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DOUGLAS MURRAY

WAHNSINN DER MASSEN


Wie Meinungsmache und Hysterie unsere
Gesellschaft vergiften
WAHNSINN DER MASSEN
Wie Meinungsmache und Hysterie unsere
Gesellschaft vergiften
DOUGLAS MURRAY
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EDITION TICHYS EINBLICK


2., komplett überarbeitete Auflage 2020
© 2019 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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D-80636 München
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Fax: 089 652096

© 2019 by Douglas Murray


This translation of THE MADNESS OF CROWDS is published by FinanzBuch Verlag by
arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.
Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Bloomsbury Publishing Plc. unter dem
Titel The Madness of Crowds.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der
Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie,
Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Birgit Schöbitz


Redaktion: Ulrike Kroneck, Manuela Kahle
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Covergestaltung in Anlehnung an das Original, Marc-Torben Fischer,
München
Satz: Carsten Klein, Torgau
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-371-8


ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-689-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-690-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Homosexuelle
Wenn alles zur Schwulensache erklärt wird
Eine Einbahnstraße?
Hardware gegen Software und die Notwendigkeit, »so geboren
worden« zu sein
Die philosophische Verwirrung
Homosexuelle gegen Queers
Gleich oder besser?
Homosexuelle Elternschaft
Ist Homosexualität politisch?
Gibt es vernünftige Gründe für »Homophobie«?

Zwischenspiel: Die marxistischen Grundlagen

Kapitel 2: Frauen
Love you
Bring ihn zum Sabbern
Gleich oder besser?
Women mean Business
Schulungen über Vorurteile und Intersektionalität
Diese feministische Welle
Der Krieg gegen Männer
Wenn Hardware auf einmal Software sein will

Zwischenspiel: Der Einfluss der modernen Technologien


Das Verschwinden des privaten Raums
Das Silicon Valley ist in moralischer Hinsicht nicht neutral
Machine Learning Fairness

Kapitel 3: Rasse
Die akademische Welt
Wie Armie Hammer problematisiert wurde
»Entkolonialisierung« im Evergreen State College
Crazy Shit
Gecastete Verleumdung
Gestern war alles noch anders
Kulturelle Aneignung
Das zentrale Problem
Ist Schwarzsein politisch? Die Rede, nicht der Redner
Der Redner, nicht die Rede
Sarah Jeong
Die neue Rhetorik
IQ

Zwischenspiel: Vergebung

Kapitel 4: Trans
Was nicht merkwürdig ist
Intersexualität
Transsexualität
Autogynophilie
Der Durchbruch der Transmenschen
Die Geschichte eines jungen Mannes
Der feministische Stolperdraht
Die Eltern
Die Geschichte einer Familie
Die Experten
Wohin führt das alles?

Zusammenfassung
Diese Behauptungen laufen nicht zusammen, sie befördern die
Divergenz
Das Problem mit der Unmöglichkeit
Was, wenn die Menschen gar nicht unterdrückt werden?
Wichtige Diskussionen, vor denen wir uns drücken
Was wirklich los ist
Lösungen
Fragen Sie doch mal nach: »Im Vergleich womit?«
Opfer haben nicht immer recht, sind nicht immer nett, verdienen
nicht immer Anerkennung und sind vielleicht nicht mal Opfer
Können wir es uns leisten, großmütig zu sein?
Uns bewusst machen, wohin wir gehen
Nicht alles politisieren

Danksagung

Anmerkungen
»Die Besonderheit der modernen Welt ist nicht, dass sie skeptisch
ist, sondern dass sie dogmatisch ist, ohne sich dessen bewusst zu
sein.«

G. K. Chesterton

»Oh my gosh, look at her butt


Oh my gosh, look at her butt
Oh my gosh, look at her butt
(Look at her butt)
Look at, look at, look at
Look, at her butt«

Nicki Minaj
VORWORT

Wir befinden uns inmitten einer großen Verwirrung der Massen.


Privat wie öffentlich, online wie offline verhalten sich Menschen
zunehmend irrational, emotional, herdenartig und schlicht
unangenehm. Die Nachrichten berichten immer wieder von den
Folgen eines solchen Verhaltens. Erstaunlicherweise sehen wir zwar
die Symptome, nicht aber die Ursachen.
Es kursieren verschiedene Erklärungen dieses Phänomens, die
allesamt den Schluss nahelegen, dass dieses Chaos maßgeblich
durch den Ausgang einer Präsidentschaftswahl (in den Vereinigten
Staaten) oder einer Volksabstimmung (im Vereinigten Königreich)
verursacht sei. Doch keine dieser Erklärungen erfasst das
eigentliche Problem. Hinter diesen alltäglichen Ereignissen stecken
größere Bewegungen und weitreichendere Geschehnisse. Es ist an
der Zeit, sich genauer anzusehen, weshalb zurzeit einiges
schiefläuft.
Auch die Ursache dieses Zustandes wird nur selten erkannt. Das
liegt an der einfachen Tatsache, dass in einem Zeitraum von knapp
drei Jahrzehnten alle unsere großen Narrative in sich
zusammengefallen sind. Eines nach dem anderen wurde
angefochten, es zu verteidigen wurde unpopulär oder unmöglich, es
aufrechtzuerhalten. Seit dem 19. Jahrhundert genügten uns religiöse
Erklärungen unserer Existenz nicht mehr, und im 20. Jahrhundert
ereilten auch die weltlichen Hoffnungen, die die politischen
Ideologien angeboten hatten, dieses Schicksal. Das ausgehende 20.
Jahrhundert sah den Beginn der Postmoderne, eine Epoche, die
sich selbst definiert und definiert wird durch eine große Skepsis
gegenüber allen großen Erzählungen.1 Doch wie bereits Schulkinder
lernen, verabscheut die Natur das Vakuum, und im Vakuum der
Postmoderne begannen sich neue Ideen herauszukristallisieren, mit
der Absicht, Erklärungen und Deutungen ganz eigener Art
anzubieten.
Es war unvermeidlich, die entstandene Leere erneut zu füllen.
Die Menschen der wohlhabenden westlichen Demokratien unserer
Zeit konnten unmöglich die ersten in der Geschichte der Menschheit
sein, die keinerlei Erklärung dafür fänden, was wir hier tun, und
keine Erzählung hätten, die ihrem Leben Sinn verleiht. Was immer
den großen Erzählungen der Vergangenheit auch gefehlt hat, so
gaben sie doch dem Leben eine Bedeutung. Die Frage, was genau
wir eigentlich mit unserem Leben anfangen sollen – außer
Reichtümer anzuhäufen, wann immer es geht, und jedem
erdenklichen Vergnügen nachzugehen, das sich uns bietet –, musste
irgendwie beantwortet werden.
Seit ein paar Jahren zeichnet sich ab, dass die Antwort lauten
könnte, sich an neuen Schlachten und immer wilderen Aktionen zu
beteiligen und immer abseitigere Forderungen zu stellen. Sinn und
Bedeutung scheinen darin zu liegen, einen Dauerkrieg gegen jeden
zu führen, der auf der falschen Seite zu stehen scheint, obwohl die
einer Auseinandersetzung zugrunde liegende Frage möglicherweise
nur neu gedeutet und die Antwort darauf nur neu formuliert wurde.
Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich diese Entwicklung
vollzog, lässt sich nicht nur damit erklären, dass eine Handvoll
Unternehmen aus dem Silicon Valley (vornehmlich Google, Twitter
und Facebook) in der Lage sind zu steuern, was ein Großteil der
Menschen auf dieser Welt weiß, denkt und äußert, sondern auch mit
ihrem Geschäftsmodell, das – so wurde es einmal trefflich formuliert
– darauf beruht, »Kunden zu finden, die bereit sind, Geld dafür zu
zahlen, dass sie das Verhalten Dritter beeinflussen können«.2
Erschwerend kommt hinzu, dass die modernen Technologien so
rasend schnell sind, dass wir kaum noch mit ihnen Schritt halten
können. Dennoch werden diese Kriege nicht grundlos geführt. Sie
alle weisen in eine bestimmte Richtung. Und diese Richtung verfolgt
ein ungeheures Ziel. Ziel ist es – manchen Menschen dürfte es
bewusst sein, anderen dagegen nicht –, eine neue Metaphysik in
unserer Gesellschaft zu verankern: eine neue Religion, wenn Sie so
wollen.
Obwohl die Voraussetzungen dafür bereits seit mehreren
Jahrzehnten vorhanden waren, ist es erst seit der Finanzkrise von
2008 so, dass Ideen, mit denen man sich bislang bestenfalls im
hintersten Winkel der akademischen Welt befasste, sich mit einem
Mal im Mainstream verbreiteten. Der Reiz dieser neuen Werte liegt
auf der Hand. Weshalb eine Generation, der es nicht gelingt,
nennenswert Kapital zu bilden, eine Liebe für den Kapitalismus
haben sollte, ist nicht ersichtlich. Andererseits ist es nicht allzu
schwer nachzuvollziehen, weshalb eine Generation, die überzeugt
davon ist, es niemals zu einem Eigenheim zu bringen, sich von einer
ideologischen Weltsicht angezogen fühlt, die ihr verspricht, nicht nur
der Ungerechtigkeit in ihrem eigenen Leben, sondern jeglicher
Ungerechtigkeit auf Erden ein Ende zu bereiten. Die Welt durch eine
Brille »sozialer Gerechtigkeit«, »Identitätspolitik« und
»Intersektionalität« zu betrachten, mit dem Ziel einer neuen
Ideologie, dürfte die wohl kühnste und umfassendste Bewegung seit
dem Ende des Kalten Krieges sein.
Bis zum heutigen Tag hat die »soziale Gerechtigkeit« das
Rennen gewonnen, denn das klingt nicht nur gut, es ist es auch,
zumindest in einigen Ausführungen. Allein schon der Begriff! Völlig
unmöglich, sich dagegenzustellen! Wie, Sie sind gegen soziale
Gerechtigkeit? Und was wollen Sie stattdessen? Am Ende soziale
Ungerechtigkeit? »Identitätspolitik« geht dort vonstatten, wo soziale
Gerechtigkeit ihre Gremien und Ausschüsse findet. Mit ihrer Hilfe
wird die Gesellschaft je nach Geschlechtsidentität, ethnischer
Zugehörigkeit, sexuellen Vorlieben und dergleichen mehr in
unterschiedliche Interessengruppen eingeteilt. Dabei gilt die
Annahme, dass solche Merkmale die wichtigsten oder einzig
relevanten Attribute der jeweiligen Gruppe sind und ihnen ein paar
Pluspunkte verschaffen. So kursiert zum Beispiel die Theorie (wie es
der amerikanische Schriftsteller Coleman Hughes ausdrückte), dass
die Tatsache, schwarz, weiblich oder homosexuell zu sein, mit einem
»höheren moralischen Wissen« einhergeht.3 Das dürfte auch der
Grund sein, weshalb diese Menschen ihre Fragen oder Aussagen in
der Regel mit »Ich als …« beginnen. Erschwerend kommt hinzu,
dass jemand – ganz egal, ob er oder sie noch lebt oder bereits
verstorben ist – auf der richtigen Seite stehen muss. Das erklärt die
Forderungen, die Denkmäler für bestimmte historische
Persönlichkeiten zu entfernen, sofern davon ausgegangen wird, auf
der falschen Seite gestanden zu haben. Und aus diesem Grund
muss die Geschichte für alle, die auf der sicheren Seite stehen
wollen, neu geschrieben werden. Das erklärt, warum es für einen
Senator von der Sinn Féin völlig normal ist zu behaupten, dass der
Grund für die Hungerstreiks der inhaftierten IRA-Mitglieder im Jahr
1981 ihre Forderung nach mehr Rechten für Homosexuelle war.4
Identitätspolitik findet dort statt, wo Minderheiten ermutigt werden,
sich gleichzeitig zu atomisieren, zu organisieren und zu erklären.
Das Konzept der »Intersektionalität« ist der Teil dieser
Dreifaltigkeit, der am wenigsten ansprechend klingt. Dabei handelt
es sich um nichts anderes als die Aufforderung, den Rest seines
Lebens damit zu verbringen, Ansprüche aufgrund der eigenen
Identität und der damit verbundenen Verletzlichkeit, aber auch der
von anderen herauszuarbeiten und diese so zu strukturieren, dass
sie zu dem System der Gerechtigkeit (zu welchem auch immer)
passen, das sich aus der von uns entdeckten, stets im Wandel
begriffenen Hierarchie ergibt. Doch dieses System ist nicht nur nicht
umzusetzen, sondern Irrsinn, da unmögliche Forderungen gestellt
werden und Ziele erreicht werden sollen, die schlicht unerreichbar
sind. Die Intersektionalität hat mittlerweile den engen Bereich der
sozialwissenschaftlichen Fachbereiche, in denen sie ihren Ursprung
hat, hinter sich gelassen. Inzwischen wird sie von einer ganzen
Generation junger Menschen ernst genommen. Sie wurde – wie wir
noch sehen werden – mithilfe des Arbeitsrechts (insbesondere durch
die »Verpflichtung zur Vielfalt«) auf die Fahnen sämtlicher
bedeutender Unternehmen und Behörden geschrieben.
Um uns dazu zu bringen, die neuen Annahmen zu schlucken,
bedurfte es neuer Heuristiken. Die Geschwindigkeit, mit der sie zum
Mainstream wurden, ist atemberaubend. Wie der Mathematiker und
Autor Eric Weinstein festgestellt hat (und die Suche über Google
Books bestätigt), haben Suchbegriffe wie »LGBTQ« [Anm. d. Red.:
Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer – Lesbisch, Schwul,
Bisexuell, Transgender, Queer], »weiße Privilegien« und
»Transphobie« eine beeindruckende Entwicklung genommen – von
nicht vorhanden bis zu allgemein geläufig. Weiter heißt es in seinem
Artikel über den resultierenden Graphen, der diese Tendenz
veranschaulicht, dass das »erwachte Bewusstsein«, das die
Millennials und andere dafür nutzen, »Jahrtausende der
Unterdrückung und/oder Zivilisation in der Luft zu zerreißen, … sich
innerhalb der letzten 20 Minuten herausbildete.« Es spreche zwar
nichts dagegen, so Weinstein weiter, neue Ideen und
Begrifflichkeiten auszuloten, »aber es zeugt schon von einer
verdammten Waghalsigkeit, auf so vielen ungeprüften Heuristiken
aufzubauen, die noch keine 50 Jahre auf dem Buckel haben und von
der Elterngeneration auf unerprobten Feldern entwickelt wurden«.5
Auch Greg Lukianoff und Jonathan Haidt haben (in ihrem 2018
erschienenen Buch The Coddling of the American Mind) klargestellt,
wie neuartig die Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung dieser neuen
Heuristiken geworden sind. Phrasen wie »getriggert« oder »Gefühl
von Unsicherheit« und Behauptungen, dass bestimmte Wörter, die
nicht zu der neuen Religion passen, »Schaden« anrichten, fanden
vermehrt erst ab 2013 Verwendung.6 Man könnte meinen, die neue
Metaphysik hätte zunächst ihr Ziel festgelegt und sich dann, in dem
folgenden halben Jahrzehnt, darum gekümmert, wie sie ihre
Anhänger so unter Druck setzen konnte, bis der Weg zum
Mainstream frei war. Und genau so lief es ab – äußerst erfolgreich.
Über die Folgen wird jeden Tag in den Nachrichten berichtet. Damit
lässt sich erklären, weshalb die American Psychological Association,
der US-amerikanische Berufsverband der Psychologen, sich
bemüßigt fühlt, ihren Mitgliedern zu erklären, wie man Jungen und
Männern die schädliche »traditionelle Männlichkeit« aberzieht.7 Das
ist der Grund, weshalb ein zuvor gänzlich unbekannter Google-
Ingenieur namens James Damore entlassen werden konnte,
nachdem er ein Memo verfasst hatte, in dem er die Ansicht vertrat,
dass manche technischen Berufe mehr Anziehungskraft auf Männer
ausüben als auf Frauen. Und es erklärt, weshalb sich die Zahl der
US-Bürger, die Rassismus als »großes Problem« ansehen,
zwischen 2011 und 2018 verdoppelt hat.8
Nachdem wir also alles durch die neuen Filter betrachten, setzen
wir alles Mögliche als Waffe ein – was Folgen hat, die nicht nur
verstörend sind, sondern purer Wahnsinn. Das erklärt, weshalb sich
die New York Times entschloss, den Artikel eines schwarzen
Journalisten mit dem Titel »Can my Children be Friends with White
People?« (»Können meine und weiße Kinder Freunde sein?«) zu
veröffentlichen.9 Oder weshalb ein von einer Autorin verfasster
Artikel über die Anzahl der im Londoner Straßenverkehr tödlich
verunglückten Radfahrer die Überschrift trug: »Von Männern
gebaute Straßen töten Frauen«.10 Solche rhetorischen Kniffe lassen
die vorhandenen Gräben noch tiefer werden oder führen zu neuen
Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Und wozu das Ganze?
Anstatt dass wir aus den Lektionen der letzten zehn Jahre lernen,
wie wir besser miteinander auskommen, haben wir lediglich gelernt,
dass wir wirklich nicht gut darin sind, miteinander zu leben.
Die meisten Menschen wurden dieses neuen Wertesystems
weniger durch eigene Erfahrung gewahr, sondern eher durch
öffentliche Verfehlungen. Denn zumindest bei einer Sache trügt uns
unser Gespür nicht: In unserer Kultur gibt es seit Neuestem jede
Menge Stolperdrähte. Ob von Einzelnen, einer Gemeinschaft oder
einem göttlichen Satiriker gespannt – sie haben nur darauf gewartet,
einen nach dem anderen in die Falle tappen zu lassen. Mitunter
wurde ein Stolperdraht versehentlich mit dem Fuß berührt und löste
die Sprengfalle aus. Aber man konnte auch manch tapferen
Verrückten in vollem Bewusstsein Kurs aufs Niemandsland nehmen
sehen. Auf jede Explosion folgen Kontroversen (einschließlich
bewundernder »Ahhhs« der Anerkennung), doch dann dreht die
Welt sich einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Wir nehmen
hin, dass das merkwürdige, offensichtlich improvisatorische
Wertesystem unserer Zeit ein weiteres Opfer gefunden hat.
Es dauerte eine Weile, bis feststand, wo diese Stolperdrähte
verlaufen, aber inzwischen ist es klar. Die ersten betrafen alles, was
mit Homosexualität zu tun hat. So wurde in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts mit beachtlichem Erfolg für die Rechte von
Homosexuellen gekämpft, was schreckliches historisches Unrecht
wiedergutmachte. Als der Krieg gewonnen war, zeigte sich jedoch,
dass die Bewegung nicht zu einem Stillstand kam, sondern sich
wandelte. Aus GLB [Anm. d. Red.: Gay, Lesbian, Bi – Schwul,
Lesbisch, Bisexuell] wurde LGB, da man die Sichtbarkeit der Lesben
nicht einschränken wollte. Dann kam noch ein T dazu (darüber
später mehr). Dann noch ein Q, schließlich ein paar weitere
Buchstaben, Sonderzeichen, Sternchen. Und so, wie es immer mehr
Abkürzungen für alle möglichen (homo-)sexuellen Orientierungen
gab, änderte sich auch etwas im Innern dieser Bewegung, die sich
als Sieger mit einem Mal so verhielt, wie es einst ihre Gegner taten.
Als sich das Blatt wendete, geschah etwas Hässliches. Vor rund
einem Jahrzehnt war so gut wie niemand für die Homo-Ehe. Selbst
Organisationen wie Stonewall, die für die Rechte Homosexueller
eintreten, hielten nichts davon. Nur ein paar Jahre später wird die
Ehe für alle zu den grundlegenden Werten des modernen
Liberalismus gezählt. Die falsche Haltung gegenüber der Homo-Ehe
zu haben – wie das noch ein paar Jahre zuvor auf fast jeden zutraf
(einschließlich der Gruppen, die sich für die Rechte von
Homosexuellen einsetzten) –, sprengt die Grenzen des Erlaubten.
Die Leute mögen dafür oder auch dagegen sein, doch um den
Sittenkodex schnell zu ändern, bräuchte es eine gehörige Portion
Fingerspitzengefühl und eine umfassende Auseinandersetzung mit
der Thematik. Allerdings scheinen wir uns damit zufriedenzugeben,
die Geschichte glattzubügeln, und vernachlässigen beides.
Im Gegenteil, bei anderen Themen lassen sich gleiche Muster
beobachten. Die Rechte von Frauen wie die der Homosexuellen
wurden Stück für Stück erweitert, nur bei den Frauen vollzog sich
diese Entwicklung schon früher, nämlich im Laufe des 20.
Jahrhunderts. Auch hier war es scheinbar zu einer Einigung
gekommen. Doch kurz bevor der Zug seinen Bestimmungsort
erreichte, nahm er Fahrt auf, sprang von den Schienen und
entschwand unserem Blickfeld. Worüber bis gestern kaum
gesprochen worden war, konnte heute schon der Grund dafür sein,
jemandes Leben zu zerstören. Ganze Karrieren wurden zerstört,
während der Zug immer schneller wurde. So zum Beispiel die des
72-jährigen Nobelpreisträgers Professor Tim Hunt, der auf einer
Konferenz in Südkorea einen lahmen Witz darüber gemacht hatte,
dass Frauen und Männer, die im Labor arbeiten, sich ineinander
verlieben.11
Begriffe wie »toxische Männlichkeit« gelangten in den
allgemeinen Sprachgebrauch. Doch was hatte man davon, wenn die
Beziehung zwischen den Geschlechtern so angespannt war, dass
die Hälfte der menschlichen Spezies problemlos wie ein bösartiges
Krebsgeschwür behandelt werden konnte? Oder man Männern das
Recht absprach, über das weibliche Geschlecht zu reden? Weshalb
sickerten Sprüche vom »Patriarchat« und »Mansplaining« immer
noch aus den feministischen Nischen in Orte wie den australischen
Senat, nachdem Frauen mehr gläserne Decken durchstoßen hatten
als je zuvor in der Geschichte der Menschheit?12 Auch bei der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die in dem Bestreben ihren
Anfang genommen hatte, das wohl unerträglichste allen historischen
Unrechts wiedergutzumachen, sah es zunächst so aus, als bewege
sie sich auf eine gemeinhin erhoffte Lösung zu. Doch was geschah
dann?
Wieder machte sich kurz vor dem Ziel Verbitterung breit. In dem
Augenblick, in dem die Dinge besser schienen als je zuvor, legte die
Rhetorik den Schluss nahe, dass es niemals so schlimm gewesen
war. Mit einem Mal drehte sich scheinbar alles um Rasse und
Rassenzugehörigkeit – und das, nachdem die meisten US-Bürger
die Hoffnung gehegt hatten, das Thema wäre endlich vom Tisch.
Wie bei allen Themen, bei denen es einen Stolperdraht gibt, würde
nur ein Narr oder ein Verrückter es wagen, über diese Kehrtwende
zu spekulieren oder gar darüber zu diskutieren. Zu guter Letzt
stolperten wir alle, voller Verwirrung, in absolutes Neuland: die
Behauptung, dass es eine beträchtliche Zahl von Menschen unter
uns gebe, die im falschen Körper lebten, und infolgedessen alle
unsere Gewissheiten (und ihre Wurzeln in der Wissenschaft und
Sprache) komplett hinterfragt werden müssten. In gewisser Weise ist
die Debatte um die Transgender-Frage die wohl suggestivste von
allen. Auch wenn die neueste Manifestation der Fragen um Rechte
die bei Weitem niedrigste Zahl von Personen betrifft, wird sie
nichtsdestotrotz mit geradezu beispielloser Aggression und Wut
geführt. Frauen auf der falschen Seite der Debatte wurden von
ehemaligen Männern verhöhnt. Eltern, die aussprechen, was noch
gestern eine weitverbreitete Meinung war, müssen sich gefallen
lassen, dass man ihre Eignung als Eltern infrage stellt. In
Großbritannien und anderswo statten Polizisten Bürgern einen
Hausbesuch ab, die bestreiten, dass aus Männern Frauen werden
können (und umgekehrt).13
Es stellt sich die Frage, was diese Bewegungen gemeinsam
haben. Die Antwort lautet, sie alle haben als rechtmäßige
Menschenrechtskampagnen begonnen, was erklärt, weshalb sie so
weit gekommen sind. Irgendwann jedoch sind sie allesamt durch die
Leitplanke gekracht. Sie geben sich nicht mehr mit gleichen Rechten
zufrieden, sondern verlegen sich auf unhaltbare Positionen und
fordern Dinge wie »mehr und besser«. So mancher mag einwenden,
dass es nötig sei, eine gewisse Zeit nach dem »Besser« zu streben,
um letzten Endes für einen Ausgleich zu sorgen. Mit dem
Aufkommen der #MeToo-Bewegung waren solche Äußerungen des
Öfteren zu hören, wie zum Beispiel von einem CNN-Moderator:
»Schon möglich, dass wir zu viel des Guten tun, aber das macht
nichts. Schließlich müssen wir was ändern.«14 Bis zum heutigen Tag
hat niemand festgelegt, wann der Gerechtigkeit Genüge getan ist
oder wer diesen Punkt als abgehakt vermelden darf. Was jedoch
jedermann kennt, sind die Bezeichnungen, mit denen all diejenigen
belegt werden, die die erst kürzlich gespannten Stolperdrähte
versehentlich mit dem Fuß berühren. Benennungen wie
»Ignoranten«, »Homophobe«, »Frauenfeinde«, »Rassisten« und
»Transphobe« sind erst der Anfang. Der Kampf um die Rechte
unserer Zeit konzentriert sich auf diesen toxischen und explosiven
Stoff. Doch inzwischen hat sich etwas getan: Der Kampf um diese
Rechte ist nicht allein mehr ein Produkt des vorhandenen Systems,
sondern bildet die Grundlage für ein neues System. Wer
Systemtreue demonstrieren will, muss Referenzen beibringen und
sein Engagement nachweisen. Und wie kann man in dieser neuen
Welt seine Tugendhaftigkeit demonstrieren? Ganz klar, indem man
antirassistisch ist. Indem man ein »Verbündeter« der LGBT-
Bewegung ist, natürlich. Indem man betont, wie leidenschaftlich man
– egal, ob als Frau oder Mann – dafür brennt, das Patriarchat zu
stürzen. Wenn nur nicht das Problem wäre, auch gehört zu werden.
Schließlich müssen öffentliche Bekenntnisse der Loyalität zum
System möglichst wortreich erfolgen, ganz gleich, ob Bedarf besteht
oder nicht. Im Grunde handelt es sich um ein bekanntes, nun aber
größer gewordenes Problem des Liberalismus, das sogar diejenigen
betrifft, die einst einen edlen Kampf führten. Der verstorbene
australische politische Philosoph Kenneth Minogue hat dieses
Phänomen »Der heilige Georg im Ruhestand« genannt. Nachdem er
den Drachen getötet hat, streift der tapfere Held auf der Suche nach
weiteren glorreichen Kämpfen durchs Land. Was ist er schon ohne
Drachen? Nachdem er erschöpft ist von all den Kämpfen mit immer
kleineren Drachen, sieht man ihn immer häufiger mit seinem
Schwert in der Luft herumfuchteln und unsichtbare Drachen
herausfordern.15
Wenn schon der wirkliche heilige Georg dieser Versuchung nicht
widerstehen konnte, dann malen Sie sich jetzt doch einmal aus, was
jemand tun könnte, der kein Heiliger ist, kein Pferd, kein Schwert
sein Eigen nennt und den niemand wahrnimmt. Wie soll so jemand
seine Mitmenschen davon überzeugen, dass auch er diese
einmalige Chance ergriffen und den Drachen getötet hat?
Die Ausführungen samt der entsprechenden Rhetorik, die ich in
diesem Buch zitiere, unterstützen diese Theorie zu einem Großteil.
Im öffentlichen Leben gibt es jede Menge Leute, die verzweifelt
versuchen, auf die Barrikaden zu gelangen, obwohl die Revolution
längst vorbei ist. Vielleicht liegt das daran, dass sie die Barrikaden
mit ihrem Zuhause verwechseln oder kein Zuhause haben. Die
Demonstration der eigenen Tugendhaftigkeit ist jedenfalls häufig
damit verbunden, das Problem zu übertreiben, was es nur größer
macht. Doch das ist nicht das einzig Schlimme daran, und deshalb
nehme ich jede der Begründungen der neuen Metaphysik nicht nur
ernst, ich setze mich – einer nach der anderen – mit ihnen
auseinander. Mit jedem dieser Probleme verhält es sich so, dass
eine wachsende Zahl von Menschen, die das Gesetz auf ihrer Seite
haben, so tun, als wäre nicht nur ihr Problem, sondern auch alle
anderen Probleme gelöst und damit abgeschlossen, weil man sich
geeinigt hat. Doch die Realität sieht anders aus. Auf das, worauf
man sich zu einigen glaubt, kann man sich in Wirklichkeit gar nicht
einigen. Alle diese Themen sind viel komplexer und wechselhafter,
als unsere Gesellschaft zugeben würde. Und das ist der Grund,
weshalb sie zusammengenommen das Fundament der neuen Moral
und Metaphysik bilden – und eines allgemeinen Wahnsinns. Fakt ist,
dass es kaum eine instabilere Basis für soziale Harmonie geben
dürfte.
Auch wenn Rassengleichheit, die Rechte von Minderheiten und
Frauenrechte zu dem Besten zählen, was der Liberalismus je
hervorgebracht hat, sind sie es, die das Fundament schwer
erschüttern. Ihr ein stabiles Fundament verleihen zu wollen, ist, als
ob man einen Barhocker umdreht und dann versucht, auf ihm die
Balance zu halten. Die Errungenschaften eines Systems können
nicht ansatzweise die Stabilität des Systems erreichen, aus dem sie
erwachsen sind, wenn auch aus keinem anderen Grund, als dass
jede der Problematiken ein in sich instabiles Element ist. Wir tun so,
als hätten wir Lösungen für jedes einzelne Problem gefunden. Doch
angesichts der endlosen Widersprüche, Hirngespinste und
Fantasien, die für jeden offensichtlich sind, wird uns von ihrer
Identifizierung nicht nur abgeraten, sondern wir werden dabei
buchstäblich kontrolliert. Und deshalb sollen wir Dingen zustimmen,
von denen wir nicht überzeugt sind.
Hier dürfte der Grund liegen, weshalb die im wahren Leben oder
online geführte Debatte so hässlich ist. Wir sollen einen Spagat
hinlegen, obwohl wir das gar nicht können und uns der Versuch
vermutlich auch nicht guttut. Wir sollen an Dinge glauben, die
einfach unglaublich sind, und wir sollen Dinge widerspruchslos
hinnehmen (wie unseren Kindern Medikamente zu geben, die die
Auswirkungen der Pubertät verhindern), obwohl die meisten
Menschen so etwas von Grund auf ablehnen.
Der Schmerz, der daraus resultiert, bei manchen wichtigen
Angelegenheiten zum Schweigen verurteilt zu sein und bei anderen
einen Spagat ausführen zu müssen, ist gewaltig, nicht zuletzt
deshalb, weil die Probleme (und auch die Widersprüchlichkeiten in
sich) so offensichtlich sind. Es hat etwas Erniedrigendes an sich und
zerstört letzten Endes die Seele, wenn man Forderungen mittragen
soll, von denen man nicht überzeugt ist und die auch keinen Bestand
haben dürften. Das kann jeder, der in einem totalitären Regime
gelebt hat, bestätigen. Sollen wir glauben, dass alle Menschen
gleich an Wert und an Würde sind und es keinen Unterschied in
Sachen Menschenwürde gibt, mag das gut und recht sein. Doch
wenn wir glauben sollen, dass es keinen Unterschied zwischen
Homo-und Heterosexualität, zwischen Mann und Frau, zwischen
Rassismus und Antirassismus gibt, dann treibt uns das auf direktem
Weg in den Irrsinn. Und mittendrin in diesem Irrsinn – oder
Wahnsinn der Massen – stecken wir zurzeit. Höchste Zeit, dass wir
wieder unseren Weg herausfinden.
Gelingt uns das nicht, ist klar, wohin das in Zukunft führen wird:
zu immer größerer Atomisierung, zu mehr Wut und mehr Gewalt.
Aber das ist längst nicht alles. Dann droht auch eine Gegenreaktion
auf alles, was wir in Sachen Bürger- und Menschenrechte erreicht
haben. Dann droht uns eine Zukunft, in der Rassismus mit
Rassismus beantwortet wird, in der die Reaktion auf
geschlechtsbedingte Verunglimpfung weitere geschlechtsbedingte
Verunglimpfung sein wird. Ist ein gewisser Punkt der Erniedrigung
erst einmal erreicht, gibt es für Mehrheitsgruppen keinen triftigen
Grund, nicht mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen, die auch in
ihrem Fall so wunderbar funktioniert haben.
Dieses Buch beschreibt einige Möglichkeiten, wie wir aus dieser
Misere wieder herauskommen. Am besten fangen wir damit an, nicht
nur die Hintergründe dessen zu verstehen, was gerade abläuft,
sondern uns die Freiheit zu nehmen, darüber zu diskutieren.
Während ich an diesem Buch schrieb, erfuhr ich, dass die britische
Armee über ein Minenräumgerät namens »The Python« verfügt,
dessen Vorläufermodell den Namen »The Giant Viper« trug. Bei
diesem auf einem Fahrzeug montierten System wird eine Rakete
abgefeuert, die einen mehrere Hundert Meter langen, mit
zahlreichen Sprengsätzen bestückten Schlauch hinter sich herzieht,
der dann auf dem Minenfeld landet. Sobald dieser Vorgang
abgeschlossen ist (und wie zu allen anderen Themen können Sie
auch davon Videos im Internet ansehen), wird eine »sympathetische
Detonation« ausgelöst, das heißt, die Sprengladungen zünden und
lösen die Explosion der Minen in einem beachtlichen Bereich um die
Rakete und den Schlauch herum aus. Das System räumt zwar nicht
das gesamte Minenfeld, aber es schafft eine Art Korridor, der es
Personen, LKWs und sogar Panzern ermöglicht, das zuvor
unpassierbare Gelände zu durchqueren. Bescheiden, wie ich bin,
betrachte ich dieses Buch als mein Viper-System. Ich strebe gar
nicht an, das gesamte Minenfeld zu räumen, und könnte es auch gar
nicht, selbst wenn ich es wollte. Aber ich hoffe sehr, dass dieses
Buch dazu beiträgt, ein gewisses Terrain zu räumen, damit wir es
wieder sicher betreten können.
KAPITEL 1
HOMOSEXUELLE

Ein kalter Februartag in London im Jahr 2018. Vor einem Kino in der
Nähe des Piccadilly Circus findet eine kleine Demonstration statt.
Stumm halten die warm eingepackten Teilnehmer ihre Schilder hoch,
auf denen in Großbuchstaben geschrieben steht: »zum Schweigen
gebracht«. Die meisten Londoner auf ihrem Weg zur Bushaltestelle
oder in eine der vielen Bars von Soho nehmen kaum Notiz von
ihnen. Ein vorbeischlenderndes Paar bemerkt, dass die
Protestierenden alle 50 und älter sind, weshalb einer der beiden
vermutet, dass sie bestimmt mit der UKIP in Verbindung stehen.[1]
Weit gefehlt. Ein paar Dutzend Menschen wollten sich ursprünglich
gemeinsam den Film Voices of the Silenced [Stimmen der zum
Schweigen Gebrachten] ansehen. Doch wie ihre Plakate nahelegen,
wurden die Voices of the Silenced selbst zum Schweigen gebracht.
Die Organisatoren haben das Kino schon drei Monate zuvor für
eine Privatvorführung gebucht, dabei ihrer Aussage zufolge alle
dafür geltenden Vorschriften des Kinos beachtet und auch den Film
Wochen im Voraus eingesendet. Doch einen Tag vor der Vorführung
hatte Pink News, ein Online-Relikt der britischen Schwulenpresse,
von der geplanten Veranstaltung erfahren und unverzüglich ihre
Absage gefordert – mit Erfolg. Die Kinokette Vue wollte negative
Publicity auf jeden Fall vermeiden, sagte die Vorstellung kurzfristig
ab und begründete dies damit, dass es ihr gutes Recht sei, da der
Inhalt des Films nicht ihren Werten als Kinobetreiber entspreche. Sie
teilte der Gruppe auch mit, dass sie gegen die öffentliche Ordnung
und Sicherheit verstieße, sollte sie den Film trotzdem vorführen. An
jenem Abend versuchten die Organisatoren unter der Leitung von
Dr. Michael Davidson verzweifelt, einen anderen Ort zu finden, an
dem sich die 126 Menschen, die zum Teil sogar aus den
Niederlanden angereist waren, den Film ansehen könnten. Dr.
Michael Davidson arbeitet für den Core Issues Trust, eine britische
christliche Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat,
Homosexuelle dabei zu unterstützen, ihre Sexualität »abzulegen«.
Anders, als man denken könnte, ist Davidson kein Arzt, sondern
promovierter Pädagoge. Doch wie manch andere öffentliche
Personen Wert auf ihren Doktortitel legen, hat man auch hier den
Eindruck, er wäre nicht allzu sehr verärgert, wenn sich jemand
bezüglich seiner eigentlichen beruflichen Qualifikation irrt.
Schon sechs Monate zuvor erregte Davidson beträchtliche
Aufmerksamkeit im gesamten Land, als er im Frühstücksfernsehen
Good Morning Britain mit dem Moderator Piers Morgan über
Homosexualität und die sogenannten Konversions- oder
Reparativtherapien sprach. Davidson gestand ein, dass er selbst
ehemals schwul war – oder zumindest homosexuelle Erfahrungen
gemacht hatte. Irgendwann beschloss er, dass Schwulsein nichts für
ihn sei. Mittlerweile ist er seit 35 Jahren verheiratet und hat zwei
Kinder. Er ist überzeugt, dass sein Weg auch anderen
Homosexuellen offensteht, weshalb er über seine Gruppe
Beratungen auf freiwilliger Basis für alle anbietet, die einen
Schlussstrich unter ihr Schwulsein ziehen und wie er selbst lieber
heterosexuell sein wollen, auch wenn er einräumt, dass er immer
noch ein bestimmtes »Verlangen« verspürt, dem er aber nicht
nachgibt.
Im landesweiten Fernsehen erklärt Davidson also auf Nachfrage
hin ruhig und höflich, dass er Homosexualität für eine Anomalie und
vor allem für ein erlerntes Verhalten hält. Gefragt, ob man es dann
auch wieder verlernen könne, erklärt er: »Es lässt sich in den Fällen
umkehren, in denen die Betroffenen dies zu ihrem erklärten
Lebensziel machen.« Er schafft es gerade noch, all das zu sagen,
bevor der Moderator ihn vor den Studiogästen bloßstellt. »Wissen
Sie, wie wir solche Leute wie Sie nennen, Dr. Michael?«, fiel Piers
Morgan ihm ins Wort. »Für uns aufgeschlossene Menschen sind das
komplette Ignoranten. Bloß verblendete Leute, die völligen
Schwachsinn von sich geben und in meinen Augen ein bösartiger
und gefährlicher Teil unserer Gesellschaft sind. Was ist bloß los mit
Ihnen? Wie kommen Sie auf die Idee, dass niemand homosexuell
auf die Welt kommt, dann verdorben wird, aber wieder davon geheilt
werden kann? Wer sind Sie, solchen Unsinn zu behaupten?«
Ein recht unbeeindruckter Davidson bat Morgan um Belege für
die Annahme, Homosexualität sei angeboren, und legte Wert auf die
Feststellung, dass weder die American Psychological Association
noch das Royal College of Psychiatrists die Überzeugung verträten,
Homosexualität sei angeboren und deshalb nicht zu ändern.
Daraufhin unterbrach ihn Morgan erneut und forderte ihn auf, »mal
für einen Moment aufzuhören, die Meinung hirnrissiger
Wissenschaftler aus Amerika breitzutreten«. Er fuhr seinen Gast an:
»Halten Sie den Mund, Sie engstirniger Ignorant!«, und beendete
das Gespräch mit den Worten: »Mir reicht’s. Halten Sie den Mund,
Dr. Michael!«16 Ende der Sendung. ITV lässt seinen Gast also am
Morgen in einer Limousine ins Fernsehstudio chauffieren, um ihm
wenige Stunden später mitten im Interview den Mund zu verbieten.
Sechs Monate nach dem Eklat zeigt sich Davidson immer noch völlig
unbeeindruckt von der ganzen Aufregung um seine Person. Vor dem
Kino am Piccadilly Circus spricht er in sein Handy und ist schließlich
erleichtert, den Umstehenden mitteilen zu können, doch noch einen
Ort für die Vorstellung seines Films aufgetrieben zu haben. Flugs
bricht das Grüppchen auf in Richtung Westminster’s Emmanuel
Centre, ganz in der Nähe des Parlaments. Die Türen zu dieser
Veranstaltung sind fest verschlossen, aber an einem Seiteneingang
muss man nur seinen Namen nennen, und wenn der auf der Liste
steht, hat man freien Zutritt. Ist man drinnen, wird es geradezu
gemütlich. Uns allen wird ein Glas Prosecco angeboten und eine
Tüte Popcorn, die wir mit in die Vorführung nehmen dürfen. Eine
ältere Dame tritt auf mich zu und bedankt sich für mein Kommen.
»Ich kenne Ihren Hintergrund«, fügt sie hinzu, und mir wird klar, dass
sie nicht davon spricht, wo ich aufgewachsen bin. »Schließlich reden
Sie ja oft genug davon.« Das stimmt ja auch. Sie erklärt mir noch,
dass es sie umso mehr freut, mich hier zu sehen. Ziemlich sicher bin
ich nicht der einzige Schwule bei dieser Veranstaltung zum Thema
»Heilung von Homosexuellen«, der sein Coming-out schon hinter
sich hat. Und genauso sicher bin ich nicht der einzige Schwule im
Raum.
Der Film Voices of the Silenced ist weniger schlüssig als erhofft.
Im Prinzip geht es vor allem darum (wie Davidson selbst am Anfang
des Films erläutert), dass »historische und moderne Ideologien
aufeinandertreffen«. Leider bleibt offen, wie das funktionieren soll.
Mir kommt es so vor, als hätte man zwei verschiedene Filme
ziemlich unbeholfen zusammengeschnitten. Der erste Film führt uns
in die Antike und zeigt beängstigende, apokalyptische Bilder,
während wir im zweiten Ärzte und Patienten sehen, wie sie ein
Gespräch darüber führen, wie es ist, erst homosexuell und dann
eben nicht mehr homosexuell zu sein. Zu Wort kommen neben Dr.
Davidson auch ein Dr. Stephen Baskerville und ein Experte aus
Texas namens (ich kann ein hörbares Lachen nicht unterdrücken)
David Pickup – David Aufreißer.
Jedes Mal, wenn der Film auf die Zerstörung des Jerusalemer
Tempels 70 n. Chr. oder den Titusbogen zu sprechen kommt, wird zu
Homosexuellen übergeblendet. Oder zu früheren Homosexuellen.
»Die neue Staatsorthodoxie feiert die Homosexualität«, heißt es.
Erst kommen verschiedene »Experten« – vornehmlich aus den
Vereinigten Staaten – zu Wort, dann hören wir die
Erfahrungsberichte. Wie all das mit dem Titusbogen
zusammenhängt? Das wird nicht erklärt. Führt die Homosexualität
vielleicht zum Untergang der Zivilisation? Davon ist natürlich nicht
explizit die Rede. Eine »Ex-Lesbe«, die inzwischen verheiratet ist
und fünf Kinder hat, schildert, wie sie vor zehn Jahren wieder ihre
»Verwundbarkeit« verspürte und dass sie die Hilfe eines Geistlichen
in Anspruch genommen habe. Mehrere »Betroffene« berichten von
Suizidgedanken, Alkoholmissbrauch und »Selbstbezogenheit«. Ein
gewisser John erzählt, dass seine Mutter Jüdin ist. Irgendwann
kommt ein attraktiver 29-jähriger Deutscher namens Marcel ins Bild,
der die Qualen seiner Kindheit schildert. Seine Mutter, erzählt er,
hätte ihn nackt vor den Augen seiner Schwester verprügelt, was – so
wird zumindest suggeriert – erklären könnte, weshalb er sich zu
Männern hingezogen fühlt. Manche der Befragten sind
Scheidungskinder, manche nicht. Einige von ihnen haben ein sehr
enges Verhältnis zu ihrer Mutter, andere nicht.
Dr. Joseph Nicolosi – einer der Stars des Films – vertritt die
These, dass viele seiner »Patienten« ihre Mütter hassen, nicht
wissen, wie sie sich im Umgang mit Männern verhalten sollen, und
infolgedessen bestimmte Fantasien ausbilden. Als Heilmittel
empfiehlt er jedem, der unter homoerotischen Fantasien »leidet«,
sich ein »gesundes« Hobby zuzulegen, zum Beispiel den
regelmäßigen Besuch im Fitnessstudio. Vielleicht eine kleine
Andeutung, dass Dr. Nicolosi noch nie in seinem Leben in einem
Fitnessstudio war.
Natürlich fällt es leicht, sich über solche Aussagen lustig zu
machen, und manchen Leuten fällt es leicht, sich darüber
aufzuregen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es hier um
Menschen geht. John und Lindsay berichten, dass sie beide unter
gleichgeschlechtlicher Anziehung gelitten, sich ihr aber gemeinsam
gestellt hätten und nun eine funktionierende Partnerschaft mit
inzwischen fünf gemeinsamen Kindern führten. »Wir sind beileibe
nicht die Einzigen«, versichert Lindsay dem Zuschauer. »Wir kennen
einige Leute, die ebenfalls davon betroffen waren, inzwischen aber
glücklich verheiratet sind. Doch das bedeutet Schwerstarbeit«, fährt
sie fort, während John neben ihr irgendwie unglücklich in die Kamera
schaut. »Das ist nichts für Zartbesaitete. Man muss es knallhart
durchziehen. Vor allem in der heutigen Zeit. Die Medien und der
kulturelle Druck zielen ja in die Gegenrichtung.«
Trauriger als dieses Paar sind die Handvoll Befragten, die
ehemals schwul waren und hier mit unkenntlich gemachten
Gesichtern zu sehen sind. Vielleicht ist man ja zu nachsichtig, wenn
man sich ins Gedächtnis ruft, dass es noch gar nicht so lange her ist,
dass es sich mit der Notwendigkeit, Gesichter unkenntlich zu
machen oder nur den Hinterkopf zu zeigen, genau umgekehrt
verhielt. Jedenfalls fasst am Ende des Films ein irischer Pfarrer die
Handlung teilweise zusammen und erklärt, er habe nichts gegen
Leute, die überzeugt sind, Homosexualität sei angeboren und somit
unveränderlich. Doch er selbst sei vom Gegenteil überzeugt und
wolle nun mal gerne an dieser Meinung festhalten. Wie Dr.
Baskerville bekräftigt, wird in der akademischen Welt und in den
Medien nur noch eine Position geduldet, nämlich die der
»Förderung« von Homosexualität. »Sexualität wird politisiert«, heißt
es in den letzten Minuten des Films. Nach einem weiteren nicht
erklärten Verweis auf die Juden der Antike endet der Film mit dem
dramatischen, aber wohl bewusst gewählten Aufruf: »Es ist an der
Zeit, dass wir Unterschiede akzeptieren.«
Wenig überraschend ist das Publikum begeistert von dem Film.
Doch dann kommt es zu peinlichen Szenen. Mehrere der im Film
Befragten befinden sich unter den Zuschauern und werden auf die
Bühne gebeten, um noch mehr Applaus entgegenzunehmen.
Darunter auch ein junger Brite namens Michael. Er wirkt fahrig und
nervös und geradezu erfüllt von Leid. Für jemanden seines Alters
hat er ziemlich ausgeprägte Stirnfalten. Aus mehreren Gründen, die
er im Film bereits ausführlich dargelegt hat, will er nicht als Schwuler
leben, weshalb er für sich einen ihm an die Substanz gehenden Weg
eingeschlagen hat und versucht, als heterosexueller Mann zu leben,
sein Schwulsein (ebenso wie es Dr. Davidson gelungen ist) hinter
sich zu lassen, vielleicht irgendwann sogar zu heiraten und Kinder
zu haben. Der Abend endet mit einem gemeinsamen Gebet.
Auf dem Nachhauseweg und in den Tagen danach musste ich
immer wieder an diesen Abend mit den ehrenamtlichen
Konversionstherapeuten denken. Ich fragte mich vor allen Dingen
eines: »Weshalb hat mich diese Veranstaltung so kalt gelassen?«
Zunächst will ich klarstellen, dass ich keine Angst vor diesen Leuten
habe – und dass ich sicherlich nicht die gleiche Empörung verspüre,
auf die sich die Schwulenpresse verlegt, seit sie zunehmend ihren
ursprünglichen Zweck verliert. Wenn es einen Grund gibt, dann den,
dass ich eben nicht den Eindruck habe, als würden sich die Dinge
zugunsten der Menschen, die sich an diesem Abend im Emmanuel
Centre versammelt haben, entwickeln. Für mich zählen sie heute
und in absehbarer Zukunft zu den Verlierern. Sind sie im Fernsehen
zu sehen, schlägt ihnen Verachtung entgegen – gut möglich, dass
eine zu große Portion davon im Spiel ist. Sie tun sich schwer damit,
Dokumentationen zu produzieren, die ansehenswert sind, und noch
schwerer, geeignete Räumlichkeiten für deren Vorführung zu finden.
Sie werden gezwungen, ihre Veranstaltungsorte geheim zu halten,
und es dürfte ziemlich unwahrscheinlich sein, dass sie in absehbarer
Zeit irgendwo ihre Botschaft erfolgreich an den Mann bringen
werden.
Natürlich würde ich vielleicht anders darüber denken, wäre ich
ein junger Schwuler, der – das gilt auch heute noch – im ländlichen
Amerika oder Großbritannien aufwächst. Wäre ich im
amerikanischen Bibelgürtel groß geworden oder hätte ich mich einer
Konversionstherapie unterziehen müssen (oder wäre mir auch nur
damit gedroht worden), die dort gang und gäbe war – und es in
manchen Teilen der Welt auch heute noch ist –, sähe ich (Dr.)
Michael Davidson und seine Mitstreiter womöglich in einem anderen
Licht.
Doch jetzt und hier, an diesem Abend sind sie die Verlierer. Im
Bewusstsein, dass man durchaus einen Kick verspüren kann, wenn
es einen anderen trifft, sträubt es sich in mir, sie als solche zu
behandeln, wie sich einige ihrer Brüder im Geiste vielleicht mir
gegenüber verhalten hätten, wären wir uns früher und unter anderen
Umständen begegnet. Am stärksten offenbaren sich Menschen und
Bewegungen im Moment des Sieges. Lassen sie zu, dass
Argumente, die sich für als nutzbringend erwiesen haben, dies auch
für andere tun? Zählen Geben und Nehmen und Toleranz zu den
von ihnen vertretenen Prinzipien oder sind das für sie nur moralische
Feigenblätter und leere Worte? Zensieren vormals Zensierte, wenn
sie die Möglichkeit dazu haben? Das zur Vue-Kette gehörende Kino
hat sich eindeutig auf eine Seite geschlagen. Noch vor ein paar
Jahrzehnten hätte es die andere sein können. Und Pink News und
all die anderen, die ihren Sieg feierten, nachdem sie Voices of the
Silenced eine Meile die Straße hinuntergejagt hatten, scheinen diese
Privatveranstaltung nur allzu bereitwillig boykottiert zu haben. Für
mich ist das ein eklatanter Widerspruch zu den anfänglichen
Forderungen der Schwulenbewegung, die für gleiche Rechte von
Homosexuellen kämpfte. Sie vertrat nämlich den Standpunkt, dass
es niemanden etwas angeht, was mündige Erwachsene hinter
verschlossenen Türen tun, solange sich beide darüber einig sind,
was dort geschieht. Wenn das für Gruppen gelten soll, die sich für
Homosexuellenrechte einsetzen, dann muss es aber doch genauso
gut auch für die Rechte christlicher Fundamentalisten und anderer
Gruppierungen gelten.
Und da sind noch zwei andere Dinge. Das eine ist, dass man, um
sich vor dem, was an diesem Abend geschah, zu fürchten, zunächst
bestimmte Schlussfolgerungen daraus ziehen muss. Man muss
unterstellen, dass Davidsons Beteuerung, nur denjenigen helfen zu
wollen, die ihn von sich aus um Hilfe bitten, eine reine
Tarnbehauptung sei, hinter der mehr steckt. Man muss unterstellen,
dass diese Aussage tatsächlich nur vorgeschoben ist – der erste Teil
eines größeren Plans, der vorsieht, aus einer freiwilligen Therapie
eine Zwangstherapie und dann aus einer Zwangstherapie für eine
Handvoll Betroffener eine für alle zu machen. Damit würde man eine
der Grundlagen für politische Toleranz mit Füßen treten. Es wäre, als
ob man sich das Recht herausnehmen würde, nicht nur seine
eigenen Rückschlüsse über Menschen zu ziehen, sondern ihnen
auch bestimmte Beweggründe unterzumogeln, die man nicht
beweisen kann. Das führt uns zu dem Punkt, an dem pluralistische
Gesellschaften, die sich die Vielfalt auf die Fahne geschrieben
haben, sich eine Frage stellen müssen: »Beurteilen wir andere
Menschen nach ihrem Nennwert oder versuchen wir herauszufinden,
was hinter ihren Worten und Taten steckt? Wollen wir ihnen mitten
ins Herz blicken und dann über ihre wahren Motive spekulieren, die
wir nicht aus ihren Worten und ihrem Verhalten ablesen können?«
Angenommen, das wäre auch in Fällen wie diesen unsere erklärte
Absicht. Wie würden wir vorgehen? Der anderen Seite die
dunkelsten Motive unterschieben, bis sie uns vom Gegenteil
überzeugt hat? Oder lernen, uns in Nachsicht zu üben und auf sie zu
vertrauen? Es gibt keine allgemein gültige Antwort auf diese Frage.
Je nach Tag, Ort, Umstand oder auch zufallsbedingt fällt sie mal
so, mal so aus. Jemand in ihren oder seinen Siebzigern, die oder der
zu einer Konversionstherapie (besonders in Form einer
Aversionstherapie) gezwungen wurde, steht dem Ganzen natürlich
skeptischer gegenüber als jemand aus den nachfolgenden
Generationen, die einfach mehr Glück hatten. Die Warnsirenen
gehen früher los, wenn sie früher installiert wurden oder wenn die
Zeiten hart sind. Vielleicht lösen sich diese geografischen und
generationsbedingten Unterschiede ja mit der Zeit auf und die
glättende Wirkung der sozialen Medien stimmt alle gleich
zuversichtlich. Oder das Gegenteil ist der Fall, und ein Schwuler, der
2019 in Amsterdam lebt, ist überzeugt, dass er andauernd Gefahr
läuft, plötzlich im Alabama der 1950er-Jahre aufzuwachen. Wer weiß
das schon. Wir leben in einer Welt, in der uns jede Angst, jede
Bedrohung und auch jede Hoffnung rund um die Uhr kommuniziert
wird. Wie aber können wir die ständige Konfrontation vermeiden?
Indem wir unseren Mitmenschen zuhören und ihnen vertrauen.
Keine Frage, dass es damit in Grenzfällen nicht getan ist. Wann
immer wir das Gefühl haben, dass irgendetwas Merkwürdiges vor
sich geht, mag es nötig sein, genau hinzuschauen, was sich hinter
ihren Worten verbirgt, damit wir sicher sein können, dass nichts
weiter passiert. Doch wenn dies erfolgt ist, und zwar ergebnislos,
müssen wir ihren Worten Glauben schenken. Nirgendwo in der
Presse, die dafür sorgen wollte, dass die Voices of the Silenced zum
Schweigen gebracht werden, konnte der Beweis erbracht werden,
dass Davidson und seine Mitstreiter Menschen gegen ihren Willen
zu einer Konversionstherapie zwingen würden. Niemand hat sich
auch nur im Vorfeld über die Details des Films schlaugemacht oder
recherchiert, wie eine solche »Beratung« abläuft. Und so kam es
wegen ihres Sprechers zu Mutmaßungen über die Gruppe und zu
bestimmten Interpretationen von Begriffen. Bei dieser Kalibrierung
heißt »freiwillig« nichts anderes als »gezwungen«, »Beratung«
nichts anderes als »Schikane«, und es bedeutet außerdem, dass
jeder, der Davidson aufsuchte, unwiderruflich und unveränderbar
homosexuell sein müsse.
Die letzte Mutmaßung führt zu der einzigen großen
Herausforderung, die Davidson und seine Mitstreiter darstellen. In
seinem 1859 erschienenen Werk Über die Freiheit (On Liberty)
nennt John Stuart Mill vier Gründe, weshalb die freie
Meinungsäußerung ein Muss in einer freien Gesellschaft ist: Die
ersten beiden besagen, dass eine gegensätzliche Meinung richtig
oder teilweise richtig sein kann und allein schon deshalb gehört
werden muss, um den eigenen Irrtum berichtigen zu können. Die
anderen beiden besagen, dass, selbst wenn die gegensätzliche
Meinung ein Irrtum ist, ihre öffentliche Darlegung dazu beitragen
kann, dass eine Wahrheit nicht zu einem Dogma wird, welches
schließlich – wenn es nicht hinterfragt wird – seine Bedeutung
verliert und zu einer bloßen Formalität erstarrt.17
Sich heutzutage an Mills Prinzipien zu orientieren, dürfte für viele
Menschen gewiss kein Kinderspiel sein. Jedenfalls viel mühevoller,
als auf die Schnelle ein Dogma zu ändern. In den letzten Jahren hat
die landläufige Meinung in Amerika, Großbritannien und den meisten
anderen westlichen Demokratien über Homosexuellenrechte einen
unglaublichen Wandel erfahren – und zwar zum Besseren. Doch
dieser Wandel hat sich so schnell vollzogen, dass dabei ein Dogma
durch ein anderes ersetzt wurde. Von einer Position, in der man
selbst mit moralischen Schmähungen bedacht worden war, hat man
sich zu einer Position hinbewegt, von der aus man jeden, der es
wagt, auch nur einen winzig kleinen Blick außerhalb des Bereichs
ebendieser neu erworbenen Position zu werfen, mit Schmähungen
bedenkt. Das Problem bei dieser Haltung ist nicht nur, dass wir
riskieren, nicht von Positionen zu erfahren, die falsch sind, sondern
dass wir damit auch verhindern, uns Argumente anzuhören, die zum
Teil richtig sind.
Wie es der Zufall will, sind Davidson und seine Mitstreiter auf
etwas gestoßen, das sexuelle Anziehungskraft erklären könnte, und
das, obwohl ihr Film unter sehr chaotischen Umständen entstanden
ist und einige ihrer Ansichten mehr als zweifelhaft erscheinen. Wir
haben es hier mit tiefen und gefährlichen Gewässern zu tun. Doch
welchen Sinn hat es, solche Gewässer zu identifizieren und dann
nicht hineinzuspringen?
Wenn es um Sexualität und was immer damit zu tun hat geht,
wurde eine Reihe von Auffassungen etabliert, die sich als nicht
weniger dogmatisch erweisen als die, die sie ersetzt haben. Im Juni
2015 erklärte die damalige konservative Bildungsministerin Nicky
Morgan, dass homophobe Sichtweisen Anzeichen für potenziellen
Extremismus von britischen Schülern seien. Wie die BBC berichtete,
sagte sie, man solle alarmiert sein, wenn beispielsweise jemand
Grundwerte der britischen Gesellschaft angreift oder eine extreme
Intoleranz gegenüber Homosexualität an den Tag legt. Das wäre ein
Hinweis darauf, dass ein Schüler womöglich von »Extremisten
präpariert« worden sei. Und einen Schüler, der sage, in seinen
Augen sei Homosexualität »böse«, müsse man möglicherweise der
Polizei melden.18 Interessant in diesem Kontext ist die Tatsache,
dass Morgan im Mai 2013 gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in
Großbritannien gestimmt hatte. Nur ein Jahr später ließ sie
verlauten, nun unterstütze sie die Homo-Ehe und würde für ihre
Einführung stimmen, wenn sie nicht schon Gesetz wäre. Ein
weiteres Jahr später bezeichnete sie Ansichten, die sie noch zwei
Jahre zuvor selbst vertreten hatte, nicht einfach nur als Beweis für
»Extremismus«, sondern als absolut »unbritisch«.
In den 1990er-Jahren unterstützte Hillary Clinton ihren Mann in
seinem Kampf für das damalige Ehegesetz, das die Einführung von
Homo-Ehen in den Vereinigten Staaten verhinderte. Sie sah zu, wie
er sich für die Praxis »Don’t Ask, Don’t Tell« aussprach, die nichts
anderes bedeutet, als dass ein schwuler Soldat, der lediglich mit
einem Kameraden über seine sexuelle Orientierung spricht,
unverzüglich entlassen werden kann. Robert Samuels schrieb dazu
in der Washington Post: »Hillary Clinton hatte die Chance,
Geschichte zu schreiben, was die Rechte von Homosexuellen
anbelangt. Sie hat sie nicht genutzt.«19 Doch 2016, als sie für das
Amt als US-Präsidentin kandidierte und sich die öffentliche Meinung
stark gewandelt hatte, war die LGBT-Community (wie Homosexuelle
inzwischen bezeichnet wurden) der Teil der amerikanischen
Gesellschaft, auf den Clintons Wahlkampf besonders abzielte. Wir
wissen alle, dass sich die Meinung von Politikern häufiger ändert als
das Wetter. Doch die Geschwindigkeit, die hier vorgelegt wurde,
sorgte für einige außergewöhnlich scharfe Umwälzungen und
Positionswechsel in der politischen Klasse.
Auch in anderen Ländern kam es zu solchen Kehrtwenden. Kurz
nachdem die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland eingeführt
wurde, wurde ihre Akzeptanz in Baden-Württemberg zu einer der
Voraussetzungen für eine Einbürgerung erklärt. Gestern galt ein
Dogma. Heute gilt ein anderes.
Es ist ja nicht so, als ob nur einige Politiker in den letzten Jahren
ein Schleudertrauma erlitten hätten. Auch solche Zeitungen, die bis
vor Kurzem noch ziemlich unfreundlich mit Homosexuellen
umgesprungen sind, berichten über gleichgeschlechtliche
Hochzeiten inzwischen ebenso wie über andere
Gesellschaftsneuigkeiten. Kolumnisten, die noch vor ein paar Jahren
die Angleichung des Schutzalters verdammt hatten, äußern sich jetzt
verächtlich über alle, die nicht voll und ganz hinter der Homo-Ehe
stehen. Die US-amerikanische Fernsehmoderatorin Joy Reid wurde
2018 für ihre kritischen Äußerungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe
von 2008 öffentlich an den Pranger gestellt und musste sich dafür
entschuldigen – obwohl sie aus einer Zeit stammten, als praktisch
noch niemand die Forderung nach der Homo-Ehe unterstützte.
Wenn sich die Dinge so schnell ändern, wird die verlorene Zeit auf
Biegen und Brechen aufgeholt, und alle, die dieser Entwicklung
hinterherhinken, haben das Nachsehen.

WENN ALLES ZUR SCHWULENSACHE


ERKLÄRT WIRD
Dies dürfte erklären, weshalb manch eine Privatperson, Regierung
oder manch ein Unternehmen zu glauben scheint, dass es ihr Job
wäre, die verlorene Zeit wettzumachen. Sie forcieren Gespräche
über homosexuelle Themen, die weit über eine grundsätzliche
Zustimmung hinausgehen und eher unter dem Motto »Wir wissen,
was gut für dich ist« laufen.
2018 scheint die BBC beschlossen zu haben, dass über
Neuigkeiten aus dem »Schwulenmilieu« nicht nur einfach berichtet
werden müsse, sondern dass sie als wichtige Nachrichten laufen
und einer Schlagzeile würdig sind. Im September 2018 ging es bei
der Topstory auf ihrer Webseite um den Wasserspringer Tom Daley,
der sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung »minderwertig«
gefühlt habe, doch ebendieses Gefühl ihn angetrieben habe,
erfolgreich zu sein.20 Der Artikel erschien fünf Jahre nach Daleys
Coming-out. In der Zwischenzeit hatte der Sportler keinen Hehl aus
seinem Privatleben gemacht. Und dennoch schien seine Geschichte,
die eher unter »Allzu Menschliches« einzuordnen ist, für die BBC
ausgesprochen wichtig zu sein, denn sie stand gleich unter dem
Bericht über ein Erdbeben und einen Tsunami in Indonesien, bei
dem mehr als 800 Menschen ihr Leben verloren hatten. Einen Tag
später ging es in einem der Aufmacher auf der BBC-Webseite um
den relativ unbekannten Fernsehstar Ollie Locke, der bekannt gab,
dass er und sein Verlobter (Gareth Locke) sich für einen
Doppelnamen entschieden hätten und sie also nach ihrer schon bald
stattfindenden Hochzeit die Locke-Lockes wären.21 Eine andere
Schlagzeile am selben Tag lautete, dass die Anzahl der Todesopfer
in Indonesien über Nacht drastisch gestiegen sei.
Vielleicht muss es jemand sagen, der selbst schwul ist, aber
zuweilen hat man schon das Gefühl, dass solche »Nachrichten«
nicht die Spur berichtenswert sind. Man könnte meinen, dass
entweder der Öffentlichkeit oder den Leuten, die in den Augen der
Presse über Macht verfügen, eine bestimmte Botschaft vermittelt
werden soll. Das ist nicht mehr ein »Wir wissen, was gut für dich
ist«, sondern klingt stark nach einem »Na, wie findest du das, du
Ignorant?«. Zuweilen fragt man sich, wie sich Heterosexuelle fühlen,
wenn in den Medien mit aller Gewalt immer mehr Storys über
Homosexuelle erscheinen.
Schauen wir uns einen ganz normalen Tag bei der New York
Times an. Stellen wir uns vor, am 16. Oktober 2017 verspürt ein
Leser der internationalen Ausgabe das Bedürfnis nach einer Pause
von den Meinungsseiten und das Verlangen nach nahrhafterer Kost.
Also blättert er zum Beispiel zum Wirtschaftsteil. Und wie lautet dort
der Aufmacher? »Schwul in Japan und nicht mehr unsichtbar«. Gut
möglich, dass sich der Durchschnittsleser der New York Times noch
keine Gedanken über die Unsichtbarkeit von Homosexuellen in
Japan gemacht hat. Prima, dann ist das hier doch eine gute
Gelegenheit, etwas Neues zu erfahren, und zwar die Geschichte von
Shunsuke Nakamura, der für eine Versicherungsgesellschaft arbeitet
und kürzlich die morgendliche Besprechung mit seinen Kollegen für
sein Coming-out genutzt hat. Das ereignete sich in einem Land, in
dem die Menschen der Homosexualität »eher gleichgültig als
hasserfüllt gegenüberstehen«, wie ein Professor einer Tokioer
Universität im selben Artikel zitiert wird. Die New York Times hatte
sich entschieden, die Geschichte eines Mannes, dessen Coming-out
keine negativen Folgen für ihn hatte, da sein Land kein Problem mit
Homosexuellen hat, auf zwei Seiten und als Hauptartikel des
Wirtschaftsteils auszubreiten. Normalerweise hätte es ein extrem
ruhiger Börsentag sein müssen, damit diese Story als
prominentester Wirtschaftsartikel gedruckt wird. Auf der nächsten
Seite geht es weiter mit der Geschichte, die Schlagzeile lautet hier:
»Japanische Unternehmen freundlicher zu Schwulen«. Inzwischen
dürfte das Interesse des geneigten Lesers über die Lage von
Schwulen in Japan gestillt sein, sodass er vielleicht einen
verstohlenen Blick auf die andere Seite mit dem Kulturteil wirft. Und
wovon handelt der Leitartikel hier? »Eine größere Bühne für die
Liebe«.
Das Thema dieses Artikels lässt sich anhand des halbseitigen
Fotos erkennen, das zwei Meistertänzer zeigt, die Arme und Beine
ineinander verschlungen. »Das Ballett tut sich schwerer mit
Änderungen als die meisten anderen Kunstformen«, informiert die
Zeitung ihre Leser und fährt aufgeregt fort: »Doch innerhalb von zwei
Wochen stehen beim New York City Ballet, einer der weltbesten
Ballettkompanien, zwei Aufführungen auf dem Spielplan, in denen
mehrere gleichgeschlechtliche Duette die Hauptrolle spielen.« Grund
für die Aufregung ist ein Ballett namens The Times Are Racing, die
jüngste Produktion, bei der Männer für eine Rolle gecastet wurden,
die ursprünglich eine Frau tanzen sollte. Die New York Times führt
aus, wie die überwiegend heterosexuelle Ballettwelt endlich »auf die
moderne Welt reagiert und sie auf die Bühne bringt«. Ein
Choreograf, der mitverantwortlich für dieses Stück war, versprach in
einem Instagram-Post, seine Arbeit würde auf jeden Fall »gender-
neutral« sein, und veröffentlichte mehrere Beiträge unter den
Hashtags »loveislove«, »genderneutral«, »equality«, »diversity«,
»beauty«, »pride« und »proud«. Ein ketzerischer, nicht beteiligter
Choreograf wurde kritisiert, nachdem seine Meinung bekannt
geworden war, nämlich, dass »es im traditionellen Ballett
geschlechtsspezifische Rollen gibt«, und auch wenn »Männer und
Frauen gleichwertig sind«, »sie doch unterschiedliche Aufgaben«
hätten. Die Stars vom New York City Ballet – und die New York
Times – sahen das anders.
Wenig überraschend stellte sich heraus, dass mehrere
Haupttänzer des New York City Ballet schwul sind, und einer von
ihnen erzählte der New York Times, dass sein Tanzpartner aus
früheren Produktionen ihm gesagt habe: »Ich finde es richtig gut,
dass ich jetzt in eine Rolle eintauchen kann, bei der ich das Gefühl
habe, ich könnte mich tatsächlich in den Menschen verlieben, mit
dem ich tanze, anstatt vortäuschen zu müssen, ich wäre ein Prinz,
der sich in eine Prinzessin verliebt.« Man könnte nun einwenden,
dass für jemanden, der einen Überdruss verspürt, Szenen
aufzuführen, in denen ein Prinz sich in eine Prinzessin verliebt,
Ballett vielleicht nicht das richtige künstlerische Medium sein könnte.
Falls dieser Ausbruch an Diversität auf der Bühne die tägliche
Moralzufuhr – »5 am Tag« gilt nicht nur für Obst und Gemüse – noch
nicht erfüllt hat, fährt der Artikel mit der Neuigkeit fort, dass die
Produktion nicht nur auf »ein gleichgeschlechtliches Paar« setzt,
sondern dass es auch um den ethnischen Hintergrund geht.
Nachdem die leitende Choreografin erläutert hat, welche Wirkung es
insgesamt hat, wenn zwei Männer zusammen tanzen, meint sie: »Es
hat mich total umgehauen.« Der Artikel endet mit der Feststellung:
»Mit einem Mal durften sie sie selbst sein.«
Nun kann sich der Leser der zweiten großen Geschichte des
Kulturteils widmen, in dem es um weibliche Comedians geht, die
sich über Schwangerschaft und Mutterschaft lustig machen und
gerade Erfolge feiern.22
Es ist nichts Falsches daran, wenn eine namhafte Zeitung einen
Großteil ihres Wirtschafts- und Kulturteils, aber auch der Meinungs-
und Nachrichtenseiten Homosexualität und wie es ist, schwul zu
sein, widmet. Doch irgendwie hat man das Gefühl, als ginge hier
noch etwas anderes vor sich. Dienen Geschichten über schwule
Lebenswelten am Ende einem anderen Zweck als dem, darüber zu
berichten? Soll damit verlorene Zeit aufgeholt werden, oder reibt
man damit einfach nur manchen Leuten unter die Nase, dass sie
den aktuellen Trend verpennt und nicht mitbekommen haben, wie
sich die Moral inzwischen geändert hat? Wie auch immer, es liegt
etwas Merkwürdiges in der Luft, das irgendwie an Vergeltung
erinnert.
Natürlich sind wir Menschen lernende Wesen und ändern unsere
Meinungen und unsere Haltungen. Bei den meisten geschieht das
im Stillen, im Allgemeinen immer erst dann, wenn andere die
Schwerstarbeit schon geleistet haben. Doch wenn sich
gesellschaftliche Überzeugungen rasant wandeln, entsteht das
Problem, dass ungeklärte Fragen und nicht bewiesene Thesen ins
Hintertreffen geraten. Wenn Piers Morgan seinen Gast anschreit:
»Wie kommen Sie darauf, dass niemand homosexuell auf die Welt
kommt?«, müsste man ihm streng genommen entgegnen, dass viele
Leute dieser Ansicht sind und dass sie damit möglicherweise sogar
(mitunter) richtigliegen. Niemand kann das mit Sicherheit sagen
(oder ausschließen). Ganz gleich, ob jemand nun homosexuell auf
die Welt kommt oder nicht oder ob alle Homosexuellen schon
homosexuell auf die Welt kommen, es folgt daraus nicht, dass
Homosexualität eine Einbahnstraße ist.

EINE EINBAHNSTRASSE?
Diese Vorstellung ist eine von den Merkwürdigkeiten, die sich in
unserer Kultur ausbreiten. Gesellschaftlich ist es in der Regel so:
Wer sich als homosexuell outet, erntet Anerkennung dafür, dass er
oder sie zu sich gefunden hat. Kaum jemand und auch nicht die
Gesellschaft hat ein Problem damit, dass sie sind, wer oder was sie
sind: Sie sind an dem Punkt angekommen, der natürlich und richtig
für sie ist. Das Sonderbare daran ist jedoch, dass jedem Menschen,
der beschließt, lieber heterosexuell zu leben, mit Misstrauen
begegnet und gar ausgegrenzt wird, und obendrein wird
angezweifelt, ob er oder sie sein oder ihr wahres Ich auslebt. Ein
heterosexueller Mensch, der sich als homosexuell betrachtet, gilt als
angekommen. Ein homosexueller Mensch, der sich als heterosexuell
betrachtet, findet sich als Objekt permanenten Misstrauens wieder.
Das Herz unserer Kultur, die sich lange Zeit schwergetan hat, etwas
anderes als Heterosexualität gelten zu lassen, schlägt nun ein
bisschen schneller für die Homosexuellen.
Nach der Entwicklung der erfolgreichen Fernsehserie Queer as
Folk, die Ende der 1990er-Jahre einen Wendepunkt in der
Schilderung schwulen Lebens markierte, schrieb der Drehbuchautor
Russell T. Davies 2001 eine weitere Serie, Bob and Rose. Darin
verliebt sich ein schwuler Mann in eine Frau. Wie Davies der Presse
damals verriet, wollte er mit dieser Geschichte provozieren, da ihm
aufgefallen war, dass Schwule, die sich als heterosexuell outen, in
ihrem Freundeskreis eher Ressentiments erfahren, als wenn sich ein
Heterosexueller als Schwuler outet.23
Vielleicht ist das ein Grund, weshalb so wenig über das Thema
»Richtungswechsel« gesprochen wird. Viele homosexuelle Männer
und Frauen setzen die Vorstellung, Sexualität sei nichts Starres und
was in die eine Richtung möglich sei, müsse doch auch in die
andere möglich sein, mit einem Angriff auf ihre Person gleich. Leider
ist dieses Gefühl nicht ganz grundlos. Viele Homosexuelle, die sich
outen, bekommen in irgendeiner Form die grauenhaften Worte »Das
ist nur eine Phase, das geht wieder vorbei« zu hören. Keine Frage,
diese Reaktion ist beleidigend, herabwürdigend und erschüttert die
Beziehung zu den Eltern, zu Familie und Freundeskreis. Da wundert
es nicht, dass die Vorstellung, diese Phrase könnte auf manche
Menschen durchaus zutreffen, mit einem Tabu belegt ist.
Die Millennials und die sogenannte Generation Z haben versucht,
ihren eigenen Weg zu finden. Für sie ist Sexualität nichts Starres,
sondern etwas Fluides. Meinungsumfragen legen den Schluss nahe,
dass diese jungen Leute nichts mit der Vorstellung am Hut haben,
man lege sich auf eine bestimmte Sexualität fest und damit basta.
Eine Studie aus dem Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass die
Angehörigen der Generation Z nur zu zwei Dritteln angeben,
»ausschließlich heterosexuell« zu sein.24 Obwohl das die Mehrheit
ist, hat sich diese Generation offensichtlich ein Stück weit von der
Generation vor ihr entfernt. Für die Angehörigen voriger
Generationen bleibt das Thema »Fluidität« komplex und
schmerzbehaftet. Viele von ihnen sind überzeugt, dass alle, die dem
Club beitreten und ihn dann wieder verlassen, eher mit Verachtung
gestraft werden als die, die sich ihm niemals angeschlossen haben.
Diese Menschen mögen nicht von Umfragen erfasst werden, und sie
haben mit Sicherheit keinen nationalen Sprecher oder »Community-
Leader«, aber viele Homosexuelle sind mit solchen »Fällen«
vertraut.
Sie haben Freunde, die irgendwie nicht in die Schwulenwelt
passten, die Szene nicht mochten, aber keine Alternative fanden.
Sie kennen jemanden, der mal kurz reingeschnuppert hat, und das
war es auch schon. Oder sie kennen Menschen, die andere
Lebensziele hatten, zum Beispiel Kinder und die Sicherheit einer
Ehe, und die einen Schlussstrich unter ihr Schwulsein zogen oder es
beiseiteschoben, weil ihnen andere Dinge wichtiger waren. Oder
(und niemand kann auch nur annähernd sagen, wie vielen
Menschen es so ergangen ist) sie haben Freunde, die den Großteil
ihres Lebens eine gleichgeschlechtliche Beziehung führten und sich
plötzlich – wie der Titelheld in Bob and Rose – in jemanden vom
anderen Geschlecht verlieben.
Werden solche Verhaltensweisen zurückgehen angesichts von
Errungenschaften wie der eingetragenen Partnerschaft und der
gleichgeschlechtlichen Ehe, ganz zu schweigen vom Recht von
schwulen oder lesbischen Paaren auf Adoption und sogar die
Möglichkeit von Elternschaft? Setzt sich die etwas lockere sexuelle
Identität der Generation Z durch? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Schließlich kennt jeder Menschen, die das nicht betrifft. Jemanden
zum Beispiel, der mal mit dem komischen Schwulen rumgeknutscht
hat oder mehr, aber danach sein heterosexuelles Leben ganz
selbstverständlich fortsetzt. Dennoch bezeichnet eine solche
Küsserei, die bis vor Kurzem als Verirrung, als Abweichung von der
Norm wahrgenommen worden wäre, inzwischen die Stunde der
Wahrheit.
Heute gilt derjenige, der ein einziges Mal in die Schwulenwelt
hineingeschnuppert hat, als derjenige, der eine Lüge lebt. Offenbar
hat sich die Wahrnehmung ausgebildet, dass eine einmalige
homosexuelle Erfahrung jemanden seine wahre Natur und
Bestimmung entdecken lässt, was jedoch nicht zutrifft, wenn man
sein Leben danach als Heterosexueller fortsetzt. Das ist etwas
anderes, als Bisexualität zu reklamieren. Es handelt sich um die
Annahme, dass die Wippe der Sexualität nicht im Gleichgewicht ist,
sondern sich tatsächlich auf die Seite Homosexualität neigt. Wo
noch die vorige Generation die Wippe eher auf der Seite
Heterosexualität belastet hätte, hat diese Generation beschlossen,
sie auf der anderen Seite zu belasten.
Vielleicht soll damit ein Unrecht wiedergutgemacht werden (in der
Hoffnung, dass die Wippe irgendwann einmal ausbalanciert ist).
Doch wie wir damit zurechtkommen, wenn sich die Wippe in der
richtigen Position befindet, kann niemand wissen. Denn wie bei
allem anderen auch machen wir erst einmal und sehen dann, was
dabei herauskommt.
Im Moment halten die Generationen vor den Millennials – aber
auch eine konstante Mehrheit unter ihnen – an der Vorstellung fest,
dass sexuelle Identität sich zumindest an ein paar Punkten
festmacht. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass das Wissen, wo
andere stehen, Klarheit darüber verschafft, was
zwischenmenschliche Kontakte und potenzielle Liebesbemühungen
angeht. Doch die Tatsache, dass eine feste Identität zu einer
anderen werden und von dort »fließend« sein kann, weist darauf hin,
dass wir es mit mehr zu tun haben als nur mit dem Sprung von
einem Dogma zum nächsten. Sie offenbart eine tiefe Unsicherheit
hinsichtlich einer zugrunde liegenden Tatsache, die kaum
thematisiert wird: Im Grunde wissen wir noch immer nicht (genau),
weshalb manche Menschen homosexuell sind. Trotz
jahrzehntelanger Forschung ist diese gewaltige – und
möglicherweise gefährliche – Frage noch nicht eindeutig
beantwortet, und das, obwohl die Frage nach der eigenen Identität
inzwischen an der Spitze unserer behaupteten Werte steht.
Das Thema erfordert eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl.
Schließlich ist es gar nicht lange her – es war 1973, um genau zu
sein –, dass die APA [American Psychiatric Association], der
Fachverband der US-amerikanischen Psychiater, zu dem Ergebnis
kam, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gäbe, dass
Homosexualität als Störung einzustufen sei. Erst seit diesem Jahr
taucht Homosexualität nicht mehr in dem von der APA
herausgegebenen Leitfaden psychischer Störungen auf (ein seltenes
Beispiel dafür, dass ein Begriff aus diesem Wälzer gestrichen wird).
Die Weltgesundheitsorganisation hat das Gleiche übrigens erst 1992
getan. Beides liegt also noch nicht allzu lange zurück, und das
erklärt auch, weshalb der Sprache und der Praxis der
Medikalisierung oder Psychiatrie immer noch mit Misstrauen
begegnet wird, wenn diese versuchen, sich an Diskussionen über
Homosexualität zu beteiligen.
Doch folgt aus der Anerkennung, dass Homosexualität keine
psychische Störung ist, nicht, dass sie als eine ganz und gar
integrierte und unveränderbare Seinsweise gilt. 2014 hat das RCP
[Royal College of Psychiatrists] in London eine faszinierende
»Erklärung zur sexuellen Orientierung« ihrer Mitglieder
herausgegeben. Darin verlieh die Vereinigung lobenswerterweise
ihrer Verachtung Ausdruck, die alle Versuche betreffen, einen sich
als homosexuell bezeichnenden Menschen zu stigmatisieren.
Außerdem führte sie aus, dass sie felsenfest davon überzeugt sei,
dass Therapien mit dem Ziel, die sexuelle Ausrichtung von
Menschen zu ändern, und zwar in jeder Richtung, nicht
funktionieren. Das RCP könnte einen Homosexuellen nicht
heterosexuell machen und einen Heterosexuellen nicht homosexuell.
Zudem verkündete sie: »Das Royal College of Psychiatrists ist
überzeugt, dass die sexuelle Ausrichtung bedingt ist durch eine
Kombination aus biologischen und postnatalen
Umweltbedingungen.« Sie stützt ihre Aussage mit dem Hinweis auf
mehrere wissenschaftliche Studien25 und fährt fort: »Darüber hinaus
gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass man die Wahl
hat, was seine sexuelle Orientierung anbelangt.«26
Das RCP drückt seine Besorgnis über mutmaßliche
»Konversionstherapien« aus, die ein Umfeld schafften, in dem
»Vorurteile und Diskriminierung wachsen und gedeihen«, die
»absolut unethisch« sind und vorgeben, sich etwas zu widmen, das
»keine Störung« sei, und äußert sich zugleich folgendermaßen:
Es ist nicht der Fall, dass die sexuelle Orientierung unveränderlich wäre oder beim
Einzelnen nicht bis zu einem gewissen Grad variiert. Doch für die meisten Menschen
bedeutet sexuelle Orientierung die hetero- oder homosexuelle Ausrichtung innerhalb
einer gewissen Bandbreite. Bisexuelle Menschen haben eher die Wahl, ob sie ihre
hetero- oder homosexuelle Seite ausleben.

Des Weiteren trifft es zu, dass Menschen, die mit ihrer sexuellen Orientierung – ob
nun hetero-, homo- oder bisexuell – unzufrieden sind, dies als Grund dafür ansehen,
therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um besser damit umgehen zu können,
ihre Seelenqual zu lindern und ihre sexuelle Ausrichtung akzeptieren zu lernen.27

Die American Psychological Association (nicht zu verwechseln mit


der American Psychiatric Association) stimmt damit überein und
schreibt in ihrer jüngsten Stellungnahme zu dem Thema:
Unter Wissenschaftlern besteht keine Einigkeit hinsichtlich der exakten Gründe,
weshalb ein Individuum eine heterosexuelle, bisexuelle oder schwule
beziehungsweise lesbische Orientierung entwickelt. Zwar wurden mögliche
genetische, hormonelle, entwicklungsbedingte, soziale und kulturelle Einflussgrößen
ausführlich untersucht, doch keines der Ergebnisse ließ den wissenschaftlich
fundierten Schluss zu, dass die sexuelle Orientierung durch einen oder mehrere
Faktoren bestimmt würde. Viele Menschen machen hauptsächlich die genetische
Disposition, aber auch die Erziehung dafür verantwortlich; für die meisten lässt sich
an der sexuellen Orientierung nichts oder nur wenig ändern.28

Das Bemühen, der Diskriminierung ebenso Einhalt zu gebieten wie


verworrenen und erfolglosen Methoden, »Leute umzupolen«, ist
äußerst löblich. Dabei unterstreicht es jedoch die Tatsache, dass der
gesamte Fragenkomplex, was jemanden zum Homosexuellen
macht, unbeantwortet bleibt. Die einschlägigen Gesetze mögen sich
geändert haben, aber es ist nach wie vor weitestgehend unerforscht,
weshalb jemand homosexuell ist oder sich für ein Leben als
Schwuler oder Lesbe entscheidet.
Es ist beileibe nicht so, als hätte es nicht ein paar wichtige
Erkenntnisse gegeben. In den 1940er-Jahren führte der
Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey die bis dahin umfangreichste
und komplexeste Feldforschung über menschliche sexuelle
Vorlieben durch. Auch wenn seine Methoden eine Menge Kritik bis
hin zur Haarspalterei hervorriefen, galten seine Erkenntnisse
jahrelang als weitgehend akkurat. In seinen auch als Kinsey-Report
bekannten Werken (Das sexuelle Verhalten des Mannes von 1948
und Das sexuelle Verhalten der Frau von 1953) schrieben Kinsey
und seine Kollegen, dass ihren Erhebungen zufolge 13 Prozent der
Männer über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren im Alter
zwischen 16 und 55 »vornehmlich homosexuell« gelebt und rund 20
Prozent der Frauen sexuelle Erfahrungen mit
Geschlechtsgenossinnen gehabt hätten. Kinseys berühmte »Skala«
sexueller Erfahrungen führte damals zu der Schlagzeile, dass rund
10 Prozent der Bevölkerung homosexuell seien. In den Jahren nach
Kinsey waren diese Zahlen – wie alle anderen Erkenntnisse der
Sexualwissenschaft – höchst umstritten.
Religiöse Gruppen begrüßten solche Studien, die niedrigere
Zahlen präsentierten, wie zum Beispiel die US National Survey of
Men von 1991, der zufolge lediglich 1,1 Prozent aller Männer
»ausschließlich homosexuell« seien, oder die Untersuchung des
britischen ONS [Office for National Statistics], das zwei Jahrzehnte
später zu dem gleichen Ergebnis kam. Das Alan Guttmacher
Institute in Amerika führte 1993 eine ähnliche Studie durch, die
hauptsächlich auf persönlichen Interviews basierte, und stellte fest,
dass nur etwa 1 Prozent der Bevölkerung homosexuell sei, was der
Presse erneut eine Schlagzeile wert war. Diese Zahl – bis heute die
niedrigste dazu – wurde von den religiösen Gruppen dankbar
aufgenommen. So jubelte der Vorsitzende der Traditional Values
Coalition[2]: »Endlich ist die Wahrheit ans Licht gekommen.« Ein
rechter Radiomoderator verkündete: »Unsere Ansicht wurde
bestätigt.«29
Doch ebenso, wie sich manche Menschen über jede Statistik
freuen, die den Anteil von Homosexuellen an der
Gesamtbevölkerung minimiert, kann für andere dieser Anteil nicht
groß genug sein. Stonewall, eine Organisation, die sich für die
Rechte von Schwulen und Lesben einsetzt, hält die Schätzung, dass
zwischen 5 und 7 Prozent der Bevölkerung homosexuell seien, für
realistisch, aber alle Zahlen liegen mal mehr, mal weniger deutlich
unter Kinseys Hochrechnungen. Vielleicht lässt sich ja mithilfe der
neuen Technologien der Streit um diese Zahlen beilegen. Zwar
treten dabei eigene methodologische Probleme auf, aber solche gab
es auch bei den Haushaltsbefragungen der ONS (es war unklar, wie
verkappte Homosexuelle erfasst werden können). Da die wenigsten
Menschen auf die Idee kommen, ihre Suchmaschinen systematisch
anzulügen, wird uns Big Data diese Frage beantworten können. Der
Datenwissenschaftler Seth Stephens-Davidowitz, der früher bei
Google beschäftigt war, verriet, dass rund 2,5 Prozent der
männlichen Facebook-Nutzer Interesse an anderen Nutzern des
gleichen Geschlechts zeigen.
Für die Suchanfragen nach Internetpornografie kann Stephens-
Davidowitz mit Zahlen aufwarten, die auch Leute einschließen, die
nicht so offen mit ihrer Sexualität umgehen. Interessant an diesen
Zahlen ist vor allem, dass sie in den ganzen Vereinigten Staaten
annähernd konstant sind. In Rhode Island beispielsweise leben zwar
doppelt so viele homosexuelle Facebook-Nutzer wie in Mississippi
(was sich zum Teil damit erklären lässt, dass viele Homosexuelle
von dort wegziehen), doch die Suche nach Internetpornografie ist
gleichbleibend hoch. In ungefähr 4,8 Prozent aller Suchanfragen
nach pornografischen Inhalten in Mississippi sind Schwulenpornos
das Objekt der Begierde, in Rhode Island sind es 5,2 Prozent. Auch
wenn seine Zahlen mit der gebotenen Vorsicht zu genießen sind (so
suchen manche User aus reiner Neugier nach solchen Pornos),
kommt Stephens-Davidowitz zu dem Schluss, dass in den
Vereinigten Staaten rund 5 Prozent der Gesamtbevölkerung
homosexuell sind.30
Wie alle Statistiken werden auch diese zum gesellschaftlichen
Spielball. 2017 gab das Office for National Statistics bekannt, dass
die Zahl der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender zum
ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens die 1-Million-Marke
überschritten habe. Das Online-Schwulenmagazin Pink News feierte
diese Zahl als Meilenstein für die Community und fügte hinzu, dass
sie zwar »hoch, aber nicht hoch genug« sei.31 Was uns zu der Frage
führt, wie hoch sie denn sein soll und wie sich diese Vorgabe
erreichen lässt?
Trotz alledem hat sich die breite Masse in den letzten vier
Jahrzehnten ihre eigene Meinung dazu gebildet. Wobei diese
Meinung sich in diesem Zeitraum stark verändert hat. 1977 gingen
lediglich 10 Prozent der US-Bürger davon aus, dass Menschen
homosexuell auf die Welt kommen, während es 2015 bereits um die
50 Prozent waren. Im selben Zeitraum sank die Zahl derer, die
Homosexualität in erheblichem Maße auf Erziehung und Umfeld
zurückführten, von 60 Prozent im Jahr 1977 auf nur mehr 30
Prozent. Es dürfte folglich kein Zufall sein, dass sich die moralische
Haltung der Amerikaner in Bezug auf Homosexualität grundlegend
gewandelt hat. Umfragen des Gallup-Instituts zwischen 2001 und
2015 ergaben, dass im Jahr 2001 für 40 Prozent der US-Bürger
schwule und lesbische Beziehungen »moralisch akzeptabel« waren,
während das 2015 schon für 63 Prozent galt. Die Zahl derjenigen,
die solche Beziehungen als »moralisch nicht vertretbar« empfanden,
nahm dagegen von 53 auf 34 Prozent ab.32 Die Umfragen ergaben
außerdem, dass einer der ausschlaggebenden Faktoren für eine
Meinungsänderung der Befragten war, ob sie persönlich jemand
kannten – ein Familienmitglied, einen Freund oder Arbeitskollegen –,
der schwul oder lesbisch war. Dieser Faktor hat signifikante
Auswirkungen auf andere Bewegungen, die bestimmte Rechte
einfordern. Ein weiterer Faktor, der ganz offensichtlich die
allgemeine Meinung beeinflusst, ist die zunehmende Präsenz von
Schwulen im öffentlichen Leben.
Was jedoch den größten Einfluss auf die Haltung der US-Bürger
hat, ist, dass nicht mehr davon ausgegangen wird, dass es sich bei
Homosexualität um ein erlerntes Verhalten handele, sondern um
eine genetische Veranlagung. Die Kenntnisnahme, wie bedeutend
dieser Faktor im Fall der Homosexuellen war, hat signifikante
Auswirkungen auf andere Rechte-Bewegungen. Denn hier
erhaschen wir einen Blick auf einen der wichtigsten Bausteine
zeitgenössischer Moral: die fundamentale Erkenntnis, dass es falsch
ist, Menschen aufgrund ihrer Eigenschaften, die nicht ihrem Einfluss
unterliegen, zu bestrafen, zu verunglimpfen oder auf sie
herabzusehen. Man könnte meinen, das sei ein offensichtlicher
Moral-Baustein, doch während des größten Teils der
Menschheitsgeschichte war das nicht der Fall; vielmehr wurden
unveränderliche Eigenschaften sehr oft gegen die Betroffenen
gewendet.

HARDWARE GEGEN SOFTWARE UND DIE


NOTWENDIGKEIT, »SO GEBOREN
WORDEN« ZU SEIN
Gleichwohl ist die moderne Welt dabei, sich auf eine Moral zu
einigen, die ihre Wurzeln in diesem Disput hat. Man könnte auch
fragen: »Ist Homosexualität eine Frage der Hardware oder der
Software?«
Trifft Ersteres zu, besteht nicht die Möglichkeit einer Änderung,
weshalb es (so die logische Schlussfolgerung) keine Be- oder gar
Verurteilung aufgrund der Hardware geben sollte. Software dagegen
lässt sich umprogrammieren und mag sogar Beurteilungen – auch
moralischer Art – erfordern. In einem solchen System wird
unweigerlich der Druck entstehen, aus einem potenziellen Software-
ein Hardwareproblem zu machen, nicht zuletzt, um das Mitgefühl
und Verständnis für Menschen mit Softwareproblemen zu erhöhen.
Um ein anderes Beispiel heranzuziehen: Bisweilen wird Alkoholikern
oder Drogensüchtigen unterstellt, sie hätten ein Manko, das sie aber
in den Griff bekommen könnten und sollten. Ein Scheitern wird als
Folge ihrer eigenen Schwäche, ihrer schlechten Entscheidungen
oder moralischen Laxheit ausgelegt. Sieht man hingegen
Suchtkranke als Opfer von Umständen, die nichts für ihr Verhalten
können, wird ihnen nicht die Schuld an ihrer Misere gegeben,
sondern sie stoßen im Gegenteil auf Verständnis. Ein Betrunkener
mag zwar für die Leute, die mit ihm zu tun haben, unangenehm sein,
aber wenn es heißt, dass er mit einer genetischen Disposition für
Alkoholismus auf die Welt gekommen sei – oder besser mit einem
»Sucht-Gen« – erscheint er in einem ganz anderen Licht. Anstatt
Kritik für sein Verhalten zu ernten, stößt er auf Verständnis – in
jeweils unterschiedlicher Ausprägung.
Gilt sein Alkoholismus hingegen als erlerntes Verhalten, ist er in
den Augen vieler ein schwacher, wenn nicht gar ein schlechter
Mensch. Wir moderne und aufgeklärte Menschen bringen viel mehr
Verständnis für Verhaltensweisen auf, die sich nicht ändern lassen,
sind aber recht schnell mit Kritik oder Zweifeln bezüglich eines
Lebensstils, wenn wir der Überzeugung sind, dass derjenige die
Wahl hat – was umso mehr zutrifft, wenn uns dessen Verhalten
missfällt. Man könnte also behaupten, dass Homosexualität
unbequem oder lästig für die Gesellschaft ist (zumindest, was die
Fortpflanzung betrifft). Stellt sich die legitime Frage, mit der sich jede
Gesellschaft auseinandersetzen sollte: »Was bedeutet
Homosexualität letzten Endes?«
Es gibt einen einzelnen Faktor, der dazu beigetragen hat, dass
sich im Westen die öffentliche Meinung über Schwule und Lesben
verändert hat, nämlich, Homosexualität eher als Frage der Hardware
denn der Software anzusehen. Nichtsdestotrotz versuchen manche
Leute – vor allem religiöse Konservative – noch immer, ihren
gegenteiligen Standpunkt in die öffentliche Diskussion
hineinzumogeln. Einige von ihnen erklären Homosexualität noch
immer zu einer »Frage des Lebensstils« – eine Phrase, die
andeutet, dass Homosexuelle sich bewusst und eigenmächtig für
eine bestimmte Programmierung entschieden hätten.
In Ländern und zu Zeiten, in denen diese Auffassung vorherrscht,
gelten für homosexuelle Handlungen repressive Gesetze. Es ist
daher wenig überraschend, wenn der Vorstoß unternommen wird,
die Behauptung, Schwule und Lesben hätten sich ihre sexuelle
Orientierung ausgesucht, ein für alle Mal zurückzuweisen und sich
dafür einzusetzen, dass anerkannt wird, dass Homosexualität eine
Frage der Hardware sei – man eben so auf die Welt kommt, wie
Lady Gaga in »Born this way« singt.
Tatsache ist, dass die moralische Akzeptanz von Homosexualität
noch zu neu ist und sich noch längst nicht überall auf der Welt
durchgesetzt hat, als dass man daraus langfristige Schlüsse ziehen,
geschweige denn mit Bezug darauf eine Moraltheorie errichten
könnte. Eines steht jedoch zweifelsfrei fest: Die Frage, ob
Homosexualität angeboren oder eine Frage der Wahl ist – also
Hardware oder Software –, wirkt sich enorm darauf aus, wie viel
oder wie wenig Verständnis den Betroffenen entgegengebracht wird.
»Wählt« jemand, homosexuell zu sein, oder »erlernt« er dieses
»Verhalten«, dann müsste es möglich sein, es bis zu einem
gewissen Grad wieder zu verlernen, oder man stellt es sogar so dar,
dass niemand sich freiwillig dafür entscheidet.
Die Auffassung, dass es sich bei Homosexualität nicht um eine
»Frage des Lebensstils« handelt, sondern Menschen so auf die Welt
kommen, hat in den letzten Jahren zweifellos einige
nichtwissenschaftliche Schübe erfahren. Die Präsenz von Schwulen
oder Lesben im täglichen Leben macht die Option, die eigene
Homosexualität zu »verstecken«, zusehends weniger notwendig.
Zahllose Geschichten über berühmte Homosexuelle – ihre Ängste,
das Mobbing und die Diskriminierung, denen sie ausgesetzt waren –
haben fraglos jedem vor Augen geführt, dass niemand ein so
leidvolles Schicksal wählt. Welches Kind will freiwillig Mobbingopfer
sein, weil es homosexuell ist? Welcher Pubertierende will, dass sein
ohnehin kompliziertes Leben noch schwieriger wird?
Der Zeitgeist hat sich offensichtlich auf die Theorie »Born this
way« geeinigt und blendet die verstörende Tatsache aus, dass die
Wissenschaft nicht wirklich dazu beiträgt, Lady Gagas Auffassung zu
bestätigen. Epigenetikern und ihrer faszinierenden Arbeit haben wir
es zu verdanken, dass eine Genvariation entdeckt wurde, die als
mögliche Ursache von Homosexualität infrage kommt. Die aktuelle
Forschung fokussiert auf Methylgruppen, die an Genmoleküle
koppeln. Bereits 2015 gaben Forscher der UCLA [University of
California, Los Angeles] bekannt, Genvarianten im Erbgut von
Brüdern, von denen einer schwul war, der andere aber nicht,
entdeckt zu haben. Allerdings war die Studie aufgrund der geringen
Teilnehmerzahl nicht repräsentativ und das Ergebnis deshalb heftig
umstritten, auch wenn es für Schlagzeilen gesorgt und vielen
Schwulen Anlass zur Hoffnung gegeben hat. Mittlerweile wurde eine
Reihe ähnlicher Studien durchgeführt, die sich jedoch alle als nicht
aussagekräftig erwiesen haben.
Derzeit ist das »Schwulen-Gen« nicht nachweisbar, was nicht
heißen soll, dass sich das nicht irgendwann ändern könnte. Doch die
Schlacht, die darum geführt wird, ist äußerst aufschlussreich. Neben
anderen Gruppierungen wollen fundamentalistische Christen gar
nicht, dass es entdeckt wird, denn dies hätte fatale Auswirkungen
auf ihre Weltanschauung (»Gott macht Männer schwul?«) und
könnte dazu führen, dass sie sich mit ihrem Standpunkt zu dem
Thema neu auseinandersetzen müssen. Homosexuelle wiederum
wollen unbedingt, dass das »Schwulen-Gen« entdeckt wird, da
damit der Frage, ob ihre sexuelle Orientierung nicht doch
softwarebedingt sein könnte, ein für alle Mal ein Riegel
vorgeschoben würde. Und so macht die Forschung weiter und
konzentriert sich dabei auf eineiige männliche Zwillinge, die
interessanterweise die gleiche sexuelle Ausrichtung zeigen.
Vielleicht sollte man sich stärker mit der Frage
auseinandersetzen, was passieren würde, wenn zur Freude derer,
die von einem »Schwulen-Gen« träumen, dieses tatsächlich
entdeckt werden würde. Nicht alle Reaktionen, die sich teilweise
bereits ankündigen, wären wünschenswert. Anfang dieses
Jahrzehnts arbeitete ein gewisser Chuck Roselli, ein
Neurowissenschaftler von der Oregon Health & Science University,
an einer Studie über Schafsböcke, die sich lieber mit anderen
männlichen Tieren paarten als mit weiblichen. Als seine Arbeit
öffentlich bekannt wurde (dank einer Tierschutzorganisation, die
schwule Aktivisten an Bord holen wollte), wurde behauptet, seine
Ergebnisse sollten als Basis für eugenische Bestrebungen dienen,
dass künftig keine Schwulen mehr auf die Welt kämen. Rosellis
Arbeitgeber wurde überschwemmt von Zehntausenden erboster E-
Mails und SMS, die die Entlassung des Forschers forderten.
Prominente Schwule und Lesben wie Tennisstar Martina
Navratilova griffen Roselli und seinen Arbeitgeber in den Medien an.
Doch die Schafstudien sollten nie auch nur ansatzweise in diese
Richtung gehen.33 Wenn Menschen in dieser Weise reagieren, wenn
jemand nur die Homoerotik von Schafen erforscht, wie sähe ihre
Reaktion erst bei der Entdeckung eines menschlichen »Schwulen-
Gens« aus? Würde es Eltern irgendwann erlaubt sein, mit Blick
darauf die DNA ihrer Kinder entsprechend manipulieren zu lassen?
Wie würde die Rechtfertigung dafür lauten, es ihnen nicht zu
erlauben?
Die starken Emotionen, die aufkommen, wann immer in diesem
Zusammenhang von Genetik die Rede ist, sind einer der Gründe,
weshalb auch andere Aspekte von Homosexualität kaum erforscht
sind. So zum Beispiel, ob und, wenn ja, welche Rolle
Gleichgeschlechtlichkeit im Hinblick auf die Evolution gespielt hat. In
den Jahren 1995/96 tauschten sich ein amerikanischer und ein
britischer Forscher genau darüber aus.34 Die Ergebnisse ihres
wissenschaftlichen Dialogs veröffentlichten Gordon G. Gallup von
der State University of New York in Albany und John Archer von der
University of Central Lancashire in einer wissenschaftlichen
Zeitschrift. Im Mittelpunkt stand besonders die Frage, ob eine
negative Haltung gegenüber Homosexuellen im Zusammenhang mit
der natürlichen Auslese oder als kulturelles Erbe von Generation zu
Generation weitergegeben wird. Im Mittelpunkt der faszinierenden
Debatte stand Gallups Arbeitshypothese: »Es könnte doch einfach
so sein, dass Eltern, die sich Gedanken um die sexuelle
Orientierung ihrer Kinder machten, mehr Nachkommen hinterließen,
als diejenigen, die dem Ganzen eher gleichgültig
gegenüberstanden.« Gallup argumentierte des Weiteren, dass das,
was als »Homophobie« bezeichnet wird, möglicherweise die Folge
der elterlichen Sorgedarüber sei, dass die aufkeimende Sexualität
ihrer Kinder beeinflussbar sein könnte. Diese Besorgnis äußert sich
zum Beispiel in Bedenken gegenüber Homosexuellen, die einen
Beruf ausüben, in dem sie regelmäßigen Kontakt mit Kindern haben,
aber auch darüber, dass ihre Kinder im Erwachsenenalter viel
entspannter im Umgang mit Homosexuellen sein könnten und keine
Berührungsängste hätten.
An dieser Behauptung könnte alles, etwas oder nichts dran sein.
Die Daten, die von Gallup herangezogen wurden, um seine These
zu untermauern, wurden vor Jahrzehnten erfasst, also zu einem
Zeitpunkt, als die allgemeine gesellschaftliche Haltung
Homosexuellen gegenüber, wie wir bereits gesehen haben, eine
ganz andere war.
Das Interessante ist, dass Studien über die Rolle von
Homosexualität im Zusammenhang mit der Evolution und über die
möglichen evolutionären Gründe für Homosexualität wie auch für die
möglichen evolutionären Gründe für den Argwohn gegenüber
Homosexualität keine Rolle mehr in der seriösen biologischen
Debatte spielen. Im privaten Gespräch allerdings geben einige
Biologen bereitwillig zu, dass das ein Versäumnis ihrer Disziplin ist.
Dieses wettzumachen würde allerdings bedeuten, sich in derzeit so
tiefe und gefährliche Gewässer zu begeben, dass Akademiker, die
eine unbegrenzte Anstellung anstreben, lieber nicht riskieren, sich
mit solchen Fragen zu befassen. Sofern wir bereits im Vorfeld
entschieden haben, wie die Antworten nicht ausfallen können – oder
mit welchen Antworten wir nicht umgehen könnten –, spricht
abgesehen von einer Liebe für die Wahrheit nichts dafür, diese
Fragen überhaupt zu stellen.
DIE PHILOSOPHISCHE VERWIRRUNG
Sind Wissenschaftler nicht in der Lage oder bereit, den Ursprüngen
von Homosexualität auf den Grund zu gehen, dann muss die
Verantwortung für eine Auseinandersetzung damit auf andere
übergehen. Im »Normalfall« wären jetzt die Philosophen gefragt.
Doch auch hier hat sich seit vielen Jahren nichts getan – genauer
gesagt seit Jahrtausenden.
Aristoteles streift das Thema Homosexualität in seiner
Nikomachischen Ethik nur am Rande. Er nennt diesen Zustand
innerhalb einer Aufzählung, die, würde sie heute verfasst, kaum
Zustimmung finden dürfte. Im siebten Buch des Werks spricht
Aristoteles davon, was unter »tierisch« und »krankhaft« zu
verstehen sei, und nennt als Beispiele eine Frau, die den Bauch von
Hochschwangeren aufschlitzte und das Ungeborene aß, einen
Mann, der seine eigene Mutter getötet und verspeist hat, und einen
Sklaven, der die Leber eines anderen Sklaven gegessen hat. Für
Aristoteles manifestieren sich auf diese Weise »Krankheiten«
einschließlich »geistige Umnachtung«. Andere Zustände gehen
seiner Meinung nach auf »Gewöhnung« zurück, wie das Ausreißen
von Haaren oder Nägelkauen. »Und dazu die Päderastie.« Womit
Aristoteles wohl Homosexualität meint, wobei sich Altphilologen
nach wie vor nicht einig sind, wovon Aristoteles hier genau spricht
(wobei er zu einem Gutteil selbst zu dieser Verwirrung beigetragen
hat, da er sich unterschiedlich zu gleichgeschlechtlichen
Beziehungen äußerte). Doch nehmen wir einmal an, Aristoteles
spricht von Homosexualität. Dann ist es mehr als erstaunlich, dass
er im 4. vorchristlichen Jahrhundert im Wesentlichen dieselbe
Auffassung vertritt wie die American Psychological Association und
das Royal College of Psychiatrists im 21. Jahrhundert. Für ihn ist
Homosexualität ein Merkmal, das bei manchen Männern eine
»Naturanlage« ist und bei anderen »aus der Gewöhnung« stammt.
Der einzige Unterschied zwischen diesen Haltungen ist, dass eine
seriöse Quelle des 21. Jahrhunderts kaum von derselben möglichen
Ursache einer solchen »Gewöhnung« spricht wie Aristoteles, der die
»Päderastie« zum Beispiel bei denen sah, die »von früher Kindheit
an zur Lust missbraucht worden sind«.35
Auch Philosophen, die uns zeitlich weitaus näher sind, haben
nicht viel dazu beigetragen, das Rätsel der Homosexualität zu lösen.
Der 1984 verstorbene Michel Foucault ist einer der meistzitierten
Forscher auf dem Feld der Sozialwissenschaften (im weiteren Sinn)
der westlichen Welt.36 So unantastbar Foucault vielen gilt, so
verworren ist selbst in einem seiner berühmtesten und
einflussreichsten Werke – Sexualität und Wahrheit, dessen erster
Band 1976 erschien – seine Sicht der Homosexualität. Foucault
weist darauf hin, dass es – abgesehen von allen anderen
Implikationen – von historischer Unbedarftheit zeugt, von
Homosexuellen als klar definierter Gruppe zu sprechen. Die Männer
und Frauen, die in der Vergangenheit wegen homosexueller
Handlungen vor Gericht gestellt wurden, seien nicht als eigene
Kategorie von Menschen betrachtet worden; diese Überlegungen
seien erst seit dem 19. Jahrhundert angestellt worden. So schreibt
Foucault über den Wandel, der Ende des 19. Jahrhunderts
einsetzte: »Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle
ist eine Spezies.«37
Zwar hat Foucault hier die Gelegenheit genutzt, seine Theorien
über Macht und Sex weiter voranzutreiben, doch lässt sich über
seine Überlegungen zu und Ansichten über Homosexualität trefflich
streiten. Mal erweckt er den Eindruck, als hielte er sie für absolut
zentral für die Identitätsfindung. Dann wieder spielt sie dafür keine
Rolle (wie er im selben Werk ausführt). Diejenigen, die nach ihm
kamen, sich auf ihn beriefen und sich selbst zu seinen Jüngern
machten, verstanden Sexualität – wie alles andere – als eine
Möglichkeit, eine Gruppenidentifikation herzustellen, die im
Gegensatz zur heterosexuellen Norm steht. Der
Literaturwissenschaftler David Halperin, ein großer Anhänger
Foucaults, schrieb einmal: »Kein Orgasmus ohne Ideologie.«38
Abgesehen davon, dass diese Aussage Langeweile im Bett
nahelegt, verweist sie darauf, dass diejenigen, die Homosexualität
durch dieses Prisma sehen wollen, nichts anderes tun, als ein
instabiles Fundament auf einem instabilen Fundament zu errichten.
Eine der wenigen Dinge, die eindeutig aus Foucaults Arbeiten
hervorgehen, ist, dass er anscheinend selbst erkannt hat, dass es
nicht der Weisheit letzter Schluss war, die sexuelle Identität als Basis
für eine formale Identität heranzuziehen. Ganz am Ende des ersten
Bands von Sexualität und Wahrheit wundert er sich, wie aus etwas,
das über Jahrhunderte als eindeutiges Zeichen von »Wahnsinn«
galt, mit einem Mal das Herzstück unserer »Selbsterkennung«
werden konnte und dass »wir unsere Identität dort vermuten, wo
man nur dunkles namenloses Drängen wahrnahm«. Sex wurde, wie
er behauptet, »wichtiger als unsere Seele, wichtiger beinahe als
unser Leben«. »Der faustische Pakt, dessen Versuchung uns das
Sexualitätsdispositiv ins Herz geschrieben hat«, laute, wie er
behauptet, »tausche das ganze Leben gegen den Sex, gegen die
Wahrheit und die Souveränität des Sexes. Der Sex ist den Tod wohl
wert.«39 Obwohl seine Schüler sich offenbar für einen anderen Weg
entschieden – und obwohl sich Foucault diesem Punkt nicht in
seiner Tiefe gewidmet hat –, gewinnt man doch den Eindruck, dass
es selbst Foucault aufgefallen ist, dass Sex oder sogar Sexualität
viel zu instabil ist, um als Basis für eine Identität zu dienen.

