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Inhalt

Einleitung 15

Kapitel I
Grundlagen 21
1. Der ‚kleinste gemeinsame Nenner‘ qualitativer Sozialforschung 21
1.1 Qualitative versus rekonstruktive Forschung 24
1.2 Sozialtheoretische Bezüge rekonstruktiver
Sozial- bzw. Interviewforschung 26
1.2.1 Ethnomethodologie 27
1.2.2 Symbolischer Interaktionismus 28
1.2.3 Sozialkonstruktivismus und Sozialphänomenologie 29
1.2.4 Der wissenssoziologische bzw. sozialphänomenologische
Ansatz von Karl Mannheim 32
1.3 Methodologische Konsequenzen 39
2. Quantitative und qualitative Sozialforschung im Vergleich 43
2.1 Qualitative Sozialforschung als Rekonstruktion –
nicht Überprüfung von Konzepten 44
2.2 Qualitative Forschung als hermeneutische
Erkenntnisspirale 48
2.3 ‚Qualitative Argumente‘ gegenüber
‚quantitativen Kritiken‘ 50
3. Fazit: Qualitätskriterien qualitativer bzw.
rekonstruktiver Forschung 54
4. Die drei Säulen qualitativer Sozialforschung:
Fremdverstehen – Indexikalität – Prozessualität 59
4.1 Das Problem des Fremdverstehens 60
4.2 Das Problem der Indexikalität bzw. des
dokumentarischen Sinns 75
4.2.1 Indexikalität und Fremdverstehen im Kommunikations-
modell von Schulz von Thun 88
4.2.2 Indexikalität und Fremdverstehen im Prozess
kommunikativer Positionierung 90
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8 Inhalt

4.2.3 Resümee: Die Probleme des Fremdverstehens und


der Indexikalität – Zum Unterschied zwischen alltäglichem
und rekonstruktiv-hermeneutischem Verstehen 91
4.3 Das Prinzip der Prozessualität: Grounded Theory
Methodology 92
4.3.1 Zum induktivistischen Selbstmissverständnis in der
qualitativen Forschung 94
4.3.2 Das Konzept der ‚theoretischen Sensibilität‘ 108
4.3.3 Roy Suddaby: „What Grounded Theory is not“ 114
4.3.4 Das Prinzip der Prozessualität qualitativer Forschung –
oder: eine kybernetische Sicht auf das Grounded-Theory-
Paradigma 120
5. Deduktion – Induktion- Abduktion: Zur Komplexität
von Erkenntnisprozessen 132
5.1 Deduktion 135
5.2 Induktion 136
5.3 Abduktion 142
6. Resümee: Rekonstruktive Sozialforschung als
eine spezifische Haltung 145

Kapitel II
Interviewformen – ein Überblick 147
1. Qualitative Interviews zwischen Strukturierung und Offenheit 148
2. Narratives Interview 150
3. Problemzentriertes Interview 153
4. Fokussiertes Interview 155
5. Struktur-Lege-Techniken / Repertory-Grid-Verfahren 156
6. Ethnographisches Interview 158
7. Paarinterview 159
8. Expert/inn/en-Interview 166
8.1 Expert/inn/en-Interviews – Wichtiges in aller Kürze 166
8.2 Expert/inn/en-Interviews in der Perspektive von
Meuser und Nagel 170
8.3 Was ist ein ‚Experte‘ – eine ‚Expertin‘? 173
8.4 Welches Expert/inn/en-Wissen haben Expert/inn/en? 174
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Inhalt 9

8.5 Vom archäologischen zum interaktionstheoretischen


Modell 177
8.6 Expert/inn/en-Wissen in Aktion: Expert/inn/en in
Expert/inn/en-Interviews 179
8.7 Expert/inn/en-Interviews: eine gendertheoretische
Betrachtung 183
8.8 Fazit: Ist das Expert/inn/en-Interview eine eigenständige
Methode? 185
9. Gruppendiskussionsverfahren 186
9.1 Zur historischen Entwicklung des Gruppendiskussions-
verfahrens 190
9.1.1 Das Gruppendiskussionsverfahren als Erhebungs-
instrument von Einzelmeinungen im kommunikations-
förderlichen Gruppenkontext (Pollock) 191
9.1.2 Das Gruppendiskussionsverfahren als Erhebungs-
instrument von informellen situationsunabhängigen
Gruppenmeinungen bzw. sozialen Konsensen (Mangold) 191
9.1.3 Das Gruppendiskussionsverfahren als Erhebungs-
instrument von situationsabhängigen Gruppen-
meinungen (Nießen) 192
9.1.4 Das Gruppendiskussionsverfahren als Erhebungs-
instrument von kollektiven Orientierungsmustern
(Bohnsack) 192
9.1.5 Die methodologische Entwicklung des Gruppen-
diskussionsverfahrens: Ein Resümee 193
9.2 Abgrenzung des Gruppendiskussionsverfahrens vom
Einzelinterview 193
9.3 Gruppendiskussionsverfahren – forschungspraktische
Perspektiven 194
9.3.1 Umgang mit Forschungsgegenstand und
Forschungsinteressen 196
9.3.2 Umgang mit dem Sampling von Gruppendiskussionen 196
9.3.3 Umgang mit der diskursiven Organisation von
Gruppendiskussionen 199
9.3.4 Die Analyse von Gruppendiskussionsverfahren 202
10. Leitfadeninterviews 203
11. Zur Wahl der Interviewform bzw. zur methodologischen
Ausrichtung von Interviewkommunikation 204
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10 Inhalt

Kapitel III
Qualitative Leitfadeninterviews: die Entwicklung von
Interviewleitfäden 209
1. Qualitative Leitfadeninterviews: Offenheit versus
„Leitfadenbürokratie“ und „Pseudoexploration“ 209
2. Anforderungen an die Formulierung von Stimuli
in Interviewleitfäden 215
3. Fragestile und Stimulus-Techniken – ein Überblick 219
4. Leitfadeninterviews – ein Fazit zu Strukturierung versus Offenheit 224
5. Die Entwicklung von Interviewleitfäden 226
5.1 Das SPSS-Verfahren der Leitfadenentwicklung (Helfferich) 227
5.2 Das S²PS²-Verfahren der Leitfadenentwicklung 230

Kapitel IV:
Qualitatives Sampling 237
1. Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 237
1.1 Statistische Repräsentativität – die einfache Zufalls-
stichprobe in der quantitativen Sozialforschung 238
1.2 Qualitative Repräsentation – die bewusste kontrastierende
Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung 240
1.3 Resümee: Qualitative Fallauswahl zwischen theoretischer
Vorabfestlegung und theoretical sampling 248
2. Die Rekrutierung von Interviewpersonen 250
2.1 Schneeballsystem 251
2.2 Gatekeeper/innen bzw. Multiplikator/inn/en 251
2.3 Verschiedene direkte Recherchestrategien 252
2.4 Gestufte und kombinierte Verfahren 253
3. Die Gestaltung und Regeln der Erstkontaktaufnahme 254
3.1 Vorsichtige Präsentation des Forschungsvorhabens 255
3.2 Die Interviewperson ist der/die Experte/Expertin! 256
3.3 Was ist ein qualitatives Interview und wie läuft das ab? 256
3.4 Zum Umgang mit den persönlichen Daten 257
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Kapitel V
Grundzüge qualitativer Interviewdurchführung 259
1. Die Durchführung qualitativer Interviews – eine Einleitung 259
2. Organisation der Interviewvorbereitung und Interview-
durchführung – eine Checkliste 262
3. Interviewaufnahmetechnik und Transkriptionssoftware 264
3.1 Technisches Equipment für die Interviewaufnahme
und Transkription 264
3.2 Software für die Aufnahme und Transkription
von Interviews 267
3.3 Archivierung der Interviews 269
4. Formale Verfahrensregeln der Interviewdurchführung:
zum Einstieg in und zum Ausstieg aus qualitativen Interviews 270
4.1 Einstiegsinformation am Interviewanfang 270
4.2 Ausstiegsinteraktion am Ende qualitativer Interviews 273
4.3 Regelungen zum Datenschutz am Ende des Interviews 274
4.4 Ein typisches ‚Danach‘ im Interview: Es geht weiter… 277
4.5 Ein weiteres ‚Danach‘ im Interview: das Postskript 278
5. Grundzüge qualitativer Interviewführung 280
5.1 Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Interviews 281
5.2 Das Ziel, die Stärke und die Methodik qualitativer
Interviews: Deindexikalisierung 292
5.3 Die Bedeutung von Fremdheit und Vertrautheit
in der Interviewkonstellation 298
5.4 Das Prinzip der Verfremdungshaltung und
der Fremdheitsannahme im Interview 302
5.5 Interviewkommunikation im Vergleich zu anderen
Gesprächskontexten 304
5.6 ‚Cutting‘ – Wann darf eine ‚ausschweifende Erzählperson‘
unterbrochen werden? 307
5.7 Qualitative Interviewforschung im Fremdsprachenkontext 312
6. Der biografische Kontext qualitativer Interviewforschung 318
7. Der Entwurf einer Metatheorie qualitativer
Interviewkommunikation 326
8. Qualitative Interviewführung – Reflexiv Revised 332
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12 Inhalt

Kapitel VI
Transkription 341
1. Zum (Un-)Sinn der Transkription verbaler Daten 342
2. Die Konstruktivität von Transkripten 346
3. Fünf moderate Grundregeln des Transkribierens und
der Vorschlag für ein Transkriptionssystem 350
4. Tipps und Verfahrenshinweise für die Erstellung und
Aufbereitung von Transkripten 355
4.1 Anonymisierung 358
4.2 Vereinfachung von Transkripten für Publikationszwecke 358
5. Transkribieren lassen? 359

