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Modul:

Grundfragen sozialraumbezogener und diversitätsbewuss-


ter Sozialer Arbeit

Hausarbeit:
Soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem

Pädagogische Hochschule Freiburg


Studiengang: Bachelor Erziehungswissenschaften

Fachrichtung: Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Soziale Arbeit/Sozialpädagogik

David Heinemann
Matrikel-Nr.: 1620350
Habsburgerstraße 25
79104 Freiburg
david.heinemann@stud.ph-freiburg.de
3. Fachsemester, Wintersemester 2022/23
Seminar: BEW-343 Soziale Differenzen, Ungleichheiten und Machtverhältnisse
Dozent/-in: Claudia Himmelsbach
Abgabedatum: 24.02.2023
Inhalt
I. Einleitung ........................................................................................................ 1
I. Entstehung des modernen Bildungssystems in Deutschland .......................... 1
II. Soziale Ungleichheit im Bildungssystem und seinen Institutionen ................ 3
1. Merkmale des deutschen Bildungssystems: ................................................ 4
2. Selektion aufgrund von Heterogenität: ........................................................ 7
3. Die Rolle der Lehrkräfte .............................................................................. 9
III. Rückblick und Fazit ................................................................................... 12
IV. Selbstständigkeitserklärung ....................................................................... 14
V. Quellenverzeichnis ........................................................................................ 15
I. Einleitung
„Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit sind Legitimationsgrundlage unserer Gesell-
schaft. Sie waren schon immer eher Postulate als Realität.“ (El-Mafaalani, 2020, S. 12–13) An
diesem Zitat des Soziologien Aladin El-Mafaalani lässt sich zu Beginn dieser Arbeit bereits
eine grundlegende Tatsache feststellen: Die suggerierte Chancengleichheit und Leistungsge-
rechtigkeit unserer Gesellschaft existiert in der Realität nicht. Das trifft auch auf den Bildungs-
bereich in Deutschland zu, die Chancen sind hier für die Kinder und Jugendlichen äußerst un-
gleich. Die folgende Arbeit beschäftigt sich deshalb mit dem Thema Bildung und sozialer Un-
gleichheit anhand der Forschungsfrage: Wie wird soziale Ungleichheit durch das deutsche Bil-
dungssystem reproduziert bzw. erzeugt?

Der Aufbau dieser Arbeit ist dabei folgendermaßen: Zunächst soll die strukturelle Ebene des
deutschen Bildungssystems analysiert werden, dafür wird zunächst auf die Entstehung des mo-
dernen Bildungssystems in Deutschland geschaut. Die historische Entwicklung ist insofern von
Bedeutung, da einige Entwicklungen das heutige Bildungssystem in Deutschland maßgeblich
beeinflusst haben. Danach wird dann auf die soziale Ungleichheit im heutigen Bildungssystem
und seinen Institutionen eingegangen. Dafür werden einige Besonderheiten und Merkmale des
deutschen Bildungssystems analysiert und es wird untersucht, wie diese sich auf die (Re-)Pro-
duktion von sozialer Ungleichheit auswirken können. Vorweg: Das dreigliedrige Schulsystem
ist eine dieser Besonderheiten, durch dieses System kommt es zu Selektionen. Auf diese wird
genauer bei dem Punkt: Selektion aufgrund von Heterogenität eingegangen. Gegen Ende der
Arbeit wird dann noch anhand einer Studie von Behrmann (2022) auf die individuelle Ebene
der Lehrkräfte eingegangen, da diese eine wesentliche Rolle im Bildungssystem spielen. Ab-
schließend wird mit einem Rückblick auf die Arbeit und die Forschungsfrage ein Fazit formu-
liert.

I. Entstehung des modernen Bildungssystems in Deutschland


Im folgenden Kapitel wird zunächst einmal ein historischer Blick auf die Entstehung des mo-
dernen Bildungssystems in Deutschland geworfen. Das deutsche Bildungssystem des 21. Jahr-
hundert ist ein Ergebnis aus einer Entwicklung, die sich vor allem in den letzten dreihundert
Jahren vollzogen hat (vgl. van Ackeren & Klemm, 2011, S. 13). Die im Jahr 1717 erstmals
gesetzlich beschlossene Schulpflicht in Preußen wurde mit der Begründung eingeführt, dass
Bildung nötig sei um die Bevölkerung als mündige Bürger am gesellschaftlichen Leben besser
mitwirken zu lassen, aber vor allem auch damit sie zu einer Weiterentwicklung und