HOMOSEXUELLE GEGEN QUEERS


Trotz alledem ist Schwulsein heutzutage zum zentralen Baustein
unserer Identität, Politik und »Identitätspolitik« geworden. LGBT
zählt inzwischen zu den Gruppierungen, die Mainstream-Politiker
regelmäßig direkt oder indirekt ansprechen, als würden sie
tatsächlich genauso existieren wie ethnische oder religiöse
Gemeinschaften. Irgendwie ist das Ganze absurd.
Denn selbst nach ihren eigenen Definitionen ist dieses soziale
Gefüge ziemlich widersprüchlich und unhaltbar. Schwule und Lesben
haben so gut wie nichts gemein. Man möge mir verzeihen, aber mit
dem Verhältnis zwischen Schwulen und Lesben steht es nicht zum
Besten. Schwule halten Lesben oft für unansehnlich und fade,
während sie selbst in den Augen von Lesben kindisch sind und ein
lebender Beweis für die Unfähigkeit, erwachsen zu werden. Die
einen können recht wenig mit den anderen anfangen, weshalb man
sie so gut wie nie zusammen im öffentlichen Raum antrifft.
Schwule treffen sich an einem Ort, Lesben an einem anderen.
Seit der Hochzeit der Schwulenbewegung vor Jahrzehnten, als
Lesben und Schwule gemeinsam für die gute Sache kämpften,
machen sie jeweils ihr eigenes Ding. Schwule und Lesben indessen
begegnen Leuten, die sich selbst als »bi(sexuell)« bezeichnen, mit
einer gehörigen Portion Misstrauen. Das »B« in LGBT sorgt in den
Homosexuellenmedien hin und wieder für Unbehagen. Nach wie vor
werden Bisexuelle nicht im gleichen Maß wie Schwule oder Lesben
als Teil dieser »Gemeinschaft« betrachtet, sondern als eine Art von
Betrug in ihrer Mitte. Schwule neigen dazu, Bisexuelle für schwule
Männer zu halten, die (noch) nicht zu ihrem Schwulsein stehen
(»erst bi, dann schwul«).
Während Frauen, die auch mit Frauen schlafen, von
heterosexuellen Männern Zuspruch erfahren, reagieren nur wenige
Frauen positiv darauf, wenn ihre Partner auch mit Männern schlafen.
Die Frage, was Schwule, Lesben oder Bisexuelle mit Leuten, die im
falschen Körper geboren wurden und sich dem anderen Geschlecht
zugehörig fühlen, zu tun haben, ist eine Frage für ein anderes
Kapitel.
Ich halte es für sinnvoll, sich diese internen Spannungen und
Widersprüche vor Augen zu halten, wenn von der LGBT-
Gemeinschaft (oder Community) die Rede ist oder versucht wird, sie
für alle möglichen politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Schon
innerhalb der vier Bestandteile (LGBT) lassen sich nicht alle ihre
Angehörigen über einen Kamm scheren, geschweige denn, dass
dies für alle vier zusammengenommen gilt. Schließlich haben sie
kaum Gemeinsamkeiten. Vor der Entkriminalisierung der
Homosexualität in den 1960er-Jahren sah es wohl anders aus. Doch
die Lesben von heute brauchen die Schwulen nicht mehr, und den
Schwulen sind die Lesben größtenteils egal, während beide
Gruppen den Bi(sexuellen) mit mehr oder weniger unverhohlener
Skepsis begegnen. Und ob die Transgender zu ihnen gehören oder
einen Affront darstellen, darüber herrscht unter ihnen keine Einigkeit.
Noch immer weiß niemand wirklich Genaues über den Ursprung
einer oder aller dieser »Veranlagungen« oder »Orientierungen«.
Dennoch bezieht man sich vorzugsweise darauf, wenn es darum
geht, ganze Teile einer Bevölkerung zu bezeichnen und eine
wesentliche Begründung und Basis der liberalen Gesellschaft
herzustellen.
Es ist wenig überraschend, dass es in einem solchen
Sammelsurium von Menschen mit derartig unterschiedlichen (und
teils widersprüchlichen) Positionen und Herkünften zu Spannungen
innerhalb jedes einzelnen Teils der Bewegung kommen kann. Von
den Anfängen der Homosexuellenbewegung bis in die Gegenwart
hinein existieren alle diese möglichen Spannungen bezüglich der
Frage, was man eigentlich will; sie ziehen sich wie ein roter Faden
durch ihre Geschichte. Im Endeffekt läuft es darauf hinaus:
Unterscheiden sich Schwule und Lesben nur in einem einzelnen
Charakteristikum von anderen? Oder unterscheidet dieses einzelne
Charakteristikum Homosexuelle zutiefst vom Rest der Gesellschaft?
Wie eine Kluft trennt diese Frage zwei große Lager.
Das eine Lager ist davon überzeugt, dass Homosexuelle nicht
anders sind – und sein sollen – als alle anderen. Und davon, dass
sie sämtliche Kämpfe um Rechte für sich entscheiden werden, und
zwar weil sie zeigen, dass sie sich in nichts von ihren
heterosexuellen Freunden und Nachbarn unterscheiden. Ebenso wie
Heterosexuelle können Homosexuelle in einem hübschen Häuschen
mit Garten wohnen, heiraten, monogame Beziehungen führen und
Kinder bekommen und großziehen. Kurz, sie sind durchaus
respektabel. Zumindest ist das eine Möglichkeit, wie sie in Texten
geschildert wurde, zum Beispiel in Hunter Madsens und Marshall
Kirks After the Ball: How America Will Conquer its Fear and Hatred
of Gays in the 90’s (1989; Nach dem Ball: Wie Amerika in den
1990er-Jahren seinen Hass und seine Angst vor Schwulen
überwinden wird).40 Doch solche Werke, die für Homosexuelle einen
Weg zur Akzeptanz über die Normalisierung mit dem Rest der
Gesellschaft propagieren, sahen sich immer mit einem anderen
Element der vermeintlichen »Community« konfrontiert.
Für dieses Element – oder diese Seite – bietet sich nicht die
Bezeichnung »homosexuell« an (und sie bezeichnet sich selbst nicht
so), sondern »queer«, was »seltsam« oder einfach »anders«
bedeutet. Dabei handelte und handelt es sich um eine Gruppe von
Leuten, für die die Tatsache, dass sich jemand zum gleichen
Geschlecht hingezogen fühlt, mehr bedeutet, als sich einfach zum
gleichen Geschlecht hingezogen zu fühlen. Diese Gruppe ist davon
überzeugt, dass sich zum gleichen Geschlecht hingezogen zu
fühlen, der erste Teil einer wilden Reise sei. Ein erster Schritt, der
darin besteht, die Grenzen des normalen Lebens zu überschreiten.
Viele Homosexuelle wollen einfach nur so akzeptiert werden, wie sie
sind. Queers dagegen wollen sich von allen anderen deutlich
abheben und diesen Unterschied dafür nutzen, die Art von Ordnung
niederzureißen, die Homosexuelle leben wollen. Diese kaum zur
Kenntnis genommene, aber vollkommene Kluft besteht so lange, wie
»homosexuell« als identitätsstiftend gilt.
Als die Homosexuellenbewegung noch in ihren Kinderschuhen
steckte, setzten sich einige von ihnen für eine gemeinsame
»Befreiungsfront« ein, mit dem Ziel, die offensiv auftretende GLF
[Gay Liberation Front] in Verbindung und Abstimmung mit anderen
Bewegungen zu bringen. Unter dem Einfluss von Aktivisten wie Jim
Fouratt suchten diese Allianzen den Schulterschluss mit
einheimischen Organisationen, wie der Black Panther Party,
genauso wie auch mit ausländischen, so dem Vietcong, Maos China,
Castros Kuba und weiteren. Die Tatsache, dass diese Bewegungen
und Regime ihre Ablehnung von Homosexualität nicht gerade
verbargen (zum Beispiel hatte man in Peking kein Problem damit,
»sexuell Verkommene« öffentlich zu kastrieren), wurde bloß als
einer der Widersprüche angesehen, die es aufzulösen galt.41 Auch
in der Folgezeit identifizierte sich die Homosexuellenbewegung mit
Organisationen, die sich nicht allein als revolutionär verstanden,
sondern genau diejenige Gesellschaft ablehnten, deren Akzeptanz
die Bewegung eigentlich anstrebte, von der die Schwulen lieber
akzeptiert werden wollten. In jedem Jahrzehnt nach den 1960er-
Jahren tat sich diese Kluft erneut auf.
Während der HIV/AIDS-Krise in den 1980er-Jahren radikalisierte
sich (verständlicherweise) ein Großteil der Homosexuellen in Europa
und den Vereinigten Staaten. Gruppen wie »Act Up« warfen den
gewählten Volksvertretern vor, sie würden nicht genug tun, damit das
unsägliche Leid, das mit der fortdauernden Ausbreitung der
»Seuche« einherging, anerkannt und ihm begegnet würde. Solche
Gruppen ergriffen die Initiative, aber andere Homosexuelle hatten
das Gefühl, dies ginge auf Kosten der gesamten Bewegung. In
einem wichtigen Buch der frühen 1990er-Jahre, mit dem die queere
Übernahme des Kampfs um Homosexuellenrechte zurückdrängt
wurde, erinnert sich der Autor Bruce Bawner an die kompromisslose
Haltung von Gruppen wie Act Up. In A Place at The Table schildert
er Reaktionen auf einen im heute nicht mehr existierenden Magazin
QW [QueerWeek] veröffentlichten Text, der die Methoden dieser
Aktivisten kritisiert hatte: »Du selbsthassendes, hyperkritisches,
falsch informiertes Stück Scheiße«, lautete eine typische
Erwiderung. »Du bist eine Schande für die ganze Queer-Nation.«42
Was bitte schön kann man sich denn unter einer »Queer-Nation«
vorstellen? Etwa, dass man mit nur einer Stimme spricht und nur
eine Zielausrichtung hat?
Dass man ein Leben anstrebt, das ganz anders ist und keine
Berührungspunkte zu den Lebensentwürfen der Mitmenschen
aufweist? Oder im Gegenteil ein Leben wie alle anderen führen will?
Damals – wie heute – blieb diese Frage unausgesprochen und
unbeantwortet. Waren Schwule wie alle anderen? Oder eine Gruppe
andersartiger Menschen, die sich willentlich und wissentlich vom
Rest lösen wollten, als eine Art homosexueller Stadtstaat oder sogar
Nation mit eigenen Rechten?
Bis weit in die 1990er-Jahre hinein waren sich »Homosexuelle«
und »Queers« uneins. In Großbritannien schreckten Aktionen von
Gruppen wie »Outrage« Homosexuelle ab, die nachhaltige
Akzeptanz und Respektabilität anstrebten. Am Ostersonntag 1998
stürmten Peter Tatchell und andere Mitglieder seiner Gruppe die
Kanzel der Kathedrale von Canterbury, unterbrachen die Predigt des
Erzbischofs und hielten Schilder hoch, auf denen sie die Haltung der
Church of England in puncto Schwulenrechte anprangerten. War das
eine sinnvolle Methode, um auf die Rechte von Schwulen
aufmerksam zu machen, oder verschreckte die Gruppe damit
diejenigen, denen der offensichtliche »Fundamentalismus« Angst
einjagte? Ähnliche Vorfälle ereigneten sich auch anderswo (und tun
es in geringerem Ausmaß noch immer). Ein Gesetz, das die
Diskriminierung von Homosexuellen unter Strafe stellt, setzte im
Bundesstaat New York 21 Jahre lang Staub an, bevor es endlich
verabschiedet wurde. Eine der damals Beteiligten schilderte 1992,
dass der Kontakt zwischen Vertretern von Homosexuellengruppen
und Abgeordneten von zahlreichen wütenden Protestaktionen
geprägt war, beispielsweise als die radikale Gruppe »Queer Nation«
zum Abschluss einer Demonstration eine Puppe verbrannte, die
aussah wie Ralph J. Marino, der Mehrheitsführer im Senat von New
York. Andere Gruppen beherrschten die Lobbyarbeit besser und
setzten auf einen – wie es hieß – höflicheren Ansatz.43
Doch die radikale Gesinnung bestand weiter. Und ebenso der
Graben zwischen denjenigen Homosexuellen, die für gleiche Rechte
und Gleichbehandlung eintraten, und denen, die ihr Schwulsein eher
dafür nutzen wollten, schrittweise das alte System abzuschaffen
oder eine neue Art von Gesellschaft ins Leben zu rufen. Selten trat
dies so offen zutage wie am 25. April 1993 beim »Marsch auf
Washington«. Mit dieser Aktion sollte für die Rechte von
Homosexuellen das erreicht werden, was mit dem Martin-Luther-
King-Marsch drei Jahrzehnte zuvor für die Bürgerrechtsbewegung
erreicht worden war. Doch der Marsch von 1993 wurde mit seinen
obszönen Comedians und den radikalen, Gift und Galle speienden
Rednern, die nur einem Bruchteil der Schwulen und Lesben aus
dem Herzen sprachen, zum reinen Fiasko. Es war, so Bawer, »als
ob die Organisatoren dieser Veranstaltung alles darangesetzt hätten,
jedes noch so alberne Klischee über Homosexuelle zu erfüllen«:
Ich stellte immer wieder den Vergleich mit dem Washington-Marsch der schwarzen
Bürgerrechtsbewegung von 1963 an. Damals hielt Martin Luther King die Rede
seines Lebens und riss nicht nur seine Anhänger mit, sondern überzeugte jeden
noch so ängstlichen Amerikaner nicht nur davon, wie ernst es ihm mit seiner Mission
war, sondern auch von der Richtigkeit seines Tuns. Er hatte damals weder die
Revolution ausgerufen noch die amerikanische Demokratie an den Pranger gestellt
oder sein Podium mit Stand-up-Comedians geteilt […]. An jenem Tag des Jahres
1963 verlieh er seiner Vision von der Rassengleichheit auf eine Weise Ausdruck, die
ganz Amerika wachrüttelte, das Beste in seinen Anhängern weckte und an die
tugendhafteren Instinkte seiner Gegner appellierte.44

Und damit wären wir bei einem weiteren Aspekt der


Schwulenbewegung angelangt, der noch immer gärt. Wie es ein
anderer schwuler Schriftsteller, Andrew Sullivan, in den 1990er-
Jahren so treffend formuliert hat: »Welchem Marsch der
Schwulenbewegung man sich auch immer anschließt, man kommt
nicht umhin zu bemerken, dass es ihr nicht gelingt, die eigenen
Leute zu vereinen: Sämtliche solcher Anstrengungen werden
grundsätzlich von Dingen wie Ironie, zwanghafter Selbstdarstellung
oder Verantwortungslosigkeit untergraben.«45
Auf fast jeder Demonstration für Homosexuellenrechte – vor
allem bei den »Gay Pride«-Paraden, die heutzutage fast überall auf
der Welt veranstaltet werden und im deutschsprachigen Raum unter
»Christopher Street Day« laufen – wird der Ruf nach gleichen
Rechten (die mittlerweile in den meisten westlichen Kulturen schon
Gesetz sind) mit Dingen vermengt, die vielen Homo- und
Heterosexuellen die Schamesröte ins Gesicht treibt.
Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn Leute ihre wie auch immer
gearteten Vorlieben hinter verschlossenen Türen ausleben. Doch
man muss nicht prüde sein, um das Gefühl zu haben, dass bei
solchen Kundgebungen die Reihen von Leuten in Fetischkleidung,
Chaps und so weiter eher abschreckend sind und der Sache, die sie
vorantreiben wollen, eher schaden. Hätte die schwarze
Bürgerrechtsbewegung mit einer Fetischsektion aufgewartet, wäre
es viel leichter gefallen, ihre moralische Stärke zu ignorieren.
Doch die Homosexuellen lassen sich nicht einpferchen. Nicht von
ihresgleichen und erst recht nicht von anderen. Unter denjenigen,
die lautstark gleiche Rechte für alle fordern, wird es immer einen Teil
geben, der Exhibitionismus mit Aktivismus verwechselt und für den
Gleichberechtigung oder Freiheit erst gegeben ist, wenn man sich
auf allen vieren in Hundegeschirr von seinem dominanten Partner an
der Leine eine öffentliche Straße entlangführen lassen darf.
Der liberale Denker Paul Berman erinnert sich an die
Gedenkfeierlichkeiten anlässlich der Jahrestage der Stonewall-
Unruhen in den 1990er-Jahren, als »mürrisch dreinblickende
schwule Politiker« hinter Plakaten herliefen und Bürgerrechte
einforderten, gefolgt von jungen Männern mit nackten Oberkörpern,
die erotisch tanzten, barbusigen Frauen, Fetischisten in
Lederklamotten, Sadomasochisten, die sich gegenseitig
auspeitschten«, und nicht zu vergessen Slogans wie »Anal-Stolz«
und »Vaginal-Stolz«. Die Rechtfertigung solcher Auftritte (neben
anderen durch die Soziologieprofessorin Arlene Stein) lautete, dass
Homosexuelle, wenn sie sich nicht von anderen unterschieden,
einfach verschwinden würden. Und das ließe sich eben nur
verhindern, wenn sie auffallen wie ein bunter Hund. Stein erklärte
sich schließlich unter anderem zur »Sexpertin«. Diesen Titel würde
wohl jeder gerne tragen, wenn auch nicht 24 Stunden am Tag, wie
Berman anmerkte.46 Diejenigen, die sich vor allem für den
»queeren« Aspekt der Schwulenbewegung einsetzen, tendieren
dazu, Homosexualität als Vollzeitbeschäftigung zu verkaufen. Und
den Homosexuellen gefällt das in der Regel gar nicht.

GLEICH ODER BESSER?


Selbst bei den zurückhaltenderen Forderungen der
Homosexuellenbewegung wurden Fragen noch nicht angesprochen,
die ein gewisses Risiko beinhalten, wie zum Beispiel diese: »Wenn
Homosexuelle irgendwann einmal die gleichen Rechte besitzen wie
alle anderen, sollen sie dann auch nach den gleichen Standards wie
alle anderen behandelt werden?« Oder beinhaltet die Gleichheit für
Homosexuelle eine Art »Rücktrittsklausel«? Sollte von schwulen
oder lesbischen Paaren, nun da die Homo-Ehe inzwischen in vielen
Ländern etabliert ist, in gleicher Weise wie von heterosexuellen
Paaren erwartet werden, dass sie einander ein Leben lang treu
sind? Kann man sinnvollerweise erwarten, dass schwule oder
lesbische Paare, die sich mit Anfang 20 kennengelernt und keine
Kinder haben, die sie stärker aneinander binden würden, in den
nächsten 60 Jahren Sex nur mit einem einzigen Partner haben?
Wollen sie das überhaupt? Wenn nicht, welche gesellschaftlichen
Folgen hat das Ganze dann? Es muss doch Folgen haben, oder
etwa nicht? Unter den ersten homosexuellen Paaren, die in den
Vereinigten Staaten den Bund der Ehe schlossen, war eines, das
einem Reporter gegenüber offen erklärte, eine offene Beziehung zu
führen. Was denken andere dann – Homo- wie Heterosexuelle –
über die Homo-Ehe? Mit dieser Frage hat sich offenbar noch
niemand befasst.
Ein prominentes Schwulenpaar aus Großbritannien hat alle
möglichen Anstrengungen unternommen, damit nicht durchsickert,
dass die beiden eine offene Ehe führen. Das dürfte daran gelegen
haben, dass ihnen klar war, welchen Schaden es für die Belange der
Homosexuellen anrichten könnte, wenn die überwiegend
heterosexuelle Bevölkerung mitbekommt, dass zwei berühmte,
miteinander verheiratete Schwule es mit der ehelichen Treue nicht
so genau nehmen.
Trotz des Hypes um Gleichberechtigung und Gleichbehandlung
gibt es kein sicheres Anzeichen, dass die Mehrheit der
Homosexuellen tatsächlich komplett gleichgestellt sein will. Viele
wollen zwar genau gleichgestellt sein, haben aber nichts gegen
einen kleinen Homosexuellenbonus einzuwenden. Als sich die
amerikanische Fernsehgröße Ellen DeGeneres 1997 als lesbisch
outete, ging sie ein beträchtliches Risiko ein. Die Tatsache, dass es
ein Risiko war, hat sich nicht nur für sie persönlich gelohnt, sondern
viel dazu beigetragen, dass Lesben mit einem Mal wahrgenommen
wurden, und dafür verdient sie unser aller Respekt. Doch liegt es an
dem sozialen Kapital, das sie aus ihrem Coming-out geschlagen hat,
oder an ihrem Lesbenbonus, dass sie so weit gehen kann, wie es
kein heterosexueller Mann dürfte? Wie bei dem Spiel Who’d you
rather? (Mit wem würdest du lieber …?), das Ellen in ihrer Show
spielt. Die Kandidaten (Männer und Frauen) müssen sich zwei Fotos
von Prominenten ansehen und dann entscheiden, mit wem sie lieber

Als der »MeToo«-Skandal 2017 ins Rollen kam, steckte jeder
Mann in Schwierigkeiten, der eine Frau jemals zum (Sexual-)Objekt
degradiert hatte, er brauchte sie nicht einmal unsittlich berührt zu
haben. Doch offenbar gelten solche Regeln nicht für DeGeneres.
Ende Oktober, also just in dem Monat, in dem Harvey Weinstein in
Ungnade fiel, postete sie in den sozialen Medien ein Foto von sich
und Katy Perry. Der Popstar trug ein enganliegendes, figurbetontes
Kleid mit einem enormen Ausschnitt.
Das Foto zeigt DeGeneres, wie sie Perry mit offenem Mund ins
Dekolleté schaut. »Alles Gute zum Geburtstag, Katy!«, lautet die
Nachricht von DeGeneres’ offiziellem Twitter-Account. »Höchste
Zeit, die großen Ballons rauszuholen.«47 In weiten Kreisen war man
sich zu diesem Zeitpunkt einig, dass es nicht geht, wenn Männer
Frauen zum Objekt ihrer Begierde machen, doch anscheinend galt
die berühmte Ausnahme zu dieser Regel für berühmte Lesben.

HOMOSEXUELLE ELTERNSCHAFT
Der Erfolg der Homosexuellenbewegung mag verständlicherweise in
allen westlichen liberalen Demokratien gefeiert werden. Doch dieser
Erfolg hat auch seine Schattenseiten, nämlich die moralische
Erpressung, die andere Fragen überlagert. Auf welche Fragen und
Probleme werden wir einst voller Scham zurückblicken, so wie wir es
heute in Bezug auf die Kriminalisierung von Homosexuellen tun?
Einige Kandidaten stehen hier bereit. Doch wir haben es im
Hinblick auf andere Rechte von Homosexuellen mit einem
Dominoeffekt zu tun. Weil wir uns in puncto Kriminalisierung so
falsch verhalten haben, können, um im Bild zu bleiben, alle
möglichen Steine in diesem Feld vor unseren Augen fallen, ohne
dass wir uns intensiv oder überhaupt mit ihnen auseinandersetzen.
Die Einführung der Homo-Ehe in den Vereinigten Staaten und
Großbritannien hat zu weiterführenden Forderungen geführt wie die
nach der Homo-Elternschaft.
Und zwar nicht nur dem Recht von Homosexuellen, Kinder
adoptieren zu dürfen, sondern auch eigene Kinder zu bekommen.
Berühmte Schwulenpaare wie Elton John und David Firnis oder Tom
Daley und Dustin Lance Black tun so, als wäre das die einfachste
Sache der Welt: »Wir haben beschlossen, eine Familie zu gründen.«
Im Februar 2018 veröffentlichten Daley und Black ein gemeinsames
Foto, auf dem sie eine Ultraschallaufnahme in die Kamera halten. In
den Schlagzeilen war zu lesen, dass Tom Daley ankündigt, dass
sein Mann und er ein Baby bekommen werden.48 Wie ging noch mal
der alte Schwulenwitz? Ach ja: »Nein, wir sind noch nicht
schwanger, aber das heißt ja nicht, dass wir es nicht weiter
probieren.« War einem schwulen Paar etwa der Durchbruch
gelungen? Es dauerte nicht lange, bis jeder, der sich fragte, ob zwei
Männer wirklich ein Baby machen können, die Antwort erhielt:
»Warum denn nicht, du Ignorant?«
Natürlich trat ein Kolumnist der Daily Mail auf die Mine, die nur
darauf wartete hochzugehen. Doch die Frage »Und wie soll das
gehen?« war kaum aus der Luft gegriffen. In den Jahren zuvor hatte
sich bei Journalisten die Auffassung durchgesetzt, dass es ein
Fauxpas sei, Frauen bei welchem Thema auch immer aus einer
Geschichte »herauszuschreiben«. Nun hatte man es mit einem
schwulen Paar zu tun, das zumindest eine Frau – die zu
irgendeinem Zeitpunkt von wesentlicher Bedeutung gewesen sein
muss – aus der Geschichte herausschrieb. Tatsächlich wurde eine
Frau aus einer Geschichte herausgeschrieben, die vielleicht die
wichtigste ist für jeden Menschen, der sie schon einmal erlebt hat.
Der zweite Grund, um innezuhalten und einen Moment
nachzudenken, war, dass die rührselig aufgemachte Geschichte des
gemeinsamen Babys von Daley und Black eine Lüge war, der eine
ganze Generation von jungen Schwulen aufsaß.
Fakt ist nun einmal, dass zwei Lesben es viel leichter haben, auf
natürlichem Weg ein Kind zu bekommen, während das bei einem
schwulen Paar ganz anders aussieht (dass bei homosexuellen
Paaren das wie auch immer gezeugte Kind immer nur die Gene
eines Elternteils besitzt, was allein jede Menge Fragen aufwerfen
und zu Spannungen innerhalb der Beziehung führen kann, ist ein
anderer Punkt). Noch simpler ist ein weiterer Aspekt dieser Lüge:
Den meisten Schwulen bleibt die Möglichkeit verschlossen,
gemeinsam ein Kind mit der DNA von einem von ihnen zu
bekommen; sie ist sehr reichen Schwulen vorbehalten. Eine
künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft kosten so einiges.
Doch all das kam erst gar nicht zur Sprache und später auch nur
zögerlich, als es zu ersten Protestreaktionen kam. Eine Gruppe
namens »Stop funding Hate« (»Hört auf, Hass zu finanzieren«)
erstellte eine Liste aller Unternehmen, die in der Daily Mail Anzeigen
schalteten, mit dem Ziel, Druck auf die Firmen auszuüben, damit
diese nicht mehr in einer Zeitung, die »sich von der geltenden
Meinung der britischen Gesellschaft abgekoppelt« habe,
annoncierten.49 Und solch eine Reaktion nur, weil es hieß:
»Augenblick mal«, als behauptet wurde, zwei Männer können
einfach so ein Kind bekommen.
Doch die Haltung, »nicht nur gleich, sondern besser« behandelt
zu werden, setzt sich nicht nur in der Homo-Debatte, sondern auch
anderswo fort. 2014 veröffentlichten Wissenschaftler von der
University Melbourne eine Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass
Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren gesünder und glücklicher
sind als Kinder von heterosexuellen Paaren. Der wissenschaftliche
Leiter des Projekts, Dr. Simon Crouch, vertrat die Auffassung, dass
einer der Gründe dafür die Tatsache sei, dass gleichgeschlechtliche
Paare nicht den traditionellen »geschlechtsspezifischen
Stereotypen« entsprächen, was zu einer »harmonischen
Familiengemeinschaft führe«.50 Diese Behauptung hört man
inzwischen öfter. 2010 zeigte die BBC einen Kurzfilm von Reverend
Sharon Ferguson (die zugleich CEO des LGCM [Lesbian and Gay
Christian Movement] war), in dem sie die These vertrat, dass Lesben
wie sie nicht nur genauso gute Eltern seien wie heterosexuelle
Paare, nein, sie seien sogar die besseren Eltern.51 Behauptungen
dieser Art, basierend auf gleichermaßen dubiosen Studien, die
immer eher nach Propaganda als nach Analyse klingen, tauchen mit
beachtlicher Regelmäßigkeit auf.
Im März 2018 veröffentlichten Wissenschaftler des Williams
Institute der UCLA School of Law die Ergebnisse ihrer Studie, bei
der sie 515 Paare in Vermont über einen Zeitraum von zwölf Jahren
begleitet hatten. Ihrer Untersuchung zufolge bleiben schwule Paare
eher zusammen als lesbische oder heterosexuelle.52 Prompt titelten
die Schwulenpresse, aber auch andere Magazine: »Studie enthüllt:
Homo-Ehen halten länger als die von Heteros«.53
Man könnte meinen, dass die Homo-Elternschaft nur für
homosexuelle Paare interessant wäre und eher dem
Homosexuellen-Lager zugerechnet würde statt dem Queer-Lager,
aber hinter der Berichterstattung darüber vernimmt man noch das
Echo des wohl hässlichsten Krawalls, der sich am Rande der Queer-
Bewegung abgespielt hat.
Die Rede ist von der Behauptung, dass die Gleichbehandlung
nicht genüge, da Schwule in gewisser Weise »besser« seien als
Heterosexuelle. Der radikal schwule amerikanische Aktivist Robert
Rafsky wurde gefilmt, als er bei einer Kundgebung seinen
Mitstreitern zurief: »Wir sind wichtiger als die Heteros!« Diese
Mentalität ist, wie Bruce Bawer schrieb, »mindestens genauso
hässlich wie die von Heterosexuellen, die es für selbstverständlich
halten, wichtiger zu sein als Homosexuelle«.54 Doch wie über so
viele andere Dinge herrscht auch hier eine große Verwirrung.
Unter den letzten beiden für Verwirrung sorgenden Punkten,
denen wir uns noch widmen wollen, ist einer, der vielleicht zu den
größten und bedeutendsten Fragen des ganzen Themenkomplexes
gehört. Diese Frage lautet: »Bedeutet homosexuell zu sein, sich zum
eigenen Geschlecht hingezogen zu fühlen, oder bedeutet es, Teil
eines großangelegten politischen Projekts zu sein?«
IST HOMOSEXUALITÄT POLITISCH?
Vor dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 in Großbritannien wurde
der Schauspieler Sir Ian McKellen gefragt, wie er denn abstimmen
werde. Die Schlagzeile über dem gedruckten Interview lautete:
»Brexit ergibt keinen Sinn für Schwule« In dem Artikel wurde Sir Ian
– der jahrzehntelang für grundlegende Rechte für Homosexuelle
gekämpft hat – als jemand, der die bevorstehende Abstimmung aus
homosexueller Perspektive betrachtet, mit den Worten zitiert: »Es
gibt nur einen sinnvollen Weg, nämlich, in der EU zu bleiben. Als
Schwuler ist man ohnehin internationalistisch eingestellt.«55 Folglich
waren alle, die der Meinung waren, homosexuell zu sein, und der
Meinung, für den Brexit zu stimmen, jahrelang auf dem falschen
Dampfer. Wie es oft der Fall ist, wurden über ähnliche Themen in
den Vereinigten Staaten weitaus erbittertere Kämpfe, um nicht zu
sagen Kriege ausgetragen.
Der 21. Juli 2016 hätte ein großartiger Tag für alle werden
können, die sich für Homosexuellenrechte engagieren. Damals
betrat Peter Thiel bei der Republican National Convention – die alle
vier Jahre stattfindende Versammlung, um die Kandidaten der
Republikanischen Partei für die Wahl zum Präsidenten und
Vizepräsidenten zu nominieren und das Parteiprogramm festzulegen
– in Cleveland, Ohio die Bühne.
Thiel war nicht der erste Homosexuelle, der vor den
Republikanern sprach, aber er war allein und thematisierte das
eigene Schwulsein. Der Mitgründer von PayPal und einer der ersten
Investoren in Facebook allerdings erwähnte ohne Umschweife seine
sexuelle Orientierung, nachdem er Donald Trump als
Präsidentschaftskandidaten der Republikaner empfohlen hatte: »Ich
bin stolz darauf, schwul zu sein. Ich bin stolz darauf, Republikaner
zu sein. Aber am meisten bin ich stolz darauf, Amerikaner zu sein.«
Die Delegierten brachen in Jubel aus. Noch ein paar Wahlkämpfe
zuvor wäre eine solche Reaktion undenkbar gewesen. Unter den
Mainstream-Medien, die Thiels Auftritt in einem positiven Licht
sahen, war der Fernsehsender NBC: »Peter Thiel schreibt beim
RNC Geschichte«, lautete die Schlagzeile.
Die Reaktion der Schwulenpresse fiel weit weniger positiv aus.
Das in den USA führende Schwulenblatt Advocate griff Thiel in
einem langen, kuriosen Beitrag an, der sich um dessen
Exkommunikation aus der Kirche der Schwulen drehte. Die
Überschrift lautete: »Peter Thiel macht uns den Unterschied
zwischen Schwulensex und Schwulsein klar«. Der Untertitel des von
Jim Downs, Professor für Geschichte am Connecticut College,
verfassten 1300-Wörter-Artikels stellte die Frage: »Gehört man noch
zu den LGBT, wenn man zahlreiche Aspekte der Queer-Identität
abstreift?« Downs räumte zwar ein, dass Thiel ein »Mann ist, der mit
Männern schläft«, fragte sich jedoch, ob er in jeder anderen Hinsicht
auch »schwul« sei. Weiter hieß es in dem Artikel, dass diese Frage
zugegebenermaßen Haarspalterei sei, aber: »Das ist tatsächlich ein
himmelweiter Unterschied, der sich gewaltig darauf auswirkt, was wir
über unsere Sexualität, Identität und Community denken.« Nachdem
sich der Autor über diejenigen lustig gemacht hat, die Thiels Rede
als Meilenstein der Schwulenbewegung – um nicht zu sagen als
»Fortschritt« – gefeiert hatten, kommt er zu seinem vernichtenden
Urteil: »Thiel ist ein Beispiel für Männer, die mit Männern schlafen,
aber keine Schwulen sind.
Denn er kämpft nicht Seite an Seite mit den Leuten, die ihre
Identität als einzigartig begreifen.« Als Beweisstück A für Thiels
Ketzerei führte Downs an, dass dieser in seiner Rede vor dem RNC
klargestellt hatte, sich nicht an den endlosen Debatten über Toiletten
für das dritte Geschlecht, wer welche Toiletten benutzen darf und wie
sie ausgestattet sein müssen, damit sich niemand diskriminiert fühlt,
beteiligen wolle. Auch wenn Thiel einräumte, nicht mit jedem Punkt
des republikanischen Parteiprogramms übereinzustimmen, sei er
aber der Ansicht, dass »Fake-Kulturkriege uns nur von der
wirtschaftlichen Talfahrt Amerikas ablenken«. Dann fuhr er fort: »Als
ich ein Kind war, drehte sich alles um die Frage, wie man die
Sowjetunion besiegen könnte. Und wir haben diesen Kampf
gewonnen. Jetzt heißt es, es geht dringlich darum, wer welche
Toilette benutzen darf. Doch das lenkt doch wirklich nur von unseren
eigentlichen Problemen ab. Wen juckt das schon großartig?« In
Cleveland stieß diese Aussage auf großen Zuspruch. Und wenn
man Meinungsumfragen trauen kann, dann kam sie auch im
restlichen Amerika gut an.
Es trifft definitiv zu, dass sich mehr US-Bürger Gedanken um
eine Wirtschaftsflaute machen als über Toiletten für das dritte
Geschlecht. Doch in den Augen von Advocate geht das zu weit.
Obwohl Thiel sein »Sexualverhalten« bekräftigte, wurde er doch für
schuldig gesprochen, »sich von der Identität als Homosexueller
abgespalten« zu haben. Mit seiner Meinung über die relative
Kurzlebigkeit des Themas Transgender-Toiletten »weist er das
LGBT-Konzept als eine kulturelle Identität, die durch politischen
Kampf geschützt werden muss, von sich«. Thiel wurde vorgeworfen,
er sei Teil einer Bewegung, die seit den 1970er-Jahren »nicht
annähernd so viel für die Ausbildung einer kulturellen Identität
unternommen hat, wie es ihre Vorgänger getan haben«. Der Erfolg
der Schwulenbewegung hätte sie offenbar von ihren »kulturellen
Aufgaben« abgehalten, was gefährlich sei, wie man an dem vor
Kurzem verübten Anschlag auf einen Schwulennachtclub erkennen
könne. Downs endete mit den Worten: »Die Schwulenbewegung hat
uns ein mächtiges Erbe hinterlassen, und wenn wir dieses schützen
wollen, muss uns die Bedeutung von ›homosexuell‹ bewusst sein.
Dann sollten wir wissen, dass es mehr ist als lediglich ein Synonym
für gleichgeschlechtliche Begierde und Intimität.«56
Fakt ist, das Massaker im Nightclub Pulse in Orlando im Juni
2016 wurde von einem jungen Muslim verübt, der sich zum
sogenannten Islamischen Staat (IS) bekannte. Doch dieses Detail
kümmerte weder den Advocate noch die Veranstalter des Gay-Pride-
Marsches in New York später im selben Monat. Die Parade wurde
von einem riesigen regenbogenfarbenen Banner angeführt, auf dem
in Großbuchstaben stand: »Der Hass der Republikaner tötet
Unschuldige!« Offensichtlich hatte man vergessen, dass der
Attentäter Omar Mateen kein Mitglied der Republikanischen Partei
war.
Es geht aber nicht nur darum, dass die selbsternannten
Organisatoren der »Schwulen-Community« eine bestimmte Meinung
zur Politik haben. Sie haben auch eine besondere Auffassung
darüber, was es bedeutet, schwul oder lesbisch zu sein. 2013 wurde
der Schriftsteller Bret Easton Ellis kritisiert und auf Drängen der
Schwulenorganisation GLAAD von der Veranstaltung des jährlichen
Medienpreises ausgeschlossen. Er war schuldig gesprochen
worden, sich per Twitter darüber ausgelassen zu haben, dass
Homosexuelle im Fernsehen meist als Idioten rüberkommen, was,
wie sich GLAAD ausdrückte, »von der Schwulen-Community negativ
aufgenommen wurde«.57 Dieser überkritische Tonfall – der jedem
Schulmeister zur Ehre gereicht hätte – ist der gleiche, den auch Pink
News anschlug und dabei keine Miene verzog, als das Magazin
2018 eine Liste mit zehn Regeln für Heteros aufstellte, »wie sie sich
in einer Schwulenbar verhalten sollen«.58 Die normale Reaktion auf
solche Regeln wäre: »Was zum Teufel glaubst du, wer du bist?«
Doch obwohl er so abgekanzelt worden war, weil er es gewagt hat,
das Falsche zu denken, gelang es Ellis, auf den Punkt zu bringen,
was einen Großteil des neuen Schwulenproblems ausmacht. Er
erklärte, dass es so weit gekommen sei, dass wir »unter der
Regentschaft des schwulen Mannes als magischer Elf leben, der,
wann immer er erscheint, sich uns als eine Art heiliger
Außerirdischer zeigt, und dessen einzige Aufgabe darin besteht, uns
über Toleranz und unsere eigenen Vorurteile zu belehren und uns
daran zu erinnern, dass wir uns gut fühlen sollen und ein Symbol zu
sein.«
Die Vorstellung eines magischen schwulen Elfen ist in der Tat
eine für die Gesellschaft annehmbare Möglichkeit, ihren Frieden mit
der Homosexualität zu schließen. Homosexuelle können inzwischen
ebenso heiraten wie Heterosexuelle, können vorgeben, Kinder auf
die gleiche Weise wie andere Paare zu haben, und allgemein unter
Beweis stellen – wie es Dustin Lance Black und Tom Daley auf
ihrem YouTube-Kanal tun –, dass Schwule harmlos sind und ihr
Leben damit verbringen, einfach nur nett zu sein und Cupcakes zu
backen. Wie Ellis es ausdrückte: »Der süße und sexuell harmlose
und supererfolgreiche Schwule ist anscheinend dafür bestimmt,
Heten in edelmütige Beschützer von Schwulen zu verwandeln –
solange der betreffende Schwule nicht schlampig ist oder sexuell
oder schwierig.«59 Das frühere Enfant terrible der amerikanischen
Belletristik hat seinen Finger in die Wunde gelegt.

GIBT ES VERNÜNFTIGE GRÜNDE FÜR


»HOMOPHOBIE«?
Nichts rechtfertigt Hass oder Gewalt gegen Einzelne oder gar
Gruppen. Doch zwischen absoluter Gelassenheit und einem
lockeren Umgang und dem Bedürfnis nach exzessiver Gewalt
existieren unzählige Abstufungen.
Tatsache ist, dass einige Heterosexuelle durch Schwule
verunsichert werden. Vielleicht geht das ja vielen, den meisten oder
sogar allen Heterosexuellen so. Ich will damit auf keinen Fall sagen,
dass sie eine Aversion gegen Schwule hätten, aber »eine gewisse
Unsicherheit« dürfte es schon treffen. Es wurde schon viel zu dem
Thema »Homophobie« geschrieben, doch lag dabei der Fokus auf
den falschen Rechtfertigungen, während die nachvollziehbaren
Gründe dafür ignoriert wurden, was vor allem auf Schwule und
weniger auf Lesben zutrifft. Aus allen möglichen historischen und
gesellschaftlichen Gründen wurde das Lesbentum – im Gegensatz
zur männlichen Homosexualität – nur selten als fundamentaler
Angriff auf die soziale Ordnung verstanden.
Das mag daran liegen, dass die Natur der männlichen
Homosexualität so beschaffen ist, dass etwas an ihr einen der
wichtigsten Aspekte der menschlichen Sexualität grundlegend
berührt, und zwar nicht nur von einigen Menschen, sondern von
allen.
Die grundlegenden Fragen, weshalb sich Frauen zu Männern
hingezogen fühlen und umgekehrt, sind noch nicht endgültig
beantwortet und werden es vielleicht niemals sein. Das
Annäherungsverhalten steckt voller Geheimnisse und Verwirrungen,
die von Anbeginn der Menschheit bis zur Gegenwart genug Stoff für
Komödien wie für Tragödien lieferten. Zahlreiche Fragen rund um die
Partnersuche und das zarte Anbändeln zwischen den Geschlechtern
sind nach wie vor offen, doch die wohl wichtigste stellt sich erst beim
Liebesspiel. Frauen wollen wissen, was Männer suchen, was sie
wollen und was sie beim Sex fühlen – sofern sie das überhaupt tun.
Immer wieder kommt dieses Thema zwischen Freundinnen zur
Sprache, ist es doch eine Quelle beständiger Sorge und
undefinierbarer Angst, zumindest in manchen (mitunter aber auch in
allen) Lebensphasen ab der Pubertät.
Sollte es etwas in unserer Gesellschaft geben, das auch nur
annähernd an die Verwirrung und Angst von Frauen, was Männer
betrifft, herankommt, dann ist das natürlich das Bündel von Fragen,
das Männer bezüglich Frauen mit sich herumtragen. Das Thema fast
aller Dramen, besonders von Komödien, ist die Unfähigkeit von
Männern, Frauen zu verstehen. Was in aller Welt denken sie? Was
wollen sie? Warum ist es so schwer, ihre Reaktionen zu verstehen?
Wieso wird vom Mann beim Sex erwartet, ihre Worte, Handlungen
und ihr Schweigen zu deuten, obwohl es kein Handbuch gibt, das
dabei helfen könnte?
Die grundlegenden Fragen und Bedenken heterosexueller
Männer sind letztlich die gleichen wie die der Frauen, und sie
machen sich die gleichen Gedanken über Sex: »Was hat es mit dem
Geschlechtsakt auf sich? Wie fühlt sich Sex für die andere Person
an? Was hat sie davon? Und wie passen die beiden Geschlechter
zusammen?«
Schon die Menschen des Altertums haben sich mit diesen
Fragen auseinandergesetzt. Sie klingen bei Platon an – besonders
in den Beiträgen von Aristophanes im Symposion. Doch keine dieser
Fragen wurde beantwortet. Das Mysterium besteht weiter, und aller
Voraussicht nach wird sich daran so schnell nichts ändern.
Genau an diesem Punkt kommt Unsicherheit mit ins Spiel, vor
allem durch die Anwesenheit männlicher Homosexueller. Denn bis
zur Entwicklung der plastischen Chirurgie für Menschen, die denken
im falschen Körper geboren worden zu sein (dazu später mehr),
waren die beunruhigendsten Reisenden zwischen den
Geschlechtern die männliche Homosexuellen. Nicht wegen eines
ausgeprägten femininen Anteils in ihrer Natur, sondern weil sie
etwas vom Geheimnis der weiblichen Sexualität kannten. Es handelt
sich um eine Frage – und eine Sorge –, die seit Jahrtausenden
besteht.
Denken wir an die Geschichte von Tiresias (griech.: Teiresias),
wie sie Ovid in seinen Metamorphosen schildert. Eines Tages
scherzen Jupiter und Juno über das Liebesspiel. Jupiter behauptet:
»Größer ist in der Tat die Lust, die ihr Frauen empfindet, als
diejenige, die den Männern zuteilwird.« Seine Gattin widerspricht.
Daher wendet sich das Götterpaar an Tiresias und bittet ihn um
seine Meinung, denn »kannte er doch die Liebe von beiden Seiten«.
Die Geschichte von Tiresias ist äußerst vielschichtig. Ovid schildert,
wie Tiresias auf ein Paar sich begattender Schlangen stieß und die
weibliche tötete. Daraufhin wurde er in eine Frau verwandelt und lebt
so sieben Jahre lang. Im achten Jahr traf Tiresias erneut auf ein
Paar Schlangen, tötete diesmal die männliche und wurde wieder
zum Mann. »Wenn ein Hieb auf euch so große Macht besitzt, das
Geschlecht des Schlagenden ins Gegenteil zu verkehren, so will ich
euch jetzt wieder schlagen.«
Jupiter und Juno fordern Tiresias auf, ihre Frage, wer das
Liebesspiel denn nun mehr genießt, ein für alle Mal zu beantworten.
Der Wanderer zwischen den Geschlechtern gibt Jupiter recht:
Frauen empfänden mehr Lust dabei. Da der wütenden Juno diese
Antwort missfällt, lässt sie Tiresias erblinden. Jupiter kann die
Bestrafung nicht rückgängig machen (kein Gott kann das Werk eines
anderen Gottes ungeschehen machen) und verleiht Tiresias
»anstelle des verlorenen Augenlichtes das Wissen um die Zukunft«
– mit dieser Gabe prophezeit der blinde Seher später das Schicksal
des Narcissus.60 Von den Göttern, Schlangen und sonstiger Staffage
abgesehen, wirft die Geschichte von Tiresias eine Frage von größter
Tiefe auf und bietet zugleich eine Antwort. Dabei geht es auch um
Schwule.
Auffallend wenige Menschen haben diese Frage aufgegriffen.
Einer dieser wenigen ist der Schriftsteller und (sicher nicht zufällig)
Altphilologe Daniel Mendelsohn, der sich in seinem 1999
erschienenen Buch The Elusive Embrace: Desire and the Riddle of
Identity mit ihr auseinandergesetzt hat. In dieser Mischung aus
Familiengeschichte und Lebenserinnerungen taucht er tief in dieses
Thema ein. Dazu, wie es ist, wenn zwei Männer miteinander Sex
haben, schreibt er:
Auf gewisse Weise erinnert es an die Geschichte von Tiresias; das ist der wahre
Grund, weshalb Schwule unheimlich sind, weshalb der Gedanke an Schwule verstört
und einen schaudern lässt. Alle heterosexuellen Männer, die bereits Erfahrung mit
dem körperlichen Akt der Liebe haben, wissen, wie es sich anfühlt, beim Liebesspiel
in seine Partnerin einzudringen, ins Innerste des anderen Körpers vorzudringen; alle
Frauen, die schon einmal Sex hatten, wissen, wie es sich anfühlt, wenn der Mann in
sie eindringt, wenn sie ihn tief in ihrem Inneren spüren. Doch der Schwule weiß in
dem Moment, in dem er in seinen Partner eindringt oder er in ihn, ganz genau, was
sein Partner fühlt und erfährt, auch wenn er selbst in dem Augenblick genau die
gegenteilige Erfahrung macht. Sex zwischen Männern löst die Andersartigkeit
zwischen ihnen auf und führt zur Gleichartigkeit […] in perfekter Auflösung: Es gibt
nichts, was der eine nicht vom anderen weiß. Lautet das emotionale Ziel des
Geschlechtsakts, alles über den anderen zu erfahren, dürfte Sex zwischen Schwulen
auf seine Weise perfekt sein, denn dieser Akt ermöglicht es, wirklich zu wissen, was
der Partner dabei empfindet. Doch da der Erkenntnisgegenstand beiden Partnern
bekannt ist, macht es den Akt an sich auf gewisse Weise redundant. Vielleicht ist das
der Grund, weshalb so viele Schwule auf Wiederholung setzen, als ob Tiefgang nicht
möglich wäre.

Mendelsohn erzählt dann von einem Gedicht, das ein Freund


geschrieben hat. Darin geht es um einen jungen schwulen Mann, der
Fußball spielenden Männern zuschaut, die er insgeheim und voller
Neid begehrt. Das Gedicht endet mit der lustvollen, imaginären
Beschreibung, wie die Fußballspieler Sex mit ihren Freundinnen
haben und wie einer von ihnen »durch das Verschmelzen mit ihr in
seine eigene Lust fällt«. Mendelsohn schreibt über seine
heterosexuellen Erfahrungen, als er noch jünger war, und räumt ein,
dass daran nichts Unangenehmes gewesen sei, es ihm aber
vorkam, als hätte er sich »für eine Sportart entschieden, ohne dafür
den richtigen Körperbau mitzubringen«. Er fährt fort:
Was ich noch über diese indifferenten Begegnungen weiß: Wenn Männer Sex mit
Frauen haben, verschmelzen sie mit der Frau. Sie ist das Objekt ihrer Begierde,
manchmal auch ihrer Angst, aber sie ist auf jeden Fall der Schlusspunkt, der Ort, an
den sie gehen. Sie ist das Ziel. Bei Schwulen ist das anders: Sie verschmelzen über
ihre Partner mit sich selbst, wieder und wieder.

Und weiter:
Ich hatte mit vielen Männern Sex. Vom Typ her haben sie sich nicht groß
voneinander unterschieden. Mittelgroß und eher gutaussehend. Die meisten dürften
blaue Augen haben. Aus der Distanz, von der anderen Straßenseite oder von der
anderen Seite des Raumes aus gesehen, wirken sie sehr ernst. Doch wenn ich sie in
meinen Armen halte, ist es, als ob ich durch eine Spiegelung in meine eigene
Begierde eintauche, in das, was mich ausmacht, in mich.61

Eine beeindruckende Erkenntnis, aber auch verstörend. Denn sie


legt den Schluss nahe, dass Homosexuellen immer etwas
Fremdartiges und potenziell Gefährliches anhaftet – vor allem
männlichen Homosexuellen. Und das liegt nicht nur daran, dass
Schwulsein ein sich stets wandelndes Element ist, auf dem die
Identität des Einzelnen ruht – wobei es richtig gruselig wird, wenn
darauf die Identität einer ganzen Gruppe ruhen soll –, sondern weil
Schwule immer eine Bedrohung von etwas darstellen, das einer
Gruppe innewohnt, die die Mehrheit der Gesellschaft darstellt.
Alle Frauen haben etwas an sich, das heterosexuelle Männer
begehren. Sie sind von einer Art Zauber umgeben, können diesen
Zauber aber auch selbst verströmen. Und hier ist der Knackpunkt:
Schwule scheinen in gewisser Weise in dieses Geheimnis
eingeweiht zu sein. Für manche mag das befreiend sein. Manche
Frauen lieben es, sich mit Schwulen über ihre Probleme mit
Männern zu unterhalten – auch über sexuelle.
So wie heterosexuelle Männer die Gesellschaft ihres
zweisprachig aufgewachsenen Kumpels genießen, der ihnen beim
Erlernen einer Fremdsprache helfen kann. Doch andere Menschen
verstört das. In ihren Augen sind Homosexuelle – vor allem schwule
Männer – immer die, die zu viel wissen.
ZWISCHENSPIEL
DIE MARXISTISCHEN GRUNDLAGEN

»Credo quia absurdum«


(»Ich glaube, weil es unvernünftig ist.«)

Tertullian zugeschrieben

Im Jahr 1911 wurde ein berühmtes Plakat veröffentlicht, das den


Titel »Die Pyramide des kapitalistischen Systems« trägt. Ganz unten
erblickt man die tapferen Männer, Frauen und Kinder der
Arbeiterklasse, auf deren Schultern das komplette Bauwerk ruht und
denen die Anstrengung ins Gesicht geschrieben steht, die aber
nichtsdestotrotz einen stolzen und belastbaren Eindruck machen.
»Wir arbeiten für alle« und »Wir ernähren alle«, steht links und
rechts von ihnen geschrieben, die den zwar niedrigsten, aber
tragendsten Teil des abgebildeten Systems bilden. Eine Ebene
höher sitzen Herren und Damen in Abendgarderobe, die sich Wein
und erlesene Speisen munden lassen. Das ist die Klasse der
wohlhabenden Kapitalisten, die ihren Wohlstand der Arbeiterklasse
und deren unermüdlichem Einsatz verdanken. Ihr Motto lautet: »Wir
essen für euch«. Auf der nächsten Stufe ist das Militär postiert (»Wir
schießen auf euch«), darüber die Geistlichen (»Wir täuschen euch«),
darüber die Monarchen und Staatsoberhäupter (»Wir herrschen über
euch«). Gekrönt wird die Pyramide von einem riesigen,
Dollarzeichen tragenden Geldsack, der als »Kapitalismus« benannt
ist und die höchste Stufe des Staates einnimmt.
Heute hat es eine Version dieser alten Abbildung mitten ins Herz
der Ideologie der sozialen Gerechtigkeit geschafft. Wie kann es sein,
dass auch bei dieser neuen Struktur noch immer die marxistischen
Grundlagen gelten? Weil der Kapitalismus noch immer ganz oben
auf der Pyramide der Unterdrückung und Ausbeutung thront.
Die anderen Ebenen allerdings besetzen nun andere Menschen.
Ganz oben in dieser Hierarchie haben diejenigen Platz genommen,
die weiß, männlich und heterosexuell sind. Sie müssen nicht
unbedingt wohlhabendsein, wenn sie es aber sind, macht das alles
noch schlimmer. Eine Ebene unter diesen tyrannischen Oberherren
sitzen die Minderheiten: allen voran die Homosexuellen, alle
Nichtweißen, sämtliche Frauen und Transgender. Diese Menschen
werden vom weißen, patriarchalischen, heterosexuellen
»Cisgender«-System kleingehalten, unterdrückt, ausgegrenzt oder
anderweitig zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Wie der Marxismus
die Arbeiter befreien und alle Menschen einer Gesellschaft am
Wohlstand teilhaben lassen wollte, verlangt die neue Version einer
alten Forderung, den patriarchalischen weißen Männern die Macht
zu entreißen und sie gerecht auf die entsprechenden Minderheiten
zu verteilen.
Zunächst wurde diese neue Ideologie von ihren Gegnern nicht
wirklich ernst genommen. Manche ihrer Forderungen schienen
einfach nur lachhaft und mehr noch voller Widersprüche in sich zu
sein, sodass schlüssige Kritik ausblieb. Doch das war ein Fehler.
Es handelt sich um eine Ideologie, die eindeutige ideologische
Vorläufer hat; dennoch ist es eine Ideologie, die – ganz gleich, was
man sonst über sie sagen kann – einen Filter bietet, der es
ermöglicht, die Welt zu verstehen einen Platz darin zu finden und
einen Sinn im Leben zu sehen.
Es überrascht nicht weiter, dass all die Akademiker, die Jahre
damit verbrachten, sich den Ideen zu widmen, wie besondere
Interessengruppen unter einem Dach zu vereinen seien, die gleichen
historischen Interessen haben.
Kein einziger Akademiker, der sich mit Identitätspolitik und
Intersektionalität befasst hat, ist den konservativen Rechten
zuzurechnen. Und dafür gibt es mehrere gute Gründe. Einer davon
ist der ideologische Knick in der akademischen Welt. Bei einer 2006
durchgeführten Studie über Universitäten zeigte sich, dass 18
Prozent der Professoren für Sozialwissenschaften sich gern als
»Marxisten« bezeichnen. Auch wenn die Zahl bekennender
Marxisten in anderen Fakultäten verschwindend gering ist, wirft die
Tatsache, dass in diesen Fachbereichen fast ein Fünftel aller
Professoren von einem höchst umstrittenen (harmlos ausgedrückt)
Dogma überzeugt sind, manche Frage auf. Dieselbe Studie fand
heraus, dass sich 21 Prozent der Professoren für
Sozialwissenschaften als »Aktivist« und 24 Prozent als »radikal«
verstehen.62 Diese Zahl ist wesentlich höher als die der Professoren
sämtlicher anderer Fachbereiche, die bereit sind, sich als
»Republikaner« zu bekennen.
Selbst wenn sie sich selber nicht so definieren würden, erkennt
man Marxisten und den postmarxistischen Trend im linken
politischen Spektrum an dem Kanon von Denkern, die sie zitieren
und verehren und deren Theorien auf alle universitären und
gesellschaftlichen Bereiche angewendet werden. Von Michel
Foucault haben diese Denker die Vorstellung, dass die Gesellschaft
eben nicht aus unendlich komplexen Systemen besteht, welche sich
über die Zeit aus Vertrauen und Traditionen gebildet haben. Sondern
sie betrachten alles in einem grellen, unversöhnlichen Licht, durch
das Prisma der »Macht«. Doch diese Sicht der Dinge verwirrt,
anstatt zu erklären, und führt zu einer unlauteren Interpretation unser
aller Leben. Keine Frage, es gibt so etwas wie Macht, und zwar
immer und überall, aber ebenso gibt es Wohltätigkeit, Vergebung
und Liebe. Fragen Sie Ihre Freunde und Bekannten, was in deren
Augen das Wichtigste im Leben ist. Nur die wenigsten würden
»Macht« nennen. Und das liegt nicht daran, dass sie ihren Foucault
nicht in- und auswendig kennen würden, sondern daran, dass es
geradezu abwegig ist, das Leben durch einen solch monomanischen
Zerrspiegel zu betrachten.
Nichtsdestotrotz hilft es bestimmten Menschen, solchen, die eher
Schuld statt Vergebung in der Welt sehen; und Foucault hilft, dies
alles zu erklären. Was Foucault und seine Anhänger über
persönliche Beziehungen zu sagen wissen, versuchen sie auch auf
höhere politische Ebenen zu übertragen. In ihren Augen ist wirklich
alles im Leben eine politische Entscheidung und ein politischer Akt.
Die Postmarxisten, die uns die moderne Welt erklären wollen,
betrachten diese nicht nur durch den Foucaultschen und
marxistischen Zerrspiegel. Von Antonio Gramsci haben sie gelernt,
Kultur als »hegemoniale Kraft« zu begreifen, die zu kontrollieren
mindestens so wichtig ist wie die Arbeiterklasse. Foucaults
Zeitgenossen Gilles Deleuze entnehmen sie die Vorstellung, dass es
Aufgabe des Einzelnen ist, das Netz zu durchblicken und zu
entflechten, das die Kultur, in die er hineingeboren wurde, um ihn
gesponnen hat. Und immer und überall lautet das Ziel –
übernommen von der französischen Literaturtheorie –, alles zu
»dekonstruieren«. Für die akademische Welt ist der Vorgang der
Dekonstruktion ebenso bedeutsam wie die »Konstruktion« für die
restliche Gesellschaft. Das Kuriose der akademischen Welt in den
letzten Dekaden ist in der Tat, dass es nichts gab, was sie nicht hätte
dekonstruieren wollen – von sich selbst einmal abgesehen. Der
Prozess der Dekonstruktion fand in einer Reihe von Fachbereichen
statt, in keinem jedoch ging er schneller und umfassender vonstatten
als in den immerfort Töchtergeschwüre bildenden
Sozialwissenschaften.
Studiengänge wie »Queer studies« (Studien zu sexuellen
Identitäten), »Women’s studies« (Frauenforschung), »Black studies«
(Studien zu Schwarzen) und dergleichen mehr arbeiteten in ihren je
eigenen Bereichen immer und überall daran, die gleichen Ziele zu
erreichen. Immer mit Bezug auf die gleichen, anscheinend
unverzichtbaren, Denker. In den vergangenen Jahrzehnten war es
oberste Priorität dieses akademischen Fachbereichs – wenn man so
will, die erste Entflechtung –, alles anzugreifen, zu unterminieren und
letzten Endes niederzureißen, was zuvor als sichere Erkenntnis galt,
und dazuzählte auch biologisches Wissen. Aus dem Wissen, dass
es zwei verschiedene Geschlechter gibt, wurde die These, dass es
zwei verschiedene Geschlechtsidentitäten – neudeutsch: Gender –
gibt. Von diesem Punkt war es nur ein kleiner Schritt zu einer –
zumindest in den Universitäten– weit verbreiteten Schlussfolgerung,
die da lautete, dass es in Wirklichkeit gar kein Gender gibt. Gender
ist folglich nichts Reales, sondern ein »soziales Konstrukt«. Vor
allem die Arbeiten von Judith Butler an der Universität Berkeley
fanden in diesem Kontext internationale Beachtung. Ihrer Ansicht
nach (vor allem in ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter,
1990) hat der Feminismus einen großen Fehler begangen, indem er
in Kategorien wie männlich und weiblich dachte. Beides, männlich
und weiblich, sei »kulturell bedingt«. Gender an sich sei eine »stets
wiederholte soziale Performance« und keinesfalls das Ergebnis
einer »vorrangigen Realität«. Zur gleichen Zeit fand in den »Black
studies« eine identische Forschung statt; man ging vor wie immer –
mit Orientierung an den gleichen Denkern –, man bestätigte, dass
Rasse – ebenso wie Gender – letzten Endes ein kulturelles
Konstrukt ist, »kulturell bedingt« und eine »stets wiederholte soziale
Performance«.
Kurze Zeit nachdem diese »Entflechtung« vollzogen war, wurde
ein neues Netz gesponnen – und das ist der Moment, in dem die
grundlegenden Schriften über soziale Gerechtigkeit und
Intersektionalität ins Spiel kamen. Nachdem der Raum geräumt
wurde, wurde klar, dass dieser Raum für ihre eigenen Ideen
hergerichtet worden war.
1988 veröffentlichte Peggy McIntosh vom Wellesley College (ihr
Forschungsschwerpunkt war »Women’s studies«) ihre Abhandlung
White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack (Weißes Privileg:
Den unsichtbaren Rucksack leeren). Ihre Arbeit ist weniger ein
Essay als vielmehr eine Auflistung zahlreicher Behauptungen, die
sich über ein paar Seiten erstrecken. McIntosh führt 50 Dinge an, die
sie für die »täglichen Auswirkungen der Privilegien von Weißen«
hält. Dazu gehören Behauptungen wie: »Wenn ich denn wollte,
könnte ich dafür sorgen, dass ich die meiste Zeit mit Menschen
meiner Hauptfarbe verbringe« oder: »Ich kann die meiste Zeit allein
einkaufen gehen und mir dabei ziemlich sicher sein, weder verfolgt
noch belästigt zu werden.«63
Viele von McIntoshs Behauptungen von 1988 scheinen heute
absurd und überholt. Zudem treffen die meisten eben nicht nur auf
Weiße zu, und nichts hält dem systemischen Nachweis stand, den
McIntosh eigentlich hatte erbringen wollen. Doch White Privilege ist
außergewöhnlich deutlich geschrieben und gipfelt in dem
unmissverständlichen Anspruch, dass wir alle gefordert sind, die
Privilegien anzuerkennen, die für uns und unser Leben gelten. Sie
führt aus, dass die Menschen, die von den existierenden
Machtstrukturen profitieren, dies keineswegs »verdient« hätten.
Weitaus wichtiger jedoch ist ihre Behauptung, dass unterschiedliche
Gruppierungen (einschließlich Menschen unterschiedlicher sexueller
Orientierung und unterschiedlicher Rassen) unter verschiedenen
»ineinandergreifenden Formen von Unterdrückung« leiden. Es ist,
als hätte man alle Fachbereiche, die sich mit gesellschaftlichen
Missständen befassen, in einem großartigen Seminar
zusammengefasst. In den Augen von McIntosh, Kimberlé Crenshaw
und anderen, die ähnliche Forderungen gestellt haben, müssen
diese ineinandergreifenden Formen von Unterdrückung
herausgearbeitet werden. Immer hat man den Eindruck, dass, hat
man diese erst einmal entwirrt, etwas Wunderbares geschehen wird,
auch wenn – wie das bei Utopien häufig der Fall ist – der Wegweiser
nicht im Plan inbegriffen ist. Dennoch drängt McIntosh die
Menschen, »sich täglich bewusst zu machen«, mit welcher Art von
Privileg wir es zu tun haben, und zu versuchen, unsere »willkürlich
verteilte Macht dafür einzusetzen, Machtsysteme auf einem
breiteren Fundament neu zu errichten«. Das lässt den Schluss zu,
dass McIntosh prinzipiell nichts gegen Macht einzuwenden hat,
sondern sie diese lediglich unter anderen Vorzeichen umverteilen
möchte. In normalen Zeiten wäre kein Sterbenswörtchen über ihre
schwammig formulierten Forderungen nach draußen gedrungen, sie
wären innerhalb der Mauern von Wellesley geblieben. Und
vermutlich kursierten sie jahrzehntelang ausschließlich in
akademischen Kreisen. Doch White Privilege hat es in unsere
verrückte Zeit geschafft – in eine Zeit, in der alles infrage gestellt und
neu erklärt wird. Und es stellte sich heraus, dass, so simpel der
Aufruf war, die einfache Forderung, sich Machtverhältnisse und
Privilegien bewusst zu machen und die Macht neu zu verteilen, in
Zeiten intellektueller Verwirrung sehr effizient war.
Andere arbeiteten zur gleichen Zeit an ebendiesen Themen,
wenn auch aus einer etwas anderen Perspektive. Einer der
führenden Postmarxisten, der Argentinier Ernesto Laclau (er
verstarb 2014), verbrachte die 1980er-Jahre damit, sich einigen
Problemen zuwidmen, von denen man, wie er erkannte, sagen
könnte, dass sie sich herauskristallisierten. Gemeinsam mit seiner
Frau und Co-Autorin Chantal Mouffe verfasste er eine der ältesten
Quellen der – wie sie später genannt wurde – Identitätspolitik. In
ihrem 1985 erschienenen Buch Hegemonie und radikale
Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus beginnen sie damit,
dass sie einräumen, dass der Sozialismus durch das »Aufkommen
neuer Widersprüche« infrage gestellt wurde. Der »traditionelle
Diskurs des Marxismus«, so die Autoren, habe sich »auf den
Klassenkampf fokussiert« und auf »die Widersprüche des
Kapitalismus«. Nun jedoch müsse das Konzept des
»Klassenkampfes« neu geschrieben werden, weshalb sie die Frage
aufwerfen:
In welchem Umfang ist es notwendig geworden, das Konzept des Klassenkampfes
zu modifizieren, um mit neuen politischen Themen – Frauen, nationale, ethnische
und sexuelle Minderheiten, Anti-Atomkraft- und institutionskritischen Bewegungen et
cetera – von eindeutig antikapitalistischem Charakter umgehen zu können, deren
Identität jedoch nicht auf bestimmte »Klasseninteressen« ausgerichtet ist?64

Es sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich keineswegs um


einen Text aus zweifelhaften Quellen handelt, sondern um einen
Text, der regelmäßig zitiert wird. Google Scholar verzeichnet mehr
als 16 000 Anfragen danach. In Hegemonie und radikale
Demokratie, aber auch in anderen Werken, darunter Socialist
Strategy: Where Next? (Sozialistische Strategie: Wo als Nächstes?),
legen Laclau und Mouffe schonungslos dar, was ihrer Meinung nach
wie erreicht werden könnte. Die Tatsache, dass der Kapitalismus
noch existiert, ist kein Beweis dafür, dass dem für alle Zeiten so sein
wird. Das Scheitern des Projekts bis heute stellt, wie Laclau und
Mouffe postulieren, lediglich klar, dass noch mehr Widersprüche
vorhanden sind, die es zu lösen gilt. Darunter beispielsweise die
Tatsache, »dass im späten Kapitalismus andere Bedingungen für
politische Auseinandersetzungen gelten als im 19. Jahrhundert«.65
Dazu gehört die Einbeziehung anderer Gruppierungen.
Selbstverständlich ist den beiden bewusst, dass diese neuen
Bewegungen ihrerseits Widersprüchlichkeiten aufweisen, weshalb
sie fortfahren, dass »die subjektive Klassenpolitik weißer Arbeiter«
von »einer rassistischen oder antirassistischen Mentalität
überdeterminiert« werden könnte, die wohl eine »wichtige Rolle für
den politischen Kampf von Gastarbeitern spielen kann«.66 Die
Autoren behandeln diese Problematik sehr ausführlich, sind sich
aber völlig unklar darüber, wie sich solch komplexe
Problemstellungen lösen lassen. Immer wieder ist in ihrer Arbeit die
Rede von »bestimmten Aktivitäten« und »organisatorischen
Formen«, und immer wieder taucht das Wort »teilweise« auf.67
Laclau und Mouffe halten sich zwar sehr bedeckt, was ihre zahllosen
Rückschlüsse anbelangt, doch bei einer Sache sind sie sich sicher:
»Neue soziale Bewegungen« wie die Frauenbewegung sollen für
den sozialistischen Kampf genutzt werden.
Der Grund dafür liegt auf der Hand. Diese neuen Bewegungen
»kämpfen an den unterschiedlichsten Fronten: Städtebau,
Umweltschutz, antiautoritär und antiinstitutionell, feministisch und
antirassistisch, ethnisch, regional oder sexuelle Minderheiten«, und
sie alle verleihen der sozialistischen Bewegung neuen Sinn und
Schwung und die dringend benötigte Energie. Es könnte jedoch
sein, dass diese Gruppierungen ihre eigenen Absichten und eigenen
Bedürfnisse im Blick haben, außer sie schließen sich zusammen.
Deshalb gilt es, all diese Bewegungen unter einem Dach zu vereinen
– dem Dach des sozialistischen Kampfes. Des Weiteren führen
Laclau und Mouffe aus, »was uns an diesen neuen sozialen
Bewegungen interessiert«, und erklären, »wie es dazu kommt, dass
wir uns vorstellen können, dass diese Bewegungen zu einer
Ausweitung der demokratischen Revolution und hin zu einer ganzen
Reihe neuer sozialer Beziehungen führen. Und die ihnen
zugesprochene Neuartigkeit gründet in der Tatsache, dass sie neue
Formen der Unterordnung infrage stellen.«68
In ihrem Artikel in Marxism Today, in dem Laclau und Mouffe ihr
Buch ankündigten, waren sie sich noch sicherer, wofür diese
Bewegungen eingesetzt werden könnten. Denn auch wenn sie sich
den gleichen Dingen widersetzten, wie es die Sozialisten taten,
wiesen diese »neuen politischen Subjekte« (»Frauen, Studenten, die
Jugend, Rassen-, sexuelle und regionale Minderheiten sowie
unterschiedliche antiinstitutionelle und ökologische Bewegungen«)
offensichtliche unmittelbare Vorteile auf. Ein grundlegender ist:
Ihr Feindbild wird nicht vom Ausmaß der Ausbeutung definiert, sondern durch das
Ausüben einer gewissen Macht. Und diese Macht hat ebenfalls nichts mit dem
jeweiligen Platz innerhalb einer Produktion zu tun, sondern ist die Folge einer
bestimmten Form der sozialen Organisation, wie sie typisch für die derzeitige
Gesellschaft ist. Diese Gesellschaft ist zwar eine kapitalistische, aber das ist nicht ihr
einziges Merkmal; sie ist zudem sexistisch und patriarchalisch, und erst recht
rassistisch.69

Laclau und Mouffe legten zudem dar, dass sie versuchten, eine neue
Klasse »Ausgebeuteter« zu finden oder zu schaffen. Die
Arbeiterklassen mögen zwar ausgebeutet worden sein, aber sie
waren nicht in der Lage, diese Tatsache anzuerkennen. Zudem
hatten sie ihre Theoretiker im Stich gelassen und es generell
versäumt, dem Pfad des Fortschritts zu folgen, der sich vor ihnen
aufgetan hatte. Für Laclau und Mouffe war der Fortschritt
offensichtlich und zog sich durch die Zweite Internationale, den
Bruch mit dem Leninismus, die Komintern, betraf aber auch Antonio
Gramsci, Palmiro Togliatti und die Komplexitäten des
Eurokommunismus. Doch nicht jeder teilte ihre Sicht der Dinge.
Jedenfalls konnten die Arbeiter, die Grund zur Enttäuschung
gegeben hatten, wenn nicht ersetzt, so wenigstens an Bord geholt
werden.
Als Laclau und Mouffe an ihrem Buch schrieben, war ihnen
bewusst, wie demoralisiert die Linke zum Großteil war. Budapest,
Prag, Vietnam und Kambodscha (um nur ein paar ihrer eigenen
Beispiele aufzuzählen) hatten ihre Spuren hinterlassen und brachten
so manchen Sozialisten ins Taumeln. Doch dieser »ganzen Reihe
positiver neuer Phänomene« wohnte eine neue Energie inne, die,
das war für Laclau und Mouffe offensichtlich, eine dringende
»theoretische Neubetrachtung« erforderlich machte:
Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung, die Protestbewegungen ethnischer,
nationaler und sexueller Minderheiten, die antiinstitutionellen ökologischen Proteste,
die von Randgruppen der Bevölkerung angeführt wurden, die Anti-Atomkraft-
Bewegung, die atypischen Formen sozialer Kämpfe in Ländern der kapitalistischen
Peripherie – all diese Dinge implizieren eine Erweiterung der gesellschaftlichen
Konfliktträchtigkeit in zahlreiche Bereiche, was das Potenzial, aber nur das Potenzial,
schafft, sich in Gesellschaften zu wandeln, in denen mehr Freiheit, mehr Demokratie
und mehr Gleichheit vorherrschen.70
Der springende Punkt ist, dass diese neuen Gruppierungen nützlich
sein können. Freilich sind diejenigen, die ihrem Rat gefolgt sind und
versucht haben, all diese Gruppierungen zu einen, auf eine Reihe
von Problemen gestoßen. Abgesehen vom vermeintlichen
Rassismus der Arbeiterklasse haben die Experten für
Dekonstruktion in den 1980er- und 1990er-Jahren für neue
Spannungen gesorgt. War es, nachdem »Critical race theory«
(Kritische Rassentheorie) und »Gender studies«
(Geschlechterstudien) ihre Arbeit getan und ein Umdenken bewirkt
hatten, zum Beispiel nicht sonderlich schwer zu erklären, weshalb
Dinge, die starr und fix schienen (vor allem das Geschlecht und die
Rasse), tatsächlich soziale Konstrukte waren, während andere
Dinge, die eher als fließend gesehen wurden (wie die Sexualität),
nun als starr und eindeutig festgelegt schienen?
Sofern diese Fragen überhaupt jemanden aufgehalten haben,
dann nicht für lange Zeit. Wenn etwas typisch für marxistische
Denker war und ist, dann, dass sie Widersprüche nicht ins
Straucheln bringen oder dazu führen, dass sie sich selbst infrage
stellen, wie es jemand auf der Suche nach Wahrheit tun würde.
Marxisten haben sich schon immer auf Widersprüche gestürzt. Die
Hegel’sche Dialektik entwickelt sich allein durch
Widersprüchlichkeiten weiter, weshalb alle Komplexitäten – man
könnte auch von Absurditäten sprechen –, die sich des Weges
ergeben, voller Freude angenommen werden, sodass man den
Eindruck gewinnen könnte, sie würden der Sache dienen und sie
nicht aufhalten. Jeder, der gehofft hatte, diese Intersektionalität
würde sich inmitten der ihr innewohnenden Widersprüchlichkeiten
auflösen, muss die unzähligen Widersprüche, mit denen ein Marxist
gut und gerne leben kann, schlichtweg nicht bemerkt haben.
Ihre in der Identitätspolitik und Intersektionalität angesiedelten
ideologischen Kinder scheinen damit zufrieden zu sein, einen
ideologischen Raum für sich zu beanspruchen, der voller
Widersprüche, Absurditäten und Heucheleien steckt. Eines der
grundlegendsten Erkenntnisse aus »Women’s studies« und der
feministischen Forschung lautete, dass man den Aussagen von
Missbrauchsopfern Glauben schenken sollte. Folglich sollten
Frauenstudien und die feministische Forschung die Grundlage bilden
für Diskussionen über Vergewaltigung, Missbrauch, häusliche
Gewalt und sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen.
Doch als ein Doktorand von Avital Ronell von der NYU [New York
University] 2017 eine sogenannte Title-IX-Klage gegen sie einreichte
und sie der sexuellen Nötigung bezichtigte, standen ihr zahlreiche
Kollegen aus ihrem akademischen Umfeld zur Seite. Neben Slavoj
Žižek und anderen unterzeichnete auch Judith Butler einen Brief an
den Präsidenten der NYU, in dem sie die Nachforschungen gegen
Ronell ablehnten, auf ihren tadellosen Charakter (»ihren Anstand,
ihren scharfen Verstand«) verwiesen und versuchten, den Ruf des
männlichen Opfers in den Dreck zu ziehen. Zudem verteidigten sie
Ronells Betreuungsstil mit einem Verweis auf ihre intellektuelle
Brillanz und ihren internationalen Ruf.71
All dies legte den Schluss nahe, dass Missbrauchsvorwürfe
grundsätzlich ernst zu nehmen sind – außer das Opfer ist ein Mann
oder beim Beschuldigten handelt es sich um eine Professorin für
feministische Literaturtheorie. Keine Frage, mit solchen
Widersprüchen muss ein für alle Mal aufgeräumt werden.
Im Vergleich dazu wurde jeder mit erstaunlicher Kraft
niedergewalzt, der sich gegen eine solche Vorgehensweise stellte.
Es war nur allzu leicht, zu den Waffen (sprich den Rassismus-,
Sexismus-, Homophobie- und letzten Endes auch noch
Transphobievorwürfen) zu greifen. Und selbst wer unfairer- oder
leichtfertigerweise oder grundlos zu diesen Waffen griff, hatte nichts
zu befürchten. Kritikern, darunter auch Wissenschaftler, dieser
»Lehrmeinung« wurde vorgeworfen, sie handelten aus niedrigen
Beweggründen. Wie Steven Pinker 2002 schrieb: »Viele Autoren
sind so darauf versessen, jede Mutmaßung, es könnte eine
angeborene menschliche Konstitution geben, im Keim zu ersticken,
dass sie Logik und Anstand über Bord werfen […]. In der Regel wird
die Analyse von Ideen durch politische Unterstellungen und
persönliche Angriffe ersetzt […]. Die Verleugnung der menschlichen
Natur ist über die Grenzen der wissenschaftlichen Welt
hinausgedrungen und hat zu einer Trennung zwischen Geistesleben
und gesundem Menschenverstand geführt.«72
Ganz offensichtlich! Große Bereiche der wissenschaftlichen Welt
hatten sich von ihrem eigentlichen Zweck verabschiedet, die
Wahrheit zu erkunden, zu erforschen und zu verbreiten. Stattdessen
verfolgten sie nunmehr den Zweck, eine ganz bestimmte,
eigenartige Politik zu schaffen, zu kultivieren und zu propagieren.
Sie verschrieben sich nicht mehr dem Geistesleben, sondern dem
Aktivismus.
Diese Tatsache wurde in vielerlei Hinsicht verraten. Zu meinen,
indem so getan wurde, als wären diese akademisch-politischen
Behauptungen nichts Geringeres als eine seriöse Wissenschaft. In
all den Jahrzehnten, in denen die Sozialwissenschaften die
Grundlagen der Intersektionalität lieferten, präsentierten sie ihre
Thesen, als ob in ihrem Namen der Begriff »sozial« nicht vorkäme
und als ob es sich tatsächlich um eine »Wissenschaft« handelte.
Auch hier erlagen sie einer Verzerrung, die über Nikolai Bukharin,
Georgi Plekhanov und die Zweite Internationale direkt zu Marx
führte. In all diesen Fällen wurden ihre Theorien so dargestellt, als
ob sie wissenschaftlich fundiert wären, was sie faktisch nicht waren.
Letzten Endes waren sie nicht einmal politischer Natur, sondern fast
schon Magie. Sie machten uns etwas vor und verkauften es als
Wissenschaft.
Eine andere Seltsamkeit der Intersektionalitätsbewegung ist das
Setzen auf »Verschleierungstaktiken«. Abgesehen von McIntoshs
bekannter Arbeit weisen alle Anhänger der Ideologien über soziale
Gerechtigkeit und Intersektionalität eine Gemeinsamkeit auf: Ihre
Werke sind schwer zu lesen, um nicht zu sagen unverständlich. Ihr
Schreibstil ist bewusst sperrig und wird in der Regel von denen
eingesetzt, die entweder nichts zu sagen haben oder davon
ablenken wollen, dass das, was sie sagen wollen, nicht den
Tatsachen entspricht. Lassen Sie sich folgenden Absatz von Judith
Butler einmal auf der Zunge zergehen:
Der Schritt von einer strukturalistischen Erklärung, nach deren Verständnis das
Kapital soziale Beziehungen auf relativ homologe Weise strukturiert, zu einer
hegemonialen Ansicht, nach der Machtbeziehungen Wiederholung, Konvergenz und
Reartikulation unterworfen sind, führte die Frage der Temporalität in die
Überlegungen zur Struktur ein und markierte einen Wechsel von einer Form
Althusser’scher Theorie, die strukturelle Totalitäten als theoretische Objekte begreift,
zu einer Theorie, in der die Einsichten in die kontingente Möglichkeit von Struktur ein
erneuertes Konzept von Hegemonie erschließen, das mit den kontingenten Orten
und Strategien der Reartikulation von Macht verknüpft ist.73

Einer so schlechten Prosa bedient man sich nur, wenn man als Autor
etwas zu verbergen versucht. Ein theoretischer Physiker wie
Sheldon Lee Glashow kann sich das unverständliche Kauderwelsch
der Sozialwissenschaften nicht leisten. Er ist gefordert,
außergewöhnlich komplexe Erkenntnisse in einer möglichst
einfachen und klaren Sprache zu kommunizieren. Wenn er die
neueste Behauptung der Stringtheorie analysiert, kommt er
beispielsweise zu dem Schluss, dass sie »keine unserer Fragen
klärt, nichts Genaues aussagt, sich aber auch nicht falsifizieren
lässt«. Wie Peter Woit mit ungewohnter Schärfe bemerkte, »ist eine
Behauptung, die nichts Genaues aussagt, einfach nur falsch,
weshalb man eine andere aufstellen sollte«.74 Schon möglich, dass
es in den Naturwissenschaften eine derartige Klarheit und auch
Ehrlichkeit noch gibt. Doch in den Sozialwissenschaften sind diese
Eigenschaften – sofern es sie je gegeben hat – tot. Übrigens, hätten
Wissenschaftler, die sich mit »Women’s studies«, »Queer studies«
und »Race studies« befassen, etwas anderes ausprobiert, wenn ihre
Thesen nichts Genaues aussagten oder sich als falsch erwiesen,
wären die Universitätsgebäude der Sozialwissenschaften wie
leergefegt.
Dennoch haben die Verfechter von Theorien der sozialen
Gerechtigkeit ihren Job gemacht und ganze Bibliotheken mit (wenn
auch wenig verständlichen) Arbeiten gefüllt, die den intellektuellen
Rahmen darstellen, aus dem sich politische Positionen und
politisierte Forderungen ableiten lassen. Jeder, der die Behauptung,
Gender oder Rasse seien soziale Konstrukte, in irgendeiner Weise
für sinnvoll erachtet, kann sie mit einer ganzen Bibliothek von Zitaten
stützen und unzählige unkündbare Akademiker zitieren, die diese
These »beweisen« können. X wird zum Halbgott stilisiert, was dann
Thema einer Studie von Y wird, und dann dauert es in der Regel
nicht mehr lang, bis Z dazukommt und über die Reartikulation der
Temporalität, wie sie ein Althusser’scher Vergleich ihrer Arbeiten
demonstriert, schreibt. Einem Studenten, der sich die Frage stellt, ob
die Welt wirklich so funktioniert, werden sofort unzählige Beweise
um die Ohren geschlagen, dass er selbst schuld ist, wenn er dieses
Kauderwelsch nicht versteht, nicht der Verfasser eines solchen
Geschwafels. Fakt ist, wenn es kaum möglich ist zu verstehen, was
eigentlich ausgesagt werden soll, kann einfach alles gesagt werden.
Unter dem Deckmantel der Komplexität lassen sich auch die
verlogensten Argumente hineinschmuggeln. Das ist einer der
Gründe, weshalb Butler und andere einen so grauenhaften Stil
pflegen. Würden sie sich klar und deutlich ausdrücken, würde ihnen
mehr Empörung entgegenschlagen oder ihre Arbeiten würden ins
Lächerliche gezogen. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb es in
diesem Bereich so schwer ist, zwischen Ernst und Satire zu
unterscheiden. Die in den letzten Jahren von den
Sozialwissenschaften aufgestellten Thesen sind dermaßen
realitätsfremd, dass sie, wie sich zeigte, weder die Chance hatten,
Eindringlinge, die es über ihre Mauern hineingeschafft hatten, zu
entdecken, geschweige denn diese abzuwehren. Eine der schönsten
Geschichten der letzten Jahre war die über das Paper »The
Conceptual Penis as a Social Construct« (»Der konzeptionelle Penis
als soziales Konstrukt«). Diese wissenschaftliche Arbeit wurde 2017
veröffentlicht und empfahl:
Der Penis vis-à-vis Männlichkeit ist ein inkohärentes Konstrukt. Wir sind der
Überzeugung, der konzeptionelle Penis sollte besser nicht als anatomisches Organ,
sondern als gender-performatives, in höchstem Maße fließendes soziales Konstrukt
verstanden werden.75

Diese These wurde in einem wissenschaftlichen Magazin namens


Cogent Social Sciences peer-reviewed und veröffentlicht. Das
einzige Problem war, dass es sich um einen Scherz von Peter
Boghossian und James Lindsay handelte, beides Wissenschaftler,
die sich tief in die akademische Literatur unserer Zeit versenkt
hatten. Nachdem die Autoren zugegeben hatten, dass es sich um
einen Scherz handelt, zog das Magazin die Veröffentlichung zurück.
Doch die Täter wiederholten diese Übung seitdem noch einige Male
bei anderen wissenschaftlichen Magazinen.
Mit der Unterstützung von Helen Pluckrose gelang es den beiden
Akademikern 2018, eine Arbeit mit dem Titel »Human Reactions to
Rape Culture and Queer Performativity at Urban Dog Parks in
Portland, Oregon« (»Menschliche Reaktionen auf die
Vergewaltigungskultur und Queer-Performativität in städtischen
Hundeparks in Portland, Oregon«) in einem Journal für
»Feministische Geografie« zu publizieren, in der sie die These
aufstellten, Hunde, die sich in den Parks von Portland besteigen,
seien ein weiterer Beweis »der Vergewaltigungskultur«, von der viele
Akademiker und Studenten inzwischen behaupteten, sie wäre der
Filter, durch den die meisten unsere Gesellschaft wahrnähmen. Ein
weiterer, in einem Journal für »Feministische Sozialarbeit«
erschienener Artikel trug den Titel »Our Struggle is My Struggle«
(»Unser Kampf ist mein Kampf«). Den Witzbolden war es gelungen,
Passagen aus Hitlers Mein Kampf und Textpersiflagen der
feministischen Theorie zur sozialen Gerechtigkeit
zusammenzuschneiden und als akademische Studie zu verkaufen.
In einem dritten Artikel, der in der Fachzeitschrift Sex Roles
erschien, behaupteten die Verfasser, sie hätten mithilfe einer
»thematischen Analyse von Tischgesprächen« eine zweijährige
Studie durchgeführt, um herauszufinden, weshalb heterosexuelle
Männer gerne in einem Restaurant der Systemgastronomiekette
Hooters essen.76 Davon abgesehen, dass die Veröffentlichungen
rasch zurückgezogen wurden, nachdem der Schwindel aufgeflogen
war, bestand die Reaktion der akademischen Kreise darin zu
versuchen, Boghossian seines Lehrstuhls zu entheben. Die Scherze
von Boghossian und seinen Kollegen verdeutlichen eine Reihe
absolut ernst zu nehmender Punkte. Nicht nur, dass diese
wissenschaftlichen Forschungsgebiete zur Spielwiese von
Betrügereien geworden waren, sondern dass es nichts, wirklich rein
gar nichts gab, was nicht gesagt, gelehrt oder behauptet werden
konnte, solange es zu den bereits ausgearbeiteten Theorien und
Annahmen der entsprechenden Fachbereiche passte und sich deren
desaströser Fachsprache bediente.
Solange die Verfasser solcher Thesen bereit waren,
gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass wir in einer
patriarchalischen Gesellschaft leben, in einer
»Vergewaltigungskultur«, einer homophoben, transphoben und
rassistischen Kultur; solange sie die Gesellschaft angreifen, von der
sie selbst ein Teil sind, und solange sie sich in bewunderndem Ton
über andere Gesellschaften (aus einer gecheckten und für gut
befundenen Liste) äußern und dabei ihr gesundes Halbwissen
preisgeben, so lange kann wirklich (fast) alles behauptet werden.
Solange an die Pyramide der Unterdrückung geglaubt und sie
propagiert wird, findet fast alles seinen Weg in den Bildungskanon
unverständlicher und vornehmlich unzitierter akademischer Arbeiten.
Der größte Fehler war jedoch nicht, dass so etwas jahrelang in
mit öffentlichen Mitteln finanzierten Institutionen möglich war. Der
größte Fehler bestand darin, nicht zu realisieren, dass sich die
Früchte ihrer Arbeit unter der restlichen Gesellschaft verbreiten
würden. In den Richtlinien der American Psychological Association
von 2018, die beinhalten, wie seine Mitglieder die »traditionelle
Maskulinität« von Jungen und Männern behandeln sollten, heißt es:
Es gilt als gesicherte Erkenntnis, dass es weniger häufig zu sexistischem Verhalten
von Männern kommt, dafür aber vermehrt zur Teilnahme an Aktivitäten, die unter
dem Motto »soziale Gerechtigkeit« stehen, wenn sie sich ihrer Privilegien und der
schädlichen Einflüsse von Überzeugungen und Verhaltensweisen bewusst sind, die
darauf abzielen, patriarchalische Machtstrukturen aufrechtzuerhalten.77

Ach was. Könnten Jungen nur realisieren, dass ihr Geschlecht eher
»performativ« und nicht »natürlich« ist, könnten sie zu Männern
heranwachsen, die eine größere Rolle für die soziale Gerechtigkeit
spielen und letzten Endes genau das erreichen, wovon Laclau,
Mouffe und eine Generation anderer Fundamentalisten schon immer
geträumt haben.
KAPITEL 2
FRAUEN

In seinem 2002 erschienen Buch Das unbeschriebene Blatt führte


Steven Pinker aus, dass Gender inzwischen zu einem brisanten
politischen Thema geworden sei. Dennoch gab er sich
zuversichtlich, dass sich die wissenschaftliche Sichtweise
durchsetzen würde. Über mehrere Seiten ging er auf einige der
biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau ein,
beispielsweise »dass Männer ein größeres Gehirn mit mehr
Neuronen (wobei er den Faktor Körpergröße bereits
herausgerechnet hatte) haben«, während bei Frauen »der
prozentuale Anteil grauer Substanz größer« sei. Zudem sprach er
davon, dass viele der psychologischen Unterschiede zwischen den
Geschlechtern genau dem entsprechen, was ein Evolutionsbiologe
erwarten würde (Männer sind im Schnitt größer als Frauen, da ihre
Evolutionsgeschichte von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit
ihren Geschlechtsgenossen geprägt ist).78
Außerdem ging er auf die unterschiedliche Entwicklung des
Gehirns bei Jungen und Mädchen ein und darauf, wie sich
Testosteron und Androgene auf das Gehirn auswirken, und kam
damit ganz in die Nähe eines künftig brisant diskutierten Problems.
Im Prinzip holte er mit seinem Buch zu einem anregenden
wissenschaftlichen Schlag gegen die Leute aus, die behaupteten, es
gäbe keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, und schrieb:
»Es sieht nicht gut aus für die Theorie, dass Jungen und Mädchen
identisch zur Welt kommen und sich lediglich durch ihre
Geschlechtsorgane unterscheiden, alle anderen Unterschiede aber
rein gesellschaftlich bedingt sind.«79
Keine zwei Jahrzehnte später hatte sich diese Theorie tatsächlich
in weiten Kreisen durchgesetzt. Die Fakten sprechen eindeutig für
Pinker, nicht aber der gesellschaftliche Konsens. Seit Pinker Das
unbeschriebene Blatt geschrieben hat, gibt sich unsere Gesellschaft
dem Irrglauben hin, dass biologische Unterschiede – einschließlich
unterschiedlicher Begabungen – beiseitegeschoben, abgestritten
oder ignoriert werden können. Das gilt ebenso für soziale
Unterschiede. Eltern wissen, dass sich ihre Söhne und Töchter sehr
wohl voneinander unterscheiden, aber unsere Kultur erklärt ihnen,
dass es entweder keine Differenzen gibt oder es sich um rein
»performative« handelt.
Die Nebenwirkungen dieses und anderen Unsinns sind toxisch.
Die meisten Menschen sind nicht homosexuell. Männer und Frauen
müssen einen Weg finden, miteinander auszukommen. Dennoch ist
der gesellschaftliche Selbstbetrug in Bezug auf die biologische
Realität nicht der einzige seiner Art. Schlimmer aber ist, dass wir
begonnen haben zu versuchen, unsere Gesellschaft nicht etwa
entlang wissenschaftlich bewiesener Fakten neu zu ordnen, sondern
auf der Grundlage politischer Unwahrheiten, die uns von Aktivisten
der Sozialwissenschaften vor die Füße geworfen wurden. Von all
den Dingen, die unsere Gesellschaft verwirren, ist alles, was mit den
Geschlechtern – vor allem aber mit der Beziehung zwischen den
Geschlechtern – zu tun hat, das Verwirrendste. Denn die Fakten sind
nicht zu übersehen. Und doch sind wir gehalten, sie zu ignorieren.
Gelingt uns das nicht, wird zumindest erwartet, Stillschweigen
darüber zu bewahren.

***
Wir schreiben das Jahr 2011, Zeit für die alljährliche Preisverleihung
der Independent Spirit Awards in Santa Monica (AdÜ: Preise für
Hollywood-unabhängige Filmproduktionen).
Gegen Ende eines Abends endloser Selbstbeweihräucherung
kommen Paul Rudd und Eva Mendes auf die Bühne, um den
Gewinner der Auszeichnung für das beste Drehbuch bekannt zu
geben. Mendes (damals 36) erklärt dem Publikum, dass sie und
Rudd (damals 41) eigentlich einige lustige Einlagen auf der Bühne
vorführen wollten, aber leider müsste das aus Zeitgründen ausfallen.
Mendes erklärte es den Zuschauern so: »Paul sollte mir an die
Brüste fassen. Ihr wärt natürlich total schockiert, entsetzt und würdet
anfangen, hysterisch zu lachen. Doch leider schaffen wir das nicht
mehr, weil wir schon ganz schön überzogen haben. Deshalb …«
Rudd glotzt Mendes dann vielsagend auf ihren Oberkörper, legt
seine Hand um ihre rechte Brust, kneift einmal fest zu und sagt dann
mit ausdrucksloser Miene: »Nominiert für das beste Drehbuch sind
…« Das Publikum bricht in Lachen aus, schnappt nach Luft, kreischt
und klatscht begeistert. Mendes tut so, als sei sie schockiert. Rudd
hat immer noch seine Hand auf ihrer Brust, während Mendes die
Zeit nutzt, um sich ihr Haar aus dem Gesicht zu streichen.
Schließlich sollte man im Fernsehen ja immer gut aussehen.
Das ganze »Spiel« geht eine Zeit lang so weiter, bis eine Frau
die Bühne betritt. Die Schauspielerin Rosario Dawson (damals 31),
die zuvor im Publikum saß, springt auf die Bühne und greift Rudd in
den Schritt, heftig. »Oh, mein Gott, was ist denn hier los?«, sagt
Mendes mehrmals in wenig überzeugender Verwirrung ob der
Szene, in die sie involviert ist. Dann öffnet sie das Kuvert mit den
Namen der Gewinner. Die ganze Zeit über greift Dawson unbeirrt mit
der Hand in Rudds Schritt und schwingt die andere in der Luft als
Zeichen ihrer Macht oder ihres Siegs. Rudd hat Mendes’ Brust
inzwischen losgelassen, aber Dawson lässt nicht los. Dem Publikum
scheint es zu gefallen, es lacht und johlt. Schließlich schreiben wir
erst das Jahr 2011, und sexuelle Belästigung ist noch urkomisch. In
einem Interview backstage erklärte Dawson ihren Antrieb zu diesem
gleiche Verhältnisse herstellenden Grapschen.
Ich liebe Paul. Seit der Zeit als er in Clueless mitgespielt hat und all das, bin ich ein
großer Fan von ihm. Aber er drückte ihre Brust schraubstockartig zusammen, und
ich dachte mir erst: »Toll, wie witzig.« Aber nur etwa eine Sekunde lang. Und dann
hat er einfach nicht aufgehört, das Saallichtwurde heruntergedimmt, der Videoclip
wurde gezeigt, und er hatte ihre Brust noch immer fest umklammert. Ich hab mir nur
gedacht: »Okay, dann schnapp ich mir jetzt sein Gehänge.« Warum auch nicht?
Irgendwie hat es sogar Spaß gemacht. Es war nicht böse gemeint. Ich meine, er ist
eigentlich ziemlich gut ausgestattet. Das wollte ich schon wissen, seit ich ein
Teenager war und Clueless gesehen hab. Und dann hat er endlich losgelassen. Ich
meine, ich bin nur eine Frauenrechtlerin, und fand es einfach nicht gut, dass er ihre
Brust eine halbe Stunde oder so angegrapscht hat. War nicht böse gemeint, es war
lustig.

Ihr männlicher Interviewpartner versichert ihr: »Das war eine … es


kam auf jeden Fall gut an.« »OK. Schön«, antwortet Dawson.
Na, schön, ich hab ihm auf der Bühne ans Gemächt gefasst. Irgendwie war das
schon toll. Weshalb müssen Männer dauernd grapschen? Das sollten wir Frauen
auch tun. Sie wissen schon, was ich meine. Ich meine, ich bin absolut für
Gleichberechtigung.80

Ja, so war das damals. Das Gegrapsche bei der Verleihung der
Independent Spirit Awards war nichts Besonderes und wurde auch
nicht übermäßig beachtet. In der breiten Gesellschaft begegnete
man Leuten, die sich vor dem anderen Geschlecht entblößen, es
betatschen oder begrapschen, mit unverhohlener Verachtung. Doch
in Hollywood gehörte es einfach zum guten Ton. In einer Sparte, in
der Nacktheit etwas ganz Normales ist und in der der Begriff der
»Besetzungscouch« geprägt wurde, waren die Grenzen nie
eindeutig auszumachen. Das ist einer der Gründe, weshalb
Hollywood kein guter Ort sein dürfte, um bestimmte moralische
Werte zu etablieren, die erstrebenswert sind, oder bestimmte
moralische Werte, die als vorbildhaft für alles außerhalb der
Entertainmentbranche dienlich sein könnten.
Für und in Hollywood galten schon immer andere Standards. Es
war die einzige Branche, in der jemandem, der der Vergewaltigung
einer Minderjährigen beschuldigt wurde und deshalb auf der Flucht
war, noch immer applaudiert, der weiterhin verehrt wurde und der im
Kollegenkreis irgendwie als Opfer galt. Hätte ein Buchhalter,
Sozialarbeiter oder auch ein Priester mit 40 Jahren eine 13-Jährige
anal vergewaltigt, wären sie damit vielleicht ebenso durchgekommen
wie Roman Polanski. Vielleicht hätten ihre Freunde sie ja auch
gedeckt. Aber es wäre undenkbar gewesen– selbst für die
katholische Kirche –, dass man ihnen während der besten Sendezeit
im Fernsehen applaudiert, weil sie zu den Besten ihres Berufsstands
zählen, während sie zur gleichen Zeit auf der Flucht vor dem Gesetz
sind. Hollywood und die Kollegen und Kolleginnen von Polanski, die
bei der Oscar-Verleihung 2003 im Publikum saßen, ließen sich
dadurch nicht von ihren Begeisterungsstürmen abhalten.
Künstlerkreise und die Unterhaltungsbranche waren immer schon
eine Welt für sich, und kein anderer Ort ist daher schlechter
geeignet, gesellschaftliche Normen aufzustellen. Schon gar nicht,
wenn diese Normen so komplexe Dinge betreffen wie die Beziehung
zwischen den beiden Geschlechtern. Nur in Hollywood kann es
einen berühmten Regisseur wie Woody Allen geben, der sich von
seiner Frau trennt, weil sein Verhältnis mit deren Adoptivtochter
aufgeflogen ist. Und dann ist es die Stadt und die Branche, die
Gloria Grahame in den 1940er-Jahren zum Star machte. Sie war vier
Mal verheiratet, ihr letzter Mann (Tony Ray) war der Sohn ihres
zweiten Manns (Nicholas Ray) und dessen erster Frau. Das
Verhältnis zwischen Grahame and Tony Ray geriet in die
Schlagzeilen, weil sie zusammen im Bett erwischt wurden (Grahame
war damals Ende 20, Ray erst 13).
Hollywood oder besser seine Stars zu moralischen Vorbildern zu
erheben, war in jeder Ära ein Fehler. Doch als der Skandal um
Harvey Weinstein 2017 ins Rollen kam, war es genau das, was
versucht wurde. Die Eigentümlichkeit der Unterhaltungsbranche hält
uns immer wieder und auf ihre Weise einen Spiegel vor. Wenn auch
nicht als Muster, wie wir uns verhalten sollen, sondern als Spiegel,
der uns zeigt, wie viel Verwirrung um uns herrscht. Die Rede ist vor
allem von der Unsicherheit, welche Rolle Frauen spielen – und wie
jeder weiß, spielen können – in einer Zeit, die zwischen zügelloser
Hemmungslosigkeit und Prüderie zu pendeln scheint, ohne je die
Balance zu finden.
Bedenken Sie, mit welcher Warmherzigkeit die Menschen an
Drew Barrymores Auftritt in der David Letterman Show am 12. April
1995 zurückdenken: Es war Lettermans Geburtstag. Barrymore war
Gast in seiner Show und sprach neben anderen Dingen davon, dass
sie in letzter Zeit sehr gerne nackt tanzte. Mit ihren 20 Jahren
schlüpfte Barrymore dann abwechselnd in die Rolle einer
selbstbewussten, sexuell aktiven Frau und die eines unartigen
kleinen Schulmädchens.
Schließlich fragte sie Letterman in der Live-Show, ob er als
Geburtstagesgeschenk eine Kostprobe ihres Könnens sehen wolle
(das Publikum grölte und brüllte vor Lachen). Ohne seine Reaktion
abzuwarten, bedeutete sie der Studioband, einen Song
anzustimmen, kletterte auf Lettermans Schreibtisch und führte einen
Table-Dance vor ihm auf, einem verheirateten Mann, der damals
doppelt so alt war wie sie. Sie ließ ihre Hüften kreisen, die Arme
hoch erhoben, Bauch frei. Ihre Vorführung gipfelte darin, dass sie ihr
T-Shirt anhob und Letterman ihren blanken Busen zeigte. Der war
sichtlich entsetzt. Sie drehte dabei dem Publikum den Rücken zu,
aber eine Kamera filmte ihre Brust von der Seite, was dem Online-
Magazin Mail Online einen Eintrag in deren Rubrik »Hall of Shame«
wert war. Doch das Publikum der David Letterman Show konnte
nicht genug kriegen. Es amüsierte sich königlich, grölte und
klatschte Barrymore Beifall, während sie sich vor dem Moderator
entblößte. Unmittelbar nach ihrem Table-Dance drehte sich
Barrymore zu den Studiogästen, riss ihre Arme nach oben und nahm
den wohlwollenden Beifall entgegen. Dann krabbelte sie auf allen
vieren über den Tisch zu Letterman, drückte ihm einen Kuss auf die
Wange und tätschelte ihm den Hinterkopf. Sobald sie wieder Platz
genommen hatte, war nichts mehr von der Amazone zu sehen, sie
wurde wieder zum kleinen Mädchen, zog die Knie vor die Brust und
blickte drein, als habe sie etwas Böses angestellt.
Der Einwand, dass 1995 eine ganz andere Zeit war, klingt
plausibel. Aber dem war nicht so. Denn um genau diese Geschichte
ging es im März 2018. Sie wurde vom Publikum begeistert
aufgenommen, als Barrymore erneut Gast in der Late Show war,
dieses Mal moderiert von Stephen Colbert. Da war sie älter, aber
nicht klüger, und sprach darüber, dass sie an dem Tag eine Art
»lebende Geburtstagskarte« gewesen war. Sie erinnerte sich noch
genau daran. »In diesem Theater habe ich etwas ganz Besonderes
mit Herrn Letterman getan.« Bei diesem Satz ließ das Publikum ein
nostalgisches Lachen hören. Colbert, der während der ersten
»MeToo«-Anschuldigungen, zu denen sich täglich neue gesellten,
eine klare Linie verfolgt hatte, wollte mehr von Barrymore hören und
gab ihr das Stichwort: »An seinem Geburtstag. An seinem Ehrentag.
Bekanntermaßen.« Barrymore griff es auf:
Ich war so was von daneben. Manchmal hab ich das Gefühl, das wäre gar nicht ich
gewesen. Mir kommt es vor wie eine blasse Erinnerung, die sich irgendwie nicht
nach mir anfühlt. Aber ich war’s. Na ja, irgendwie war es auch wieder cool. Irgendwie
steh ich dazu. Ich bin zweifache Mutter. Ich bin, ach wissen Sie, ich weiß nicht. Ich
bin jetzt ein ganz anderer Mensch, und das fühlt sich echt nicht nach mir an, aber
irgendwie gefällt es mir doch.