Kapitel VII
Rekonstruktiv-hermeneutische Analyse:
ein integratives Basisverfahren 361
1. Einleitung: Offenheit und Sensibilität im Analyseprozess 364
2. Die forschungspraktischen Ebenen des Sinnverstehens 372
2.1 Zusammenfassung 372
2.2 Paraphrasierung 373
2.3 Deskription 374
2.4 Interpretation 376
2.5 Fazit: Verlangsamung als Grundprinzip des
Deutungsprozesses 377
3. ‚Kode‘ / ‚Kodieren‘ – ‚Kategorie‘ / ‚Kategorisieren‘:
schillernde Begriffe der qualitativen Datenanalyse 379
4. Grundannahmen und Grundprinzipien rekonstruktiv-
hermeneutischer Analyse 384
5. Analyseansätze – ein ‚dramaturgischer‘ Überblick 390
5.1 Grounded Theory Methodology 391
5.2 Inhaltsanalyse nach Mayring 398
5.3 Objektive Hermeneutik 417
5.4 (Ethnomethodologische) Konversationsanalyse 431
5.5 Dokumentarische Methode 436
5.5.1 Replikation: der wissenssoziologische Ansatz von
Karl Mannheim und seine Methode der dokumentarischen
Interpretation in aller Kürze 437
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Inhalt 13

5.5.2 Die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack 444


5.5.3 Die rekonstruktive Analyse in der dokumentarischen
Methode nach Ralf Bohnsack – kritische Perspektiven 451
6. Das integrative Basisverfahren – ein rekonstruktiv-
hermeneutisches Programm 462
6.1 Die sprachlichen Aufmerksamkeitsebenen 469
6.1.1 Aufmerksamkeitsebene der Pragmatik bzw. Interaktion 471
6.1.2 Aufmerksamkeitsebene der Syntaktik 472
6.1.3 Aufmerksamkeitsebene der (Wort-)Semantik 473
6.2 Die mikrosprachliche Feinanalyse im
prozessualen Überblick 475
6.3 Gegenständliche Analyseheuristiken 479
6.4 Methodische Analyseheuristiken 491
6.4.1 Agencyanalyse 492
6.4.2 Positioninganalyse 499
6.4.3 Argumentationsanalyse 503
6.4.4 Metaphernanalyse 505
6.4.5 Diskursanalyse 508
6.5 (Zentrale) Motive und Thematisierungsregeln –
das integrative Basisverfahren und seine Bezüge zur
Methode der dokumentarischen Interpretation von
Karl Mannheim 534
6.6 Der Analyseprozess des integrativen Basisverfahrens
in der Gesamtschau 555
6.7 Die Analysegruppe: ein weiteres Moment des Versuchs
zur methodischen Kontrolle des Fremdverstehens 557
6.8 Forschungspraktische Hinweise und
‚(Abkürzungs-)Strategien‘ 563
7. Qualitative Data Analysis Software 573
7.1 Zur Wahl von QDA-Software. Hintergründe,
Funktionalität, Hilfestellungen (Christian Schmieder) 574
7.1.1 Spannungsfelder im Diskurs zu QDA-Software –
eine kurze Bestandsaufnahme 574
7.1.2 Grundfunktionen von QDA-Software 579
7.1.3 Drei Elemente softwaregestützter Analyse: Option,
Methode und Funktion 582
7.1.4 QDA-Software – eine Wunschliste 584
7.1.5 QDA-Software in Lehre und Vermarktung –
abschließende Bemerkungen 587
7.2 Computergestützte Datenauswertung: Entwicklung der
Software quintexA (Kristina Maria Weber) 593
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14 Inhalt

7.2.1 Entwicklung von quintexA 594


7.2.2 Das Programm quintexA 598
7.3 Computergestützte Analyse qualitativer Daten mit
f4analyse (Thorsten Dresing und Thorsten Pehl) 603
7.3.1 Das Programm f4analyse 604
7.3.2 Ein Arbeitsvorschlag 607
7.3.3 Hilfestellungen durch f4analyse – ein kurzes Fazit 612

Kapitel VIII
Strukturierung, Dokumentation und Darstellung
qualitativer Forschungsarbeiten 613
1. Grundlegende Verfahrensmöglichkeiten zur Strukturierung
und Dokumentation der Analysearbeit 614
2. Längsauswertung und Querauswertung –
von der Fallanalyse zur Typik 616
3. Die Darstellung qualitativer Forschungsarbeiten 623
3.1 Das Methodenkapitel – eine ‚Checkliste‘ 624
3.2 Grundlegende Anmerkungen zum Aufbau der
Darstellung qualitativer Forschungsarbeiten 628
3.3 Aufbau empirischer Kapitel 631
3.4 Explikativität, Argumentativität, Transparenz –
Grundsätze der Darstellung von Analyseergebnissen 633
3.5 Exkurs: Was ist eine gute Publikation? 638
4. Die Logik rekonstruktiver Forschung im Spiegel ihrer
Darstellung von Ergebnissen – eine abschließende Betrachtung 643

Anhang I:
Exemplarische Textanalyse nach dem integrativen
Basisverfahren 651
Anhang II:
Textlinguistisches Glossar 659
Literatur 683

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237

Kapitel IV
Qualitatives Sampling

Der Frage nach der Fallauswahl (Sample), also der Frage danach, welche Per-
sonen befragt werden sollen, kommt in der qualitativen Interviewforschung
eine gleich große und wichtige Bedeutung zu wie in der standardisierten For-
schung der Frage nach der Stichprobe. Letztere ist ebenfalls stets eine Aus-
wahl an Fällen und stellt somit ein Sample dar, das jedoch ganz andere Ent-
wicklungs- und Strukturmerkmale aufweist als die qualitative Fallauswahl.
In diesem Kapitel wird zuerst aus einer erkenntnistheoretischen und me-
thodologischen Perspektive gezeigt, wie sich die Erkenntnisziele qualitativer
bzw. rekonstruktiver Sozialforschung logisch im Sampling widerspiegeln:
Die spezifische Art und Weise des qualitativen Samplings unterscheidet sich
grundlegend von den Sampling-Strategien der standardisierten Forschung.
Sie verfolgt andere Erkenntnisziele und soll sicherstellen, dass durch die Ana-
lyse der herangezogenen empirischen Fälle (Fallauswahl, Datenkorpus) spe-
zifische Aussagen entwickelt werden können, die valide sind. Zudem sollen
sie von sich beanspruchen können, dass sie in abstrahierter Weise eine Reich-
weite der Ergebnisse begründen können, die über das zugrundeliegende
Sample (Fallauswahl) hinausgeht. Dies kann man als eine ‚Verlängerung‘ der
auf der Datenbasis – des konkreten Samples – selektiv gewonnen Erkennt-
nisse bezeichnen.
Im Anschluss daran sollen mit dem Sampling eng verbundene for-
schungspraktische Aspekte behandelt werden – vor allem in Bezug auf die
Rekrutierung und Kontaktaufnahme von Interviewpartnern und Interview-
partnerinnen. Es wird gezeigt, wie methodologische Anforderungen in kon-
kreten empirischen Situationen umgesetzt werden können, und welche Im-
plikationen hierbei beachtet und reflektiert werden müssen.

1. Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings

Der Status, also die Qualität bzw. Validität empirischer Daten – und hier ist
es völlig gleichgültig, ob nun quantitativ oder qualitativ geforscht wird –
hängt ganz entscheidend davon ab, auf welcher Datenbasis sie wie generiert
worden ist, sprich: auf welcher Fallauswahl bzw. Strichprobe – allgemein ge-
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238 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

sprochen: auf welchem Sample – sie beruht. Das Sampling, also der Prozess
und die Art und Weise der fallbezogenen Datengenerierung entscheidet
maßgeblich darüber, welche Aussagequalität mit der Analyse der Daten er-
reicht wird oder werden kann, bzw. welche Reichweite die Ergebnisse bean-
spruchen können (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 173-182).
Die grundlegende operative Logik des Samplings korrespondiert stark
mit den jeweiligen Erkenntniszielen und deren zugrundeliegenden Erkennt-
nisschlussprinzipien (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 311-331). Im Ka-
pitel I (→ s. dort Abschnitt 5) wurden in Anlehnung an Charles S. Peirce
(2004; s. ausführlicher Reichertz 2003a, 2003b) die Erkenntnisschlussverfah-
ren der Deduktion, der quantitativen bzw. qualitativen Induktion und der Ab-
duktion vorgestellt. Es wurde gezeigt, dass die Deduktion als Moment einer
logischen Ableitung im strengen Sinne für die empirische Sozialforschung
wenig Anwendung finden kann (vgl. Kelle 2007: 88ff.; Blinkert 2009: 20ff.).
Denn empirische Sozialforschung arbeitet meistens mit induktiven Schlüssen,
die zwar wissensanwendend sind (und damit im ‚weichen‘ Sinne ebenfalls ‚de-
duktiv‘) – aber sie sind eben nicht wissensgenerierend (vgl. Reichertz 2003a,
2003b). Neues Wissen zu generieren – und dies ist im Grunde genommen ja
das Ziel und die zentrale Herausforderung von empirischer Sozialforschung
– obliegt der Abduktion. Es wurde gezeigt, dass die standardisierte Forschung
mit ihrem Erkenntnisziel der quantifizierenden Verallgemeinerung von Er-
kenntnissen der Schlusslogik der quantitativen Induktion folgt. Die qualita-
tive bzw. rekonstruktive Sozialforschung folgt demgegenüber der qualitativen
Induktion, da sie ein grundlegend anderes Erkenntnisziel verfolgt.
Wie sich dies nun jeweils in der Art und Weise des Samplings nieder-
schlägt, soll im Folgenden weiter betrachtet werden.