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wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes beitragen können (vgl. Böhner-Taute & Eileen,
2018, S. 21). Im Zuge der Herausbildung einer Industriegesellschaft war es für den Staat not-
wendig, eine Steigerung der Bildungsbeteiligung in der Bevölkerung zu erreichen, um die neu
entstehenden Produktionsanlagen und die sich ausweitende Bürokratie mit ausreichend quali-
fizierten Personen auszustatten (vgl. Rosenbusch, 2008, S. 16). Allerdings gab es auch noch
einen weiteren Grund, weshalb es zu einer Einführung des staatlichen Schulwesens kam. Die
Zeit der Aufklärung und vor allem die Französische Revolution haben die politische Macht des
Bürgertums erhöht, wodurch es für die Eliten zunehmend schwieriger wurde ihre gesellschaft-
liche Position durch die Vererbung zu legitimieren (vgl. Rosenbusch, 2008, S. 17). Die Einfüh-
rung des staatlichen Bildungssystems hat somit auch zu einer Verschiebung der Ständegesell-
schaft hin zu einer Leistungsgesellschaft geführt. Zunächst wurde sich bei der staatlich voran
getriebenen Entwicklung des preußischen Bildungssystems auf das sogenannte „höhere Schul-
wesen“ konzentriert, dieses bestand aus Gelehrtenschulen, Stadtschulen, Ritterakademien und
Lateinschulen (vgl. van Ackeren & Klemm, 2011, S. 15). Am Ende der Etablierung dieses „hö-
heren Schulwesens“ hatten sich drei Aspekte herausgebildet, die in Teilen auch noch heute so
im deutschen Bildungssystem vorhanden sind: 1. das Berechtigungssystem, 2. der Leistungs-
gedanke und 3. das Bildungskonzept. Unter dem Berechtigungssystem versteht man, dass die
Schülerinnen und Schüler eine unter staatlicher Kontrolle durchgeführte Abschlussprüfung ab-
legen müssen, um den Zugang zur nächsten Institution zu erhalten. Um eine Prüfung zu beste-
hen, musste man erstmal das Erbringen der Schulleistungen erfüllen, das stellt den Leistungs-
gedanken dar. Abschließend war die „höhere“ Schulbildung an ein Bildungskonzept gebunden,
welches sich strikt von berufsbezogenen Ausbildungen abgegrenzt hat (vgl. van Ackeren &
Klemm, 2011, S. 18). Diese drei Aspekte haben maßgeblich die Entstehung des Gymnasiums
geprägt, auch heutzutage ist es mit dem Abschluss des Abiturs oder der Fachhochschulreife am
einfachsten zu studieren und die Lehrpläne unterscheiden sich stark von denen der „niedrige-
ren“ Schulen. Dass man mit Abschlüssen von Haupt- und Realschulen heute eher nicht studie-
ren kann, lässt sich auch auf das preußische Bildungssystem zurückführen. Mitte des 19. Jhdt.
entstand nämlich das sogenannte „niedere“ Schulwesen, welches das Konzept einer Volksbil-
dung verfolgte und von vorneherein nicht auf die Vermittlung einer Studierfähigkeit ausgelegt
war. Ebenso fokussierte sich das etwas später eingeführte „mittlere“ Schulwesen eher auf eine
Anwendbarkeit und Nützlichkeit des Gelernten (vgl. Böhner-Taute & Eileen, 2018, S. 22). An
der Entstehung dieser drei Schulwesen lässt sich bereits eine Besonderheit des deutschen Bil-
dungssystems erkennen: das dreigliedrige Schulsystem mit der Unterteilung in Hauptschule,
Realschule und Gymnasium.

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Mittlerweile ist das Gymnasium eine vielbesuchte Schule geworden, diese Entwicklung hat ih-
ren Ursprung in der Bildungsexpansion. Geißler beschreibt diesen massiven sozialen Wandel
in der Gesellschaft folgendermaßen:

„Zu den auffälligsten Erscheinungen des sozialen Wandels im letzten halben Jahrhundert gehört die
sogenannte Bildungsexpansion. Dieser Begriff stammt aus der Bildungsforschung und bezeichnet
den enormen Ausbau der sekundären und tertiären Bereiche des Bildungswesens – insbesondere der
Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien sowie der Fachschulen, Fachhochschulen, Gesamt-
hochschulen und Universitäten. Aus der Sicht der Betroffenen heißt das: Immer mehr Menschen
erwerben mittlere bzw. höhere Bildungsabschlüsse; immer mehr junge Menschen verweilen immer
länger im Bildungssystem.“ (Geißler, 2014, S. 334)

Diese Entwicklung begann in den 1960er Jahren durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung
im Nachkriegsdeutschland, für die man zunehmend eine höhere Anzahl von gut ausgebildeten
jungen Menschen benötigte. Außerdem zeichnete sich eine Umstrukturierung der Industriege-
sellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft ab, womit ebenfalls ein steigender Qualifi-
kationsbedarf einherging (vgl. Rosenbusch, 2008, S. 19). Mit der Gründung der BRD und der
Entwicklung der Bildungsexpansion kam es auch zu der Forderung, dass das „(Aus-)Bildungs-
wesen für alle Gesellschaftsmitglieder die zentrale Zuteilungsstelle für soziale Chancen sein
soll“ (Hradil, 2005, S. 152). Im Verlauf der Bildungsexpansion gab es lediglich in den 1990er
Jahren eine Phase der Stagnation, im letzten Jahrzehnt nahmen die höheren Bildungsabschlüsse
wieder stark zu. Doch trotz dieser Entwicklung gab es im Jahr 2001 dann eine allgemeine Er-
nüchterung über die Qualität des deutsche Bildungssystems. Die Ergebnisse der Schulleistungs-
studie PISA (Programme for International Student Assessment) aus dem Jahr 2001 waren eher
durchschnittlich und deuteten auf ungleiche Bildungsverhältnisse in Deutschland hin. Ausge-
hend von diesem historischen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung des deutschen
Bildungssystems und vor dem Hintergrund der durch die PISA-Studien angedeuteten unglei-
chen Bildungsverhältnisse in Deutschland, befasst sich das nächste Kapitel mit sozialer Un-
gleichheit im deutschen Bildungssystem und den dazugehörigen Institutionen.

