
immer vermeiden – im Umgang mit Freundinnen, Partnern oder den
Kindern sind sie auf jeden Fall unvermeidlich. Wir müssen also in
Sachen Wiedergutmachung besser werden.
Und ja, es gibt einen Unterschied zwischen Wiedergutmachung und
Entschuldigung. Denn Entschuldigungen dienen häufig nur dazu, ein
Gespräch im Keim zu ersticken (»Es tut mir ja leid, dass ich laut
geworden bin. Aber können wir das jetzt hinter uns lassen?«).
Wiedergutmachung bewirkt, dass die Beteiligten sich öffnen. Sie geht
weiter als die Entschuldigung, weil sie versucht, die Bindung
wiederherzustellen, auch wenn sich jemand verletzt, missverstanden
oder alleingelassen fühlt. Die Worte: »Es tut mir leid«, mögen Teil
einer Wiedergutmachung sein. Aber sie stehen keineswegs für die
ganze Erfahrung.

Und so können Sie das Ende umschreiben

1. Teilen Sie mit, dass Sie reflektiert, also sich Gedanken gemacht
haben.
2. Erkennen Sie die Erfahrung Ihres Gegenübers an.
3. Machen Sie klar, was Sie beim nächsten Mal anders machen
würden.
4. Zeigen Sie sich neugierig, um die Verbindung
wiederherzustellen, jetzt, wo das Gefühl der Sicherheit wieder
da ist.

Hier ein Beispiel, in dem alle vier Schritte Anwendung finden: »Ich
muss dauernd an den Augenblick vorhin denken [Reflexion], als ich in
euer Zimmer gekommen bin, nachdem du den Bauklötzchenturm
deiner Schwester umgeworfen hast. Ich bin sicher, dass du dich über
etwas aufgeregt hast, sonst hättest du das wohl nicht getan
[Anerkennen]. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich
wünschte, ich hätte dich lieber gefragt, was in dir vorgeht [Anders-
Machen]. Sollen wir noch mal von vorn anfangen? Kannst du mir
sagen, wie es dir gegangen ist, bevor du den Turm umgeworfen
hast? Es ist mir wichtig. Ich würde das gerne hören, um dich besser
zu verstehen [Neugier].«
Wenn jemand mit Ihnen gemeinsam etwas reflektiert (»Ich muss
daran denken …«) und Ihre Gefühle akzeptiert (»Du warst
wahrscheinlich ganz schön sauer, sonst hättest du nicht …« oder:
»Es hat sich wahrscheinlich beunruhigend angefühlt, als ich …«),
dann macht diese Person deutlich, dass sie sich für Ihre Gedanken
und Gefühle interessiert und nicht nur für Ihr Verhalten. Wie wir
mittlerweile wissen: Wenn wir nach den Gefühlen hinter bestimmten
Verhaltensweisen fragen, helfen wir unseren Kindern dabei, ein
Bewusstsein für ihre Gefühle aufzubauen und zu lernen, ihre
Emotionen zu regulieren. Wenn wir also das Ende umschreiben,
stärken wir nicht nur die Beziehung zu unserem Kind, sondern
verhelfen ihm auch zu einer besseren Emotionsregulierung. Eine
einfache Maßnahme, die viel bewirkt.
Wenn wir unserem Gegenüber sagen, was wir gerne anders
gemacht hätten, signalisieren wir, dass wir uns Gedanken machen
über das, was wir tun. Wir übernehmen Verantwortung nicht nur für
unser Handeln, sondern auch für den Wandel, den wir anstreben. Und
wenn wir den Mut haben, schwierige Momente nicht einfach
unkommentiert zu lassen, sondern mit Neugier auf den anderen
Menschen zuzugehen, stellen wir Nähe her. Denn damit verdeutlichen
wir, dass in unseren Augen mit einer Entschuldigung der zugefügte
Schmerz nicht vom Tisch ist. Wir machen unserem Gegenüber klar,
dass seine Gefühle und seine Wirklichkeit uns wichtiger sind als unser
Stolz und unsere Komfortzone. Außerdem erfahren wir mehr über den
anderen Menschen und vertiefen die Beziehung, weil wir offen sind für
seine Wahrheit.
Einen Punkt möchte ich noch präzisieren: Ich gehe mit meinen
Kindern nicht immer durch alle vier Phasen. Manchmal sage ich: »Es
tut mir leid, dass ich laut geworden bin.« (Reflexion). Oder: »Ich
habe heftig auf deine Frage reagiert. Das hat sich vermutlich für dich
nicht gut angefühlt … Mir ist das klar, und es tut mir leid. Ich habe
dich lieb.« (Reflexion und Anerkennen). Oder ich sage: »Ich war
gestern sehr schlecht gelaunt – die Arbeit hat mich gestresst. Es war
nicht dein Fehler, als ich mich aufgeregt habe, weil dir dein
Abendessen nicht geschmeckt hat. Das lag einzig und allein an mir,
nicht an dir. Ich wünschte, ich hätte meinen Stress nicht an dir
abreagiert.« (Reflexion, Anerkennen, Anders-Machen).
Also betreiben auch Sie Wiedergutmachung so, wie es für Sie passt.
Manche Strategien sind umfangreicher, andere kurz und knapp. Das
Wichtigste dabei ist, dass Sie die Verantwortung übernehmen und
Ihren Kindern klarmachen, dass nicht sie Ihre Gefühle oder
Reaktionen verursacht haben. Wenn Kinder mit schwierigen Gefühlen
allein gelassen werden, neigen sie zu Selbstvorwürfen (»Ich bin ein
schlechtes Kind.«) und zu Selbstzweifeln (»Habe ich überreagiert?
Vielleicht hat sie gar nicht geschrien? Sollte ich mich nicht daran
gewöhnen, dass andere Menschen so mit mir umgehen?«). Wenn wir
uns um Wiedergutmachung bemühen, verhindern wir, dass unsere
Kinder überhaupt erst auf solche Erklärungen verfallen. Das stärkt ihr
Selbstbewusstsein und ihr Gefühl für Geborgenheit in dieser Welt.
Und vergessen Sie bitte nicht: Nichts fühlt sich für Kinder
schrecklicher an als die Gefühle, mit denen sie alleingelassen
werden. Die Wiedergutmachung ersetzt das Alleinsein durch
Verbundenheit. Und das sollte für uns alle das Wichtigste sein.
Kapitel 12

Wenn Kinder nicht hören


Sonia, Mutter zweier Kinder, kam völlig aufgelöst zu mir in die
Praxis. »Mein Sohn Felix hört einfach nicht auf das, was ich sage«,
erzählte sie. »Er tut nie, worum ich ihn bitte. Er hat keinerlei
Respekt vor mir, und dann fange ich natürlich an, ihn anzuschreien.
Was soll ich denn sonst tun? Bitte helfen Sie mir, Dr. Becky!«

Wenn wir sagen »Mein Kind hört nicht«, reden wir nicht wirklich übers
Zuhören. Mir ist kein Fall bekannt, in dem Eltern sich beschwert
hätten, ihr Kind höre nicht, wenn es heißt: »Auf dem Esstisch steht
Eiscreme für dich.« Oder: »Du kannst ruhig noch länger fernsehen.«
Was wir in Situationen, wie sie Sonia beschrieben hat, in Wirklichkeit
meinen, ist: »Mein Sohn verweigert mir die Kooperation, wenn ich
etwas von ihm verlange, was er nicht tun möchte.«
Wie aber reagieren wir als Erwachsene, wenn jemand uns um etwas
bittet, das wir nicht machen wollen? Nun, das hängt davon ab, wie
nahe wir der fragenden Person in diesem Augenblick stehen. Wenn
ich mit meiner Ehe glücklich bin und mein Mann mich bittet, ihm auf
dem Heimweg von der Arbeit etwas mitzubringen, dann sage ich wohl
eher Ja. Fühle ich mich aber in letzter Zeit missverstanden oder
wenig geschätzt, dann antworte ich, ich hätte dafür keine Zeit.
Je enger wir uns einem Menschen verbunden fühlen, desto mehr
neigen wir dazu, seine Bitten zu erfüllen. Daher ist das »Hören« im
Grunde ein Barometer, das die Stärke der Bindung anzeigt. Wenn
unsere Kinder nicht auf uns hören, dann sollten wir begreifen, dass
das Problem nicht das Kind, sondern die Beziehung ist. Wenn Ihr Kind
Sie ignoriert, wenn es sich Ihren Bitten oder Forderungen meistens
verweigert, dann will es Ihnen sagen, dass es eine ordentliche Portion
Streicheleinheiten braucht. Hierbei geht es nicht um eine
Meinungsumfrage über Ihre Qualifikation als Vater oder Mutter. Sie
sind keine schlechten Eltern, und Sie haben kein böses Kind. Und die
Beziehung zu Ihrem Kind ist keineswegs im Eimer. Alle Eltern-Kind-
Beziehungen brauchen hin und wieder eine Extraportion Liebe
und Aufmerksamkeit.
In meiner Familie bekomme ich (in Form von »Ungehorsam«) immer
wieder Feedback von meinen drei Kindern, welches mir zeigt, dass
ich langsamer machen, über die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes
nachdenken und etwas für unsere Beziehung tun sollte. In solchen
Fällen versuche ich, mir Zeit zu nehmen und zu überlegen, was in
diesem Kind vorgeht, was es sein könnte, das sich hart oder
frustrierend anfühlt, und warum mein Kind sich »nicht beachtet« oder
beiseitegeschoben vorkommt. Das heißt nicht, dass ich mir
Schuldgefühle mache. Aber ich übernehme die Verantwortung,
darüber nachzudenken, warum mein Kind auf Distanz geht und
welcher Teil unserer Beziehung mehr Aufmerksamkeit braucht. Ich
erinnere mich daran, dass Verbundenheit die Bereitschaft zur
Kooperation erhöht, denn wir alle helfen Menschen gerne, denen wir
uns nahe fühlen.
Außerdem gibt es für »taube Ohren« bei Kindern noch einen zweiten
Grund. Mein ältester Sohn drückte das mal so aus: »Eltern wollen
immer, dass Kinder mit etwas aufhören, was Spaß macht, und
stattdessen etwas tun, was ihnen nicht gefällt. Deswegen hören die
Kinder nicht auf sie.« Ich denke, da hat er recht. Vielleicht spielt
unsere Kleine ja gerade mit ihrem Lego, wir möchten aber, dass sie
ins Bad geht. Oder sie verputzt Pfannkuchen mit Schokosplittern, und
wir wollen, dass sie die Schuhe anzieht, damit wir das Haus verlassen
können. Möglicherweise sieht sie auch gerade fern, und wir schalten
das Gerät aus. Wir sagen unseren Kindern, dass sie etwas tun
müssen, was sie aber nicht tun wollen – etwas, das für uns wichtig
ist, aber nicht für sie. Kein Wunder, dass sie die Kooperation in
solchen Fällen verweigern.
Und vielleicht würden Erwachsene da genauso reagieren. Nehmen
wir an, Sie sitzen mit einem guten Freund beim Abendessen und
jemand kommt vorbei und sagt: »Könnt ihr mal damit aufhören und
mir helfen, meine Toilette sauber zu machen?« Ich bin sicher, Sie
beide würden dieses Ansinnen ablehnen und sich wieder Ihrer
Mahlzeit widmen.
Eltern machen das leider oft: Sie möchten, dass die Kinder mit
etwas aufhören, was sie gerne tun, und stattdessen etwas machen,
was ihnen gar nicht liegt. Das bedeutet nicht, dass wir von unseren
Kindern gar nichts mehr verlangen dürfen – wir werden unsere Kinder
immer bitten müssen, Dinge zu tun, auf die sie keine Lust haben.
Letztlich geht es aber darum, wie wir unser Ansinnen formulieren.
Herumzuschreien ist zum Beispiel eher kontraproduktiv. Wenn wir
anfangen zu brüllen, versetzt das den kindlichen Körper in
Alarmzustand. Kinder erleben den aggressiven Ton der Eltern, deren
Lautstärke und Körpersprache als dermaßen bedrohlich, dass sie in
diesem Zustand nicht verarbeiten können, was die Eltern eigentlich
sagen. Denn ihre ganze Energie richtet sich darauf, diesen
gefährlichen Moment zu überstehen.
Hat das bockige Verhalten Ihres Kindes Sie je derart frustriert, dass
Sie geschrien haben: »Hörst du eigentlich, was ich dir sage?«. Die
Antwort auf diese Frage lautet: Nein. Das Kind »hört« in diesem
Augenblick nicht. Und das ist kein Zeichen von mangelndem Respekt
oder Ungehorsam. Vielmehr verfällt sein Körper in diesem Moment in
Schockstarre. Dabei wollen wir unsere Kinder ja nicht in Angst und
Schrecken versetzen. Wir wollen nicht, dass sie gerade dann
erstarren, wenn wir möchten, dass sie mit uns zusammenarbeiten.
(Vergessen Sie nicht: Sie sind auch dann gute Eltern, wenn Sie
einmal losbrüllen. Und wenn Sie doch laut geworden sind, können Sie
danach immer noch Wiedergutmachung leisten.) Wenn wir unsere
Bitte mit Verbundenheit, Respekt und Vertrauen aufladen und ein
spielerisches Moment in die Diskussion bringen, dann legt sich seine
anfängliche Widerspenstigkeit und unser Kind macht bereitwillig mit.

Die Strategien
Stellen Sie die Verbindung her, bevor Sie fragen
Wenn Sie möchten, dass Ihr Kind Ihnen zuhört, sollten Sie ihm in
seiner Welt begegnen, bevor Sie es bitten, etwas in Ihrer Welt zu tun.
Ein Kind muss sich beachtet fühlen, bevor es mit Dingen aufhört, die
es mag (zum Beispiel malen oder mit Knete spielen), und etwas tut,
was Ihnen wichtig ist (wie die Malsachen aufzuräumen). Sich
beachtet zu fühlen ist ein wunderbarer Bindungsstifter. Wenn wir uns
jemandem nahe fühlen, dann lassen wir uns selbstverständlich auf
Kooperation ein. Wenn wir mit Worten bestätigen, was unser Kind
gerade tut, dann ist das, als würden wir sagen: »Ich sehe dich: Du
bist ein realer Mensch mit realen Wünschen, Gedanken und
Gefühlen.« So senden wir die Botschaft, dass wir unserem Kind
zuhören. Das Kind wird sich dann revanchieren und seinerseits auf
uns hören.
Beispiele:

»Wow, du hast ja einen tollen Turm gebaut. Ich weiß, dass es


ein bisschen unangenehm ist, jetzt ins Bad zu müssen. Aber
wenn wir das mit dem Bad schnell hinter uns bringen, kannst du
vor dem Schlafengehen noch weiterbauen.«
»Ich weiß, es ist schade, wenn der Spielenachmittag zu Ende
geht. Du hast heute viel Spaß gehabt! Wir müssen jetzt gehen,
aber Mathias’ Mama und ich vereinbaren bald wieder einen
solchen Nachmittag.«

Lassen Sie dem Kind eine Wahl


Diese Strategie klappt super, wenn man sie mit der »Verbindung vor
der Frage« verknüpft. Wenn Sie Ihrem Kind die Möglichkeit geben,
etwas selbst zu entscheiden, wird es eher kooperieren. Denn
niemand wird gern herumkommandiert, vor allem Kinder nicht, die
ohnehin schon das Gefühl haben, dauernd kontrolliert zu werden. Die
Auswahl-Strategie lässt sich bei Kindern jeden Alters anwenden.
Selbst Ihr Zweijähriger wird beim Zähneputzen eher mitspielen, wenn
er dafür ins Bad sausen darf wie ein Rennauto oder fliegen wie eine
Rakete. Schlagen Sie aber nur Optionen vor, die für Sie in Ordnung
sind. Und zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie seiner Entscheidung
vertrauen.
Beispiele:

»Wir können uns jetzt von Abby verabschieden und nach Hause
gehen oder ihr könnt noch ein Kartenspiel machen. Das
überlasse ich dir … Noch ein Spiel? Okay. Ich weiß, dass du
nachher mitkommst, daher ist das in Ordnung.«
»Du kannst dein Geschirr jetzt wegräumen oder du machst es
nach dem Duschen … Nach dem Duschen? Okay. Ich vertraue
dir, dass du das wirklich tust. Hört sich gut an.«

Humor
Humor eröffnet uns fast immer die Gelegenheit, einen anderen
Blickwinkel einzunehmen. Und genau das brauchen wir, wenn wir von
unseren Kindern etwas verlangen. Wenn wir unsere spielerische Seite
reaktivieren, statt frustriert zu sein, schließen wir uns unseren Kindern
in der Welt an, die sie lieben – eine Welt voller Lachen,
Unbeschwertheit und Fröhlichkeit. Und im Grunde wollen wir diese
Welt ja auch für uns. Wenn wir das Lachen in die Gleichung
einbeziehen, fühlen unsere Kinder sich uns eher verbunden und lösen
diese gerne mit uns.
Beispiele:

»Oh je, deine Ohren zum Zuhören scheinen verloren gegangen


zu sein! Moment, warte mal. Ich glaube, ich habe sie gerade
wieder entdeckt. Das glaubt kein Mensch … Sie waren im
Blumentopf! Wie sind sie da nur hingekommen? Wir kleben sie
dir besser wieder an, bevor sie anfangen zu keimen!«
»Ich weiß ja … es nervt, wenn Eltern so lange reden! Und wenn
ich ein bisschen im Kreis tanze, während ich spreche, hättest du
dann Lust, mir zuzuhören?«

Der Schließ-die-Augen-Trick
Ich bin eigentlich kein Fan von Elterntricks, weil sie gewöhnlich
kurzfristiges Gehorchen über langfristige Verbundenheit stellen. Aber
auf eine meiner Lieblingsstrategien, den Schließ-die-Augen-Trick, trifft
das nicht zu. Mit diesem Trick geben Sie Ihren Kindern alles, was sie
brauchen, damit sie bereit sind zuzuhören: Respekt, Vertrauen,
Unabhängigkeit, Kontrolle und ein spielerisches Element. Und das
geht so: »Ich schließe jetzt meine Augen«, sagen Sie und legen die
Hand über Ihre Augen. »Ich meine ja nur: Wenn ich die Augen öffne
und da ist plötzlich ein Kind, das die Schuhe anhat … wenn da ein
Kind ist, fertig angezogen und verpackt … dann weiß ich nicht, was
ich tue! Dann bin ich so richtig durcheinander! Vielleicht mache ich
sogar … oh nein … einen Wackeltanz, bei dem ich herumeiere und
vielleicht sogar auf den Boden falle!« Kurze Pause. Warten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind jetzt blitzschnell seine Schuhe
anzieht, ist gerade sehr groß geworden. Warum? Weil die Initiative
nun bei Ihrem Kind liegt. Es hat alles unter Kontrolle, statt kontrolliert
zu werden. Ihr Kind hat das Gefühl, dass Sie ihm vertrauen, weil Sie
ja die Augen geschlossen haben. (Auch wenn Sie ein bisschen
blinzeln.) Dazu kommt noch, dass Sie herumblödeln und etwas total
Unsinniges versprechen. Welches Kind kann dem schon widerstehen:
Eltern, die tapsig tanzen und dann hinfallen und total lächerlich
aussehen?
Die Strategie funktioniert auch bei älteren Kindern. Viele Eltern von
Sieben- oder Achtjährigen erzählen mir, dass ihre Kinder nicht nur auf
den Schließ-die-Augen-Trick eingehen, sondern sogar darum bitten.
Wenn Sie überzeugt sind, dass das bei Ihrer Teenagerin nie klappen
wird, dann wenden Sie einfach nur das Grundprinzip dieser Strategie
an. Versuchen Sie es mit: »Ich sehe, dass du dein Zimmer noch nicht
aufgeräumt hast … Hmm, ich gehe jetzt runter und mache das
Abendessen. Ich vertraue dir, dass du dein Versprechen gehalten und
deine Sachen weggeräumt hast, bevor du zum Essen runterkommst.«
Das funktioniert genauso: mithilfe von Vertrauen. Und das
Spielerische? Sagen Sie doch beim Weggehen: »Ich meine ja nur:
Wenn dieses Zimmer am Ende aufgeräumt ist, dann fange ich
vielleicht sogar an zu singen.«
Wenn Sie sich fragen, warum diese Strategie so gut funktioniert,
dann stellen Sie sich vor, Ihr Chef verlange von Ihnen, dass Sie einen
Bericht überarbeiten. Welchen Unterschied würde es gefühlsmäßig
für Sie machen, wenn er währenddessen neben Ihrem Schreibtisch
stehen bleibt oder wenn er nach ein paar ermutigenden Worten in
sein Büro zurückgeht? Im letzteren Fall würde ich mit Sicherheit
besser arbeiten. Wir alle schätzen es, wenn man uns vertraut, statt
uns zu kontrollieren. Und wenn mein Chef sogar versprechen würde,
etwas völlig Idiotisches zu tun, sobald der Bericht fertig ist? Dann
würde ich mich schleunigst ans Werk machen. Diese Gelegenheit
würde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.

Der Rollentausch
Es gibt vieles, was wir in »reibungsfreien« Situationen tun können,
damit unsere Kinder dann im entscheidenden Fall eher mitziehen. Je
mehr wir einem Kind das Gefühl geben, dass wir es beachten und
ihm dahingehend vertrauen, dass es unabhängig ist und seine
Angelegenheiten im Griff hat, desto eher wird es auf unsere Bitten
hören. Das ist eine echte Erleichterung, weil es Tag für Tag unzählige
Möglichkeiten gibt, Bindungs- und »Hör«-Kapital aufzubauen.
Es gibt zum Beispiel das »Ich höre jetzt auf dich«-Spiel. Stellen Sie
es Ihrem Kind so vor: »Ich weiß, dass Kinder es nicht leicht haben.
Es gibt so viele Dinge, die die Eltern von dir wollen! Also spielen wir
jetzt ein Spiel. In den nächsten fünf Minuten bist du der Erwachsene
und ich das Kind. Ich muss tun, was du sagst, vorausgesetzt es ist
nicht gefährlich.« Erklären Sie Ihrer Kleinen, dass das Spiel nichts mit
Essen oder Geschenken zu tun hat. (Ihr Kind kann Ihnen nicht
befehlen, ihm 100 neue Pokémonkarten zu kaufen oder 30 Tüten
Smarties.) Es geht einfach um Alltagstätigkeiten – was genau ist nicht
wichtig. Was zählt, ist nur, dass Sie Rollen tauschen. Erlauben Sie
Ihrem Kind, mit der Rolle des mächtigen Erwachsenen zu
experimentieren. Drücken Sie Ihr Mitgefühl aus für die Probleme des
Kindseins. Während des Spiels können Sie ruhig ein wenig
übertreiben, wenn Sie gehorchen müssen. Zum Beispiel: »Ihhh! Echt
jetzt? Ich muss das Lego wegräumen? Ich maaaaaag aber nicht.«
Oder: »Mäh, ich mag jetzt aber nicht duschen!« Ich finde das Spiel
auch für mich recht nützlich. Es erinnert mich daran, wie schwer es
sein kann, Befehle auszuführen, wenn man eigentlich lieber etwas
anderes täte.

Und wie hilft das alles jetzt Sonia und Felix?


Wenn Felix wieder einmal nicht hören will, sagt Sonia zu sich: »Ach,
hallo, Frust, da bist du ja wieder. Ja, es ist schrecklich, eine Mutter zu
sein, wenn das Kind im Ich-höre-nicht-Stadium ist.« Dann erinnert sie
sich: »Beim Hören geht es eigentlich um Kooperation. Und
Kooperation erwächst aus Verbundenheit.« Sonia atmet tief durch
und tauscht später am Tag mit Felix die Rollen. Er sagt Sonia, sie
solle auf einem Bein auf und ab hüpfen. Dann muss sie die Malkreide
wegräumen und immer wieder alberne Tänze aufführen. Kein
Wunder, dass Felix dieses Spiel liebt. Sonia macht es auch mehr
Spaß als sie erwartet hatte.
Bevor Sonia Felix am Abend bittet, sein Zimmer aufzuräumen, gibt
sie ihm noch eine ordentliche Portion Bestätigung: »Mein Schatz, bald
ist es Zeit, mit den Bauklötzchen aufzuhören. Ich weiß, dass dir das
Spielen Spaß macht! Aber bald sagen wir den Klötzchen gute Nacht,
sammeln deine Kleidung vom Boden auf und dann werden die Zähne
geputzt. Möchtest du gleich aufräumen oder erst in zwei Minuten?«
Und sie merkt überrascht, dass der Widerstand nachgelassen hat,
weil sie Felix die Wahl gelassen und ihm ihre Verbundenheit gezeigt
hat.
Kapitel 13

Wutanfälle
Der dreijährige Ezra kommt in die Küche und will von Orly, seiner
Mutter, Eis zum Frühstück. Orly sagt freundlich: »Eis? Nein, Schatz,
das geht nicht. Wie wäre es denn mit einem Nutella-Brot?« Ezra
aber schreit: »EIS JETZT! Ich will Eis. Ich brauche jeeeeetzt Eis!«
Dann lässt er sich auf den Boden fallen, weint scheinbar endlos und
schreit immer wieder nach Eis.

Wutanfälle sind normal. Tatsächlich sind sie nicht nur normal, sondern
gesund. Klar heißt das nicht, dass sie Spaß machen oder angenehm
sind. Natürlich nicht. Wutanfälle sind eine Nervenprobe für jeden, der
darin verwickelt ist. Und doch gehören sie zur gesunden Entwicklung
eines Kindes. Wutanfälle – jene Momente, in denen Ihr Kind
buchstäblich »ausrastet« – sind ein klares Signal: Ihr Kind wird mit
den emotionalen Anforderungen der Situation nicht fertig. Wenn es
einen Wutanfall hat, erlebt Ihr Kind ein Gefühl, einen Drang, eine
Empfindung, die seine Fähigkeit zur Emotionsregulierung übersteigt.
Das dürfen wir nicht vergessen: Wutanfälle sind, biologisch gesehen,
Fehlregulierungen und keine bewussten Akte des Ungehorsams.
Wutanfälle beginnen häufig damit, dass das Kind etwas will (Eis) und
etwas (oder jemand, in diesem Fall ein Elternteil) sich seinem Wunsch
entgegenstellt. Nicht zu bekommen, was man will, ist eine der
schwierigsten menschlichen Erfahrungen – für Kinder ebenso wie für
Erwachsene. In einem Wutanfall steckt folgende Botschaft: »Auch
wenn du Nein sagst, weiß ich immer noch, was ich will. Mein ganzer
Körper zeigt dir, dass mein Wunsch in mir lebendig ist und ich
frustriert bin, weil er nicht erfüllt wird.« Sollten wir gefährliche
Verhaltensweisen während des Wutanfalls verhindern? Absolut.
Sollten wir selbst ruhig bleiben? Aber sicher. Ist es unsere Aufgabe,
den Wutanfall im Keim zu ersticken, sodass er gar nicht erst
ausagiert wird? Nein, auf keinen Fall. Und das hat seinen Grund: Wir
wollen ja, dass unsere Kinder den Mut haben, sich Dinge zu
wünschen.
Als Eltern wollen wir, dass unsere Kinder fähig sind, ihre Wünsche
zu erkennen und zu äußern, sich darüber bewusst zu bleiben: »Ich
weiß, was ich will, selbst wenn jemand Nein sagt.« Aber wir können
von unseren Kindern, solange sie klein sind, nicht
Unterwürfigkeit und Gehorsam fordern und dann, sobald sie
älter sind, von ihnen erwarten, dass sie plötzlich
Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft beweisen. So
funktioniert das einfach nicht. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind ist jetzt 25
Jahre alt. Möchten Sie, dass Ihr Sohn unmissverständlich sagt: »Nein,
das möchte ich nicht«, wenn jemand von ihm etwas verlangt, was
gegen seine Überzeugung geht? Möchten Sie, dass Ihre Tochter in
der Lage ist, eine Gehaltserhöhung zu verlangen? Oder ihrem Partner
zu sagen: »Ich möchte, dass du mir gegenüber respektvoller bist«?
Wenn wir wollen, dass unsere Kinder als Erwachsene ihre Wünsche
und Bedürfnisse kennen, dann sollten wir Wutanfälle als nötigen
Entwicklungsschritt akzeptieren.
Wenn der Auslöser für Wutanfälle ist, dass ein Kind sich etwas
wünscht und es nicht bekommt, was genau »explodiert« dann, wenn
es »ausrastet«? Nun, hinter jedem einzelnen Wutanfall steht ein Kind,
das ein gewisses Quantum an Stress aufgebaut hat – eine Mischung
aus Frustration, Enttäuschung, Eifersucht, Trauer und Ärger. Ich stelle
mir Wutanfälle manchmal als Eruption vor, als Moment, in dem »das
Gefäß voller aufwühlender Gefühle« überkocht. Was diesem Anfall
unmittelbar vorausgeht, ist nur der letzte Tropfen, der das Fass
überlaufen lässt. Dann ist mir klar, dass der Wutanfall meines Kindes
keine enervierende oder lächerliche Überreaktion ist, sondern der
emotionale Ausdruck eines Menschen, der Leid erfährt und damit
nicht fertig wird. Wir Erwachsenen sollten uns daran erinnern, dass
auch wir manchmal kleine Nervenzusammenbrüche erleben. Auch bei
uns gibt es diesen Punkt, an dem der Stress zu viel wird und wir bei
der erstbesten Kleinigkeit ausrasten. Stellen Sie sich vor, Sie hätten
Ihre Brieftasche verloren, bei der Besprechung im Büro Kritik
einstecken müssen und erfahren, dass Ihre Freundin sich zum
Abendessen mit jemand anderem verabredet hat. Und nun kommen
Sie nach Hause und wollen nichts weiter, als sich Ihr Lieblings-T-Shirt
überziehen und sich aufs Sofa plumpsen lassen. Da müssen Sie
feststellen, dass das gute Stück in der Wäsche eingegangen ist und
nicht mehr passt. Sprächen wir jetzt von mir, hieße das: Ich breche in
Tränen aus. Und vielleicht schreie ich laut: »Nein, nein, nein, nein!«
Und wenn dann mein Partner noch sagt: »Becky, das ist doch keine
große Sache. Nimm dir einfach ein anderes T-Shirt.« … Nun, sagen
wir einfach: Meine Reaktion würde nicht gerade freundlich ausfallen.
Würde mein Partner allerdings bemerken, dass hinter meiner
Reaktion etwas anderes stecken muss, dass ich an jenem Tag
einiges durchgemacht habe, dass an der ganzen Geschichte mehr
dran ist, als sich auf den ersten Blick zeigt … dann würde ich mich
sofort beruhigen, weil ich mich verstanden und sicher fühlen würde,
weil ich wüsste, dass ich grundlegend gut bin. Das eingelaufene T-
Shirt war nur der Trigger. Die eigentliche Ursache für meinen
Ausbruch waren die Enttäuschung, Frustration und Trauer, die sich im
Laufe des Tages angestaut haben. Wenn wir unseren Kindern durch
ihre Wutanfälle hindurchhelfen wollen, müssen wir hinter das Ereignis
blicken können, das den »Ausraster« ausgelöst hat, und die
wirklichen, schmerzlichen Gefühle dahinter verstehen. Zu erkennen,
was tatsächlich hinter einem Wutanfall steckt, und auf das Innenleben
unseres Kindes zu reagieren statt auf sein äußeres Verhalten, ist eine
unerlässliche elterliche Fähigkeit.
Die Strategien, die ich Ihnen hier vorstelle, helfen Ihnen bei dieser
Aufgabe. Sie empfehlen sich für die Fälle, wenn es um einen rein
emotionalen Ausbruch geht – wenn er also nicht mit physischer
Aggression wie Schlagen, Spucken, Beißen, Treten oder Mit-
Sachen-Werfen einhergeht. Wutanfälle, die mit körperlicher
Aggression einhergehen und bei denen Grenzen verletzt werden,
erfordern einen anderen Ansatz, mit dem wir uns im nächsten Kapitel
beschäftigen. Die im Folgenden vorgestellten Maßnahmen haben
durchweg ein Ziel: dem Kind bei der Regulierung seiner Emotionen zu
helfen. Es geht dabei nicht darum, den Wutanfall abzustellen.
Beabsichtigen wir lediglich, das Schreien und Weinen zu unterbinden,
lernen die Kinder nur eines: »Die Gefühle, mit denen ich nicht fertig
werde, überfordern auch meine Eltern. Sie versuchen, sie
abzuschalten, was bedeutet, dass meine Gefühle genauso schlecht
sind, wie sie sich anfühlen.« Unsere Kinder können nicht lernen, wie
sie mit einem schwierigen Gefühl umgehen können, wenn wir
Erwachsene dieses umgehen oder abstellen wollen. Daher sollte
unser vordringlichstes Ziel bei Wutanfällen sein, selbst ruhig zu
bleiben und für die Sicherheit unserer Kinder zu sorgen. Danach
sollten wir für sie da sein, damit die Kinder sehen, wie wir trotz ihrer
fehlregulierten Gefühle unsere eigenen Emotionen weiterhin unter
Kontrolle haben. Die unten aufgeführten Maßnahmen zielen alle
darauf ab, die Verbundenheit mit Ihrem Kind zu stärken, unser
Verständnis zu bezeugen und ihm klarzumachen, wie es an seinem
grundlegenden Gutsein festhalten kann.

Die Strategien
Erinnern Sie sich an Ihr eigenes grundlegendes
Gutsein
Eltern haben meist Probleme, angesichts von Wutanfällen ruhig zu
bleiben, weil die Fehlregulierung unserer Kinder Selbstvorwürfe bei
uns auslöst. Denn äußere Schuldzuweisungen gehen immer mit
inneren einher. Wenn wir uns fragen: »Was stimmt nicht mit meinem
Kind?«, fragen wir uns gleichzeitig auch: »Was stimmt nicht mit mir?«
Vielleicht denken wir ja auch: »Ich mache das mit der Erziehung nicht
richtig.« Das ist ein ziemlich schmerzhafter Gedanke. Und daher
versuchen wir häufig, den Wutanfall abzustellen, um unsere eigenen
Unzulänglichkeitsgefühle loszuwerden. Wenn Ihr Kind also das
nächste Mal ausrastet, dann sagen Sie sich, bevor Sie irgendetwas
anderes tun: »Mit mir stimmt alles. Mit meinem Kind stimmt alles. Ich
kann damit umgehen.« Vielleicht drucken Sie sich dieses Mantra aus
und hängen es irgendwo auf, am Badezimmerspiegel zum Beispiel,
oder Sie stellen es auf Ihren Nachttisch. Dadurch wird dieser
Gedanke zu einem Teil Ihrer täglichen Routine. Er hilft Ihnen mehr als
alles andere, bei einem Wutanfall ruhig zu bleiben.
Beides ist wahr
Ich möchte auch, dass Sie die folgenden Worte auswendig lernen:
»Beides ist wahr: Ich bin für diese Entscheidung verantwortlich, und
meine Antwort ist Nein. Du hingegen bist verantwortlich für deine
Gefühle, und du darfst dich aufregen.« Die Worte selbst sind nicht so
wichtig wie die Idee dahinter und Ihr Tonfall. Die Idee: Wir dürfen
Entscheidungen treffen, und unsere Kinder dürfen ihre Gefühle haben.
Der Tonfall: Wir wollen nicht, dass unsere Worte kalt und distanziert
klingen, als wollten wir sagen: »Du kannst dich ruhig aufregen, das ist
mir völlig egal.« Wir wollen unseren Kindern die Erlaubnis für ihre
Emotionen geben und ihnen unser Mitgefühl zeigen. Möglicherweise
möchten Sie ja etwas sagen wie: »Ich verstehe, warum du dich so
fühlst.« Oder: »Ich weiß, das ist wirklich hart.« Und: »Kindsein kann
sehr schwierig sein.« Im Umgang mit Wutanfällen sind drei Dinge von
entscheidender Bedeutung: Wir sind nicht verantwortlich für die
Gefühle unserer Kinder. Unsere Kinder müssen sich mit unseren
Entscheidungen nicht einverstanden erklären. Und wenn wir ihnen
vermitteln, dass ihre Gefühle in Ordnung sind, lernen sie, dass sie
auch intensive Emotionen haben dürfen – und das ist wichtig für jede
Form der Emotionsregulierung.

Benennen Sie den Wunsch


Eine meiner Lieblingsstrategien im Umgang mit Wutanfällen ist es,
den dahinterstehenden Wunsch deutlich zu benennen: Sie sprechen
laut aus, was Ihr Kind sich wünscht, aber nicht bekommt. Schließlich
steht immer ein unerfüllter Wunsch dahinter, ob er sich nun auf etwas
Konkretes bezieht, wie Eis zum Frühstück, oder eher innere
Bedürfnisse betrifft, wie mehr Beachtung oder mehr Freiraum zu
bekommen. Wenn wir diesen Wunsch benennen, blicken wir sofort
unter die Oberfläche und erkennen, was sich so schlimm anfühlt:
etwas haben zu wollen und es nicht zu bekommen. Den Wunsch zu
benennen, stellt die Verbindung mit Ihrem Kind wieder her. Es
beweist Ihr Mitgefühl, sodass das Kind sich beachtet und damit
sicher und grundlegend gut fühlt. Schon beruhigt es sich wieder.
Wünsche zu benennen, kann einfach und schnell gehen oder es kann
sich zu einem Gespräch über größere Themen auswachsen. Von den
einfachen Wünschen wie: »Ich weiß, du hättest gerne Eis zum
Frühstück« oder: »Du würdest gerne später ins Bett gehen« zu
umfassenderen Themen wie: »Du möchtest alle Entscheidungen, die
dich angehen, selbst treffen« und: »Du wünschst dir, das wäre nie
passiert.«

Bestätigen Sie die Intensität


Man rät Eltern ja gerne, »das Gefühl zu benennen«, wenn unsere
Kinder sich aufregen (»Du bist so wütend!« oder: »Ich weiß, dass du
sehr traurig bist«). Das ist tatsächlich nützlich, wenn wir in
»normalen« Momenten versuchen, mit unseren Kindern zu reden. Bei
Wutanfällen aber ist es meiner Erfahrung nach wirksamer, wenn wir
anerkennen, dass das Gefühl wirklich stark ist. Wenn wir das
Ausmaß ihrer Gefühle anerkennen, helfen wir unseren Kindern, eine
verwirrende Fülle an Emotionen als etwas Konkretes und Fassbares
zu sehen. Vielleicht hat Ihr Kind Probleme, wenn es warten muss, bis
die Schwester die Malkreide nicht mehr braucht. Dann könnten Sie
sagen: »Du möchtest diese Kreide haben … Du möchtest sie SO
SEHR … mindestens so sehr, wie dieses Zimmer groß ist. Oder
vielleicht wie das ganze Haus. Wie? Wow, so groß also wie unser
ganzes Viertel!« Oder sagen wir, Sie möchten den Park verlassen
und Ihr Kind ist darüber echt sauer. Um das Ausmaß der Gefühle zu
benennen, könnten Sie sagen: »Du bist heute wütender als sonst …
so wütend wie dieses ganze Auto! Nein, noch wütender! So wütend
wie ein Elefant!« Wenn Ihr Kind dann mitspielt, sagt es vielleicht:
»Nein, so wütend wie eine ganze Elefantenherde!« Das ist gut, denn
es heißt, das Kind fühlt sich verstanden, was die Intensität seiner
Gefühle angeht. Es kann ausdrücken, wie ernst ihm dieser
Augenblick ist. Sobald Sie ihm diese Bestätigung gegeben haben,
machen Sie eine kurze Pause. Sehen Sie Ihr Kind liebevoll an, und
sagen Sie zu ihm: »Ich bin froh, dass ich weiß, wie stark dein Gefühl
ist. Das ist wirklich wichtig, denn ich bin für dich da.«

Und wie hilft das alles jetzt Ezra und Orly?


Orly sieht, wie Ezra sich auf den Boden wirft, und erinnert sich, was
ihre Aufgabe ist, wenn ihr Sohn einen Wutanfall hat: »Meine Aufgabe
ist es, ruhig zu bleiben und für die Sicherheit meines Kindes zu
sorgen … nicht aber, den Wutanfall zu beenden.« Also atmet Orly tief
durch und erkennt, dass Ezra einen schwierigen Moment durchlebt,
nicht sie. Sie macht sich klar, dass der Ausraster vermutlich das
Ergebnis vieler emotional schwieriger Momente ist, die sich in Ezra
aufgestaut haben. Momente, die sich nicht gut angefühlt haben, in
denen er sich aber zusammennehmen musste. Und jetzt, in diesem
»Ich will Eis zum Frühstück«-Augenblick, bricht sich all das Bahn.
Orly sagt sich: »Mit mir stimmt alles. Mit meinem Kind stimmt alles.
Ich kann damit umgehen.« Dann sagt sie zu Ezra: »Beides ist wahr:
Eis gibt es nicht zum Frühstück. Und du darfst dich darüber aufregen.
Ich verstehe dich ja. Ich esse auch gerne Eis. Aber wenn du bereit
bist, suchen wir etwas anderes aus, was dir zum Frühstück
schmeckt.« Als er das hört, hält Ezra kurz inne. Dann fängt er wieder
an zu weinen und Eis zu verlangen. Orly setzt sich neben ihn auf den
Boden und sagt: »Du möchtest wirklich gerne Eis. Ich weiß ja. Du
wünschst es dir so doll, wie der Löwe stark ist, den wir gestern im
Fernsehen gesehen haben … Nein? So doll wie der Elefant? Das ist
schlimm, wenn man etwas so sehr will und es nicht haben kann.« Sie
wartet, bis der Wutanfall abebbt. Orly ist erschöpft, Ezra ebenso.
Aber Orly macht sich klar, dass sie ihre Aufgabe gut gemacht hat.
Kapitel 14

Aggressive Wutanfälle (Schlagen,


Beißen und Mit-Sachen-Werfen)
Der vier Jahre alte Liam sieht, wie seine sechsjährige Schwester
Charlotte sich in der Küche eine blaue Trinkflasche holt. Liam
schreit: »Nein, die will ich! Blau ist meine Lieblingsfarbe.« Allison,
die Mutter der beiden, setzt Grenzen: »Charlotte hat sich die aber
schon genommen. Ja, ich weiß. Aber du kannst für heute mal die
grüne oder die rote nehmen.« Liam explodiert. Er marschiert zu der
Schublade mit den Trinkflaschen, zieht sie auf und bevor Allison
noch eingreifen kann, fängt er an, die Kunststoffflaschen durch den
Raum zu werfen. Allison geht zu ihm, und er fängt an, sie zu
schlagen und zu zwicken und schreit: »Ich hasse dich! Ich hasse
dich!«

Selbst solche Wutanfälle sind normal. Und gesund. Versprochen!


Diese Art von Ausrastern – bei denen Grenzen verletzt werden
(aggressives Verhalten und körperliche Angriffe auf andere
Menschen) – sind ein Signal, dass der Frontallappen des kindlichen
Gehirns, der unter anderem für die Kontrolle des Sozialverhaltens
zuständig ist, sich im Offline-Modus befindet. Das Kind wird
buchstäblich überflutet und fühlt sich extrem bedroht. Schlagen,
Treten, Zwicken, Spucken, Beißen … diese Verhaltensweisen zeigen
uns, dass sich der Körper des Kindes gefährdet sieht. Daher kann es
seine Gefühle nicht regulieren und reagiert so, wie wir dies bei
Gefahr auch tun würden: Es kämpft heftig, um sich selbst zu
schützen.
Der präfrontale Kortex ist jener Teil des Gehirns, der für die
Entwicklung von Sprache, Logik, Planung und situativer Anpassung
verantwortlich ist (lauter Faktoren, die uns bei der
Emotionsregulierung helfen und uns erden). Dieser Teil ist bei kleinen
Kindern noch extrem unterentwickelt. Daher können sie emotional
regelrecht explodieren. Kinder können von Geburt an Gefühle und
Erfahrungen erleben, sind jedoch noch unfähig, deren Intensität zu
regulieren. Sie verstehen die Angst und den Stress im Körper nicht,
wie Erwachsene das tun. Wenn es ihnen schlecht geht, dann fühlt
sich das nicht nur unangenehm, sondern beängstigend an. Bei der
Trinkflaschengeschichte muss Liam nicht nur mit der Enttäuschung
fertigwerden, dass er die blaue Flasche nicht bekommt. Er wird auch
völlig überrumpelt von der starken Frustration, die er empfindet. Er ist
frustriert, hat aber auch Angst vor dieser Empfindung.
Was heißt das nun biologisch betrachtet? Sein Cortisolspiegel steigt
(Stresshormon), sein Blutdruck und seine Atemfrequenz ebenfalls.
Das Resultat? Er kann nicht mehr klar denken. Er ist im Kampf-
Flucht-Modus, ausgelöst von der »Bedrohung« durch überwältigende
und verwirrende Empfindungen in seinem Körper. Da Kinder
Veränderungen als bedrohlich empfinden, bis ihre Bezugspersonen
ihnen etwas anderes signalisieren, sind explosive Ausbrüche eine Art
zu sagen: »Ich habe Angst vor den Empfindungen in meinem Körper.
Ich verstehe nicht, was mit mir passiert. Ich werde von diesen
grässlichen Gefühlen überwältigt und kann mich nicht von ihnen
befreien, weil sie in meinem Inneren sind. Hilf mir!«
Lernen, ruhig zu bleiben und Ihrem Kind bei wirklich explosiven
Ausbrüchen zu helfen, ist alles andere als leicht. Das liegt teils am
Verhalten unserer Kinder, aber auch daran, was in diesen Momenten
von uns gefordert ist. Wenn wir als Eltern diese Erregungsspirale
anhalten wollen, müssen wir Autorität verkörpern. Das hört sich zwar
bestärkend an, ist aber für viele Erwachsene schwierig, gerade für
Frauen: Es geht darum, selbstsicher aufzutreten und Raum
einzunehmen. Und eben weil es so schwierig ist, verlangen Eltern oft
unbewusst von ihren Kindern, Verantwortung für diese schwierigen
Momente zu übernehmen, statt einfach zu sagen: »Ich bin hier
der*die Erwachsene. Ich trage die Verantwortung. Ich weiß, was zu
tun ist.«
Eine weitere Schwierigkeit ist: Wenn wir unsere Autorität auf diese
Weise verkörpern, dann müssen wir ertragen, dass unser Kind über
uns nicht gerade glücklich ist. Möglicherweise schreit es: »Nein, du
nimmst mich jetzt nicht hoch!«, wenn wir es strampelnd wegtragen.
Oder es durchbohrt uns mit wütenden Blicken, wenn wir es von einem
Freund trennen. Das heißt, wir müssen uns so schwierigen Fragen
stellen wie: »Wie ist es für mich, wenn ich eine Entscheidung treffe,
die auf Gegenwehr stößt?« Oder: »Wie fühlt es sich an, wenn ich
meine Autorität behaupte?« Und: »Wie geht es mir, wenn jemand,
den ich liebe, auf mich wütend ist? Was würde ich dann am liebsten
tun?« Diese Fragen sind wichtig, wenn wir Autorität verkörpern
wollen, damit wir unseren Kindern, sobald sie außer Kontrolle sind,
zeigen können, dass wir sie lieben, indem wir Grenzen setzen.
Wenn Sie Ihre eigenen Probleme mit dem Verkörpern von Autorität
gelöst haben, müssen Sie immer noch mit einem Kind
zurechtkommen, das sich aggressiv verhält. Was diesen Punkt
angeht, sollten wir uns zuallererst klarmachen, dass diese explosiven
Ausbrüche passieren, weil das Kind Angst hat vor den
Empfindungen, Trieben und Gefühlen in seinem Körper. Wenn Sie
Ihr Kind als verängstigt sehen und nicht als schlecht oder aggressiv,
können Sie ihm eher geben, was es braucht. Vergessen Sie nicht:
Ihre Aufgabe bei explosiven Ausbrüchen ist im Grunde die gleiche wie
bei weniger explosiven Wutanfällen: Sie müssen körperlich ruhig
bleiben und für die Sicherheit Ihres Kindes sorgen. In diesem Fall
bedeutet das, dass Sie sich darauf konzentrieren müssen, das Feuer
einzudämmen, das in ihm lodert. Ein Kind, das außer Kontrolle ist,
braucht Eltern, die klare Grenzen setzen, das gefährliche Verhalten
stoppen und eine sichere Umgebung schaffen, in der es keinen
Schaden anrichten kann.
Versuchen Sie nicht, Ihrem Kind in diesen Augenblicken neue
Fähigkeiten beizubringen oder ihm eine Strafpredigt zu halten. Hier
geht es wirklich nur darum, ihm Halt zu geben. Ich sage mir das
manchmal vor: »Halt! Halt! Halt! Ich tue mein Möglichstes. Ich tue
genug. Halt, Halt, Halt.«

Die Strategien
»Ich lasse dich nicht«
Sagen Sie laut: »Hör auf, mit den Trinkflaschen zu werfen!« Und:
»Bitte hör auf, mit Sachen um dich zu werfen! Bitte!« Eine kurze
Pause. Einmal durchatmen. Und dann: »Ich lasse dich nicht weiter mit
Trinkflaschen werfen.« Diese vier Worte: »Ich lasse dich nicht …«
sind ein wichtiges Utensil im elterlichen Instrumentenkasten. »Ich
lasse dich nicht …« macht dem Kind klar, dass die Eltern die
Verantwortung tragen und dass sie das Kind daran hindern werden,
weiter auf diese fehlregulierte Weise zu handeln, die sich darüber
hinaus schrecklich anfühlt. Denn, das vergessen wir häufig: Kinder
fühlen sich nicht wohl, wenn sie außer Kontrolle sind. Sie genießen es
keineswegs, wenn ihr Körper unfähig ist, gute und sichere
Entscheidungen zu treffen. Ähnlich wie auch Erwachsene sich nicht
gerne bei schlechtem Benehmen ertappen. Beim kindlichen Ausbruch
kommt allerdings hinzu, dass Kinder von ihrer Entwicklung her absolut
unfähig sind, in einem solchen Moment innezuhalten. Wenn sie das
könnten, würden sie es tun. Wenn sie aufhören könnten zu schlagen,
würden sie das tun. Könnten sie aufhören zu beißen, dann würden sie
das tun. Ein fehlreguliertes Kind braucht einen Erwachsenen, der die
lodernden Flammen eindämmt, eben das, was es selbst nicht
zustande bringt. Die klare Ansage »Ich lasse dich nicht« und ein
Handeln, das ihr auch entspricht, sind ein Akt der Liebe und des
Schutzes.
Was meine ich nun mit »entsprechendem Handeln«? Ein »Ich lasse
dich deine Schwester nicht treten« erfordert, dass Sie als Elternteil
zwei Kinder trennen. »Ich lasse dich nicht auf mich einschlagen«
erfordert, dass Sie die Schläge blockieren, bevor sie Sie treffen. »Ich
lasse dich nicht auf der Anrichte herumhüpfen« heißt, dass Sie das
Kind nehmen und von der Anrichte herunterheben.
Eines sollten Sie dabei beachten: »Ich lasse dich nicht« ist keine
Strategie für den Alltag. Ich möchte Ihnen nicht empfehlen, dass Sie
ständig diktieren, was Ihre Kinder tun, und so Ihre Dominanz
ausspielen. »Ich lasse dich nicht« ist eine Ansage, die dann
angebracht ist, wenn Ihr Kind keine guten Entscheidungen mehr
treffen kann – wenn es sich und andere in Gefahr bringt oder sich so
verhält, dass Sie klare Vorgaben machen müssen. Wenn Sie in
solchen Situationen mit nicht mehr ankommen als »Bitte lass das«
oder »Das darfst du nicht«, dann wird das Kind nur noch ängstlicher,
weil es das Gefühl hat, dass es selbst der Boss sein muss. Das wird
die Fehlregulierung noch verstärken, weil Sie ihm den Eindruck
vermitteln, dass Sie keine Autorität ausüben wollen, und Gedanken in
ihm auslösen wie: »Warum wollen meine Eltern mir die Verantwortung
geben? Sie sehen, dass ich zu kämpfen habe, und lassen mich im
Stich! Die Gefühle, die mich und meinen Körper überrollt haben, sind
jetzt auch zu viel für meine Eltern … und das macht mir mehr Angst
als alles andere.« Kein Wunder also, dass das Kind sich so nicht
»beruhigen« kann.

