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EF GE (FAL) Datum:

Kannibalismus in frühneuzeitlichen Reiseberichten –


Wahrheit oder Phantasie?
1. Stelle die Argumente der Historiker Erwin Frank und Astrid Wendt zu dem
Wahrheitsgehalt der frühneuzeitlichen Berichte über Menschenfresser bei Indianern
einander gegenüber.
2. Beurteile, warum die Ähnlichkeit der Darstellungen von Kannibalen in den
frühneuzeitlichen Reiseberichten bei den Historikern zu unterschiedlichen Schlüssen
führt.
3. Diskutiere, wessen Argumentation dir plausibler erscheint.

Erwin Frank Astrid Wendt

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Wahrheit oder Phantasie? Wahrheit oder Phantasie?


EF GE (FAL) Datum:

Erwin Frank (1987)

Der Glaube an die Existenz von Kannibalen und allgemein akzeptierte Vorstellungen darüber,
was Kannibalen tun und warum, ist ein europäisches Kulturgut, das sich bis in die Tage
Herodots und Strabos 1 zurückverfolgen lässt. Schon damals war es eines der wenigen
generellen Charakteristika der Menschenfresser, dass sie am Rande des bekannten
5 Weltkreises lebten (Irland, Schwarzmeer, Indien) und mit der langsamen Ausweitung dieses
Kreises in immer entferntere Gegenden rückten. […] Das „Wissen“ um die Existenz von
Anthropophagen bildete aber immer nur ein Moment in einem umfangreichen Komplex halb
mythischen, halb realen geographisch/ethnologischen Wissens der Europäer der Antike und
des Mittelalters, insbesondere auch der frühen Eroberer Amerikas. Andere Momente hierin
10 waren die Amazonen, […] der Jungbrunnen, Menschen ohne Kopf oder mit Schwänzen,
Riesen, Zwerge sowie verschiedene Ungeheuer. Die Tatsche, dass all dies mythischen Dinge in
den frühen Quellen als in Amerika tatsächlich entdeckt auftauchen, ist ein nur schwer
erklärbares Phänomen. Den jeweiligen Autoren schlicht Aufschneiderei vorzuwerfen, ist
sicherlich zu einfach. Ich bin geneigt, in dieser verblüffenden Tatsche ein Resultat des sehr
15 schwierigen Versuchs der Zeugen zu sehen, das gänzlich Neue dieser Welt, mit der sie sich
plötzlich konfrontiert fanden, in den ihnen ausschließlich zu Verfügung stehenden Termini 2
der Alten Welt zu denken. […] Das präkolumbische europäische Wissen um die Existenz von
Kannibalen, die Ausformung des mittelalterlichen Images des Kannibalen in der negativen
Variante des „wilden Mannes“ und dessen frühe und dauerhafte Übertragung auf den neuen
20 Kontinent, schließlich auch noch die Dauerhaftigkeit dieses Images im europäischen Denken
bis auf den heutigen Tag, all dies scheint mir die eingangs gestellte Frage ausreichend zu
klären, wie die Vielzahl der Kannibalismusanklagen gegen indianische Gruppen des tropischen
Tieflands (und anderswo!) verständlich ist, wenn das Ergebnis meiner Arbeit richtig ist, dass
mit einiger Wahrscheinlichkeit weder exo- noch endokannibalistisches 3 Fleischessen von einer
25 der Gruppen meines Untersuchungsraumes (möglicherweise aber auch darüber hinaus)
jemals praktiziert worden ist. Im Gegenteil scheint es mir heute erklärungsbedürftig, warum
zumindest in den Missionsdokumenten Kannibalismusanklagen trotz allem so relativ selten
sind!

1 Herodot und Strabo: antike Historiker und Geografen, deren Werke großen Einfluss auch auf die geografischen
Vorstellungen des Mittelalters ausübten.
2 Terminus: Fachbegriff, Fachwort, Vokabular
3 Endo-Kannibalismus: Angehörige der eigenen Gruppe werden verzehrt, was ihrem Zusammenhalt dienen und den Toten

des Status von Vorfahren verleihen soll – Exo-Kannibalismus: der Feind wird verzehrt aus Rache oder um sich dessen
Tugenden einzuverleiben.
EF GE (FAL) Datum:

Astrid Wendt (1989)

Alle Europäer, die sich im 16. Und 17. Jh. an der Ostküste Südamerikas aufhielten, erwähnen
die Sitte der Küsten-Tupi, gefangen genommene Feinde im Rahmen eines Zeremoniells zu
töten und zu verspeisen. […] Wesentliche Unterschiede in der Berichterstattung – was den
Ablauf des rituellen Geschehens angeht – lassen sich nicht feststellen, Autoren
5 verschiedenster Herkunft und Nationalität stimmen miteinander überein. Sie alle berichten,
dass auf Kriegszügen Gefangene gemacht wurden, die anschließend in die Gesellschaft ihrer
neuen Herren integriert, gut behandelt und nach zum Teil monate- oder jahrelanger
„Gefangenschaft“ festlich getötet wurden. Anschließend wurde ihr Leichnam zerteilt,
zubereitet und den Teilnehmern des festlichen Mahls zum Verzehr übergeben. Die
10 Wahrnehmung des Kannibalismus bei den europäischen Beobachtern war somit einheitlich.
Die und die Tatsche, dass in den schriftlichen Quellen die Anthropophagie nicht immer zur
Diskriminierung der betreffenden Gesellschaft eingesetzt wurde, lässt bei aller gebotenen
Vorsicht den Schluss zu, dass die Kernaussagen der Berichte den tatsächlichen Abläufen
entsprachen und nicht Produkte einer zielgerichteten Fantasie waren, der es auf die
15 Abwertung der „Wilden“ ankam.

Menschenfresser (Anthropophagen), dargestellt als Illustration zum Buch des Landsknechts


Hans von Staden. Kupferstich von Theodor de Bry, 1557.

Quelle Bild und Texte: Geschichte und Geschehen. Geschichtliches Unterrichtswerk, Hrsg. v. Christine Dzubiel, Benedikt
Giesing u.a., Einführungsphase Oberstufe, Klett 2014, S. 65-66.

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