II. Soziale Ungleichheit im Bildungssystem und seinen Institutio-


nen
Bei der Betrachtung von sozialer Ungleichheit gibt es zunächst einmal eine grundlegende Tat-
sache, die man beachten muss. Es ist die Gesellschaft selbst, die Ungleichheiten zulässt und
ohne ein Bildungssystem wären diese vermutlich noch wesentlich größer. Somit kommt es zu
einer Legitimierung der sozialen Ungleichheit durch das Bildungssystem, wenn die jeweiligen
Bildungsinstitutionen die entstehenden Ungleichheiten nicht ausgleichen. Wenn also am Ende
„»nur« ein Hauptschulabschluss steht, dann rechtfertigt dieses Ergebnis der Bildungslaufbahn
geringere Lebenschancen - und zwar auch für die Betroffenen selbst“ (El-Mafaalani, 2020,
3
S. 14). Geringere Lebenschancen bedeuten auch tendenziell einen geringeren Gesundheitszu-
stand und weniger Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, schlechtere Bildung geht also mit
höheren Risiken für das Individuum einher. Bildung stellt demnach eine zentrale Ressource
dar, die dem Individuum den weitern Zugang zu anderen wertvollen Gütern, der unmittelbaren
Teilhabe an der Gesellschaft, sowie bestimmten Lebensstilen und Lebensführungen ermöglicht.
Gleichzeitig wird sie allerdings auch zum Gegenstand von Konflikten und ihre „gesellschaftli-
che Verteilung ist direkt verknüpft mit der Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheiten“
(Behrmann, 2022, S. 20). Eine weitere Tatsache ist, dass die Bildungsbeteiligung und der Bil-
dungserfolg in Deutschland immer noch maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängig sind,
und das trotz dem PISA-Schock von vor zwanzig Jahren (vgl. Behrmann, 2022, S. 11). Zusam-
menfassend kann man sagen, dass es grob drei Bereiche bei der Entstehung von sozialer Be-
nachteiligung im Bildungsbereich gibt: Die Familie und das soziale Umfeld, das Bildungssys-
tem und seine Institutionen und das individuelle Entscheidungsverhalten der jeweiligen sozia-
len Klasse (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 77). Da diese Arbeit sich vorrangig mit dem Bildungs-
system und seinen Institutionen beschäftigt, werden als nächstes einige Merkmale des deut-
schen Bildungssystems aufgegriffen und es wird untersucht, in welchen Zusammenhang sie zur
Bildungsungleichheit stehen. Da sich die Bildungsungleichheit maßgeblich durch eine Chan-
cenungleichheit zeigt, soll an dieser Stelle noch angemerkt werden, was Chancengleichheit im
Bildungssystem eigentlich bedeuteten würde. Für Hradil ist Chancengleichheit im Bildungs-
system dann gegeben, „wenn allen unabhängig von leistungsfremden Merkmalen (wie z.B. von
Bildung, Prestige und Geld der Eltern, von Geschlecht, Wohnort, „Beziehungen“, Religion,
Hautfarbe, politischer Einstellung, persönlicher Bekanntschaft oder Familienzugehörigkeit) die
gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und Leistungsbestätigung eingeräumt wird“ (Hradil,
2005, S. 153).

1. Merkmale des deutschen Bildungssystems:


Mit der Wiedervereinigung Deutschlands setzte sich das in der BRD vorherrschende Konzept
der meritokratischen Chancengleichheit im ganzen deutschen Bildungssystem durch. Nach die-
sem Konzept sollen gleiche Bildungschancen nach der Formel „gleiche Chancen nach Fähigkeit
und Leistung“ (Geißler, 2014, S. 334) gewährleistet werden. Es wird also davon ausgegangen,
dass die Bildung für jeden gleichermaßen über die Leistungen zugänglich gemacht wird. Hier
besteht allerdings die Gefahr, dass Faktoren, die sich negativ auf die Leistungen von Schüle-
rinnen und Schülern auswirken können, durch dieses Konzept ausgeblendet werden. Wenn von
gleichen Chancen nach Fähigkeiten und Leistungen ausgegangen werden soll, dann muss erst
einmal gewährleistet sein, dass auch die gleichen Grundvoraussetzungen für die Entwicklung
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der Fähigkeiten und Leistungen bestehen. Wird dieser Faktor ausgeblendet, dann ergeben sich
daraus ungleiche Startverhältnisse und es werden eben keine gleichen Chancen geboten. Durch
die Übertragung des meritokratischen Konzeptes auf Bildung kann also das individuelle Bil-
dungsversagen durch eine naturalistische, biologische Erklärung gerechtfertigt werden (z.B.
Bildungsversagen sei Schuld der „falschen“ Veranlagungen/Begabungen), was dann allerdings
die eigentliche Konstruktion der sozialen Ungleichheit verschleiert. Denn letztlich ist Bega-
bung, was immer auch darunter verstanden wird, niemals ein Ausdruck „bloßer Natur“. Erst
durch den Sozialisationsprozess und damit durch das Erlernen erlangt die „hereditäre Kompo-
nente […] ihre volle Wirksamkeit“ (Rolff, 1997, S. 25–26), nicht aber einfach nur durch Ver-
erbung übertragene soziale Verhaltensweisen. Ein wesentliches Problem an dieser Sachlage ist
allerdings, dass dieses Erklärungsmuster tief im gesellschaftlichen Denken und Glauben veran-
kert ist (vgl. Behrmann, 2022, S. 23).

Eine weitere Besonderheit des deutschen Bildungssystems liegt in der Trennung der Bildungs-
und Sozialpolitik, die aufgrund der föderalen Strukturen in Deutschland außerdem noch auf
vielen unterschiedlichen Regierungsebenen stattfinden und deswegen nur schwer nachzuvoll-
ziehen sind. Das Fragwürde an dieser Unterteilung ist allerdings, das obwohl fehlende schuli-
sche Qualifikationen ein zentrales Armutsrisiko darstellen, die Bildungspolitik nicht zur Sozi-
alpolitik gehört (vgl. Rosenbusch, 2008, S. 41). Die Erklärung dieses Sachverhalts liegt darin,
dass die Schulen lediglich einen Bildungsauftrag haben, die Erziehung ist Familiensache. Ins-
besondere das Konstrukt der Halbtagsschulen spiegelt das wider. Somit gibt es also im Grunde
ein Arrangement zwischen dem Staat und den Familien, welches eine strikte Arbeitsteilung
darstellt. Verstärkt wird dieses Arrangement auch durch die Ausbildung der Lehrkräfte, die
stärker auf fachliche und weniger auf pädagogische Kompetenzen ausgerichtet ist (vgl. Rosen-
busch, 2008, S. 42). Der fehlende Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik wird auch
bei der Finanzierung deutlich, denn in Deutschland sind die Investitionen in die Bildung ge-
messen am BIP vergleichsweise gering. Die absolute Zahl ist zwar hoch, allerdings gerechnet
auf das BIP von Deutschland ist sie unterdurchschnittlich. 2017 lag der OECD (Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Durchschnitt der Bildungsausgaben ge-
messen am BIP bei 4,9 Prozent, im Vergleich dazu hatte Deutschland nur 4,2 Prozent und lag
so deutlich hinter andern Ländern zurück (vgl. Bocksch, 2020). Das deutet darauf hin, dass in
Deutschland die Politik wenig Handlungs- oder Veränderungsbedarf im Bildungssystem sieht,
da offenbar davon ausgegangen wird das bereits genügend Gelder zur Verfügung stehen. Dabei
ist das Bildungssystem auch nicht per se unterfinanziert, denn das Volumen ist immer noch
vergleichsweiße hoch, allerdings ist die Struktur des Bildungssystems problematisch:
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„Eine Unterfinanzierung lässt sich eigentlich nur bei Kindern und jungen Jugendlichen feststellen.
Die Unterfinanzierung nimmt also tendenziell mit steigendem Alter der Lernenden ab. Das heißt
entsprechend: In den Grundschulen, in denen alle Kinder erreicht werden könnten, liegen die jähr-
lichen Ausgaben pro Kopf deutlich unterhalb des OECD-Durchschnitts.“ (El-Mafaalani, 2020,
S. 173)