Unterscheiden Sie zwischen dem Impuls und der


Handlung
Den Impuls zu verspüren, jemanden zu beißen, ist in Ordnung, ihn
tatsächlich zu beißen nicht. Den Drang zu verspüren, jemanden zu
schlagen, ist okay, aber einen anderen Menschen wirklich zu schlagen
nicht. Es kann erfolgreicher sein, wenn wir einen sicheren Weg
finden, wie unser Kind solche Impulse ausleben kann, als den Impuls
an sich zu unterbinden. So können Sie einem Kind, das häufig andere
beißt, eine Kaukette geben. Wenn Sie merken, dass es beginnt, sich
aufzuregen, geben Sie ihm seine Kaukette. Sie verhindern auf diese
Weise, dass es diesen Drang an einem anderen Menschen auslebt.
Ein Kind, das häufig Tritte austeilt, können Sie in ein Zimmer bringen,
in dem es gefahrlos mit Armen und Beinen herumfuchteln kann, ohne
dass ein anderes Kind verletzt wird. Denn wir können nur Gefühle und
Triebe regulieren, die erlaubt sind. Eltern haben häufig den Wunsch,
den Drang an sich abzustellen. (»Warum willst du jemanden
schlagen? Was stimmt denn nicht mit dir?«) Aber wenn wir diesen
Trieb als etwas nur allzu Menschliches betrachten und einen Bereich
suchen, in dem das Kind ihn ausleben kann, fördern wir seine
Regulierung, sodass es auf Dauer bessere Entscheidungen trifft.

Das Feuer eindämmen


Stellen Sie sich die fehlregulierten Gefühle Ihres Kindes als Feuer vor.
Das sollte nicht zu schwierig sein, da diese Augenblicke sich
gewöhnlich hitzig und explosiv anfühlen. Für das Feuer emotionaler
Fehlregulierung gibt es keinen Feuerlöscher. (Unsere Emotionen sind
schließlich der Kern unseres Daseins, wir wollen sie daher gar nicht
auslöschen.) Unser Ziel ist also die Eindämmung. Wie würden Sie
das bei einem richtigen Feuer anstellen? Nun, Sie würden dem Feuer
so wenig Raum wie nur möglich geben. Sofern dies machbar wäre,
würden Sie das Feuer aus dem großflächigen Areal, wo es reichlich
Nahrung findet, »herausnehmen« und es auf einen kleineren Bereich
begrenzen. Dann können Sie die Tür schließen und warten, bis es
ausgeht.
Wenn Ihr Kind nach der klaren Ansage: »Ich lasse dich nicht« immer
noch tobt und Sie versucht haben, sein unkontrolliertes Verhalten zu
stoppen, dann sehnt sich Ihr Kind nach dieser Eindämmung. Eine
klare Grenze – mit der Sie das Kind vor etwas bewahren, das
gefährlich werden kann – ist die höchste Form der Liebe und des
Schutzes. Sie signalisiert dem Kind, dass sein emotionales Feuer
nicht das ganze Haus in Brand stecken wird und nicht die ganze
Garten- oder Geburtstagsparty verderben kann. Dies sind die
einzelnen Schritte:

1. Erkennen, wann das Kind den Punkt erreicht hat, an dem es


kein Zurück gibt. Sagen Sie sich: »Das Gefühlsfeuer meines
Kindes muss eingedämmt werden. Ich schaffe das.« Ihr Kind
wird versuchen, Ihre Hilfe zurückzuweisen, weil sein Körper im
Augenblick alles als Bedrohung erlebt. In Wirklichkeit heißt das:
»Bitte sei stark. Tu, was das Beste für mich ist, auch wenn ich
kreische und protestiere.«
2. Nehmen Sie Ihr Kind hoch, und tragen Sie es in einen kleinen
Raum, in dem es relativ »sicher« ist. (Was bedeutet, dass es
dort keine Dinge gibt, die im momentanen Gefühlssturm eine
Gefahr darstellen könnten.) Ein kleiner Raum signalisiert dem
Kind, dass sein inneres Feuer nicht das ganze Haus in Brand
stecken wird. Dann sagen Sie: »Meine Hauptaufgabe ist es, für
deine Sicherheit zu sorgen. Im Moment heißt das, dich in dein
Zimmer zu bringen und bei dir sitzen zu bleiben. Du bist nicht in
Schwierigkeiten. Ich habe dich lieb. Und ich bin für dich da.« In
gewisser Weise sind diese Worte mehr für Sie gedacht als für
Ihr Kind. Sie erleben darin Ihre Autorität und erinnern sich an
Ihre Aufgabe. Bleiben Sie dran, auch wenn Ihr Kind wild um sich
schlägt. Das ist kein Trotz, sondern schiere Panik. Sie sind die
einzige Person, die weiß, was es in diesem Augenblick braucht:
Ihre liebende Gegenwart und die Eindämmung des Feuers.
3. Sie bleiben in dem Zimmer, schließen die Tür und setzen sich
davor, damit Ihr Kind nicht raus kann. Wird es das versuchen?
Ja, vermutlich schon. Glücklicherweise sind Sie ja größer. Sie
bleiben sitzen.
4. Verhindern Sie jede Art körperlicher Aggression. Um sich sicher
zu fühlen und ihre Emotionen in den Griff zu bekommen,
brauchen Kinder den klaren Beweis, dass ihre Eltern sie daran
hindern können, schlechte Entscheidungen zu treffen, sodass sie
weder sich noch andere gefährden können. Machen Sie sich
bereit, um mit den Händen Tritte oder Schläge abzuwehren, und
sagen Sie zu Ihrem Kind: »Ich lasse dich nicht auf mich
einschlagen.« Oder: »Ich lasse dich nicht mit Büchern werfen.«
5. Atmen Sie tief ein und aus. Übersteigern Sie den Vorgang ein
wenig, sodass auch Ihr Kind sieht und hört, was Sie tun. Und
wenn Sie weiter nichts tun, als vor der Tür zu sitzen und die
»Heiße Schokolade«-Atmung auszuführen, haben Sie schon
gewonnen. Kinder übernehmen den Gefühlszustand ihrer Eltern.
Wenn sie spüren, wie Sie Ihre Gefühle regulieren, obwohl sie
selbst durch und durch fehlreguliert reagieren, hilft ihnen das,
sich zu beruhigen.
6. Sagen Sie sich immer wieder: »Mit mir ist alles in Ordnung. Mit
meinem Kind ist alles in Ordnung. Ich schaffe das.« Wenn Sie
das Gefühl haben, dass es doch ein bisschen seltsam ist, so mit
Ihrem Kind in seinem Zimmer zu sitzen, sagen Sie sich: »Das
wirkt merkwürdig, weil es mir so neu ist. Das ist ein gutes
Zeichen, dass sich etwas tut.«
7. Versuchen Sie nicht, Ihrem Kind Vernunft beizubringen, ihm eine
Standpauke zu halten oder es zu bestrafen. Am besten reden
Sie überhaupt nicht viel. Ihr Kind befindet sich im Zustand der
Bedrohung. Da kann es Worte nicht richtig verarbeiten, und
vermutlich empfindet es alles, was Sie sagen, als zusätzliche
Gefahr. Auf nonverbale Kommunikation hingegen kann es
reagieren, auf Körpersprache, Sprechweise und -tempo. Stellen
Sie sich in solchen Momenten vor, Ihr Kind spräche eine andere
Sprache. Dann kann es zwar Ihre Absicht und Ihre Bewegungen
»verstehen«, aber keine Worte. Mit dem Resultat, dass es
einfach Ihre ruhige, tief atmende Präsenz nötig hat. Geben Sie
Ihrem Kind so viel Zeit, wie es braucht. Es darf fünf Minuten
dauern oder dreißig.
8. Bevor Sie dann mit Ihrem Kind reden, achten Sie darauf, dass
Ihre Stimme sanft bleibt. Laute, chaotische Wutanfälle
erfordern einen ruhigen, gleichbleibenden Tonfall. Sie
können Ihrem Kleinen einige der unten aufgeführten Sätze
sagen, und zwar langsamer und ruhiger als im Normalfall.
Richten Sie Ihren Blick dabei zur Seite oder zu Boden. Wenn ein
Kind (oder Erwachsener) im Kampf-Flucht-Modus ist, wird
direkter Augenkontakt als Bedrohung empfunden. »Du bist ein
gutes Kind, das einen schwierigen Moment hat. Ich bin für dich
da. Ich habe dich lieb. Mach, was dir wichtig ist. Du darfst dich
so fühlen.« Oder Sie singen mit dem Kind ein Lied, immer
wieder und ganz langsam: »Hanna, Hanna, alles ist okay …
Hanna, Hanna, alles ist okay … Hanna, Hanna, es ist okay …
wir atmen jetzt einfach tief durch.« Und dann atmen Sie tief ein
und aus.

Diese Bemühungen zur Eindämmung des lodernden Feuers zeigen


dem Kind: »Deine Gefühle dürfen raus, aber ich werde eingreifen,
wenn sie deine Umwelt zu zerstören drohen. Die Gefühle
auszudrücken, wird dir helfen, aber wenn du aus Wut handelst, wirst
du dich schlechter fühlen als zuvor. Daher werde ich Ersteres
erlauben, Letzteres aber nicht.«
Personifizieren Sie die Gefühle
Im Eifer des Gefechts sagen Kinder manchmal scheußliche Dinge:
»Ich hasse dich!« Oder: »Lass mich in Ruhe!« Oder: »Ich hoffe, du
stirbst!« Sehen wir uns also ruhig an, wie wir diese Worte deuten
sollten. In diesem Moment spricht Ihr Kind nicht mit Ihnen. Ja, es sagt
diese Worte in Ihre Richtung, aber eigentlich redet es mit den
überwältigenden, erschreckenden und bedrohlichen Gefühlen in
seinem Körper. Das ist, als würde Ihr Kind zu seiner Fehlregulierung
sagen: »Ich hasse dich!« Und: »Lass mich in Ruhe!« Oder: »Ich
hoffe, du stirbst!« Damit will es sich schützen, ja es bettelt förmlich
um Linderung. Wenn Sie die Aussprüche Ihres Kindes vor diesem
Hintergrund sehen, fällt es Ihnen leichter, präsent und geerdet darauf
zu reagieren. Sie sehen, dass Ihr Kind Angst hat, sich angegriffen
fühlt und Sie in dieser Erfahrung braucht.

Das Geschichtenerzählen
Die meisten Eltern, die gerade einen Wutanfall überstanden haben,
denken sich: »Uff, bin ich froh, dass das vorbei ist. Das vergessen wir
jetzt ganz schnell!« Aber wenn wir mit dem Kind reden, sobald alle
sich wieder beruhigt haben, und die fehlregulierten Momente noch
einmal durchgehen, kann das unendlich wertvoll sein. Indem Sie auf
die Szene zurückkommen, in der die Gefühlsfeuer noch wild loderten,
können Sie im Nachhinein mit Verbundenheit, Empathie und
Verständnis darauf reagieren. Das sind Schlüsselelemente der
Regulierung, die die Fehlregulierung ausgleichen können. Wenn Ihr
Kind dann wieder einmal schwierige Zeiten durchmacht, können Sie
leichter auf diese entscheidenden Elemente zurückgreifen.
Geschichtenerzählen heißt in diesem Fall, dass Sie den chaotischen
Ausbruch noch einmal durchgehen, um ihn in einen größeren
Zusammenhang zu stellen. Diese Strategie müssen Sie nicht bei
jedem Wutausbruch anwenden, hin und wieder aber kann sie ganz
sinnvoll sein. Sagen wir einmal, Ihr Kind hat einen filmreifen Ausraster
hingelegt, als sein Bruder ihm gesagt hat, es dürfe nicht mit ihm und
seinem Freund spielen. Stunden oder Tage später könnten Sie sagen:
»Lass mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe … Du wolltest
mit Dante und Kaito spielen, aber Dante hat Nein gesagt … Das war
für dich so schlimm, dass du angefangen hast, zu schreien und zu
treten … Dann hat Papa dich auf dein Zimmer getragen und ist mit dir
dort geblieben … Wir haben dort zusammen gewartet, bis dein
Körper sich beruhigt hat …«
An diesem Punkt fragen viele Eltern: »Und was dann? Was mache
ich danach? Sage ich den Kindern, wie sie das beim nächsten Mal
besser handhaben können?« Nein! Allein, dass Sie präsent sind und
das Ganze in einen Zusammenhang einordnen, ändert schon, wie die
Erfahrung bei Ihrem Kind abgespeichert wird. Der neuronale Pfad,
der mit Regulierung endet (d. h. weniger Wutanfälle), beginnt mit
Verständnis und Verbundenheit. Und die stellen sich ein, wenn Sie die
Geschichte noch einmal erzählen. Vielleicht spüren Sie ja, dass Ihr
Kind sich öffnet. Dann können Sie sagen: »Hmm, es fühlt sich
schlimm an, wenn man ausgeschlossen wird. Ich frage mich, was du
machen könntest, wenn das wieder vorkommt und Dante wieder
einen Freund zum Spielen eingeladen hat …« Das ist in Ordnung, es
schadet nicht. Aber vergessen Sie nicht, dass für diese Strategie das
Gefühl der Verbundenheit und die Geschichte zentral sind, nicht die
mögliche Lösung.

Und wie hilft das alles jetzt Liam und Allison?


Allison geht zu Liam und zieht ihn von der Schublade weg, in der die
Trinkflaschen sind. Dabei sagt sie: »Ich lasse dich nicht mit Sachen
werfen.« Allison merkt, dass Liam sich bedroht fühlt. Sie geht auf
sein »Ich hasse dich!« nicht ein, weil sie weiß, dass es hier um Liams
fehlregulierte, erschreckende Gefühle geht, nicht um die Worte oder
das äußere Verhalten. Allison erkennt, dass ihr Sohn außer Kontrolle
ist, und trägt ihn in sein Zimmer, wobei sie verhindert, dass er sie
schlagen kann, indem sie seine Handgelenke hält. Sie sagt nur:
»Meine Hauptaufgabe ist es, für deine Sicherheit zu sorgen. Im
Moment heißt das, dass ich dich in dein Zimmer trage und bei dir
sitzen bleibe. Du bekommst keinen Ärger. Ich habe dich lieb. Ich bin
für dich da.« Sie schließt die Tür hinter sich, setzt ihren Sohn auf den
Boden und sich neben ihn. Liam schlägt immer noch um sich und
brüllt: »Geh weg! Ich hasse dich!« Allison stellt sich vor, dass Liam in
Wirklichkeit mit seinen Gefühlen spricht, nicht mit ihr. Und ihr ist klar,
dass sie ihre Rolle als verantwortliche Erwachsene spielen muss.
Liam schreit weiter, und Allison spürt, wie ihr Herzschlag schneller
wird und ihre Frustration zunimmt. Also sagt sie zu Liam: »Ich
brauche jetzt einen Moment für mich. Ich gehe raus, um ein paar tiefe
Atemzüge zu tun. Danach komme ich wieder. Ich habe dich lieb. Du
bist ein gutes Kind.« Sie geht vor die Tür, atmet ein paar Mal tief ein
und aus und erinnert sich, dass sie sicher ist und mit diesem Feuer
fertig wird. Dann geht sie in das Zimmer zurück, hindert Liam daran,
sie zu treten, und sagt nur hin und wieder etwas. »Ich bin ja da.« Und:
»Lass es ruhig raus.« Oder: »Es ist in Ordnung. Du bist ein gutes
Kind und hast gerade einen schwierigen Moment.« Schließlich
beruhigt Liam sich und wünscht sich eine Umarmung. Allison bestraft
ihn nicht. Sie ist auch nicht böse auf ihn. Sie umarmt ihn und sagt:
»Ich weiß ja … ich weiß. Ich habe dich lieb.«
Kapitel 15

Geschwisterrivalität
Der sechsjährige Hari und seine vierjährige Schwester Annika
spielen mit Bauklötzchen, während ihr Vater Ray das Mittagessen
zubereitet. Ray hört einen Schrei, dann ein Weinen und allerlei
seltsame Geräusche. Er geht ins Kinderzimmer und sieht, dass Hari
alle Klötze für sich beansprucht und seiner Schwester keine
abgeben will. Annika läuft zu ihrem Vater: »Er hat mich geschubst!
Ich bin hingefallen!« Hari brüllt: »Das stimmt nicht! Sie wollte die
Klötze, mit denen ich gerade gebaut habe. Sie macht immer, dass
ich Ärger bekomme.«

Warum streiten Geschwister nur so viel? Nun, Elaine Mazlish und


Adele Faber erinnern uns in ihrem tollen Buch Hilfe, meine Kinder
streiten an Folgendes: Wenn Kinder plötzlich ein Geschwisterchen
bekommen, fühlt sich das genauso an, als hätte Ihr Partner plötzlich
eine neue Ehefrau. Stellen Sie sich vor, er kommt abends nach Hause
und sagt: »Wunderbare Neuigkeiten! Wir bekommen bald eine zweite
Frau! Du bist die große Frau, aber jetzt haben wir noch eine zweite
kleine. Wir werden so eine glückliche Familie sein!« Wenn Sie nur
ansatzweise so gepolt sind wie ich, dann werden Sie sich umsehen
und denken: »Wie bitte? Bin ich jetzt in einem anderen Universum?
Was soll mir das bitte schön bringen?« Und dann kommen auch noch
die ganzen Verwandten und Nachbarn und wollen wissen, ob Sie sich
über die neue Frau freuen. Neun Monate später kommen alle an mit
Geschenken für diese neue Mitbewohnerin und erwarten von Ihnen,
dass Sie diese Frau lieben und mit ihr blendend zurechtkommen.
Stellen Sie sich weiter vor, Sie nehmen ihr eines Tages etwas aus der
Hand – etwas, das früher Ihnen gehört hat – und plötzlich schreit
jeder SIE an: »Das darfst du nicht tun! Du kannst der kleinen Frau
kein Spielzeug wegnehmen! Schau doch, wie klein und hilflos und
unschuldig sie ist!« Spätestens dann dürften wir über das Stadium
der Verwirrtheit hinaus sein … und in uns flammt die Wut des Nicht-
beachtet-Werdens auf. So sieht das Leben unter Geschwistern aus!
Bei einem älteren Kind ruft ein neues Geschwisterchen
Bindungsbedürfnisse und Verlassensängste wach. Wenn wir Kinder
durch die Brille der Bindungstheorie betrachten, so sehen wir, dass
sie stets versuchen herauszufinden, ob sie noch auf der sicheren
Seite sind. Sie fragen: »Können meine Bedürfnisse erfüllt werden?
Fühle ich mich beachtet und geschätzt für das, was ich bin, für meine
einzigartigen Charakterzüge, Interessen, Vorlieben und Seinsweisen?
Sieht meine Familie mich als grundlegend gutes Kind?« Wenn Kinder
aufeinander losgehen, »sagen« sie damit ihren Eltern, dass sie aus
dem Gleichgewicht sind, dass sie ihr Gefühl von Sicherheit innerhalb
der Familie durch ihre Geschwister bedroht sehen. Sehen wir uns
also noch einmal die Analogie vom zweiten Ehepartner an. Was
würden wir von unserem Partner brauchen, wenn wir mit einer
solchen Situation konfrontiert wären? Nehmen wir an, wir könnten
unsere Partnerin nicht dazu bewegen, dass sie den zweiten Ehemann
rauswirft. Dann müsste sie uns zumindest zuhören, unsere Erfahrung
ernst nehmen und uns besondere Zuwendung zukommen lassen. Sie
müsste akzeptieren, dass der neue Partner bei uns eine enorme
Bandbreite an Gefühlen auslöst. Je sicherer wir uns in der Beziehung
mit unserer Partnerin fühlen könnten, desto weniger bedrohlich wäre
der neue Partner. Natürlich wäre das Verhältnis immer noch schwierig
und konfliktreich, denn wenn man plötzlich die Aufmerksamkeit eines
geliebten Menschen mit jemand anderem teilen muss, dann ist das
durchaus eine Herausforderung. Aber es gibt Faktoren, die diese
Herausforderung verschärfen, und solche, die sie leichter handhabbar
machen.
Zur »handhabbaren« Kategorie gehört vor allem: Die Eltern müssen
akzeptieren, dass Kinder ihren Geschwistern eine enorme
Bandbreite an Gefühlen entgegenbringen. Viele Eltern klammern sich
an eine verbreitete, aber recht unrealistische Ansicht: »Geschwister
sollten wie beste Freunde sein.« Oder: »Meine Kinder sollen immer
nett zueinander sein.« Und: »Ich habe meinem Kind ein
Geschwisterchen geschenkt, darüber sollte es doch glücklich sein.«
Gehe ich also davon aus, dass es keine gute Idee ist, mehr als ein
Kind zu haben? Dass Geschwister sich üblicherweise spinnefeind sind
und sich gegenseitig nur schikanieren? Keineswegs. Diese
Vorstellungen sind genauso extrem wie die erstgenannten. Ich will
damit sagen, dass Geschwisterbeziehungen komplex sind. Je mehr
wir diese Komplexität anerkennen können, desto besser können wir
unsere Kinder auf die aufkommenden Gefühle vorbereiten, damit sie
lernen, diese zu regulieren. Dann schlagen sich schwierige Gefühle
nicht immer in problematischem Verhalten nieder. Das ist unser Ziel.
Vergessen Sie nicht: Nicht die Gefühle sind das Problem, sondern
deren Regulierung. Und die Fähigkeit unserer Kinder zur
Emotionsregulierung hängt von unserer Bereitschaft ab, diese
Gefühle anzuerkennen, zu bestätigen und zuzulassen (und Grenzen zu
setzen, wenn sie sich in gefährlichen Aktionen äußern). Je mehr wir
die Gefühle unserer Kinder (in diesem Fall die Eifersucht und die Wut
auf ein Geschwisterkind) in unser Verbundensein hineinnehmen, desto
unwahrscheinlicher wird es, dass sie sich in Verhaltensweisen wie
Beleidigungen, Schlägen, Spötteleien und herabsetzenden
Bemerkungen niederschlagen.
Wenn es um die Rivalität zwischen Geschwistern geht, gibt es einen
Punkt, den wir auf jeden Fall berücksichtigen müssen: die
Geschwisterfolge. Darüber ließe sich ein eigenes Buch schreiben,
aber ein paar Dinge sollten wir jetzt gleich ansprechen. Erstgeborene
sind daran gewöhnt, die Einzigen zu sein. Sie sind darauf
programmiert, die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu haben. Ein
neues Geschwisterchen erschüttert also ihre Welt in den
Grundfesten. Natürlich können sich auch diese Kinder anpassen, aber
wir sollten uns klarmachen, wie massiv diese Anpassungsleistung ist.
Schließlich waren all ihre Erwartungen an die Welt darauf
ausgerichtet, das einzige Kind in der Familie zu sein. Erstgeborene
erscheinen häufig selbstsüchtig, wenn ein neues Geschwisterkind die
Bühne betritt. Aber hinter dem »Ich mag sie nicht. Schick sie zurück
ins Krankenhaus!« und dem ständigen Gebettel »Mama, schau!
Schau, was ich kann!« steckt ein Kind, dessen Schaltkreise
vollkommen neu vernetzt werden.
Das zweite, dritte (und auch vierte) Kind ist ganz anders
programmiert: Seine Schaltkreise sind geprägt von der ständigen
Anwesenheit anderer Menschen in seinem Raum, die ständig Dinge
beherrschen, die sie (noch) nicht können, und mit denen sie ständig
um Zeit und Aufmerksamkeit wetteifern müssen. Das Zweitgeborene
zu sein ist frustrierend. Sie können keinen Legoturm bauen, ohne zu
sehen, dass das Erstgeborene es besser hinbekommt. Sie können
nicht durch den Hof laufen, ohne vom Erstgeborenen überholt zu
werden. Sie können nicht lesen lernen, ohne zu hören, wie die
Erstgeborene das mühelos hinbekommt. Das ist kein Problem, das
aus der Welt geschafft werden muss, nur eine Dynamik, die wir
verstehen sollten.
Und grundsätzlich muss diese Dynamik auch nicht in jeder Familie
gleich sein. In manchen Familien tun sich die kleineren Kinder leichter
als die älteren – das kleinere kann längst lesen, während sich das
ältere noch abmüht. Oder der Kleinere ist ein Spitzensportler,
während der Ältere nur Mittelmaß ist. Auch diese Spielarten bringen
ihre Schwierigkeiten mit sich. Aber es ist eine gute Idee, die Dynamik
der Geschwisterfolge im Hinterkopf zu behalten, wenn Sie sich
fragen, was in Ihren Kindern nun wirklich vorgeht, wie sie sich fühlen,
welche Unsicherheiten sie plagen und welche ungestillten Bedürfnisse
sich in ihrem Verhalten zeigen.

Die Strategien
Spielzeit ohne Smartphone (SOS)
Für gesunde Geschwisterbeziehungen ist nichts so wichtig wie
ausreichend SOS: Zeit, die die Eltern nur allein mit einem Kind
verbringen. Je sicherer sich das Kind der Bindung zu seinen Eltern ist,
desto eher versteht es Schwester oder Bruder als Spielkamerad*in
und nicht als Rival*in. Wenn meine Kinder gerade stark miteinander
rivalisieren, rufe ich mir ins Gedächtnis: »Sie spüren keinen Halt und
fühlen sich unsicher. Jedes braucht mehr Verbundenheit mit mir, um
sich in dieser Familie verankert zu fühlen. Also planen wir mal SOS
für alle ein!« Die SOS ist in vielen Bereichen eine grundlegende
Voraussetzung für den Wandel. Wie das genau geht, erfahren Sie auf
Seite 155 bis 159.

Das Ziel ist nicht Fairness, sondern die Befriedigung


individueller Bedürfnisse
Sehr viele Familien setzen auf Fairness als oberstes Ziel, um
Konflikte zwischen Geschwistern zu vermeiden. In Wirklichkeit aber
heizt dies Konflikte weiter an. Je mehr wir an der Fairness arbeiten,
desto mehr Möglichkeiten zum Wettbewerb eröffnen wir den Kindern.
Mit unserem Streben nach Fairness erreichen wir nur, dass ein Kind
seine Umgebung ständig scannt. Wir sagen ihm letztlich: »Beobachte
deine Geschwister mit Argusaugen. Pass genau auf, was deine
Geschwister bekommen, denn so erkennst du, was deine eigenen
Bedürfnisse in der Familie sind.« Auch auf längere Sicht ist es
besser, nicht auf Fairness abzuzielen: Wir wollen doch, dass unsere
Kinder ihre Bedürfnisse im Innersten erkennen, statt sich an der
Außenwelt zu orientieren. Wenn meine Kinder erwachsen sind,
möchte ich nicht, dass sie denken: »Was besitzen meine Freunde?
Welche Jobs, Häuser, Autos haben sie? Ich brauche auch, was sie
haben.« Das wäre ein Leben voller Stress und innerer Leere und
kann nur zu einem oberflächlichen Dasein führen, in dem sie kein
Gefühl dafür haben, wer sie innerlich sind, nur wie sie im Vergleich
mit anderen äußerlich dastehen.
Und so können Sie mit der Fairnesspolitik brechen: Wenn Ihr Kind
brüllt: »Das ist nicht fair!«, dann lenken Sie seinen Blick nach innen.
Ohne Zwang. Leben Sie es einfach vor. Statt allen das Gleiche zu
geben (»Du kriegst auch bald neue Schuhe!«), machen Sie klar, was
in Ihrem Kind vorgeht: »Es ist hart mitanzusehen, dass dein Bruder
neue Schuhe bekommt. Ob du auch neue Schuhe haben kannst?
Nicht sofort, Liebes. In dieser Familie bekommt jedes Kind, was es
braucht – und deine Schuhe sind noch sehr gut. Aber du kannst dich
ruhig aufregen. Ich verstehe das.«
Oder wenn Ihr Kind schreit: »Das ist nicht fair. Du bist mit Mara Eis
essen gegangen, während ich beim Fußballtraining war! Morgen will
ich Eis essen gehen, und zwar allein mit Dir!« Würden wir nach
Fairness streben, müssten Sie jetzt sagen: »Gut, ich nehme dich
morgen zum Eisessen mit.« Das aber würde Ihrem Kind nur sagen,
dass es seine Bedürfnisse nach anderen richten soll (in diesem Fall
seinem Geschwisterkind). Wenn Sie hingegen individuelle Bedürfnisse
erfüllen wollen, kann das so gehen:
Eltern: »Du möchtest also auch mit mir Eis essen gehen?«
Kind: »Ja, das musst du machen!«
Eltern: »Also möchtest du deine SOS morgen aufs Eisessen
verwenden?«
Kind: »Ähm … vielleicht. Aber wir haben doch auch gesagt, dass
wir in den Park gehen können. Hmm. Vielleicht lieber den Park.
Kann ich dir da noch Bescheid sagen?«
Eltern: »Klar doch. Überleg’s dir, und sag mir dann, was dir
lieber ist.«
In diesem Szenario lernt das Kind, den Blick nach innen zu richten, um
seine Bedürfnisse zu entdecken.

Dampf ablassen erlaubt (aber nur bei Ihnen)


Wenn Ihre Kinder wissen, dass sie Ihnen vollkommen ehrlich sagen
können, was sie gegenüber ihren Geschwistern empfinden, ist es
sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie negative Gefühle an Schwester
oder Bruder auslassen. Also sagen Sie öfter mal: »Es kann
schrecklich sein, eine Schwester zu haben, nicht wahr?« Oder: »Es
ist ganz normal, dass du für dein neues Brüderchen so viele ganz
unterschiedliche Gefühle hast, glückliche, traurige oder ärgerliche.
Diese Gefühle sind in Ordnung. Wir können darüber reden.« Wenn
die Kinder schon älter sind, geht es vielleicht auch direkter: »Später
gehen wir zum Turnwettkampf deiner Schwester. Ich weiß, dass es
mitunter schwierig ist zuzuschauen, wie ein Geschwisterkind etwas
macht und so viel Aufmerksamkeit bekommt. Auch wenn dir das
schwerfällt, bist du ein gutes Kind. Wir können gerne darüber reden.«
Vergessen Sie nicht: Unsere Gefühle sind starke Kräfte. Wenn wir sie
nicht zulassen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann in
aggressivem Verhalten explodieren. Je eher Sie Ihren Kindern
Eifersucht erlauben, desto eher lassen sich die Probleme lösen, die
sich einstellen, wenn ein Kind eifersüchtig reagiert. Wenn Sie
Eifersucht nicht erlauben (»Sag so etwas nicht über deine
Schwester!«), dann kann das Kind keine Strategien für den Umgang
mit diesem Gefühl entwickeln und es ist wahrscheinlicher, dass sich
die Eifersucht entweder verbal (»Maxie ist die mieseste Turnerin hier.
Sie ist einfach schlecht!«) oder in provozierendem Verhalten äußert
(laute Geräusche machen, wenn das Publikum um Ruhe gebeten
wird, oder wegrennen und laut schreien).
Wenn Sie Ihren Kindern ermöglichen, Dampf abzulassen, müssen
Sie Folgendes unbedingt beachten: Ich pflege eine Null-Toleranz-
Politik, wenn Geschwister einander beleidigen oder Schimpfworte an
den Kopf werfen. In meinen Augen ist das Schikane. Ich möchte Sie
ernsthaft bitten, dem einen Riegel vorzuschieben. Schimpfworte sind
keine harmlose Neckerei, denn damit unterminiert man das
Selbstbewusstsein des Betroffenen, vor allem, wenn die Eltern nicht
einschreiten. Aus diesem Grund ermutige ich Eltern, mit jedem Kind
abzumachen, dass es nur mit den Eltern, und allein mit ihnen, über
Wut oder Eifersucht auf die anderen Geschwister spricht. So hat das
Kind einen Raum für diese Gefühle. Sie können mit Ihrem Kind sogar
darüber reden, wenn Sie alleine sind: »Ich weiß, dass es nicht leicht
ist, Geschwister zu haben. Und vermutlich hast du unglaublich viel
über deine Schwester zu sagen. Du kannst das machen, wenn wir
zusammen sind, und zwar nur wir beide. Ich werde dich nicht vom
Gegenteil überzeugen oder dir sagen, dass du dich nicht so fühlen
darfst. Ich werde versuchen, zu verstehen und dir zu helfen. Aber es
gibt da noch etwas Wichtiges: Ich werde nicht zulassen, dass du
deine Schwester beleidigst oder ihr Schimpfwörter an den Kopf wirfst
oder sie hänselst. Meine Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass
jeder in dieser Familie sicher ist. Und das gilt auch für die Worte, die
wir zueinander sagen.«
Eingreifen, wenn es gefährlich wird – und wenn es
nicht gefährlich wird, zeigen Sie, wie man
runterschaltet
Wir wollen unseren Kindern beibringen, wie sie Probleme lösen
können, statt sich ständig darauf zu verlassen, dass wir entscheiden,
wer recht hat und wer nicht bzw. wer als Erster drankommt und wer
danach. Um dies zu erreichen, müssen wir ihnen zeigen, wie sie einen
Gang herunterschalten, wenn sie aufgewühlt sind. Sobald Kinder sich
auf die Regulierung konzentrieren, sind sie geborene Problemlöser.
Einzige Ausnahme? Wenn Gefahr droht, und zwar nicht nur durch
Schlagen, Beißen und andere körperliche Attacken, sondern auch,
wenn die Situation verbal zu entgleisen droht. Dazu zählen
Schimpfworte ebenso wie emotionale Schikane. In solchen Momenten
müssen wir eingreifen, um beide Kinder zu schützen: das bedrohte
Kind und das Kind, das außer Kontrolle ist. Beide brauchen unsere
Hilfe.
Eingreifen (in gefährlichen Situationen)
Wenn unsere Kinder außer Kontrolle sind, müssen wir klarmachen,
dass wir die Kontrolle übernehmen. Dies tun wir, indem wir
zuverlässig und unmissverständlich sagen: »Ich lasse dich nicht …«,
wie schon im vorigen Kapitel ausgeführt: »Ich lasse dich deine
Schwester nicht schlagen. Irgendetwas hat dich aus der Fassung
gebracht. Du darfst ruhig wütend sein. Ich kann dir helfen, diese Wut
auf andere Weise auszudrücken.« Diese Ansage muss womöglich mit
einer entschiedenen körperlichen Aktion verbunden werden, um sie
auch durchzusetzen. Treten Sie zwischen die Kinder, oder ziehen Sie
ein Kind vom anderen weg. Wenn Sie die Kinder getrennt haben,
schauen Sie, ob sie sich beruhigen oder ob sie weiter getrennt
werden müssen – nicht, weil ein Kind böse ist oder Ärger macht,
sondern weil Sie mehr Raum brauchen, um für Sicherheit zu sorgen.
Falls dies nötig ist, heißt die nächste Ansage: »Ihr beide geht jetzt auf
der Stelle auf eure Zimmer. Ihr bekommt keinen Ärger, aber es ist
meine Hauptaufgabe, für Sicherheit zu sorgen. Und das heißt, dass
ich euch beide jetzt voneinander trenne, damit sich eure Körper
wieder beruhigen können. Ich werde dann gleich nachsehen, wie es
euch geht. Ich liebe euch beide.« Möglicherweise müssen Sie auch
das fehlregulierte Kind auf sein Zimmer tragen, während Sie zum
anderen sagen: »Ich weiß, dass das für dich schlimm war. Schlagen
ist nicht in Ordnung. Deine Schwester braucht meine Hilfe, damit sich
ihr Körper beruhigt. Ich bin bald zurück und kümmere mich um dich.
Ich weiß, dass du mich auch brauchst. Ich habe dich lieb.«
Zu den gefährlichen »Ich lasse dich nicht«-Situationen gehören auch
böse Worte, Hänseln oder Verspotten. Das ist ein weiterer Fall, in
dem Sie einschreiten und die Kinder trennen sollten, um eines vor der
Schikanierung zu schützen und das andere vor dem Schikanieren.
Beide Kinder brauchen Ihre Hilfe.
Runterschalten und erzählen lassen (in ungefährlichen
Situationen)
Wenn unsere Kinder streiten, es aber nicht zu körperlichen (Beißen,
Treten) oder verbalen (Drohungen, Schimpfworte) Grenzverletzungen
kommt, dann können Sie dafür sorgen, dass sich die Situation
beruhigt, ohne eine Problemlösung anzubieten. Machen Sie vor, wie
man sich reguliert, ohne die Kinder dazu anzuhalten. »Ich muss jetzt
erst mal tief durchatmen!« statt »Atmet mal tief durch!« So zeigen Sie
Ihren Kindern, dass Sie hier nicht der Schiedsrichter sind, und helfen
ihnen, ihre Geschichte zu erzählen, ohne dass Sie sich für eine Seite
entscheiden und ein Kind als »böse« und das andere als »gut«
hinstellen. Ein Beispiel: Ihre Kinder wollen klären, wer jetzt mit dem
neuen, tollen Feuerwehrauto spielen darf. Sie schreien laut und sind
beide ziemlich aufgeregt. Eine Lösung wäre: »Lass Jessie doch als
Erste damit spielen. Sie ist doch erst zwei, verflixt nochmal!« Oder:
»Micah, du bekommst das Auto jetzt, und du, Jessie, darfst es später
haben.« Das Runterschalten hingegen sieht so aus: »Ich nehme jetzt
mal das Feuerwehrauto. Okay, ich habe es. Jetzt muss ich erst
einmal tief durchatmen.« Atmen Sie ein paarmal tief ein und aus,
damit die Regulierung auf Ihre Kinder überspringen kann. »Hmm, zwei
Kinder, ein Feuerwehrauto! Das ist nicht leicht. Ich frage mich, was
wir da tun können? Sind denn hier irgendwelche Problemlöser
anwesend?« Halten Sie kurz inne. Vergessen Sie nicht: Ihre Aufgabe
ist es, die Situation zu entschärfen, sodass Ihre Kinder ihre Körper
regulieren können und ihre eigenen Problemlösungsfähigkeiten
aktivieren. Es ist nicht Ihr Job, dieses Problem so schnell wie möglich
aus der Welt zu schaffen. Sie setzen Ihre Kinder nur auf das Gleis,
das zur Problemlösung führt. Wenn wir für unsere Kinder ständig alle
Probleme lösen, bleiben sie von uns abhängig, und das ist für alle nur
frustrierend.

Und wie hilft das alles jetzt Hari, Annika und Ray?
Ray ruft sich ins Gedächtnis: »Runterschalten, nicht das Problem
lösen.« Zuerst macht er den Kindern die Regulierung vor: »Puuh, hier
geht’s ja ganz schön ab. Da muss ich erst mal tief durchatmen!« Er
legt eine Hand auf sein Herz und atmet ein paar Mal hörbar ein und
aus. Das ist so ganz anders als alles, was Hari und Annika sonst von
Erwachsenen kennen. Schon deshalb machen sie mit. Ray fährt fort:
»Ich sehe hier zwei sehr aufgeregte Kinder … Ich weiß, es passt
euch beiden nicht, wie das hier läuft. Aber ich werde nicht
entscheiden, wer recht hat oder nicht bzw. was passiert ist oder
nicht … Annika, anscheinend wolltest du auch mit den Bauklötzchen
spielen … und Hari, du hattest wohl einen Plan und wolltest die
Klötzchen für dich haben. Das ist gar nicht so einfach. Zwei Kinder,
beide wollen die Klötzchen haben, beide haben Ideen … Ich glaube,
wenn wir mal intensiv nachdenken … finden wir eine Lösung.
Hmmm …« Dann legt Ray eine Pause ein. Schließlich sagt Hari:
»Hier, nimm die.« Und Annika ist zufrieden. Ray ist jetzt erschöpft,
aber er ruft sich in Erinnerung, dass seine Kinder lernen müssen,
Probleme zu lösen. Und dafür war der ganze Prozess sehr wichtig.
Außerdem speichert er ab, dass Annika und Hari das
Geschwistersein vielleicht gerade nicht so attraktiv finden. Also plant
er für beide später ein wenig SOS ein.
Kapitel 16

Unhöfliches und trotziges


Verhalten
Die acht Jahre alte Farrah fragt ihre Mutter Heather, ob sie am
Samstagabend zu ihrer Freundin gehen darf. Heather sagt: »Du
weißt doch, am Samstag kommt Oma. Das geht also nicht.«
»Ich hasse diese Familie«, murmelt Farrah fast unhörbar.
»Was hast du gerade gesagt?«, hakt Heather nach. »Wie bitte?«
Und Farrah explodiert: »Ich sagte, ich hasse dich und ich hasse
diese Familie! Du bist die schlechteste Mutter der Welt!«
»Wieso bildest du dir ein, dass du so mit mir reden kannst? Geh auf
dein Zimmer! Sofort!«

Wenn Kinder unhöflich oder geradezu aufsässig reagieren, haben die


Eltern zwei Möglichkeiten: Wir können das Verhalten als Zeichen
mangelnder Achtung für uns sehen (»Mein Kind respektiert mich
nicht!«) oder als Signal fehlender emotionaler Regulierung beim Kind
(»Mein Kind hat es jetzt gerade schwer!«).
Die Versuchung, sich für die erste Erklärung zu entscheiden, ist
groß. Das ist der einfachere, meist auch eingefahrenere Weg. Aber
überlegen Sie einmal, wie das bei Ihnen ist: Warum sind Sie
manchmal grob zu anderen Menschen? Warum widersprechen Sie
Ihrer Chefin oder richten sich nicht nach ihren Wünschen? Auf diese
Frage bekomme ich immer die gleiche Antwort: Ich fühle mich
missverstanden. Ich möchte beachtet werden, fühle mich aber
ungesehen. Ich bin frustriert, weil dieser Mensch mir nicht zuhört, und
meine Beziehung zu ihm ist nicht so stark, wie sie in diesem Moment
sein könnte. Zu wissen, warum ich mich so verhalten würde, hilft mir,
solche Verhaltensweisen bei Kindern besser zu verstehen.
Nehmen wir einmal an, Sie sagen Ihrem siebenjährigen Sohn Hunter,
dass er heute Vormittag nicht auf seiner PlayStation spielen darf.
Dann gehen Sie nach dem Frühstück ins Wohnzimmer und sehen, wie
er trotz Verbot FIFA 23 spielt. Durch die Brille des mangelnden
Respekts gesehen, denken wir: »Ich habe doch Nein gesagt!
Kümmert es ihn gar nicht, was ich sage? Hunter macht, was er will.
Er hat keine Achtung vor Erwachsenen!« Sich nicht respektiert zu
fühlen, erleben die meisten Menschen als Affront. Daher neigen sie
auch zum Schimpfen oder Bestrafen – nicht, weil Hunter dadurch
plötzlich mehr Respekt zeigen würde, sondern weil wir Erwachsenen
mit diesem Gefühl der Entmachtung nicht fertigwerden, das sich in
unserem Körper meldet. Wir bestrafen den Missetäter also, damit wir
uns selbst besser fühlen.
Sehen wir Hunters Verhalten als emotionale Fehlregulierung, denken
wir eher: »Hunter hat sich etwas gewünscht, das ich ihm verboten
habe. Mit diesem Gefühl konnte er nicht umgehen. Daran müssen wir
zusammen arbeiten. Außerdem frage ich mich, ob zwischen ihm und
mir etwas nicht stimmt, etwas in unserer Beziehung, das ihn dazu
treibt, nicht auf mich zu hören.«
Wie wir mittlerweile wissen, sind Kinder nicht gerade Profis der
Emotionsregulierung. Je stärker und intensiver ein Gefühl ist, desto
weniger sind sie in der Lage, damit umzugehen. Wenn sie nicht über
das Gefühl sprechen oder tief durchatmen und sich sammeln (lauter
Dinge, die wir Erwachsenen tun, wenn wir starke Emotionen erleben),
dann macht sich das intensive Gefühl – wie in Hunters Fall – als
Trotzreaktion bemerkbar oder – wie in Farrahs Fall – als »Ich hasse
dich!« oder »Ich hoffe, du ertrinkst!«. Je stärker diese Gefühle sind,
desto wahrscheinlicher äußern sie sich in solchen Verhaltensweisen.
Die wiederum bewirken, dass die Eltern das Kind abweisen (»Sag so
etwas nie wieder zu mir!« und: »Du gehst jetzt sofort auf dein
Zimmer!«). Damit aber stecken wir im Teufelskreis fest: Das
ungezogene Verhalten des Kindes ruft bei den Eltern eine
automatische Reaktion hervor, die im Kind das Gefühl, nicht
verstanden zu werden, noch verstärkt. Es fühlt sich alleingelassen,
was wiederum das Gefühl stärker auflodern lässt. (Sie wissen ja: Es
ist weniger das Gefühl selbst, das schwer zu ertragen ist, als die
Tatsache, damit allein zu sein.) Und schon kommt es zu mehr
fehlreguliertem Verhalten.
Als Eltern müssen wir die begrenzten Regulierungsfähigkeiten
unserer Kinder (die sich in Frechheiten und Trotz äußern können,
eben weil sie so begrenzt sind) unterscheiden von ihren sehr realen
und ganz normalen Gefühlen (wie Wut oder Traurigkeit). Wir müssen
lernen, unter die Oberfläche zu schauen, und die zornigen
Äußerungen als verzweifelte Bitte betrachten, hinter das Verhalten zu
schauen. Und wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass das
ursprüngliche Verhalten sich fortsetzt, wenn wir es nicht bestrafen.
Wir verstärken negatives Verhalten nicht dadurch, dass wir auf Strafe
verzichten. Die Überzeugung, dass ein Kind, wenn wir es »mit sowas
durchkommen lassen«, lernt, dass »es in Ordnung ist, so mit seinen
Eltern zu sprechen«, beruht auf einem zutiefst negativen
Menschenbild, das ich nicht teile.
Wie sieht es eigentlich mit scheinbar rüdem Verhalten in unserem
eigenen Leben aus? Stellen Sie sich vor, Sie hatten einen schweren
Tag, und nun fragt Ihre Partnerin, ob Sie die Geschirrspülmaschine
ausgeräumt haben. Sie reagieren einfach: »Ich habe heute schon
alles Mögliche getan. Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen, die
Geschirrspülmaschine auszuräumen. Kannst du nicht mal irgendwas
selber machen?« Statt dass Ihre Partnerin jetzt dieselbe Tonart
anschlägt, könnte sie sagen: »Uff, das war ein wenig harsch. Du
hattest vermutlich einen schlechten Tag, Liebling. Das ist wichtiger als
dein Tonfall. Also erzähl mal: Was war denn los? Ich möchte das
gerne verstehen.«
Wie fühlt sich das an? Steigt oder sinkt damit die Wahrscheinlichkeit,
dass Sie Ihre Partnerin gleich noch einmal grob anfauchen? Und wie
würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Partner nicht mit Verständnis,
sondern wie folgt reagieren würde: »Ich werde nicht dulden, dass du
so mit mir redest. Eine Woche lang kein Fernsehen!« Ich glaube, wir
wissen alle, dass ein derartiges Szenario für keine Seite Vorteile
bringt. Das Gleiche gilt für unsere Kinder. Wenn wir ihrem
ungezogenen Verhalten mit Mitgefühl und Güte begegnen, fühlen sie
sich verstanden, was Freundlichkeit in ihnen fördert.