All das wurde von den Studiogästen mit Gelächter und Applaus
aufgenommen, während Colbert sie ermutigt hatte weiterzureden.
Schließlich leitete er zu der Tatsache über, dass Barrymore eine der
ersten weiblichen Stars in Hollywood war, die eine eigene
Produktionsfirma gegründet hatte. Er nutzte diesen Augenblick für
die Frage, was wir aus dieser Emanzipation der Frauen in Hollywood
und der aktuellen Zeit lernen können.81 Zu keinem Moment dieses
Gesprächs ist im Rückblick auf den Table-Dance von 1995 etwas
anderes zu spüren als Wohlwollen.
Und weshalb hätte es anders sein sollen? Die Vorstellung von
Frauen, sich vor Männern zu entblößen, damit diese sich unwohl
fühlen, oder als Zeichen von »Feminismus« Männer anzugrapschen
oder zu belästigen, ist ein Tropus, der jahrelang unbehelligt sein
Unwesen treiben konnte. Wie Stephen Colbert aus eigener
Erfahrung wusste.
Im Mai 2007 war er als Fernsehstar noch grün hinter den Ohren
gewesen, als er Jane Fonda interviewte. Der äußerst erfolgreiche
Film Schwiegermonster, in dem Fonda ihrer Karriere als
Schauspielerin neuen Auftrieb verliehen und Jennifer Lopez’
Schwiegermutter gespielt hatte, war schon ein paar Jahre her.
Fonda war Gast in Colberts Show, um Werbung für ihren neuesten
Film Georgias Gesetz zu machen, der jedoch an den Kinokassen
floppte. Mit ihren 69 Jahren war Fonda wild entschlossen, dem
Publikum zu zeigen, dass sie »es noch immer draufhatte«. Und
deshalb machte sie während des Interviews eine Show daraus, dass
sie den Gastgeber sexuell belästigte. Es kam ihr wohl nicht in den
Sinn, dass das kein guter Zeitpunkt war, schließlich handelte der
Film von sexuellem Missbrauch.
Gleich zu Beginn des Interviews setzte sie sich auf Colberts
Schoß und blieb dort die ganze Zeit sitzen. Irgendwann gab sie ihm
einen Kuss auf den Mund und sagte ihm, dass sie wüsste, dass er
Fantasien mit ihr hätte. »So habe ich mir dieses Interview nicht
vorgestellt«, meinte der Moderator dann. Colbert versuchte
mehrmals, das Thema zu wechseln, und sprach auch die Proteste
gegen den Krieg an. Aber Hanoi-Jane ließ sich nicht ablenken. Sie
konnte ihre Finger nicht von Colbert lassen, küsste ihn auf die
Wange und streichelte ihn. Dann fing sie an, über vorzeitige
Ejakulation zu sprechen. Und so ging es endlos weiter.
Die Medien machten nicht den Eindruck, als hielten sie diese
Szene in irgendeiner Weise für anstößig oder beunruhigend. Ganz
im Gegenteil, sie konnten nicht genug davon kriegen. »Ja, Jane
Fonda hat’s immer noch drauf«, lautete die Schlagzeile in dem
Online-Magazin Huffington Post: »Ein Highlight in Colberts
Mittwochsreport war dieser ausgelassene – und wir nennen das Kind
beim Namen – wollüstige Teil, indem Jane Fonda fest entschlossen
schien, sich Stephen Colberts sinnlichem Teil (›Ist das ein sinnliches
Teil in Ihrer Hose oder freuen Sie sich, mich zu sehen?‹) widmen zu
wollen.« In der Huffington Post ging es in diesem Stil weiter, zudem
gab es einen Link zu dem Artikel des Online-Magazins Salon, das es
»auf den Kopf getroffen« habe, und »ein bisschen Kontext dazu«
gab, warum »Fonda so großartig« sei.82 Denn 2007 galten
ungewollte sexuelle Annäherungsversuche nicht nur als
ausgelassen und sinnlich, sondern sogar als großartig.
2014, also Jahre später, schilderte Colbert, wie »absolut unwohl«
er sich dabei gefühlt habe. Allerdings schob er dies – einschließlich
der Tatsache, dass seiner Frau dieses Interview offensichtlich
missbehagt hatte – darauf, dass der Saal voll war mit einem
Publikum, das immer lauter kreischte und klatschte.83 Selbst 2014
waren sexuelle Annäherungsversuche noch immer hinreißend.
Selbstverständlich änderte sich all das 2017, als die ersten
»MeToo«-Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein publik wurden.
In dieser Phase schien man schnell einen Konsens zu finden, dass
sämtliche sexuellen Annäherungsversuche untragbar wären und
dass es dafür keinerlei Entschuldigung gebe. Diese neuen Regeln
schienen sehr schnell aufgestellt und etabliert. Doch sie ließen all
die unerfreulichen Dinge unkommentiert zurück, die sich in der
jüngsten Vergangenheit zugetragen hatten. Nach der Weinstein-
Affäre wurde alles, was mit der Interaktion zwischen den
Geschlechtern in Hollywood und der restlichen Welt zu tun hatte,
von der Presse als völlig problemlos und selbstverständlich
dargestellt. Doch dem war nicht so, weder in Hollywood noch
anderswo.
Einer der wenigen Menschen in der Unterhaltungsbranche, die
sich seit Beginn der Karriere dem alten Habitus widersetzt hatten,
war die Schauspielerin Mayim Bialik. Im Oktober 2017, als die
»MeToo«-Affäre ins Rollen kam, wurde sie relativ scharf kritisiert,
weil sie gegenüber der New York Times offen über diese Branche
geredet hatte, die sie (ihre Worte) als »schwierige, unbeholfene
Elfjährige jüdischen Glaubens mit hervorstehender Nase« betreten
hatte. Sie schilderte, dass es ihr »schon immer merkwürdig vorkam,
in einer Branche zu arbeiten, die Kapital aus der sexuellen
Objektifizierung von Frauen schlägt«. Zudem erzählte sie, dass sie
als junge Schauspielerin sehr »konservative« Entscheidungen
getroffen hätte und, unterstützt von ihren amerikanischen Eltern der
ersten Generation, im Umgang mit Leuten aus der Filmbranche
immer sehr vorsichtig war. Diese Haltung und die Tatsache, dass sie
ihren Glauben praktizierte, machten sie – wie sie selbst erzählte – zu
einer Außenseiterin in Hollywood.
Bialiks Lebenslauf ist in der Tat ungewöhnlich. Immerhin legte sie
eine mehrjährige Pause von der Schauspielerei ein und machte
stattdessen ihren Doktor in Neurowissenschaften. Im Anschluss
daran spielte sie eine der Hauptrollen in der Sitcom The Big Bang
Theory. Im Jahr 2017 zieht sie Bilanz: »Auch jetzt, als 41-jährige
Schauspielerin treffe ich noch immer Entscheidungen, die ich für
klug halte und die meinem Schutz dienen. Ich habe für mich
beschlossen, dass mein Sexualleben nur die etwas angeht, mit
denen ich es hinter verschlossenen Türen teile. Ich kleide mich
betont zurückhaltend und habe es zu meinem Prinzip gemacht, mich
Männern gegenüber niemals kokett zu verhalten.«84
Daraufhin geriet Bialik in Schwierigkeiten. Es waren vor allem
Frauen, die sie beschuldigten, sie würde den Opfern die Schuld
geben und den Kleidungsstil von Frauen als Ursache für das
Fehlverhalten der Männer verantwortlich machen. Bialik musste sich
dafür entschuldigen und ihr Bedauern darüber ausdrücken, wie ihre
Äußerungen in dem Artikel interpretiert wurden. Noch merkwürdiger
als diese Sache war jedoch, dass ein Großteil von Bialiks Aussagen
in direktem Widerspruch zu dem standen, was sie ein Jahr zuvor
getan hatte.
Im Februar 2016 war Bialik neben Piers Morgan Gast in The Late
Show mit James Corden. Im Laufe der Sendung bat Corden seinen
Landsmann Morgan zu erklären, was es mit dem aktuellen Hashtag
#Cleavagegate (Dekolletégate) auf sich habe. Morgan erklärte,
Susan Sarandon und er seien sich neulich über einen Tweet von ihm
in die Haare geraten. Bei den vor Kurzem stattgefundenen Screen
Actors Guild Awards präsentierte die 69-jährige Sarandon den
Bereich »Im Gedenken« in einem Oberteil mit einem gewagten
Dekolleté. Morgan hatte in den sozialen Medien seine Meinung
geäußert, dass ein so großzügig ausgeschnittenes Oberteil nicht die
passende Kleidung sei, um verstorbenen Kolleginnen und Kollegen
Respekt zu erweisen. Als Reaktion auf diesen Tweet postete
Sarandon ein Foto von sich, wie sie im BH auf die David-Statue von
Michelangelo, der einen kleinen Penis hat, deutet. Mit dieser
Reaktion hatte Morgan unter keinen Umständen rechnen können
und auch der damit verbundene Rummel um seine Person machte
ihm schwer zu schaffen. Morgan erzählte den Studiogästen in
Cordens Show weiter, dass ihm Tausende selbsternannter
»Feministinnen« Fotos von ihren Dekolletés als Zeichen ihres
Protests geschickt hätten.
Bialik, in einem grünen, hochgeschlossenen Kleid, hatte die
ganze Zeit zwischen Corden und Morgan gesessen und zugehört.
Doch an dieser Stelle legt sie die Hand auf Morgans Arm und fällt
ihm ins Wort: »Wissen Sie, ich bin ja auch eine bekennende
Feministin! Und ich zeige es auf diese Weise.« Dann steht sie auf,
dreht dem Publikum den Rücken zu, öffnet ihr Kleid und zeigt
Morgan ihre Brüste. Die Zuhörer brechen in lautes Lachen aus und
applaudieren wie wild. Sowohl der Moderator als auch Morgan
klatschen in die Hände und scheinen sich königlich zu amüsieren.
Anscheinend nur auf den ersten Blick, denn Morgan sieht wirklich
aus, als würde er rot anlaufen und als wäre ihm das Ganze
entsetzlich peinlich. Als er betont, dass er wirklich nichts gegen
tiefausgeschnittene Dekolletés hätte, aber der Meinung ist, man
solle diese bei der Ehrung verstorbener Schauspielerkollegen nicht
so zur Schau stellen, und erneut betont, dass ihm der Anblick eines
tiefen Ausschnitts durchaus gefällt, steht Bialik mit den Worten »Sie
wollen sie nochmal sehen, oder?« erneut auf und öffnet wieder ihr
Kleid für ihn (nur dieses Mal nicht so lange).85
Die Brüste zu entblößen war 2016 also ein »feministischer« Akt.
Sie einem Mann zu zeigen, der nicht darum gebeten hatte, war ein
ganz besonders »feministischer« Akt. Und selbst eine Frau, die
vorgab, sich aus religiösen und gesellschaftlichen Gründen betont
zurückhaltend zu kleiden, konnte ganz bewusst und ohne Weiteres
ein ganzes Studio erheitern, indem sie – ungebeten –einem Mann
ihren blanken Busen zeigte.
Ich möchte damit nicht sagen, dass Frauen nicht selbst
entscheiden können und sollen, was sie mit ihrem Körper tun. Ich
will damit ebenfalls nicht sagen, dass bekannte Stars ihre Brüste
nicht zeigen sollten, um Aufmerksamkeit zu erzielen oder das
Publikum zu erheitern, und auch nicht, dass ein blanker Busen das
Gleiche ist wie ein entblößter Penis. Doch ich halte es durchaus für
vertretbar zu sagen, dass Frauen – vor allem bekannte und gefeierte
Stars – höchst verwirrende Signale aussenden. Der Begriff
»gemischte Signale« trifft es nicht einmal annähernd.
Dazu kommt, dass solche verwirrenden Signale selbst von einer
Frau wie Bialik ausgehen, die in jeder anderen Hinsicht den Eindruck
erweckt, als würde sie sich eben nicht von dem Strudel um sie
herum mitreißen lassen.
LOVE YOU
Ein Grund, weshalb uns die von der Unterhaltungsbranche in die
ganze Welt gesendeten Signale so verwirren, ist, dass die Branche
selbst nicht mehr weiß, was da abläuft. Noch vor ein paar
Jahrzehnten war quasi allgemein anerkannt, dass das Verhältnis
zwischen Mann und Frau sehr komplex ist. Es gibt da diese
berühmte Szene in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug von 1989.
Ziemlich am Anfang des Films sieht man Indiana Jones, gespielt von
Harrison Ford, wie er im Hörsaal lauter jungen Studentinnen eine
Vorlesung in Archäologie gibt. Die überwiegende Mehrheit scheint
ihn träumerisch anzuschauen, eine aus ihrer Mitte reißt Professor
Jones aus seinem Gedankengang, da sie sich auf eines ihrer
Augenlider »Love«, auf das andere »You« geschrieben hat. Sie
zwinkert ihm zu, langsam und bedeutungsvoll, damit er den Text
lesen und ihre Botschaft verstehen kann.
Diese Szene enthält zwei Memes (zwei Text-Bild-Botschaften),
die uns unglaublich vertraut sind … bis wir vor Kurzem damit
begannen, so zu tun, als wären sie das eben nicht. Das erste Meme
besagt, dass im Verhältnis zwischen Lehrkörper und Student ein
sexueller Unterton mitschwingen kann. Das wussten schon die alten
Griechen. Damals wie heute galt die Übereinkunft, dass es besser
ist, einer solchen Anziehung grundsätzlich zu widerstehen. Dennoch
kann es sie geben. Und das zweite Meme – das im Übrigen besser
zum Inhalt dieses Buchs passt – handelt davon: Auf der einen Seite
ist die junge, lüsterne Frau – ein Vamp –, auf der anderen ihre
leichte Beute: ein älterer Mann, der sich nicht zur Wehr setzen kann.
Dieses Motiv dürfte so alt sein wie die Menschheit selbst, und
zumindest war es bis 1989 bekannt. Es geht dabei um das
Bewusstsein, dass nicht nur Männer Frauen belästigen können,
sondern dass dies auch umgekehrt möglich ist. Jeder Mann weiß
das, selbst wenn er diese Erfahrung persönlich noch nicht gemacht
hat – was aber auf die wenigsten zutreffen dürfte. Ebenfalls klar ist,
dass es das in den unterschiedlichsten Ausprägungen gibt: die
leichte Version im Stil von Drew Barrymore, die nach dem Table-
Dance auf den Schulmädchenmodus umgeschaltet hat und die
Botschaft aussendete: »Ich war albern und ungezogen.« Doch es
gibt auch eine schlimmere Variante, bei der eine Frau einem Mann
so lange nachstellt, bis sie bekommt, was immer sie von ihm will.
Selbst wenn es nicht stimmen sollte, dass Frauen ein solches
Verhalten wie aus dem Effeff beherrschen, frage ich mich aber,
weshalb es einen Markt für Frauenkleidung und Accessoires gibt,
dessen einziger Zweck es ist, Frauen für den Mann sexuell
ansprechender zu präsentieren, als sie es ohne diese wären. Man
denke zum Beispiel an den neuesten Schrei in Amerika: Fake
Nipples, also Brustwarzen zum Aufkleben. Unternehmen wie Just
Nips präsentieren diese Artikel auf ihrer Webseite, als wären sie
überwiegend für Frauen gedacht, die sich einer Mastektomie
unterziehen mussten. Doch die breit angelegte Vermarktung, aber
auch die öffentliche Meinung zu diesem Trend, legen den Schluss
nahe, dass dem Unternehmen sehr wohl bekannt ist, welche
stimulierende Wirkung dieser BH-lose Look auf Männer hat. In einer
Folge der in den 1990er-Jahren beliebten Serie Sex and the City
trug Miranda auf einer Party solche Fake Nipples und bekam genau
die Aufmerksamkeit von den Männern, auf die sie aus war,
zeichneten sich ihre Brustwarzen doch deutlich unter ihrem Oberteil
ab und zogen die Männer an wie Motten das Licht. Da Stars und
Sternchen dafür gesorgt hatten, dass auch ganz normale Frauen
diesen BH-losen Look haben wollten, sind Hersteller in die Bresche
gesprungen und haben sich daran gemacht, preisgünstigere Nippel
zum Aufkleben zu fertigen.
2017 warb Just Nips for All für Nippel in zwei Größen: zum einen
die Größe »cold«, und die »etwas kleineren«, als »perfekte
Unterstützung« für Nippel, die »ein bisschen durchhängen«. Wie es
auf der Webseite hieß: »Sie wollen das gewisse Extra? Dann setzen
Sie doch einen drauf! Unsere Cold Nips bieten alles, was Sie von
einem Fake Nipple erwarten können. Was noch? Diese Nippel sind
spitze. Sie sind sexy. Und sie sind so was von (auf-)reizend!«
Keine Frage, so etwas lässt sich auch frauenfreundlicher
formulieren. Schließlich geht es doch nur darum, dass Frauen sich
besser fühlen. Und nein, das hat rein gar nichts mit Männern zu tun.
Auch ohne sie würden Frauen diese Fake Nipples tragen, schon
klar. Doch die Marketingabteilung hat sich wirklich ins Zeug gelegt
und herausgearbeitet, wofür – und für wen – die Dinger sind. Bei der
»Freezing«-Option geraten die Hersteller ins Schwärmen:
So viel ist sicher: Diese kleinen Dinger sind viel billiger als Implantate. Wie sagen
wir’s am besten? […] Freezing Nips sind die Massenvernichtungswaffen unter den
Nippel-Aufrichtern. Sie sind potent. Sie sind tödlich. Sie schneiden durch Glas, Stahl,
Teflon, was auch immer – und sie sind der Grund, weshalb man auf jeder Party über
Sie reden wird. Freilich nur Gutes (die anderen Mädels sind ja bloß neidisch). Tragen
Sie sie unter Ihrem Lieblings-T-Shirt, denn das ist genau das, was die Models tun.
Aber mal ehrlich, was spricht dagegen, wenn Sie ganz Sie selbst sind und sie unter
Ihrem engsten Pulli tragen – für den heißesten »Cold Look« des Abends.86

Na klar. Weshalb sollten Frauen diese Massenvernichtungswaffen


unter den Nippel-Aufrichtern zu einem anderen Zweck wollen, als
sich allgemein besser zu fühlen? Gibt es einen anderen Grund?
Auch wenn Produkte dieser Art nicht wirklich die Aufmerksamkeit
von Männern erregen (wollen), ist der Markt doch voll damit. Push-
up-BHs zum Beispiel sind der Renner. Das Marktpotenzial hat keine
Grenze nach oben, denn wer weiß schon, was Frauen zu tun bereit
sind, um zu kriegen, was sie wollen.
In den letzten Jahren ist in Amerika die Nachfrage nach »Camel
Toe«-Unterwäsche gestiegen. Eine Journalistin hat darüber
geschrieben:
Eine der größten Ängste in Sachen Mode für jede Frau dürfte sein, dass ihre Vagina
vielleicht nicht prall genug ist. Da nützt es auch nichts, dass Busen und Po
wohlgeformt sind und mehr als genug Hirn da ist, wenn die Schamlippen flach wie
eine Flunder sind. Doch ich habe gute Nachrichten für euch, meine flachlippigen
Schwestern. Es gibt keinen Grundmehr, sich Gedanken darüber zu machen, dass
sich die Vagina nicht deutlich genug unter den Shorts oder Yoga-Pants abzeichnet.

Kein Witz, 2017 kam der »Push-up-BH für die Schamlippen« auf den
Markt – erhältlich in unterschiedlichen Hauttönen, »damit es so
aussieht, als würden die großen Schamlippen ihr Höschen
fressen«.87 Und noch einmal. Selbstverständlich ist es denkbar, dass
das gar nichts mit Männern zu tun hat und einfach nur genau das ist,
was Frauen unter ihrem Morgenmantel tragen, wenn sie es sich zu
Hause gemütlich machen, oder unter ihren ausgebeulten Hosen
oder dem schlabbrigen Rock im Büro. Schließlich geht es auch
dabei nur darum, dass sich Frauen wohl fühlen in ihrer Haut. Doch
ich beharre darauf, es gibt noch andere, viel offensichtlichere
Gründe, weshalb manche Frauen wollen, dass es so aussieht, als
würden ihre großen Schamlippen ihr Höschen fressen.
In den letzten Jahren hat selbst die leiseste Andeutung dieses
Sachverhalts beinahe gereicht, um Karrieren zu zerstören. Im
Februar 2018 wurde der kanadische Klinische Psychologe und Autor
Dr. Jordan Peterson von Jay Caspian Kang, Korrespondent bei VICE
News interviewt. Im Laufe dieses Gesprächs stellte Kang eine Reihe
von Behauptungen auf, auf die Peterson erwiderte, dass die wirklich
schwierigen Fragen noch nicht gestellt worden seien. Als Beispiel für
eine solche stellte er seinem Interviewer die Frage: »Können Männer
und Frauen an einem Arbeitsplatz miteinander arbeiten?« Kang
wirkte überrascht, dass eine solche Frage überhaupt gestellt werden
müsste, und entgegnete, dass er die Antwort kenne, dass sie das
nämlich durchaus könnten, weil »ich mit vielen Frauen
zusammenarbeite«. Doch Peterson verwies darauf, dass dies erst
seit etwa 40 Jahren so sei, folglich also recht neu, und dass wir noch
immer damit beschäftigt seien, die Regeln dafür aufzustellen.
»Kommt es am Arbeitsplatz zu sexueller Belästigung? Ja. Soll das
aufhören? Das wäre gut. Aber wird das wirklich eintreten? Na ja,
nicht jetzt, denn wir kennen die Regeln dafür nicht.« Und in diesem
Moment betrat Peterson wirklich gefährliches Terrain.
»Wie wäre es mit dieser Regel: Kein Make-up am Arbeitsplatz«,
schlug er vor. Jay Kang fing an zu lachen und erwiderte: »Wozu soll
das gut sein?« – »Weshalb schminken sich Frauen, wenn sie zur
Arbeit gehen? Ist das denn keine sexuelle Provokation?« Kang war
jedoch anderer Ansicht. »Aber wozu dann Make-up?«, bohrte
Peterson nach. »Manche Leute tragen eben gerne Make-up. Keine
Ahnung, warum.« Daraufhin erklärte ihm Peterson, dass Lippenstift
und Rouge nur einem Zwecke dienten, nämlich der sexuellen
Erregung. Dann machte Peterson die Sache noch schlimmer und
erklärte, dass Schuhe mit hohen Absätzen dazu dienten die sexuelle
Attraktivität zu erhöhen. Er fügte zwar noch hinzu, dass er nicht
sagen wolle, dass Frauen kein Make-up oder keine High Heels bei
der Arbeit tragen sollten. Doch er wolle zum Ausdruck bringen, dass
wir uns keinerlei Illusionen hingeben dürften, welche Reaktionen
Frauen damit bezwecken. Und dass Frauen mit Make-up und High
Heels dieses Spiel eben spielen würden.88 Während des ganzen
Interviews sah Kang manchmal verblüfft, manchmal gelangweilt
drein, ganz als ob Petersons Fragen unglaublich einfach zu
beantworten seien. Er versuchte jedoch zu keinem Zeitpunkt, etwas
gegen die Büchse der Pandora zu unternehmen, die sein Gast
geöffnet hatte.
Gut möglich, dass dies ein cleverer Schachzug des Interviewers
war. Denn dieses Mal fielen die Reaktionen sogar für Petersons
Verhältnisse wirklich heftig aus. In Online-Chat-Foren behaupteten
zahllose Leute, Peterson hätte gesagt, Frauen, die Make-up und
High Heels tragen, schrien förmlich danach, sexuell belästigt zu
werden. Manche Medien zogen nach. Solche Augenblicke sind
höchst interessant. Denn wenn jemand explizit sagt, dass er mit so
einer Diskussion keineswegs sagen will, dass Frauen nicht anziehen
dürften, was sie wollen, und ihm trotzdem anschließend sehr viele
Leute genau das vorwerfen und sogar noch einen draufsetzen und
behaupten, er würde sexuelle Belästigung als normale Reaktion auf
Schminke und Schuhe mit hohen Absätzen begreifen, dann läuft
etwas wirklich falsch.
Und nein, es geht nicht um Missverständnisse oder dass sich
jemand einfach verhört hat. Viel wahrscheinlicher zeigt uns das, wie
Aussagen stark vereinfacht und obendrein noch falsch
wiedergegeben werden, um eine schwierige Diskussion zu
vermeiden, die längst überfällig ist.
Über Themen wie dieses ließe sich wohl endlos diskutieren.
Gelangt eine Kultur zu der Überzeugung, dass Frauen unbedingt
und in jedem Fall geglaubt werden muss, wenn es um sexuelle
Belästigung, aber auch um ungewollte sexuelle
Annäherungsversuche geht, dann muss eine solche Reaktion doch
Verwirrung in der Gesellschaft stiften. Was sollen die Menschen
davon halten? Wie sollen sie in Situationen reagieren, wenn Frauen
ihre Weiblichkeit ausspielen? Wie passt es zusammen, dass
einerseits gilt, den Anschuldigungen von Frauen stets glauben zu
müssen, es aber andererseits ganze Branchen gibt, die sich darauf
spezialisiert haben, Frauen unter die Arme zu greifen, um Männer
auszutricksen?
Oder – um es etwas frauenfreundlicher zu sagen –, um Männer
anzulocken. Worum geht es bei den sommerlichen
Werbekampagnen, die Frauen auffordern, durch ihr Aussehen dafür
zu sorgen, dass man die Köpfe nach ihnen umdreht? Wer also soll
den Kopf umdrehen? Alle Frauen, die dann das gleiche Kleid, den
gleichen Bikini haben wollen? Oder etwa doch Männer?

BRING IHN ZUM SABBERN


Die Art und Weise, wie Werbung Frauen anspricht, verrät uns eine
Menge darüber, was Frauen motiviert, wenn sie glauben, dass
Männer nicht hinschauen. Man denke nur an die unzähligen
Werbekampagnen und Artikel in Frauenzeitschriften, die alle darauf
fokussieren, Männer zum Sabbern zu bringen. Wenn Werbung für
Sportautos oder Rasierschaum, die auf Männer abzielt, den
potenziellen Käufern suggerieren wollte, den Frauen würde nach
dem Kauf dieser Produkte der Sabber übers Kinn tropfen, wäre das
nicht nur verachtenswert, sondern würde sogar Männer
abschrecken. Google ist in dem Fall extrem hilfreich. Auf die
Suchanfrage »Make him drool« (»Bring ihn zum Sabbern«) werden
Tausende und Abertausende von Artikeln, Werbeanzeigen und
Online-Diskussionen angezeigt. Gibt man dagegen »Make her
drool« (also: »Bring sie zum Sabbern«) ein, erfährt man, wie man
verhindern kann, im Schlaf zu sabbern, oder weshalb manche
Katzen sabbern.
All das legt den Schluss nahe, dass unsere Gesellschaften an
einem Punkt extremer Verdrängung angekommen sind. Wir haben
also beschlossen, Dinge zu vergessen oder wegzulassen, die
vorgestern noch gültig waren. Und anscheinend haben wir ebenfalls
beschlossen, alle komplizierten Aspekte der Beziehung zwischen
Mann und Frau, aber auch alles, was an Frauen und was an
Männern jeweils für sich genommen kompliziert ist,
beiseitezuschieben, weil wir davon ausgehen, diese Probleme ein
für alle Mal überwunden zu haben.
Es könnte aber auch sein, dass wir mit dieser Vorstellung einer
gewaltigen Landmine aufsitzen. Einem Mann, der herauszufinden
versucht, was Frauen heutzutage wollen, wird verziehen, dass er die
Orientierung verloren hat. Ein junger Mann, der das andere
Geschlecht verstehen will, muss mit einer Welt zurechtkommen, die
ihm in der Schule und später an der Universität diktiert, was
angemessenes Verhalten gegenüber Frauen genau ist und was
nicht. Und doch ist es kein Problem für ihn, online oder in einem
Buchladen – sofern es so etwas in seinem Viertel noch gibt – zu
erfahren, dass die zurzeit von Frauen meistgelesenen Bücher (ja,
auch von Frauen im Alter seiner Mutter) von
Vergewaltigungsfantasien handeln.
Also von Fantasien, über die man am besten nicht spricht und die
man besser auch gar nicht zu verstehen versucht, die aber öffentlich
so bekannt sind, dass sie auch noch verfilmt werden und bis zum
heutigen Tag einen Gewinn von rund einer halben Milliarde US-
Dollar eingespielt haben. Sind es Männer, die scharenweise ins Kino
rennen, um die Fesselspiele von Christian Grey und seiner Freundin
zu sehen? Oder sind es eher Frauen?
Es gibt einen Song von Nicki Minaj, der vermutlich rein zufällig
die derzeitige tiefe Verwirrung zusammenfasst. Der Song nennt sich
»Anaconda« und stammt aus dem Jahr 2014. Jeder, der das Video
noch nicht gesehen hat, sollte sich den Hunderten Millionen Leuten
anschließen, die es sich online angesehen haben. Zu behaupten,
Minajs Video sei sexuell aufgeladen, wäre in etwa, wie zu
behaupten, der Text ihres Songs sei banal. Die ersten Zeilen lauten:
»My anaconda don’t, my anaconda don’t/My anaconda don’t want
none unless you got buns, hun.« Wer nicht weiß, ob sie von
Brötchen oder einem Hinterteil spricht (denn beides sind die
Bedeutungen von »bun«), findet die Lösung sicher problemlos in den
ersten drei Minuten des Videos, das nahezu ausschließlich Nicki
Minaj im Dschungel und im Bikini zeigt, die mit ihrem Hintern in die
Kamera wackelt. Zeitweise sind noch andere Frauen, ähnlich
angezogen, zu sehen, die ebenfalls vor der Kamera mit ihrem
Hintern wackeln. Das Wackeln setzt sich unentwegt fort. Und falls
jemand noch immer nicht begreift, worum es geht, kann er es
herausfinden, indem er auf den Refrain achtet:
Oh my gosh, look at her butt
Oh my gosh, look at her butt
Oh my gosh, look at her butt (Look at her butt)
Look at, look at, look at
Look, at her butt
In den ersten drei Minuten des Videoclips passiert nichts weiter, als
dass Minaj mit ihrem Hintern wackelt, andere Frauen ebenfalls mit
ihrem Hintern wackeln und manchmal gegenseitig an ihren Hintern
herumspielen. Dann isst Nicki Minaj anzüglich lasziv eine Banane,
sprüht sich Sahne aufs Dekolleté, verschmiert sie auf ihrem Busen
und leckt sie sich dann von den Fingern. Keine Ahnung, was sie
dem Zuschauer damit sagen will.
Aber das ist nicht das Entscheidende an diesem »Anaconda«-
Video. Diese Bilder sind völlig normal und banal – zumindest in der
Welt der Popvideos, wo Sängerinnen sich anziehen und tanzen wie
Stripperinnen. Der alles entscheidende Teil sind die letzten 90
Sekunden des Videos, in denen Minaj auf allen vieren in einem
abgedunkelten Raum zu sehen ist und man förmlich spürt, wie
aufgeladen die Stimmung ist. Sexy eben. Sie kriecht mit sehr
lasziven Bewegungen auf einen durchtrainierten jungen Mann zu,
der auf einem Stuhl sitzt. Der Text zu dieser Szene lautet: »This one
is for my bitches with a fat ass in the fucking club/I said, where my
fat ass big bitches in the club?« Sie trägt nur einen BH und eine
enganliegende Leggings mit sehr vielen Löchern und tanzt den
Mann mit kreisenden Bewegungen an. Sie legt ihm ein Bein auf
seine Schulter. Sie beugt sich nach vorne und drückt ihm ihren
berühmten Hintern ins Gesicht und lässt das Becken kreisen. Sie
ahmt die Bewegungen von Pole-Dancern nach und bewegt ihren
Hintern für ihn zum Greifen nahe auf und ab. Der junge Mann sitzt
die ganze Zeit bewegungslos da, wie das wohlerzogene Männer in
einem Table-Dance-Club tun. Als sie ihren Hintern zum zigsten Mal
vor seinem Gesicht kreisen lässt, ist ihm anzusehen, dass er sexuell
frustriert ist. Er fährt sich mit der Hand über den Mund, zögert kurz
und legt dann eine Hand auf ihren Po. Aus. Ende. Schluss. Vorbei.
Der Songtext bringt es auf den Punkt: Hey! Minaj schlägt ihm die
Hand weg und verlässt den Raum, nicht ohne ihre Haarpracht nach
hinten zu werfen. Während sie weggeht, beugt sich der Mann nach
vorn und verbirgt sein Gesicht in seinen Händen – offenbar schämt
er sich, weil er sich absolut unmöglich benommen hat.
Die Verwirrung, die Nicki Minaj in ihrem Video darstellt, ist
geradezu repräsentativ für eine Vielzahl von Dingen in unserer
Kultur. Es beinhaltet eine unauflösbare Herausforderung und einen
unmöglichen Anspruch. Der Anspruch lautet, dass eine Frau fähig
sein muss, vor dem Mann, der ihr gefällt, einen Table-Dance
hinzulegen, ihr Bein und andere Körperteile um ihn herumzuwickeln
und ihren Hintern vor seinem Gesicht kreisen zu lassen. Sie kann
ihn zum Sabbern bringen. Doch wenn dieser Mann sie auch nur
berührt, kann sie das Spiel von Grund auf ändern. Im Bruchteil einer
Sekunde kann sie von der Stripperin zur Mutter Oberin werden. Sie
wechselt von »Sieh dir ruhig an, wie ich meinen Hintern direkt vor
deinem Gesicht kreisen lasse« zu »Wie in aller Welt kommst du
drauf, du könntest den Po berühren, den ich die ganze Zeit direkt vor
deinem Gesicht habe kreisen lassen?« Schließlich ist er es, der
lernen muss, dass er einen Fehler macht. Wie lautet der unmögliche
Anspruch, dem niemand gerecht werden kann, der aber
nichtsdestotrotz in unser zeitgenössisches Sittengesetz geschrieben
wurde? Er lautet: Eine Frau kann und darf so sexy und sexuell sein,
wie es ihr gefällt, aber das bedeutet noch lange nicht, sie zum
Sexobjekt machen zu dürfen. Sexy ja, sexualisiert nein.
Das ist ein unmöglicher Anspruch. Es ist nicht nur unvernünftig,
sondern verstörend ihn an Männer zu stellen. Doch niemand will
dieses Phänomen untersuchen. Denn es zu untersuchen würde
bedeuten, eine Welt voll unabänderlicher, unlösbarer Komplexität zu
enttarnen.

GLEICH ODER BESSER?


Die Vorstellung, dass es möglich ist, sexy zu sein, ohne sexualisiert
zu werden, ist nur eine der widersprüchlichen Gepflogenheiten, auf
die wir uns geeinigt haben. Doch zahlreiche weitere liegen in der
Luft. Zum Beispiel, dass darauf beharrt wird, dass Frauen und
Männer in jeglicher sinnvoller Hinsicht gleich sind, über die gleichen
Eigenschaften und Kompetenzen verfügen und sich jederzeit in jeder
Disziplin miteinander messen können. Doch zeitgleich, auf magische
Weise, sind Frauen besser als Männer. Oder besser auf eine
besondere Weise. Anscheinend lassen sich beide Sichtweisen
gemeinsam denken, so widersprüchlich dies erscheinen mag. Geht
es um Frauen, ist die derzeitige akzeptierte Anschauung: Frauen
sind Männern gleich, aber anders, wenn sie davon profitieren
können oder es ihnen schmeichelt.
Dieses Paradox wird zum Beispiel meisterlich von Christine
Lagarde verkörpert, die von 2011 bis 2019 die geschäftsführende
Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) war. Den
zehnten Jahrestag der weltweiten Finanzkrise nutzte Lagarde, um
auf der Website des IWF zuschreiben, was wir seit 2008 aus dieser
gelernt haben und was seitdem unternommen wurde – oder auch
nicht. Zudem sprach sie davon, wie nötig es sei, dass mehr Frauen
in den Vorstandsetagen von Banken und für Aufsichtsbehörden von
Finanzinstitutionen arbeiteten. Außerdem nutzte Lagarde die
Gelegenheit, ihr Lieblingsmantra, das sie im vergangenen Jahrzehnt
gebetsmühlenartig wiederholt hatte, erneut zu bekräftigen. »Wie ich
schon oft gesagt habe, würde die Welt heute anders aussehen,
wenn es die Lehman Sisters und nicht die Lehman Brothers
gewesen wären.«89 Das war mehr als nur eine Wiederholung des
problematischen Gruppenbewusstseins, das zu den Ereignissen von
2008 beigetragen hatte.
Lagarde ging es um weitaus mehr als darum, dass wir mehr
Frauen in den Finanzinstitutionen brauchen. Das wird wohl kaum
jemand infrage stellen. Nein, Lagarde behauptet, wenn mehr Frauen
in dieser Branche beschäftigt wären – oder, noch besser, sie leiteten
–, käme es zu ganz anderen Ergebnissen und Folgen. Und Lagarde
stand mit dieser Meinung nicht allein da. Die unterschiedlichsten
Varianten davon kursierten in den Jahren nach der Finanzkrise mit
Fokus auf der Finanzbranche und anderen Bereichen des
öffentlichen Lebens.
Kurz nach der Finanzkrise klatschten die Studiogäste Beifall, als
die britische Fernsehmoderatorin Fern Britton in der wichtigsten
politischen TV-Talkshow der BBC, Question Time, in einem
Kommentar sagte: »Anscheinend waren ziemlich viele Männer im
Geldgeschäft tätig und haben es total vermasselt. Wenn es doch nur
ein paar Frauen gegeben hätte, die dort auf altmodische Weise den
Haushalt geführt hätten, denn Frauen sind traditionell sehr gut darin,
dafür zu sorgen, dass es genug Geld für Strom, Gas, Telefon und
Essen gibt. Wir Frauen hätten die Schatzkammern nicht geplündert
und ausgeraubt, und wir hätten auch nicht alles auf ein Pferd gesetzt
und gehofft, dass das Geld nächste Woche reinkommt.«90 Die
britische Ministerin für Gleichstellung, Lynne Featherstone, die
dieses Amt von 2010 bis 2015 innehatte und der
liberaldemokratischen Partei Liberal Democrats angehört, war der
gleichen Ansicht. Auf deren Parteitag 2011 gab sie den Männern die
Schuld an den »schrecklichen Entscheidungen« für die
Weltwirtschaft und sagte, Männer an sich wären der Hauptgrund für
»das Chaos, in dem sich die Welt befindet«.
Und genau hier ist das Problem. Sehen wir uns die aktuelle
Annahme über die Position der Frau im Vergleich zu der von
Männern an. Frauen und Männer sind gleich – sprich genauso
kompetent, fähig und genauso gut und geeignet für die gleichen
Aufgaben. Und gleichzeitig sind sie besser. Wie das genau
funktioniert, ist unzureichend definiert, denn es ist unzureichend
durchdacht. Trotzdem haben wir beschlossen, diese unzureichende
Denkweise so umfassend in unsere Gesellschaft einzubetten, wie es
nur geht.

WOMEN MEAN BUSINESS


Es ist ein schöner Tag in der City von London, als sich in einem
Hotel der gehobenen Preisklasse, unweit der Themse, mehr als 400
smarte Frauentreffen. Smart – möchte ich hier klarstellen – in
jeglicher Bedeutung dieses Wortes, nämlich intelligent, schick und
gepflegt. Man sieht es ihnen an, dass sie erfolgreiche
Geschäftsfrauen sind, und jedes Mal, wenn die Tür aufgeht und ein
Neuankömmling den Konferenzsaal betritt, könnte man glauben,
man wäre auf einem Fotoshooting. Hochhackige Schuhe, knisternde
Seidenschals, die typische Kleidung von Machtmenschen der
internationalen Wirtschaftselite. Niemand, wirklich niemand,
enttäuscht die Kolleginnen in dieser Hinsicht. Und es ist von Anfang
an klar, dass es eine ganz bestimmte Sichtweise gibt.
Die Konferenz »Women Mean Business« (»Frauen bedeuten
Geschäfte«) wurde von The Daily Telegraph veranstaltet. Zu den
Hauptsponsoren gehören NatWest [National Westminster Bank] und
BT [British Telecommunications]. Nach der Eröffnung durch die
Ministerin für Frauen und Gleichstellung findet eine
Podiumsdiskussion zum Thema »How Work Needs to Start Working
for Women« (»Wie Arbeit beginnen muss, für Frauen zu arbeiten«)
statt. Zu den Gästen zählen die wohl erfolgreichsten und
bekanntesten Geschäftsfrauen und die berühmtesten TV-
Sprecherinnen. Es gibt ein Kamingespräch zwischen der
Geschäftsführerin der NatWest und dem ersten weiblichen Serjeant-
at-Arms im House of Commons, also der ersten Parlamentsbeamtin,
die für die Ordnung im Unterhaus verantwortlich ist. Natürlich stehen
noch mehr Podiumsdiskussionen auf der Tagesordnung: »Was sind
reale Karrierebremsen für Frauen?«, »Die Gender-Lücke
schließen«, »Sind Frauen in einer von Männern dominierten Welt
der Investoren benachteiligt?« Diskussionsrunden, die das Interesse
der männlichen Hälfte der menschlichen Spezies wecken sollen,
tragen Titel wie »#MenToo: Die entscheidende Rolle von Männern
als Verbündete von Frauen«.
Der Fairness halber muss gesagt werden, da sich diese
Veranstaltung an Frauen wendet und nur eine Handvoll Männer
unter den Anwesenden ist, so versteht es sich von selbst, dass der
Schwerpunkt hier bei den Frauen liegt. Ebenso nachvollziehbar ist
es, dass die Gesprächsrunde größtenteils um Themen kreisen wie
Frauen am Arbeitsplatz oder Kinderbetreuung. Im ganzen Raum
riecht es nach Solidarität. Solidarität zwischen Menschen, die
ausgenutzt wurden. Immer wenn jemand auf beifällige Zustimmung
oder Applaus der Zuschauer aus ist, wird betont, wie sehr
»selbstbewusste Frauen« gebraucht werden. Der sicherste Weg, die
Zuhörerinnen dazu zu bringen, sich über das Gesagte zu mokieren,
ist, eine Geschichte von den Übeltaten eines »Alphamännchens« zu
erzählen. Darunter die, wie Männer dominieren, indem sie über die
Maßen reden. Offenbar sind die anwesenden Frauen darin
übereingekommen, dass die Welt nicht nur dringend
»selbstbewusste Frauen« braucht, sondern auch »weniger
selbstbewusste Männer«. Vielleicht treffen sich die beiden
Geschlechter dann ja mal irgendwo in der Mitte?
Und es gibt eine weitere todsichere Methode, die Anwesenden
auf seine Seite zu ziehen. Die jeweilige Rednerin braucht lediglich
ihrer Sorge, Nervosität oder einem Hauch von »Hochstapler-
Syndrom« Ausdruck zu verleihen. Eine beeindruckende, smarte und
ansprechende junge Frau, die ein Start-up-Unternehmen leitet,
beginnt ihren Vortrag genau damit. Sie ist nervös und hat fast das
Gefühl, sie sollte besser nicht hier sein – unter den ganzen
wunderbaren Frauen, die schon so viel erreicht haben in ihrem
Leben. Natürlich wird sie herzlich empfangen, und man gratuliert ihr
zu ihrem Mut, hier zu sprechen. Frauen müssen selbstbewusst sein.
Nichtsdestotrotz scheint es eine gute Strategie zu sein, um die
Frauen auf seine Seite zu ziehen, sich selbst als keineswegs
selbstbewusst zu geben. Eher als hätte man Angst, fertiggemacht zu
werden – vor allem von anderen Frauen. In der Fragerunde meldet
sich eine Frau und will wissen, ob auch die anderen die Erfahrung
gemacht hätten, dass andere Frauen sich zu ihrem größten Problem
in ihrem Arbeitsbereich entwickelten. Sie bleibt anonym.
Ich bin einer der wenigen Männer, die gebeten wurden, heute
einen Vortrag zu halten. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, sitze ich
mitten in einer Gesprächsrunde zum Thema »Bremst es Männer
aus, dass vordringlich Frauen befördert werden sollen?« Die
Gesprächsleitung übernimmt eine Journalistin von The Daily
Telegraph, mit von der Partie sind ein britischer Abgeordneter
namens Craig Tracey, der einer parlamentarischen Gruppe vorsteht,
die Frauen unterstützt, der weibliche Chief People Officer von The
Daily Telegraph und der britische Leiter der Abteilung für »Strategien
für weibliches Klientel« von J. P. Morgan. Der Konsens entspricht
dem fast aller anderen öffentlichen Gesprächsrunden– höchste Zeit
dazwischenzugehen!
Am auffälligsten ist jedoch, dass große Unklarheiten in Bezug auf
das Thema »Macht« bestehen. Bislang drehte sich jede Debatte um
die Annahme, dass fast alle Beziehungen am Arbeitsplatz und
anderswo mit der Ausübung von Macht zusammenhängen. Bewusst
oder unbewusst scheinen diese Frauen alle das Foucaultsche
Weltbild verinnerlicht zuhaben, in der Macht das alles entscheidende
Prisma ist, mit dem sich alle zwischenmenschlichen Beziehungen
erklären lassen. Auffallend ist nicht nur, dass jede der Anwesenden
in diesem Kontext ein Lippenbekenntnis abgelegt hat, sondern dass
es für diese Frauen anscheinend nur eine Art von Macht gibt. Und
zwar genau die Art, die – so heißt es zumindest – historisch von
überwiegend älteren, überwiegend reichen und immer weißen
Männern ausgeübt wurde. Und genau deshalb kommen die Witze
über das Verhalten von »Alphamännchen« so gut an. Offensichtlich
herrscht die Vorstellung, wenn es möglich wäre, in einer riesigen
majestätischen Saftpresse für soziale Gerechtigkeit das
Alphatiergehabe und die Männlichkeit aus diesen Machtmenschen
herauszupressen, würde der ausgepresste »Machtsaft« von Frauen
wie den hier anwesenden getrunken werden. Dann könnte dieser
Saft diejenigen ernähren und ihr Wachstum anregen, die die Macht
eher verdient haben. Hier werden die Gewässer tief. In meiner Rede
gehe ich jedoch davon aus, dass unsere Gespräche aufgrund dieses
Missverständnisses thematisch irgendwie begrenzt sind. Selbst
wenn wir annehmen – was wir besser nicht tun sollten –, dass Macht
(und nicht etwa, sagen wir, Liebe) die alles entscheidende Kraft für
zwischenmenschliche Beziehungen ist, bleibt unklar, weshalb wir nur
eine Art von Macht im Blick haben. Keine Frage, es gibt
Ausprägungen von Macht – wie eine Vergewaltigung –, die Männer
über Frauen ausüben können. Sicherlich kann Macht auch Formen
annehmen, die eine Handvoll älterer, in der Regel weiße Männer
über weniger erfolgreiche Menschen, darunter auch weniger
erfolgreiche Frauen, ausüben können. Doch es gibt noch andere
Arten von Macht auf dieser Welt. Historische Alte-weiße-Männer-
Macht ist nicht die einzige Quelle. Gibt es nicht auch bestimmte
Formen von Macht, die nur von Frauen ausgeübt werden können?
»Welche zum Beispiel?«, möchte jemand wissen. Da ich mich schon
so weit aus dem Fenster gelehnt habe, ist es sinnlos, dieser Frage
jetzt auszuweichen. Neben anderen Machtformen, die Frauen fast
exklusiv vorbehalten sind, ist dies die offensichtlichste. Frauen –
nicht alle Frauen, aber viele – besitzen eine Fähigkeit, die Männer
nicht haben. Es ist die Fähigkeit, das andere Geschlecht in den
Wahnsinn zu treiben. Männer verrückt machen. Männer nicht nur
zerstören, sondern sie sogar dazu bringen, sich selbst zu vernichten.
Diese Art von Macht erlaubt es einer Frau in ihren Zwanzigern, sich
einen Mann zu packen, der schon alles im Leben erreicht hat, ihn zu
quälen und dazu zu bringen, sich wie ein Narr zu benehmen und
sein ganzes Leben in den Sand zu setzen, für ein paar kurze
Momente, die nahezu keine Bedeutung haben.
Wir kennen die junge attraktive Frau bereits, die das Start-up-
Unternehmen führt. Auf der Suche nach Kapitalgebern ist es ihr
mehrmals passiert, dass potenzielle Investoren ihr ein unsittliches
Angebot machten. Die Reaktion des Publikums? Vernehmliches ts,
ts – was sonst. Keine Frage, hier wollten Männer ihre Macht
missbrauchen. Doch hinter dieser Missbilligung steckt
unausgesprochenes Wissen – ebenso wie unausgesprochene
Heuchelei. War sich jede der Anwesenden – auch die Frauen, die ts,
ts machten – hundertprozentig sicher, dass diese junge Frau nicht
auch Macht ausgeübt hat? Sind sie sicher, dass diese Frau genauso
viel Kapital hätte beschaffen können, wenn sie nicht aussähe wie ein
international gefragtes Model (und nach wie vor smart und klug
wäre), sondern wenn sie Jabba dem Hutten zum Verwechseln
ähnlich sähe? Oder wenn sie ein heruntergekommener alter weißer
Mann wäre? Wenn ich behaupte, dass selbst der Gedanke daran,
als Investor künftig enger mit ihr zusammenarbeiten zu können, ihr
mit Sicherheit nicht geschadet hat, dann erweise ich ihren
Fähigkeiten damit bestimmt keinen Bärendienst (und entschuldige
damit auch nicht das Verhalten von Männern, die sich nicht zu
benehmen wissen). Studien haben schon mehrfach wissenschaftlich
bewiesen, dass attraktive Menschen mehr in ihrem Beruf erreichen
als ihre weniger attraktiven Geschlechtsgenossen – vorausgesetzt,
alle anderen Qualifikationen sind vergleichbar.
Sind körperliche Anziehungskraft plus Jugend und Weiblichkeit
denn kein gutes Blatt, das auch ausgespielt werden sollte? Ist es
nicht denkbar, dass einer oder mehrere der Investoren, auch wenn
nichts zwischen dieser Frau und ihnen laufen könnte, würde oder
sollte, sich mehr auf eine weitere Besprechung mit ihr gefreut haben
als auf eine mit einem älteren weißen Mann? Und ist das nicht
ebenfalls eine Form von Macht – auch wenn es schwerfällt, sich das
als Frau einzugestehen? Ihre Existenz wird jedoch entweder
abgestritten, oder aber sie wird nur im stillen Kämmerchen ausgeübt.
Und dennoch gibt es diese Macht.
Dieser Punkt meines Vortrags wurde alles andere als herzlich
aufgenommen. Nein, das wollten die Anwesenden definitiv nicht
hören. Noch bevor ich mit dem nächsten unliebsamen Punkt
fortfahren konnte, entschied die Journalistin von The Daily
Telegraph, ihn selbst anzusprechen.
Unangemessenes Verhalten am Arbeitsplatz stellt ein großes
Problem dar. Viele Frauen konnten von schrecklichen Erfahrungen
berichten. Sicher hatten auch viele der Frauen im Raum schon
entsprechende Erfahrungen gemacht. Doch immer wieder klang an,
dass die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Grunde eine
ganz unkomplizierte Angelegenheit sei. Vor allem seit der »MeToo«-
Bewegung sei doch alles klar.
Männer brauchten einfach nur zu kapieren, dass es
angemessenes und unangemessenes Verhalten gibt. Und auch
wenn eingeräumt wurde, dass sich die beiden Kategorien erst
kürzlich geändert hatten, herrschte doch Konsens darüber, dass der
moralische Kodex in gewisser Weise genauso zeitlos wäre wie
eindeutig.
Ich vermute, dass jeder, der schon einmal in einem Büro
gearbeitet hat, weiß, dass die Dinge nicht ganz so einfach sind. »Ist
es zulässig, eine Kollegin auf eine Tasse Kaffee einzuladen?«, fragte
ich in die Runde. Offensichtlich war das schon ein Grenzfall. Wurde
eine solche Einladung öfter als einmal ausgesprochen, war das
schon ein Problem.
»Männer müssen lernen, dass ein Nein auch Nein bedeutet«,
lautete die einhellige Meinung. Als Grundlage einer moralischen
Norm sollte der Satz dienen: »Tu nichts, was du nicht auch vor den
Augen deiner Mutter tun würdest« – was aber leider die Tatsache
ausblendet, dass Erwachsene ziemlich viele, völlig legale,
akzeptable Dinge tun, die ihnen Spaß machen, die sie aber unter
keinen Umständen vor den Augen ihrer Mutter tun würden. Doch
scheinbar war das bereits zu spitzfindig. »Es ist doch wirklich ganz
einfach«, beharrte die Chief People Officerin. Nun – das ist es eben
nicht. Und das weiß jede der Anwesenden – ebenso wie die große
Mehrheit aller Frauen da draußen. Es ist zum Beispiel eine bekannte
Tatsache, dass ein erheblicher Prozentsatz aller verheirateten Paare
sich am Arbeitsplatz kennengelernt hat. Auch wenn das Internet
unsere Dating-Gewohnheiten auf den Kopf gestellt hat, lernen sich,
wie viele Studien der letzten Jahre zeigen, noch immer zwischen 10
und 20 Prozent aller Paare am Arbeitsplatz kennen. Angesichts der
Tatsache, dass bei erfolgreichen Leuten wie den anwesenden
Frauen kaum von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Privat-
und Berufsleben die Rede sein kann, liegt es wohl auf der Hand,
dass sie mehr Zeit mit ihren Kollegen verbringen als mit ihren
sozialen Kontakten. Ist es wirklich sinnvoll, sich die Chance, einen
Partner fürs Leben während der Arbeit zu finden, völlig zu versagen?
Oder sich auf die Minimalkontakte zu beschränken, die der oder die
Chief People Officer des Unternehmens abgesegnet hat? Wenn man
dem folgen würde, müsste man auf Folgendem bestehen:
Jeder Mann darf im Laufe seines Arbeitslebens nur einer Frau
Avancen machen, indem er sie lediglich ein einziges Mal zu einer
Tasse Kaffee oder einem Drink einlädt. Dieser eine Schuss muss zu
100 Prozent treffen, denn es gibt ja keine zweite Gelegenheit. Ist das
eine vernünftige, humane Maßnahme um das Verhältnis zwischen
den Geschlechtern zu regeln? Die meisten der Anwesenden
brechen bei diesem Vorschlag natürlich in Gelächter aus. Weil er
lächerlich ist. Und zum Lachen. Und er ist das neue Gesetz am
Arbeitsplatz.
Im Dezember 2018 wurde das Verhalten von hochrangigen
Führungskräften in der Finanzwelt untersucht – einem unbestritten
von Männern dominierten Sektor, in dem der Großteil an Frauen
unterstützende Aufgaben erledigt.91 Die mehr als verblüffenden
Ergebnisse wurden vom Medienunternehmen Bloomberg
veröffentlicht. Über 30 Topmanager gestanden im Interview, dass sie
nicht mehr gewillt seien, mit ihren Kolleginnen essen zu gehen. Oder
im Flugzeug neben ihnen zu sitzen. Sie bestanden darauf, im Hotel
auf einer anderen Etage untergebracht zu werden und vermieden
Gespräche unter vier Augen mit Frauen.92
Verhalten sich Männer am Arbeitsplatz tatsächlich so, dann
bedeutet das, dass die neuen Benimmregeln weder aufrichtig noch
eindeutig sind. Regeln, von denen es heißt, sie seien
festgeschrieben, sind doch gerade erst in den Büros angekommen.
Normen, die als universell angepriesen werden, gab es vorgestern
doch noch gar nicht. Und dann schwingt, wie der Bloomberg-Bericht
suggeriert, bei allem noch mit, dass die Leute sich zwar selbst über
den Weg trauen (obwohl das nicht immer berechtigt ist), aber kein
Vertrauen haben, ob von anderen aufgestellte Behauptungen der
Wahrheit entsprechen – einschließlich der Behauptungen von
Frauen, die allein mit einem männlichen Kollegen sind. Wenn die
Benimmregeln am Arbeitsplatz so einfach festzulegen sind,
überrascht es schon, dass die ganze Angelegenheit trotzdem so
komplex ist.
Wieder zurück zur Konferenz in London: Was mir besonders
auffiel, war, dass die Diskussionsrunde so endete, wie das noch bis
vor Kurzem ausschließlich den Universitäten für
Geisteswissenschaften vorbehalten war. Wir beschließen den
»Women Mean Business«-Kongress – unweigerlich, wie es scheint
– mit einer Diskussion über Privilegien. Wer genießt sie, wer sollte in
den Genuss kommen, und wie lassen sie sich gerechter verteilen?
Das Kuriose an Diskussionen dieser Art – von denen es in letzter
Zeit sehr viele gibt –, ist die Tatsache, dass Privilegien unfassbar
schwer zugreifen sind. Sie quantifizieren zu wollen, ist ein Ding der
Unmöglichkeit. Denkbar ist zum Beispiel, dass sich jemand
privilegiert fühlt, weil er viel Geld geerbt hat. Für einen anderen mag
sich das als Fluch erweisen, da er zu jung zu viel davon hat und
deshalb keinen Anreiz sieht, seinen Platz in der Welt zu finden. Ist
jemand, der ein Vermögen geerbt hat, aber mit einer Behinderung
zurechtkommen muss, privilegierter als ein gesunder Mensch, der
nichts geerbt hat? Wer kann diese Frage beantworten? Wem würden
wir das überhaupt zutrauen? Wie kann man dafür sorgen, dass
einerseits die unterschiedlichen Schichten dieser Übereinkunft so
flexibel sind, dass sie auf jeden Menschen zutreffen, und
andererseits berücksichtigt wird, dass es im Leben mal besser und
mal schlechter läuft?
Ein weiteres Problem in diesem Kontext ist, dass wir zwar
durchaus beurteilen können, ob ein anderer gewisse Privilegien
genießt, gegenüber uns selbst jedoch außerstande oder nicht willens
sind, dies einzuschätzen. Die anwesenden Frauen zählen nicht nur
nach sämtlichen Maßstäben aller vergangenen Epochen zur Crème
de la Crème, sondern auch in ihrem Land, ihrer Stadt oder ihrem
Wohnviertel. Sie verdienen eine hübsche Stange Geld, verfügen
über ein riesiges Netzwerk und haben in einem Monat mehr
Möglichkeiten als die meisten männlichen Weißen ihr Leben lang.
Und doch sind Privilegien immer wieder Thema, weil davon
ausgegangen wird, dass immer nur andere sie genießen und nie
man selbst.

SCHULUNGEN ÜBER VORURTEILE UND


INTERSEKTIONALITÄT
Damit wären wir unvermeidlich – und punktgenau – am ultimativen
Höhepunkt dieses unmöglichen Prozesses der fortwährenden
Stratifikation und Deduktion angekommen: der Bedeutsamkeit der
Intersektionalität. Noch bevor ich die Gelegenheit dazu habe, leitet
die Chief People Officerin von The Daily Telegraph zu diesem
Thema über. Sie betont, dass in diesem Zusammenhang die
merkmalübergreifende Diskriminierung nicht vergessen werden
sollte.
Wir müssten uns vor Augen halten, dass es nicht nur Frauen
sind, die mehr Befugnisse erhalten sollten und die unsere
Unterstützung bräuchten, um in der Hierarchie aufsteigen zu
können. Es gebe auch andere Randgruppen, die ebenfalls auf
unsere Hilfe angewiesen seien.
Eine Zuschauerin meldet sich zu Wort und weist die
Diskussionsrunde darauf hin, dass wir an die Flüchtlinge denken
sollten, deren Stimmen in diesem Kontext nicht untergehen dürften.
Dieser Punkt ließe sich ins Unendliche ausdehnen. Es gibt
Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Oder Depressionen.
Nicht jeder ist attraktiv. Manche sind homosexuell. Und so weiter.
Die Mitarbeiterin von J. P. Morgan erklärt, dies sei genau einer
der Gründe, weshalb ihr Arbeitgeber der Belegschaft ein Training
zum Thema »Unbewusste Vorurteile« eingerichtet habe, was die
Mehrheit der Anwesenden für eine nachahmenswerte Idee hält.
Unser Gehirn ist so programmiert, dass wir uns mitunter gar nicht
bewusst sind, dass in unserem Hinterkopf Vorurteile und
Diskriminierung schlummern. Diese tief in uns verwurzelten
Vorurteile können dazu führen, dass wir Männer Frauen vorziehen
(vermutlich gilt das auch umgekehrt) oder Menschen einer
bestimmten Hautfarbe Menschen mit einer anderen. Manche
scheuen davor zurück, jemanden einzustellen, weil er eine
bestimmte Religion oder sexuelle Orientierung hat. Aus diesen und
anderen Gründen werden bei J. P. Morgan und immer mehr Banken,
Finanzinstitutionen und anderen privatwirtschaftlichen oder
öffentlichen Arbeitgebern Schulungen angeboten, damit die
Belegschaft lernt, ihre Einstellungen neu »zu verdrahten« und ihre
Vorurteile zu überprüfen und zu korrigieren.
Was (neben anderen Dingen) so kurios an dieser
Gesprächsrunde ist, ist, dass die meisten Leser von The Daily
Telegraph dies alles absolut hassen würden. Der Telegraph wird in
England als Zeitung der konservativen Rechten gesehen. Man kann
über seine Leser sicherlich behaupten, dass sie sich eher weniger
für Dinge erwärmen können, die sich verändern, als vielmehr für
Dinge, die so in etwa gleich bleiben. Solche Trainings zur
Überwindung unbewusster Vorurteile dürften jedoch ziemlich weit
oben auf der Liste der Dinge stehen, die dafür sorgen, dass
überhaupt nichts gleich bleibt. Das ist der springende Punkt.
Es ist beabsichtigt, alles zu ändern. Und diese Überzeugung hat
sich als zentraler Standpunkt nicht nur bei konservativen Zeitungen
und führenden Unternehmen in der Wall Street und der City of
London festgesetzt, sondern auch im Herzen der Regierung. Das
US-amerikanische Amt für Personalverwaltung kündigte 2016 an, es
plane, alle seine Beschäftigten in Sachen unbewusster
Diskriminierung zu schulen. Das sind 2,8 Millionen Mitarbeiter.93 Die
britische Regierung hat sich verpflichtet alle Beschäftigten im
Überwinden von Vorurteilen und der Förderung von Diversität zu
fördern.
Im Detail mögen sich diese Schulungen voneinander
unterscheiden, aber im Prinzip gehen sie alle von dem an der
Harvard University entwickelten IAT [Impliziter Assoziationstest] aus.
Seit er 1998 ins Internet gestellt wurde, haben diesen auf der
Webseite der Harvard University zugänglichen Test mehr als 30
Millionen Menschen gemacht, weil sie wissen wollten, ob auch sie
unbewusste Vorurteile besitzen.94 Mit dem IAT wird versucht
herauszufinden, wer nach Ansicht des Probanden zur
»Eigengruppe« und wer zur »Fremdgruppe« zählt. Dieser Test ist
unbestritten zum einflussreichsten Messverfahren für »unbewusste
Vorurteile« avanciert und wurde Tausende Male in
wissenschaftlichen Arbeiten zitiert.
Zudem hat er eine ganze Branche hervorgebracht. 2015 hat die
Royal Society of Arts in London verlauten lassen, die Mitglieder von
Auswahlgremien und Ernennungsausschüssen zum Thema
unbewusste Vorurteile zu schulen. Die Gesellschaft veröffentlichte
ein Video, in dem erklärt wird, wie das abläuft. Es stellt folgenden
vier Schritte vor: Mitarbeiter sollen sich bei der
Entscheidungsfindung ganz bewusst mehr Zeit lassen, sich über die
Hintergründe ihrer Entscheidung Gedanken machen, kulturelle
Klischees hinterfragen und sich gegenseitig auf Anzeichen von
Diskriminierung beobachten. Die Umsetzung dieser Schritte wirft
zahlreiche weitere Fragen auf. Angenommen, jemand hat
festgestellt, dass er ein kulturelles Klischee verinnerlicht hat. Darf er
an diesem festhalten? Wahrscheinlich nicht. Wenn sich die
Mitarbeiter gegenseitig auf die Finger sehen, aber keinerlei
Diskriminierung feststellen können, ist das ein Erfolg oder ein
Misserfolg? Ein Zeichen unvorstellbarer Tugendhaftigkeit, ein
Zeichen, dass die Beschäftigten die Zeichen nicht richtig deuten,
oder ein Zeichen, dass alle flunkern? Ist die Rede davon, im
Rahmen einer Schulung bestimmte Dinge zu »hinterfragen«,
bedeutet das in der Regel nicht, die Menschen zu befragen. Es
bedeutet, sie zu ändern.
Jeder, der einmal Gespräche mit einer großen Zahl von
Bewerbern führen musste für einen wie auch immer gearteten
Posten, weiß, dass viel vom »ersten Eindruck« abhängt. Der Grund
dafür, dass es so viele Varianten des Sinnspruchs »Es gibt keine
zweite Chance für den ersten Eindruck« gibt, ist, dass allgemein
angenommen wird, dass er tatsächlich wahr ist. Es geht dabei nicht
nur um Aussehen, Kleidung oder ob die Bewerber einen kräftigen
Händedruck haben oder nicht. Es geht um eine ganze Reihe von
Signalen und Eindrücken, die eine Person aussendet. Die jeweilige
Reaktion darauf ist in der Tat von Vorurteilen geprägt – und von
schneller Entscheidungsfindung. Doch nicht alle Vorurteile sind
schlecht.
Beispielweise haben die meisten Vorurteile gegen Menschen,
deren Augen flackern, sich unstet bewegen oder starren. Handelt es
sich dabei um ein Vorurteil oder eine von der Evolution entwickelte
instinktive Abneigung, die möglicherweise ihre Daseinsberechtigung
hat? Oder, um näher am Thema zu bleiben, was soll der Inhaber
eines kleinen Unternehmens tun, wenn er beim
Vorstellungsgespräch mit einer Enddreißigerin den Eindruck
gewinnt, sie plane, in den nächsten paar Jahren schwanger zu
werden? Rein rechtlich darf er nicht nachfragen. Ein potenzieller
Arbeitgeber könnte die Kandidatin nun ablehnen, auch wenn sein
Eindruck auf Vorurteilen basiert. Das Gesetz möchte genau das
ändern.
Doch der Widerstand eines Inhabers eines kleinen
Familienbetriebs dagegen, eine Bewerberin einzustellen, die
vielleicht nur kurze Zeit arbeitet, bevor sie in Mutterschutz oder
Elternzeit geht und die die Firma dadurch Geld kostet, obwohl sie
vielleicht gar nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt, ist kein völlig
irrationales Vorurteil. Theoretisch kann bei einem solchen Test
herauskommen, dass der Betreffende ein tiefes Misstrauen gegen
Menschen mit einem bestimmten Hintergrund oder gegen
erfolgreiche Frauen und vieles andere mehr hegt. Es kann aber auch
dazu führen, dass derjenige beginnt, seinem Instinkt, seinem
Bauchgefühl zu misstrauen. Ebenso wie Instinkt in die falsche
Richtung weisen kann, hat sich dieser sehr häufig bereits als richtig
erwiesen.
Gefühle, aber auch Überzeugungen sind starken Schwankungen
unterworfen, und das weiß jeder, der am IAT teilgenommen hat.
Selbst die Macher des IAT, der zum Maßstab aller anderen Tests
geworden ist, hatten Bedenken dahingehend, wofür ihre Arbeit
genutzt wird und dass die Theorie der »unbewussten Vorurteile«
insgesamt fragwürdig ist. Seit dieser Test von Unternehmen,
Behörden, Universitäten und einer wachsenden Zahl anderer
Institutionen angewendet wird, haben zwei von den drei Machern
dieses Verfahrens öffentlich zugestanden, dass er nicht mit der
erforderlichen Genauigkeit herausfinden kann, was herauszufinden
er vorgibt. Brian Nosek von der University of Virginia, einer der drei
Urheber des IAT, ließ öffentlich verlauten, dass ein großes
Missverständnis darüber herrscht, was der Test messen kann und
was nicht. Seine Arbeit werde »falsch interpretiert«, ließ er wissen.
Über Versuche, Voreingenommenheit beim Einzelnen
nachzuweisen, sagte er: »Wir haben eine gewisse Konsistenz
festgestellt, aber keine ausgeprägte. Unser Verstand ist ziemlich
unbeständig.«95 Erschwerend hinzu kommt die zunehmende
Evidenz, dass Tests und Schulungen in der Praxis nichts bewirken.
Auch wenn beispielsweise mehr Stellen für Frauen in den Gremien
geschaffen werden, heißt das noch lange nicht, dass eine Frau
einen Job mit höherer Wahrscheinlichkeit bekommt.96
Das heißt, wir haben es erneut mit einem Bereich zu tun, der,
wenngleich nicht ausreichend erforscht, dennoch über Behörden und
Unternehmen hinweggerollt wird. Stellt sich die Frage, ob wir davon
profitieren. Oder kostet das Ganze Unsummen für Experten, die
Beschäftigte in einer dilettantischen Disziplin anleiten? Oder werden
die Bestrebungen, die Gehirne sämtlicher Arbeitnehmer in
öffentlichen Institutionen und Unternehmen wie erwartet neu zu
verdrahten, Folgen haben, an die noch keiner zu denken gewagt
hat? Wer weiß.
Wenn das Bearbeiten impliziter Vorurteile erscheint wie eine
unzureichend ausgearbeitete Theorie, die zu einem vollständig
ausgereiften Unternehmenskonzept mutiert, ist das
dahinterstehende Dogma einmal mehr überzogen.
Auf der Konferenz »Women Mean Business« ist es die Chief
People Officerin von The Daily Telegraph, die sich geschäftig für
einen intersektionalen Ansatz in der Geschäftswelt, aber auch in der
Gesellschaft allgemein einsetzt – und zwar als Reaktion auf die
Frauen im Publikum, die sich fragen, welchen Platz ethnische
Minderheiten, Flüchtlinge und Asylanten in der Liste der Gruppen
einnehmen, die in den Genuss dessen kommen sollten, was auch
immer aus den Mächtigen herausgepresst werden kann.
Es sollte vielleicht gleich zu Beginn klargestellt werden, dass,
obwohl sich Intersektionalität – wie Schulungen zur Beseitigung von
Vorurteilen – als vollwertige Wissenschaft präsentiert, diese
meilenweit davon entfernt ist. Ihre Urheber, wie feministische
Autorinnen und die Literaturwissenschaftlerin »bell hooks« (Gloria
Jean Watkins) und Peggy McIntosh, behaupten einfach, dass
verschiedene Gruppierungen (Frauen, ethnische und sexuelle
Minderheiten und andere) als Teil der westlichen Demokratien in
einer »Matrix der Unterdrückung« strukturell unterdrückt werden.
Aus diesem Grund haben Intersektionalisten mehr von einem
politischen Projekt als von einer akademischen Disziplin. Die
Interessen einer dieser Gruppierungen werden als Interesse und
Angelegenheit aller dieser Gruppierungen dargestellt. Verbinden sich
diese gegen ihren gemeinsamen Feind an der Spitze der Pyramide,
der angeblich die Macht hält, werden wunderbare Dinge passieren.
Die Behauptung, dass Intersektionalität noch unzureichend
durchdacht ist, ist eine Untertreibung. Neben ihren anderen
Schwächen hat sie sich in keinerlei bedeutsamer Weise einem auch
zeitlich bedeutsamen Praxistest unterzogen. Ihre philosophischen
Grundlagen sind mehr als dürftig und wenig geistige Arbeit wurde
investiert.
Man kann entgegnen, dass es viele Dinge gibt, die ebenfalls
sowohl einer gewissen Praxis wie auch einer vollständig
ausgearbeiteten Gedankenstruktur entbehren. In so einem Fall
jedoch wäre allein der Versuch, dieses Konzept einer ganzen
Gesellschaft – einschließlich jeglicher Bildungseinrichtungen und
profitabler Unternehmensbereiche – aufzuoktroyieren, vermessen,
um nicht zu sagen töricht.
Auch wenn eine große Zahl von Menschen in wichtigen,
gutbezahlten Positionen sich für die Theorie der »Intersektionalität«
erwärmen, an welchen Punkten funktioniert sie nachweislich? Und
wie könnte sie funktionieren? Schauen wir uns den Katalog
unlösbarer Fragen an, die allein bei dieser Konferenz »Women
Mean Business« aufkommen. Alle anwesenden Frauen haben von
Karriereförderungen profitiert. Viele sind ganz oben angekommen.
Welche von ihnen ist gewillt, ihren Platz zugunsten von jemandem
mit einer anderen Hautfarbe, einer anderen sexuellen Orientierung
oder aus einer anderen sozialen Schicht zu räumen, und wann und
unter welchen Bedingungen sollten sie das tun? Wann, und woran,
soll jemand erkennen, dass die Person, die ihm vorgezogen wurde,
sollte sie einen Schritt zurückgetreten sein und sich für deren
Vorwärtskommen eingesetzt haben, nicht doch ein leichteres Leben
gehabt hat als sie selbst?
In den letzten Jahren, als sich Intersektionalität als Theorie
allmählich durchsetzte, zeigten sich in Unternehmen, die sich an ihre
Umsetzung machten, mehr und mehr Absonderlichkeiten. Mitunter
ist die Reihenfolge ihres Auftretens vertauscht, nicht aber ihr Inhalt.
In den Unternehmen sämtlicher größerer Städte werden bevorzugt
Frauen oder Farbige in höhere Positionen befördert. Doch da eine
wachsende Zahl von Unternehmen und Behörden unterschiedlich
hohe Gehälter von Männern und Frauen oder von Menschen mit
unterschiedlicher ethnischer Herkunft begründen müssen, kommt es
zu neuen, faszinierenden Problemen. In Großbritannien müssen alle
Organisationen mit mehr als 250 Mitarbeitern den durchschnittlichen
Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen veröffentlichen. Ein
Abgeordneter hat 2018 vorgeschlagen, diese Vorschrift auf
Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern auszudehnen.97 Das
bedeutet unter anderem, dass eine neue Bürokratie geschaffen
werden muss, um eine Vielzahl neuer Probleme zu durchblicken.
Ich werde die Identität der Person, um die es gleich geht, nicht
preisgeben, aber ihre Geschichte ist sehr aufschlussreich. Eine
meiner Bekannten hat vor Kurzem eine neue, gutdotierte Stelle bei
einem Großunternehmen in Großbritannien bekommen. Bereits ein
paar Monate später trat der Vorgesetzte mit einer ungewöhnlichen
Bitte an die Person heran. Wäre sie denn bereit, ein höheres Gehalt
als das, auf das sie sich geeinigt hatten, zu akzeptieren? Da der
Abschluss des Finanzjahres kurz bevorstand, war die
Finanzabteilung sehr beschäftigt mit der geschlechter- und
rassenspezifischen Aufschlüsselung der entsprechenden Quoten für
das gesamte Unternehmen. Zur großen Bestürzung der
Unternehmensleitung gab es kaum einen Unterschied zwischen den
Löhnen und Gehältern für die ethnische Mehrheit und denen für die
ethnischen Minderheiten. Ob es denn in Ordnung für besagte
Mitarbeiterin wäre, wenn sie ein deutlich höheres Gehalt bekäme,
damit die Unterschiede am Jahresende deutlicher ausfielen? Da die
betreffende Person ein kluger und vernünftiger Mensch ist, nahm sie
das Angebot dankbar an, um ihrem Arbeitgeber aus dieser kniffligen
Situation zu helfen.
Gut möglich, dass dies ein extrem lächerliches Beispiel dafür ist,
welche Auswüchse die Quotenbesessenheit annehmen kann. Doch
in immer mehr Unternehmen geschehen ähnliche Dinge. Jeder
Betrieb, der konzertiert darauf hinarbeitet, vor allem die Karriere von
Farbigen, Frauen oder Angehörigen von sexuellen Minderheiten zu
fördern, kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich zeigt, dass
genau dieser Personenkreis eh schon relativ privilegiert ist. In vielen,
wenngleich nicht allen Fällen, gibt es Leute, denen das System
bereits viele gute Dienste erwiesen hat. Es mag Frauen geben, die
aus einer vermögenden Familie kommen, auf Privatschulen gingen
und an den besten Universitäten studiert haben. War es wirklich
nötig, ihnen auf die Sprünge zu helfen? Vielleicht. Doch auf wessen
Kosten?
So wurde beobachtet, dass unter den ersten Mitarbeitern, die
sexuellen oder ethnischen Minderheiten angehörten und im Namen
der Diversität der Arbeitsplätze von der »positiven Diskriminierung«
profitieren sollten, nicht unbedingt zu der am meisten ausgebeuteten
Gesellschaftsschicht zählten. Ein ähnliches Phänomen ist auch in
der Politik zu beobachten. Als die Konservative Partei in
Großbritannien beschloss, mehr Kandidaten aus ethnischen
Minderheiten aufzustellen, entdeckten sie ein paar ausgesprochene
Talente, darunter mindestens einen schwarzen Abgeordneten, der in
Eton studiert hatte, und einen weiteren, dessen Onkel Vizepräsident
von Nigeria war. Die Labour Party nominierte eine Frau, deren Tante
die Premierministerin von Bangladesch ist. Nicht anders als in der
Politik verhält es sich auch in privaten Unternehmen und
Einrichtungen der öffentlichen Hand. Schnellspur-Diversität kann
dazu führen, dass die Personen ge- und befördert werden, die
eigentlich eh schon am Ziel angekommen sind. In den meisten
Fällen handelt es sich um im höchsten Maße privilegierte Menschen
jeglicher Gruppierung – einschließlich ihrer eigenen. In europäischen
und amerikanischen Unternehmen, die sich dieser
Einstellungsmethode verschrieben haben, sickert allmählich eine
bittere Erkenntnis durch. Den Beschäftigten wird zunehmend klar,
dass diese Maßnahmen durchaus ihren Preis haben. Ihre
Arbeitgeber haben es Frauen und ethnischen Minderheiten zwar
ermöglicht, gesellschaftlich aufzusteigen, dennoch war das Niveau
der Klassenmobilität nie zuvor so niedrig. Das Einzige, was ihnen
gelungen ist, ist, eine neue Hierarchie zu errichten. Hierarchien sind
nicht statisch. Das waren sie noch nie, und das werden sie aller
Wahrscheinlichkeit nach auch nie sein. Die Befürworter von
Intersektionalität, Antidiskriminierungsmaßnahmen und dergleichen
haben außerordentlich schnell agiert. Deren schnelle Verbreitung in
der Geschäftswelt ist ein Zeichen dafür, dass eine neue Hierarchie
entstanden ist. Und wie das bei Hierarchien nun mal so ist, gibt es
die Klasse der Unterdrücker und die der Unterdrückten. Und es gibt
Leute, die rechtschaffen sein wollen, und die (»Chief People
Officers«), die in der Position sind, diejenigen aufzuklären, die das
nicht sind. Im Moment ist diese neue Priesterklasse sehr gefragt, um
zu erklären, wie ihrer Meinung nach die Welt funktioniert. Doch das
größte Problem ist nicht, dass diese Theorien ihren Weg in die
Institutionen gefunden haben, ohne gut durchdacht worden zu sein
und ohne Erfolgsgeschichten berichten zu können. Das größte
Problem liegt darin, dass diese neuen Systeme weiterhin auf
Gruppenidentitäten aufbauen, die wir nicht einmal im Ansatz
verstehen. Wir haben es folglich mit Systemen zu tun, die auf
Grundlagen aufbauen, auf die wir uns nicht einmal ansatzweise
geeinigt haben. Die Rede ist von der nach wie vor problematischen
Beziehung zwischen den Geschlechtern und Problemen, von denen
wir früher gesagt hätten, sie hätten mit Feminismus zu tun.

DIESE FEMINISTISCHE WELLE


Zum Teil rührt die allgemeine Verunsicherung vom unglaublichen
Erfolg der ersten und zweiten Welle des Feminismus und daher,
dass die nachfolgenden Wellen ernsthaft am Phänomen »Des
heiligen Georg im Ruhestand« leiden.
Exakt zu bestimmen, welche Welle wann stattgefunden hat, wird
erschwert durch die Tatsache, dass allgemein anerkannt ist, dass sie
zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten stattgefunden
haben. Es gilt jedoch als gesichert, dass die erste Welle des
Feminismus im 18. Jahrhundert begann und Schätzungen zufolge
bis zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts und der Gewährung
anderer Frauenrechte in den 1960er-Jahren anhielt. Die Ziele der
Frauenbewegung damals waren präzise, die Forderungen
weitreichend. Forderungen von Frauenrechtlerinnen wie Mary
Wollstonecraft und der Frauenbewegung zielten auf gleiche Rechte
von Mann und Frau ab. Gleiche und nicht unterschiedliche Rechte
für beide Geschlechter – darunter selbstredend das Wahlrecht. Aber
auch das Recht, die Scheidung einzureichen, das gemeinsame
Sorgerecht für Kinder und das Recht auf Gleichstellung bei
Erbschaften. Der Kampf um diese Rechte währte lange, aber er war
erfolgreich.
Die zweite Welle des Feminismus begann Ende der 1960er-
Jahre und verfolgte Ziele, die eng mit den grundlegenden
Frauenrechten zusammenhingen, aber noch deutlich weiter gingen.
Es ging um Themen wie das Recht von Frauen, sich für eine
bestimmte berufliche Laufbahn frei entscheiden zu können und
darüber hinaus dabei unterstützt zu werden. In Amerika kämpften
Betty Friedan und ihre Verbündeten für das Recht von Frauen auf
Bildung, aber auch auf Mutterschutz und Kinderbetreuung für
berufstätige Frauen. Diese Feministinnen traten ein für die
reproduktiven Rechte von Frauen – darunter das Recht auf
Empfängnisverhütung und Abtreibung –, und sie kämpften für den
besonderen Schutz von Frauen in und außerhalb einer Ehe. Ihr Ziel
lautete, Frauen auf ihrem Weg in eine Gesellschaft zu begleiten, die
ihnen gleiche Chancen sowohl im Berufs- als auch im Privatleben
einräumt. Anders ausgedrückt, sie strebten nach der
Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Es gab also zwei oder drei solcher Wellen (je nachdem, wo und
wiegezählt wird), die sich über genauso viele Jahrhunderte
erstreckten, doch in den 1980er-Jahren zersplitterte die
Frauenbewegung und stürzte sich auf Nischenprobleme wie die
Frage, was Feministinnen von Pornografie halten sollen. Ihre
Anführerinnen samt Gefolgschaft wurden als Feministinnen der
dritten Welle und ab 2010 dann als Feministinnen der vierten Welle
bezeichnet und bedienten sich einer auffälligen Rhetorik. Da die
großen Kämpfe um Gleichberechtigung hinter ihnen lagen, hätte
man meinen können, die Feministinnen würden die restlichen
Probleme aufkehren und ihre Rhetorik an die Realität anpassen,
nämlich dass die Dinge noch nie besser waren als jetzt.
Das passierte nicht. Wenn jemals etwas so schnell Fahrt
aufgenommen hat, dass es entgleist ist, kurz nachdem es den
sicheren Bahnhof verlassen hat, dann war es der Feminismus des
vergangenen Jahrzehnts. Ab den 1970er-Jahren eröffnete sich
innerhalb des feministischen Lagers ein neues Spielfeld mit
mehreren völlig unterschiedlichen Leitmotiven. Das erste war das
von der drohenden Niederlage kurz vor dem Sieg.
1991 erschien Susan Faludis Buch Backlash: Die Männer
schlagen zurück. Ein Jahr später schlug Marilyn French
(Bestsellerautorin von Frauen, 1977) mit Der Krieg gegen die Frauen
in die gleiche Kerbe. Diese enorm erfolgreichen Bücher lebten von
der Idee, dass sich Männer nach dem Erfolg der Frauenbewegung
zusammentaten und zum Gegenschlag ausholten. Faludi und
French sprachen davon, dass das Ziel der Gleichberechtigung zwar
noch keinesfalls erreicht sei, doch allein der Gedanke daran, dass es
eines Tages so weit sein könnte, brächte die Männer unweigerlich
dazu, sich zusammenzurotten und den Frauen die erkämpften
Rechte wieder zu nehmen. Es ist ein beeindruckendes Erlebnis, ihre
Bücher aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts erneut zu lesen,
denn ihre Tonlage gilt mittlerweile als völlig normal, während ihre
Forderungen nur als irre bezeichnet werden können.
In ihrem internationalen Bestseller erkannte Faludi den
»unerklärten Krieg gegen Frauen« in fast jeder Lebenssituation
westlicher Kulturen. Sie erkannte ihn in den Medien und Filmen. Sie
erkannte ihn im Fernsehen und in der Kleidung. Sie erkannte ihn in
der Politik und in der akademischen Welt. Sie erkannte ihn in den
Wirtschaftswissenschaften und in der Populärpsychologie. Alles in
allem lief es auf den steigenden Druck hinaus, so Faludi, den
Bemühungen um Gleichberechtigung Einhalt zu gebieten und diese
sogar umzukehren. Doch dieser Gegenschlag war voller
offensichtlicher Widersprüche. Zum einen war er mal eine
organisierte, mal eine »unorganisierte Bewegung«. Tatsächlich
machte die »mangelnde Orchestrierung« ihn »schwerer zu
erkennen« – und »möglicherweise auch effizienter«.
Im vergangenen Jahrzehnt, das in Ländern wie Großbritannien
geprägt war von Kürzungen der öffentlichen Ausgaben (die aber
eine Premierministerin angezettelt hatte), durchdrang »der
Gegenschlag selbst die hintersten Winkel der Kultur und waberte
durch Gänge der Schmeicheleien und der Angst«.98 Mit diesen und
ähnlichen Mitteln blickte der Krieg gegen Frauen plötzlich jedem
immerfort ins Gesicht, war zugleich aber so subtil, dass es schon
eine Frau wie Faludi brauchte, um bemerkt zu werden.
French hingegen behauptete zu Beginn ihres Buchs, dass es
Hinweise dafür gebe, dass die menschliche Spezies etwa 3,5
Millionen Jahre lang ein Leben geführt hätte, in dem Männer und
Frauen gleichberechtigt gewesen wären. Eigentlich sogar mehr als
gleichberechtigt, da zu jener Zeit Frauen einen höheren Status
genossen als Männer. Angeblich lebte die Menschheit die letzten 10
000 Jahrein etwa in »egalitärer Harmonie und materiellem
Wohlstand«, und beide Geschlechter kamen seht gut miteinander
aus. Doch, wie French ihre Leser aufklärt, seit etwa 4000 vor Christi
Geburt begannen die Männer mit der Errichtung des »Patriarchats«,
ein System, das sie »als männliche Vorherrschaft, die durch Gewalt
gesichert wird« definiert. Seitdem ging es mit den Frauen langsam,
aber stetig bergab. Ihre Leser werden darüber aufgeklärt, dass
Frauen »wahrscheinlich« die ersten Sklavinnen waren und seitdem
»zunehmend entmachtet, erniedrigt und unterjocht wurden«. In den
vergangenen vier Jahrhunderten, schreibt French, sei das Ganze
völlig außer Kontrolle geraten, da Männer (»vor allem westliche
Männer«) versuchten, ihre Autorität über die Natur und alles, was
damit verbunden ist – also auch gegenüber Farbigen und Frauen –
zu verteidigen.99
Nachdem sie Feminismus als »jeglichen Versuch, das Schicksal
beliebiger Gruppierungen von Frauen durch Solidarität und eine
weibliche Perspektive zu verbessern« definiert hat, behauptet
French, dass Männer »als Kaste […] nach Wegen suchen, den
Feminismus zu vereiteln«. Sie trachteten danach, den Frauen ihre
Siege zu nehmen (als Beispiel nennt sie »legale Abtreibung«).
Zudem strebten sie an, eine »gläserne Decke« über berufstätigen
Frauen zu errichten und eine Bewegung ins Leben zu rufen, die
darauf abziele, Frauen in eine völlig untergeordnete Rolle
zurückzudrängen. Diese und andere Vorhaben gipfelten dann in
einem »globalen Krieg gegen Frauen«.100
French ignoriert eine beachtliche Zahl von Hinweisen, die auf das
Gegenteil ihrer Behauptungen hindeuten, und hat keinerlei
Bedenken, Substanzialisierungen und Verallgemeinerungen über die
männliche Hälfte der Menschheit zu verbreiten. Sie erklärt: »Der
einzige Grund für Solidarität unter Männern ist der Widerstand
gegenüber Frauen.«101 In ihren Augen sind die Forderungen der
Feministinnen dem gleichzusetzen. Die Herausforderung des
»Patriarchats« für Feministinnen ist schlicht der Anspruch, »als
Menschen mit Rechten behandelt zu werden« und dass »Männer
Frauen nicht als Freiwild ansehen, das sie misshandeln,
vergewaltigen, verstümmeln und töten können«.102 Nur Monster
würden den Frauen hier nicht zustimmen. Und wer sind die
Mitglieder dieses Patriarchats, die Frauen als Freiwild ansehen, das
sie nach Belieben misshandeln, vergewaltigen, verstümmeln und
töten?
French macht in ihrer Argumentation Männer in jeglicher Weise
verantwortlich. Immer wenn Frauen Fortschritte machten, böten
»Männer ihre ganze Kraft auf, um zum Gegenschlag auszuholen«.
Männliche Gewalt gegen Frauen sei weder Zufall noch
Nebenprodukt eines anderen Faktors (geschweige denn vieler
anderer potenzieller Faktoren). Es treffe vielmehr zu, dass
»sämtliche von Männern ausgehende Gewalt gegen Frauen Teil
eines konzertierten Feldzugs ist, zu dem Schläge, Verhaftungen,
Verstümmelungen, Folter, Hungertod, Vergewaltigung und Mord«
zählen.103
Es sei schlimm genug, dass Männer als Teil eines
großangelegten Feldzugs zu solchen Taten getrieben würden, was
aber, so French, noch schlimmer sei, ist, dass sich Männer auch
anderweitig organisieren, um sicherzugehen, dass »Frauen in jedem
Lebensbereich benachteiligt werden«. Dies geschehe durch eine
systematische Kriegsführung gegen Frauen in jedem nur denkbaren
Bereich, darunter Bildung, Arbeit, Gesundheitswesen, Recht, Sex,
Wissenschaft und selbst »durch einen Krieg gegen Mütter«.104
French führt weiter aus, dass es im Endeffekt nicht nur Kriege
gegen Frauen seien, die Frauen Anlass zur Sorge geben, sondern
schlicht Krieg – basta. Krieg im Wortsinn, tatsächlich, nicht als
Metapher, ist ebenfalls ein Problem und in und an sich
frauenfeindlich.105 Von der Sprache bis zum Handeln – Krieg ist ein
männlicher Akt und als solcher bestimmt, Frauen zu bekämpfen.
Denn Frauen – so Frenchs Botschaft, die sich wie ein roter Faden
durch das ganze Buch zeiht – sind die Verkörperung von Frieden.
Wo Männer Krieg führen, schließen sich Frauen zu Bewegungen wie
der Women’s Pentagon Action von 1980 zusammen, als Frauen das
Pentagon einkreisten und verkündeten: »Militarismus ist Sexismus«,
oder zu der Protestkundgebung auf dem Militärflughafengelände von
Greenham Common in Großbritannien. Im letzten packenden Teil
ihres Buchs enthüllt French: »Frauen schlagen an allen Fronten
zurück.«106
Viele der Behauptungen in Frenchs Buch sind tendenziös und
ahistorisch. Hat sie ihr eigenes Bezugssystem einmal eingeführt, ist
sie in der Lage, nahezu alles mühelos dort einzufügen. Doch am
auffälligsten ist die Dichotomie innerhalb ihres gesamten Buchs.
Alles Gute ist weiblich, alles Schlechte männlich. French, Faludi und
andere haben diese Schlussfolgerung sehr erfolgreich ein- und
umgesetzt. Sie sorgten dafür, dass der Erfolg feministischer
Argumente von Behauptungen abhing, die verzerrt und überspitzt
wurden. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die extremsten Thesen
zur Norm – und zwar nicht nur die extremsten Thesen über Männer,
sondern auch die extremsten Thesen über Frauen. Diese Thesen
wurden in jedem Aspekt aller Behauptungen der neueren Wellen der
Frauenbewegungen angedeutet. Naomi Wolf zum Beispiel
behauptet in ihrem äußerst erfolgreichen Buch Der Mythos
Schönheit (1990), dass es zwar stimme, dass der Stand der Frauen
aufgrund der Errungenschaften der Frauenbewegungen und ihrer
Analyse noch nie so gut gewesen sei, dass sie andererseits aber im
wahrsten Sinne des Wortes vom Tode bedroht seien. Sie betonte,
dass allein in Amerika rund 150 000 Frauen an Essstörungen wie
Anorexie sterben würden. Eine Reihe von Wissenschaftlern,
darunter auch Christina Hoff Sommers, konnten aber letztendlich
nachweisen, dass Wolf die tatsächlichen Fallzahlen um mehrere
Hundert Male verfälscht hatte.107 Schamlose Übertreibung und
Alarmismus wurden das reguläre Zahlungsmittel, dessen sich zu
bedienen die Feministinnen ermuntert wurden.
In dieser Phase setzte der Feminismus auch auf Misandrie –
Männerhass. Zwar hat es den auch schon in früheren Phasen
gegeben, aber nie so ausgeprägt und erfolgreich. Irgendwann in den
2010er-Jahren, so hieß es, wurde aus der dritten die vierte Welle
des Feminismus, was auf das Aufkommen der sozialen Medien
zurückzuführen war. Im Prinzip ist die vierte Welle des Feminismus
also nichts anderes als die dritte Welle des Feminismus, nur mit
Apps. Was alle diese Wellen unbeabsichtigterweise gezeigt haben,
ist die potenziell verstörende Wirkung der sozialen Medien nicht nur
auf Diskussionen, sondern auf eine ganze Bewegung.
Denken Sie an Februar 2018, als selbsterklärte »Feministinnen«
wieder einmal ihre neuen Lieblingsparolen twitterten. »Männer sind
Müll« ist die neueste Wortfolge, die sie sich haben einfallen lassen,
um noch mehr Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Feministinnen der
vierten Welle versuchen, mit »Alle Männer sind Müll« oder »Männer
sind Müll« einen neuen Trend in den sozialen Medien zu setzen.
Eine der Frauen, die dieses Bemühen maßgeblich vorangetrieben
haben, ist die britische feministische Schriftstellerin Laurie Penny,
die mehrere ihrer Blogs in Buchform zusammengestellt hat, darunter
eines mit dem bezaubernden Titel Bitch Doctrine (2017). Im Februar
2018 twitterte Penny: »›Männer sind Müll‹ ist eine Phrase, die ich
liebe, denn die Assoziation Müll hat schon was.«108 Als Begründung
führte sie aus, dass der Reiz dieser Parole damit zusammenhinge,
dass »durch toxische Maskulinität so viel menschliches Potenzial
zerstört wird […]. Ich hoffe, wir stehen an der Schwelle zu einem
gigantischen Recycling-Programm«. Direkt danach standen der
Hashtag »MeToo« und ein Emoji – Hände, die jubelnd nach oben
gerissen werden.
Wie das in den sozialen Medien häufig der Fall ist, meldete sich
gleich jemand zu Wort und wollte wissen, ob Penny ein schwieriges
Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hätte, was erklären würde, weshalb
für sie Männer Müll wären. Blitzschnell änderte Penny daraufhin
ihren Ton wie schon so oft: »Mein Vater war großartig, er hat mich
immer inspiriert. Er ist vor ein paar Jahren verstorben. Wir vermissen
ihn schrecklich.« Worauf als Reaktion die Frage kam: »War er
toxisch?« Der Schreiber musste sich anhören, dass er
»unfreundlich« sei. Sie ließ es damit aber nicht auf sich beruhen,
sondern schrieb weiter: »Es ist unangebracht, sich über einen Toten
lustig zu machen.« Was sie damit wirklich sagen wollte, war: »Alle
Männer sind Müll, bis auf meinen verstorbenen Vater, über den du
besser kein Wort verlierst.« Nur eine Stunde später folgte die
Fortsetzung ihrer Geschichte, in der sie sich als Opfer verkaufte und
twitterte: »Im Augenblick ergießt sich ein ganzer Schwall
Beleidigungen, Drohungen, Judenfeindlichkeit und wilde Fantasien
über meinen verstorbenen Vater, über mich. Meine Familie wird in
den Dreck gezogen. Das macht mir Angst.
Und all das, nur weil ich sagte, dass ich die Phrase ›Männer sind
Müll‹ mag, weil das impliziert, dass die Möglichkeit besteht, das zu
ändern.« Was aber nicht das ist, was sie wirklich gesagt hat.
Tatsächlich hatte sie gesagt, dass ihr eine Parole gefällt, mit der die
Hälfte der Menschheit als »Müll« bezeichnet wird. Nachdem sie sich
wie ein Rüpel aufgeführt hatte, drehte sie kurz entschlossen den
Spieß um und schrie: »Hilfe, ich werde gemobbt!« Als ob es
verwerflich wäre, wenn sich auf Twitter Leute zu Wort melden, die
nicht damit einverstanden sind, dass sie mal eben die Hälfte der
Menschheit abschreibt.
Fakt ist, hätte Penny einfach nur abgewartet, wäre ihr eine
weitere Feministin zu Hilfe geeilt, die erklärt hätte, dass es keinen
Unterschied mehr macht, ob sich Penny nun für ihre Äußerungen
entschuldigen wolle oder nicht, denn irgendwie hätte es diese Parole
auf die wachsende Liste magischer Worte geschafft, die nicht das
bedeuten, was sie vermeintlich bedeuten.