Die Tatsache, dass vor allem die Grundschulen am ehesten unterfinanziert sind, ist natürlich
äußerst problematisch. Die soziale Herkunft ist ohnehin schon ein wesentlicher Faktor für un-
gleiche Startbedingungen, allerdings kommt dann auch noch eine Finanzierungsstruktur im Bil-
dungssystem dazu, die den Schulstart am wenigsten fördert.

Wie schon mit dem historischen Rückblick auf die Entstehung des deutschen Bildungssystems
gezeigt, ist ein weiteres Merkmal die Dreiteilung des deutschen Schulsystems. Mit dieser Un-
terteilung gehen einige Mechanismen und Annahmen einher. Zunächst einmal wird von vorn-
herein angenommen, dass es bei den Schülerinnen und Schülern praktische und theoretische
Begabungen/Veranlagungen gibt, welche auf unterschiedliche Weise und eben auch in unter-
schiedlichen Schulen gefördert werden müssen. Da das dreigliedrige Schulsystem in ihren Ab-
schlussmöglichkeiten gleichzeitig eine Hierarchie aufweist, erfolgt hierdurch eine funktionale
Vorstrukturierung für den Zugang zum Arbeitsmarkt (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 170–171).
Personen mit einfachen und mittleren Abschlüssen gehen eher in Ausbildungsberufe, Abitu-
rienten dagegen können studieren und haben dadurch auch eine größere Auswahl für ihr Be-
rufsfeld. Problematisch ist hierbei, dass die einfachen und mittleren Bildungsabschlüsse an
Wert verloren haben und sich dadurch die Benachteiligungen für einen Teil der jungen Men-
schen verstärken und die entwertete Bildung ihnen teilweise keinen sicheren Platz in der Ge-
sellschaft garantieren kann (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 9–10). Diese sogenannte Platzierungs-
funktion ist eine wesentliche Funktion von Bildungssystemen moderner Leistungsgesellschaf-
ten. Das Garantieren einer sicheren Position innerhalb der Gesellschaft ist eigentlich Aufgabe
eines chancengleichen Bildungssystems, denn der Zugang zu den verschiedenen Positionen ist
mit unterschiedlichen Privilegien und Benachteiligungen, sowie dem sozialen Auf- und Ab-
stieg, eng an das Bildungsniveau gekoppelt (vgl. Geißler, 2014, S. 333). Die Platzierungsfunk-
tion ist außerdem an eine weitere Funktion gebunden, nämlich der Selektionsfunktion. Wie
bereits am meritokratischen Konzept erkennbar, steht die individuelle Leistung der Schülerin-
nen und Schüler im Mittelpunkt des deutschen Schulsystems. Deshalb erfolgt die Selektion
auch in erster Linie nach Leistung, wobei es aber auch hier mehrere Faktoren zu beachten gibt,
nicht zuletzt hat auch die Rolle der Lehrkräfte einen Einfluss. Im nächsten Abschnitt soll nun
genauer auf die Selektion und den Umgang mit Heterogenität im deutschen Schulwesen einge-
gangen werden.