Die Strategien
Sich nicht ködern lassen
Wenn Sie auf das äußere Verhalten Ihres Kindes so reagieren, als
gäbe es dafür keine tieferen Gründe, schlucken Sie den Köder. Das
oberflächliche Verhalten als Zeichen eines tiefersitzenden Problems
zu betrachten – das Gefühl hinter den Worten zu erkennen und nicht
auf die Worte selbst zu reagieren –, heißt, dass Sie nicht anbeißen.
Und das macht einen großen Unterschied.
Und wie sieht das nun aus?

Schritt 1: Setzen Sie eine Grenze, was das Verhalten angeht.


(»Ich erlaube nicht, dass …« oder: »Ich lasse dich nicht …«)
Schritt 2: Bieten Sie eine großzügige Erklärung an. Zeigen Sie,
dass Sie die tieferen Gefühle, Sorgen und Wünsche verstehen.
Manchmal genügt es schon, ohne Worte präsent zu sein.
(Vergessen Sie nicht: Kinder betrachten Ihre Präsenz als
Zeichen dafür, dass sie gut sind. Schließlich zeigen Sie Ihren
Kindern so, dass sie Ihnen keine Angst machen.)

Beispiele:

»Ich schalte jetzt die PlayStation aus und nehme den Controller
an mich. Irgendetwas geht doch in dir vor. Ich habe Nein gesagt,
und du hast trotzdem angefangen zu spielen. Darüber können
wir später noch nachdenken: Irgendetwas an den Videospielen
macht es dir schwer, auf das zu hören, was ich sage. Aber es
scheint auch zwischen uns irgendetwas nicht zu stimmen, sonst
wäre das nicht passiert.«
»Puh, das sind ja große Worte … Du musst wirklich empört
sein, wenn du so etwas sagst. Ich weiß, dass du wütend bist,
weil dein Turm umgefallen ist. Da wäre ich auch wütend. Aber
ich bin für dich da, und ich habe dich lieb.«
»Ich werde diesen Ton nicht zulassen … Aber trotz alledem
muss ja einiges passiert sein, damit du so reagierst. Ich wäre
gerne mal mit dir ein bisschen allein. Ich weiß, dass es nicht
leicht ist, Teenager zu sein. Ich möchte dir zuhören und dich
verstehen. Ich habe dich lieb, auch wenn du sauer auf mich
bist.«
Manchmal aber sind Worte zu viel. Also erlauben Sie sich, tief
durchzuatmen und einfach da zu sein. Richten Sie den Blick auf
den Boden, nicken Sie. In derart aufgeladenen Situationen kann
mitunter sogar ein Augenkontakt zu viel sein, aber solch
einfache Gesten sagen: »Ich habe dich verstanden. Ich bin da.
Ich habe dich lieb.«

Bringen Sie Ihre Autorität zum Ausdruck, und zwar


ohne Strafen oder Angstmache
Wenn Ihr Kind wirklich total trotzig ist:

1. Atmen Sie tief durch. Vergessen Sie nicht: Trotz ist kein Zeichen
für mangelnden Respekt oder einen schlechten Charakter.
2. Bringen Sie Ihre Autorität zum Ausdruck. Sagen Sie klar, was
Sie tun, während Sie Ihre Rolle als Autoritätsperson ausfüllen
und Grenzen setzen. (Vergessen Sie nicht: Sie müssen sich
Ihrer Aufgabe bewusst sein.) Sie können sagen: »Ich nehme
dich jetzt vom Sofa runter«, wenn Sie nicht wollen, dass Ihr
Sohn darauf herumhüpft. Oder wenn Sie Ihre Tochter dabei
ertappen, wie Sie sich mit dem iPad im Schrank versteckt,
obwohl ihre Bildschirmzeit abgelaufen ist: »Du kannst mir das
iPad jetzt geben. Und wenn dir das zu schwerfällt, kann ich es
nehmen.« Und danach: »Ich werde es dir jetzt wegnehmen,
Schatz. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt.«
3. Ziehen Sie eine klare Grenze, aber nur, weil Ihr Kind die
Fähigkeit zur Impulskontrolle noch nicht besitzt, nicht weil es
Ihnen nicht gehorcht hat. Das kann heißen, dass Sie mit Ihrem
Sohn, der nicht fähig war, mit dem Rumhüpfen auf dem Sofa
aufzuhören, in seinem Zimmer bleiben. Oder dass Sie das iPad
irgendwohin legen, wo Ihre Tochter nicht herankommt. Erwarten
Sie nicht, dass Ihr Kind auf einen Schlag Impulskontrolle
entwickelt, nur weil es »erwischt« wurde. Ihr Kind signalisiert
Ihnen, dass es Ihre Hilfe zur Grenzsetzung braucht. Und Sie
müssen ihm helfen.
4. Überlegen Sie, ob es einen Weg gibt, den entsprechenden
Impuls zu sublimieren, in anderen Worten: Können Sie Ihrem
Kind helfen, seinen Wunsch so auszudrücken, dass es Ihre
Grenzen nicht verletzt? Sie könnten sagen: »Du möchtest jetzt
gerne herumhüpfen. Auf dem Sofa geht das aber nicht. Gehen
wir doch raus, dann kannst du im Gras herumhopsen.« Oder:
»Dein Verhalten sagt mir, dass wir eine Liste mit tollen Dingen
aufstellen müssen, die du alleine machen kannst, wenn ich, wie
jetzt, E-Mails für die Arbeit schreiben muss.«
5. Denken Sie später über das Geschehene nach, und handeln
Sie. Mit welcher Form der Impulskontrolle hat Ihr Kind
Schwierigkeiten? Können Sie, wenn sich alles wieder beruhigt
hat, Ihrem Kind beibringen, wie es innehalten und durchatmen
kann, falls es diesen Impuls wieder verspürt, um sich dann für
eine bessere Möglichkeit zu entscheiden? Brauchen Sie mehr
Mitwirkung von Ihrem Kind, damit es bestimmte Regeln
beachtet?

Reden Sie Klartext


Wenn Sie das nächste Mal eine Regel einführen, von der Sie wissen,
dass sie Ihrem Kind nicht gefallen wird, sagen Sie das klar und
deutlich. Das verstärkt Ihre gegenseitige Verbundenheit, weil Sie
seine Erfahrung bestätigen. Und Sie ermöglichen damit ein
gemeinsames Brainstorming, wie Ihr Kind die Regel akzeptieren
könnte. Sagen Sie zum Beispiel: »Es wird nicht auf dem Sofa
herumgehüpft. Ich weiß, das ist hart. Du hüpfst nun mal gerne auf
Möbeln herum, und das Sofa ist so verführerisch. Wo könntest du
denn noch herumhüpfen?« Oder: »Ich muss jetzt ein paar E-Mails für
die Arbeit schreiben. Ich weiß ja, dass du unsere Familienregel
kennst: iPad erst später. Vermutlich hast du keine Idee, was du
Schönes tun könntest, solange ich beschäftigt bin. Ich weiß, dass du
jetzt gerne das iPad hättest. Ich verstehe das. Aber was könntest du
denn sonst noch tun, während ich ein bisschen arbeite?«

Führen Sie Regeln ein, wenn alles ruhig ist


Wenn Kinder hinterhermaulen oder nicht folgen, würden Eltern den
Kontakt am liebsten kurzfristig abbrechen. Aber was unsere Kinder in
diesem Moment am meisten brauchen, sind Maßnahmen, um die
Verbundenheit wiederherzustellen. Ein Kind, das sich wütend gegen
Regeln auflehnt, schreit im Grunde: »Ich glaube, du verstehst nicht,
was in mir vorgeht. Aber ich möchte, dass du versuchst, mich zu
verstehen, dass du bei mir bleibst und siehst, dass ich in Wirklichkeit
ein gutes Kind bin. Das heißt nicht, dass du mir erlaubst, alles zu
machen, was ich möchte. Ich wünsche mir, dass du mit mir
zusammen versuchst zu verstehen, warum ich mich so verhalte. Und
dass du Möglichkeiten findest, die Verbindung wiederherzustellen.«
Auch hier ist es wichtig, dass wir unseren Kindern Zeit widmen
(SOS). Sie könnten es auch versuchen mit: »Habe ich dir schon mal
erzählt, wie …« Oder mit dem Auffüll-Spiel.

Und wie hilft das alles jetzt Farrah und Heather?


Wenn Farrah schreit: »Ich hasse dich!«, sollte Heather sich daran
erinnern, dass aus diesem Ausbruch Fehlregulierung spricht, nicht
mangelnder Respekt. So kann sie Farrahs Gefühle akzeptieren. »Ich
verstehe, dass es dich wütend macht, wenn du nicht zu Amina gehen
kannst.« Das überrascht Farrah, aber sie ist immer noch wütend:
»Du verstehst gar nichts! Du wirst es nie verstehen!« In diesem
Augenblick erinnert Heather sich, dass Präsenz mitunter genügt. Sie
atmet tief durch, richtet den Blick auf den Boden und nickt. »Ich bin
bei dir«, sagt sie.
Später am Abend haben beide sich beruhigt. Heather setzt sich zu
Farrah ans Bett. »Ich weiß, dass du nicht gerne schöne Zeiten mit
deinen Freunden verpasst. Mir hat das früher auch nicht gefallen.
Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich nicht zu meiner besten
Freundin konnte, um ihren sechzehnten Geburtstag zu feiern, weil ich
unbedingt mit zum Fußballspiel meines Bruders musste? Es war
schrecklich. Ich war dermaßen sauer.« Später macht Heather klar,
dass sie Farrah für ein gutes Kind hält: »Du bist ein gutes Kind, das
heute einen schwierigen Moment hatte. Ich weiß das. Nichts, was du
tust oder sagst, wird je ändern, wie lieb ich dich habe.
Kapitel 17

Quengeln
Adeze sitzt neben ihrer Mutter Imani am Tisch und macht
Hausaufgaben. Die hilft ihr dabei, beantwortet aber auch am Handy
E-Mails. Nebenbei hat sie noch ein Auge auf Adezes kleinen Bruder,
der durch das Wohnzimmer krabbelt. Da bricht Adeze die Spitze
des Bleistifts ab, und sie verlangt in quengeligem Ton von ihrer
Mutter: »Ich brauche einen spitzen Stiiiiiift! Kannst du mir einen
hoooolen?« Imani glaubt, jetzt gleich platzen zu müssen.

Wenn Ihnen solche Quengeleien unter die Haut gehen, dann


willkommen im Club. Ich bin übrigens Gründungsmitglied. Und
doch … sollten wir ein wenig tiefer blicken. Was regt uns daran so
auf und warum? Das sind wichtige Informationen über uns selbst.
Schon der Ausdruck »unter die Haut gehen« macht klar, dass
bestimmte Verhaltensweisen Schaltkreise in unserem Körper
aktivieren. Wirklich zu verstehen, was passiert, wenn solche
Quengeleien uns auf die Palme treiben, hilft uns herauszufinden, was
wir dagegen tun können.
Quengeln ist in den Augen vieler Eltern ein Ausdruck der
Undankbarkeit. Wenn unsere Kinder jammern, weil ihnen das von uns
zubereitete Abendessen nicht schmeckt oder weil sie ein neues
Spielzeug haben wollen, fühlt sich das an, als wüssten sie all unsere
Bemühungen nicht zu würdigen. Dabei geben wir ihnen doch so viel.
Aber was in solchen Augenblicken im Kind wirklich passiert, ist
etwas anderes. Ich sehe das Ganze so: Kinder quengeln, wenn sie
sich hilflos fühlen. Daher verwende ich häufig die Gleichung
Quengeln = ein starker Wunsch + Ohnmacht. Wenn ein Kind sich
anziehen will, das aber ohne Hilfe nicht schafft, oder wenn es zum
Spielen zu einer Freundin möchte, Sie aber Nein sagen, dann geht es
los mit der Quengelei. Warum aber geht uns das so sehr auf die
Nerven? Dahinter steckt mehr als die quiekende Stimme unserer
Kinder und ihr scheinbar nicht enden wollendes Betteln. Wenn
Quengeln für Sie Hilflosigkeit bedeutet, dann reagieren Sie vermutlich
deshalb so stark, weil Sie in einer Familie groß geworden sind, in der
Sie Ihre Verletzlichkeit verstecken mussten. Wenn Sätze wie diese
Ihnen bekannt vorkommen: »Jetzt nimm dich endlich zusammen!«
oder »Reiß dich mal am Riemen!« und »Benimm dich nicht wie ein
Kleinkind. Komm schon, das kriegst du doch hin!«, dann sind Sie mit
Ihrer Hilflosigkeit vermutlich auf wenig Akzeptanz gestoßen. Mit dem
Ergebnis, dass Sie gelernt haben, diesen Anteil abzuspalten. Wenn
Ihr Kind jetzt jammert, dann sagt Ihr Körper Ihnen: »Ich weiß genau,
was hier zu tun ist. Sofort unterbinden. Auf der Stelle unterbinden!«
Er reagiert auf Ihr Kind so, wie er früher auf Sie reagiert hat.
Die Wahrheit aber ist: Selbst für Erwachsene ist es schwierig, wenn
sie sich etwas wünschen und gleichzeitig hilflos sind. Unter solchen
Umständen quengle ich auch. Ich weiß noch, wie ich einmal kurz vor
Arbeitsbeginn vor einem Coffeeshop stand und dieser unerwartet
geschlossen war. Der Manager steckte den Kopf heraus und meinte:
»Wir sind heute etwas spät dran. Wir öffnen erst in 20 Minuten.« In
mir stieg Verzweiflung auf. Ich war heute früh ohne meine übliche
Dosis Koffein aus dem Haus gegangen, aber ich konnte auf keinen
Fall 20 Minuten warten, sonst würde ich ein Meeting versäumen.
»Bitte, bitte, bitte?«, jammerte ich. Meine Stimme hörte sich
schrecklich an, so schrecklich, wie mein Körper sich fühlte –
verzweifelt und ohnmächtig.
Kinder jammern auch, wenn sie sich nach Verbundenheit sehnen, um
zu signalisieren, dass sie sich allein fühlen und ihre Wünsche keine
Anerkennung finden. Es ist nun einmal unsere Aufgabe als Eltern, zu
entscheiden, was wir für unsere Kinder für richtig halten und was
nicht. Doch selbst dann, wenn unsere Kinder massiv gegen unsere
Entscheidungen protestieren, können wir uns noch in Verbundenheit
und Verständnis üben. Sich allein und verzweifelt zu fühlen, ist
schlimm. Menschen geht es nun einmal am besten, wenn sie Hoffnung
und Verbundenheit fühlen. Was nicht heißen soll, dass Sie jedem noch
so absurden Wunsch Ihres Kindes nachgeben müssen. Aber je mehr
Sie Ihren Blick auf die dahinterstehenden Gefühle richten und Ihren
Kindern eine sichere Bindung bieten, desto weniger werden sie
quengeln. Und sollten sie es trotzdem tun – denn das werden sie –,
hilft es Ihnen, sich diese Dynamik in Erinnerung zu rufen. Mit Ihrem
neuen Wissen können Sie den Moment überstehen, ohne deshalb
Ihre Entscheidung zu ändern. Wenn wir wissen, was sich hinter
Gejammere verbirgt, werden wir beim nächsten Mal angemessen
darauf reagieren und es mit der Zeit reduzieren.
Nehmen wir ruhig das Beispiel von meinem entgangenen Kaffee. Es
war schließlich nicht die Aufgabe des Geschäftsführers, für meine
emotionale Sicherheit zu sorgen. Angenommen, er hätte den Kopf
rausgesteckt und nicht einfach gesagt: »Wir sind heute spät dran«,
sondern: »Ich weiß, dass wir normalerweise um 8 Uhr aufmachen.
Natürlich haben Sie erwartet, jetzt Ihren Kaffee zu bekommen. Aber
wir haben ein Problem und können erst um 8.30 Uhr öffnen. Ich weiß,
dass das eine Enttäuschung ist. Keinen Kaffee zu bekommen, wenn
man ihn braucht, ist hart!« Hätte ich dann wirklich verzweifelt um
einen Becher Kaffee gebettelt? Vermutlich nicht. Stellen wir uns nun
vor, ich hätte trotzdem gejammert und der Manager hätte gesagt:
»Ich weiß, ich kenne das Gefühl.« (Verbundenheit) Oder: »Ich weiß,
das nervt. Aber irgendwie packen Sie das schon.« (Hoffnung) Dann
hätte ich mich vermutlich besser gefühlt.
Aber es gibt noch einen Grund, warum Kinder quengeln, und der ist
wichtig: Kinder brauchen häufig ein emotionales Ventil. Häufig ist der
Jammerton ein Signal dafür, dass dem Kind alles zu viel geworden ist
und dass seine Gefühle ausbrechen wollen. Letzten Samstag erst
wollte mein Sohn sein Wasser mit »neun Eiswürfeln« serviert haben.
Dann jammerte er, das Wasser sei zu kalt und ich solle es wärmer
machen, die Eiswürfel aber drin lassen. Nachdem diese Episode
erledigt war, blickte er mittags auf seinen Teller und sagte, er wolle
keine Nudeln mit Käse. Er wollte seine Nudeln zuerst ohne Käse,
dann mit einem bisschen Käse, dann den ganzen Käse. Und am Ende
meinte er, er wolle weder Nudeln noch Käse. Ich wurde immer
frustrierter. Sein ewiges Gequengel ließ mir eine Gänsehaut über den
Rücken laufen. Also hielt ich inne und überlegte: »Hm. Mein Sohn
braucht offensichtlich eine Grenze, damit er seine Gefühle austoben
kann. Seine unsinnigen Wünsche sind seine Art, mir zu sagen:
›Mama, bleib bitte stark. Schaff mir ein sicheres Umfeld. Ich muss
mich jetzt mal richtig ausheulen.‹« Also hörte ich auf, alles besser
machen zu wollen, und sagte nur: »Heute ist dir ja gar nichts recht?
Nichts ist so, wie du es gerne hättest. Ich verstehe das, Schatz. Es
gibt diese Momente.« Er sah mich nicht an und sagte: »Mama, du
verstehst mich so gut.« Nein. Er schimpfte und protestierte und
weinte am Ende. Ich brachte ihn in sein Zimmer und setzte mich eine
Weile zu ihm, bis alles aus ihm heraussprudelte. Mir war klar: Er
hatte das gebraucht. Sein Gequengel war in Wirklichkeit ein Hilferuf
gewesen.

Die Strategien
Lassen Sie Ihren inneren Quengler raus
Wenn das Jammern Ihres Kindes Sie nervt und Sie in einem Haushalt
aufwuchsen, in dem Verletzlichkeit nicht akzeptiert wurde, möchte ich,
dass Sie etwas ausprobieren. Legen Sie sich die Hand aufs Herz, und
sagen Sie sich: »Es ist in Ordnung, Hilfe zu brauchen und sich
ohnmächtig zu fühlen. Auch starke, resiliente Menschen fühlen sich
manchmal so.« Vielleicht wollen Sie ja vor dem Spiegel einmal
ausprobieren, wie das ist, sich so richtig zu beschweren. Jammern
Sie, wie viele E-Mails Sie täglich beantworten müssen. Oder dass
Sie keine Lust haben zu putzen. Oder dass Sie so müde sind.
Paradoxerweise werden Sie unempfindlich gegen das Quengeln, je
mehr Sie selbst herumnörgeln. Und was tun Sie am besten, wenn Ihre
Kinder quengeln und Sie spüren, wie Ihnen die Galle hochkommt?
Dann sagen Sie: »Einen Augenblick. Ich muss erst mal durchatmen.«
Dann legen Sie die Hand aufs Herz und sagen sich leise: »Ich bin
sicher. Ich kann damit umgehen.« Und dabei atmen Sie tief ein und
aus.

Humor ist, wenn …


Am besten begegnen Sie Gequengel mit Humor. Wenn wir albern und
humorvoll reagieren, geben wir unserem Kind, was es am
dringendsten braucht: Verbundenheit und Hoffnung – beides Elemente
eines unbeschwerten Daseins. (Eines aber sollten Sie sich merken:
Eine solche neckische Haltung ist nicht dasselbe wie Spott. Ersteres
sorgt für Verbundenheit und Lachen, Letzteres schafft Distanz und
Scham.) Nächstes Mal, wenn Ihr Kind sagt: »Hol mir meinen
Schlaafaaaanzuuug!«, atmen Sie durch, erinnern Sie Ihren Körper
daran, dass er in Sicherheit ist, und dann sagen Sie etwas wie: »Oh,
nein, nein, nein … da ist ja die Quengelhexe wieder! Wie ist die hier
nur reingekommen?« Dabei gehen Sie zum Fenster und gucken raus.
Machen Sie damit weiter, und Ihr Kind wird sich schnell entspannen.
»Okay, ich weiß jetzt, wie sie hereingekommen ist, aber nun sollten
wir sie auch wieder hinauslassen. Los, wir werfen sie anderen
Kindern nach!« Gehen Sie zu Ihrem Kind, tun Sie so, als wollten Sie
ihm die Quengelhexe abnehmen, und werfen Sie diese zum Fenster
oder zur Tür hinaus. Dann gehen Sie wieder zu Ihrem Kind und
sagen: »Okay. Wie war das jetzt? Du wolltest deinen Schlafanzug?«
Jetzt können Sie ihn holen. Damit bestärken Sie es nicht im Jammern,
aber signalisieren ihm auf spielerische Weise, dass es nicht allein ist.

Wiederholen Sie die Bitte in Ihrem eigenen Tonfall


und fahren Sie in Ihrem Tun fort
Viele Eltern glauben, sie müssten ihr Kind dazu bewegen, die Bitte
nochmals mit »starker« Stimme zu wiederholen, um ihm das
Gequieke abzugewöhnen. Es ist nicht unbedingt falsch, wenn Sie hin
und wieder sagen: »Kannst du das jetzt auch ohne Quengeln sagen?«
Das sollte nicht zu pedantisch oder kontrollsüchtig klingen. Aber
manchmal verstricken wir uns mit unseren Kindern in unnötige
Machtkämpfe, wenn wir einen »angemessenen Tonfall« verlangen.
Und dann wird, was eigentlich eine einfache Frage war, plötzlich zur
wüsten Schlacht. Das ist das Ganze nicht wert. (Was im Übrigen für
alle Machtkämpfe gilt.)
Meiner Ansicht nach ist es freundlicher und funktioniert auch besser,
wenn man den guten Ton vormacht und dann einfach fortfährt. Wie
könnte das aussehen? Wenn Ihr Kind jammert: »Papa, ich brauche
mein Buuuuuuuch!«, sagen Sie nicht: »Bitte sag das jetzt mal ohne
Quieken«, sondern: »Papa, kannst du mir bitte mein Buch geben?
Vielen Dank.« Dann schalten Sie um und sagen: »Oh, natürlich,
Liebling. Kein Problem.« Geben Sie Ihrem Sprössling das Buch,
atmen Sie kurz durch, verzichten Sie auf moralische Belehrung und
vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind den Unterschied merkt und
abspeichert.

Spüren Sie das Bedürfnis auf


Wenn Kinder quengeln, steht dahinter meist die Bitte um eine
Mischung aus mehr Aufmerksamkeit, Verbundenheit, Wärme,
Empathie und Bestätigung. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die
wir tun können, um das Bedürfnis hinter dem Quengeln zu erfüllen.

Legen Sie das Telefon weg und sagen Sie: »Ich lege jetzt mein
Telefon weg. Ich habe das Gefühl, ich bin abgelenkt, und du
hast das bemerkt. Jetzt bin ich für dich da.«
Setzen Sie sich neben Ihr Kind auf den Boden und sagen Sie:
»Etwas fühlt sich für dich nicht gut an. Das kann ich mir
vorstellen. Sehen wir mal, ob wir es rausbekommen.«
Zeigen Sie Mitgefühl und Verständnis für die Situation von
Kindern: »Manchmal ist es wirklich schwer, ein Kind zu sein. Ich
weiß.« Wenn das gut ankommt, machen Sie weiter: »Du
wünschst dir, dass du alle Entscheidungen selbst treffen darfst.
Ich verstehe dich ja.«
Öffnen Sie das Ventil: »Lass es raus, Schatz. Alles ist
schrecklich, oder? Ich bin ja hier bei dir. Es ist schon in
Ordnung.«
Spielen Sie das Auffüll-Spiel: »Willst du mir etwa sagen, dass
du eine Extraportion Mami brauchst? Darf ich auffüllen?«

Und wie hilft das alles jetzt Adeze und Imani?


Imani weiß, dass das Quengeln sie verrückt macht. Als Adeze
anfängt herumzuquäken, weil sie einen spitzen Stift will, atmet Imani
erst einmal tief ein und aus. Dann sagt sie: »Wie ist denn die
Quengelhexe hier hereingekommen? Sie hat sich wohl
reingeschlichen. Bestimmt haben wir die Tür offen stehen lassen!
Gut, ich werde das Quengeln nehmen … und es wieder
hinausbefördern!« Dabei geht Imani zum Fenster, öffnet es und tut
so, als würde sie etwas hinauswerfen, bevor sie es wieder schließt.
Da sie sich körperlich bewegt hat, fühlt sie sich schon ruhiger.
Außerdem hat sie so Zeit gewonnen und reagiert weniger
automatisch. Danach geht Imani zu Adeze und sagt: »Okay,
geschafft! Ich hoffe, deine Freunde Gabby und Raj bekommen jetzt
nicht Besuch von der Quengelhexe und jammern ihren Eltern was
vor.« Dann wechselt sie das Thema: »Was wolltest du noch einmal?
Einen spitzen Stift? Okay, ich hole dir einen.« Als Imani Adeze den
Stift gibt, merkt sie, dass ihre Tochter zufriedener wirkt. Abends
essen die beiden zusammen, und es gibt keinen Machtkampf, keine
Streiterei, wie das in der Vergangenheit so oft der Fall war.
Kapitel 18

Lügen
Als Jake von der Schule nach Hause kommt, sagt seine Mutter
Dara zu ihm: »Dein Lehrer hat angerufen. Er sagt, du hast auf dem
Pausenhof Owen umgerannt. Was war denn da los?«
»Ich habe niemanden umgerannt«, entgegnet Jake. »So war das
nicht.«
Dara setzt nach: »Lüg mich nicht an! Wenn du mich anlügst,
bekommst du mehr Ärger, als wenn du mir einfach sagst, was
passiert ist.«
»Ich lüge nicht«, sagt Jake. »Warum glaubst du dem Lehrer mehr
als mir? Du gibst immer mir die Schuld!«
Dara und Jake haben sich festgefahren.

Warum lügen Kinder? Nun, vielleicht überlegen wir erst einmal, warum
Kinder nicht lügen, bevor wir uns mit dem Rest beschäftigen. Wenn
unsere Kinder uns anlügen, vermuten wir dahinter meist das
Schlimmste. Wir denken: »Mein Kind ist unglaublich aufsässig!« Oder:
»Mein Kind glaubt, es kann mich verarschen!« Oder: »Mein Kind lügt
mir geradewegs ins Gesicht … wie asozial. Irgendetwas stimmt nicht
mit ihm!« Aber wenn wir Lügen als Zeichen mangelnden Respekts
betrachten (»Lügst du mich an? Hör auf, mich so respektlos zu
behandeln!«), übersehen wir das eigentlich Wichtige. Dann heißt es:
wir gegen unsere Kinder. Und schon sind wir mittendrin im schönsten
Eltern-Kind-Machtkampf, den keiner gewinnen kann.
In Wirklichkeit hat Lügen nichts mit Trotz oder Verschlagenheit oder
asozialem Verhalten zu tun (auch wenn Sie so etwas ohnehin nur im
Zorn sagen). Wie wir schon so oft in diesem Buch gesehen haben,
geht es auch beim Lügen mehr um die Grundbedürfnisse des Kindes
und seine Sehnsucht nach Bindung statt um Manipulation oder
»Verarsche«. Damit will ich nicht sagen, dass Sie es einfach
akzeptieren sollten, wenn Ihr Kind lügt. Aber bei meinem Ansatz geht
es nicht darum, auf der Stelle ein Geständnis zu erzwingen, sondern
herauszufinden, was hinter der Lüge steckt. Und dieses Problem
können wir dann angehen, um ein Umfeld zu schaffen, in dem die
Wahrheit eher möglich wird. Wir können ein Verhalten nicht ändern,
wenn wir es nicht verstehen. Strafen, Drohungen und Wut aber tragen
nichts zum Verständnis bei.
Kinder lügen aus verschiedenen Gründen. Erstens ist die Grenze
zwischen Fantasie und Wirklichkeit bei ihnen unschärfer als bei
Erwachsenen. Kinder tun ja beim Spielen häufig »als ob« und lassen
sich dabei von den Gesetzen der Realität nicht beeindrucken. Sie
treten in verschiedene Welten ein und übernehmen die Züge
unterschiedlichster Figuren. Ich bin ein großer Fan solcher Spiele.
Kinder können dabei alles ausdrücken, womit sie zu kämpfen haben,
in einer sicheren Welt, die sie voll unter Kontrolle haben. Wenn Sie
Ihre Tochter fragen, ob sie die Lampe umgeworfen hat (und
tatsächlich wissen, dass sie es war), Ihre Tochter aber sagt: »Nein,
ich habe in meinem Zimmer gespielt«, dann versucht sie, indem sie
sich ins Reich der Fantasie flüchtet, einen Umgang mit ihren
Schuldgefühlen zu finden bzw. mit ihrer Angst davor, dass Sie
enttäuscht oder wütend reagieren.
Auch hier haben wir, was unseren Blick auf das Ganze betrifft, zwei
Möglichkeiten: Wir sind entweder der Meinung, dass sie »es
vermeidet, die Wahrheit zu sagen«. Oder wir kommen zu dem
Schluss, dass die Wahrheit für sie so erschreckend ist, dass sie
lieber in die Welt des »So tun, als ob« flüchtet, wo sie alles unter
Kontrolle hat und sich ein Ende ausdenken kann, das ihr besser
gefällt.
Wenn wir Lügen vor dem Hintergrund der Sehnsüchte unserer
Kinder betrachten – in diesem Fall wünscht sich unsere Tochter
Kontrolle und ein anderes Ende –, sehen wir sie nicht als gegen uns
gerichtetes Verhalten, sondern als Zeichen für den Wunsch der
Kinder, sich sicher und gut zu fühlen. Denn dies sind die Bedürfnisse,
die ihr gesamtes Handeln beeinflussen und letztlich auch das von uns
Erwachsenen. Glaubt ein Kind, dass seine Eltern es nicht für liebens-
und schätzenswert halten, dann flüchtet es in eine Fantasiewelt, in
der sein Gutsein gewahrt bleibt. Was wir als Lüge sehen, ist
tatsächlich eine Nebenwirkung der Evolution: Das Überleben unserer
Kinder hängt von ihrer Bindung zu uns ab. Deren Stärke wiederum ist
abhängig vom Gefühl der Sicherheit und des Erwünschtseins. Wenn
Sie Ihre Tochter fragen, ob sie die Lampe zerbrochen hat, war ihr
erster Gedanke vermutlich: »Ich wünschte, die Lampe wäre nicht
zerbrochen. Ich wünschte, ich hätte nie in der Nähe der Lampe
gespielt. Hätte ich doch nur in meinem Zimmer gespielt!« All diese
Wünsche finden ihren Ausdruck dann in: »Ich habe in meinem Zimmer
gespielt.« Darin eine Lüge zu sehen und zu sagen: »Lüg mich nicht
an!«, verfehlt den Kern.
Kinder lügen auch, wenn sie glauben, dass die Wahrheit die Bindung
zu ihren Eltern gefährden würde. Bindung ist ein System mit
verschiedenen Graden der Nähe. Dabei geht es Kindern darum, dass
sie ihren Bezugspersonen nahe sind und dass diese die Nähe zu ihnen
wollen. Vor diesem Hintergrund bewerten Kinder die Bindung zu ihren
Eltern ständig neu. Sie fragen sich: »Wird das, was ich meinen Eltern
sage, diese Nähe verringern oder wird es mir zu mehr Verbundenheit
verhelfen?« Wenn ein Kind glaubt, die Bezugsperson nimmt sein
Verhalten durch die Brille des »schlechten Kindes« wahr und geht
deshalb auf Distanz, wird es jedes Mal lügen. Unser Körper ist darauf
programmiert, uns vor dem Verlassenwerden zu schützen. Als
»schlechtes Kind« wahrgenommen zu werden (»Ich kann mich jetzt
nicht mit dir beschäftigen. Geh in dein Zimmer.« Oder: »Wer lügt
denn bitte seiner Mutter ins Gesicht? Was stimmt denn mit dir
nicht?«), ist daher für ein Kind die größte Bedrohung überhaupt. Was
wir als Lügen sehen und bezeichnen, ist häufig nur ein
Schutzmechanismus des Körpers. Es geht also nicht um
»Manipulation«, sondern um Selbstverteidigung.
Der dritthäufigste Grund, weshalb Kinder lügen, ist, dass sie ihre
Unabhängigkeit bewahren wollen. Wir alle – Kinder ebenso wie
Erwachsene – haben das grundsätzliche Bedürfnis, uns selbst zu
spüren, zu wissen, wer wir sind und dass wir ein Recht darauf haben,
hier zu sein. Daher werden wir nicht gerne kontrolliert. Das fühlt sich
so an, als würde uns die andere Person nicht als eigenständigen
Menschen wahrnehmen. In solch einem Szenario rebellieren alle
Menschen, selbst wenn ihnen das schadet. Sie brauchen einfach
dieses kleine Stück Leben, das sie als ihr ureigenstes betrachten.
Kinder jeder Altersgruppe haben das Bedürfnis, dass ein Teil ihres
Lebens nichts mit den Eltern zu tun hat, damit sie das Gefühl der
Souveränität bewahren können. Manche Kinder greifen zur Lüge als
wesentlicher Strategie, um dieses grundsätzlich menschliche
Bedürfnis zu befriedigen. Wenn ein kleines Kind, das in einer Familie
mit strengen Ernährungsregeln aufwächst, sich einen Keks holt, weiß
es um seine Selbstständigkeit. Wenn eine Teenagerin, die schulisch
massiv unter Druck steht, aufhört, für ihre Prüfungen zu lernen, weiß
sie, dass sie von ihren Eltern unabhängig ist. Wenn Kinder in solchen
Fällen lügen – »Ich habe den Keks nicht genommen.« Oder: »Ich
habe schon gelernt!« –, halten sie damit an diesem Teil ihres Lebens
fest, in dem sie sich ganz als sie selbst fühlen. Natürlich reagieren
Eltern dann häufig mit vermehrter Kontrolle, was die Motivation zum
Lügen verstärkt.
Das Interessante an solchen »Teufelskreisen« ist aber: Sobald wir
die Dynamik dahinter kennen, wissen wir, wie wir sie verändern
können. Wenn wir den Teufelskreis »kindliche Lüge/elterliche
Kontrolle« durchbrechen wollen, fangen wir (nicht gerade
überraschend) am besten mit Verbundenheit an. Sprechen Sie Ihr
Kind in einem ruhigen Moment an: »Ich würde dir gerne mehr
Eigenständigkeit lassen. Ich weiß ja, dass es nicht so toll ist, wenn
man als Kind so wenig über sein Leben bestimmen kann. Aber wo
sollen wir da anfangen? Welche Dinge würdest du gern mehr selbst
entscheiden?« Hören Sie jetzt gut zu, dann wissen Sie, wo Sie
ansetzen können.
Bevor wir uns nun mit entsprechenden Strategien beschäftigen,
möchte ich noch einen Punkt klarstellen. Eltern konzentrieren sich
häufig darauf, eine bestimmte Lüge »aufzudecken«. Wenn es um den
Umgang mit Kindern geht, die gerne lügen, versuche ich, die Wahrheit
in der Zukunft zu fördern, statt jetzt »Geständnisse« zu bekommen.
Die hier vorgestellten Maßnahmen werden Ihr Kind nicht dazu
bringen, dass es zugibt: »Ja, ich habe gelogen! Es stimmt!« Das ist
nicht unser Ziel. Es geht vielmehr darum, das heimische Umfeld so zu
gestalten, dass Ihre Kinder Sie als sicheren Erwachsenen erleben,
der mit ihren Erfahrungen fertig wird. Das heißt: Wir atmen erst
einmal durch und schlucken unseren Stolz hinunter, wenn wir mit einer
Lüge konfrontiert sind – wir lassen den Moment vorübergehen, ohne
ein Geständnis zu verlangen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf
das langfristige, wichtigere Ziel. Ich verspreche Ihnen, es lohnt sich.

Die Strategien
Betrachten Sie die Lüge als Wunsch
Eine Lüge als Wunsch zu betrachten, erlaubt uns, weiterhin das
Gutsein unseres Kindes zu sehen – und das ist ein entscheidender
Punkt, wenn es um den Umgang mit Lügen geht. Damit ändert sich
die Richtung des Gespräches, weil sich mehr Alternativen auftun als
nur »Wahrheit« und »Lüge«. Es gibt nämlich noch einiges
dazwischen. Wenn Sie diese Grauzone wahrnehmen und ansprechen
können, entschärfen Sie die Situation und schaffen Voraussetzungen
für mehr Verbundenheit mit Ihrem Kind. Wenn Ihr Kind sagt: »Ich war
auch schon in Florida«, könnten Sie antworten: »Hmm … Vermutlich
hättest du gerne die Ferien in Florida verbracht. Das klingt so schön
sonnig und warm. Was könnten wir wohl alles anfangen, wenn wir
tatsächlich dort Ferien machen würden?« Sagt Ihre Tochter: »Ich
habe den Klötzchenturm meiner Schwester nicht umgeworfen. Er ist
einfach eingestürzt«, dann reagieren Sie vielleicht so: »Du wünschst
dir jetzt wahrscheinlich, der Turm wäre nicht umgefallen …« Oder:
»Ich mache manchmal auch Dinge, von denen ich mir später
wünsche, ich hätte sie nicht getan. Es ist nicht leicht, wenn so etwas
passiert.« Die Lüge als Wunsch zu betrachten heißt, dass wir uns auf
die Seite unseres Kindes stellen und es nicht als Feind sehen. Dieser
Perspektivwechsel ändert das ganze Klima und führt dazu, dass Ihr
Kind mit größerer Bereitwilligkeit wieder die Wahrheit sagt.

Abwarten und später reagieren


Im Umgang mit meinen Kindern (die mich natürlich auch manchmal
anlügen) setze ich aufs Innehalten – ich tue also erst einmal nichts
und warte ab. Mit meinem Fünfjährigen sieht das dann so aus:
Mein Sohn: »Mama, ich habe das Puzzle nicht
durcheinandergebracht und ein paar Teile unter dem Sofa
versteckt. Ich war das nicht!«
Ich: »Hmm …« Ich nicke, sage aber nichts.
Mein Sohn: »Ich habe das nicht gemacht.«
Warum sage ich nichts? Weil mein Sohn sich ganz offensichtlich
schuldig fühlt, sich schämt und sich verteidigen möchte. Was heißt,
dass er nicht zuhören wird. Ich weiß, dass Argumente hier nicht
fruchten, und ich möchte keinen Machtkampf lostreten. Zuerst
müssen wir aus dem Scham-Modus herauskommen, damit später
Veränderungen möglich werden. Stunden später rede ich mit meinem
Sohn und liefere ihm eine weitherzige Sicht seines »schlechten«
Verhaltens. Für mich ist das der Einstieg ins Ehrlichsein: »Ich
überlege gerade, wie das mit dem Puzzle war, das ich mit deinem
Bruder zusammengesetzt habe … Als du ins Zimmer gekommen bist,
war es vermutlich schwierig, da ausgeschlossen zu sein … Ich
verstehe das.« Wenn ich ehrlich bin, würde mein Sohn dann
vermutlich sagen: »Ich habe das nicht gemacht. Ich war das nicht.«
Dann würde ich darüber hinweggehen, aber später, für mich, noch
einmal darüber nachdenken. Ich würde mich fragen: Worum geht es
bei dieser Lüge? Will mein Sohn mir sagen, dass er sich mehr
Unabhängigkeit wünscht? Dass er eifersüchtig ist, wenn ich Zeit mit
seinem älteren Bruder verbringe? Dass er sich zur Perfektion
gedrängt fühlt und das als Einschränkung erlebt? Sobald wir über die
Bedeutung eines bestimmten Verhaltens nachdenken (»Worum geht
es hier eigentlich? Was sagt mir mein Kind über seine inneren
Kämpfe und Bedürfnisse?«), haben wir die Grundlage gelegt, um
anders auf dieses Verhalten einzugehen.

»Wenn es nun wirklich so gewesen wäre …«


Wenn ein Kind sich in einer Lüge verstrickt hat, finde ich es
besonders wirksam, sich zu fragen, was das Kind machen würde,
wenn es nun wirklich so gewesen wäre. Nehmen wir einmal an, Sie
bekommen einen Anruf von der Schule, dass Ihre Tochter die ganze
letzte Woche keine schriftlichen Hausaufgaben gemacht hat. Sie
kommen abends nach Hause und sprechen Ihre Tochter darauf an.
Und sie beteuert immer wieder: »Aber ich habe sie doch gemacht!
Ich habe sie gemacht! Und ich will nicht darüber reden!« Nach einer
kurzen Pause, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind sich öffnet,
könnten Sie sagen: »Aha … na gut … Ich sage ja nur: Wenn ein Kind
in dieser Familie einige Tage lang keine Hausaufgaben gemacht hätte,
würde ich wirklich versuchen, das zu verstehen. Denn jedes Kind in
dieser Familie müsste, wenn es keine Hausaufgaben macht, triftige
Gründe dafür haben. Da fällt mir ein: Als ich sieben war, habe ich
auch einige Tage keine Hausaufgaben gemacht. Irgendwie kam mir
das Ganze so schwierig vor, dass ich mich nicht herangetraut habe.
Wenn also so etwas vorkommen würde, würde ich mich mit dir
hinsetzen und darüber reden. Du würdest deswegen auch keinen
Ärger bekommen …« Und dann bleiben Sie cool. Sehen Sie Ihre
Kleine nicht an, sagen Sie nicht: »Also du hast sie nicht gemacht,
oder?« Gehen Sie einfach darüber hinweg. Sie können sich darauf
verlassen, dass Ihre Worte ankommen. Später können Sie noch
einmal auf Ihr Mädchen zugehen und sagen: »Hallo, Liebes. Ich weiß
ja, dass Hausaufgabenmachen schwierig ist. Zumindest war das bei
mir so. Ich bin da für dich. Du bist ein gutes Kind, auch wenn du mal
keine Hausaufgaben machst. Ich weiß das. Und ich hab dich lieb.«
Wenn ich das Gefühl habe, dass mein Kind offen dafür ist, würde ich
vielleicht noch hinzufügen: »Ich frage mich, was du tun könntest, wenn
dir etwas mal zu schwierig erscheint?«

Fragen Sie das Kind, was es braucht, um ehrlich sein


zu können
Wenn Lügen in Ihrer Familie zum Problem werden, sollten Sie mit
Ihrem Kind in davon unbelasteten Situationen reden, um
herauszufinden, was es braucht, um ehrlich zu sein. Das funktioniert
besonders gut bei älteren Kindern, die eher in der Lage sind, solche
Gedanken zu formulieren. Das könnte beispielsweise so beginnen:
»Ich würde gerne ein paar Minuten mit dir reden. Keine Sorge, du
kriegst keinen Ärger. Ich denke nur darüber nach, dass es dir
manchmal schwerfällt, mir die Wahrheit zu sagen. Ich werfe dir das
nicht vor, denn ich weiß, dass du etwas von mir brauchst, um die
Wahrheit sagen zu können. Offensichtlich mache ich irgendetwas, das
dir Angst davor macht, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht hast du ja
Angst, dass es dann Schwierigkeiten gibt. Jedenfalls frage ich mich,
was du von mir brauchst oder ob es etwas gibt, was ich anders
machen könnte. Denn ich fände es schön, wenn in unserer Familie
jeder das Gefühl hat, mir die Wahrheit sagen zu können, auch wenn
sie nicht so toll klingt.«

Und wie hilft das alles jetzt Jake und Dara?


Dara hält inne, als sie merkt, dass Jake noch heftiger lügt. »Okay«,
sagt sie. »Ich höre dich. Wir reden später.«
»Glaubst du mir denn?«, fragt Jake. »Dass ich es nicht getan
habe?«
Darauf Dara: »Ich weiß im Moment nicht, was ich glauben soll. Ich
weiß aber, dass ich dich lieb habe und du ein gutes Kind bist, selbst
wenn du mal Schwierigkeiten hast. Ich glaube, dass alle Kinder und
alle Erwachsenen manchmal Dinge tun, auf die sie nicht stolz sind.
Meine Aufgabe ist es, dir verstehen zu helfen, was da abläuft, ohne
dich zu bestrafen oder dir Standpauken zu halten. Ich sage ja nur:
Hätte ich ein Kind, das jemanden geschubst hat, würde ich
annehmen, dass vorher irgendetwas passiert sein muss, das sich
schlimm angefühlt hat. Ich würde meinem Kind sagen, dass Schubsen
trotzdem nicht in Ordnung ist. Aber wir würden uns gemeinsam
fragen, was der Auslöser war, und den Dingen so auf den Grund
gehen. Nun ja, ich atme jetzt erst mal tief durch, und dann fange ich
an, das Abendessen zu machen … Wenn du mich brauchst, bin ich
da. Ich habe dich lieb. Wir bekommen das schon hin.«
Jake scheint darüber nachzudenken, dann geht er weg. Später
schaut Dara in sein Zimmer und sagt: »Ich weiß, wie es sich anfühlt,
wenn man verurteilt wird und keiner einem glaubt. Das ist schrecklich.
Ich kenne das.« Schließlich erzählt Jake, dass Owen ihn einen Loser
und ein Baby genannt hat. Darüber ist er so wütend geworden, dass
er Owen geschubst hat. Dara wird klar, dass sie Jake helfen muss,
mit seiner Wut fertigzuwerden. Aber das verschiebt sie auf später.
Jetzt stärkt sie stattdessen ihre Bindung zu ihrem Sohn und sagt: »Ich
bin so froh, dass wir darüber sprechen. Das ist mir wirklich wichtig.«
Kapitel 19

Ängste
Die fünfjährige Blake hat Angst vor Feuer. Wenn bei einer
Geburtstagsfeier die Kerzen auf dem Kuchen angezündet werden,
fängt sie an zu weinen. Häufig liegen zwischen Gelassenheit und
Panik nur wenige Sekunden. Einmal war ihre Familie mit Freunden
beim Campen. Als Blake an der Hand ihres Vaters zu den Zelten
zurückkam, sah sie, dass die andere Familie ein großes Lagerfeuer
gebaut hatte. Leo, Blakes Vater, sagt ihr immer wieder, dass sie
sicher sei und man aufpassen werde, damit das Feuer nicht zu groß
wird. Er erklärt, dass ein Lagerfeuer Spaß mache und sie sich
davor nicht fürchten müsse. Aber Blake klammert sich an ihren
Vater und schreit aus vollem Hals. Leo ist frustriert und weiß nicht,
wie er damit umgehen soll.