DER KRIEG GEGEN MÄNNER


Unter den Artikeln von Salma El-Wardany, Journalistin der
Huffington Post steht, dass sie »halb Ägypterin, halb irische Muslima
und Journalistin« sei, »die gerne die Welt bereist, Kuchen liebt und
das Patriarchat demontiert«. Teil dieser Demontierung dürfte wohl
auch sein, dass El-Wardany, wie sich zeigt, ebenfalls eine
Anhängerin des Spruchs »Alle Männer sind Müll« ist. Doch schon in
der Überschrift zu ihrem Artikel erklärt sie, »was Frauen meinen,
wenn sie sagen, dass ›Männer Müll seien‹«. Wie die Feministin der
Huffington Post dann ausführt, ließe sich dieser Spruch direkt mit
»Maskulinität befindet sich im Übergang, aber der zieht sich
verdammt lang hin« übersetzen.
El-Wardany setzt noch eins drauf und schreibt, dass diese Parole
auf der ganzen Welt zu hören ist, »wie ein sanftes Brummen, das
durch die Welt geht. Eine Hymne […] ein Ruf zu den Waffen und ein
Kampfruf.« Sie behauptet weiter, dass jede Frau, »die einen Raum
betritt, ein gesellschaftliches Ereignis, eine Dinnerparty oder eine
kreative Versammlung besucht und dann aus der hintersten Ecke
diese Parole hört, wie von einem unsichtbaren Magneten in dem
Wissen, auf Gleichgesinnte gestoßen zu sein, dort hingezogen wird.
Im Grunde ist der Spruch das Passwort für den Club der Frauen, die
stinksauer auf Männer sind.« Wie sich herausstellt, ist dieser Spruch
die Folge einer verdichteten Form von »Wut, Frust, Schmerz und
Qual«. So wie El-Wardany die Dinge sieht, rühren Schmerz und
Qual daher, dass Frauen andauernd gefragt werden, was für eine
Sorte Mädchen oder Frau sie einmal sein wollen, während Männer
die Frage, welche Sorte Mann sie sein wollen, niemals gestellt wird –
und sie sich ihr auch nicht stellen müssen. Während an Frauen
ständig Ansprüche gestellt werden, wird »Männlichkeit vom Vater an
den Sohn übergeben, wobei sich an der Erwartungshaltung, er solle
der Ernährer und Beschützer seiner Familie werden, nichts oder nur
wenig geändert hat«.
Die Schlussfolgerung ist, dass Frauen mit dem Spruch »Männer
sind Müll« einfach nur sagen wollen: »Eure Vorstellung von
Männlichkeit ist nicht mehr zweckdienlich, und eure mangelnde
Evolution verletzt uns alle.« Männer seien schwer von Begriff und sie
sollten sich, in El-Wardanys Worten, »deutlich schneller
bewegen«.109
Wie das Leben so spielt, zeigte sich, dass »Alle Männer sind
Müll« und »Männer sind Müll« noch die gemäßigtere Variante der
feministischen Rhetorik der vierten Welle darstellten. Sie lösten den
bei Feministinnen sehr beliebten Hashtag auf Twitter #Tötet alle
Männer ab. Zum Glück konnte der Journalist und Kommentator bei
Vox, Ezra Klein, diesen Spruch dekodieren. Zunächst räumte er ein,
dass es ihm nicht gefallen habe, den Hashtag #Tötet alle Männer zu
lesen, und auch die Tatsache, dass der Spruch von der virtuellen in
die reale Welt übergegangen war, missfiel ihm. Doch so wie er das
sähe, würden diese Worte nicht bedeuten, was sie zu bedeuten
schienen. Wie Klein ausführte, war er zunächst zurückgeschreckt
und fühlte sich in die Defensive gedrängt, als er diesen Spruch
immer öfter in seinem Freundes- und Bekanntenkreis hörte, sogar
von Leuten, die er liebte. Doch allmählich dämmerte ihm, »das war
es gar nicht, was sie sagen wollten«. Sie wollten weder ihn noch
einen anderen Mann umbringen. Das Ganze war viel besser.
»Sie hassten nicht mich und auch keine anderen Männer.« Kleins
Erkenntnis war, dass die Frauen mit »Tötet alle Männer« lediglich
sagen wollten: »Es wäre schön, wenn die Welt für Frauen nicht ganz
so zum Kotzen wäre.« Unbestritten eine krasse Ausdrucksweise,
doch Klein fuhr fort: »Damit kam lediglich der Frust der Frauen über
den allgegenwärtigen Sexismus zum Ausdruck.«110
Mit der Parole »Tötet alle Männer« wäre eine Feministin, die zu
Zeiten, als Frauen noch nicht wählen durften, für das Wahlrecht von
Frauen eintrat, deutlich übers Ziel hinausgeschossen. Auch dem
Kampf um die Gleichberechtigung hätte sich niemand
angeschlossen, wenn er unter dem Motto »Tötet alle Männer«
gestanden hätte. Doch ein Jahrhundert später ist »Tötet alle
Männer« anscheinend völlig normal und akzeptabel für Frauen
geworden, die mit allen Rechten ausgestattet auf die Welt kamen,
für die ihre Vorfahren noch hatten kämpfen müssen. Frauen
bedienen sich jetzt also einer gewalttätigeren Sprache als die
Frauen damals, als es um weitaus mehr ging.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Ausdrucksweise beileibe
nicht auf Hashtags bei Twitter beschränkt ist. Im letzten Jahrzehnt
hörten wir auch in alltäglichen öffentlich ausgetragenen Debatten
Begriffe wie »männliche Privilegien«. Auch dieser Begriff kommt
einem wie viele andere Sprüche leicht über die Lippen, doch umso
schwerer ist es, das Problem auf den Punkt zu bringen. Man könnte
zum Beispiel sagen, die Tatsache, dass deutlich mehr Männer die
Position eines Chief Executive Officer innehaben, ein »männliches
Privileg« veranschaulicht. Doch niemand weiß, was es bedeutet,
dass sich viel mehr Männer das Leben nehmen als Frauen
(Telefonseelsorgern zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, Suizid zu
begehen, bei britischen Männern dreimal so hoch wie bei britischen
Frauen), dass mehr Männer in ihren (gefährlichen) Berufen tödlich
verunglücken und dass mehr Männer von Obdachlosigkeit betroffen
sind als Frauen. Ist das am Ende ein Zeichen für das Gegenteil
»männlicher Privilegien«? Gleicht sich das also aus? Wenn nicht,
welche Systeme, Messgrößen oder Zeitspannen wären dafür
geeignet? Das weiß anscheinend niemand.
Andere Formen des neuen Männerhasses kommen etwas
unbeschwerter daher. Es gibt zum Beispiel den Begriff
»Mansplaining«, (etwa »ER-Klärung«), der immer dann fällt, wenn
ein Mann einer Frau etwas von oben herab erklärt. Mit ziemlicher
Sicherheit fallen jedem von uns Situationen ein, in denen wir einen
Mann auf ebensolche Weise sprechen haben hören. Doch die
meisten Leute haben es ebenso erlebt, dass eine Frau einem Mann
so begegnete. Oder dass ein Mann auf herablassende Weise einem
anderen Mann begegnete. Weshalb aber wird lediglich für eine
dieser Situationen ein neuer Begriff geprägt? Weshalb gibt es dann
nicht auch den Begriff »Womansplaining«? Weshalb hat sich dieses
Wort nicht durchgesetzt? Und weshalb wird der Begriff
»Mansplaining« nicht gebraucht, wenn Männer sich herablassend
begegnen. Unter welchen Umständen ist es in Ordnung, von einem
Mann zu behaupten, dass er von oben herab zu einer Frau spricht,
im Gegensatz zu Situationen, in denen er von oben herab zu einer
Frau spricht, weil sie genau das Gleiche mit ihm macht? Im Moment
steht uns kein Werkzeug zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir das
klären könnten, lediglich ein Projektil, das jederzeit von einer Frau
abgeschossen werden kann.
Höchste Zeit, dass wir uns mit dem Konzept des »Patriarchats«
befassen– also der Vorstellung, dass Menschen (vor allem in
westlichen kapitalistischen Ländern) in einer Gesellschaft leben, die
zugunsten von Männern manipuliert wurde und in der das Ziel lautet,
Frauen zu unterdrücken und ihre Fähigkeiten auszubeuten. Diese
Vorstellung ist so tief in unseren Köpfen verankert, dass niemand
darüber diskutiert oder gar abstreiten will, dass sich in modernen
westlichen Gesellschaften alles um den Mann – und seine
Annehmlichkeiten – dreht. Anlässlich der Hundertjahrfeier des
britischen Wahlrechts für Frauen über 30 hieß es 2018 in einem
Artikel des beliebten Frauenmagazins Grazia: »Wir leben in einer
patriarchalischen Gesellschaft, so viel steht fest.« Als Beweise
wurden die »Objektivierung von Frauen« und »unrealistische
Schönheitsstandards« genannt, als ob Männer niemals objektiviert
würden oder es keine Ansprüche ihr Äußeres betreffend gäbe (gut
möglich, dass jetzt die Männer widersprechen, die heimlich im Zug
fotografiert wurden und deren Fotos auf Instagram unter »Hot dudes
reading« [»Heiße Kerle beim Lesen«] gepostet wurden). Wie es in
der Grazia weiter heißt, handele es sich um ein »heimliches
Patriarchat«, auch wenn es andere sichtbare Symptome gebe wie
»mangelnden Respekt, der sich in einem Lohngefälle zwischen
Mann und Frau äußert und dazu führt, dass Männer den Frauen
Aufstiegschancen wegschnappen«.111 Auch die Männermagazine
scheinen nichts gegen diese Behauptungen einzuwenden zu haben.
Im Editorial des GQ ließ der Verfasser die Ereignisse von 2018 noch
einmal Revue passieren und kam zu dem Schluss: »Zum ersten Mal
in der Geschichte der Menschheit sind wir alle aufgerufen, die
Verantwortung für die Sünden des Patriarchats zu übernehmen.«112
Der schlimmste Begriff aus dem neuen Lexikon
männerfeindlicher Slogans lautet »toxische Männlichkeit«. Wie viele
andere Memes auch stammt er aus dem hintersten Winkel der
akademischen Welt und der sozialen Medien. Doch 2019 hatte er es
bis in die Mitte seriöser Organisationen und öffentlicher
Einrichtungen geschafft. Im Januar desselben Jahres veröffentlichte
die APA [American Psychological Association] zum ersten Mal in
ihrer Geschichte Richtlinien für den Umgang seiner Mitglieder mit
Männern und Jungen. Darin wurde behauptet, dass 40 Jahre
Forschung gezeigt hätten, dass die »traditionelle Männlichkeit –
gekennzeichnet durch Gleichmut, Konkurrenzdenken, Dominanz und
Aggression – zu Lasten des Wohlbefindens von Männern geht«. Um
diese »traditionellen« Aspekte der Männlichkeit anzugehen, wurden
diese Richtlinien herausgegeben, die Therapeuten unterstützen
sollte, »das bestehende Problem von Jungen und Männern«
bewusst zu machen. Die APA definierte die traditionelle Männlichkeit
als »bestimmte Konstellation von Standards, die lange Zeit große
Teile der Bevölkerung beherrschten. Dazu gehören Antifeminismus,
Leistungsdenken, Vermeiden von Schwächen, Abenteuerlust,
Risikobereitschaft und Gewalttätigkeit«.113
Doch das war nur einer von vielen Übergriffen, die das Konzept
der »toxischen Männlichkeit« zum Mainstream werden ließen. Und
wieder wurde kein Gedanke daran verschwendet, ob es vielleicht ein
feminines Pendant geben könnte. Gibt es zum Beispiel so etwas wie
»toxische Weiblichkeit«? Wenn ja, wie äußert sie sich und wie
lassen sich betroffene Frauen dauerhaft heilen? Auch wurde vor
dem Propagieren des Konzepts der »toxischen Männlichkeit« nicht
einmal im Ansatz geklärt, ob und wie es nach seinen eigenen
Bedingungen funktionieren kann und soll. Mal angenommen,
Konkurrenzdenken wäre tatsächlich eine typisch männliche
Eigenschaft – wovon die APA offensichtlich ausgeht –, ab wann
spricht man dann von toxischem, ab wann von harmlosem und ab
wann von sinnvollem Konkurrenzdenken? Darf ein Sportler diese
Fähigkeit auf dem Sportplatz nutzen oder nicht? Und wie kann ihm
dabei geholfen werden, außerhalb dieses Umfelds so fügsam wie
möglich zu sein? Muss man einschreiten, wenn ein Mann die
Diagnose »inoperables Krebsgeschwür« mit Gleichmut aufnimmt,
und ihm zeigen, dass es auch weniger gelassen ginge? Sind
»Abenteuerlust« und »Risikobereitschaft« wirklich männliche
Eigenschaften? Wenn ja, in welchen Situationen sollten sie ihm
ausgetrieben werden? Sollte man einem Forscher beibringen, seine
Abenteuerlust zu zügeln, und dem Feuerwehrmann, weniger Risiken
einzugehen? Sollten Soldaten lernen, ihre »Gewaltbereitschaft« im
Zaum zu halten, und stattdessen eher bereit sein, ihre Schwächen
offenzulegen? Wenn ja, in welchen Situationen? Mit welchem
Mechanismus können wir Soldaten so umprogrammieren, dass sie
sich in bestimmten gefährlichen Situationen, wenn das Wohl der
Gesellschaft davon abhängt, auf ihren Instinkt und ihre Fähigkeiten
verlassen, den Rest der Zeit aber davon keinen Gebrauch machen?
Angenommen, es gibt so etwas wie toxische Merkmale der
Männlichkeit wirklich. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch,
dass sie so tief verwurzelt sind (soll heißen, sie ziehen sich
unabhängig von situativen Unterschieden durch alle Kulturen), dass
sie sich nicht auslöschen lassen. Oder ist es nicht doch eher so,
dass es bestimmte Aspekte im Verhalten mancher Männer gibt, die
zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten einfach nicht
gewünscht sind? Trifft Letzteres zu, dann gibt es ganz bestimmt
Wege, wie wir dieses Problem in den Griff kriegen. In beiden Fällen
ist es wenig zielführend, sich Begrifflichkeiten wie »männliche
Privilegien«, »Patriarchat«, »Mansplaining« oder »toxische
Männlichkeit« auszudenken, die angesichts der gestellten Diagnose
entweder zu viel oder zu wenig beweisen. Aus Sicht eines
Außenstehenden ergibt sich eine durchaus offensichtlichere
Erklärung: Offenbar gibt es eine Bewegung, die weniger darauf
abzielt, Männer zu besseren Menschen zu machen, sondern
vielmehr darauf, sie zu kastrieren und in von Selbstzweifeln und
Selbsthass geplagte Objekte des Mitleids zu verwandeln. Kurz und
bündig, man könnte meinen, es geht um Vergeltung. Stellt sich die
Frage nach dem Warum. Weshalb werden die Gefechte so hitzig
geführt und Worte als Waffen eingesetzt, wenn doch die Standards
der Gleichberechtigung um so vieles besser geworden sind? Ist es,
weil so wenig auf dem Spiel steht? Ist unser relativ sicheres und
bequemes Leben so langweilig geworden, dass die Menschen
unbedingt den Helden spielen wollen? Oder ist es schlicht und
einfach so, dass die sozialen Medien – wo man nie sagen kann, ob
man nun Selbstgespräche führt oder die ganze Welt erreicht –
ernsthafte Auseinandersetzungen verhindern?
Wie auch immer, es dürfte klar sein, wie sich das auf das Image
des Feminismus auswirkt. Der Männerhass richtet großen Schaden
an. 2016 wollte die britische Frauenrechtsorganisation Fawcett
Society von 8000 Personen wissen, ob sie sich als »FeministIn«
bezeichnen würden. Das Ergebnis? Nur 9 Prozent der Britinnen
würden sich mit diesem Wort beschreiben, bei den Briten sind es nur
4 Prozent. Die große Mehrheit der Befragten sprach sich für die
Gleichstellung der Geschlechter aus, erstaunlicherweise waren mehr
Männer als Frauen dafür (86 Prozent im Gegensatz zu 74 Prozent).
Nur als »feministisch« wollte sich niemand bezeichnen. Der Fawcett
Society gelang es, aus diesem für eine Frauenrechtsorganisation
enttäuschenden Ergebnis eine »frohe Botschaft« zu machen, denn
wie ihre Pressesprecherin erklärte, sei Großbritannien eine Nation
»versteckter Feministen«. Als Erklärung, weshalb ein Großteil der
Öffentlichkeit sich nicht mit dem Etikett »Feminist« identifizieren
konnte, gab sie an: »Die Wahrheit lautet schlichtweg, wer eine
Gesellschaft will, in der Männer und Frauen gleichgestellt sind, ist
Feminist.«114 Blöd nur, dass rund ein Viertel der Befragten auf die
Frage, was ihnen als Erstes durch den Kopf schießt, wenn sie das
Wort »Feministin« hören, mit »Zicken« antwortete.115
In den Vereinigten Staaten verhält es sich nicht anders. 2013
antwortete die große Mehrheit der US-Bürger (82 Prozent) auf die
Frage, ob Männer und Frauen »sozial, politisch und wirtschaftlich
gleichgestellt« sein sollen, mit »Ja«. Ganz anders dagegen die
Reaktion auf die Frage, ob sie sich als »FeministIn« sähen. Nur 23
Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer stimmten dem zu.
Die klare Mehrheit (63 Prozent) sagte, sie seien weder feministisch
noch antifeministisch.116 Was auch immer der Grund dafür sein mag,
es ist völlig unklar, wie Männer darauf reagieren sollen. Die
Wahrscheinlichkeit, dass sich natürliche Instinkte von Männern und
Frauen umprogrammieren lassen, ist verschwindend gering.
Britische Wissenschaftler führten von 2014 bis 2017 eine Studie
durch, bei der Frauen anhand von Fotos beurteilen sollten, welche
Männer sie attraktiv finden. Das Ergebnis wurde 2014 von der
Fachzeitschrift Feminist Media Studies veröffentlicht und offenbarte
einen schockierenden Trend. Das Nachrichtenmagazin Newsweek
fasste die verstörenden Ergebnisse der Studie in der Schlagzeile
zusammen: »Männer mit Muskeln und Geld attraktiver für Hetero-
Frauen und Schwule – bei den Geschlechterrollen alles beim
Alten«.117 Tatsächlich. Man spricht wohl erst dann von einem
»Fortschritt«, wenn Frauen Männer attraktiv finden, die sie gar nicht
für attraktiv halten. Und seit wann ist das ein Problem?
WENN HARDWARE AUF EINMAL SOFTWARE
SEIN WILL
Wann immer es um die Unterschiede zwischen Mann und Frau geht
– und wie sich ein bisschen Ordnung in das Verhältnis zwischen den
beiden Geschlechtern bringen lässt –, stellen wir fest, dass es jede
Menge Dinge gibt, von denen wir keine Ahnung haben. Zum Glück
wissen wir aber auch schon vieles – genauer gesagt, wussten wir
schon vieles. Und wie die Schnappschüsse der Populärkultur oben
zeigen, handelte es sich hier nicht um Nischen- und Inselwissen,
sondern um breites Wissen, das nicht breiter hätte sein können.
Aber irgendetwas ist passiert.
Irgendwann wurde das problematische Verhältnis zwischen
Frauen und Männern von einer Art Chiffriermaschine aufgemischt.
Irgendetwas hat Wut und Ablehnung zu einem Zeitpunkt, an dem wir
Konsens und Einigung hätten erzielen können, unglaublich groß
werden lassen. Zweifelsohne gehört die Chiffrierung des
Geschlechterverhältnisses zu den verwirrendsten Aspekten.
Bei dem Versuch bei dieser Chiffrierung mitzuspielen, kommt es
zu unglaublichen Gedankensprüngen. Und selbst mit diesen ist es
ungemein schmerzhaft für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Im Endeffekt läuft es darauf hinaus: Die Schwulenbewegung hat
seit den 1990er-Jahren versucht, die ganze Welt davon zu
überzeugen, dass Homosexualität eine Frage der Hardware ist. Und
wie wir jetzt wissen, mag das so sein – oder auch nicht. Doch die
Absicht, es so zu sehen, war offensichtlich. Hardware war eine feine
Sache, sie rüttelte nicht am Status. Doch dann passierte etwas. Und
zwar in dem Moment, als der Streit über die Rechte von
Homosexuellen ausbrach – und das war wirklich unglaublich. Dank
der Arbeit von einigen Leuten – darunter auch manche, von denen
fälschlicherweise angenommen wurde, sie argumentierten für den
Feminismus – machte die Frauenbewegung eine Kehrtwende.
Bis vor zehn Jahren in etwa galten Geschlecht (oder Gender)
und Chromosomen als eine der grundlegendsten Angelegenheiten
der Hardware der menschlichen Spezies. Ob wir als Frau oder als
Mann auf die Welt kamen, war eine der großen, unveränderlichen
Tatsachen in unserem Leben – schließlich war das eine Frage der
Hardware. Uns blieb nichts weiter übrig, als unsere Hardware zu
akzeptieren, und Männer und Frauen haben gleichermaßen gelernt,
damit in allen Lebensbereichen umzugehen. Doch alles wurde auf
den Kopf gestellt – nicht nur innerhalb eines Geschlechts, sondern
auch im Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern, als es
plötzlich hieß, es wäre keine Frage der Hardware, sondern der
Software. Die Behauptung wurde aufgestellt und ein paar
Jahrzehnte später hatte sie sich festgesetzt und plötzlich sollte jeder
glauben, dass das Geschlecht nicht biologisch festgelegt wurde,
sondern eine bloße Sache von »stets wiederholter sozialer
Performance« sei.
Diese Behauptung erwies sich als Sprengstoff für die
feministische Sache und hatte absolut vorhersehbare Folgen für ein
weiteres Problem, auf das ich im Kapitel »Trans« noch eingehe. Was
sollte der Feminismus denn an Argumenten vorbringen, wenn
Männer jederzeit zu Frauen werden könnten? Doch der Versuch,
aus Hardware Software zu machen, hat, nicht nur unter den Frauen,
sondern auch unter den Männern, zu unsagbarem Schmerz geführt
und tut es weiterhin. Das ist einer der Hauptgründe für den
augenblicklichen Wahnsinn. Denn mit einem Mal sollen wir glauben,
dass Frauen gar nicht so sind, wie wir immer dachten. Alles, was
Männer und Frauen bis gestern sahen – und wussten –, soll mit
einem Mal ein Trugbild sein. Unser überliefertes Wissen, worin sich
Frauen und Männer unterscheiden (und wie wir damit klarkommen),
ist mit einem Mal veraltet. Die ganze Wut – einschließlich des
ungezügelten und destruktiven Männerhasses, der Doppelzüngigkeit
und der Selbsttäuschung – ist auf diese Tatsache zurückzuführen:
dass wir nicht nur nicht gefragt werden, nein, es wird von uns
erwartet, dass wir unser Leben und die Gesellschaft radikal ändern,
und zwar auf der Grundlage von Behauptungen, von denen uns
unser Instinkt sagt, dass sie einfach nicht wahr sein können.
ZWISCHENSPIEL
DER EINFLUSS DER MODERNEN
TECHNOLOGIEN

Wenn die Grundlagen der neuen Metaphysik prekär sind, wenn die
Annahmen, die wir als wahr übernehmen sollen, auf eine subtile
Weise falsch scheinen, und wenn diese Mischung dann in die
Kommunikationsrevolution einfließt, dann sind alle Voraussetzungen
für den Wahnsinn der Massen gegeben. Laufen wir bereits in die
falsche Richtung, sorgen die neuen Technologien dafür, dass wir das
noch schneller tun, exponentiell schneller. Es sind diese
Ingredienzien, die uns das Gefühl verleihen, die Tretmühle drehe
sich schneller, als die Füße tragen können.
1933 erschien The Day the Dam Broke (Der Tag, an dem der
Damm brach) von James Thurber – seine Erinnerung an den 12.
März 1913, als sich seine ganze Heimatstadt in Ohio schlagartig in
Bewegung setzte. Thurber weiß noch genau, wie sich das Gerücht
verbreitete, der Damm sei gebrochen. Es war um die Mittagszeit,
»als plötzlich jemand anfing zu rennen. Schon möglich, dass diesem
Mann von einem Augenblick zum anderen die Verabredung mit
seiner Frau eingefallen war und er schon heillos spät dran war«.
Kurze Zeit später fing noch jemand an zu laufen, »vielleicht ein
ausgelassener Zeitungsjunge. Und dann war da noch ein stattlicher
Anzugträger, der in einen flotten Trab verfiel«.
Innerhalb von nur zehn Minuten rannte jeder Bewohner die High Street vom
Gewerkschaftshaus bis zum Gericht entlang. Aus dem lauten Gemurmel wurde ein
lautes und deutliches »Damm«. »Der Damm ist gebrochen!« Die Furcht wurde von
einer kleinen alten Dame im Rollstuhl, einem Verkehrspolizisten oder einem kleinen
Jungen in Worte gefasst: Niemand weiß genau, wer es war, aber das spielt eigentlich
auch keine Rolle. 2000 Menschen waren mit einem Mal auf der Flucht. »Wir müssen
nach Osten!«, schallte es von überall. Nach Osten, weg vom Fluss, nach Osten, in
Sicherheit. Nach Osten! Nach Osten! Nach Osten!

Während die ganze Stadt in wilder Panik Richtung Osten rennt,


kommt niemandem in den Sinn, dass der Damm so weit weg von der
Stadt ist, dass selbst ein Dammbruch nicht dazu führen könnte, dass
die High Street überflutet würde. Und niemandem fällt auf, dass die
Straße so trocken ist wie eh und je. Die schnellsten Läufer unter
ihnen, die bereits eine gehörige Strecke zwischen sich und die Stadt
gebracht hatten, machten schließlich kehrt und gingen nach Hause,
wie es kurze Zeit später alle anderen auch taten. Thurber schreibt
darüber:
Am nächsten Tag ging jeder in der Stadt seinen Geschäften nach, als wäre nichts
passiert, aber niemand machte Witze oder verlor ein Wort darüber. Es dauerte zwei
Jahre mindestens, bevor man auch nur anzudeuten wagte, was damals geschehen
war. Und noch heute, 20 Jahre später, gibt es ein paar Bewohner […], die sich
verschließen wie eine Auster, wenn die Sprache auf den »Nachmittag der großen
Flucht« kommt.118

Heute scheinen unsere Gesellschaften ebenfalls ununterbrochen auf


der Flucht, und wir sind kurz davor, uns nicht nur wegen unseres
Verhaltens in Grund und Boden zu schämen, sondern auch dafür,
wie wir unsere Mitmenschen behandeln. Es vergeht kein Tag, an
dem nicht irgendjemand Hasstiraden ausgesetzt ist und ein
moralisches Urteil über ihn gefällt wird. Es genügt schon eine
Gruppe Schulkinder, die die falschen Mützen tragen, zur falschen
Zeit, am falschen Ort.119 Es könnte auch jeden anderen treffen.
Wie die Arbeiten von Jon Ronson120 und anderen über das
sogenannte »Public Shaming« – eine Art virtueller Steinigung, eine
Hexenjagd im Netz, eine Strafe am digitalen Pranger – gezeigt
haben, lässt das Internet neue Formen des Aktivismus und
Mobbings zu, verkleidet als sozialer Aktivismus, der den Tenor der
Zeit widerspiegelt. Der Drang, Leute zu finden, denen man
vorwerfen kann, »falsch zu denken«, funktioniert, weil der Täter
belohnt wird.121 Die Betreiber der sozialen Medien wenden nichts
dagegen ein, weil es zu ihrem Geschäftsmodell gehört. Nur selten,
wenn überhaupt, ist es der Fall, dass Menschen, die in wilder Panik
davonrennen, sich anschließend fragen, wovor sie weglaufen und
wohin.

DAS VERSCHWINDEN DES PRIVATEN


RAUMS
Es gibt eine Aussage, die wahlweise dem dänischen
Computerexperten Morten Kyng oder dem US-amerikanischen
Futuristen Roy Amara zugesprochen wird – sie lautet: Es gibt etwas,
was wir mit absoluter Sicherheit über neue Technologien sagen
können, und zwar dass der kurzfristige Einfluss neuer Technologien
überschätzt, ihr langfristiger jedoch unterschätzt wird. Nachdem sich
die erste Aufregung gelegt hat, dürfte es keine Zweifel mehr darüber
geben, dass wir alle gewaltig unterschätzt haben, was das Internet
und die sozialen Medien mit unserer Gesellschaft machen.
Zu den vielen Dingen, die keiner geahnt hat, die aber Realität
geworden sind, gehört, dass das Internet, vor allem aber die
sozialen Medien, die Trennung von öffentlichem und privatem Raum
eliminiert haben. Wie sich gezeigt hat, sind soziale Medien das
ultimative Medium, um neue Dogmen zu verbreiten und konträre
Meinungen zu zermalmen, gerade wenn man diesen aufmerksam
zuhören sollte. Wir haben die ersten Jahre dieses Jahrhunderts
damit zugebracht, die Revolution der Kommunikation zu begreifen,
die so gewaltig ist, dass die Erfindung der Druckerpresse im
Vergleich dazu einer Fußnote der Geschichte gleicht. Wir mussten
versuchen zu lernen, in einer Welt zu leben, in der wir jederzeit ein
Gespräch mit einer einzigen Person oder aber Millionen Menschen
führen können. Die Trennung zwischen privatem und öffentlichem
Raum ist faktisch aufgehoben. Was wir an einem Ort von uns geben,
kann an einem anderen Ort gepostet werden, wo es nicht nur die
ganze Welt erfährt, sondern auch für alle Zeiten abrufbar ist. Aus
diesem Grund sind wir gefordert, darüber nachzudenken, wie wir
online so kommunizieren und agieren können, als würden wir dies
vor den Augen der ganzen Welt tun – in dem Wissen, dass ein
einziger Ausrutscher jederzeit, von jedem beliebigen Ort abrufbar ist.
Eine Begleiterscheinung ist, dass es nahezu unmöglich
geworden ist, Regeln für den öffentlichen Raum durchzusetzen. Es
dürfte die Ausnahme sein, dass eine Regel sich jederzeit und für alle
Menschen als gleich gut erweist. Es wird Menschen geben, die von
einer neuen Regel profitieren, und andere, die im Vergleich dazu
Nachteile erleiden. Früher waren letztere so weit weg, dass man sie
getrost ignorieren konnte, doch inzwischen können sie direkt vor uns
sein. Wenn wir uns heute öffentlich äußern, müssen wir mitbedenken
oder zumindest im Hinterkopf behalten, dass wir alle nur denkbaren
verschiedenen Personen ansprechen, mit allen ihren nur denkbaren
Ansprüchen und Rechten. Jederzeit ist es möglich, dass
nachgefasst wird, weshalb wir die Existenz einer bestimmen Person
und des Personenkreises, der sie angehört, bestritten, vergessen,
unterminiert, angegriffen haben. Es ist nachvollziehbar, dass die jetzt
inmitten dieser Übervernetzung heranwachsenden Generationen
sich Gedanken darüber machen, was sie anderen mitteilen, und
natürlich erwarten, dass die anderen dies ebenfalls tun. Es ist
ebenfalls nachvollziehbar, dass man angesichts der potenziellen
Kritik aus aller Welt zu der Annahme neigen könnte, unendliche
Selbstreflektion – einschließlich des Abwägens eigener »Privilegien«
und Rechte – sei eine der wenigen Aufgaben, die erfolgreich
angegangen und erreicht werden könnte.
Schwierige und umstrittene Themen müssen sorgfältig
durchdacht werden. Und eine Vielzahl solcher Gedanken erfordert
es, dass man die eine oder andere Lösung ausprobiert (und dabei
passieren unweigerlich Fehler). Laut über die kontroversesten Dinge
nachzudenken, ist mittlerweile ein hochriskantes Unterfangen
geworden, sodass selbst die primitivste Nutzen-Kosten-Analyse zu
dem Ergebnis kommt, es ergebe keinen Sinn, dieses Risiko
einzugehen. Wenn jemand, der männlich ist, mitteilt, dass er
eigentlich eine Frau ist und entsprechend angeredet werden will,
dann hat man verschiedene Optionen: Entweder man kommt dieser
Bitte nach und lebt sein Leben weiter. Oder eben nicht und riskiert
dann, als »…phob« bezeichnet zu werden und Ruf und Karriere zu
ruinieren. Wie würden Sie sich entscheiden?
Auch wenn die unterschiedlichsten Denker das gegenwärtige
Klima zu einem gewissen Teil mitbestimmt haben, wurden die
extremen Winde im Hier und Jetzt nicht von der philosophischen
Fakultät oder den Sozialwissenschaften freigesetzt. Sie entspringen
den sozialen Medien. Hier kursieren selbst die skurrilsten
Annahmen. Und hier können Versuche, die Fakten gegeneinander
abzuwägen, neu als moralischer Fehltritt oder sogar gewalttätiger
Akt verpackt werden. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und
Intersektionalität passen ziemlich gut in dieses Umfeld, denn ganz
gleich wie exotisch der Anspruch oder das Anliegen, es kann immer
behauptet werden, man wolle Ersteres erreichen. Soziale Medien
sind ein komplexes System an Vorstellungen, das von sich
behauptet, dort könne man über alles reden, auch jeden Kummer.
Deshalb sind die Nutzer aufgefordert, sich nur noch auf sich und ihre
kleine Welt zu konzentrieren – eine Aufforderung, die bei den
meisten Social-Media-Nutzern nicht nötig ist. Noch besser ist jedoch,
dass jeder, der nicht zu 100 Prozent mit seiner Lebenssituation oder
seinem Leben zufrieden ist, sich dieses totalitäre System zunutze
machen und aus einer wahren Fundgrube an Erklärungen schöpfen
kann, was in aller Welt einen ausgebremst hat.
DAS SILICON VALLEY IST IN MORALISCHER
HINSICHT NICHT NEUTRAL
Wie jeder weiß, der schon einmal dort war, ist das politische Klima
im Silicon Valley noch deutlicher links angesiedelt als in einer
liberalen Kunstakademie. Aktiver Einsatz für soziale Gerechtigkeit
gilt dort – zu Recht – als Standardeinstellung für die gesamte
Belegschaft größerer Unternehmen. Bei den meisten, auch bei
Google, werden Bewerber auf Herz und Nieren getestet, um
auszuschließen, dass jemand mit den falschen ideologischen
Überzeugungen eingestellt wird. Diese Tests, so die Erfahrungen,
drehen sich um sexuelle, ethnische und kulturelle Vielfalt, und nur
wer hier keinen Fehler macht, erhält den Job.
Gut möglich, dass ein schlechtes Gewissen der Grund dafür ist,
denn die Technologieunternehmen sind nur selten in der Lage, ihren
Worten Taten folgen zu lassen. Bei Google arbeiten zum Beispiel nur
4 Prozent Hispanoamerikaner und 2 Prozent Afroamerikaner. Mit 56
Prozent sind Weiße im Vergleich zur breiten Bevölkerung nicht
überrepräsentiert.
Aber Asiaten machen 35 Prozent der Belegschaft von Google
aus und verdrängen zunehmend weiße Mitarbeiter, obwohl ihr Anteil
an der Gesamtbevölkerung Amerikas nur bei 5 Prozent liegt.122
Vielleicht führt die Tatsache, dass die eigene Kurskorrektur
fehlschlägt, zu einer kognitiven Dissonanz und löst im Silicon Valley
den Wunsch nach einer Kurskorrektur für die restliche Welt aus. Alle
großen Technologieunternehmen zahlen Tausenden von Mitarbeitern
ein Gehalt im sechsstelligen Bereich, damit diese Content so
erstellen und überwachen, wie es jedem Geschichtsstudenten
bekannt sein dürfte. Jüngst wurden bei der Konferenz zur Content-
Moderation aktuelle Zahlen vorgelegt, denen zufolge bei Google
etwa 10 000 und bei Facebook mehr als 30 000 Mitarbeiter damit
beschäftigt sind, darauf zu achten, dass ihr Content politisch korrekt
ist.123 Aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese Zahlen nicht so
bleiben, sondern ansteigen. Keine Frage, das ist sicherlich nicht die
Art von Kerngeschäft, an das die Gründer von Twitter, Google,
Facebook und anderen Unternehmen gedacht hatten. Doch
nachdem feststeht, dass es ihr Job ist, sich auch darum zu
kümmern, überrascht es nicht weiter, dass das Silicon Valley sich
flugs daran gemacht hat, seine Thesen in die restliche Online-Welt
hinauszuposaunen (mit Ausnahme von Ländern wie China, denn bis
dahin reicht die Verfügungsgewalt des Silicon Valley nicht).
Ansonsten geht es bei den brisanten Themen des Tages nicht etwa
um örtliche Gepflogenheiten, und auch nicht um grundlegende
Wertvorstellungen unserer Gesellschaft, sondern um sehr spezielle
Ansichten, die in dieser Welt, in der sich alles um soziale
Gerechtigkeit dreht, gedeihen.
Zu jedem der aktuellen Probleme unserer Zeit – Sex, Sexualität,
Rasse und Trans – weiß das Silicon Valley, was richtig ist, und will,
dass jeder gleichzieht. Das ist der Grund, weshalb Twitter Frauen
aus seiner Plattform rauswerfen kann, die Dinge wie »Männer sind
keine Frauen« oder »Was ist der Unterschied zwischen einem Mann
und einer Transfrau?« getwittert haben.124 Passt dem Silicon Valley
nicht in den Kram, was manche Leute über die »Trans-Sache«
denken, wird einfach verhindert, dass sie auf deren Plattformen
Gehör finden. Twitter zum Beispiel behauptete, dass die genannten
Tweets »hasserfülltes Verhalten« darstellten. Inzwischen werden
Accounts von Leuten, die sogenannte »TERFs« (»Trans-
exclusionary radical feminists«, also Menschen mit einer
radikalfeministischen Haltung, die Transfrauen nicht als Frauen
anerkennt und Transpersonen ausschließt) angreifen, nicht mehr
gelöscht. Zur gleichen Zeit, als die Frauenrechtlerin Meghan Murphy
von Twitter aufgefordert wurde, die beiden oben zitierten Tweets zu
löschen, war es kein Problem für Tyler Coates (Redakteur beim
Magazin Esquire) Tausende von Re-Tweets auf seine einfache
Botschaft »Fuck Terfs!« zu erhalten.125 Ende 2018 änderte sich die
Unternehmenspolitik von Twitter in Bezug auf hasserfülltes
Verhalten, sodass jemand, der nachweislich Transpersonen mit
ihrem ursprünglichen Namen (den sie vor ihrer
Geschlechtsumwandlung hatten) oder dem falschen Geschlecht
anredet, endgültig von der Plattform ausgeschlossen werden
kann.126 Und das gilt ab dem Augenblick, in dem jemand von sich
berichtet, er sei transsexuell und hätte sein Geschlecht und folglich
auch seinen Namen geändert. Twitter hat also für sich (und viele
andere) festgelegt, was alles hasserfülltes Verhalten ist, und verfolgt
die klare Politik, dass Transpersonen vor Feministinnen stärker
geschützt werden müssen als Feministinnen vor Transaktivisten. Die
Technologieunternehmen haben sich wiederholt einer besonderen
Sprache bedient, mit deren Hilfe sie ihre Entscheidungen
rechtfertigen, die politisch gesehen immer in eine Richtung
tendieren. Bei der Crowdfunding-Plattform Patreon gibt es ein Team
mit dem Namen »Vertrauen und Sicherheit«, dessen Aufgabe es ist,
sicherzustellen, dass die »Urheber«, die Patreon in Anspruch
nehmen, dafür auch geeignet sind. Über sein Sicherheitsteam sagt
CEO Jack Conte:
Unsere Content-Richtlinie und alle Entscheidungen, die Webseite eines Urhebers
von unserer Plattform zu entfernen, haben rein gar nichts mit Politik oder Ideologie
zu tun. Es hat zu tun mit einem Konzept namens »Manifest Observable Behavior«
(»Festgefahrenes, beobachtbares Verhalten«). Der alleinige Sinn dessen ist es,
unserem Team zu ermöglichen, Content zu beurteilen, ohne von persönlichen
Überzeugungen und Werten beeinflusst zu sein. Unsere Bewertung von Content
erfolgt auf der Grundlage von feststellbaren Fakten. Was hat eine Kamera erfasst?
Was hat ein Aufnahmegerät aufgezeichnet? Es spielt keine Rolle mehr, was deine
Absicht ist, deine Motivation, wer du bist, deine Identität, deine Ideologie. Das Team
für Vertrauen und Sicherheit sieht sich ausschließlich sinnfälliges, beobachtbares
Verhalten an.127

Wie Conte noch sagt, sei das eine »ernüchternde Verantwortung«,


da Patreon sich durchaus bewusst ist, dass sie jemandem das
Einkommen streichen, wenn sie ihn für ihre Plattform sperren.
Dennoch ist das Unternehmen seiner Verantwortung schon mehrere
Male nachgekommen, und in allen bekannten Fällen ging es dabei
um Leute, die vorgeblich das »falsche« festgefahrene, beobachtbare
Verhalten an den Tag gelegt hatten, indem sie sich einem der neuen,
aktuellen Dogmen im Silicon Valley entgegenstellten. Die
Technologieunternehmen werden immer wieder dabei ertappt, wie
sie solche Dogmen leben – meist auf die bizarrste Art und Weise,
die man sich nur vorstellen kann.

MACHINE LEARNING FAIRNESS


In den vergangenen Jahren hat das Silicon Valley die ideologischen
Theorien der Intersektionalisten und Kämpfer für soziale
Gerechtigkeit nicht nur übernommen, sondern sie so sehr
verinnerlicht, dass jede Gesellschaft, die es ihm nachmacht, eine
ganz neue Art von Wahnsinn erleben wird.
Um etwas gegen Voreingenommenheit und Vorurteile zu
unternehmen, reicht es nicht aus, lediglich die Vorgehensweise zu
befolgen, wie sie im Frauen-Kapitel besprochen wurde. Training
gegen unbewusstes diskriminierendes Verhalten lehrt uns
möglicherweise, unseren Trieben zu misstrauen, oder womöglich,
dass wir unsere Verhaltensmuster, Standpunkte und Anschauungen
neu ausrichten. Vielleicht lernen wir dadurch aber auch, unsere
eigenen Privilegien wahrzunehmen, sie mit denen unserer
Mitmenschen oder deren Benachteiligung zu vergleichen, um uns
dann entscheiden zu können, welchen Platz wir in egal welchen
Hierarchien verdient haben. Wer darauf achtet, wo sich die
unterschiedlichen Diskriminierungsformen überschneiden, wird
vielleicht eher wissen, wann es besser ist, seinen Mund zu halten,
und wann, ihn aufzumachen.
Doch bei alledem handelt es sich nur um korrektive Maßnahmen,
die uns nicht die große Fairness zurückbringen. Diese Maßnahmen
greifen erst, wenn wir bereits auf unserem mit Irrtümern übersäten
Weg sind. Das dürfte der Grund sein, weshalb
Technologieunternehmen stark auf MLF [Machine Learning Fairness
– Maschinenerlernte Fairness) setzen. Nicht nur, dass mit Machine
Learning Fairness den voreingenommenen, fehlerhaften und
ignoranten Menschen der gesamte Prozess der Beurteilung von was
auch immer aus der Hand genommen wird. Zudem wird diese
Beurteilung Computern überlassen, die, so heißt es, auf keinen Fall
unsere Voreingenommenheit übernehmen. Das funktioniert, indem
Computer mit Überzeugungen und Beurteilungen gefüttert werden,
die aller Wahrscheinlichkeit nach von keinem Menschen vertreten
wurden. Man könnte sogar sagen, dass es sich dabei um eine Art
von Fairness handelt, zu der kein Mensch in der Lage wäre. Doch
erst als die Nutzer bemerkten, dass die Ergebnisse der
Suchmaschinen irgendwie merkwürdig waren, sahen sich die
Technologieunternehmen aufgefordert zu erklären, was MLF
überhaupt ist. Verständlicherweise haben sie darauf Wert gelegt, das
Ganze so harmlos wie möglich erscheinen zu lassen, so als wäre
nicht viel dabei. Doch es ist etwas dabei. Sehr viel sogar. Google hat
mittlerweile ein Video ins Netz gestellt, wieder zurückgezogen und in
einer aktuelleren Version erneut gepostet, in dem MLF so einfach
wie nur möglich erklärt wird. In der aktuellen und besten Version hört
man eine freundliche, junge, weibliche Stimme sagen: »Lasst uns
ein Spiel spielen.« Dann wird der Nutzer aufgefordert, seine Augen
zu schließen und sich einen Schuh vorzustellen. Auf dem Bildschirm
werden ein Turnschuh, ein edler Herrenhalbschuh und hochhackige
Damenschuhe angezeigt. Die Stimme erklärt uns nun, dass wir ein
bestimmtes Modell einem anderen vorziehen, auch wenn wir nicht
sagen können, weshalb wir das tun. Problematisch würde es aber
erst, wenn versucht wird, dem Computer alles über Schuhe
beizubringen.
Denn dann könnte es sein, dass die eigenen Präferenzen oder
eben Abneigungen mit einfließen. Wenn für Sie der perfekte Schuh
ein hochhackiger Damenschuh ist, würden Sie dem Computer
vermutlich beibringen, dass er an High Heels denken soll, wenn von
Schuhen die Rede ist. Ein kompliziertes Netz von Linien macht den
Nutzer darauf aufmerksam, wie kompliziert die ganze Sache ist.
Durch Machine Learning können wir online schneller von »einem
Ort zum anderen« gelangen, was es möglich macht, dass uns nach
einer Internetsuche bestimmte Produkte empfohlen werden, und
dass uns erklärt wird, wie wir von Punkt A zu Punkt B kommen.
Außerdem können wir uns Wörter und einfache Sätze übersetzen
lassen. Früher musste jemand die Antworten auf alle Fragen der
Nutzer von Hand eingeben.
Doch mithilfe von Machine Learning können Computer lernen,
unsere Probleme zu lösen, indem sie Daten nach bestimmten
Mustern durchsuchen. Wörtlich heißt es in dem Video:
Es ist ganz normal, davon auszugehen, dass menschliche Vorurteile dabei keine
Rolle spielen. Doch nur weil etwas auf Daten basiert, macht es das nicht automatisch
unparteiisch. Selbst wenn wir uns die allergrößte Mühe geben, können wir uns nicht
von unseren Vorurteilen trennen. Aus diesem Grund wird Voreingenommenheit Teil
der Technologien, die wir schaffen.

Zurück zu Schuhen. Kürzlich wurden die Teilnehmer eines


Experiments gebeten, einen Schuh zu zeichnen, damit der
Computer lernt, was ein Schuh ist. Da die meisten irgendeinen
Turnschuh aufs Papier brachten, erkannte der Computer
anschließend hochhackige Damenschuhe nicht als Schuhe, obwohl
er mit jedem Paar dazulernte. Dieses Problem ist als
»Interaktionsverzerrung« bekannt.
Doch es ist nicht die einzige Art der Verzerrung, über die sich
Google Gedanken macht. Da wäre zum Beispiel noch die »latente
Verzerrung«. Stellen Sie sich jetzt bitte vor, Sie würden einem
Computer beibringen wollen, wie ein Physiker aussieht, und zeigen
ihm deshalb einige berühmte Physiker der Vergangenheit. Am
Bildschirm werden daraufhin Fotos von acht weißen Physikern
angezeigt, an erster Stelle Isaac Newton. Zum Schluss kommt ein
Foto von Marie Curie. Sie wird nicht als Physikerin erkannt, denn der
Algorithmus zeigt eine latente Verzerrung bei seiner Suche nach
Physikern, in diesem Fall zugunsten von Männern.
Bei der dritten und (bis jetzt) letzten Verzerrung handelt es sich
um die sogenannte »Selektionsverzerrung«. Bei diesem Beispiel
geht es um Gesichtserkennung. Die Frage lautet hier: »Egal, ob Sie
Fotos aus dem Internet oder Ihrer eigenen Fotogalerie verwenden,
sind Sie sicher, dass Sie Fotos jedes Menschentypus ausgewählt
haben?« Dann zeigt Google Fotos von Menschen mit und ohne
Kopftuch, aller Hautfarben und unterschiedlichen Alters. Da bei
zahlreichen modernsten technischen Produkten Machine Learning
eingesetzt wird, versichert uns die Stimme aus dem Off: »Wir haben
alles getan, damit wir negative menschliche Verzerrungen und
Voreingenommenheit aus unserer Technologie raushalten.« Unter
anderem haben sie daran gearbeitet, dass keine »beleidigenden und
eindeutigen Falschinformationen« oben an den Suchergebnissen
angezeigt werden, und es wurde ein Feedbacktool eingerichtet,
damit »hasserfüllte oder unangemessene« Vorschläge zur
automatischen Vervollständigung der Suchanfrage gemeldet werden
können. »Die ganze Sache ist kompliziert«, versichert man uns, und
es gebe »kein Wundermittel«. »Doch es beginnt damit, dass wir alle
uns das bewusst machen, damit wir Teil der Konversation bleiben.
Denn Technologien sollten für alle Menschen da sein.«128 Richtig, so
sollte es sein. Doch was passiert stattdessen? Wir erhalten einen
Einblick in die Vorurteile im Silicon Valley.
Suchen Sie zum Beispiel an einem PC in Amerika (deutsche
Suchergebnisse variieren) nach »Physiker« und lassen sich nur
Bilder anzeigen, werden Sie feststellen, dass da noch so manches
im Argen liegt und keine weiblichen Physiker angezeigt werden. Die
Maschine scheint das Problem zu umgehen, da andere Formen von
Diversität in den Mittelpunkt gerückt werden. Als Erstes wird ein
weißer Physiker der Saarländer Universität angezeigt, der mit Kreide
etwas auf eine Tafel schreibt. Als Nächstes sieht man einen
schwarzen Doktoranden der Physik aus Johannesburg. Erst das
vierte Foto zeigt Einstein, und das fünfte Stephen Hawking.
Natürlich muss dazu einiges erklärt werden. Es dürfte nur noch
sehr wenige Menschen geben, denen die Vorstellung behagt, dass
eine junge Frau es ablehnt, Physikerin zu werden, weil das früher
eine nahezu reine Männerdomäne war. Ebenso wenig sollen Männer
oder Frauen der einen oder anderen Hautfarbe davon ausgehen, ein
bestimmter Beruf wäre nichts für sie, weil dieses Feld bisher nicht
von Menschen ihrer Hautfarbe dominiert wurde. Doch bei jeder
beliebigen Anzahl von Suchanfragen zeigt sich, dass die
Suchergebnisse alles andere als eine »faire«, ausgewogene Sicht
der Dinge zeigen, sondern eine verzerrte Sicht der Vergangenheit in
Kombination mit modernen Vorurteilen.
Machen Sie sich doch einmal den Spaß und geben als
Suchbegriff »European art« (»Europäische Kunst«) ein und lassen
sich nur Bilder anzeigen. Keine Frage, jetzt könnten Tausende von
Kunstwerken angezeigt werden. Man möchte meinen, zu den zuerst
angezeigten Bildern gehören die Mona Lisa oder die Sonnenblumen
von Van Gogh oder ein anderes ebenso bekanntes Werk. Doch das
erste Bild stammt von Diego Velázquez. Der Künstler an sich ist
nicht wirklich eine Überraschung, doch die Auswahl seiner Werke
schon. Weder Die Hoffräulein noch das Porträt von Papst Innozenz
X werden angezeigt, sondern ein Porträt seines Assistenten, Juan
de Pareja, eines Farbigen.
Es ist ein fantastisches Werk, aber es überrascht schon, dass es
als erstes Suchergebnis angezeigt wird. Wer jetzt weiter nach unten
scrollt, sieht endlich das, womit er eigentlich gerechnet hat: die Mona
Lisa, dann Madonna und Kind, auch eine Schwarze Madonna. Direkt
daneben findet sich das Porträt einer Schwarzen, darunter steht
übersetzt »Farbige in der europäischen Kunst«. Am Ende dieser
Reihe wird ein Gruppenporträt von drei Schwarzen angezeigt. Auch
in der nächsten Reihe gibt es zwei Porträts Schwarzer. Und dann ein
Werk von Vincent van Gogh (der jetzt zum ersten Mal auftaucht).
Und so geht es gefühlt endlos weiter.
In jeder Reihe wird die Geschichte europäischer Kunst so
dargestellt, als wäre sie voller Porträts von Schwarzen. Ja, das ist
schon irgendwie interessant, und es entspricht mit Sicherheit auch
der heutigen Erwartungshaltung einiger Leute. Aber es hat nicht im
Entferntesten mit der Geschichte der europäischen Kunst zu tun. Tut
mir leid, aber sie ist weder zu einem Fünftel noch zu zwei Fünfteln
oder gar zur Hälfte von Schwarzen geprägt.
Porträts von und mit Schwarzen waren extrem selten, wenn
überhaupt – und das hat sich erst vor nicht allzu langer Zeit
geändert, als sich die europäische Bevölkerung in ihrer
Zusammensetzung änderte. Doch diese Darstellung der
europäischen Vergangenheit ist nicht nur schräg, sondern auch
unheilvoll. Es ist klar und deutlich zu erkennen, dass Fairness in den
»Augen« einer Maschine bedeutet, dass sämtliche
Bevölkerungsgruppen gleichmäßig verteilt angezeigt werden
müssen. Doch genau das trifft eben nicht auf Europa, deren
Geschichte oder Kunst zu. Leider ist diese Art von Suchergebnis
keine Ausnahme bei Google.
Eine Suche nach Bildern zu »Western people art« (»Kunst
westlicher Menschen«) ergibt als ersten Treffer das Bild eines
Schwarzen. Und als Nächstes sieht man fast ausschließlich Bilder
von US-amerikanischen Ureinwohnern.
Wer über Google Bilder von »Schwarzen« (»Black men«) sehen
will, hat Glück, denn die ersten von mehreren Dutzend Bildern
zeigen alle Porträts von Schwarzen. Bei der Suche nach Bildern von
»Weißen« (»White men«) wird als Erstes David Beckham – klarer
Fall, ein Weißer – angezeigt, doch schon das zweite Suchergebnis
zeigt ein schwarzes Model. Ab da zeigt jede Reihe mit fünf Bildern
mindestens ein oder zwei Porträts von Schwarzen. Nicht wenige
davon zeigen verurteilte Verbrecher und tragen Bildunterschriften
wie »Hüte dich vor dem Durchschnittsweißen« oder »Weiße sind
böse«.
Je tiefer man in diesen Kaninchenbau vordringt, desto absurder
werden die Suchergebnisse. Zumindest erscheinen sie jemandem
absurd, der erwartet, das zu sehen zu bekommen, wonach er
gesucht hat, dennoch wird schnell klar, wohin das Kaninchen läuft.
Wer über Google Bilder von einem »homosexuellen Paar« (»Gay
couple«) sucht, erhält reihenweise Fotos von glücklichen schwulen
und lesbischen Paaren – attraktiv sind sie obendrein. Bei der Suche
nach einem »heterosexuellen Paar« (»Straight couple«) dagegen
wird in jeder Reihe mindestens ein schwules oder lesbisches
Pärchen angezeigt. Ein Paar Reihen weiter unten werden doch
tatsächlich mehr homosexuelle Paare angezeigt als heterosexuelle,
obwohl die Suchanfrage »Heteros« lautete. Bei der Suchanfrage
nach »heterosexuellen Paaren« im Plural werden die Ergebnisse
noch merkwürdiger. Das erste Foto zeigt ein heterosexuelles
schwarzes Paar, das zweite ein lesbisches mit Kind, das vierte ein
schwarzes schwules Paar und das fünfte wieder ein lesbisches. Und
das war jetzt nur die erste Reihe. Ab der dritten Reihe werden nur
noch schwule Paare angezeigt. Unter dem Bild eines gemischten
Paares (ein weißer und ein schwarzer Schwuler) steht: »Was Paare
aus Freundschaften mit Homosexuellen lernen können«. Unter
einem anderen steht: »Was Heteros von Homosexuellen lernen
können«. Als Nächstes wird ein Bild eines schwulen Paares mit Kind
angezeigt und dann ein Foto eines äußerst attraktiven
homosexuellen Paares aus dem Lifestyle-Magazin für betuchte
Schwule Winq. Warum ergeben alle Ergebnisse der Suche nach
»heterosexuellen Paaren« ab der vierten Reihe Bilder von
Homosexuellen?
Das Ganze wird immer merkwürdiger. Bei der Suche nach einem
»heterosexuellen weißen Paar« wird eine Nahaufnahme von
Fingerknöcheln angezeigt, auf denen »HASS« geschrieben steht.
Das dritte Foto zeigt ein schwarzes Paar. Die Suchanfrage nach
dem gleichen Begriff, aber in der Pluralform, spuckt so bizarre
Ergebnisse aus, dass klar ist, dass da etwas Merkwürdiges vor sich
geht. Schon das zweite Foto zeigt ein gemischtes Paar, das dritte
ein gemischtes, das vierte ein homosexuelles gemischtes mit zwei
schwarzen Kindern auf dem Arm. Ab Reihe zwei und drei werden
fast nur noch Bilder von schwulen Paaren unter Bildunterschriften
wie »Interrassische Paare«, »Süße homosexuelle Paare« oder
»Weshalb homosexuelle Paare glücklicher sind als heterosexuelle«
angezeigt.
Ich habe diese Suche auch in anderen Sprachen durchgeführt
und sie in Suchmaschinen der entsprechenden Länder eingegeben
– und völlig andere Suchergebnisse erhalten. Als ich zum Beispiel
auf Türkisch über das türkische Google nach »Weißen Männern«
suchte, wurden zahlreiche Bilder von kleinen weißen Paaren oder
Männern angezeigt, die mit Nachnamen »Weiß« hießen. Bei der
Suche auf Französisch wurden ähnliche Ergebnisse angezeigt wie
bei der in englischer Sprache. Allgemein lässt sich jedoch sagen: Je
weiter man sich virtuell gesehen von Europa entfernt, umso eher
entspricht das Suchergebnis dem, was man zu sehen erwartet.
Anders dagegen bei Suchanfragen in den Sprachen Europas.
Englische Suchanfragen führen auf penetrante, aufdringliche Weise
zum genauen Gegenteil dessen, wonach gesucht wurde. Die wirklich
extrem sonderbaren Suchergebnisse bei Suchen in englischer
Sprache machen klar, dass hier nicht einfach nur eine Maschine
sitzt, die nach den Regeln der ach so angesagten Vielfalt spielt. Das
hat mit MLF nichts mehr zu tun. Zurück zur englischsprachigen
Suche nach »Weißem Paar«. Schon unter den ersten fünf
angezeigten Bildern ist eines von einem gemischten Paar, eines von
einem gemischten homosexuellen Paar und eines von einem weißen
Paar, das schwarze Babys bekam, weil der Mutter schwarze
Embryonen eingesetzt worden waren. Die Ergebnisse einer Suche
nach »Asiatischem Paar« entsprachen exakt der Erwartungshaltung
– es werden fast nur Bilder von asiatischen Paaren angezeigt. Erst
in der vierten Reihe sieht man das Foto einer Asiatin mit einem
Schwarzen. Und dann noch ein ähnliches, aber ansonsten fast nur
asiatische Paare. Nicht ein einziges lesbisches Paar. Und nicht ein
einziges schwules Paar.
Das ist doch sehr merkwürdig! Wenn ausschließlich MLF auf die
Suchanfragen angewendet worden wäre, dann wäre es irgendwie im
Rahmen, wenn auch einige homosexuelle Paare bei der Suche nach
heterosexuellen weißen Paaren angezeigt werden. Aber es erklärt
nicht, weshalb am Ende lauter Fotos von Paaren angezeigt werden,
die weder heterosexuell noch weiß sind. Man könnte direkt meinen,
Google sorge ganz bewusst – bei bestimmten Gelegenheiten –
dafür, dass Bilder von Paaren angezeigt werden, die nicht das sind,
wonach gesucht wurde.
Anscheinend wurde auf MLF noch etwas draufgepackt, das
heißt, wir haben es mit MLF plus menschlicher Einwirkung zu tun.
Und diese menschliche Einwirkung hat es anscheinend auf die Leute
abgesehen, auf die entweder die Programmierer oder ihr
Arbeitgeber sauer sind. Das würde erklären, weshalb die Suche
nach schwarzen oder schwulen Paaren genau die Ergebnisse liefert,
mit denen man gerechnet hat, während die Suche nach weißen oder
heterosexuellen Paaren genau gegenteilige Ergebnisse liefern. Und
es erklärt auch, dass Leute, die nach asiatischen Paaren suchen,
nicht gerügt oder gar umerzogen werden müssen, Leute, die nach
weißen Paaren suchen, jedoch schon.
Genauso ist es nicht nötig, Heterosexuellen asiatischer Herkunft
eine wilde Mischung gemischter Paare zu zeigen, und man muss
ihnen auch nicht sagen, dass solche Paare nicht nur normal,
sondern normaler als alles andere sind, und man muss ihnen auch
keine Bilder von Schwulen um die Ohren hauen. Jemandem, der
einfach nur nach einem asiatischen Paar sucht, dem werden nur
Bilder von glücklichen heterosexuellen asiatischen Paaren gezeigt –
alten und jungen. Hier hält sich Google doch auch zurück und
versucht nicht, die Ansicht der Nutzer, was genau unter einem Paar
zu verstehen ist oder wie der repräsentative Querschnitt auszusehen
hat, umzuprogrammieren.
Doch beim Programmieren müssen sich die ITler ganz bewusst
für den Versuch entschieden haben, die Leute, die nach bestimmten
Begriffen suchen, zu nerven, aus der Fassung zu bringen oder
rasend zu machen. Anscheinend möchte Google den Service, auf
den es so stolz ist, nur manchen Leuten bieten und nicht
uneingeschränkt allen. Wer zum Beispiel nach heteronormativen
oder weißen Paaren sucht, gehört offenbar zu einem
Menschenschlag, der Probleme macht, weshalb sie bestraft oder
zumindest genervt werden müssen. Im Prinzip wird solchen Leuten
ein gigantischer technologischer Mittelfinger gezeigt – selbstredend
im Namen der Fairness und Gerechtigkeit. Im Endeffekt ist das
nichts anderes als das, was auch die New York Times mit ihren
endlosen Geschichten über schwule Geschäftsmänner und Tänzer
veranstaltet.
Der Unterschied ist der, dass es im Silicon Valley so schnell und
nachhaltig geschieht, dass man es nicht mehr ausblenden kann.
Geben Sie auf Google doch mal »Black family« (schwarze Familie)
ein. Dann werden Ihnen nämlich nur Bilder von breit grinsenden
schwarzen Familien angezeigt, darunter nicht eine gemischte
Familie. Und dann wiederholen Sie die Suche mit »White family«,
also weiße Familie. Schon in der ersten Reihe zeigen drei von fünf
Bildern eine rein schwarze oder gemischte Familie. Ein bisschen
weiter unten kommen dann fast nur noch schwarze Familien.
Anscheinend hat das löbliche Vorhaben, Computer von den
Verzerrungen und Vorurteilen zu befreien, unter denen wir
Menschen leiden, zu einer neuen Art der Verzerrung geführt. Da
führt allerdings zu einer verzerrten Darstellung der Geschichte und
eine weitere Schicht von Vorurteilen wird mit Absicht im System
etabliert, von Menschen, die andere Menschen dafür angreifen, dass
sie ihrer Meinung nach bestimmte Vorurteile haben.
Bei dem Versuch, menschliche Vorurteile auszumerzen, haben
die Menschen ein ganzes Netz von Vorurteilen geschnürt. Das
Problem ist ja nicht nur, dass den Leuten nicht mehr die
Suchergebnisse bekommen, nach denen sie gesucht haben. Die
Menschen haben sich an die Medienlandschaft, die wir hatten,
gewöhnt. Wer die New York Times oder den Guardian liest, weiß,
auf welche Tendenzen er bei diesen Blättern stoßen wird, und kann
für sich entscheiden, ob er zu deren Lesern gehören möchte oder
nicht. Wer den Daily Telegraph, den Economist oder die New York
Post liest, weiß, wie das Blatt, die Redakteure und alle anderen
Beteiligten ticken. Auch wenn Sie nicht unbedingt immer einer
Meinung mit diesen sind, haben Sie die Wahl, einen Artikel zu lesen
oder nicht, einfach weil Sie ja wissen, wessen Geistes Kind die
jeweilige Zeitung ist.
Bis jetzt galten Suchmaschinen jedoch als »neutral«. Es mögen
einige unpassende Suchergebnisse darunter gewesen sein, aber
nicht vollständig neue redaktionelle Leitlinien – geschweige denn
redaktionelle Leitlinien, die eindeutig in eine bestimmte Richtung
weisen. Irgendwie kommt es einem so vor, als hätte man
herausgefunden, dass eine renommierte Zeitung bei der
Auslandsberichterstattung ziemlich objektiv ist, bei der
Inlandsberichterstattung aber vor Vorurteilen strotzt und auf den
Sportseiten lautstark dafür eintritt, dass jeder Sportinteressierte
bestraft und wegen seiner Gesinnung umgepolt werden sollte.
Schon möglich, dass die Nutzer sozialer Medien klüger im
Umgang damit werden und Suchmaschinen künftig ebenso
personalisiert werden können, wie das schon jetzt bei Online-
Nachrichtendiensten der Fall ist, bei denen man nur die Nachrichten
erhält, die zu seinen Anforderungen und seinem Weltbild passen. Es
wäre aber auch denkbar, dass die Technologieunternehmen bis zu
einem gewissen Grad Erfolg mit ihrer Masche haben und sich die
von ihnen forcierte Sicht der Dinge allmählich in weiten Kreisen der
Bevölkerung durchsetzt. Würde es schaden, wenn die Schulkinder
der nächsten oder übernächsten Generation glauben würden, ihr
Land wäre schon immer so gewesen, wie es jetzt ist? Oder dass im
17. Jahrhundert in Europa etwa die Hälfte der Bevölkerung schwarz
und die andere weiß war? Wäre es wirklich so schlimm, wenn
Heterosexuelle weniger Probleme mit Schwulen haben – und mit
Fotos von Homosexuellen, die Zärtlichkeiten austauschen? Wäre es
wirklich tragisch, wenn junge Heteros glauben, dass mindestens 50
Prozent aller Menschen homosexuell sind? Merken Sie, wie leicht
diese Korrektur vor sich geht?
Mal angenommen, es gäbe eine reale Chance, Rassismus,
Sexismus oder schwulenfeindliche Überzeugungen zu eliminieren.
Wäre es dann nicht völlig in Ordnung, sich dazu aller möglichen
verfügbaren Tools und Maschinen zu bedienen?
Das erdrückende Problem dabei ist, dass die Wahrheit für
politische Ziele geopfert wird. Mit dieser Einstellung wird Wahrheit
nämlich zu einem Teil des Problems – und dieses muss dann aus
der Welt geschafft werden. Wann immer also feststeht, dass Vielfalt
und Präsenz in der Vergangenheit auf der Strecke geblieben sind, ist
die Lösung ganz einfach:
Dann macht man die Vergangenheit eben passend. Vielleicht ist
das ja einigen Nutzern der weltweit beliebtesten Suchmaschinen
aufgefallen, zumindest manchmal. Vielleicht haben es ein paar
schlaue Köpfe immer schon bemerkt. Doch bei den meisten Nutzern
von Google, Twitter und wie sie alle heißen wird nur das
unbestimmte Gefühl entstehen, dass irgendetwas anders ist: Dass
Suchergebnisse nicht den erwarteten entsprechen, dass sie
Antworten erhalten, obwohl sie nicht danach gefragt haben, dass sie
Teil eines Projekts sind, bei dem sie sich nicht registriert haben, und
dass sie ein Ziel verfolgen, das sie unter Umständen gar nicht
erreichen wollen.
KAPITEL 3
RASSE

Als Martin Luther King Jr. am 28. August 1963 von den Stufen des
Lincoln Memorial in Washington, D. C., zu den Massen sprach,
appellierte er nicht nur an die Grundfesten der Gerechtigkeit im
Sinne der Gründungstradition und der Prinzipien Amerikas, er
formulierte auch die eloquenteste Verteidigung der richtigen Art und
Weise, mit anderen Menschen umzugehen, die je gemacht wurden.
Er sprach nicht nur vor dem Hintergrund der Jahrhunderte, in denen
Schwarze zunächst Sklaven und dann Bürger zweiter Klasse
gewesen waren, sondern in einer Ära, in der rassistische Gesetze
noch immer Teil der Gesetzesbücher US-amerikanischer
Bundesstaaten waren. Es galten noch immer Gesetze zur
Rassentrennung und ein Verbot der Rassenmischung, die es dem
Staat erlaubten, Paare unterschiedlicher Hautfarbe, die einander
liebten, zu bestrafen.
Es war Dr. Kings größte moralische Einsicht, dass in der Zukunft,
von der er träumte, Kinder »eines Tages in einer Nation leben
werden, in der sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem
Charakter beurteilt werden«. Auch wenn zahlreiche Menschen
erfolgreich versucht haben, diesen Traum wahr werden zu lassen,
fand in den letzten Jahren ein schleichender Prozess statt, der
darauf abzielte, Dr. Kings Traum zu verwerfen und darauf zu
bestehen, dass Charakter nichts im Vergleich zur Hautfarbe ist. Es
wurde beschlossen, dass Hautfarbe das ist, was zählt.
Die Welt wurde sich in den letzten Jahren eine der
übriggebliebenen Kloaken bewusst, in der dieses gefährliche
Treiben stattfindet. Seit der US-amerikanischen
Präsidentschaftswahl von 2016 schenken die Medien den
Überresten der Vorherrschaft Weißer und weißem Nationalismus,
der sich in den USA und Teilen Europas ausgebreitet hat, große
Aufmerksamkeit. Im Allgemeinen ist man sich einig, was von diesen
Leuten zu halten ist. Es gibt wenig flächendeckende Unterstützung
für die »Spielchen«, die sie mit den dunkelsten Kapiteln der
Menschheitsgeschichte treiben. Sämtliche Medien und Parteien
verurteilen einstimmig den von diesen Leuten demonstrierten
Rassismus, der den Ethnonationalisten zugerechnet wird. Doch der
größte Rückschlag für Martin Luther Kings Traum kommt nicht aus
dieser Ecke. Nein, er stammt von Menschen, die überzeugt sind, sie
hätten genau den Weg eingeschlagen, den Dr. King 1963 vor dem
Lincoln Memorial skizziert hat. Diese überzeugten Nichtrassisten
haben dafür gesorgt, dass die Hautfarbe nicht mehr nur eines von
vielen großen Problemen ist, sondern das Problem, das wichtiger ist
als alle anderen unserer Zeit.
Im selben Augenblick, als das Problem der Rassen,
Rassenzugehörigkeit und Co. letzten Endes endgültig zu den Akten
hätte gelegt werden können, haben sie beschlossen, es wieder zum
Thema Nummer eins zu machen.

DIE AKADEMISCHE WELT


Seit den 1960er-Jahren kam es an US-amerikanischen Universitäten
jahrzehntelang zu einem Zuwachs an »Black studies« und
Studienfächern zu anderen Gruppen mit Spezialinteressen. Wie bei
anderen Studien über Gruppenidentität sollte mit diesen
Untersuchungen zunächst ein Schlussstrich unter die
Stigmatisierung der fraglichen Gruppe gezogen und wesentliche
Aspekte ihrer Geschichte vermittelt werden. Nicht anders als bei
»Queer studies« oder »Women’s studies« ging es auch bei den
»Black studies« um eine spezifische Interpretation von Geschichte,
Politik, Kultur und Literatur. In Vorlesungen über schwarze Literatur
ging es um schwarze Schriftsteller, die in anderen Literaturkursen
keine Erwähnung fanden, während in Vorlesungen über schwarze
Politik schwarze Politiker in den Fokus gerückt wurden, die in Kursen
über ganze Epochen oder Regionen übersehen wurden. Das
Seltsame war, dass solche Studienbereiche zunahmen, nachdem
schwarze Schriftsteller und Politiker bereits in allen anderen
Lehrplänen vorkamen.
Dies bedeutete nämlich, dass einerseits kaum noch Unterschiede
zwischen den Rassen gemacht wurden, sie jedoch andererseits eine
Sonderbehandlung erfuhren, weil sie zu eigenen Fachgebieten
deklariert wurden. So erklärt sich, weshalb »schwarze Literatur«
ebenso wie »Schwulenliteratur« und »Frauenliteratur« eigene kleine
Bereich in den Buchläden und Bibliotheken bekamen.
Nicht anders als beim Feminismus war es auch in Bezug auf die
Schwarzen so, dass in dem Augenblick, als Black studies so etwas
wie einen Durchbruch erzielt hatten, eine neue, leidenschaftliche
Rhetorik und neue Ideen Einzug in diese »Disziplin« hielten – und
das zu einem Zeitpunkt, als die Rassengleichheit ihren bisherigen
Höhepunkt erreicht hatte. Ebenso wie eine beliebte feministische
Strömung sich davon abgewendet hatte, Frauen zu feiern, und
stattdessen begonnen hat, Männer zu verunglimpfen, griff ein
bestimmter Anteil schwarzer Studien alle an, die nicht schwarz
waren. Eine Disziplin, die dazu gedacht war zu entstigmatisieren,
begann selbst zu stigmatisieren. Was für den Feminismus die vierte
Welle war, war für den Antirassismus die sogenannten »Whiteness
studies« (»Weißseinsforschung«), die sich wachsender Beliebtheit
erfreute. Diese Disziplin wird heute an den Eliteuniversitäten
Amerikas ebenso gelehrt wie an ähnlichen Bildungseinrichtungen
von England bis Australien. Diesem Ableger der kritischen
Rassentheorie haben wir es zu verdanken, dass die University of
Wisconsin in Madison einen Kurs mit dem Titel »The Problem of
Whiteness« (»Das Problem, ein Weißer zu sein«) anbietet, während
die Melbourne University in Australien angehende Akademiker dazu
zwingt, Vorlesungen der Weißseinsforschung zu belegen, auch
wenn deren Hauptstudiengang damit nichts zu tun hat. Jeder, der mit
Intersektionalität zwangsernährt wurde, erkennt, welche
Argumentation dahintersteckt.
Die Research Encyclopedia der Oxford University definiert die
Weißseinsforschung so:
Ein wachsendes Gebiet der Forschung, das darauf abzielt, unsichtbare Strukturen
aufzudecken, die zu der Vorstellung von der Überlegenheit der weißen Rasse und
deren Privilegien führen. Die kritische Weißseinsforschung geht von einer
bestimmten Form des Rassismus aus, der in engem Zusammenhang zur Vorstellung
der Überlegenheit der weißen Rasse steht.

Ja, davon gehen sie aus, und die Verfasserin dieses Vorworts –
Barbara Applebaum von der privaten US-amerikanischen
Forschungsuniversität Syracuse – verdient, wie viele andere
Experten auch, ihren Lebensunterhalt mit dieser Annahme. In ihrem
Buch Being White, Being Good: White Complicity, White Moral
Responsibility and Social Justice Pedagogy von 2011 (Weiß sein,
gut sein: weiße Mittäterschaft, weiße moralische Verantwortung und
Pädagogik sozialer Gerechtigkeit) erklärt Applebaum, wie es sein
kann, dass selbst erklärte Antirassisten rassistisch sein können. Das
liegt ihrer Meinung nach schlicht daran, dass sie sich dessen nicht
bewusst sind. Unter anderem fordert Applebaum, weiße Studenten
zu lehren, wie man einander zuhört, sie dazu bringt, ihre
»Mittäterschaft« am Rassismus zuzugeben und dann zu lernen, wie
»Bündnisse geschaffen werden«. Anscheinend ist das für sie aber
kein reines Studienfach. In ihren Augen handelt es sich dabei – wie
sie es in der Oxford Encyclopedia formuliert hat – um einen Kampf
der Unerschrockenen mit allen Merkmalen nicht nur eines
Erziehungsprogramms, sondern eines Umerziehungsprogramms.
Das klingt nach einem Test für implizierte Verzerrung, also für
unbewusste Stereotype und Vorurteile, und zwar für Leute, die
schon für schuldig befunden wurden.
Applebaum spricht davon, dass noch mehr getan werden muss,
damit »Weiße achtsamer und sensibler werden«, dass sie lernen
müssen, was »Privilegien der Weißen« sind, und dass sie begreifen
müssen, inwieweit die »Privilegien der Weißen und rassistisch
motivierte Mittäterschaft« zusammenhängen. Schon klar, dass all
das nicht im luftleeren Raum existiert, sondern in Situationen, in
denen Rassismus um sich greift und gewaltsame Auswirkungen hat,
»[…] wie zahlreiche Ausbrüche rassistisch motivierter Gewalt, über
die in den Medien berichtet wird, zeigen«, wie sie ein bisschen
enttäuschend ausführt. Dennoch ist sich die Oxford Encyclopedia
darüber im Klaren, was mit diesem Studiengang bezweckt werden
soll. In den Black studies werden schwarze Schriftsteller und die
Geschichte der Schwarzen zelebriert, in Gay studies befasst man
sich mit bedeutsamen homosexuellen Figuren aus der Geschichte
und rückt sie in den Vordergrund, doch die Weißseinsforschung singt
beileibe kein Loblied auf Weiße – ich möchte sogar anzweifeln, ob
diese Disziplin tatsächlich den Namen Forschung verdient. Wie
Applebaum stolz verkündet, ist Sinn und Zweck der »Whiteness
studies« die »Disruption des Rassismus durch die Problematisierung
des Weißseins«. Und das soll »als Korrektur« erfolgen. Im Klartext
bedeutet das, dass bei allen anderen Studienbereichen, die sich mit
ethnischer Zugehörigkeit befassen, Stolz und eine gewisse
Fröhlichkeit mitschwingt, doch hier lautet das Ziel, Hunderte und
Aberhunderte Millionen Menschen zu problematisieren.
Nachdem sie W. E. B. Du Bois’ Beobachtung aus dem Jahr 1903
zitiert, dass die Rassengrenze das bestimmende Merkmal der
amerikanischen Gesellschaft sei, schreibt sie weiter: »Erst wenn
Weiße ihre Mittäterschaft in Sachen Rassismus anerkennen und sie
nicht mehr leugnen, erst wenn Weiße ein Bewusstsein entwickeln,
das die Grenzen der Wahrheit und das Konzept von Gut und Böse
kritisch hinterfragt, mit deren Hilfe sie ihre soziale Welt begreifen,
wird Du Bois’ Erkenntnis weiterhin glaubhaft klingen.«
Man könnte jetzt einwenden, dass es selbst von ausgeprägtem
Rassismus zeugt, wenn ein ganzer Personenkreis, samt seinen
Einstellungen, Fallstricken und moralischen Assoziationen
ausschließlich aufgrund seiner Rassenmerkmale definiert wird.
Damit »Weißsein« »problematisiert« werden kann, muss Weißen
erst einmal aufgezeigt werden, dass sie ein Problem darstellen. Und
zwar nicht nur auf einer gewissen intellektuellen abstrakten Ebene,
sondern im Alltagsgeschäft, wenn sie sich über andere Menschen
ein Urteil bilden. Wie das häufig der Fall ist, wenn ein Konzept über
die Mauern der akademischen Einrichtungen in die weite Welt
hinausdringt, kommt es in der Welt der Stars zu der
offensichtlichsten Demonstration, dass die neue Botschaft in der
Mitte der Gesellschaft angekommen ist, und dass nahtlos von der
Haltung, dass Rasse keine Rolle spielt, dazu übergegangen wurde,
dass Rasse das Einzige ist, was zählt.

WIE ARMIE HAMMER PROBLEMATISIERT


WURDE
Vielleicht haben Sie die Geschichte von Armie Hammer ja
mitbekommen. Nach seiner Rolle in der Schwulenromanze Call Me
By Your Name (Ruf mich bei deinem Namen) von 2017 erfreute er
sich wachsender Prominenz. Blöd nur, dass Hammer nicht schwul
ist. Aber dafür weiß und männlich, und so kam es, dass er sich nicht
rechtfertigen konnte, als die Kritiker ihn für seine Schauspielkunst
mit Lob überhäuften und er für mehrere Filmpreise nominiert wurde.
BuzzFeed beschloss, seinem Ruhm einen 6000 Wörter langen
Artikel mit der Überschrift »Zehn lange Jahre, bis Armie Hammer so
weit war« zu widmen. Ethnische Zugehörigkeit und Rassenpolitik
konnten nun zur Waffe umgemünzt werden, um die Stimmung im
ganzen Land zu vergiften.
Die Chefredakteurin des Kulturteils fasste es so zusammen:
»Wie viele zweite Chancen kriegt ein gutaussehender weißer
männlicher Star eigentlich?« Wie Anne Helen Petersen weiter
ausführt, besitzt der Star »die Größe, das Profil und das wunderbar
altmodisch gute Aussehen, was Regisseure sofort an Gary Cooper
denken lässt. Außerdem benimmt er sich wie die meisten Menschen,
die mit dem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sind:
Er strotzt vor Selbstbewusstsein und Charisma, oder – um es
weniger schmeichelhaft auszudrücken – er kann sich auch ein
kleines bisschen wie ein Arschloch aufführen«. Im weiteren Verlauf
des Artikels mokierte sich die Redakteurin über mehrere
Filmprojekte, für die Hammer zwar besetzt worden war, die dann
aber entweder doch nicht zustande kamen oder sich an den
Kinokassen als Flop erwiesen.
Auch die filmische Adaption des DC Comics Justice League:
Mortal (Liga der Gerechten: Tödlich) kam beim Publikum nicht an:
»Und mit einem Mal war es vorbei mit dem Ruhm!« In einem Ton,
der keine Zweifel ließ, dass Petersen voll auf ihre Kosten kam, reihte
sie seine Misserfolge auf wie Perlen auf einer Schnur:
»Western – ein Flop«, »Blockbuster – ein Misserfolg«,
»Prestigefilm – durchgefallen«, »Das war der größte Reinfall des
Sommers«, und über einen als möglichen Preisträger bei der Oscar-
Verleihung gehandelten Film schrieb sie: »Nur ein flüchtig
leuchtender Punkt auf dem Radar der Filmakademie.« Und doch,
beklagte sie sich, »hatte Hammers Publicity-Team wieder und wieder
versucht, Armie Hammer groß rauszubringen«.
Mit diesem scheinbar endlosen Verriss wollte die Redakteurin –
eine Weiße – Hammer offenbar nicht nur fertigmachen, weil er ein
Loser war, sondern auch, weil er weiß war – insbesondere aber
wegen seiner Privilegien, die Petersen in jeder Phase von Hammers
Karriere zu erkennen glaubte. Ihre Erklärung, weshalb Hammer noch
immer für unterschiedliche Rollen gecastet wurde, obwohl die
Schreiber für BuzzFeed mehr als enttäuscht von ihm waren, lautete,
dass »Hollywood doch keinen Kerl in den Wind schießt, der so
attraktiv, so groß, so weiß und dessen Kinn so kantig ist«. Weiter
hieß es in dem Artikel: »Niemand bekommt so viele zweite Chancen
in Hollywood wie heterosexuelle Männer.« Und sie setzt noch eins
drauf: »Letzten Endes ist das Problem nicht, dass Armie Hammer so
viele Chancen bekam. Es liegt vielmehr am System, das dafür sorgt,
dass diese Chancen – wie sie so vielen weißen Männern eingeräumt
werden – zulasten derer gehen, die sie dringender gebraucht und
am meisten davon profitiert hätten. Dieses System zerstört deren
Möglichkeiten und letzten Endes auch ihre Hoffnung.«129
Als Reaktion darauf twitterte Hammer: »Die Chronologie meiner
Filme ist genau richtig, aber Ihre Sicht der Dinge ist scheißbitter.
Vielleicht liebe ich ja einfach nur meinen Beruf und will nichts
anderes machen …?« Und dann löste er seinen Account bei Twitter
auf. Andere versuchten, ihm zu Hilfe zu eilen und ihn zu verteidigen.
Ein Nutzer twitterte, dass sich Hammer die letzten zwei Jahre sehr
für schwarze und schwule Regisseure und entsprechende
Drehbücher ins Zeug gelegt hätte. »Er ist echt einer von den
Guten.« Das wiederum rief einen Fernseh- und Filmkritiker des
Magazins Forbes auf den Plan, und es wurde zum Gegenangriff
geblasen. »Fragen Sie sich doch mal, ob Sie sich für farbige
SchauspielerInnen ebenso einsetzen würden. Wenn nicht, halten Sie
besser die Fresse.« Andere erinnerten daran, dass Luca
Guadagnino, der Regisseur von Call Me By Your Name (wenigstens
er ist schwul), unter Beschuss geraten war, da er die Rollen von
Schwulen in seinem Film nicht mit schwulen Schauspielern besetzt
hatte.130 In einem Interview versuchte Guadagnino zu erklären, dass
er die Rollen lieber mit Schauspielern besetzen wollte, bei denen die
Chemie stimmt, und nicht, weil sie die »richtige« sexuelle
Orientierung haben. Er betonte, dass er von der Gendertheorie
fasziniert sei und sich lange Zeit intensiv mit der Gendertheoretikerin
Judith Butler befasst habe.131 Anscheinend ließen sie ihn deshalb
vom Haken. Doch die »Problematisierung« eines weißen
Schauspielers entpuppte sich als eine für diese Zeit sehr typische
Verwirrung.
Auch wenn der eine oder andere der Ansicht sein mag, dass ein
Schauspieler wie Hammer damit fertigwerden sollte – und auch
wenn er nicht unbedingt zu den Topschauspielern zählt, steht er
doch besser da als viele seiner Kollegen, und er hat gutes Geld
verdient –, gibt es noch immer das Problem, dass »die
Problematisierung von Weißsein« nichts anderes bedeutet, als
»Weiße zu problematisieren«. Sobald »Rassenspielchen« wie diese
alltäglich werden, wird alles bald nicht mehr nur unter dem Aspekt
von Rasse betrachtet werden, sondern aus einer aggressiven
rassistischen Warte heraus, was sicherlich nicht dazu beitragen wird,
die Gemüter zu beruhigen.
Dann werden aus Antirassisten ganz schnell Rassisten. Eines
der grundlegendsten Prinzipien des Antirassismus der letzten
Jahrzehnte war die Vorstellung, dass sich in Amerika eine
»Farbenblindheit« durchsetzen möge – das war der große Traum
von Martin Luther King 1963.
Die Vorstellung, dass die Hautfarbe ein gänzlich unwichtiger
Aspekt der Identität eines Menschen sein könnte, sodass es möglich
wäre, sie komplett zu ignorieren – und sich über die Frage der
Rassenzugehörigkeit zu erheben –, ist nicht nur die einzige
praktikable Lösung, sondern auch ein wunderbarer Gedanke, wie
sich ein für alle Mal vermeiden lässt, dass die Frage nach der
Rassenzugehörigkeit jeden Aspekt der zwischenmenschlichen
Interaktion durchdringt. Doch selbst dieses Konzept wurde in den
letzten Jahren attackiert. So hat zum Beispiel Eduardo Bonilla-Silva,
Präsident der American Sociological Association und Professor an
der Duke University, gesagt, dass allein der Gedanke, eine
Gesellschaft könne farbenblind werden, Teil des Problems sei. In
seinem eigenen Kampf gegen das Konzept der »Farbenblindheit«
hat Bonilla-Silva dieses Konzept selbst zu einem Akt des Rassismus
erklärt. In seinem 2003 erschienen Buch Racism without Racists
(Rassismus ohne Rassisten), bis heute gab es vier Neuauflagen, hat
Bonilla-Silva den Begriff »farbenblinder Rassismus« geprägt. Andere
Akademiker haben dieses Argument ausgeweitet.
Bis 2018 mussten in Großbritannien Hunderte von
Hochschullehrern Workshops besuchen, in denen man sie lehrte, ihr
»Privileg als Weißer« anzuerkennen und ihnen erklärte, wie
»Weißsein« sie zum Rassisten machte, ohne dass sie sich dessen
überhaupt bewusst waren. In Universitäten im ganzen Land mussten
sie der Erklärung zustimmen, dass Weiße allein aufgrund ihrer
Hautfarbe Vorteile genössen und dass schwarze Mitarbeiter,
Studenten und Kollegen aus dem gleichen Grund diskriminiert
würden. Ein Sprecher bei einer dieser Veranstaltungen, die von der
Black, Asian and Minority Ethnic Staff Advisory Group organisiert
worden war, sagte zu, dass seine Institution Dozenten auffordern
würde, »die destruktive Rolle des Weißseins zu untersuchen und
anzuerkennen«.132 Solche Ideen haben ihren Ursprung in Amerika –
doch die Geschichte der Rassenbeziehungen ist dort eine ganz
andere. Eines der faszinierendsten Dinge am Rassismus der
Antirassisten ist ihr Trugschluss, dass die Rassenbeziehungen
immer und überall die gleichen sind und dass Institutionen, die
aufgrund ihrer Vergangenheit eigentlich zu den Einrichtungen zählen
müssten, in denen Rassismus kaum verbreitet ist, in Wahrheit kurz
vor dem rassistisch motivierten Genozid stehen.
Wie Greg Lukianoff und Jonathan Haidt in ihrem 2018
erschienenen Buch The Coddling of the American Mind (Das
Verweichlichen des amerikanischen Geistes) beschrieben, wurde
das Aufbauschen harmloser Vorfälle zu einer der
unverwechselbaren geistigen Haltungen dieser Ära. Ebenso wie
man Frauen sagen kann, dass es in unserer Kultur so oft zu
Vergewaltigungen kommt, dass man durchaus von einer
»Vergewaltigungskultur« sprechen könne, verhalten sich Menschen
so, als lebten sie in einer Gesellschaft am Rande des Hitlerismus. In
beiden Fällen werden extreme Behauptungen genau dort gemacht,
wo die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer solchen Katastrophe
kommt, äußerst gering ist. Ja, es gibt Länder in dieser Welt, die
zumindest sehr nahe an eine »Vergewaltigungskultur«
herankommen (Vergewaltigung wird dort nicht strafrechtlich verfolgt
und ist sogar kraft Gesetzes abgesegnet), doch es gibt keinen
vernünftigen Grund, westliche Demokratien zu ihnen zu zählen.
Ebenso gibt es Orte in der Welt, in denen Rassismus um sich
gegriffen hat oder in denen die Gefahr besteht, dass sie in
irgendeine Form des rassistischen Albtraums im Stil von
Nazideutschland in den 1930er-Jahren zurückfallen. Dennoch
tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ort wie eine liberale
Kunsthochschule in einem liberalen Bundesstaat Nordamerikas sich
einer ethnischen Säuberung verschreibt, gen null. Merkwürdig nur,
dass genau an solchen Orten die extremsten Behauptungen
aufgestellt und die extremsten Verhaltensweisen gezeigt werden.

»ENTKOLONIALISIERUNG« IM EVERGREEN
STATE COLLEGE
Jahrzehntelang gab es am Evergreen State College in Olympia,
Washington, den »Tag der Abwesenheit«. Die Idee dazu rührte von
einem Theaterstück gleichen Namens von Douglas Turner Ward aus
dem Jahr 1965.
Einmal im Jahr sollten alle schwarzen Schüler und Lehrkräfte
(später alle Farbigen) dem Campus einen Tag lang fernbleiben, zum
einen, um sich über relevante Themen auszutauschen, und zum
anderen, um zu zeigen, welchen Beitrag sie für ihre Community
leisten. Bis ins Jahr 2017 wurde diese Tradition fortgesetzt, doch
dann verkündeten die Organisatoren, den Spieß umdrehen zu
wollen, weshalb alle Weißen dem Campus für einen Tag fernbleiben
sollten. Einer der Lehrkräfte – der Biologielehrer Bret Weinstein –
wollte da nicht mitmachen. Mit dem üblichen Ablauf an diesem Tag
hatte er während seiner gesamten Lehrtätigkeit von 14 Jahren noch
nie ein Problem gehabt – und seine Frau, ebenfalls Lehrerin, auch
nicht. Er legte seinen Standpunkt in einer E-Mail dar, die über den
Verteiler des Colleges an alle dort Beschäftigten ging:
Es gibt einen enormen Unterschied zwischen einer Gruppe oder einem Bündnis, das
beschließt, aus freien Stücken einem gemeinsamen Ort fernzubleiben, um auf ihre
unverzichtbare und unterschätzte Rolle hinzuweisen (was im Übrigen das Thema
von Douglas Turner Wards Stück Day of Absence war, aber auch das Thema des
jüngsten Ausstandes am Frauentag), und einer Gruppe, die einer anderen erzählt,
einen Tag nicht zum College zu gehen. Bei dem ersten handelt es sich um einen
nachdrücklichen Aufruf, sich bewusst gegen jegliche Form von Unterdrückung zu
stellen. Bei dem zweiten dagegen haben wir es mit einer reinen Machtdemonstration
zu tun, was in und an sich ebenfalls auf eine Unterdrückung hinausläuft.

Weinstein sagte noch, dass er sich auf keinen Fall nötigen ließe, der
Uni einen Tag fernzubleiben. »Sein Recht auf Redefreiheit – oder
anwesend zu sein – darf niemals auf der Hautfarbe basieren.«
Wenigstens dachte er das.
Als bekennender progressiver Linker, und Anhänger von Bernie
Sanders, war Bret Weinstein auf keinen Fall jemand, dem man
einfach so das Etikett Rassist verpassen würde. Doch genau das
passierte dann. Nachdem sich die Kunde von seiner E-Mail auf dem
Universitätsgelände verbreitet hatte, versammelte sich eine Gruppe
von Schülern vor Weinsteins Klassenzimmer.
Dort versuchte er dann, vernünftig mit ihnen zu reden, eventuelle
Missverständnisse zu klären und sich auszutauschen. Mehrere
Schüler filmten mit ihren Handykameras, was dann geschah.
Weinstein wollte ihnen den Unterschied zwischen einem
»Streitgespräch und Dialektik« erklären und sagte: »Ein
Streitgespräch bedeutet, als Sieger rausgehen zu wollen. Dialektik
dagegen versucht, mithilfe von unterschiedlichen Standpunkten die
Wahrheit herauszufinden. Ich bin kein Fan von Streitgesprächen.
Ich setze ausschließlich auf Dialektik, was bedeutet, dass ich
euch zuhöre und ihr mir.« Das kam bei den anwesenden Schülern
aber nicht gut an. »Es ist uns scheißegal, was Sie zu sagen haben«,
brüllte eine junge Frau Weinstein an, dessen Gestik verriet, dass er
seinen Ohren nicht traute. »Wir reden jetzt nicht weiter über die
Bedingungen von weißen Privilegien.« Die Stimmung wurde immer
gereizter, manche buhten, andere kreischten. »Das ist keine
Diskussion«, schrie ein Schüler. »Eins zu null für uns.«
Weinstein beharrte auf seinem Standpunkt. »Ich rede von
Bedingungen, wie wir die Wahrheit herausfinden können.« Die
Reaktion der Schüler? Verächtliches Schnauben und höhnisches
Gelächter. »Das ist einfach nur rassistische Scheiße!«, brüllte dann
jemand. »Scheiß drauf, was Sie zu sagen haben.« Da inzwischen
das Geschrei im Hintergrund so laut wurde, konnte niemand mehr
hören, was dann gesagt wurde. »Möchten Sie die Antwort nun hören
oder nicht?«, wandte sich eine andere Person dann an die Schüler,
worauf ein lautstarkes »Nein!« zu hören war. Und so ging es immer
weiter. »Hört auf, Farbigen zu sagen, sie seien wertlos!«, rief eine
Schülerin und griff dann den Professor an. »Sie sind derjenige, der
wertlos ist! Hauen Sie ab. Fuck you, Sie Arschloch!«133
Auf dem ganzen Campus eskalierte die Situation, weshalb die
Polizei gerufen wurde. Als die Polizisten eintrafen, wurden sie von
den Schülern beleidigt, die sich an unterschiedlichen Stellen zu
Gruppen zusammentaten.
Eine Gruppe lief zum Büro von George Bridges, dem College-
Rektor, und stimmte Sprechchöre an. »Black power!« und »Raus mit
den Rassistenschweinen!« Ein Video zeigt einen schwarzen Schüler
mit pinkfarbenen Haaren, der den anderen Schülern erklärt, wie sie
Bridges und andere Lehrer am Verlassen des Büros des Rektors
hindern können.
Derselbe Schüler erklärte später, dass »die Redefreiheit genauso
wichtig ist wie das Leben von Schwarzen, Transmenschen, Frauen
und Schülern dieses Colleges«. Letzten Endes besetzten die
Schüler das Büro des Rektors, und was dann geschah, war für jeden
Außenstehenden surreal. Die Schüler hinderten Bridges mit aller
Macht daran, sein Büro zu verlassen. Irgendwann bat er darum, auf
die Toilette gehen zu dürfen, aber sie ließen ihn nicht. »Ich muss
aber aufs Klo, bitte lasst mich raus!«, insistierte er. Die
kaltschnäuzige Antwort lautete: »Verkneif’s dir halt!« Irgendwann
einigten sich die Schüler darauf, dass er die Toilette aufsuchen
durfte, aber nur mit zwei Mann Begleitung.134 Dafür, dass diese
Schüler so erklärte Gegner von Faschismus waren, waren sie
erstaunlich gut bewandert in den Methoden von Sturmtruppen.
Weiteres Bildmaterial, das ebenfalls von Handys stammt, zeigt
den Rektor (der sich als Sozialwissenschaftler seine ganze Karriere
lang für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hat) im Gespräch mit
Schülern auf dem Campus. Während Bridges versucht, auf sie
einzugehen, rufen sie Dinge wie »Fuck you, George, es interessiert
uns nicht, was du zu sagen hast. Halt einfach nur dein Maul!« Eine
Frau versucht, dem Rektor die Lage zu erklären: »Die Schüler hier
sind verdammt aufgebracht. Es kommt also nicht darauf an, wie Sie
etwas sagen, sondern was Sie sagen.« Man hört Rufe über die
»Privilegien der Weißen«, und als der Rektor gedankenverloren mit
dem Kopf nickt, hagelt es Beleidigungen. Eine schwarze Studentin
wirft ihm vor zu versuchen, die Dinge viel einfacher aussehen zu
lassen.
»Wir sind keine Schwachköpfe«, ruft sie. »Wir sind erwachsen.
Und ich sage Ihnen jetzt, dass Sie mit Ihren Vorfahren reden.
Genau. Wir waren vor Ihnen da. Wir haben die Städte gebaut. Wir
waren bereits zivilisiert, als Sie noch nicht mal wussten, was das
bedeutet. Erst dann sind Sie aus Ihrer Höhle gekrochen. Kapiert?«
»Sie besitzen die Frechheit, unsere Sache zu entmenschlichen«,
ruft ein anderer. Jemand anderes fällt ihm ins Wort und will die
Unterdrückung der Transsexuellen ansprechen, »weil Transsexuelle
auch eine Zielgruppe sind«. »Scheiße, stimmt ja!«, rufen ein paar
Schüler daraufhin, aber alles, was mit Rasse und Hautfarbe zu tun
hat, wird viel begeisterter aufgenommen als dieses
Transsexuellending. Allmählich löst sich die Versammlung auf, doch
mehrere Schüler stehen direkt neben Bridges und brüllen ihn an, ein
großer Mann reißt bedrohlich die Arme hoch.
Kurz danach macht der Rektor eine schwache Geste, um seinen
Standpunkt zu verdeutlichen, als er auch schon von einem Schüler
angemacht wird: »Hände runter, George!«, weist ihn ein Schüler an.
»Zeig nicht mit dem Finger auf uns!« »Lass es!«, warnt ihn ein
anderer. Dann läuft ein Schüler auf ihn zu und bedeutet ihm, dass er
seine Arme gefälligst seitlich herunterhängen lassen soll, wenn er
das Wort an sie richtet. »Schön die Arme nach unten!« »Runter
damit!«, brüllen die Leute. Als er dann genau das tut, ist lautes
Lachen zu hören.135 Dieses Gelächter hört sich nicht nach Freude
darüber an, dass die Gefahr eines bedrohlichen Fingerzeigs gebannt
ist, sondern nach hörbarem Entzücken, dass sie einen viel älteren
und erfahreneren Mann dazu gebracht haben, sich vor ihnen zu
erniedrigen.
Auch an anderer Stelle kommt es zu der Forderung, dass der
Rektor keine Gesten machen soll. »Nehmen Sie Ihre Hände
herunter, George«, fordert ihn eine junge Frau auf. »Genau damit
hab ich ein Problem, George«, sagt eine schwarze Schülerin und
steht auf. »Immer fuchteln Sie irgendwie mit Ihren Händen herum.
Aber ich werde diesen Raum hier jetzt entkolonialisieren. Ich laufe
jetzt einfach mal hier rum.« Alle Anwesenden klatschen und jubeln.
»Schon gut, ich halte die Hände nach unten«, verspricht Bridges,
legt die Hände hinter den Rücken und versucht, den Dialog wieder
aufzunehmen, während die junge Frau durch den Raum marschiert
und ihn »entkolonialisiert«.136
Die Situation auf dem Campus eskaliert immer mehr, und die
Schüler von Evergreen gelangen offenbar zu der Überzeugung, dass
sie es mit einem Professor zu tun haben, der sich offen zum
Rassismus bekennt, und dass auch die Institution an sich
unumwunden rassistisch ist. Kurze Zeit später rotten sich ein paar
Schüler zusammen, durchkämmen den Campus nach
Baseballschlägern und ähnlichen Waffen, die sie bedrohlich über
dem Kopf schwingen, und fangen an, andere Leute zu jagen,
anzugreifen und einzuschüchtern. Offensichtlich sind sie auf dem
Weg zu Professor Weinstein und seiner Familie, die damals genau
gegenüber vom College lebten, um ihr etwas anzutun. Die
Gewaltandrohung war so heftig, dass der Campus tagelang
abgeriegelt wurde. Der Polizei wurde untersagt, das Gesetz zu
vollstrecken, woraufhin sie sich in ihrer Polizeistation verschanzte.
Immerhin rief ein Polizist Weinstein an und riet ihm, sich vom
Campus fernzuhalten und sich und seine Familie in Sicherheit zu
bringen. Am Tag nach dem Vorfall vor Weinsteins Klassenzimmer
teilte die Polizei Weinstein mit, dass Demonstranten alle Autos in der
Gegend anhielten und sich die Ausweise zeigen ließen. Offenbar
waren sie auf der Suche nach ihm. Seine eigenen Schüler – und alle
anderen, denen eine abweichende Meinung unterstellt wurde –
wurden vom Mob gejagt und belästigt. Einem Schüler gelang es, die
Verbindung am Handy zu halten, während er vom Mob angegriffen
wurde. Im Anschluss an diesen Vorfall rechtfertigte sich eine junge
Frau damit, sie hätten ihn »Hassbotschaften schreiben sehen«.137
Zu behaupten, Evergreen wäre in dieser Zeit geradezu besessen
gewesen von Rasse und allem, was damit zusammenhängt, würde
die Vorgänge herunterspielen. Bei einer anschließenden Tagung des
Trägervereins des Colleges erinnerte sich ein Schüler: »Ich wurde
mehrmals aufgefordert, den Mund zu halten, weil ich weiß sei.
Dieses College übertreibt es mit diesem ganzen Rassending. So
werden sie selbst zu Rassisten, wenn auch andersherum.«138
Andere Schüler sahen das jedoch ganz anders. Ein weißes
Mädchen (ebenfalls mit pinkfarbenen Haaren) sagte in einem
Interview: »Mir ist völlig egal, was mit Bret passiert. Soll er doch
woanders den Rassisten rauskehren und sich aufführen wie das
letzte Stück Dreck, wenn er das möchte. Hoffentlich gelingt es uns
langfristig, solche Leute wie Bret auszumerzen.«139
Der Zufall wollte es, dass Weinstein nie wieder am Evergreen
College unterrichtete. Nur ein einziger Kollege von ihm oder seiner
Frau hat sich öffentlich zu ihm bekannt und gesagt, dass er jedes
Recht gehabt hätte, seinen Standpunkt zu vertreten. Nach ein paar
Monaten einigten sich Weinstein und seine Frau mit dem College auf
einen Vergleich, woraufhin sie beide ihren Posten verließen.
Man könnte eine ganze Dissertation darüber schreiben, was
damals am Evergreen College tatsächlich geschehen ist und was die
Schüler und andere dachten, was geschehen sei. Sämtliche
Merkmale eines modernen Gewaltausbruchs waren vorhanden: das
Aufbauschen harmloser Vorfälle, Behauptungen, die jeglicher
Grundlage entbehrten, die autoritäre Vorgehensweise unter dem
Deckmantel einheitlicher Bedingungen, dass aus Worten Gewalt
wurde und Gewalt zu Worten.
Schlimm nur, dass die Vorfälle am Evergreen College nicht
ungewöhnlich für ein US-amerikanisches College waren. Im Prinzip
waren sie der verlängerte Arm einer Bewegung an der Yale
University, die erst zwei Jahre zuvor in das öffentliche Bewusstsein
gerückt war. Das Stilisieren harmloser Vorfälle zu rassistischen
Verbrechen galt inzwischen als so normal, dass die Studenten in
Evergreen vielleicht dachten, sie könnten noch eins draufsetzen. Sie
machten wieder und wieder die Erfahrung, dass Erwachsene sich
dem Geschehen entweder entzogen und den Raum verließen oder
taten, was ihnen gesagt wurde.
2015 – also zwei Jahre vor den Vorfällen am Evergreen College
– hatte Erika Christakis, Dozentin an der Yale University, in einer E-
Mail die Frage aufgeworfen, ob die Verwaltung erwachsenen
Studenten vorschreiben könne, wie sie sich auf Halloween-Partys
kostümieren dürfen. Daraufhin kam es zu einer weiteren
Schlammschlacht über Halloween. Mit einem Mal drehte sich alles
um die Frage, wie sich verhindern ließe, dass unsensibel zu
Kostümen gegriffen wurde, die sich vielleicht gegen irgendwelche
kulturellen Gepflogenheiten richteten. Aufgrund von Erikas E-Mail
stellten mehrere Dutzend Studenten ihren Ehemann Nicholas
(ebenfalls Professor) im Innenhof des Internats Silliman, dessen
Leiter er war. Über mehrere Stunden hielten sie ihn gefangen,
beleidigten ihn und beschuldigten ihn und seine Frau des
Rassismus. Und wieder zückten Studenten ihre Handys und nahmen
alles auf.
Gleich zu Beginn der Auseinandersetzung sagt eine schwarze
Studentin zu Nicholas Christakis: »Ich fühle mich hier nicht mehr
sicher.« Denn was er gesagt und seine Frau in ihrer E-Mail
geschrieben hätte, seien »Gewaltakte« gewesen. Christakis blieb die
ganze Zeit über ruhig, schlug einen versöhnlichen Ton an und wollte
die Studenten beruhigen. Man sieht auf den Aufnahmen, wie sehr er
sich bemüht, zu den Studenten durchzudringen und ihnen
klarzumachen, dass es abgesehen von ihrem Standpunkt auch
einen anderen gibt. Es hat nicht funktioniert. Mitten im Gespräch
bricht eine junge Schwarze in Tränen aus. Alles was er ihnen zu
sagen versuchte, hätte er sich auch sparen können. Als er den
Anwesenden erklären wollte, dass seine Vision die von
Mitmenschlichkeit sei, brachen die Studenten – nicht anders als ihre
Zeitgenossen am Evergreen College – in verächtliches Schnauben
und höhnisches Lachen aus. Andere warteten nur darauf, auf ihn
losgehen zu können. Christakis versuchte, seinen Standpunkt zu
verdeutlichen und sagte, auch wenn zwei Menschen nicht das
Gleiche erlebt und nicht die gleiche Hautfarbe oder das gleiche
Geschlecht hätten, könnten sie einander doch verstehen.
Auch das funktionierte nicht. Irgendwann sieht man ihn lächeln,
weshalb er von den Studenten sofort beschimpft wird. »Sie kotzen
mich an«, schrie ihn eine junge Yale-Studentin an. Ein großer
Schwarzer baute sich vor Christakis auf und herrschte ihn an:
»Schauen Sie mich an. Schauen. Sie. Mich. An. Kapieren Sie das?
Sie und ich, wir sind nicht dieselbe Person. Ja, wir sind beides
Menschen, schön.
Wenigstens da sind wir uns einig. Aber Ihre und meine
Erfahrungen haben nichts miteinander zu tun.« Das war der
Augenblick, in dem die umstehenden Studenten anfingen, kurze,
klackende Geräusche von sich zu geben (die Alternative zum
weitaus aggressiveren Klatschen).
»Sie brauchen kein Mitgefühl für uns zu empfinden, aber Sie
müssen einsehen, dass Sie sich irren, okay?«, fuhr ihn einer der
Studenten an. »Auch wenn Sie nie fühlen werden, was ich fühle.
Auch wenn Sie noch nie erlebt haben, was Rassismus ist, weil man
sich Ihnen gegenüber nicht rassistisch verhalten kann, heißt das
noch lange nicht, dass Sie selbst kein Rassist sein können.«
Christakis wurde vom selben Studenten angegangen. »Wie können
Sie in dieser Situation lächeln?« Als der Professor höflich bedeutete,
dass er einer Meinung mit dem Studenten sei, fuhr ihm ein anderer
über den Mund, dass Übereinstimmung hier weder gebraucht noch
gewollt sei. »Das ist keine Diskussion. Das ist keine Diskussion«, rief
ein Student. Eine weitere schwarze Studentin fiel über den Professor
her. »Ich will, dass Sie gefeuert werden. Okay. Sie müssen das
verstehen. Schauen Sie mich an!« Sie schrie ihm ins Gesicht, was
für ein »widerlicher Kerl« er sei und dass sie die Schnauze voll habe
»von seinen kranken Überzeugungen oder was zur Hölle das auch
sein soll«.140
Zum Schluss sagte Christakis noch zu den Studenten, dass auch
andere Menschen Rechte hätten, nicht nur sie. Daraufhin hörte man
andere Studierende sagen: »Er ist es nicht wert, dass man ihm
zuhört.«
Und dann ergriff eine junge Schwarze – deren Schimpftirade sich
viral verbreitete – das Wort und beschuldigte den Professor, die Uni
zu einem »unsicheren Ort zu machen«. Er wollte etwas erwidern,
doch sie hob die Hand und brüllte: »Seien Sie ruhig!« Und fuhr dann
fort: »Sie als Rektor sollen den Studenten hier in Silliman ein
Zuhause bieten, in dem sie sich wohlfühlen können. Das haben Sie
ja wohl verbockt. Diese E-Mail hätten Sie als Rektor nie schreiben
dürfen. Verstehen Sie mich?«
Christakis versucht einzuwenden: »Nein, das sehe ich anders.«
In voller Wut kreischte sie daraufhin in höchsten Tönen: »Weshalb
haben Sie diesen Job dann angenommen? Wer hat Sie denn
eingestellt, verdammte Scheiße?« »Ich habe eine ganz andere
Vision«, versuchte der Professor es erneut, aber sie ließ sich nicht
beruhigen und schrie ihn weiter an. »Sie sollten gehen. Wenn das
Ihre Meinung als Rektor ist, sollten Sie Ihren Job hinschmeißen. Es
geht hier nicht um Intellektualität. Nein, tut es nicht. Kapieren Sie
das? Es geht darum, ein Zuhause für uns zu schaffen. Und das
machen Sie nicht!« Bevor Sie wutentbrannt abzog, brüllte sie ihn
noch an: »Ich hoffe, Sie kriegen nachts kein Auge mehr zu. Sie sind
ein widerlicher Kerl.«141
Man sollte sich nochmals vor Augen halten, worum es eigentlich
ging. Genau, um Halloween-Kostüme und um die Frage, ob die
Univerwaltung Studenten wie Kleinkinder behandeln und ihnen
vorschreiben könne, welche Kostüme sie tragen dürfen und welche
nicht. Ich vermute mal stark, dass ganz normale Amerikaner, die
nicht aufs College gegangen sind, sich nach diesen Videos ernsthaft
die Frage gestellt haben, wie diese Studenten später einmal ihr
Leben im Griff haben sollen, wenn für sie schon Halloween so ein
riesiges Problem darstellt.
Anders als damals die Weinsteins erhielten Erika und Nicholas
Christakis Unterstützung von manchen ihrer Kollegen. Doch am
Ende des Jahres dieses unglaublichen Vorfalls trat Christakis von
seinem Posten als Rektor des Internats in Yale zurück, und auch
seine Frau kündigte ihren Job.
Es ist ein wirklich starkes Stück, dass Yale-Studenten ihre
Professoren unbehelligt öffentlich beschimpfen und beleidigen und
dazu nötigen konnten, genau das zu tun, was sie von ihnen
verlangen – und sie letzten Endes dazu zu bringen, die Kündigung
einzureichen. Möglicherweise wurde auf diese Weise der Boden
bereitet für Evergreen und andere Orte. Das Auffälligste an dem
Bildmaterial dieser Ereignisse ist jedoch, dass es in beiden Fällen
um einen eindeutigen Machtkampf ging. Ganz gleich, wie aufrichtig
manche Schüler oder Studenten auch gewesen sein mögen, steht
ihnen doch ins Gesicht geschrieben, dass sie es nicht fassen
können, wie schnell sich Erwachsene in die Flucht schlagen lassen.
Das und auch eine gewisse Erleichterung, dass man auch durch das
Studium an einer Universität (die eigentlich ein Ort sein sollte, an
dem Studenten vor allem eines tun: Lernen) kommen kann, indem
man schwere Beschuldigungen erhebt und unmögliche Forderungen
stellt.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, versuchte Christakis,
in einem Artikel zu erklären, welche Aufgabe eine Universität habe
und dass es die Pflicht einer jeden Bildungseinrichtung sei,
»Intoleranz in all ihren Ausprägungen im Keim zu ersticken«. Weiter
schrieb er: »Mangelnde Übereinstimmung hat mit Unterdrückung
nichts zu tun, ein Streitgespräch nichts mit einem Angriff. Worte –
auch wenn sie provozieren oder dem anderen widersprechen –
haben nichts mit Gewalt gemein. Es passt uns nicht, was jemand
sagt, dann gibt es nur eine Lösung: darüber reden!«142
Doch diese Erklärung machte keine Schule. Ein Jahr später fand
an der Rutgers University eine Podiumsdiskussion über
Identitätspolitik statt, zu der auch Professor Mark Lilla und der
schwarze Unternehmer und politische Kommentator Kmele Foster
geladen waren. Foster hielt eine leidenschaftliche Ansprache für den
Schutz der Meinungsfreiheit und führte vor den dort versammelten
Studenten aus, dass sich Minderheiten in den 1960er-Jahren auf ihr
Recht auf freie Meinungsäußerung berufen hätten, um für ihre
Bürgerrechte zu kämpfen, und wie wichtig es »für sie war, dieses
Recht auf Meinungsfreiheit zu besitzen, um für ihre Sache eintreten
zu können«. Foster sprach auch über Martin Luther King, der seinen
berühmten Brief aus dem Gefängnis von Birmingham, Alabama,
geschrieben hat, da er wegen Verstoßes gegen die
Demonstrationsfreiheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden
war. An diesem Punkt wendeten sich ein paar der Zuhörer gegen
den schwarzen Redner und riefen im Chor: »Black Lives Matter«
(»Schwarze Leben zählen«). Ein junger Schwarzer brüllte Foster an,
der ihm gelassen entgegensetzt: »Zählen Fakten?« Daraufhin der
Schwarze: »Erzählen Sie mir nichts über Fakten. Mich interessieren
Ihre Fakten nicht. Das Problem ist die Kolonialisierung […]. Fakt ist
nun einmal, dass eine Gruppe von Menschen eine andere
kontrolliert.« Währenddessen hält ein anderer Zuhörer ein Schild
hoch, auf dem geschrieben steht: »Weiße Überlegenheit ist das
Problem«.143 Zu guter Letzt durfte Foster seinen Vortrag doch noch
beenden.
Was diese und viele andere ähnliche Reaktionen enthüllten, war
Teil eines tiefer liegenden Gedankens, nämlich die Vorstellung
schwarzer Politik und schwarzer Radikaler, dass, nachdem alles auf
der Basis weißer Hegemonie aufgebaut ist, jedes einzelne Detail in
diesem System von implizitem oder explizitem Rassismus
durchwoben ist und deshalb ein für alle Mal ausgelöscht werden
muss. Wenn auch nur eines der bestehenden Systeme übrig bleibt,
kann es folglich niemals zu Rassengerechtigkeit kommen. Das ist
wohl auch der Grund, weshalb das Magazin The Root, das sich an
die schwarze Community wendet, 2018 einen Artikel von Michael
Harriot abdruckte, in dem er Weiße kritisierte, die sich »über die
mangelnde Vielfalt der Gedanken beklagten«. »Man sollte den
Weißen mal die Meinung geigen«, hieß es darin weiter, »dass sie
sich immer gleich als Opfer fühlen«. Und weiter: »Die Dreistigkeit der
Weißen liegt darin, dass sie sich gegen alles wehren, was auch nur
im Ansatz eine Bedrohung der anhaltenden Überlegenheit der
weißen Rasse darstellt.« Und dann holte er zu seinem letzten
Schlag aus: »Mangelnde Vielfalt der Gedanken ist lediglich ein
Euphemismus für die Überlegenheit der Weißen.«144
Und so geht es immer weiter. Im gleichen Jahr, als Kmele Foster
beschieden wurde, »Mich interessieren Ihre Fakten nicht«, sollte die
Essayistin Heather Mac Donald einen Vortrag am Claremont
McKenna College halten. Die Veranstaltung wurde jedoch verlegt,
die Rede war nur über einen Videolink abrufbar, da Drohungen von
Studenten eingegangen waren. Vor der Rede war bei der
Universitätsverwaltung ein Schreiben eingegangen, das so
unterzeichnet war: »Wir, einige der wenigen schwarzen Studenten
hier am Pomona College und den Claremont Colleges.« Die
Unterzeichner behaupteten, dass es dem weiblichen konservativen
Gast, sollte sie für diesen Vortrag gebucht werden, »nicht um
Meinungsverschiedenheit« gehe, »sondern um die
Existenzberechtigung von Schwarzen«. Sie beschrieben Mac
Donald als »Faschistin, Rassistin, Kriegerin, zudem als transphob,
queerphob und als eine Anhängerin der Klassengesellschaft, die
bestreitet, dass es Herrschaftssysteme gibt, die zu tödlichen
Bedingungen führen, unter denen die Unterdrückten leben müssen«.
Natürlich ist kein Wort davon wahr.
Mit Sicherheit hatten die Studenten das eine oder andere
vermeintliche Argument aus ihrem Buch The War on Cops: How the
New Attack on Law and Order Makes Everyone Less Safe (Der
Krieg gegen Polizisten: Wie der neue Angriff auf Recht und Ordnung
die Sicherheit aller einschränkt) aufgeschnappt – in der einen oder
anderen Version –, aber gelesen hatten sie es bestimmt nicht. Wie
auch immer, sie machten im gleichen Stil weiter und behaupteten,
Mac Donald zu erlauben, einen Vortrag zu halten, wäre »die
stillschweigende Duldung von Gewalt gegen Schwarze und wende
sich voll und ganz gegen Schwarze«. Doch der Höhepunkt war das
Schlusswort des Schreibens dieser Studenten, das alles über sie
aussagte. Dort hieß es:
Schon immer haben Anhänger der Überlegenheit der weißen Rasse die Idee einer
Objektivität hochgehängt und haben das Schwert der Dichotomie von Subjektivität
und Objektivität geführt, um unterdrückte Völker zum Schweigen zu bringen. Die
Vorstellung, dass es nur eine einzige Wahrheit gäbe, also die Wahrheit schlechthin,
ist ein Konstrukt des westlichen Europas, das seinen Ursprung in der Zeit der
Aufklärung hat. Damals ging man davon aus, dass schwarze und braune Menschen
Untermenschen sind und keine Schmerzen empfinden können. Dieses Konstrukt ist
ein Mythos, doch ihm entsprangen die Vorstellung von der Überlegenheit der weißen
Rasse, der Imperialismus, die Kolonisierung, der Kapitalismus sowie die Vereinigten
Staaten von Amerika. Die Vorstellung, dass es sich bei der Wahrheit um eine Einheit
handelt, nach der wir streben sollten, weil wir nicht überleben können, wenn wir
keinen festen Rahmen haben, ist ein Versuch, unterdrückte Menschen zum
Schweigen zu bringen.145

»Die absolute Wahrheit« ist nichts anderes als ein Konstrukt des
westlichen Europas. Es fällt mir schwer, mir eine Wendung
vorzustellen, die zugleich so extrem irregeleitet ist und so gefährlich
in ihrer Wirkung. Wenn »die absolute Wahrheit« (in Gänsefüßchen)
nichts anderes ist als so ein Weißending, wo sollen dann Nichtweiße
leben und wonach sollen sie streben?
Verstörend ist weniger, dass junge Menschen eine solche
Position einnehmen, sondern vielmehr, dass sie ihnen beigebracht
wurde.
Ein kurioser Aspekt der Hochschulpolitik – einschließlich des
Aktivismus auf dem Campus – ist, dass es so leichtfällt und so
verlockend ist, sich nicht mit ihr auseinanderzusetzen. Ab einem
gewissen Alter kann sich jeder zurücklehnen und sagen, dass
Studenten schon immer aufbegehrt haben, und die Tatsache
verdrängen, dass bis zu den 1960er-Jahren Universitäten nicht
bekannt dafür waren, dass dort Aktivistenkarrieren ihren Ursprung
nahmen, geschweige denn als Keimzellen regionaler, geschweige
denn weltweiter Revolutionen.
Mittlerweile steht jedoch fest, dass selbst die bizarrsten
Forderungen aus dem Universitätsgelände in die reale Welt
eindringen, und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ebenso
wie sich an sicheren liberalen Kunstakademien Amerikas die
Überzeugung durchsetzte – oder so getan wurde als ob –, dass
Rassismus allgegenwärtig ist, obwohl nichts für diese These spricht,
hat sich daraus in weiten Kreisen der Bevölkerung eine Art
Besessenheit entwickelt, sodass alles unter dem Aspekt der
ethnischen Zugehörigkeit betrachtet wurde. Es wurde sogar möglich,
rassistische Dinge unter dem Deckmantel des Antirassismus von
sich zu geben – doch das Schlimmste ist, dass all das inzwischen
als völlig normal gilt. Und deshalb ist es jetzt so, wie Andrew Sullivan
trefflich formuliert hat: Befassen wir uns mit dem Wahnsinn an den
Universitäten, kommen wir nicht umhin zu schlussfolgern, dass »Wir
alle auf dem Campus leben«.146

CRAZY SHIT
Wie es bei so vielen Dingen der Fall ist, geschahen sie in bester
Absicht, zum Beispiel als Wiedergutmachung von unleugbaren
Fehlern der Vergangenheit. Doch auch diese Akte der
Wiedergutmachung fühlen sich häufig weniger nach einem
Heilungsprozess an als vielmehr nach Neuinfektion. Die meisten
Leute dürften zum Beispiel die Zeitschrift National Geographic nicht
in die Nähe von Rassismus rücken.
Allen, die den Rassismus dieses Blatts nicht mitbekommen
hatten, wurden 2018 die Augen geöffnet, als sich die Herausgeber
bemüßigt fühlten, als Leitartikel eine formelle Entschuldigung
abzudrucken. In der gesamten Ausgabe ging es um die
Rassenproblematik, der Leitartikel trug die Überschrift: »Seit
Jahrzehnten ist unsere Berichterstattung rassistisch geprägt. Damit
wir unsere Vergangenheit abstreifen können, müssen wir das
akzeptieren.« In der Entschuldigung der Zeitschrift – die seit 1888
verlegt wird – wurden viele Dinge angesprochen. Die
Chefredakteurin Susan Goldberg schrieb im Editorial, dass sie
jemanden damit beauftragt habe, sich die alten Ausgaben einmal
daraufhin durchzusehen, und dass »so manches aus unserem
Archiv einen sprachlos zurücklässt«.
Die Zeitschrift habe sich vieler Dinge schuldig gemacht, befand
sie. So hätten die Redakteure und Journalisten »Farbige, die in den
Vereinigten Staaten lebten, praktisch ignoriert«. An anderen Orten
dieser Welt wurden »Einheimische« »bekanntermaßen oft nackt
abgebildet und als exotische glückliche Jäger oder edle Wilde«
dargestellt, was jedes denkbare Klischee erfüllen würde. Kurz
gesagt, das Magazin habe »wenig dafür getan, um seinen Lesern
dabei zu helfen, die Stereotype loszuwerden, die in der weißen
Kultur Amerikas fest verankert sind«.
Vor allem ein Artikel aus dem Jahr 1916, in dem es um
Aborigines in Australien ging, wurde als sehr rassistisch
empfunden.147 Als Beweis, wie sehr sich die Zeitschrift seit damals
geändert habe, verriet die Chefredakteurin den Lesern, dass sie
nicht nur jüdischen Glaubens, sondern auch eine Frau sei. Mal
abgesehen davon, dass sie mit der Anspielung auf die Ureinwohner
Australiens die Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt hat, an das sich
niemand mehr erinnert hätte, war noch etwas anderes sehr
merkwürdig an dieser Geschichte. Fast jeder Geschichtsstudent
kennt die nur allzu wahre Zeile am Anfang des Buchs Ein Sommer in
Brandham Hall von. L. P. Hartley, die da heißt: »Die Vergangenheit
ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln.« Es braucht schon
eine gehörige Portion Naivität, um davon auszugehen, dass ein
Artikel von 1916 den präzisen gesellschaftlichen Anforderungen von
2018 entspricht. 1916 durften Frauen in Großbritannien und in
Amerika nicht wählen, Schwule konnten zu Zwangsarbeit in Haft
verurteilt werden, und eine ganze Generation junger Männer verlor
ihr Leben auf den Schlachtfeldern in Flandern und Frankreich durch
Senfgas, Minen, Kugeln und Granaten. Damals galten andere
Regeln.
Was wir aus der Sache jedoch lernen können, ist, dass die
Entschuldigung des National Geographic den wachsenden
Ansprüchen nicht genügte. Der Historiker David Olusoga erklärte in
The Guardian, die Entschuldigung sei »gut gemeint, aber zu
zögerlich«.148 Es dürfte nicht überraschen, dass ein solcher Umgang
mit der Vergangenheit nicht zu einer hilfreichen kritischen Haltung
führt, sondern eher zu der neurotischen Angst, was man in der
Gegenwart alles sagen und tun darf oder besser nicht. Wenn sich
die Leute früher derart getäuscht haben, wie können wir dann mit
Sicherheit wissen, dass wir heutzutage alles richtig machen?
Kurz vor der Entschuldigung des National Geographic kam der
Film Black Panther in die Kinos. Im Vorfeld wurde viel über die fast
ausschließlich schwarze Besetzung geredet und geschrieben und
über die Chance, dass dieser Film schwarzen US-Bürgern und
anderen Hoffnung geben könnte. Ein Großteil beruhte offenbar
darauf, wie der Film bei den Kritikern ankäme und ob er auch
kommerziell erfolgreich wäre. Die leitende Redakteurin Emily
Lakdawalla von The Planetary Society stellte auf Twitter die in ihren
Augen bestimmt ernst gemeinte Frage, was der richtige Moment für
eine weiße Frau sei, sich Black Panther im Kino anzusehen.
Natürlich nicht am ersten Wochenende nach dem Kinostart, aber
wann dann? Die 42-Jährige twitterte: »Ich habe mir bewusst deshalb
keine Tickets für das erste Wochenende nach Anlaufen des Films
gekauft, weil ich nicht die Weiße sein wollte, die Schwarzen ihre
Freude im Kino wegsaugt. Doch wann wäre denn ein passender
Tag, um ins Kino zu gehen? Wäre nächstes Wochenende okay?«149
In dem Ausdruck »Freude wegsaugen« klingt irgendwie an, dass
Weiße nicht nur Monster und Rassisten sind, sondern auch Bräuche
von Vampiren zu schätzen wissen.
Und wieder hört es sich ziemlich verrückt an, dass lediglich die
Anwesenheit eines Menschen einer bestimmten Hautfarbe einer
anderen Gruppe von Menschen den Tag vermiesen könnte. Auch
wenn Lakdawalla viel Spott erntete, hat sie mit ihrem Tweet doch
einen Punkt getroffen. Schließlich finden solche Bedenken
mittlerweile fast überall. Sie hatte eine gehörige Portion davon
inhaliert und lediglich wieder ausgespuckt.
Bislang war Thanksgiving in Amerika immer der Tag, der
unbekümmert mit Familie und Freunden verbracht wurde. Doch
2018 sollte sich auch das ändern – selbst Thanksgiving wurde zum
Tag der Rassenproblematik. Und so stimmte das Magazin The Root
seine Online-Leser auf Thanksgiving 2018 ein. »Liebe Weiße«,
sprach es sie an, »sollten Sie Ihr Thanksgiving mit schwarzen
Familien feiern, sollten Sie daran denken, dass unser Thanksgiving
nichts mit Kolonialisierung und Genozid an amerikanischen
Ureinwohnern zu tun hat. Wir begehen ein halbreligiöses Ritual, bei
dem sich alles um leckeres Essen, Familie und Süßkartoffelauflauf
dreht.«150 Wenige Wochen später, die Vorweihnachtssaison hatte
bereits begonnen, stellte Vice ein Video ins Netz, in dem es um eine
neue aufregende Art von Urlaub ging, genauer gesagt um eine
Gruppe von Frauen, die eine Auszeit von »Weißen« brauchte. Oder
wie Vice das Video betitelte: »Wie ein Urlaub ganz ohne Weiße
ist.«151 Über den Urlaubsort und die Idee dahinter wussten das
Magazin und die Urlauberinnen nur Gutes zu berichten.
Unumwunden machten die Urlauberinnen klar, dass es wichtig für
farbige Frauen sei, auch mal Zeit ohne Weiße ganz für sich zu
haben, dass daran nichts verkehrt sei und dass jeder ein übler
Rassist sei, der gegen eine solche Auszeit Einwände hätte.
Ein Blick über die Staatsgrenze im Norden der USA zeigt uns,
dass die Kanadier selbst davor nicht zurückschrecken, Unglücksfälle
als Zeichen von systematischem Rassismus zu werten. Im April
2018 kam es in Saskatchewan zu einem schrecklichen Busunfall, bei
dem 16 junge Menschen starben und 13 weitere verletzt wurden. Die
Tragödie sprengte den Rahmen des vorstellbaren Grauens, als
feststand, dass in dem Bus lauter Spieler der Junior-
Eishockeymannschaft Humboldt Broncos gesessen hatten. In einem
vom Eishockey besessenen Land stürzte der Tod so vieler junger
Menschen unter 20 Jahren eine ganze Nation in tiefe Trauer. Als
Zeichen ihres Respekts stellten viele Kanadier ihre Hockeyschläger
vor die Tür, und bei einem Spendenaufruf kam eine Rekordsumme
zusammen. Doch auch dieser schreckliche Unfall machte nicht Halt
vor der neuen Rassifizierung von wirklich allem. In der schweren Zeit
nach dem schrecklichen Unglück beklagte sich die Bloggerin und
selbsternannte »Aktivistin« Nora Loreto aus Quebec City in den
sozialen Medien darüber, wie viel Aufmerksamkeit der Tod der
jungen Hockeyspieler erregt hatte und behauptete: »Dass es
Männer waren, junge Männer und vor allem junge weiße Männer […]
spielte dabei eine sehr große Rolle.«152 Im Jahr 2018 war es so,
dass alles, ganz gleich, in welche Richtung man auch blickte – nach
vorn oder zurück –, ganz gleich, ob es sich um eine Komödie oder
eine Tragödie handelte, durch die Brille mit dem Aufdruck »Rasse«
betrachtet wurde. In diesem Jahr kam zum Beispiel Disneys Remake
des Klassikers Dumbo in die Kinos, in dem ein junger Elefant die
Hauptrolle spielte. In der Kritik nicht einmal des Realfilms, sondern
nur des Trailers bezog sich das Magazin Vice auf den
Originalcartoon von 1940 und schrieb über den Trickfilm »ohne
Übertreibung: Das ist eine der erschreckendsten Produktionen
Disneys«, denn gleich mehrere Charaktere sind Alkoholiker,
»gruselig« und »im Allgemeinen auch rassistisch«. Jedoch: »Trotz
alledem hat es der Film geschafft, die Herzen von Kindern seit
Generationen im Sturm zu erobern, auch wenn sie sich hin und
wieder dabei fürchten.« Zum Glück wurden diese Missstände im
Remake behoben. Nachdem sich Vice den Trailer zu diesem
Kinderfilm angesehen hatte, fühlte sich das Blatt ermächtigt, seinen
erwachsenen Lesern mitzuteilen, dass Disneys Remake von Dumbo
»ein süßer, herzerwärmender Film ist, scheinbar weder rassistisch
noch furchterregend«.153 Wieso dachten sie denn, das würde er
sein? In welcher Welt ist es denn nötig, dem Remake eines
Kinderfilms über einen fliegenden Elefanten einen solchen
Warnhinweis zu verpassen? Die Antwort lautet: In einer Welt, in der
jeder besessen ist, nicht von auf Rasse bezogener Blindheit,
sondern von auf Rasse bezogener Besessenheit. Und auch wenn
Universitätswissenschaftler, die sich mit Rasse beschäftigen, die
geheime Quelle zumindest einiger dieser Überzeugungen sein
sollten, machen sie sich doch nirgendwo anders so deutlich
bemerkbar wie in den öffentlichen Medien, wo Hunderte Millionen
Menschen die Idee verinnerlichen, dass diese wiederbelebte
Besessenheit von Rasse völlig normal wäre.

GECASTETE VERLEUMDUNG
Im Februar 2018 lief bei Netflix die Fernsehserie Das
Unsterblichkeitsprogramm (engl. Original: Altered Carbon), eine
Adaptation von Richard K. Morgans Roman. Nur die größten
Science-Fiction-Fans dürften in der Lage gewesen sein, seine
Botschaft zu entschlüsseln, wenngleich die Bilder dieser teuer
produzierten Serie beeindruckend waren. Ohne jetzt zu sehr ins
Detail gehen zu wollen: Der Film spielt im Jahr 2384 und dreht sich
um einen Charakter namens Takeshi, der ermordet wurde und
dessen Bewusstsein 250 Jahre nach seinem Tod in den Körper
(bzw. »Sleeve« – wörtlich »Hülse«) eines anderen übertragen –
etwas, was in der Zukunft allgemein üblich ist.
In dem Moment, als Netflix die Besetzung bekannt gab – lange
Zeit, bevor die Serie anlief –, hagelte es Kritik an dieser
Entscheidung. Der schwedische Schauspieler Joel Kinnaman, der
durch seine Rolle als Gegenspieler von Frank Underwood (gespielt
von Kevin Spacey) in House of Cards bekannt geworden war, sollte
den wiedergeborenen Takeshi spielen. Am Tag, als Das
Unsterblichkeitsprogramm anlief, war das Nachrichtenmagazin Time
unter den Publikationen, die beschlossen hatten, ohne Umschweife
auf den Punkt zu kommen, was schon die Überschrift des Artikels
deutlich machte: »Das Unsterblichkeitsprogramm spielt in der
Zukunft, ist aber Lichtjahre davon entfernt, progressiv zu sein.«
Vielmehr, so hieß es weiter in dem Artikel, fühle sich diese Serie
»ausgesprochen rückschrittlich« an, wenn man bedenke, wie darin
mit »Rasse, Gender und Gesellschaftsschicht umgesprungen wird«.
Das größte Problem war, dass die Wahl für die Rolle des Takeshi auf
den Schweden Kinnaman gefallen war. Der Time zufolge
(anscheinend hatten sie dort vergessen, dass es sich hier um
Science-Fiction handelt) war es falsch, die Rolle von Takeshi, der in
seinem früheren Leben ein »asiatischer Mann« gewesen war, mit
einem »weißen Kerl« zu besetzen. Auch wenn die Kritikerin der
Time einräumen musste, dass sich die Verfilmung haargenau an die
literarische Vorlage hält, findet sie das Ganze (und bedient sich
dabei des Lieblingswortschatzes der sozialen Gerechtigkeit)
nichtsdestotrotz »gerade auf der Leinwand äußerst problematisch«.
Und weiter:
Die Macher hätten gut daran getan, die Rolle des wiedergeborenen Takeshi mit
einem asiatischen Schauspieler zu besetzen und mit allen Mitteln einen ähnlich
großen Krieg zu vermeiden wie bei Scarlett Johanssons Rolle in Ghost in the Shell
von 2017, als sie das Bewusstsein einer asiatischen Frau in einem weißen
Androiden spielte.

Es gilt, alles zu tun, um die großen Scarlett-Johansson-Androiden-


Bewusstseins-Kriege von 2017 zu vermeiden. Wir lernen daraus:
Wer einen Science-Fiction-Film, der 2384 spielt, dreht, sollte
berücksichtigen, dass die Menschen in diesem Jahr die gleichen
Wertvorstellungen haben wie die Filmkritikerin der Time im Jahr
2018.154 Netflix zählt zu den beliebtesten Streamingdiensten der
Unterhaltungsbranche, bietet eine enorme Vielfalt, und der Zugriff
auf Serien und Filme ist kinderleicht. Es bietet eine Plattform, auf der
man sich kreativ ausdrücken und frei seine Ideen zum Besten geben
kann. Frühere Generationen hätten nur davon träumen können. Und
trotzdem ist Netflix zum neuen Spielfeld der mittlerweile
allgegenwärtigen Rassenbesessenheit geworden. Zu allem Übel ist
diese neue Besessenheit viel ausgeprägter, als sie es je zuvor war.

GESTERN WAR ALLES NOCH ANDERS


Das Verrückte an dem Ganzen ist aber auch, dass das eigentliche
Ziel schon längst erreicht wurde. In den vergangenen Jahrzehnten
war es völlig normal, dass Stars aller Hautfarben und Rassen
führende Rollen in Kino und Theatern der westlichen Welt bekamen.
Doch damit ist jetzt Schluss. Es ist fast 20 Jahre her, dass die Rolle
von Heinrich V. von der Royal Shakespeare Company mit Adrian
Lester (ein schwarzer Schauspieler) besetzt wurde. Das Publikum
strömte in Scharen zu den Vorstellungen, so wie das bei jeder guten
Produktion und guten Schauspielern der Fall ist. Damals waren
schwarze Schauspieler so präsent auf den Bühnen, dass ihre
Inklusion nur selten auffiel. Auch in der Musikbranche war das
jahrzehntelang nicht anders. In den 1970ern war die fantastische
Sopranistin Kathleen Battle in Werken von Strauss, Verdi und Haydn
zu sehen. Keine ihrer Rollen war ausdrücklich für eine schwarze
Sängerin geschrieben worden, aber niemand hat ihre Eignung dafür
ernsthaft angezweifelt, und es gab nicht ein einziges böses Wort
über die Besetzung der Rollen mit ihr.
Ähnlich war es auch bei Jessye Norman der Fall, eine der besten
Sopranistinnen der letzten Jahrzehnte. Richard Wagner hat
bestimmt nicht ausdrücklich angegeben, dass Isolde von einer
Schwarzen gespielt werden soll. Doch als Jessye Norman ihren Part
aus Tristan und Isolde unter der Leitung von Herbert von Karajan
und mit den Wiener Philharmonikern sang, wollten sie alle hören.
Kein Mensch hat sich beschwert, die Besetzung wäre aufgrund ihrer
Hautfarbe nicht angemessen. Damals war das völlig normal. Doch
diese Tage sind vorbei. Heutzutage gilt es als absolut annehmbar,
wenn anklingt, dass die Rassenmerkmale eines Schauspielers oder
Künstlers die wichtigsten Merkmale bei der Besetzung einer Rolle
sind. Sogar wichtiger als seine Eignung für die Rolle! Nicht nur in der
Unterhaltungsbranche, sondern überall kommt es immer wieder zu
handfesten Streitigkeiten – um nicht zu sagen zu einem Krieg um
Rasse.
2018, nur Wochen nachdem Das Unsterblichkeitsprogramm den
»Rassenreinheitstest« durchlaufen hatte, kündigte die BBC die
Konzertreihe Proms an. Einer der Höhepunkte der geplanten
Veranstaltungsreihe sollte der Auftritt des Broadway-Stars Sierra
Boggess in dem Musical West Side Story sein. Doch sobald sich
diese Neuigkeit verbreitete, kam es zu einem Aufschrei in den
sozialen Medien. Wie jetzt – Boggess sollte die Rolle der Maria (eine
Kunstfigur aus Puerto Rico) spielen, obwohl sie doch eine Weiße
ist? Die Tatsache, dass die ganze Story Fiktion war – übrigens, Text
und Musik stammen aus der Feder von zwei Männern jüdischen
Glaubens –, spielte keine Rolle. Ein Nutzer twitterte: »Sie sind eine
Weiße, und die Figur in dem Stück ist Puerto-Ricanerin. Es ist ja
nicht so, als müssten Sie sich um Jobangebote prügeln. Hören Sie
auf, farbigen Schauspielern ihren Part wegzunehmen.« Ein anderer
postete: »Ich bin ein großer Fan von Sierra Boggess, aber die Rolle
der Maria ist echt eine der wenigen, die auf Latinas zugeschnitten
ist. Können wir sie deshalb bitte mit einer der vielen talentierten
Latinas da draußen besetzen, die für diese Rolle TÖTEN würden?«
Durch die Besetzung der Rolle der Maria mit Boggess gerieten die
BBC Proms in den Ruf des sogenannten »Whitewashing«, also eine
Besetzungspraxis, die Hauptrollen überwiegend mit Weißen besetzt.
Leider hat sich Boggess diese Kritik zu Herzen genommen und in
Facebook gepostet:
Nach reifer Überlegung bin ich zu diesem Schluss gekommen: Nehme ich die Rolle
der Maria an, nehme ich allen Latinas die Chance, diesen Part zu singen, und
negiere dabei, wie WICHTIG es ist, dass sie Präsenz auf unseren Bühnen zeigen.

Sie sprach außerdem von einem »großen Fehler«:


Seit dieses Konzert angekündigt wurde, habe ich viele Gespräche darüber geführt,
weshalb es gerade jetzt so wichtig ist, einen Schlussstrich unter die Fehlbesetzung
dieses Stücks zu setzen. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass mir diese
Einsicht nicht schon früher in den Sinn gekommen ist, denn als Künstlerin muss ich
mich fragen, wie ich der Welt am besten dienen kann. In diesem Fall ist meine
Entscheidung so klar wie keine andere: Ich trete von der Rolle der Maria zurück und
mache es damit möglich, einen Fehler zu korrigieren, der vor allem bei dieser
Veranstaltung seit Jahren wieder und wieder gemacht wird. Ich ziehe mich also
zurück und freue mich darauf, weiterhin Gutes für unsere Community und die Welt
tun zu können.155

Letzten Endes wurde die Rolle mit Mikaela Bennett neu besetzt, die
aus Ottawa, Kanada, stammt, die aber angeblich über ein
passenderes ethnisches Profil verfügt. Eine Handvoll Tweets also,
und die Entscheidung, eine Rolle mit einer bestimmten Künstlerin zu
besetzen, wurde rückgängig gemacht. Eine überaus talentierte
Sängerin wurde gemobbt, damit sie das Handtuch wirft. Und im
Namen des »Fortschritts« und der »Diversität« verbuchten
Rückschrittlichkeit und mangelnde Vielfalt unglaublicherweise einen
weiteren Sieg. In einer Zeit, in der absolut alles politisiert und
polarisiert wird, wird auch das weite Feld von Fiktion und Kunst –
eine der besten Möglichkeiten, Grenzen zu überwinden –
zunehmend zum Schlachtfeld für Exklusivität von Rasse und
Ausschluss von Rasse.
Vielleicht wachen die Leute, die auf dieses Pferd gesetzt haben,
eines Tages in dem Bewusstsein auf, dass sie auf einen logischen
Irrsinn zusteuern. Denn mit der gleichen Logik, mit der Boggess aus
der West Side Story gekickt werden konnte, könnte man
argumentieren, dass alle künftigen Schauspieler, die den Part des
jungen Königs Heinrich V. oder den der Isolde spielen, weiß sein
müssen. Die Besetzungspraxis kann entweder farbenblind oder
farbenbesessen vor sich gehen, aber beides geht nicht.
Die gleiche langweilige Fixierung wirkt sich inzwischen auch auf
jeden anderen Lebensbereich aus. Es gibt mittlerweile keine noch so
gelassene Beschäftigung und keinen belanglosen Zeitvertreib mehr,
die/der nicht jeden Moment Gegenstand einer rassenspezifischen
Auseinandersetzung werden könnte. Und jedes Mal, wenn das
eintritt, bildet diese Diskussion Tochtergeschwüre aus, indem ein
Vorfall oder eine Behauptung als Ursache für eine Menge ähnlicher
Ereignisse und Anschuldigungen angesehen wird, was das Ganze
noch befeuert und dann außer Kontrolle geraten lässt.
Nehmen wir die Kontroverse um den Tennischampion Serena
Williams im September 2018. Während des US-Open-Endspiels
legte sie sich mit dem Stuhlschiedsrichter an – was sie letzten Endes
den Sieg kostete –, nachdem sie ihren Schläger zertrümmert hatte.
Williams hatte sich einen heftigen Wortwechsel mit dem
Stuhlschiedsrichter geliefert, der zwar im Alltag verständlich und
nachvollziehbar scheint, aber nicht zur elitären Welt des Tennis
passt. Was war passiert?
Der Schiedsrichter hatte sie wegen unerlaubten Coachings ihres
Trainers regelkonform verwarnt. Daraufhin legte sie sich mit dem
Schiedsrichter an und warf ihm mehrfach vor, ein »Betrüger« zu
sein. Williams sollte zudem eine Geldstrafe in Höhe von 17 000 US-
Dollar zahlen, was angesichts des Preisgeldes von knapp 4
Millionen US-Dollar für den Sieger und immerhin noch knapp 2
Millionen US-Dollar für den Zweitplatzierten eine lächerlich geringe
Summe ist, die Williams aus der Portokasse zahlen dürfte. Doch es
ging noch weiter. Da Williams nun einmal eine Frau ist, prangerte die
Women’s Tennis Association den Schiedsrichter als »Sexisten« an.
Und da Williams auch noch eine Farbige ist, stand sofort die Frage
»Rassismus – ja oder nein?« im Raum.
Unter anderem die BBC behauptete, dass jegliche Kritik an
Williams für ihren Ausbruch auf dem Tennisplatz dem seit Urzeiten in
Umlauf befindlichen Klischee von der »wütenden Schwarzen« in die
Hände spiele.156 Niemand hatte eine Erklärung parat, wie eine
Schwarze sauer werden kann, ohne zugleich dieses Klischee zu
bedienen. Die Tageszeitung The Guardian beschloss, noch ein
Stück weiterzugehen und den Rassismusvorwurf auf die Spitze zu
treiben. Ihre Mitarbeiterin Carys Afoko interpretierte in die Kritik von
Serena Williams viel mehr hinein – nämlich, dass sie zeigt, wie
»schwer es für eine schwarze Frau ist, im Job zu bestehen«. Afoko
ist der Ansicht, dass es »schwarzen Frauen […] nicht erlaubt [ist], in
der Arbeit auch mal einen schlechten Tag zu haben. Oder anders
ausgedrückt, wir Schwarzen können es uns nicht leisten, unserer
Wut oder Traurigkeit mit einem schlechten Tag in der Arbeit
Ausdruck zu verleihen. Es gibt nicht wenige Farbige, die eine
›Arbeitspersönlichkeit‹ entwickeln, damit sie an ihrem Arbeitsplatz
inmitten von Weißen nicht anecken.« Möglicherweise sind so ja die
Arbeitsbedingungen in der Redaktion von The Guardian. Wie auch
immer, Afoko erklärte anhand eines Beispiels, worum es ihr ging und
womit sie zu kämpfen hatte. »Vor ein paar Jahren war ich anderer
Ansicht als ein Kollege von mir, der mich dann zur Seite nahm und
mir vorwarf, ich sei aggressiv.
Als ich ihm daraufhin zu erklären versuchte, dass aggressiv ein
Wort ist, das rassistisch eingefärbt ist, brach er in Tränen aus.« Wer
kann mit Sicherheit sagen, weshalb ihr Kollege geweint hat?
Vielleicht, weil er sich schon wieder rassistisch verhalten hatte?
Oder vielleicht, dass eine Anschuldigung, er hätte sich rassistisch
verhalten, ihn seinen Job kosten könnte? Oder weil er zu einer
Heulsuse degradiert wurde und ihm klar wurde, dass egal, was er
auch zu seiner Kollegin sagen würde, es wäre in ihren Augen immer
rassistisch?
Afoko hat auf jeden Fall eine andere Lehre daraus gezogen, dass
sie einen männlichen Kollegen als Kleinkind dargestellt hatte. »Diese
Geschichte hat wieder einmal bestärkt, was ich bereits in meinen
Zwanzigern wusste: Es lohnt sich im Grunde nicht, anderen zu
erklären, was Rassismus oder Sexismus auf der Arbeit ist. Deshalb
lautet mein Rat: Augen zu und durch, und gib dein Bestes im Job.«
Allen Guardian-Lesern, die noch nicht auf dem aktuellen Stand
waren, half sie mit diesem Hinweis auf die Sprünge. »Sollten Sie
weder weiblich noch schwarz sein, lege ich Ihnen dieses Video über
Intersektionalität ans Herz.«157 Dieses in der Tat äußerst hilfreiche
Video trug den Titel »Kinder erklären Intersektionalität«, und wie der
Titel vermuten lässt, erklären darin Kinder unter zehn, wie
unkompliziert Intersektionalität ist.
Hin und wieder greift ein Erwachsener ein, doch im Prinzip erklärt
das Video in einfachen Worten, die sich ein kleines bisschen nach
Singsang anhören, dass Intersektionalität schlichtweg »ein Konzept
ist, das uns dabei hilft zu begreifen, dass wir ein Leben in mehreren
Dimensionen führen«. Ein weißer, etwa fünf Jahre alter Junge
scheint nicht wirklich zu verstehen, was Intersektionalität genau ist,
obwohl es ihm von einem jungen Ureinwohner Kanadas erklärt wird.
Doch zu guter Letzt hat er es kapiert und erklärt nun seinerseits der
netten Schwarzen, die zu Beginn des Kurzfilms zu sehen war, dass
»Menschen nicht nur eine Seite haben.
Sondern dass alle Seiten die ganze Persönlichkeit eines
Menschen ausmachen.« Sie gratuliert ihm, weil er es richtig
verstanden hat, und sein anfängliches Unverständnis ist wie
weggeblasen. »Danke – das hast du toll gemacht!« Und dann wird
er noch abgeklatscht.158

KULTURELLE ANEIGNUNG
Wie könnte es aufhören, dass wir uns ständig mit Rasse und
Rassenmerkmalen befassen? Eine auf der Hand liegende Methode
wäre, immer wieder zu versuchen, die Grenzen zu verwischen, zum
Beispiel indem wir die Aspekte einer Hautfarbe oder ethnischen
Zugehörigkeit, die kommuniziert und miterlebt werden können, für
alle erfahrbar machen.
Aspekte eines Menschen oder einer Kultur, die von anderen
bewundert werden, könnten zum Beispiel geteilt werden, sodass das
Verständnis größer wird, trotz aller vorhandenen Gräben. Das wäre
doch mal ein wunderbares, wenngleich ziemlich ehrgeiziges Projekt.
Doch leider hat sich eine andere Theorie schneller verbreitet, als
dass dieses Vorhaben angegangen werden konnte. Auch diese hat
ihren Ursprung auf dem Campus und hat sich von dort aus in der
ganzen Welt verbreitet.
Die Rede ist vom Konzept der »kulturellen Aneignung«. Sie geht
zurück auf postkoloniale Studien und die Vorstellung, dass
Kolonialmächte zum einen ihre eigene Kultur fremden Ländern
übergestülpt haben; zum anderen, dass sie sich bestimmte Aspekte
dieser fremden Kulturen zu eigen gemacht und mit nach Hause
genommen haben. Eine wohlwollende Interpretation dieses
Tatbestands käme zu dem Schluss, dass es sich hier um Imitation
handelt, eine aufrichtige, dass es schmeichelhaft sei. Wofür auch
immer Professoren bekannt sein mögen, die an postkolonialen
Studien mitgewirkt haben, wohlwollende Interpretationen sind es mit
Sicherheit nicht. Das wohlwollendste, das ihnen in den Sinn kam,
war, diesen kulturellen Diebstahl als letzten Affront des
Kolonialismus zu bezeichnen. Die Kolonialmächte hätten nicht nur
die natürlichen Vorkommen eines fremden Landes ausgebeutet und
dem jeweiligen Volk eine fremde Herrschaft aufgezwungen, sondern
sie seien obendrein nicht einmal fähig gewesen, die unterdrückten
Völker wieder in ihre Freiheit zu entlassen, ohne sie ihrer eigenen
Kultur zu berauben oder sich darüber lächerlich zu machen.
Vielleicht ist es ja unvermeidbar, dass sich der größte Widerstand
gegen die »kulturelle Aneignung« in den Universitätsstädten geregt
hat, nachdem an den Universitäten die geistigen Urväter sitzen. Die
erste Welle der Anschuldigung, es sei zu einer kulturellen Aneignung
gekommen, war die Reaktion auf unangemessene Kostüme und
Masken wie zum Beispiel die, vor denen die Yale-Studenten
Halloween 2015 so viel Angst hatten. Angst explizit davor, dass es
so weit kommen könnte, dass Leute, die nicht zu den US-
amerikanischen Ureinwohnern zählen, einen für die US-
amerikanischen Ureinwohner typischen Kopfschmuck tragen. Und
das – um es mit den Worten zu sagen, die jetzt verwendet werden,
um auf einen solchen Missstand aufmerksam zu machen – ist nicht
okay.
Schon seit geraumer Zeit besitzt Portland, Oregon, ein
Alleinstellungsmerkmal: Anscheinend ist die Stadt zu dem Labor der
Vereinigten Staaten von Amerika geworden, in dem jede noch so
verrückte Idee einem Praxistest unterzogen werden kann. In den
letzten Jahren hat sich die Stadt vor allem Sorgen aufgrund
jedweder Form kultureller Aneignung gemacht. Nur so ist zu
erklären, wie aus einem »Paradies für Feinschmecker«, wie es in
den örtlichen Medien hieß, ein »Kriegsgebiet für Gourmets« werden
konnte.159 2016 eröffnete eine »Portländerin« ein Bistro namens
Saffron Colonial (Kolonialer Safran). Ein wütender Mob versammelte
sich vor ihrem Restaurant, beschuldigte sie des Rassismus und der
Glorifizierung des Kolonialismus. Auf Empfehlungsportalen wie Yelp
wimmelte es von negativen Kommentaren, bis die Inhaberin
schließlich aufgab und den Namen ihres Lokals änderte. Was wurde
ihr vorgeworfen? Dass sie mit der Eröffnung ihres Restaurants in
Portland den Imperialismus durch die Hintertür hereinlassen wolle.
Doch damit nicht genug – es gibt noch viele andere unerhörte
Vorfälle. Der Schlimmste – zumindest in den Augen der Einwohner
von Portland – war, dass ein Paar Essen zubereiten wollte, das die
beiden nicht zubereiten durften, weil ihre DNA die falsche dafür war.
2017 wollte ein Paar einen Foodtruck eröffnen, um Burritos zu
verkaufen. Aufgrund der neuen Vorschriften hatte sich dieses Paar
damit der kulturellen Aneignung schuldig gemacht – insbesondere
aber des »Diebstahls« der mexikanischen Kultur, da sie Burritos
verkauften, obwohl sie keine Mexikaner waren. Die Inhaber des
Foodtrucks erhielten Morddrohungen, und es blieb ihnen nichts
anderes übrig, als sämtliche Accounts bei sozialen Medien und ihr
Geschäft zu schließen. Zu behaupten, Siege wie diese könnten
anderen Menschen Mut machen, hieße, den Ernst der Lage zu
verkennen. In der Zeit danach brachten Aktivisten aus Oregon eine
Liste namens »Alternativen zu von Weißen geführten Restaurants,
die sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht haben, in
Portland« in Umlauf, in der stattdessen ausschließlich von Farbigen
geführte Lokale aufgeführt wurden.160
Man könnte meinen, alles, was in Portland passiert, bleibt auch in
Portland. Doch wie im Fall der Universitäten beschleicht einen das
Gefühl, dass es in dieser vernetzten Zeit nicht mehr lange dauert, bis
wir alle in einem Portland leben – zumindest besteht dieses Risiko.
Im Sommer 2018 kam es in Großbritannien in der Hauptferienzeit zu
einem Ausbruch des Essenskrieges wegen kultureller Aneignung,
als die schwarze Abgeordnete Dawn Butler Britanniens wohl
bekanntesten Fernsehkoch Jamie Oliver bezichtigte, ein fehlerhaftes
Rezept für »jamaikanisch gewürzten Reis« herausgebracht zu
haben. Schnell wurde Kritik laut, dass in Olivers Rezept ein paar der
traditionellen Zutaten für die Marinade fehlten. Und von einem
Moment auf den anderen wechselte die Aufregung dann von den
fehlenden Zutaten in einem Rezept zum Rassismusvorwurf. Butler
twitterte wie empört sie über den Koch sei, und stellte die Frage, ob
er denn überhaupt wisse, was »Jamaikanische Gewürzzubereitung«
wirklich sei. »Es ist nicht nur ein Wort das man auf die Speisekarte
packt, um mehr zu verkaufen.« Dann schrieb sie noch: »Ihr
jamaikanischer Reis ist nicht okay. Diese Aneignung jamaikanischer
Esskultur muss aufhören.«161 Jamie Oliver hatte wohl großes Glück,
dass ihr entgangen war, dass er unter dem Namen »Jamie’s Italian«
eine ganze Restaurantkette mit Lokalen in Dutzenden britischen
Städten betrieb.
Was einem bei solchen Massenpaniken auffällt, ist ein hoher
moralischer Anspruch, der genauso gegen einen bekannten
Prominenten wie gegen Otto Normalverbraucher geltend gemacht
wird. Zu normalen Zeiten hätte der Abschlussball einer Schule in
Utah niemals so viel Entrüstung erregt wie der Hickhack zwischen
einer Abgeordneten und einem Starkoch. Doch 2018 teilte eine 18-
Jährige namens Keziah online Fotos von dem Abendkleid, das sie
bei dem Ball getragen hatte.
Das rote Kleid war im chinesischen Stil geschneidert, und die
Trägerin erhoffte sich wohl viele »Likes«. Weit gefehlt. Anstatt
Komplimenten hagelte es weltweite Kritik. »Lautete das Motto des
Abschlussballs ›zwangloser Rassismus‹?«, wollte ein Nutzer von
Twitter wissen. Andere Nutzer mischten sich ein und beschuldigten
die Nichtchinesin der kulturellen Aneignung, weil sie ein im
chinesischen Stil designtes Kleid getragen hatte.162
In einer von Vernunft regierten Welt wären diese ganzen Vorfälle
ein hervorragender Stoff für Satiriker und andere Künstler. Doch wer
diesen Ereignissen kritisch gegenübersteht, riskiert, selbst Opfer der
übelsten Anschuldigungen zu werden, und schafft Platz für eine
weitere Eskalation verrückter Behauptungen. Im September 2016
hielt die Schriftstellerin Lionel Shriver auf dem Brisbane Writers
Festival eine Rede zum Thema »Fiktion und Identitätspolitik«.
Shriver (die unter anderem Wir müssen über Kevin reden
geschrieben hat) nutzte die Gelegenheit, um auch über »kulturelle
Aneignung« zu sprechen. In den Wochen vor diesem Termin war
dieser Begriff in unterschiedlichen Kontexten aufgetaucht, zum
Beispiel im Zusammenhang mit der Frage, ob Nichtmexikaner einen
Sombrero tragen dürfen oder nicht und ob Menschen, die nicht aus
Thailand stammen, thailändisches Essen zubereiten und verzehren
dürfen.
Da Vorstellungskraft und die Fähigkeit, sich in andere Menschen
hineinzuversetzen, gemeinhin Schriftstellern zugesprochen wird, war
Shriver der Meinung, die jüngsten Ereignisse wären gefährlich nahe
an ihr Metier herangekommen. Ihre Rede in Brisbane war ein
leidenschaftliches Plädoyer für ihre Kunst und dass Schriftsteller
völlig zu Recht über alles schreiben sollten, was ihnen in den Sinn
kommt. Shriver erklärte, wie sie vorgeht, wenn sie sich eine
Romanfigur ausdenkt. Verleiht sie dieser Kunstfigur zum Beispiel die
armenische Nationalität, dann ist das nur ein erster Gedanke. »Doch
Armenier zu sein bedeutet noch lange nicht, vom Charakter – so wie
ich diesen Begriff verstehe – festgelegt zu sein. Asiate zu sein, ist
nicht alles, was zu einer Identität gehört. Ebenso wenig, wie es
schwul zu sein ist. Oder taub oder blind zu sein oder im Rollstuhl zu
sitzen. Und auch nicht, arm zu sein.«
Die Reaktionen darauf waren vorhersehbar. Lovia Gyarkye von
dem Nachrichtenmagazin New Republic schrieb: »Lionel Shriver
sollte nicht über Minderheiten schreiben. Ihre Rede vom 8.
September anlässlich des Brisbane Writers Festival zeigt, dass sie
keinerlei Zwischentöne kennt und es einfach nicht kapiert.«
Außerdem wollte Gyarkye von der Schriftstellerin wissen: »Meine
Frage an Shriver lautet: Wenn diese Merkmale nicht die Identität
eines Menschen darstellen, wenn schwul oder behindert zu sein
nicht Teil dessen ist, wer man ist, warum werden dann genau
deswegen Hunderte von Menschen misshandelt, bloßgestellt oder
sogar umgebracht? […] Was Shriver anscheinend an kultureller
Aneignung nicht verstanden hat, ist die Tatsache, dass sie und
Macht untrennbar miteinander verknüpft sind.«163 Katastrophismus
und Foucault in einem Satz zu einer Einheit verschmolzen! Wie auch
immer, Gyarkyes Zuspitzung wurde von Yassmin Abdel-Magied
sogar noch übertroffen, die live bei dem Festival in Brisbane dabei
gewesen war. Ihre »Zeugenaussage« aus erster Hand wurde von
The Guardian aufgegriffen und abgedruckt. In Abdel-Magieds Artikel
hieß es:
Die Rede dauerte erst rund 20 Minuten, da drehte ich mich zu meiner Mutter, die
neben mir in der ersten Reihe saß, und meinte zu ihr: »Mama, ich kann hier nicht
bleiben, mir fällt die Kinnlade herunter. Ich kann das nicht legitimieren …«

Dann ließ sie sich lang und breit darüber aus, wie es sich anfühlt,
mitten in einem Vortrag aufzustehen und den Saal zu verlassen. Wie
sich zeigte, vertraten Shiver und Abdel-Magied höchst
unterschiedliche Positionen. Sie unterschieden sich sogar so stark,
dass für Abdel-Magied kaum noch die Anforderungen an einen
Vortrag erfüllt waren. Für sie war das Ganze vielmehr »ein
vergiftetes Paket, verpackt in Arroganz und mit Herablassung
überreicht«. Abdel-Magied versuchte dann noch zu erklären, wie
riskant es ist, als Schriftsteller in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Als
Beispiel zeigte sie ihre eigenen Grenzen auf:
Ich kann nicht für die LGBTQI-Community sprechen und auch nicht für Menschen mit
einer neurologischen Abweichung, mit einer Behinderung, denn genau darum geht
es mir ja. Ich spreche nicht in ihrem Namen, möchte aber, dass sie das Recht haben,
gehört zu werden.

Dann ließ sie sich noch ein bisschen über den Kolonialismus aus
und kam zu folgendem Schluss:
Der mangelnde Respekt für ihre Mitmenschen, der sich durch Lionel Shrivers Vortrag
wie ein roter Faden zieht, ist die gleiche unheilvolle Kraft, die Menschen dazu bringt,
für Pauline Hanson zu stimmen. Und er ist der Grund, weshalb die Ureinwohner
Kanadas noch immer um Anerkennung kämpfen und wir hinnehmen, dass sich die
Gefängnisse der Einwanderungsbehörden vor unseren Küsten füllen. Diese geistige
Haltung bildet das Fundament für Vorurteile, für Hass und für Völkermord.164

Es spricht für The Guardian, dass im Anschluss an diesen Artikel die


Rede von Shriver in vollem Umfang abgedruckt wurde, sodass die
Leser selbst entscheiden konnten, ob sie in ihren Augen ein
geistreicher Angriff auf einen unsäglichen Trend oder der
Grundpfeiler des Faschismus war. Shriver überstand diesen Angriff
relativ unbeschadet, was wohl teilweise daran gelegen haben mag,
dass sie in dem Ruf steht, immer die Wahrheit zu sagen und sich
nicht erpressen zu lassen. Trotzdem war der Reiz groß, für so
manchen Selbstdarsteller, sich als ihr Opfer auszugeben.
Hätte Abdel-Magied (die im Anschluss an diese Sache Australien
den Rücken kehrte, weil sie sich damit selbst geschadet hatte) eine
unpersönliche, sachliche und durchdachte Kritik an Shrivers Position
geübt, hätte sie wohl eher nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
gestanden und ihr Artikel wäre keinesfalls von einem großen
Zeitungsverlag abgedruckt worden. Hätte sie sich nicht darüber
ausgelassen, dass ihr die Kinnlade heruntergefallen war, und hätte
sie ihrer Mutter nicht zu verstehen gegeben, dass allein ihre
Anwesenheit Hass »legitimiere«, hätte ihre Meinung nicht mehr
Gültigkeit besessen als die eines jeden anderen (und wäre kaum in
die Öffentlichkeit gelangt). Und genau das ist ein wichtiges Zahnrad
im Getriebe des Massenwahnsinns: Derjenige, der beteuert, am
meisten von etwas be- oder getroffen worden zu sein, erhält die
meiste Aufmerksamkeit. Jeder, der davon unbeeindruckt bleibt, wird
ignoriert. Da es in unserem Zeitalter vor allem darum zu gehen
scheint, viel Aufmerksamkeit über die sozialen Medien zu erregen,
sticht Wut also Optimismus. Übrigens, Shriver zählt seit ihrer Rede
in Brisbane zu den wenigen Schriftstellerinnen, die es ablehnt, mit
Verlagen zusammenzuarbeiten, die ihr Programm anhand
bestimmter Quoten für die sexuelle Ausrichtung oder die Hautfarbe
bestimmen, anstatt rein aufgrund der schriftstellerischen Qualität zu
entscheiden, welche Bücher von welchen Autoren veröffentlicht
werden.

DAS ZENTRALE PROBLEM


Das zentrale Problem dahinter ist eine kolossale Verwirrung, die
jedoch nicht auf ein Missverständnis zurückzuführen ist, sondern auf
die Tatsache, dass wir als Gesellschaften versuchen, mehrere
Programme auf einmal laufen zu lassen. Zum einen gibt es da
dieses Programm, das uns sagt, die Welt sei ein Ort, an dem ein
erfülltes Leben bedeutet, fremde Kulturen wertzuschätzen, und es
zunehmend einfacher wird, fremde Kulturen kennenzulernen. Zum
anderen läuft aber gleichzeitig ein ganz anderes Programm, in dem
es heißt, dass kulturelle Grenzen nur noch unter bestimmten
Bedingungen überschritten werden dürfen. Erschwerend kommt
hinzu, dass das zweite Programm noch nicht fertiggestellt wurde,
anscheinend aber jeder, der das tun möchte, auch die Gelegenheit
dazu erhält, daran zu schreiben. Und es gibt ein Programm, das
erkennt, dass Rasse und Kultur zwei Paar Stiefel sind. Und dann
noch eines – auch zur selben Zeit –, das wiederum behauptet, diese
beiden Dinge wären annähernd dasselbe. Deshalb sei es ein Akt
rassistischer Aggression oder »Aneignung«, wenn man in fremden
Kulturen wildert.
Dahinter verbirgt sich eine hochexplosive Gefahr, sodass es
eventuell kein Wunder ist, dass nicht darüber geredet wird. Wir
machen es uns einfach und stellen die Frage nicht, weil wir die
Antwort nicht hören wollen. Sie lautet: Ist Rasse eine Frage der
Hardware oder der Software? In der Vergangenheit, für die sich nicht
nur das Magazin National Geographic schämte – und das zu Recht
–, war Rasse ganz klar eine Frage der Hardware. Die Rasse, der
jemand angehörte, bestimmte diesen Menschen. Oft basierend auf
Ausschluss und Ausgrenzung aller anderen. Im Laufe des 20.
Jahrhunderts entwickelte sich die Erkenntnis, dass Rasse zwar
wichtig, aber nicht unüberbrückbar sei. Damals war es möglich, dass
Menschen genauso Teil einer anderen Kultur von Menschen sein
konnten, wie sie wollten, solange es in dem Gefühl von Dankbarkeit
und Respekt geschah. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts verwahrte
man sich hingegen dahingehend, dass dieser Weg Verkehr nur in
eine Richtung erlaubte. Ein Inder könnte sich in einen typischen
Briten verwandeln, ein weißer Brite aber nicht in einen Inder. Die
Grenzen dessen, was möglich ist und was nicht, verschoben sich
unmerklich, aber ständig. Sie verschoben sich in den letzten
Jahrzehnten hin zu der Frage, ob es gut oder schlecht, angemessen
oder nicht sei, wenn ein Kind einer bestimmten Hautfarbe von einem
Paar mit einer anderen Hautfarbe adoptiert wurde. Jetzt dagegen
haben wir es vielmehr mit dem Problem zu tun, dass erneut alles in
Bewegung gerät. Die ersten Anzeichen sprechen nicht nur dafür,
dass jede Richtung denkbar scheint, sondern dass es in die
schlimmste aller denkbaren Richtungen geht.

IST SCHWARZSEIN POLITISCH? DIE REDE,


NICHT DER REDNER
2016, als sich Peter Thiel auf dem Parteitag der Republikaner als
Fan von Donald Trump outete, hatte er zumindest in den Augen des
bekanntesten Schwulenmagazins Amerikas sein Recht verspielt,
schwul zu sein. Sich zu den Rechten zu bekennen – noch dazu zu
Donald Trumps Rechten –, war ein so entsetzliches Vergehen, dass
Advocate Thiel aus der Schwulengemeinde verbannte. Zwei Jahre
später wurde dieses Muster auch bei den schwarzen Amerikanern
beobachtet.
Nach einem knappen Jahr des Schweigens auf Twitter entdeckte
Kanye West im Frühjahr 2018 erneut seine Liebe zu diesem
Medium. Und da er das beherrscht wie kein anderer, sorgte er sofort
für Schlagzeilen. Im April schwärmte er von der schwarzen
konservativen Politkommentatorin und Aktivistin Candace Owens.
Und zwar unmittelbar nach ihrem Vortrag an der UCLA, bei dem sie
über einige Aktivisten der Bewegung Black Lives Matter hergefallen
war, die gegen sie protestiert hatten und die sie mit schwarzen
Studenten verglichen hatte, die in den vorderen Reihen saßen und
ihr zuhörten. In einem Videoclip, der sich viral verbreitete, hört man
Owens sagen:
»Was ist denn zurzeit mit der schwarzen Community los? […] Ein ideologischer
Bürgerkrieg. Schwarze, die in der Vergangenheit verharren und über die Sklaverei
weinen. Und Schwarze, die sich um ihre Zukunft Sorgen machen. Hier tritt
Opfermentalität gegen Siegermentalität an.
Im weiteren Verlauf wirft sie den Demonstranten vor, geradezu
abhängig von »Unterdrückung« zu sein. Nachdem Kanye West sich
das Video angesehen hatte, twitterte er: »Ich liebe die Denkweise
von Candace Owens.« Und für einen winzigen Moment stand die
Welt still. Zumindest die Welt auf Twitter. Im Laufe der Jahre hatte es
eine ganze Menge schwarzer Konservativer gegeben – darunter
Richter am Obersten Gerichtshof und ein paar der größten Denker
Amerikas. Doch nie zuvor hatte ein Promi von der Strahlkraft eines
Kanye West auch nur die Andeutung gewagt, dass es für Schwarze
eine andere Partei geben könnte als die Demokraten. Und mit einem
Mal war die bessere oder schlechtere Hälfte – wer weiß? – des wohl
berühmtesten Paars des Planeten (für alle deutschen Leser, die es
nicht wissen sollten, Kanye West ist mit Kim Kardashian verheiratet)
bereit, sich mitten in dieses Minenfeld zu begeben. Es sollte erwähnt
werden, dass es Kanye West aus mehreren guten Gründen möglich
war, das zu tun. Zum einen gehört er zu dem erlauchten Kreis, bei
dem Geld keine Rolle spielt, weil mehr als genug vorhanden ist. Soll
heißen, selbst wenn ein Großteil seiner Fans – Schwarze und Weiße
– aufgrund seiner Liebelei mit der Politik abspringt, können seine
Frau und er sich bequem zurücklehnen und von ihrem »Ersparten«
leben. Zum anderen halten ihn sehr viele für durchgeknallt, was ihn
aber nicht davon abhält, damit zu kokettieren.
Aus der Schwärmerei für Candace Owens wurde im
Handumdrehen offenes Lob für Donald Trump. Bereits im Oktober
2018 war West anlässlich eines Gipfeltreffens Mittagsgast im Oval
Office – was auch nach vergleichbaren Standards höchst
ungewöhnlich war. Man sah vor allem West reden, der Präsident der
Vereinigten Staaten saß ihm gegenüber und nickte lediglich hin und
wieder. West nutzte die Gelegenheit, um über die schwarze
Community und die Strafvollzugsreform zu sprechen. Und er
erzählte dem Präsidenten, dass er sich wie Superman
vorgekommen sei, als er eine Mütze mit dem Aufdruck »MAGA«
(Abkürzung für Trumps Wahlkampfslogan »Make America Great
Again«) trug. Zu guter Letzt sprach West auch noch von
»Parallelwelten«, beschwerte sich, dass »von einem Schwarzen
erwartet wird, die Demokraten zu wählen« und machte Trump dann
noch eine Liebeserklärung.
In dem Moment, als sich Kanye West für die Liebäugelei mit
konservativer Politik entschieden hatte, war klar, dass das nicht
unkommentiert bleiben würde. Es war Ta-Nehisi Coates, der auf
einen Schuss aus maximaler Entfernung und von größter
Schlagkraft aus war. In einem Artikel in The Atlantic schrieb er über
seine Kindheit und Jugend und dass er ein großer Fan von Michael
Jackson war. Er schrieb aber auch von Jacksons unstrittig bizarrer
Verwandlung von einem jungen Schwarzen mit stark gekrausten
Locken in eine fast schon durchscheinende Wachsfigur. Und dann
verglich Coates Kanye mit Michael Jackson und schrieb: »Wonach
Kanye West strebt, ist genau das, was Michael Jackson erlangen
wollte. West beruft sich darauf, ein Freidenker zu sein, und er
engagiert sich ja tatsächlich für eine gewisse Art von Freiheit, die
Freiheit der Weißen, Freiheit ohne Folgen, Freiheit ohne Kritik und
die Freiheit, ein arroganter Ignorant zu sein.« Schon die Überschrift
verriet es: »Ich bin nicht schwarz. Ich bin Kanye: Kanye West will
Freiheit – Freiheit der Weißen.«165 Kanye war der gleiche
Stolperdraht zum Verhängnis geworden wie Thiel. Anscheinend gibt
es so etwas wie einen Siedepunkt bei politischen Beschwerden von
Minderheiten, die bei Erreichen dieses Punktes zu politischem
Aktivismus der Minderheiten werden und danach einfach nur zu
Politik. Sich auf die Existenz von Wählerblocks entlang der
Minderheiten zu berufen, kann sich für bestimmte Politiker auf der
Suche nach Wählerblocks als erfolgreich erweisen, ebenso wie für
Mittelsmänner, die dann von sich behaupten können, sie sprächen
für eine ganze Community, um dann die Lorbeeren dafür
einzuheimsen. Dies ist eine äußerst gefährliche Verbindung, doch so
wie es den Anschein hat, ist jede Rechtsfrage an diesem Punkt
angekommen.
Das lässt nur den Schluss zu, dass man lediglich dann zu einer
anerkannten Minderheit zählt, wenn man in deren Klagelied über
bestimmte Missstände und politische Debakel einstimmt und die
entsprechende Partei wählt, die von anderen für einen ausgewählt
wurde. Wer sich außerhalb dieser Wohlfühlzone aufhält, ist plötzlich
ein anderer Mensch mit ganz anderen Merkmalen als vorher, da er
es wagt, anders zu sein und anders zu denken als vorgeschrieben.
Faktisch wurden einem dann die einander verbindenden Merkmale
abgenommen. Deshalb gilt Thiel nicht mehr als Schwuler, wenn er
sich zu Trump bekennt. Und Kanye West ist kein Schwarzer mehr,
wenn er das Gleiche tut. So gesehen ist »schwarz« keine Hautfarbe
oder Rasse – oder zumindest ist schwarz zu sein viel mehr als das.
Schwarzer zu sein – ebenso wie homosexuell – bedeutet, einer
bestimmten politischen Ideologie anzugehören. Diese Annahme geht
so tief und wird so selten erwähnt, dass sie sich allgemein
durchgesetzt hat.
Die LSE [London School of Economics] ist, wie sie selbstbewusst
von sich behauptet, eine der führenden Universitäten für
Sozialwissenschaften. »Aufgrund ihres hohen Anteils an
internationalen Studierenden und ihrer globalen Ausrichtung sieht
LSE globales Engagement schon immer als Dreh- und Angelpunkt
ihrer Mission an.« Auf ihrer Webseite LSE Review of Books wurde
im Mai 2012 eine Kritik des neuen Buchs Intellectuals and Society
von Thomas Sowell gepostet, das zwar bereits zwei Jahre zuvor
erschienen war, aber in der akademischen Welt dauert es länger als
in der restlichen Welt, bis aus einem fahrenden Wagen geschossen
wird.
Der Kritiker Aidan Byrne war leitender Dozent für Englisch und
Medien/Kulturelle Studien an der Wolverhampton University. In
dieser Eigenschaft – wie es über ihn heißt – »hat er sich auf die
Rolle des Mannes in der walisischen Zwischenkriegszeit und in der
politischen Fiktion spezialisiert und unterrichtet in einer Reihe von
Fachgebieten«. Es ist klar, dass er mit dieser Qualifikation perfekt
geeignet ist, sein Urteil über Sowell zu fällen.
Byrne für seinen Teil war ziemlich »unbeeindruckt« von der
»äußerst parteiischen Schreibe« Sowells. Wohl deshalb hat es zwei
Jahre gedauert, bis Byrne Sowells Buch ins Visier genommen und
versucht hat, einen Schuss abzufeuern. Schon in der Einleitung
warnt er davor, dass »Intellectuals and Society mehrere veraltete
und mitunter sogar unehrliche Angriffe auf Sowells politische Gegner
enthält«. Neben anderen Vorwürfen war in Byrnes Kritik auch zu
lesen, dass in einer Zeile von Sowells Buch die Sorgen der Tea
Party nachhallen und einen »nur schlecht verhüllten Angriff auf die
Rassenintegration darstellen«.
Noch merkwürdiger wurden die Beschuldigungen gegen Sowell,
als Byrne die Leser davor warnt, dass Sowells Bezug zur
Rassenfrage nichts weiter sei als eine »zusammenhanglose und
verstörende Rattenfängerrhetorik«. Im gleichen Ton geht es weiter,
wenn er schreibt, dass »Sowells Argumente hinsichtlich des
Vermächtnisses der Vergangenheit nichts anderes seien als eine
verschlüsselte Einmischung«. Nachdem er sich warmgelaufen hat,
legt Byrne nach: »Für ihn [Sowell] bedeutet das kulturelle Erbe der
Sklaverei, es nicht als moralisches Problem anzusehen, weshalb
auch jeglicher Versuch der Melioration zu unterbleiben hat.« Diesen
Vorwurf führte Byrne dann nicht weiter aus, aber der Schuss ging ja
wohl nach hinten los.166
Man muss LSE zugutehalten, dass ein Vermerk an diese
Buchbesprechung angehängt wurde. Es handelt sich um eine
grandiose Berichtigung. Dort ist zu lesen, dass eine Zeile aus dem
Originalartikel gelöscht wurde. »Der ursprüngliche Post enthielt die
Zeile ›fällt einem reichen weißen Mann ja nicht schwer zu behaupten
[…]‹«, heißt es auf der Website von LSE. »Sie wurde gelöscht, wir
bitten den Fehler zu entschuldigen.«167 Und das sollte die LSE
besser auch. Denn völlig gleich, wie viel Geld Thomas Sowell hat
oder nicht hat, er ist definitiv kein Weißer. Er ist schwarz. Ein sehr
bekannter Schwarzer – der vom Buchkritiker der LSE nur aufgrund
seiner politischen Überzeugung für einen Weißen gehalten wurde.
Es ist nur eine Vermutung, dass diese Assoziation in einer
ansonsten sehr liberalen Diskussion mitgeschwungen hat, ohne
dass sich Widerspruch regte. Und sie kommt gleich aus mehreren
Richtungen. Denken Sie nur mal an die Reaktion auf den
merkwürdigen und geradezu bedauernswerten Fall der Rachel
Dolezal. Diese Frau wurde 2015 so gut wie weltbekannt, als sie als
damalige Präsidentin der lokalen Abteilung der NAACP [National
Association for the Advancement of Colored People] als Weiße
»geoutet« wurde. Während eines Fernsehinterviews wurde Dolezal
auf unvergessliche Art gefragt, ob sie eine Schwarze sei. Sie gab
zunächst vor, die Frage nicht zu verstehen. Als sie mit ihren
leiblichen Eltern konfrontiert wurde, fand das Interview ein abruptes
Ende. Denn ihre Eltern waren nicht nur Weiße, sondern deutsch-
tschechischen Ursprungs – was mit der afroamerikanischen
Identität, die Dolezal angenommen hatte, rein gar nichts zu tun
hatte.
Später gab sie zwar zu, dass ihre Eltern tatsächlich ihre Eltern
waren, doch sie bestand darauf, dennoch eine Schwarze zu sein.
Sie hatte sich der schwarzen Community in Amerika schon immer
sehr verbunden gefühlt, was wohl daher rührte, dass sie ein sehr
enges Verhältnis zu ihren Adoptivgeschwistern hatte.
Dennoch ist sie, wie ihr Adoptivbruder sagte, »eine privilegierte
Weiße, die in Montana aufwuchs«. Es war ihr gelungen, mit einem
sorgfältig aufgetragenen Selbstbräuner und – ganz das Klischee
bedienend – stark gekräuseltem Haar als Schwarze durchzugehen.
Das – und die Tatsache, dass sich vermutlich keiner zu fragen
getraut hat: »Äh, bist du nicht eigentlich eine Weiße?« – hat ihr
dabei geholfen, nicht nur als Schwarze wahrgenommen zu werden,
sondern sogar die Leitung eines Ortsverbandes einer für Schwarze
ins Leben gerufenen Organisation zu übernehmen.
Der Fall Dolezal warf einen nahezu endlosen Fragenkatalog auf,
und sowohl die Fragen als auch die Antworten darauf bieten die
Möglichkeit, eine ganze Palette von Aspekten der heutigen Kultur zu
analysieren. Nicht zuletzt den tiefen Graben, der sich zwischen
prominenten Schwarzen, Wortführern und Aktivisten auftat.
In der Sendung The View auf ABC TV verteidigte Whoopi
Goldberg Dolezal. »Wenn sie eine Schwarze sein möchte, bitte
schön, dann spricht doch nichts dagegen«, lautete Goldbergs
Meinung dazu.168 Anscheinend war es kein Problem, dass sich
Dolezal »schwarz angemalt« hatte.
Interessanter dagegen war die Reaktion von Michael Eric Dyson,
der sich auf bemerkenswerte Weise für Dolezal starkmachte. »Sie
hat ihre Vorstellungen, ihre Identität und ihren Kampf übernommen.
Sie hat sich mit ihnen identifiziert. Jede Wette, viel mehr Schwarze
würden Rachel Dolezal unterstützen als, sagen wir mal, Clarence
Thomas.«169 All das legt den Schluss nahe, dass »schwarz« nichts
mit Hautfarbe oder Rasse zu tun hat, sondern nur mit politischer
Überzeugung. Schon verrückt, dass eine Weiße mit Selbstbräuner,
aber den »richtigen« Überzeugungen, mehr wie eine Schwarze
rüberkommt als ein schwarzer Richter am Obersten Gerichtshof, der
zufällig ein Konservativer ist.

DER REDNER, NICHT DIE REDE


Wenden wir uns einem weiteren Grund für den grassierenden
Wahnsinn der Massen zu. Hin und wieder scheint es, wie im Fall von
Rachel Dolezal, Candace Owens und Thomas Sowell, als zeichne
sich ein bestimmtes Muster ab. Sprecher und ihre ureigenen
Merkmale spielen keine Rolle. Das Einzige, was zählt, ist ihre Rede
und die Vorstellungen und Vorbehalte, denen sie darin Ausdruck
verleihen. Aus heiterem Himmel und ohne damit gerechnet zu
haben, kommt dann ein absolut gegensätzliches Wertesystem dazu.
Plötzlich interessiert sich niemand mehr für den Inhalt einer Rede –
der Inhalt rückt, wenn überhaupt, erst an die dritte Stelle. Während
man sich früher nur für eine Rede, nicht aber den Redner
interessierte, ist es plötzlich genau umgekehrt, und die Rede kann
einem gestohlen bleiben.
Diese Entwicklung hängt mit großer Sicherheit mit etwas
zusammen, das uns das Zeitalter der sozialen Medien beschert hat.
Die Rede ist von der einmaligen Gelegenheit, lieblose, um nicht zu
sagen hinterhältige Interpretationen von allem, was andere jemals
von sich gegeben haben, ins Netz zu stellen. Geht es zum Beispiel
um einen Prominenten, können die Medien dafür sorgen, dass eine
Handvoll solcher Interpretationen wesentlich mehr Aufmerksamkeit
genießen als aufrichtige oder versöhnliche. Die Folgen dessen
können wir jeden Tag in der Zeitung lesen. Die Überschrift macht
uns zum Beispiel glauben, dass jemand Berühmtes »Prügel
kassiert« habe, weil er irgendetwas zu jemandem gesagt haben soll.
Erst wenn man den Artikel in ganzer Länge liest, erfährt man, dass
die »Prügel« von Bürgern stammten, die der Journalist auf Twitter
entdeckt hatte. Genau das ist der Grund, weshalb Politiker so
entsetzt dreinblicken, wenn jemand versucht, sie auf schwieriges
Terrain zu locken. Nicht nur weil der Preis für lautes Denken so hoch
ist oder weil sich die Spielregeln seit ihrem letzten Besuch geändert
haben könnten, sondern weil aus einer einzigen negativen Stimme
(egal, von wo aus der Welt) ein ganzer Shitstorm werden kann.
Unter dieser Angst dürften inzwischen alle Personen öffentlichen
Interesses leiden, denn selbst wenn sie das Gefühl haben, das
gefährliche Terrain geschickt – oder gar heldenhaft – gemeistert zu
haben, besteht das Risiko, nach einer Sendung zu entdecken, dass
das Geräusch, das sie da hören, nicht etwa Applaus ist, sondern der
Knall, mit dem ihre Karriere platzt.
Im Januar 2015 war Benedict Cumberbatch Gast bei The Tavis
Smiley Show auf PBS. Im Laufe der Sendung beklagte er sich
darüber, dass es seine farbigen Freunde in Großbritannien schwerer
haben würden, ein Engagement als Schauspieler zu finden, als in
Amerika, und dass sich das ändern müsse. Seine Argumente ließen
nicht den Hauch eines Zweifels, dass er auf der Seite dieser
schwarzen Schauspieler stand und keineswegs die Position des,
sagen wir mal, Ku-Klux-Klans einnahm.
Cumberbatch lieferte keinen Grund für die Annahme, dass er
insgeheim ein Rassist sei, der sich vor Tavis Smiley verplappert
hatte. Wie auch immer, ihm passierte ein Missgeschick – und das
war definitiv keine Absicht, er hätte schlicht auch keinen Grund dafür
gehabt – und er beging ein sprachliches Verbrechen. Cumberbatch
hatte bei seinen Ausführungen immer wieder von »coloured actors«
(»farbige Schauspieler«) gesprochen. In seinem Heimatland wird
dieser Begriff völlig wertneutral, ohne jegliche Konnotation,
verwendet. Und es ist noch nicht allzu lange her, dass er auch in den
USA gebräuchlich war. Doch kurz vor Cumberbatchs Auftritt hatte
sich dort das Protokoll leicht geändert. Wer politisch korrekt sein
wollte, durfte nicht mehr von »coloured people« sprechen, sondern
ab Januar 2015 nur noch von »people of colour«. In sprachlicher
Hinsicht unterscheiden sich beide Begriffe so gut wie nicht.
Doch der öffentliche Aufschrei war fast genauso laut, als hätte
Cumberbatch das N-Wort gesagt. Der Schauspieler wurde
tatsächlich zu einer sofortigen, speichelleckerischen öffentlichen
Entschuldigung gezwungen. In seiner öffentlichen Erklärung, die er
gleich im Anschluss an die Sendung in Windeseile formuliert haben
muss, sagte er: »Ich bin tief bestürzt, dass ich Anlass zu Ärger
gegeben habe, weil ich diese veraltete Ausdrucksweise benutzt
habe. Ich bitte aufrichtig um Verzeihung.
Ich suche nicht nach Ausreden dafür, dass ich ein ›Idiot‹ bin, und
ich weiß, ich habe damit großen Schaden angerichtet.«170 Dennoch
lauteten die Schlagzeilen in den Medien, der Schauspieler sei »unter
Beschuss geraten« (The Telegraph) und Beteiligter an einem »Streit
über die Rassenfrage« (The Independent). Zumindest wurde nicht
ernsthaft behauptet, Cumberbatch wäre ein Rassist. Nicht eine
seiner Bemerkungen ließ sich ernsthaft als rassistisch deuten.
Trotzdem konnte sein Name jetzt mit »Streit über die Rassenfrage«
in Verbindung gebracht werden. Hätten die Leute Cumberbatch
einfach nur zugehört, worum es ihm ging, hätte sich daraus etwas
ganz Tolles entwickeln können, nämlich, dass seinen Freunden auch
in Großbritannien mehr Rollen angeboten würden.
Doch anscheinend war es einfacher, sich auf ein paar
Behauptungen von selbsternannten Sprachwächtern zu stürzen, die
in den sozialen Medien kursierten, und einen waschechten Streit
daraus zu machen. Aus solchen Ereignissen sollte jeder, der im
öffentlichen Interesse oder im öffentlichen Leben steht, etwas lernen.
Schließlich wird nur den wenigsten Menschen so viel Sympathie
entgegengebracht und nur das Beste unterstellt wie jemandem, der
Sherlock Holmes und andere beliebte Charaktere verkörpert hat,
weshalb er sich innerhalb kürzester Zeit von seinem kurzfristigen
Verlust der Gunst des Publikums wieder erholt hat.
Wie schwierig es ist, über Rasse zu sprechen oder die
passenden Begriffe dafür zu verwenden, weist auf ein tiefsitzendes
Problem hin, mit dem jeder öffentliche Diskurs zu kämpfen hat.
Bisher konnte sich jeder Politiker, Schriftsteller oder Prominente
relativ frei bewegen, solange er nicht gegen eine Regel verstieß, auf
die man sich vorher geeinigt hatte. Diese Regel besagte, jeder solle
versuchen, so zu reden, schreiben und sogar laut zu denken, dass
kein vernünftiger Mensch daraus eine Fehlinterpretation basteln
könnte. Wenn es doch jemand probierte, fiel es auf ihn selbst
zurück. Jeder, der zum Beispiel behauptet hätte, dass Benedict
Cumberbatch ein bösartiger Rassist sei, wäre von der Szene
ausgelacht und ohne groß nachzudenken fallengelassen worden.
Doch in den letzten Jahren – diese fallen nicht zufällig mit der
zunehmenden Bedeutung der sozialen Medien zusammen – hat sich
diese Regel geändert. Jeder Politiker, Schriftsteller oder Prominente
befindet sich in der gleichen Lage wie jeder ganz normale Bürger.
Wir können nicht mehr darauf bauen, dass unsere Zuhörer es ehrlich
meinen oder die gleichen Ziele verfolgen. Ein Ausbruch
unaufrichtiger Behauptungen öffentlicher Bürger geschieht ebenso
eifrig wie der aufrichtiger. Deshalb müssen Personen des
öffentlichen Lebens dafür Sorge tragen, dass nichts, was sie sagen,
schreiben oder laut denken, gegen sie verwendet oder
missinterpretiert werden kann. Es versteht sich von selbst, dass das
ein unmögliches, und verwirrendes, Bestreben ist. Es ist nicht
möglich. Schon der Versuch treibt einen in den Wahnsinn.
Es gilt also zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt. Es wäre
denkbar, in der Öffentlichkeit nichts oder zumindest nichts von
Belang zu sagen. Eine Option, für die sich zahlreiche Politiker
entschieden haben – was den Leuten, die zu allem etwas zu sagen
haben, Tür und Tor öffnet. Man könnte sich auch dafür entscheiden
herauszufinden, worum es in diesem Spiel eigentlich geht. Vielleicht
vergleicht man zu diesem Zweck Fälle, bei denen nichts von
Bedeutung gesagt wurde, die aber nichtsdestotrotz zu einem großen
Aufschrei der Öffentlichkeit geführt haben, mit Fällen, in denen
wirklich Schreckliches gesagt wurde, aber nichts weiter passiert ist.
Im August 2018 kam es mit Sarah Jeong zu einem unglaublichen
Vorfall, der Letzteres gut veranschaulicht.

SARAH JEONG
Die New York Times verkündete, dass die 30-jährige
Technikjournalistin neuestes Mitglied der Redaktionsleitung sei. Wie
das immer der Fall ist, wenn junge Menschen in verantwortungsvolle
Positionen aufsteigen, erregte auch Jeongs Beförderung erhebliches
Aufsehen. Aufmerksamkeit im Zeitalter des Internets zu erregen
heißt wohl auch, jedes einzelne Wort, das der Betreffende einmal
von sich gegeben hat, auf die Goldwaage zu legen. In Jeongs Fall
führte dieser Enthüllungsjournalismus dazu, dass uralte Tweets von
ihr ausgegraben wurden, die immer nur um ein Thema kreisten und
ziemlich derb waren. Hier eine kleine Auswahl: »Neigen Weiße
genetisch bedingt eher zu einem Sonnenbrand, was in der
Konsequenz bedeuten würde, dass sie besser wie Kobolde unter der
Erde hausen sollten?«; »Jede Wette, du traust dich nicht, auf
Wikipedia zu gehen und dort das Spiel zu spielen: Wofür Weiße
definitiv Ruhm einheimsen können? Es ist wirklich schwer …«;
»Weiße Männer sind scheiße«; #CancelWhitePeople (#Löscht
Weiße) – und in mehreren Beiträgen auf Twitter: »Habt Ihr mal
darüber nachgedacht, was Weiße tun können, ohne dass es eine
kulturelle Aneignung darstellt? Eigentlich nichts. Vielleicht Skifahren
oder Golfspielen […]. Es muss ja so was von langweilig sein, wenn
man weiß ist.«171 Es ist angemessen zu schreiben, dass ihr Twitter-
Feed zeigte, wie besessen sie von diesem Thema war. Sie hat sogar
den Kardinalfehler begangen, Menschen, die sie nicht leiden kann,
mit Tieren zu vergleichen. »Diese scheiß Vollpfosten von Weißen
markieren das Internet mit ihren Meinungen, wie Hunde Hydranten
anpissen.«172 In einem anderen Tweet heißt es: »Auweia, das ist
eigentlich schon ganz schön krank, wie viel Spaß es mir macht,
gemein zu alten weißen Männern zu sein.«173
Jeong war zudem eine eifrige Nutzerin des Spruchs »Tötet alle
Männer«. Doch unter den gegebenen Umständen fiel diese
Bemerkung unter den Tisch. Ärger zog sie sich allein wegen ihres
unaufhörlichen Rassismus gegen Weiße zu – und auch die New
York Times kassierte verbale Ohrfeigen, weil sie so jemanden
eingestellt hatte. Doch die Zeitung stand hinter ihrer neuesten
Mitarbeiterin, sie wurde nicht den Wölfen im Internet zum Fraß
vorgeworfen. Die offizielle Erklärung des renommierten Blatts
lautete, dass Jeong aufgrund »ihrer ausgezeichneten Arbeit« im
Internet eingestellt worden war. Und weiter hieß es doch tatsächlich:
»Aufgrund ihrer journalistischen Arbeit und der Tatsache, dass sie
eine junge Asiatin ist, wurde sie schon des Öfteren online attackiert.
Eine gewisse Zeit lang hat sie darauf reagiert, indem sie den Stil
dieser Angriffe imitierte. Doch inzwischen hat sie eingesehen, dass
diese Methode die Giftigkeit, die im Internet oft zu beobachten ist,
nur weiter verstärkt. Sie bedauert dies, und The Times wird so ein
Verhalten nicht billigen.« Die Erklärung endete damit, dass das Blatt
seine Lektion gelernt habe und zuversichtlich sei, dass Jeong »einen
wichtigen Beitrag für die Redaktion und die Zukunft des
Unternehmens leisten würde«.174
Tatsache ist, die »Zeit lang«, in der Jeong über Twitter mehr als
umstrittene Tweets gepostet hatte, begann 2014 und endete etwa
ein Jahr bevor sie ihren Job bei der New York Times bekam. Die
Taktik ihres neuen Arbeitgebers ging auf. Da er Jeongs Geschlecht,
Jugend und ethnische Herkunft ins Spiel gebracht und sie laut genug
»Opfer« gebrüllt hatte, ließ man sie vom Haken und räumte ihr eine
gewisse Galgenfrist ein. Hätte Jeong dagegen gesagt, dass sie noch
nie im Internet angegriffen worden sei oder dass sie nicht wisse, was
die Leute über sie sagen, da sie nicht regelmäßig twittere, oder
wenn sie (am wenigsten glaubhaft, um damit durchzukommen)
gesagt hätte, Online-Schmähungen würden ihr absolut nichts
ausmachen, wäre ihr Alibi weniger nützlich gewesen.
Diese Geschichte jedoch liefert uns eine andere faszinierende
Erkenntnis. Ein gewisser Zack Beauchamp verteidigte Jeong über
die Webseite von Vox mit diesem Tweet: »Viele Leute, die sich heute
im Internet tummeln, verwechseln aus nicht nachvollziehbaren
Gründen, wie Antirassisten und Minderheiten ausdrucksstark über
›Weiße‹ reden, mit echten rassistischen Hassparolen.«175 Leider
erklärte er nicht, was »ausdrucksstark« im Zusammenhang mit
Rassismus bedeutet und was nicht. Und er ließ offen, woran der
Nutzer den Unterschied zwischen »ausdrucksstarkem« Gerede über
Weiße und »echten rassistischen Hassparolen« erkennen kann. Ein
anderer Nutzer fand eine noch bessere Entschuldigung für Jeongs
Verhalten, das ebenfalls über Vox gepostet wurde. Gleich am
Anfang seiner Erklärung bewertete Ezra Klein die Kritik an Jeong
»als Akt von wirklich rassistischen und ultrarechten Trollen, die uralte
Tweets als Waffe dafür nutzen, dass die Asiatin Jeong gefeuert
wird«. Damit hat er nicht nur die ethnische Herkunft von Jeong ins
Spiel gebracht, was die New York Times ja auch getan hatte,
sondern unterstellte zugleich allen Leuten, die es gewagt hatten,
auch nur die geringste Kritik an ihren Tweets zu üben, eine politische
Motivation.
Wie Ezra Klein dann fortfuhr, ist allerdings höchst interessant.
Denn er führte exakt das gleiche Argument an, wie es auch Salma
El-Wardany getan hatte, als sie den Spruch »Alle Männer sind Müll«
und #KillAllMen zu verteidigen suchte, indem sie behauptete, es
wäre lediglich eine andere Art zu sagen, »Es wäre schön, wenn die
Welt für Frauen nicht ganz so zum Kotzen wäre«. Auch Klein
verteidigte Sarah Jeong, die mehrmals Weiße auf übelste und
rassistische Art und Weise angegriffen hatte, mit den Worten, wenn
Jeong in ihren »Witzen« von Weißen spräche, meine sie das nicht
so. Wörtlich schrieb er: »Auf #SocialJustice bedeutet Weiße eher
etwas wie ›dominante Machtstruktur und Kultur‹.«176
Wer sollte da nicht wahnsinnig werden? Wenn es möglich ist,
dass Benedict Cumberbatch und Sarah Jeong beide mit einem
»Streit über die Rassenfrage« in Verbindung gebracht werden
können, würde das im Normalfall bedeuten, dass sie sich beide
ähnlicher Provokationen oder Beleidigungen schuldig gemacht
haben. Aber dem war beileibe nicht so. Cumberbatch hatte lediglich
einen veralteten Ausdruck gebraucht und war in die Nähe von
Rassisten gerückt worden. Jeong dagegen hatte über Jahre hinweg
ein Rassemerkmal verächtlich und abwertend gebraucht und auch
noch ihren Spaß dabei gehabt. Schlimmer ist, dass ein und dasselbe
Motiv unterstellt werden kann, obwohl sich ihre Ausdrucksweise
deutlich voneinander unterscheidet. Eine Person (Cumberbatch)
verwendet arglos einen bestimmten Ausdruck, was sofort gegen sie
verwendet wird, während andere ganz bewusst eine bestimmte
Ausdrucksweise wählen, aber damit entschuldigt werden, sie hätten
es sicherlich nicht so gemeint. So lautete ja die Erklärung von Klein,
El-Wardany und anderen. Manche verwenden also unwissend den
falschen Ausdruck und werden dafür gezüchtigt, während andere
Begriffe verwenden, die sehr falsch und sehr drastisch sind, und
trotzdem keine Züchtigung erfahren. Etwas muss der Grund dafür
sein.
Es gibt lediglich ein paar Möglichkeiten, was dieses »etwas« sein
könnte. Die erste ist, dass es eine Art »Stimmenverzerrer« gibt, mit
dem alle öffentlichen Äußerungen über Geschlecht, Rasse und was
auch immer verzerrt werden, und es eine »Entzerrungsmaschine«
benötigt, um das Gesagte zu verstehen – aber nicht jeder hat ein
solches Gerät. Klein und El-Wardany schon, aber wer kann schon
sagen, wie viele Nutzer über die passende Entzerrungsmaschine
verfügen, um klären zu können, ob bestimmte Äußerungen auch
wirklich so gemeint waren oder eben nicht. Brauchen wir wirklich
immer Leute wie sie, die uns sagen, welche Worte meinen, was wir
hören, und welche wir falsch verstehen? Wie genau soll das
funktionieren?
Die andere Erklärung dafür ist, dass eine viel einfachere Form
der Verzerrung abläuft. Eine, die nichts mit Worten und auch nichts
mit einer bestimmten Absicht zu tun hat, sondern ausschließlich mit
dem angeborenen Charakter desjenigen, der das Wort erhebt.
Cumberbatchs Ausgangslage ist jedoch ziemlich heikel. Er ist weiß,
heterosexuell und männlich. Anscheinend war es eine gute Idee,
dass er in der Sendung von Tavis Smiley betont, dass er mit
Rassismus nichts am Hut hat. Andererseits möchte man meinen,
dass jemand in ernsten Schwierigkeiten steckt, der über Jahre
hinweg abfällige Bemerkungen über eine bestimmte ethnische
Gruppe macht. Außer natürlich sie haben die passende Identität.
Hätte Cumberbatch jahrelang getwittert, dass Asiaten besser wie
Kobolde in Höhlen hausen sollten und dass er sich köstlich amüsiert,
wenn er ältere Asiaten zum Weinen bringt, wäre er unter Garantie
nicht damit durchgekommen. Jeong schon, aber nur aufgrund ihrer
eigenen ethnischen Identität (auch wenn das Privileg von Asiaten
zurzeit wieder in die Waagschale der sozialen Gerechtigkeit
geworfen wird) und weil sie eine bestimmte Rasse angegriffen hat.
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, die unterschiedlichen
Maßstäbe, die hier angelegt werden, anhand des jeweiligen Inhalts
des Gesagten zu unterscheiden, denn was gesagt wird, spielt ja
inzwischen keine Rolle mehr. Was zählt, ist ausschließlich die
rassische oder sonstige Identität desjenigen, der etwas von sich
gegeben hat. Die Identität bestimmt also, ob man verurteilt wird oder
davonkommt. Worte und Inhalte zählen zwar noch, kommen aber
erst an zweiter Stelle. Das bedeutet aber auch, dass wir das Thema
Rasse nicht einfach ausblenden können, sondern dass wir uns in der
nahen Zukunft eingehend damit beschäftigen müssen, denn nur
wenn wir unser Augenmerk auf die jeweilige Rasse richten, können
wir herausfinden, wem wir zuhören sollten.

DIE NEUE RHETORIK


Gut möglich, dass es zu dem einen oder anderen Aufschrei kommt.
Denn in den letzten Jahren hat sich etwas in die Diskussion um
Rasse hineingeschlichen, das etwa zur gleichen Zeit auch beim
Feminismus zu beobachten war. Zu einem Zeitpunkt, als der Sieg
eigentlich schon errungen war, wurden Wortwahl und
Anschuldigungen heftiger. Man kann nicht sagen, dass es keine
rassenbezogenen Unterschiede oder rassistische Einstellungen
mehr gibt, ebenso wenig wie man behaupten könnte, dass keine
einzige Frau mehr auf der Welt aufgrund ihres Geschlechts
benachteiligt wird. Doch es ist eine Seltsamkeit dieser Zeit, dass
gerade dann, wenn die Situation letztlich besser ist, als sie je war,
sie präsentiert wird, als wäre sie schlechter denn je.
Bewegungen, die zu einer politischen geworden oder zumindest
auf dem Weg dorthin sind, brauchen Denker, die sie »entzünden«,
statt sie lediglich zu repräsentieren. Ebenso wie Marilyn French und
andere für ihre extremen Forderungen geschätzt wurden, ging in den
letzten Jahren der Preis für den am meisten gefeierten Schriftsteller,
der sich mit dem Thema Rasse auseinandergesetzt hat, nicht an
jemanden, der dieser Auseinandersetzung die Schärfe nahm oder
Verbesserungen aufzeigte, sondern an den Schriftsteller, für den
sich Schwarze in Amerika in einer beispiellos furchtbaren Lage
befinden.
Man kann nur mutmaßen, was sich Verlage in kultureller Hinsicht
erhoffen, wenn sie Autoren unter Vertrag nehmen, deren erstes
Buch eine Art Biografie ist. Diese Ehre wurde Ta-Nehisi Coates
zuteil, der in seinem allerersten Werk The Beautiful Struggle: A
Memoir von 2008 (Der schöne Kampf: eine Denkschrift) mit
bewundernswerter Ehrlichkeit nicht nur seine Kindheit und Jugend in
Baltimore beschreibt, sondern auch seinen Standpunkt zu jedem
einzelnen dieser Aspekte. In seinem Buch gibt er zu, dass er
Verachtung empfindet, wenn er in der Baltimore Arena Weiße mit
ihren Kappen, in ihren Klamotten und mit Junkfood in der Hand
sieht. »Für mich sahen sie schmutzig aus, und das machte mich zu
einem Rassisten, aber ich war stolz darauf.«177
Er schildert, dass sein Vater – Mitglied bei den Black Panthers –
sieben Kinder von vier Frauen hatte. Es ist eine Welt der
Waffengewalt und rivalisierenden schwarzen Gangs, die einander
bedrohen. Coates gibt zu, dass er im Lateinunterricht geschwatzt
und die Chance zu lernen mit Füßen getreten hat. Seine Mutter hat
ihm von der Sklaverei und dem Aufstand der Sklaven erzählt. Er
schreibt über die Verachtung, die er seinem Vater entgegenbrachte,
als dieser sich eine Zeit lang zum staatsbürgerlichen Mainstream-
Nationalismus bekannte. Der Sohn lehnt seinen Vater ab, »weil er in
dieser Zeit lebt und zum Gefolgsmann dieses eigentümlichen
Glaubens der Schwarzen wird, der uns trotz unseres Jochs zu
Patrioten macht. Mein Vater hat JFK verehrt und stand auf alte
Kriegsfilme.«178
Erst später entwickelt sein Vater ein »Bewusstsein«. »Die Jahre
des Dämmerns sind vorbei«, und Coates senior »steht Seite an
Seite mit allen, die zu der Überzeugung gelangt sind, dass unsere
Lage die schlimmste im ganzen Land ist – als arme, kranke,
verkrüppelte, bescheuerte Analphabeten – und dass es sich dabei
nicht bloß um einen Tumor handelt, der herausgeschnitten werden
kann, sondern um einen Beweis, dass der ganze Körper ein einziger
Tumor ist und dass Amerika kein Opfer um sich greifender
Verwesung ist, sondern die Verwesung selbst«.179 Coates hat einen
Englischlehrer (»ein dünner Mann mit dünner Stimme«), über den er
schreibt: »Ich sah zu ihm auf und erwartete im Gegenzug, dass er
auch mir Achtung entgegenbringt.« Doch eines Tages kommt es
zwischen den beiden zu einer Prügelei, da ihn sein Lehrer angebrüllt
hat und »ich keinen Rückzieher machen konnte«. Das Ganze endet
damit, dass er »dem Lehrer die Faust ins Gesicht donnert«. Später
schildert er ohne ein einziges Wort der Reue seine Rolle bei einem
rassistisch motivierten Angriff auf einen weißen Jungen.180 Und doch
sind es immer nur Coates und seine Community, die vom Schicksal
benachteiligt werden.
»Wir wissen jetzt schon, wie wir einmal sterben werden«,
schreibt er. »Wir stehen auf der untersten Sprosse der sozialen
Leiter, und alles, was uns von wilden Tieren, was uns und den Zoo
unterscheidet, ist Respekt, die Art von Respekt, die ihr auch Zucker
und Scheiße entgegenbringt. Wir wissen, wer wir sind, dass wir uns
bewegen, als wären wir nicht für diese Welt gemacht und als wären
wir auf dieser Welt nicht erwünscht.«181 Das Buch war ein
Riesenerfolg, wurde in den höchsten Tönen gelobt und zum
Meisterwerk hochstilisiert. Coates wurde von der MacArthur
Foundation als »Genie« bezeichnet, und nachdem er mit seiner
Biografie den Durchbruch geschafft hatte, veröffentlichte er 2015
sein zweites Werk (Zwischen mir und der Welt), dieses Mal in Form
eines Briefes an seinen 15 Jahre alten Sohn. Zwei Biografien und
das noch vor seinem 40. Geburtstag! In Zwischen mir und der Welt
beschreibt Coates seine Reaktion auf die Terroranschläge vom 11.
September 2001. Coates war erst einige Monate davor in New York
angekommen, und er ist bewundernswert ehrlich über seine Gefühle
anlässlich 9/11. Er erinnert sich, dass er mit seiner Familie auf dem
Dach eines Apartmenthauses stand und beobachtete, wie dicke
Rauchschwaden durch ganz Manhattan waberten, aber »mein Herz
war kalt«. Er schreibt: »Kein amerikanischer Bürger würde in meinen
Augen je rein sein. Ich fühlte mich nicht im Einklang mit der Stadt.«
Ein Jahr zuvor war ein ehemaliger Schulkamerad in Maryland von
einem Polizisten erschossen worden, der ihn – Prince Jones –
irrtümlicherweise für einen Drogendealer gehalten hatte. Doch trotz
dieses Erlebnisses, was Coates dann über die Feuerwehrleute aus
anderen Bundesstaaten schreibt, die ihr Leben riskiert – und
verloren – haben für Menschen aller Hautfarben und Hintergründe,
ist schockierend. »Für mich waren sie nicht menschlich. Schwarz,
weiß, was auch immer, sie waren wie Naturkatastrophen; sie waren
das Feuer.«182
Bislang war Coates’ Karriere so reibungslos verlaufen, dass
selbst der leiseste Hauch einer Kritik entweder hinuntergeschluckt
wurde oder – wenn jemand den Mut dazu aufbrachte – von ihm mit
blankem Entsetzen quittiert wurde. Als Zwischen mir und der Welt
veröffentlicht wurde, schrieb Toni Morrison im Klappentext, dass
Coates »die intellektuelle Leere« gefüllt hätte, die es seit dem Tod
von James Baldwin gab. Immerhin ein Einziger – Dr. Cornel West –
besaß den Mut, sich nicht ganz der Lobhudelei anzuschließen, auch
wenn seine Beweggründe typisch für ihn und bewundernswert
eigenwillig waren. »Baldwin war ein herausragender Schriftsteller
von großem Mut, der die Wahrheit über Macht gesagt hat«, schrieb
West. Und weiter: »Coates ist ein cleverer, wortgewandter
Schriftsteller mit journalistischem Talent, der jeder Chance, Kritik an
dem schwarzen Präsidenten zu üben, aus dem Weg geht.«183
Coates reagierte ziemlich mies darauf. Offenbar hatte es ihn sehr
gekränkt, dass jemand der Ansicht war, er käme nicht im Ansatz an
jemanden wie James Baldwin heran. Doch mal abgesehen davon,
dass uns diese Episode zeigt, wie privilegiert Coates ist, macht sie
uns auch auf etwas aufmerksam.
Abgesehen davon, dass Baldwin einer der besten Schriftsteller
des späten 20. Jahrhunderts und eine herausragende moralische
Instanz war, ist er auch in einer Zeit aufgewachsen, in der Wut
gegen die Ungerechtigkeit in Amerika nicht nur begründet, sondern
notwendig war. Mal abgesehen von den großen Ungerechtigkeiten,
die in den Communitys passiert sind, in denen er aufgewachsen ist,
hatte sie Baldwin auch am eigenen Leib erfahren. Wie er in seinem
Buch Nach der Flut das Feuer schildert, wurde er mit zehn Jahren
von zwei Polizisten verprügelt. Wenn er sich je darüber beklagte,
dann unaufdringlich, indem er es herunterspielte. Und für ihn war
das Schreiben immer eine Möglichkeit, den Graben, der Amerika
entzweit, anzusprechen und nicht, ihn weiter zu vertiefen.
Coates hingegen hat seine Karriere darauf aufgebaut, die
Unterschiede größer zu machen und die Wunden weiter
aufzureißen.184 Und diese Aufgabe meistert er in kleinen wie großen
Dingen mit Bravour: Er scheut nicht davor zurückzufordern, dass
Amerika auch nach all den Jahrhunderten Reparationszahlungen an
alle schwarzen US-Bürger leisten soll; und er ist bereit, auch bei
dem geringsten Vergehen immer die größte Keule zu schwingen.
2018, als das Magazin The Atlantic (für das Coates als
»Inlandskorrespondent« tätig ist) den konservativen Journalisten
Kevin Williamson einstellte, begann man, nach Williamsons uralten
Artikeln zu graben. Wie sich zeigte, hatte er sich mehrfach gegen
Abtreibung ausgesprochen, was viele seiner Kritiker vor den Kopf
gestoßen hatte, doch dann wurde er aufgrund eines Artikels im
National Review zu Unrecht beschuldigt, sich abfällig über einen
jungen Schwarzen geäußert zu haben.
Williamson verlor seinen Job bei The Atlantic keine 14 Tage,
nachdem er eingestellt worden war. Nach dieser Aktion fand noch
eine Redaktionssitzung statt, an der auch der Chefredakteur – Jeff
Goldberg – und Coates teilnahmen. Auch wenn niemand verlangte,
dass Goldberg keine Gesten machen sollte, wie es beim Rektor von
Evergreen der Fall war, war klar, dass sein weiteres Berufsleben auf
dem Spiel stand und dass Coates sein Rettungsboot war.
Irgendwann im Laufe der Sitzung fleht Goldberg: »Sehen Sie, es fällt
mir unglaublich schwer, zwischen dem Schriftsteller Ta-Nehisi und
der Privatperson Ta-Nehisi zu unterscheiden … Ich meine, ich will ja
nur sagen. Ich muss das einfach sagen. Er ist einer der liebsten
Menschen, die ich kenne. Ich würde mein Leben für seines geben.«
Viele Mitarbeiter hätten diese Aussage der Treue als ausreichend
angesehen und als Grund, etwas von dem Gefühl der Liebe, die
ihnen da entgegengebracht wurde, zurückzugeben. Coates hat
nichts dergleichen getan.
Im Gespräch mit Williamson tat Coates nichts anderes, als was
er auch in jeder seiner Autobiografien getan hatte: Von der Kanzel
herab – ein Ort, den er sich selbst zugewiesen hat – jede x-beliebige
Situation in den schwärzesten Farben zu malen. Coates nutzte die
Gelegenheit zu sagen, dass er außer eines blumigen Schreibstils
nichts weiter von Williamson erwarte, dafür aber mit Sicherheit
wisse, dass Williamson – lassen Sie sich die nächste Behauptung
auf der Zunge zergehen – nicht in der Lage sei, »mich oder – sagen
wir es doch mal ganz offen – die meisten von euch als echte
Menschen aus Fleisch und Blut anzusehen.«185 Die Unterstellung,
dass Williamson Coates – und auch keine andere schwarze Person
– als echten Menschen aus Fleisch und Blut wahrgenommen habe
und dass dies leider eine traurige Tatsache sei, war einfach nur eine
grauenhafte Aussage von Coates, die aber viel darüber aussagt,
was er sich im Laufe seiner Karriere alles ungestraft erlauben
konnte. James Baldwin hat kein einziges Mal von Weißen behauptet,
man könne sie nicht »nachbessern«. Und er hat keinen Sinn darin
gesehen, Unrecht schlimmer zu machen, als es ist. Coates
übertreibt den Schmerz nicht nur, er tut dies auch in dem Wissen,
dass er im Besitz aller verfügbaren Waffen ist. In der
Redaktionssitzung liegt ein geladenes Gewehr auf dem Tisch, aber
es sind nicht die Weißen, die anlegen. Das macht er selbst. Wenn
sich die Studenten in ganz Amerika fragen, ob es sich lohnt, zu
lügen und Kleinigkeiten aufzubauschen, brauchen sie nur einen Blick
auf Coates zu werfen, um zu wissen, dass es das tut. Erschwerend
kommt hinzu, dass die gesteigerte Sensibilisierung für Rassenfragen
eines Landes im modernen Informationszeitalter nicht auf dieses
Land begrenzt bleibt. Coates’ Erfolg in den USA wurde von Reni
Eddo-Lodge in einem Land gespiegelt, das eine ganz andere
Geschichte der Rassenbeziehungen hat. Als ihr Buch Warum ich
nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche (2017) erschien,
wurde klar, dass sie nicht nur über dieselbe Problematik schrieb,
sondern ebenfalls mit Lob und Auszeichnungen überschüttet wurde.
Eddo-Lodge gelang es, Begriffe wie »Privileg der Weißen« zum
Mainstream des öffentlichen Diskurses werden zu lassen, aber sie
musste schon tiefer nach rassistisch motivierten Vorfällen graben als
Coates. In den ersten Kapiteln schildert Eddo-Lodges eine Reihe
von schrecklichen Vorfällen aus der Vergangenheit Großbritanniens
– wie den rassistisch motivierten Mord an einem schwarzen
Seemann namens Charles Wooton in den Docks von Liverpool im
Jahr 1919.186 Sie beschreibt solche außergewöhnlichen
Vorkommnisse, als ob sie nicht nur ein Sinnbild für ein Land wären,
sondern die Geschichte eines Landes. Fakt ist, sie musste danach
suchen. Und als sie von ihrer aufwendigen Suche zurückkehrte,
hatte sie nichts Besseres zu tun, als uns zu berichten, dass die
Vergangenheit viel schrecklicher war, als wir dachten, und dass
infolgedessen Weiße viel schlimmere Menschen seien als gemeinhin
angenommen.
Wie sollen denn Individuen auf Menschen in der Gegenwart
reagieren, wenn sie in der Vergangenheit wühlen und dann Kurs auf
Vergeltung zu nehmen? Eine denkbare Möglichkeit wäre, Rachsucht
als etwas ganz Normales zu begreifen – eine Rachsucht, die in den
vergangenen Jahren bereits in nahezu jede Sprache gesickert ist.
Auf dem Protestmarsch der Frauenbewegung Women’s March in
London im Januar 2018 hielt eine junge Frau mit pinkfarbenem Haar
ein Plakat hoch, auf dem geschrieben stand: »No Country for Old
White Men« (»Kein Land für alte weiße Männer«).187 Die Ironie an
der Geschichte war, dass auf einem der Schilder der Sozialistischen
Arbeiterbewegung zu lesen war: »No to racism« (»Nein zu
Rassismus«). Und traurig war, dass die junge Frau mit dem Plakat
direkt neben dem Kriegerdenkmal in London stand, das an viele
weiße Männer erinnert, die keine Chance hatten, alt zu werden.
In dieser neuen Epoche der Vergeltung ist es absolut hinnehmbar
geworden, Weiße – ja, sogar weiße Frauen – generell der Untaten
zu bezichtigen, dessen wiederum andere nicht schuldig sind. Die
britische Tageszeitung The Guardian hält es für angemessen, einen
Artikel mit der Überschrift »Wie weiße Frauen sich mit strategischen
Tränen aus der Verantwortung stehlen« abzudrucken. Darin beklagt
sich der Verfasser: »Wenn ich eine weiße Frau darauf anspreche,
dass sie etwas getan oder gesagt hat, was mich belastet oder
gestört hat, dann ist es mir schon oft passiert, dass sie unter Tränen
alles abgestritten oder mir vorgeworfen hat, ich würde sie mit diesem
Vorwurf verletzen.«188 #WhiteTears (#WeißeTränen) ist ein beliebter
Hashtag. Auch der Begriff »Gammon« dürfte in weiten Kreisen,
zumindest in Großbritannien, geläufig sein. Eigentlich bedeutet er
Schinken, aber er wird gern von aufgeklärten Leuten verwendet, die
es lieben, ihre Meinung im Internet kundzutun, um Weiße zu
beschreiben, deren Hautfarbe einen rötlichen Ton annimmt, wenn sie
sich aufregen oder emotional werden. Dieser Begriff kam etwa im
Jahr 2012 auf, 2018 war er frei im Fernsehen zu hören und wurde
online genutzt, nicht nur, um auf den komischen Hautton von
Weißen und ihre frappierende Ähnlichkeit mit Schweinen
aufmerksam zu machen, sondern auch, um anzudeuten, dass sich
hinter diesem Rotwerden kaum zu unterdrückende Wut verberge
und vermutlich auch Fremdenfeindlichkeit. Und wieder einmal griffen
Antirassisten bei der Verfolgung von Rassismus auf Rassismus als
probates Mittel zurück. Und wie würden negative Folgen eines
solchen Verhaltens aussehen?