1.1 Statistische Repräsentativität – die einfache Zufalls-


stichprobe in der quantitativen Sozialforschung

Quantitative Sozialforschung hat das Ziel, Häufigkeiten und Zusammen-


hänge zu untersuchen. Hierfür werden große Fallzahlen, also Stichproben be-
nötigt, da ansonsten die Gültigkeit der gewonnen Erkenntnisse nicht induk-
tiv-statistisch gesichert wäre, was wiederum in der Logik des quantitativen
Induktionsschlusses begründet liegt (→ s. ausführlicher Kapitel I, Abschnitt
5.2). Die Stichprobe muss bestimmte Merkmale aufweisen, damit die Ergeb-
nisse in Bezug auf die untersuchten Fälle verallgemeinerbar, sprich im Sinne
des quantitativen Induktionsschlusses ‚verlängerbar‘ sind: Die Stichprobe
muss repräsentativ sein, was heißt, dass sie die Strukturmerkmale der Grund-
gesamtheit, auf die sich die Untersuchung bezieht, analog abbilden muss.
Eine Grafik soll dies verdeutlichen:
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 239

Abbildung 12: Die statistische Fallauswahl

Grundgesamtheit

Zufallsstichprobe, welche die


Verteilungsmerkmale der
Grundgesamtheit in verringer-
ter Form (‚verkleinert‘) abbildet

Um zu solch einer Stichprobe zu gelangen, werden in der quantitativen For-


schung i.d.R. wahrscheinlichkeitstheoretische Methoden der Stichprobenge-
nerierung angewendet. Daher tragen repräsentative Stichproben auch die sy-
nonyme Bezeichnung der Zufallsstichprobe. Dahinter steckt die folgende
Überlegung: In jeder Stichprobe sind grundsätzlich Verzerrungen möglich
und wahrscheinlich, d.h. es ist möglich, dass bestimmte Merkmalsverteilun-
gen überrepräsentiert sind. Die Stichprobe enthält dann z.B. zu viele Männer
oder zu wenig Hochqualifizierte oder zu viele Frauen, die nicht erwerbstätig
sind, etc. Wenn nun aber die Stichprobe groß genug ist und die Fälle der
Grundgesamtheit über die Methode der Wahrscheinlichkeitsziehung – das
Ganze kann man sich wie eine Lottoziehung vorstellen – für die Stichprobe
herangezogen werden, gleichen sich die Verzerrungen gegenseitig aus – je-
doch nur unter der Grundbedingung, dass alle Fälle in der Grundgesamtheit
die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen, in die Stichprobe aufgenommen zu
werden. Ob dies tatsächlich der Fall gewesen ist, kann dann über eine Reprä-
sentativitätsprüfung für die Stichprobe evaluiert werden. Das heißt man ver-
gleicht die Merkmalsverteilungen in der Stichprobe mit denen der Grundge-
samtheit. In der Forschungspraxis ergeben sich hierbei, aber auch schon bei
der Ziehung der Stichprobe gravierende Probleme (mangelhafte Kenntnisse,
problematische Vorannahmen über die Grundgesamtheit bzw. Probleme der
zeitlichen und räumlichen Definition der Grundgesamtheit, technische
Probleme oder Zugangsprobleme bei der Stichprobenziehung etc.), so dass
praktisch gesehen jede Zufallsstichprobe immer nur mehr oder weniger re-
präsentativ ist.
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240 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

An dieser Stelle sei grundsätzlich angemerkt, dass die einfache Zufalls-


stichprobe nicht immer die beste Stichprobe für die Klärung von quantitati-
ven Fragestellungen ist. Bestimmte soziale Phänomene sind nur über soge-
nannte Schichten- oder Klumpenstichproben sinnvoll statistisch modellier-
bar. Hierzu ein (plakativ konstruiertes) Fallbeispiel:

Theoretisch geleitete Samplebildung in der quantitativen Forschung

Wenn z.B. in einem Forschungsprojekt über Einkommensunterschiede in verschiede-


nen Berufsgruppen statistisch ‚solide‘ Varianzmaße berechnet werden sollen, kann
i. d. R. nicht mit einfachen Zufallsstichproben gerechnet werden. Dies kann besonders
gut am folgenden konstruierten Beispiel verdeutlicht werden: Wenn die Varianzmaße
der Einkommen von Lehrern/Lehrerinnen und Rechtsanwält/inn/en berechnet und
verglichen werden sollen, ist eine einfache Zufallsstichprobe insofern ergebnisverzer-
rend, weil sie die per se deutlich unterschiedliche Einkommens-Range von Leh-
rern/Lehrerinnen und Rechtsanwält/inn/en auf der Stichprobenebene nicht berück-
sichtigen können wird: Bei Lehrern/Lehrerinnen sind die Einkommen sehr viel stärker
normiert als bei Rechtsanwält/inn/en. Daraus folgt, dass man bei Lehrern/Lehrerin-
nen eine viel kleinere Stichprobe benötigt, um die Einkommensvarianz statistisch so-
lide zu berechnen als bei Rechtsanwält/inn/en, so dass man bei einem Vergleich der
Varianzmaße eben mit anderen Sampleverfahren operieren kann – und dieses theore-
tische Wissen anwenden muss in der Stichprobenbildung.

Hierin zeigt sich, dass auch in der standardisierten Forschung aufgrund von
theoretischen Überlegungen Fallauswahlen bewusst gesteuert bzw. generiert
werden – und damit sind wir bei der grundlegenden Logik qualitativer Fal-
lauswahlen angekommen.

1.2 Qualitative Repräsentation – die bewusste kontrastie-


rende Fallauswahl in der qualitativen Sozialforschung

Qualitative Sozialforschung hat das Ziel, entweder subjektive Sichtweisen


bzw. Relevanzsysteme auf Einzelfallebene herauszuarbeiten – wenn stärker
einem subjektphänomenologischen Ansatz gefolgt wird. Oder ein zweiter Fo-
kus liegt auf der Rekonstruktion kollektiver Orientierungsmuster bzw. sozialer
Sinnstrukturen über die komparative Analyse mehrerer Einzelfälle – wenn
stärker einem wissenssoziologischen Ansatz gefolgt wird (→ s. hierzu auch Ka-
pitel VII, Abschnitt 6.4.5). Beide Ansätze sollten nicht im strengen Sinne
konträr gedacht werden (vgl. Keller 2012). Die Verallgemeinerung der Ana-
lyseergebnisse hinsichtlich ihrer verteilungstheoretischen Lagerung ist in bei-
den Ansätzen nicht das Ziel: Es wird nicht gefragt, wie oft ein bestimmter
Typus (ein Muster bestimmter Merkmalsausprägungen bzw. Sinnfiguren) in
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 241

der Realität vorkommt, sondern wie genau sich ein Typus aus welchen Merk-
malen bzw. Sinnfiguren strukturiert, wie er phänomenal erscheint. Ziel qua-
litativer Forschungsergebnisse ist also nicht die statistische Repräsentativität,
sondern die qualitative Repräsentation: entweder a) auf Subjektebene, oder b)
auf der Ebene sozialer Sinnstrukturen, wobei wiederum beide Ebenen in ei-
nem dualistischen Gesamtzusammenhang gesehen werden müssen (vgl.
Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 335ff.).

Literaturtipp

Als weiterführende Literatur zum Thema qualitatives Sampling empfehle ich das
Buch von Udo Kelle und Susann Kluge (1999) „Vom Einzelfall zum Typus“.

Wird in der Forschungspraxis das Ziel der qualitativen Repräsentation auf der
Subjektebene – im Sinne einer Rekonstruktion eines Falltypus (vgl. Przyborski/
Wohlrab-Sahr 2008: 311-331, 335ff.) – (stärker) verfolgt, besteht auch hier in
der qualitativen Sozialforschung das Ziel darin, eine relative Verallgemeinerung
der typologischen Analyse über die untersuchten Fälle hinweg anzustreben: Es
besteht dann der Anspruch, die Aussage zu treffen, dass die Rekonstruktion
eines bestimmten Fallmusters über die untersuchten Fälle hinweg gültig ist. Es
werden jedoch keine Aussagen darüber getroffen, wie häufig dieser Falltypus
in der Realität tatsächlich vorkommt, ob er also auch in einem statistischen
Sinne relevant ist. Um zu solch einem Grad der qualitativen Verallgemeine-
rung der rekonstruktiven Analyseergebnisse zu kommen, müssen jedoch meh-
rere Fallanalysen – i.d.R. mit N = 10 bis 100 (vgl. Merkens 2003; Kelle/Kluge
1999: 75ff.; Mayring 2007; Helfferich 2009: 175) – durchgeführt werden und
die Fallauswahl muss bestimmte Merkmale aufweisen:
Auch in qualitativen Studien werden Fälle aus einer ‚Grundgesamtheit‘ aus-
gewählt, die gekennzeichnet ist durch die Heterogenität des Untersuchungsfel-
des: Wirklichkeit ist „mannigfaltig“ (Mannheim 1980: 115; vgl. auch Schütz
2004). Die Fallauswahl, das Sample, muss nun versuchen, diese Heterogenität
in irgendeiner Wiese zu berücksichtigen. Über wahrscheinlichkeitstheoreti-
sche Methoden ist die Ziehung einer Stichprobe nicht möglich – aufgrund der
kleinen Fallauswahl, die angestrebt wird. Insofern muss in Hinsicht auf be-
stimmte Merkmalsausprägungen – wie z.B. standarddemografische Merkmale
– eine bewusste Fallauswahl getroffen werden, so dass das Sample Fälle enthält,
welche die Heterogenität des Untersuchungsfeldes zumindest repräsentieren
(vgl. Kelle/Kluge 1999). Eine Grafik soll dies wieder veranschaulichen:
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242 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

Abbildung 13: Die bewusste kontrastierende Fallauswahl –


das qualitative Sampling
Grundgesamtheit

Bewusste Fallauswahl, welche


die Heterogenität des Untersu-
chungsfeldes falltypologisch
kontrastierend repräsentiert

Damit diese Repräsentation der Heterogenität gegeben ist, werden in der For-
schungspraxis zwei Samplingstrategien angewendet, die insbesondere das
Prinzip der maximalen strukturellen Variation (vgl. Kleining 1982) gemein-
sam haben. Grundgedanke dieses Prinzips der maximalen strukturellen Va-
riation – auch kontrastierendes Samplingverfahren genannt – ist, dass die He-
terogenität des Untersuchungsfeldes dann relativ gut in der Fallauswahl
repräsentiert ist, wenn sich die Fälle maximal voneinander unterscheiden in
Hinsicht auf bestimmte Merkmale: z.B. Lebenssituation, Alter, Einkommen,
Erwerbstätigkeit, soziale Situation, Familienstand, u.v.m. Das Prinzip der
maximalen strukturellen Variation kann in zwei verschiedenen Samplever-
fahren erreicht werden, die im Abschnitt 1.3 nochmals zusammenfassend
vorgestellt werden sollen: der theoretisch begründeten Vorabfestlegung des
kontrastierenden Samples und dem theoretical sampling aus der Grounded
Theory Methodology (→ s. hierzu Kapitel I, Abschnitt 4.3). In letzterem Fall
handelt es sich um die sukzessive Entwicklung des kontrastierenden Samples
im Verlauf des Datenerhebungsprozesses. Die Erhebung der Daten, die rekon-
struktive Analyse und die theoretische Reflexion bzw. Abstrahierung sind
hier in einem iterativ-zyklischen Prozess eng verbunden (vgl. Strauss/Corbin
1996; Strübing 2004).
Wird in den Forschungsprozessen das Ziel der qualitativen Repräsenta-
tion auf der Ebene sozialer Sinnstrukturen stärker verfolgt, wird diese bisher
skizzierte Logik der bewussten, kontrastierenden Fallauswahl ebenfalls deut-
lich. Es wird m.E. auch augenscheinlich, inwiefern diese Sampling-Logik in
einem engen erkenntnistheoretischen Zusammenhang steht mit dem quali-
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 243

tativen Induktionsschluss (→ s. Kapitel I, Abschnitt 5.2). Und darüber wird


auch der Unterschied zu den Sampling-Strategien in der quantitativen Sozi-
alforschung verdeutlicht, da klar wird: das qualitative Sampling steht insge-
samt vor dem Hintergrund eines anderen Erkenntnisziels.
Immer wieder habe ich in der qualitativen Sozialforschungsszene erlebt,
dass gegenüber Studien bemängelt wird, dass die Datenbasis zu gering sei,
um analytische Aussagen valide zu entwickeln. Dies ist sicherlich keine zu
unterschätzende Kritik – m.E. allerdings nur dann, wenn in den konkreten
Forschungsbezügen die qualitative Repräsentation vor allem auf der Indivi-
dualebene verfolgt wird. Wenn im Zusammenhang subjektorientierter, d.h.
bewusstseinsförmig phänomenologischer Ansätze geforscht wird, besteht
i.d.R. dennoch das Ziel, auf der Basis stärker einzelfallorientierter Analysen
subjektive Bedeutungsmuster zu rekonstruieren und diese über die konkre-
ten herangezogenen Fälle in einem gewissen Sinne qualitativ (nicht statis-
tisch!) zu verallgemeinern.
Dieser zuletzt ausgeführte Anspruch leitet zum Forschungsansatz als
auch der Sampling-Strategie über, die qualitative Repräsentation auf der
Ebene sozialer Sinnstrukturen zu verfolgen. Dieser Forschungsansatz ist wis-
senssoziologisch verankert (s. hierzu Mannheim 1980, 2004; vgl. auch Jung
2007; Bohnsack 2010). Ziel dieser nicht individualistisch orientierten, son-
dern kollektiven Soziologie ist es (→ s. hierzu auch Kapitel II, Abschnitt 9),
ein sinnstrukturelles Grundmuster – oder in Karl Mannheims Worten, ein
„homologes Muster“ (vgl. Mannheim 2004: 127; Garfinkel 1973: 199; → s. auch
bereits Kapitel I, Abschnitte 1.2.4 u. 4.2) – innerhalb eines sozialen Felds zu
rekonstruieren. Dieses Feld ist durch einen Bedeutungs- bzw. „Bedeutsam-
keitszusammenhang“ definiert (s.u.), und wird repräsentiert durch eine An-
zahl X an Fällen bzw. an einer Menge x an Daten (→ s. hierzu auch Kapitel
VII, Abschnitt 6.5). Dieses Erkenntnisziel korrespondiert m.E. mit der Logik
des qualitativen Induktionsschlusses (→ s. Kapitel I, Abschnitt 5.2), was an-
hand der folgenden Grafik veranschaulicht werden kann:

Abbildung 14: Der Zusammenhang von qualitativem Induktionsschluss und


qualitativem Sampling

Was ist hier im Sinne eines induktiven Erkenntnisschlusses die Möglichkeit


zu einer ‚Verallgemeinerung‘ der Ergebnisse (der symbolisch dargestellten
Sinnfiguren)?
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244 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

Nehmen wir an, in einer qualitativen Interviewstudie werden sechs Inter-


views, also sechs Fälle (F1-6) erhoben und (rekonstruktiv) analysiert (→ s. hierzu
Kapitel VII, insbesondere Abschnitte 6ff.). Die Analyseergebnisse stellen für
jeden Fall eine spezifische Sinnstruktur dar: eine Sinnfigur in Form eines fall-
immanenten ‚zentralen Motivs‘ (→ s. Kapitel VII, Abschnitt 6.5) i.S.v. Karl
Mannheims Grundidee des ‚homologen Musters‘, wie es in der Abbildung 14
symbolisch abstrahiert dargestellt worden ist. Was ist hier im Sinne eines in-
duktiven Erkenntnisschlusses die Möglichkeit zu einer ‚Verallgemeinerung‘ –
im Sinne einer ‚Verlängerung‘ der gewonnen Erkenntnisse – über die Fälle hin-
weg? Antworten wie: „Alle Sinnfiguren besitzen rechte Winkel“ oder „Die Sinn-
figur von F2 kommt zweimal vor“ oder „Alle Sinnfiguren bestehen aus schwarzen
gerade Linien“ stellen offensichtlich quantitative Induktionsschlüsse dar, die er-
kennbare Merkmale in einer additiven Abstraktion hin zu einer Regel verlän-
gern. Dies ist jedoch nicht das Erkenntnisziel qualitativer bzw. rekonstruktiver
Sozialforschung; zumindest, wenn sie genuin einen wissenssoziologischen und
damit kollektivistisch-soziologischen Ansatz verfolgt. Denn dann muss die
Frage darin bestehen: Wie kommt es dazu, dass die erhobenen Fälle alle schein-
bar genau in dieser Hinsicht verschiedene (und dennoch vergleichbare) Sinn-
figuren implizieren und keine anderen? Sprich: Was ist das fallübergreifende
‚homologe Muster‘ jener scheinbar oberflächlich unterschiedlichen Sinnfigu-
ren. Auf welche dahinterliegende genealogische Sinnstruktur gehen sie zurück
– die dazu führt, dass sich an der ‚Oberfläche‘ der empirischen Phänomenali-
sierungen spezifische Sinnfiguren in der Art und Weise zeigen, wie sie es tun,
und nicht anders? Mannheim (2004) formuliert in diesem Zusammenhang:

„So gewinnt man denn schließlich den Eindruck, als erfasste man an grundverschiedenen
objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich das gleiche Do-
kumentarische. Dieses Gerichtetsein auf Dokumentarisches, dieses Erfassen des Homologen
an den verschiedensten Sinnzusammenhängen ist etwas Eigentümliches, das weder mit Ad-
dition noch mit Synthese, auch nicht mit bloßer Abstraktion gemeinsamer Merkmale ver-
wechselt werden darf; es ist etwas Eigentümliches, weil das Ineinandersein Verschiedener
sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit, Verhältnisse sind, die der
geistig-sinnmäßigen Welt eigentümlich sind […].“ (Mannheim 2004: 127; Herv. JK)

Und Harold Garfinkel (1973) formuliert – wie schon einmal als Zitat heran-
gezogen (→ s. Kapitel I, Abschnitt 4.2; s. auch nochmals Kapitel VII, Ab-
schnitte 5.5 u. 6.5) – in prägnanter Weise hierzu:

„Gemäß Karl Mannheim beinhaltet die Dokumentarische Methode die Suche nach ‚einem
identischen, homologen Muster, das einer weit gestreuten Fülle total unterschiedlicher Sinn-
verwirklichungen zugrunde liegt‘. Dies bedeutet die Behandlung einer Erscheinung als ‚das
Dokument‘, als ‚Hinweis auf‘, als etwas, das anstelle und im Namen des vorausgesetzten,
zugrunde liegenden Musters steht.“ (Garfinkel 1973: 199; Herv. JK)
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 245

Das ‚homologe Muster‘, die zugrundeliegende konsistente Sinnfigur der Fälle


F1-6 im herangezogenen Beispiel kann anhand eines qualitativ-induktiven Er-
kenntnisschlusses auf ein dahinterliegendes homologes Muster ‚verlängert‘
werden. Hierbei können die empirisch vorgefundenen, verschiedenartigen
Sinnfiguren (Muster) wie ‚Spuren‘ betrachtet werden:

Abbildung 15: Der qualitative Induktionsschluss als Verlängerung von


Spuren auf ein homologes Muster

Diese Interpretation eines homologen Musters ‚X‘, das „an grundverschiede-


nen objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten“ als „ein Identisches,
nämlich das gleiche Dokumentarische“ erschlossen werden kann, ist und
bleibt eben eine Interpretation, ein qualitativ-induktiver Erkenntnisschluss –
der falsch sein kann! Denn wieso kann nicht auch ein ‚Y‘ das homologe Mus-
ter sein? Oder gar das Haus aus dem Kinder-Rätsel und -Reim ‚DAS HAUS
VOM NIKOLAUS‘ – eine Interpretation, die als kreativer bzw. abduktiver Er-
kenntnisschluss bezeichnet werden könnte (→ s. Kapitel I, Abschnitt 5.3)?
Ist eine Interpretation auf ein ‚homologes Muster‘ nun an dieser Stelle
noch nicht verlässlich möglich – wobei nochmals betont werden muss, dass
eine Interpretation aus erkenntnistheoretischen Gründen niemals Gewiss-
heit beanspruchen kann –, müssen dann eben noch in der Fortsetzung des
iterativ-zyklischen Erkenntnis- bzw. Forschungsprozesses weitere Daten
analysiert oder erhoben werden – bis sich eine Interpretation herausentwi-
ckelt hat, die als in hohem Maße plausibel und nachvollziehbar erscheint.
Dies wird in der Grounded Theory Methodology als Prozess der theoretischen
Sättigung bezeichnet (vgl. Strübing 2004: 32f.).
In diesem Zusammenhang wird das Prinzip der maximalen strukturellen
Variation als grundlegende Sampling-Strategie verständlich: Denn wenn wir
die Annahme verfolgen, dass es in sehr verschiedenen Fällen bzw. Daten eher
wahrscheinlich ist, dass sich nicht so einfach homologe Muster (hintergrün-
dige Sinnstrukturen) finden lassen, dann sind Interpretationen gerade hier-
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246 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

über validierbar, wenn eben doch konsistente Spurenmuster in den sehr he-
terogenen Daten gedeutet werden können. Diese Grundidee zeigt sich m.E.
im Ansatz der Datentriangulation von Norman Denzin (1970: 300ff.).
Allerdings ist dieser differenztheoretische Grundansatz nicht ungefähr-
lich. Er kann dazu führen, dass vorurteilsbehaftete Unterscheidungskriterien
im Forschungsprozess zu Reifikationen, also zu Wiederbestätigungen führen
im Hinblick auf gruppenspezifisch unterschiedliche homologe Muster. Ein
plakatives Beispiel hierzu: „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus.“37
Eine größere Differenz lässt sich in irdischen Maßstäben nicht denken. Legt
man diese Differenz nun als Sampling-Strategie in qualitativer Forschung an,
wird sich sicherlich eine Fülle von sehr unterschiedlichen homologen Mus-
tern (Sinnfiguren) für Männer und Frauen interpretatorisch abzeichnen. Die
Reflexion, dass geschlechtsspezifische homologe Muster dabei selbst schon
sozial konstruiert sind und sich darin eine ganz andere, nochmals hinter-
gründigere soziale Sinnstruktur im Sinne eines homologen Musters aus-
drückt, rückt dann in den Hintergrund, wodurch eben die Gefahr der Reifi-
kation bzw. Reifizierung von Geschlecht als sozial konstruierte Kategorie
heraufbeschworen wird (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992; Degele/Schirmer
2004).