Angst ist die ursprünglichste Reaktion des Körpers, wenn er sich


bedroht fühlt. Denken Sie an das letzte Mal, als Sie richtig Angst
hatten – Ihr Herz schlug wie wild, und Ihnen wurde komisch in der
Magengegend. Angst macht sich bei allen Menschen mit einer Reihe
somatischer Reaktionen bemerkbar: meist sind das erhöhte
Herzfrequenz, Engegefühl in der Brust oder Probleme mit dem
Magen. Diese inneren Erfahrungen signalisieren: »Ich bin jetzt in
Gefahr.« Und das führt dann zu der emotionalen Erfahrung »Angst«.
Diese Gefühle melden sich im kleinen Körper Ihrer Kinder mit der
gleichen Wucht wie bei Erwachsenen. Eines müssen wir auf jeden
Fall begreifen: Kinder übertreiben ihre Ängste nicht oder erfinden sie,
um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie erfahren Panik im
Körper und brauchen einen Erwachsenen, um sich wieder sicher zu
fühlen. Unser Ziel als Eltern sollte daher sein zu erkennen, wenn
unser Kind Angst hat, und ihm beim Übergang von »Ich bin in Gefahr«
zu »Ich bin sicher« zu helfen.
Obwohl die meisten Eltern dies theoretisch zwar verstehen,
reagieren sie instinktiv aber meist anders: Sie versuchen, ihren
Kindern die Angst zu nehmen, indem sie ihnen erklären, warum sie
sich nicht fürchten müssen. Wenn ein Kind sagt: »Davor habe ich
Angst«, scheinen Eltern den Impuls zu haben, ihnen zu antworten:
»Nein, dein Gefühl ist total verkehrt!«
Eine Angst zu rationalisieren oder ein Kind zu überzeugen, dass es
keine Angst haben sollte, ist keine erfolgversprechende Strategie.
Wenn ein Kind Angst hat, erlebt sein Körper eine Stressreaktion. In
diesem »Ich bin in Gefahr«-Zustand schaltet der logisch denkende
Teil des Gehirns sich aus, damit es seine ganzen Energien aufs
Überleben konzentrieren kann. Ist Ihr Kind im Angstmodus, dann nützt
ihm die beste Erklärung nichts, weil sie ihm keine Sicherheit gibt. Was
Ihrem Kind da hilft, ist Ihre Präsenz. Denn das Schlimmste ist ja,
wenn man mit seiner Angst alleingelassen wird. Anders ausgedrückt:
Kinder brauchen weniger Logik und mehr Verbundenheit.
Außerdem entgehen uns wichtige Informationen, wenn wir
versuchen, unserem Kind die Angst zu nehmen. »Du musst dich davor
nicht fürchten« versucht, die Erfahrung des Kindes zu verändern.
»Hm, irgendetwas ist da dran. Erzähl mir mehr davon« hilft Ihnen
hingegen, Hintergrundinformationen zu bekommen. Wenn Sie mit
Ihrem Kind über seine Angst vor Hunden reden, stellt sich vielleicht
heraus, dass es gerade ein Buch gelesen hat, in dem die Hauptfigur
von einem Hund gebissen wurde. Bei der Angst vor dem Alleinsein
geht es möglicherweise um etwas, das passiert ist, als Sie auf der
Arbeit waren. Die Angst vor dem Schulbus geht vielleicht zurück auf
ein Erlebnis, bei dem zwei Schüler sich im Bus geprügelt haben. Die
Einzelheiten rund um die Angst in Erfahrung zu bringen, liefert Ihnen
Informationen, mit denen Sie Ihrem Kind helfen können.
Im Übrigen wollen wir unseren Kindern ihre Ängste auch deswegen
nicht nehmen, weil wir uns wünschen, dass sie ihren Gefühlen zu
trauen lernen, auch wenn sie bedrohlicher oder unangenehmer Natur
sind. Schließlich sollen sie später erkennen, wenn sie in wirklich
gefährliche Situationen geraten. Wir möchten ja, dass sie ihrem
Instinkt vertrauen, wenn sie denken: »Hmm … irgendetwas ist hier
faul. Mein Körper sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Ich muss
sofort hier weg.«
Das Gleiche gilt auch, wenn es nicht um spezielle Ängste geht,
sondern um generelle Angstgefühle. Wenn unsere Kinder Angst
haben (»Ich weiß nicht, ob ich zum Schwimmen gehen will.« Oder:
»Ich glaube, bei der Matheprüfung werde ich schlecht
abschneiden.«), wollen wir sie meist beruhigen (»Aber du gehst doch
gerne schwimmen, Liebes. Es wird dir Spaß machen!« Oder: »Du
musst positiv denken, Schatz.«). Aber wie bei den spezifischen
Ängsten verstärkt es die Angst nur, wenn wir sie unserem Kind
ausreden wollen. Warum? Weil Kinder immer merken, welchen
Dingen wir lieber aus dem Weg gehen und welche wir benennen und
ansprechen. Wenn wir einem Kind sagen, es solle positiver denken
oder empfinden, glauben wir, ihm damit zu helfen. Aber beim Kind
kommt eine andere, tiefere Botschaft an: dass es sich nicht so fühlen
sollte und dass es falsch ist, nervös oder ängstlich oder zögerlich zu
sein. Und schon bekommt das Kind Angst vor der Angst. Es speichert
ab, dass es sich nicht so fühlen darf.
Angst kann man nicht einfach »loswerden«. Am besten gehen wir
damit um, indem wir unsere Toleranzschwelle verschieben, die Angst
zulassen und ihren Sinn verstehen. Dann kommen dahinter auch
andere Gefühle zum Vorschein, und die Angst hört auf, sie zu
überdecken. Wenn wir nicht versuchen, ein Gefühl zu bekämpfen,
sondern es akzeptieren und trotzdem unseren Alltag leben, dann
schaffen wir Raum für mehr inneren Frieden. Die Aufgabe der Eltern
ist also nicht, das Gefühl zu ändern, sondern sich der Angst ihrer
Kinder mit Neugier zu nähern und ihnen zu helfen, sich in ihrer Haut
auch dann wohlzufühlen, wenn sie Angst haben.

Die Strategien
Steigen Sie mit ins Loch
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind hätte vor irgendetwas Angst. Das kann
eine vergleichsweise harmlose Sache sein, wie eine
Geburtstagsfeier, oder etwas Schwierigeres, wie der Tod eines
Verwandten. Nun malen Sie sich aus, wie Ihr Kind in einem Loch im
Boden sitzt. Das Loch ist die Angst. Ihr Kind steckt mittendrin in
dieser unangenehmen Empfindung. Wir wollen unseren Kindern das
Gefühl geben, dass wir mit ihnen in das Loch steigen und ihnen
Gesellschaft leisten – und nicht versuchen, sie herauszuholen. Wenn
wir das tun, geschehen zwei wichtige Dinge: Unser Kind fühlt sich
nicht mehr allein, und wir zeigen ihm, dass das, was es so sehr
fürchtet, uns nicht angsterregend erscheint, denn sonst würden wir
uns ihm ja nicht anschließen. Nehmen wir an, Ihr Kind fürchtet, dass
Sie am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr da sein könnten, obwohl
Sie es noch nie zurückgelassen haben, ohne ihm genau zu sagen,
wann Sie wiederkommen. Schieben Sie die Logik einmal zur Seite
und ab ins »Loch«: »Wenn du abends ins Bett gehst, hast du also
Angst, dass ich am Morgen nicht mehr da bin? Das ist wirklich eine
schreckliche Vorstellung …« (Das Kind aus dem Loch zu holen, hört
sich hingegen so an: »Liebes, du musst dir darüber keine Sorgen
machen. Ich bin doch noch nie weggegangen, ohne dir Bescheid zu
sagen.«)

Trockenübungen
Eltern wollen häufig nicht mit ihrem Kind über die Situationen
sprechen, die ihm Angst machen. Wir versuchen, nicht darüber
nachzudenken, und hoffen inständig, dass unser Nachwuchs seine
Ängste vergisst oder dass es beim nächsten Mal anders sein wird.
Aber glauben Sie mir: Diese Art der Verdrängung verstärkt die Angst
nur. Wenn wir ein Gespräch über das Problem vermeiden, schließt
unser Kind daraus, dass diese Situation auch uns Angst macht.
Trockenübungen hingegen geben Eltern die Möglichkeit, zu zeigen,
dass wir eine herausfordernde Situation für handhabbar halten. Und
unsere Kleinen können üben, wie sie im »Ernstfall« reagieren. Solche
Trockenübungen helfen Kindern, sich auf bestimmte Situationen
vorzubereiten: auf Momente der Trennung, Arztbesuche, Sportfeste,
Spielnachmittage, Vorlesen in der Klasse … Wenn ich recht überlege,
gibt es fast keine Stresssituation, die sich durch eine Trockenübung
nicht besser bewältigen ließe. Sie können die Situation direkt mit dem
Kind üben oder mit Kuscheltieren. Letzteres ist vor allem bei kleinen
Kindern hilfreich, wenn sie keine Lust zum Rollenspiel haben. Oder für
Kinder, die die angsteinflößende Situation eben nicht durchspielen
wollen.
Eine Trockenübung für den Moment der Trennung könnte zum
Beispiel so aussehen: »Am Montag ist dein erster Schultag.
Überlegen wir doch gemeinsam, wie wir uns verabschieden wollen,
und dann lass uns das ein paarmal üben, damit unser Körper für den
Moment bereit ist.« Dann üben Sie ein knappes Szenario ein. Spielen
Sie durch, wie Sie weggehen oder tief durchatmen. Geben Sie dem
Kind ein Mantra, für den Fall, dass es traurig ist. Selbst wenn Ihr Kind
dabei Anzeichen von Stress zeigt: Die Übung macht das Kind nicht
ängstlicher. Es lernt vielmehr, die schwierige Situation zu meistern.
Die Trockenübung für den Arztbesuch mithilfe von Plüschtieren
könnte sich so gestalten: Sie haben einen Teddybären, Ihre Tochter
ein Einhorn. Sie, als Teddy, sagen: »Hallo, Einhorn. Willkommen beim
Doktor! Du und deine Mutter könnt jetzt in den Behandlungsraum
kommen.« Und dann gehen Sie den Arztbesuch in eben der Form
durch, in der er sich abspielen wird. Vielleicht probieren Sie das auch
aus. (»Okay, Einhorn! Jetzt setzt du dich auf Mamas Schoß, während
ich in dein Ohr gucke und nachschaue, ob da auch alles in Ordnung
ist! Kannst du mal ganz still halten, liebes Einhorn? Super machst du
das!«)

Und so können Sie spezifische Ängste ansprechen


Die Verlockung ist wirklich groß, nicht über Ängste zu reden, so als
würden unsere Kinder diese vergessen, wenn wir sie nicht daran
erinnern. Aber so funktioniert das nicht – der beste Weg, um einem
Kind durch seine Angst hindurchzuhelfen, ist, mit ihm darüber zu
reden. Damit zeigen wir ihm nämlich, dass wir – die Erwachsenen –
vor dem Thema nicht so viel Angst haben wie sie. Hier ein Drehbuch,
wie Sie Ängste auf eine für Sie beide produktive Weise ansprechen
können.
Schritt 1: Reden Sie mit dem Kind über seine Angst, aber nur, um
Informationen zu sammeln und sie besser zu verstehen. Vielleicht
mögen Sie ja so anfangen: »Erzähl doch, wie es für dich ist, wenn
du allein in ein dunkles Zimmer gehst.« Oder: »Es sieht so aus, als
wäre es schwierig für dich, allein in bestimmte Räume dieses
Hauses zu gehen.« Stellen Sie viele Fragen. Halten Sie keine
Vorträge. Sie wollen nichts erklären oder Ihr Kind überzeugen. Sie
sammeln einfach nur Daten. Dann wiederholen Sie, was Sie gerade
gehört haben, um zu sehen, ob Sie »es auch richtig verstanden
haben«. Zum Beispiel so: »Okay, gucken wir mal, ob ich das
kapiert habe. Wenn du allein durchs Haus gehst, wenn es dunkel
ist, meldet sich in deinem Körper die Angst. Du weißt nicht genau,
warum, aber du weißt, dass du Angst hast. Stimmt das?«
Schritt 2: Bestätigen Sie, dass die Angst Ihres Kindes tatsächlich
»ihren Sinn hat«. Ihrem Kind zu helfen, seine Angst zu verstehen,
vermittelt ihm das Gefühl, dass es damit auch fertigwerden kann.
Und das könnte so aussehen: »Dunkelheit fühlt sich manchmal
furchterregend an, weil wir nichts sehen können. Und wenn wir nicht
genau wissen, was um uns herum vorgeht, fürchten wir uns. Kein
Wunder, dass es dir schwerfällt, in der Dunkelheit allein durchs
Haus zu gehen!«
Schritt 3: Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie froh sind, über diese
Angst gesprochen zu haben. Verwenden Sie dabei das Wort
»wichtig«. Damit zeigen Sie Ihrem Kind, dass seine Angstgefühle es
wert sind, darüber zu reden. Dies versetzt es eher in die Lage, die
Angst zu überwinden, als wenn Sie ihm raten, sie zu unterdrücken
(wodurch sie nur größer würde). Und das geht zum Beispiel so:
»Ich bin so froh, dass wir darüber reden. Denn das ist ziemlich
wichtig.«
Schritt 4: Suchen Sie mit Ihrem Kind zusammen Lösungen. Bieten
Sie Ideen an, die funktionieren könnten. Aber ermöglichen Sie Ihrem
Kind auch die Aha-Momente, die sich einstellen, wenn es selbst
Bewältigungsstrategien entwickelt. Widerstehen Sie dem Impuls,
die Angst wegerklären oder das Problem lösen zu wollen. Sie
können hier Sätze verwenden, die mit »Ich frage mich, ob …« oder
»Ich überlege …« beginnen, um Ihrem Kind bei der Problemlösung
zu helfen. Das hört sich dann vielleicht so an: »Hmm … ich frage
mich, ob wir auf der Kellertreppe immer nur eine Stufe auf einmal
nehmen könnten, wenn wir gemeinsam runtergehen. Dann kannst
du mir sagen, wann das gruselige Gefühl kommt und wann du den
Eindruck hast, dass es stärker wird.« Wenn Sie so mit der
kindlichen Angst umgehen, laden Sie diese mit elterlicher Präsenz
auf. Dann fühlt Ihr Kind sich mit seiner Angst weniger allein und sie
lockert ihren Würgegriff. Dann könnten Sie sagen: »Ich frage mich,
was du zu dir selbst sagen könntest, wenn du die Stufen
hinuntergehst …« Oder Sie machen einen Vorschlag: »Ich überlege,
ob wir jetzt mal eine Stufe nehmen, und in ein paar Tagen dann die
nächste und dann am Tag darauf ein paar mehr …«
Schritt 5: Denken Sie sich ein Mantra aus. Für Kinder, die mit
Ängsten zu kämpfen haben, sind Mantras hilfreich, sobald Angst
auftritt. Ob sie nun laut oder nur im Stillen wiederholt werden:
Mantras richten die Aufmerksamkeit auf die beruhigenden Worte
statt auf den Angstauslöser. Zum Beispiel: »Es ist okay, nervös zu
sein. Ich schaffe das.« Oder: »Ich kann gleichzeitig Angst und Mut
fühlen.« Und: »Ich bin sicher. Meine Eltern sind in der Nähe.«
Erarbeiten Sie mit Ihrem Kind ein Mantra, das ihm hilft, sich in den
erschreckenden Momenten sicher zu fühlen.
Schritt 6: Erzählen Sie dem Kind eine Geschichte, bei der Sie
Schritt für Schritt eine Angst überwunden haben. »Das erinnert mich
an eine Zeit, in der ich ungefähr so alt war wie du. Ich hatte damals
Angst vor Hunden. Ich weiß noch, wie schlimm sich das im Körper
angefühlt hat.« Erzählen Sie nicht gleich, wie Sie damit fertig
wurden, etwa: »Aber dann kam ich dahinter, dass ich keine Angst
zu haben brauchte. Und schon war es vorbei.« Stattdessen geht es
um eine langsame Lösung: »Ich weiß noch, wie ich mit meinem
Papa darüber geredet habe. Da wurde mir klar, dass es in Ordnung
ist, Angst zu haben. Ich erinnere mich noch, dass Papa und ich
dann viel über Hunde gelesen haben. Wenn er dabei war, habe ich
mich auch näher an die Tiere herangetraut. Und dann, eines Tages,
hat mein Vater mir geholfen, einen Hund zu streicheln. Und so
bekam ich allmählich immer weniger Angst vor Hunden. Aber es war
ganz schön schwierig, mutig zu sein, als ich noch Angst hatte!«

Und wie hilft das alles jetzt Blake und Leo?


Leo macht sich klar: »Mir macht das Lagerfeuer keine Angst, aber für
Blake fühlt es sich schlimm an. Mein Ziel ist es, Blake zu helfen, ihre
Angst zu verstehen und sich damit weniger allein zu fühlen. Es geht
nicht darum, sie von irgendetwas zu überzeugen.« Er tritt nah an
Blake heran und fragt: »An diesem Feuer ist etwas dran, das dir
unheimlich ist, oder? Ich glaube dir das, und ich bin für dich da.« Er
spürt, wie sich Blakes Körper entspannt. Überrascht registriert er,
dass dieser einfache Satz, der in seinen Augen nichts Besonderes
war, für sie einen großen Unterschied macht. Und so fährt er fort:
»Als ich so alt war wie du, hatte ich auch vor einigen Dingen Angst.
Das geht mir manchmal heute noch so. Dann sage ich mir: ›Es ist in
Ordnung, ängstlich zu sein. Es ist in Ordnung, ängstlich zu sein.‹ Ich
sage das ein paar Mal vor mich hin und atme gleichzeitig tief durch.«
In diesem Augenblick co-reguliert Leo Blakes Gefühle. Blake scheint
sich zu beruhigen, und Leo sagt: »Wenn du magst, kannst du auf
meinen Schoß klettern. Wir können uns hierher setzen, weit weg vom
Feuer. Wenn du gerne näher ran oder sogar ein paar Marshmallows
rösten möchtest, sagst du es einfach. Du wirst merken, wenn du so
weit bist. Und wenn du nicht willst, ist das auch in Ordnung.«
Kapitel 20

Schüchternheit und Zaghaftigkeit


Jai ist sechs Jahre alt und mag nicht gern in großen Gruppen
spielen. Während einer Geburtstagsfeier in einem großen Garten
mit verschiedenen Spielgeräten versteckt er sich ständig hinter
seiner Mutter Nala. Nala sagt leise zu ihm: »Jai, du bist sechs Jahre
alt. Du kennst jedes einzelne Kind hier! Du benimmst dich kindisch!«
Jai fängt an zu weinen, Nala ist frustriert: »Ich muss mich ja
deinetwegen schämen!« Dann überkommen sie Schuldgefühle. Sie
weiß einfach nicht, was sie tun soll.

Zaghaftigkeit und Schüchternheit sind keine Probleme, die eine


Lösung erfordern. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich die
Eltern um dieses Thema mehr sorgen als das Kind. Dann
intervenieren wir in der Absicht, die für uns unangenehmen Gefühle zu
beseitigen. Aber auf diese Art sehen wir weder, was in unseren
Kindern vorgeht, noch geben wir ihnen, was sie in diesem Moment
brauchen. Wenn Sie solche Situationen kennen, heißt das nicht, dass
Sie deswegen schlechte Eltern sind. Ihre Bereitschaft, sich damit
auseinanderzusetzen, was das Verhalten des Kindes in Ihnen auslöst,
ist der beste Beweis dafür, dass Sie gute Eltern sind. Denn das
heißt, dass Sie Ihre Bedürfnisse von denen Ihres Kindes trennen.
Ein zögerliches Kind zu haben, das sich auf Geburtstagspartys nicht
begeistert ins Getümmel stürzt, nicht gerne Basketball spielt und bei
Familienfeiern die Verwandtschaft anschweigt, kann zu den
atmosphärisch schwierigen Dynamiken zwischen Eltern und Kind
gehören, vor allem dann, wenn die Eltern eher extravertiert und
unabhängig sind. Eltern reagieren auch deshalb besorgt auf die
Schüchternheit ihrer Kinder, weil sie fürchten, dass sie »für immer so
bleiben« oder »sich in Gruppen nie wohlfühlen« werden. Trotzdem
müssen wir auf jeden Fall vermeiden, in einen Kreislauf von
selbsterfüllenden Prophezeiungen zu verfallen, bei dem die Ängste
der Eltern das Kind noch schüchterner und zaghafter machen. Das
passiert dann, wenn das Kind die Sicht der Eltern verinnerlicht,
wodurch es sich noch stärker alleingelassen und in seinen Gefühlen
eingesperrt fühlt – was wiederum die Eltern noch mehr frustriert. So
wird dieser Teufelskreis ständig fortgeschrieben und mit ihm die
Zaghaftigkeit des Kindes. Wie aber durchbrechen wir diese Dynamik?
Nun, jedenfalls nicht, indem wir versuchen, das Kind umzuerziehen.
Wir denken vielmehr über uns selbst nach und arbeiten an unserem
Innenleben.
Wie sieht Schüchternheit bei Erwachsenen aus? Nehmen wir einmal
an, Sie gehen mit Ihrer Partnerin zu einer Cocktailparty. Sie sind ein
bisschen nervös und sagen deshalb zu ihr: »Ich bleibe einfach in
deiner Nähe, okay?« Worauf sie auf zwei Arten reagieren kann. a)
Ihre Partnerin sieht Sie an und meint: »Jetzt mach dich doch nicht
lächerlich. Du kennst hier doch auch Leute.« Und wenn sie sieht, dass
Sie immer noch zögerlich sind, faucht sie: »Du lässt mich echt blöd
dastehen, weißt du das?« b) Ihre Partnerin schaut Sie an und sagt:
»Irgendwie fühlst du dich jetzt nicht wohl. Ich sehe das. Das ist schon
in Ordnung. Bleib einfach in meiner Nähe, bis du bereit bist, mit
anderen Leuten zu reden. Du wirst merken, wenn es so weit ist.«
Wie fühlen sich die beiden Alternativen an? Hat sich die Nervosität
gelegt? Fühlen Sie sich jetzt eher in der Lage, mit Ihrer Umwelt in
Kontakt zu treten?
Gehen wir die beiden Möglichkeiten einmal gemeinsam durch. Wenn
Ihre Partnerin später am Abend zu Ihnen sagt: »Ich habe so reagiert,
weil ich nicht immer deine Krücke spielen kann. Du musst einfach
lernen, selbst zurechtzukommen!«, leuchtet Ihnen das ein? Oder
wünschen Sie sich, Ihre Partnerin würde Ihnen mehr Vertrauen
entgegenbringen und begreifen, dass Sie – wenn Sie von ihr
bekommen, was Sie heute brauchen – schon bald aufblühen werden,
und zwar zu einem Zeitpunkt, der für Sie stimmig ist?
Nach wessen Zeitmaß leben Sie? Nach Ihrem oder nach dem Ihrer
Partnerin? Und Ihre Kinder – leben die in Ihrer Zeit oder in der
eigenen? Ich glaube, wir alle kennen die Antwort. Es kann schwierig
sein, einem schüchternen Kind ständig emotionale Unterstützung zu
geben, wenn es Angst vor Trennung am Kindergarteneingang oder
vor einer Gruppe hat. Reagieren wir auf solches Verhalten ablehnend,
so spielt häufig Erschöpfung eine Rolle. Elternsein ist ein
lebenslanges Geduldsspiel. Die Aufgabenstellung in diesem Spiel ist,
dass wir unsere Kinder sehen, wie sie sind, dass wir erkennen, was
sie brauchen. Losgelöst von dem, was wir sind und was wir
brauchen.
Den meisten Menschen hat man irgendwann im Leben einmal
gesagt, dass Selbstbewusstsein heißt, man müsse ins kalte Wasser
springen, statt lange zu überlegen. Ich weiß nicht genau, warum. Im
Grunde ist es paradox, denn zu mir kommen viele Eltern, die sich
Sorgen machen, weil ihre Teenager sich einfach nicht trauen, anders
zu sein als ihre Mitschüler. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem
ich hintereinander zwei Elterngespräche hatte, einmal mit den Eltern
eines schüchternen Sechsjährigen und gleich darauf mit den Eltern
eines Sechzehnjährigen, der nichts ohne seine Freunde unternahm.
Die Eltern des Sechsjährigen beklagten sich: »Chase sieht, wie alle
seine Freunde auf den Spielplatz gehen, aber er geht nicht mit. Selbst
wenn seine Freunde ihn bitten mitzuspielen, sagt er manchmal Nein.
Er ist so schüchtern. Ich wünschte, er wäre selbstbewusster.« In der
Sitzung danach seufzten die Eltern des Sechzehnjährigen: »Alex
macht seinen Freunden alles nach. Als könne er nicht selbst denken.
Er ist so leicht zu beeinflussen. Ich wünschte, er wäre
selbstbewusster.«
Was also ist Selbstbewusstsein und in welcher Beziehung steht es
zu Schüchternheit bzw. Zaghaftigkeit? Ich verstehe unter
»Selbstbewusstsein«, dass man weiß, wie man sich fühlt, und
überzeugt ist, dass es in diesem Moment okay ist, so zu sein und sich
so zu fühlen. Ein Kind, das sich nicht sicher ist, ob es mitmachen will,
und sich daher das Ganze erst einmal von außen ansieht, kann
durchaus Selbstbewusstsein besitzen. Das Selbstbewusstsein eines
schüchternen Kindes lässt sich stärken, wenn seine Bezugspersonen
ihm zu verstehen geben: »Ich bin für dich da. Lass dir ruhig Zeit.«
Das zeigt dem Kind, dass wir darauf vertrauen, dass es seine
Gefühle besser kennt als wir. Und es signalisiert ihm: »Es ist okay,
jetzt ganz du zu sein.« Selbstbewusstsein bedeutet nicht unbedingt,
sich einer Gruppe oder einer Aktivität sofort anzuschließen. Wobei
diese Spontaneität natürlich Ausdruck von Selbstvertrauen sein kann,
wenn das Kind innerlich dazu bereit ist. Aber sicher nicht, wenn ein
Kind etwas macht, weil es sich zu etwas gedrängt fühlt.
Selbstbewusstsein heißt nicht, bereit zu sein – sondern zu wissen,
wann der richtige Moment gekommen ist.

Die Strategien
Was tut sich in Ihrem Innersten?
Auf Schüchternheit ihrer Kinder reagieren viele Eltern mit überholten
Mustern, vor allem, wenn sie selbst eher extravertiert sind oder in
einer Familie aufwuchsen, in der Aktivsein immer mehr zählte als
Innehalten. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind sei das einzige in einer
munter spielenden Kinderschar, das lieber auf dem Schoß der Mama
sitzt. Nehmen Sie wahr, wie Sie sich mit diesem Gedanken fühlen?
Würden Sie das Kind am liebsten absetzen? Es gibt hier keine
unangemessenen Impulse – es geht einzig darum, Informationen zu
sammeln. Also denken Sie daran: »Zu merken, dass ich bestimmte
Gefühle habe, macht mich nicht zu einer schlechten Mutter. Alle
Gefühle sind erlaubt, was ich meinen Kindern ja auch immer sage.
Meine eigenen Auslöser zu kennen, hilft mir, meine Erfahrung und die
meines Kindes auseinanderzuhalten.«
Wenn Sie merken, dass die Ängstlichkeit, die Schüchternheit und
Anhänglichkeit Ihres Kindes Sie irritieren, erinnern Sie sich, dass
diese Haltung des Kindes, sich nicht sofort einer Gruppe
anzuschließen, etwas sein kann, das sie später einmal an ihm
bewundern werden. Wie wäre es mit einer 180-Grad-Wendung Ihrer
Wahrnehmung seiner Zurückhaltung: »Mein Kind weiß, wer es ist. Es
weiß, womit es sich wohlfühlt und womit nicht, und stellt sich dem
Gruppenzwang entgegen. Das ist echt mutig, beeindruckend und
selbstbewusst!«
Bestätigen und »Wann immer du so weit bist«
Wenn Ihr Kind schüchtern ist, sollten Sie es zuerst in seinen Gefühlen
bestätigen, statt diese mit Argumenten wegzaubern zu wollen. Gehen
Sie davon aus, dass sein Zögern einen Grund hat, auch wenn Sie
diesen zunächst nicht verstehen. Sie helfen Ihrem Kind, sich in seiner
Haut wohlzufühlen, wenn Sie die Gefühle hinter seiner Zurückhaltung
für berechtigt erklären. Und das ermöglicht ihm wiederum ein
breiteres Spektrum an Reaktionen. (Erwachsenen geht es da nicht
anders.)
Zu diesem Zweck gibt es eine Art Zauberspruch: »Wann immer du
so weit bist …« Dieser Satz zeigt Ihrem Kind, dass Sie ihm vertrauen,
was wiederum sein Selbstvertrauen stärkt. Und Selbstvertrauen ist
für unser Selbstbewusstsein essenziell. Gleichzeitig enthält der Satz
aber auch den Hinweis, dass etwas in Bewegung ist – und dass Ihr
Kind sich irgendwann wieder wohlfühlen wird. Wir möchten unseren
Kindern ja beibringen, dass sie selbst ihre Gefühle am besten
beurteilen können, denn das versetzt sie in die Lage, gute
Entscheidungen zu treffen. Wenn Ihr Kind beim Stadtteilfest nicht mit
den Nachbarn reden will, dann hört sich Ihre Strategie vielleicht so an:
»Sieht aus, als bräuchtest du ein paar Minuten. Lass dir ruhig Zeit. Du
weißt ja selbst, wann du so weit bist.« Oder wenn der Gedanke, auf
einer Geburtstagsfeier zu tanzen, Ihr Kind nervös macht, könnten Sie
sagen: »Du warst ja noch nie hier. Es ist okay, wenn du erst gucken
willst. Bleib dabei ruhig in meiner Nähe. Und wann immer du so weit
bist …«
Was aber, wenn Ihr Kind nie so weit ist? Dann denken Sie jetzt
vielleicht: »Genau das mache ich doch seit einer Ewigkeit, und
trotzdem versteckt sich meine Kleine immer hinter mir, sobald wir
Leute treffen, und weigert sich, sich anderen anzuschließen.« Das
heißt nicht, dass Sie beim Anwenden dieser Strategie etwas »falsch«
machen. Erinnern wir uns an die weitherzigste Sicht: Ein Kind, das
immer an der Seitenlinie bleibt und uns immer am Rockzipfel hängt,
fühlt sich erstarrt, ängstlich und absolut nicht in seinem Element.
Vielleicht braucht es einfach eine Pause, was größere Gruppen
angeht. Sie »bestärken« es damit nicht in seiner Schüchternheit,
sondern holen Ihr Kind dort ab, wo es gerade ist. In dieser Situation
bieten sich zusätzliche Hilfestellungen an: Um ihm seine Schamgefühle
ein wenig zu nehmen, können Sie ihm erzählen, dass Sie als Kind
selbst Trennungsängste hatten. Sie können es auch »emotional
impfen«, indem Sie vorab über die Gefühle reden, die in solchen
Momenten auftreten können. Und Sie können es vorbereiten (siehe
unten).

Das Kind vorbereiten


Zaghafte Kinder reagieren meist gut, wenn man sie auf anstehende
Ereignisse vorbereitet. Erklären Sie ihnen, was dort passieren wird
und wie man sich bei so einem Ereignis fühlen kann. Wenn Sie mit
Ihrer Kleinen zu einem Familientreffen gehen, können Sie sie in die
Einzelheiten einweihen: »Später treffen wir viele Leute aus unserer
Verwandtschaft. Wir gehen zum Mittagessen zu Tante Marsha. Du
wirst also Tante Marsha und Onkel Rex und ihren Kindern Piper und
Evan begegnen. Tante Fiona kommt auch, und Tante Lauren bringt ihr
Baby mit, das Jasper heißt. Vielleicht kommen auch Oma und Opa.
Wie das wohl wird: so viele Menschen … in einem anderen Haus?
Cousinen und Cousins, die du lange nicht gesehen hast? Ich frage
mich, ob sich das am Anfang vielleicht schwierig anfühlt, vor allem,
wenn die Erwachsenen dir dabei jede Menge Fragen stellen …«
Dann warten Sie einfach ab, wie Ihr Kind reagiert. Gefühle
vorherzusagen ist ausgesprochen wirksam: Wenn Sie sie im Voraus
erkennen und benennen, geben Sie Ihrer Kleinen damit die Erlaubnis,
sie zu fühlen. Und das ist, wenn es um Emotionsregulierung geht,
schon die halbe Miete. Versuchen Sie, Ihr Kind auf die Gefühle
vorzubereiten, ohne Lösungen anzubieten. Halten Sie einfach inne, als
sei das schon genug. Und achten Sie darauf, was Ihr Kind als
Nächstes macht.

Etikettierungen vermeiden
Unsere Kinder reagieren immer auf die Version ihrer selbst, die wir
ihnen spiegeln. Wenn wir Kindern Etiketten aufkleben wie: »Sie ist
eben schüchtern.« oder: »Er redet nicht gerne mit Erwachsenen. Er
ist immer recht zurückhaltend«, dann sperren wir sie in festgelegte
Rollenmuster, die jeden Wandel schwierig machen. Statt dem Kind
einen Stempel aufzudrücken, sollten Sie ihm lieber eine weitherzige
Interpretation seines Verhaltens bieten, vor allem, wenn andere
Menschen es in eine bestimmte Schublade stecken wollen. Wenn ein
Verwandter sagt: »Aisha, warum bist du nur so schüchtern?«, atmen
Sie kurz durch und schalten sich dann ein: »Aisha ist nicht schüchtern.
Sie überlegt nur, was sie tun will und was nicht, was ja gut ist. Sie
wird schon erzählen, wie es ihr in der Schule gerade geht, wenn sie
so weit ist.« Legen Sie Ihrer Tochter dabei ruhig die Hand auf die
Schulter, damit sie weiß, dass Sie auf ihrer Seite sind.

Und wie hilft das alles jetzt Jai und Nala?


Nach der Geburtstagsfeier fühlt Nala sich grässlich, weil sie Jai so
gedrängt hat. Aber sie erinnert sich, dass es nie zu spät ist. Also
atmet sie tief durch und macht sich klar: »Ich bin eine gute Mutter, die
einen schwierigen Moment hatte.« Dann redet sie mit Jai über seine
Schüchternheit. Sie entschuldigt sich, weil sie ihm vorgeworfen hat,
dass er sie lächerlich mache. Und sie verspricht, dass sie mit ihm
vorher darüber reden wird, wenn wieder ein Treffen mit einer Gruppe
ansteht, und dass er sich ruhig Zeit lassen darf. Nächstes
Wochenende ist wieder ein Spielenachmittag auf dem Spielplatz
geplant, und Nala erklärt Jai, wie der Ablauf aussieht, wie viele Kinder
kommen werden und wie es sich für ihn vielleicht anfühlen wird, in
einer großen Gruppe zu sein. Auf diese Weise erkennt sie seine
Gefühle schon im Voraus als berechtigt an. Dass sie das tun kann,
lässt Hoffnung in ihr aufkeimen. Nala sagt zu Jai: »Manche Kinder
stürzen sich sofort ins Spiel, wenn es losgeht. Andere sehen lieber
erst zu. Beides ist in Ordnung. Nur du weißt, was in deinem Körper
vorgeht. Und nur du weißt, was sich für dich richtig anfühlt.« Auch
beim nächsten Mal bleibt Jai lieber neben seiner Mutter auf der Bank
sitzen. Er ist das einzige Kind, das sich so verhält. Nala erkennt, wie
mutig das ist, und flüstert ihm zu: »Es ist echt cool, wenn man weiß,
was man will, und weiß, wann man für etwas bereit ist. Lass dir ruhig
Zeit und mach, was du gut findest. Ich bin für dich da.« Nala spürt,
wie Jai sich ein wenig entspannt und neugierig die Umgebung
mustert. Als seine Freundin Raya ihm zuruft, er solle doch spielen
kommen, steht er auf und macht mit.
Kapitel 21

Mangelnde Frustrationstoleranz
Braeden ist vier Jahre alt und tüftelt an einem zwölfteiligen Puzzle.
Sein Vater Ethan sitzt daneben. Braeden hat drei Stücke
aneinandergefügt, mit dem vierten hat er Schwierigkeiten. Ethan,
der seinen Sohn beobachtet, sagt enttäuscht: »Braeden, dieses Teil
kannst du jetzt noch nicht brauchen. Siehst du denn nicht, dass es
nicht passt, nicht mal farblich?« Braeden schaut seinen Vater an,
wirft das Puzzleteil weg und sagt: »Ich bin so schlecht im Puzzeln.
Ich hasse Puzzles!« Einige Tage später in meiner Praxis erzählt
Ethan mir, dass Braeden seine Sache immer ganz gut macht, bis
irgendetwas nicht klappt. Dann lässt er das Ganze sein oder
besteht darauf, dass seine Eltern ihm helfen.

Lernen beruht in gewisser Weise auf einem Paradox: Je offener wir


sind für das Nicht-Wissen, für Fehler und Schwierigkeiten, desto
weiter stoßen wir das Tor auf zu Wachstum, Erfolg und Leistung. Das
gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Und es zeigt uns, wie
wichtig es ist, Schwierigkeiten als normal zu betrachten und Fehler
als unentbehrliche Gelegenheit zum Lernen – in anderen Worten: eine
gute Frustrationstoleranz zu haben. Je besser ein Kind mit Frustration
fertigwerden kann, desto ausdauernder wird es sich an einem
schwierigen Puzzlestück, an einer schwierigen Matheaufgabe oder
einem komplexen Aufsatz versuchen. Und dies sind durchweg
Fähigkeiten, die ihm auch außerhalb der Schule sehr zugutekommen,
denn Frustrationstoleranz ist der entscheidende Punkt, wenn wir
Enttäuschungen überwinden, persönliche Ziele erreichen oder sinnvoll
mit Menschen kommunizieren möchten, die anderer Meinung sind als
wir.
Aber wenn wir wollen, dass unsere Kinder eine gute
Frustrationstoleranz entwickeln, müssen wir erst einmal lernen zu
tolerieren, wenn sie frustriert sind. Ich weiß, das ist nicht gerade eine
leicht verdauliche Wahrheit. Ich habe oft das Gefühl, dass mich meine
Tochter, wenn sie mit irgendetwas Schwierigkeiten hat, anschaut und
verinnerlicht, welche Reaktion ich auf ihre Frustration zeige. Und dass
dies die Basis dafür ist, wie sie selbst die Tatsache empfindet, dass
sie frustriert ist. Anders ausgedrückt: Je mehr ich ihre Frustration
akzeptieren kann – was heißt, dass ich sie an einer eigenen Lösung
arbeiten lasse, statt eine fertige anzubieten –, desto eher lernt sie
auch selbst damit umzugehen. Wenn sie merkt, dass ich es normal
finde, mit Mathe Schwierigkeiten zu haben, kann sie diese eher bei
sich selbst akzeptieren. Wenn ich Geduld habe, solange sie lernt, ihre
Schuhe zu binden, wird sie bei der Entwicklung dieser neuen
Fähigkeit selbst geduldiger sein. Neben all den strategischen
Vorschlägen, die ich Ihnen in diesem Kapitel vorstelle, ist das
Wichtigste, was wir unseren Kindern in diesem Zusammenhang
geben können: selbst ruhig, gelassen, ermutigend zu bleiben und uns
nicht aufs Ergebnis zu fixieren. Und das unabhängig davon, ob sie
oder wir selbst es sind, die sich mit einer schwierigen Aufgabe
herumplagen.
Denn mit Frustration umzugehen ist meist, na ja … frustrierend
schwierig. Nicht selten verlieren wir dabei die Fassung, sodass Kinder
und Erwachsene in einen Teufelskreis geraten: »Ich kann das nicht!«
und »Ich mag nicht mehr!« und »Mach du das für mich!«. Was das
Aushalten von Frustration so schwer macht, ist, dass wir vieles
loslassen müssen: unser Bedürfnis, an ein Ende zu kommen, schnell
zu sein, es richtig zu machen und alles zu erledigen.
Frustrationstoleranz heißt, dass wir akzeptieren, wenn wir etwas nicht
wissen oder können, und dass wir uns aufs Machen konzentrieren
statt auf das Ergebnis.
Das ist sehr viel einfacher, wenn wir ein sogenanntes »flexibles
Selbstbild« entwickeln – die Überzeugung, dass Fähigkeiten durch
Einsatz, Lernen und Ausdauer erworben werden können. Und dass
Fehler und Schwierigkeiten nicht die Feinde des Lernens sind,
sondern Schlüsselelemente, die uns eben etwas lernen lassen. Die
Idee des »flexiblen Selbstbildes« stammt von der Psychologin Carol
Dweck und bietet einen guten Rahmen, um Kindern zu helfen, mehr
Frustrationstoleranz zu entwickeln. Dieses Konzept geht davon aus,
dass jeder Mensch in der Lage ist, zu lernen, was er lernen möchte,
wenn er daran arbeitet, und dass auch Rückschläge daran nichts
ändern können.
Menschen mit einem »statischen Selbstbild« glauben, dass
Fähigkeiten angeboren sind. Entweder man kann etwas, oder man
kann es eben nicht. Und wenn man bei irgendetwas scheitert, ist das
der Beweis, dass man es nie können wird.
Es ist kein Wunder, dass Kinder (und Erwachsene!) mit einem
flexiblen Selbstbild Herausforderungen schätzen, aus Fehlern lernen
und sich länger an schwierigen Aufgaben versuchen, weil sie glauben,
dass Fleiß zu Fortschritt führt. Ein flexibles Selbstbild lehrt uns, dass
es in unserer Macht steht, uns zu engagieren und zu verbessern. Das
genaue Ergebnis liegt aber außerhalb unserer Kontrolle. Fazit: Je
weniger wir von der Idee des »Erfolgs« besessen sind, desto eher
probieren wir neue Dinge aus, können wachsen und uns entwickeln.
Und eben das ist der Knackpunkt bei jeder Art von Erfolg.
Das Beste am flexiblen Selbstbild ist, dass es die Lerntoleranz
fördert. »Lerntoleranz« hört sich erst einmal merkwürdig an, denn
Lernen ist doch eigentlich etwas Gutes, warum also müssen wir es
»tolerieren«? Nun lernen unsere Kinder aber Tag für Tag, und das
nicht zu knapp … und Lernen ist alles andere als ein Kinderspiel.
Stellen Sie sich einen Zeitstrahl vor, der mit »Nicht-Wissen« beginnt
und dessen Endpunkt das »Wissen« ist. Der ganze Raum zwischen
diesen beiden Punkten ist mit »Lernen« ausgefüllt. Das kann sich
unangenehm anfühlen, vor allem, wenn wir noch klein sind. Viele
Menschen bewegen sich länger im Bereich des Lernens, als ihnen
lieb ist. Es ist nur natürlich, sich zu wünschen, dass das Wissen von
selbst kommt, oder sich im Nicht-Wissen einzurichten – denn das ist
allemal bequemer: Auf diesem Ruhelager müssen wir uns nicht
abmühen, riskieren kein Scheitern und keine peinlichen Gefühle.
Lernen aber zeigt unsere Schwächen auf und vermittelt uns ein
Gefühl der Verwundbarkeit. Beim Lernen müssen wir Mut beweisen.
Wenn wir unseren Kindern helfen wollen, gut zu lernen (was meiner
Ansicht nach wichtiger ist als »intelligent« zu sein oder »alles richtig
zu machen«), müssen wir ihnen beibringen, sich in diesem »Nicht
wissen, aber daran arbeiten«-Raum wohlzufühlen.
Und dabei ist es immens wichtig, wie wir selbst auf die Frustration
unserer Kinder reagieren. Ich versuche immer wieder, mich daran zu
erinnern, dass meine Aufgabe als Mutter nicht ist, meine Kinder aus
dem Lernraum herauszuholen, sondern ihnen zu zeigen, wie man in
diesem Raum verbleibt und damit fertig wird, dass man den Punkt
des Wissens noch nicht erreicht hat! Statt also die Probleme der
Kinder zu lösen, die Anstrengung herunterzuspielen oder die Geduld
mit ihnen zu verlieren, weil sie einfach nicht kapieren wollen, was
einem Erwachsenen simpel erscheint, sollten wir ihnen erlauben, die
Arbeit selbst zu tun. Je länger Kinder diesen Zustand zwischen Nicht-
Wissen und Wissen aushalten können, desto neugieriger und
kreativer werden sie, desto eher investieren sie ihre volle Energie und
gehen der ganzen Bandbreite ihrer Ideen nach.

Die Strategien
Tief ein- und ausatmen
Wenn wir uns frustriert fühlen, ist es das Beste, erst einmal tief
durchzuatmen. Tiefe Atemzüge beruhigen unser Nervensystem, und
das ist nötig, damit wir Zugriff auf alle anderen
Bewältigungsstrategien haben. Wenn Sie sehen, wie Ihr Kind
allmählich frustriert wird, sagen Sie ihm nicht, dass es erst einmal tief
durchatmen soll. Machen Sie es vor! Wenn Ihr Dreijähriger genervt
ist, weil er vergebens versucht, Essen auf die Gabel zu bekommen,
richten Sie Ihren Blick nicht auf ihn, atmen aber hörbar ein paar Mal
tief durch. Wenn Ihre Sechsjährige es einfach nicht schafft, die
Buchstaben des Alphabets richtig auszusprechen, atmen Sie in ihrer
Gegenwart tief ein und aus. Vergessen Sie nicht: Unsere Kinder
lernen die Selbstregulierung, indem wir sie co-regulieren. Tief ein- und
auszuatmen macht dem Kind klar, dass es auch in der Frustration
Zugang zu Ruhe und Sicherheit hat. Und das tiefe Atmen erdet
letztlich auch uns, was heißt, dass wir weniger genervt sind oder alte
Verhaltensmuster ausagieren.
Mantras
Ich bin ein großer Fan von Mantras. Sie geben uns für Augenblicke
und Gefühle, die sich überwältigend anfühlen (wie Momente der
Frustration), etwas Kleines, Handhabbares, auf das wir uns
konzentrieren können. Kindern helfen sie, mit beiden Beinen auf dem
Boden zu bleiben. Aber statt dem Kind ein Mantra aufzudrücken, das
es rezitieren soll, stellen Sie es lieber als etwas vor, das Sie selbst
einmal gelernt haben und jetzt weiterreichen. Zum Beispiel: »Mit
sechs war ich immer total frustriert, wenn mir etwas zu schwer war!
Das war ganz furchtbar! Aber ich weiß noch genau, was mein Vater –
ja, genau, dein Opa Harry! – gesagt hat. Er hat gesagt, wenn ihm
einmal alles zu viel ist, dann legt er sich die Hand aufs Herz, atmet tief
ein und sagt zu sich selbst: ›Das fühlt sich schwer an, weil es schwer
ist, nicht weil ich etwas falsch mache.‹ Und das habe ich mir dann
auch gesagt! Vielleicht magst du es auch mal ausprobieren, das wäre
richtig cool … Ich weiß, es hört sich doof an, aber es hilft wirklich. Ich
zeig’s dir …« Bei jüngeren Kindern könnte das Mantra lauten: »Ich
kann das.« Oder: »Ich mag Herausforderungen.« Und: »Ich kann
auch schwierige Sachen.« Beziehungsweise: »Das ist schwierig, aber
ich mache jetzt einfach weiter.«

Machen Sie klar, dass Frustration Teil des Lernens ist


Ich habe meinen Kindern von Anfang an gesagt: »Weißt du, dass
Lernen schwer ist? Ganz im Ernst! Immer wenn jemand etwas lernt –
ich, du, jeder Mensch –, fühlt sich das frustrierend an!« Wenn mein
Kind mir dann interessiert zuzuhören scheint, fahre ich fort: »Und noch
was, was wirklich eigenartig ist … Dieses Frustgefühl, also wenn du
denkst: ›Ich kann das einfach nicht‹ oder: ›Ach, wenn ich das doch
schon hinter mir hätte …‹ – dieses Gefühl versucht, unser Gehirn
auszutricksen. Es sagt uns, dass wir etwas falsch machen. In
Wirklichkeit aber zeigt uns das, dass wir es richtig machen, weil wir ja
etwas lernen! Das ist schon ganz schön verrückt. Also sollten wir
wohl besser nach diesem Gefühl Ausschau halten und uns daran
erinnern, dass wir in diesem Moment etwas lernen und dass sich
Lernen eben so anfühlen soll.«
Und wie kann ich diese Strategie nun anwenden? Nun, sagen wir
einmal, mein Kind will sich anziehen und ich weiß, dass es dabei
normalerweise recht frustriert ist. Dann kann ich vor dem Anziehen
etwas sagen wie: »Ach, du ziehst dich an? Dann stellen wir uns doch
gleich mal auf das Frustgefühl ein …« Und dann murmle ich vor mich
hin, gerade so, dass das Kind es zufällig noch hören kann: »Becky,
neue Dinge sind schwierig … sie sind immer schwierig … das ist ganz
in Ordnung … Ich kann auch schwierige Dinge machen.«

Flexibles Selbstbild als familiäre Werte


Es kann sehr nützlich sein, die eigenen familiären Werte mit einem
flexiblen Selbstbild zu kombinieren, sodass Sie in herausfordernden
Momenten auf diese Verbindung zurückgreifen können (ob es nun um
Sie selbst oder Ihre Kinder geht). Hier ein paar Vorschläge, die ich
gut finde und die ich häufig auf ein Blatt Papier ausdrucke, um sie in
der Küche oder in Zimmern, in denen gelernt und gearbeitet wird,
aufzuhängen, sodass die ganze Familie sie sehen kann:

1. In unserer Familie wissen wir Herausforderungen zu schätzen.


2. In unserer Familie zählt Einsatz mehr als richtige Antworten.
3. In unserer Familie wissen wir, dass Nicht-Wissen und etwas
Neues lernen zusammengehören. Da wir gerne neue Dinge
lernen, schätzen wir die Augenblicke, in denen wir sagen: »Ich
weiß es nicht«.
4. In unserer Familie erinnern wir uns daran, dass unser Gehirn
wächst, wenn wir an schwierigen Dingen dranbleiben. Und wir
finden ein wachsendes Gehirn gut.

Sobald Sie Ihre Werte aufgeschrieben haben, reden Sie des Öfteren
darüber, vor allem wenn Sie einen »Fehler« machen oder etwas nicht
wissen. Ich wiederhole den Wertekanon eines flexiblen Selbstbilds
gerne beim Kochen. (»Mist … Ich glaube, ich habe dieses Rezept
versemmelt! Nun, es war ja ganz neu, und ich habe es noch nie
gemacht. Aber in unserer Familie schätzen wir Herausforderungen.
Und ich weiß jetzt, wie ich es beim nächsten Mal besser machen
kann. Also gar nicht so schlecht, das Ganze!«) Ein Kind erlebt
Frustration häufig so, dass es sich »allein« und »nicht gut genug«
fühlt. Je mehr Sie es also an Ihren eigenen Kämpfen teilhaben lassen
und die Frustrationstoleranz vorleben, die Sie ihm vermitteln wollen,
desto eher wird Ihr Kind diese Haltung verinnerlichen.

Würdigen Sie den Versuch, nicht den Erfolg


Frustrationstoleranz ist die Fähigkeit, im Bereich zwischen Nicht-
Wissen und Wissen zu verbleiben, zwischen Anfang und Ende. Das
heißt, wir müssen unserem Kind zu der inneren Stärke verhelfen,
schwierige Gefühle auszuhalten, statt Kompetenzen für den Erfolg
zu erwerben. Dann fühlt sich das Kind auch wohl, wenn es sich
anstrengen muss, und zwar bevor es Erfolg hat. Zu diesem Zweck
aber müssen Eltern umdenken. Sagen Sie sich einfach: »Ich muss
meinem Sohn nicht beibringen, wie er schnell in sein T-Shirt schlüpfen
kann … Ich muss ihm zeigen, wie er damit fertig wird, wenn das eben
nicht klappt. Ich muss meiner Tochter nicht beibringen, wie sie die
Matheaufgabe korrekt rechnet. Ich muss ihr vielmehr zeigen, wie sie
ihren Körper regulieren kann, wenn sie an der Matheaufgabe sitzt.«

Emotionale Impfung, Trockenübungen und »Habe ich


dir schon mal erzählt, wie …«
Emotionale Impfung ist eine Schlüsselstrategie für
Frustrationstoleranz, denn das Auftreten von Frustration
vorherzusagen, bereitet Ihr Kind körperlich auf diese vor.
Trockenübungen sind ebenfalls sinnvoll, denn so können Sie eine
Fertigkeit im Voraus üben. Sie wissen zum Beispiel im Voraus, dass
Ihr Kind frustriert sein wird, wenn es eine Perlenkette auffädelt. Dann
tun Sie so, als würden Sie die Kette auffädeln, während Sie tief
durchatmen und ein Mantra sprechen. (»Ich kann auch schwierige
Dinge.«) So bereiten Sie das Nervensystem Ihres Kindes auf den
kommenden schwierigen Moment vor und zeichnen ihm auch eine
sinnvolle Bewältigungsstrategie vor. Und wenn Sie Ihrer Tochter von
einem Augenblick erzählen, in dem Sie frustriert waren – und das
vielleicht sogar vorspielen –, dann fühlt sie sich in ihrem inneren
Kampf weniger allein. Es ist schwierig, Frustrationstoleranz
aufzubauen, wenn es im ganzen Umfeld niemanden gibt, der je
irgendwelche Schwierigkeiten zu haben scheint. Mehr über
emotionale Impfung und »Habe ich dir schon mal erzählt, wie …«
finden Sie in Kapitel 11. Die Trockenübungen werden in Kapitel 19
beschrieben.

