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Torsten Klemm
ISONA Fachtag
19. 11. 2013
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Übersicht
1. Vermonsterung
2. Klassifikationen
3. Stationäre Standards
6. Orientierung an Schutzfaktoren
7. Fazit
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Gesetzesänderungen
seit 1998
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Die Frage zielt auf das Universal-Menschliche, das uns mit dem Täter verbindet statt
ihn als „Monster“ auszugrenzen und damit die Identität als Mensch abzusprechen.
Die Gretchen-Frage: Können wir „die unbekannten Gewalten in uns“ ändern oder
bricht ES sich Bahn wie ein unausweichlicher Determinismus?
Fortsetzung im Woyzeck:„Woyzeck,
Woyzeck er hat keine Tugend“ (Der Hauptmann). Der
Doktor, der ihn experimentell mit nichts als Erbsen füttert und lobt, er sei ein
„interessanter Casus, Subjekt Woyzeck, Er kriegt Zulag. Halt Er sich brav. Zeig Er sei Puls!
Ja.“ (8. Szene, „Beim
Beim Doktor“)
Doktor
Die Wissenschaft weiß durch Distanztechniken auch dem schlimmsten Grauen etwas
„Nützliches“ abzugewinnen...
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Klassifikation: Wen meinen wir eigentlich mit der Rede vom „Monster“?
• sexuell ausweichende Täter: wenig • Verführer: nähert sich seinen Opfern auf
Selbstvertrauen und unterentwickelte einfühlsame und behutsame Art
Problemlösestrategien
• introvertierte Täter („Monster“ ??):
• skrupellose Ausbeutungstäter: fehlende gehemmt, verführt nicht, sondern
Empathie überrumpelt meist ihm unbekannte und
• sexuell wahllose Erlebnistäter: sonst nicht junge Kinder, z.B. auf Spielplätzen,
straffällig, sexsüchtig, experimentierfreudig raptusartige Übergriffe, exhibitionistische
(Sextourist, Clubbesucher, eher Handlungen, sucht Beziehung zu einer
wohlhabend) Mutter, um sich Opferzugang zu sichern
• gesellschaftlich gescheiterte Täter: • sadistische Täter („Monster“): sehr selten,
Persönlichkeitsauffälligkeiten, Probleme im Demütigen und Quälen des Opfers
Gefühlsausdruck, Interesse an Kindern bereiten ihm Lustgewinn, Risiko einer
entspringt „Neugierde und Unsicherheit“ Entführung bzw. Tötung besonders hoch
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Die beiden letzten Tätergruppen sind häufig bi- oder homosexuell orientiert und ihr pädophiles
Interesse ist im biografischen Verlauf überdauernd.
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Standards:
Standards: Das Ungenügen der medizinisch-
medizinisch-psychiatrischen Diagnostik
• ICD-10 und DSM-IV erfassen die soziale Dimension des Symptoms allenfalls
rudimentär
„… die sexuelle Perversion, die perverse Fantasie, der perverse Impuls haben
Kompensationscharakter
Kompensationscharakter und sind unter einem reparativen Aspekt zu sehen.“
(Schorsch et al., 1996, S. 32)
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Standards: Bestandteile
Bestandteile der Sexualanamnese
= Teil der Therapie: Sprechenlernen über Sexualität
a) Initiierung, Häufigkeit und Qualität sexueller Beziehungen
b) Wissen und Einstellung zur Sexualität
c) Sexuelle Orientierungen / Präferenzen
d) Erfahrungen mit und Ausmaß von Masturbation
e) Konsum von Pornographie: Art und Häufigkeit
f) Sexuelle Phantasien: (1) Beziehung zur Masturbation, (2) Häufigkeit, (3) Themen (sexuell und
interpersonell), (4) Ursprünge und Materialquellen (z.B. Pornographie), (5) Dauer, (6) Präsenz, (7)
Verhältnis von devianten und angemessenen Phantasien, (8) persönl. Entwicklung und Veränderung
g) Diagnostik einer Paraphilie/devianter sexueller Aktivität (Gründe und Häufigkeit
devianten sexuellen Verhaltens)
h) Sexuelle Dysfunktionen
i) eigene Gewalt- oder sexuellen Mißbrauchserfahrungen in der Familie
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Standards: Psychodynamische
Psychodynamische Praxis
Schorsch et al. (1996, S. 32): perverse Phantasien und Impulse als Kompensationshand-
lungen, die in Bezug auf Defizite in der familiären Sozialisation eine (oft illusionäre)
reparative Funktion erfüllen Biographiearbeit
Kernberg (1997,
(1997, S. 308): bei Sexualstraftätern mit Borderline-Syndrom
„pathologisch intensive prägenitale u. insbesondere orale Aggression auf die Elternfiguren”
paranoide Verzerrungen der frühen Elternbilder, „Durchtränkung“ mit Aggression
verfrühte Entwicklung „genitaler Strebungen“
Idealisierung der Liebesobjekte Enttäuschung Umschlag in Haß
tiefenpsychologisch fundierte Interaktion im geschützten Raum (Klinik?)