Literaturtipp

Dieses an dieser Stelle bewusst plakativ gehaltene Beispiel der Reifikation von Ge-
schlechterkategorien durch qualitative Sozialforschung wird umfassend aufgearbei-
tet im Sammelband von Sylvia Buchen, Cornelia Helfferich und Maja S. Maier (Hg.)
(2004): Gender methodologisch.

Die maximale Variation von Fällen hat zudem auch seine Grenzen (vgl. Mer-
kens 2003; Kelle/Kluge 1999): Denn die sehr unterschiedlich sich zueinander
positionierenden Fälle müssen trotzdem in einem gemeinsamen Bedeutungs-
bzw. „Bedeutsamkeitszusammenhang“ stehen. Dieser ergibt sich einerseits in
vermittelnder Weise durch die Forschungsfragestellung, wodurch eben ver-
schiedene Fälle zueinander relationiert werden. Die Kontrastfälle müssen an-
dererseits von sich aus in Bezug auf einen wie auch immer gearteten, weiter
gefassten Erfahrungszusammenhang, eine gemeinsame Bindung (Konjunk-
tion) aufweisen. In diesem Zusammenhang kann wieder an die Wissenssozi-
ologie von Karl Mannheim angeschlossen werden, in der die Konzepte des
„Bedeutsamkeitszusammenhangs“ bzw. der „Bedeutsamkeitskreise“ in ihrer
wissenssoziologischen Begründung der ‚Seinsgebundenheit allen Denkens‘

37 Eine genaue Quellenangabe dieser Zitation lehne ich an dieser Stelle bewusst ab. Wer un-
bedingt wissen möchte, woher das Zitat stammt, möge eine Suchmaschine benutzen …
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 247

(vgl. Jung 2007; Corsten 2010: 54ff.) eingeführt werden (→ s. Kapitel II, Ab-
schnitt 9.3.2). Unter dem Bedeutsamkeitszusammenhang versteht Karl
Mannheim ein übergeordnetes System von kohärenten Kollektivvorstellungen
(vgl. Corsten 2010: 54f.):

„Von einem ‚Bedeutsamkeitszusammenhang‘ spricht Mannheim in Bezug ‚auf die


Summe und das System aller in einer Zeitepoche von einer Gemeinschaft aktualisierbaren
Kollektivvorstellungen und Wissbarkeiten.‘ Darin gäbe es ‚so viele Bedeutsamkeitskreise,
wie man gemeinschaftlich gebundene Erfahrungsräume überhaupt unterscheiden kann.‘“
(Corsten 2010: 55)

Innerhalb eines Bedeutsamkeitszusammenhangs, der sinnhaft strukturie-


rend wirkt (und damit als Sinnsystem auch als eine Art gemeinsame ‚Tiefen-
schicht‘ betrachtet werden kann), existieren also verschiedene, konkret er-
fahrungsgebundene Bedeutsamkeitskreise – im Prinzip spezifische soziale
Gruppen bzw. Fälle. Die empirische Strategie, über die Kontrastierung ver-
schiedener Fälle überhaupt erst ein übergeordnetes bzw. verschiedenen Be-
deutsamkeitskreisen zugrundeliegendes System von kohärenten Kollektiv-
vorstellungen zu rekonstruieren, stellt nun m.E. den Grundansatz des
kontrastierenden Samplings in der qualitativen Forschung dar. Denn empiri-
sche Verallgemeinerungen im qualitativen Sinne können nur über die Kon-
trastierungen verschiedener sozialer Gruppen bzw. Fälle i.S.v. Bedeutsam-
keitskreisen erreicht werden. Diese existieren aber wiederum nur innerhalb
eines weiter gefassten, sozial-epochalen Bedeutsamkeitszusammenhangs, der
sinnhaft strukturierend auf sie einwirkt.
Damit zeigen sich zwei Probleme: Zum einen sind die Bedeutsamkeits-
kreise relational, denn alle sozialen Akteure bzw. Akteurinnen sind i.d.R.
Mitglieder von mehreren Bedeutsamkeitskreisen (vgl. Bohnsack 2003: 44;
Jung 2007; Bohnsack 2010: 31-68; Nohl 2013; → s. auch Kapitel VII, Abschnitt
5.5). Zum anderen kann der Bedeutungs- bzw. Bedeutsamkeitszusammen-
hang, an den auch kontrastierende Fälle sich gemeinsam ‚seiend‘ rückbinden,
weiter oder enger gefasst werden (‚familiäre Herkunft‘, ‚Geburtsort‘, ‚Regio-
nalkultur‘, ‚Land‘, ‚Planet Erde‘, ‚Generation‘, ‚Epoche‘, ‚Menschheit‘ – oder
X-beliebige andere Kategorien wie: ‚Arbeitsfeld‘, ‚Milieu‘ etc.). Er ist somit
zwar ebenfalls relational (vgl. Nohl 2013) – aber durch das Prinzip der Seins-
verbundenheit eben auch nicht beliebig. Dies macht deutlich, dass der Bedeu-
tungs- bzw. Bedeutsamkeitszusammenhang im Sinne von Karl Mannheim
ein übergeordnetes Systems von kohärenten Kollektivvorstellungen ist, ein
verschiedensten Bedeutsamkeitskreisen gemeinsam zugrunde liegendes Sinn-
system. Dies stellt auf der einen Seite zuerst einmal eine Annahme der For-
schenden dar. Auf der anderen Seite gilt es ihn als Forschungsziel dann em-
pirisch zu rekonstruieren.
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248 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

Dies kann z.B. auch durch eine gegenläufige Sampling-Strategie erfolgen:


durch die minimale Variation von Fällen, also durch die empirische Analyse
von Fällen, die falltypologisch sehr ähnlich gelagert sind. Ziel ist es hierbei zu
überprüfen, ob sich nicht doch auch sehr unterschiedliche Sinnstrukturen –
i.S.v. ‚Spurenmustern‘ – in den herangezogenen, sich minimal kontrastieren-
den Fällen zeigen, die eben nicht mehr auf homologe Muster rückführbar
sind, trotz eines zugrundeliegenden, relationalen Bedeutungs- bzw. Bedeut-
samkeitszusammenhangs.
In der Grounded Theory Methodology wird diese Sampling-Strategie ins-
gesamt auch als Minimax- bzw. Min-Max-Strategie bezeichnet (vgl. Strauss/
Corbin 1996; Kelle/Kluge 1999: 44ff., 99f.; Strübing 2004) und im Sinne des
theoretical samplings prozessual systematisch variierend angewendet:

„Dabei werden die Fälle nicht durch eine Zufallsauswahl erhoben […], sondern es werden
zunächst solche Fälle gesucht, die in Bezug auf das zu untersuchende Phänomen mög-
lichst homogen sind (Strategie des minimalen Vergleichs). Stellt sich bei der Auswertung
der Daten heraus, dass eine Vielzahl von Fällen die vermuteten Zusammenhänge nicht
nur bestätigt werden, sondern dass sie auch keine zusätzlichen Eigenschaften der Kon-
zepte mehr erbringen, dann wird der Auswahlmodus verändert. Es geht nun um die Ein-
beziehung von Fällen, die möglichst abweichende Ausprägungen des Phänomens aufwei-
sen (Strategie des maximalen Vergleichs).“ (Seipel/Rieker 2003: 89)

Insgesamt betrachtet stellt diese Vorgehensweise eine Art ‚Kreuzvergleich‘


von minimal und maximal kontrastierenden Fällen im Forschungsprozess
dar, um hierüber ein ‚homologes Muster‘ bzw. gruppenspezifische homologe
Muster valide rekonstruieren zu können.
Wenn dies weiterhin nicht möglich ist, müssen – wie bereits ausgeführt –
eben weitere Daten erhoben und analysiert werden. Im folgenden Abschnitt
sollen hierzu die beiden grundlegenden praktischen Strategien des qualitati-
ven Samplings zusammenfassend dargestellt und anhand eines Forschungs-
beispiels veranschaulicht werden.