Und wie hilft das alles jetzt Braeden und Ethan?


Ethan fängt an, seinen Körper zu beruhigen. Er legt sich die Hand
aufs Herz, atmet ein paar Mal durch und sagt sich, dass alles in
Ordnung ist und er mit seinem Sohn noch einmal von vorne anfangen
kann. Er leistet Wiedergutmachung, indem er sagt: »Hey, Spatz!
Meine Gefühle waren gerade etwas zu stark für mich, aber das ist
mein Problem, nicht deines. Es tut mir leid, dass ich so reagiert
habe.« Nach ein paar Minuten scheint Braeden sich zu öffnen, und
Ethan meint: »Da gibt es etwas, was ich dir noch nie erzählt habe:
Puzzles sind wirklich schwer! Sie sollen auch schwer sein! Weißt du,
manchmal, wenn uns etwas sehr schwerfällt, denken wir, dass wir
etwas falsch machen. Dabei heißt das, ganz im Gegenteil, dass wir
etwas richtig machen!«
»Ist mir doch egal«, sagt Braeden. »Ich will kein Puzzle mehr
machen.«
Ethan steigt nicht darauf ein und erinnert sich, dass der Versuch
mehr zählt als der Erfolg. Also versucht Ethan es anders. Er schnappt
sich ein paar Puzzlestücke und setzt sie selbst zusammen. Er tut so,
als schaffe er das nicht gleich, als würde er es nicht hinbekommen.
Dann seufzt er auf und sagt: »Ach, das ist echt schwer!« Ethan
erwartet, dass Braeden den Bluff bemerkt und dass er sagt: »Mann,
Papa, du tust ja nur so, als ob.« Aber das tut Braeden nicht. Er sieht
nur interessiert zu. Ethan weiß, dass er nicht zu direkt sein sollte,
daher singt er leise einen Mantra-Song: »Wenn es nicht passt, leg es
weg und versuche es mit einem anderen Stück.« Er macht diese
Flexibilität vor, legt ein Stück weg, versucht es mit einem anderen.
Schließlich kommt Braeden näher und will das letzte Puzzlestück
einsetzen. Ethan betrachtet dies als großen Erfolg.
Kapitel 22

Ernährung und Essgewohnheiten


Die fünfjährige Gia liebt Snacks. Ihre Eltern haben die größten
Schwierigkeiten, sie zum Essen einer vernünftigen Mahlzeit zu
bewegen. Um 16 Uhr sagt Gia zu ihrer Mutter: »Ich habe Hunger!
Darf ich Kekse essen?«
»Es ist besser, wenn wir bis zum Abendessen warten«, antwortet
ihre Mutter Eva, was nur dazu führt, dass Gia stracks auf die
Snack-Schublade zusteuert. Eva will natürlich nicht, dass ihre
Tochter Hunger hat, also sagt sie: »Okay, okay. Aber du musst mir
versprechen, dass du beim Abendessen mitisst.« Gia verspricht es,
beruhigt sich, bekommt ihren Snack und hat abends keinen Hunger
mehr. Eva weiß nicht, was sie tun soll.

Die Essgewohnheiten von Kindern versetzen nicht wenige Eltern in


Panik, vielleicht, weil sie uns verunsichern, was unsere Fähigkeiten
als Eltern angeht, vielleicht, weil sie Machtkämpfe mit den Kindern
auslösen. Dass das Essen für Eltern eine so emotionale
Angelegenheit ist, liegt auch daran, dass es in gewisser Weise für
unsere Fähigkeit steht, unsere Kinder zu ernähren und ihnen zu
geben, was sie brauchen. Schließlich ist es die Hauptaufgabe der
Eltern, ihr Kind am Leben zu halten. Für uns scheint in der
Ernährungsfrage so viel auf dem Spiel zu stehen – es fühlt sich an,
als würden wir als Eltern in gewisser Weise an dem gemessen, was
und wie viel unser Kind isst.
Wenn Ihr Kind das Mittagessen verweigert, das Sie gekocht haben,
mag es Ihnen so vorkommen, als würde es damit sagen: »Ich mag
nicht, was du zu bieten hast – ich lehne das Essen ebenso ab wie
dich. Du bist eine schlechte Mutter!« Verzehrt Ihr Kleiner hingegen
brav seinen Brokkoli, übersetzen Sie sich das als: »Ich nehme deine
Bemühungen an, mich zu erhalten. Ich akzeptiere dein Essen ebenso
wie dich. Du bist eine tolle Mutter!« Wenn Eltern darüber reden, was
ihre Kinder essen oder nicht essen, dann scheint es, als versuchten
sie einzuschätzen, ob sie gute Eltern sind, ob sie genug tun, ob ihre
Kinder bereit sind, »in sich aufzunehmen«, was sie zu bieten haben.
Diese tiefere Verbindung zwischen Ernährung und Elternschaft
müssen wir verstehen, wenn wir heftige Debatten beim und übers
Essen vermeiden wollen. Dies hilft uns, das, was real passiert, von
den tieferen Gefühlen zu trennen, die dieses Thema bei uns auslöst.
Dann können wir auf das tatsächliche Geschehen eingehen, statt aus
unseren Ängsten und Unsicherheiten heraus zu reagieren.
Die Debatten über das Essen tasten auch tiefersitzende Fragen an:
Darf ich über meinen Körper selbst bestimmen? Wer hat hier die
Macht? Darf ich eigene Entscheidungen treffen? Wenn Kinder beim
Mittagessen ihren Teller wegschieben und sagen: »Ich bin nicht
hungrig« oder »Ich mag das nicht« oder »Ich esse nur, wenn du mir
Nudeln machst« … dann stellen sie in Wirklichkeit Fragen: »Was
dürfen Eltern entscheiden und was Kinder?« Und: »Wann kann ich
endlich eigene Entscheidungen treffen?« Oder: »Vertraust du mir?«
Kinder testen Grenzen aus, protestieren gegen elterliche
Entscheidungen und wollen das Unmögliche, nur um ihre
Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen. Und all diese Dinge tun sie
natürlich auch abseits vom Esstisch.
Diese beiden Konflikte – um die innere Frage der Unsicherheit der
Eltern und die äußere Frage der Selbstbestimmung über den eigenen
Körper – überschneiden sich an manchen Stellen. Wenn ein Kind eine
Grenze nicht akzeptiert, die mit dem Essen zusammenhängt, oder
das Essen ganz verweigert, dann fühlen die Eltern sich als »schlechte
Eltern.« Die Eltern wollen dann noch mehr Kontrolle über das Kind
ausüben, um sich wieder als »gut« zu erleben. Doch je schwerer die
Kontrolle auf dem Kind lastet, desto heftiger wird es die Grenze
ablehnen, um seine Unabhängigkeit zu zeigen. Dies wiederum führt zu
Verzweiflung bei den Eltern, zu massiven Machtkämpfen und zu
Frustration auf beiden Seiten.
Wie also lösen wir das Problem? Wie entgehen wir diesem
Teufelskreis rund um Ernährung und Essgewohnheiten und stärken
das Familiensystem wieder? Ich verlasse mich hier meist auf die
Arbeit der Ernährungswissenschaftlerin und Psychotherapeutin Ellyn
Satter, die eine »Aufteilung der Verantwortung« rund um das Essen in
der Familie ausgearbeitet hat. Kurz zusammengefasst sieht sie so
aus:

Aufgabe der Eltern: entscheiden, welche Nahrungsmittel auf


den Tisch kommen, wo und wann gegessen wird
Aufgabe der Kinder: entscheiden, ob und wie viel von dem
Angebotenen verzehrt wird

Satters Methode ist deshalb so gut, weil sie nicht nur zu gesunden
Ernährungsgewohnheiten, sondern auch zu Selbstregulierung,
Selbstbewusstsein und Einverständnis führt und viele andere positive
Effekte hat.
Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass sich Satters Aufteilung der
Verantwortlichkeiten recht ähnlich anhört wie die in Kapitel 3
vorgestellte Verteilung der familiären Aufgaben. So, wie ich glaube,
dass Familiensysteme besser funktionieren, wenn jeder seine Rolle
kennt, ist Satter davon überzeugt, dass sich eine gesunde Beziehung
zum Essen und zum eigenen Körper dann einstellt, wenn jedes
Familienmitglied seine Rolle kennt und »bei dieser bleibt«. Satters
Ansicht nach sind Eltern für die Grenzen rund ums Essen
verantwortlich – also für das Was, Wo und Wann. Sie betreten die
Bühne als Erste. Sie treffen die grundlegenden Entscheidungen und
bestimmen Alternativen ebenso wie Grenzen. Danach geht die
Verantwortung auf das Kind über. Stellen Sie sich die elterliche Rolle
vor wie ein Gefäß – Sie legen die äußeren Grenzen fest, aber
innerhalb des Gefäßes darf das Kind ausprobieren, was es will, und
sich selbst ausdrücken. Sie wissen ja, was ich über die Rolle der
Kinder im Familiensystem sage: sich ausprobieren und Gefühle
ausdrücken. In Satters Modell drücken die Kinder sich durch ihre
Essensentscheidungen aus – was kommt in meinen Mund rein, was
schlucke ich, wie viel esse ich wovon und was lasse ich übrig.
Was ich an Satters Aufteilung der Verantwortung gut finde: Sie
ermöglicht Eltern, sich in ihrer Rolle gut zu fühlen, egal, was das Kind
isst oder nicht. Die Eltern können sich immer sagen: »Meine Aufgabe
ist das Was, Wann und Wo. Habe ich meine Aufgabe gut gemacht?
Nun, ich habe Hähnchen, Nudeln und Brokkoli auf den Tisch gebracht.
Ich habe entschieden, dass wir um 17.30 Uhr essen, und zwar am
Küchentisch. Also ja, ich habe meine Aufgabe gut gemacht!«
Natürlich werden sich die Eltern fragen: »Unser Sohn hat nur die
Nudeln gegessen … Wieso nur mag er kein Gemüse? Mache ich
etwas falsch?« Aber an dieser Stelle sollten die inneren Alarmglocken
schrillen: »Aber das ist die Aufgabe meines Kindes! Diese
Entscheidung muss es selbst treffen. Daher werde ich wieder zu
meiner Rolle zurückkehren. Ich werde weiterhin meine Aufgabe
erledigen und meinem Kind vertrauen, dass es die seine ausführt …
Ich mache meinen Job also gut.«
Der wichtigste Gedanke rund um die kindliche Ernährung ist
zweifellos dieser: Ängste ums Essen zu lindern ist wichtiger als die
Frage, was gegessen wird. Gibt es zu dieser Regel Ausnahmen?
Natürlich. Wenn Ihr Kind gesundheitliche Probleme hat oder ein Arzt
Sie auf eine problematische Entwicklung anspricht, dann ist das eine
besondere Situation. Doch selbst dann sollten Sie darauf achten, wie
sich Ihr Kind beim Essen fühlt. Der Mittagstisch ist nur ein weiterer
Ort, an dem wir das Verhalten unserer Kinder (während des Essens)
als Fenster betrachten können, das uns einen Blick auf seine Gefühle
erlaubt. Wie immer brauchen Kinder Eltern, die Grenzen setzen und
die ihre Individualität akzeptieren, sodass sie sich ausprobieren und
gedeihen können. Vergessen Sie nicht: Kinder dürfen so wenig selbst
entscheiden. Manchmal ist das Einzige, was sie kontrollieren können,
das, was sie in ihren Körper aufnehmen. Essen und Aufs-Töpfchen-
Gehen sind Bereiche, in denen Eltern ihr Kontrollbedürfnis wirklich
herunterfahren und den Kindern damit die Freiheit geben sollten, die
sie brauchen.

Die Strategien
Mantras
Ich habe ja schon erwähnt, dass Mantras Kindern helfen, mit beiden
Beinen auf dem Boden zu bleiben, wenn sie unruhig sind. Aber das
gilt auch für Eltern. Wenn Sie wissen, dass das Essen mit Ihren
Kindern ein schwieriges Thema für Sie ist oder dass Sie die Kontrolle
darüber nicht aufgeben möchten, dann wählen Sie ein Mantra,
welches Sie an Ihre Aufgaben erinnert. Zum Beispiel: »Meine einzige
Aufgabe ist das Was, Wann und Wo. Ich schaffe das. Ich kann das.«
Oder: »Was mein Kind isst, ist nicht so wichtig. Ich erledige meine
Aufgabe gut. Meinem Kind wird es gutgehen.« Oder: »Was mein Kind
isst, sagt nichts darüber aus, wie gut ich meine Aufgabe als Vater
mache.«

Erklären Sie die Rollen


Ich rede sehr gerne mit meinen Kindern offen und ehrlich über ihre
und meine Aufgaben rund ums Essen. Erklären Sie ihnen Satters
Auffassung von den geteilten Verantwortlichkeiten. Dann wissen Sie,
worum es für Sie geht, und Ihre Kinder wissen, was in ihrer
Verantwortung liegt. Das könnte sich so anhören: »Heute habe ich
etwas Spannendes gelesen, das ich euch sagen möchte. Wenn es
ums Essen geht, habt ihr eine Aufgabe und ich habe eine. Und diese
Aufgaben sind ganz unterschiedlich. Mein Job ist es, zu entscheiden,
was wir essen, wann und wo. Und damit ihr Bescheid wisst: Ich
werde immer etwas machen, was ihr gerne esst, damit das Essen
nicht zum Stress wird. Eure Aufgabe ist es, zu entscheiden, ob ihr
esst, was ich auf den Tisch stelle, und wie viel davon. Interessant,
nicht wahr? Ihr entscheidet also selbst, was ihr eurem Körper wann
gebt. Aber ihr dürft nicht entscheiden, dass ihr etwas anderes wollt
als das, was ich an diesem Tag serviere. Ich entscheide, was wir an
diesem Tag essen, aber ich darf euch nicht sagen, dass ihr mehr
essen oder euren Teller leer essen sollt. Was haltet ihr davon?«

Strategien rund um den Nachtisch


Was den Nachtisch angeht, gibt es kein richtig oder falsch. Hier
müssen Sie sich einfach auf Ihre Rolle konzentrieren. Schließlich
treffen Sie alle Entscheidungen rund um die Nachspeise: ob es eine
gibt, was es gibt und zu welcher Zeit. Alles Weitere liegt in der
Verantwortung Ihres Kindes. Das heißt, dass Sie als Eltern keinen
Einfluss darauf haben, wie viel vom Nachtisch Ihr Kind isst, denn das
ist seine Aufgabe. Ich weiß, was Sie jetzt denken … »Aber mein
Sohn will ja nur den Nachtisch. Wenn er nicht wüsste, dass er eine
bestimmte Anzahl an Bissen gegessen haben muss, damit er
Nachtisch bekommt, würde er das eigentliche Mittagessen gar nicht
mehr anrühren.« An diesem Punkt müssen Sie entscheiden, ob diese
Aufteilung der Verantwortlichkeiten für Sie funktioniert. Wenn ja, dann
gibt es die ein oder andere Strategie, wie Sie mit der Nachtischfrage
umgehen können. Sie können eine kleine Nachspeise zum
Mittagessen reichen, also gleichzeitig – vielleicht sogar auf
demselben Teller wie Brokkoli, Huhn und Nudeln. Praktisch gesehen
würde ich nicht so viel Nachtisch servieren, dass man sich daran satt
essen kann. Ich halte auch nichts davon, die Nachspeise so lange
hinauszuzögern, dass sie als aufregende Belohnung für das
Mittagessen daherkommt. Den Nachtisch gleich dazu zu servieren,
macht das Ganze schon einmal weniger aufregend. Und Sie
signalisieren damit Ihrem Kind, dass Sie ihm vertrauen. Auf Dauer
wird es sich so weniger auf den Nachtisch versteifen. Andere
Familien, mit denen ich gearbeitet habe, bringen das »Dessert«
nachmittags auf den Tisch, sodass es keinen Zusammenhang mit
dem Mittagessen gibt.

Und die Snacks?


Ach ja, die Snacks. Diese knusprigen, salzigen Köstlichkeiten, die wir
in der Küche haben und die unsere Kinder so sehr mögen. Die
Leckereien, die nicht zu kaufen wir uns schwören und die am Ende
doch im Einkaufskorb landen. Auch bei Snacks gibt es kein richtig
oder falsch. Manche Eltern verbieten sie total, andere geben ihren
Kindern freien Zugang dazu und wieder andere entscheiden sich für
irgendetwas dazwischen. Bei der Entscheidung »Snacks ja oder
nein« gibt es keine moralische Überlegenheit. Achten Sie darauf, ob
Sie hier Schuldgefühle haben, und fragen Sie sich: »Funktioniert mein
Snack-Ansatz für meine Familie?« Wenn Sie denken: »Eigentlich
nicht, weil ich möchte, dass meine Kinder mehr vom Abendessen
essen« oder: »Nicht wirklich, weil meine Kinder kaum noch etwas
anderes als Snacks essen«, nun, dann ist dies die einzige Antwort,
die Sie brauchen. Wenn Sie hingegen der Ansicht sind, dass es nicht
wichtig ist, wie viele Snacks Ihre Kinder essen, dann ist das genauso
in Ordnung. Wollen Sie hier aber etwas verändern, dann sollten Sie
sich daran erinnern: Ihr Job ist das Was, Wann und Wo. Sie müssen
Ihre Kinder nicht um Erlaubnis bitten. Sie verkünden einfach die
Änderung und lassen ihnen ihre Gefühle. Zum Beispiel so: »Was
Snacks angeht, werde ich den Umgang damit für unsere Familie
ändern. Wir essen zu viele Snacks, was heißt, dass wir kaum noch
etwas zu Abend essen. Dabei gibt es da die Nahrungsmittel, die
unserem Körper beim Wachsen helfen. Wenn ihr in Zukunft von der
Schule heimkommt, dann gibt es nur … und … als Snacks. Ich weiß,
das ist eine Riesenveränderung, und ich weiß auch, dass es einige
Zeit dauern wird, bis ihr euch daran gewöhnt habt.«

Machen Sie sich auf Gegenwind gefasst


Wenn wir über die Ernährung unserer Kinder entscheiden, dann
müssen wir uns durchsetzen. Wir müssen Nein sagen und mit dem
Protest unserer Kinder und ihrer Verzweiflung fertigwerden. Das ist
ein ganz entscheidender Punkt bei der Umsetzung von Satters
Aufteilung der Verantwortung. Wenn wir unsere Rolle kennen, müssen
wir sie auch ausfüllen. Und ob wir sie ausfüllen können, hängt davon
ab, ob wir die Unzufriedenheit unserer Kinder aushalten können. In
der Theorie hört sich das einfach an (»Gut, mein Kind ist nicht
glücklich über mich. Das ist okay.«), aber mit einem unzufriedenen,
hungrigen und zu Wutanfällen neigenden Kind umzugehen, ist
zugegebenermaßen schwierig! Hier ein paar Tipps:

Erinnern Sie sich an die Wahrheit: »Ich weiß, dass mein Kind
etwas von den Dingen mag, die ich auf den Tisch gebracht
habe. Das ist vielleicht nicht gerade sein Lieblingsessen, aber
eine gute Alternative. Meine Aufgabe ist es, solche Sachen auf
den Tisch zu bringen. Die seine, zu entscheiden, was davon es
essen will. Das ist vielleicht im Moment nicht schön, aber wir
erledigen beide nur unsere Aufgabe.«
Vergessen Sie nicht, dass Sie die Zustimmung Ihres Kleinen
nicht brauchen: »Mein Kind muss mir nicht zustimmen.«
Erlauben Sie Ihrem Kind, sich aufzuregen: »Es ist in Ordnung,
wenn du wütend bist.«
Benennen Sie den Wunsch: »Du hättest lieber … zum
Mittagessen als …« Oder: »Du wünschst dir, du könntest allein
entscheiden, was wir zu Mittag essen.«
Trennen Sie den Protest von Ihrer Entscheidung: »Der Protest
meines Kindes heißt nicht, dass ich eine schlechte Entscheidung
getroffen habe. Und er bedeutet nicht, dass ich als Elternteil
schlecht oder gefühlskalt bin.«
Erinnern Sie sich und Ihr Kind an Ihre Aufgabe: »Meine Aufgabe
als Elternteil ist es, Entscheidungen zu treffen, von denen ich
denke, dass sie gut für dich sind, auch wenn sie dir nicht
gefallen.«

Und wie hilft das alles jetzt Gia und Eva?


Eva merkt, dass sie Gia um Erlaubnis gebeten hat, statt ihre
Autorität zu verkörpern. Also ruft sie sich ins Gedächtnis, was ihre
und was Gias Aufgabe ist. Darüber redet sie mit Gia am
Wochenende, wenn Ruhe herrscht: »Gia, wir werden jetzt
Veränderungen vornehmen, was die Snacks angeht, damit unser
Körper zum Abendessen hungrig ist. Du kannst immer noch Kekse
haben. Ich werde dir immer ein paar auf den Teller legen. Du kannst
sie also mit den anderen Sachen essen, die es abends gibt. Wenn du
nachmittags hungrig bist, gibt es Obst oder Käse. Und grundsätzlich
endet die Zeit für Snacks um 15 Uhr. Ich weiß, dass das für dich erst
einmal nicht leicht sein wird. Aber wir werden uns sicher daran
gewöhnen.« Eva ist ein bisschen nervös, aber zuversichtlich, während
sie diese Änderungen bekannt gibt. Nachmittags bekommt Gia zur
Snackzeit einen Wutanfall, weil sie unbedingt Kekse und Salzbrezeln
will. Eva aber bleibt standhaft und sagt zu ihr: »Ich weiß, dass du
diese Sachen jetzt haben willst. Wir können dir ein paar Apfelschnitze
und ein bisschen Käse herrichten. Wenn du das nicht willst, warten
wir bis zum Abendessen. Vorher wird nichts gegessen. Du darfst
ruhig wütend sein. Ich weiß, dass du gerne für dich selbst
entscheiden würdest! Es ist manchmal nicht leicht, ein Kind zu sein.
Aber ich habe dich lieb und ich bin für dich da.« Eva sagt sich selbst,
dass sie, wenn Gia sich gegen einen Snack entscheidet, das
Abendessen vorziehen kann, damit die Kleine nicht hungern muss.
Und sie bleibt weiter standhaft und sagt sich: »Genauso mache ich es
ja auch mit den anderen Wutausbrüchen, bei der Bildschirmzeit oder
wenn es um neue Spielsachen geht. Ich mache die Grenze klar und
erlaube Gia ihre Gefühle. Das funktioniert also auch beim Essen.«
Kapitel 23

Körperliche Selbstbestimmung
Die vierjährige Kiki und ihr siebenjähriger Bruder Lex besuchen die
Großeltern. Als sie ankommen, umarmt der Großvater Lex und
wendet sich dann Kiki zu. Kiki läuft weg und sagt: »Nicht umarmen!«
Ihr Großvater geht ihr nach und sagt: »Ich habe dich monatelang
nicht gesehen! Lass dich doch von deinem Opa knuddeln! Ich bin
traurig, wenn du das nicht machst. Willst du, dass der Opa traurig
ist, Kleines?« Tasha, Kikis Mutter, ist genervt und hat gleichzeitig
Schuldgefühle. Ihr Vater wirkt wirklich verletzt, und ihre Tochter
macht keine Anstalten, das wiedergutzumachen. Tasha weiß nicht,
was sie machen soll.

Wiederholen Sie zusammen mit mir diese Worte: »Ich bin der einzige
Mensch in meinem Körper. Ich bin der einzige Mensch, der weiß, was
ich will, wozu ich bereit bin und was sich für mich richtig anfühlt.«
Und weiter: »Ich bestimme über meinen Körper. Ich bin bestimmte
körperliche Grenzen. Ich bestimme, wer mich berührt, wann mich
jemand berührt und wie lange. Wenn ich heute etwas mag, kann es
sein, dass ich es morgen nicht mehr will. Von manchen Menschen
mag ich berührt werden, von anderen nicht. Ich bin die einzige
Person, die diese Entscheidungen treffen kann.«
Und noch etwas: »Es wird Zeiten geben, in denen ich für mich
eintreten und das tun werde, was sich für mich richtig anfühlt.
Anderen Menschen wird das vielleicht nicht gefallen, und sie werden
dagegen protestieren. Sie werden darüber reden, was sie von mir
wollen, und nicht respektieren, wenn ich ihnen sage, was sich für
mich gut anfühlt. Es ist nicht meine Aufgabe, andere Menschen
glücklich zu machen. Ihr Unbehagen ist ein Gefühl in ihrem Körper.
Ich bin nicht daran schuld, und es liegt auch nicht in meiner
Verantwortung, dieses Gefühl abzustellen.«
Pause. Achten Sie darauf, wie Ihr Körper auf diese Aussagen
reagiert. Was spüren Sie? Passen diese Sätze zu dem, was Sie in
der Kindheit gelernt haben? Passen sie zu dem, wie Sie heute
Entscheidungen treffen, die Ihren Körper betreffen? Oder zu dem,
wie Sie dieses Thema als Kind, Teenager oder junger Erwachsener
gehandhabt haben? Bevor wir über Fragen der körperlichen
Selbstbestimmung unserer Kinder nachdenken können, müssen wir
uns erst einmal darüber klar werden, wie wir in Bezug auf unseren
eigenen Körper zu diesen Fragen stehen und was sie in uns auslösen.
Wie wir das Thema körperliche Selbstbestimmung handhaben – das
Konzept, dass jeder Mensch das Recht auf volle Kontrolle über
seinen Körper hat –, beeinflusst zwangsläufig auch unsere Kinder. Die
Vorstellung, dass Sie über Ihren Körper selbst bestimmen dürfen,
haben Sie nicht aus Büchern oder aus dem Klassenzimmer. Sie
haben sie vielmehr durch Ihre frühkindlichen Erfahrungen verinnerlicht,
nämlich dadurch, ob Sie eben das Gefühl hatten, über Ihren Körper
selbst bestimmen zu dürfen oder nicht. Letztlich geht es hier um eine
einzige Frage. Und die Antwort darauf lernen Kinder nicht durch das,
was wir sagen, sondern durch unsere Reaktion auf heikle Situationen.
Die Frage lautet: »Habe ich das Recht, zu anderen Nein zu sagen,
auch wenn ich sie dadurch verärgere?«
Ich persönlich möchte, dass zum Sprachschatz meiner Kinder auch
Worte gehören wie »Nein«, »Ich mag nicht« oder »Hör auf«. Ich
wünsche mir außerdem, dass sie etwas noch Wichtigeres
beherrschen: die Fähigkeit, diese Worte auch zu gebrauchen. Wo
liegt da nun der Unterschied? Nun, spätestens wenn unsere Kinder
die Pubertät erreicht haben, beherrschen sie natürlich Worte wie
»Nein« oder »Ich mag nicht«. Doch das nötige Selbstbewusstsein,
diese Grenze auch tatsächlich zu ziehen, entsteht aus ihren
frühkindlichen Erfahrungen mit uns. Es hängt davon ab, ob wir sie
ermutigt haben, auf ihren Körper zu hören, um herauszufinden, womit
sie sich wohlfühlen. Oder ob wir sie eher dazu angehalten haben,
diese Gefühle beiseitezuschieben, um andere Menschen nicht vor den
Kopf zu stoßen.
Hierbei geht es mir um mehr als nur die Frage, ob unsere Kinder
selbst entscheiden dürfen, ob sie ihre Großeltern umarmen wollen
oder nicht. Kikis Fall ist ein Paradebeispiel, weil er für den Konflikt
zwischen »anderen gefallen« und »auf die eigenen Körpersignale
hören« steht. Aber es gibt durchaus andere Momente, in denen wir
die Schaltkreise für körperliche Selbstbestimmung anlegen. Wenn ein
Kind nicht zur Geburtstagsfeier gehen will, wenn es sich über einen
gut gemeinten Witz aufregt oder nach einem mageren Abendessen
meint, es sei satt, oder wenn es sich im dunklen Keller fürchtet – all
diese Augenblicke bestimmen, inwieweit Kinder körperliche
Selbstbestimmung verinnerlichen.
Vergessen Sie nicht, dass Kinder ständig unausgesprochene Fragen
stellen. Eine dieser Fragen lautet: »Kenne ich die Signale in meinem
Körper besser als alle anderen, oder haben die anderen recht, wenn
sie mir sagen, was in mir vorgeht? Erkenne ich die Signale meines
Körpers richtig, oder muss ich mich auf andere verlassen, um sie zu
verstehen?« In den folgenden Beispielen können Eltern entweder so
reagieren, dass beim Kind die Schaltkreise für ein klares Nein bzw.
ein Einverständnis gelegt werden, oder auf eine Art, die ihr Kind auf
Selbstzweifel programmieren.

Ein Kind, das nicht zur Geburtstagsfeier will:

Schaltkreis für Selbstbestimmung: »Du weißt nicht genau, ob du


Lust hast, mit den anderen Kindern zu spielen. Das ist in
Ordnung. Lass dir ruhig Zeit.«
Schaltkreis für Selbstzweifel: »Jetzt stell dich doch nicht so an
und geh zu deinen Freunden.«

Ein Kind, das sich von einem gut gemeinten Scherz


verletzt fühlt:

Schaltkreis für Selbstbestimmung: »Ich sehe schon: Das hast du


jetzt nicht so lustig gefunden. Ich glaube dir. Ich sage das nicht
mehr.«
Schaltkreis für Selbstzweifel: »Meine Güte, jetzt sei doch nicht
so empfindlich.«

Ein Kind, das sagt, es sei satt:

Schaltkreis für Selbstbestimmung: »Nur du kennst deinen


Körper. Du bist also die einzige Person, die weiß, ob du satt
bist. Aber vergiss nicht: Wenn das Abendessen vorbei ist, ist die
Küche geschlossen. Vielleicht fragst du deinen Körper mal, was
er will und ob er mit dieser Portion bis zum Frühstück
durchhält.«
Schaltkreis für Selbstzweifel: »Du kannst doch nicht jetzt schon
satt sein. Du hast ja kaum etwas gegessen. Acht Bissen noch,
dann kannst du vom Tisch aufstehen.«

Ein Kind, das sich vor dem dunklen Keller fürchtet:

Schaltkreis für Selbstbestimmung: »Irgendwie magst du den


dunklen Keller nicht. Du weißt das selbst am besten. Ich glaube
dir und freue mich, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
Schaltkreis für Selbstzweifel: »Jetzt mach doch nicht so ein
Theater. Nun geh schon, das ist doch nur unser Keller.«

In jedem der obigen Beispiele für Selbstbestimmung bestätigt der


Erwachsene die Erfahrung des Kindes. Das ist natürlich kein Freibrief
für das Kind, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Aber seine
Erfahrung wird als real betrachtet, als Quelle der Wahrheit. Bei den
Beispielen für Selbstzweifel mischt der Erwachsene sich ein und geht
davon aus, dass seine Vorstellung, wie das Kind sich verhalten sollte,
»wahrer« ist als die geschilderte Erfahrung. Kinder entwickeln
Selbstzweifel, wenn man ihnen wiederholt vermittelt: »Du kennst dich
selbst nicht.« Aus diesem Grund rate ich allen Eltern, folgende Worte
aus ihrem Sprachschatz zu streichen (und gerne auch im Gebrauch
außerhalb des Elterndaseins!): Theater, Drama, überempfindlich,
hysterisch, unangemessen, lächerlich. Solche Begriffe signalisieren
Ihrem Kind, dass Sie ihm nicht vertrauen – wodurch es lernt, an sich
zu zweifeln.
Jetzt machen wir erst einmal eine kleine Pause, und Sie prüfen Ihre
»Elternscham«. Stellen sich bei Ihnen gerade Gedanken ein wie: »Oh
nein, ich habe alles falsch gemacht«? Oder: »Ich bin der mieseste
Vater auf der ganzen Welt«? Ganz ehrlich: Ich kenne das. Legen Sie
sich die Hand aufs Herz, achten Sie darauf, dass Ihre Füße guten
Kontakt mit dem Boden haben, und atmen Sie ein paar Mal tief durch.
Sagen Sie sich: »Es ist nicht zu spät … weder für mich noch für mein
Kind. Meine Reaktion ist ein Zeichen dafür, dass mir nicht alles
gleichgültig ist. Nicht dafür, dass ich schlecht bin. Meine Bereitschaft,
über diese Dinge nachzudenken und etwas Neues auszuprobieren,
sagt mir, dass ich gut bin im Durchbrechen von schädlichen Mustern.«

Die Strategien
»Ich glaube dir.«
Schaltkreise für Selbstbestimmung aufzubauen ist gleichbedeutend
mit Schaltkreisen für Selbstvertrauen. Wenn Kinder sich und ihren
Gefühlen nicht vertrauen, glauben sie auch nicht, dass sie fähig sind,
persönliche Entscheidungen zu treffen. Wenn Ihre Tochter Ihnen sagt,
dass ihr kalt ist, obwohl Sie sich in der Wohnung wohlfühlen, glauben
Sie ihr einfach: »Dir ist kalt? Das glaube ich dir. Sollen wir gucken,
was wir dagegen unternehmen können?« Wenn Ihr Sohn nicht
gekitzelt werden will, dann akzeptieren Sie das: »Alles klar. Du magst
das Kitzeln nicht. Das glaube ich dir. Ich freue mich, dass du mir
Bescheid sagst, und ich mache es auch nicht mehr.« Wenn Ihr Kind
sagt, dass es bei einem bestimmten Zeichentrickfilm Angst hat, dann
glauben Sie ihm: »Das macht dir Angst, hmm? Ich glaube dir.«

»Irgendetwas an …«
Manchmal wissen wir nicht, was in unserem Kind vorgeht – wir sehen
zwar, dass es sich nicht wohlfühlt, haben aber keine Ahnung, warum
das so ist. Vielleicht regt sich Ihr Kind über das rote T-Shirt auf,
obwohl Rot eigentlich seine Lieblingsfarbe ist. Oder Ihre Tochter ist
geknickt, weil Sie zur Arbeit gehen, obwohl Sie das in den neun
Jahren, die sie nun schon auf der Welt ist, fast jeden Tag getan
haben. In solchen Augenblicken spricht man den Gefühlen des Kindes
häufig ihre Berechtigung ab oder versucht, ihm Gefühle einzureden,
die es nicht hat. Und man wirft gerne mit all den Worten um sich, von
denen ich Ihnen oben empfohlen haben, sie aus Ihrem Wortschatz zu
streichen. Ich setze dann immer auf: »Irgendetwas an …«, denn
damit können Sie Ihrem Kind sagen, dass Sie ihm glauben und seine
Erfahrung für berechtigt halten, auch wenn Sie nicht genau wissen,
was gerade in ihm vorgeht. Zum Beispiel: »Irgendetwas an diesem
roten T-Shirt gefällt dir nicht …« Oder: »Irgendetwas an unserer
Verabschiedung fühlt sich heute für dich nicht gut an …« Nur weil Sie
die Erfahrung Ihres Kindes nicht verstehen, heißt das nicht, dass
diese nicht real ist. »Irgendetwas an …« hilft Ihnen, diese Kluft zu
überwinden.

Du bist der einzige Mensch, der in deinem Körper


steckt
Eine Sache sage ich meinen Kindern regelmäßig: »Du bist der einzige
Mensch, der in deinem Körper steckt. Also kannst nur du wissen, was
du magst und was nicht.« Bei der körperlichen Selbstbestimmung
geht es letztlich darum, dass nur wir wissen, was in uns vorgeht, nur
wir wissen, was wir wollen und was sich in jedem Moment für uns gut
anfühlt. Wenn Ihr Sohn sagt: »Ich will mein T-Shirt verkehrt herum
anziehen«, dann sagen Sie vielleicht: »Du bist die einzige Person, die
in deinem Körper steckt. Nur du kannst wissen, was du magst.«
Wenn Ihre Tochter sagt: »Ich hasse Pink! Ich will was Grünes«, dann
stärken Sie ihr Selbstbewusstsein mit: »Du bist der einzige Mensch,
der in dich hineinschauen kann. Nur du weißt, was dir gefällt.«
Vielleicht fügen Sie noch hinzu: »Es ist echt cool, dass du weißt, wer
du bist und was du möchtest.« Oder: »Du kennst dich selbst schon
gut. Das ist fantastisch.«

Erkenntnis durch Fragen


Ich stelle meinen Kindern gerne Fragen, die sie dazu anregen sollen,
über ihre Selbstbestimmung nachzudenken. Ich stelle solche Fragen
auch zu anderen Themen, denn Kinder lernen am besten, wenn man
sie zum Nachdenken ermutigt. Und das funktioniert am besten mit
Fragen. Über die Selbstbestimmung aber scheinen sie besonders
gerne nachzudenken. Wenn Sie das nächste Mal einen ruhigen
Moment mit Ihrem Kind haben, dann bringen Sie doch einmal das
Thema zur Sprache, wie wir Entscheidungen treffen, wie wir für die
eigenen Wünsche und Bedürfnisse einstehen und wie wir mit dem
Frust anderer über unsere Entscheidungen umgehen können. Ich
würde so anfangen: »Hey, mir ist da eine interessante Frage
gekommen …« Und dann bringen Sie das Gespräch auf folgende
(nicht alle!) Themen: »Was ist wichtiger: zu tun, was sich für dich
richtig anfühlt, oder zu machen, was andere Leute gern möchten?«
»Was, wenn du nicht beides machen kannst?« Oder: »Wann fühlt es
sich für dich richtig an, zu tun, was andere Menschen wollen, und
nicht auf dein Inneres zu hören?« Und: »Wann ist es besonders
wichtig, auf sich selbst zu hören, auch wenn andere deshalb nicht
gerade glücklich sind?« Oder: »Was, wenn du etwas tust, das dir
gefällt, andere Menschen aber ärgert? Heißt das, dass du ein
schlechtes Kind bist? Warum? Und warum nicht?«

Und wie hilft das alles jetzt Kiki und Tasha?


Tasha denkt an den Schaltkreis für Selbstbestimmung. Sie möchte,
dass ihre Kinder für ihre Wünsche und Bedürfnisse einstehen, auch
wenn andere das missbilligen. Sie weiß, dass diese Schaltkreise in
der Kindheit gelegt werden, aber bis ins Erwachsenenalter fortwirken.
Also sagt Tasha zu Kiki: »Du magst Opa heute also nicht umarmen?
Das ist in Ordnung. Du bist der einzige Mensch, der in deinem Körper
steckt. Nur du weißt, was dir guttut. Und noch etwas: Du siehst, dass
Opa traurig ist, weil er sich eine Umarmung gewünscht hat. Auch das
ist in Ordnung. Andere Menschen dürfen Gefühle haben, wenn wir
Nein sagen. Du musst deine Meinung nicht ändern, weil sie jemand
anderem nicht gefällt.«
Dann erklärt Tasha ihrem Vater: »Mir ist es wirklich wichtig, dass
meine Kinder über ihren Körper selbst bestimmen können. Ich weiß,
dass du es vielleicht nicht gut findest, wie ich das jetzt handhabe –
das ist in Ordnung. Aber bitte vermittle Kiki keine widersprüchlichen
Botschaften.«
Kapitel 24

Weinen
Abdullah, Vater des siebenjährigen Yusuf, hat eben per E-Mail
erfahren, dass sein Sohn nicht in die Baseballmannschaft seiner
Schule aufgenommen wurde. Abdullah sagt zu Yusuf: »Mein Schatz,
du hast es nicht in die Schulmannschaft der Großen geschafft. Aber
du bist immer noch im Team der Kleinen. Das ist doch toll, oder?
Dann kannst du mit all deinen alten Freunden spielen.« Abdullah
merkt, dass Yusuf die Tränen kommen. Er weiß nicht recht, was er
sagen soll. Soll er Yusuf besser mit etwas Schönem ablenken, um
ihm die Enttäuschung zu nehmen?

Hier eine kurze Multiple-Choice-Übung. Stellen Sie sich vor, Sie reden
mit einem Freund und merken plötzlich, dass Ihnen die Tränen
kommen. Wie stehen Sie zu Ihren Tränen? Was denken Sie darüber?

a. »Ich habe überhaupt keinen Grund zu weinen! Ist doch


lächerlich.«
b. »Bestimmt fühlt mein Freund sich jetzt schrecklich.«
c. »Ich frage mich, was mein Körper mir damit sagen will. Es muss
wichtig sein.«

Es gibt hier keine richtige oder falsche Antwort. Es geht nur um die
Information. Was registrieren Sie? Stehen Sie Ihren Tränen kritisch
gegenüber? Machen Sie sich Sorgen, wie Ihr Gegenüber reagiert?
Oder verspüren Sie Neugier, Respekt und Mitgefühl?
Wir können viel über unsere persönliche Geschichte lernen, wenn wir
uns bewusst machen, wie wir zu unseren Tränen stehen. Diese
einfache Multiple-Choice-Übung verrät uns, wie in unserer Familie
früher damit umgegangen wurde, wenn uns zum Weinen war. Tränen
sind universell, aber unsere Reaktion darauf ist sehr persönlich und
hängt von den Schaltkreisen ab, die wir als Kinder entwickelt haben.
In unserem Bindungssystem bedeutet Weinen, dass wir emotionale
Unterstützung brauchen, die Verbundenheit mit anderen Menschen.
Das Weinen zeigt uns, wie wir uns fühlen und dass dieses Gefühl
sehr stark ist. Ich stelle mir manchmal vor, dass meine Tränen mit mir
reden: »In dir geht etwas so Bedeutsames vor, dass wir tatsächlich
aus deinen Augen rinnen, nur damit du das endlich bemerkst.« Aber
Tränen sind auch ein sichtbarer Ausdruck der Verletzlichkeit eines
Kindes, und das löst bei den Eltern oft erstaunliche Gefühle aus.
Vergessen wir nicht: Unsere Trigger sagen uns, was wir in der frühen
Kindheit zu verdrängen gelernt haben. Die Scham über das Weinen
wird häufig von Generation zu Generation weitergegeben: Ein Kind
weint, weil es die Hilfe seiner Eltern braucht. Die Eltern reagieren
heftig, weil sie als Kinder gelernt haben, ihre emotionalen Bedürfnisse
für sich zu behalten. Die Eltern reagieren also auf ihr Kind genauso,
wie früher auf sie reagiert wurde. Und so setzt sich der Teufelskreis
der Scham auf ewig fort.
Manchmal aber lösen Kindertränen bei den Eltern auch
Schuldgefühle aus, weil sie glauben, etwas falsch gemacht zu haben.
Ich bin dafür, dass wir die Generation sind, die darunter einen
Schlussstrich zieht. Wir wollen Dreh- und Angelpunkt des Wandels
sein. Dazu müssen wir uns eines merken: »Der Körper lügt nie.
Weinen ist eine Botschaft des Körpers, die uns über seine Gefühle
informiert. Ich muss meine Tränen oder die meines Kindes nicht
mögen … respektieren muss ich sie allerdings.«
Wann immer ich über das Weinen rede, stellt man mir stets die
gleiche Frage: »Aber was ist dann mit künstlichem oder
vorgespieltem Weinen?« Darauf möchte ich gerne ebenfalls mit einer
Frage antworten: Warum bezeichnen wir dieses Weinen als
»künstlich«? An diesem Punkt müssen wir einen Schritt zurücktreten
und uns fragen, wie unsere Sicht der Dinge unsere Gefühle für unser
Kind beeinflusst. Wenn wir von »künstlichem Weinen« reden,
verurteilen wir dieses. Wir gehen auf Distanz zu unserem Kind und
sehen es als manipulativ an oder gar als »Feind«. Das jagt mir einen
Schauder über den Rücken, denn als Eltern sollten wir genau das
Gegenteil tun: Wir sollten auf unsere Kinder mit einer offenen und
mitfühlenden Neugier zugehen, die sich auf die Überzeugung stützt,
dass Kinder (und Erwachsene!) immer mit den Mitteln, die sie haben,
das Bestmögliche tun. Oder anders ausgedrückt: Kinder sind
grundlegend gut …
Was also ist los, wenn sie ihre Emotionen so zugespitzt ausdrücken?
Diese Frage verdient meiner Ansicht nach eine Antwort, weil sie sich
dem Kind voller Offenheit – in einer Haltung der Verbundenheit –
zuwendet, statt es zu verurteilen. So sehen wir unser Kind vielmehr
als Teamkameraden.
Überdenken wir also kurz die Idee »künstlichen« Weinens. Was
würde mich als Erwachsenen dazu bringen, meine Emotionen derart
zu überspitzen? Schließlich passiert das uns allen einmal. Wenn ich
möchte, dass meine Gefühle und Bedürfnisse ernst genommen
werden, und gleichzeitig spüre, dass jemand darauf mit Desinteresse,
Gleichgültigkeit oder Herabsetzung reagiert, dann würde mein Körper
sicher auf einen intensiveren Gefühlsausdruck umschalten. Ich würde
verzweifelt versuchen, akzeptiert und verstanden zu werden. Wenn
wir »künstliches« Weinen vor diesem Hintergrund betrachten, denken
wir weniger über den oberflächlichen Ausdruck nach als über die
zugrunde liegenden unerfüllten Bedürfnisse. Hier helfen Sätze wie:
»Ich merke schon, dass dir jetzt etwas sehr wichtig ist. Mir ist das
auch wichtig, ich bin für dich da.« Oder: »Ich merke schon, wie sehr
dich das belastet. Ich glaube dir ja, ehrlich.« Das heißt noch nicht,
dass Sie in irgendeiner Weise den momentanen Wünschen Ihres
Kindes »nachgeben« müssen. Schließlich wissen wir alle, dass
beides richtig sein kann: Wir setzen eine klare Grenze, gehen aber
trotzdem voller Empathie auf unser Kind zu und bestätigen ihm die
Daseinsberechtigung seiner Gefühle.

Die Strategien
Reden Sie über das Weinen
Reden Sie mit Ihrem Kind über Tränen, aber zu einem Zeitpunkt, an
dem es gerade nicht weint. Vielleicht machen Sie beim Vorlesen eine
Pause, wenn eine der Figuren traurig ist. Dann können Sie
beispielsweise sagen: »Sie sieht traurig aus. Meinst du, sie wird
gleich weinen? Ich weine auch, wenn ich traurig bin, aber nicht immer.
Beides ist in Ordnung.« Oder Sie erzählen von einem Erlebnis, bei
dem Sie geweint haben: »Ich weiß noch, als ich so alt war wie du,
hat Mama mir Geld für den Eismann mitgegeben. Ich wollte unbedingt
Schokoladeneis … aber das war schon aus. ›OH NEIN‹, habe ich
gejammert und angefangen zu weinen. Ich war so enttäuscht.« Damit
nehmen wir dem Weinen die Last der Scham. Wenn Sie Ihrem Kind
erzählen, dass auch Sie wegen Kleinigkeiten geweint haben, fühlt es
sich mit seinen Tränen weniger allein.

Machen Sie klar, dass Weinen wichtig ist


Ich sage meinen Kindern immer: »Tränen zeigen uns, dass in
unserem Körper etwas Wichtiges vorgeht.« Und dann erzähle ich
vielleicht als Nächstes: »Vorgestern habe ich ferngesehen und – ich
weiß heute noch nicht warum – plötzlich angefangen zu weinen!
Manchmal weiß der Körper Dinge, die das Gehirn noch nicht weiß.
Irgendetwas Wichtiges muss sich mein Körper aber vorgestellt
haben. Auch wenn ich nicht gewusst habe, warum mir die Tränen
gekommen sind, war mir klar, dass ich jetzt weinen darf.« Das
vermittelt Ihrem Kind eine extrem starke Botschaft: Manchmal weiß
unser Körper Dinge, von denen unser Verstand nichts ahnt. Ich habe
immer wieder erlebt, dass Erwachsene ihre Tränen verurteilen: »Das
hat doch überhaupt keinen Sinn. Wieso heule ich? Was stimmt denn
nicht mit mir?« Das ist der Teufelskreis der Selbstkritik. Es ist gut für
die geistige Gesundheit Ihres Kindes, wenn es schon früh lernt, dass
es Geduld braucht, um Weinen und andere Körperbotschaften zu
verstehen.

Erkenntnis durch Fragen


Nehmen Sie sich Zeit, um mit Ihren Kindern über die Bedeutung von
Tränen zu reden und gemeinsam die übliche Interpretation von
Weinen als Zeichen von Schwäche zu überdenken. Hier ein paar
Fragen, die Ihr Kind zum Nachdenken anregen könnten, ohne dass
Sie Antworten mitliefern: »Was glaubst du denn, was Tränen uns
sagen wollen? Ist Weinen gut oder schlecht oder weder das eine
noch das andere? Vielleicht ist es ja auch einfach nur da? Aber ist
das nicht eine interessante Frage? Es gibt ja Menschen, die nicht
weinen wollen. Ich frage mich ehrlich, warum. Können Jungen und
Mädchen gleichermaßen weinen? Gilt das für Erwachsene ebenso
wie für Kinder? Ist es für Mädchen eher okay, aber für Jungs nicht?
Oder für beide gleichermaßen? Und warum? Wie bist du darauf
gekommen?«

Und wie hilft das alles jetzt Yusuf und Abdullah?