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2. Selektion aufgrund von Heterogenität:
Im deutschen Schulwesen erfolgt die erste Selektion bereits nach nur vier (in wenigen Bundes-
ländern nach sechs) Jahren Schulzeit mit dem Ende der Grundschulzeit und dem Übergang in
die weiterführenden Schulen. Diese frühe Selektion basiert auf der Annahme, dass der Lerner-
folg in homogenen Gruppen erfolgreicher sei, als in heterogenen (vgl. Rosenbusch, 2008,
S. 36). Man „sortiert“ quasi die Schülerinnen und Schüler nach angeblicher Leistungsstärkte,
um somit einen vermeintlichen Leistungsanstieg durch eine Homogenisierung der Schulklassen
zu erreichen. Doch diese Selektion kann weitreichende Folgen für die jungen Menschen haben,
da eine gelingende Bildung für alle essenziell für die Zukunft ist. Für Bourdieu ist die Schule
eigentlich ein Faktor intellektueller und sozialer Befreiung, allerdings wird sie dieser Aufgabe
nicht gerecht. Für die unterschiedlichen Schichten innerhalb der Gesellschaft erfüllt sie diese
Aufgabe nämlich nur sehr ungleichmäßig. Menschen aus bereits begünstigen Schichten können
von der Bildung leichter profitieren, aufgrund ihres größeren Handlungsspielraums. Dagegen
Menschen aus bereits benachteiligten Schichten eher nur in Ausnahmen (vgl. Bourdieu, 2001,
S. 20). In dem Handlungstheoretischen Ansatz von Boudon wird das als der „primäre Her-
kunftseffekt“ bezeichnet, also der Korrelation zwischen dem Status der Herkunftsfamilie und
dem Schulerfolg. Dieser wird in einem großen Maße von dem kulturellen Kapital der Eltern
und durch die Erziehung und die Sozialisation beeinflusst (vgl. Böttcher, 2005, S. 63) Durch
die Selektion werden die unterschiedlichen Schulformen außerdem durch Schülerinnen und
Schüler aus ähnlichen Schichten besucht, was sich dann wiederum auf die Leistungsentwick-
lung und den Aufbau von Bildungsaspirationen auswirken kann (vgl. Rosenbusch, 2008, S. 37).
Wer zur Ober- oder Mittelschicht gehört, ein Gymnasium besucht und dort ebenfalls nur von
Personen aus den oberen Schichten umgeben ist, wird ganz anders hinsichtlich der Einstellung
gegenüber Bildung geprägt als jemand der aus der Unterschicht. Dabei spielen auch die Eltern
eine Rolle, auch ihre Erwartungen und Erfahrungen mit und an das Bildungssystem können
sich auf den Lernerfolg und die Einstellung der Kinder auswirken. Denn Kinder und Jugendli-
che aus unteren Schichten gehören häufig zu den Leistungsschwachen in der Schule und außer-
dem werden sie häufiger von den eigenen Eltern von höheren Bildungswegen abgehalten und
von den Lehrkräften strenger bewertet (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 12). Für Boudon stellt das
dem „sekundären Herkunftseffekt“ dar, also dem Zusammenhang zwischen den Bildungswah-
len, den Entscheidungen des Einzelnen oder eben der Eltern, und der sozialen Herkunft (vgl.
Böttcher, 2005, S. 63). Vor dem historischen Hintergrund, dass das Schulsystem auch den Klas-
senerhalt gewährleisten soll, handelt das System also sogar „logisch“: „Statt sozialer Mobilität
und Chancengleichheit stand schon immer Statussicherheit im Zentrum der Logik. Die
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Grundausrichtung »jeder soll dort sicher sein, wo er ist«, war der deutsche Weg“ (El-Mafaalani,
2020, S. 174). Diese „Sicherheit“ ist trügerisch, denn im Grunde führt sie zu einer Legitimie-
rung der Bildungsungleichheit. In Deutschland werden die Haupt- und Realschulen überwie-
gend von Kindern besucht, deren Eltern kein Abitur haben und eher Berufe ausführen, bei de-
nen manuelle Fähigkeiten im Vordergrund stehen. Außerdem wird in den Haupt- und Realschu-
len ein größerer Fokus auf handwerkliche, technische, usw. Fächer gelegt. Das kann dann bei
den Kindern dazu führen, dass sie mit der Überzeugung von der Schule gehen, das theoretische
Fächer (wie sie an Gymnasien unterrichtet werden) höherwertig sind und sie selbst unfähig
wären diese zu bewältigen. Somit wird „die Ungleichheit auf kulturelle Weise legitimiert“
(Bourdieu, 2001, S. 21) anstatt zerstört, da den Kindern aufgrund ihrer sozialen Herkunft durch
das Bildungssystem eine bestimmte Position innerhalb der Gesellschaft zugewiesen wird. Auf
„kulturelle Weise“ meint unter anderem, dass auch die Elterngeneration schon eher handwerk-
liche, technische, usw. Berufe ausüben und die Kinder deshalb quasi der Kultur der „Handwer-
ker“, „Elektriker“, usw. entspringen. Somit kommt es zu einer schichtspezifischen Auslese
durch das Schulsystem, da die Schulen besser auf Kinder und Jugendliche aus der Mittel- und
Oberschicht eingestellt sind. Personen aus der Unterschicht haben es also besonders schwer und
erlangen häufiger nur die gleichen niederen Berufspositionen wie ihre Eltern.

Dieses Geschehnis erfasst Rolff in seiner „Zirkelthese“:

„Die Sozialisation durch den Beruf prägt in der Regel bei den Mitgliedern der sozialen Unterschicht
andere Züge des Sozialcharakters als bei Mitgliedern der Mittel- und Oberschicht; während der
Sozialisation durch die Familie werden normalerweise die jeweils typischen Charakterzüge der El-
tern an die Kinder weitervermittelt; die Sozialisation durch die Freundschaftsgruppen der Heran-
wachsenden vermag die schichtenspezifischen Unterschiede nicht aufzuheben. Da die Sozialisation
durch die Schule auf die Ausprägung des Sozialcharakters der Mittel- und Oberschicht besser ein-
gestellt ist als auf die der Unterschicht, haben es die Kinder aus der Unterschicht besonders schwer,
einen guten Schulerfolg zu erreichen. Sie erlangen häufiger nur Qualifikationen für die gleichen
niederen Berufspositionen, die ihre Eltern bereits ausübten. Wenn sie in diese Berufspositionen ein-
treten, dann ist der Zirkel geschlossen.“ (Rolff, 1997, S. 34)

Diese mögliche Zuweisung des Bildungssystems auf bestimmte soziale Positionen wird dabei
noch durch ein weiteres Problem der Selektion durch das deutsche Schulwesen verstärkt, denn
die Mobilität zwischen den Schulformen ist relativ eingeschränkt. Der Aufstieg kommt dabei
nur sehr selten vor, wenn Mobilität stattfindet ist sie meistens abwärts gerichtet (vgl. Rosen-
busch, 2008, S. 38). Ursachen dafür können vielfältig sein, dennoch deutet die Abwärtsrichtung
der Mobilität auf einige Dinge hin. Zum einen scheint es so, dass durch die weitere Selektion
infolge eines Abstiegs die Schulen noch homogener gemacht werden sollen, als sie ohnehin
schon sind. Zum anderen deutet die Abwärtstendenz darauf hin, dass die Schülerinnen und
Schüler der unteren Schulformen nicht in einem Maße gefördert werden, dass ihnen ein

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Aufstieg möglich wird. Eine weitere Methode zur Herstellung von homogenen Lerngruppen in
deutschen Schulen ist die Klassenwiederholung. Die Klassenwiederholungen haben dabei in
zweifacher Weise einen „positiven“ Effekt für die Schulen: Man kann sich ohne besondere
Anstrengungen von den „Problemschülern“ befreien und man kann somit die Schüleranzahl
künstlich durch längere Bildungswege hochhalten (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 191). Die Schü-
leranzahl ist deshalb von Bedeutung, weil die finanzielle Ausstattung anhand dieser berechnet
wird.

3. Die Rolle der Lehrkräfte


Der Lehrberuf an Schulen stellt hohe Anforderungen an die Lehrkräfte, er ist komplex, anstren-
gend und belastend, auch ohne die Berücksichtigung von Chancengleichheit. Zudem wachsen
die Anforderungen, die an die Lehrkräfte gestellt werden, zunehmend. So müssen sie auch auf-
wendige Verwaltungsaufgaben übernehmen, zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen bei-
tragen und vor allem eine Bezugsperson für die Kinder und Jugendlichen sein, denn die Schule
ist im Grunde der einzige Ort an dem alle gleichermaßen erreicht werden können (vgl. El-
Mafaalani, 2020, S. 186). Lehrkräfte haben also eine zentrale Position im Schulgeschehen: Sie
vermitteln Wissen an die nachwachsende Generation, beurteilen Leistungen, kommunizieren
die Bewertungen an die Schülerinnen und Schüler und die Eltern, selektieren und entscheiden
über Bildungswege und sie übernehmen als Staatsbedienstete die grundlegende sozialisatori-
sche Funktion in Bezug auf die demokratische Bildung (vgl. Behrmann, 2022, S. 15). Da es in
Deutschland einen konstanten Lehrermangel gibt und häufig ohnehin wenig Zeit für individu-
elle Hilfe vorhanden ist, kann es vorkommen, dass Lehrkräfte bei Problemfällen nur einen ge-
ringen Überblick und einen begrenzten Einflussbereich haben. Somit befinden sich Menschen
im Lehrberuf oft in einem Spannungsverhältnis zwischen „einer getakteten Massenabfertigung
und einer subjektorientierten, die Menschen als Individuen ernst nehmenden Perspektive“ (El-
Mafaalani, 2020, S. 188). Aufgrund dieses schwierigen Sachverhalts für Lehrkräfte an Schulen,
liegt die Annahme nahe, dass auch sie zu Akteuren der Reproduktion von sozialer Ungleichheit
werden können. Deshalb soll nun anhand der Studie von Behrmann (2022) genauer auf die
potenzielle Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem durch Lehrkräfte geschaut
werden. Die Studie befasst sich mit den Deutungen und Erfahrungen von Lehrkräften an Ge-
samtschulen. Unter anderem wurden dabei anhand von Interviews zwei Konstellationen erfasst,
diese stellen dabei mehr oder weniger Idealtypen dar. Auf der einen Seite ergab sich die eher
arbeitsmarktbezogene Konstellation des Typs „Stoffermittler“, auf der anderen Seite der eher
schülerorientierte Typ des „Mentors“ (vgl. Behrmann, 2022, S. 222). Im Lehramtsstudium wird
in Deutschland vorrangig der Fokus auf Unterrichtsinhalte gelegt, pädagogische Inhalte werden
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weniger aufgegriffen. Vor allem die Bedeutung der soziale Herkunft von Kindern und Jugend-
lichen spielt nur eine geringe Rolle (vgl. El-Mafaalani, 2020, S. 80). Daraus ergibt sich die
Annahme, dass der Typ des „Stoffvermittlers“ durch das Bildungssystem indirekt eher geför-
dert wird als der Typ des „Mentors“. Deshalb wird an dieser Stelle genauer auf den Typ des
„Stoffvermittlers“ geschaut, und was diesen ausmacht. Dabei darf man aber nicht vergessen,
dass es sich um einen Idealtyp handelt, in der Realität wird dieser Typ vermutlich genauso nur
sehr selten vorkommen. Dennoch kann man vermuten, dass Ähnlichkeiten zu diesem Typ bei
Lehrkräften aufgrund des derzeitigen Lehramtsstudiums häufiger vorkommen als Ähnlichkei-
ten zu dem Typ des „Mentors“.