1.3 Resümee: Qualitative Fallauswahl zwischen


theoretischer Vorabfestlegung und theoretical sampling

Wie im vorausgegangenen Abschnitt bereits ausgeführt geworden ist, kann


das bewusste, kontrastierende Sample in der qualitativen Sozialforschung
über zwei praktische Strategien erreicht werden:
Die theoretisch begründete Vorabfestlegung des Samples erfolgt über einen
Stichprobenplan, der die Heranziehung von empirischen Fällen auf der Basis
zuvor theoretisch begründeter, verschiedener Merkmalsausprägungen defi-
niert. Hier wird nach dem Prinzip der maximalen strukturellen Variation
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Zur grundlegenden Logik des qualitativen Samplings 249

eine Spanne von extrem unterschiedlichen Feldtypen aufgebaut. Die Merk-


malskategorien werden zu Beginn des Forschungsprojekts von vornherein
theoretisch festgelegt, um dann passende Interviewpersonen zu suchen. Sol-
che typologischen Varianzmerkmale können z.B. standarddemographische
Aspekte sein (Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Bildungsniveau, etc.) oder
weitere forschungsthematisch spezifische Aspekte. Wie im Abschnitt 1.2
ebenfalls deutlich geworden ist, besteht die Gefahr bei diesem Verfahren,
dass man verschiedenen Kategorienfehlern aufsitzt, dass man z.B. annimmt,
dass Geschlecht Unterschiede produziert – und man so im Laufe der For-
schung bestehende Stereotype reifiziert.
Die Begründung im Verlauf des Datenerhebungsprozesses, das „theoretical
sampling“ aus der Grounded Theory Methodology (vgl. Glaser/Strauss 1979)
dynamisiert sozusagen das qualitative Sampling: Hier erfolgt die Begründung
einer Fallauswahl mit maximal und/oder minimal variierenden Fällen erst im
Verlauf der Feldforschungsphase bzw. des Datenerhebungsprozesses: Ausge-
hend von der Analyse eines ersten Interviews wird nach weiteren Interview-
fällen gesucht, die sich von den vorherigen falltypisch unterscheiden oder
ihnen stark ähneln. Die Varianzmerkmale werden zwar erst im Forschungs-
prozess identifiziert und sind somit sehr viel datenzentrierter bzw. gegen-
standsbegründeter; allerdings kommen auch hier Entscheidungsprozesse im
Hinblick auf die Auswahl nächster Fälle nicht ohne theoretische Überlegun-
gen aus.
Kelle und Kluge (1999: 99f.) resümieren wie folgt die Logik des qualitati-
ven Samplings:

„Die Auswertung qualitativer Daten ist zeitaufwendiger als die statistische Datenanalyse,
und kein qualitatives Forschungsprojekt kann deshalb hinsichtlich der untersuchten Fall-
zahlen auch nur annähernd mit einer quantitativen Survey-Studie konkurrieren. Das Ziel
der qualitativen Stichprobenziehung kann dementsprechend nicht statistische Repräsen-
tativität sein, vielmehr kann es nur darum gehen, dass die im Untersuchungsfeld tatsäch-
lich vorhandene Heterogenität in den Blickpunkt gerät. Mit der gezielten Auswahl mög-
lichst unterschiedlicher, z. T. extremer Fälle wird dieses Ziel weit besser erreicht als durch
den Versuch, die Verteilung spezifischer Merkmale in einer Population durch ein entspre-
chendes Sample abzubilden. Trotzdem entscheidet auch in der qualitativen Forschung die
richtige Auswahl der untersuchten Fälle über Erfolg und Misserfolg einer qualitativen Stu-
die. Die Anwendung rationaler qualitativer Samplingstrategien dient dazu, dass die tat-
sächliche Heterogenität und Varianz des Untersuchungsfeldes durch das Sample mög-
lichst weitgehend abgebildet wird. Wenn der Forscher oder die Forscherin zu Beginn der
Datenerhebung nur über ein geringes Vorwissen verfügt, ist ein sukzessives Auswahlver-
fahren angemessen, bei welchem aus der Analyse der ersten Fälle Kriterien für die Aus-
wahl weiterer Fälle gewonnen werden. Können bereits zu Beginn der Datenerhebung erste
tentative Hypothesen über relevante Einflüsse im untersuchten Feld formuliert werden,
so kann ein qualitativer Stichprobenplan helfen, ein qualitatives Sample zu ziehen, das die
Heterogenität im Untersuchungsfeld abbildet […].“
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250 Kapitel II: Interviewformen

Qualitatives Sampling – ein Forschungsbeispiel

In der qualitativen Studie „Arbeit und Ambivalenz – eine Studie zur Professionalisie-
rung Sozialer und Informatisierter Arbeit“ (Kruse 2004) wurden Fachkräfte aus den
Feldern der Sozialen Arbeit und Fachkräfte aus Feldern der informations- und kom-
munikationstechnologischen Dienstleistungsbranche miteinander verglichen – in
Bezug auf ihre subjektiven Arbeits- und Professionalisierungsverständnisse sowie ihr
fachliches Arbeitshandeln. Da das Untersuchungsfeld allein in dieser Hinsicht eine
große Heterogenität aufweist, musste jeweils für jede Berufsgruppe ein Sample ge-
bildet werden, welches über das Prinzip der maximalen strukturellen Variation diese
Heterogenität versuchte zu berücksichtigen. So sollten die Fachkräfte für sich sowohl
kontrastiv als auch komparativ untereinander verglichen werden. Da das Grundde-
sign der Studie darin bestand, auch die beiden Berufsgruppen an sich zu vergleichen,
mussten zwei komparative Teilsamples gebildet werden, die eine solche doppelte
komparative Analyse ermöglichten:
Die beiden Teilsamples wurden nach den Prinzipien der „maximalen strukturellen Va-
riation“ und des „theoretical sampling“ entwickelt. Mit der Kombination dieser bei-
den Verfahren sollte auf der Ebene der strukturellen Falltypenrepräsentation ein In-
terviewsample gebildet werden, das nicht im Sinne quantitativer Sozialforschung
repräsentativ ist, sondern im Sinne qualitativer Forschung spezifische Falltypen (hier:
Berufsfeldtypen) repräsentiert. Diese bilden zusammen genommen eine maximale
strukturelle Variationsbreite und stellen somit die Heterogenität der beruflichen Fel-
der dar. Zudem wurden standarddemografische Aspekte wie Geschlecht, Alter und
Berufshierarchie herangezogen. Der Vorteil einer Kombination der theoretischen Vor-
abfestlegung nach dem Prinzip der maximalen strukturellen Variation und der dyna-
mischen, sukzessiven Weiterentwicklung der Samplestruktur im Forschungsprozess
nach dem Prinzip des „theoretical sampling“ liegt darin, dass die Nachteile beider
Ansätze ausgeglichen werden: Denn bei einem alleinigen Vorgehen über theoretische
Vorabfestlegung von Strukturmerkmalen für die Generierung eines kontrastierenden
Samples ist es sehr wahrscheinlich, dass bestimmte Unterscheidungsmerkmale
nicht bedacht werden und dass sich interessante Aspekte diesbezüglich erst in der
Feldforschungsphase zeigen. Diese müssen dann aber für die Fallauswahl unbedingt
berücksichtigt und mit Interviewfällen umgesetzt werden. Bei einem alleinigen for-
schungsprozessorientierten Vorgehen besteht m. E. die Gefahr, dass man ohne the-
oretische Vorüberlegung und Eingrenzung von Unterscheidungsmerkmalen Interview
um Interview führt und sich dabei im Forschungsfeld verliert.

2. Die Rekrutierung von Interviewpersonen

Um mögliche Interviewpartner/innen für eine qualitative Studie zu gewin-


nen, müssen diese – so banal es klingt – erstens ausfindig gemacht, zweitens
kontaktiert und drittens für das Interview gewonnen werden (vgl. hierzu und
zum Folgenden auch Wolff 2003a). Für die Suche nach geeigneten Interview-
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2020, 21:34

Die Rekrutierung von Interviewpersonen 251

fällen können grundsätzlich verschiedene Strategien der Rekrutierung ver-


folgt werden (vgl. auch Helfferich 2009: 175ff.). Für die Erstkontaktaufnah-
me mit potentiellen Interviewpartnern bzw. Interviewpartnerinnen müssen
dabei ganz bestimmte Aspekte beachtet werden. Im Folgenden sollen einige
in der Forschungspraxis bewährte Rekrutierungsstrategien skizziert werden.

2.1 Schneeballsystem

Bei dem so genannten Schneeballsystem werden Personen angesprochen, die


wiederum andere ansprechen sollen, die wiederum andere ansprechen sollen
usw., um so die geeigneten Interviewpersonen im Hinblick auf die Sample-
überlegungen zu finden. Dieses Verfahren ist nicht unproblematisch, da sich
die Frage stellt, welche systematischen Lücken ein so generiertes Sample auf-
weist im Hinblick auf die eigentliche Heterogenität des Feldes. Denn es ist
nicht garantiert – m.E. ist es sogar sehr zweifelhaft –, dass das Schneeballsys-
tem überhaupt in sehr unterschiedliche soziale Felder vordringen kann.

2.2 Gatekeeper/innen bzw. Multiplikator/inn/en

Bei dieser Rekrutierungsstrategie werden Gatekeeper/innen – „Türsteher/


-innen“ – gebeten, passende Interviewpersonen zu benennen, auszusuchen
oder anzusprechen. Diese Strategie ist vor allem dann üblich, wenn Inter-
viewpartner/innen aus bestimmten Institutionen und Organisationen ge-
sucht werden, wie z.B. Ämtern, Behörden oder Firmen, aber auch dann,
wenn in vertrauensvollen Feldern Interviewpartner/innen gesucht werden.
Ähnlich verhält es sich mit dem Ansatz, Multiplikator/inn/en einzusetzen,
die einen Vertrauensstatus im betreffenden sozialen Feld genießen und hier-
über potentielle Interviewpersonen überzeugen können, an der Studie teilzu-
nehmen, bzw. weitere Personen instruieren können, Proband/inn/en zu rek-
rutieren.

Ein Forschungsbeispiel

Im Projekt „frauen leben – Familienplanung und Migration im Lebenslauf. Eine Studie


im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)“ (Helfferich/
Klindworth/Kruse 2011) wurden Frauen mit Migrationshintergrund sowohl standardi-
siert als auch qualitativ zu ihrer reproduktiven Biografie im Zusammenhang mit ihrer
Migrationsgeschichte befragt. In der qualitativen Teilstudie gestaltete sich der Zugang
insbesondere zu den Frauen mit türkischem Migrationshintergrund schwieriger als ge-
dacht: Eine wichtige Erfahrung, die in der Rekrutierungsphase des Projekts gemacht
wurde, war die, dass der anvisierte Zugang zu den zu befragenden Frauen über kom-
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252 Kapitel II: Interviewformen

munalpolitische Einrichtungen, die für die Rekrutierung von Frauen wiederum Bera-
tungsstellen kontaktieren sollten, zum größten Teil nicht gelang. Ein Zugang zu diesen
Frauen konnte nur über Vertrauenspersonen und informelle Kontakte (Bekannte, Ver-
wandte und Freundinnen, die als Vertrauenspersonen im persönlichen Umfeld fungier-
ten, etc.) hergestellt werden, was sich zwar als sehr zeitaufwendig erwies, aber auch als
sehr erfolgreich. Die zu befragenden Frauen mit türkischem Migrationshintergrund
konnten mit diesem Vorgehen erreicht und in ihren Ängsten und Befürchtungen be-
schwichtigt werden. Es konnte somit ein Interesse geweckt werden, was dazu führte,
dass die oftmals über verschiedene Kontaktpersonen hinweg indirekt angefragten
Frauen ein sehr hohes Teilnahmeinteresse entwickelten. Für die Aktivierung informeller
Kontakte und personenbezogener sozialer Netzwerke, wurde – was sich schließlich als
die effizienteste und effektivste Strategie erwies – die Strategie verfolgt, die ohnehin
vorgesehenen fremdsprachigen Interviewerinnen, die auch einen entsprechenden kul-
turellen Hintergrund aufwiesen, als Rekrutierungsressourcen zu nutzen: Diese konnten
ausgehend von ihren eigenen Netzwerken über Schneeballeffekte, Multiplikatorinnen
und Gatekeeperinnen ein Kontaktmanagement in den Netzwerken der zu rekrutieren-
den Migrantinnen entwickeln. Dies war vermutlich deshalb sehr erfolgreich, da die In-
terviewerinnen aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Kompetenzen einen besse-
ren und niedrigschwelligeren ‚Draht‘ zu den Frauen mit Migrationshintergrund hatten.

Die Auswahl von geeigneten Interviewpersonen über Gatekeeper/innen ist


sinnvoll, wenn über solch einen vermittelnden Zugang leichter Interviewper-
sonen gefunden werden können. Diese Rekrutierungsstrategie ist jedoch
ebenfalls nicht unproblematisch, denn der/die Gatekeeper/in kann eigene
Strategien der Fallauswahl verfolgen: So könnte z.B. ein/e Firmenchef/in
Mitarbeiter/innen als Interviewfälle vorschlagen, von denen er/sie weiß, dass
diese die Firma sehr positiv darstellen werden. Somit könnten die im Rahmen
des Forschungsprojektes durchgeführten Überlegungen der Fallauswahl re-
gelrecht korrumpiert werden.

2.3 Verschiedene direkte Recherchestrategien

Neben diesen eher indirekten Zugängen, um geeignete Interviewpartner/


-innen für eine Studie zu finden, gibt es verschiedene direkte Recherchestra-
tegien, wie die Suche über Telefonbücher, über Internetpräsenzen (Home-
pages, Chatrooms, Foren, Mailinglisten) oder über das Aufgeben von Anzei-
gen in Zeitschriften, Zeitungen und Anzeigenblättern. Auch über das
Rezipieren von Anzeigen (hier kommen vor allem Kontakt- oder Woh-
nungsanzeigen in Frage) oder über ‚pick-up‘ (direktes ‚Aufgreifen vor Ort‘)
können Interviewpartner/innen rekrutiert werden.
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2020, 21:34

Die Rekrutierung von Interviewpersonen 253

Beispiel aus einem Seminarforschungsprojekt

In einem Seminarforschungsprojekt im Rahmen eines Methodenseminars am Institut


für Soziologie an der Universität Freiburg wollten Student/inn/en eine kleine Bezie-
hungs- und Partnerschaftsstudie mit unterschiedlichen Fragestellungen durchführen
(Rollenverteilung beim Kennenlernen, Partnerschaftsgestaltung, Hausarbeitsteilung,
etc.). Die Student/inn/en wollten Interviewpaare – die eine maximale strukturelle Vari-
ation aufweisen sollten – jeweils getrennt befragen. Im konkreten Fall des Seminarpro-
jekts sollte ein hoch qualifiziertes und ein niedriger qualifiziertes Paar befragt werden.
Eine Studentin des Projektteams kam dabei auf die originelle Idee, Wohnungsanzeigen
durchzugehen, um nach geeigneten Fällen zu suchen: In den Wohnungsanzeigen ste-
hen bekanntlich in aller Kürze einige relevante Daten – sowie eine Telefonnummer für
die Kontaktaufnahme. Diese Strategie erwies sich in zwei Fällen als sehr erfolgreich, in
anderen Fällen als überhaupt nicht erfolgreich.

2.4 Gestufte und kombinierte Verfahren

Hier werden verschiedene Rekrutierungsstrategien gleichzeitig oder nachei-


nander angewendet. Ziel ist hierbei erstens, über die unterschiedlichen Zu-
gangswege unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, und zweitens, die un-
terschiedlichen Verzerrungen, welche durch jede Rekrutierungsstrategie
gegeben sind, ein Stück weit auszugleichen.

Beispiel aus einem Lehrforschungsprojekt

Im Lehrforschungsprojekt „Experten des Notfalls: Zwischen Routine und Ausnahme.


Zum Arbeitsalltag von Rettungsassistent/inn/en“ im Rahmen eines zweisemestri-
gen Methodenseminars am Institut für Soziologie an der Universität Freiburg erwies
es sich in unerwarteter Weise als äußerst schwierig, Rettungsassistent/inn/en für
die geplanten qualitativen Interviews zu gewinnen – wofür sich dann aber auch ver-
schiedene Erklärungen finden ließen. Verschiedene Rekrutierungsstrategien wurden
‚aufgefahren‘, um die geplanten mehr als 20 Interviews realisieren zu können: Es
wurden auf verschiedenen Leitstellen Flyer ausgelegt, ein paar Studierende besuch-
ten sogar persönlich Leitstellen und hielten sich dort auf, um mit Rettungsassis-
tent/inn/en ins Gespräch zu kommen. Es wurden die Leiter/innen der Wachen kon-
taktiert und diese wurden gebeten, Rettungsassistent/inn/en anzusprechen. Die
Studierenden sprachen ihre Bekanntenkreise dahingehend an, wiederum Bekannte
anzusprechen, die von Beruf Rettungsassistent/in sind. Diejenigen Rettungsassis-
tent/inn/en, mit denen ein Interview geführt worden war, wurden gebeten, doch nun
nochmals Kolleg/inn/en anzusprechen und sie davon zu überzeugen, dass eine Teil-
nahme an der Studie empfehlenswert sei.
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254 Kapitel II: Interviewformen

3. Die Gestaltung und Regeln der Erstkontaktaufnahme

Hat man über unterschiedliche Recherchestrategien potentielle Interview-


partner/innen ausfindig gemacht, gilt es mit diesen entweder telefonisch,
schriftlich, per E-Mail oder direkt-mündlich in einen ersten Kontakt zu tre-
ten. Welcher Modus für die Erstkontaktaufnahme gewählt werden sollte,
kann nicht pauschal angegeben werden. Dies hängt vielmehr von der Art des
Interviewprojektes und der zu befragenden Zielgruppe ab.

Beispiel aus einem Seminarforschungsprojekt

In einem Seminarforschungsprojekt im Rahmen eines Methodenseminars am Insti-


tut für Soziologie an der Universität Freiburg wollten Student/inn/en eine Studie zur
subjektiven Arbeitswert-Ethik von hochverdienenden Führungskräften durchführen.
Es war von vornherein klar, dass sich mögliche Interviewpersonen in diesem Feld
durch ein hohes Maß an Seriosität und Formalität auszeichnen, so dass sich die Stu-
dent/inn/en für einen formellen brieflichen Erstkontakt entschlossen und hierbei
den Briefkopf des Instituts für Soziologie verwendeten, und den Brief auch von der
damaligen Geschäftsführerin des Instituts unterschreiben ließen. Dieser Weg erwies
sich als erfolgreich, da die Führungskräfte eine solche Kommunikationsweise aus ih-
rem Geschäftsleben gewohnt sind und somit auch leichter ein Vertrauensvorschuss
zu gewinnen war.

Für alle Modi der Gestaltung der Erstkontaktaufnahme gilt aber die Regel,
sich die Informationen für diese erste Kommunikation gut zu überlegen und
schriftlich vorzuformulieren (→ s. Forschungsbeispiele weiter unten folgend
sowie Kapitel V, Abschnitt 4). Denn die Präsentation im Rahmen des Erst-
kontakts steuert bereits die spätere Textproduktion im Interview in erstaun-
licher Weise vor.
Ist der Kontakt zu potentiellen Interviewpersonen hergestellt, gilt es nun,
die Person für das Interview zu gewinnen: Es muss also um sie ‚geworben‘
werden. In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass sich die
potentiellen Interviewpersonen i.d.R. die folgenden Fragen stellen:

• Was ist das für ein Projekt, warum und wozu wird es gemacht?
• Wieso soll gerade ich mitmachen und nicht jemand anderes,
und was habe ich davon?
• Was ist das für ein Interview und wie läuft es ab?
• Was passiert mit meinen Daten?

Damit die potentiellen Interviewpersonen für ein Interview gewonnen wer-


den können, muss man im Rahmen des Erstkontaktes stets diese Fragen be-
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Gestaltung und Regeln der Erstkontaktaufnahme 255

antworten können. Und dies sollte sogar antizipativ, nicht reaktiv geschehen.
Auf die folgenden Aspekte muss deshalb explizit eingegangen werden:

3.1 Vorsichtige Präsentation des Forschungsvorhabens

Im Rahmen des Erstkontakts gilt es, für das Forschungsprojekt zu werben.


Hierfür müssen bestimmte Informationen über die Inhalte und Ziele des
Projekts gegeben werden. Es darf aber oftmals über die einzelnen und ge-
nauen Fragestellungen nicht zu viel Auskunft gegeben werden, denn dann
würden sich die möglichen Interviewpersonen im Vorfeld zu viele Gedanken
über das Forschungsprojekt machen und im Interview vorgefertigte Reflexi-
onen präsentieren. Bei der Vorstellung des Forschungsvorhabens gilt es so-
mit, zwar nicht zu lügen (was forschungsethisch und rechtlich ohnehin nicht
möglich ist), jedoch oftmals nur ‚Die halbe Wahrheit‘ zu präsentieren. Aus
der Perspektive strikter Positionen eines „informed consent“, eines for-
schungsethischen Vertrags, der die vollständige Aufklärung über das For-
schungsprojekt verlangt, da nur so die Entscheidung zu einer freiwilligen
Teilnahme an der Studie gewährleistet ist, ist diese Position hochgradig strit-
tig. Es muss m.E. aber einsichtig sein, das die forschungsethische und die for-
schungsgegenständliche Logik oftmals in einer massiven Spannung zueinan-
der stehen. Sollte dann der Kompromiss ‚Die halbe Wahrheit ist nicht
gelogen‘ gewählt werden, besteht unbedingte Pflicht zur vollständigen Auf-
klärung über die differenzierten Forschungsziele im unmittelbaren An-
schluss an das Interview.