schwer zu ändern, Änderungen schwer nachweisbar
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Standards: BPS-
BPS-Komponenten und Empathie-
Empathie-Training
Kritik von Hall (1996): behavioralen Methoden fehlte zunächst häufig ein
längerfristig anhaltender Therapieeffekt, Grund: Vernachlässigung der Nachsorge
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Themen:
• Schuld vs. Unschuld, Opferschutz, Rückfallvermeidung
Vorteile:
• identifiziert und isoliert die Gefahrenquelle
• betont Verantwortung des Täters, zieht klare Grenzen
Gefahren:
• ignoriert die Loyalitätsbindungen bei innerfamiliären Delikten
• Opfer und Täter werden in ihren Rollen fixiert
• Moralisierung und Verurteilung des Täters erschweren / verhindern das
therapeutische Arbeitsbündnis und verringern die Compliance
• Angst und Abschreckung sind schlechte Ratgeber, ihre situative Selbstkontroll-
wirkung ist gering
• Therapeut wird zum „Racheengel“ und verlängerten Arm von Polizei & Justiz
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Themen:
• Ressourcen vs. Defizite
• persönliche Anteile am Geschehen vs. situative Faktoren
• Kontext und soziale Beziehungsdynamik
Vorteile:
• Wertschätzung der Person fördert Verantwortungsübernahme für Tat
• Kontextualisierung: Herkunfts- und Gegenwartsfamilie, Umfeld und Institutionen,
biografische Vorgeschichte, mehrgenerationale Effekte
• Funktion des Delikts im System wird erkannt
• Aquifinalität: viele Wege führen zur ... Legalbewährung
• Motivation durch Auftragsklärung
Gefahren:
• Vernachlässigung der individuellen Diagnostik
• Unterschätzung der psychopathologischen Risiken des Täters
• Bagatellisierung der Tat, Schuldzuschreibung an das soziale Umfeld
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− Emergenz:
• selten dominiert die Biologie das Geschehen (wenn ja, dann ...)
• Faktor Persönlichkeit (z.B. Mangel an sozialen Kompetenzen zur angemessenen
Beziehungsaufnahme oder Beziehungsgestaltung, eigene sexuelle Traumatisierung)
• Faktor soziales Umfeld (z.B. diffuse räumliche Grenzen zwischen den
Generationen, fehlende Privatsphäre, Sexualisierung durch Medien, Werbung und
Internet, innerfamiliale Dreieckskonflikte Imbroglio)
− Differenzierung:
Differenzierung: Beziehungskontext der Sexualstraftat
• innerhalb bestehender partnerschaftlicher oder familiärer Beziehungen (Nahraum)
infolge von Trennung, Entfremdung, Beziehungsdynamik
• außerhalb des familiären Nahraums infolge von sozialer Isolation, Persönlichkeits-
störung etc.
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
1. Abkehr von einer auf die äußere Symptomatik fixierten Sichtweise („Tatszena-
rio“), die im positiven Fall zu zwei Effekten führt (1. Reden lernen über das Delikt, 2.
moralische Selbstverurteilung), im negativen Fall aber das Ausweichverhalten
(Bagatellisierung, kognitive Verzerrungen, Ausreden) verstärkt
2. Primärer Fokus ist nicht die Identifikation des Symptoms, sondern die Erkenntnis,
welche Interaktionsmuster, sozialen Gewohnheiten und Kommunikationsformen
im Einzelfall mit welcher Funktion zur Sexualdelinquenz beitragen (insbesondere
beobachtbare Beziehungsregeln und -muster, repetitive Interaktionsschleifen,
„Beziehung“ des Täters zu seinem Delikt)
3. Berücksichtigung
Berücksichtigung institutioneller Einflüsse auf die sexuelle Sozialisation (z.B. im
Gefängnis: Geschlechtertrennung, forcierte Homophilie oder sexuelle Abstinenz,
Hospitalismus, sensorische Deprivation, Gewalt)
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Systemische
Systemische Arbeitsweisen und Strategien 2
Skalierungsscheibe
(Frank Natho)
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
Timeline-Techniken:
Lebensfluß,
Biographiearbeit,
Hausaufgaben
A Aufklärungsphase
1. Diagnostik, Ressourcenorientierung, Kompetenzraum
2. Koordination der beteiligten Institutionen
3. