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Anant Agarwala, Anna-Lena ! Lesezeit: 15 Min.

Wissen · Scholz

Einiger als gedacht


Krisen, Verwerfungen, Konflikte: Deutschland scheint gespalten. Das täuscht,
sagen Wissenschaftler, die unsere Gesellschaft gerade neu erforschen. Aber
warum kracht es dann ständig? Von Anant Agarwala und Anna-Lena Scholz

Nicht jeder Anfrage kommt Steffen Mau im Sommerurlaub nach. Als das
Kanzleramt anruft, geht er aber ran. Ende August dann, gerade hat er im Gar-
ten seiner Datsche noch den Rasen gemäht, fährt er in die Nachbargemeinde
im brandenburgischen Meseberg. Kabinettsklausur im Barockschloss, Polizei-
sperren und zur Schau gestellte Zuversicht. Man lässt ihn passieren, erzählt
Mau später, trotz seiner elektrischen Heckenschere im Kofferraum. Eingela-
den hat ihn Bundeskanzler Olaf Scholz, die Regierung braucht Antworten.
Man könnte sagen, es ist dringend.

Eine Erregungswelle hat sich aufgetürmt. Mit jeder Krise, jeder Verwerfung
gewinnt sie an Wucht: Silvesterkrawalle. Panzerlieferungen. Genderstern-
chen. Ölheizungen. Klimakleber. Entsprechend klingen die Schlagzeilen, die
Umfragen im Fernsehen und die Gespräche beim Abendbrot. Die Mehrheit der
Deutschen halte ihr Land für egoistisch und gespalten, heißt es drei Wochen
vor der Meseberger Klausur in einer aktuellen Studie. Eine weitere Nachricht:
Das Vertrauen in Demokratie und Parteien sei erschüttert wie selten zuvor. In
den Glaskugeln der Demoskopen zeichnet sich sogar ein rechtspopulistischer
Triumphzug ab. Die AfD steht bundesweit bei über 20 Prozent, im Osten könn-
te sie im Sommer 2024 gleich drei Landtagswahlen gewinnen. Bei einer Sonn-
tagsfrage erreicht sie in Sachsen 35 Prozent – fast doppelt so viel wie die drei
Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP zusammen; auch in Thüringen und Bran-
denburg würde sie, Stand heute, stärkste Kraft. Es hat den Anschein, als radi-
kalisiere sich das Land, als koche es demnächst über.

Verfallen die Deutschen dem Populismus? Was regt sie auf? Und welche Werte
teilen sie? Der Berliner Soziologe Steffen Mau, 54, hat die vergangenen zwei
Jahre damit verbracht, die Gesellschaft neu zu vermessen. Er hat Tausenden
Personen im Land zahllose Fragen gestellt und Kleingruppen über Windräder,
Flüchtlinge oder die Meinungsfreiheit diskutieren lassen. Doch jetzt, als Mau
an einem Konferenztisch in Meseberg sitzt und dem versammelten Kabinett
erklären soll, was bloß los ist in diesem Land, muss er sich fragen: Werden
meine Erkenntnisse von der Realität gerade rechts überholt?

Denn das Ergebnis seiner Studie besagt etwas ganz anderes, als derzeit viele
glauben, etwas eigentlich Erfreuliches: Die Bundesrepublik ist ein ziemlich ei-
niges Land. Es gibt eine starke, ideologiefreie Mitte. In vielen gesellschaftli-
chen und politischen Fragen ticken die Menschen hier ähnlich, und zwar un-
abhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort, Schulabschluss oder Gehalt. Gibt es
Konflikte? Ja. Wut? Jede Menge. Aber spaltet sich das Land darüber? Nein, das
trifft nicht zu.

Hier abgehobene Lastenradfahrer, verblendet und selbstgerecht, dort abge-


hängte Wutbürger aus der Fraktion Grillfleisch und Ausländerhass: Mau
nennt solche Erzählungen von zwei Lagern »Behauptungsprosa« – das dürfte
das soziologische Wort für Bullshit sein. Er ist nicht der einzige Wissenschaft-
ler, der das so sieht, eine Reihe kleinerer Forschungsarbeiten belegt Ähnliches,
zuletzt eine an der FU Berlin. Doch in der Öffentlichkeit dringen sie kaum
durch. Mau wirkt meist gut gelaunt und versöhnlich, in den vergangenen Mo-
naten aber steigt auch bei ihm der Puls. Er ärgert sich über die ständigen Pola-
risierungs-Diagnosen, mehr noch, er hält sie sogar für gefährlich. Im Juni,
kurz nachdem er bei Anne Will unter anderem mit dem CDU-Politiker Philipp
Amthor über die Stimmungslage in Zeiten des Heizungsgesetzes diskutiert
hat, lehnt Mau im Flur der Humboldt-Universität und sagt: »Während der Sen-
dung dachte ich kurz: Bringt das überhaupt etwas? Eigentlich könnte ich auch
aufstehen und gehen.« Aus seiner Sicht schrammen politische Debatte und
Analyse permanent an der Wirklichkeit vorbei. In keinem nennenswerten
Konflikt der Gegenwart, sagt Mau – ob ökonomische Schere, die Notwendig-
keit von Klimaschutz, die Anerkennung von Minderheiten, sogar in Fragen
der Migration –, gebe es seiner Erkenntnis nach derzeit eine tiefe gesellschaft-
liche Spaltung.

Kann sich ein ganzes Land über sich selber täuschen? Liegt Steffen Mau,
Deutschlands wohl einflussreichster Soziologe, vielleicht daneben? Oder ist
auch eine dritte Option denkbar – dass beides, das Gefühl der Deutschen und
die Daten von Mau, irgendwie gleichzeitig wahr ist?

Große Soziologen entwerfen für gewöhnlich große Theorien. Die Risikogesell-


schaft von Ulrich Beck ist so ein Beispiel, Beschleunigung und Entfremdung
von Hartmut Rosa ein anderes. Sie deuten die Gegenwart. Mau aber versteht
sich nicht als Deuter, sondern als Empiriker. Er mag harte Zahlen. Es traf sich
daher gut, dass er 2021 den Leibniz-Preis gewann, Deutschlands wichtigste
wissenschaftliche Auszeichnung, dotiert mit 2,5 Millionen Euro. Denn wer
herausfinden will, wie Menschen leben, denken und fühlen, braucht viel Zeit
und Geld. Zeit, um Daten zu sammeln, sie auszuwerten, zu prüfen, zu interpre-
tieren. Und Geld, um eine solch umfangreiche Studie zu bezahlen. Mau hatte
plötzlich beides – und investierte einige Hunderttausend Euro seines Preis-
gelds in ein aufwendiges Forschungsprojekt. Er wollte Daten, die über schnell
erhobene, tagesaktuelle Umfragewerte hinausgehen. Am 9. Oktober erscheint
das Ergebnis auf 540 Seiten in Buchform. Titel: Triggerpunkte. Konsens und
Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Verfasst hat Mau es mit seinen beiden
Mitarbeitern Thomas Lux und Linus Westheuser. Die ZEIT berichtet hier vorab
über die gewonnenen Erkenntnisse.
Neben der Analyse von Daten im Zeitverlauf haben Mau und sein Team in ei-
ner repräsentativen Umfrage 2573 Personen zum Beispiel dazu befragt, ob sie
Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum
befürworten oder ob Schulbücher auch über Homosexualität aufklären soll-
ten. Außerdem ließen sie Projektmanager und Speditionskauffrauen, Postbo-
ten und Lehrerinnen in kleinen Gruppen miteinander diskutieren – angeleitet
von einem neutralen Moderator, der ihnen bestimmte Schlagworte vorlegte:
Hartz-IV-Sätze, Lastenräder, der Islam. Hinter einer verspiegelten Scheibe des
Konferenzraums, beobachtend: Mau, Lux und Westheuser. Wie beim Tatort.
Nur dass die Ermittler hier Soziologen sind. »Wir wollten wissen, bei welchen
Themen die Leute an die Decke gehen, was sie so richtig triggert«, sagt Mau.

Ein Blick durch die Scheibe:

Anna (Bürokauffrau): Dass eingeführt werden soll, dass es an deutschen Schu-


len kein Schweinefleisch mehr geben sollte, war ja auch Thema. Warum?
Wenn mein Kind Schwein essen möchte, kann es Schwein essen. Warum soll-
te das abgeschafft werden – für alle? Nach dem muslimischen Glauben essen
die kein Schwein – ist ja auch okay. Aber warum wird dann unseren Kindern
der Willen oder die Entscheidung genommen, Fleisch – Schweinefleisch – zu
essen?

Rüdiger (Rentner): Weil sie intolerant sind. [...]

Moderator: Manche sagen, sie fühlen sich schon fremd im eigenen Land. Wie
geht es euch damit?

Rüdiger: Ja.

Lisa (Drogerieverkäuferin): Also in Neukölln definitiv. Also Neukölln ist echt


grenzwertig.

Rüdiger: Spandau auch.

Torsten (Sachbearbeiter): Von Pankow unter der S-Bahn-Brücke durch in den


Wedding, da fühle ich mich echt fremd. Weil, da sind die Deutschen, die da
noch leben, auch unterstes Niveau.

Hunderte Seiten solcher Protokolle haben die Wissenschaftler ausgewertet;


Ausschnitte aus diesen Fokusgruppen haben sie der ZEIT zur Verfügung ge-
stellt.

Triggerpunkte sind eigentlich Muskelverhärtungen. Jeder kennt sie: immer


am Schreibtisch hocken, immer wieder schwer heben, hundertmal am Tag
dieselbe Armbewegung machen. Die Sehnen verkürzen sich, die Muskeln ver-
spannen, irgendwann tut’s weh. Dann braucht es nicht mehr viel. Eine falsche
Berührung, schon jault man auf.

Auch Deutschland hat tiefe Verspannungen, sprich ungelöste Dauerkonflikte.


Selbst Kleinigkeiten – ein schweinefleischfreier Freitag in der Mensa oder
Gendersprech im heute-journal – führen zu einem Aufschrei. In den Gruppen-
diskussionen hinter der Scheibe, so beschreiben es die Soziologen, erhitzte
sich die Atmosphäre merklich, sobald ein solcher Debatten-Trigger zur Spra-
che kam. Der Ton wurde lauter und emotionaler. Es handele sich um einen
»Erregungsüberschuss«.

Wo ständig Erregung herrscht, kommt es zu chronischem Streit. Und wo pau-


senlos Streit herrscht, kommt es wozu? Zu verfeindeten Lagern?

Überraschenderweise zeichnen die Ergebnisse der Befragung ein anderes Bild.


Die Einigkeit ist zum Teil enorm: 75 Prozent der Deutschen sind sehr besorgt
über den Klimawandel. 79 Prozent halten die Vermögensungleichheit für zu
groß. 84 Prozent finden, Transpersonen sollten als normal anerkannt werden.
Beim Thema Migration ist die Sache weniger eindeutig, aber doch werten
61 Prozent sie als Bereicherung für das kulturelle Leben. Anders ausgedrückt:
Fast zwei von drei Deutschen begreifen die Republik als Einwanderungsland
und finden das auch irgendwie gut.

»Der Streit verläuft oftmals nicht zwischen Ja und Nein, sondern zwischen
›Ja, aber‹ und ›Nein, aber‹«, sagt Mau. Im Fall Migration heißt das: Praktisch
niemand im Land will unbegrenzte Zuwanderung – das rechtspopulistische
Feindbild eines Lagers, das offene Grenzen für alle fordert, ist bloß eine Fikti-
on. Und auch der Wunsch nach einem kompletten Zuwanderungsstopp ist
nur eine randständige Minderheitenposition.

Wie passt das nun zum jüngsten Aufstieg der AfD? Kann es sein, dass die
Deutschen im Sommer 2023 abrupt ihre Haltung ändern? Als Mau, Lux und
Westheuser im Sommer 2022 ihre Befragung durchführen, steht die Partei
bundesweit bei knapp zehn Prozent. Jetzt, bei Veröffentlichung des Buches,
hat sie die Zustimmung mehr als verdoppelt. Fast wirkt es, als blicke man bei
der Lektüre in einen Zauberspiegel, der nicht die Gegenwart zeigt, sondern ei-
ne flüchtige Vergangenheit. Deutschlands Gesicht – aber vor der Kneipen-
schlägerei.