Ein Forschungsbeispiel

Im Projekt „Arbeit und Ambivalenz. Die Professionalisierung Sozialer und Informati-


sierter Arbeit“ (Kruse 2004) war es das Ziel, die subjektiven Arbeits- und Professio-
nalisierungsverständnisse sowie die subjektiven Arbeitshandlungsweisen und beruf-
lichen Identitäten miteinander zu vergleichen. Über die inhaltlichen Ziele wurden
jeweils die Interviewpersonen aus den beiden Berufsgruppen informiert. Was ihnen
vorenthalten wurde, war die komparative Fragestellung: Das heißt den Sozialarbei-
tern bzw. Sozialarbeiterinnen wurde zuvor nicht gesagt, dass sie mit Berufskräften
aus der informations- und kommunikationstechnologischen Dienstleistungsarbeit
verglichen werden sollten und vice versa. Denn dies hätte den nachteiligen Effekt ge-
habt, dass sich jeweils die Berufskräfte die Frage gestellt hätten, warum und wozu
sie mit einer ganz anderen Berufsgruppe verglichen werden sollten; sie hätten wo-
möglich bereits selbst über Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert und diese
Überlegungen im Interview in den Vordergrund gestellt. Erst nach den Interviews
wurde den Teilnehmer/innen von dem Ansatz der Vergleichsstudie berichtet.
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256 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

3.2 Die Interviewperson ist der/die Experte/Expertin!

Auch über die Variante des eigentlichen Expert/inn/en-Interviews hinaus gilt


in jedem Forschungsprojekt qualitativer bzw. rekonstruktiver Sozialfor-
schung, dass die Untersuchungspersonen, also die Befragten, die Expert/in-
n/en für ihre Deutungsmuster und Sichtweisen sind. Dies legt nahe, im Rah-
men der Erstkontaktaufnahme die möglichen Interviewpersonen in betont
personifizierender Art und Weise anzusprechen: Im Interview werden die
Befragten in den Vordergrund gestellt, von ihnen persönlich will man ver-
schiedene Aspekte erzählt bekommen, man will über ihre persönlichen Er-
fahrungen und Einschätzungen wissen, da niemand anderes diese so präsen-
tieren kann. Zudem muss den Interviewten gezeigt werden, was diese von
einer Teilnahme haben: Der persönliche Benefit kann dabei ganz unter-
schiedlich begründet bzw. hergestellt werden, so z.B. auch über verschiedene
materielle und immaterielle Aufwandsentschädigungen oder über die Teil-
habe an den Forschungsergebnissen (Zustellung der Doktorarbeit oder des
Projektberichts).

3.3 Was ist ein qualitatives Interview und wie läuft das ab?

Qualitative Sozialforschung ist im Gegensatz zu standardisierten For-


schungsmethoden noch immer weniger repräsentiert in Bezug darauf, was
das eigentlich genau ist. Die meisten Menschen verfügen über Wissen über
standardisierte Erhebungen, die meisten kennen diese aus den Medien
(Wahlen) oder aus eigener Erfahrung (Telefonbefragungen, Straßenraumin-
terviews etc.). Doch was ist ein qualitatives Interview? Im Rahmen des Erst-
kontakts muss somit die spezifische Form qualitativer Befragungen im im-
pliziten Gegensatz zu standardisierten Befragungen – und im Gegensatz zu
anderen Interviewformen, die bekannter sind, z.B. das journalistische Inter-
view – auf einfache und prägnante Weise verdeutlicht werden: Qualitative
Interviews sind offene Gespräche, in denen die Interviewten auf einige Fra-
gen hin ganz frei all das erzählen sollen, was für sie wichtig ist. In qualitativen
Interviews stehen nicht die Fragen der Forschenden im Vordergrund, son-
dern die ausführlichen Antworten der Befragten.
Aufgrund dieses offenen Gesprächscharakters dauern qualitative Inter-
views erfahrungsgemäß recht lange (i.d.R. zwischen 30 Minuten und zwei
Stunden). Um eine mögliche Interviewperson für ein Interview zu gewinnen,
muss ihr der Zeitrahmen der Befragung im Vorfeld ungefähr offen gelegt
werden, allein aus organisatorischen bzw. terminlichen Gründen. Die Dauer
des Interviews sollte deshalb auf der Grundlage der Probeinterviews ge-
schätzt und mit ‚i.d.R. +/– 15 Minuten‘ angegeben werden.
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Gestaltung und Regeln der Erstkontaktaufnahme 257

Eine weitere Information, die im Vorfeld genannt werden muss, ist, dass
das Interview für die spätere methodisch angemessene Auswertung aufge-
nommen und verschriftet – transkribiert (→ s. Kapitel VI) – wird: Das Inter-
view muss aufgenommen und verschriftet werden, um nachher damit besser
arbeiten zu können. Dieser Umstand könnte viele mögliche Interviewperso-
nen zuerst einmal etwas „erschrecken“ und die Bereitschaft für das Interview
minimieren.
In diesem Zusammenhang wird mit der Interviewperson auch geklärt,
dass für die Durchführung des Interviews ein möglichst ungestörter Rahmen
benötigt wird. Es muss geklärt werden, wie mögliche Störungen bereits im
Vorfeld vermieden werden können, so dass das Interview in Ruhe durchge-
führt werden kann. Dies impliziert, dass unter Umständen auch bestimmte
Vorkehrungen getroffen werden. Dabei gilt jedoch: Wahlrecht des Intervie-
wortes liegt zunächst ganz allein bei der Interviewperson. Nur wenn diese
einen für die Aufnahme oder für die Durchführung ungünstigen Ort vor-
schlägt, sollte höflich darauf hingewiesen werden. An dieser Stelle ist wichtig,
dass die Wahl des Intervieworts auch vor dem Hintergrund der Forschungs-
fragestellung und der Zielgruppe reflektiert werden muss. Denn allein der
Interviewort kann einen strukturierenden Charakter auf die Textproduktion
haben. Insgesamt gilt, dass die Interviewpersonen an Orten ihrer lebenswelt-
lichen Zusammenhänge befragt werden sollten. Aber auch hier gibt es viele
begründete Ausnahmen. So hat es sich in der Forschungspraxis immer wie-
der als nachteilig erwiesen, wenn Schüler/innen in der Schule interviewt wer-
den: Allzu oft verfallen diese nämlich gegenüber dem/der Interviewer/in
dann in ein Lehrer/innen-Schüler/-innen-Kommunikationsmuster (vgl.
Reinders 2005).

3.4 Zum Umgang mit den persönlichen Daten

Da die potentiellen Interviewpersonen sich auf Kommunikationssituationen


einlassen, die ihnen nicht so recht bekannt sind bzw. bei denen sie nicht wis-
sen, was sie alles – mitunter sehr persönliches – erzählen werden, müssen in
der Erstkontaktaufnahme auch unmittelbar die Fragen des Vertrauens und
der Gewährleistung des Datenschutzes geklärt werden. Das heißt, es muss
versichert werden, dass mit den Daten, die mitunter sehr persönliche bzw.
vertrauliche Informationen darstellen, eben streng vertraulich umgegangen
wird, und dass bei der Verschriftung alles, was direkte persönliche Rück-
schlüsse erlaubt, anonymisiert oder gelöscht wird. An dieser Stelle sollte auch
schon auf die Einverständniserklärung verweisen werden, die am Ende des
Interviews von den Befragten unterzeichnet werden muss, damit die Inter-
views überhaupt verwendet und ausgewertet werden dürfen (vgl. hierzu auch
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258 Kapitel IV: Qualitatives Sampling

Helfferich 2009: 190ff.); es sollte auch darauf verwiesen werden, dass ein In-
fobrief zum Datenschutz hinterlassen wird (→ s. hierzu die Text-/For-
schungsbeispiele im Kapitel V, Abschnitt 4). Zusätzlich sollte bzw. muss in
diesem Zusammenhang auch mitgeteilt werden, dass am Ende des For-
schungsprojekts oder der Forschungsarbeit die Interviewperson auf ihren
Wunsch hin ein Exemplar der publizierten Forschungsarbeit oder des For-
schungsberichts erhalten kann, oder auch zuvor schon die Audio-Aufnahme
oder das Transkript.

Die Gestaltung der Erstkontaktaufnahme – ein Textbeispiel

Ein Infobrief, in dem für das Forschungsvorhaben um Interviewpartner/innen gewor-


ben wird. Der Inhalt kann analog auch für telefonische Erstkontakte verwendet wer-
den.

„Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin Diplom-Sozialpädagoge (FH) und promoviere an der Albert-Ludwigs-Universi-


tät Freiburg im Hauptfach Soziologie. Im Rahmen meiner Doktorarbeit mit dem Titel:
„Arbeitsbegriff und Werteverständnis. Eine explorative Studie zum Arbeitsverständ-
nis in der Sozialen Arbeit“ untersuche ich das persönliche Arbeitsverständnis und das
fachliche Arbeitshandeln von ehrenamtlichen und/oder hauptamtlichen Fachkräften
aus unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit bzw. Sozialer Dienste.
Für die Studie suche ich aus dem Arbeitsfeld „Telefonseelsorge“ noch Interview-
partner/innen.
In den qualitativen Leitfadeninterviews interessiere ich mich insbesondere für Ihr
persönliches Arbeitshandeln, d. h. ‚WIE‘ Sie das machen, was Sie in Ihrer fachlichen
Arbeit (hier: Telefonseelsorge) machen.
In den Interviews werde ich verschiedene offene Fragen stellen, bei denen ich Sie
grundsätzlich bitte, mir all das zu erzählen, was für Sie relevant und wichtig ist. Auf-
grund der offenen Gesprächssituation nehmen die Interviews ca. eine Stunde in An-
spruch. Die Interviews werden für die spätere Auswertung aufgenommen. Selbstver-
ständlich verwende ich das Interviewmaterial in meiner Studie streng vertraulich und
anonym. Bei Interesse schicke ich nach Vollendung meiner Doktorarbeit selbstver-
ständlich Ihnen auch die betreffenden Passagen zu.
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie Interesse und Zeit für ein Interview
haben, so dass ich mein Promotionsvorhaben erfolgreich abschließen kann, und
möchte Sie dazu herzlich einladen, mit mir Kontakt aufzunehmen, um eventuelle Fra-
gen oder dergleichen in einem persönlichen Gespräch zu klären.

Mit freundlichen Grüßen,“

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