Die Grundannahme des Typs „Stoffvermittler“ ist, dass der Arbeitsmarkt nach Wissensbestän-
den und einer Sortierung nach Leistungsvermögen verlangt. Diese Funktion übernimmt der Un-
terricht in einem zeitlichen, sachlichen und strukturierten Handlungsrahmen, allgegenwärtig ist
dabei die Bedeutung von Wissen und Leistung (vgl. Behrmann, 2022, S. 222). Diese Grundan-
nahme passt zu dem vorherrschenden Leistungsprinzip in deutschen Schulen, offensichtlich
werden hier also die vorgegebenen Prinzipien des Bildungssystems von dem Typ „Stoffver-
mittler“ auf den eigenen Unterricht und das Handeln übertragen. Deshalb sind die Handlungs-
linien dieses Typs: Bewerten, Selektieren und Sortieren. Dabei treten allerdings die pädagogi-
schen Arbeiten am Kind in den Hintergrund (vgl. Behrmann, 2022, S. 226–227). Das Bewerten,
Selektieren und Sortieren ist fest im deutschen Bildungssystem verankert, kann jedoch soziale
Ungleichheiten erzeugen/reproduzieren. Da der Typ des „Stoffvermittlers“ diese drei Punkte
als Handlungslinien für sich übernommen hat, kann das dann zu einer Reproduktion dieser so-
zialen Ungleichheit führen. Der Bildungserfolg/-misserfolg wird dabei dem individuellen Han-
deln der Schülerinnen und Schüler zugerechnet, den Eltern wird die Aufgabe des Unterstüt-
zen/Helfens beim Lernen zugewiesen (vgl. Behrmann, 2022, S. 250). Das Schülerinnen und
Schüler als individualisierte Leistungsträger von der Lehrkraft aufgefasst werden, führt zu einer
systematischen Ausblendung mehrerer Faktoren: „die Vorprägung durch das Elternhaus, die
Passung des familialen Bildungshabitus zu schulischen Erwartungen sowie die milieuspezifi-
sche Varianz von Bildungsambitionen und die (nicht) vorhandene Unterstützung“ (Behrmann,
2022, S. 258). Mit der Aufgabenzuteilung für die Eltern kann es passieren, dass Eltern ohne
hohen Bildungsabschluss, ohne guten Deutschkenntnissen, usw. mit der Aufgabe überfordert
werden. Wenn die Lehrkraft den Eltern z.B. die Aufgabe gibt, mit dem Kind das Lesen zu üben
und damit die Deutschkenntnisse zu fördern, die Eltern aber selbst die Sprache noch nicht per-
fekt beherrschen, dann kann das direkte Konsequenzen für den Bildungserfolg haben. Durch
diese Aktivierung der Bildungsressourcen wird also versucht, das kulturelle Kapital der Eltern
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für den Bildungserfolg des Kindes zu nutzen. Das wäre allerdings nur dann Chancengleich,
wenn alle Eltern in einem gleichen Maße über ein solches kulturelles Kapital verfügen würden,
das ist in der Realität aber nicht der Fall. Um eine Chancengleichheit zu erreichen, müsste man
also in jedem individuellen Fall schauen, welches kulturelle Kapital vorhanden ist, wie man
dieses nutzen könnte, und falls nötig, wie man einen Ausgleich schaffen kann. Der Typ des
„Stoffvermittlers“ ergreift nur in extrem auffälligen Situationen minimal kompensatorische
Handlungen: Zum einen wird Schülerinnen und Schülern, die durch besondere Probleme auf-
fallen (z.B. bei Verdacht auf häusliche Gewalt) besondere Aufmerksamkeit zuteil. Zum anderen
wird versucht, Ausgrenzungen aufgrund von sichtbaren sozialen Unterschieden (z.B. der Klei-
dung) entgegenzuwirken (vgl. Behrmann, 2022, S. 251). Bedenkt man, dass die Lehrkräfte ei-
nen sehr anspruchsvollen und komplexen Beruf haben, bei dem Zeit und die Unterstützungen
von außen meistens nur knappen Ressourcen sind, liegt es nahe das nur minimal kompensato-
rische Handlungen ergriffen werden (können). Für mehr ist das Bildungssystem derzeit offen-
bar auch nicht ausgelegt, konstanter Lehrermangel, Überlastungen und Zeitdruck machen pä-
dagogisches Handeln sehr schwierig. Das in einem solchen Kontext der Rückgriff auf soziale
Kategorien bei Entscheidungen von manchen Lehrkräften gewählt wird, um diesen im span-
nungsreichen und zeitknappen Schulalltag Geltung zu verschaffen, ist eine negative Folge (vgl.
Behrmann, 2022, S. 269). Somit kann es leider passieren, dass Schülerinnen und Schüler nach
gewissen gesellschaftlichen Vorannahmen über Personengruppen bewertet werden (z.B., wenn
die Herkunft als Rechtfertigung für eine schlechte Note in Deutsch herangezogen wird), das
muss dabei von Seiten der Lehrkräfte noch nicht einmal bewusst ablaufen. Im krisenhaften
Unterrichtsalltag entstehen so für die Lehrkräfte Handlungsroutinen, die die weitere Hand-
lungsfähigkeit der Lehrpersonen ermöglichen. Nach Zaborowski zeichnen sich diese vor allem
durch zwei Aspekte aus: „1) die Verantwortungsentlastung für die Leistungen der Schüler, 2)
die fehlende Bezugnahme auf die Problemlagen der Schülerschaft“ (Zaborowski, 2011, S. 320).
Die Lehrkräfte entwickeln dann teilweise für sich eine Leistungserwartung, welche auf der
Grundlage einer Normalvorstellung von Bildung und Unterricht nach der Logik der objektiven
Leistungsbewertung der Schule funktioniert. Somit wird die Handlungsstrategie des Typs
„Stoffvermittlers“ auf ein Kerngeschäft reduziert: Wissensvermittlung und Bewerten (vgl.
Behrmann, 2022, S. 266). Der Typ des „Stoffvermittlers“ wird also nicht nur durch das Lehr-
amtsstudium indirekt gefördert, sondern das Bildungssystem an sich ist mehr oder weniger
durch das Leistungsprinzip auf diesen ausgelegt. Das Bildungssystem an sich stellt also das
zentrale Problem dar: „Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst
das zentrale Problem“ (El-Mafaalani, 2020, S. 13).