»Das Potenzial der AfD von etwa 20 Prozent sehen wir auch in unseren Da-
ten«, sagt Mau heute. »Wie schnell dieser Aufstieg nun aber ging, hat uns
überrascht.« In ihrer Analyse beschreiben die Soziologen, was hier passiert –
nämlich dass gesellschaftliche Konflikte vor allem den Rechtspopulisten nut-
zen. Eine »Frontenbildung« werde von ihnen »nicht bloß in Kauf genommen«,
sondern sei »eine Kernkomponente ihrer Strategie«.
Die Sozialwissenschaften sprechen von affektiver Polarisierung. Während po-
litische und moralische Einstellungen relativ stabil sind, entstehen Gefühle oft
spontan, sind etwas irrlichternd und wenig sachorientiert, Stichwort: Schwei-
nefleischverbot. Ebendiese Gefühle aber würden in der Öffentlichkeit derzeit
unentwegt beschallt und aktiviert: Schau her, gegen wen du dich heute posi-
tionieren kannst! Maus These lautet, dass aus einer gefühlten Spaltung irgend-
wann reale Lager werden können – das Bewusstsein bestimmt das Sein. Man-
che Wissenschaftler argumentieren, dass dies bereits eingetreten sei.

Befeuert werde dieser Prozess, sagt Mau, von Politikern, Journalistinnen und
Lautsprechern in den sozialen Medien, er nennt sie »Polarisierungsunterneh-
mer«. Die schrille Pointe gewinnt, im Bierzelt, auf Titelseiten – und auch im
Parlament. Deutschland feiert Triggerparty.

Neukölln: Integrationsverweigerer! SUV-Fahrer: Klimakiller! Gender: Gaga!

Noch ein Blick durch die Scheibe.

Moderator: Ein Thema, was ja zumindest in den Medien auch immer wieder
bespielt wird, ist ja auch der Genderstern.

Natascha (450-Euro-Kraft): Was ist das?

Fred (Landschaftsbauer): Was für ein Stern?

Marlene (Kinderpflegerin): Judenstern oder was? [lacht]

Moderator: Nein, das ist, wenn man zum Beispiel sagt [führt vor], Lehrer-in-
nen.

Fred: Das verstehe ich nicht.


Hilde (Rentnerin): Furchtbar, diese Sprache.

Werner (arbeitslos): Das ist absoluter Bullshit.

Marlene: Das meine ich. Da wird übertrieben. Da wird richtig übertrieben. Das
gibt es seit Jahren, und seit Jahren interessiert es keinen, und dann auf ein-
mal ...

Hilde: Genauso wie Studenten, die heißen jetzt alle Studierende. Ich bleibe bei
meinem Deutsch. Ich glaube, ich spinne. Also ... furchtbar, diese Sprache. [Alle
reden durcheinander]

Mau sitzt im Sommernieselregen an der Humboldt-Universität. Gerade hat er


die Druckfahnen seines Buches an den Verlag abgeschickt, über 200 Seiten
mussten sein Team und er noch kürzen. Er hat eine Reihe an Auftritten hinter
sich. Im Fernsehen, im Radio, im Theater. Jetzt wieder Professorenalltag, Kaf-
feepause zwischen Vorlesung und Seminar. Um ihn herum: Studenten mit Na-
gellack, Doktorandinnen scrollen durch Instagram. Ein gebildetes, progressi-
ves Milieu in Berlin-Mitte. Steffen Mau gehört dazu.

»Ein Bundesministerium hat mich mal zu einem Vortrag eingeladen«, erzählt


er. »Ich komme da an, soll einen Vertrag unterschreiben und sehe darin den
Satz: Der Vortragende verpflichtet sich, geschlechtergerechte Sprache zu ver-
wenden.« Er schnauft, lehnt sich nach vorne: »Da hab ich gemerkt: Reaktanz.«
Also: will ich nicht! Er ließ den Satz streichen.

Maus Studie bestätigt, dass die meisten Deutschen die sogenannte geschlech-
tersensible Sprache ablehnen. Sie glauben nicht, dass sie einen Beitrag zur
Gleichstellung leistet. Und zwar in sämtlichen Milieus – auch Frauen in aka-
demischen Wissensberufen sind mehrheitlich gegen das Gendersternchen
(Lehrer*innen) oder den Gender-Gap (Lehrer_innen). Es gebe bei diesem The-
ma keine »Klassenkonfrontation« zwischen höher und niedriger Gebildeten,
keinen Generationenkonflikt, keine Ost-West-Spaltung, konstatieren die drei
Autoren in ihrer Studie. Allein in der medialen Wahrnehmung scheint ein Kul-
turkampf zu toben, zwischen »Gender-Ideologen« und »einfachen Leuten«.

Fragt man Steffen Mau, wo er selbst politisch steht, wird er fast schroff. »Mei-
ne eigene politische Haltung ist vollkommen unerheblich«, sagt er. Er will das
auseinanderhalten: sich selbst, den Bürger, und seine soziologische Bürger-
Analyse. Sowieso sei es ein Trugschluss, von Merkmalen – in seinem Fall: ho-
hes Einkommen, Professor, urban – auf die Einstellung zu schließen. Das pas-
siere aber ständig.

Derlei Rückschlüsse lauten etwa: Wer studiert hat, in der Stadt lebt, gut ver-
dient, der ist folglich auch fürs Gendern, für Einwanderung, für ein Tempoli-
mit – und wählt im Zweifel grün. Und wer Arbeiter ist, in der ländlichen Sozi-
alwohnung lebt, bei wem jeder Euro zählt, der ist ausländerfeindlich, fremdelt
mit Schwulen und Lesben, kämpft um sein Auto – und wählt AfD. Natürlich
gibt es solche Zusammenhänge, das belegen auch die Daten von Steffen Mau.
Aber sie sind weitaus schwächer, als man annehmen würde (siehe Grafiken).
Das Klischee des schlecht gebildeten, abgehängten Globalisierungsgegners et-
wa deckt sich nicht mit der Realität. Zwei Drittel der Menschen mit Haupt-
schulabschluss stimmen zu, dass Migration gut für die Wirtschaft sei. Und die
Hälfte aller Arbeiter glauben, dass Armut auch eine Folge mangelnder Leis-
tungsbereitschaft sei – genauso viele wie unter den Arbeitgebern.

Große Einigkeit herrscht noch woanders: im Gefühlshaushalt. Die Deutschen


sind wütend.

Es ist fünf Jahre her, dass Greta Thunberg sich zum ersten Mal freitags vor
dem schwedischen Parlament einfand, mit Zöpfen, Schulrucksack und Plakat:
»Skolstrejk för klimatet«. Es begann das große Schwänzen. Daraus wurde die
weltweite Bewegung Fridays for Future – und einer der brennendsten Konflik-
te der Republik. Die singenden FFF-Aktivisten in den Innenstädten scheinen
im Rückblick harmlos. Heute kleben Menschen auf dem Asphalt, räumen Poli-
zisten Sitzblockaden, verprügeln aufgebrachte Pendler Demonstranten in
Warnwesten. »Die neuen Staatsfeinde«, titelt der Spiegel im August über die
Klimakleber der »Letzten Generation«. Die Wut, die sich in diesen Tagen Bahn
bricht, sie zeichnet sich in Maus Studie bereits ab. Die Triggerfigur damals:
Greta Thunberg.

Die Triggerfigur heute: Robert Habeck, unter dem Arm sein Heizungsgesetz.
Jetzt, nachdem die Deutschen sich geimpft und Flüchtlinge versorgt haben,
nachdem sie wochenlang kalt geduscht und sich damit abgefunden haben,
2,50 Euro für ein halbes Pfund Butter zu bezahlen, jetzt also sollen sie auch
noch ihre Häuser umrüsten.