Abdullah atmet tief durch und macht sich klar: Tränen sind nicht der
Feind. Traurigkeit ist nicht der Feind. Verletzlichkeit ist nicht der
Feind … Der wahre Feind ist, mit den eigenen Gefühlen
alleingelassen zu werden. Das ist das Schmerzlichste überhaupt. Also
fasst Abdullah nochmals zusammen, was Yusuf gerade passiert ist,
und erinnert sich, dass seine Präsenz, nicht seine Lösungen, Yusuf
Trost spendet. »Du wolltest unbedingt ins Team der Großen. Ich
weiß, dass das eine Enttäuschung ist.« Dann hält er kurz inne und
redet mit seiner inneren Stimme, die seine eigenen Tränen verurteilt
hat: »Weinen ist in Ordnung. Tränen sind wichtig.« Zu Yusuf sagt er
dann: »Unsere Tränen weisen auf wichtige Dinge hin, die sich in
unserem Körper abspielen. Und wir wollen in dieser Familie doch die
wichtigen Dinge wissen, also lass deine Tränen ruhig fließen. Ich bin
hier bei dir.« Yusuf weint, und Abdullah spürt, wie auch ihm Tränen in
die Augen steigen. Das ist ein wichtiger Augenblick in der Beziehung
zwischen Vater und Sohn, und Abdullah wünscht sich, zwischen ihm
und seinem Vater hätte es mehr solcher Momente gegeben.
Kapitel 25

Selbstbewusstsein aufbauen
Der sechsjährige Charlie rennt mit seinen Freunden über den
Spielplatz und spielt Fangen. Seine Mutter Clara merkt, dass er
öfter erwischt wird und langsamer ist als seine sportlicheren
Freunde. Sobald seine Freunde fort sind, bricht Charlie in Tränen
aus und sagt zu seiner Mutter: »Die sind alle schneller als ich. Und
ich muss immer raus. Ich bin einfach das langsamste Kind in meiner
Klasse!« Clara findet es schrecklich, ihren Jungen so leiden zu
sehen. Sie fragt sich, ob sie ihm sagen soll, dass er einfach nur
einen schlechten Tag hatte, und ihn daran erinnern soll, dass er
super Schach spielt und künstlerisch begabt ist.

Man erklärt Kindern häufig, dass Selbstbewusstsein heißt, sich gut zu


fühlen, stolz und zufrieden mit sich selbst zu sein. Das stimmt nicht.
Ich weiß, das hört sich jetzt verrückt an, aber ich glaube wirklich,
dass es an der Zeit ist, »Selbstbewusstsein« von Grund auf neu zu
definieren. Wenn wir Selbstbewusstsein mit »sich gut finden«
gleichsetzen, werden wir zu guter Letzt versuchen, unseren Kindern
jeden Schmerz zu ersparen, ihre Enttäuschungen wegzureden und
ihnen zu versichern, dass ihre Wahrnehmung, in manchen Dingen nicht
gut zu sein, nicht richtig sei. Das ist nun tatsächlich bedauerlich, denn
ich glaube, dass diese ständigen Versicherungen, dieses ständige
Beschwichtigen schließlich ihr ganzes Selbstbewusstsein
unterminieren.
Lassen Sie mich das erklären. In meinen Augen hat
Selbstbewusstsein nichts mit »sich gut fühlen« zu tun. Es geht
vielmehr um die Überzeugung: »Ich weiß, was ich jetzt empfinde. Und
dieses Gefühl ist real. Es ist erlaubt, und ja, ich bin auch ein guter
Mensch, wenn ich mich so fühle wie jetzt.« Selbstbewusstsein ist
unsere Fähigkeit, uns mit einer enormen Bandbreite eigener Gefühle
tatsächlich bei uns zu fühlen. Dieses Selbstbewusstsein entsteht aus
der Überzeugung, dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie man ist,
egal, was man gerade empfindet.
Beginnen wir mit einem Beispiel aus der Welt der Erwachsenen.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gerade mitten in einem wichtigen
Meeting mit Ihrer Chefin. Sie nicken und versuchen mitzuhalten,
merken aber bald, dass Sie keine Ahnung haben, was die Frau da
redet. Selbstbewusstsein in diesem Fall heißt, dass Sie sich selbst
vertrauen. Dass Sie in diesem Meeting sitzen und sich sagen: »Hmm.
Ich habe keine Ahnung, was sie von mir will. Ich bin total verwirrt,
aber ich traue diesem Gefühl und weiß, dass es nichts Schlechtes
über mich aussagt.« Und laut sagen Sie dann: »Entschuldigung. Ich
kann gerade nicht ganz folgen. Ich möchte sicherstellen, dass ich das
alles richtig verstehe. Können wir das bitte noch einmal durchgehen,
damit wir auf einer Wellenlänge sind?« Selbstvertrauen in solch einem
Meeting heißt eben nicht, sich einzureden, dass Sie nicht verwirrt sein
dürfen. Selbstvertrauen heißt, dass Sie Ihr Gefühl zulassen und sich
dazu bekennen.
Wohlmeinende Eltern reagieren auf den Schmerz ihrer Kinder häufig
so, dass sie ihn irgendwie »wegmachen« wollen. Sie sagen vielleicht
nicht: »Benimm dich nicht wie ein kleines Kind!« Aber sie versuchen,
das Kind zu überzeugen, dass es sich glücklich fühlen soll, obwohl es
traurig ist, oder stolz, wenn es enttäuscht ist. Wenn wir versuchen,
ein Kind zu überzeugen, dass es andere Gefühle haben soll, als es in
seinem Inneren verspürt, dann lernt es: »Ich kann meinen Gefühlen
nicht vertrauen … Ich dachte, dass ich ganz durcheinander bin, aber
der Erwachsene, dem ich am meisten vertraue, erklärt mir, dass das
keine große Sache ist. Ich kann meinen Gefühlen also nicht trauen.
Andere Menschen wissen offensichtlich besser als ich, wie es mir
geht.« Das wiederum ist wirklich erschreckend. Wenn wir uns
ausmalen, wie unsere Kinder einmal als Erwachsene sein werden,
dann werden sich die meisten von uns sicherlich Kinder mit einem
starken inneren Kompass wünschen, einem »Bauchgefühl«, das sie
im Körper spüren können. Denn das erlaubt uns Erwachsenen, bei
aller Ungewissheit Entscheidungen zu treffen – Einladungen
abzulehnen, weil wir erschöpft sind und mal pünktlich ins Bett
müssen; oder einen Kollegen darauf anzusprechen, warum er uns zu
diesem wichtigen Meeting nicht dazugeholt hat. Diese Art von
Selbstbewusstsein entsteht aus dem Vertrauen in unsere Instinkte,
von der inneren Überzeugung: »Ich habe gelernt, meinen Gefühlen
zu vertrauen.« Wenn es um meine Kinder geht, dann möchte ich,
dass sie sich Dinge überlegen wie: »Ich weiß, dass ich sauer auf
meine Freundin bin. Aber sie versucht mich zu überzeugen, dass das
keine große Sache war und ich überreagiere. Aber wie kann sie
wissen, wie ich mich fühle? Ich weiß, wie mir zumute ist! Und ich bin
die Einzige, die das weiß.«
Selbstvertrauen stellt sich ein, wenn Eltern die Gefühle ihrer Kinder
zulassen und darauf eingehen. Und wenn es um schwierigere Fragen
geht – um Gefühle wie Trauer, Enttäuschung, Eifersucht oder Wut –,
dann schafft diese Haltung noch mehr Verbundenheit, weil Sie Ihrem
Kind das Gefühl geben, dass es »ganz es selbst« sein darf, ganz
egal, was passiert, und dass es alle möglichen Gefühle haben darf.
Das ist wahrlich eine Gabe!
Beim Aufbau von Selbstbewusstsein geht es nicht nur darum, das
»Richtige« zu sagen, wenn unsere Kinder etwas »falsch« machen,
sondern auch darum, was wir sagen, wenn sie etwas »richtig«
machen. Denn eine Art von Rückmeldung, mit der wir das
Selbstbewusstsein unserer Kinder eigentlich stärken wollen,
verhindert letztlich sogar, dass sie Selbstbewusstsein entwickeln: das
Lob. »Super, Liebes!« Oder: »Du bist ja so klug!« Und: »Du bist eine
tolle Künstlerin!« So gut gemeint diese Kommentare sind, so sorgen
sie doch auch dafür, dass unsere Kinder Bestätigung von außen
brauchen, die Anerkennung durch andere. Dabei wollen wir unsere
Kinder doch zu innerer Bestätigung anleiten, zur Anerkennung durch
sich selbst.
Hier entscheidet sich, ob wir das gute Gefühl außerhalb unser selbst
suchen oder vielmehr in uns. Ein Beispiel: Ihr sechsjähriger Sohn hat
ein Bild gemalt. Wenn er nun Bestätigung von außen will, läuft er zu
Mama oder Papa und will wissen: »Gefällt es dir? Findest du es
schön?« Innere Bestätigung aber wäre: Er sieht das Bild an und
erzählt Ihnen, was er darüber denkt. Ein anderes Beispiel: Ihre
Teenagerin ist auf ihren Freund wütend wegen etwas, das er zu ihr
gesagt hat. Wenn sie nach äußerer Bestätigung sucht, fragt sie fünf
Freundinnen, ob sie das nicht auch schlimm finden. Bestätigung in
sich zu finden hieße, dass sie ihre unangenehmen Gefühle registriert
und ihren Freund darauf anspricht.
Der Knackpunkt ist allerdings: Wir alle suchen nach äußerer
Bestätigung. Wir alle finden sie großartig. Das ist auch in Ordnung.
Unser Ziel besteht ja nicht darin, unsere Kinder gegen andere
Meinungen zu immunisieren. Wir wollen vielmehr das Innenleben
unserer Kinder stärken – das, was sie im Innersten sind. Dann fühlen
sie sich auch nicht verloren, wenn von außen kein Echo kommt.
Außerdem erwächst Selbstbewusstsein nicht aus Lob von außen oder
Anerkennung von anderen. Natürlich geben uns solche Dinge ein
gutes Gefühl, nur ist es eben nicht von Dauer. Wir haben diese
Komplimente schon wieder vergessen, kaum dass sie an unser Ohr
gedrungen sind. Und schon sehnen wir uns nach neuem Lob, damit
wir uns in unserer Haut wieder wohlfühlen können. Das ist kein
Selbstbewusstsein, sondern innere Leere.
Noch ein Tipp in Sachen Lob: Wenn wir unsere Kinder darauf
ansprechen, was in ihnen vorgeht, wenn wir den Prozess
kommentieren und nicht, was dabei herauskommt, dann richtet auch
das Kind seinen Blick nach innen. Zum Beispiel: »An diesem Projekt
hast du aber mit großem Einsatz gearbeitet.« Oder: »Du hast ja hier
ganz andere Farben benutzt. Erzähl mal.« Oder: »Wie wirst du das
anpacken?« Reaktionen wie diese unterstützen die Entwicklung von
Selbstbewusstsein, weil sie unsere Kinder nicht darauf trimmen, auf
fremdes Lob zu schielen, sondern sie lehren, auf das zu achten, was
sie tun. So erfahren sie auch mehr über sich selbst.

Die Strategien
Führung durch Bestätigung
Wenn wir im Hinterkopf behalten, dass Selbstbewusstsein heißt, zu
»wissen, dass die eigenen Gefühle in Ordnung sind«, können wir
unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen, indem wir
ihnen klarmachen, dass ihre Gefühle real und zu bewältigen sind.
Indem wir diese Gefühle benennen und sie dadurch bestätigen,
zeigen wir unserem Kind, dass seine Gefühle okay sind. Zum Beispiel
so:
Situation: Ihr Sohn sagt Ihnen, dass er traurig war, als Sie sich am
Schultor von ihm verabschiedet haben.
Führung durch Bestätigung: »Du warst traurig, als ich
weggegangen bin? Ja, das kann sich schwierig anfühlen.« (Und
nicht: »Aber der Rest des Tages war doch super, oder?«)
Situation: Ihre Tochter sagt, dass sie nicht zum Fußballtraining
gehen will.
Führung durch Bestätigung: »Irgendwas passt dir am
Fußballtraining gerade nicht, oder? Naja, kann vorkommen.
Überlegen wir doch mal gemeinsam, was das ist?« (Und nicht:
»Aber du spielst doch so gerne Fußball!«)

»Wie willst du das anpacken?«


»Wie möchtest du das malen?«
»Wie möchtest du die Geschichte anfangen?«
»Wie denkst du, könntest du die Matheaufgabe lösen?«
»Wie glaubst du, lassen sich diese Materialien kombinieren?«
Wenn wir mit unseren Kindern über das »Wie« einer Aufgabe
nachdenken, statt sie für das »Was« zu loben, helfen wir ihnen, den
Blick nach innen zu richten und neugierig auf sich selbst zu sein. Dann
freuen sie sich auch über alles, was sie gemacht haben. Schließlich
ist nichts angenehmer, als wenn sich jemand dafür interessiert, was
wir denken, welche Ideen wir haben oder was wir als nächstes
vorhaben. Wenn wir unser Kind fragen: »Wie willst du das denn
anpacken?«, dann signalisieren wir, dass wir uns für die inneren
Abläufe interessieren, nicht für das, was dabei herauskommt. So wird
es schließlich darauf vertrauen: »Was in mir vorgeht, ist interessant
und wichtig.«

Innenleben geht über Außenleben


Selbstbewusstsein heißt, dass Ihr Kind fähig ist, seine Identität über
sein sichtbares Verhalten zu stellen. Dieser Effekt stellt sich
automatisch ein, wenn man in einer Familie aufwächst, in der das
Innere (bleibende Eigenschaften, Gefühle, Ideen) mehr zählt als das
Äußere (Leistungen, Resultate, Etiketten). Was den Sport angeht, so
wäre das Innere zum Beispiel, wie sehr Ihr Kind sich beim Training
anstrengt, seine Haltung, wenn es gewinnt oder verliert, und seine
Bereitschaft, Neues auszuprobieren. Das Äußere hingegen wären die
Anzahl der Tore oder Körbe oder Auszeichnungen wie »erfolgreichste
Spielerin«. Was die schulischen Leistungen angeht, ist das Innere
zum Beispiel die Bereitschaft, die freiwillige Zusatzaufgabe in Mathe
zu lösen, Zeit ins Lernen zu investieren und sich für ein bestimmtes
Fach zu begeistern. Das Äußere wären Noten oder
Lehrerkommentare wie »klügstes Kind in der Klasse«. Je mehr die
Familie sich auf die inneren Werte konzentriert, desto eher lernen die
Kinder, dass diese eben bedeutsam sind – und schon ist es ihnen
wichtiger, wer sie sind, als was sie tun.

»Du kennst deine Gefühle wirklich gut.« oder »Es ist


okay, sich so zu fühlen.«
Wenn Selbstvertrauen der entscheidende Faktor für
Selbstbewusstsein ist, dann können Sie Letzteres nur dann fördern,
wenn Sie Ihr Kind stets ermutigen, seinen Gefühlen zu vertrauen. Und
das ist auch für Erwachsene schwierig. Wir stellen uns ja selbst
ständig infrage: »Habe ich jetzt überreagiert?« Oder: »Darf ich mich
so fühlen?« Und: »Würde jemand anderer an meiner Stelle auch so
empfinden?« All dies sind Signale des Selbstzweifels. Sie sagen uns,
dass man unsere Erfahrungen irgendwann in unserem Leben
entwertet hat, uns damit alleingelassen hat oder versucht hat, uns
unsere Gefühle auszureden. Als Eltern aber wollen wir unsere Kinder
in ihren Gefühlen bestätigen und ihnen Selbstmitgefühl und
Selbstvertrauen beibringen. Das geht zum Beispiel so: »Du kennst
deine Gefühle aber wirklich gut.« Oder: »Wow, du weißt, wer du
bist.« Solche Reaktionen bringen unser Kind dazu, den Blick offen
nach innen zu richten, ohne sich zu verurteilen. Wenn Ihr Kind sich im
Park an Sie klammert, statt mit anderen zu spielen, dann könnten Sie
beispielsweise sagen: »Du hast noch keine Lust mitzumachen. Das ist
okay. Du kennst deine Gefühle wirklich gut.« Oder wenn es weint,
weil es nicht zur Pyjamaparty eingeladen wurde: »Du bist jetzt sehr
enttäuscht. Dieses Gefühl ist in Ordnung.«

Und wie hilft das alles jetzt Charlie und Clara?


Clara hat sich eingeprägt, dass Selbstvertrauen heißt, dass wir
unsere Gefühle annehmen, und nicht, dass wir sie abzustellen oder
uns davon abzulenken versuchen. Sie sagt zu Charlie: »Herumlaufen
und Fangen spielen war heute nicht so schön. Dauernd raus zu
sein … echt blöd. Ich weiß, mein Schatz. Ich bin für dich da.« Sie hält
kurz inne, Charlie rückt an sie heran und vergießt noch mehr Tränen.
Nach einer Weile hat Clara das Gefühl, dass er jetzt bereit ist. Daher
erzählt sie ihm: »Als ich in deinem Alter war, hatte ich Schwierigkeiten
mit Basketball. Alle anderen Kinder haben immer Körbe geworfen,
aber ich habe den Ball nicht mal bis hoch zum Ring gebracht. Ich
habe die Sportstunde richtig gehasst …« Charlie hört zu, dann bittet
er seine Mutter, doch weiterzuerzählen. Ihre Geschichte gibt ihm
offensichtlich die Erlaubnis für seine eigenen Gefühle. Clara ist sich
am Ende nicht sicher, ob alles so in Ordnung war, denn sie hat ihrem
Sohn ja keine Lösungen angeboten. Andererseits hat es sich richtig
angefühlt, und sie beschließt, sich auf dieses Gefühl zu verlassen.
Kapitel 26

Perfektionismus
Die sechsjährige Freya besucht die erste Klasse und sitzt gerade
über einer Hausaufgabe: Sie soll in vier Sätzen eine bestimmte
Tätigkeit beschreiben. Aislyn, Freyas Mutter, schaut ihr zu. Freya
schreibt ein Wort aufs Papier, dann sagt sie: »Nein, das wird
anders geschrieben.« Sie streicht das Wort durch, versucht es
wieder, streicht es dann wieder durch.
»Schatz, schreib doch einfach, wie du meinst«, sagt Aislyn zu
Freya. »Die Lehrerin hat doch gesagt, es muss nicht perfekt sein!«
»Ich hasse schreiben!«, sagt Freya. »Und ich mache das nicht,
wenn du mir nicht sagst, wie man die Worte richtig schreibt!«
Aislyn weiß nicht, wie sie ihrer Tochter helfen soll.

Was geht in Kindern vor, bei denen alles zu hundert Prozent richtig
sein muss, die mit einem »gut genug« nicht leben können, die sich
völlig verschließen, wenn die Dinge nicht exakt so laufen, wie sie sich
das vorgestellt haben? Nun, hinter Perfektionismus steckt fast immer
ein Problem mit der Emotionsregulierung. Hinter dem »Ich bin die
schlechteste Malerin auf der ganzen Welt« steht ein Kind, das eine
tolle Vorstellung von dem Bild hat, das es malen möchte, und von
dem realen Ergebnis enttäuscht ist. Hinter dem »Ich bin so doof in
Mathe« verbirgt sich ein Kind, das so gerne kompetent wäre, aber
stattdessen zutiefst verwirrt ist. Hinter dem »Ich habe meine
Mannschaft im Stich gelassen«, steckt ein Kind, das die Momente
nicht sieht, in denen das Spiel gut gelaufen ist, sondern nur den
verschossenen Elfmeter. Bei jedem dieser Beispiele äußert sich die
Enttäuschung – das Auseinanderklaffen von kindlicher
Wunschvorstellung und realem Ergebnis – als Perfektionismus. Und
weil es hier um Emotionsregulierung geht, wird Logik uns nicht
weiterhelfen. Wir können ein Kind nicht davon überzeugen, dass es
wunderschön malt oder dass Mathe für alle schwer ist oder dass der
eine verschossene Elfmeter nichts über seine sportlichen Fähigkeiten
aussagt. Neigt unser Kind zum Perfektionismus, so erfordert das von
uns, dass wir uns die starken, übermächtigen Gefühle ansehen, die
hinter seinem Schwarz-Weiß-Denken, hinter seiner Überzeichnung
der Situation stecken. Nur so dringen wir zum Kern des Problems vor
und können unseren Kindern helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, die
sie brauchen.
Perfektionistische Kinder sind meist auch ausgesprochen unflexibel.
Ihre Stimmungen und Reaktionen spielen sich häufig in Extremen ab.
Ihre Gefühle fahren mit ihnen Achterbahn, und ihr Selbstbild ist
extrem zerbrechlich. Sie fühlen sich nur in einem sehr eng
abgesteckten Rahmen wohl in ihrer Haut. Alles, was außerhalb
dieses Rahmens liegt, scheint schlecht. Daher werfen diese Kinder
auch so schnell das Handtuch, wenn etwas nicht so läuft, wie sie sich
das vorstellen. (»Ich mach das nicht!« Oder: »Mir reicht es jetzt!«
Und: »Ich bin der Allerschlechteste!«) Das heißt nicht, dass sie stur
oder verwöhnt sind. Sie können sich selbst einfach in diesem Moment
keine guten Gefühle entgegenbringen. Unser Ziel als Eltern muss es
also sein, diesen Rahmen auszuweiten, damit der kleine Perfektionist
lernt, in den »Grauzonen« zu leben. Dann fallen die Hochs und Tiefs
des Selbstwertgefühls nicht mehr so extrem aus. Wir möchten
unserem Kind beibringen, sich gut genug zu fühlen und nicht mehr an
dem Bedürfnis zu hängen, perfekt zu sein.
Diese Unfähigkeit, mit Grauzonen zurechtzukommen, kommt meist
daher, dass perfektionistische Kinder Nuancen nicht ertragen – oder
überhaupt verstehen. Für sie ist Verhalten gleich Identität. Sie sind
nicht in der Lage, das eine vom anderen zu trennen. Und dabei macht
es keinen Unterschied, ob sie gerade mit sich zufrieden sind oder kein
gutes Haar an sich lassen. Zum Beispiel bedeutet für sie eine
Buchseite richtig zu lesen (Verhalten): »Ich bin klug« (Identität). Ein
Wort falsch auszusprechen (Verhalten) heißt: »Ich bin dumm«
(Identität). Beim Schnürsenkelbinden das erste Mal alles richtig zu
machen (Verhalten) bedeutet: »Ich bin so toll« (Identität). Die Schleife
hingegen nicht hinzubekommen (Verhalten) beweist: »Ich bin ein
Versager« (Identität). Wenn wir Kindern mit Hang zum
Perfektionismus helfen wollen, müssen wir sie lehren, zwischen dem,
was sie tun, und dem, was sie sind, zu unterscheiden. Damit erlernen
sie die Freiheit, sich auch in der Grauzone wohlzufühlen: auch mit sich
zufrieden zu sein, wenn Schuhebinden beim ersten Mal schiefgeht
oder wenn es beim Lesen hapert. Der Perfektionismus beraubt das
Kind (und auch jeden Erwachsenen) der Möglichkeit, sich im Prozess
des Lernens wohlzufühlen, weil es davon ausgeht, dass nur ein
erfolgreiches Ergebnis gut sein kann. Perfektionistischen Kindern
müssen wir zeigen, wie sie zu ihrem Gut-genug-Gefühl kommen, und
ihnen vermitteln, dass sie auch jenseits von Erfolgen als Menschen
wertvoll sind.
Noch ein wichtiger Hinweis zu diesem Thema: Eltern sollten ihren
Kindern helfen, ihren Perfektionismus zu erkennen, nicht, ihn
loszuwerden. Viele Eltern denken, sie sollen ihre Kinder zu »Nicht-
Perfektionisten« machen. Aber wenn wir einen Persönlichkeitsanteil
unseres Kindes (möglicherweise auch noch rabiat) unterdrücken,
vermitteln wir ihm, dass dieser Anteil schlecht oder falsch ist. Wir
sollten unseren Kindern stattdessen beibringen, eine bessere
Beziehung zu ihrem Perfektionismus herzustellen, damit sie rechtzeitig
merken, wann ihr Vollkommenheitsdrang sich zu regen beginnt. Nur
dann können sie verhindern, dass er ihr ganzes Tun beherrscht oder
ihnen diktiert, wie sie sich zu fühlen haben. Schließlich hat der
Perfektionismus auch Seiten, die sich gut anfühlen, wie Willensstärke,
Tatkraft und Überzeugung. Und wir wollen ja, dass unsere Kinder mit
diesen Zügen leben lernen, ohne unter dem Druck, alles perfekt
machen zu müssen, zusammenzubrechen.

Die Strategien
Gehen Sie mit Ihren eigenen Fehlern sinnvoll um
Kinder beobachten ihre Eltern ständig und lernen so, was diesen
wichtig ist und welche Werte in der Familie am meisten zählen. Wenn
Ihre Kinder perfektionistische Züge haben, achten Sie darauf, wie Sie
in Gegenwart Ihrer Kinder mit Ihren eigenen Fehlern, Ihren
Schwierigkeiten und Ihrem eigenen »In der Grauzone leben«
umgehen. Das könnte so funktionieren: »Oh, nein! Ich habe eine
wichtige Mail an meinen Chef geschrieben und so viele Tippfehler
gemacht! Mist, ich wollte es doch Korrektur lesen, aber dann habe
ich’s vergessen!« Das rutscht jedem einmal heraus. Wichtig ist, dass
Sie danach einen anderen Umgang mit Ihrem Problem vorleben –
nämlich einen, der Ihrem Kind die Art von tieferliegenden Botschaften
vermitteln, die für seine Entwicklung wichtig sind. Legen Sie die Hand
auf Ihr Herz und sagen Sie laut: »Ich bin auch in Ordnung, wenn ich
einen Fehler mache. Ich bin sicher. Ich bin grundlegend gut, selbst
wenn ich etwas falsch mache.« So können Sie vorleben, wie man
Verhalten von der eigenen Identität trennt und sich auch gut fühlt,
wenn etwas einmal nicht gelingt.

Erzählen Sie die Geschichte des Gefühls hinter dem


Perfektionismus
Wenn Ihr Kind darauf besteht, dass etwas perfekt sein muss, oder
sich verschließt, wenn es in seinen Augen unvollkommen ist, üben Sie
sich darin, das dahinterstehende Gefühl zu erkennen. Erzählen Sie
dann die Geschichte dieses Gefühls oder benennen Sie es zumindest
laut. Ihr Ziel hier ist es, die Aufmerksamkeit Ihres Kindes von der
Perfektion wegzulenken, hin auf die Gefühle in seinem Körper. Das
schärft die Selbstwahrnehmung seiner Erfahrungen, was die
Grundlage jeglicher Regulierung ist. Wenn Ihr Sohn also sagt: »Ich
bin der Einzige, der sich nicht übers Klettergerüst hangeln kann. Ich
gehe nicht mehr auf den Spielplatz. Das macht keinen Spaß«, dann
erzählen Sie die Geschichte des Gefühls, das dahintersteht. Zum
Beispiel so: »Dich nicht übers Klettergerüst hangeln zu können
scheint dir etwas auszumachen.« Oder: »Manchmal verdirbt uns so
eine Schwierigkeit den ganzen Spaß, nicht wahr? Dann hat man das
Gefühl, dass nichts auf dem Spielplatz noch Spaß macht, weil man
nicht alles gut kann.« Ich erzähle also vom Kampf um die
Emotionsregulierung, der hinter der Reaktion steht. Ich zeige meinem
Kind, was in ihm vorgeht. Die Versuchung ist groß, in diesem Moment
zu sagen: »Es ist in Ordnung, wenn du das nicht mehr machen willst.
Ist doch kein Problem!« Oder: »Ist doch egal! Du kannst doch
woanders deinen Spaß haben.« Aber Logik verhilft nicht zur
Gefühlsregulierung, und unangenehme Gefühle zu regulieren ist das
Kernthema für kleine Perfektionisten.

Spiel mit Plüschtieren


Spielen Sie mit Ihrem Kind Szenen mit perfektionistischen
Charakteren durch, indem Sie Plüschtiere, Lastwagen oder andere
Lieblingsspielzeuge verwenden. Vielleicht sind Sie ja der Bagger, der
weint, weil das Loch, das er gegraben hat, nicht groß genug ist. Oder
Sie sind der Teddybär, der einen Baum nur zur Hälfte hinaufklettern
kann. Anfangen könnten Sie mit: »Nein, nein, nein. Ich mache das
nicht mehr! Wenn ich das nicht perfekt hinbekomme, dann mag ich
nicht mehr!« Kurze Pause. Wie reagiert Ihr Kind? Wenn es sich richtig
anfühlt, könnten Sie Ihrer Kleinen zuflüstern: »Ich hatte dieses Gefühl
schon einmal. Manchmal, wenn die Dinge nicht laufen, wie ich will, ist
mein ganzer Tag im Eimer.« Oder Sie spielen vor, wie man mit
diesem Frust fertig wird. Sie schnappen sich einen Kipplaster, rollen
hinüber zum Bagger und sagen: »Es ist schrecklich, wenn nicht alles
so läuft, wie du es dir wünschst. Ich verstehe das. Ich bin für dich
da.« Dann darf der Bagger (mit Ihrer Stimme) antworten: »Okay,
vielleicht probiere ich es noch einmal. Ich kann ja nicht einfach
aufhören, weil nicht alles perfekt ist.«

Stellen Sie die »Perfekte Stimme« vor


In einem ruhigen Moment können Sie Ihr Kind mit der Idee vertraut
machen, dass es ein »Perfektes Kind«, einen »Perfekten Jungen«
oder ein »Perfektes Mädchen« in sich trägt. Fangen Sie so an:
»Wusstest du schon, dass ich ein Perfektes Mädchen in mir habe?
Ja, wirklich! Sie sagt mir ständig, dass alles, was ich mache, perfekt
sein muss, sonst kann ich es gleich sein lassen! Du hast so etwas
auch, glaube ich! Sie hat sich wohl zu Wort gemeldet, als du deine
Mathehausaufgabe gemacht hast. Es ist eigentlich kein Problem,
wenn man eine Perfekte Stimme hat. Viele Menschen haben sowas!
Aber das Perfekte Mädchen in mir ist manchmal so laut, dass ich
mich gar nicht mehr konzentrieren kann. Dann hilft es, wenn ich
freundlich mit ihr rede.« Kurze Pause. Wie reagiert Ihr Kind darauf?
Häufig spielt es sofort mit und fragt: »Was meinst du denn damit?«
Dann erklären Sie ihm: »Nun, das Perfekte Mädchen ist kein
Problem, solange es nicht so laut ist, dass ich die anderen Stimmen
in mir nicht mehr höre. Wenn sie aber zu laut wird, sage ich zu ihr:
›Oh, hallo, Perfektes Mädchen. Da bist du ja wieder! Ich weiß, du
sagst immer, dass alles superperfekt sein muss, und wenn es nicht
perfekt ist, soll ich es gleich ganz lassen. Ich höre dir ja zu! Aber sei
bitte ein wenig leiser, damit ich auch meine »Ich kann auch schwierige
Sachen«-Stimme wieder hören kann. Ich weiß nämlich, dass sie auch
da ist.‹ Und dann meldet sich tatsächlich die ruhigere Stimme und
sagt mir, dass es in Ordnung ist, wenn etwas mal schwer ist. Ich
kann auch schwierige Sachen schaffen.«
Vielleicht denken Sie jetzt, Ihr Kind würde sich nie auf so ein Spiel
einlassen und diese Stimme suchen. Aber es ist meist nur unsere
persönliche Skepsis, die uns davon abhält, eine Methode wie diese
einmal auszuprobieren. Ich versichere Ihnen, ich habe diese Strategie
nicht selbst erfunden. Die Perfekte Stimme gehört zum
Instrumentarium des Inneren Familiensystems, das davon ausgeht,
dass unser Selbst aus den unterschiedlichsten Teilen besteht. (In
Kapitel 4 finden Sie mehr darüber.) Der Ansatz, diese verschiedenen
»Anteile« unseres Selbst zu erkennen, passt dazu, wie unser Geist
organisiert ist. Die meisten Kinder können mit diesem Ansatz etwas
anfangen, weil sie diese Organisation auch im eigenen Körper
spüren. Das Tolle am Spiel mit der Perfekten Stimme ist, dass Sie
Ihrem Kind so zeigen, wie es mit seinem Perfektionismus umgehen
kann, statt ihn als Problem zu erleben. Einen Teil unseres Selbst
abzulehnen, fühlt sich eher nach Selbsthass an. Wenn wir über die
Perfekte Stimme sprechen, erlebt das Kind seinen Perfektionismus
nicht als Feind. Es fühlt sich vielmehr in die Lage versetzt, mit diesem
Persönlichkeitsanteil umzugehen, wenn er aktiv wird.
Wenn Sie diese Methode ausprobiert haben, können Sie vielleicht
sogar noch einen Schritt weitergehen: Fragen Sie Ihr Kleines, ob es
das Perfekte Kind in sich beschreiben oder zeichnen möchte. Viele
Kinder mögen das und profitieren wirklich davon. Dieser Stimme ein
Äußeres zu geben, hilft ihnen, sich zu erden und sich besser zu
verstehen.

Die 180-Grad-Wendung in puncto Perfektion


Eines Tages brachte mir meine Tochter ein Wort bei, das sie gerade
im Spanischunterricht gelernt hatte, und ich sagte: »1 zu 0!« Sie sah
mich verwirrt an, und ich erklärte ihr: »Etwas nicht zu wissen heißt,
dass ich lernen kann. Neue Dinge zu lernen ist super. Ich habe von dir
gerade ein Wort gelernt, das ich vorher nicht kannte, also bekomme
ich einen Punkt!« In diesem Spiel »gewinnt« nicht der, der schon
Bescheid weiß und »perfekt« ist. Der Fokus liegt stattdessen darauf,
dazuzulernen. Dadurch wird das ursprüngliche Nichtwissen zum
»Gewinn«. Das gibt dem Kind die Erlaubnis, Schwierigkeiten zu
haben und Schritt für Schritt zu lernen. Für Perfektionisten ist das
»perfekt«. Meine Tochter liebt dieses Spiel: »Mama, ich habe zwei
Punkte. Ich habe gerade die Hauptstädte von zwei Bundesländern
gelernt!« Es gibt viele Wege, beim Perfektionismus eine 180-Grad-
Wendung einzulegen, zum Beispiel: das Nichtwissen zum Spiel
machen, Punkte für Fehler verteilen oder sich für jeden Schnitzer
abklatschen.

Und wie hilft das alles jetzt Freya und Aislyn?


Aislyn erinnert sich, dass sie Freya lieber helfen sollte, ihren
Perfektionismus zu erkennen, als ihn loszuwerden. »Ja, die
Rechtschreibung ist schwer«, sagt sie. »Ich weiß. Es sieht fast so
aus, als könntest du nicht weitermachen, wenn du nicht jedes Wort
richtig hast, oder? Ich weiß, bei mir war das auch so, als ich sechs
war. Das war schrecklich!« Schon wirkt Freya ein bisschen ruhiger,
aber sie weigert sich trotzdem, die Aufgabe weiterzumachen, wenn
Aislyn ihr nicht erklärt, wie man die einzelnen Wörter schreibt. Aislyn
aber weiß, dass das nur eine kurzfristige Lösung wäre und Freyas
Vorstellung, alles müsse »richtig« sein, nur verstärken würde. Sie
denkt an die 180-Grad-Wendung und sagt: »Weißt du was, Freya?
Du bist in der ersten Klasse. Deine Lehrerin hat mir gesagt, dass du
das Schreiben lernen musst, nicht dass du es perfekt können sollst.
Ich muss jetzt ins Schlafzimmer und dort etwas machen. Wenn ich
zurückkomme, sehe ich mir deine Geschichte an. Du darfst kein Wort
richtig schreiben. NICHT EINMAL EINES! Wenn du auch nur ein Wort
richtig schreibst, muss ich eine E-Mail an deine Lehrerin schicken,
dass du keine gute Schülerin bist. Okay?« Aislyn hat ihre Idee zwar
gut verkauft, doch sie erwartet, dass Freya weiter weint, wenn sie
rausgeht. Zu ihrer Überraschung bleibt es still. Als Aislyn
zurückkommt, hat Freya zwei Sätze geschrieben. Aislyn sieht, dass
ihre Tochter sieben Wörter falsch hat und drei Wörter richtig. Sie
sagt: »Freya, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir anfangen soll. Du
hast viel zu viele Wörter richtig geschrieben. Ganz im Ernst, du sollst
das doch erst lernen! Und bei diesen Wörtern hast du nichts gelernt!«
Freya und Aislyn lachen. Aislyn weiß, dass dies für ihre kleine
Perfektionistin ein wichtiger Schritt war.
Kapitel 27

Trennungsangst
Der dreijährige Wesley ist aufgeregt. Bislang hat er nur seine
älteren Geschwister morgens aus dem Haus gehen sehen. Doch
nun beginnt auch für ihn die aufregende Zeit im Kindergarten.
Wesleys Vater Jeff weiß, dass manche Kinder sich am Anfang nur
schwer von ihren Eltern trennen können, aber er sagt nichts, um
Wesley nicht auf falsche Gedanken zu bringen. Doch als der
Moment des Abschieds gekommen ist, klammert sich Wesley an
Jeffs Bein und schreit: »Nein, nein, nein, Papa, bleib hier!« Jeff fühlt
sich hilflos und versteht nicht, was falsch gelaufen ist.

Trennungen fallen oft schwer. Es ist völlig normal, dass ein Kind
weint, wenn man es im Kindergarten absetzt oder wenn die Mutter
zur Arbeit muss. Oder auch, dass es absichtlich herumtrödelt, wenn
es zur Schule muss. Es will die Bindung aufrechterhalten. Für Kinder
ist die Gegenwart ihrer Eltern gleichbedeutend mit Schutz, weil ihr
Körper ihnen signalisiert: »Solange deine Eltern da sind, bist du in
Sicherheit.« Trennungssituationen stellen eine große Herausforderung
dar. Die Kleinen müssen es schaffen, sich in einer neuen Umgebung
oder bei einer anderen Bezugsperson sicher zu fühlen. Das heißt, sie
müssen das Gefühl der Sicherheit, das ihnen die Bindung zu ihren
Eltern schenkt, auch aufrechterhalten können, wenn die Beziehung für
sie gerade nicht greifbar ist. Damit sich die Trennung machbar
anfühlt, müssen sie die Emotionen, die sie in Anwesenheit eines
Elternteils haben, verinnerlichen – das heißt bereit zum Abruf haben.
Sie müssen das Gefühl haben, auch in Abwesenheit ihrer Eltern in
dieser Welt sicher zu sein. Kein Wunder also, dass der
Trennungsprozess Tränen und unangenehme Gefühle auslöst.
Ich stelle mir das Gefühl von Sicherheit wie eine Kugel aus Licht vor.
Wenn sich ein Kind in der Nähe der Eltern aufhält, ist es von diesem
Licht umgeben und fühlt sich sicher, sodass es auf Erkundungstour
gehen, spielen und wachsen kann. Wir Eltern hoffen, dass unsere
Kinder irgendwann dieses Licht auch in unserer Abwesenheit spüren,
weil es in ihnen scheint – weil es in ihren Körper eingedrungen und zu
ihrem eigenen Licht geworden ist.
Diese Idee der Verinnerlichung hilft uns zu verstehen, was Kinder
brauchen, um Trennungen gut zu verkraften. Sie müssen buchstäblich
etwas von ihren Eltern in sich »aufnehmen«, um die Sicherheit der
Beziehung auch dann zu spüren, wenn sie sich von Mutter oder Vater
verabschieden. Laut dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker
Donald Winnicott schaffen Kleinkinder sich eine mentale
Repräsentation der Eltern-Kind-Beziehung, damit sie auch in deren
Abwesenheit Zugriff auf die damit verbundenen Gefühle haben.
Sogenannte »Übergangsobjekte« helfen Kindern bei diesem Prozess:
eine Schmusedecke, ein Kuscheltier oder ein vertrauter Gegenstand
verkörpert die Eltern-Kind-Bindung und erinnert das Kind daran, dass
seine Eltern auch dann noch für es »da sind«, wenn sie sich außer
Sichtweite aufhalten. Eltern, deren Kinder mit Trennungsangst zu
kämpfen haben, empfehle ich grundsätzlich solche Übergangsobjekte,
denn sie erleichtern Kindern die Trennung. Letztlich geht es darum,
dass unsere Kleinen sich auch in unserer Abwesenheit »an uns
festhalten« können.
Die Trennungsreaktionen sind von Kind zu Kind verschieden, sogar
innerhalb derselben Familie. Es ist völlig normal, ein Kind zu haben,
das sich problemlos trennt, und eines, das schon beim Gedanken an
eine bevorstehende Trennung verzweifelt. Der Charakter Ihres Kindes
lässt erahnen, wie es auf Ihre Abwesenheit reagieren wird. Eines
meiner Kinder zum Beispiel ist sehr risikofreudig, ausgeglichen und
stets darauf aus, neue Dinge auszuprobieren. Ein anderes hingegen
taut meist nur langsam auf, ist vorsichtig und empfindet tief (das
heißt, seine Gefühle lassen sich leicht auslösen und halten lange an).
Obwohl alle äußeren Faktoren ihrer ersten Trennungserfahrung im
Kindergarten gleich waren, war meinem Mann und mir im Voraus klar,
dass der Abschied dem risikofreudigen Kind leichter fallen würde,
dass es seltener weinen und sich rascher neue Gewohnheiten
aneignen würde. Wesentlich ist, dass wir keine Werturteile fällen. Es
ist nicht so, dass sich eines meiner Kinder »besser« als das andere
trennt. Die beiden erleben die Trennung einfach ganz anders. Es ist
eine große Hilfe, wenn Sie Ihr einzigartiges Kind gut genug kennen,
um seine Reaktion vorherzusehen und Ihre Erwartungen
entsprechend anzupassen. So bleiben Sie bei einem tränenreichen
Abschied gelassener.
Wo wir gerade von tränenreichen Abschieden sprechen: Wir dürfen
nicht vergessen, dass Eltern immer nur eine Seite des
Trennungsprozesses sehen – den Abschied. Wir bekommen
üblicherweise nicht mit, wie unsere Kinder sich beruhigen, ihre
Gefühle wieder unter Kontrolle bekommen und schließlich zufrieden
spielen. Tatsächlich sind in einer Kindergartengruppe oft gerade die
Kinder am aktivsten, die bei der Trennung am heftigsten protestiert
haben.
Eine entscheidende Rolle spielt auch die Fähigkeit der Eltern, darauf
zu vertrauen, dass ihr Kind die Situation bewältigen wird. Wie sich der
Moment des Abschieds für ein Kind anfühlt, sagt nichts darüber aus,
wie es die Schule oder Kita allgemein erlebt. Eltern, die sich dessen
bewusst sind, fällt es leichter, Zuversicht auszustrahlen. Und das ist
sehr wichtig, denn unsere eigenen Gefühle haben einen enormen
Einfluss auf die Trennungserfahrung unserer Kinder. Registrieren sie
Zögern, Nervosität oder Zweifel bei uns, reagieren sie heftiger, weil
sie unsere Angst übernehmen und sich dadurch ihre eigene Furcht
verstärkt. In den Momenten der Trennung fragen uns unsere Kinder
im Prinzip: »Denkst du, dass es mir gutgehen wird?« Es gibt nichts
Beunruhigenderes für ein Kind, als sich von einem Elternteil zu
verabschieden, der selbst Angst vor der Trennung hat. Das ist, als
würden Sie ihm sagen: »Du bist hier nicht sicher. Tschüss.« Ein
schreckliches Gefühl für jedes Kind. Denken Sie also daran, dass die
Eltern die Atmosphäre bestimmen – Trennung mag für alle schwierig
sein, aber wer Sicherheit vermittelt, hält den Schlüssel zu einem
reibungslosen Auseinandergehen in der Hand.

Die Strategien
Lernen Sie Ihre eigenen Trennungsängste kennen
Welche Gefühle löst der Gedanke, sich von Ihrem Kind zu trennen, in
Ihnen aus? Falls Sie traurig oder nervös sind, ist das völlig in
Ordnung! Wir sollten unsere Gefühle immer zulassen, uns aber auch
zu verstehen bemühen, was wir brauchen, um in Trennungsmomenten
Stärke zeigen zu können. Sie könnten zum Beispiel Ihre
unangenehmen Gefühle begrüßen, wie ich es oft tue: »Hallo, Angst,
du darfst hier sein!« Oder »Hi, ihr traurigen Gefühle darüber, dass
mein Kind größer wird und wir für eine Weile getrennt sein werden.
Ihr seid willkommen. Ich will euch begrüßen, bevor ich meine Tochter
abgebe, und ein zweites Mal, wenn ich wieder zu Hause bin. Beim
Abschied werde ich euch bitten, in den Hintergrund zu treten, damit
ich meinem Mädchen zeigen kann, dass sie sicher ist, wenn sie in die
Schule geht.« In Kapitel 10 finden Sie noch weitere Strategien, die
Ihnen helfen können, Ihre Emotionen zu akzeptieren.

Thematisieren Sie Trennung und Gefühle


Sprechen Sie mit Ihrem Kind, bevor Sie sich von ihm trennen.
Besprechen Sie zum Beispiel rechtzeitig vor dem Ende der
Eingewöhnung im Kindergarten nochmal mit ihm, was es erwartet:
wie Sie beide dorthin kommen werden, wie die Erzieherinnen und
Erzieher heißen, wie der Tages- oder Wochenplan aussieht und was
beim Hinbringen abläuft. Sie könnten sagen: »In ein paar Tagen
bleibst du ohne mich im Kindergarten! Die Erzieher kümmern sich um
dich, solange du dort bist. Mama bringt dich morgens in den
Kindergarten und holt dich ab, wenn er aus ist. Ich bleibe nicht mit dir
da. Am Anfang wird es dir vielleicht etwas schwerfallen, dich von mir
zu verabschieden. Mit Erwachsenen und Kindern zusammen zu sein,
die du noch nicht gut kennst, ist schließlich ganz neu für dich!«
Die gleiche Strategie lässt sich vor einer Übernachtung bei einer
Freundin oder einer mehrtägigen Klassenfahrt auch bei älteren
Kindern anwenden. Bringen Sie die Trennung im Voraus zur
Sprache – zeigen Sie Ihrem Kind Fotos und bereiten Sie es auf
Gefühle vor, die auftauchen könnten. Zum Beispiel so: »Ich denke
gerade an morgen, wenn du bei Raquela übernachten wirst – toll,
deine erste Nacht außer Haus! Raquelas Mutter hat mir ein paar
Fotos von ihrem Zimmer geschickt, so kannst du genau sehen, wo du
schlafen wirst. Oh, schau mal, die Bettdecke ist blau, wie deine
eigene! Und Raquela hat ein Lämpchen, das sie gerne anlässt beim
Schlafen. Hmm, das ist anders. Was meinst du, wie wird es sich für
dich anfühlen, an einem anderen Ort zu schlafen?«

Rituale und Übung


Erfinden Sie ein kurzes und liebevolles Ritual, das sich leicht einüben
und wiederholen lässt. Vielleicht erzählen Sie Ihrem Kind: »Wenn wir
uns verabschieden, umarme ich dich kurz und sage ›Tschüss, mein
Spatz. Papa kommt immer zurück‹, dann drehe ich mich um und
gehe. Du bleibst bei deinen Erzieherinnen, und wenn dich heftige
Gefühle überkommen, können sie dir helfen. Komm, wir üben das!«
Spielen Sie dann die Abschiedsszene durch – Sie können ruhig zuerst
den Part des Kindes übernehmen und Ihr Kind die Erwachsene
mimen lassen und nachher die Rollen tauschen. Die Übung sorgt
dafür, dass das Kind mit dem Ritual vertraut wird. Wenn es sich
schließlich daran gewöhnt hat, fällt ihm die Trennung leichter.

Übergangsobjekt
Kuscheltiere oder Schmusedecken können Kindern, die sich mit dem
Abschiednehmen schwertun, eine Hilfe sein, weil sie als
Weggefährten eine Brücke zwischen zu Hause und dem Kindergarten
schlagen. Vielleicht möchte Ihr Kind ein laminiertes Familienfoto (Sie
können auch einfach durchsichtiges Paketband benutzen!) mitnehmen,
das Sie auch als Basis für ein Ritual verwenden können: Ermuntern
Sie Ihr Kind, nach der Verabschiedung das Bild anzuschauen und
immer wieder zu sagen: »Meine Familie ist in der Nähe, meine
Familie ist in der Nähe«. Lassen Sie doch Ihr Kind sein
Übergangsobjekt selbst auswählen: »Gibt es etwas, das du in den
Kindergarten mitnehmen möchtest, weil es dich an zu Hause
erinnert?«

Die Geschichte erzählen


Wir können Trennungsangst lindern, indem wir beim Abholen oder am
Ende des Tages die Trennung noch einmal in eine Geschichte
einbinden. Vor allem wenn Ihr Kind beim Abschied aufgewühlt war,
sollten Sie darauf zurückkommen. In einem ruhigen Moment zu Hause
fassen Sie die Ereignisse zusammen: »Der Abschied heute war ein
bisschen schwierig. Das macht nichts. Es ist neu, dass wir uns im
Kindergarten voneinander verabschieden müssen, da ist es normal,
wenn du traurig bist. Dein Erzieher hat mir erzählt, du hast ein paar
Mal tief durchgeatmet und dann deine Familienfotos angeschaut,
bevor du dich zu den anderen Kindern in den Kreis gesetzt hast.
Mama ist wie abgemacht zurückgekommen, und jetzt sind wir wieder
zusammen zu Hause.«
Oder Sie greifen das Thema bei der Rückkehr Ihres Kindes aus
einem Ferienlager nochmals auf: »Ich weiß, dass der Abschied am
Anfang des Sommers schwierig war, wir haben ein bisschen geweint
und uns mit der Trennung nicht leichtgetan. Aber dann hast du dich an
das Ferienlager gewöhnt und das Heimweh kam mit der Zeit immer
seltener. Und jetzt bist du wieder bei uns zu Hause und hast so viele
tolle Erlebnisse zu erzählen. Wir sind wieder zusammen, genau wie
wir es vereinbart hatten.«
Indem Sie nochmals auf die Trennung zu sprechen kommen, lassen
Sie Ihr Kind verstehen, dass der Moment des Abschieds Teil einer
umfassenderen Geschichte war, aber nicht die gesamte Erfahrung
überlagert hat.