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III. Rückblick und Fazit
Einleitend zu dieser Arbeit wurde die Forschungsfrage vorgestellt, diese lautet: Wie wird sozi-
ale Ungleichheit durch das deutsche Bildungssystem reproduziert bzw. erzeugt? Um diese
Frage zu beantworten, wurde zunächst ein Blick auf die Historie des deutschen Bildungssys-
tems geworfen. Die wichtigsten Entwicklungen für das heutige Bildungssystem in Deutschland
waren dabei: die Einführung der Schulpflicht, die Entstehung des dreigliedrigen Schulwesens
und die Fokussierung auf die Leistung. Im Zuge der Bildungsexpansion, ausgehend von den
1960er Jahren, gab es in Deutschland eine weitere wichtige Entwicklung, nämlich die massive
Zunahme von mittleren und hohen Bildungsabschlüssen. Allerdings gab es in dieser zunächst
von der Gesellschaft als positiv wahrgenommenen Entwicklung, durch die PISA-Studien im
Jahr 2001 einen Schock. Es stellte sich zum einen heraus, dass das Bildungssystem in Deutsch-
land nur mittelmäßig gut ist, und zum anderen, dass die Bildungsverhältnisse in Deutschland
höchst ungleich sind. Aufbauend auf der Geschichte des deutschen Bildungssystems und vor
dem Hintergrund der Chancenungleichheit wurde sich im nächsten Abschnitt mit der sozialen
Ungleichheit im Bildungssystem und seinen Institutionen befasst. Dafür wurden einige Merk-
male des deutschen Bildungssystems genauer beleuchtet, die wichtigsten werden hier noch ein-
mal kurz aufgegriffen. Durch das Konzept der meritokratischen Chancengleichheit wird im
deutschen Bildungssystem davon ausgegangen, dass die Chancengleichheit durch die individu-
ellen Fähigkeiten und Leistungen gewährleistet werden kann. Dieses Konzept, übertragen auf
Bildung, erlaubt eine Einschätzung der „Begabungen“ der Kinder und Jugendlichen in schein-
bar naturgegeben Tatsachen vorzunehmen und ist deshalb äußerst problematisch. Außerdem ist
in Deutschland die Bildungs- und Sozialpolitik voneinander getrennt, diese Tatsache ist inso-
fern fragwürdig, da eine fehlende schulische Qualifikation ein zentrales Armutsrisiko darstellt.
Eine weitere Besonderheit, die aufgegriffen wurde, ist das dreigliedrige Schulsystem. Dabei
wurde festgestellt, dass nicht nur die niedrigeren Bildungsabschlüsse in den letzten Jahren an
Wert verloren haben, sondern dass dieses System auch zu einer folgenreichen Selektion der
Schülerinnen und Schüler führt. Der Hauptgrund für diese Selektion durch das dreigliedrige
Bildungssystem ist dabei, dass in Deutschland die Annahme besteht, dass die Kinder und Ju-
gendlichen besser in homogenen Gruppen lernen würden. Allerdings führt diese Selektion häu-
fig zu einer Einteilung der Schülerinnen und Schülern nach der sozialen Herkunft und der
Schichtzugehörigkeit. Insofern werden die Kinder und Jugendlichen durch das Bildungssystem
auf ihre zukünftige soziale Position zugewiesen und diese entspricht häufig derselben Position
wie die der Eltern. Für Rolff hat sich damit nach seiner Zirkelthese der Zirkel geschlossen.
Nach dieser strukturellen Analyse des Bildungssystems in Deutschland wurde dann noch
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abschließend auf die individuelle Ebene, bezogen auf die Rolle der Lehrkräfte, eingegangen.
Anhand der Studie von Behrmann (2022) wurde die Konstellation des Typs „Stoffvermittler“
vorgestellt. Zu diesem Idealtyp wurde festgehalten, dass er an der (Re-)Produktion von Bil-
dungsungleichheit beteiligt sein kann, weil eine mangelnde pädagogische Ausbildung und die
Einbindung in die ungleichen Strukturen des Bildungssystems Auswirkungen auf das individu-
elle Handeln haben können. Abschließend zu dieser Arbeit lässt sich sagen, dass die soziale
Ungleichheit im Bildungssystem viel mit der historischen Entwicklung zu tun hat. Anscheinend
haben sich hier Strukturen entwickelt und fortgeführt, die sich immer noch an den Statuserhalt
der oberen Schichten richten. Diese können leichter von diesem System profitieren, werden
teilweise besser behandelt und können aufkommende Probleme besser beseitigen. Menschen
aus den unteren Schichten wird allerdings durch ein solches System der Aufstieg stark er-
schwert, wenn nicht sogar verhindert.

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IV. Selbstständigkeitserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe ver-
fasst und keine anderen Hilfsmittel als die angegebenen verwendet habe.

Insbesondere versichere ich, dass ich alle wörtlichen und sinngemäßen Übernahmen aus ande-
ren Werken und Internetquellen als solche kenntlich gemacht habe.

Freiburg, 24.02.2023

David Heinemann

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V. Quellenverzeichnis
Behrmann, L. (2022) Bildung und Soziale Ungleichheit: Deutungen und Erfahrungen von Lehrer:in-
nen an Gesamtschulen, Frankfurt am Main, Campus Verlag GmbH.
Bocksch, R. (2020) OECD-Bildungsbereicht: Deutschland gibt gemessen am BIP vergleichsweise we-
nig für Bildung aus [Online], statista. Verfügbar unter https://de.statista.com/infografik/15423/bil-
dungsausgaben-gemessen-am-bip/#:~:text=Demnach%20liegen%20die%20Ausga-
ben%20im,(6%2C7%20Prozent). (Abgerufen am 31 Dezember 2022).
Böhner-Taute & Eileen (2018) Chancenungleichheiten im Bildungsverlauf: Soziale, ethnische und
bundeslandspezifische Einflüsse, Wiesbaden, Springer VS.
Böttcher, W. (2005) „Soziale Benachteiligung im Bildungswesen: Die Reduktion von Ungleichheit als
pädagogischer Auftrag“, in Opielka, M. (Hg.) Bildungsreform als Sozialreform: Zum Zusammen-
hang von Bildungs- und Sozialpolitik, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 61–77.
Bourdieu, P. (2001) Wie die Kultur zum Bauer kommt: Über Bildung, Schule & Politik Schriften zu
Politik & Kultur 4, Hamburg, VSA-Verlag.
El-Mafaalani, A. (2020) Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine
Zukunft, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Geißler, R. (2014) Die Sozialstruktur Deutschlands, 7. Aufl., Wiesbaden, Springer VS.
Hradil, S. (2005) Soziale Ungleichheit in Deutschland, 8. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwis-
senschaften.
Rolff, H.-G. (1997) Sozialisation und Auslese durch die Schule, Weinheim und München, Juventa
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Rosenbusch, C. (2008) Demographischer Wandel und Bildungsungleichheit: Eine Chance für die
Chancengleichheit?, Gießen, Johannes Herrmann Verlag.
van Ackeren, I. & Klemm, K. (2011) Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems:
Eine Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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