IQ
Von allen Grundlagen einer vielfältigen und zivilisierten Gesellschaft
muss die Gleichheit der Menschen oberste Priorität haben.
Gleichheit – dazu bekennt sich jede Regierung des Westens ebenso
wie jede politische Mainstream-Bürgerbewegungen, aber auch jeder
Bürger, der seinen Platz in einer respektvollen Gemeinschaft finden
will. Doch unter diesem gemeinsamen Anspruch, dieser Erklärung
oder Hoffnung verbirgt sich eine der schmerzhaftesten und noch
nicht detonierten Bomben – und einer der besten Gründe, warum wir
in Zukunft viel behutsamer auftreten sollten, als wir das im Zeitalter
der Twitter-Hashtaggerei tun. Ich meine die Frage, was bedeutet
Gleichheit und gibt es sie wirklich?
Gleichheit in den Augen Gottes ist ein Eckpfeiler der christlichen
Lehre. Doch in der Ära des säkularen Humanismus wurde aus
Gleichheit in den Augen Gottes Gleichheit in den Augen der
Menschen. Und genau hier ist das Problem. Viele Menschen
realisieren, befürchten oder spüren intuitiv, dass nicht alle Menschen
gleich sind. Menschen sind eben nicht alle gleich schön, gleich
talentiert, gleich stark oder gleich klug. Und mit Sicherheit auch nicht
gleich vermögend. Ja, sie sind nicht einmal gleich liebenswert.
Immer wenn die politische Linke davon spricht, dass Gleichheit
(equality) und auch Fairness (equity) unbedingt nötig sind (Eduardo
Bonilla-Silva und andere begründen diese Forderung damit, dass
eine Gleichheit im Ergebnis (Ergebnisgleichheit – equality of
outcome) nicht nur erstrebenswert, sondern auch machbar ist),
reagiert die politische Rechte darauf mit dem Ruf nach Gleichheit
der Chancen (Chancengleichheit – equality of opportunity). Fakt ist,
dass beide Ansprüche mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit weder auf lokaler noch auf nationaler,
geschweige denn auf globaler Ebene realisierbar sind.
Einem Kind wohlhabender Eltern stehen nun einmal mehr
Möglichkeiten offen als einem Kind armer Eltern, das heißt, das Kind
reicher Eltern hat gleich zu Beginn seines Lebens, wenn nicht gar für
den Rest seines Lebens, die besseren Karten. Sicher kann jeder
eine höhere Schule besuchen, aber die besten Schulen des Landes
stehen eben nicht jedem offen. Viele junge Leute würden gerne in
Harvard studieren, aber das ist bei Weitem nicht für alle machbar.
Jedes Jahr bewerben sich rund 40 000 junge Frauen und Männer
um einen Studienplatz in Harvard, aber nicht alle erhalten einen.
Tatsächlich ist das der Ort, an dem die jüngste und wohl
verheerendste aller Landminen kürzlich gesichtet wurde und wo sie
noch hochgehen könnte.
Wie erwähnt, verdanken wir Harvard den »Impliziten
Assoziationstest«. Oder wie eine Schlagzeile auf deren Webseite
lautet: »Sind Sie ein Rassist? Finden Sie es mit dem Harvard-
Rassismustest heraus.«189 Wenn das wirklich möglich ist, sollte
Amerikas älteste Universität diesen Test selbst einmal machen. Und
wenn dieser Implizite Assoziationstest tatsächlich exakte Ergebnisse
liefert, käme aller Wahrscheinlichkeit nach heraus, dass Harvard
ziemlich rassistisch ist.
2014 reichte eine Gruppe von Studenten (Students for Fair
Admissions – Studenten für faire Zulassungsbedingungen) Klage
gegen Harvard ein. Die Gruppe vertrat asiatisch-amerikanische
Studenten, die behaupteten, die Zulassungspolitik der Universität
wäre seit Jahrzehnten diskriminierend. Insbesondere mutmaßten
sie, dass im Zuge der »positiven Diskriminierung« Harvard
routinemäßig und systematisch asiatisch-amerikanische
Studienbewerber benachteiligt habe. Die Universität legte sich
mächtig ins Zeug, um die Herausgabe von Informationen über die
Einstufungskriterien von Bewerbern zu verhindern, kam aber letzten
Endes nicht mit dem Argument durch, es handele sich um
Betriebsgeheimnisse. Harvard erwiderte, keinen Bewerber, »egal,
welcher Gruppe«, bei seinen Zulassungen zu diskriminieren, musste
seine Betriebsgeheimnisse zu guter Letzt aber doch offenlegen.190
Kein Wunder, dass Harvard alles versuchte hatte, um die
Herausgabe zu verhindern.
Da Harvard jedes Jahr nur 4,6 Prozent aller Studienbewerber
annehmen kann, ist es vielleicht unvermeidbar, dass dort ausgesiebt
werden muss. Doch die Methode, die sich Harvard gestattet hat,
könnte kaum widerwärtiger sein. Wie die meisten anderen
Universitäten Amerikas (und in der Folge auch anderer Länder)
wollte auch Harvard jede Form von rassistischer
Voreingenommenheit aus seinem Auswahlverfahren beseitigen.
Doch wie sich zeigte, bleibt, wenn man jede Voreingenommenheit
ausschließen möchte, keine Hierarchie übrig, in der alle ethnischen
Gruppierungen gleichermaßen vertreten sind, sondern eine, in der
bestimmte Gruppen unverhältnismäßig bevorzugt werden. Die Leute
von Harvard – immerhin sind sie schlau – bemerkten das und
mussten daher eine Lösung für dieses Problem finden, insbesondere
um die Zahl der afroamerikanischen Studenten zu erhöhen, die die
Universität besuchten. Und so wurde beschlossen, nach Wegen zu
suchen, wie man die angeblich farbenblinden
Zugangsbeschränkungen gegen eine der Gruppen anwenden
könnte, die überrepräsentiert war. Harvard verwandelte also eine
Vorgehensweise, die nach außen hin vorgab, explizit nicht auf
Hautfarben zu achten, die in Wahrheit aber dazu diente, die
Chancen mancher Gruppen zu verbessern, in ein Verfahren, in dem
sich alles nur noch um die Rasse dreht.
Auch wenn die Universität die Beschuldigungen vor Gericht weit
von sich wies, stand aufgrund der eigenen Unterlagen zweifelsfrei
fest, dass Harvard jahrelang asiatisch-amerikanische Bewerber
heruntergestuft hatte. Sie zogen dafür Persönlichkeitsmerkmale wie
»guten Charakter«, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit heran.
Pech für Harvard, dass während der Sachverhaltsermittlung zu Tage
trat, dass die Herabstufung von asiatisch-amerikanischen Studenten
auch erfolgte, ohne dass es bei Harvard ein persönliches Gespräch
oder Treffen mit dem Bewerber gegeben hätte. Die Zulassungspolitik
bestand also allem Anschein nach in der Herabstufung der
charakterlichen Bewertung von Asia-Amerikanern, ohne sie auch nur
zu treffen.
Weshalb aber sollten so renommierte Universitäten wie Harvard
und andere Bildungsstätten so vorgehen? Aus zwei Gründen.
Erstens will Harvard wie alle anderen vergleichbaren
Eliteuniversitäten auch nicht nur einfach die besten Leute
präsentieren, sondern die besten, die ein Auswahlverfahren hinter
sich gebracht haben, das den Ansprüchen von Harvard nach
Diversität vollends genügt. Hätte Harvard zweitens – im Zuge der
positiven Diskriminierung und aus Gründen der Vielfalt – nicht
bestimmte Gruppen bewusst benachteiligt und andere ebenso
bewusst bevorzugt, wären die Harvard-Absolventen von
beunruhigender Nichtdiversität.
Konkret bedeutet das, die Studentenschaft könnte sich nicht aus
unverhältnismäßig vielen oder größtenteils weißen oder schwarzen
Amerikanern zusammensetzen, sondern aus asiatisch-
amerikanischen und aschkenasischen Juden. Und hier erhalten wir
einen Blick auf die weltweit hässlichste Landmine. Forschungen rund
um IQ und Genetik leiden nicht nur unter starker Konkurrenz,
sondern dürften zu den gefährlichsten und abgeschottetsten
Forschungsgebieten überhaupt zählen. Als Charles Murray und
Richard J. Herrnstein 1994 The Bell Curve (Die Glockenkurve)
veröffentlichten, wurden sie beschuldigt, genau diese Landmine
losgetreten zu haben. Auch wenn nur die wenigsten Rezensenten
das Buch gelesen haben dürften, häufte sich die Kritik an ihren
Forschungsmethoden. Nur wenigen Kritikern schien bewusst, dass
dieses Thema – die Beziehungen zwischen sozioökonomischer
Klasse, Intelligenz und dem Faktor Erbgut – so brisant war, dass
man zumindest darüber würde reden müssen. Doch die
überwiegende Reaktion auf The Bell Curve war der Versuch, den
Autor (den Autor, denn Herrnstein hatte das Pech, oder Glück, kurz
vor der Veröffentlichung zu versterben) zum Schweigen zu bringen.
In fast allen Kritiken war zu lesen, dass die Erkenntnisse »explosiv«
wären.191 Doch die meisten Rezensenten beschlossen, auf ganz
eigene Weise mit den brisanten Forschungsergebnissen
umzugehen. Sie bewarfen das Ganze mit so viel Dreck, wie sie nur
finden konnten, und traten ihn dann so fest als möglich.
Die Schlagzeile eines extremen, aber nicht wirklich
ungewöhnlichen Artikels eines Akademikerkollegen lautete
»Akademischer Nazismus«, im Artikel selbst ging es dann so weiter:
»Ein Mittel der Nazipropaganda, eingehüllt in
pseudowissenschaftliche Seriosität, eine akademische Version von
Adolf Hitlers Mein Kampf«.192 Nicht nur ein beliebiger alter Kampf,
sondern Adolf Hitlers. Die Kritik an The Bell Curve verdeutlichte,
weshalb sich so gut wie niemand mit dem Forschungsergebnis
auseinandersetzen wollte, dass Intelligenzpunkte verschiedener
ethnischer Gruppen variieren, und wenn eine bestimmte ethnische
Gruppe besser dabei abschneidet, eine andere zwangsläufig
schlechtere Ergebnisse erzielen muss. Das soll ja nicht heißen, dass
jeder aus der letzteren Gruppe schlecht abschneidet. Wie Murray
und Herrnstein mehrfach wiederholten, waren die Unterschiede
innerhalb einer ethnischen Gruppe größer als die Unterschiede
verschiedener ethnischer Gruppen. Diejenigen, die sich mit der
wissenschaftlichen Literatur zum Thema unterschiedliche
Intelligenzquotienten von verschiedenen ethnischen Gruppen
befasst haben, wissen besser als alle anderen, dass diese Literatur
– wie es Jordan Peterson so trefflich formuliert hat – ein »ethnischer
Albtraum« ist.193 Und diesem Albtraum wollte sich offenbar so gut
wie keiner aussetzen. Und so geschah es dann auch – auf
unterschiedliche Art und Weise. Es wurden die Autoren zum einen
als Rassisten abgestempelt, und nachdem sie mit genug Mist
beworfen worden waren, überließ man es dem Gestank, für den
Rest zu sorgen. Diese Vorgehensweise hat so gut geklappt, dass
Charles Murray 2017, als er am Middlebury College in Vermont über
sein aktuelles Buch (nicht The Bell Curve) reden sollte, von
Studenten eingekesselt und daran gehindert wurde, seine Rede zu
halten. Sie jagten ihn vom Universitätsgelände, und eine Dozentin,
die Murray zu Hilfe geeilt war, musste sich anschließend im
Krankenhaus behandeln lassen. Eine andere Methode, die
Kontroverse über The Bell Curve unter den Teppich zu kehren,
bestand darin, generelle Zweifel an Intelligenztests laut werden zu
lassen oder zu behaupten, dass diese Tests bestimmte ethnische
Gruppen aufgrund der impliziten Verzerrung favorisieren würden.
Diese Gegenbehauptungen wurden zwar mit überzeugenden
Beweisen widerlegt, aber nach einem Vierteljahrhundert der
Kontroverse über The Bell Curve steht fest, dass Fakten in dem Fall
keine Rolle spielen. Sie sind viel zu unbequem, als dass sie
ungehindert im intellektuellen Raum umherschwirren dürften. Und so
wird lieber der Rückzug angetreten, als sich mit wissenschaftlich
erwiesenen Unterschieden bezüglich der Intelligenz bestimmter
ethnischer Gruppen zu befassen. Begründet wird dies in der Regel
damit, dass, selbst wenn die Beweise dafür vorliegen und selbst
wenn sie eindeutig sind, es doch moralisch gesehen suspekt wäre,
sich damit auseinanderzusetzen, zumal sie ja in jedem Fall ethische
und moralische Fragen aufwerfen, die so gewaltig und komplex sind,
dass da nichts zu wollen ist.
Dieser Rückzieher von »die Fakten sind falsch« zu »die Fakten
sind nicht hilfreich« hat sich angesichts der wachsenden Literatur zu
diesem Thema zur Standardausrede gemausert. 2018 veröffentlichte
einer der führenden Experten auf diesem Gebiet – David Reich von
der Universität Harvard – einen Artikel, der zeitgleich mit seinem
neuen Buch über Genetik erschien. Neben vielen anderen Dingen
hat er aufgezeigt, wie es zu der Behauptung kam, dass Rasse
(ebenso wie das Geschlecht) ein »soziales Konstrukt« sei, das mit
der Genetik so gut wie nichts zu tun habe. Reich erläuterte, wie
diese These zur gängigen Lehrmeinung werden konnte und führte
aus, weshalb sie sich angesichts der unglaublichen Menge an
wissenschaftlich bewiesenen Erkenntnissen nicht lange würde
halten können. Reich wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte,
und räumte in seinem Artikel ein, dass »er tiefe Sympathie hege für
alle, die befürchten, dass Erkenntnisse der Genetik als
Rechtfertigung von Rassismus missbraucht werden könnten«. Und
dann fügte er noch hinzu: »Als Genetiker weiß ich aber auch, dass
es nicht mehr möglich ist, die durchschnittlichen Unterschiede
zwischen den ›Rassen‹ zu ignorieren«.194 Doch in diesem Bereich
scheint es keine funktionierenden Schutzmaßnahmen zu geben,
sodass die Debatte über Rasse und IQ erneut aufflammte. Ein
beliebter Vorwurf lautete: »Ist sich Reich nicht darüber im Klaren,
dass Rassisten und Sexisten ihm das Wort im Mund umdrehen
können? Oder teilt er am Ende ihre Vorurteile?«195
Sogar heute reicht es aus, dabei »ertappt« zu werden, dass man
sich ganz »normal« mit Murray auseinandersetzt, damit das Spiel
von Neuem beginnt. Der Neurowissenschaftler Sam Harris hat, wie
er selbst zugegeben hat, jeden Kontakt mit Murray, auch den
entferntesten, vermieden und wollte auch nichts zu dessen Buch
sagen, da zu viel Jauche auf diesem Feld ausgekippt worden war.
Nachdem er sich die Rezensionen durchgelesen hatte, rang er sich
doch zu dem Kommentar durch: »Ich kenne keinen anderen
Akademiker, der so ungerecht behandelt wurde wie Murray.«196 Nur
weil er sich auf einen gemeinsamen Podcast mit Murray
eingelassen, einen respektvollen Umgang mit ihm gepflegt und ein
Gespräch (unter dem Titel »Verbotenes Wissen«) mit ihm geführt
hatte, mit einigen Erkenntnissen, versuchten gleich mehrere Medien,
Harris und Murray in einen Topf zu werfen. Vox hielt ihm vor, dass
eine solche Unterredung kein »Verbotenes Wissen« sei, sondern
»Amerikas älteste Rechtfertigung von Ignoranz und
Rassenungleichheit«.197 Neben anderen Dingen, die durchaus
Anlass zur Sorge geben, wird mit dieser Stellungnahme die
Möglichkeit ausgeschlossen, dass beide Optionen zutreffen könnten.
Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen Forschung und Diskurs über
Intelligenz und Genetik zu ruhen. Da die daraus gewonnenen
Erkenntnisse von bösen Menschen zweckentfremdet werden
könnten, kann die Forschung auf diesem Gebiet nicht fortgeführt
werden. Alternativ müssten diese Erkenntnisse ignoriert werden. Wie
Murray in seinem Gespräch mit Harris sagte, gibt es nur einen
offensichtlichen Grund für die ganze Wut, die dieses Thema auslöst.
Von der Staatsspitze bis zu nahezu jeder Institution unserer
Gesellschaft zieht sich flächendeckend der alles verschlingende
Anspruch nach einer bestimmten »Diversität« und »Gleichheit« wie
ein roter Faden durch. Dieser Anspruch, dass wir »oberhalb des
Halses alle gleich sind« durchdringt die Arbeitsgesetze ebenso wie
die Beschäftigungspolitik und die Sozialpolitik. Fakt ist, dass diese
Behauptung schon so etabliert ist, dass jeder Zweifel oder gar
Einspruch mit der gleichen Wucht niedergeschlagen werden muss,
wie es die Kirche auf dem Höhepunkt ihrer Macht mit jedem getan
hat, der sich gegen ihre Lehre gestellt hat. Die Lehre unserer Zeit
besagt, dass alle Menschen gleich sind und dass Rasse und
Geschlecht und vieles mehr nichts weiter seien als soziale
Konstrukte; und dass jeder werden kann, was immer er sein möchte,
vorausgesetzt, er bekommt die entsprechende Chance und die
richtige Unterstützung, und dass es im Leben um drei Dinge geht:
Umfeld, Chancen und Privilegien. Genau das ist der Grund, weshalb
es zu so großem Schmerz, Verwirrung, Leugnung und Wut kommt,
wenn auch nur das kleinste Fragment eines Arguments auftaucht,
wie das bezüglich der Zulassung von Asiaten an der Harvard
Universität. Die Leugnung ist allgemein gesehen systemimmanent,
doch gelegentlich heftet sie ihren Blick auf ein bestimmtes Objekt
oder eine bestimmte Person, und dann wird demjenigen, der die
Ketzerei angezettelt hat (oder droht, das zu tun), alles
entgegengeschleudert, was man nur schleudern kann. Die Wahrheit
ist, dass es Menschen gibt (und es können durchaus immer mehr
werden), die die Forschung in diesem Feld begrüßen, was bei
anderen blankes Entsetzen auslöst. Es fällt leicht, den Unterschied
zwischen denen, die sich dieses dunkle Gebiet mit Sorge ansehen,
und denen, die sich darüber freuen, zu erkennen.
In jedem Fall haben wir es mit der schlimmsten Hardware-
Software-Frage zu tun. Eine lange und schändliche Zeit galt Rasse
als Hardware-Sache – und daran gab es nichts zu rütteln. Und dann,
nach Ende des Zweiten Weltkrieges – und keineswegs losgelöst von
den Schrecken dieser Zeit –, änderte sich die öffentliche Meinung.
Rasse wurde, möglicherweise aus einer Notwendigkeit heraus, ein
soziales Konstrukt – also Software –, wie so vieles andere auch.
Denn wenn es doch eine Hardware-Sache wäre, steckten wir an
anderer Stelle in ernsthaften Schwierigkeiten.
Im März 2019 hielt Professorin Robin DiAngelo von der
University of Washington einen Vortrag an der Boston University.
DiAngelo hat sich auf »Weißsein-Studien« spezialisiert und darüber
auch ein Buch mit dem Titel White Fragility (Weiße Fragilität)
geschrieben. Da DiAngelo selbst weiß ist, muss sie sich erst einmal
gehörig selbst erniedrigen, um das Vertrauen ihrer Zuhörer zu
gewinnen. Das gelingt ihr auch, und zwar indem sie ihnen versichert,
dass sie allein aufgrund der Tatsache, dass sie hier auf einer Bühne
steht und zu ihnen spricht, das »Weißsein verstärkt und damit auch
die Zentralität der weißen Sichtweise«. Dann bittet sie um
Vergebung, indem sie zum Beispiel betont, dass sie gerne »ein
bisschen weniger weiß wäre, was nichts anderes heißt als weniger
unterdrückerisch, selbstvergessen, defensiv, ignorant und arrogant«.
Ihren Zuhörern in Boston verdeutlichte sie auch, dass »Weiße, die
ihre Mitmenschen eher als Individuen ansehen und sie nicht
aufgrund ihrer Hautfarbe beurteilen, wirklich gefährlich sind«.198 Und
das bedeutet, dass es nur etwa ein halbes Jahrhundert gedauert hat,
bis sich Martin Luther Kings Vision ins Gegenteil verkehrt hat.
Es macht den Eindruck, als hätte sich die Rhetorik wieder
verschärft und als gebe es ein Crescendo an Ansprüchen, wenn es
um Rassen und Rassenunterschiede geht – und das zu einer Zeit, in
der viele von uns gehofft haben, solche Unterschiede mögen einfach
keine Rolle mehr spielen. Es gibt Menschen, die hüpfen in die Höhe
– in einem Gefühl der Freude oder aus Frust; doch sie bekommen
nicht mit, dass die Erde unter ihnen schon bebt. Sie haben keine
Ahnung, was unter ihnen vorgeht.
ZWISCHENSPIEL
VERGEBUNG

Seit dem Anbruch des Zeitalters der sozialen Medien hat sich so viel
verändert, dass wir das Ausmaß dessen noch gar nicht begreifen
und uns schwertun, die damit verbundenen Probleme in den Griff zu
bekommen.
Der Zusammenbruch der Barriere zwischen privater und
öffentlicher Sprache ist eines davon. Doch das größere, am tiefsten
gehende Problem ist (auch wenn es teilweise daraus resultiert):
Dass wir uns keinen Mechanismus geleistet haben, der uns aus der
Situation befreit, in die uns die Technik gebracht hat. Sie scheint in
der Lage zu sein, Katastrophen auszulösen, aber nicht, sie zu
beseitigen, sie richtet Schaden an, aber sie heilt nicht.
Denken Sie an das als Phänomen, das heute als »Public
Shaming« bezeichnet wird. Im Februar 2018, nur wenige Monate,
bevor Sarah Jeong leitende Redakteurin bei der New York Times
wurde, berichtete das Blatt, dass die 44 Jahre alte Tech-Journalistin
Quinn Norton nun zum Team gehöre. Die Internetgang machte sich
sofort an die Arbeit – nicht anders als später dann mit Sarah Jeong –
und stöberte in ihrem Twitter-Feed. Und wieder wurden Tweets
entdeckt, die, wie sich die Befürworter der sozialen Gerechtigkeit
auszudrücken pflegten, »nicht gut« waren.
Unter anderem tauchten Tweets aus dem Jahr 2013 auf, in
denen Norton den Ausdruck »Schwuchtel« verwendet hatte. Einmal
schrieb sie: »Schau mal, Schwuchtel«, und (bei anderer
Gelegenheit, als sie sich mit einem anderen Nutzer in die Haare
geriet): »Du überhebliche, überempfindliche kleine Heulsuse und
Schwuchtel!«199 Bei einem anderen Tweet – bereits 2009 – hatte
Norton das schlimmste aller Wörter – ein absolutes No-Go! –
verwendet. Auch da lag sie im Clinch mit einem anderen Nutzer und
erdreistete sich zu schreiben: »Wenn Gott gewollt hätte, dass ein
Nigger mit unseren Schulkindern spielt, hätte er, dann hätte er [sic]
ihn zum Präsidenten gemacht. Oh, Moment mal … ähm.«200 Nur
sieben Stunden, nachdem die New York Times von der neuen
Mitarbeiterin berichtet hatte, machte das Blatt einen Rückzieher und
ließ verlauten, dass Norton doch nicht bei ihm anfangen würde. In
einem Artikel in The Atlantic erklärte Norton, was ihrer Meinung nach
passiert war. Sie gab zu, dass vieles, was sie geschrieben und
getwittert hatte, dumm und peinlich gewesen sei. Und sie erklärte,
wie es sich anfühlte, eine – wie sie es nannte – »virtuelle
Doppelgängerin« zu haben, die sich im Internet immer vordrängle.
Wie viele andere, die an den digitalen Pranger gestellt worden
waren, machte sie diese Version ihres Selbst dafür verantwortlich,
sich mit anderen anzulegen, und behauptete ebenso, dass das
»nicht sie selbst ist«, sondern ein scheußlicher, einfach gestrickter,
aus dem Zusammenhang gerissener Abklatsch von winzigen Teilen
ihres Ichs. Weiter hieß es in dem Artikel, sie halte sich für ein Opfer
des sogenannten »Context Collapse«. Ein anderer Begriff für den
Kollaps der Barriere zwischen privater und öffentlicher Sprache, bei
dem ein Gespräch, das für eine bestimmte Gruppe (in-group –
Eigengruppe) gedacht ist, einer nicht dazugehörigen Gruppe (out-
group – Fremdgruppe), ohne Wissen über den ursprünglichen
Kontext der Diskussion, zugänglich wird. Norton schrieb, dass sie
das »N-Wort« im Kontext eines Online-Streits verwendete, bei dem
sie »auf der Seite von [Präsident] Obama« gestanden hätte. Da
Norton sich sowohl respektvolle, als auch unangenehme Online-
Auseinandersetzungen mit diversen weißen Rassisten geliefert
hatte, war es denkbar, dass sie sich einer vulgären Ausdrucksweise
bedient hatte, um jemandem den Spiegel vorzuhalten, der das
bereits vor ihr getan hatte. Andernorts wurde als Grund dafür, dass
sie den Ausdruck »Schwuchtel« gebraucht hatte, ihr Streit mit den
»Anons« (Mitglieder einer Aktivistengruppe namens Anonymous) ins
Feld geführt.201 In solchen Gruppen ist eine derartige
Ausdrucksweise nicht ungewöhnlich, dennoch passt sie nicht zur
Welt der New York Times. In dem Augenblick, als diese zwei Welten
aufeinanderprallten, war Nortons Karriere bei der New York Times
beendet, und die Welt stürzte sich auf sie.
Doch diese beiden Fälle verdienen aus mehreren Gründen eine
weitere Betrachtung. Erstens werfen die Geschichten von Norton
und Jeong die Fragen auf: Wie sieht eine faire Darstellung von
Personen im Zeitalter des Internets aus? Und wie lässt sich jemand
auf faire Weise beschreiben? Es wäre ein Leichtes, zum Beispiel
Norton als »rassistische, homophobe Tech-Journalistin« zu
bezeichnen, »die von der New York Times gefeuert wurde«. Gut
möglich, dass sie sich selbst eher in der faireren Variante
»Journalistin und Mutter« wiederfinden würde. Andererseits dürfte
sich auch Jeong nicht für eine Rassistin halten. Wer also nennt das
Kind beim Namen? Wenn wir das dem Mob überlassen, stecken wir
ernsthaft in Schwierigkeiten.
Fakt ist, dass nur die schlimmste Seite eines Menschen das
Internet dazu bringt, einen Moment innezuhalten und nachzusehen,
was denn da los ist. Und das, was gefunden wird, ist für ein
Netzwerk, das süchtig nach »Shaming« und Schadenfreude ist,
pures Gold. Wir alle kennen das Gefühl der Schadenfreude, wenn
wir sehen, dass jemand in Ungnade fällt, oder das Gefühl von
Gerechtigkeit, wenn ein Übeltäter überführt und seiner gerechten
Strafe zugeführt wird. Und das gilt auch (oder vor allem), wenn es
sich um ein Vergehen handelt, das wir selbst schon mal begangen
haben. Wie wir aus den Werken des Anthropologen und
Philosophen René Girard wissen, kann ein Sündenbock eine
befreiende Wirkung auf die Gesellschaft haben. Daher gibt es eine
Tendenz, sich auf ein Leben zu stürzen, das am wenigsten zu
verstehen und am wenigsten differenziert ist: höchst erschreckend
und höchst erschreckt.
Und hier tut sich ein weiterer Sumpf auf. Trampelt ein Journalist
der alten Schule in jemandes Leben herum, kann derjenige nur
wenig dagegen unternehmen. Doch im Internet gibt es nicht einmal
eine Aufsichtsbehörde, an die man sich wenden könnte, wenn
jemandes Leben auseinandergenommen wird. Möglicherweise
waren Tausende – vielleicht Millionen – Menschen daran beteiligt,
und wir haben keine Möglichkeit, sie alle zu erreichen und dazu zu
bringen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie uns unfair
behandelten. Keiner hat die Zeit dafür, nur wenige gelten als wichtig
genug. Außerdem gibt es im Internet kein Problem mit dem
Nachschub. Und anders als der begrenzte Kreis an Leuten, über die
die alten Medien herfallen konnten, kann mit moderner Technik so
gut wie jeder Mensch auf diesem Planeten herausgepickt und durch
die Mangel gedreht werden.
Eine weitere Sache, die im Zeitalter des Internets und in
Zusammenhang mit den Geschichten über Norton, Jeong und
andere von Bedeutung ist, ist eine Frage, mit der sich das Internet
noch nicht einmal im Ansatz beschäftigt hat: Wie sieht es in unserer
Zeit mit Vergebung aus, und sollte es sie überhaupt noch geben? Da
jeder Mensch in seinem Leben Fehler macht, muss es – für jeden
Menschen, in jeder Gesellschaft – die Option geben, dass ihm
verziehen wird. Zum Vergeben gehört auch immer Vergessen, doch
das Internet vergisst nichts. Alles kann jederzeit aus den Untiefen
des Internets geborgen werden. Ein potenzieller Arbeitgeber wird
über das Internet jederzeit herausfinden können, dass Norton das N-
Wort gebraucht hat und sich, Kontext hin oder her, fragen, ob sie
wirklich jemand ist, den er in seinem Team haben will.
Die umstrittenen Tweets von Norton und Jeong wurden zwar
gelöscht, aber unzählige Nutzer haben sie für die Nachwelt erhalten.
Wann immer sie an die Oberfläche gelangen, kann die Reaktion
darauf so heftig sein, als hätten diese Tweets nicht schon ein paar
Jahre oder ein ganzes Jahrzehnt auf dem Buckel, sondern als
stammten sie von gestern oder heute.
Bis vor Kurzem geriet ein Ausrutscher oder Fehler, selbst eines
Prominenten, über kurz oder lang in Vergessenheit. Doch manche
Vorfälle waren so schwerwiegend, dass sie nie vergessen werden.
Ist jemand einmal rechtskräftig verurteilt worden oder saß er im
Gefängnis, ist das den Behörden für immer bekannt. Doch wenn
dies auch bei Nichtverbrechen geschieht, wie das im Internet der
Fall ist, ist das der blanke Wahnsinn. Bei welchem Gericht kann man
Berufung einlegen? Vor allem wenn sich die Definition dessen, was
unter »Verbrechen« fällt, von heute auf morgen ändert. Wie soll man
jemanden politisch korrekt bezeichnen, der Transgender ist. Trans?
Ist das lächerlich oder gar beleidigend?
Und wie sieht es in 20 Jahren damit aus? Wer wird die zweite
Joy Reid, die sich für die »falsche« Sichtweise entschuldigen
musste, als alle anderen diese teilten? Kennen wir die Antworten auf
diese Fragen nicht, müssen wir zusehen, dass wir den
Gesinnungswandel der Massen nicht nur für das kommende Jahr,
sondern für den Rest unseres Lebens vorhersehen können. Viel
Erfolg dabei!
Es wundert nicht weiter, dass verschiedene Studien zeigen, dass
immer mehr junge Menschen an Angstzuständen, Depressionen und
anderen psychischen Erkrankungen leiden. In meinen Augen ist das
nicht die typische Reaktion der Generation Snowflake[3], sondern
eine im höchsten Maße nachvollziehbare Reaktion auf eine Welt,
deren Komplexitäten sich im Laufe eines Lebens quadriert haben.
Eine absolut vernünftige Reaktion auf eine Gesellschaft, die von
Technologien angetrieben wird, die endlose Probleme
heraufbeschwören können, aber keine Antworten liefern. Es gibt
dennoch Antworten.
Im November 1964 hielt Hannah Arendt an der University of
Chicago im Rahmen der Konferenz »Christentum und Homo
oeconomicus: Moralische Entscheidung in einer wohlhabenden
Gesellschaft« einen Vortrag mit dem Titel »Arbeiten, Herstellen,
Handeln«. Im Großen und Ganzen drehte sich ihre Rede um die
Frage, was ein »aktives« Leben bedeutet. Was heißt es, wenn wir
»aktiv« sind? Gegen Ende ihres Vortrages setzte sich Arendt mit der
Frage auseinander, welche Konsequenzen ein aktives Leben hat.
Jedes menschliche Leben kann als Geschichte betrachtet werden,
da es einen Anfang und ein Ende hat. Was wir zwischen diesen
beiden vorgegebenen Punkten tun – wenn wir in die Welt
hinausgehen und aktiv werden –, ist völlig offen, da uns unzählige
Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Die »Fragilität und
Unzuverlässigkeit menschlichen Handelns« bedeutet, dass wir ein
»Beziehungsnetz spinnen«, wodurch »jede Aktion nicht nur zu einer
Reaktion führt, sondern zu einer Kettenreaktion«. Das wiederum
bedeutet, dass »jeder Prozess neue unvorhersehbare Prozesse
auslöst«. Ein einziges Wort, eine einzige Handlung kann alles
verändern. Die Folge sei, so Arendt, »dass wir nie genau wissen,
was wir eigentlich alles verursachen«. Was unsere »Fragilität und
Unzuverlässigkeit« aber noch steigere, ist folgende Tatsache, wie es
Arendt formulierte:
Obwohl wir nicht wissen, was wir auslösen, wenn wir etwas tun, haben wir keine
Möglichkeit, etwas einmal Getanes ungeschehen zu machen. Handlungsabläufe sind
nicht nur unvorhersehbar, sondern auch irreversibel; es gibt keinen Urheber oder
Handelnden, der das, was er getan hat, wieder rückgängig machen kann, auch wenn
ihm das nicht behagt oder die Folgen katastrophal sind.

Es gibt nur einen Schutz vor dieser Unvorhersehbarkeit, nämlich


Versprechen geben und einhalten. Und gegen die Irreversibilität
unseres Handelns, so Arendt, gebe es auch nur eine Maßnahme:
die Fähigkeit, zu verzeihen. Diese beiden Dinge gehören
notwendigerweise zusammen – die Fähigkeit, sich durch
Versprechen zu binden, und die Fähigkeit verbunden zu bleiben
durch Vergebung. Über Letzteres erklärt Arendt:
Ohne die Möglichkeit, dass uns vergeben wird und wir von den Folgen unseres Tuns
freigesprochen werden, wäre unsere Handlungsfreiheit gewissermaßen auf eine
einzige Tat beschränkt, von der wir uns niemals erholen würden; wir wären für alle
Zeit Opfer ihrer Folgen, nicht unähnlich dem Zauberlehrling, dem die magische
Formel, den Zauberspruch zu brechen, fehlte.202

Das war die Wahrheit, bevor das Internet aufkam, um wie viel
wahrer ist es seitdem. Eine Möglichkeit, dieser Herausforderung
entgegenzutreten, liegt im historischen, nicht im persönlichen
Vergessen. Und im historischen und nicht im persönlichen Vergeben.
Vergessen und Vergeben sind nicht dasselbe, dennoch ist beides oft
gemeinsam anzutreffen, und Vergessen hilft beim Vergeben. Es
wurden grausame Dinge getan, von einem Menschen oder einem
Volk, doch mit der Zeit verblasst die Erinnerung daran. Nach und
nach vergessen wir die exakten Details oder die Art eines Skandals.
Der Schuldige oder auch die Tat scheinen hinter einer Wolke zu
verschwinden, und allmählich lösen sich auch diese und
verschwinden hinter unzähligen neuen Erfahrungen und
Entdeckungen.
Auch im Falle größten historischen Unrechts sterben Opfer wie
Täter aus – sowohl die, welche die Taten begangen haben, als auch
die, welche sie erlitten. Einige Nachkommen dürften sich noch eine
Zeit lang erinnern. Doch da Verletzungen und Kummer von
Generation zu Generation verblassen, werden diejenigen, die den
Kummer aufrechterhalten, nicht für sensibel oder ehrenvoll gehalten,
sondern für streitsüchtig.
Das Internet kann dazu beitragen, Dinge nicht in Vergessenheit
geraten zu lassen, andererseits jedoch sorgt es dafür, dass wir uns
der Vergangenheit von einem merkwürdigen Standpunkt aus
annähern und so tun, als wüssten wir alles. Auf diese Weise wird die
Vergangenheit – ebenso wie alles andere – Geisel aller
Archäologen, die auf Blutrache aus sind. Skandale, die längst in
Vergessenheit geraten sind, tauchen wieder auf. Wie konnten wir
dieses Verbrechen, das vor über 100 Jahren geschehen ist, nur
vergessen? Sollten wir nicht alle darüber Bescheid wissen? Sollten
wir uns deshalb nicht schämen? Was sagt es über uns aus, wenn wir
davon keine Ahnung haben?
Auch Dinge, mit denen wir längst unseren Frieden gemacht
haben, können neu aufgerollt werden. In seinem berühmten Gedicht
»In Memory of W. B. Yeats« (»In Erinnerung an W. B. Yeats«) geht
es W. H. Auden um den Ruf von Literaten: »Time that with this
strange excuse/Pardoned Kipling and his views,/ And will pardon
Paul Claudel,/Pardons him for writing well.« Der Unterschied zur
heutigen Zeit ist, dass Kipling zwar vergeben wurde, er aber
jederzeit von Neuem in Ungnade fallen kann. Zugegeben, das mag
für Dichter in einem gewissen Rahmen generell gelten, aber heute
ist das möglich aus weiter Ferne, sehr schnell und auf fanatische
Weise.
Im Juli 2018 übermalten Studenten von der University
Manchester ein Wandgemälde von Kiplings »If« (»Wenn«) – ein
Gedicht, das kurz zuvor zum Lieblingsgedicht der Briten gewählt
worden war. Doch ganz gleich, wie inspirierend oder bewegend
dieses Gedicht für viele Menschen auch sein mag, diese Studenten
wollten es zerstören. Vielleicht war es irgendwie unvermeidbar, dass
sie stattdessen ein Gedicht von Maya Angelou darüberkritzelten. Die
Sprecherin des Studentenwerks Manchester begründete die Aktion
damit, dass Kipling »ein großer Befürworter des Imperialismus war,
der sich für die Kolonialisierung Indiens durch das Britische Empire
und für die Entmenschlichung farbiger Menschen aussprach«.203
Bevor sich das Internet durchsetzte, wussten nur das Umfeld
oder bestimmte Kreise eines Menschen von dessen Fehlern, und es
bestand grundsätzlich die Möglichkeit, irgendwo anders einen
Neubeginn zu wagen. Heutzutage können Menschen von ihren
virtuellen Doppelgängern überallhin verfolgt werden. Und selbst
nach ihrem Tod geht die Leichenschändung weiter, nicht aus
wissenschaftlicher Neugier oder im Zuge der Vergebung, sondern
aus Rachegelüsten oder Vergeltungssucht. Hinter all dem verbirgt
sich das merkwürdige instinktive Bedürfnis unserer Zeit, Vergeltung
für die Untaten der Vergangenheit zu üben, weil wir glauben, wir
wären besser als die Menschen der Vergangenheit, weil wir wissen,
wie sie sich verhalten haben, und glauben, es hätten besser
gemacht zu haben. Doch das ist ein großer neuzeitlicher
Trugschluss. Wir Menschen glauben nur, dass wir in der
Vergangenheit alles besser gemacht hätten, weil wir wissen, wie die
Geschichte endete.
Unsere Vorfahren hatten – und haben – diesen Luxus nicht. Sie
trafen ihre richtigen oder falschen Entscheidungen in ihrer Zeit,
ihrem Lebensraum und angesichts der damaligen Umstände und
Gepflogenheiten. Wer die Vergangenheit mit einem wohlwollenden
Blick der Vergebung betrachtet, tut dies auch, damit auch ihm
vergeben wird – oder zumindest, um verstanden zu werden. Denn
nicht alles, was wir tun oder tun wollen, übersteht zwangsläufig
diesen Wirbelwind aus Vergeltung und Verurteilung. Kann eine
solche Vergebungshaltung nur auf der persönlichen oder auch auf
der historischen Ebene angewandt werden? Und wie sieht es mit
denjenigen aus, für die wir Geschichte schreiben?
Zum Jahreswechsel 2017/2018 sickerte durch, dass die britische
Regierung den Journalisten und Schulgründer Toby Young als neues
Mitglied des Beratungsgremiums für Hochschulbildung, das dem
britischen Bildungsministerium untersteht, vorstellen würde. Young
hatte sich seit Jahren einen Namen als starker Befürworter des
staatlichen Programms »Kostenlose Schulbildung« gemacht, hatte
eine Schule in London gegründet und leitete das New Schools
Network. Bevor er diesen Weg einschlug, hatte Young unter
anderem das Buch How to Lose Friends and Alienate People (das
auch verfilmt wurde, der deutsche Titel lautet New York für Anfänger)
geschrieben, in dem er Bilanz zieht über sein gescheitertes
Vorhaben, Amerika zu knacken. Es ist ein derbes,
selbstzerfleischendes und enthüllendes Buch, das, wie viele andere
von Youngs journalistischen Arbeiten, darauf setzt, das Publikum zu
schockieren. Vielleicht hätte ein Damaskuserlebnis von einer
Lebensphase Youngs zur nächsten zur Vergebung führen können,
aber über einen bestimmten Zeitraum versuchte er sich in einem
Spagat. Auf der einen Seite der lustige, seine Leserschaft gern
schockierende Journalist und auf der anderen Seite der hilfsbereite
Schulgründer, der dafür eintrat, Kindern aus armen Familien zu einer
höheren Schulbildung zu verhelfen. Der Online-Mob erwischte ihn an
der Kreuzung beider Lebenswege.
In nur wenigen Stunden und Tagen nach seiner Ernennung zum
Berater der britischen Regierung erwies sich sein Twitter-Account –
und alte Artikel von ihm – als wahre Fundgrube für die modernen
Sittenwächter auf der Suche nach Fehlern. In der Tat, für jeden, der
mit seiner Arbeit nicht vertraut ist, musste es das »Online Shaming«-
Equivalent zur Entdeckung von Tutanchamuns Grabkammer
gewesen sein.
Man fand heraus, dass Young 2009 mehrmals sein Interesse an
der weiblichen Brust zum Ausdruck gebracht hatte und sich
gegenüber seinen Followern auf Twitter diesbezüglich äußerte, er
sprach über die »riesigen Möpse« einer Freundin. Während er sich
im Fernsehen die Prime Minister’s Questions (Fragestunde des
Premierministers) ansah, twitterte er: »Supertiefes Dekolleté hinter
Ed Milibands Kopf. Weiß jemand, zu wem es gehört?«204 Wie er
später einräumte, zählten diese Kommentare nicht unbedingt zu den
Sternstunden seines Lebens. Doch die Ausgrabungen gingen weiter.
In einem Artikel in The Spectator von 2001 schrieb er über eine neue
Fernsehserie mit dem Titel The glamour game (Das Glamour-Spiel),
die auf dem Kanal Men and Motors lief, dass es sich im Grunde um
Pornografie handle und sie ihm gefiel. Der Korrektor dieses Artikels
änderte die Überschrift in »Geständnisse eines Pornosüchtigen«.205
Knapp zwei Jahrzehnte später wurde dieser Ausdruck zum
geflügelten Wort, wenn es um die Fehltritte von Young ging.
Abgeordnete von Labour und der Konservativen Partei warfen ihm
diesen Artikel vor. The Times of London druckte die Schlagzeile:
»›Pornosüchtiger‹ Toby Young muss um seine Rolle als Aufpasser
von Schulkindern bangen«.206 Die lokale kostenlose Tageszeitung
Londons The Evening Standard wartete mit der Schlagzeile auf,
»Druck auf Theresa May wächst – sie muss den ›Pornosüchtigen‹
als Berater feuern«.207 Es wurde ausgegraben, dass er einmal einen
prominenten Schwulen als »Queer wie ein Blesshuhn« bezeichnet
hatte und bei einer Konferenz über IQ und Genetik, die an der
Universität London stattfand, hinten im Publikum gesessen hatte. Im
Prinzip war er in jeden einzelnen Stolperdraht dieser Zeit geraten.
Neun Tage nach seiner Ernennung zum Berater sah es so aus, als
würde es noch das ganze Jahr dauern, bis alle »Schätze« geborgen
wären, was letzten Endes den Anstoß zu seinem Rücktritt gab. Nur
wenige Wochen später war er auch alle anderen Jobs und
Positionen los, wogegen er sich heftig, aber vergebens, wehrte. So
wurde ihm auch sein Job beim New Schools Network gekündigt, was
nicht nur seine Haupteinnahmequelle darstellte, sondern auch die
große Leidenschaft seiner zweiten Lebenshälfte.
Niemand stellte sich schützend vor Young und versuchte, seine
Tweets über weibliche Brüste in irgendeiner Art und Weise zu
rechtfertigen. Nicht wenige dürften sich fragen, weshalb ein
Erwachsener zugegebenermaßen »unreife« Witze twittert.208 Doch
viel wichtiger ist in Youngs Fall – wie in allen anderen Fällen von
»Public Shaming« – die Frage, ob es einen Weg gibt, der zu
Vergebung führt. Könnte Youngs langjähriges ehrenamtliches
Engagement für benachteiligte Kinder seine Tweets über Brüste
denn nicht irgendwie ausgleichen? Wenn ja, wie vielen Kindern
müsste er geholfen haben, um wie viele Sprüche über Brüste
wettzumachen? Was ist eine angemessene Zeitspanne zwischen
einem Fehler und seiner Vergebung? Weiß das jemand? Will das
überhaupt jemand herausfinden?
Es ist an der Zeit, dass wir zumindest den Versuch wagen.
Immerhin haben wir inzwischen gefährlichstes Terrain betreten.
»Public Shaming« ist mittlerweile ein generationsübergreifendes
Phänomen. Im August 2018 gab das Pharmaunternehmen Lilly
Diabetes bekannt, dass es nicht länger Sponsor des 26 Jahre alten
Profirennfahrers Conor Daly sei, der kurze Zeit später zum ersten
Mal ein NASCAR-Rennen fuhr. Dieses Mal kam es nicht zum
Skandal, weil Daly irgendetwas gesagt oder getan hätte. Nein, die
Sponsoren cancelten das Sponsoring aufgrund einer Geschichte aus
den 1980er-Jahren. Damals – lange Zeit bevor Conor auf die Welt
kam – hatte sein Vater ein Interview im Radio gegeben und
Afroamerikaner mit einem verächtlichen Ausdruck belegt. Daly
senior entschuldigte sich dafür und erklärte, dass dieses Wort in
seinem Heimatland Irland eine andere Bedeutung und Konnotation
habe, und dass er erst vor Kurzem in die USA gezogen sei. Er
drückte sein Bedauern und seine Scham aus und bat um
Vergebung. Dennoch bedeutete es für seinen Sohn das Aus für das
Sponsoring durch den Pharmariesen.209
Irgendwie ist es uns gelungen, eine Welt zu schaffen, in der
Vergebung so gut wie unmöglich ist, da die Vergehen des Vaters an
den Sohn weitergereicht werden – und damit werden wir noch mehr
als genug zu kämpfen haben. Bedauerlich, dass es uns nicht einmal
etwas ausmacht, denn wir haben anscheinend kein Interesse,
irgendeinen Mechanismus zu entwickeln oder wenigstens Konsens
zu schaffen, wie wir mit diesem Problem umgehen können.
Jahrhundertelang waren wir uns einig, dass letzten Endes nur Gott
Sünden vergeben kann. Doch für das alltägliche Leben hat das
Christentum, wie andere Religionen auch, betont, wie
erstrebenswert – wenn nicht gar notwendig – es ist zu vergeben. Bis
hin zu grenzenloser Vergebung.210 Als eine Folgelast des
Gottestodes sah Nietzsche, dass sich die Menschen in einer
ausweglosen Schleife christlicher Theologie wiederfinden würden.
Insbesondere sah er voraus, dass die Konzepte von Schuld, Sünde
und Scham übernommen würden, zugleich aber die von der
christlichen Religion vorgesehene Erlösung nicht stattfinden könne.
Offenbar leben wir heute in einer Welt, in der unsere Handlungen
Konsequenzen haben, die wir uns in unseren kühnsten Träumen
nicht hätten vorstellen können, in der Schuld und Scham eine
wesentliche Rolle spielen, in der es aber keinerlei Erlösung gibt. Wer
könnte sie uns auch geben? Wer könnte sie annehmen? Und wäre
sie überhaupt eine erstrebenswerte Eigenschaft im Vergleich zu dem
endlosen Zyklus aus tödlicher Sicherheit und Denunzierung?
Und so leben wir in einer Welt, in der jeder dem Risiko
ausgesetzt ist, wie Professor Tim Hunt den Rest seines Lebens für
seinen schlechtesten Witz abgestraft zu werden. Und wir leben in
einer Welt, in der der Anreiz nicht mehr im Agieren liegt, sondern im
Reagieren auf andere Menschen: Vor allem, um für die Rolle des
Opfers oder des Richters vorzusprechen, für ein Stück der
moralischen Tugend, die das Leid fälschlicherweise mit sich bringen
soll. In einer Welt, in der niemand so recht weiß, wer uns die
Schwere unserer Sünden nehmen kann, aber jeder sich aus
Imagegründen berufen fühlt, Vergebung entgegenzunehmen und
damit zu verschwinden. In einer Welt, in der stets die größtmögliche
Macht ausgeübt wird – die Macht, über das Leben eines anderen zu
Gericht zu sitzen und es gegebenenfalls zu ruinieren, aus Gründen,
die ehrenhaft sein mögen oder auch nicht.
Bis zum heutigen Tag gibt es nur zwei sehr schwache,
vorübergehende Lösungen für dieses vertrackte Problem. Die erste
ist, wir vergeben den Menschen, die wir mögen oder deren Herkunft
oder Ansichten am besten zu unseren eigenen passen oder mit
denen wir unsere Feinde am wenigsten verärgern. Wenn Ezra Klein
Sarah Jeong gut leiden kann, wird er ihr verzeihen. Wenn Sie Toby
Young nicht mögen, werden Sie das nicht tun können. Übrigens
handelt es sich beim Nichtvergeben um eine der sichersten
Methoden, die man sich nur vorstellen kann, um jegliche
Stammesdifferenzen, die bereits bestehen, noch zu verstärken. Es
gibt noch einen zweiten Weg, damit umzugehen. Und wie es der
Zufall will, hat ihn neulich ein anderer Rennfahrer – Lewis Hamilton –
eingeschlagen. Weihnachten 2017 hat er ein Video über seinen
Instagram-Account gepostet. Darauf war Hamilton zu sehen, wie er
sagte: »Puh, ist das traurig. Schaut euch mal meinen Neffen an.«
Dann schwenkte der 32-Jährige die Kamera auf den kleinen Jungen,
der ein rosaviolettes Kleid trug und einen Zauberstab in der Hand
hielt. »Weshalb trägst du ein Prinzessinnenkleid?«, hört man
Hamilton ihn fragen. »Jungs tragen doch keine Kleider.« Der kleine
Junge lacht die ganze Zeit.
Doch es dauerte nicht lange, bis aus diesem Spaß tödlicher Ernst
für Hamilton und seine Karriere wurde. Eine Anti-Mobbing-
Organisation verurteilte ihn aufs Schärfste, weil er eine
Internetplattform dafür missbraucht hätte, »ein kleines Kind in seinen
Möglichkeiten einzuschränken«. Auf sämtlichen sozialen Medien
wurde Hamilton beschuldigt, transphob zu sein und veraltete
geschlechtsspezifische Klischees zu bedienen. Auch die
Printmedien griffen die Story auf und druckten sie auf Seite eins.
Eine wohltätige Organisation, die sich um Vergewaltigungsopfer
kümmert, forderte, dem Rennfahrer seine Auszeichnung zum MBE
[Member of the British Empire (ein britischer Ritterorden)]
abzuerkennen. Hamilton fackelte nicht lange und nutzte seinerseits
die sozialen Medien, um sich für seine »unpassenden« Kommentare
zu entschuldigen und alle Nutzer wissen zu lassen, wie sehr er
seinen Neffen liebe. »Ich finde es ganz toll, dass mein Neffe weiß,
dass er seine Persönlichkeit so ausdrücken kann, wie immer er das
will. Und so, wie wir es alle tun sollten«, hieß es in einem Post. Und
in einem anderen: »Ich war schon immer auf der Seite derjenigen,
die ihr Leben ganz nach ihrem Geschmack leben, und ich hoffe, mir
wird mein Lapsus vergeben.«211
Klar, das war nicht genug. Ein paar Monate später, im August
2018, war Lewis Hamilton auf dem Titelbild des Männermagazins
GQ zu sehen, im Innenteil des Blatts gab es ein langes Interview mit
ihm und eine Fotoserie. Auf allen Bildern – ja, auch auf dem Cover –
trug er einen Rock. Auf der Titelseite trug er ein offenes Hemd mit
Karos in verschiedenen Farben, das einen Blick auf seinen
durchtrainierten Oberkörper freigab, und dazu einen Kilt-ähnlichen
Rock, ebenfalls in unterschiedlichen Karos. Dazu die Schlagzeile:
»›Ich will eine Scharte auswetzen.‹ Lewis Hamilton geht dem
Problem nicht aus dem Weg.«212
Und damit wären wir bei der einzigen derzeit verfügbaren Form
von Vergebung angelangt. Vorausgesetzt, Sie zählen zu den
Reichen und Berühmten, dann können Sie es im Rock und mit der
tatkräftigen Unterstützung Ihrer PR-Leute aufs Cover eines
Männermagazins schaffen und vor den flüchtigen Dogmen unserer
Zeit auf die Knie fallen. Vielleicht ist es ja nicht weiter verwunderlich,
dass immer mehr Menschen zu der Überzeugung gelangen, es wäre
am besten, sich genau diesen Dogmen anzuschließen. Keine
Fragen zuzulassen. Keine Fragen zu stellen.
KAPITEL 4
TRANS

Zu jeder Zeit im Laufe der menschlichen Geschichte wurden


Handlungen begangen oder waren erlaubt, die uns heutzutage
moralisch gesehen zumindest verblüffen. Sollten wir also nicht
irgendeinen Grund haben anzunehmen, unsere Handlungen seien
nachvollziehbarer, moralisch besser oder weiser als in jedweder Zeit
vor uns, ergibt es Sinn, davon auszugehen, dass es durchaus einige
Dinge, die wir heute – möglicherweise voller moralischem Anspruch
– tun, geben wird, die unsere Nachfahren mit einem Kopfschütteln
zurücklassen und den Worten: »Was zum Teufel haben sie sich
dabei nur gedacht?«
Es ist es wert, sich zu fragen, was diese blinden Flecken unserer
Zeit sein könnten. Was tun wir, das kommende Generationen
ebenso entsetzt zurücklassen würde wie uns, wenn wir
beispielsweise an den Sklavenhandel oder die Ausbeutung von
Kindern als Schornsteinfeger im viktorianischen Zeitalter denken?
Da wäre zum Beispiel der tragische Fall von Nathan Verhelst, der
sich im September 2013 in Belgien das Leben nahm. Nathan war als
Mädchen auf die Welt gekommen, ihre Eltern gaben ihr den Namen
Nancy. Nancy wuchs gemeinsam mit drei Brüdern auf, die von ihren
Eltern immer bevorzugt wurden – zumindest war das ihr Eindruck.
Da waren gewiss noch andere merkwürdige Dinge über die Familie
zu sagen. Nach Verhelsts Tod wurde seine Mutter von den lokalen
Medien interviewt und sagte: »Als ich Nancy nach der Geburt zum
ersten Mal ansah, zerplatzte mein Traum. Sie war so hässlich. Sie
war wie ein Phantom. Ihr Tod macht mir nichts aus. Ich fühle nichts,
kein Bedauern, keine Zweifel, keine Trauer. Wir hatten nie eine
Bindung.«213
Aus Gründen, die anhand dieses und anderer Kommentare klar
werden, wuchs Nancy in dem Gefühl auf, von ihren Eltern
zurückgewiesen zu werden, und irgendwann entstand wohl auch der
Eindruck, dass ihr Leben als Mann besser gewesen wäre. Mit Ende
30, das war 2009, begann sie eine Hormontherapie. Kurz danach
ließ sie sich beide Brüste amputieren und in mehreren Eingriffen
wurde versucht, einen Penis zu konstruieren. Insgesamt hatte sie
zwischen 2009 und 2012 drei große geschlechtsangleichende
Operationen. Im Anschluss daran war er Nathan, und er reagierte
auf die Veränderungen. »Ich wollte mein neues Leben feiern. Doch
als ich in den Spiegel blickte, ekelte ich mich vor mir selbst. Mein
Oberkörper entsprach in keiner Weise meinen Erwartungen, und es
sah ganz danach aus, als würde mein Penis abgestoßen.« Aufgrund
der mehrfachen Eingriffe hatte Verhelst überall Narben, und er war
ziemlich unglücklich mit seinem neuen Körper. Es gibt ein Foto von
Verhelst als »Nathan« – aufgenommen an einem einsamen Strand
in Belgien. Er wird vom Sonnenlicht geblendet, als er in die Kamera
schaut. Trotz der Tattoos auf seinem Oberkörper sind die Narben der
Mastektomie noch zu sehen. Ein anderes Foto zeigt ihn im Anzug
und mit Schuhen auf dem Bett liegend – unglücklich seinen Körper
betrachtend.
Sein Leben verlief offenbar nicht so, wie er sich das erträumt
hatte, was in eine Depression mündete. Im September 2013, er war
inzwischen 44 Jahre und seine letzte geschlechtsangleichende
Operation lag erst ein Jahr zurück, nahm er aktive Sterbehilfe in
Anspruch. In seinem Heimatland ist aktive Sterbehilfe legal, und die
zuständigen Ärzte bescheinigten, dass Verhelst aufgrund von
»unerträglichem psychischem Leid« den gesetzlichen
Anforderungen für die aktive Sterbehilfe genügte. Eine Woche vor
seinem Freitod gab er für seine engsten Freunde ein Fest, seine
Gäste tanzten und lachten und stießen mit Champagner auf »das
Leben« an.
Sieben Tage später machte sich Verhelst auf den Weg in eine
Universitätsklinik in Brüssel. Sein Leben wurde mit einer tödlichen
Injektion beendet. »Ich will kein Monster sein«, sagte er noch kurz
vor seinem Tod.214 Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass
künftige Generationen mit Erstaunen von Geschichten wie diesen
erfahren. »Belgische Ärzte haben also versucht, aus einer Frau
einen Mann zu machen, sind gescheitert und haben diesen
Menschen dann umgebracht?« Es ist kaum nachvollziehbar, dass
seine Tötung, ähnlich wie die vorangegangenen Operationen, nicht
aus Grausamkeit oder Sadismus erfolgte, sondern ein Akt der Güte
gewesen sein soll.
Keine Frage, der Fall Verhelst ist ungewöhnlich, aus welcher
Perspektive auch immer man ihn betrachtet. Doch wir sollten uns
intensiv mit dieser Problematik befassen, denn über manche der
Fragen, die dieser Fall aufwirft, wird kaum reflektiert. Was ist trans?
Wer ist trans? Was macht jemanden zum Transmenschen? Gibt es
das wirklich als Kategorie? Wenn ja, wie können wir uns sicher sein,
dass es grundsätzlich möglich ist, jemanden körperlich von einem
Geschlecht ins andere zu wandeln? Und woher wollen wir wissen,
dass das die beste Lösung dieses äußerst komplexen Problems ist?
Von allen Themen in diesem Buch und allen Problemen unserer
Zeit ist keines so verwirrend, bietet keines so radikale
Erklärungsversuche und ist keines so drängend in seinen
Forderungen wie das Thema der Transsexualität. Es gibt kein
anderes Thema (von dem noch dazu relativ wenige Menschen
betroffen sind), das so schnell in der Mitte der Gesellschaft
angekommen ist, dass sich ganze Zeitungsseiten den neuesten
Entwicklungen widmen, und bei dem nicht nur die Forderung, die
Sprache entsprechend anzupassen, wieder und wieder gestellt wird,
sondern auch gefordert wird, dass sich eine Wissenschaft darum
entwickelt.215 Die Debatte über die Rechte von Homosexuellen
entwickelte sich in den Augen mancher Menschen viel zu schnell.
Dennoch vergingen Jahrzehnte, bis Homosexualität akzeptiert und
so weit angekommen war, dass die gleichgeschlechtliche Ehe
legalisiert wurde. Im Gegensatz dazu hat sich alles rund um das
Thema Trans in Rekordzeit nahezu zu einem Dogma entwickelt. In
Großbritannien bemühen sich konservative Politiker darum, die
behördlichen Hürden zu reduzieren, wenn jemand das in seiner
Geburtsurkunde angegebene Geschlecht ändern möchte.216
Eine örtliche Behörde hat mit Blick darauf, dass sich
»Transkinder« besser angenommen fühlen, schulische Richtlinien
herausgegeben, die Lehrern in der Grundschule nahelegt, den
Kindern beizubringen, dass »alle Geschlechter«, auch Jungen, ihre
Periode bekommen können.217 In Amerika wurde im Mai 2019 ein
Bundesgesetz verabschiedet, demzufolge die Definition von
Geschlecht um die »Geschlechtsidentität« erweitert wurde.218
Überall sind die Empfindungen gleich: Von dem ganzen
Wahnsinn der Massen, den wir derzeit erleben, sticht Trans insofern
hervor, als dass es eine Art Rammbock geworden ist – als ob es das
letzte fehlende Stück wäre, um die große patriarchalische Mauer
endgültig niederzureißen. Die sich für die Rechte von Schwulen und
Lesben einsetzende Organisation Stonewall hat die neue Version
eines T-Shirts auf den Markt gebracht. Darauf ist zu lesen: »Manche
Leute sind trans. Finde dich damit ab.« Sind sie das wirklich? Und
sollen wir das wirklich tun?

WAS NICHT MERKWÜRDIG IST


Es sollte erwähnt werden, dass nichts merkwürdig an den
Ursprüngen des Trans-Phänomens ist. Inzwischen fallen sehr viele
Dinge unter diesen Begriff. Trans wurde – vor allem in den letzten
Dekaden – genutzt, um eine Gruppe von Individuen zu bezeichnen:
von Menschen, die hin und wieder in die Kleidung des anderen
Geschlechts schlüpfen, bis zu denen, die sich hormonell und
operativ einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Schon
von Beginn an herrschte große Verwirrung darüber, weshalb uns
manche Aspekte von Trans vertrauter sind als andere.
Nicht nur, dass in den meisten Kulturen eine gewisse
geschlechtliche Ambiguität und Fluidität zu beobachten ist. Nein, es
ist vielmehr so, dass es kaum eine Kultur auf dieser Erde gibt, in der
es nicht unterschiedliche Formen der geschlechtlichen Ambiguität
gibt, was als völlig normal angesehen wird. Es ist keine Erfindung
der späten Moderne. Wie wir bereits wissen, hat schon Ovid über
Teiresias geschrieben, der in eine Frau verwandelt wurde. In Indien
gibt es die Hijras – das sogenannte dritte Geschlecht, vormals
gehörten Intersexuelle, Transvestiten und Eunuchen noch zu dieser
Kaste –, die seit Jahrhunderten akzeptiert werden. In Thailand sind
es die Kathoey, oder Ladyboys, die weitestgehend weder als
männlich noch als weiblich angenommen werden. Und im Inselstaat
Samoa gibt es die Fa’afafine, Männer, die sich als Frauen anziehen
und auch so leben.
Selbst Länder, die der männlichen Homosexualität extrem
feindlich gegenüberstehen, haben eine Kategorie für Menschen
zwischen den Geschlechtern oder an der Kreuzung der beiden
Geschlechter vorgesehen. In Afghanistan gibt es die Tradition der
Bacha posh, bei der Eltern, die keinen männlichen Erben haben, ihre
Tochter als Jungen aufziehen. Anfang der 1960er-Jahre, lange vor
der Revolution, gab Ayatollah Khomeini ein Urteil über die
Zulässigkeit von Geschlechtsumwandlungen bekannt.
Seit der Revolution von 1979 ist der Iran zur Bestürzung seiner
Religionsführer die Hochburg für geschlechtsangleichende
Operationen der Region geworden, was zu einem großen Teil daran
liegt, dass ein solcher Eingriff die einzige Möglichkeit für Schwule,
die bei homosexuellen Handlungen erwischt wurden, ist, einer Strafe
zu entgehen, die schlimmer ist als eine nicht gewollte Operation.
Das Bewusstsein, dass die Grenzen zwischen den beiden
Geschlechtern mitunter aufweichen, ist in nahezu jeder Kultur
vorhanden und rangiert von Transvestismus (Menschen, die die
Kleidung des anderen Geschlechts tragen) über unzählige Varianten
bis zur Transsexualität (bei der zahlreiche Maßnahmen durchgeführt
werden, um letzten Endes das andere Geschlecht zu »werden«).
Wie auch immer die evolutionären Gründe dafür aussehen mögen,
eine beeindruckende Zahl an Kulturen hat die Vorstellung
verinnerlicht, dass manche Leute in einem Körper geboren werden,
aber lieber in einem anderen leben wollen.
Doch was sind das für Menschen, und wo verläuft die Trennlinie,
nicht nur zwischen ihnen und anderen, sondern auch innerhalb
dieser lose verbundenen Gruppierung? Das ganze Thema ist
inzwischen so emotional und brandgefährlich, dass es eine
forensische Herangehensweise bräuchte, doch auch dann besteht
die Gefahr, dass die verwendete Methode nicht exakt genug wäre,
um wirklich alle Interessengruppen zu befriedigen. Doch mit
irgendetwas muss begonnen werden. Und vielleicht wäre es ein
guter Anfang, mit dem Teil der Trans-Debatte zu beginnen, bei dem
sich aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mehr ändern wird. Denn
sobald man sich im Hinblick auf die unstrittigsten Aspekte geeinigt
hat, treten genau die Aspekte deutlich hervor, über die nicht
zufälligerweise am meisten gestritten wird und bei denen noch (fast)
alles offen ist.

INTERSEXUALITÄT
Wenn wir unser Vertrauen Wissenschaftlern – nicht
Sozialwissenschaftlern – schenken, und wenn wir uns darauf
einigen, dass es einfacher ist, auf das zu reagieren, was Menschen
sind, anstatt auf das, was sie zu sein glauben, dann ist die
Intersexualität der Teil der Trans-Debatte, der am
unproblematischsten sein dürfte.
Bei Intersexualität handelt es sich um ein natürliches Phänomen,
das den medizinischen Berufen schon seit Jahrhunderten bekannt
ist, der Allgemeinheit jedoch nicht. Ein geringer Prozentsatz von
Säuglingen kommt entweder mit nicht eindeutigen primären
Geschlechtsmerkmalen zur Welt oder besitzt andere biologische
Eigenschaften (zum Beispiel eine ungewöhnlich große Klitoris oder
einen ungewöhnlich kleinen Penis), was vermuten lässt, dass sie
weder dem einen noch dem anderen Geschlecht angehören. Nicht
immer sind die Anzeichen der Intersexualität äußerlich zu erkennen.
In seltenen Fällen weisen sie alle primären Geschlechtsmerkmale
eines einzigen Geschlechts auf, verfügen aber auch über eindeutig
männliches als auch eindeutig weibliches Gewebe.
Bei Personen zum Beispiel, die vom PMDS [Persistent müllerian
duct syndrome – Müller-Gang-Persistenzsyndrom] betroffen sind,
sind die männlichen Geschlechtsorgane normal entwickelt, aber
diese Menschen besitzen außerdem noch weibliche
Fortpflanzungsorgane wie Eileiter und Gebärmutter. Den
medizinischen Berufen ist die Intersexualität seit Jahrhunderten
bekannt, und auch ein winziger Teil der Allgemeinheit dürfte davon
gewusst haben, obwohl Intersexuelle lange Zeit eher als »Freaks«
galten. Im Zirkus konnte man solche »Missgeburten« wie die
»bärtige Frau« bestaunen, während historische Anspielungen auf
diese Hermaphroditen beziehungsweise »Zwitter« zeigen, dass
anerkannt war, dass es Menschen gab, die keine Transvestiten,
sondern weder dem einen noch dem anderen Geschlecht
zuzurechnen waren. Auch wenn es sich lediglich an den Rändern
der Diskussionen bewegte, gab es immer ein Bewusstsein dafür,
dass das Schicksal (die Biologie), manchen Menschen ein
komplexes und oft grausames Schicksal auferlegt.
Selbst heute noch wissen die wenigsten, wie verbreitet
Intersexualität ist. Schätzungen zufolge kommt in Amerika etwa ein
Kind von 2000 mit nicht eindeutigen Geschlechtsorganen auf die
Welt, und eines von 300 muss zu einem Facharzt überwiesen
werden.219 Je mehr Wissen über das Phänomen der Intersexualität
bekannt wurde, desto heftiger wurde darüber diskutiert, wie man mit
solchen Menschen umgehen soll, die das Leben vor eine besondere
Herausforderung stellt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
entwickelte die Johns Hopkins University in Baltimore ein
Standardmodell dafür. Experten untersuchten das an sie verwiesene
Kind und legten dann fest, welches Geschlecht dominanter
vorhanden oder welches machbarer sei, behandelten es dann mit
Hormonen und nahmen operative Eingriffe vor.
Nachdem zahlreiche Fälle von fragwürdigen Anwendungen
bekannt geworden waren, wandte man sich dem Problem erneut zu.
Die amerikanische Professorin für Bioethik Alice Dreger setzt sich
seit mehr als 30 Jahren für die Rechte von Intersexuellen ein. Selbst
nicht intersexuell, zählte sie nichtsdestotrotz zu den wenigen
erbitterten Gegnern solcher »geschlechtskorrigierenden« Eingriffe im
frühen Kindesalter (die oft nur durchgeführt wurden, um die Eltern
glücklich zu machen). Sie setzte sich für eine bessere Aufklärung
der Öffentlichkeit, aber auch der medizinischen Berufe ein. Den
Betroffenen würde es sicherlich helfen, wenn etwas Licht in dieses
Dunkel fällt. In ihrem Buch zu diesem Thema – Galileo’s Middle
Finger – erinnert sich Dreger an einen Chefarzt, der ihr Ende der
1990er-Jahre vorgeworfen hatte, dass sie keine Ahnung von der
Dynamik des Ganzen hätte. In seinen Augen stünden Eltern, deren
Kind mit nicht eindeutigen Geschlechtsorganen auf die Welt kam,
vor einem Problem, mit dem sie nicht fertigwürden. »Die Mutter heult
den ganzen Tag und der Vater besäuft sich«, sagte er, »wenn so ein
Kind nicht operiert wird […], begeht es spätestens in der Pubertät
Selbstmord«.220
All das hat sich ab Mitte der 1990er-Jahre und mit dem
Aufkommen des Internets geändert. Wie Dreger schreibt, ist etwas
passiert, was sich die »Doktoren des viktorianischen Zeitalters nicht
hätten träumen lassen: Menschen, die mit den unterschiedlichsten
Anomalien der Geschlechtsorgane geboren wurden, nahmen
Kontakt zueinander auf und begannen, sich als Bewegung zu
organisieren, die für die Freiheit der Geschlechtsidentität eintrat.«221
1993 wurde die ISNA [Intersex Society of North America] gegründet,
ähnliche Gruppen bildeten sich kurze Zeit später.
Mit Jeffrey Eugenides’ Bestseller Middlesex aus dem Jahr 2002
kam das Thema endgültig in der Mitte der Gesellschaft an. Zudem
traten ein paar mutige Intersexuelle an die Öffentlichkeit und
erzählten von sich und ihrer Geschichte. Doch die Fragen, welche
medizinischen Eingriffe und Therapien passend sind und wann der
richtige Zeitpunkt für geschlechtsangleichende Operationen ist und
wie die besten Praktiken bei dieser Thematik aussehen sollen, sind
noch immer nicht restlos geklärt.
Wir haben es Gruppen wie der ISNA zu verdanken, dass bis
heute einige Dinge bekannt geworden sind. Zum einen hat sich
allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass es Intersexuelle gibt
und dass sie nichts für ihre Situation können. Wir sollten
Intersexuellen eine gehörige Portion Empathie und Verständnis
entgegenbringen. Was sonst sollten wir für unsere Mitmenschen
empfinden, die – gelinde gesagt – mit suboptimalen Karten auf die
Welt gekommen sind? Wenn etwas auf dieser Welt eine Frage der
Hardware ist, dann ist es die Intersexualität.
Es ist völlig legitim und sinnvoll, sich mit diesem Thema
respektvoll auseinanderzusetzen. Für jeden, der sich für
Menschenrechte einsetzt, ist es ein Muss. Doch es ist auffallend, wie
selten Einzelne, aber auch die Medien, dieses Thema aufgreifen,
wenngleich doch fast täglich über Trans berichtet wird. Vielleicht liegt
es daran, dass Intersexualität von der Öffentlichkeit erst in dem
Augenblick wahrgenommen wurde, als öffentlich über scheinbar
ähnliche, aber in Wahrheit völlig unterschiedliche Themenkomplexe
gesprochen wurde.

TRANSSEXUALITÄT
In der Nachkriegszeit gab es sowohl in Europa als auch in Amerika
einige wenige vielbeachtete Fälle, bei denen mehrere als Mann
beziehungsweise Frau zur Welt gekommene Menschen versucht
hatten, ihr Geschlecht zu ändern. Roberta (ehemals Robert) Cowell
machte in Großbritannien und Christine (ehemals George)
Jorgensen in den USA Schlagzeilen. Wer damals Kind war, kann
sich vielleicht noch daran erinnern, dass seine Eltern die Zeitung vor
ihm versteckt hatten, als über die ersten
»Geschlechtsumwandlungen« berichtet wurde. Denn die
Geschichten waren nicht nur »schlüpfrig«, sondern auch
hochsexualisiert, und sie stellten die grundlegendsten
gesellschaftlichen Normen infrage. Konnte jemand tatsächlich sein
Geschlecht ändern? Wenn ja, hieße das dann, dass das jede und
jeder tun könnte? Soll das heißen, dass es dann auch jede und jeder
tun will, wenn sie oder er dabei unterstützt wird?
Rückblickend ist nicht schwer zu verstehen, weshalb diese ersten
Fälle von Transsexualität solche Verwirrung gestiftet haben. Nach
dem Ersten Weltkrieg fiel die Vorstellung, dass es feminine Männer
und maskuline Frauen gebe, mehr in den Bereich einer fixen Idee
von Menschen, die kein Verständnis für die jüngere Generation
zeigten.
In den 1920er-Jahren gab es einen sehr beliebten Hit, in dem es
hieß, »Masculine women! Feminine men! Which is the rooster?
Which is the hen? It’s hard to tell ’em apart today«.222 Zu dieser Zeit
wurde nicht groß zwischen Homosexualität und Transvestismus
unterschieden: Es gab einfach ausgeprägte Transvestiten oder
besonders weibliche Schwule. Doch die ersten Transmenschen, die
öffentlich bekannt wurden, wollten sich keineswegs damit abfinden,
dass keine Unterschiede gemacht wurden. Zu Beginn seiner
Karriere war Cowell Jagdpilot, danach wurde er als Rennfahrer
berühmt. Angesichts dieses Totschlagarguments war es natürlich
schwer – wenngleich nicht unmöglich –, die Mär von einer
ausgeprägten Form der Weiblichkeit aufrechtzuerhalten. Außerdem
gab es ja noch die Behauptungen der Betroffenen selbst. Cowell
zum Beispiel war es wichtig, als Intersexueller anerkannt zu werden,
dessen »Geburtsfehler« durch eine Vaginoplastie und andere
operative Eingriffe ausgemerzt wurde. Je sichtbarer diese
Kategorien wurden – Homosexualität, Intersexualität,
Transvestismus, Transsexualität –, umso mehr griffen sie ineinander.
Es hat viel Zeit, den Mut Einzelner und die Fähigkeit, Dinge beim
Namen nennen zu können, gebraucht, um aus dieser Mischung das
zu extrahieren, was heutzutage als Trans bezeichnet wird. Jeder, der
skeptisch ist, ob diese Kategorie überhaupt existiert, sollte sich mit
den Arbeiten der Transmenschen auseinandersetzen, die sich nicht
nur tiefgehend damit auseinandergesetzt, sondern sich umfassend
darüber geäußert haben. Einer der erfolgreichsten Versuche, das zu
kommunizieren, was viele Transmenschen für nicht kommunizierbar
halten, stammt aus der Feder der britischen Schriftstellerin Jan
(ehemals James) Morris. Ebenso wie Roberta Cowells hat Morris’
Geschichte Verwirrung, aber auch Neugier unter den Lesern und
Interviewern ausgelöst, und das hat sich bis heute nicht geändert.
Morris wurde in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges
eingezogen und diente der britischen Armee. Anschließend war er
als Journalist für The Times und The Guardian tätig. Ebenso wie
sein Kriegsdienst war auch Morris’ Arbeit als Auslandskorrespondent
im Nahen Osten, Afrika und hinter dem Eisernen Vorhang nicht das,
was von einem Mann, der eine Frau werden sollte, erwartet wurde.
Ebenso wenig wie die Tatsache, dass er glücklich mit einer Frau
verheiratet und Vater von fünf gemeinsamen Kindern war. Die
Verwandlung von James in Jan begann in den 1960er-Jahren und
mündete 1972 in eine Geschlechtsangleichung. Schon damals hatte
sie sich einen Namen als Schriftstellerin gemacht, doch sobald die
Operation publik wurde, wurde aus ihr die wohl bekannteste
Transfrau der Welt. Morris’ Erinnerungen an diese Zeit, Conundrum
(Rätsel), erschienen 1974, ist noch heute eine der
beeindruckendsten und meisterhaft geschriebenen Schilderungen,
weshalb manche Menschen eine Geschlechtsumwandlung wollen.
Es ist so gut wie unmöglich, dieses Buch aus der Hand zu legen und
den Gedanken zu fassen, dass so etwas wie Trans gar nicht
existiert, und wenn, dann nur als »reines Fantasiegebilde«. Morris
beschreibt ihre frühesten Erinnerungen an ihre Kindheit, wie sie sich
als kleiner Junge von drei oder vier Jahren unter dem Klavier ihrer
Mutter versteckt hat und ihr schon damals dämmerte, »im falschen
Körper auf die Welt gekommen zu sein«.223 In all den Jahren danach
– Militärzeit, Ehe und Vaterschaft – blieb sie davon überzeugt. Erst
als sie den berühmten deutsch-amerikanischen Endokrinologen Dr.
Harry Benjamin in New York aufsuchte, zeichnete sich eine Lösung
ihres Dilemmas ab. Man könnte sagen, das waren die ersten
gesellschaftlichen Versuche, sich der komplexen Thematik Trans
anzunehmen. Nur wenige Ärzte wie Benjamin waren sich aufgrund
ihrer Ausbildung sicher, dass es eine kleine Gruppe von Menschen
gibt, die das Gefühl haben, im falschen Körper geboren worden zu
sein. Dennoch wusste niemand so recht, was in einem solchen Fall
zu tun war. Manche Mediziner wie Benjamin kamen zu dem Schluss,
dass man durchaus etwas tun könnte.
Er erklärte: »Ich fragte mich, ob wir denn nicht aus Gründen der
Barmherzigkeit oder weil der gesunde Menschenverstand dazu rät –
wenn wir schon nicht die Überzeugung an den Körper anpassen
können –, unter bestimmten Umständen den Körper der
Überzeugung anpassen sollten?« Den Körper anpassen, oder wie
es Morris formulierte, »ihn von allem Überflüssigen befreien […] und
den Fehler zu bereinigen und neu anzufangen«. Das war nicht nur
das, was er schon als kleiner Junge wollte, sondern wovon er
träumte und wofür er betete.224
In Conundrum beschreibt Morris, wie der Wunsch, eine Frau zu
werden, mit jedem Jahr, das vorüberging, immer stärker wurde.
»Jedes Jahr schien der Körper eines Mannes unnachgiebiger um
mich zu wachsen.« Von 1954 bis 1972 unterzog sich Morris einer
Hormontherapie. Er beschreibt die merkwürdige Auswirkung der
weiblichen Hormone, schildert im Detail, dass er sich immer jünger
und weicher fühlte. Diese Hormone führten nicht nur dazu, dass er
die männlichen Schichten abstreifen konnte, die ihn zu erdrücken
schienen, sondern auch dazu, dass »die unsichtbaren Schichten der
Belastbarkeit, die letztlich das Schutzschild für die männliche
Spezies ausmachen, zugleich aber das Körperempfinden abtöten«,
allmählich von ihm abfielen. Im Laufe der Zeit führte das dazu, dass
sich Morris zu einer »irgendwie zweideutigen« Person entwickelte.
Manche hielten ihn für einen Schwulen, andere für
zwischengeschlechtlich. Es kam aber auch vor, dass ihm Männer die
Tür aufhielten, weil sie ihn fälschlicherweise für eine Frau hielten. All
das geschah natürlich vor seiner Geschlechtsumwandlung.
Zu dieser Zeit waren nur wenige Chirurgen in Europa oder
Amerika bereit, Operationstechniken anzuwenden, die sich noch im
Versuchsstadium befanden. Doch noch immer konnte niemand mit
Gewissheit sagen, was manche Menschen veranlasste, ihr
Geschlecht wechseln zu wollen. Handelte es sich um eine
psychische Erkrankung? Wenn nicht immer, dann aber manchmal?
Wenn ja, woran konnte man das erkennen? Wie unterschied sich
das Verlangen, einen Teil seines Körpers operativ entfernen zu
lassen, von dem Wunsch eines Patienten, der seinem Arzt erzählt,
er sei Admiral Nelson und wolle deshalb seinen rechten Arm
amputieren lassen? War jemand, der davon träumte, dass sein
Penis abgeschnitten würde, wirklich geistig gesund und
zurechnungsfähig?
In den 1960er- und 1970er-Jahren waren die wenigen Chirurgen,
die bereit waren, Geschlechtsumwandlungen durchzuführen, auf
eine Reihe von Voraussetzungen angewiesen. Erstens, der Patient
durfte in keiner Weise psychotisch sein. Zweitens, es war dem
Patienten nach dem Eingriff nicht gestattet, diejenigen, die von ihm
und seinem ursprünglichen Geschlecht abhängig waren, zu
verlassen. Drittens, der Patient musste sich vorher längere Zeit einer
Hormonbehandlung unterzogen haben. Viertens, der Patient musste
das Leben in der gewünschten Geschlechtsrolle kontinuierlich
erprobt haben. Diese grundlegenden Anforderungen haben sich
seitdem nicht wesentlich geändert.
Letzten Endes beschloss Morris nach langjähriger
Hormontherapie, sich in Marokko von Dr. Georges Burou (der in
Conundrum als »Dr. B.« bezeichnet wird) operieren zu lassen.
Dieser Chirurg hatte bereits die geschlechtsangleichende Operation
eines anderen bekannten Briten, April Ashley, durchgeführt, und
obwohl er in der Öffentlichkeit ein unbeschriebenes Blatt war, hatten
sich seine Fähigkeiten in gewissen Kreisen bereits
herumgesprochen. Und zwar derart, dass »eine Reise nach
Casablanca« dort ein ziemlich bekannter Euphemismus für eine
Geschlechtsumwandlung war. Für seine Patienten – so schrieb
Morris – war die Reise nach Casablanca, wo Dr. Burou in einer
Seitenstraße sein OP- und Rekonvaleszenzzentrum betrieb, »wie
der Besuch bei einem Zauberer«.225
Jeder, der bezweifelt, dass es Menschen gibt, die absolut davon
überzeugt sind, eine Geschlechtsangleichung wäre in ihrem Fall
nötig, sollte einmal Morris’ Buch lesen und sich vor Augen halten,
was er bereit war durchzumachen. Zwei Krankenschwestern, eine
Araberin, die andere Französin, betreten sein Krankenzimmer in Dr.
Burous Klinik. Sie teilen James mit, dass er später operiert wird und
sie jetzt seinen Intimbereich rasieren müssten. Da er einen Rasierer
dabeihat, macht er es lieber selbst.
Die Schwestern setzen sich derweil auf den Tisch und lassen die
Beine baumeln. Er rasiert sich mit kaltem Wasser und
marokkanischer Seife den Schambereich und geht dann zurück ins
Bett, weil er eine Spritze bekommen soll. Die Schwestern sagen ihm,
er solle noch etwas schlafen, bis die Operation stattfindet. Morris
beschreibt mit sehr bewegenden Worten, was dann geschah.
Nachdem die beiden Schwestern den Raum verlassen haben, quält
sich Morris mit zittrigen Beinen aus dem Bett – die Wirkung der
Medikamente hatte bereits eingesetzt – und trat vor den
Spiegel, »weil ich mich von mir verabschieden wollte. Wir würden
uns nie mehr wiedersehen, und ich wollte dem anderen Ich zum
letzten Mal in die Augen sehen und alles Gute wünschen.«226 Morris
lag zwei Wochen, bandagiert und eingewickelt, in der Klinik und
beschrieb sein Gefühl nach dem Eingriff als »wunderbar sauber.
Diese Auswüchse, die ich mehr und mehr gehasst hatte, waren
entfernt worden. Nach meinem eigenen Maßstab war ich jetzt
normal.«227 Morris spricht davon, dass er sich die ganze Zeit nach
seiner Operation, auch nach seiner Rückkehr nach Hause,
»euphorisch« fühlte. »Und ich war mir absolut sicher, das Richtige
getan zu haben.«228 Das Gefühl, glücklich zu sein, hielt an. Während
er an Conundrum schrieb, war sich Morris bewusst, dass die
Verwandlung von James in Jan »eine der faszinierendsten
Erfahrungen eines Menschen« war. Wer wollte das anzweifeln?
Dieser Teiresias bekam am eigenen Leib zu spüren, wie
unterschiedlich Mann und Frau behandelt wurden. Der Taxifahrer,
der sich zu ihr setzt, und ihr einen nicht ungewollten Kuss auf die
Lippen drückt. Die Dinge, die man zu Männern sagt, aber nicht zu
Frauen. Die Dinge, die man zu Frauen sagt, aber nicht zu Männern.
Und sie bekam Einblick in das wohl größte Geheimnis von allen:
Nicht wie die Welt Frauen und Männer sieht, sondern wie
unterschiedlich Frauen und Männer die Welt sehen. Eine moderne
Feministin wäre davon alles andere als begeistert.
So beschreibt Morris zum Beispiel die grundverschiedenen
Ansichten und Haltungen der beiden Geschlechter. Als Mann
interessierte sich James vielmehr für die »großen Geschäfte« seiner
Zeit, während Jan ein starkes Interesse für die »kleinen Dinge des
Lebens« entwickelte.
Nachdem James zu Jan geworden war, schrieb Morris, »schien
sich mein Blickfeld zu verkleinern, ich interessierte mich weniger für
das große Ganze als vielmehr für die aufschlussreichen Details.
Beim Schreiben begann mein Interesse für Orte nachzulassen und
sich den Menschen zuzuwenden.«229
Sie ist aber auch bereit zuzugeben, dass nicht alles eitel
Sonnenschein war. Manches war tragisch, und für ihre Lieben war
es eine große Belastung. Vor ihrer Geschlechtsumwandlung 1972
musste sie sich von ihrer Frau Elizabeth scheiden lassen, doch
sobald 2008 die gleichgeschlechtliche Ehe in Großbritannien legal
war, heirateten die beiden erneut. Ihre vier zu der Zeit noch
lebenden Kinder hatten sicherlich eine schwere, obwohl sie sich
ungemein schnell an die neue Situation gewöhnt haben. Doch viele
reagierten mit Bestürzung auf den ganzen Prozess, bei dem »ein
schöner Körper mit Medikamenten verunstaltet und in einem fernen
Land mit dem Messer traktiert wurde«. All das, um, wie sie es
ausdrückt, die eigene »Identität« zu erlangen.230 Jan Morris schreibt
in ihrem Buch: »Natürlich würde das niemand einfach so zum Spaß
tun, und natürlich hätte ich mich für ein Leben ganz ohne diese
Komplikationen entschieden, wenn ich denn die Möglichkeit dazu
gehabt hätte.«231 Nichts auf dieser Welt könnte sie dazu bringen,
ihre Überzeugung zu ändern, dass die Person, die als »er« auf die
Welt kam, in Wahrheit eine »sie« war. Sie hätte alles dafür gegeben,
diese sie werden zu dürfen. Befände sie sich noch einmal in dieser
Lage, heißt es an einer Stelle ihres Buches, »könnte mich nichts von
meinem Vorhaben abbringen. […] Ich würde auf der ganzen Welt
nach einem Chirurgen suchen, ich würde Barbiere und
Engelsmacher schmieren, ich würde ein Messer zur Hand nehmen
und es selbst tun, ohne Angst, ohne Skrupel und ohne auch nur eine
Sekunde darüber nachzudenken«.232
Jeder vernünftige Mensch sollte also verstehen, dass es
intersexuelle Menschen gibt. Wer jemals ein Buch wie das von
Morris gelesen hat, dem dürfte es leichtfallen nachzuvollziehen, dass
es Menschen gibt, die als Intersexuelle auf die Welt kommen. Und
dass es Menschen gibt, die sich nichts sehnlicher wünschen, als im
Körper des anderen Geschlechts zu leben. Was jedoch
außerordentlich hart ist, ist die Frage, wie wir – mit den
bescheidenen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen – den Sprung
von der Biologie zur persönlichen Biografie schaffen. Intersexualität
ist biologisch nachweisbar. Trans wird sich in der Zukunft wohl als
psychologisch oder biologisch begründet nachweisen lassen. Doch
im Moment können wir nicht einmal einschätzen, in welchem Gebiet
Trans einmal untergebracht sein wird. Wenn es scheint, wir könnten
uns diese Art von Wortklauberei sparen, da es lediglich um die
Identität einiger weniger Menschen geht, sollten Sie bedenken, als
wie schwierig sich auch nur ein Teil dieses heiklen Terrains erweist.

AUTOGYNOPHILIE
Wenn wir als Ausgangspunkt anerkennen, dass an einem Ende des
Spektrums Menschen sind, die als Intersexuelle geboren wurden,
und dass das ohne jeden Zweifel eine Frage der Hardware ist, dann
dürfte auch klar sein, dass wir uns von diesem Punkt des Spektrums
aus nunmehr auf innere Beweggründe verlagern. Also von
Menschen, die offensichtliche, biologische Merkmale besitzen,
weshalb sie eindeutig weder dem einen noch dem anderen
Geschlecht zugeordnet werden können, zu Menschen, die sich
durch keinerlei offensichtliche Eigenschaften unterscheiden, sich
aber sicher sind, dass sie anders sind. Mit der Frage, wo der
nachweisbare Hardware-Teil von Trans endet und wo der Software-
Teil beginnt, betreten wir nicht nur gefährliches, sondern höchst
spekulatives Terrain. Lassen Sie uns also beginnen.
Irgendwo entlang des Spektrums von intersexuell geborenen
Menschen sind diejenigen, die mit einem konventionellen XX- oder
XY-Chromosomenpaar, den entsprechenden Geschlechtsorganen
und allem, was sonst noch dazugehört, auf die Welt gekommen sind,
die aber – aus Gründen, von denen wir nicht einmal im Ansatz eine
Ahnung haben – glauben, im falschen Körper zu stecken. Ihr Gehirn
sagt ihnen zwar, dass sie ein Mann sind, aber ihr Körper ist der einer
Frau. Oder umgekehrt.
Wir wissen weder, was, wenn überhaupt, die Ursache dafür ist,
noch (oder nur relativ wenig), wie verbreitet dies ist. Es konnte nicht
nachgewiesen werden, dass zwischen Transmenschen und
Nichttransmenschen deutliche physiologische Unterschiede
bestehen. Zwar wird derzeit erforscht, ob unterschiedliche
Hirnfunktionen dafür verantwortlich sein könnten, aber bislang gibt
es keine Daten, die den Schluss nahelegen, dass es eine klare
Frage der Hardware ist, weshalb manche Menschen ihr Geschlecht
ändern wollen.
Trotzdem scheint die Tendenz – ähnlich wie bei der
Homosexualität – zu bestehen, aus dieser vermeintlichen Software-
eine Hardware-Sache zu machen. In der Trans-Welt zeigt sich diese
Entwicklung gleich in mehreren Bereichen. Einer davon bezieht sich
auf einen offensichtlichen Grund, weshalb jemand sein Geschlecht
ändern möchte: sexuelle Erregung.
Einem Mann mag es gefallen, Frauenunterwäsche zu tragen
oder Frauenkleidung, weil es ihm einen sexuellen Kick bringt:
Strapse, das Gefühl von Spitze auf der Haut, die sinnliche Erfahrung
der Grenzüberschreitung und der Unartigkeit. All das galt lange Zeit
als ungewöhnliche sexuelle Vorliebe, nach der es manche
Menschen verlangt. Der unschöne Fachbegriff für diesen Trieb lautet
Autogynophilie. Es handelt sich um die paraphile Neigung eines
Mannes, sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als
Frau zu erlangen. Doch – und das dürfte jetzt niemanden
überraschen – auch diese »Community« ist alles andere als
homogen, und es herrscht Uneinigkeit, ob und wie viele Formen es
davon gibt. Die Bandbreite ist immens, so kann ein autogynophiler
Mann von der Vorstellung erregt werden, Damenbekleidung zu
tragen, oder davon, den Körper einer Frau zu besitzen.
Auffallend an der jüngsten Entwicklung der Trans-Debatte ist,
dass die Autogynophilie ziemlich in Ungnade gefallen ist. Oder
anders ausgedrückt, die Vorstellung, dass Menschen, die sich als
Transmenschen ansehen, dies lediglich aus Gründen des
ultimativen sexuellen Kicks tun, ist mittlerweile so verhasst bei der
Trans-Gemeinde, dass dies zu den vielen Dingen gehört, die als
Hass-Sprache (Hate Speech) abgewertet werden.
J. Michael Bailey, Professor für Psychologie an der Northwestern
University, veröffentlichte 2003 sein lange und gründlich
recherchiertes Buch The Man Who Would Be Queen: The Science
of Gender-Bending and Transsexualism (Der Mann, der Königin sein
würde: Die Wissenschaft von Geschlechtsumwandlung und
Transsexualität), in dem er sich der Transsexualität aus einer
anderen Perspektive näherte als der gängigen, bei der davon
ausgegangen wird, dass das Gehirn eines Geschlechts im Körper
des anderen Geschlechts gefangen ist. Insbesondere befasste er
sich mit der Möglichkeit, dass Transmenschen vom Objekt und von
der Natur ihrer Begierde angetrieben werden. Seine Theorie basiert
auf der Arbeit von Ray Blanchard vom CAMH [Centre for Addiction
and Mental Health (Zentrum für Sucht und psychische Gesundheit)]
und lautet, dass der Wunsch nach einer Geschlechtsangleichung vor
allem bei einem bestimmten, sehr femininen Typus Mann zu
beobachten sei. Biologisch eindeutig als Mann festgelegt, der sich
zu Männern hingezogen fühlt, ergab es für diese Homosexuellen, die
weder für andere Männer (die heterosexuell waren) als
Sexualpartner infrage kamen noch für Schwule (weil er ihnen zu
feminin war), durchaus Sinn, als Frau durchzugehen, was ihnen
mehr Möglichkeiten eröffnete, für Männer attraktiv zu sein, die das
eigentliche Objekt ihrer Begierde waren. Blanchard prägte für diese
Kategorie den Begriff »homosexuelle Transsexuelle«.
In seinem Buch erforschte Bailey noch einen weiteren Typus, der
sich als transsexuell identifizierte. Dabei handelt es sich um Männer,
die von Anfang an heterosexuell orientiert waren, vielleicht sogar
geheiratet und Kinder gezeugt hatten: Wenn diese Männer dann
verkünden, zur Frau werden zu wollen, ist das ein Schock für ihr
gesamtes Umfeld. Auch wenn sie nach außen nicht den kleinsten
Hauch von Feminität verkörpert haben, war ihnen insgeheim schon
bewusst, dass sie die Vorstellung sexuell erregt, sich als Frau zu
geben oder im Extremfall eine Frau zu werden. Bailey konnte
anhand einer Reihe von Belegen nachweisen, dass die erste der
beiden Formen von Transgeschlechtlichkeit weltweit weiter verbreitet
ist als die zweite. In vielen Kulturen gilt sie als eine mögliche
»Antwort« auf die komplexe Problematik, die sehr feminine –
meistens schwule – Männer darstellen. Und obwohl sich Bailey
ebenso wie Blanchard des Unterschieds zwischen diesen Männern
und denen, die ausschließlich von autogynophilen Impulsen geleitet
werden, bewusst sind, verurteilen oder kritisieren sie beide keine
dieser Gruppierungen. Ganz im Gegenteil, sie treten für sie ein und
fordern, dass beide die gleichen Rechte, die gleiche Unterstützung
bekommen, und man sich um sie kümmert. Trotzdem trat Bailey auf
eine gewaltige Landmine.
In den Jahren, bevor sein Buch erschien, gab es zahlreiche
Versuche der Trans-Aktivisten, den Faktor Sex aus der Gleichung zu
nehmen, was auch der Grund dafür war, dass nicht mehr die Rede
von Transsexuellen, sondern von Transgender war. Alice Dreger
schrieb in ihrem Buch zu diesem Thema: »Vor Bailey steckten
zahlreiche Trans-Aktivisten sehr viel Zeit in die Desexualisierung und
Depathologisierung ihrer Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, um
gleich mehrere Ziele zu erreichen: Wegfall der Stigmatisierung,
verbesserte medizinische und psychologische Betreuung und
grundlegende Menschenrechte für Transmenschen.«233 Dreger hat
diesen Kampf mit dem erfolgreichen Einsatz der Schwulenbewegung
verglichen, die bei ihrem Kampf um die rechtliche Gleichstellung von
Homosexuellen mit Heterosexuellen dafür sorgte, dass der Fokus
nicht mehr darauf lag, was Schwule im Schlafzimmer tun, sondern
wie sie sich in allen anderen Räumen verhalten.
Da einige Trans-Aktivisten befürchteten, Baileys Buch könnte
einen Rückschlag für ihre Bewegung bedeuten, riefen sie flugs eine
Kampagne ins Leben, die auch von einigen Akademikern unterstützt
wurde, und machten sich daran, nicht nur seine Arbeit zu kritisieren
und zu torpedieren, sondern auch seine Entlassung als Professor an
der Northwestern University zu fordern. Unter seinen heftigsten
Kritikern war auch Andrea James aus Los Angeles, die als Beraterin
für Transgender-Fragen tätig war. Ihre Rache an Bailey sah so aus,
dass sie Fotos seiner Kinder (als sie die Grund- und Mittelschule
besuchten) auf ihrer eigenen Webseite veröffentlichte und sie mit
eindeutig sexuellen Bildunterschriften versah.234 Neben anderen,
ebenso durchgeplanten Angriffen taten sich mehrere Leute
zusammen und behaupteten, sie wären in dem Buch falsch
dargestellt und wiedergegeben worden. Doch wie sich zeigte, kamen
sie darin überhaupt nicht vor. Auch die Nominierung durch LAMBDA,
eine Organisation für Schwulenliteratur, wurde rasch zurückgezogen.
Ein Freund von Bailey sagte, dass dieser durch die heftigen
Reaktionen auf sein Buch so »terrorisiert« wurde, dass es beinahe
einen anderen Menschen aus ihm gemacht hätte.235
All das geschah, obwohl Bailey nichts anderes getan hatte, als
einer bedeutenden Frage mit umfangreichen Recherchen zu Leibe
zu rücken und eine Antwort darauf zu finden, die den Leuten nicht in
den Kram passte. Denn für den größten Teil dieses Jahrhunderts
wurde die Vorstellung, dass Transgender in irgendeiner Weise mit
sexueller Lust zu tun haben könnte, mit Entrüstung – dies wäre eine
Verunglimpfung aller Betroffener – weit von sich gewiesen.
Die politisch korrekte Vorstellung lautet zurzeit, dass
Transmenschen keinerlei sexuelle Erregung aus der Tatsache
ziehen, dass sie transgender sind. Sie hassen alles Sexuelle
richtiggehend. Nichts könnte langweiliger sein. Im November 2018
verfasste Andrea Long Chu, eine selbsternannte »Essayistin und
Kritikerin« aus Brooklyn, einen Artikel in der New York Times über
die nächste Phase ihrer geschlechtsangleichenden Operation.
Schon die Schlagzeile verriet es: »Meine Neovagina macht mich
nicht glücklich. Aber das muss sie auch gar nicht.« Im Artikel selbst
geht Chu ins Detail: »Nächsten Donnerstag bekomme ich eine
Vagina. Der Eingriff dauert etwa sechs Stunden, die Genesung
mindestens drei Monate.
Bis zu meinem Todestag wird meine Vagina eine klaffende
Wunde für meinen Körper sein, was bedeutet, dass ihre Pflege sehr
schmerzhaft sein wird. Zwar will ich eine Vagina, aber es gibt keine
Garantie, dass es mich glücklicher macht. Und das erwarte ich,
ehrlich gesagt, auch gar nicht. Das hält mich nicht davon ab, eine
Vagina haben zu wollen.«236
Auch wenn die Arbeit von Anne A. Lawrence (eine selbsterklärte
Autogynophile237) und anderen zu Gegenwind führte, sorgt die
Vorstellung, dass Transsexualität und Autogynophilie eng
zusammenhängen, für ein beträchtliches Maß an Ärger unter den
Transgender-Aktivisten. Der Grund für diese Kehrtwende liegt auf
der Hand. Und es führt uns zurück zur Hardware-Software-
Problematik. Für bestimmte sexuelle Begierden ist entweder die
Soft- oder die Hardware verantwortlich. Doch es ist kein leichtes
Unterfangen, die Gesellschaft zu überzeugen, nahezu alle sozialen
und linguistischen Normen über Bord zu werfen, damit diese
sexuellen Gelüste einen Platz in ihr finden. Die Gesellschaft mag die
Betroffenen tolerieren. Und sie mag ihnen alles Gute wünschen.
Aber in dem Verlangen, Damenunterwäsche zu tragen, sieht die
Gesellschaft keinen Grund, jeden dazu zu bringen, völlig neue
Pronomen zu verwenden. Oder jede öffentliche Toilette umzubauen.
Oder Kinder in dem Glauben aufzuziehen, dass es keinen
Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt und dass Gender ein
soziales Konstrukt ist.
Wenn es Transmenschen größtenteils, hauptsächlich oder
ausschließlich um die Erotik ginge, dann sollte dieses Phänomen
genauso wenig Grund sein, die gesellschaftlichen Grundpfeiler
infrage zu stellen, wie das auch bei Menschen mit einem Faible für
Latex der Fall ist. Autogynophilie riskiert, dass Transsexualität als
Frage der Software betrachtet wird. Und genau das ist der Grund,
weshalb sich Widerstand regt. Denn – nicht anders als bei
Homosexuellen – zeichnet sich die Tendenz ab, dass bewiesen
werden soll, dass Transmenschen eben »so auf die Welt kommen«.
Was diese Sache komplexer macht als erwartet, ist die Tatsache,
dass das Verhalten vieler Transsexuellen (wie im Fall von Jan
Morris) nur einen Schluss zulässt: Der Wunsch, im Körper des
anderen Geschlechts leben zu wollen, kann keine reine Fantasie
und auch kein sexueller Kick sein.
Schließlich ist es schwer vorstellbar, dass es eine noch
weitreichendere Entscheidung geben könnte als die, eine irreversible
Operation durchführen zu lassen, die den Körper dauerhaft von
Grund auf verändert. Von keinem Mann, der sich freiwillig seinen
Penis abschneiden oder vielmehr zerlegen und dann umgestülpt in
die Neovagina einsetzen lässt, kann man behaupten, er würde dies
leichtfertig tun. Ein solches Prozedere dürfte also das krasse
Gegenteil eines Hobbys oder einer Frage des Lebensstils sein. Doch
selbst dieser Eingriff kann nicht als »Beweis« dafür herangezogen
werden, dass Transsexualität eine Frage der Hardware ist. Es gibt
Menschen, denen ist nichts zu extrem, als dass es sie abhalten
könnte, ein Bedürfnis zu stillen, das sie als authentisch empfinden.
Und damit wären wir bei der nächsten Frage angelangt: Muss das,
was ein Mensch oder auch viele Menschen für sich selbst als wahr
empfinden, auch von ihren Mitmenschen als wahr akzeptiert werden
oder nicht?

DER DURCHBRUCH DER TRANSMENSCHEN


Dieser Mangel an Beweisen ist ein Grund, weshalb manche Leute
glauben, Transsexualität sei Einbildung. Und diese Skepsis existiert,
obwohl die Gesellschaft als Ganzes ermutigt wird, die Forderungen
der Transmenschen in eigener Sache zu akzeptieren.
Im April 2015 outete sich der ehemalige Olympionike und Reality-
TV-Star Bruce Jenner als transsexuell und gab seine neue Identität
als Caitlyn Jenner bekannt. Quasi über Nacht wurde sie die wohl
bekannteste Transfrau der Welt. Nur ein paar Wochen später war sie
auf dem Titelblatt der Vanity Fair hinter der Textzeile »Nennt mich
Caitlyn« zu sehen.
Das Shooting der berühmten Fotografin Annie Leibovitz zeigte
sie in einem aufreizenden Seidenkorsett, das den Blick auf den
oberen Teil ihrer Brüste freigab, während der untere Teil, ihre, wie sie
der Welt ebenfalls mitteilte, noch vorhandenen männlichen
Genitalien verdeckte.
Leibovitz’ Foto kaschiert brillant den sichtbarsten Teil von
Jenners Anatomie. Sie hat die Beine verschränkt, was die
verräterische Ausbuchtung gut versteckt, die Arme hat sie hinter
ihrem Oberkörper versteckt, was die Schultern und den Bizeps des
ehemaligen Zehnkämpfers schmaler wirken lässt. Ein Jahr zuvor war
die transsexuelle Schauspielerin Laverne Cox auf dem Titelblatt des
Magazins Time zu sehen, die Schlagzeile lautete: »Der
Transgender-Wendepunkt: Amerikas nächste Bürgerrechtsfront«.238
Es lag in der Luft, dass sich in diesem Punkt etwas tun müsste. Wie
Ruth Hunt von der Organisation Stonewall so schön sagte, als sie
ihren Tätigkeitsbereich auf Kampagnen für Transmenschen
ausdehnte: »Jetzt sind sie dran.«239 Das Thema Homosexualität war
im Grunde vom Tisch.
Und offenbar wusste jeder, was sich in Sachen Rassismus und
Frauen getan hatte. Manche Leute – insbesondere aber etablierte
Printmagazine mit fallenden Auflagen – schienen reif für eine neue
Bürgerrechtskampagne. Caitlyn Jenners Timing war, wie sich zeigen
sollte, perfekt.
2015 war das Jahr, in dem die Rechte von Transmenschen, ihre
Präsenz und ihre Forderungen in der Gesellschaft in den Fokus
rückten, und Jenner überall dabei. Abgesehen von der
allgegenwärtigen Fotoserie von Leibovitz hatte man den Eindruck,
Jenner hätte einen Durchmarsch hingelegt und jede einzelne
Preisverleihung in ganz Amerika besucht. Die Mode- und
Frauenzeitschrift Glamour erklärte sie zu einer ihrer »Frauen des
Jahres«. Bei The ESPYS [Excellence in Sports Performance Yearly
– Wahl zum »Sportler des Jahres«] erhielt Jenner den Courage
Award, eine Auszeichnung für ihren Mut. Sie wurde von den
anwesenden Sportlern und Sportlerinnen mit Standing Ovations
gewürdigt. Wie alles andere auch an dieser sich entwickelnden
Trans-Story – jedes Detail, jedes Fragment hatte das Potenzial,
jedermann mitzureißen, selbst jene, die vor diesem Ansturm
zurückschreckten. Oder vor der Huldigung.
Während The ESPYS und auch im Anschluss daran bezog der
Quarterback Brett Favre in den sozialen Medien – die restlichen
folgten auf dem Fuß – Prügel, weil er Jenner nicht begeistert genug
Beifall gezollt hatte. Obwohl sich Favre durchaus an den Standing
Ovations für Jenner beteiligt hatte, war er doch der Erste gewesen,
der sich setzte, vor allen anderen; und diese Szene wurde von einer
Kamera aufgezeichnet.
Die New York Post widmete seiner mangelnden Begeisterung
einen ganzen Artikel und prangerte sein unverzeihliches Vergehen
an mit der Überschrift: »Brett Favre vermiest allen Gästen der
ESPYS die Laune«.240 Niemand schien sicher zu sein, wie viele
Sekunden genau man einer Transfrau Beifall zollen muss, die
gerade einen Preis für ihren Mut bekommt. Vielleicht hätte man sich
mit der Frage nach den Benimmregeln beim Politbüro der
Kommunistischen Partei erkundigen sollen. Und was lernen wir
daraus? Wird einem Transmenschen frenetisch Beifall geklatscht,
sollte man sicherstellen, dass man der Letzte ist, der anschließend
wieder Platz nimmt.
Mit unvorhersehbarer Regelmäßigkeit tauchten weitere
Bruchstücke der Kontroverse über Jenner auf. Im Juli 2015 war
neben weiteren Gästen auch der damals 31 Jahre alte konservative
Kommentator Ben Shapiro in der Show Dr. Drew On Call auf HLN zu
sehen, um über Jenners Courage Award zu diskutieren. Neben
Shapiro saß Zoey Tur, die als »Transgender-Reporterin« vorgestellt
wurde. Sie war früher einmal ein Mann gewesen. Nach ein paar
Minuten stellte Dr. Drew Zoey Tur die Frage, ob Jenner wirklich
»mutig« sei. Tur vertrat die Ansicht: »Mutig zu sein heißt, man selbst
zu sein« und »transgender zu sein, ist das Mutigste, was man sich
nur vorstellen kann«.
An diesem Punkt schaltete sich Shapiro ein und meinte, Jenner
so hochleben zu lassen, wäre eine Täuschung der Gesellschaft.
Daraufhin giftete ein weiterer Gast, eine ziemlich aufgebrachte Frau:
»Was heißt hier Täuschung?« Shapiro machte unbekümmert weiter
und bezeichnete Jenner immer wieder als »er« und nicht als »sie«.
Fakt ist nun mal, dass Jenner 66 Jahre lang Bruce war und erst drei
Monate lang Caitlyn. Trotzdem griffen alle Gäste vereint Shapiro an
und warfen ihm vor, unhöflich zu sein. Dieselbe Frau warf ihm an
den Kopf: »Es heißt ›sie‹. Sie sind nicht höflich zu den
Personalpronomen. Das ist respektlos.«
Shapiro wollte sich offensichtlich nicht mit der Frage
auseinandersetzen, wie man zu Pronomen höflich sein kann, und
beharrte auf seinem Standpunkt. »Von wegen Respektlosigkeit. Den
Fakten sind die Gefühle egal. Jedes einzelne Chromosom, jede
Zelle in Jenners Körper ist männlich, mal abgesehen von ein paar
seiner Samenzellen. Er hat noch alles, was einen Mann ausmacht.
Wie er sich tief im Innern fühlt, ist völlig irrelevant für sein
biologisches Ich.« An diesem Punkt der Diskussion machte ein
anderer Gast, der zuvor noch milde Kritik an Jenners Auszeichnung
geübt hatte (sein Vorwurf bezog sich hauptsächlich darauf, dass
Jenner reich und weiß war und sich in der Vergangenheit nicht
wirklich für die LGBT-Themen eingesetzt hatte), klar, dass er nicht
mit »an Bord sei«, was das soeben Gesagte anbelange. Vielleicht
war diese Distanzierung das Klügste, was er angesichts dessen,
was dann geschah, hatte tun können.
Der Moderator versuchte, die Anwesenden zu beruhigen und bat
Tur, etwas zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die
Geschlechtsidentitätsstörung zu sagen. Tur kam dieser Bitte gerne
nach und sagte: »Wir wissen beide, dass Chromosomen nicht
zwangsläufig bedeuten, dass man ein Mann oder eine Frau ist.« Sie
berührte Shapiro gönnerhaft an der Schulter und sagte dann: »Sie
haben keine Ahnung, wovon Sie reden. Sie sind kein Genetiker.«
Shapiro versuchte daraufhin zu klären, ob sie dann überhaupt über
Genetik reden dürften oder nicht, wurde aber erneut unterbrochen,
sodass er spöttisch zu Tur sagte: »Und? Wie ist es um Ihre Genetik
bestellt, Sir?« In dem Augenblick packte Tur Shapiro am Nacken und
drohte ihm: »Das nehmen Sie zurück, oder Sie brauchen einen
Krankenwagen!«
Ein davon ziemlich unbeeindruckter Shapiro entgegnete: »Im
Rahmen einer politischen Diskussion ist so ein Verhalten ziemlich
unangemessen.« Im Normalfall wäre man davon ausgegangen, dass
die anderen Gäste zumindest mit Stirnrunzeln auf Turs
Gewaltandrohung reagieren würden, doch weit gefehlt. Stattdessen
wandten sich alle gegen Shapiro. »Um ehrlich zu sein, Sie sind ganz
schön unhöflich. So geht es ja nicht!«, rief einer der männlichen
Gäste. Ein weiterer Mann klärte Shapiro erbost auf, dass die Anrede
einer Frau mit »Sir« »unerhört verletzend« sei.
Daraufhin wurde wieder Tur das Wort erteilt, die die Gelegenheit
nutzte und Shapiro anraunzte: »Sie sind ja voller Hass. Und sonst
gar nichts. Sie sind ein kleiner Mann.«
Shapiro war die ganze Zeit über ruhig geblieben. Er hatte sich
Tur gegenüber nicht wie ein Troll benommen. Selbst als sie ihm
Prügel angedroht hatte, hatte er nichts dergleichen gesagt wie: »Das
ist aber kein sehr damenhaftes Benehmen!« Er hatte nicht gewartet,
bis sie ihm einen Boxhieb versetzte, um dann zu triumphieren:
»Mensch, Sie schlagen ja zu wie ein Mann!« Er hatte nicht einmal
darauf hingewiesen, wie seltsam es war, dass eine Frau, die ihrem
Körper eine Menge zugemutet hatte, nun versuchte, ihn aufgrund
seiner Körpergröße zu »entmannen« und lächerlich zu machen.
Shapiro hatte lediglich auf seinem Standpunkt beharrt, dass die
Biologie ein nicht zu unterschätzender Faktor sei. Noch vor einigen
Jahren hätte sich niemand darüber echauffiert, doch inzwischen war
so eine Meinung – angefacht von den Medien und den Promis –
nicht nur verpönt, sondern so undenkbar, dass eher jemand in
Schutz genommen wurde, der seinem Gesprächspartner Prügel
angedroht hatte, als jemand, der »unhöflich gegenüber Pronomen«
war.
Die Tatsache, dass der Marsch in eine Richtung so schnell ging
und fast schon wieder zu Ende war, hatte mehrere Gründe. Einer
davon (wie auf dem Titelblatt des Magazins Time veranschaulicht)
war die Angst, das Misstrauen oder die Hoffnung, dass die
Transmenschenbewegung die neue Schwulen-, Frauen- oder
Bürgerrechtsbewegung sein könnte und dass jeder, der sich dabei
auf die falsche Seite stellen würde, das im Rückblick einmal bereuen
werde. Ihm würde mit der gleichen Verachtung begegnet, wie das
die Gesellschaft mit denen getan hatte, die sich damals gegen diese
Bewegungen gestellt hatten. In gewisser Weise sind diese
Bewegungen ja auch ähnlich. Unterscheiden sich Homosexuelle in
genetischer Hinsicht nicht von Heterosexuellen, dann ist der einzige
Unterschied das Verhalten. Schwule sind schwul, wenn sie von sich
behaupten, sie wären es, und wenn sie sich wie Schwule benehmen.
Ähnlich, möglicherweise, sind Transmenschen transsexuell,
wenn sie das von sich behaupten, und dann braucht es auch keine
Äußerlichkeiten oder Biomarker, die das beweisen könnten. Das wird
ja von Schwulen auch nicht erwartet (oder verlangt).
Doch es gibt einen großen Unterschied. Wenn sich eine Lesbe in
einen Mann verliebt oder ein Schwuler in eine Frau oder wenn eine
heterosexuelle Frau oder ein heterosexueller Mann sich in jemanden
des gleichen Geschlechts verlieben, dann ändert das nichts an ihrer
biologischen Ausstattung, ihrer Hardware. Ein Schwuler, der zum
Hetero wird, oder ein Hetero, der homosexuell wird, tut nichts, was
von Dauer wäre oder irreversibel.
Wohingegen der Endpunkt für Transmenschen nicht mehr
rückgängig zu machen ist und ihr bisheriges Leben auf den Kopf
stellt. Leute, die ihrer Sorge um Transmenschen Ausdruck verleihen
oder im Zusammenhang mit Transsexualität zur Vorsicht raten,
streiten ja keineswegs »ihre Existenz« ab oder möchten sie zu
Menschen zweiter Klasse degradieren, geschweige denn, dass sie
wollen, dass alle Transmenschen (wie kann ihnen so eine
Behauptung unterstellt werden?) Selbstmord begehen sollten. Das
Einzige, worauf sie drängen, ist es, vorsichtig zu sein bei etwas, das
nicht in Gänze geklärt und nicht rückgängig zu machen ist.
Eine weitere Sorge, über die in der Öffentlichkeit nur mit
vorgehaltener Hand gesprochen wird, hängt mit ebendieser
Irreversibilität zusammen. Die Nachricht, dass es immer mehr Kinder
gibt, die von sich behaupten, an einer Geschlechtsidentitätsstörung
zu leiden, und die zunehmenden Hinweise auf einen »Clustereffekt«,
also die Häufung solcher Äußerungen aufgrund von Nachahmung
(das heißt, Kinder in der Schule teilen mit, im falschen Körper zu
stecken, woraufhin die Anzahl der Transkinder in die Höhe schnellt),
bedeutet, dass Eltern und andere sich wundern und fragen, wohin
das alles noch führen wird. Die Frage, ab welchem Alter der Zugang
zu einer Hormontherapie oder geschlechtsangleichenden Operation
möglich sein sollte, muss umfassend geklärt werden. Nicht nur, weil
Fälle bekannt werden, dass Jugendliche von sich dachten, an einer
Geschlechtsidentitätsstörung zu leiden, sich dann aber zeigte, dass
dies nur vorübergehend war – viele von ihnen werden (oder sind)
homosexuell. Und so folgt ein Problem auf das andere. Schließlich
will niemand an die Zeit erinnert werden, als Schwulen auf ihr Outing
hin gesagt wurde, das sei nur eine Phase. Was ist aber, wenn
transgender (zumindest in Einzelfällen) genau das ist? Und was,
wenn das zu spät erkannt wird? Diese Fragen haben nichts mit
»Transphobie« zu tun, sondern vielmehr mit dem Wohl von Kindern
und Jugendlichen. Allein der Versuch, solche Sorge als krankhaft
abzustempeln, macht die Gefahr, über diesen Stolperdraht zu
stürzen, noch größer, als sie eh schon ist.

DIE GESCHICHTE EINES JUNGEN MANNES


Selbstredend ist das ein höchst sensibles Thema, weshalb ich den
Namen der Person geändert habe, um die es gleich geht. Wir wollen
ihn »James« nennen. Es gibt ihn wirklich, sein Fall ist nicht
ungewöhnlich, und seine Geschichte sollte auf jeden Fall Teil der
derzeitigen öffentlichen Diskussion sein.
James, mittlerweile Mitte 20, kam im Vereinigten Königreich zur
Welt und ist dort groß geworden. In der Pubertät begann er, sich zur
Schwulenszene hingezogen zu fühlen, vor allem zur Drag-Szene. Er
hatte viele schwule Freunde und verbrachte ab 16 jede Menge Zeit
in den Drag-Clubs. Er mochte die Menschen, die Szene und die
innige Verbundenheit.
Für ihn waren die Menschen, die er dort antraf, »eine verlorene
Generation«, die sich in dieser Welt zusammentaten, weil sie Angst
hatten, ihre Eltern würden sie verstoßen, wenn diese wüssten, dass
sie schwul waren oder gerne Frauenklamotten trugen. Kein Wunder,
dass sie gemeinsam nicht nur jede Menge Spaß miteinander hatten,
sondern auch wie eine »Familie« waren. Schließlich probierte auch
James, wie es so als Dragqueen ist. Zur gleichen Zeit freundete er
sich mit jemandem an, der Anfang 20 war und eine
geschlechtsanpassende Operation – vom Mann zur Frau – hinter
sich hatte. James fand sie einfach nur toll. Mit etwa 18 ging James
zu seinem Hausarzt und nahm all seinen Mut zusammen. »Ich
glaube, ich stecke im falschen Körper. Ich glaube, ich wäre lieber
eine Frau.« In den kommenden 18 Monaten machte sich James im
ganzen Land auf die Suche nach einem Arzt, der besser
nachvollziehen konnte, was er gerade durchmachte, als sein
Hausarzt. Schließlich wurde er mit 19 an eine psychosexuelle
Beratungsstelle in Manchester verwiesen und machte eine
Psychoanalyse, die dreieinhalb Stunden (!) dauerte. Er wurde zu
seinem Sexleben befragt, zu seinem Verhältnis zu seinen Eltern und
dergleichen mehr. Er war ein kleines bisschen irritiert darüber, dass
er so viel Intimes von sich preisgeben sollte. Für die Therapeutin war
die Sache klar. »Sie sind transsexuell.« Sogleich wurde er an die
Klinik für Geschlechtsidentität am Charing Cross Hospital in London
verwiesen. Im Wartezimmer saß eine bunte Gesellschaft, »vom
höchst femininen Mann bis zu Bob der Baumeister mit einer
Perücke«. Sechs Monate später wurde ein Workshop für 20
Transsexuelle veranstaltet. Der Berater erklärte ihnen im Detail, was
sie alle – nach Auffassung des National Health Service –
hierhergebracht hätte. Ihnen wurde (ebenso wie Dr. Benjamin es zu
Jan Morris gesagt hatte) erklärt: »Wir wissen, dass das Problem das
Gehirn ist. Da wir das nicht umoperieren können, tun wir unser
Bestes, den Körper ans Gehirn anzupassen.« So und nicht anders
lautete die Aufgabe des britischen staatlichen Gesundheitsdienstes
im Umgang mit James und den anderen. Sechs Monate nach
diesem Workshop hatte er sein erstes Gespräch unter vier Augen,
bei dem es ans Eingemachte ging. Es wurden Fragen über seine
Beziehungen und die Arbeit gestellt. Offenbar war die Frage der
Beständigkeit in seinem Leben von Bedeutung. James wurde an
Endokrinologen verwiesen, die seinen Testosteronspiegel mehrmals
bestimmten. Dass der Wert an einem Tag sehr niedrig war (niedriger
als sonst), wurde als Beweis für seine Geschlechtsidentitätsstörung
angesehen, das nach einer Lösung schrie. Im Nachhinein kommen
James mehrere Dinge spanisch vor. Zum einen wurde ihm zu
keinem Zeitpunkt eine Therapie angeboten. Wie immer er sich auch
fühlte, es wurde akzeptiert. Und da war noch etwas. »Irgendwie lief
es zu rund«, sagt er heute. »Nie wurde Druck ausgeübt, nie wurde
mir auf den Zahn gefühlt.«
Offenbar genügte, dass James zwei Jahre lang als Frau gelebt
hatte, als Beweis dafür, dass er reif für die nächste Stufe war. Da die
NHS-Gespräche nur alle sechs Monate stattfinden, hatte er diese
magische Grenze nach wenigen Treffen erreicht. Und schon war es
an der Zeit, über eine Hormonersatztherapie zu sprechen. Dazu
James: »Als Patient, der nach ihren Spielregeln spielt, ist es
geradezu lächerlich einfach, an diese Hormone ranzukommen. Man
braucht nur zwei Mal im Jahr dort vorzusprechen und abzuwarten.«
Keine Frage, dass alle Mitglieder dieser Gruppe und Freunde aus
der Szene einander Tipps geben, wie sich die nächste Stufe
erreichen lässt.
James wurde Östrogen verabreicht, täglich in Tablettenform und
zusätzlich als Injektion. Was er und andere über Erfahrungen mit
dieser Behandlung erzählen, dürfte das Ende für die Behauptung
bedeuten, dass sich Mann und Frau im Wesentlichen nicht
voneinander unterscheiden.
In jedem anderen Kontext würde seine Beschreibung, wie sich
Östrogen auf seinen männlichen Körper auswirkt, als höchst
frauenfeindlich und sexistisch gelten. James dürfte es nach der
Einnahme von Östrogen und Antiandrogenen (Testosteronblocker)
nicht anders ergangen sein als allen anderen Mitpatienten. Er wurde
viel emotionaler als vorher. »Ich habe viel geweint.« Seine Haut
wurde weicher, und sein Körperfett verteilte sich an anderen Stellen.
Doch ihm fielen auch noch andere Dinge auf. Er begann auf einmal,
andere Filme und andere Musik zu mögen – und auch seine
sexuellen Vorlieben änderten sich.
James nahm das Östrogen über ein Jahr. Er war ein
Spätentwickler, und es wurde spekuliert, ob er noch in der Pubertät
war, als er mit der Hormoneinnahme begann. Es fanden zudem zwei
Gespräche statt – eines über Skype, das andere im persönlichen
Kontakt –, in denen geklärt wurde, ob er sich bereit für die nächste
Phase fühlte. Ihm war klar, dass nichts und niemand die NHS zur
Eile zwingen könnte, dennoch besprachen sie die Möglichkeit,
wegen einer privat finanzierten geschlechtsangleichenden Operation
ins Ausland zu gehen. Ihm war von mehreren Leuten eine Klinik in
Marbella an der Costa del Sol empfohlen worden, und James
meinte, der NHS hätte weder versucht, ihn darin zu bestärken, noch,
ihn davon abzuhalten, diesen Weg einzuschlagen. Er bekam
Informationen zu den Kosten des Eingriffs, den Medikamenten und
dem Flug mitgeteilt. »Ich war kurz davor, die Operation durchführen
zu lassen«, erzählte er mir. »Doch ich bin heilfroh, dass ich es nicht
getan habe.«
In der ganzen Zeit seiner Hormonbehandlung, während er sich
auf die nächste Phase vorbereitete, waren ihm die
unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf gegangen. Im Prinzip
hatte James immer nur eine Seite der Medaille kennengelernt. Seine
Freunde aus der Transszene hatten ihm aufgezeigt, welche
Möglichkeit ihm offenstand. Der NHS hatte seine Entscheidung nicht
ernsthaft angezweifelt. In ihren Augen war er jemand mit einem
Problem, das gelöst werden musste. Doch James suchte im Internet
nach Alternativen – und wurde fündig. Über alternative Medien
entdeckte er YouTube-Stars und andere, die seine Entscheidung
hinterfragten – darunter auch Leute, die jünger und hipper waren, als
er dachte. Außerdem kämpfte er mit seinem Glauben. Er war zu
einem liberalen Christen erzogen worden, und jetzt stellte er Gott
und die Welt infrage. »Wenn es Gott nicht gibt, dann hat er auch
meinen Körper nicht erschaffen.« Andererseits kam es ihm so vor,
als hätten Transsexuelle, die von sich sagten, sie seien im falschen
Körper gefangen, eine ziemlich egozentrische Sicht der Dinge, als
ob ihnen eine »Prüfung auferlegt worden wäre«. Wenn das
Universum doch reiner Zufall war, so fragte er sich, »weshalb sollte
ich dann so einen drastischen Schritt gehen, nur um ein anderer zu
werden«? Er begann sich zu fragen, ob die Antwort auf manche
seiner Fragen weniger in der Chirurgie als vielmehr in der
Psychologie zu finden seien. Vor allem aber setzte er sich mit der
Frage auseinander: »Was kann ich tun, um meinen Körper so zu
akzeptieren, wie er ist?« Von all den Therapeuten und Beratern, mit
denen er je über seine Transsexualität gesprochen hatte, hatte ihm
keiner geraten, sich Fragen wie diesen zu stellen. »Ich wurde kein
einziges Mal aufgefordert, in mich zu gehen.«
Doch da war noch etwas anderes, was James bewog, sich zu
fragen, ob eine Geschlechtsumwandlung wirklich das war, was er
unbedingt wollte. Er und seine Freunde wussten ganz genau, dass
jeder, der jahrelang Hormone schluckt, letzten Endes mit
irreversiblen Folgen zu rechnen hat. Im Normalfall tritt das nach etwa
zwei Jahren einer Antiandrogentherapie ein. Als James kurz
davorstand, wurde er nervös. Der NHS konnte ihm keinen
Notfalltermin geben, um mit einem Arzt darüber zu sprechen, da der
NHS mehr als ausgelastet damit war, mit Patienten zu reden, die alle
eine geschlechtsangleichende Operation wollten. Deshalb hätte
James eigentlich noch weitere sechs Monate auf einen Termin
warten müssen. Doch das wollte er nicht. Sein Problem waren nicht
nur die körperlichen Veränderungen, bei denen die Gefahr bestand,
dass sie sich nicht mehr rückgängig machen ließen, sondern auch
biologische.
Nach einer über zweijährigen Einnahme von Antiandrogenen
werden die meisten Männer unfruchtbar, können also nie Vater
werden. James fragte sich nicht nur, ob er wirklich eine Frau werden,
sondern auch, ob er nicht eines Tages Kinder zeugen wollte. Er hatte
damals einen Freund, und der war nicht überzeugt, dass James
wirklich sein Geschlecht ändern wollte. Sein Freund hielt ihn für
schwul, wie er es selbst auch war. James selbst hatte den Eindruck,
als stünde er kurz davor, dass alle hormonell bedingten Änderungen
bald irreversibel sein könnten.
Nachdem er sich intensiv mit der ganzen Problematik
auseinandergesetzt hatte, kam er – ohne ärztliche oder
therapeutische Hilfe – zu dem Schluss, die Hormone abzusetzen.
Eine, wie er es nannte, »sehr intensive« Erfahrung. Die mit dem
Absetzen der Hormone verbundenen Veränderungen waren
»stärker« als die, als er mit der Hormonbehandlung angefangen
hatte. Er litt unter extremen Stimmungsschwankungen.
Während er Östrogene schluckte, war er näher am Wasser
gebaut und sein Filmgeschmack hatte sich geändert. Und jetzt, da
sein Körper mit Testosteron überflutet wurde, machten ihm ebenso
»sexistische« Folgen zu schaffen. Sein Verhalten änderte sich – wie
allgemein bekannt sein dürfte. Er fuhr schneller aus der Haut, wurde
aggressiver und – ja – auch geiler, viel geiler. Inzwischen ist es über
zwei Jahre her, dass er mit dem Östrogen aufgehört hat. Doch noch
immer spürt er die Folgen dieser »Übergangszeit« zwischen den
beiden Geschlechtern. Und er ist sich nicht sicher, ob er nun steril ist
oder nicht. Auffälliger ist jedoch, dass er noch immer einen Busen
hat, den er allerdings als »Brustgewebe« bezeichnet. Als ich ihn
darauf anspreche, zieht er schüchtern sein T-Shirt zur Seite und
zeigt mir ein Band, das er dauerhaft trägt, um seine Brüste flacher
wirken zu lassen. Er trägt nur sackartige Oberteile und niemals
enganliegende Kleidung. Er ist der Meinung, dass eine Brust-OP
ansteht, um das Brustgewebe endgültig loszuwerden.
Da inzwischen viel Zeit ins Land gegangen ist, sieht er viele
Dinge mittlerweile aus einer anderen Perspektive. »Ich bin
überzeugt, dass es Transsexualität wirklich gibt.« Allein die Anzahl
an Leuten, die sich derzeit als transgender sehen, lässt keinen
anderen Schluss zu. Doch er sagt auch, dass an die ganze Sache
nicht mit der erforderlichen Sorgfalt und Gründlichkeit
herangegangen wird. Transsexualität wird an Dingen festgemacht
wie – und das waren seine Worte! – »Aha, Sie mögen also kein
Rugby. Interessant!« Als er dem Therapeuten in Manchester
erzählte, dass er sich nicht mit allen Jungs an der Grundschule
verstanden habe, lautete dessen Kommentar: »Aha.« Übrigens
auch, als er schilderte, dass er gerne das Pocahontas-Kostüm
seiner Schwester getragen habe.
»Es kam mir schon immer irgendwie komisch vor, dass der NHS
nicht tiefer gegraben hatte.« Von dem Augenblick an, an dem er
begonnen hatte, Gespräche mit Experten zu führen, hatte er das
Gefühl, »auf einem Fließband zu liegen«. Der NHS war völlig
überfordert, zumal es in ganz Großbritannien nur zwei Ärzte gibt, die
geschlechtsangleichende Operationen durchführen. Einer von ihnen
hat einen Vollzeitjob, der andere arbeitet in Teilzeit. Doch die Ärzte
versicherten ihm immer wieder, dass der NHS angesichts von 3000
Patienten und weiteren 5000 auf der Warteliste beschlossen hatte,
noch viel mehr Leute entsprechend auszubilden, um mit der
Riesennachfrage nach Geschlechtsumwandlungen fertigzuwerden.
Vielleicht zögern ja manche Patienten, wie James es getan hat,
wenn das Fließband kurz vor dem OP-Tisch anhält. Doch selbst
dann hat alles, was davor war, seinen Preis, wie uns James
sackartige Klamotten verraten. James ist schwul – »sehr schwul«,
wie er selbst in einem Punkt von sich sagt. Er hat das Gefühl, er sei
schon immer so eine Art »soziales Chamäleon« gewesen.
»Vermutlich haben mich die Leute, mit denen ich viel Zeit verbracht
habe, irgendwie beeinflusst. Ich will aber keinesfalls zu den Leuten
gehören, die allen Ernstes behaupten, ein Transsexueller ergibt viele
Transsexuelle.« Das ist seiner Meinung nach zu eng dran an der
Behauptung von früher, ein Schwuler erzeuge mehr Schwule.
Obwohl da schon was dran sei. »So was in der Richtung von:
›Mein cooler Freund, der Transsexuelle.‹« Wie viele andere ist auch
James verwirrt, was transsexuell bedeutet und was nicht. »Wir
müssen auf jeden Fall mehr darüber wissen. Zum Beispiel, weshalb
sich die Suizidraten vor und nach einer geschlechtsangleichenden
Operation nicht ändern. Wir haben uns zu wenig Zeit gelassen. Aber
das war wohl so eine Art Reflex.
Wir haben einfach Angst, auf der falschen Seite zu landen.«
Doch er weiß auch, dass es für ihn schlimmer hätte kommen
können. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, was mit mir alles hätte
passieren können. Wer weiß, ob ich dann noch am Leben wäre.«
Wenn man sich James’ Geschichte anhört – die der vieler
anderer Menschen ähnelt –, sticht vor allem eine Sache ins Auge:
Wir tun so, als wüssten wir verdammt viel über Transsexuelle. Doch
eines wird nach James’ Geschichte klar: Wie verdammt wenig wir in
Wahrheit wissen, auch wenn wir das Gegenteil behaupten. Wie
schnell wir schon Antworten auf Fragen bereithaben, die noch nicht
einmal gestellt wurden. Aber da ist noch etwas: Es ist unglaublich,
wie das Thema Transsexualität alle möglichen heftig umstrittenen
Themenkomplexe unserer Zeit weiter durchdringt.
Aktivisten der Schwulenbewegung machen seit Jahren geltend,
dass jeder homosexuell sein kann und dass die Vorstellung,
Schwule seien feminine Männer und Lesben maskuline Frauen,
nicht nur veraltet und ignorant sei, sondern auch vorurteilsbeladen
und homophob. Und dann taucht eine andere Bewegung wie aus
dem Nichts auf, deren Forderungen denen der Homosexuellen so
ähnlich sind, dass sich ihre Anhänger auch »schwul« nennen. Doch
hinter der Trans-Bewegung verbirgt sich eine viel ungeheurere
Vorstellung als die, dass bestimmte Verhaltensweisen typisch für
Homosexuelle seien. Die Rede ist davon, dass hier behauptet wird,
Leute, die ein bisschen zu feminin sind oder die sich nicht für die
»richtigen« Sportarten begeistern können, nicht nur schwul sind,
sondern wahrscheinlich im falschen Körper stecken und tief im
Inneren eben Frauen oder Männer sind. Angesichts dessen, was bei
der Trans-Bewegung so alles mitschwingt, ist es überraschend, dass
so wenige Lesben und Schwule dagegen protestiert haben.
Schwulengruppen haben ihnen generell zugestimmt, dass
Transsexuelle innerhalb ihres Orbits Rechte haben und Teil des
gleichen Kontinuums und Akronyms sind.
Doch viele Forderungen und Behauptungen der Transsexuellen
laufen denen der Schwulenbewegung nicht nur zuwider, sondern
untergraben sie ungemein. »Manche sind schwul oder auch
transsexuell. Oder andersherum. Find’ dich damit ab!«
Doch es sind nicht nur die Schwulen, gegen die Transmenschen
anrennen. Anstatt, wie es die Intersektionalisten gefordert haben, die
unterschiedlichen ineinander verflochtenen Unterdrückungsformen
zu entwirren, platzieren die Transmenschen die Ziele ihrer
Bewegung genau da, wo bereits größtmögliche Entspannung
erreicht worden ist, und produzieren so einen beachtlichen Haufen
an logischen Widersprüchen.
2014 ereignete sich am Wellesley College ein schier
unglaublicher Vorfall, als eine Studentin sich an dem reinen Frauen-
College einschrieb und bei ihrer Ankunft verkündete, dass sie eine
»genderqueere, im Wesentlichen aber maskuline Person« sei, die
»Timothy« genannt werden und mit männlichen Personalpronomen
angeredet werden möchte. Obwohl Timothy sich als junge Frau an
Hillary Clintons Alma Mater beworben hatte, hatten seine
Kommilitonen Berichten zufolge kein Problem mit ihrem
Mitstudenten. Zumindest solange nicht, bis Timothy verlauten ließ,
dass er sich für die Position des Koordinators für multikulturelle
Angelegenheiten aufstellen ließe, dessen Aufgabe es ist, auf dem
Campus eine »Kultur der Diversität« zu fördern. Man hätte glauben
können, dass eine »genderqueere, im Wesentlichen aber maskuline
Person« die perfekte Kandidatin dafür sei. Doch Berichten zufolge
mehrte sich die Zahl an Studentinnen, die befürchteten, dass mit
Timothy in dieser Position das Patriarchat am College fortschreiben
würde. Daraufhin wurde eine Kampagne ins Leben gerufen, die
forderte, die Studentinnen mögen der Abstimmung fernbleiben.
Eine der Mitstreiterinnen sagte später: »Ich war mir sicher, er
würde sich in diesen Job reinknien, aber es fühlte sich einfach
schräg an, dass ausgerechnet ein weißer Mann dieses Amt
bekleiden sollte.«241
Man könnte sagen, Timothy hätte den Kreislauf der
Unterdrückung einmal komplett durchlaufen. Von der Frau über den
Transsexuellen zum weißen Mann – der Personifizierung des
weißen Patriarchats. Von der Minderheit zum Unterdrücker. Wo
Frauen, die zu Männern werden, eine Karambolage verursachen
können, produzieren Männer, die zu Frauen werden, ihre eigene –
ganz offenbar zusammen mit Frauen, die bereits als solche geboren
wurden. Und in diesen Fällen bleiben Frauen – anders als die
Schwulen, für die das G in LGBT steht –, die das Gefühl haben, es
wird auf ihrem Terrain herumgetrampelt, alles andere als ruhig.
Möglicherweise ist das ja der Grund, weshalb dieser Teil der neuen
Allianz in Sachen Intersektionalität so schnell den Bach
runtergegangen ist.

DER FEMINISTISCHE STOLPERDRAHT


Die Frauen, die in den letzten Jahren durch den Transsexuellen-
Stolperdraht ins Straucheln kamen, haben viele Gemeinsamkeiten.
Eine ist, dass sie an vorderster Front gekämpft haben, wenn es um
Frauenthemen ging. Und das ergibt auch Sinn. Schließlich basiert
ein Großteil der modernen Bürgerrechtsbewegung darauf, dass
ihren Anhängern viel daran gelegen ist, dass sich allgemein
durchsetzt, dass ihre Probleme durch ihre Hardware verursacht
werden. Doch die Trans-Bewegung vertritt exakt die Gegenposition.
Aktivisten der Transsexuellenbewegung, die durchsetzen wollen,
dass Transsexualität eine Frage der Hardware ist, können nur dann
damit durchkommen, wenn allgemein anerkannt wird, dass Frausein
eine Frage der Software ist. Und nicht alle Feministinnen sind
gewillt, dem zuzustimmen.
Die britische Journalistin Julie Bindel ist eine der engagiertesten
und unbeirrbaren Feministinnen Großbritanniens oder besser der
ganzen Welt. Als eine der Gründerinnen der Organisation Justice for
Women setzt sie sich seit 1991 für Frauen ein, die im Gefängnis
sitzen oder denen eine Gefängnisstrafe droht, weil sie ihren
gewalttätigen Partner umgebracht haben. Als lebenslange Feministin
der prä-dritten und vierten Welle des Feminismus, die keinen Hehl
aus ihrem Lesbischsein macht, hielt Bindel noch nie mit ihren
Ansichten hinter dem Berg. Anfang dieses Jahrhunderts stellte sie
fest, dass immer mehr Leute, die als Mann auf die Welt gekommen
waren, jetzt aber als Frau angesehen und behandelt werden wollten
(und zwar unabhängig von einer Geschlechtsumwandlung), ihr
Terrain betraten – und sich auch in die intimsten Angelegenheiten
einmischten, was ihr verständlicherweise gegen den Strich ging.
2002 war Bindel besonders aufgebracht, als sie von der
Entscheidung des Gerichtshofs für Menschenrechte in Vancouver
hörte. Der Transfrau Kimberley Nixon war es höchstrichterlich
gestattet, eine Ausbildung zur Beraterin in der Betreuung von
weiblichen Vergewaltigungsopfern zu beginnen. Zudem befanden
die Richter, die Weigerung der Hilfsorganisation Vancouver Rape
Relief, Nixon dort auszubilden, stelle einen Verstoß gegen ihre
Menschenrechte dar, weshalb sie ihr ein Schmerzensgeld in Höhe
von umgerechnet knapp 15 000 Euro für die »Verletzung ihrer
Würde« zusprachen – die höchste je für ein solches Vergehen
zugesprochene Summe. Später kippte das Berufungsgericht British
Columbia Supreme Court in Vancouver dieses Urteil. Doch für ein
Urgestein der Frauenbewegung wie Bindel war die Vorstellung, dass
man selbst in einer Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen nicht
sicher sein konnte, dass den Opfern eine Frau zur Seite steht,
unerträglich – ein Rubikon, der besser nicht überschritten werden
sollte. In den ersten Zeilen ihres im The Guardian veröffentlichten
Artikels lief sie sich warm und ergriff Partei für ihre Schwestern vom
Rape Relief, die »nicht der Ansicht sind, dass eine chirurgisch
konstruierte Vagina und hormonell gewachsene Brüste eine Frau
ausmachen«. Und dann holte sie aus: »Nun gut, wenigstens lautet
das Gesetz, die Voraussetzung für eine Diskriminierung von Frauen
ist es, eine, ähm, Frau zu sein.« Vielleicht hat Bindel gewusst,
welche Lawine sie damit lostritt, vielleicht auch nicht. Doch Anfang
des 21. Jahrhunderts war es noch relativ einfach, auf diese
Landmine zu treten – im Unterschied zu den Jahren danach. Wie
auch immer, sie beendete ihre Schimpftirade mit einer Fanfare: »Ich
habe kein Problem, wenn Männer ihre Genitalien entsorgen, aber
das macht sie ebenso wenig zu einer Frau wie mich zu einem Mann,
wenn ich mir ein Stück Schlauch in meine Levis stopfe.«242 Für
diesen Satz, aber auch den Artikel an sich, sollte Bindel den Rest
ihres Lebens büßen. Zunächst trudelten waschkörbeweise
Beschwerdebriefe bei der Zeitung ein. Rasch entschuldigte sich
Brendel daraufhin für den Ton ihres Artikels. Doch in all den Jahren
danach gelang es ihr kaum noch, in der Öffentlichkeit aufzutreten
und zu sprechen, da der Widerstand fast allmächtig schien. Gelang
es ihr dann doch einmal, kam es zu heftigen Protesten, mitunter
sollten sie sogar Streikposten aufhalten. Sogar ein Jahrzehnt nach
der Veröffentlichung ihres Artikels musste sie die Teilnahme an einer
Podiumsdiskussion an der Universität Manchester absagen,
nachdem Dutzende von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen bei
der Polizei eingegangen waren.
Bindel mag eine der ersten Feministinnen des linken Flügels
gewesen sein, die über den Stolperdraht der
Transsexuellenbewegung zu Fall gekommen war, aber sie war
bestimmt nicht die letzte. Im Januar 2013 schrieb Suzanne Moore
mit spitzer Zunge eine Kolumne für das linke Magazin New
Statesman über die Wucht weiblichen Zorns. Darin ging es Moore
um viele Fälle von Ungerechtigkeit gegenüber Frauen, von der
Gängelei weiblicher Abgeordneter über die frauenfeindliche Haltung
zur Abtreibung bis zu ihrer Behauptung, dass die Kürzungen
öffentlicher Gelder zu 65 Prozent Frauen beträfen. Ihr Fehler oder
besser Pech war, dass sie inmitten dieser Aufzählung plötzlich diese
These aufstellte: »Wir sind wütend auf uns selbst, weil wir nicht
glücklicher sind, weil wir nicht richtig geliebt werden und weil unser
Körper nicht die Idealmaße aufweist wie der eines brasilianischen
Transsexuellen.«243 Wow, wenn je ein Artikel Sprengkraft besessen
hat, dann dieser – man konnte die Rauchwolke förmlich aufsteigen
sehen.
Sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt war klar:
Moore hatte Mist gebaut. Die noch druckfähigen Vorwürfe lauteten,
dass sie »transphob« wäre. Es war nicht wirklich geschickt von
Moore, dass sie darauf unter anderem antwortete, dass sie dieser
Vorwurf nicht träfe.
Leute, die es gewohnt waren, Frauen mit Worten niederzuringen,
wurden natürlich noch wütender, wenn sie merkten, dass ihre Waffen
nichts bewirkt hatten. Nichtsdestotrotz wurden die Reaktionen auf
ihren Artikel innerhalb weniger Stunden so lautstark und heftig, dass
Moore nichts anderes übrig blieb, als ihre Ansichten zu
»verdeutlichen« und den Lesern zu versichern, dass sie nicht die
hasserfüllte Person war, als die sie nun dargestellt wurde.244 Nur
einen Tag zuvor war sie als progressive, linke Feministin bekannt.
Und nun als reaktionäre hasserfüllte rechte Ignorantin. Nachdem
Transmenschen und andere Jagd auf sie gemacht hatten und sie als
niederträchtig und engstirnig bezeichnet wurde, verkündete Moore,
dass sie sich nicht weiter dem »Mobbing« und den »Trollen«
aussetzen wolle und deshalb die sozialen Medien verlasse.
Eine der Frauen, die damit nicht fertigwurde, war Julie Burchill.
Das Enfant terrible des Journalismus der 1980er-Jahre galt nicht nur
als Wortakrobatin, sondern auch als Journalistin, die genau wusste,
wie Wörter zur Waffe werden. Sie selbst sagte, dass es ihr einfach
zu viel war, mit ansehen zu müssen, wie ihre Freundin Suzanne
Moore gemobbt wurde und vielleicht ihren Job, ihre einzige
Einnahmequelle, verlieren würde, nur weil sie eine beiläufige
Bemerkung über Transsexuelle gemacht hatte.
Für Burchill war Moore nicht nur eine Freundin, sondern zugleich
eine der wenigen Frauen, die aus der Arbeiterklasse kamen und es
im Journalismus zu etwas gebracht hatten. Burchill wollte nicht
zulassen, dass ihr »Kumpel« zu Boden geht, und so beschloss sie,
sich solidarisch mit ihr zu zeigen und mit noch fieseren Waffen um
sich zu schlagen. Und so kam es, dass aus der Sonntagsausgabe
des Observer ein Atompilz aufstieg, der Moores Rauchwolke
komplett verdeckte. Neben anderen Dingen attackierte Burchill
Moores Kritiker, weil sie eine Frau angegriffen hatten. Wie es Burchill
formulierte, mussten Frauen wie sie und Moore ihr ganzes Leben als
Frauen zubringen. Sie mussten Regelschmerzen erleiden,
eindeutige Anmache von fremden Männern abwehren, schmerzhafte
Geburten ertragen, in die hässliche Fratze der Wechseljahre blicken
und zu allem Übel jetzt auch noch die Freuden einer
Hormontherapie erdulden. Frauen wie sie und Moore würden den
Teufel tun, sich jetzt von »Schwänzen in Frauenklamotten« oder
»einem Haufen Bettnässern mit schlecht sitzenden Perücken«
gängeln oder wüst beschimpfen zu lassen.
Die Reaktion folgte auf dem Fuß. Die britische Innenministerin
Lynne Featherstone, die damals auch für Gleichstellungsfragen
verantwortlich war, erklärte unverzüglich, dass Burchills Hetze gegen
die Transgender-Community nicht nur »widerwärtig«, sondern
»Erbrochenes einer intoleranten und ignoranten Person« sei, die der
Observer schnellstmöglich feuern sollte. Und nicht nur das; in den
Augen der Ministerin sollte auch der Herausgeber auf die Straße
gesetzt werden. Entsprechend eingeschüchtert entschuldigte sich
der Observer für die Kolumne und löschte sie rasch von seiner
Webseite. In dieser Entschuldigung und Erklärung schrieb
Chefredakteur John Mulholland: »Wir haben das Ganze falsch
gesehen, und angesichts des großen Schmerzes und Kummers, den
dieser Artikel verursacht hat, möchte ich mich dafür entschuldigen
und habe entschieden, diese Kolumne zurückzuziehen.« So etwas
kommt im britischen Journalismus so gut wie nie vor. Fünf Jahre
später machte Burchill diese Episode dafür verantwortlich, dass ihre
journalistische Karriere, wie sie es formulierte, »den Bach
runterging«.245 Übrigens hat es damals nicht lange gedauert, bis die
Frau, die ihre Entlassung gefordert hatte, ihren Sitz im Parlament
verlor, für den Rest ihres Lebens aber auf einem Ruheposten im
britischen Oberhaus sitzen wird.
Das Karriere-Aus von Bindel und Burchill war jedoch nicht das
Einzige. Dieses Mal betraf es eine der bekanntesten modernen
Feministinnen von allen. Die Autorin von Der weibliche Eunuch hatte
sich nur einmal in ihrer gesamten Laufbahn intensiv mit
Transsexuellen auseinandergesetzt. In ihrem 1999 erschienenen
Buch Die ganze Frau widmete Germaine Greer ein zehnseitiges
Kapitel ihrer Auffassung, dass Leute, die als Mann auf die Welt
gekommen sind, nicht als Frauen eingestuft werden können.
In dem Buch ging es ihr um etwas anderes, aber dennoch
erwähnte sie in einem Nebensatz, die »Verstümmelung«, für die
»sich Transsexuelle entscheiden«. Sie machte sich über die
Tatsache lustig, dass so viele transsexuelle Männer, die zu Frauen
wurden, einen klassisch weiblichen Körper haben wollten, der ihrer
Meinung nach die Stereotypen noch verstärkte. Und sie war sich der
Tatsache bewusst, dass keiner der operativen Eingriffe, über die so
unbekümmert geredet wurde, auch nur im Ansatz unkompliziert war.
1977 hat eine Klinik in Stanford diese Zahlen bekanntgegeben:
Für die mit zwei Eingriffen angesetzte Geschlechtsumwandlung
sind im Durchschnitt 3,5 Operationen nötig, bei mindestens 50
Prozent aller Patienten kam es zu Komplikationen, was oft dazu
führte, dass der Chirurg seinen Patienten ein Leben lang
begleitete.246 Greer verwies aber auch auf etwas, was vor ihr nur
wenige bemerkt hatten, über das sich Eltern von Kindern, die von
sich behaupteten, an einer Geschlechtsidentitätsstörung zu leiden,
jedoch große Sorgen machten: und zwar über die Tatsache, dass
der Transsexuelle »allein aufgrund seines eigenen Manuskripts als
solcher identifiziert wird, doch Transsexualität kann, wie jedes
andere sexuelle Verhalten auch, erlernt werden und wie jede
Autobiografie lektoriert werden«.247
Greer hatte dieses Thema in den Jahren danach nicht weiter
verfolgt. Es hat nur etwa 15 Jahre gedauert, bis ihre Ansicht als alles
andere als mit der geltenden Norm vereinbar angesehen wurde.
Ende 2015 sollte Greer eine Vorlesung an der Cardiff University zum
Thema »Frauen und Macht. Die Lektionen des 20. Jahrhunderts«
halten. Doch eine große Zahl an Studentinnen und Studenten wollte
die bedeutendste Feministin des späten 20. Jahrhunderts nicht
hören. Stattdessen versuchten sie, ihre Universität mit den
Ausdrücken ihrer Generation und dem Ziel der »Exkommunikation«
zu beeinflussen.
Greers Ansichten über Transsexuelle seien »problematisch«. Sie
habe »wieder und wieder ihre frauenfeindlichen Ansichten über
Transfrauen unter Beweis gestellt«. Nur wenige Jahre vorher wäre
jeder, der ausgerechnet Greer als frauenfeindlich bezeichnet hätte,
für komplett verrückt erklärt worden. Doch genau das geschah jetzt.
Die Organisatorin der Anti-Greer-Petition beschrieb sich selbst als
queere feministische Politikerin aus dem linken Lager. Diese
Studenten behaupteten, Greer hätte sich unter anderem des
Verbrechens schuldig gemacht, »Transfrauen kontinuierlich mit dem
falschen Geschlecht anzureden und die Existenz der Transphobie
gänzlich zu leugnen«. Sie seien sich zwar darüber im Klaren, dass
»eine Universität der Ort für Diskussionen« sei, sie warnten aber
zugleich davor, dass »der Vortrag einer Rednerin mit derart
hasserfüllten und problematischen Ansichten über verletzliche und
an den Rand der Gesellschaft gedrängte Gruppen gefährlich ist«.248
In einem anschließenden Interview der BBC über diese
Kontroverse sagte Greer: »Offenbar wurde beschlossen, mir
Redeverbot zu erteilen, weil ich nicht der Ansicht bin, dass
transsexuelle Männer nach ihrer Geschlechtsumwandlung Frauen
sind. Ich sage ja nicht, dass solche Operationen verboten gehören.
Ich sage lediglich, dass ein solcher Eingriff sie nicht zur Frau macht.
Das ist nur meine Meinung, kein allgemeines Verbot.« Darüber
hinaus, so Greer weiter, seien Transthemen nichts, worüber sie viel
spreche. »Das ist nicht mein Thema. Ich habe seit Jahren nichts
mehr über Transsexuelle veröffentlicht.« Über den Aufruhr, den sie
verursacht hatte, obwohl sie dieses Thema nur am Rande gestreift
hatte, sagte sie: »Ich wurde mit allen möglichen Gegenständen
beworfen. Mir wurde alles Mögliche unterstellt, was ich getan oder
gesagt haben soll. Anscheinend schert sich niemand mehr um
Beweise oder weiß, was üble Nachrede ist.« Auf die Frage, ob ihr
noch immer etwas daran liege, ihren Vortrag an der Cardiff
University zu halten, antwortete sie: »Allmählich werde ich zu alt für
so etwas. Ich bin 76. Ich habe keine Lust, angebrüllt zu werden oder
dass man Sachen nach mir wirft. Scheiß drauf! So interessant ist es
auch wieder nicht. Das lohnt sich doch alles nicht.«249
Greer zu beleidigen und sie faktisch von der letzten Version des
Feminismus zu exkommunizieren, wurde zu einer Art Initiationsritus
für eine Generation von Frauen, die – ob ihnen das nun bewusst war
oder nicht – ungemein von Greer als Vorreiterin in Frauenfragen
profitiert hatte. Eve Hodgson schrieb einen Artikel für das Magazin
Varsity der Cambridge University (Greers eigener Alma Mater in den
1960er-Jahren) mit der Überschrift: »Weshalb Germaine Greer nicht
länger als Feministin bezeichnet werden kann«. Der Verfasserin
zufolge ist »Greer jetzt nur noch eine alte weiße Frau, die sich selbst
ins Exil verbannt hat. Ihre Äußerungen richten irreparablen Schaden
an und zeigen, dass ihr Transleben völlig egal ist. Wer so denkt wie
sie, kann nicht länger als Feministin bezeichnet werden. Sie steht
nicht mehr für dieselben Dinge, für die wir einstehen.«250 Ebenso
wie Peter Thiel kein Schwuler mehr war und Kanye West kein
Schwarzer, so war Germaine Greer keine Feministin mehr.
Im Laufe der Jahre wurde klar, dass diese Geringschätzung der
Vorfahren nicht auf die Universitäten begrenzt, sondern überall zu
beobachten war. Und die Vorstellung, es wäre völlig in Ordnung,
Feministinnen aus Greers Generation aufgrund ihrer Haltung zu
Transsexuellen derart zu verunglimpfen, wurde als völlig normal
betrachtet. Im September 2018 bezahlte die Hausfrau und Mutter
Kellie-Jay Keen-Minshull im Norden Englands umgerechnet etwa
700 Euro Miete für eine Plakatwand. Auf dem Poster, das sie
anbringen ließ, stand lediglich die Definition eines Begriffs aus einem
Wörterbuch: »Frau, Frauen, Substantiv, feminin, erwachsene Person
weiblichen Geschlechts«. Keen-Minshull sagte, es sei ihr das Geld
wert gewesen, da es sie beunruhigte, dass »Frau« allmählich zu
einem Begriff würde, mit dem so gut wie alles bezeichnet wird.
Doch das Poster war bald wieder weg. Ein selbsternannter
»Verbündeter der Transgender-Community«, seines Zeichens
Akademiker, namens Dr. Adrian Harrop beschwerte sich bei der
Polizei, dass die Plakatwand ein »Symbol ist, das Transsexuelle
verunsichert«.251 Bei einer später stattfindenden Talkshow auf Sky
warf der Moderator Keen-Minshull vor, »transphob« zu sein, da sie
das Poster hatte anbringen lassen. Harrop wies Keen-Minshull erst
einmal zurecht, da sie ihn nicht mit seinem Doktortitel angesprochen
hatte, und erläuterte dann, dass der Ausschluss von Transfrauen
aus der Definition von Frau »in einer modernen und progressiven
Gesellschaft nicht angemessen ist«.252 Selbst rechte und
konservative Nachrichtenseiten berichteten über Keen-Minshulls TV-
Auftritt und schrieben, sie wäre von Zuschauern als »erbärmlich«
gebrandmarkt worden, da sie auf ihrer Meinung beharrte,
»Transfrauen sind nicht das Gleiche wie Frauen«.253
Den Frauen, die versuchten, die Grenzen der Weiblichkeit
weiterhin auf Frauen zu beschränken, wurde überall mit der gleichen
Boshaftigkeit begegnet. Auf der Veranstaltung Pride London von
2018 verdarb eine Gruppe von lesbischen Aktivistinnen die LGBT-
Party mit ihrem Protest gegen die in ihren Augen drohende
Übernahme des Festivals durch die Transsexuellen. Die britische
Schwulenpresse beschuldigte diese Frauen (»TERFs«) der Ignoranz
und der Volksverhetzung, und ein paar Wochen später kam es auf
dem Event Manchester Pride Berichten zufolge zu »lautem Jubel«,
als der schwule Veranstalter forderte, »die Aktivistinnen von London
hätten an ihren ›Hängetitten‹ weggeschleift werden sollen«.254
Abgesehen von diesem »De-Platforming« (die Methode des »De-
Platforming« zielt darauf ab, Andersdenkenden ihre Plattform zu
entziehen), von Drohungen und Versuchen, Andersdenkende zum
Schweigen zu bringen, fällt auf, dass eine Frage nur selten
aufgeworfen wird: Weshalb sollte es Feministinnen einer bestimmten
Tradition nicht erlaubt sein, (wenigstens) bestimmten Elementen der
aufkommenden Transdebatte zu widersprechen? Je öfter Frauen
verjagt werden, wenn sie dieses Terrain betreten, desto klarer wird,
worum es eigentlich geht.
Feministinnen wie Bindel, Greer und Burchill gehören der Schule
des Feminismus an, die sich nach wie vor mit Themen befasst wie
den reproduktiven Rechten von Frauen, dem Recht von Frauen, aus
gewalttätigen und missbräuchlichen Beziehungen zu fliehen und
vielem mehr. Und diese Generation von Feministinnen will noch
immer aufräumen mit allen Stereotypen, was eine Frau sein sollte
oder könnte. Vielleicht kommt es ja deshalb zu einer derartigen
Diskrepanz zwischen ihnen und der Transsexuellenbewegung, weil
Transmenschen soziale Konstrukte über die Geschlechter nicht
infrage stellen, sondern eher verstärken.
Denken wir zum Beispiel mal an jemanden wie die bekannte
YouTuberin und Transfrau Blaire White, die sich im Zuge ihrer
Geschlechtsumwandlung (die sie Ende 2018 unterbrach, um ein
Kind zu zeugen) für den Körper einer Frau entschieden hat, der der
Fantasie eines pubertierenden Jünglings entsprungen sein muss:
Riesenbrüste, Schmollmund und ständig wirft sie ihre Haare nach
hinten. Und jetzt werfen wir einmal einen Blick auf das andere Ende
des Spektrums archetypischer Frauenbilder. Im Dezember 2015
durfte Julie Bindel doch endlich einen Vortrag in der Universität
Manchester halten. Zu der anschließenden Podiumsdiskussion war
auch die hauptsächlich über Transsexuelle berichtende Schreiberin
und Aktivistin Jane Fae eingeladen.
Während Bindels Vortrag und auch zu anderen Zeiten während
der Veranstaltung strickte Fae an einem lila-rosafarbenen
Kleidungsstück. Sie hatte ihr Strickzeug mitgebracht. Oder denken
Sie an April Ashley, die in einem Dokumentarfilm anlässlich ihres 80.
Geburtstags zu sehen war, wie sie die Lieblingsplätze ihrer Kindheit
in Liverpool aufsuchte, wo sie die Schlüssel der Stadt überreicht
bekam. Den ganzen Film über kann man sich nicht des Eindrucks
erwehren, dass Ashley dort einen Probelauf als Ersatzdouble für Ihre
Majestät die Königin absolviert.255
Trotz der Schmähungen, der eine bestimmte Generation
Feministinnen ausgesetzt war, weil sie sich weigerte, auf den
Transsexuellenzug aufzuspringen, wurde nie erklärt, weshalb sie das
eigentlich tun sollte. Ihre Sprache mag zwar eindringlich und
bilderreich sein, wenn sie ihr Ziel in Angriff nehmen – wie sie das bei
jedem Ziel tun –, aber sie deshalb als hasserfüllt, gefährlich,
gewaltfördernd zu bezeichnen und ihnen sogar den Titel Feministin
abzuerkennen, umgeht die Suche nach Antworten auf ihre durchaus
legitimen Fragen. Weshalb sollten Feministinnen der ersten Stunde
kein Problem mit Männern haben, die zur Frau wurden und
anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als ihre neuen Brüste
zur Schau zu stellen, die königliche Familie nachzuahmen oder zu
stricken?

DIE ELTERN
Der verstorbene Robert Conquest skizzierte einmal drei Regeln der
Politik, von denen die erste lautete: »Jeder wird dann zum
Konservativen, wenn er sich mit etwas bestens auskennt.« Sie
stimmen mir sicherlich zu, wenn ich sage, dass Eltern ihre Kinder am
besten kennen. Eine Erklärung, weshalb sich in letzter Zeit kritische
Fragen über Transmenschen häufen, lautet, dass sich Eltern in
Ländern wie Amerika und Großbritannien fragen, was der nächsten
Generation so alles beigebracht wird und wohin das alles führen
wird. Und es beunruhigt sie, was schon alles gesagt und getan
wurde. Sie runzeln zum Beispiel die Stirn, wenn sie mitbekommen,
dass eine in San Francisco ansässige Entwicklungspsychologin,
Diane Ehrensaft, mitteilt, dass ein Einjähriger, dem »das Geschlecht
männlich zugewiesen wurde«, und der sich seinen Strampler vom
Leib reißt und damit auf bestimmte Weise spielt, in Wahrheit
»präverbal über Geschlechter kommuniziert«. Anders als manche
Medien haben Eltern keine Freude an einer neunjährigen
Dragqueen, die einen Modelvertrag von einer Modefirma für LGBT-
Kleidung erhält und die anderen Kindern in einem viralen YouTube-
Video mitteilt: »Wenn euch eure Eltern keine Dragqueen sein lassen,
braucht ihr andere Eltern.«256
Und sie machen sich große Sorgen, wenn die Schule ihres
Kindes verkündet, dass jeder, der von sich behauptet, dem anderen
Geschlecht anzugehören als dem offensichtlichen, auch so
anerkannt und behandelt werden muss. Kürzlich schilderten Eltern
aus dem Norden Englands, wie ihre 16-jährige Tochter sich ihnen
gegenüber erst als Lesbe und dann als Transsexuelle geoutet hatte.
Als die beiden dann zum Elternabend der Schule gingen, waren sie
bass erstaunt, als sie mitbekamen, dass von ihrer Tochter dort
bereits mit ihrem neuen männlichen Vornamen und mit männlichen
Personalpronomen gesprochen wurde. Die Schule »stand voll
dahinter«.257
Die schottische Regierung rät Schulen, die Eltern nicht zu
informieren, wenn das Kind äußert, sein Geschlecht ändern zu
wollen. In der ebenfalls von der schottischen Regierung
herausgegebenen Broschüre Die Unterstützung transsexueller
Jugendlicher heißt es, Schüler sollten sich aussuchen dürfen, ob sie
lieber in den Mädchen- oder den Jungensportunterricht gingen, je
nachdem, wo sie sich am wohlsten fühlen.
Möchte ein Schüler auf Klassenfahrten lieber im Schlafsaal des
anderen Geschlechts übernachten, sollte das den Eltern
verschwiegen werden. In anderen Teilen Großbritanniens wiesen
britische Eltern den Lehrer ihres Kindes darauf hin, dass er mit dem
»falschen« Geschlecht von ihm gesprochen hätte, nur um sich dann
anhören zu müssen: »Ach, Sie wissen nicht, dass Ihre Tochter/Ihr
Sohn sich als Mädchen/Junge identifiziert?«
Richtig, das ereignet sich an Schulen, in denen dem Kind nur
dann ein Aspirin verabreicht werden darf, wenn die elterliche
Genehmigung dafür vorliegt. Besorgte Eltern wissen auch, was das
als »Clustering« bezeichnete Phänomen bedeutet, nämlich einen
»Nachahmungseffekt«. Im »Gleichstellungsbericht« einer Schule in
Brighton, die bekannt ist für ihre liberale Haltung, hieß es, dass 2018
40 Schüler zwischen 11 und 16 Jahren »sich nicht mit dem
Geschlecht identifizieren konnten, das ihnen bei ihrer Geburt
zugeteilt worden war«. Weitere 36 Schüler gaben an, »genderfluid«
zu sein, das heißt, sie hätten nicht immer dasselbe Geschlecht,
sondern immer wieder ein anderes. Eine Folge von alledem ist, dass
die Anzahl an Einweisungen von Jugendlichen in Kliniken, die
geschlechtsangleichende Operationen durchführen, in nur fünf
Jahren um 700 Prozent gestiegen ist.258
Aktivisten von Transsexuellenbewegungen wie Mermaids
erklären das »Clustering« und diesen Anstieg selbstredend damit,
dass sich immer mehr Menschen der Möglichkeit bewusst seien,
dass sie auch transsexuell sein könnten, was vor ein paar Jahren
eben noch nicht der Fall gewesen sei. Andere Erklärungen sind
jedoch ebenso denkbar.
Eine davon lautet, dass Transsexualität in sozialen Medien in der
Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Eine andere sieht den
Grund in der steigenden Anzahl von Zugeständnissen der
Verantwortlichen, was die Forderungen von Transsexuellen
anbelangt.
In der Online-Welt ist es absolut nicht ungewöhnlich, dass eine
Hormonersatztherapie absurderweise als völlig normal angesehen
wird und keinerlei Konsequenzen nach sich zieht. Auf YouTube,
Instagram und anderen Webseiten tummeln sich unzählige Leute,
die von sich sagen, sie seien transsexuell, und die es durchaus für
möglich halten, dass Sie es auch sind. Ein einziges Video von Jade
Boggess (einem Transmann) namens Ein Jahr auf Testosteron
wurde auf YouTube allein über eine halbe Million Mal angeklickt, ein
anderes von Ryan Jacobs Flores zum gleichen Thema über drei
Millionen Mal. In solchen Videos werden Testosteroninjektionen als
»T« oder »Sperma Light« bezeichnet. Manche von ihnen lassen die
Nutzer quasi in Echtzeit an ihrer Geschlechtsumwandlung teilhaben
und werden dann zu Stars in eigener Sache.
Nein, keine älteren Menschen wie Caitlyn Jenner, sondern junge
brandneue YouTube-Stars wie Jazz Jennings. Jennings war 2000
als Junge auf die Welt gekommen und begann schon im Alter von
sechs Jahren, öffentlich über Transgender zu reden. Mit sieben
wurde sie von Barbara Walters interviewt, die sie unter anderem
fragte, von welchem Geschlecht sie sich angezogen fühle. Der
Aufstieg von Jennings war unaufhaltsam. Als sie elf war, strahlte der
Privatsender Oprah Winfrey Network eine Dokumentation unter dem
Titel I am Jazz aus. Als Teenager hatte Jennings schon zahlreiche
Medienpreise bekommen und zählte zu den erfolgreichsten
Influencern. Natürlich hat sie zig Werbeverträge abgeschlossen und
kam als berühmte Persönlichkeit in den Genuss weiterer Vorteile.
Die Dokumentation I am Jazz läuft nun in der fünften Staffel auf TLC
und sorgt dafür, dass sie, ihre Eltern und Geschwister (die alle an
der Show mitwirken) weiterhin zu den Berühmten und Reichen
zählen. Staffel 5 spielt nach ihrem 18. Geburtstag und ihrem
geschlechtsangleichenden Eingriff. Auf dem Trailer schnippt sie kurz
zuvor frech mit den Fingern und sagt in die Kamera: »Dann wollen
wir mal.« Allein die Ausschnitte von I am Jazz, die auf YouTube zu
sehen sind, wurden Millionen Mal angeklickt.
Doch nicht nur dieses Element der Popkultur zeigt Wirkung. Auch
Angehörige der medizinischen Berufe lassen sich nur allzu willig vor
diesen Karren spannen. Serien wie I am Jazz verdeutlichen, dass es
Ärzte und Chirurgen gibt, die sich geradezu darum reißen, alles zu
tun, damit aus einem als Jungen auf die Welt gekommenen
Jugendlichen eine Frau wird. All das gehört zu einer neuen Form
von Akzeptanz, die zum Bespiel den NHS in Großbritannien dazu
gebracht hat, vertraglich zuzusichern, dass kein Mitarbeiter des NHS
»den individuellen Ausdruck einer Geschlechtsidentität unterdrücken
wird«.259 Doch obwohl manche Ärzte und andere vor der Gefahr
einer »Überdiagnostizierung und Überbehandlung« warnen, weisen
alle Zeichen nur in eine Richtung.

DIE GESCHICHTE EINER FAMILIE


Es handelt sich um die wahre Geschichte einer Familie, die vor
Kurzem erlebt hat, was es bedeutet, den Transsexuellen-Weg zu
gehen. Da ich die Identität ihres Kindes schützen möchte, bleibe ich
absichtlich vage, was Orte und sonstige Details angeht. Die Familie
lebte damals in einer amerikanischen Großstadt, sie ist erst vor
Kurzem aufs Land gezogen. Dort treffe ich mich mit der Mutter, die
ich hier Sarah nennen will.
Sarah ist in jeder Hinsicht eine typische Mutter der Mittelschicht.
Sie kümmert sich um ihre Kinder und ist, ebenso wie ihr Mann,
berufstätig. Politisch gesehen ordnet sie sich selbst eher links der
Mitte ein. Vor vier Jahren hat ihr ihre Tochter, damals 13, eröffnet,
transsexuell und eigentlich ein Junge zu sein. Bei ihr war eine leichte
Form von Autismus diagnostiziert worden, und sie hatte Probleme,
von einigen ihrer gleichaltrigen Mitschüler akzeptiert zu werden. Sie
tat sich schwer, bestimmte nonverbale Signale zu verstehen. Auf
ihre Einladungen zum Spielen folgten keine Gegeneinladungen, und
alle Mitschülerinnen gaben ihr zu verstehen, dass ihr
Modegeschmack mehr als fragwürdig sei. Im Laufe der Zeit machte
Sarahs Tochter die Erfahrung, dass die Jungen in ihrer Schule viel
netter zu ihr waren als die Mädchen. Doch auch im Kontakt mit den
Jungen erfuhr sie nicht das Maß an Anerkennung, das sie sich
gewünscht hatte. Immer wieder wollte sie von ihrer Mutter wissen:
»Wieso mag mich niemand?« Sie setzte sich intensiv damit
auseinander, weshalb sie vor allem nicht mit Mädchen zurechtkam,
aber auch, weshalb es mit den Jungen auch nicht gerade einfach
war.
Eines Tages verkündete sie ihrer Mutter, sie sei im Grunde ein
Junge und dass das der Grund für ihre Probleme sei. Sarah wollte
wissen, wie sie darauf komme, transsexuell zu sein. Schließlich kam
diese Erklärung für die ganze Familie aus heiterem Himmel. Die
Antwort ihrer Tochter: »Ich bin nach einer Präsentation in der Schule
darauf gekommen.« Zur selben Zeit wurde die Zahl von Schülern,
die sich als transgender fühlten, mit 5 Prozent angegeben. Die
Geschichten dieser Kinder wiesen frappierende Ähnlichkeiten auf.
Auch bei ihnen war wie bei Sarahs Tochter Autismus diagnostiziert
worden, sie waren nicht sehr beliebt und hatten kaum Freunde.
Selbstverständlich wollte Sarah mehr darüber wissen. Hätte Sarahs
Tochter auch beschlossen, lieber ein Junge zu sein, wenn es keine
anderen Transsexuellen an ihrer Schule gegeben hätte? Sarahs
Tochter verneinte, denn dann hätte sie schließlich nichts von dieser
Möglichkeit gewusst.
Außerdem dachte sie nicht, sie sei ein Junge, sondern sie sei
definitiv einer. Ihr sei klar, dass ihre Mutter sie nicht verstehen
könne, da sie ja schließlich eine »Cis-Frau« sei. Sarah hatte noch
nie von diesem Begriff gehört, geschweige denn, dass sie jemals so
bezeichnet worden war. Sarahs Tochter teilte ihrer Mutter noch öfter
mit, dass »Transkinder wissen, wer sie sind«.
Sarah unterstützte ihre Tochter. Sie sprach sie mit ihrem neuen
männlichen Vornamen an und verwendete männliche
Personalpronomen, wenn sie mit ihr oder über sie sprach. Sie stellte
ihre Tochter ihren Freunden als Sohn vor. Als Zeichen ihrer
Unterstützung ging sie mit auf eine Demonstration von Trans Pride,
und sie tanzten gemeinsam zu Lady Gagas »Born this way«. Ja,
Sarah unterstützte ihre Tochter so gut sie konnte und kaufte ihr
deshalb sogar ihre erste Binde, mit der sie ihren Busen, der sich
allmählich abzuzeichnen begann, verbergen konnte. Es fällt schwer,
sich vorzustellen, was eine Mutter noch alles hätte tun können.
Aus nachvollziehbaren Gründen informierte sich Sarah online
über alles, was mit Transsexualität zusammenhing. Schließlich war
das eine für ihre Familie fremde Welt, und sie wollte unterschiedliche
Meinungen hören, damit sie sich letzten Endes ihre eigene bilden
konnte. Wie Sarah selbst zugab, war der erste Eindruck über die
Online-Diskussionen alles andere als gut. Sie empfand einen
Großteil der Online-Kommentare als »Anti-LBGT-
Stimmungsmache«. Sie hatte das Gefühl, sie hätte es entweder mit
religiösen Eiferern oder Ignoranten zu tun. Natürlich hatte sie sich
vorher nicht so intensiv mit dieser Thematik befasst. Aber sie machte
sich »Sorgen um ihre Tochter«. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich
an Fachleute – zunächst an Ärzte einer Klinik für
Geschlechtsumwandlungen.
In den ersten Gesprächen wurde ihr genau das gesagt, was auch
andere Eltern in einer vergleichbaren Lage zu hören bekamen. Der
Klinikarzt sagte: »Elterliche Akzeptanz ist der erste Schritt, einen
Suizid zu verhindern.« Wie alle anderen Eltern das wohl auch
empfinden würden, war das für Sarah die Ankündigung des größten
überhaupt vorstellbaren Albtraums. Der Arzt meinte außerdem, da
ihre Tochter beharrlich, konsequent und nachdrücklich an ihrer
Behauptung, ein Junge zu sein, festgehalten habe, gebe es nur
einen Schluss: Ihre Tochter sei in Wirklichkeit ein Junge.
Sarah beunruhigten aber nicht nur die Worte der Experten,
sondern auch, was ihre Tochter sagte. Wann immer sie über ihre
Geschlechtsidentitätsstörung sprach, klang es in den Ohren ihrer
Mutter wie »auswendig gelernt«. Es wäre noch untertrieben zu
behaupten, dass der auswendig gelernte Text manipulativ sei. Es
gab eine Phase, da stellte Sarahs Tochter eine Liste mit all ihren
Forderungen zusammen – samt Drohungen und
Erpressungsversuchen, sollte die Mutter sie nicht erfüllen.
Sarahs Tochter war 13½, als sie von sich behauptete,
transsexuell zu sein. Mit 14½ begann sie eine Therapie. Mit 15 hieß
es, sie solle Lupron nehmen, ein Medikament, das die Herstellung
des körpereigenen Östrogens beziehungsweise Testosterons
unterdrückt und somit die Pubertät verhindert. In jeder dieser Phase
wurde Sarah bezichtigt, die Gefühle ihrer Tochter durch kritisches
Nachfragen zu verletzen. Außerdem wurde ihr erklärt, dass es mit
Transsexuellen auch nicht anders sei als mit Autisten. »Autisten
wissen, dass sie autistisch sind«, wurde ihr versichert. Allein das zu
hinterfragen, sei schon behindertenfeindlich. Mutter und Kind
suchten die unterschiedlichsten Therapeuten auf, landeten am
Schluss aber wieder beim ersten.
Als Sarah dort erzählte, dass sie sich Sorgen wegen der von den
Ärzten vorgeschlagenen Optionen mache, vor allem aber, weil ihre
Tochter einen Pubertätsblocker nehmen sollte, lautete die Antwort
kurz und bündig: »Sie haben die Wahl zwischen Pubertätsblockern
und der Klinik.« Und so kam es, dass Sarahs Tochter mit 17½
verkündete, sie wolle eine Geschlechtsumwandlung. Selbstredend
hatte Sarah ihre Tochter gefragt, ob sie das wirklich wolle.
Sie machte ihr wieder klar, dass kein Weg zurückführen würde.
Schon die Hormontherapie birgt zumindest das Risiko, nicht alle
Folgen ungeschehen machen zu können, doch bei einer
geschlechtsangleichenden Operation ist die Sache klar. Was, wenn
– so die Frage der Mutter an ihre Tochter – sie nach der Operation
alles wieder rückgängig machen wollte?
Was, wenn sie dann feststellen würde, dass es doch nicht das
war, was sie im Grunde wollte? Die Antwort ihrer Tochter? »Dann
bring ich mich um!« Keine Frage, Eltern sollten so eine Aussage
ihres Kindes immer ernst nehmen, aber dennoch scheint es da ein
Muster zu geben, wie Germaine Greer schon viel früher festgestellt
hatte. Und zwar nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch von
so manchem Angehörigen der medizinischen Berufe.
Im Jahr 2015 wurde Dr. Michelle Forcier, Professorin an der
Brown University Medical School und Geschäftsführerin von Gender
and Sexual Health Services der Lifespan Physician Group in
Providence, Rhode Island, auf NBC interviewt. Auf die Frage, ob
Drei- oder Vierjährige wirklich schon wissen könnten, was sie sein
wollen, antwortete Forcier:
»Kindern in dem Alter zu unterstellen, sie wüssten nicht, was
Gender bedeutet, heißt, ihnen nicht zu vertrauen.« Auf die Frage,
welche Gefahren drohen, wenn man die geschlechtsangleichende
Operation aufschiebt, meinte sie: »Das größte Risiko ist, nichts zu
tun.« Auf die Nachfrage, was passiert, wenn man dem Jugendlichen
mehr Zeit lässt, sagte sie: »Wer zu lange wartet, riskiert den Suizid
seines Kindes. Oder dass es wegläuft. Oder Drogen nimmt. Oder
Opfer von Mobbing und Gewalt wird. Oder eine Depression oder
Angststörung entwickelt.«260 Joel Baum, seines Zeichens Senior
Director der Initiative Gender Spectrum, hat sich noch krasser dazu
geäußert. Eltern, die sich Sorgen darüber machten, ob es richtig
wäre, ihrem Kind eine Hormontherapie zu erlauben, sagte er: »Es ist
Ihre Entscheidung: Entweder Sie werden eines Tages Oma und
Opa, oder Sie verlieren Ihr Kind, entweder weil es den Kontakt zu
Ihnen abbricht oder weil es einen gefährlicheren Weg einschlägt.«261
Das Problem dabei ist: Werden einem die
Entscheidungsmöglichkeiten in einem derart düsteren Licht
präsentiert, bleibt kein Raum für Diskussionen oder gar Einspruch.
Das heißt übersetzt also, in dem Moment, in dem ein Kind äußert,
dass es sich eventuell mit dem anderen Geschlecht identifiziert,
müssen die Eltern das hinnehmen. Und dann besteht ihre einzige
Aufgabe darin, es bei den anstehenden lebensverändernden
Maßnahmen zu unterstützen, die ihnen von einer wachsenden Schar
an Ärzten ans Herz gelegt werden, die auch nicht die leiseste Kritik
dulden.
Doch wie uns die Geschichten von James und Sarahs Tochter
gezeigt haben, ist das wahre Leben nicht so geradlinig, es gibt viele
Wendungen. So hat ja auch James geäußert, er hätte
wahrscheinlich nie versucht, eine Frau zu werden, wenn er nicht
Kontakt zu Dragqueens und Transsexuellen gehabt hätte. Und auch
Sarahs Tochter hat eingeräumt, dass sie nie ein Junge hätte werden
wollen, wenn nicht ein paar ihrer Schulkameradinnen den gleichen
Wunsch geäußert hätten. Und damit wären wir bei der eigentlichen
Krux angelangt. Angenommen, es gibt tatsächlich Menschen, die an
einer Geschlechtsidentitätsstörung leiden, und weiter angenommen,
für ein paar davon ist die lebensverändernde
Geschlechtsumwandlung wirklich die beste Entscheidung. Es stellt
sich dann aber doch die Frage, wie wir sie von anderen Leuten
unterscheiden sollen, denen dies suggeriert wurde und die diesen
irreversiblen Eingriff ihr restliches Leben lang bereuen?
Doch es gibt etwas, was diese Flut an irreversiblen Eingriffen
eindämmen könnte: Es droht die Gefahr einer Prozesslawine. Auch
wenn in Großbritannien die Möglichkeit besteht, jemand könnte
Klage einreichen, auch gegen den NHS, ist das doch nichts
verglichen mit dem, was in Amerika geschehen könnte. Während der
britische Gesundheitsdienst darum kämpft, die wachsende
Nachfrage nach geschlechtsangleichenden Operationen abdecken
zu können, gibt es in den USA nicht nur eine starke
Transsexuellenbewegung, sondern auch Geschäftsleute, die darin
ihre Chance sehen, sich eine goldene Nase zu verdienen. Ein
Zeichen dafür, dass Transsexualität ein Gebiet ist, wo
gesellschaftliche Forderungen auf Geschäftsideen prallen, ist die
Leichtigkeit, mit der Transaktivisten – einschließlich einiger
Chirurgen – inzwischen von einer lebensverändernden Operation
sprechen. Da braucht man einen starken Magen.

DIE EXPERTEN
Sehen wir uns zum Beispiel Dr. Johanna Olson-Kennedy an. Sie gilt
als führend auf ihrem Fachgebiet und arbeitet derzeit als
Medizinische Direktorin am Center for Transyouth Health and
Development der Kinderklinik in Los Angeles. Diese Einrichtung ist
die größte Klinik für jugendliche Transgender in den USA und eine
von vier Kliniken, die über die National Institutes of Health staatliche
Fördergelder kassiert hat, um über den Zeitraum von fünf Jahren
eine Studie über die Wirkung von Pubertätsblockern und Hormonen
auf Kinder durchzuführen. Und wie es der Zufall so will, gibt es bei
dieser Studie keine Kontrollgruppe.
Wie Dr. Olson-Kennedy selbst zugibt, hat sie im Laufe ihrer
Karriere Kindern – ab zwölf! – regelmäßig Hormone verordnet. In
einem im Journal of the American Medical Association
veröffentlichten Artikel über »Brustverkleinerungen und Dysphorie
bei transmaskulinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen:
Vergleich nichtoperativer und postoperativer Kohortenstudien«262
berichtete sie von mehreren Mädchen, die mit 13 Jahren weniger als
ein halbes Jahr lang einer Hormonersatztherapie unterzogen und
anschließend umoperiert wurden. Anders ausgedrückt, Mädchen im
zarten Alter von nur zwölf Jahren erhielten von Ärzten (!)
lebensverändernde Hormone. Fortschrittsberichten ist zu
entnehmen, dass 2017 bereits Achtjährige als dafür geeignet
eingestuft wurden.
Es ist schon bemerkenswert, wie nachdrücklich, selbstbewusst,
ja sogar dogmatisch Dr. Olson-Kennedys öffentliche Erklärungen
sind. So hat sie sich zum Beispiel öffentlich dagegen
ausgesprochen, Kinder, die von sich behaupten, ihr Geschlecht
ändern zu wollen, in eine Jugend- oder Kinderpsychiatrie
einzuweisen. Sie verglich solche Kinder mit kindlichen Diabetikern
und sagte: »Wenn ich einem Kind Insulin verordnen will, schick ich
es ja vorher auch nicht in die Psychiatrie.«263
Sie ist davon überzeugt, dass eine ablehnende Haltung
gegenüber der Entscheidung eines Kindes bezüglich einer
Geschlechtsumwandlung dem Verhältnis zwischen behandelndem
Arzt und Patient schadet. So hat sie Folgendes veröffentlicht: »Für
den Aufbau einer therapeutischen Beziehung sind Vertrauen und
das Gefühl von Sicherheit unerlässlich.
Genau das aber leidet, wenn jungen Menschen das vorenthalten
wird, was sie ihrer Meinung nach brauchen und auch verdient haben
(Pubertätsblocker, Hormone oder eine geschlechtsangleichende
Operation).264
Olson-Kennedy bezweifelt ernsthaft, dass einige Zwölf- oder 13-
Jährige nicht in der Lage sein sollen, eine fundierte und irreversible
Entscheidung zu treffen. So sagte sie: »Ich habe noch nie einen
Patienten gehabt, der seine Pubertätsblocker geschluckt, dann aber
die Hormonersatztherapie verweigert hat.« Ferner unterstreicht sie
Folgendes:
Wenn wir Ärzte uns entscheiden, eine medizinische Behandlung fortzusetzen,
entweder mithilfe von Pubertätsblockern oder Hormonen, geht es uns dabei vor
allem um das Wohl des Kindes – des jungen Menschen. Es gibt einige Kliniken, die
verstärkt auf fachliche, psychometrische Tests setzen und die unterschiedlichsten
Faktoren der psychiatrischen Entwicklung ihrer kindlichen Patienten betrachten. Wir
machen das in unserer Klinik nicht.265

An anderer Stelle räumte sie jedoch ein, dass sie ein paar Patienten
hatte, die ihre Behandlung abgebrochen oder ihre
Geschlechtsumwandlung bereut hätten, fügte jedoch gleich hinzu,
dass dies keine Wirkung auf andere Patienten habe, die eine
geschlechtsangleichende Operation wünschen. In ihren Augen ist es
problematisch, dass solche wichtigen Entscheidungen mitunter »von
Experten (üblicherweise Cisgender) gefällt wurden, die entscheiden,
ob Jugendliche so weit sind oder nicht«. Olson-Kennedy hält das für
ein »krankes Modell«.266
Trotz der Tatsache, dass es den Richtlinien der Endocrine
Society (der weltweit ältesten und führenden Einrichtung auf dem
Gebiet der Endokrinologie und des Metabolismus) zufolge »kaum
veröffentlichte Erfahrungsberichte über die Hormonbehandlung von
Jugendlichen unter 13½ bis 14 Jahren«267 gibt, sind Olson-Kennedy
und ihre Kollegen doch sehr selbstbewusst und selbstsicher – nicht
nur, wenn Olson-Kennedy sämtliche Kritiken an ihr und ihrer
Vorgehensweise ins Lächerliche zieht, sondern auch, wenn sie
Kindern zu einer irreversiblen Geschlechtsumwandlung rät. In einer
heimlich mitgefilmten Präsentation echauffierte sie sich über etwas,
das sie »einfach sagen muss«. Es handelt sich dabei um ihre
Antwort an alle Kritiker, die Kindern abspricht, eine solch
fundamentale und lebensverändernde Entscheidung zu treffen.
Sie fuchtelt mit den Armen und hat offensichtlich kein Verständnis
für solche uneinsichtigen Kollegen. Sie weist darauf hin, dass es
auch üblich sei, zu heiraten, ehe man 20 ist und das College
auszuwählen, auf das man gehen wolle und dass während der
Adoleszenz auch »lebensverändernde« Entscheidungen getroffen
werden, die sich im Nachhinein als richtig erweisen. Wir verleihen
den schlimmen Dingen zu viel Gewicht, sagte sie. »Was wir jedoch
mit Sicherheit sagen können, ist, dass Heranwachsende durchaus in
der Lage sind, vernünftige, logische Entscheidungen zu treffen.« So
weit, so gut. Doch was sie dann sagt, ist einfach unglaublich.
»Denken wir doch bloß mal an die Brustoperationen. Wer erst später
Brüste haben will, lässt sie sich halt später machen.«268
Ach ja? Wo denn? Und wie? Haben wir uns etwa schon zu einer
Art Legostein entwickelt, und die Steine lassen sich einfach so
zusammenstecken, auseinandernehmen und austauschen? Sind
Operationen inzwischen schon so schmerzfrei, unblutig, verlaufen
ohne Komplikationen und ohne Narbenbildung, dass jeder sich
einfach so neue Brüste dranmachen lassen kann und den Rest
seiner Tage glücklich damit lebt und sich seiner Anschaffung erfreut?
Bei einer geschlechtsanpassenden Operation eines Mannes zu einer
Frau werden übrigens nicht nur die Genitalien und die Brüste
operiert, sondern es wird Knochenmaterial an Kinn, Nase und Stirn
abgetragen, wobei zum Teil die Gesichtshaut entfernt werden muss.
Und dann stehen auch Haarimplantationen an, eine Sprachtherapie
und vieles mehr.269 Bei einer Frau, die ein Mann werden will, muss
etwas Ähnliches wie ein Penis aus Haut, die an anderen Stellen des
Körpers entnommen wird, konstruiert werden. Dafür werden oft Teile
des Unterarms verwendet – allerdings ohne Erfolgsgarantie. Das
alles hat auch sonst seinen Preis – mehrere Zehntausend, oft
Hunderttausende von Dollar. Man muss schon sehr verlogen sein,
um einen solch schwerwiegenden Eingriff als »erste Sahne« zu
verkaufen.
Aber es kommt noch schlimmer. Im Februar 2017 stellte sich eine
neue Organisation namens WPATH auf der USPATH-Konferenz in
Los Angeles vor. WPATH steht für World Professional Association for
Transgender Health (Weltverband für die Gesundheit von
Transgender). Und wieso heißt die Konferenz dann »Inaugural
United States Professional Association for Transgender Health
Scientific Conference« (»Wissenschaftliche Auftaktveranstaltung des
amerikanischen Verbands für die Gesundheit von Transgender«)?270
Ein Teil dieses Kongresses trug den Namen »Außerhalb des Binären
– Pflege von nichtbinären Jugendlichen und Heranwachsenden«. Dr.
Olson-Kennedy hielt dazu einen Vortrag, und es war offensichtlich,
dass die Anwesenden grundsätzlich einer Meinung mit ihr waren. Im
Laufe ihrer Rede wurde klar, wie jung die vermeintlichen
Jugendlichen und Heranwachsenden, anders als der Titel vermuten
lässt, noch waren.
Olson-Kennedy schilderte ihre Begegnung mit einem
achtjährigen Kind, dem (in ihren Augen lustigerweise) »bei seiner
Geburt das weibliche Geschlecht zugeteilt worden war. Dieses Kind
kommt also in meine Praxis und ihre Eltern sind total verwirrt.« Ihre
Tochter »gibt sich als ganzer Junge, trägt die Haare kurz geschnitten
und Jungenklamotten. Das Problem war, dass dieses Kind auf eine
religiöse Schule ging. Dort hielt man es für ein Riesenproblem, dass
sie, die aussah wie ein Junge, auf die Mädchentoilette ging. Das
Kind war davon so genervt, dass es anfing zu überlegen, ob es sich
an der Schule nicht besser als Junge ummelden sollte.« Olson-
Kennedy plappert weiter, als handele es sich um eine urkomische
Geschichte, die sie da zum Besten gibt. Sie schildert, wie verwirrt die
Eltern sind und wie verrückt das Umfeld des Kindes ist, das einfach
nicht versteht, was für sie als Ärztin und ihr Publikum sonnenklar ist.
Manche »Kids«, die in ihre Praxis kommen, besitzen ganz
offensichtlich große »Klarheit« und können »hervorragend
beschreiben«, wie sie sich mit ihrem Geschlecht fühlen, und freuen
sich auf ihre endgültige »Verwandlung«. Dieses Kind »ist jedoch
noch nicht organisiert und hat noch nicht über alle Möglichkeiten
nachgedacht«. Dann berichtet Olson-Kennedy von einem drei oder
vier Jahre alten Mädchen, das ihrer Mutter erklärt hat, weshalb sie
sich als Junge fühlt. Doch plötzlich sagt Olson-Kennedy, das habe
das Mädchen doch nicht gesagt. Trotzdem lacht das Publikum
wissend. Später dann erinnert sich Olson-Kennedy, dass sie das
Kind (von eben) gefragt hat, ob es ein Mädchen oder ein Junge sei.
Das Kind blickt verwirrt drein und antwortete: »Ich bin ein Mädchen,
weil ich doch diesen Körper habe.« Diese Aussage kommentiert
Olson-Kennedy so: »Jetzt wissen wir, wie dieses Kind gelernt hat,
über sein Geschlecht zu reden, nur wegen seines Körpers!« Sie
schildert dann, wie ihr mitten im Gespräch mit dem älteren Kind eine
brillante Idee gekommen sei. Sie fragt es, ob es Pop-Tarts mag. Die
Achtjährige bejaht diese Frage. Olson-Kennedy fragt sie daraufhin,
was sie tun würde, wenn in einer Schachtel mit Pop-Tarts, auf der
als Geschmacksrichtung Zimt angegeben wird, eines mit
Erdbeergeschmack drin wäre. »Ist es dann Erdbeergeschmack oder
Zimtgeschmack?« »Erdbeere.« »Und? Was heißt das dann …?«
Wieder lacht das Publikum wissend und beginnt zu klatschen.
Daraufhin wendet sich das Kind an seine Mutter und sagt: »Ich
glaube, ich bin ein Junge, auch wenn Mädchen draufsteht.« In dem
Augenblick flippen die Zuhörer beinahe aus und verleihen ihrer
Bewunderung Ausdruck. Und dann fasst Olson-Kennedy den
Höhepunkt ihrer Geschichte zusammen: »Auch die Mutter war total
beeindruckt, stand auf und nahm ihr Kind in die Arme. Das war eine
unglaubliche Erfahrung.« Bevor die Zuhörer die Gelegenheit nutzen
und ihre eigenen, herzerwärmenden Geschichten zum Besten geben
können, ergreift Olson-Kennedy erneut das Wort: »Es bereitet mir
Kopfschmerzen, wenn wir Dinge sagen wie ›Ich bin …‹, anstatt dass
wir sagen ›Ich wünschte, ich wäre …‹. Denn ich glaube, dass
wirklich viele Dinge aus dem Kontext heraus passieren, in dem
Leute Geschlechtszugehörigkeit verstehen und versprachlichen.
Deshalb würde ich nicht behaupten, dass ich schuld daran bin, dass
aus dem Kind ein Junge wurde.« Wieder klatscht das Publikum,
begeistert von dieser Idee. »Ich glaube, es war wichtig, dass ich
diesem Kind die Worte beigebracht habe, wie es über sein
Geschlecht reden kann.«271
Was ich unter anderem an dieser Veranstaltung merkwürdig
finde, ist, dass Olson-Kennedy nicht zu »Ärzten« spricht, sondern zu
ihrer »Gemeinde«. Im Voraus festgelegte Vorstellungen werden
diskutiert, festgelegte Tugenden zelebriert. Dann werden Vorschläge
unterbreitet, über die man sich amüsiert, und dann werden sie
fallengelassen. Die Zuhörer sitzen nicht da, hören zu und stellen
dann Fragen, wie das bei einer wissenschaftlichen Konferenz oder
Fachtagung der Fall ist. Nein, diese Zuhörer kreischen, lachen,
prusten und applaudieren in einer Art und Weise, dass es eher an
ein christliches Erweckungstreffen erinnert.
Oder an einen Comedy Club. Olson-Kennedy fragt einen Mann,
der sich das Mikrofon nehmen will: »Sind Sie ein Vertreter für
Medizinprodukte?« »Ja, bin ich.« »Okay«, antwortet sie und will ihm
das Mikrofon nicht überlassen. »Ich möchte noch von einer Sache
erzählen, die ich von meinem Mann gelernt habe, der in der
Psychiatrie arbeitet.« An der Stelle fällt ihr der Vertreter ins Wort und
sagt mit heiserer Stimme: »Das würde ich nur zu gerne wissen.«
Wieder klatschen die Zuhörer wie wild, und es ist zustimmendes
Lachen zu hören, als hätte er eine zum Brüllen komische,
zweideutige Andeutung gemacht. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt
ist, sagt der Vertreter (der aus Iowa stammt): »Ich wollte Ihnen eben
mitteilen, dass ich meine Kunden bei der ersten Begegnung immer
frage, was sie sich wünschen würden, wenn sie einen Zauberstab
hätten oder eine Fee vorbeikäme und sie sich etwas wünschen
dürften.
Was wünschen sie sich wirklich? Was kann ich tun, damit sich ihr
Wunsch erfüllt? Auf diese Weise erfahre ich, was ihr Ziel ist und mit
welchen Mitteln ich dazu beitragen kann, dass sie es erreichen.«
Normalerweise nimmt ein Kind den Zauberstab in die Hand, schließt
die Augen und wünscht sich etwas. Doch wenn es die Augen wieder
öffnet, merkt es, dass sein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist
und der Zauberstab keinerlei Wirkung gezeigt hat. Doch in der Welt
der Transideologie machen Erwachsene Kindern weis, dass der
Trick mit dem Zauberstab funktioniert, ihre Wünsche auf jeden Fall in
Erfüllung gehen, und wenn sie sich etwas nur fest genug wünschen,
stehen Erwachsene parat und lassen es geschehen.
Wie sich zeigt, ist der Witz, den dieser Dienstleister auf Kosten
von Dr. Olson-Kennedy gemacht hat, nicht halb so witzig, wie die
Teilnehmer der USPATH-Konferenz glauben mögen. Denn ihr Mann,
»der in der Psychiatrie arbeitet«, ist ein ganz besonderes Kaliber.
Aydin Olson-Kennedy arbeitet im Los Angeles Gender Center.
Unter den auf der Webseite genannten Therapeuten findet sich eine
Beschreibung seines beruflichen Werdegangs. Er ist nicht nur ein
»zugelassener klinischer Sozialarbeiter«, der in »der Psychiatrie
eingesetzt wurde«, sondern er ist auch als »anwaltschaftlicher
Berater« tätig. Außerdem wird erwähnt, dass er eine
Geschlechtsumwandung hinter sich hat. Oder wie es auf der
Webseite zu lesen ist: »Aydin Olson-Kennedy hat im Laufe seiner
Karriere von seiner einzigartigen Perspektive als Transmann
profitiert, der selbst schon psychiatrische und medizinische Hilfe in
Anspruch genommen hat.« In dem Fall bringt ihn die Frage, wo sich
Medizin, Pflege, Sozialarbeit und Coaching überschneiden, beruflich
weiter.
Zu seiner »Verwandlung« in einen Mann unterzog sich Aydin der
Amputation beider Brüste – ein Eingriff, der in der Regel Narben
hinterlässt. Doch vielleicht rät Aydin seinen Patienten ja deshalb so
gerne zu dieser Operation, weil er sie schon hinter sich hat. Zu den
bekannten Fällen gehört der einer 14-Jährigen, die eine lange
Geschichte psychischer Probleme hat. Noch schockierender ist
jedoch der Fall einer jungen Amerikanerin, die am Down-Syndrom
leidet. Das Mädchen – die als Melissa bekannt wurde – litt an
unterschiedlichen physischen und psychischen Problemen und war
Berichten zufolge an Leukämie erkrankt.
Aus unerklärlichen Gründen schien die Mutter Diagnosen ihrer
Tochter zu sammeln wie andere Leute Briefmarken. Irgendwann kam
sie – mit der Hilfe von Dritten – auf die Idee, ihr Kind wäre
transsexuell. Mit dieser Einschätzung stand sie jedoch nicht allein da
– Aydin Olson-Kennedy war an ihrer Seite und unterstützte ihren
Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden Operation für ihre
Tochter. Und er ließ seinen Worten Taten folgen und sammelte bei
anderen Transmenschen Spenden ein, damit sich Melissa einer
Mastektomie beider Brüste unterziehen konnte.272 Und als wäre die
ganze Angelegenheit nicht schon verzwickt genug, sind beide Olson-
Kennedys Berater für Endo Pharmaceuticals, die – unter anderem –
Testosteron herstellen.

WOHIN FÜHRT DAS ALLES?


Wenn das L und das G und das B die unsicheren Elemente des
Akronyms LGBT sein sollen, dann steht der letzte Buchstabe für die
größte Unsicherheit und hat die größte destabilisierende Wirkung.
Wenn schwul, lesbisch und bisexuell noch Fragen offen lassen,
dann ist Trans nahe dran, ein Mysterium zu sein, mit den extremsten
Folgen. Es geht hier ja nicht um Gleichstellung – es dürfte nur sehr
wenige Menschen geben, die allen Ernstes der Überzeugung sind,
jemanden auszuschließen und ihm die gleichen Rechte wie allen
anderen zu verwehren. Nein, das Problem sind Vorurteile und
unbestätigte Annahmen. Die Forderung, dass jeder neue
Genderpronomen verwendet und sich daran gewöhnt, öffentliche
Toiletten mit jemandem vom anderen Geschlecht zu teilen, ist die
eine Sache, mit der die wenigsten Menschen ein Problem haben
dürften. Ganz anders dagegen sieht es mit der Forderung aus, dass
Kinder über einen medizinischen Eingriff entscheiden können sollen,
wobei der Grund für einen solchen weitreichenden Eingriff noch
weitestgehend im Dunkeln liegt. Außerdem fürchte ich, dass sich der
Trend fortsetzen wird und die betroffenen Kinder immer jünger
werden. Ende 2018 wurde die Leiterin einer Privatklinik für
geschlechtsangleichende Operationen in Wales von einem Gericht
wegen illegaler Erbringung von Leistungen im Gesundheitswesen
verurteilt. In ihrer Klinik wurden Zwölfjährigen
geschlechtsverändernde Hormone verabreicht.273
Es stellt sich ernsthaft die Frage, weshalb die Altersgrenze für
Geschlechtsumwandlungen nicht weiter sinken sollte, zumal bei der
zugrunde liegenden Forderung mit allen möglichen fiesen Tricks –
Drohungen, Erpressungen und Aufbauschen – gearbeitet wird.
Jeder, der die Schattenseiten eines solchen Eingriffs offenlegt oder
seiner Sorge Ausdruck verleiht, wird beschuldigt, hasserfüllt zu sein
und Gewalt gegen Transmenschen zu befürworten oder sie dazu zu
bringen, sich selbst Gewalt anzutun. Man könnte fast meinen, das
Einzige, was Nichttransmenschen übrigbleibt, ist, bei dem Thema
entweder ganz den Mund zu halten oder sich auf die Seite der
Transmenschen zu stellen. Diese Einstellung hat sogar schon zur
Einführung neuer Konzepte geführt, die teils aus der Frauen- und
teils aus der Trans-Bewegung stammen – wie zum Beispiel die
Vorstellung, dass manche Menschen »nichtbinär« oder
»genderfluid« sind. In einer Reportage des BBC mit dem Titel Things
Not to Say to a Non-Binary Person (Dinge, die man einer
nichtbinären Person nie sagen sollte) sind junge Menschen zu
sehen, die sich darüber unterhalten, wie »restriktiv« die Vorstellung
von männlich und weiblich ist – und wie grob vereinfachend. Wie
einer von ihnen so schön sagt: »Ich meine, was ist denn ein Mann,
und was ist denn eine Frau?«274 Der überwiegende Eindruck, der
nach dem Film bleibt, ist, dass die Jugendlichen in dem Film und
andere, die ihre Ansichten teilen, in Wirklichkeit nur sagen: »Schau
mich an!«
Ist das auch der Fall bei jungen Leuten, die von sich behaupten,
sie seien Trans? Ziemlich sicher. Doch niemand kann mit Sicherheit
sagen, für wen das gilt und für wen nicht – oder wer eine
Geschlechtsumwandlung dringend braucht und wer besser die
Finger davon lässt. Selbst Johanna Olson-Kennedy hat eingeräumt,
dass die meisten Patienten, die sich als transgender ansehen, nicht
an Störungen der Geschlechtsentwicklung leiden.
Der Schachzug, Hormone und operative Eingriffe radikal
vereinfacht dargestellt als Lösung zu präsentieren, wird so manchen
davon überzeugen, dass die Probleme in seinem Leben auf diese
Weise wie von Zauberhand verschwinden können, was ein grandios
fundamentales Missverständnis ist. Im Fall von Jazz Jennings hat
die Geschlechtsumwandlung ja geklappt – und vielleicht auch bei
Caitlyn Jenner. Doch es heilte nicht die Probleme von Nathan
Verhelst, sofern man ihm überhaupt hätte helfen können. Das
aktuelle Problem ist nicht, dass es unterschiedliche Menschen gibt,
sondern die Sicherheit – die trügerische Sicherheit, mit der ein
unglaublich diffuses Thema so dargestellt wird, als wüsste man
schon alles darüber.
ZUSAMMENFASSUNG

Die Freunde der sozialen Gerechtigkeit, Identitätspolitik und


Intersektionalität sind überzeugt, wir lebten in einer rassistischen,
sexistischen, homophoben und transphoben Gesellschaft. Zudem
seien diese Formen der Unterdrückung miteinander verknüpft.
Doch könnte es uns gelingen – so ihre Ansicht –, dieses Geflecht
zu erkennen und es letzten Endes aufzulösen, könnten wir der
bestehenden Unterdrückung ein Ende bereiten. Und dann würde
etwas geschehen. Was das genau sein wird? Das bleibt im
Unklaren.
Vielleicht verhält es sich mit der sozialen Gerechtigkeit so, dass
sie für immer Bestand haben wird, sobald sie einmal erreicht ist.
Vielleicht müssen wir aber auch unablässig auf sie achten. Aller
Wahrscheinlichkeit nach werden wir das nie herausfinden.
Denn zunächst ist es ja beileibe nicht so, als wären diese Formen
der Unterdrückung tatsächlich perfekt miteinander verknüpft. Nein,
mit Abscheu und Lärm reiben sie aneinander und an sich selbst ...
Sie sorgen für immer mehr Reibung anstatt weniger, für immer mehr
Spannungen, für immer mehr Wahnsinn der Massen, statt zu einem
inneren Frieden beizutragen.
Dieses Buch richtete seinen Blick auf vier komplexe Themen,
über die nicht nur täglich in der Zeitung zu lesen ist, sondern die die
Grundlage einer neuen gesellschaftlichen Moral bilden. Leider ist es
nicht mehr nur ein Zeichen der Empathie, wenn auf die Not von
Frauen, Homosexuellen, Menschen mit unterschiedlichem
ethnischen Hintergrund und Transmenschen aufmerksam gemacht
wird, sondern eine Demonstration von moralischen Ansprüchen und
Überzeugungen – einer neuen Religion, wenn Sie so wollen.
Und es geht darum, wie diese Religion praktiziert wird. Aus dem
»Kampf« um ihre Belange und dem Eintreten für ihre Anliegen ist
eine Möglichkeit geworden, sich und der Welt zu beweisen, dass
man zu den Guten gehört. Zweifellos ist das nicht einfach so vom
Tisch zu wischen. Wenn es Menschen gestattet ist, ihr Leben so zu
leben, wie sie das gerne möchten, ist das eine der meistgeschätzten
Errungenschaften unserer Gesellschaften – und doch eine der
seltensten. In 73 Ländern ist Homosexualität nach wie vor gesetzlich
verboten, in acht droht Homosexuellen die Todesstrafe.275 In
Ländern des Nahen Ostens und in Afrika werden Frauen
grundlegendste Rechte verweigert. Immer wieder kommt es in zig
Ländern zu ethnisch motivierten oder ausländerfeindlichen
Gewaltausbrüchen.
2008 flohen 20 000 Mosambikaner aus Südafrika zurück in ihre
Heimat, nachdem es in den schwarzen Townships von
Johannesburg zu Unruhen mit mehreren Dutzend Toten gekommen
war, die zudem Tausende in die Obdachlosigkeit trieben. Nirgends
auf der Welt sind die Rechte von Transmenschen, die ihr Leben
nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten wollen,
so geschützt wie in den westlichen Industrieländern.
All das könnte durchaus als Leistung gefeiert werden, die nur
aufgrund der dortigen Rechts- und Gesetzessysteme und einer
Kultur der Rechte möglich wurde. Doch ausgerechnet hier stellen wir
ein Paradoxon fest:
Vor allem die fortschrittlichsten Länder werden als die
schlimmsten dargestellt. Möglicherweise handelt es sich hier ja um
eine Sonderform von Daniel Patrick Moynihans Diktum über
Menschenrechte: Die Anzahl vermeintlicher Verstöße gegen die
Menschenrechte in einem Land verläuft umgekehrt proportional zu
den tatsächlichen Verstößen. Soll heißen, in unfreien Ländern ist
nichts von solchen Verstößen zu hören.
Nur in einem freien Land ist es erlaubt – und sogar erwünscht –,
endlos über die dort bestehenden Ungerechtigkeiten zu lamentieren.
Nur wer in einem alles andere als faschistischen System lebt, dem
ist es überhaupt möglich, ein amerikanisches College oder ein
Gourmeterlebnis in Portland in die Nähe von Faschismus zu rücken.
Es ist unglaublich, wie schnell sich diese Mischung aus
Anschuldigungen, Forderungen und Groll in der westlichen Welt
verbreitet hat. Und das hängt nicht nur mit den neuen Technologien
zusammen, auch wenn wir bereits ein gutes Jahrzehnt über
Smartphones und Twitter verfügen. Auch davor ist schon manches
schiefgelaufen im Diskurs über (Menschen-)Rechte und den
praktizierten Liberalismus. Man könnte fast meinen, der Teil des
Liberalismus, der Dinge hinterfragt, wäre irgendwann durch einen
liberalen Dogmatismus ersetzt worden. Ein Dogmatismus, der darauf
beharrt, dass Fragen geklärt seien, die in Wahrheit noch offen sind,
der Dinge als bekannt voraussetzt, über die wir noch so gut wie
nichts wissen, und der behauptet, wir wüssten ganz genau, wie wir
eine Gesellschaft entlang ungenügender Argumentationslinien zu
strukturieren hätten. Darum werden die Ergebnisse unserer Rechte
als ihre Grundlagen präsentiert, obwohl diese Grundlagen solch
instabile Einheiten sind. Wenn dieser Liberalismus doch nur eine
Dosis Demut zulassen könnte, wo Gewissheit vorherrscht! Denn
diese Form des dogmatischen und rachsüchtigen Liberalismus
riskiert, dass die ganze liberale Ära nicht nur unterminiert wird,
sondern irgendwann ganz untergeht. Schließlich ist noch lange nicht
ausgemacht, ob die Mehrheit der Bevölkerung auch in Zukunft
Forderungen akzeptiert, die sie gefälligst zu akzeptieren hat, und ob
sie sich weiterhin von dem einschüchtern lässt, was ihr an den Kopf
geworfen wird, falls sie das nicht tut.
Die Unzulänglichkeiten dieser neuen Theorie – und
Rechtfertigung – des Daseins müssen bestimmt entlarvt werden,
denn der fortgesetzte Schmerz, wenn dieser Zug der
Intersektionalität nicht aufgehalten wird, ist unermesslich. Die von
einer neuen Generation begierig aufgesogene Metaphysik – allen
Verweigerern drohte die Zwangsernährung – ist an gleich mehreren
Stellen instabil und basiert auf dem Wunsch, über Dinge, von denen
wir keine Ahnung haben, mit Gewissheit zu sprechen und unsere
Aussagen über Dinge, von denen wir Ahnung haben, zu relativieren
oder sie gleich ganz zu verwerfen. Die Grundlagen sind, dass jeder
schwul werden darf, dass Frauen womöglich besser sind als
Männer, dass man weiß werden darf, aber nicht schwarz, und dass
jeder sein Geschlecht ändern kann. Dass jeder, der das nicht
unterschreibt, ein Unterdrücker ist. Und dass alles politisiert werden
sollte.
Die Verwirrungen und die Widersprüche sind hier so immens,
dass sie für ein ganzes Leben vorhalten. Nicht nur punktuell,
sondern grundsätzlich. Wie sollen homosexuelle und heterosexuelle
Männer und Frauen mit der Forderung umgehen, Kindern ein
anderes Geschlecht zuzuordnen als das, das sie bei ihrer Geburt
mitbekommen haben? Weshalb sollte eine junge Frau, die sich
ausgesprochen burschikos verhält, als eine Transsexuelle betrachtet
werden, die kurz vor ihrer Geschlechtsumwandlung in einen Mann
steht?
Weshalb sollte ein kleiner Junge, der sich gern als Prinzessin
verkleidet, als Transsexueller angesehen werden, dessen
geschlechtsangleichende Operation, in dem Fall von Mann zu Frau,
nur eine Frage der Zeit ist? Wenn Experten für Genderfragen über
bestimmte Menschen Behauptungen aufstellen oder Ansprüche
reklamieren, als ob diese wie Pop-Tarts ausgeliefert worden wären,
beweist das eventuell nur, dass sie selbst ein Problem mit dem
Lesen und Verstehen von Etiketten haben. Schätzungen zufolge trifft
es auf rund 80 Prozent aller Kinder zu, bei denen eine Störung der
Geschlechtsidentität – wie es jetzt heißt – diagnostiziert wurde, dass
sich dieses Problem während der Pubertät von selbst erledigt. Sie
fühlen sich also mit dem biologischen Geschlecht wohl, das bei ihrer
Geburt festgestellt wurde. Ein Großteil dieser Kinder ist im
Erwachsenenalter schwul oder lesbisch.276 Wie sollen sich Lesben
und Schwule angesichts der Tatsache fühlen, dass Jahrzehnte
nachdem sie endlich so angenommen werden, wie sie sind, einer
neuen Generation von Lesben und Schwulen beigebracht wird, dass
die maskulinen Züge der Lesben sie zu Männern beziehungsweise
die femininen Züge der Schwulen sie zu Frauen machen? Und was
sollen Frauen davon halten, wenn ihnen nach Jahren, in denen sie
ihren Kampf um Frauenrechte erfolgreich geführt haben, nun von
Leuten, die als Mann geboren wurden, gesagt wird, welche Rechte,
inklusive dem Recht auf Meinungsäußerung, sie tatsächlich
besitzen?

DIESE BEHAUPTUNGEN LAUFEN NICHT


ZUSAMMEN, SIE BEFÖRDERN DIE
DIVERGENZ
Anders, als die Fürsprecher der sozialen Gerechtigkeit behaupten,
ist es eben nicht so, dass diese Kategorien bestens miteinander
harmonieren. Die Unterdrückungsmatrix ist kein Zauberwürfel,
dessen Steine nur darauf warten, von Sozialwissenschaftlern in die
richtige Position gedreht zu werden. Wir haben es mit zahlreichen
Forderungen zu tun, die nicht zueinander passen, und auf diesem
Spielfeld schon gar nicht.
2008 war in Kalifornien ein Volksentscheid über ein
Gesetzesvorhaben angesetzt, der Proposition 8, der zufolge nur
noch heterosexuelle Ehen staatlich anerkannt werden sollten. Das
bekannteste amerikanische Schwulenmagazin Advocate lief
dagegen Sturm und setzte sich dafür ein, die homosexuelle Ehe
weiterhin zu gestatten. Auf der Titelseite der Novemberausgabe war
in Riesenlettern zu lesen: »Schwul ist das neue Schwarz«. Bei den
schwarzen US-Bürgern kam das gar nicht gut an.
Ebenso wenig wie der Untertitel: »Der letzte große Kampf um
Bürgerrechte«. An der beißenden Kritik änderte auch das – typisch
für den Journalismus der alten Schule – nach dieser Behauptung
gesetzte Fragezeichen nichts.277 In einer Kritik hieß es, das
Argument »Schwul ist das neue Schwarz« sei eine Beleidigung –
aus mehreren, dezidiert aufgeführten Gründen –, da »absolut kein
Zusammenhang zwischen der gleichgeschlechtlichen Ehe und
Gesetzen besteht, die Ehen zwischen Menschen unterschiedlicher
Hautfarbe verbieten«.278 Immer wenn es den Anschein hat, als ob
solche Kontroversen und Vergleiche ein für alle Mal der
Vergangenheit angehören und alle rechtlichen Forderungen und
Errungenschaften in friedlicher Harmonie miteinander bestehen
könnten, kommt es zu derartigen Zerwürfnissen. Manchmal genügt
es schon, wenn die falsche Frage gestellt wird. In den Nachwehen
der Affäre um Rachel Dolezal druckte die Zeitschrift für feministische
Philosophie Hypatia einen Artikel der Professorin Rebecca Tuvel, die
eine höchst interessante Frage aufwarf.
Bei ihrem Vergleich, wie Rachel Dolezal und Caitlyn Jenner
behandelt wurden, wollte sie wissen, wenn wir doch »die
Entscheidung der Transgender, ihr Geschlecht zu ändern,
akzeptieren, sollten wir dann nicht auch die Entscheidung von
transrassischen Menschen hinnehmen, die ihre Hautfarbe ändern
wollen?«. Auch das kam nicht gut an. Was die logische Schlüssigkeit
anbelangt, muss man Tuvel Recht geben: Wenn wir alle unsere
Identität frei wählen können, weshalb sollte dieses Recht dann bei
der Hautfarbe aufhören, aber nicht beim Geschlecht?
Angesichts des aktuellen Sittenkodex hätte sie allerdings nichts
Schlimmeres schreiben können. Neben anderen Gruppierungen
machten auch schwarze Aktivisten Stimmung gegen Tuvel. Flugs
wurde eine Petition gegen sie ins Leben gerufen, ein offener Brief
unterzeichnet, und selbst eine der Herausgeberinnen der
abdruckenden Zeitschrift Hypatia wandte sich gegen sie. Angeblich,
so der Vorwurf, hatte sie mit ihrem Artikel dafür gesorgt, dass
»weiße Cis-Wissenschaftler« sich an Debatten beteiligen, die
»Transphobie und Rassismus« fördern.279
Offenbar wurde die Welt dieser wenig bekannten feministischen
Zeitschrift so durchgeschüttelt, dass nach sehr kurzer Zeit eine
Stellungnahme abgedruckt wurde, in der Hypatia für den Artikel um
Verzeihung bat, die Hauptherausgeberin ihren Posten quittierte und
die leitenden Redakteurinnen ersetzt wurden. Tuvel selbst betonte
wieder und wieder, dass sie ihren Artikel vom Standpunkt der
Solidarität mit allen Menschen mit einer nichtnormativen Identität
geschrieben habe und frustriert sei, wenn solche Menschen verurteilt
oder zum Schweigen gebracht werden und sich ihres Körpers
schämen.280 Ihr einziges Motiv für diesen Artikel sei die
»Erweiterung des geistigen Horizonts« gewesen, doch die schien
niemanden zu interessieren.
Hätte Rebecca Tuvel Rachel Dolezal in der Sendung The Real
gesehen, die 2015 lief, hätte sie eine Antwort auf ihre Frage
erhalten. Die vier farbigen Frauen, die zu Gast in dieser Show
waren, machten Dolezal klar, dass eine »Rassenumwandlung«
inakzeptabel sei, denn wenn jemand als Weiße/r aufgewachsen sei,
dann könne sie/er nicht nachvollziehen, wie jemand fühlt, die/der als
Schwarze/r groß geworden sei. Schließlich hätten diese beiden
Menschen höchst unterschiedliche Erfahrungen gemacht.281
Interessant, dass zur selben Zeit Feministinnen der zweiten Welle
mit Bezug auf Transsexuelle genau das Gleiche vorbrachten. Doch
ein Argument, das in puncto Hautfarbe funktionierte, tat dies nicht,
wenn es um Frauen ging.
Manchmal entsteht ein Problem überhaupt erst, weil jemand die
falsche oder eine heikle Frage gestellt hat. Und manchmal, wenn
sich herausstellt, dass die Person, die beauftragt wurde, alles fein
säuberlich zu ordnen, ein unglaublich unangenehmer und
schwieriger Zeitgenosse ist.
Im Oktober 2017 meldete das britische Männermagazin Gay
Times, seinen ersten BME-Redakteur Josh Rivers eingestellt zu
haben (das war noch in einem Monat, als BME [Black and Minority
Ethnic – Schwarze und ethnische Minderheiten] noch nicht durch
das längere, inzwischen akzeptiertere BAME [Black, Asian and
Minority Ethnic – Schwarze, Asiaten und ethnische Minderheiten]
ersetzt worden war). Rivers hielt sich ganze drei Wochen. Kurz nach
der Meldung von Gay Times entschloss sich BuzzFeed, Rivers’
sämtliche Tweets zu durchforsten und wurde mehr als fündig. Von
2010 bis 2015 hatte Rivers jede Menge Kommentare gepostet, die –
so die Warnung von BuzzFeed – »viele Leser schockieren könnten«.
Rivers war nicht unbedingt das, was man antirassistisch nennen
könnte. Vor allem schien er etwas gegen Menschen jüdischen
Glaubens zu haben, und auch Asiaten mochte er offenbar nicht.
Jegliche Hemmung verlor er, wenn es um Afrikaner und vor allem
Ägypter ging. Letztere waren für ihn »fette, stinkende, haarige,
hinterfotzige, rückständige Vergewaltiger«. Er mochte keine dicken
Menschen, keine Arbeiter und keine »Spastis«. Auch Lesben blieben
nicht von seiner unglaublichen Wut verschont. Und seine Ansichten
über Transsexuelle waren besonders rückständig. Im Jahr 2010
hatte er einem Transsexuellen vorgeworfen: »Pass mal auf, Transe.
1. Du siehst aus wie ein Junkie. 2. DU BIST EINE TRANSE. 3.
Deine Perücke ist unbeschreiblich. Schau mich bloß nicht an,
Schwuchtel!«282 Dieser Tweet wurde von einem Schwulenmagazin,
das die ganze Sache unglücklicherweise aufrollte, mit dem
Warnhinweis versehen, dieser Tweet sei »besonders grauenhaft«.283
Gay Times initiierte sogleich eine Untersuchung in eigener Sache
und meldete 24 Stunden später, dass das Arbeitsverhältnis des
ersten BME-Redakteurs mit sofortiger Wirkung beendet worden sei
und seine gesamten Artikel von der Webseite gelöscht. Das Magazin
»toleriert solche Ansichten nicht und setzt sich für Integration
ein«.284 Einige Wochen später entschuldigte sich Rivers für den
Inhalt seiner Tweets und erklärte in einem Interview, wie es dazu
kam und wie er das alles interpretierte. Das Feedback auf seine
Tweets sei, wie er sich ausdrückte, »rassistisch gefärbt« gewesen.
Und dann ließ er noch verlauten: »Das Feedback von Weißen
lautete: Haha! Ha! Aha! Genau so ist es. Ja so klar und eindeutig ist
es. Schwarz und weiß, wie eh und je.«285 In seinen Augen war
jedwede Kritik an seinen rassistischen Tweets selbst rassistisch.
Ähnlich frustrierende Ereignisse häufen sich. Wenn es
Transfrauen gestattet ist, Frauensportarten auf höchstem Niveau
auszuüben, verstößt das im Endeffekt oft gegen die Gleichstellung
der Geschlechter.
Im Oktober 2018 gewann eine Transfrau, Rachel McKinnon, die
Radsport-Weltmeisterschaft der Frauen in Kalifornien. Jen Wagner-
Assali, die von McKinnon auf den dritten Platz verwiesen worden
war, bezeichnete McKinnons Sieg als »unfair« und forderte vom
Internationalen Radsportverband eine Änderung der Regeln. Doch
die Befürchtung, dass die Teilnahme von Transfrauen an sportlichen
Wettkämpfen sich dergestalt auswirken könnte, dass diejenige von
Cis-Frauen gefährdet wäre, wurde von der Siegerin als »transphob«
zurückgewiesen.286
Diese Reihe von Beispielen ließe sich beliebig fortsetzen. Als
Hannah Mouncey Schwierigkeiten hatte, für das australische
Frauenhandballteam aufgestellt zu werden, lautete ihr Kommentar,
dass dies eine furchtbare Botschaft an Frauen und Mädchen ihren
Körper betreffend aussende. Mouncay erklärte, worum es ihr ging.
»Wenn du zu groß bist, darfst du nicht spielen.
Diese Aussage ist unglaublich gewagt und rückständig.«
Mouncey war die einzige Transgender-Frau in ihrer Mannschaft und
der rein körperliche Unterschied zu ihren Teamkolleginnen
beachtlich. Das Mannschaftsfoto sieht aus, als würde inmitten lauter
Handballspielerinnen ein sehr großer Rugbyspieler sitzen. Handelt
es sich hier tatsächlich um Diskriminierung aufgrund ihrer
Körpergröße? Ist es schon rückständig, wenn einem dieser
Unterschied auffällt? Gilt man auch dann als rückständig, wenn man
der Meinung ist, dass eine Sportlerin, die als Mann auf die Welt kam
– wie Laurel (geboren als Gavin) Hubbard –, einen unbestreitbaren
Vorteil beim Gewichtheben der Frauen in der 90+kg-Gewichtsklasse
hat?
2018 gewann die 18-jährige Mack Beggs zum zweiten Mal in
Folge den Texas Wrestling Contest für Frauen bis 50 Kilogramm.
Beggs unterzieht sich zu dieser Zeit einer Hormonbehandlung und
nimmt Testosteron als Vorbereitung ihrer Umwandlung von Frau zu
Mann. In den Zeitungsartikeln über Beggs’ Siege geht es mehr um
die Buhrufe einiger Zuschauer, als sie ihre Gegnerin besiegt – als ob
Ignoranz und Engstirnigkeit hier das größte Problem wären. Ich
würde eher von einer Augenwischerei im großen Stil sprechen.
Normalerweise fällt die Einnahme von Testosteron in der Welt des
Sports unter Doping, was den Ausschluss des Sportlers von
Wettkämpfen zur Folge hat – doch wie sich zeigte, gilt das nicht,
wenn die Betreffende das männliche Hormon schluckt, weil sie dabei
ist, ein Mann zu werden. Feingefühl schlägt also Wissenschaft?
Doch es geht noch schlimmer – wie immer.
Eines der Gebote nicht nur des Feminismus, sondern jeder
anständigen zivilisierten Gesellschaft lautet, Frauen nicht zu
schlagen oder gar zu verprügeln. Und doch verschließt die Welt ihre
Augen vor der Tatsache, dass es bei diversen Kampfsportarten
mittlerweile so ist, dass als Mann geborene Frauen ihre
Konkurrentinnen regelrecht zu Boden prügeln. Bei den MMA [Mixed
Martial Arts – gemischte Kampfkünste] dauert diese Kontroverse
schon Jahre an. Der Fall von Fallon Fox dürfte der bekannteste sein.
Fox war als Mann auf die Welt gekommen, heiratete, wurde Vater
und diente bei der Navy, bis sie sich 2013 als Transgender outete
und als Frau an Wettkämpfen teilnahm. Wie die Fachärztin für
Endokrinologie Dr. Ramona Krutzik ausführte, hat Fox als
ehemaliger Mann mehrere Vorteile: Sie verfügt über eine höhere
Knochendichte, mehr Muskelmasse und eine höhere Konzentration
von Testosteron im Gehirn, an der auch Androgene und eine
geschlechtsangleichende Operation nichts ändern. Das bedeutet,
Fox ist gegenüber ihrer Konkurrenz nicht nur rein körperlich im
Vorteil, sondern auch aufgrund ihres höheren
Aggressionspotenzials.287
Wie der MMA-Experte und Podcaster Joe Rogan erklärte, »gibt
es einen Riesenunterschied zwischen der Kraft eines Mannes und
der einer Frau […]. Außerdem gibt es auch sonst noch im Sport
relevante Unterschiede wie die Form der Hüften, die Breite der
Schultern, die Knochendichte und natürlich auch die Größe der
Hände.« Bei den MMA weiß jeder, was er zu tun hat: »Prügel dein
Gegenüber windelweich!«, bringt es Rogan auf den Punkt. Doch
selbst die berechtigte Frage, ob es jemandem mit den körperlichen
Vorteilen eines Mannes, weil derjenige als Mann auf die Welt
gekommen ist, tatsächlich gestattet werden soll, Frauen vor den
Augen des Publikums zu Boden zu schlagen, stößt auf heftigsten
Widerstand. Rogan meinte dazu später: »Die Leute haben sich
förmlich auf mich gestürzt. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mir auf meinen Spruch, ich finde es
nicht in Ordnung, wenn sich ein Kerl seinen Penis abschneiden lässt
und dann Frauen windelweich prügelt, anhören muss, ich wäre zu
weit gegangen. Doch genau das ist mir passiert!«288
Lautete das hehre Ziel, dass ein gesteigertes Bewusstsein
darüber, wie unterschiedlich Menschen sind, letzten Endes dazu
führen soll, dass es gerecht zugeht auf dieser Welt und dass auf
allen Ebenen Schluss ist mit Vorurteilen, dann lässt sich leider schon
jetzt, in diesem recht frühen Stadium, feststellen, dass dadurch viel
mehr Probleme als Lösungen entstanden sind und die Dinge sich
eher zum Schlimmeren als zum Besseren entwickelt haben. Eines
dieser Probleme können wir in der Filmbranche sehen. Beim Kampf
um die Besetzung von Rollen hält unvermindert eine Entwicklung an,
die aus »Farbenblindheit« geradezu ihr Gegenteil, eine
»Farbenbesessenheit«, macht:
Es geht nur noch um die Hautfarbe, während andere
Eigenschaften komplett ignoriert werden. Offenbar wird es in der
Branche immer mehr zur Selbstverständlichkeit, dass kein
Schauspieler mehr darstellen dürfe, was er nicht ist. Nach dem
Wegstecken der Angriffe auf ihre Person, weil sie in Ghost in the
Shell (2017) das Bewusstsein einer Asiatin im Körper eines weißen
Androiden verkörpert, hatte Scarlett Johansson im Jahr darauf das
Pech, für eine Rolle als Gangsterboss in dem Film Rub & Tug, der in
den 1970er-Jahren spielt, gecastet zu werden. Der Film basiert auf
einer wahren Geschichte, und Johansson sollte die Rolle der Jill
spielen, die als Frau geboren wurde, die Gangsterwelt dann aber als
Mann aufmischt. Nach heftigen Protesten trat sie von der Rolle
zurück. Selbst wer bloß die Frage aufwarf, ob diese Entwicklung
wirklich in die richtige Richtung geht, bekam sein Fett weg. So hatte
das Online-Finanznachrichtenportal Business Insider Johansson
zunächst mit den Worten »Sie macht doch nur ihren Job und kriegt
dafür einen auf die Mütze?« verteidigt, den Artikel aber schleunigst
zurückgezogen, nachdem die Protestwelle gegen Johansson
einsetzte.289 Im gleichen Jahr wurde zum Boykott eines Films
aufgerufen, in dem der schwule Schauspieler Matt Bomer in der
Hauptrolle zu sehen war.
Und nein, Initiator war nicht irgendeine radikale
Glaubensgemeinschaft, sondern Leute, die sich darüber beklagten,
dass ein »weißer Cis-Schauspieler« – auch wenn er wie Bomer
schwul ist – eine Transfrau spielt. Das sei ein »Affront gegen die
Würde von Transfrauen«.290
Bei manchen Gelegenheiten war also von einem Affront die
Rede, obwohl man durchaus anderer Ansicht sein kann, bei anderen
war nichts davon zu hören, obwohl alles dafürsprach. Im Februar
2018 stellte sich der kanadische Premierminister Justin Trudeau den
Fragen der Studenten der MacEwan University in Edmonton. Eine
junge Frau nutzte die Gelegenheit und sprach beiläufig von
»Mankind« (Menschheit).
Trudeau fiel ihr ins Wort, machte eine abwertende Geste und
forderte sie auf, doch besser von »Peoplekind« zu sprechen, da
dieser Begriff niemanden ausgrenze. Das Publikum war begeistert.
Doch anschließend darzulegen, warum es kein »Mansplaining«
gewesen sein soll, als gerade ein mächtiger weißer Mann eine junge
Frau von oben herab belehrte und sie in eine peinliche Situation
brachte, kam niemandem in den Sinn.
Auch so manche Identitätsgruppen bilden keine harmonische
Einheit, obwohl das doch ihr Ziel sein sollte. 2017 legte eine
Studentenvereinigung der Cornell University, die sich »Black
Students United« nannte, der College-Verwaltung eine sechs Seiten
lange Liste mit Forderungen vor.
Dazu zählten die naheliegenden Punkte, dass alle
Fakultätsmitarbeiter in Sachen »Machtsysteme und Privilegien«
geschult werden sollten und dass schwarze Menschen, die
»unmittelbar unter dem afrikanischen Holocaust in Amerika« und
dem »amerikanischen Faschismus« gelitten hatten, stärker bei der
Stellenvergabe berücksichtigt werden sollten. Doch eine Forderung
lautete, dass ihre Universität sich mehr um »schwarze Amerikaner
kümmern soll, die in mindestens der dritten Generation im Lande
leben«. Der Grund? Damit sie von schwarzen Studenten der ersten
Generation aus Afrika oder der Karibik unterschieden werden
können.291 Der Black Students United blieb nichts anderes übrig, als
sich später dafür zu entschuldigen. Ihre Botschaft jedoch war
eindeutig. Es gibt folglich bei jeder bestimmbaren Gruppierung eine
Hierarchie der Unterdrückung und ihrer Opfer. Problematisch ist,
dass niemand die entsprechenden Regeln kennt; auch die
Vorurteile, die sich dahinter verbergen, sind nicht immer klar und
können jederzeit und überall auf jede erdenkliche Weise
hervortreten.

DAS PROBLEM MIT DER UNMÖGLICHKEIT


Unsere Kultur ist mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem
wir es mit Problemen zu tun haben, die schier unlösbar sind. Einige
der berühmtesten Frauen dieses Planeten fordern, dass Frauen das
Recht haben, sexy zu sein, aber nicht sexualisiert werden dürfen.
Einige der bekanntesten Kulturschaffenden der Welt haben uns
gezeigt, dass der Widerstand gegen Rassismus bedingt, selbst ein
kleines bisschen rassistisch zu sein. Und jetzt kriegen wir es mit
einer ganzen Reihe von ähnlich unmöglichen Forderungen zu tun,
bei denen ebenfalls keine Lösung in Sicht ist, die beide Seiten
miteinander versöhnen und zufriedenstellen könnte.
Ein sehr schönes Beispiel, wohin das alles schon geführt hat, war
vor nicht langer Zeit auf BBC zu sehen. Im Oktober 2017 war ein
gewisser »Scottee« bei This Week zu Gast – ein Künstler und
Schriftsteller, der nur unter seinem Mononym bekannt ist –, der über
seinen politischen Kurzfilm reden wollte. Er beschrieb sich selbst mit
den Worten »große, fette, queere Schwuchtel«, beschwerte sich
dann aber, ein »Opfer des Männlichkeitskults zu sein, da ich täglich
mit Aggression in unterschiedlichsten Ausprägungen konfrontiert
werde«. Dann fügte er noch hinzu, »queere, non-binäre
Transmenschen sollten doch nicht diejenigen sein müssen, die mit
toxischer Männlichkeit aufräumen müssen«, obwohl auch er keine
Lösung für dieses Problem hätte. »Das muss von innen heraus
kommen«, lautete seine Überzeugung. Männer »müssen ihre
Privilegien als solche anerkennen, und ich möchte, dass sie die
Macht abgeben und auch so manche Plattform. Ich persönlich hätte
nichts gegen ein Matriarchat einzuwenden. Das Patriarchat besteht
schon zu lange und hat ausgedient, zumal es eh nicht funktioniert
hat.« Ich will für den Moment nicht auf die vermessene Behauptung
von sozialer Sprengkraft eingehen, »zumal es eh nicht funktioniert
hat«292, sondern auf etwas ganz anderes hinweisen, was dem
Fernsehzuschauer mitten ins Gesicht geschleudert wurde. Diese
farbenfroh und auffällig gekleidete – wie er ja selbst sagt – »große,
fette, queere Schwuchtel« beschwert sich also darüber, dass ihn die
Gesellschaft, der er ja auch angehört, so oft lächerlich macht. Und
da wäre sie ja auch schon, die nächste unmöglich zu erfüllende
Forderung: Jemand, der sich selbst zum Affen macht, möchte nicht,
dass andere das tun.
An allen Ecken und Enden finden sich solche Forderungen – zum
Beispiel am Evergreen State College und an der Yale University
oder bei der Podiumsdiskussion an der Rutgers University (wo der
junge Mann im Publikum gegenüber Kmele Foster betonte:
»Erzählen Sie mir nichts über Fakten.
Mich interessieren Ihre Fakten nicht.«), als Mark Lilla ein
Widerspruch ins Auge stach, auf den er daraufhin hinwies: »Sie
können den Leuten doch nicht gleichzeitig sagen ›Sie müssen mich
schon verstehen‹ und ›Sie können mich einfach nicht verstehen‹.«
Offensichtlich gelingt vielen Leuten dieses Kunststück. Am besten
wäre, sie würden solche widersprüchlichen Forderungen einfach
bleiben lassen, zumindest sollte ihnen klar sein, dass sie einfach
nicht erfüllt werden können.
Offen ist auch noch die Frage, wie die Hierarchie der
Unterdrückung geordnet, priorisiert und dann aufgelöst werden soll.
Laith Ashley ist eines der bekanntesten Transgender-Models
weltweit. Der Transmann war schon auf den Titelseiten der
bekanntesten Modemagazine abgebildet und hat als Model für viele
führende Modemarken gearbeitet. In einem Fernsehinterview 2016
auf Channel 4 fragte ihn die Moderatorin Cathy Newman, ob er in
den zwei Jahren, die seine Umwandlung von Frau zu Mann gedauert
hat, je Opfer von Diskriminierung gewesen sei. Ashley verneinte,
doch zur spürbaren Erleichterung der Moderatorin, der die
Enttäuschung förmlich ins Gesicht geschrieben stand, erzählte er
bereitwillig, er sei von Transgender-Aktivisten und anderen, die er
von der Transgender-Bürgerrechtsbewegung kannte, »darauf
hingewiesen« worden, dass er ziemlich viele männliche Privilegien
erlangt habe. Und dann erklärte er für alle zum Mitschreiben: »Ich
bin im Besitz männlicher Privilegien.
Und auch wenn ich farbig bin, bin ich doch eher hellhäutig und
erfülle die gesellschaftlichen Anforderungen an Ästhetik und
Schönheit in gewisser Hinsicht. Das dürfte der Grund sein, weshalb
ich eigentlich noch kein Opfer von Diskriminierung geworden
bin.«293 Höchst interessant. Er war also die Hierarchie ein paar
Stufen hochgeklettert, weil er ein Mann geworden ist, dann aber
wieder ein paar Stufen hinuntergefallen, weil er ein Farbiger ist, und
wieder eine Stufe rauf, weil er sehr hellhäutig ist. Und dann hat er
noch den Joker seiner Attraktivität gezückt. Wie soll irgendwer
unterscheiden können, wann so jemand unterdrückt
beziehungsweise wann er unterdrückt wird, wenn er doch so viele
widersprüchliche Vorrechte in seiner Biografie vorzuweisen hat?
Kein Wunder, dass Ashley ziemlich bekümmert aussah und sich
zurückhaltend gab, als er seine Liste durchging. Bei dieser Art von
Selbstanalyse wundert es nicht, wenn das Selbstbewusstsein auf
der Strecke bleibt. Doch offenbar wird eine solch unmögliche Form
der Selbstanalyse von vielen verlangt, obwohl noch nicht einmal klar
ist, wie das bei einem anderen funktionieren soll, geschweige denn
bei einem selbst. Was soll eine Übung bringen, die niemand
ausführen kann?
Und wohin geht das Ganze dann? In den letzten Jahren konnte
man mit einigem Vergnügen beobachten, dass Leute, die sich für
jemanden halten, der auf die Einhaltung liberaler Grenzen achtet, mit
einem Mal feststellen, dass sie einen Stolperdraht berührt haben.
Eines Sonntagnachmittags im Jahr 2018 übte sich der für das
Nachrichtenmagazin Vox tätige David Roberts auf Twitter in
publikumswirksamer Tugendhaftigkeit und schrieb in einem Tweet:
»Manchmal, wenn ich an all die herzkranken, bewegungsfaulen,
Junkfood in sich hineinstopfenden, autosüchtigen Vorstädter in ihren
vorstädtischen Schlössern denke, die den lieben langen Tag vor der
Glotze rumhängen und im Vorbeigehen ihr Urteil über Flüchtlinge
fällen, die Tausende von Meilen zurückgelegt haben, um ihrer
Unterdrückung zu entfliehen […], dann wird mir schlecht.«
Vermutlich hat er sich beim Versenden dieser Nachricht etwas
gedacht wie: »Klingt gut. Was kann schon schiefgehen, wenn ich
Amerikaner angreife und mich auf die Seite von Flüchtlingen stelle?«
Ein etwas zurückhaltenderer Nutzer der neuen Medien hätte sich
vielleicht gefragt, ob es wirklich so geschickt ist, sich derart
verächtlich über Vorstädter zu äußern. Doch es lag nicht an Roberts’
Vorstadtphobie, dass er den restlichen Sonntag damit verbrachte,
seine Karriere zu retten, indem er Dutzende von Tweets tippte, um
die Dinge wieder zurechtzurücken. Was die Menge so gegen ihn
aufgebracht hatte, war sein »Fat Shaming« – also Fettleibige
herabzuwürdigen –, denn das ist, wie es neuerdings so schön heißt,
»nicht in Ordnung«.
Ab seinem 17. Versuch, sein Vergehen wiedergutzumachen,
wurde Roberts’ Ton immer flehentlicher: »Fat Shaming ist real, es ist
immer und überall, es ist unfair und ich möchte mich davon
distanzieren.« Kurze Zeit später entschuldigte er sich dafür, dass er
nur »halbwach« war und gab seiner Erziehung die Schuld.294 Das
Potenzial für angebliche Beleidigungen, Herabwürdigungen und
neue Positionen in der Hierarchie des Jammerns, die auf ständig
neuen Kriterien basiert, scheint unendlich zu sein. Doch wie wird all
das einsortiert und bewertet? Entspricht ein fetter Weißer einem
dünnen Schwarzen? Oder gibt es unterschiedliche Skalen der
Unterdrückung, die aber allgemein bekannt sein müssen, obwohl die
Spielregeln noch nicht erklärt wurden? Das dürfte aber wohl daran
liegen, dass die Regeln nicht von rational denkenden Leuten
aufgestellt wurden, sondern von durchgeknallten
Massenbewegungen.
Vielleicht sollten wir uns nicht verrückt machen und nicht
versuchen, ein unlösbares Puzzle zu lösen, sondern lieber
überlegen, wie wir aus diesem Wirrwarr mit heiler Haut
herauskommen.

WAS, WENN DIE MENSCHEN GAR NICHT


UNTERDRÜCKT WERDEN?
Anstatt uns auf die Suche nach Unterdrückung in all seinen Formen
zu machen und sie auch überall zu finden, wäre ein möglicher Weg
raus aus diesem Labyrinth ja vielleicht, einen Blick auf
»Opfergruppen« zu werfen, die nicht unterdrückt, womöglich sogar
begünstigt werden. Lesben und Schwule zum Beispiel verdienen
Studien zufolge im Durchschnitt mehr als ihre heterosexuellen
Kolleginnen und Kollegen.295
Das dürfte mehrere Gründe haben, nicht zuletzt die Tatsache,
dass der Großteil von ihnen keine Kinder hat und deshalb eher
länger im Büro bleibt, wovon sowohl sie/er selbst als auch der
jeweilige Arbeitgeber profitiert. Können wir hier von einer
Begünstigung von Homosexuellen sprechen? Wann ist der Punkt
erreicht, an dem sich Heterosexuelle beschweren können, dass sie
an ihrem Arbeitsplatz zu Unrecht benachteiligt werden? Sollen
Homosexuelle dann freiwillig ihren heterosexuellen Kollegen den
Vortritt lassen?
In den letzten Jahren wurden Ungleichheiten bei der Bezahlung
von unterschiedlichen ethnischen Gruppen immer wieder als Waffe
eingesetzt. Es wird – zumindest in Amerika – so oft darauf
hingewiesen, dass das durchschnittliche Einkommen von Hispano-
Amerikanern niedriger sei als das von schwarzen Amerikanern, die
aber wiederum wesentlich weniger verdienen als weiße US-Bürger.
Doch niemand verliert auch nur ein einziges Wort über die Kohorte,
die am meisten verdient.296 Das durchschnittliche Einkommen
asiatischstämmiger Männer in Amerika ist konstant höher als das
jeder anderen ethnischen Gruppe, auch das der weißen US-Bürger.
Sollten wir versuchen, dieses Lohngefälle auszugleichen, indem
wir die Asiatischstämmigen ein paar Perzentile nach unten rücken?
Oder lassen wir diese Manie einfach hinter uns, indem wir
Mitarbeiter als Individuen mit unterschiedlichen Qualifikationen
behandeln und auf die Forderung verzichten, dass es in jedem
Unternehmen und jeder Institution irgendwelche Quoten geben
muss?
Die extremsten Behauptungen werden gebetsmühlenartig
wiederholt, was zur Folge hat, dass jeder sie einschließlich
sämtlicher Worst-Case-Szenarien für wahr hält. Laut einer 2018 im
Auftrag des Pay-TV-Unternehmens Sky durchgeführten Umfrage
glauben die meisten Briten (sieben von zehn), dass Frauen bei
gleicher Tätigkeit weniger verdienen als Männer.
Das tatsächliche geschlechtsspezifische Lohngefälle bezieht sich
allerdings auf den Durchschnittsverdienst eines ganzen
Arbeitslebens, das heißt, darin fließen unterschiedliche
Karriereverläufe aufgrund von Kinderziehung oder anderen privaten
Entscheidungen von Männern und Frauen ein. Doch das Lohngefälle
wurde ein solch zentrales Thema in den Nachrichten und den
sozialen Medien, dass allein durch die ständige Berichterstattung die
meisten Leuten von seiner Realität überzeugt sind.
Seit 1970 ist es in Großbritannien und seit 1963 in den USA
gesetzlich verboten, Männer und Frauen für die gleiche Tätigkeit
unterschiedlich zu bezahlen. In der erwähnten Umfrage erklären
aber nicht nur sieben von zehn Befragten, Frauen würden weniger
als ihre männlichen Kollegen verdienen, sondern etwa genauso viele
(67 Prozent der Briten) sind der Ansicht, dass der Feminismus
entweder genau die richtigen Fortschritte bewirkt hat oder es damit
sogar übertrieben hat.297 Das Umfrageergebnis lässt sich als
Ausdruck der allgemeinen Verwirrung unserer Zeit verstehen. Wir
erkennen Unterdrückung da, wo gar keine vorhanden ist, und haben
keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen.

WICHTIGE DISKUSSIONEN, VOR DENEN WIR


UNS DRÜCKEN
Einer der Nachteile, wenn wir das Leben als einziges
Nullsummenspiel begreifen, wenn unterschiedliche Gruppen darüber
streiten, wer von ihnen mehr unterdrückt wird, ist, dass es uns
ziemlich viel Zeit und Energie kostet, die uns woanders fehlt. Sollten
wir zum Beispiel nicht besser darüber nachdenken, wieso es
Feministinnen und anderen nach all den Jahren und Jahrzehnten
nicht gelungen ist, die Rolle und den Stellenwert der Mutterschaft für
den Feminismus zu klären? Die feministische Autorin Camille Paglia
hat in ihrer für sie typischen ehrlichen Art zugegeben, dass die
Mutterschaft eine der großen offenen Fragen für Feministinnen ist.
Und dass dieses Thema zu gewaltig ist, um es totzuschweigen oder
zu beschönigen. Paglia hat in diesem Zusammenhang geschrieben:
»Die feministische Ideologie hat sich noch nie ernsthaft mit der Rolle
von Müttern in unserem Leben auseinandergesetzt.
Die Geschichte als Ausbund männlicher Unterdrückung und
weiblicher Opferrolle darzustellen ist eine enorme Verzerrung der
Fakten.«298 Auf die Frage nach ihren drei größten Heldeninnen des
20. Jahrhunderts nennt sie Amelia Earhart, Katharine Hepburn und
Germaine Greer. Diese drei Frauen, so Paglia, »symbolisieren die
neue Frau des 20. Jahrhunderts«. Dennoch räumt sie ein: »Alle
diese Frauen hatten keine Kinder. Das ist eines der größten
Dilemmas von Frauen Ende des letzten Jahrhunderts. Der
Feminismus der zweiten Welle gab allein den Männern,
insbesondere dem ›Patriarchat‹ die Schuld an der Situation von
Frauen. […] Der feministische Fokus richtete sich ausschließlich auf
externe soziale Mechanismen, die entweder einer Reform bedurften
oder zerschlagen gehörten. Der Feminismus hat es versäumt, auf
die komplexe Verbindung von Frauen und ihrer natürlichen Fähigkeit
der Fortpflanzung einzugehen. Stellt sich nunmehr die Frage,
weshalb die Rolle als Mutter im Zeitalter der Karrierefrauen entwertet
und herabgewürdigt wurde.«299
Die fortwährende Unaufrichtigkeit zieht einen ganzen
Rattenschwanz an nicht minder unehrlichen Behauptungen nach
sich, die in hässlichen, menschenfeindlichen Äußerungen über die
Rolle der Frauen münden. Im Januar 2019 zeigte CNBC einen
Beitrag mit dem Titel: »Sie sparen eine halbe Million Dollar, wenn Sie
keine Kinder kriegen«.300 Darin hieß es: »Ihre Freunde sagen,
Kinder machen glücklich. Vermutlich lügen sie.« Es folgte eine
Auflistung aller Nachteile der Elternschaft wie »mehr Verantwortung,
mehr Hausarbeit und natürlich mehr Ausgaben«.301 Kürzlich
identifizierte The Economist die »Ursachen des Lohngefälles
zwischen den Geschlechtern«: Kinder. Eine der Hauptursachen,
weshalb Frauen in ihrem gesamten Arbeitsleben im Durchschnitt
weniger verdienen als Männer, ist, dass sie Kinder in die Welt setzen
und großziehen. Wie es der Economist ausdrückte: »Kinder zu
haben bedeutet für Frauen Einkommenseinbußen, die man als
›Mutterschaftsstrafe‹ kennt.«302 Es fällt mir schwer, mir vorzustellen,
dass jemand diesen Ausdruck, liest, ohne zusammenzuzucken.
Wenn als Sinn des Lebens angenommen wird, so viel Geld wie
möglich anzuhäufen, fallen Kinder natürlich in die Kategorie
»Geldstrafe«. Denn mit Kindern wird das Bankkonto der Mutter –
wenn sie irgendwann mal stirbt – kein so hohes Plus aufweisen wie
ohne Kinder. Entscheidet sie sich jedoch dafür, diese »Geldstrafe«
zu bezahlen, hat sie das Glück, eine der wichtigsten und
befriedigendsten Rollen im Leben einer Frau auszufüllen.
Der Standpunkt des Economist deutet auf etwas hin, das seit
Jahrzehnten Konsens ist und somit weitverbreitet. Auf der einen
Seite müssen – die meisten – Frauen keine Kinder mehr kriegen,
wenn sie keine wollen, sondern können sich anderen sinnvollen
Dingen in ihrem Leben widmen. Die Umorientierung in Sachen
Lebenszweck hat sich nicht wirklich damit schwergetan, es so
aussehen zu lassen, als wäre der ursprüngliche Sinn des Lebens nie
einer gewesen. Der amerikanische Kulturkritiker Wendell Berry hat
schon vor 40 Jahren seinen Finger in die Wunde gelegt, als schon
einmal – wie er es nannte – »schlechte Zeiten für die Mutterschaft«
anbrachen. Das ganze Konzept von Mutterschaft war irgendwie in
Verruf geraten: »Manche sagen, Mutterschaft sei eine einzige
biologische Plackerei, die Frauen aufzehrt, die Besseres mit ihrem
Leben anfangen könnten.« Und dann brachte es Berry auf den
Punkt:
»Wir alle brauchen doch etwas, was uns aufzehrt. Auch wenn ich
selbst keine Mutter sein kann, lasse ich mich doch gerne von der
Mutterschaft und wozu sie führt, aufzehren, genauso wie ich – die
meisten Zeit – gerne zu meiner Frau, meinen Kindern, mehreren
Rindern, Schafen und Pferden gehöre. Gibt es einen besseren Weg,
aufgezehrt zu werden?«303 Ist das nicht eine bessere Sicht auf
Mutterschaft und das Leben? Im Geist der Liebe und Vergebung und
nicht mit dieser endlosen Litanei von Verbitterung und Gier?

WAS WIRKLICH LOS IST


Wenn das Fehlen einer echten Auseinandersetzung und die inneren
Widersprüche allein schon genügen würden, um der neuen Religion
der sozialen Gerechtigkeit Einhalt zu gebieten, wäre dieser Stein gar
nicht erst ins Rollen gekommen. Diejenigen, die darauf warten, dass
diese Bewegung aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit ein
Ende findet, warten vergebens. Das liegt zum einen daran, dass sie
den marxistischen Unterbau eines Großteils dieser Bewegung
weitgehend ignorieren, und an einer inhärenten Bereitwilligkeit, den
Widersprüchlichkeiten eher entgegenzueilen – und nicht
wahrzunehmen, wie diese wie in einem Albtraum miteinander
kollidieren –, und sich zu fragen, ob sie einem nicht auch etwas für
den eigenen Lebensentwurf und -weg mitteilen können.
Zum anderen genügt die innere Widersprüchlichkeit der
intersektionellen Bewegung der sozialen Gerechtigkeit nicht, um sie
zu beenden, weil nichts an ihr darauf hindeutet, dass sie daran
interessiert ist, die Probleme, die ihr angeblich so wichtig sind, auch
tatsächlich zu lösen. Wie ich darauf komme?
Nun, der erste Hinweis ist die einseitige, voreingenommene, nicht
repräsentative und unfaire Darstellung, wie es um unsere
Gesellschaft bestellt sein soll. Es dürfte zwar nur sehr wenige
Menschen geben, die allen Ernstes überzeugt sind, ihr Land bedürfe
keiner Verbesserungen, aber unsere Gesellschaft als von Ignoranz,
Hass und Unterdrückung durchsetzt zu beschreiben, ist im besten
Fall eine eingeschränkte und im schlechtesten Fall eine bloß
feindselige Sichtweise. Hier spricht kein Kritiker, der hofft, mit seinen
konstruktiven Einwänden zu einer Verbesserung beizutragen,
sondern ein Feind, der auf pure Zerstörung aus ist. Entsprechende
Zeichen sehen wir überall.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Trans-Bewegung. Es
gibt einen guten Grund dafür, dass ich etwas länger bei dem
schwierigen und kaum beachteten Thema Intersexualität verweilt
habe. Nicht weil es mir einen Sinneskitzel verschafft hätte, sondern
weil ich etwas klarstellen wollte. Eric Weinstein hat festgestellt, dass
jeder, der ernsthaft etwas gegen die Stigmatisierung und das
Unglück der Menschen, die im falschen Körper stecken, hätte tun
wollen, sich zunächst einmal mit dem Themenkomplex
Intersexualität hätte befassen müssen. Dann wäre erkannt worden,
dass Intersexualität mit Sicherheit eine Frage der Hardware ist, was
jedoch im allgemeinen Getöse untergeht. Und dann wäre auch
erkannt worden, wie brisant die Situation der Betroffenen ist. Es
hätte zu mehr Verständnis geführt, wie wir ihnen helfen können,
denn diese Menschen sind wirklich auf medizinische und
psychologische Unterstützung angewiesen. Wer sich soziale
Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt, hätte all das tun müssen.
Aber das haben sie nicht getan. Stattdessen wurde das Thema
Trans aufgegriffen und massiv in den Vordergrund gedrängt: Es
wurde der kniffligste Teil der ganzen Frage herausgepickt (»Ich bin,
was ich sage, dass ich bin, und du kannst mir ja schlecht das
Gegenteil beweisen«) und weiterverfolgt: »Die Leben von
Transmenschen zählen.« »Manche Leute sind trans. Finde dich
damit ab.« Mit ermüdender Vorhersagbarkeit haben überall
diejenigen, die sich über jeden Aspekt unseres patriarchalischen,
hegemonialen, cis-rassistischen, homophoben, sexistischen Landes
aufgeregt haben, die »Trans-Sache« einfach hingenommen und
nicht im Ansatz hinterfragt. Insbesondere wurde postuliert, wenn ein
Mann von sich sagt, er sei eine Frau, dann sei er (sie) eben eine
Frau, auch wenn er (sie) es bei der bloßen Aussage belässt. Wer
etwas anderes behauptete, galt als transphob. Das Muster ist klar.
Warum hat Alexandria Ocasio-Cortez in den ersten Wochen nach
ihrer Amtseinführung im US-amerikanischen Kongress
Spendengelder für die britische Aktivistengruppe »Mermaids«, die
sich für die Rechte von Transmenschen einsetzt, gesammelt, die für
eine Hormonbehandlung von Kindern sind?304 Warum setzen sich
diese Leute dermaßen für den kniffligsten Teil des ohnehin
komplexen Problems ein?
2018 kam es im britischen Unterhaus zu einem Wortgefecht über
die Trans-Problematik, in dessen Verlauf auch der Fall Karen White
zur Sprache kam. Es handelte sich um einen Mann, der wegen
Vergewaltigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war,
inzwischen jedoch als Frau leben wollte. Obwohl er keine
geschlechtsangleichende Operation hatte vornehmen lassen,
beantragte er, in ein Frauengefängnis verlegt zu werden. Dort
angekommen, machte er sich bei vier Frauen der sexuellen
Nötigung schuldig (über den männlichen Körper verfügte er ja).
Während der Debatte fasste die liberaldemokratische Abgeordnete
Layla Moran die extreme Denkweise der Trans-Bewegung perfekt
zusammen. Auf die Frage, ob sie sich gerne einen Umkleideraum
mit jemanden teilen würde, dessen Körper männlich ist, antwortete
Moran: »Wenn dieser Jemand eine Transfrau ist, auf jeden Fall. Ich
sehe das Problem nicht. Und auf die Frage, ob sie einen Bart tragen
(auch diese Frage kam auf), würde ich mich zu sagen trauen, dass
auch manche Frauen Bartwuchs haben.
Es gibt alle möglichen Gründe, weshalb unsere Körper
unterschiedlich auf Hormone reagieren. Den menschlichen Körper
gibt es in ganz verschiedener Gestalt. Ich blicke in die Seele meiner
Mitmenschen und begreife sie als Person. Es interessiert mich nicht,
ob sie den Körper eines Mannes haben.«305
Keine vernünftige Person oder Bewegung auf der Suche nach
Verbündeten, um sich gemeinsam mit ihnen für die Rechte von
Transmenschen einzusetzen, würde je so ein Statement abgeben.
Sie würden auch nicht automatisch behaupten, jemand wäre
transsexuell, bloß weil er das von sich selbst sagt. Mit Sicherheit
würden sie auf die Frage, ob sie den Umkleideraum mit einem
bärtigen Mann teilen würden, nicht antworten: »Ich würde mich zu
sagen trauen, dass auch manche Frauen Bartwuchs haben.«
Und sie würden auch nicht behaupten, in die Seele ihrer
Mitmenschen blicken und sagen zu können, ob sie es mit einem
Mann oder einer Frau zu tun haben. In meinen Augen sind das
verwirrende Behauptungen, und wie so viele andere in der Trans-
Debatte aufgestellte Behauptungen dürften sie jeden normalen
Menschen verwirren, der ihnen zuhören muss oder dazu gedrängt
wird, in eine Richtung mit ihnen zu marschieren oder gar
anzunehmen, dass diese Behauptungen der Wahrheit entsprechen.
Eine Bewegung, die sich für Transgender-Menschen einsetzt,
würde sich zunächst mit dem Thema Intersexualität befassen und
sich anschließend mit Bedacht an all den anderen Aussagen des
Trans-Spektrums entlanghangeln und sie mit wissenschaftlicher
Gründlichkeit analysieren. Keineswegs würde sie sich gleich auf den
kniffligsten Teil stürzen und darauf pochen, dass alles, was über
Transmenschen behauptet wird, wahr ist und dass das gefälligst
jeder zu denken hat. So läuft das eben nicht mit Bewegungen und
Bündnissen. So geht nur jemand vor, der keinen Konsens erzielen
will. So handelt nur jemand, der spalten will.
Sobald man dieses widersinnige Spiel einmal durchschaut hat,
fällt einem auf, dass es immer und überall gespielt wird. Es gibt zum
Beispiel unterschiedliche Lohngefälle. Wie Jordan Peterson
herausgefunden hat, gibt es sogar eines zwischen angenehmen und
unangenehmen Zeitgenossen. Und es betrifft gleichermaßen Frauen
und Männer. Es ist tatsächlich so, dass eine nicht nette Frau bei
gleicher Tätigkeit mehr verdient als ein umgänglicher Mann. Und
umgekehrt. Weshalb kümmert sich jemand, der darüber besorgt ist,
dass es Lohngefälle gibt, nicht um das gerade Beschriebene?
Weshalb findet keine endlose Debatte über ausgleichende
Gerechtigkeit statt samt der Forderung, dass nette Menschen künftig
mehr verdienen und nicht so nette ihnen den Vortritt lassen müssen?
Weil das nicht zu dem übergeordneten Ziel passt, das weder lautet,
Frauenrechte nachzubessern noch das Gehalt von Frauen
aufzustocken, sondern Frauen als Hebel für ganz andere Dinge zu
nutzen.
Bei jedem der in diesem Buch beleuchteten Themen lautet das
Ziel der Soziale-Gerechtigkeit-Aktivisten durchgängig, sich jeden –
Schwule, Frauen, Farbige und Transgender – vorzunehmen, um auf
eklatante Rechtsverstöße zu verweisen und ihre Sache möglichst
aufwieglerisch zu präsentieren. Ihr Ziel lautet nicht, Wunden zu
heilen und Gräben zuzuschütten, sondern die Gesellschaft zu
spalten; sie suchen nicht die Deeskalation, sondern die Eskalation.
Sie löschen nicht, sondern sie legen Feuer. Und auch hier erkennen
wir noch einen letzten Teil des marxistischen Unterbaus. Wer eine
Gesellschaft nicht regieren kann – oder wenigstens so tut, als ob,
oder es versucht und dabei nach Strich und Faden scheitert –,
macht einfach etwas anderes. In einer Gesellschaft, die sich ihrer
Schwächen bewusst ist und trotz ihrer Unvollkommenheit immer
noch die bessere Option ist als alles andere, was sonst zur Auswahl
steht, säht man Zweifel, Feindseligkeit und Ängste und spaltet diese
Gesellschaft. Am besten bringt man die Menschen dazu, wirklich
alles anzuzweifeln. Sollen sie anzweifeln, ob an der Gesellschaft, in
der sie leben, überhaupt etwas gut ist. Sollen sie anzweifeln, ob die
in ihr lebenden Menschen gut behandelt werden. Sollen sie
anzweifeln, ob es Einteilungen wie in Männer und Frauen tatsächlich
gibt. Sollen sie einfach alles anzweifeln. Und das Beste zum
Schluss: Dann stellt man sich als denjenigen dar, der auf alles eine
Antwort weiß, der beeindruckende, umfassende Antworten auf
wirklich alle Fragen bietet – die Details werden dann in einem Post
nachgereicht.
Vielleicht wissen sie ja wirklich schon, wohin die Reise gehen
soll. Vielleicht benutzen die Anhänger der neuen Religion
Homosexuelle, Frauen, Farbige und Transmenschen als
menschliche Rammböcke, um Menschen gegen die Gesellschaft
aufzubringen, in der sie groß geworden sind. Vielleicht gelingt es
ihnen sogar, jede und jeden gegen das »Patriarchat männlicher Cis-
Weißer« aufzubringen, und zwar noch bevor sich alle »unterdrückten
Opfergruppen« gegenseitig zerfleischen. Das wäre möglich. Doch
jeder, der diesen Albtraum verhindern will, sollte sich schleunigst auf
die Suche nach Lösungen machen.

LÖSUNGEN
Viele Leute haben bereits einen Weg gefunden, wie sie mit den
Entwicklungen unserer Zeit fertigwerden und sich mehr oder weniger
geschickt hindurchmanövrieren. Uns stehen zahlreiche Optionen
offen.
Während ich an diesem Buch schrieb, erfuhr ich, dass es einen
Tintenfisch gibt, der beim Werben seine wahren Absichten
verschleiert, was das Liebesspiel noch schwieriger macht, als es
ohnehin schon ist. Dieser Tintenfisch ist ein wahrer Meister der
Täuschung. Bei der australischen Riesensepia (Sepia apama) gibt
es einen sehr hohen Überschuss an Männchen, in manchen
Gegenden sind es elfmal so viele männliche Tier wie weibliche. Da
die Weibchen zudem noch recht anspruchsvoll sind, was die Wahl
ihres Sexualpartners anbelangt, und etwa 70 Prozent aller
eindeutigen Angebote ablehnen, herrscht unter den männlichen
Exemplaren ein enormer Konkurrenzkampf. Erschwerend kommt
hinzu, dass die männlichen Partner auf die Weibchen aufpassen.
Die verpartnerten Männchen zeugen etwa 64 Prozent des
Nachwuchses.
Aus diesem Grund haben die anderen männlichen Tintenfische
eine Auswahl an Strategien zur Hand, um überhaupt eine Chance zu
erhalten, sich zu paaren. Eine davon ist, das Verhalten der
Weibchen nachzuahmen. Zunächst verbergen sie ihren
Hectocotylus, ein zum Fortpflanzungsorgan umgebildeter Arm bei
Kopffüßlern, dann nehmen sie die Farben der Weibchen an und tun
so, als ob sie Eier ablegen wollten. Diese Strategie hat sich als
äußerst erfolgreich erwiesen.
Forscher konnten beobachten, dass nur eines von fünf
Sepiamännchen, das diesen Trick eingesetzt hat, vom Weibchen
zurückgewiesen wurde. Ein anderes wurde mittendrin von einem
Aufpasser davongejagt. Doch die anderen drei hatten ihr Ziel
erreicht.306 Als ich die Geschichte der Riesensepia las, fiel es mir
wie Schuppen von den Augen, dass es sehr viele Männer gibt, die
auf ähnliche Taktiken setzen. Am Tag nach der Amtseinführung von
Donald Trump im Januar 2017 kam es in Washington und anderen
Städten zu großen Protestkundgebungen. Bei diesem »Women’s
March« ging es auch um die frauenfeindlichen Äußerungen des
frischgebackenen Präsidenten, und als Zeichen ihres Protests
trugen die Frauen pinkfarbene Strickmützen, sogenannte »Pussy
Hats«. Auf einer der anschließenden Partys in Washington fiel einem
Journalisten das Verhalten einiger der anwesenden Männer auf.
Inmitten von Bands, Bier und Bechern standen die Frauen in
Gruppen beisammen und ließen die Protestkundgebung und ihre
Rolle dabei mit geröteten Wangen und blitzenden Augen noch
einmal Revue passieren.
Die jungen Männer signalisierten Zustimmung auf der ganzen
Linie und erklärten sich selbst zu Feministen. Einer von ihnen nickte
eifrig, als eine attraktive junge Frau die politisch korrekten
Überzeugungen moderner Feministen aufzählte. Als sie kurz
woanders hinging, drehte sich der Mann zu seinem Freund und
flüsterte ihm ins Ohr: »Mann, ist das geil! So viele besoffene
emotionale Mädels auf einem Haufen!«307 Es ist nicht bekannt, ob
seine Strategie in dem Fall aufgegangen ist. Doch er ist unter
Garantie nicht der Einzige, der auf die Tintenfischmasche setzt, um
Frauen aufzureißen. Diese Taktik ist im Übrigen eine von mehreren
Möglichkeiten, in einer schrecklichen Umgebung das Überleben zu
sichern. Besser wäre es allerdings zu versuchen, etwas an dem
Umfeld zu ändern.

FRAGEN SIE DOCH MAL NACH: »IM


VERGLEICH WOMIT?«
Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, unverdrossen die Gegenfrage
zu stellen: »Im Vergleich womit?« Immer wenn versucht wird, unsere
Gesellschaft als grauenhaft, rassistisch, sexistisch, homophob,
transphob und patriarchalisch darzustellen, sollte diese kurze Frage
in den Raum geworfen werden. Wenn unser System nicht
funktioniert oder funktioniert hat, welches System tut es denn dann?
Ich will damit nicht sagen, dass es in unserer Gesellschaft kein
Verbesserungspotenzial gibt oder dass wir besser den Mund halten,
wenn wir Zeuge von Ungerechtigkeiten werden. Doch wenn im
feindseligen Ton eines Richters, Geschworenen und Henkers über
unsere Gesellschaft gesprochen wird, dann sollte man das Recht
haben, dem Ankläger ein paar (unbequeme) Fragen stellen zu
dürfen.
Sehr oft stützt sich die Analyse unseres gesellschaftlichen
Niedergangs auf der Annahme eines Zeitalters vor dem Sündenfall:
einem Zeitalter vor Erfindung von Maschinen, der Dampfkraft und
Marktplätzen. Solche Annahmen sind tief verwurzelt, beginnend mit
der Vorstellung, dass wir alle im Zustand reinster Tugend geboren
werden, aus dem uns die Welt unfairerweise herausreißt. Jean-
Jacques Rousseau hat diese Denkweise in seinem Roman Émile
oder Über die Erziehung auf den Punkt gebracht: »Stellen wir als
unbestreitbaren Grundsatz auf, dass die ersten natürlichen Triebe
stets gut sind; es gibt im menschlichen Herzen keine angeborene
Verderbtheit; kein einziger Fehler findet sich darin, von dem sich
nachweisen ließe, wie und wodurch er in dasselbe eingedrungen ist.
Für die Beziehung zu anderen ist sogleich von Wichtigkeit, dass das
Kind lediglich das tue, was die Natur von ihm verlangt, und dann
wird es nur Gutes tun.«308 Menschen, die von diesem Ansatz
überzeugt sind, brauchen einen Sündenbock, auf den sie ihre
eigenen Schwächen und die ihrer Umwelt abladen können, denn
schließlich wurden sie selbst ja in einem begnadeten Zustand
geboren. Unvermeidlich führt diese Denkweise letzten Endes zu der
Überzeugung, dass einfachere, ältere oder sogar viel frühere
Gesellschaften in irgendeiner Hinsicht ein Modell für uns seien, zu
dem wir nach Möglichkeit zurückkehren sollten.
Abgesehen von den Gründen der historischen Schuld fühlen sich
viele Bürger westlicher Kulturen von der Vorstellung angezogen,
dass »primitive« Gesellschaften durch ein gerüttelt Maß an Anstand
gekennzeichnet waren, das den modernen gänzlich abgeht – als ob
es früher eine größere Dominanz der Frauen, mehr Frieden auf der
Welt und weniger Homophobie, Rassismus und Transphobie
gegeben hätte. Unglaublich, wie viele solcher Vorstellungen auf
unbestätigten Annahmen beruhen.
Zugegeben, es ist kaum möglich, mit Sicherheit zu sagen, in
welchem Ausmaß in verschiedenen Stämmen Homophobie oder
Rassismus geherrscht haben mag. Und vielleicht waren sie viel
friedliebender, gab es mehr Harmonie und mehr Transgender-
Rechte, als wir es für möglich halten. Doch die Fakten legen eher
das Gegenteil nahe. In seinem Buch War Before Civilisation: The
Myth of the Peaceful Savage untersuchte L. H. Keeley, wie viele
männliche Todesfälle bei südamerikanischen und neuguineischen
Stämmen auf gewalttätige Auseinandersetzungen zurückzuführen
waren. 10 bis 60 Prozent aller Männer starben keines natürlichen
Todes. Im Gegensatz dazu liegt der Anteil von Männern, die im 20.
Jahrhundert in den USA und in Europa eines gewaltsamen Todes
starben, im einstelligen Prozentbereich.309 Sollte es dennoch Belege
dafür geben, dass vergangene Gesellschaften viel toleranter waren,
was sexuelle und biologische Unterschiede anbelangt, als wir es
jetzt im 21. Jahrhundert im Westen sind, so ist es an denjenigen, die
solche Behauptungen aufstellen, sie beizubringen.
Es kann aber auch sein, dass der Vergleich nicht mit einer
historischen Gesellschaft erfolgt, sondern mit einer gegenwärtigen.
Es gibt Menschen, die das Revolutionsregime in Teheran damit
rechtfertigen, dass sie auf den hohen Anteil an Transsexuellen im
Iran hinweisen – ein in ihren Augen untrügliches Zeichen für die
Fortschrittlichkeit des Regimes. Wer sich davon beeindrucken lässt,
muss allerdings die Augen vor der Tatsache verschließen, dass in
diesem Land noch heute, im Jahr 2019, Männer, die sich
homosexueller Handlungen »schuldig« machten, öffentlich gehängt
werden – oft an einem Kran, damit möglichst viele Menschen das
Spektakel verfolgen können. In welchen Ländern gibt es noch so
fortschrittliche Menschenrechte wie in Großbritannien, den USA und
überhaupt der westlichen Welt? Wer die Antwort kennt, soll sie uns
sagen, denn es wird nicht unser Schaden sein, sondern eher das
Gegenteil, wenn wir von einem solchen Land erfahren. Vielleicht
scheuen manche Zeitgenossen – vor allem Neomarxisten – deshalb
vor konkreten und genauen Vergleichen zurück, weil bei einem
Vergleich mit den von ihnen vorzugsweise angeführten Beispielen
(Venezuela, Kuba, Russland) die Schattenseiten ihrer Ideologie
sichtbar würden – und der wahre Grund dafür, weshalb sie den
Westen in ein so schlechtes Licht stellen.
In den meisten Fällen wird die Nachfrage »Im Vergleich womit?«
lediglich die Selbstverständlichkeit erbringen, dass es die Utopie, mit
der sich unsere Gesellschaft andauernd messen lassen muss, noch
gar nicht gibt. Ist dem so und werden wahnwitzige Forderungen
erhoben aufgrund eines Vergleichs zwischen unserer Gesellschaft
und einer, die erst noch geschaffen werden muss, ist eine große
Portion Demut und eine ebenso große Portion an Fragen nötig. Wer
behauptet, dass unsere Gesellschaft vor allem durch Ignoranz
gekennzeichnet ist, und zudem, dass er wisse, wie sich alle
gesellschaftlichen Missstände ein für alle Mal beseitigen ließen,
sollte sich sicher sein, dass sein Steuerkurs wohlüberlegt und genau
bestimmt ist. Denn wenn nicht, sollten wir alle skeptisch sein, wenn
uns ein Projekt ans Herz gelegt wird, dessen Anfangsphase als
präzise Wissenschaft präsentiert wird, wenngleich es viel mehr
einem Zaubertrick ähnelt.

OPFER HABEN NICHT IMMER RECHT, SIND


NICHT IMMER NETT, VERDIENEN NICHT
IMMER ANERKENNUNG UND SIND
VIELLEICHT NICHT MAL OPFER
In seiner im Jahr 2000 erschienenen Biografie von Franklin D.
Roosevelt macht H. W. Brands eine interessante Feststellung über
den 32. US-Präsidenten, der an Kinderlähmung litt. Von Männern
aus Roosevelts Generation erwartete man, schreibt Brands, dass sie
Schicksalsschläge mit Fassung hinnahmen.
Das Schicksal schlug damals häufig Kapriolen. Doch da nahezu
jeder auf irgendeine Weise Opfer unglückseliger Umstände wurde,
gewann niemand das Mitgefühl der anderen, wenn er in seiner
Opferrolle aufging.310 Eine solche Sichtweise legt den Schluss nahe,
dass die außerordentlich hohe Zahl an behaupteten Opfern nicht
wirklich für das steht, wofür es Intersektionalisten und Aktivisten der
sozialen Gerechtigkeit halten. Diese Fülle von Behauptungen belegt
nicht, dass unsere Gesellschaften von exzessiver Unterdrückung
gekennzeichnet sind, sondern offenbart ganz im Gegenteil, dass sie
kaum vorhanden ist. Wenn die Menschen tatsächlich so unterdrückt
würden, wie es heißt, hätten sie dann wirklich Zeit und Lust, jedem
ihre Aufmerksamkeit zu schenken, der sich darüber beklagt, dass
ein Schriftsteller auf einem Literaturfestival etwas zum Besten
gegeben habe, was nicht »okay« war, oder dass es unzumutbar sei,
wenn einem jemand mit der falschen ethnischen Zugehörigkeit einen
Burrito verkauft?
Die Opferrolle ist etwas, worauf sich, anders als bei Stoizismus
oder Heldentum, die Medien stürzen und die allgemein eher positive
Reaktionen hervorruft. Opfer zu sein bedeutet in gewisser Weise,
das große Rennen um Unterdrückung gewonnen zu haben oder
zumindest einen Vorsprung zu haben. Ursache für diese kuriose
Entwicklung ist eines der größten Missverständnisse der Bewegung
für soziale Gerechtigkeit:
Unterdrückte (oder Leute, die sich dafür halten) sind in
irgendeiner Form besser als alle anderen, um nicht zu sagen
anständiger, reiner und gütiger. Doch da täuschen sie sich, denn
Leid an sich macht noch niemanden zu einem besseren Menschen.
Auch ein Schwuler, eine Frau, ein Schwarzer oder ein Transmensch
kann verlogen, betrügerisch und gemein sein – so wie jeder andere
auch.
Die Bewegung für soziale Gerechtigkeit geht davon aus, dass –
wenn die Intersektionalität ihren Zweck erfüllt hat und die Matrix
miteinander konkurrierender Hierarchien erst einmal gelöscht ist –
ein Zeitalter der Brüderlichkeit auf Erden anbricht. Doch aller
Wahrscheinlichkeit nach wird sich in Zukunft an der Motivation von
uns Menschen nichts ändern. Wir werden weiter von unseren
Impulsen, Schwächen, Leidenschaften und der Missgunst, die
unsere Spezies seit Menschengedenken antreibt, gesteuert werden.
Es gibt zum Beispiel keinen vernünftigen Grund für die Annahme,
dass alle Chief People Officers sofort ihren Hut nehmen, wenn alle
sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit angehören und jeder
Arbeitgeber für die korrekte Diversität in seinem Unternehmen
gesorgt hat (aufgeteilt in Quoten je nach Geschlecht, sexueller
Orientierung und ethnischer Zugehörigkeit).
Es scheint zumindest denkbar, dass Gehälter im sechsstelligen
Bereich ebenso rar sind, wie das heute der Fall ist, und dass
diejenigen, die in ihren Genuss kommen, weil sie einem feindseligen
und ablehnenden Verständnis unserer Gesellschaft das Wort
geredet haben, nicht freiwillig darauf verzichten, selbst wenn ihre
Arbeit getan sein sollte. Wahrscheinlicher ist es allerdings, dass man
in der festbesoldeten Klasse weiß, dass dieses Puzzle einfach nicht
zusammenzufügen ist und sie selbst bis ans Ende ihrer Tage in Lohn
und Brot stehen werden. Sie werden so lange, wie sie können, ihre
Rollen spielen, bis sich irgendwann die Erkenntnis durchsetzt, dass
ihre Lösung für die gesellschaftlichen Missstände bedeutet, dass es
gar keine Lösungen gibt, sondern nur eine Einladung in den
Wahnsinn, und zwar zu einem hohen Preis sowohl für den Einzelnen
als auch für die ganze Gesellschaft.

KÖNNEN WIR ES UNS LEISTEN,


GROSSMÜTIG ZU SEIN?
Als Ezra Klein erklärte, was hinter abfälligen Bemerkungen wie
»Tötet alle Männer« und »Weiße«, vorgebracht in einem möglichst
verächtlichen Ton, steckt, sprach er davon, dass er in sich die
»Neigung verspürt …, großmütig« solchen Äußerungen zu
begegnen. Vermutlich war er deshalb in der Lage, zu der Erkenntnis
zu gelangen, dass »Tötet alle Männer« im Grunde nichts anderes
bedeutet als »Es wäre schön, wenn die Welt für Frauen nicht ganz
so zum Kotzen wäre.« Und #CancelWhitePeople ist seiner Meinung
nach lediglich eine »Kritik an der vorherrschenden Machtstruktur und
Kultur«.311 Doch wieso verspürte er in solchen Fällen eine Neigung,
sich großmütig zu verhalten? Anscheinend – wie wir im Abschnitt
»Der Sprecher, nicht die Rede« gesehen haben – sind hochgradig
politisierte Leute bereit, selbst extremste Äußerungen aus ihrem
eigenen politischen Lager äußerst großmütig und verzeihend zu
deuten, während alles, was aus dem anderen Lager kommt,
möglichst negativ und schlimm interpretiert wird.
Lässt sich dieser Großmut generell ausweiten? Wenn es möglich
ist, Bemerkungen anderer, sogar von denjenigen der gegnerischen
Seite, mit einem großmütigen Geist zu begegnen, könnte es uns
auch gelingen, Gräben zu überwinden, anstatt sie noch tiefer
auszuheben. Das Problem ist, dass die sozialen Medien nicht
wirklich dazu beitragen. Ganz im Gegenteil. Da man dort seinem
Gegenüber nicht in die Augen sehen kann – oder muss –, verhärten
sich die Positionen (und Fronten), und es fällt leicht, sich in seine
eigene Wut hineinzusteigern. Beim persönlichen Kontakt fällt es
einem viel schwerer, sein Gegenüber auf eine einzige Bemerkung zu
reduzieren oder auf ein einziges Persönlichkeitsmerkmal.
Auf seiner Reise durch Amerika in den 1830er-Jahren bemerkte
Alexis de Tocqueville, welch bedeutende Rolle Zusammenkünfte in
den Vereinigten Staaten spielten – insbesondere
Bürgerversammlungen, bei denen Probleme oftmals untereinander
gelöst wurden, ohne dass ein Einschreiten von Amts wegen nötig
gewesen wäre. In seinem Bericht über die Demokratie in Amerika
weist er der Versammlungsfreiheit große Macht zu und stellt fest,
dass ein persönliches Gespräch nicht nur die beste Möglichkeit ist,
eine Lösung zu erarbeiten, sondern »die Meinungen entfalten sich
mit einer Kraft und Wärme, wie sie der geschriebene Gedanke nie
erreicht«.312 Obwohl alles in der Entwicklung der neuen Medien
darauf hindeutet, dass persönliche Begegnungen schon in naher
Zukunft als obsolet gelten, sind sie nach wie vor unbestritten die
beste Möglichkeit der Vertrauensbildung.
Wer Großmut an den Tag legen will, muss sich sicher sein
können, dass er nicht ausgenutzt wird, und die beste, um nicht zu
sagen die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, liegt im
persönlichen Kontakt. Ohne ihn wird das Leben immer mehr einem
Katalog ähneln, aus dem sich mühelos beliebige Ressentiments
herauspicken und abspulen lassen. Großmut nicht nur gegenüber
den eigenen Reihen, sondern auch gegenüber unseren
offensichtlichen Gegnern dürfte wohl einer der ersten Schritte in die
richtige Richtung – raus aus dem Wahnsinn! – sein. Ich bin kein
Freund von (Dr.) Michael Davidsons Vorstellung, was es bedeutet,
schwul zu sein. Aber wenn ich zu dem Schluss gekommen wäre,
dass er und seine Voices of the Silenced es verdienten,
ausschließlich in schlechtem Licht dargestellt zu werden, hätte es
keinen Sinn ergeben, seine Veranstaltung zu besuchen. Dann würde
ich nicht einmal in ein und derselben Gesellschaft mit ihm leben
wollen. Aber wir leben nun einmal in derselben Gesellschaft. Und wir
müssen irgendwie herausfinden, wie wir miteinander klarkommen
können. Uns bleibt nichts anderes übrig, denn sollten wir je zu dem
Schluss kommen, es wäre ohnehin sinn- und zwecklos, einen
respektvollen Umgang miteinander zu pflegen, miteinander zu
sprechen und uns gegenseitig zuzuhören, dann wäre Gewalt das
einzige Mittel, das uns noch bliebe.

UNS BEWUSST MACHEN, WOHIN WIR


GEHEN
1967, ein Jahr vor seinem Tod, hielt Martin Luther King Jr. eine
seiner bedeutendsten Reden in Atlanta, Georgia. Ausgehend von
der Frage »Wohin führt unser Weg?« formulierte er einen
eindringlichen Appell. »Wir wollen erst dann zufrieden sein, wenn
eines Tages niemand mehr ›Alle Macht den Weißen!‹ fordert, wenn
eines Tages niemand mehr ›Alle Macht den Schwarzen!‹ fordert,
sondern wenn alle von der Macht Gottes und unserer Macht als
Menschen sprechen.«313 Von all den deprimierenden Entwicklungen
der letzten Jahre dürfte die wohl verstörendste sein, mit welcher
Leichtigkeit Rasse wieder zu einem Problem geworden ist. Das
haben wir Leuten zu verdanken, die entweder gar nicht in der Lage
sind zu begreifen, welch gefährliches Spiel sie da spielen, oder die
ganz genau wissen, was sie da tun, und das ist unverzeihlich.
Schließlich hat sich schon abgezeichnet, wohin das alles führen
wird, und noch deutlicher werden die Warnsignale nicht.
Wer hätte sich noch vor einer Generation vorstellen können, dass
es akzeptabel ist, wenn eine liberale Zeitschrift die Frage aufwirft:
»Sind Juden Weiße?« Nein, dabei handelte es sich nicht um eine
Ausgabe des National Geographic Magazine aus den 1920er-
Jahren, sondern um eine Nummer von The Atlantic aus dem Jahr
2016.314 Aufgeworfen wurde die Frage im Zusammenhang mit der
Debatte, welcher Rang Juden in der Hierarchie der Unterdrückten
zukommt. Nehmen sie dort einen der oberen Plätze ein oder
genießen sie im Gegenteil ganz eigene Privilegien? Profitieren sie
von den Privilegien der Weißen oder nicht? Wundert es wirklich
jemanden, dass manche Antworten auf solche Fragen durchweg
abstoßend sind? 2017 tauchten an der University of Illinois in
Urbana ein paar Flugblätter auf, die eine ganz eigene Antwort boten.
Abgebildet war eine Hierarchiepyramide mit »99 Prozent« der
Unterdrückten auf der untersten Ebene und dem »1 Prozent der
Unterdrücker« auf der obersten Ebene. Im Begleittext wurde die
Frage gestellt, ob es sich bei dem oberen 1 Prozent um
»heterosexuelle weiße Männer« oder um »Juden« handelt.
Das war eine rhetorische Frage, denn die Verfasser des
Flugblatts argumentierten weiter, dass Juden Privilegierte erster
Klasse seien. Ihr Fazit: »Will man weiße Privilegien beenden, muss
man bei den Juden anfangen.«315 Sind diejenigen, die sich in
endlosen Debatten über »Privilegien« auslassen, absolut sicher,
dass ihre Handlungen und Analysen nicht in diese Richtung
entgleiten? Sind sie sicher, dass sich ihr Groll nicht weiter und weiter
verbreitet, denn schließlich haben sie ihrem Ärger nicht nur auf
unverzeihliche Art und Weise Luft verschafft, sondern andere
ermutigt, es ihnen gleichzutun. Wie wollen sie das denn verhindern?
Sollten sie kein Sicherheitsnetz haben, ist es besser, Martin Luther
Kings Vision aufzugreifen.
Wäre es nicht am besten, wenn unser aller Ziel lauten würde, die
Frage nach Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit aus allen
Debatten und Diskussionen herauszunehmen und unsere
wachsende Besessenheit von dieser Frage durch eine
»Farbenblindheit« zu ersetzen?

NICHT ALLES POLITISIEREN


Man könnte meinen, das Ziel der Identitätspolitik bestünde darin,
alles zu politisieren und jeden Aspekt der zwischenmenschlichen
Interaktion zu einer politischen Angelegenheit zu machen und jede
Handlung und Beziehung in unserem Leben anhand von
vermeintlich politisch gezogenen Richtlinien zu interpretieren. Die
Aufrufe, unseren Platz und den von anderen in der Hierarchie der
Unterdrückung zu finden, sind nicht nur die Einladung zu einer
Epoche der Nabelschau, sondern eine Einladung, alle menschlichen
Beziehungen in ein politisch austariertes Machtgefüge zu zwängen.
Teil der neuen Metaphysik ist die Suche nach dem Sinn und Zweck
dieses Spiels: kämpfen, streiten, ringen, sich einsetzen und sich mit
anderen verbünden, um das Gelobte Land zu erreichen. Zweifellos
besitzt der Aufruf zur allumfassenden Politisierung in einer Zeit ohne
klare Ziele und Ausrichtungen und in einer Welt, der es an
Sinnhaftigkeit mangelt, eine gewisse Anziehungskraft. Immerhin
verleiht er unserem Leben Sinn.
Doch von allen Möglichkeiten, seinem Leben Sinn zu verleihen,
ist die Politik – insbesondere die Politik in einem solchen Maßstab –
der Weg, der direkt ins Unglück führt. Politik mag ein wichtiger
Aspekt unseres Lebens sein, aber als Sinnstifter taugt sie nicht.
Nicht nur, weil die von ihr verfolgten Ambitionen nur selten erreicht
werden, sondern weil Politik, wenn man in ihr ein Ziel, eine
Ausrichtung, einen Zweck verortet, dadurch mit einer Leidenschaft –
die auch Wut enthält – aufgeladen wird, die zur Pervertierung des
ganzen Unternehmens führt. Wenn sich zwei Menschen über eine
wichtige Sache nicht einig sind, ist es möglich, dass sie
einvernehmlich auseinandergehen, ohne sich geeinigt zu haben
oder der Wahrheit näher gekommen zu sein. Doch wenn eine der
beiden Personen ihren Sinn im Leben darin sieht, den anderen auf
Teufel komm raus von ihrem Standpunkt zu überzeugen, ist es bald
vorbei mit Einvernehmlichkeit, und die Wahrscheinlichkeit, die
Wahrheit herauszufinden, geht gegen null.
Wie können wir uns etwas Distanz verschaffen zu dem uns
umgebenden Wahnsinn? Wir sollten unser politisches Interesse
bewahren, aber Politik nicht als Sinn unseres Lebens betrachten.
Wir sollten danach streben, unser Leben zu vereinfachen, und uns
nicht selbst in die Irre führen, indem wir unser Leben einer Theorie
widmen, die keine Antworten auf unsere Fragen bereithält, mit der
sich keine Prognosen erstellen lassen und die mühelos widerlegt
werden kann. Bedeutung findet sich immer und überall. Für die
meisten Menschen ist Liebe das, worum es letzten Endes geht.
Liebe zu den Menschen, die uns bedeutsam sind: Freunde, Familie,
Partner, aber auch das, was uns umgibt: Kultur, unsere Verortung
und unser Staunen über die Wunder der Welt. Wenn wir wissen, was
in unserem Leben zählt und uns zeitlebens daran orientieren, haben
wir schon einen Lebenssinn gefunden. Wenn wir uns für die
Identitätspolitik, soziale Gerechtigkeit (in der in diesem Buch
beschriebenen Manifestation) und Intersektionalität verausgaben,
vergeuden wir unser Leben.
Unser Ziel ist sicherlich, in einer Gesellschaft zu leben, in der
niemand davon abgehalten wird, das zu tun, wozu er aufgrund
seiner Persönlichkeitsmerkmale, die ihm in die Wiege gelegt wurden,
in der Lage ist. Verfügt jemand sowohl über die Fähigkeiten als auch
den Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, sollten ihn weder
ethnische Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit oder sexuelle
Orientierung daran hindern. Unterschiede zu verringern ist jedoch
etwas ganz anderes, als zu behaupten, es gäbe keinerlei
Unterschiede. Zu behaupten, dass Geschlecht, Sexualität und
Hautfarbe keine Bedeutung hätten, wäre lachhaft. Doch zu
behaupten, sie würden alles bedeuten, wäre fatal.
DANKSAGUNG

Das ist nun schon mein zweites Buch, das bei Bloomsbury verlegt
wird, und wieder war die Zusammenarbeit eine große Freude. Vor
allem schulde ich Robin Baird-Smith und Jamie Birkett – samt ihren
Kolleginnen und Kollegen in London – großen Dank für ihre
Unterstützung, ihren wertvollen Rat und die redaktionelle
Hilfestellung. Großer Dank geht auch an meinen Agenten Matthew
Hamilton von The Hamilton Agency.
Der Buchtitel ist eine Anlehnung an das Werk des schottischen
Journalisten Charles Mackay, Extraordinary Popular Delusions and
the Madness of Crowds. Ich hoffe sehr, er hat – angesichts der mehr
als frustrierenden Ausbreitung des von ihm bereits vor 180 Jahren
beschriebenen Phänomens – keine Einwände gegen meinen
Diebstahl.
Durch meine Arbeit als Autor habe ich gelernt, vorsichtig zu sein,
was meine Dankbarkeit einigen oder besser gesagt allen Leuten
gegenüber anbelangt, die einen Beitrag zu diesem Buch geleistet
haben. Nicht weil ich keine Dankbarkeit empfinden würde, sondern
weil ich im Grunde meines Herzens keine Liste mit mir wichtigen
Leuten zusammenstellen möchte, die dann zum Sündenbock
gemacht werden. Vor allem bei diesem Buch besteht die Gefahr.
Jedoch bin ich unendlich dankbar für die zahlreichen Gespräche, die
ich im Zuge meiner Recherchen und der Arbeit an diesem Buch mit
Leuten aus vier Kontinenten geführt habe. Herzlicher Dank geht
auch an meine wunderbare Familie und Freunde.
Einen Menschen möchte ich allerdings namentlich erwähnen,
auch wenn er des Öfteren in diesem Buch genannt wird. Zahlreiche
meiner Überlegungen hat er mit seinem messerscharfen Verstand
auf Herz und Nieren geprüft. Von allen Menschen, mit denen ich in
erhellenden und gewinnbringenden Gesprächen die Themen dieses
Buchs diskutiert habe, hat keiner meinen geistigen Horizont so oft
erweitert: Eric Weinstein. Die besseren der Gedanken und
Beobachtungen in diesem Buch gehen auf ihn zurück, die
schlechteren auf mich.

Douglas Murray
Juli 2019
ANMERKUNGEN

1
Vergleiche Jean-François Lyotard (übersetzt von Geoff Bennington und Brian Massumi),
The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Manchester University Press, 1984, S.
XXIV und 37.
2
Jaron Lanier, Ten Arguments for Deleting your Social Media Accounts Right Now, Henry
Holt, 2018, S. 26.
3
Coleman Hughes im Gespräch mit Dave Rubin, The Rubin Report, YouTube, 12. Oktober
2018.
4
»Hunger strikers died for gay rights, claims Sinn Fein senator Fintan Warfield«, Belfast
Telegraph, 15. August 2016.
5
Siehe Grafik auf https://twitter.com/EricRWeinstein/status/1066934424804057088.
6
Vergleiche Greg Lukianoff und Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind: How
Good Intentions and Bad Ideas are Setting up a Generation for Failure, Allen Lane, 2018, S.
5–7ff.
7
APA Guidelines for psychological practice with men and boys, August 2018:
https://www.apa.org/about/policy/boys-men-practice-guidelines.pdf
8
Vergleiche »Views of racism as a major problem increase sharply, especially among
Democrats«, Samantha Neal, Pew Research Center, 29. August 2017.
9
Ekow N. Yankah, The New York Times, 11. November 2017.
10
Helen Pidd, »Women shun cycling because of safety, not helmet hair«, The Guardian,
13. Juni 2018.
11
Tim Hunt im Interview mit Robin McKie, »I’ve been hung out to dry«, The Observer, 13.
Juni 2015. Und mit diesen Worten hat er sich in Schwierigkeiten gebracht: »Ich verrate
Ihnen jetzt mal, womit ich meine Schwierigkeiten mit jungen Frauen habe. Wenn sie sich im
Labor aufhalten, passieren nämlich drei Dinge. Die Männer verlieben sich in sie. Sie
verlieben sich in die Männer. Und wenn sie kritisiert werden, brechen sie in Tränen aus.«
12
Vergleiche den Schlagabtausch zwischen Senatorin Katy Gallagher und Senator Mitch
Fifield im australischen Senat am 11. Februar 2016.
13
Vergleiche zum Beispiel diesen Thread:
https://twitter.com/HarryTheOwl/status/1088144870991114241.
14
CNN-Interview mit Republikanerin Debbie Dingell, 17. November 2017.
15
Kenneth Minogue, The Liberal Mind, Liberty Fund, Indianapolis edn, 2000, S. 1.
16
Good Morning Britain, ITV, 5. September 2017.
17
John Stuart Mill, On Liberty, Penguin, 2006, S. 60f.
18
»Nicky Morgan says homophobia may be sign of extremism«, BBC News, 30. Juni 2015.
19
Robert Samuels, Washington Post, 29. August 2016.
20
Desert Island Discs: Tom Daley felt »inferior« over sexuality, Website der BBC News, 30.
September 2018.
21
»Made in Chelsea’s Ollie Locke to become Ollie Locke-Locke«, Website der BBC News,
1. Oktober 2018.
22
The New York Times (Internationale Ausgabe), 16. Oktober 2017, S. 15ff.
23
Vergleiche zum Beispiel Russell T. Davies, »A Rose by any other name«, The Observer,
2. September 2001.
24
Vergleiche »Generation Z – beyond binary: new insights into the next generation«, Ipsos
Mori, 6. Juli 2018.
25
Als da wären: B. S. Mustanski, M. G. Dupree, C. M. Nievergelt et al., »A genome-wide
scan of male sexual orientation«, Human Genetics, 116 (2005), S. 272–8; R. Blanchard, J.
M. Cantor, A. F. Bogaert et al., »Interaction of fraternal birth order and handedness in the
developmen of male homosexuality«, Hormones and Behavior, 49 (2006), S. 405–414; J.
M. Bailey, M. P. Dunne and N. G. Martin, »Genetic and environmental influences on sexual
orientation and its correlates in an Australian twin sample«, Journal of Personality and
Social Psychology, 78 (2000), S. 524–536.
26
Royal College of Psychiatrists’ statement on sexual orientation, Position Statement
PS02/2014, April 2014 (https://www.rcpsych.ac.uk/pdf/PS02_2014.pdf).
27
Ebenda.
28
Webseite der American Psychological Association, »Sexual Orientation &
Homosexuality« (http://www.apa.org/topics/lgbt/orientation.aspx) aufgerufen im August
2018.
29
Bruce Bawer, A Place at the Table: The Gay Individual in American Society, Touchstone,
1994, S. 82.
30
Seth Stephens-Davidowitz, Everybody Lies: What the Internet Can Tell Us About Who
We Really Are, Bloomsbury, 2017, S. 112–116.
31
»This is why straight men watch porn«, Pink News, 19. März 2018.
32
»Majority in U.S. Now Say Gays and Lesbians Born, Not Made«, Gallup, 20. Mai 2015.
33
Vergleiche Diskussionsrunde über diesen Vorfall bei Alice Dreger, Galileo’s Middle
Finger: Heretics, Activists, and One Scholar’s Search for Justice, Penguin, 2016, S. 182f.
34
»Attitudes towards homosexuals and evolutionary theory«, in Ethology and Sociobiology.
Eine hilfreiche Zusammenfassung des Austausches zwischen Gallup und Archer von Jesse
Bering findet sich in Scientific American, 9. März 2011.
35
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 7, 6, übersetzt von Franz Dirlmeier, Reclam
Verlag, 1983, S. 188–191. Übrigens unterscheiden sich hier auch neuere englische
Übersetzungen: Während in der Übersetzung der Cambridge University Press (2014) von
»sodomy« die Rede ist, spricht die der Oxford University Press (2009) von »paederasty«.
36
Vergleiche zum Beispiel »What are the most cited publications in the social sciences
(according to Google Scholar)?«, Elliott Green, LSE-Blogs, 12. Mai 2016.
37
Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen, übersetzt von
Ulrich Raulff und Walter Seitter, Suhrkamp, 1983, S. 58.
38
David Halperin, »Historicising the sexual body: sexual preferences and erotic identities in
the pseudo-Lucianic Erotes«, in Domna C. Stanton (ed.), Discourses of Sexuality: From
Aristotle to AIDS, University of Michigan Press, 1992, S. 261. Vergleiche auch Andrew
Sullivan, Virtually Normal: An Argument about Homosexuality, Picador, 1996.
39
Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 185f..
40
Hunter Madsen und Marshall Kirk, After the Ball: How America Will Conquer its Fear and
Hatred of Gays in the ’90s, Doubleday, 1989.
41
Vergleiche Paul Berman, A Tale of Two Utopias: The Political Journey of the Generation
of 1968, W. W. Norton & Company Ltd, 1996, S. 154f.
42
Bawer, A Place at the Table, S. 191.
43
Ebenda, S. 193.
44
Ebenda, S. 220f.
45
Andrew Sullivan, Virtually Normal: An Argument about Homosexuality, Picador, 1996, S.
204.
46
Berman, A Tale of Two Utopias, S. 160f.
47
@TheEllenShow, Twitter, 25. Oktober 2017, 17.53 Uhr.
48
Daily Telegraph, 14. Februar 2018.
49
Stop Funding Hate, Twitter, 16. Februar 2018.
50
Children of same-sex couples happier and healthier than peers, research shows«,
Washington Post, 7. Juli 2014.
51
Sunday Morning Live, BBC1, 27. Oktober 2010.
52
»Study identifies predictors of relationship dissolution among same-sex and heterosexual
couples«, The Williams Institute, UCLA School of Law, 1. März 2018.
53
Pink News, 25. März 2018.
54
Bawer, A Place at the Table, S. 188.
55
»Sir Ian McKellen: Brexit makes no sense if you’re gay«, Daily Telegraph,10. Juni 2016.
56
Jim Downs, »Peter Thiel shows us there’s a difference between gay sex and gay«,
Advocate, 14. Oktober 2016.
57
»Bret Easton Ellis goes on Twitter rampage after GLAAD media awards ban«,
Entertainment Weekly, 22. April 2013.
58
»How straight people should behave in gay bars«, Pink News, 30. November 2018.
59
»In the reign of the magical gay elves«, Bret Easton Ellis, Out, 13. Mai 2013.
60
Ovid, Metamorphosen übersetzt von Michael von Albrecht, Lateinisch/Deutsch, Reclam
Verlag, 1994, 3,316–338, S. 146f.
61
Daniel Mendelsohn, The Elusive Embrace: Desire and the Riddle of Identity, Alfred A.
Knopf, 1999, S.73ff.
62
»The social and political views of American professors«, ein Diskussionspapier von Neil
Gross (Harvard) und Solon Simmons (George Mason), 24. September 2007.
63
Vergleiche https://www.racialequitytools.org/resourcefiles/mcintosh.pdf.
64
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, »Socialist strategy: Where next?«, Marxism Today,
Januar 1981.
65
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy (zweite Auflage),
Verso, 2001, S. 133.
66
Ebenda, S. 41.
67
Ebenda.
68
Ebenda, S. 159f.
69
Laclau und Mouffe, »Socialist strategy: Where next?«
70
Laclau und Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, S. 1.
71
»What happens to #MeToo when a feminist is the accused?«, The New York Times, 13.
August 2018.
72
Steven Pinker, Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen
Natur, Fischerverlag, 2017, S. 12.
73
Judith Butler, Nr. 1, Frühjahr 1997, S. 13ff. | 10.1353/dia.1997.0004. Deutsche Version
nach Steven Pinker (in: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der
menschlichen Natur. Berlin 2003, S. 154).
74
Vergleiche zum Beispiel Sheldon Lee Glashow, »The standard mode«, Inference:
International Review of Science, Band 4, Nr. 1, Frühjahr 2018.
75
https://www.skeptic.com/reading_room/conceptual-penis-socialcontruct-sokal-style-
hoaxon-gender-studies.
76
»Hoaxers slip breastaurants and dog-park sex into journals«, The New York Times, 4.
Oktober 2018.
77
»American Psychological Association guidelines for psychological practice with boys and
men«, APA, August 2018, S. 10.
78
Steven Pinker, The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature, Penguin, 2003, S.
346–350.
79
Ebenda, S. 350.
80
Video auf AccessOnline.com, »Rosario Dawson talks grabbing Paul Rudd’s ›package‹
onstage at the 2011 Independent Spirit Awards«, 27. Februar 2011.
81
The Late Show mit Stephen Colbert, CBS, 20. März 2018.
82
Huffington Post, 11. Mai 2007.
83
RSA Konferenz, 28. Februar 2014.
84
Mayim Bialik, »Being a feminist in Harvey Weinstein’s world«, The New York Times, 13.
Oktober 2017.
85
The Late Late Show mit James Corden, CBS, 8. Februar 2016.
86
Vergleiche »Loud and proud! Brand releases sets of $9.99 plastic stick-on NIPPLES that
are sold in two sizes – »cold« and »freezing«, Mail Online (FeMail), 4. April 2017.
87
»The hottest new trend is camel toe underwear and we’re all over it«, Metro, 24. Februar
2017.
88
VICE News Interview mit Dr. Jordan Peterson, 7. Februar 2018.
89
Christine Lagarde, »Ten years after Lehman – lessons learned and challenges ahead«,
IMF Blog, 5. September 2018.
90
BBC Question Time, 19. März 2009.
91
»When women thrive«, Untersuchung, Mercer, Oktober 2016.
92
»Wall Street rule for the MeToo era: avoid women at all costs«, Bloomberg, 3. Dezember
2018.
93
United States Office of Personnel Management, »Government-wide Inclusive Diversity
Strategic Plan«, Juli 2016.
94
Vergleiche https://implicit.harvard.edu/implicit.
95
Vergleiche »Can we really measure implicit bias? Maybe not«, Chronicle of Higher
Education, 5. Januar 2017; »Unconscious bias: what is it and can it be eliminated?«, The
Guardian, 2. Dezember 2018.
96
Vergleiche zum Beispiel, Odette Chalaby, »Your company’s plan to close the gender pay
gap probably won’t work«, Apolitical, 22. Mai 2018.
97
»Smaller firms should publish gender pay gap, say MPs«, BBC News, 2. August 2018.
98
Susan Faludi, Backlash: The Undeclared War Against Women, Vintage, 1992, S. 16f.
99
Marilyn French, The War Against Women, Hamish Hamilton, 1992, S. 1f.
100
Ebenda, S. 5f.
101
Ebenda, S. 7.
102
Ebenda, S. 9.
103
Ebenda, S. 14.
104
Ebenda, S. 121–155.
105
Ebenda, S. 159.
106
Ebenda, S. 210f. Übrigens, das Thema »Frauen als Verkörperung von Frieden« hat eine
lange Tradition. Vergleiche zum Beispiel Olive Schreiners Frau und Arbeit (1911).
107
Vergleiche zum Beispiel Christina Hoff Sommers, Who Stole Feminism? How Women
Have Betrayed Women, Simon & Schuster, 1995, S. 11f.
108
Laurie Penny (@PennyRed) auf Twitter, 6. Februar 2018:
https://twitter.com/PennyRed/status/960777342275768320.
109
Sama El-Wardany, »What women mean when we say, men are trash«, Huffington Post,
2. Mai 2018.
110
Ezra Klein, »The problem with Twitter, as shown by the Sarah Jeong fracas«, Vox, 8.
August 2018.
111
Georgia Aspinall, »Here are the countries where it’s still really difficult for women to
vote«, Grazia, 6. Februar 2018.
112
Vorwort von Dylan Jones in GQ, Dezember 2018.
113
APA issues first ever »guidelines for practice with men and boys«, American
Psychological Association, Januar 2019.
114
»We are a nation of hidden feminists«, Presseerklärung der Fawcett Society, 15. Januar
2016.
115
»Only 7 per cent of Britons consider themselves feminists«, The Telegraph, 15. January
2016.
116
YouGov/Huffington Post, Omnibus Poll, Umfrage vom 11.–12. April 2013.
117
»Men with muscles and money are more attractive to straight women and gay men –
showing gender roles aren’t progressing«, Newsweek, 20 November 2017.
118
James Thurber, My Life and Hard Times (1933), Neuauflage bei Prion Books Ltd, 2000,
S. 33–44.
119
Vergleiche den Fall der Schuljungen der Covington Catholic High School im Januar
2019.
120
Jon Ronson, So You’ve Been Publicly Shamed, Riverhead Books, 2015.
121
Barrett Wilson (Pseudonym), »I was the mob until the mob came for me«, Quillette, 14.
Juli 2018.
122
Tess Townsend, »Google is still mostly white and male«, Recode, 29. Juni 2017.
123
Private Gesprächsaufzeichnungen über ein großes Technologieunternehmen in Brüssel,
5. Februar 2019.
124
Vergleiche »Twitter bans women against trans ideology, say feminists«, BBC News, 30.
Mai 2018.
125
Meghan Murphy, »Twitter’s trans-activist decree«, Quillette, 28. November 2018.
126
»Twitter has banned misgendering or «deadnaming« transgender people«, The Verge,
27. November 2018.
127
Jack Conte im Interview mit Dave Rubin für den »The Rubin Report«, YouTube, 31. Juli
2017.
128
Google Video auf https://developers.google.com/machine-learning/fairnessoverview.
129
Anne Helen Petersen, »Ten long years of trying to make Armie Hammer happen«,
BuzzFeed, 26. November 2017.
130
»Call Me By Your Name star Armie Hammer leaves Twitter after ›bitter‹ BuzzFeed
article«, Pink News, 28. November 2017.
131
Ashley Lee, »Why Luca Guadagnino didn’t include gay actors or explicit sex scenes in
«Call Me By Your Name« (Q&A)«, The Hollywood Reporter, 8. Februar 2017.
132
»White privilege lessons for lecturers«, The Sunday Times, 11. März 2018.
133
Vergleiche Bildmaterial auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?
v=LTnDpoQLNaY.
134
Vergleiche »Campus argument goes viral as Evergreen State is caught in racial
turmoil«, Vice News, 16. Juni 2017; https://www.youtube.com/watch?v=2cMYfxOFBBM.
135
Siehe Bildmaterial auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=BzrPMetGtJQ.
136
Siehe Bildmaterial auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=RZtuDqbfO5w.
137
Ebenda.
138
Evergreen State College, Tagung des Trägervereins, 12. Juli 2017, auf YouTube,
https://www.youtube.com/watch?v=yL54iN8dxuo.
139
Vice News, 16. Juni 2017.
140
Vergleiche Video in voller Länge auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?
v=hiMVx2C5_Wg.
141
Vergleiche Video auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=V6ZVEVufWFI.
142
Nicholas A. Christakis, »Teaching inclusion in a divided world«, The New York Times,
22. Juni 2016.
143
»Identity politics: the new radicalism on campus?«, Podiumsdiskussion an der Rutgers
University, gepostet auf YouTube, 13. Oktober 2017, https://www.youtube.com/watch?
v=2ijFQFiCgoE.
144
Michael Harriot, »Diversity of thought« is just a euphemism for »white supremacy«, The
Root, 12. April 2018.
145
Das Schreiben vom 17. April 2017 kann hier eingesehen werden:
http://archive.is/Dm2DN.
146
Andrew Sullivan, »We all live on campus now«, Magazin New York, 9. Februar 2018.
147
National Geographic, April 2018.
148
David Olusoga, »National Geographic’s righting of its racist wrongs is well meant but
slow in coming«, The Guardian, 1. April 2018.
149
Emily Lakdawalla, Twitter, 13. Februar 2018.
150
The Root, Twitter-Feed, 22. November 2018.
151
Vice, Twitter, 6. Dezember 2018.
152
Mathieu Murphy-Perron, »Let Nora Loreto have her say«, National Observer, 11. April
2018.
153
Vice Filmkritik von Dumbo, 13. Juni 2018. Übrigens, die Online-Version wurde geändert,
nachdem das Blatt online mit großer Häme und Spott überschüttet worden war.
154
Eliana Dockterman, »Altered Carbon takes place in the future. But it s far from
progressive«, Time, 2. Februar 2018.
155
»Sierra Boggess pulls out of BBC West Side Story Prom over whitewashing«, BBC
News Website, 25. April 2018.
156
Ritu Prasad, »Serena Williams and the trope of the angry black woman«, BBC News
online, 11. September 2018.
157
Carys Afoko, »Serena Williams’s treatment shows how hard it is to be a black woman at
work«, The Guardian, 10. September 2018.
158
Das Video (eines einer ganzen Reihe) ist zu sehen auf YouTube, produziert von
Soyheat. (gepostet am 23. September 2016).
159
Vergleiche Andy Ngo, »Would you like some strife with your meal?«, Wall Street
Journal, 31. Mai 2018.
160
Robby Soave, »White-owned restaurants shamed for serving ethnic food: it’s cultural
appropriation«, Reason, 23. Mai 2017.
161
Dawn Butler auf Twitter, 18. August 2018.
162
»Teenager’s prom dress sparks cultural appropriation debate«, Independent, 30. April
2018.
163
»Lovia Gyarke, Lionel Shriver shouldn’t write about minorities«, New Republic Blog,
September 2016.
164
Yassmin Abdel-Magied, »As Lionel Shriver made light of identity, I had no choice but to
walk out«, The Guardian, 10. September 2016.
165
The Atlantic, 7. Mai 2018.
166
Der ursprüngliche Artikel ist online nachzulesen auf:
http://eprints.lse.ac.uk/44655/1/__Libfile_repository_Content_LSE%20Review%20of%20Bo
oks_May%202012_week%204_blogs.lse.ac.uk-
Intellectuals_versus_society_ignorance_and_wisdom.pdf.
167
Aidan Byrne, »Book Review: Intellectuals and Society by Thomas Sowell«, LSE Review
of Books, 26. Mai 2012.
168
The View, ABC, 15. Juni 2015.
169
MSNBC, 17. Juni 2015.
170
Benedict Cumberbatch apologises after calling black actors »coloured«, The Guardian,
26. Januar 2015.
171
Sarah Jeongs Tweets vom 23. Dezember 2014; 25. November 2015; 31. Dezember
2014; 18. November 2014; 1. April 2014.
172
Sarah Jeongs Tweets vom 28. November 2014.
173
Sarah Jeongs Tweets vom 24. Juli 2014.
174
Erklärung aus The New York Times, 2. August 2018.
175
Zitat aus Zack Beauchamp, »In defence of Sarah Jeong«, Vox, 3. August 2018.
176
Ezra Klein, »The problem with Twitter, as shown by the Sarah Jeong fracas«, Vox, 8.
August 2018.
177
Ta-Nehisi Coates, The Beautiful Struggle: A Memoir, Spiegel & Grau, 2008, S. 6.
178
Ebenda, S. 70.
179
Ebenda, S. 74f.
180
Ebenda, S. 168.
181
Ebenda, S. 177.
182
Ta-Nehisi Coates, Between the World and Me, The Text Publishing Company, 2015, S.
90.
183
Dr. Cornel West auf Facebook, gefunden auf
https://www.alternet.org/2017/12/cornelwestta-nehisi-coates-spat-last-thing-we-need-right-
now/.
184
Einige Verse und Kapitel wurden entnommen aus Kyle Smith, »The hard untruths of Ta-
Nehisi Coates«, Commentary, Oktober 2015.
185
»Leak: The Atlantic had a meeting about Kevin Williamson. It was a liberal
selfreckoning«, Huffington Post, 5. Juli 2018.
186
Reni Eddo-Lodge, Why I’ m no Longer Talking to White People about Race,
Bloomsbury, 2017, S. 14f.
187
Foto über Martin Daubney auf Twitter, 21. Januar 2018.
188
Der Titel dieses Artikels wurde später abgeändert in »How white women use strategic
tears to silence women of colour«, 7. Mai 2018.
189
Vergleiche The Tab, ohne Angabe des Monats, 2016.
190
Vergleiche »Asian Americans suing Harvard say admissions files show discrimination«,
The New York Times, 4. April 2018.
191
Vergleiche Malcolm W. Browne, »What is intelligence, and who has it«, The New York
Times, 16. Oktober 1994.
192
Steven J. Rosenthal Buchbesprechung von The Bell Curve auf
https://msuweb.montclair.edu/~furrg/steverbc.html.
193
Douglas Murray im Gespräch mit Jordan Peterson, UnHerd, YouTube, 4. September
2018.
194
David Reich, »How genetics is changing our understanding of race«, The New York
Times, 23. März 2018.
195
Pete Shanks, »Race and IQ yet again«, Center for Genetics and Society, 13. April 2018.
196
Sam Harris, »Waking up«, Podcast, mit Charles Murray, 23. April 2017
197
Ezra Klein, »Sam Harris, Charles Murray and the allure of race science«, Vox, 27. März
2018.
198
Diana Soriano, »White privilege lecture tells students white people are »dangerous« if
they don’t see race«, The College Fix, 6. März 2019.
199
Quinn Norton auf Twitter, 27. Juli 2013.
200
Ebenda, 4. September 2009.
201
Quinn Norton, »The New York Times fired my Doppelganger«, The Atlantic, 27. Februar
2018.
202
»Labour, Work, Action«, aus The Portable Hannah Arendt, Penguin, 2000, S. 180f.
203
»Manchester University students paint over Rudyard Kipling mural«, The Guardian, 19.
Juli 2018.
204
Vergleiche »Toby Young quotes on breasts, eugenics, and working-class people«, The
Guardian, 3. Januar 2018.
205
Toby Young, »Confessions of a porn addict«, The Spectator, 10. November 2001.
206
The Times, 6. Januar 2018.
207
The Evening Standard 5 Januar 2018.
208
Vergleiche Toby Young, »The public humiliation diet«, Quillette, 23. Juli 2018.
209
»Conor Daly loses Lilly Diabetes sponsorship over remark his father made over 30
years ago«, Associated Press, 25. August 2018.
210
Matthäus 18:21–22.
211
»Lewis Hamilton apologises for ›boys don’t wear dresses‹ remark«, BBC News, 26.
Dezember 2017.
212
GQ, August 2018.
213
»Moeder van Nathan spreekt: Zijn dood doet me niks«, Het Laatste Nieuws, 2. Oktober
2013.
214
»Mother of sex change Belgian: »I don’t care about his euthanasia death«, Daily
Telegraph, 2. Oktober 2013.
215
Vergleiche zum Beispiel The Sunday Times, 25. November 2018, S. 23.
216
Im Zusammenhang mit der öffentlichen Anhörung über das Gender Recognition Act
(Gesetz über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit) (2018).
217
Vergleiche »Schools tell pupils boys can have periods too in new guidelines on
transgender issues«, Daily Mirror, 18. Dezember 2018.
218
https://www.congress.gov/bill/115th-congress/senate-bill/1006.
219
Alice Dreger, Galileo’s Middle Finger: Heretics, Activists, and One Scholar’s Search for
Justice, Penguin, 2016, S. 21.
220
Ebenda, S. 20.
221
Ebenda, S. 6.
222
»Masculine Women, Feminine Men«, Text von Edgar Leslie, Musik von James V.
Monaco, 1926.
223
Jan Morris, Conundrum, Faber and Faber, 2002, S. 1.
224
Ebenda, S. 42.
225
Ebenda, S. 119.
226
Ebenda, S. 122.
227
Ebenda, S. 123.
228
Ebenda, S. 127.
229
Ebenda, S. 134.
230
Ebenda, S. 138.
231
Ebenda, S. 128.
232
Ebenda, S. 143.
233
Dreger, Galileo’s Middle Finger, S. 63.
234
»Criticism of a gender theory, and a scientist under siege«, The New York Times, 21.
August 2007.
235
Dreger, Galileo’s Middle Finger, S. 69.
236
Andrea Long Chu, »My new vagina won’t make me happy«, The New York Times, 24.
November 2018.
237
Vergleiche Anne A. Lawrence, Men Trapped in Men’s Bodies: Narratives of
Autogynephilic Transsexualism, Springer, 2013.
238
Schlagzeile der Time, 9. Juni 2014.
239
»Stonewall to start campaigning for trans equality«, The Guardian, 16. Februar 2015.
240
New York Post, 16. Juli 2015.
241
»When women become men at Wellesley«, The New York Times, 15. Oktober 2014.
242
Julie Bindel, »Gender benders, beware«, The Guardian, 31. Januar 2004.
243
Suzanne Moore, »Seeing red: the power of female anger«, The New Statesman, 8.
Januar 2013.
244
Vergleiche Suzanne Moore, »I don’ t care if you were born a woman or became one«,
The Guardian, 9. Januar 2013.
245
Julie Burchill, »The lost joy of swearing«, The Spectator, 3. November 2018.
246
Germaine Greer, Die ganze Frau, Doubleday, 1999, S. 66.
247
Ebenda, S. 74.
248
»Germaine Greer defends views on transgender issues amid calls for cancellation of
feminism lecture«, ABC News, 25. Oktober 2015.
249
Ebenda.
250
Eve Hodgson, »Germaine Greer can no longer be called a feminist«, Varsity, 26.
Oktober 2017.
251
»Woman billboard removed after transphobia row«, Webseite der BBC News, 26.
September 2018.
252
Diskussion zwischen Kellie-Jay Keen-Minshull und Adrian Harrop, Sky News, 26.
September 2018.
253
»Blogger accused of transphobia for erecting a billboard defining ›woman as adult
human female‹ is branded ›disgraceful‹ by This Morning viewers – as she insists trans
women do not fit the criteria«, Mail Online, 28. September 201
254
Julie Bindel, »Why woke keyboard warriors should respect their elders«, UnHerd, 24.
Oktober 2018.
255
Vergleiche »April Ashley at 80«, Homotopia Festival. Auf YouTube:
https://www.youtube.com/watch?v=wX-NhWb47sc.
256
Der Fall von »Lactatia« Nemis Quinn Melancon Golden wird unter anderem hier
geschildert: »Nine-year-old drag queen horrifically abused after modelling for LBGT fashion
company«, Pink News, 9. Januar 2018.
257
»The school was already calling her ›him‹«, The Sunday Times, 25. November 2018.
258
»Trans groups under fire for 700% rise in child referrals«, The Sunday Times, 25.
November 2018.
259
Ebenda.
260
Michelle Forcier im Interview auf NBC, 21. April 2015:
https://www.nbcnews.com/nightlynews/video/one-doctor-explains-the-journey-for-kidswho-
are-transitioning-431478851632?v=railb&.
261
https://vimeo.com/185183788.
262
Mai 2018.
263
Jesse Singal, »When children say they’re Trans«, The Atlantic, Juli/August 2018.
264
Johanna Olson-Kennedy, MD, »Mental health disparities among transgender youth:
rethinking the role of professional«, JAMA, Mai 2016.
265
»Deciding when to treat a youth for gender re-assignment«, Kids in the House (ohne
Datumsangabe).
266
Singal, »When children say they’re Trans«.
267
Wylie C. Hembree, Peggy T. Cohen-Kettenis, Louis Gooren, Sabine E. Hannema,
Walter J. Meyer, M. Hassan Murad, Stephen M. Rosenthal, Joshua D. Safer, Vin
Tangpricha, Guy G. T’Sjoen, »Endocrine treatment of gender-dysphoric/genderincongruent
persons: An Endocrine Society clinical practice guideline«, The Journal of Clinical
Endocrinology & Metabolism, Band 102, Nr. 11, 1. November 2017.
268
Video auf https://archive.org/details/olson-kennedy-breasts-go-and-get-them.
269
Eine genaue Beschreibung findet sich in Susan Faludi, In the Darkroom, Metropolitan
Books, 2016, S. 131.
270
Vergleiche http://uspath2017.conferencespot.org/.
271
Audio hier abrufbar: https://vimeo.com/226658454.
272
Viele der Bildschirmschnappschüsse und anderes Material dieses Falls finden sich auf:
http://dirtywhiteboi67.blogspot.com/2015/08/ftm-top-surgery-forsky-tragic-story-in.html.
273
»GP convicted of running transgender clinic for children without licence«, The
Telegraph, 3. Dezember 2018.
274
»Things not to say to a non-binary person«, BBC Three, 27. Juni 2017.
275
Zahlen vom Weltwirtschaftsforum, Juni 2018.
276
Vergleiche »Do trans kids stay trans when they grow up?«, Sexology Today
(www.sexologytoday.org), 11. Januar 2016.
277
Advocate, 16. November 2008.
278
Voddie Baucham, »Gay is not the new black«, The Gospel Coalition, 19. Juli 2012.
279
Offener Brief an Hypatia: https://archive.is/lUeR4#selection-131.725-131.731.
280
»Philosopher’s article on transracialism sparks controversy (Updated with response
from author)«, Daily Nous, 1. Mai 2017.
281
The Real, KPLR, 2. November 2015.
282
Patrick Strudwick, »The newly appointed editor of Gay Times has been fired for posting
dozens of off ensive tweets«, BuzzFeed, 16. November 2017.
283
»Gay Times fires »Jews are gross« editor who sent vile tweets«, Pink News, 16.
November 2017.
284
Erklärung von Gay Times auf Twitter, 16. November 2017.
285
Josh Rivers Interview mit Lee Gray, »The Gray Area«, YouTube, 8. Juni 2018.
286
»Transgender women in sport: Are they really a ›threat‹ to female sport?«, BBC Sport,
18. Dezember 2018.
287
Stephie Haynes, »Dr. Ramona Krutzik, M.D. discusses possible advantages Fallon Fox
may have«, Bloody Elbow, 20. März 2013.
288
Joe Rogan im Gespräch mit Maajid Nawaz und Sam Harris, Joe Rogan Experience
1107, YouTube, 18. April 2018.
289
»Business insider deletes opinion piece defending Scarlett Johansson’s role as trans
man in new film«, Pink News, 9. Juli 2018.
290
»Trans activists call for boycott of film starring Matt Bomer as transgender sex worker«,
Pink News, 15. April 2018.
291
William A. Jacobson, »Cornell Black Students group issues a 6-page list of demands«,
Legal Insurrection Blog, 27. September 2017.
292
Auf BBC: This Week, 26. Oktober 2017.
293
Laith Ashley im Interview auf Channel 4 News, 13. April 2016.
294
»Vox writer navel-gazes his way into a hole over fat-shaming«, The Daily Caller, 5.
November 2018.
295
Vergleiche zum Beispiel Marieka Klawitter, »Meta-analysis of the effects of sexual
orientation on earnings«, 19. Dezember 2014
(https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/irel.12075).
296
Vergleiche United States Department of Labor, Bureau of Labor Statistics:
https://www.bls.gov/opub/ted/2017/median-weekly-earnings-767-for-women-937-for-men-
inthirdquarter-2017.htm.
297
Von Sky in Auftrag gegebene Umfrage, die vom 14.–16. Februar 2018 durchgeführt
wurde. Ergebnisse auf: https://interactive.news.sky.com/100Women_Tabs_Feb2018.pdf.
298
Camille Paglia, Free Women, Free Men: Sex, Gender, Feminism, Canongate, 2018, S.
133.
299
Ebenda, S. 131f.
300
CNBC auf Twitter, 24. Januar 2019.
301
»Here s how much you save when you don’t have kids«, CNBC, 17. August 2017.
302
The Economist, Twitter Feed, 17. November 2018.
303
Wendell Berry, »A Few Words for Motherhood« (1980), The World-Ending Fire,
Penguin, 2018, S. 174175.
304
Vergleiche Madeleine Kearns, »The successful, dangerous child sex-change charity«,
National Review online, 23. Januar 2019.
305
House of Commons, Hansard, 21. November 2018.
306
Vergleiche »Transient sexual mimicry leads to fertilization«, Nature, 20. Januar 2005.
307
Freddy Gray, »Nigel Farage’s groupies party in DC«, The Spectator, 28. Januar 2017.
308
Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über Erziehung, Anaconda, 2010, S. 72.
309
L. H. Keeley, War Before Civilisation: The Myth of the Peaceful Savage, Oxford
University Press, 1996, S. 90. Siehe auch die daraus konzipierte Grafik bei Steven Pinker,
The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature, Penguin, 2003, S. 57.
310
H. W. Brands, Traitor to His Class: The Privileged Life and Radical Presidency of
Franklin Delano Roosevelt, Doubleday Books, 2008, S. 152.
311
Ezra Klein, »The problem with Twitter, as shown by the Sarah Jeong fracas«, Vox, 8.
August 2018.
312
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, übersetzt von Hans Zbinden,
Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984, S. 218.
313
Martin Luther King Jr, »Where do we go from here?«, in seiner Rede anlässlich der 11.
Jahresversammlung der SCLC (Southern Christian Leadership Conference), Atlanta,
Georgia, 16. August 1967.
314
Emma Green, »Are Jews white?«, The Atlantic, 5. Dezember 2016.
315
»Anti-Semitic flyers attacking Jewish ›privilege‹ appear to UIC«, Campus Reform, 17.
März 2017.
NOTE

KAPITEL 1: HOMOSEXUELLE
[1]
AdÜ: Die UK Independence Party gilt als EU-skeptische und rechtspopulistische,
gelegentlich auch als radikalliberal bezeichnete britische Partei, deren Hauptziel der Austritt
des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union ist.
[2]
AdÜ: eine konservative christliche Organisation in den USA, die Schätzungen zufolge
mehr als 43 000 christliche Kirchen in den USA vertritt.

ZWISCHENSPIEL: VERGEBUNG
[3]
AdÜ: So wird in den USA die um 1990 geborene Generation bezeichnet, die oft als
emotional überempfindlich und wenig resilient wahrgenommen wird.

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