Es sind genau jene Monate, in denen Mau, Lux und Westheuser ihre Daten
auswerten. »Makrosoziologie« steht am Büro. Der Typ Professor, der immer
am Schreibtisch sitzt, ist Mau aber eher nicht. Mit seinem Buch Lütten Klein,
einer Art soziologischer Autobiografie über seine Zeit als Soldat in den Wen-
dejahren und die Transformationsschmerzen der untergegangenen DDR, ging
er monatelang auf Lesetour – in Plattenbausiedlungen und ländlichen Buch-
handlungen. Mau wurde 2023 mehrfach für seine verständliche Kommunika-
tion ausgezeichnet, er hat ein Talent zur griffigen Metapher. Sich selbst be-
zeichnet er als »Mythenjäger«. Die statistische Verteilung seiner Datensätze
nennt er den »Höcker eines Dromedars«.

Das, was aktuell in Deutschland vor sich geht, bezeichnet Steffen Mau als »All-
mählichkeitsschaden«. Ein Begriff, den er sich aus der Versicherungswirt-
schaft geborgt hat. »Ich befürchte«, sagt er Anfang September, kurz nach sei-
nem Meseberg-Besuch, »dass gerade ständig Wasser in das Fundament des
Hauses der Demokratie eintropft. Und es ist wahnsinnig aufwendig, das
durchnässte Fundament wieder trockenzulegen. Deswegen ist es so gefähr-
lich, wenn Akteure aus der Mitte affektgeladene Diskurspolitik betreiben. Das
habe ich der Regierung auch gesagt.«

Wut ist ein starkes Gefühl. Man sieht und hört nichts mehr, sie erschwert den
Kompromiss. Mehr als jeder Zweite sagt in der Befragung, die politischen De-
batten machten ihn wütend. Wie sehr, das korreliert zwar mit Einkommen,
Klasse und Bildungsgrad. Aber auch Gutverdiener sind wütend. Akademike-
rinnen sind wütend. SPD-Wähler sind wütend. Besonders wütend sind die
Menschen in Ostdeutschland.

Unter der Wut, vermutet Mau mit Blick auf die Daten, liegt aber eigentlich Er-
schöpfung, in ihrem Buch reden die Wissenschaftler von einer »Verände-
rungserschöpfung«. Zu schnell, zu viel, alles gleichzeitig. Man soll anders es-
sen, heizen, reden, sich anders fortbewegen, und zwar pronto. Die Partei, die
solche Veränderungen am radikalsten einfordert, sind die Grünen. Das erklärt,
warum Robert Habeck so viel Hass auf sich zieht – aber auch, warum etwa ein
Hubert Aiwanger so viel Applaus bekommt. Politiker oder auch Figuren wie
Greta Thunberg sind, im Guten wie im Schlechten, vor allem »Stimuli«, sagt
Steffen Mau. Nicht die eingeschlagene Richtung erzürnt die Menschen, nicht
das ausgegebene Ziel, sondern die ihnen abverlangte Geschwindigkeit.

Die Wegstrecke, die das Land in den vergangenen Jahrzehnten zurückgelegt


hat, wird darüber unsichtbar. Der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Tole-
ranz, Offenheit, Veränderungsbereitschaft. Warb im Jahr 2000 ein CDU-Spit-
zenkandidat noch mit dem Spruch »Kinder statt Inder« um Wähler, machen
mit solchen Ressentiments heute nur noch Rechtspopulisten Karriere. Stan-
den vor 30 Jahren schwule Partnerschaften noch im Strafgesetzbuch, nimmt
die Bevölkerung heute homosexuelle Bundesminister gelassen zur Kenntnis.
Anders gesagt: Auch wenn sich kleine Gruppen derzeit radikalisieren und alle
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, rutscht das Land nicht nach rechts, auch
wenn das unentwegt behauptet wird. Betrachtet man die Geschichte der Bun-
desrepublik, ist das Gegenteil der Fall.

Eine Erholungspause für das veränderungsmüde Volk ist aber nicht vorgese-
hen. Denn es sind vor allem zwei Themen, die alle erschöpfen und wütend
machen, und für die gibt es keine einfachen oder zeitnahen Lösungen: Migra-
tion und Klimawandel. In Griechenland brennen Wälder. Tausende Afrikaner
landen auf Lampedusa. In Libyen verschluckt die Flut eine Stadt. Existenzielle
Krisen, von denen alle spüren, dass Gefühle sie nicht lösen werden. Es wird
komplizierte Gesetze brauchen, Kompromisse, Abkommen mit anderen Staa-
ten. Und Zusammenhalt.