Und wie hilft das alles jetzt Wesley und Jeff?


Jeff macht sich klar, dass es völlig in Ordnung ist, wenn Wesley beim
Abschied im Kindergarten mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat. Er
nimmt sich vor, Wesley später am Abend besser darauf
vorzubereiten. Für den Augenblick begibt er sich auf Augenhöhe mit
seinem Sohn und sagt: »Papa Tschüss zu sagen fühlt sich neu an. Ich
weiß, dass du einen tollen Tag haben wirst im Kindergarten, auch
wenn es schwierig ist, sich zu verabschieden.« Er umarmt Wesley
ganz fest und flüstert: »Deine Erzieherin Terry wird dir helfen, wenn
ich Tschüss sage. Ich werde ihr verraten, welches dein Lieblingslied
ist – dann kann sie es dir vorsingen, wenn du möchtest. Ich drücke
dich dann einmal ganz fest, versichere dir, dass ich zurückkomme,
und gehe dann.« Nun atmet Jeff tief durch, sagt sich, dass er das
schaffen kann, und tut dann genau das, was er angekündigt hat: Er
umarmt Wesley fest, sagt »Papa kommt immer zurück« und bringt ihn
zu Terry, die dem Kleinen über den Abschiedsschmerz hinweghilft.
Am Abend erzählt Jeff seinem Sohn die Geschichte des heutigen
Tages und probt mit ihm ein Abschiedsritual, in das er Wesleys
liebstes Kuscheltier einbezieht. Sie spielen das Ritual auch mit
Wesleys Lieblings-Legofiguren durch. Am nächsten Morgen wirkt
Wesley angespannt und Jeff erklärt ihm: »Manche Kinder weinen
beim Abschied von den Eltern, andere nicht. Egal, wie du dich fühlst,
Papa weiß, dass du sicher bist und Spaß haben wirst. Und wenn der
Kindergarten aus ist, komme ich und hole dich ab.«
Kapitel 28

Schlafen
Die vierjährige Cora hat immer gut geschlafen – bis vor Kurzem.
Seit vier Wochen weigert sie sich, ins Bett zu gehen, verlangt statt
zwei Gutenachtgeschichten zehn und weint, wenn ihre Eltern, Ben
und Matt, den Raum verlassen. Um zwei Uhr morgens wacht sie auf
und besteht darauf, dass einer ihrer Väter sich zu ihr legt. Coras
Eltern sind ratlos und erschöpft. Nachdem Sticker-Tabellen und
Strafen nichts gebracht haben, sind sie kurz davor, Cora auf den
Rat eines Freundes hin in ihrem Zimmer einzuschließen. Aber der
Gedanke weckt ungute Gefühle in ihnen. Im Moment wissen sie
schlicht und einfach nicht mehr weiter.

Nichts ist für Eltern so frustrierend, wie wenn wir uns den lieben
langen Tag mit der Erziehung unseres Kindes abgemüht haben und
dieses dann abends nicht ins Bett will oder mitten in der Nacht
aufwacht, wenn wir unseren wohlverdienten Schlaf brauchen. Mit dem
abendlichen Protest umzugehen, ist nicht einfach – das fällt allen
Eltern schwer. Zumal das Quengeln pünktlich dann losgeht, wenn sie
sehnsüchtig auf die kinderfreie Zeit des Tages warten, in der sie sich
endlich entspannen, lesen oder etwas für sich selbst tun können. Da
können wir als Eltern schon einmal mit unserem Schicksal hadern.
Rufen Sie sich in dieser Situation immer in Erinnerung:
Schlafprobleme sind letztlich Ausdruck von Trennungsangst.
Schließlich erwartet man vom Kind, dass es nachts bis zu zehn
Stunden lang allein ist und sich dabei sicher genug fühlt, um
überhaupt einschlafen zu können. Und weil es um
Trennungsschwierigkeiten geht, müssen wir auf die Bindungstheorie
zurückgreifen, um das Problem zu lösen. Wir wissen ja:
Bindungsverhalten ist das Streben nach Nähe, weil Kinder sich am
sichersten fühlen, wenn ihre Eltern bei ihnen sind.
Manche Kinder fürchten sich vor der Nacht – es ist dunkel, sie sind
allein, ihr Körper wird heruntergefahren, und der Geist kommt auf
Touren. Sie werden bedrängt von furchterregenden Gedanken oder
existenziellen Sorgen um die Beziehung zu den Eltern. (»Sind meine
Eltern wirklich da, wenn ich sie nicht sehen kann?«)
Im Schlaf kommen manchmal auch Ängste und Probleme hoch, die
andere Lebensbereiche betreffen. Kinder nehmen Veränderungen in
ihrer Umgebung als Bedrohung wahr. Solange Veränderungen wie
der Schulbeginn, plötzliche Ehestreitigkeiten, die Geburt von
Geschwistern oder ein Umzug nicht erklärt sind, suchen sie die Nähe
ihrer Eltern, bis sie ihre Umgebung wieder als sicher empfinden.
Solche schwierigen Momente führen häufig zu Schlafstörungen, weil
die Kinder sich in ihrem Körper unwohl fühlen und sich nicht genug
entspannen können, um einzuschlafen. In Zeiten des Wandels suchen
Kinder die Nähe ihrer Eltern ganz besonders, weil sie so ihr Bedürfnis
nach Verbundenheit und Sicherheit stillen können. Und was ist das
Gegenteil von »in der Nähe seiner Eltern sein«? Genau, sich nachts
von ihnen zu trennen.
Was also können wir tun, um das Schlafverhalten unserer Kinder zu
verbessern? Meiner Meinung nach sollten wir in zwei Schritten
vorgehen: Zuerst müssen wir dafür sorgen, dass sie sich sicher
fühlen. Wir müssen ihnen helfen, Bewältigungsstrategien tagsüber zu
entwickeln, wenn für sie nicht so viel auf dem Spiel steht. Nur so
werden sie sich auch am Abend sicher genug für eine Trennung
fühlen. Nur dann können wir ihnen im zweiten Schritt das Zubettgehen
schmackhaft machen.
Häufig fixieren wir uns in unserer Frustration so sehr auf das
Schlafen, dass wir nicht merken, was unser Kind sonst noch
beschäftigt. Das ist zwar verständlich, verschärft aber häufig die
Probleme, die zu den Schlafstörungen führen. Wenn Eltern mit Kälte,
Strafen und Ablehnung reagieren, fühlen die Kinder sich noch
einsamer. Schließlich brauchen sie Verständnis und Hilfe, um sich
selbst beruhigen zu können. Dann wünschen sie sich nichts sehnlicher
als die Präsenz der Eltern, was wiederum unsere Frustration
verstärkt … ein Teufelskreis.
Da ist es auch keine Hilfe, dass viele Ratschläge zum Thema
»Schlafprobleme« sich auf das Verhalten der Kinder richten. Die
übersehen nämlich die Schwierigkeiten, die sich hinter der
Schlafverweigerung oder dem Aufwachen um zwei Uhr morgens
verbergen. Viele Eltern haben mir erzählt, Fachleute hätten ihnen
geraten, die Ängste ihres Kinds zu ignorieren, die Kinderzimmertür
abzuschließen oder einfach gar nichts zu tun, während es panisch
schreit. Allein der Gedanke daran schmerzt mich.
Gleichzeitig sagt mir meine weitherzigste Interpretation, dass diese
Eltern verzweifelt nach einem Rezept suchen, das allen zum dringend
benötigten Schlaf verhilft. Ich kann das verstehen. Auch ich selbst
habe mit meinen Kindern viele schwierige Schlafphasen
durchgemacht und weiß, wie schnell man da in eine Spirale totaler
Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit gerät. Eben deshalb ist es mir ein
großes Anliegen, ein Konzept zur Lösung von Schlafproblemen zu
erarbeiten, das sich richtig anfühlt, die Bedürfnisse von Kindern und
Eltern berücksichtigt, Trennungsängste nicht noch weiter schürt …
und das Alleinschlafen tatsächlich fördert.
Kommen wir also zurück auf das, was wir über Bindungsverhalten
und Trennung wissen. Kinder, die sich schwertun mit Trennungen,
haben Mühe, die beruhigenden Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung zu
verinnerlichen – sie fühlen sich zwar sicher in Gegenwart der Eltern,
sind aber in deren Abwesenheit oft verängstigt. Diese Lücke gilt es zu
schließen. Wir müssen dem Kind helfen, jene Teile der Eltern-Kind-
Beziehung in sich zu bewahren, die ihm ein Gefühl von Geborgenheit,
Sicherheit und Vertrauen schenken. Genau das braucht es, um gut zu
schlafen. Wenn es uns gelingt, die Anwesenheit eines Elternteils für
das Kind dauerhaft spürbar zu machen, kann es auch dann auf die
beruhigende Wirkung der Eltern-Kind-Beziehung zurückgreifen, wenn
die Eltern nicht anwesend sind. Das ist das Ziel. Wenn Sie darüber
nachdenken, wie sich die Schlafprobleme Ihres Kinds lösen lassen,
fragen Sie sich, ob Ihre Ideen dem Kind helfen, mit Ihrer Abwesenheit
fertigzuwerden, oder, im Gegenteil, seine Ängste verstärken. Diese
Unterscheidung hilft Ihnen zu beurteilen, was dem Kind nutzt und sich
gut anfühlt.
Einen Hinweis noch, bevor ich mit den konkreten Hilfsmaßnahmen
anfange: Mein Ziel ist, dass Ihr Kind ein Gefühl der Sicherheit
entwickelt. Wann sich dies in besserem Schlaf niederschlagen wird,
kann ich nicht vorhersagen. Veränderungen im Schlafverhalten
nehmen oft mehr Zeit in Anspruch, als uns lieb ist. In der Zwischenzeit
sollten Sie sich, solange es mit dem Alleinschlafen noch nicht klappt,
über Ihre eigenen Bedürfnisse klar werden: Vielleicht können Sie sich
bei den nächtlichen Einsätzen mit Partner oder Partnerin (so
vorhanden) abwechseln. Oder Sie erlauben dem Kind tagsüber
zusätzliche Bildschirmzeit, um sich kurz hinzulegen. Oder Sie nehmen
sich einen Tag frei, um Schlaf nachzuholen. Ich weiß, dass das auf
Dauer nicht genügen wird. Aber ich weiß auch, dass jeder noch so
kleine Moment der Selbstfürsorge einen Unterschied machen kann.

Die Strategien
»Wo sind die anderen?«
Für Kinder ist das konstante Dasein ihrer Eltern nicht
selbstverständlich. Sie wissen nicht, dass Sie auch dann noch da
sind, wenn sie im Bett liegen. Machen Sie ihnen das begreiflich.
Erklären Sie ihnen tagsüber, wo Sie Ihren Abend verbringen. Gehen
Sie mit ihnen durchs Haus, um es ihnen zu zeigen. Zum Beispiel so:
»Wenn du schlafen gehst, isst Mama in der Küche ihr Abendessen.
Dann lese ich auf dem Sofa und gehe danach in mein Zimmer zum
Schlafen. Ich bin immer da, auch während du schläfst! Und am
Morgen wache ich auf und komme zu dir ins Zimmer.« In Zeiten
massiver Umbrüche fügen Sie vielleicht noch hinzu: »In unserem
Leben gibt es gerade viele Veränderungen. Aber eins wird gleich
bleiben: Wenn du ins Bett gehst, bin ich immer noch da. Sogar wenn
deine Augen geschlossen sind und du mich nicht sehen kannst, bin ich
da und werde immer noch da sein, wenn du aufwachst.«

Achten Sie auf das Trennungsverhalten am Tag


Wenn Ihr Kind Schlafprobleme hat, sollten Sie überprüfen, was für
Trennungsmuster sich tagsüber zeigen. Hat Ihr Kind Mühe damit, Sie
allein ins Bad gehen zu lassen? Fällt ihm der Abschied im
Kindergarten schwer? Wie kommt es damit klar, wenn Sie
Besorgungen machen oder allein spazieren gehen? Arbeiten Sie an
diesen Dingen, bevor Sie die nächtlichen Trennungsprobleme (also
Schlafprobleme) in Angriff nehmen. Nachts ist die Angst oft größer,
daher müssen wir Strategien zur Trennung tagsüber entwickeln, wenn
unser Körper nicht so schnell Alarm schlägt und empfänglicher fürs
Lernen ist. Führen Sie am Tag Trennungsrituale ein, üben Sie den
Abschied, indem Sie auch dann Tschüss sagen, wenn Sie nur ins Bad
gehen. Versichern Sie Ihrem Kind, dass es auch sicher ist, wenn Sie
nicht mit ihm zusammen sind. Erklären Sie ihm, dass Sie immer
zurückkommen. Im vorhergehenden Kapitel finden Sie weitere
Trennungsstrategien für den Tag.

Rollenspiel
Holen Sie die Kuscheltiere, Lastwagen, Puppen oder sonstigen
Spielsachen hervor, die Ihr Kind mag. Spielen Sie damit Gutenacht-
Szenen vor, bringen Sie Gefühle zur Sprache, die bei der Trennung
hochkommen, und zeigen Sie Strategien, die zur Beruhigung
beitragen. Zum Beispiel so: »Komm, wir helfen dem Entchen, sich
fürs Schlafengehen bereit zu machen!« Dann wenden Sie sich ans
Entchen: »Entchen, ich weiß, dass das Schlafen für dich nicht der
schönste Teil vom Tag ist. Es ist in Ordnung, wenn du traurig bist
beim Zubettgehen. Aber denk daran, Mama Ente ist ganz in deiner
Nähe. Du bist in Sicherheit und Mama Ente kommt am Morgen wieder
zu dir. Also, machen wir uns bereit zum Schlafengehen.« Dann gehen
Sie das Abendritual durch, an das Ihr Kind gewöhnt ist. »Jetzt lesen
wir dem Entchen seine beiden Bücher vor, putzen ihm die Zähne und
singen ihm ein Lied. Dann sagen wir Gute Nacht.« Sie können auch
auf Momente eingehen, die für Ihr Kind normalerweise schwierig sind.
Bettelt Ihre Tochter zum Beispiel jedes Mal um eine zusätzliche
Gutenachtgeschichte, dann beziehen Sie dies mit ein: Spielen Sie die
Auseinandersetzung nach, fühlen Sie sich in den Wunsch ein, und
setzen Sie eine Grenze: »Ach Entchen, ich weiß, du möchtest noch
eine Geschichte hören! Gib mir doch das Buch, dann nehme ich es
mit, damit wir es morgen früh zusammen lesen können.« Oder: »Ach
Entchen, ich weiß, du möchtest noch eine Geschichte hören. Es ist
schwierig, nach zweien aufzuhören. Jetzt lese ich keine mehr … aber
dafür morgen früh!«

Machen Sie Ihre Anwesenheit spürbar


Bei Schlafproblemen konzentriere ich mich darauf, die beruhigende
Wirkung der Beziehung im Kind dauerhaft spürbar zu machen, ohne
dass Sie als Eltern ständig anwesend sein müssen. Überlegen Sie
sich verschiedene Möglichkeiten, wie Sie im Zimmer und rund ums
Bett Ihre Präsenz spürbar machen können. Vielleicht indem Sie ein
Familienfoto im Schlafbereich anbringen und ein Bild von Ihrem Kind
auf Ihren Nachttisch stellen. Reden Sie tagsüber darüber: »Weißt du,
was ich gerade für eine Idee hatte? Manchmal kann ich nicht gut
einschlafen und denke an dich und vermisse dich. Ich hätte gerne ein
Foto von dir neben meinem Bett. Dann habe ich dich vor Augen und
weiß, dass du da bist, dass ich in Sicherheit bin und dich am Morgen
wiedersehe. Ich glaube, es wäre für uns beide schön, Fotos
voneinander zu haben. Wir könnten ja Bilderrahmen basteln und sie
dann auf unsere Nachttische stellen.« Gestalten Sie den Rahmen
zusammen mit dem Kind – mit ganz einfachen Mitteln. Sie können
einfach ein Stück farbige Pappe verzieren und das Foto draufkleben.
Dann sind Sie nicht nur durch das Foto präsent, sondern auch, weil
Ihr Kind sich an das gemeinsame Basteln erinnert – eine Erinnerung,
die sich sicher und verbunden anfühlt. Und zu eben diesen Gefühlen
soll das Kind auch nachts Zugang haben.
Sie können Ihrem Kind versprechen, ihm eine Nachricht zu schreiben
oder ein Bild mit seinem Namen darauf zu zeichnen, das Sie neben
sein Bett legen werden, wenn es eingeschlafen ist. Wacht das Kind
mitten in der Nacht auf, hat es sofort den Beweis für Ihre Präsenz vor
Augen, und sein Körper fühlt sich sicherer, weil es weiß, dass Sie
bald wieder da sind. Meine Tochter hatte eine Phase, in der sie
wollte, dass ich jede Nacht eine Nachricht mit ihrem Namen und
zwischen fünfzig und hundert Herzen neben ihr Bett lege. (Sie nannte
mir jeden Abend die gewünschte Zahl, um ihr Kontrollbedürfnis zu
stillen.) Das kostete mich zwar einige Zeit, aber es gab ihr ein Gefühl
von Sicherheit, und sie schlief ohne Protest ein. Es war die Mühe
wirklich wert!

Mantras für Sie und Ihr Kind


Sie wissen inzwischen, dass ich Mantras liebe. Sie machen aus einer
Situation, die sich beängstigend und überwältigend anfühlt, etwas
Kleines, Handhabbares, auf das sich ein Kind konzentrieren kann.
Folgendes Mantra habe ich jahrelang für meine Kinder benutzt:
»Mama ist in der Nähe, [Name des Kindes] ist in Sicherheit, im Bett
ist es kuschelig.« Stellen Sie das Mantra vor: »Als ich in deinem Alter
war, hat mir meine Mama etwas beigebracht. Wenn ich ins Bett
gegangen bin, habe ich mir immer diesen Spruch vorgesagt, sobald
sie aus dem Zimmer war. Er lautete: ›Mama ist in der Nähe, Farnaz
ist in Sicherheit, im Bett ist es kuschelig.‹ Das Schlafen war immer
noch etwas schwierig für mich, aber es hat trotzdem geholfen. Dein
Spruch wäre: ›Mama ist in der Nähe, Nahid ist in Sicherheit, im Bett
ist es kuschelig.‹« Stellen Sie das Mantra in einem leichten Singsang
vor, dessen Rhythmus so beruhigend wirkt wie die Worte. Sie können
das Mantra in Ihr Abendritual aufnehmen. Nachdem Sie Ihrer Kleinen
ein Lied vorgesungen haben, wiederholen Sie das Mantra dreimal.
Bald wird Ihr Kind das Mantra verinnerlicht haben und es für sich
selbst aufsagen können. Solch ein Mantra ist eine weitere
Möglichkeit, Ihre Präsenz im Kinderzimmer spürbar zu machen, vor
allem wenn es der Familientradition entstammt.
Selbstverständlich haben Mantras auch auf Erwachsene eine
beruhigende Wirkung. Sie helfen uns, mit der Frustration und dem
Ärger über die allabendlichen Proteste oder unruhigen Nächte
fertigzuwerden. Ich benutze üblicherweise das folgende Mantra. Es
erinnert mich daran, dass die Probleme irgendwann zu Ende gehen:
»Das alles wird ein Ende haben. Die Zeit wird kommen, in der mein
Kind allein schläft. Ich schaffe das.«

Die Methode der sicheren Distanz


Diese Methode beruht auf den Grundprinzipien der Bindungstheorie,
weil sie davon ausgeht, dass Kinder die Nähe ihrer Eltern spüren
müssen, um sich sicher zu fühlen. Anfangs bleiben Sie im
Kinderzimmer, ganz nahe bei Ihrem Kind. Nach und nach – rechnen
Sie mit vielen Nächten – vergrößern Sie die räumliche Distanz, bis Sie
schließlich das Kinderzimmer verlassen haben. Erklären Sie Ihrem
Kleinen, was Sie vorhaben: »Ich weiß, dass dir das Schlafen in letzter
Zeit schwergefallen ist. Deshalb bleibe ich in deinem Zimmer, bis du
eingeschlafen bist. Das werde ich nicht immer tun, nur für eine Weile.
Während ich bei dir bin, werde ich nicht reden, weil es ja Nacht ist.
Ich bin da, damit du weißt, dass du sicher bist.«
So können Sie das Schritt für Schritt umsetzen:

1. Bleiben Sie im Zimmer, bis Ihr Kind fast oder ganz


eingeschlafen ist. Vermeiden Sie jeden Blickkontakt, solange
Sie im Raum sind. Wenn Sie die Distanz vergrößert haben,
können Sie die Zeit nutzen, um sich um persönliche oder
berufliche Angelegenheiten zu kümmern. Was zählt, ist Ihre
Präsenz, nicht Ihre Aufmerksamkeit. Denken Sie daran: Ihr Kind
wird irgendwann ohne Ihre Anwesenheit im Zimmer auskommen.
Hat es seine Angst erst einmal abbauen können, wird es mit der
Distanz besser fertigwerden. Unabhängigkeit (Trennung)
entsteht aus der Sicherheit der Abhängigkeit (Zusammensein).
2. Schenken Sie Ihrem Kind in der ersten Nacht so viel Nähe,
wie es braucht, um sich sicher zu fühlen. Sie spüren, dass
sein Bedürfnis erfüllt ist, wenn es ruhig geworden ist. Vielleicht
sitzen Sie am Anfang auf seinem Bett und streicheln ihm den
Rücken. Behalten Sie diese Distanz in den folgenden drei
Nächten bei.
3. Fangen Sie an, den Abstand zu vergrößern. Im nächsten
Schritt sitzen Sie vielleicht auf dem Bett, aber ohne das Kind zu
berühren. Oder Sie nehmen neben dem Bett Platz. Ein paar
Nächte später setzen Sie sich in der Nähe der Tür auf den
Boden. Kündigen Sie Ihrem Kind die Veränderung jeden Morgen
an: »Heute Abend bist du bereit für etwas Neues. Ich bleibe in
deinem Zimmer, aber ich werde nicht auf deinem Bett sitzen,
sondern auf dem Stuhl. Ich bin mir sicher, du schaffst das!«
4. Falls Ihr Kind Angst bekommt oder sich aufregt, singen Sie
sanft das Einschlaf-Mantra, wobei Sie den Blick zu Boden
richten. Sollte das nicht helfen, rücken Sie für eine Weile
wieder näher. Das »Hin und Her« ist mitunter nötig, um die
sichere Distanz zu ermitteln.
5. Denken Sie an Ihr eigenes Mantra, wenn Frust oder Ärger
hochkochen: »Das alles wird ein Ende haben. Die Zeit wird
kommen, in der mein Kind allein schläft. Ich schaffe das.«
6. Führen Sie diesen Prozess so lange fort, bis Sie in der Nähe
der Tür, dann auf der Schwelle und schließlich, Nächte später,
außerhalb des Zimmers sind. Lassen Sie die Tür anfangs noch
einen Spalt offen.

Der Trost-Buzzer
Der Knackpunkt bei der Lösung kindlicher Schlafprobleme ist meiner
Ansicht nach: Wie kann ein Kind sich die Geborgenheit, die es in
Gegenwart seiner Eltern fühlt, bewahren, wenn diese nicht im Raum
sind? Aus dieser Frage heraus habe ich den »Trost-Buzzer«
entwickelt, der Kinder Ihre beruhigende Gegenwart auch dann spüren
lässt, wenn Sie sich im Wohnzimmer aufhalten oder in Ihrem Bett
liegen. Das geht so: Besorgen Sie sich einen bespielbaren Buzzer mit
mindestens 30 Sekunden Aufnahmezeit (günstig im Internet
erhältlich). Zeichnen Sie in einem ruhigen Moment eine Schlaf-
Botschaft für Ihr Kind auf. Sprechen Sie mit gleichmäßiger,
beruhigender Stimme. Vielleicht wählen Sie eine Strophe eines
Gutenachtlieds oder das Einschlaf-Mantra Ihres Kindes. Oder Sie
denken sich eine Nachricht über das Wiedersehen am Morgen aus –
irgendetwas, was Ihr Kind in Ihrer Abwesenheit beruhigt. Bauen Sie
den Buzzer ins Einschlafritual ein: Ihr Kind drückt den Buzzer einmal,
während Sie im Raum sind, einmal, wenn Sie hinausgehen, und
zweimal, nachdem Sie das Zimmer verlassen haben. Sie können auch
eine Vereinbarung treffen: »Lass uns mit dem Trost-Buzzer üben. Ich
möchte, dass du dir die Nachricht vier Mal anhörst, bevor du mich
rufst. Ich warte vor deiner Tür und höre, wenn du ihn benutzt. Wenn
du dich immer noch nicht sicher fühlst, kannst du mich rufen. Ich
komme zu dir, streichle dir über den Rücken und bestätige dir, dass
du geborgen bist. Dann versuchen wir das Ganze noch mal.« Der
Buzzer lässt Ihr Kind Ihre Gegenwart spüren und bringt die
beruhigende Wirkung der Beziehung in sein Zimmer, auch wenn Sie
nicht im eigentlichen Sinn anwesend sind. Ihr Kind kann sich mit Ihnen
in Verbindung setzen, indem es den Buzzer drückt und Ihrer Stimme
lauscht. So fühlt es sich nicht länger allein und hilflos.

Und wie hilft das alles jetzt Cora, Ben und Matt?
Am Morgen haben Ben und Matt wieder zu ihrer Gelassenheit
zurückgefunden und reden darüber, was sich wohl hinter Coras
Weigerung zu schlafen verbirgt. Sie glauben, dass Cora sich fürchtet,
und schmieden einen Plan, um diese Angst abzubauen. Da ihnen
aufgefallen ist, dass Cora in letzter Zeit vor allem Ben gegenüber
auch tagsüber sehr anhänglich ist, führen sie ein paar allgemeine
Trennungsrituale ein. Sie mimen am Tag in Coras Zimmer
Abschiedsszenen, die sie spielerisch und albern gestalten. Cora spielt
gerne mit Puppen, also lässt Matt diese lautstark gegen das
Zubettgehen protestieren und ein Einschlaf-Mantra wiederholen.
Danach ist Cora bereit, es selbst auszuprobieren. Ben kauft einen
bespielbaren Buzzer und nimmt das Mantra sowie Coras Einschlaflied
auf. Cora wirkt erleichtert, als die beiden ihr den Buzzer geben. Dabei
wird Ben und Matt klar, wie verzweifelt sie nachts nach einem
»Zugang« zu ihren Eltern sucht. Die Proteste dauern noch einige
Nächte lang an und werden dann allmählich seltener. Ben und Matt
fällt ein Stein vom Herzen. Der neue Ansatz scheint zu funktionieren,
und Cora macht bemerkenswerte Fortschritte.
Kapitel 29

Kinder, die nicht gerne über


Gefühle sprechen (gefühlsstarke
Kinder)
Die sechsjährige Maura spielt in der Nähe ihrer vierjährigen
Schwester Isla. Dann fängt sie an, Isla an den Füßen zu kitzeln,
geht aber schon bald zu Zwicken und Schubsen über. Ihre Mutter
Angie stellt sich zwischen die Mädchen und sagt: »Maura, ich lasse
dich deine Schwester nicht ärgern. Es geht in Ordnung, dass du
wütend bist, aber ich lasse nicht zu, dass du ihr wehtust.« Schon
explodiert Maura: »Hör auf, das zu sagen! Geh weg! Lass mich in
Ruhe!« Angie reagiert frustriert: »Warum musst du immer gleich
ausflippen?« Maura tobt derweil weiter, tritt nach ihrer Mutter und
schreit: »Ich hasse dich! Ich hasse dich so!«
Angie ist ratlos. Was braucht Maura? Was ist los mit ihr? Wie
konnte die friedliche Stimmung innerhalb von Sekunden in eine
handgreifliche Auseinandersetzung umschlagen?

Manche Kinder empfinden tiefer und kommen schneller auf Touren als
andere. Ihre starken Empfindungen halten auch länger an. Klingelt es
an dieser Stelle bei Ihnen? Erinnert Sie diese Beschreibung an Ihr
eigenes Kind? Dann lassen Sie mich klar und deutlich sagen: Sie
bilden sich das nicht ein. Ihr Kind hat vermutlich öfter Wutausbrüche
als andere Kinder, und sie sind intensiver und dauern auch länger an.
Und noch etwas: Mit Ihrem Kind und mit Ihnen ist alles in Ordnung.
Und noch einmal, denn dieser Satz ist immens wichtig: Mit Ihrem Kind
und mit Ihnen ist alles in Ordnung.
Normalerweise verwende ich nur ungern Etiketten. Aber in diesem
Fall finde ich es für Eltern hilfreich, ihr Kind mit einem treffenden
Ausdruck einschätzen zu können, um leichter Unterstützung zu finden.
Kinder mit besonders intensiven Emotionen nenne ich »gefühlsstarke
Kinder«7. Diese Bezeichnung drückt aus, wie sie die Welt erleben,
und erklärt, warum sie sich oft überfordert und schneller »bedroht«
fühlen als andere und dann mit dem »Kampf-Flucht-Impuls«
reagieren. Ja, der Umgang mit gefühlsstarken Kindern ist nicht ganz
einfach. Und ja, Eltern von gefühlsstarken Kindern brauchen
tatsächlich spezielle Strategien, die auf einem grundlegenden
Verständnis für diese Kinder aufbauen: Wovor haben gefühlsstarke
Kinder am meisten Angst? Was brauchen sie in ihren verzweifeltsten
Momenten, und warum reagieren sie so heftig?
Die Strategien in diesem Buch, die anderen Kindern, ja vielleicht
sogar den Geschwistern von gefühlsstarken Kindern helfen
(Strategien wie Gefühle benennen oder Unterstützung anbieten),
können bei Ihrem gefühlsstarken Kind ein schwelendes Feuer noch
zusätzlich anfachen. Solche Kinder tun sich oft schwer, Hilfe zu
akzeptieren. Sie schreien sofort »Hör auf!«, wenn Sie über Gefühle
sprechen, und kommen schon wegen Kleinigkeiten von null auf
hundert. Merken Sie sich: Sie machen nichts »falsch«. Sie haben
nicht die falschen Worte gewählt oder sich im Ton vergriffen.
Gefühlsstarke Kinder werden von ihren Gefühlen derart schnell
überwältigt, dass sie Ihr unmittelbares Hilfsangebot einfach nicht
annehmen können. Ich weiß, wie frustrierend und kräftezehrend das
ist, wie abgelehnt man sich dabei fühlen kann.
Bestimmt erinnern Sie sich jetzt an ein paar schreckliche Szenen, in
denen Ihnen etwas herausgerutscht ist, das Ihnen im Nachhinein
leidtat. Oder in denen Sie auf eine Art reagiert haben, die bei Ihnen
oder Ihrem Kind ein ungutes Gefühl hinterlassen hat. Atmen Sie tief
durch. Nehmen Sie wahr, wie sich Ihre Schuldgefühle (»Ich bin eine
schlechte Mutter, ein schlechter Vater«) zu Wort melden. Begrüßen
Sie sie, und machen Sie dann die Stimme Ihres Selbstmitgefühls
ausfindig. Lauschen Sie ihr: »Du bist da. Du liest dieses Buch. Du
denkst nach, lernst und bist bereit, etwas Neues auszuprobieren –
das ist großartig von dir!« Wir sind wieder bei unserer ultimativen
Wahrheit angelangt: Sie sind gute Eltern und haben ein gutes Kind,
und Sie beide können schwierige Momente durchleben.
Die gute Nachricht bei alledem: Ich versichere Ihnen, gefühlsstarke
Kinder können lernen, ihre Emotionen zu regulieren, Ruhe zu finden
und den Boden unter ihren Füßen zurückzubekommen. Und sie
können gute Beziehungen zu anderen eingehen. Sie brauchen bloß die
Hilfe ihrer Eltern. Sie brauchen unsere Bereitschaft, neue Methoden
zu erlernen, und unsere feste Überzeugung, dass auch sie
grundlegend gut sind.
Um gefühlsstarke Kinder zu verstehen, müssen wir uns auf die
Evolutionstheorie besinnen. Solche Kinder erleben Scham als
existentielle Bedrohung. Denken Sie daran, Scham versetzt
Menschen in eine urzeitliche Verteidigungshaltung, löst in ihnen den
Instinkt aus, sich zu schützen. Und das tun wir, indem wir erstarren,
andere angreifen oder sie ausschließen. In diesem Zustand erlebt
das Kind die Welt als extrem gefährlich. Selbst der Versuch seiner
Eltern, ihm zu helfen, fühlt sich wie ein Angriff an, weshalb
gefühlsstarke Kinder uns genau dann zurückweisen, wenn sie unsere
Hilfe bräuchten.
Darüber hinaus erleben sich gefühlsstarke Kinder leicht als innerlich
»schlecht«. Sie machen sich Sorgen, dass die Gefühle und
Empfindungen, die sie überrollen, auch für andere unerträglich sind.
Daher fürchten sie die Ablehnung. Gefühlsstarke Kinder verspüren
eine große Angst davor, schlecht zu sein und keine Liebe zu
verdienen. Sie sorgen sich, ob ihre Eltern sie »ertragen«, mit ihnen
»fertigwerden«, ob ihre Eltern dem Sturm standhalten können, wo sie
sich doch selbst völlig verloren fühlen.
Selbstverständlich behalten diese Kinder ihre Ängste immer für sich.
Mir ist kein einziges gefühlsstarkes Kind bekannt, das zu seinen
Eltern gesagt hätte: »Ich fühle mich oft total überwältigt von meinen
Gefühlen und habe Angst, dass sie auch die anderen überrollen.
Deshalb gerate ich so in Panik oder werde aggressiv. Bitte habt
Geduld mit mir und lasst euch nicht beirren. Zeigt mir, dass ich gut
und liebenswert bin und in dieser Welt zurechtkommen kann.« Kein
Kind versteht diese Dynamik. (Ehrlich gesagt würde es auch jedem
Erwachsenen schwerfallen, solche inneren Erfahrungen in Worte zu
fassen). Dennoch sollten Sie sich an diese Erklärung erinnern. Sie
bringt das Wesen unserer gefühlsstarken Kinder auf den Punkt.
Hier ein Beispiel dafür, wie solche intensiven Emotionen zum
Ausdruck kommen: Ihre gefühlsstarke Tochter tut sich schwer mit
dem Teilen. Sie reißt einem Spielgefährten den Teddy aus der Hand
und weigert sich, ihn zurückzugeben. Normalerweise würden Eltern
hier vielleicht eingreifen und sagen: »Ich weiß, teilen ist schwierig! Ich
bin ja da. Komm, ich helfe dir dabei.« Das Kind würde die Hilfe –
Grenzsetzung und Trost – wahrscheinlich annehmen. Ein
gefühlsstarkes Kind jedoch reagiert auf das Hilfsangebot unter
Umständen mit einem heftigen Gefühlsausbruch. In seinem Körper
aktiviert seine Schwäche (»Ich wollte den Teddy. Dann habe ich ihn
mir genommen. Ich wünschte, ich hätte das nicht getan«) intensive
Schamgefühle (»Das hätte ich nicht tun dürfen, ich bin schlecht«). Es
wäre für mich nicht weiter verwunderlich, wenn das Mädchen in
dieser Situation auf den Vermittlungsversuch der Eltern reagiert wie
ein verwundetes Tier, das um sein Überleben kämpft: »Lass mich in
Ruhe!« Oder: »Nein, ich gebe den Teddy nicht zurück. Ich hasse
dich!« In solchen Momenten erschrickt ein gefühlsstarkes Kind selbst
über seine heftigen Gefühle. Nach außen wirkt seine Reaktion aber
unbegründet und hartherzig. Denken Sie daran: Logik hilft uns nicht
weiter, wenn wir Emotionen zu verstehen versuchen, und das trifft
ganz besonders bei gefühlsstarken Kindern zu.
Eltern haben das Gefühl, dass ihr Kind oft schon beim geringsten
Anlass ausflippt, um sich schlägt und frech wird. Deshalb reagieren
sie mit Abwertung und Zurückweisung. Es kann passieren, dass sie
ihr Kind anschreien: »Gut, wenn du meine Hilfe nicht willst, dann eben
nicht!« Oder: »Geh auf dein Zimmer und komm erst wieder heraus,
wenn du dich beruhigt hast!« Oder: »Du übertreibst immer total!«
Und: »Du machst uns andauernd Schwierigkeiten!« Nochmals, wenn
Ihnen dies bekannt vorkommt, sind Sie hier genau richtig. Sie sind
trotzdem gute Eltern. Lesen Sie einfach weiter.
Eine der größten Ängste von gefühlsstarken Kindern ist, dass die
Gefühle, die sie selbst überwältigen, auch anderen zu viel werden:
dass Dinge, die sich so schlimm und unkontrollierbar anfühlen,
tatsächlich auch schlimm und unkontrollierbar sind. Alle Kinder, egal
ob gefühlsstark oder nicht, nehmen wahr, wie die ihnen vertrauten
Erwachsenen auf ihre Gefühle reagieren, und schließen daraus, was
bewältigbar ist und was nicht. Wenn Eltern gefühlsstarke Kinder
anschreien, ausschimpfen oder zurückweisen, verstärkt das deren
fehlregulierte Verhaltensmuster noch.
Kommen wir auf das Beispiel des Mädchens zurück, das seinem
Spielgefährten den Teddy weggenommen hat. Sagen wir, es hat auf
das Eingreifen seines Vaters hin geschrien: »Ich hasse dich!« Was
dieses gefühlsstarke Kind eigentlich sagt, ist: »Ich habe die Kontrolle
verloren. Ich habe den Teddy genommen, weil ich ihn so sehr wollte,
dass ich mich nicht beherrschen konnte. Und jetzt hat mich auch noch
die Angst gepackt, schlecht und nicht liebenswert zu sein. Dadurch
fühle ich mich bedroht. Mein Körper ist im Alarmzustand, sodass ich
mich unbedingt schützen muss.« In diesem Moment braucht das
gefühlsstarke Kind nichts so sehr wie das Verständnis seines Vaters:
Er sollte sich bewusst sein, dass seine Tochter zwar nach außen hin
die Kontrolle verloren hat und vielleicht auch zum Angriff bereit ist.
Innerlich aber herrscht ein Gefühl der Bedrohung, Angst und
Überforderung vor. Dieses Kind braucht die Unterstützung seiner
Eltern, aber es ist unfähig, direkte Hilfe anzunehmen, solange es
rundherum alles als feindlich empfindet. Eltern von gefühlsstarken
Kindern müssen lernen, »den Raum zu halten« – ganz konkret heißt
das: präsent zu sein und zu bleiben, damit das Kind erkennt, dass
seine intensiven Gefühle nicht die ganze Welt plattmachen, sodass es
am Ende allein ist. Eltern von gefühlsstarken Kindern müssen sich
damit begnügen, den Schaden zu begrenzen, statt das Problem lösen
zu wollen. Entscheidend ist, dass sie die Kämpfe ihres Kindes in
einem größeren Rahmen sehen können, statt sich nur auf das zu
konzentrieren, was an der Oberfläche passiert.

Die Strategien
Neugier statt Vorwürfe
Wenn wir Eltern uns im Vorwurfsmodus befinden, sind wir uns nicht im
Klaren, ob wir selbst oder unser Kind die Schuld an dem Verhalten
tragen. Wir sagen uns: »Etwas stimmt nicht mit mir. Ich verkorkse
mein Kind für immer und ewig.« Oder: »Etwas stimmt nicht mit
meinem Kind. Es ist nicht normal und wird immer so bleiben.« Wird
unser Verhalten hingegen von Neugier bestimmt, stellen wir ganz
andere Überlegungen an: »Ich möchte wissen, was in meinem Kind
vorgeht.« Oder: »Mein Kind fühlt sich vermutlich so, wie es sich
benimmt. Es wird also von seinen Gefühlen überwältigt und empfindet
sich als ›schlecht‹! Was ist da los? Was braucht mein Kind?«
Wenn Ihr gefühlsstarkes Kind Sie vor eine Herausforderung stellt,
richten Sie den Blick zuerst nach innen. In welchem Modus sind Sie
gerade? Begrüßen Sie Ihre Selbstvorwürfe: »Hallo, Selbstvorwürfe,
ich sehe, ihr wollt das Ruder übernehmen! Bitte tretet einen Schritt
zurück, damit ich zu meiner Neugierde finden kann. Ich weiß, dass sie
da ist.« Anschließend können Sie anfangen, Fragen zu stellen.

Zuallererst: Eindämmen
Gefühlsstarke Kinder haben heftige Ausbrüche. Häufig flippen sie
gründlich aus, schlagen um sich, treten, werfen mit Gegenständen
und sind völlig außer sich. Was sie in diesem Zustand zuerst von uns
brauchen, ist, dass wir das Feuer eindämmen. Atmen Sie tief durch
und rufen sich in Erinnerung, dass Sie in erster Linie für die Sicherheit
Ihres Kindes verantwortlich sind. In solchen Momenten bedeutet das,
das Kind aus der Situation herauszuholen, es in einen kleineren Raum
zu bringen, sich mit ihm hinzusetzen und dem emotionalen Sturm
standzuhalten.
Sicher, Ihrem Kind wird das überhaupt nicht gefallen. Es wird
protestieren und betteln: »Nein, warte, ich will jetzt nicht weg! Ich
beruhige mich ja schon!« Nun sind wir am entscheidenden Punkt
angelangt: SIE MÜSSEN DAS JETZT DURCHZIEHEN! Und zwar
nicht, weil Sie »gewinnen« wollen, nicht weil Ihr Kind Sie absichtlich
provoziert, nicht um Ihrem Kind zu zeigen, »wer hier das Sagen hat«.
Sie dürfen nicht nachgeben, weil Ihr Kind sehen muss, dass sein
Kontrollverlust nicht auf Sie übergreift. Sie müssen ihm zeigen, dass
Sie die Zügel fest in der Hand halten und ihm in schwierigen
Situationen helfen können. Ihr Kind wird darauf bestehen, nicht in sein
Zimmer gebracht zu werden, aber das ist nur Fassade. In Wirklichkeit
will es Ihnen etwas ganz anderes sagen: »Ich brauche jetzt
jemanden, der die Kontrolle übernimmt, weil ich momentan nicht in
der Lage bin, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Bitte sei du
mein Anker. Bitte zeige mir, dass meine überwältigenden Gefühle
nicht ansteckend sind.«
Beschreiben Sie Ihrem Kind also, was gerade vor sich geht: »Ich
trage dich jetzt in dein Zimmer. Du bekommst keinen Ärger. Ich setze
mich zu dir. Du bist ein gutes Kind, das gerade einen schwierigen
Moment durchlebt.«

»Du bist ein gutes Kind, das es gerade schwer hat«


Das Wichtigste überhaupt ist vielleicht, dass gefühlsstarke Kinder
spüren, wie wir sie in schwierigen Momenten wahrnehmen.
Gefühlsstarke Kinder sind so überwältigt von ihren eigenen Gefühlen
und bestürzt über ihre eigene »Schlechtigkeit«, dass ihre Antennen
jedes noch so kleine Signal von ihren Eltern aufnehmen, das ihre
tiefsten Ängste bestätigt. Die »Gutes Kind, das es gerade schwer
hat«-Strategie ist nicht einfach – es gibt keine hundertprozentige
Ansage, was Sie wann tun müssen. Aber Sie sollten in diesen
schwierigen Augenblicken, in denen Sie am liebsten mit Ablehnung
reagieren würden, ein Bild vor Ihrem inneren Auge haben: das eines
Kindes, das leidet und Angst hat. Das Bewusstsein, ein gutes Kind zu
haben, das es gerade schwer hat, löst in uns den Wunsch aus, ihm zu
helfen. Die Vorstellung »Böses Kind, das böse Dinge tut« hingegen
verleitet uns zum Verurteilen und Strafen. Den Satz: »Du bist ein
gutes Kind, das gerade einen schwierigen Moment durchlebt« können
Sie in jeder schwierigen Situation aussprechen, er ist aber auch im
Nachhinein hilfreich. Zum Beispiel so: »Ich weiß, das war hart für dich
vorhin. Ich weiß, dass du ein gutes Kind bist und einen schwierigen
Moment hattest. Ich habe dich lieb, und das wird immer so bleiben.«
Sie können das auch zu einem Mantra für sich selbst machen, um
die Ruhe zu bewahren, wenn Ihr Kind zu kämpfen hat: »Ich habe ein
gutes Kind, das es gerade schwer hat. Ich habe ein gutes Kind, das
einen schwierigen Moment durchlebt.« Manchmal ist das Beste, was
wir für unsere Kinder tun können, sie mit viel Liebe zu betrachten – in
dem Wissen, dass wir ihnen in ihren Gefühlsstürmen beistehen.

Präsent sein und abwarten


Selbst wenn Sie alle anderen Strategien im Umgang mit einem
gefühlsstarken Kind vergessen, denken Sie immer an eines: Nichts
zeigt so viel Wirkung wie Ihre Präsenz. Sie stellt zweifellos Ihr
wichtigstes »Instrument« zur Erziehung dar. Wenn Sie liebevoll und so
ruhig wie möglich präsent sind, kommen Sie ganz ohne Worte oder
raffinierte Drehbücher aus. Mit Ihrer Anwesenheit vermitteln Sie dem
Kind die Botschaft: »Du erschreckst mich nicht, du bist nicht böse. Ich
bin hier bei dir, weil du gut und liebenswert bist.« Wir müssen unseren
Kindern zeigen, dass sie uns nicht »zu viel« sind, dass sie uns nicht
aus dem Gleichgewicht bringen. Was alle Kinder, und ganz besonders
gefühlsstarke, in schwierigen Momenten brauchen, ist unsere
körperliche Nähe. Unsere Gegenwart vermittelt besser als alle Worte:
»Du bist gut. Du bist liebenswert. Du bist mir nicht zu viel. Du bist
nicht allein. Ich habe dich lieb und bin für dich da.« Genau das sind
die Botschaften, nach denen sich unsere gefühlsstarken Kinder
sehnen. Allerdings kommen sie oft nur auf Umwegen bei ihnen an.
Natürlich heißt Präsenz nicht, dass wir uns schlagen lassen oder uns
einer Gefahr aussetzen. Sie dürfen sich ruhig eine Auszeit nehmen.
Sitzen Sie zum Beispiel mit Ihrem Sohn in seinem Zimmer, während er
einen heftigen Wutanfall hat, können Sie eine »Eltern-Auszeit« mit
folgenden Worten einleiten: »Ich habe dich lieb. Ich muss meinem
Körper Raum geben für ein paar tiefe Atemzüge, deshalb gehe ich
kurz vor die Tür und komme dann zurück.« Das ist etwas ganz
anderes, als zu schreien: »Ich halte es nicht aus mit dir, wenn du dich
so aufführst!« Wenn Sie eine Pause brauchen, gilt es, ein paar
wichtige Punkte zu beachten: Erklären Sie Ihr Bedürfnis, Ihren Körper
zu beruhigen. Vermeiden Sie Vorwürfe. Sagen Sie ganz klar, dass Sie
zurückkommen.

Daumen hoch/runter/zur Seite


Gefühlsstarke Kinder sprechen normalerweise nur sehr ungern über
ihre Emotionen. Es macht ihnen Angst, ist zu intensiv, geht zu sehr an
die Substanz. Für gefühlsstarke Kinder sind Gefühle massiv mit
Verletzlichkeit verbunden. Und diese Verletzlichkeit ist, wie wir
wissen, eng mit Scham verbunden, so dass sie sich lieber einigeln.
Was können wir also tun? Wie können wir mit Kindern über Gefühle
sprechen, wenn sie nicht wollen? Es wäre doch so wichtig, um ihnen
zu zeigen, wie sie ihre Emotionen regulieren können! Führen Sie beim
nächsten Mal, wenn Sie mit Ihrem Kind über etwas sprechen, das mit
Gefühlen zu tun hat, Signale ein: Daumen hoch, Daumen runter,
Daumen zur Seite. Zum Beispiel so: »Lass uns mal etwas anderes
machen. Leg dich hin und schau mich nicht an. Wir haben überhaupt
keinen Blickkontakt. Ich versuche jetzt, deine Gedanken zu erraten.
Wenn ich richtig rate, zeigst du mit dem Daumen nach oben. Wenn
nicht, zeigst du nach unten. Wenn etwas, was ich sage, halb richtig
und halb falsch ist, dann halte den Daumen zur Seite.« Ihr Kind will
sich dabei unter dem Bett verstecken? Nur zu! Es wird dabei nicht
ganz zu sehen sein, was ihm helfen kann … sichtbarer zu werden.
Dann behaupten Sie irgendetwas Unsinniges, bei dem Sie sich
sicher sind, dass der Daumen nach unten geht. Zum Beispiel: »Heute
habe ich mich ziemlich über meine Schwester geärgert, weil sie mit
fünfhundert Kugeln Eis heimgekommen ist und mir nur eine
abgegeben hat.« Wahrscheinlich schmunzelt Ihr Kind jetzt oder lacht
leise. Humor ist ein großartiges Mittel, um Spannungen abzubauen
und jeden Raum zu einem sichereren Ort zu machen.
Nun ist eine Öffnung da, und vielleicht können Sie etwas sagen wie:
»Heute habe ich mich ziemlich über meine Schwester geärgert. Es ist
hart, eine jüngere Schwester zu haben, manchmal wünschte ich mir,
ich wäre ein Einzelkind.« Pause. Warten Sie ab. Wenn Sie eine
Antwort oder einen Daumen nach oben erhalten, machen Sie weiter,
ohne das Resultat zu kommentieren. Wahrscheinlich ist es ohnehin
ganz neu für Sie, dass Sie überhaupt ein Echo erhalten. Sagen Sie
also höchstens: »Das habe ich gehört« Oder: »Ich habe verstanden.«
So bringen Sie Ihr Kind Schritt für Schritt dazu, Gefühle,
Verletzlichkeit und Verbundenheit auszuhalten.

Und wie hilft das alles jetzt Maura und Angie?


Angie erinnert sich daran, dass zuerst das Eindämmen kommt. Sie
geht auf Maura zu und sagt: »Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer.
Das ist nicht schlimm. Ich setze mich zu dir. Du bist ein gutes Kind,
das einen schwierigen Moment durchmacht, und ich habe dich lieb.«
Maura sträubt sich und schreit: »Nein! Nein! Nein!« Aber Angie
erinnert sich daran, dass sie Maura auf diese Weise zeigt, dass sie
die Situation unter Kontrolle hat und sich nicht vor ihrer Tochter
fürchtet. Im Zimmer angelangt, schließt Angie die Tür und setzt sich
hin. Statt zu versuchen, etwas an Mauras Zustand zu verändern,
konzentriert sie sich zuerst darauf, ihren eigenen Körper zur Ruhe zu
bringen. Sobald sie sich ruhiger fühlt, sagt sie ihrer Tochter, dass sie
jetzt kurz nach ihrer Schwester sieht und dann zurückkommen wird.
Bevor sie das Zimmer verlässt, sagt Angie: »Ich habe dich lieb. Alles
ist in Ordnung. Ich habe dich lieb.« Nachdem sie Isla erklärt hat, dass
Maura es gerade schwer hat und sie für eine Weile braucht, geht
Angie ins Zimmer zurück und wartet, bis Mauras Gefühlssturm sich
gelegt hat. Sie wiederholt in Gedanken immer wieder: »Mit mir ist
alles in Ordnung. Mit mir ist alles in Ordnung, ich kann mit dieser
Situation umgehen.« Später am Abend, wenn sich die Lage beruhigt
hat, spielt Angie das Daumen-Spiel mit Maura. Sie ist überrascht,
dass Maura tatsächlich mitmacht, und erfährt, dass ein älteres Kind
Maura auf dem Pausenhof in der Schule geschubst hat. Angie weiß,
dass das Mauras Aggressivität gegenüber ihrer Schwester nicht
rechtfertigt, aber diese Information hilft ihr, Maura besser zu
verstehen: Sie ist ein gutes Kind, das einen schwierigen Moment
erlebt.
Zu guter Letzt
Wir haben uns hier mit unglaublich vielen Problemen beschäftigt.
Information kann hilfreich sein, sie kann einen aber auch überrollen.
Denn während wir Neues dazulernen, machen wir uns gleichzeitig
Vorwürfe darüber, wie wir Dinge in der Vergangenheit angepackt
haben. Denn sobald wir denken: »Wow, ich wäre nie darauf
gekommen, mit meinem Kind so zu reden. Klingt sinnvoll und fühlt sich
wahrscheinlich auch besser an«, mischen sich auch Schuldgefühle in
die neuen Erkenntnisse: »Ich bin eine schreckliche Mutter/ein
schrecklicher Vater.« Oder: »Bestimmt habe ich mein Kind jetzt für
immer verdorben.« Mitunter sind diese Gefühle und Gedanken so
stark, dass wir innerlich erstarren und den Blick von dem abwenden,
was wir für den Ursprung unseres Schmerzes halten – die neuen
Informationen. Das ist ein Teufelskreis: Wir wollen unser Verhalten
ändern → Wir verurteilen uns dafür, wie wir Erziehungsfragen bisher
gelöst haben → Wir erleben eine Flut stressauslösender Gefühle und
Gedanken → Wir wenden uns ab vom Wandel, um diesen negativen
inneren Erfahrungen zu entgehen → Wir machen mit den alten
Verhaltensmustern weiter.
Ich habe ein paar Ideen, wie wir diesen Teufelskreis durchbrechen
können. Sie wurzeln alle in dem Grundprinzip, das für mich über allem
steht: dem grundlegenden Gutsein. Denn eines weiß ich mit
Sicherheit über Sie: Sie sind grundlegend gut. Ich möchte das noch
einmal sagen, weil es sich so simpel anhört. Aber diese paar Worte
machen einen himmelweiten Unterschied. Sie sind grundlegend gut.
Wenn Sie Ihre Kinder anschreien, sind Sie grundlegend gut. Wenn Sie
versprechen, abends rechtzeitig zu Hause zu sein, um die Kinder ins
Bett zu bringen, und dann doch Überstunden machen, sind Sie
grundlegend gut. Wenn Sie Ihr Kind zu spät von der Schule abholen
und sich, statt sich zu entschuldigen, beschweren, dass es nicht zu
schätzen weiß, was Sie alles für Ihr Kleines tun, sind Sie grundlegend
gut. In diesem Moment, in dem Sie diese Seiten lesen und über
Veränderungen nachdenken bzw. sich mit schmerzlichen Gefühlen
auseinandersetzen … sind Sie ganz sicher grundlegend gut. Sie
gehören zu einer weitreichenden Bewegung von Erwachsenen, die
sich auf ihr grundlegendes Gutsein besinnen, weil sie sehen, dass
dies uns zu besseren Menschen macht.
Vergessen Sie nicht: Wir müssen unser grundlegendes Gutsein
spüren, damit sich etwas ändert. Ich weiß, das ist paradox. Wir
müssen nett zu uns sein und akzeptieren, wer wir heute sind, um den
Mut aufzubringen, uns morgen zu verändern. Wandel ist nicht möglich,
solange wir uns schuldig fühlen und uns schämen. Das funktioniert
nicht – nicht beim Elternsein und auch in keinem anderen
Lebensbereich. Ich glaube, wir alle wissen das intuitiv … die meisten
von uns haben jahrelang versucht, sich zu ändern, während sie sich
selbst verurteilt haben! So geht das aber nicht. Unser Körper wird mit
einer negativen Selbstwahrnehmung nicht fertig – sich schlecht zu
fühlen heißt auch, dass wir uns für »unverbindbar« mit anderen
Menschen halten. Unsere Fähigkeit zur Entwicklung hängt aber davon
ab, dass wir Bindungen herstellen können. Sobald wir uns schlecht,
nicht liebenswert oder wertlos fühlen, richtet sich all unsere Energie
darauf, diesem Gefühl zu entkommen. Dann bleibt keine Energie
mehr übrig, um sich zu ändern und Neues auszuprobieren! Kein
Wunder, dass Veränderungen so schwer sind.
Der entscheidende Punkt ist hier, die Schuld- oder Schamgefühle zu
akzeptieren und sie als Teil des Wandels zu betrachten. Wir müssen
uns mit diesen Gefühlen anfreunden, weil sie ein Zeichen dafür sind,
dass wir Fortschritte machen! Wie aber stellen wir das an?
Hier kommt mein zweites Grundprinzip zum Tragen: Beides ist wahr!
Wir müssen uns für zwei scheinbar gegensätzliche Wahrheiten öffnen.
Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, und ich bin
grundlegend gut. Ich fühle mich schuldig über mein elterliches
Verhalten in der Vergangenheit und habe Hoffnung für die Zukunft. Ich
tue schon immer mein Bestes und ich will mich verbessern.
Halten Sie nun einen Moment inne, und finden Sie Ihre eigene
»Beides-stimmt-Wahrheit«. Schreiben Sie sie auf, sagen Sie sie laut
vor sich hin, erzählen Sie einem guten Freund davon. Nutzen Sie eines
meiner Beispiele, oder finden Sie einen Satz, der zu Ihnen passt. Es
gibt hier kein richtig oder falsch. Das Ziel ist einfach, zwei Wahrheiten
gleichzeitig zu akzeptieren: eine, die mit Ihren Gefühlen in puncto
bisheriger Elternschaft zu tun hat, und eine, die Ihren Wunsch nach
Veränderung in der Zukunft verkörpert.
Unser Verhalten definiert uns nicht. Sie sind nicht Ihre letzte
Schimpfkanonade. Sie sind ein Mensch – ein guter Mensch –, der
kürzlich herumgebrüllt hat. Sie sind nicht Ihre Sturheit. Sie sind ein
Mensch – ein guter Mensch –, der stur sein kann, um sich selbst zu
schützen. Sie sind nicht Ihre Ungeduld. Sie sind ein Mensch – ein
guter Mensch –, der manchmal ungeduldig wird, wenn er
Schwierigkeiten hat. Dass Sie Ihr grundlegendes Gutsein erkannt
haben, heißt nicht, dass Sie für Ihr Verhalten nicht verantwortlich sind.
Ganz im Gegenteil: Sich in Ihrem grundlegenden Gutsein zu
verankern, erlaubt Ihnen überhaupt erst, die Verantwortung für Ihr
Tun zu übernehmen. Sobald wir unser grundlegendes Gutsein
akzeptieren (»Ich bin grundlegend gut. Ich bin grundlegend gut. Ich
bin grundlegend gut.«), können wir unser Verhalten mit mehr
Ehrlichkeit und Reflexionsvermögen betrachten.
Machen wir das doch einmal gemeinsam! Achten Sie darauf, dass
Sie guten Bodenkontakt haben. Legen Sie die Hand aufs Herz und
sagen Sie laut: »Ja, ich habe Verschiedenes getan, von dem ich mir
heute wünsche, ich hätte es nicht gemacht. Ich habe mich mitunter so
verhalten, dass ich nicht gerade stolz darauf bin. Das alles sind
Dinge, die ich getan habe. Das zeigt aber nicht, wer ich bin. Es
bedeutet nicht, dass ich keine Verantwortung dafür trage. Ganz im
Gegenteil: Es macht mich überhaupt erst verantwortungsbewusst.
Nur dann kann ich etwas ändern. Ich bin ein guter Mensch, der
Sachen gemacht hat, die nicht so gut waren. Ich bin aber immer noch
ein guter Mensch. Ich bin grundlegend gut. Ich war immer schon
grundlegend gut, und ich werde grundlegend gut bleiben.« Lassen Sie
diese Worte einsinken.
Viele Menschen haben ein Selbstbild entwickelt, in dem sie sich als
nicht gut sehen. Wenn wir uns klarmachen, dass wir in Wirklichkeit
grundlegend gut sind, ist dies ein … nun ja, ein radikaler Schritt.
Darin liegt die ganze Macht dieses Buches und der Bewegung,
deren Teil Sie hiermit geworden sind. Denn dieses Buch ist weniger
ein Handbuch für Eltern, sondern vielmehr eine Anleitung, um sich
grundlegend gut zu fühlen, in allen Lebensbereichen. Ihr inneres
Gutsein ist der Schlüssel zum Wandel – zuerst in Ihnen und danach in
den zwischenmenschlichen Beziehungen zu Ihren Kindern. Sobald wir
unsere grundlegende innere Güte spüren, sehen wir auch das Gute
an unseren Kindern. Das heißt nicht, dass wir laxe Eltern werden –
absolut nicht. Aber es macht uns zu Eltern, die mit beiden Beinen fest
auf dem Boden stehen und führen können. Eltern, die in schwierigen
Momenten Grenzen setzen können, während sie sich ihren Kindern
gleichzeitig voller Empathie zuwenden. Wir treten für eine neue, ja
revolutionäre Idee ein: Sie sind immer noch ein guter Mensch, auch
wenn Sie Schwierigkeiten haben. Denn beides ist wahr.
Sie sind Teil einer umfassenderen Bewegung. Ich hoffe, Sie halten
jetzt einen Moment inne und loben sich dafür. Selbstreflexion ist
schwierig und mutig. An sich zu arbeiten, während man gleichzeitig
Kinder großzieht, ist besonders aufreibend. Es fühlt sich schwer
an … weil es schwer ist. Daran sollten Sie sich immer wieder
erinnern. Und auch an dies: Sie sind nicht allein. Sie sind Teil einer
Community von Millionen anderer Eltern, die Ihren Weg verstehen und
nachfühlen können, die Ihr grundlegendes Gutsein sehen und es Ihnen
zurückspiegeln, wenn Sie selbst es gerade nicht finden können.
Danke, dass Sie mich in Ihr Heim eingeladen haben. Es war mir eine
Ehre, so viele von Ihnen kennenlernen zu dürfen, Ihre Geschichten zu
hören und von Ihren Problemen und Erfolgen zu erfahren. Mir ist
innerhalb dieser Eltern-Community ein überwältigendes Gefühl der
Hoffnung begegnet. Sie haben mir gezeigt, dass ein konstruktiver,
generationsübergreifender Wandel nicht nur möglich ist, sondern
schon aktiv umgesetzt wird. Und Sie sind ein Teil dieser Bewegung.
Sie sind umwerfend. Ich bin gespannt, was wir gemeinsam noch alles
schaffen werden.
Danksagung
Es gibt so viele Menschen, denen ich danken möchte, weil sie dieses
Buch durch ihre Ermutigung und Unterstützung möglich gemacht
haben.
Zuallererst möchte ich meinem Mann danken. Dein Glaube an mich
ist der Motor, der all dies in Bewegung gebracht hat. Wie viele Jahre
hast du schon zu mir gesagt, ich solle endlich ein Buch schreiben? Am
Ende habe ich doch auf dich gehört. Du warst es, der zuerst bemerkt
hat, dass ich leidenschaftlich gerne versuche, Kinder und Familien zu
verstehen. Du warst es, der mir geraten hat, dieses Interesse zu
etwas Größerem auszubauen. Du hast etwas in mir gesehen, lange
bevor ich es selbst bemerkt habe. Ich fühle mich stark, weil du an
mich glaubst. Du bist wirklich die erdende Kraft in meinem Leben. Du
hast diese unglaubliche Gabe, dich auf die Gegenwart zu
konzentrieren, statt auf all das, was morgen zu tun ist. Du hast mir
geholfen, aus dem Gedankenkarussell der Sorge und Angst
auszusteigen, und mir gezeigt, wie man die Füße auf dem Boden
behält und Dankbarkeit und Optimismus entwickelt. Ich finde es toll,
wie du dein Augenmerk stets auf alles richtest, was gutgehen kann –
nicht auf das, was schiefgehen könnte. Und wie du das große Ganze
nie aus den Augen verlierst, wie du die Menschen in deinem Umfeld
zum Lachen bringst, wie du so viel Wissen über alles Mögliche
zusammenträgst und wie schlagfertig du sein kannst. Und wie du mir
immer und unter allen Umständen den Rücken stärkst. Dich zu
heiraten war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Du
bist der beste Partner, den ich mir vorstellen kann. Ich liebe dich so
sehr.
Und natürlich danke ich meinen Kindern. Nichts ist mir wichtiger, als
eure Mutter zu sein. Was mich am meisten erstaunt, ist, wie sehr ihr
euch unterscheidet – voneinander, aber auch von mir und eurem
Vater. Ich sehe so gerne zu, wie ihr zu selbstständigen Menschen
werdet, euren Weg findet, entdeckt, was euch liegt. Ich spiele zu
gerne Brettspiele mit euch, male mit euch und tue so, als wäre ich
Feuerwehrfrau. Ich liebe die Momente, wenn ihr längst schlafen
solltet und mich trotzdem bittet, dass ich mich zu euch setze, euch die
Schultern massiere und wir über alles reden, was an diesem Tag
passiert ist. Dinge, über die ihr erst in diesem Moment reden wollt.
Ich genieße euer Selbstbewusstsein – ihr wisst, wer ihr seid, wie ihr
euch fühlt, was ihr mögt und wie ihr euch für eure Wünsche einsetzen
könnt. Danke, dass ihr mich in allen Dingen unterstützt habt, die mit
Good Inside zu tun haben. Ich weiß, dass es nicht leicht war, dass ich
noch mehr gearbeitet habe oder wenn ich in Gedanken immer beim
Schreiben, beim Ideen festhalten oder bei meinen Videos war … Ich
finde es toll, dass wir über all das reden können, dass ihr mich daran
erinnert, mein Handy wegzulegen, und an das, was am wichtigsten
ist: die Familie.
Ich danke meinen Eltern. Danke für eure bedingungslose Liebe, die
zweifelsohne die Grundlage für meine Überzeugung war, meine
Gedanken seien es wert, mit der Welt geteilt zu werden. Ihr habt mir
immer das Gefühl gegeben, »grundlegend gut« zu sein, und das ist
mit Sicherheit das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen
können. Danke für all das, was ihr zu meinem »Karrieresprung«
beigetragen habt: das Kinder-Taxi, Botengänge und all die Nächte, in
denen eure Enkel bei euch schlafen durften. Dass ihr euch an der
Kindererziehung beteiligt, ist wunderbar. Es erlaubt mir, zu arbeiten,
ohne von mütterlichen Schuldgefühlen betäubt zu werden. Ich liebe
euch so sehr, dass ich nie die richtigen Worte finden werde, um euch
für alles zu danken, was ihr mir gegeben habt.
Ich danke meiner Schwester und meinem Bruder. Vom ersten Tag
an, an dem ich mit dem Instagram-Account angefangen habe, wart ihr
beide meine größten Fans und habt für mich die Werbetrommel
gerührt. Ihr habt mich in eure Communitys eingeführt, habt mir
Feedback gegeben und mich gelobt, wann immer ich etwas Neues
anfing. Wir wissen alle, dass das Leben unter Geschwistern nicht
immer einfach ist. Von euch beiden aber habe ich immer nur Liebe
und Unterstützung bekommen, auf der ganzen irren Reise. Ich
empfinde tiefe Liebe für euch beide. Ein dickes Dankeschön auch an
meine beiden Schwägerinnen und meine beiden Schwager. Ich hatte
echt Glück, euch als neue Familienmitglieder begrüßen zu dürfen. Ich
weiß eure Freundschaft sehr zu schätzen. Ein Dankeschön auch an
die Eltern meines Mannes für ihre endlose Liebe, ihre Offenheit und
ihre Hilfe. Und an Jordan, der auch zur Familie gehört. J, danke für
alles, was du auf dich nimmst, damit unser Leben glattläuft. Du liegst
uns sehr am Herzen. Wir alle haben dich lieb.
Ein herzliches Dankeschön an Erica, die Mitbegründerin der Good
Inside Community. Sie kann einfach alles und erledigt all die
unsichtbaren Arbeiten, die Good Inside zu dem gemacht hat, was es
heute ist. Dass wir uns gefunden haben, war Schicksal. Du bist das
Yin zu meinem Yang – die Nachdenklichkeit, die meine Tatkraft
ergänzt, die Besonnenheit zu meiner Eile, die Frau, die nach meinen
Vorstößen die Einzelteile des Puzzles zusammensetzt. Ich bewundere
dich. Ich vertraue dir. Ich respektiere dich, und ich bin so gern mit dir
zusammen. Ich hätte mir keinen besseren Menschen an meiner Seite
wünschen können. Ohne dich könnte ich nicht tun, was ich mache. Ein
dickes Dankeschön gebührt auch dem Team von Good Inside – für
eure Leidenschaft, eure Energie, eure Hingabe, eure Offenheit, euren
Einsatz und euren Glauben an die Mission, Eltern in ihrer Rolle zu
stärken.
Ich danke meinem Buchteam. Amy Hughes: Du hast mich auf Anhieb
fasziniert. Wirklich. Du weißt einfach, was ich möchte, und du hast die
Buchidee verstanden, weil du sofort begriffen hast, dass Good Inside
kein einfacher Instagram-Account ist, sondern eine globale
Bewegung. Danke für deine Unterstützung, deine SMS und Anrufe,
deine strategische Planung, deine Freundschaft. Rachel Bertsche: Du
hast meinen Schreibprozess massiv einfacher gemacht. Du hast
meine Texte in die Hand genommen und aus ihnen durch die richtigen
Korrekturen und Vorschläge eine wahre Geschichte gemacht – eine
Geschichte von Güte, Hoffnung und praktischen Hilfestellungen. Zu
sagen, es war eine Freude mit dir zu arbeiten, wäre eine maßlose
Untertreibung – ich hatte das Gefühl, du hast ganz genau verstanden,
was ich sagen wollte. Du hast mir geholfen, meine Schreibstimme zu
verfeinern und hast am Ende noch den Feinschliff besorgt, der alles
abrundete. Julie Will: Danke, dass du an mich geglaubt hast, noch
bevor wir miteinander gesprochen haben. Du warst eine meiner
Followerinnen auf Instagram und wusstest, dass ich dieses Buch
würde schreiben können. Mit dir zu arbeiten war ein Traum. Emma
Kupor: Ich danke dir für deine Organisationsgabe, deine
Begeisterung und deine Ausdauer bis zum Schluss. Yelena Nesbit und
das Marketingteam von Harper: Danke, dass ihr an mich geglaubt
habt und dazu beigetragen habt, dass dieses Buch so vielen
Menschen helfen kann.
Tenley, Sarah, Carolyn, Kristen und Tiffany: Ich stehe für immer in
eurer Schuld, denn ihr habt mein Denken über die Beziehung
zwischen Eltern und Kinder massiv geprägt. Ihr habt mir gezeigt, wie
man sinnvolles Lernen und tiefe Verbundenheit zusammenbringt.
Danke für eure Offenheit, eure Verletzlichkeit, eure Neugier, eure
Wärme und für all die Tränen und das Lachen. Und natürlich dafür,
dass ihr für mich den Namen »Dr. Becky« gefunden habt. Danke, weil
ihr mich an eurem Muttersein und an euren Wegen zum Wachstum
habt teilhaben lassen und dadurch das meine unterstützt habt. Ich
habe so viel Liebe und Respekt für jede von euch in meinem Herzen.
Danke an alle langjährigen Klient*innen meiner Praxis. Sie haben mir
gezeigt, wie geschickt kleine Kinder sich an ihre Familiensysteme
anpassen und wie clever Erwachsene sein können, wenn es um
Entwicklung, Veränderung und den Aufbau von Resilienz geht. Sie
waren meine wichtigsten Lehrer. Danke, dass Sie mich in Ihr Leben
eingeladen haben, Ihre schmerzlichsten Wahrheiten mit mir geteilt
haben, mir vertraut haben und offen zu mir waren, als ich einen neuen
beruflichen Weg einschlug, den so niemand erwartet hatte. Ein
herzliches Dankeschön auch an meine Kolleg*innen, die mir als
Mentor*innen und Supervisor*innen zur Seite gestanden haben. Ich
bin so dankbar für die Stunden kluger Gespräche, die mein Denken
geprägt haben. Und Ron: Niemand hat mir mehr geholfen, mich selbst
besser kennenzulernen und den Weg in eine neue berufliche Welt
erfolgreich einzuschlagen.
Allerdings brächte ich absolut nichts zustande ohne mein Team
emotionaler Unterstützer: meine besten Freunde. Ich finde es toll,
dass absolut niemand von euch weiß, was ich in den sozialen Medien
mache, und dass ich für euch einfach weiterhin Becky geblieben bin.
Danke für eure SMS und dafür, dass ihr die ganze Stadt durchquert,
um mit mir einen Kaffee zu trinken. Danke für all eure Hilfe.
Zu guter Letzt möchte ich allen Mitgliedern der Good Inside
Community danken. Ganz ehrlich: Ohne euch gäbe es diese
Bewegung nicht. Ihr inspiriert mich jeden Tag – mit euren
Geschichten, eurem Mut, eurer Verwundbarkeit, eurer Leidenschaft,
eurem Vertrauen. Denn beides ist wahr: Wir haben schon so viel
zusammen geschafft. Aber das ist trotzdem nur die erste Runde. Also
macht euch bereit für das, was noch kommt. Für uns alle!

Wachstum erfordert drei Dinge: Motivation, Lernen und


Verbundenheit. Sie haben dieses Buch gelesen, was heißt, dass Sie
motiviert sind und lernen wollen.
Was die Verbundenheit angeht, so freue ich mich, Ihnen einen
Rabatt auf die Jahresgebühr von Good Inside anbieten zu können:
die (englischsprachige) Plattform, auf der Eltern lernen, sich
austauschen und gemeinsam wachsen können.
Scannen Sie den QR-Code und erfahren Sie mehr!

Ich kann es kaum erwarten, Sie in unserer Gemeinschaft zu


begrüßen.
Register
-Grad-Wendung (Spiel und Strategie)
A
Abendessen
Abschiede, siehe Trennungsangst
Abwarten und später reagieren (Strategie)
Abwertung
Achtsamkeit
Adrenalin (Stresshormon)
Aggressionen siehe auch Wut und Wutanfälle
Albern sein (Strategie)
Anders-Machen siehe auch Wiedergutmachung
Anerkennen
Ängste, siehe auch Trennungsangst
– ansprechen (Strategie)
– Essen und
– gefühlsstarker Kinder
– Grundlagen
– Loch als Angst-Metapher (Strategie)
– Mantras
– schambedingte
– Trockenübungen (Strategie)
– unbeantwortete Fragen und
– Verlassenwerden
– vor der Angst
Annehmen, Anerkennen, Zulassen (Strategie)
Anwesenheit spürbar machen (Strategie)
Anziehen (Beispiele)
Appelle
Arbeitsbeginn (Beispiele)
Arbeitsplatz (Beispiele)
Arztbesuch (Trockenübung)
Atmen (als Strategie) siehe auch einzelne Beispiele
Auffüll-Spiel (Strategie)
Aufs-Töpfchen-Gehen
Augen-schließen-Trick (Strategie)
Auseinandersetzungen (handgreifliche)
Ausflippen siehe auch Wut und Wutanfälle
Außenleben
Auswahl-Strategie
Auszeit (für Eltern) siehe auch Selbstfürsorge
Autorität zum Ausdruck bringen (Strategie) siehe auch Grenzen
setzen
B
Babys, siehe Frühe Kindheit; siehe Geschwisterrivalität
Baseballmannschaft (Beispiel)
Basketball (Beispiel)
Basteln (Beispiel)
»Bauchgefühl«
Bauklötzchen (Beispiele)
Bedürfnisse aufspüren (Strategie)
Befriedigung individueller Bedürfnisse (Strategie)
Behaviorismus
Beides ist wahr
– als Grundprinzip
– als Strategie
Beißen
Beklemmung
Belohnungen, siehe Lohn-und-Strafe-System
Benennen, was nicht bekannt
Beruf, siehe Arbeit...
Beschreiben (während SOS)
Bestätigung
– als Grundprinzip
– als Strategie
Beziehungen, siehe auch einzelne Themen
– Bindungsfähigkeit
– Grundlagen
– Studien zu
– zw. Erwachsenen
Bild malen (Beispiel)
Bildschirmzeit
– beenden (Beispiele)
– emotionale Impfung und
– zur Selbstfürsorge
Bindungskapital aufbauen (Strategie) siehe auch Verbundenheit
Bindungstheorie
– Grundlagen
– Reaktionen und Lektionen
– Scham und
Bitte wiederholen (Strategie)
Blutabnahme (Beispiel)
Bowlby, John
Bromberger, Philip
Brooks, Robert
Buzzer (Trost-)
C
Co-Abhängigkeit
Cocktailparty (Beispiel)
Coffeeshop (Beispiel)
Corona-Pandemie
Cortisol (Stresshormon)
Cozolino, Louis
D
Dampf ablassen (Strategie)
Daumen-Spiel (Strategie)
Denkmuster, siehe »Nur das eine ist wahr«-Denkweise;
siehe Familiäre Muster; siehe Selbstvorwürfe und -zweifel
Desserts
Diamond, Marian
Distanz (sichere)
Disziplin (klassische)
Doell, Faye
Durchsetzungskraft
Dweck, Carol
E
Ehrlichkeit siehe auch Wahrheit sagen
Eifersucht siehe auch Geschwisterrivalität
Eigene Bedürfnisse erfüllen, siehe Selbstfürsorge
Eindämmen (Strategie)
Eingreifen in gefährlichen Situationen (Strategie)
Einschlafen, siehe Schlafverhalten
Einschüchterung
Eis essen (Beispiele)
Eltern und Elternschaft siehe auch Selbstfürsorge; siehe
auch einzelne Themen und Strategien
Emotionale Impfung (Strategie) siehe auch Gefühle
Empathie
Empfängnis
Ende umschreiben (Strategie)
Entmachtungsgefühle
Entschuldigung sagen siehe auch Wiedergutmachung
»Entschuldigungsstimme«
Entschuldigung verweigern
Entspannungsübung
Erfolg (versus Versuch)
Erinnerung an eigenes Gutsein (Strategie)
Ernährung
Erregungsspirale
Erstgeborene
Erzählen lassen (Strategie) siehe auch Reden; siehe auch einzelne
Themen, Grundprinzipien und Strategien
Erziehung, siehe auch Bindungstheorie; siehe auch einzelne Themen,
Grundprinzipien und Strategien
– Behaviorismus
– evidenzbasierte
– Grundlagen
– Studien zu
– verhaltensorientierte
– Wichtigkeit
Es ist nie zu spät (Grundprinzip)
Essgewohnheiten
Etikettierungen vermeiden (Strategie)
Evidenzbasierte Erziehung
Evolutionstheorie
F
Faber, Adele
Fairbairn, Ronald
Fairness
Familiäre Muster
– Aufopferung
– durchbrechen
– typische
– Umgang mit Scham
– Umgang mit Sexualität
– Umgang mit Tränen
– Umgang mit Verletzlichkeit
Familienfoto
Familiensystem, siehe auch Tonfall
– Essgewohnheiten
– flexibles Selbstbild im
– Grundlagen
– Internal Family Systems (IFS)
– Rollen und Zuständigkeiten (Eltern)
– Rollen und Zuständigkeiten (Kind)
– Verantwortung übernehmen
Familientreffen (Beispiel)
Fangen spielen (Beispiel)
Fantasie und Wirklichkeit
Fehler, sinnvoller Umgang mit (Strategie)
Fehler wiedergutmachen, siehe Es ist nie zu spät; siehe
Wiedergutmachung
Ferienlager (Beispiel)
Fernsehen (Beispiel) siehe auch Bildschirmzeit
Feuer (Beispiel)
Feuer eindämmen (Strategie)
Feuerwehrauto (Beispiel)
Figuren werfen (Beispiel)
Flexibilität (geistige)
Flexibles Selbstbild (Strategie)
Flucht-Kampf-Modus
Foto der Familie
Fragen stellen
– als Strategie
– Grundlagen
– unausgesprochene
– unbeantwortete
Fragen würdigen
Frühe Kindheit
– Prägung
– Wichtigkeit
Frustrationstoleranz
Führungskräfte
Fußballmannschaft (Beispiel)
Fußballtraining (Beispiel)
G
Geborgenheit
Geburtstagsfeiern (Beispiele)
– und Angst vor Feuer
– und Geschwisterrivalität
– und Nicht-Einladung
– und Nicht-gehen-wollen
– und Schüchternheit
Gefäß (Metapher)
Gefühle, siehe auch einzelne Gefühle und Strategien
– Bandbreite
– emotionale Impfung
– Umgang mit
– Verhalten versus
Gefühlen vertrauen (Strategie)
Gefühle personifizieren (Strategie)
Gefühlsbank (Strategie)
Gefühlsstarke Kinder
Gegenwind erwarten (Strategien)
Gehaltserhöhung (Beispiel)
Gehirn, siehe auch Lernprozesse
– Atmung und
– Entwicklungsstufen
– Überlebensmodus
– Vernetzung
Generationen, siehe Familiäre Muster
Geräusche (Beispiel)
Geschichten erzählen (Strategie)
Geschwisterfolge
Geschwisterrivalität
– Beispiele
– Grundlagen
– Strategien
Geschwisterstreit (Beispiele)
Gespräche, siehe Reden
Gesundheit siehe auch Selbstfürsorge
Glück (versus Resilienz)
Goldstein, Sam
Gottman, John
Gottman, Julie
Gottman-Methode
Grenzen austesten
Grenzen setzen
– Beispiele
– Fähigkeit zum
– Grundlagen
– »Ich lasse dich nicht« (Strategie)
– Quengeleien und
– Schutz und Halt durch
Großeltern
– Besuch (Beispiel)
– Krebs (Beispiel)
– Tod
– Umarmung (Beispiel)
»Gutes Kind, das es gerade schwer hat« (Strategie)
– Beispiele
– Grundlagen
– Wutanfall (Beispiel)
Gut-genug-Gefühl
Gutsein
– als Erdung
– als Grundprinzip
– Erinnerung an eigenes
– Lügen und
– Zweifel am
H
»Habe ich dir schon mal erzählt, wie ...« (Strategie)
Handgreiflichkeiten
Handlung-und-Impuls-Unterscheidung (Strategie)
Handy, siehe Spielzeit ohne Smartphone
Hausaufgaben
– Beispiele
– emotionale Impfung bei Schwierigkeiten
Heimweh
»Heiße Schokolade«-Atmung
Hilflosigkeit
»Hör auf« siehe auch Nein sagen
»Hören«
Humor (Strategie)
Hunde (Beispiele)
I
Ich-gegen-dich-Situationen, siehe Machtkämpfe
»Ich glaube dir« (Strategie)
»Ich lasse dich nicht« (Strategie) siehe auch Grenzen setzen
»Ich mag nicht«, siehe Nein sagen
Identität
Imlau, Nora
Impulskontrolle
Impuls-und-Handlung-Unterscheidung (Strategie)
Individualität akzeptieren
Innenleben
Innere Monologe und Dialoge
Inneren Quengler rauslassen (Strategie)
Inneres befragen (Strategie)
Intensität bestätigen (Strategie)
Interaktionen (zw. Kind und Eltern)
Internal Family Systems (IFS)
»Irgendetwas an ...« (Strategie)
J
Jacke anziehen (Beispiel)
Jammern
K
Kampf-Flucht-Modus
Karaoke
Kaukette
Kekse (Beispiele)
Keller (Beispiel)
Kindergarten und Kita (Trennungsangst)
Kindheit der Eltern siehe auch Familiäre Muster; siehe auch Frühe
Kindheit
Klartext reden (Strategie)
Kochen (Beispiel)
Kohn, Alfie
Kommunikation, siehe Reden
Komplimente
Konflikte siehe auch Streit
Kontrollbedürfnisse
Kontrolle, siehe auch Selbstvorwürfe und -zweifel
– Lohn-und-Strafe-System
– Reaktion auf Lügen
– Sicherheit versus
– statt kontrolliert werden
Kontrollverluste (der Eltern)
Kontrollverluste (des Kindes)
Konzentration auf das Wie
Kooperationsbereitschaft
Körperliche Nähe siehe auch Präsenz zeigen; siehe auch Umarmung
Körperliche Selbstbestimmung (Strategie)
Körperreaktionen (auf Angst)
Körpersprache
Künstliches Weinen
Kuscheltiere, siehe Stofftiere

L
Lagerfeuer (Beispiel)
Lampe (Beispiel)
Lärm (Beispiel)
Laute Stimmen
Lernprozesse
Lob
Loch (als Angst-Metapher)
Lohn-und-Strafe-System
Lügen
M
Machtkämpfe
Mantras
– Ängste
– Einschlafen
– Frustration
– Grundlagen
– »Gutes Kind, das es gerade schwer hat«
– Gutsein-Erinnerung
– Staubsaugerdilemma
– Verbundenheit
Mathe lernen (Beispiel)
Mazlish, Elaine
Meeting (Beispiel)
Metaphern
– Gefäß
– Loch (als Angst-Metapher)
Missverstanden fühlen
Mitgefühl zeigen
Mit-Sachen-Werfen
Mittagessen
Mobiltelefon, siehe Spielzeit ohne Smartphone
Multiplizität
Muster, siehe Familiäre Muster
N
Nachahmen (während SOS)
Nachdenken (Ermutigung)
Nachtisch
Negatives (allgemein) siehe auch Körperliche Selbstbestimmung;
siehe auch Beides ist wahr
Nein sagen, siehe auch Körperliche Selbstbestimmung
– Grundlagen
– Tipps
Nervensystem
Neugier
Neuroplastizität
Nicht-beachtet-Werden
Nicht-hören-Wollen
Null-Toleranz-Politik siehe auch Grenzen setzen
»Nur das eine ist wahr«-Denkweise siehe auch Beides ist wahr
P
Paartherapie
Pandemie
Panik, siehe Ängste
Payne, Tina
Perfekte Stimme (Strategie)
Perfektionismus
Perlenkette (Beispiel)
Personifizieren von Gefühlen (Strategie)
Persönlichkeitsanteile
Photolyse (Beispiel)
PlayStation (Beispiel)
Plüschtiere, siehe Stofftiere
Präsenz zeigen, siehe auch einzelne Beispiele
– als Strategie
– bei unhöflichem Verhalten
– Sicherheit geben
Problematisches Verhalten
– Grundlagen
– Teufelskreise
– Unhöflichkeit
Pubertät siehe auch Teenager
Puzzles (Beispiele)
Q
Quatschmachen, siehe Albern sein
Quengeleien
R
»Rabeneltern«
Reden (Strategien), siehe auch Fragen stellen; siehe auch
Geschichten erzählen
– Ängste ansprechen
– bei belastenden Gefühlen
– Daumen-Spiel
– erzählen lassen
– »Habe ich dir schon mal erzählt, wie ...«
– »Irgendetwas an ...«
– Klartext reden
– über Trennung
– über Weinen
Reflektieren
Reflexhandlungen
Regeln einführen (Strategie)
Resilienz
– Entwicklungsstrategien
– Glück versus
– Grundlagen
Respekt
Rituale (bei Trennungsangst)
Rollenspiele (Strategie)
Rollentausch (Strategie)
Rollen und Zuständigkeiten
– bei Ernährung
– im Familiensystem (Eltern)
– im Familiensystem (Kind)
Ruhig bleiben, siehe Sicherheit
Runterschalten und erzählen lassen (Strategie)
S
Satter, Ellyn
Sattheit (Beispiel)
Scham, siehe auch Schuld- und Schamgefühle
– Beispiele
– erkennen und abbauen
– gefühlsstarker Kinder
– Grundlagen
– Langzeitauswirkungen
Scheidungen
Schere (Beispiel)
Scherze
Schikane
Schimpfworte
Schlafverhalten
– Beispiel
– Einschlaf-Mantras
– Grundlagen
– Sicherheit-Gewährleistung
Schlagen
Schlechtsein (als grundlegende Annahme)
Schließ-die-Augen-Trick (Strategie)
Schmusedecke siehe auch Stofftiere
Schreiben lernen (Beispiel)
Schubsen
Schüchternheit und Zaghaftigkeit
Schuld- und Schamgefühle, siehe auch Scham, siehe auch
Selbstvorwürfe und -zweifel
– der Eltern
– familiäre Muster
– Grundlagen
– »Rabeneltern«-Schleife
Schule (Beispiele) siehe auch Lernprozesse
Schutz, siehe Sicherheit
Schwartz, Richard
Schwarz-Weiß-Denken
Schwindeln, siehe Lügen
Selbstbestimmung (über den eigenen Körper)
Selbstbewusstsein
– Aufbaustrategien
– frühkindliche Prägung
– Grundlagen
– Unterminierungsgründe
– Verantwortungsaufteilung und
Selbstbild, siehe auch Selbstvorwürfe und -zweifel
– flexibles und statisches
– Grundlagen
– negatives
– perfektionistischer Kinder
– Prägung
Selbsterfüllende Prophezeiung
Selbstfürsorge (Grundprinzip)
– annehmen, anerkennen, zulassen
– atmen
– der Eltern allg.
– eigene Bedürfnisse erfüllen
– eine Sache nur für mich
– Nein sagen
– Wiedergutmachung - an uns selbst
Selbstkontrolle
Selbstkritik
Selbstmitgefühl
Selbstreflexion
Selbstsicherheit
Selbstvertrauen
– Aufbaustrategien
– Grundlagen
– und Selbstbestimmung
– Voraussetzungen
Selbstvorwürfe und -zweifel, siehe auch Schuld- und Schamgefühle
– der Eltern
– der Kinder
– »Rabeneltern«-Schleife
– Schaltkreise
– Signale
Selbstwertgefühl
Sexualität (Empfängnis)
Sichere Distanz (Strategie)
Sicherheit, siehe auch Präsenz zeigen
– Gewährleistung
– Kontrolle versus
– Schlafverhalten
– Trennungsangst
»Sich gefühlt fühlen«
Sich nicht ködern lassen (Strategie)
Siegel, Daniel
Smartphone, siehe Spielzeit ohne Smartphone
Snacks
Souveränität
Spaß (gemeinsamer) siehe auch Albern sein
Spiele und spielen
– alberne
– Auffüll-Spiel
– Beispiele
– Daumen-Spiel
– dazulernen
– perfekte Stimme
– Rituale einüben
– Rollenspiele
– Rollentausch
Spielplatz (Beispiele)
Spielzeit ohne Smartphone (SOS, Strategie)
Spielzeug-Wegnehmen (Beispiel)
Spott
Sprachempfehlungen, siehe auch Reden
Spucken
Stabilität
Stadtteilfest (Beispiel)
Statistik
Staubsaugerlärm (Beispiel)
Sterben und Sterblichkeit
Stift (Beispiel)
Stofftiere
– Auseinandersetzungen um
– Rollenspiele
– Trockenübungen
– Übergangsobjekte
Strafen und Belohnung
Streit, siehe auch Auseinandersetzungen, siehe auch
Geschwisterrivalität
– zw. Ehepartnern (Beispiele)
– zw. Geschwistern (Beispiele)
Stress, siehe auch Ängste
– am Arbeitsplatz (Beispiele)
– Hormone
– Resilienz und
– Umgang mit
– Wutanfälle und
Studien (zu Beziehungen)
Sturheit
System der Inneren Familie (IFS)
T
Talentshow
Tanzpartys
Teddybären (Beispiele), siehe auch Stofftiere
Teenager (Beispiele)
Teilen (Beispiele)
Telefonat (Beispiel)
Tennisplatz (Beispiel)
Teufelskreise, siehe auch Familiäre Muster
– Erregungsspirale
– essensbedingte
– frustrationsbedingte
– innerfamiliäre
– Lügen und Kontrolle
– problematisches Verhalten
– schambedingte
– Schlafstörungen
– selbsterfüllende Prophezeiung
– Selbstkritik
– Selbstvorwürfe und Schuldgefühle
Time-outs
Tippfehler (Beispiel)
Tod, siehe Sterben und Sterblichkeit
Toleranz, siehe Frustrationstoleranz, siehe Null-Toleranz-Politik
Tonfall
Tränen
Trauer, siehe auch Sterben und Sterblichkeit
Trennen von Kindern (in gefährlichen Situationen)
Trennungsangst
– Kindergarten und Kita
– Schlafprobleme
– Strategien
Treten
Trinkflasche (Beispiel)
Tritte
Trockenübungen (Strategie)
Trost-Buzzer (Strategie)
Trotziges Verhalten
T-Shirt (Beispiel)
U
Übergangsobjekte (Strategie)
Übernachtungen (auswärtige)
Überzeugungsversuche
Umarmung (Beispiel)
Umgangston, siehe Tonfall
Umzüge
Undankbarkeit
Unformulierte Erfahrung
Ungeduld
Ungewissheiten
Unglückliche Kinder (Beispiele)
Unhöflichkeit, siehe Problematisches Verhalten
V
Ventile (emotionale)
Verantwortung, siehe auch Sicherheit
– Aufteilung
– für eigenes Tun
– im Familiensystem (Eltern)
– Übernahme
Verbindung herstellen, dann fragen (Strategie)
Verbotswidersetzung (Beispiel)
Verbundenheit, siehe auch Bindungskapital aufbauen, siehe auch
einzelne Strategien
– Grundlagen
– Mantra
Verdrängung (und Angst)
Verhalten (allgemein), siehe auch Familiäre Muster, siehe auch
einzelne Themen
– als Fenster
– Bedürfnisse und
– Gefühle versus
– Identität versus
– Muster
– Wissenschaft und
Verkleiden-Spiel
Verlassensängste siehe auch Trennungsangst
Verletzende Worte
Verletzlichkeit
– familiäre Muster und
– von Eltern
– von Kindern
Verluste (und Gefühlsbank)
Verständnis, siehe auch Reden, siehe auch Beides ist wahr, siehe
auch einzelne Themen
Versuch-Würdigung (Strategie)
Vertrauen, siehe auch Selbstvertrauen
Videospiele (Beispiele)
Vielfalt
Vollkommenheitsdrang
Vorbereitung (Strategien)
– auf Ereignisse
– auf schwierige Themen
Vorbildfunktion
Vorspielungen
Vorwürfe, siehe Selbstvorwürfe und -zweifel
W
Wahl lassen (Strategie)
Wahrheit sagen (Grundprinzip), siehe auch Beides ist wahr, siehe
auch Ehrlichkeit
Wahrnehmungen bestätigen
Wandel, siehe Es ist nie zu spät
»Wann immer du so weit bist ...« (Strategie)
Weinen
Weitherzigkeit
»Wenn es nun wirklich so gewesen wäre ...« (Strategie)
Wettbewerb, siehe Geschwisterrivalität
Widerstandskraft (innere), siehe Resilienz
Wiedergutmachung
– an uns selbst
– Beispiele
– Grundlagen
Wiederholung der Bitte (Strategie)
Winnicott, Donald
Wirklichkeit und Fantasie
Wissen, siehe Lernprozesse
Wissenschaft
Wortschatz
»Wo sind die anderen?« (Strategie)
Wunsch benennen (Strategie)
Wut und Wutanfälle , siehe auch Aggressionen, siehe auch
Ausflippen
– gefühlsstarker Kinder
– Geschwisterkind und
– Grundlagen
– Lügen und
– Nicht-beachtet-Werden
– Strategien
Z
Zahnverlust (Beispiel)
Zeit widmen, siehe auch Bildschirmzeit, siehe auch Spielzeit ohne
Smartphone
Zuhören, siehe auch Reden
Zukunft (der Kinder)
– Schaltkreise
– Weichen für die
Zweifel, siehe auch Selbstvorwürfe und -zweifel
Zweitgeborene
Zwicken
Über die Autorin
Dr. Becky Kennedy ist klinische Psychologin und dreifache Mutter.
Das Time-Magazin hat sie zur »Elternflüsterin des neuen
Jahrtausends« gekürt, weil sie den Umgang mit unseren Kindern ganz
neu denkt. Sie ist darauf spezialisiert, zu ergründen, was wirklich in
unseren Kindern vorgeht. Ihre Erkenntnisse übersetzt sie in einfache,
leicht umsetzbare Strategien für Eltern. Dr. Beckys Ziel ist es, Eltern
Instrumente an die Hand zu geben, um die Herausforderung der
Kindererziehung besser zu bewältigen.
Dr. Becky begeistert auf Instagram mehr als eine Million loyale und
sehr aktive Follower. Sie bietet eine Vielzahl von Workshops für
Eltern an, ist Host eines äußerst beliebten Podcasts sowie eines
Newsletters. Sie hat außerdem ein Handbuch fürs Töpfchentraining
verfasst. Good Inside ist ihr erstes Buch.
Ihr wöchentlicher Podcast Good Inside with Dr. Becky wurde im
April 2021 ins Leben gerufen und eroberte sofort Platz 1 der Apple-
Podcast-Charts Kinder und Familie. Woche für Woche nimmt sie
sich schwierige Erziehungsfragen vor und liefert umsetzbare
Ratschläge zur Lösung – in kurzen Episoden, weil sie weiß, dass
Eltern wenig Zeit haben.
Dr. Becky hat ihren Bachelor in Psychologie und Human
Development an der Duke University in North Carolina gemacht. Dort
gehörte sie zu der Ehrengesellschaft Phi Beta Kappa und machte
ihren Abschluss mit höchster Auszeichnung. Ihren Doktortitel erwarb
sie in Klinischer Psychologie an der Columbia University in New York.
Mehr über Dr. Becky (in englischer Sprache) erfahren Sie auf
www.goodinside.com
Anmerkungen
1 Doell, Faye, »Partners’ Listening Styles and Relationship Satisfaction: Listening to
Understand vs. Listening to Respond«, Doktorarbeit an der Universität von
Toronto, 2003.
2 Siegel, Daniel, Payne Bryson, Tina, Achtsame Kommunikation mit Kindern.
Zwölf revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde
Entwicklung Ihres Kindes, Freiburg im Br. 2013, S. 38.
3 Zenger, J. H., Folkman, J., The Extraordinary Leader: Turning Good Managers
into Great Leaders, New York 2002.
4 Bromberg, P. M., »Shadow and Substance: A Relational Perspective on Clinical
Process«, in: Psychoanalytic Psychology (1993) 10, S. 147 – 168.
5 W. R. Fairbairn, Psychoanalytic Studies of the Personality (Routledge & Kegan
Paul, 1952).
6 D. B. Stern, »Unformulated Experience: From Familiar Chaos to Creative
Disorder«, in: Contemporary Psychoanalysis 19 (1), 1983, S. 71 – 99.
7 Die Autorin verwendet die Formulierung deeply feeling kids (intensiv fühlende
Kinder). Im deutschsprachigen Raum ist dafür der von Nora Imlau geprägte
Begriff gefühlsstarke Kinder geläufig, sodass bei der Übersetzung auf diese
Formulierung zurückgegriffen wurde.
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