Tatort Deutschland, letzte Folge:

Walter (Verwaltungsbeamter): Ich kann doch nur dann was großflächig bewe-
gen, wenn ich die Leute mitnehme. Und die Leute kann ich nicht mitnehmen,
wenn ich die verärgere.

Stefan (Projektmanager): Richtig.

Walter: Das funktioniert nirgendwo. Ich muss einen Grund-Konsens hinkrie-


gen. [...] Wenn es aber nachher drauf hinausläuft, dass sich nur eine bestimm-
te Klientel das Neueste, Sauberste leisten kann, in Anführungsstrichen, und
die anderen draufzahlen, die es sich nicht leisten können, wird ein gesell-
schaftlicher Konsens zerstört. In Frankreich sind die Leute zu Zehntausenden
auf die Straße gegangen, als die Benzinpreise erhöht wurden. Da gab es Stra-
ßenschlachten!

Birgit (Speditionskauffrau): Wir sind noch nicht so weit.

Mau hat Corona, er hockt zu Hause fest und gibt Interviews per Videocall. Er
versteht seine Analyse als Warnruf für die Mitte. »Die über 80 Prozent, die kei-
ne extremen Parteien wählen, sind wie erstarrt. Sie werden vom lauten Rand
beschallt und schrecken nur noch auf, wenn man ihre Triggerpunkte drückt.
Da kann man natürlich sagen: Wenn ihr passiv auf der Couch hängt und euch
nicht um eure Demokratie kümmert, dann übernehmen halt andere das Ru-
der.«

Allmählichkeitsschäden, so definieren es die Versicherungen, fallen meist spät


auf, zu spät. Und dann wird es richtig teuer.

Der Forscher
Geboren 1968, wuchs Steffen Mau in der Plattenbausiedlung Lütten Klein in
Rostock auf. Er machte eine Lehre zur Elektronikfachkraft, nach der Wende
studierte er Soziologie und Politologie. Heute ist er Professor für Makrosozio-
logie an der Humboldt-Universität. Seit 2021 gehört er dem Sachverständigen-
rat für Integration und Migration an

Die Methodik
Repräsentative Umfragen

kosten je nach Zahl der Befragten und Umfang schnell viele Zehn- oder Hun-
derttausend Euro. Um sie zu bezahlen, bewerben sich Wissenschaftler übli-
cherweise um Drittmittel bei öffentlichen oder privaten Geldgebern.

Fokusgruppen

nennt man in der Sozialforschung moderierte Gruppendiskussionen. Wäh-


rend Umfragen ein breites Bild der Stimmungslage zeichnen, bieten die aus-
führlichen Gespräche eine Art Tiefenbohrung. Mau und sein Team ließen in
Essen und Berlin Personen, die sich zum Beispiel in puncto Alter, Bildungsgrad
und Einkommen unterschieden, miteinander über aktuelle politische Fragen
diskutieren. Danach werteten sie die Protokolle der Diskussionen aus – sie
suchten etwa nach Mustern in der Argumentation.

Längsschnittdaten

stammen aus wiederkehrenden Studien, in denen teils über Jahrzehnte die-


selben Fragen gestellt werden. Sie helfen dabei, zu verstehen, wie sich gesell-
schaftliche Werte wandeln, etwa zu Einwanderung oder Gleichstellung.

Der Leibniz-Preis

ist die höchste wissenschaftliche Auszeichnung in Deutschland, er wird ver-


geben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Das Preisgeld von 2,5 Mil-
lionen Euro kann der Preisträger innerhalb von sieben Jahren frei für seine
Forschung verwenden. Steffen Mau gewann den Preis 2021.

ZEIT-Grafik: Melanie Wolter, Anne Gerdes Foto: Marten Körner/Suhrkamp Ver-


lag; action press; Sebastian Wells/Ostkreuz; Mark Mühlhaus/attenzione/Agen-
tur Focus; Thomas Victor/Agentur Focus; Tim Wegner/laif; Werner Mah-
ler/Ostkreuz; Anne Gerdes

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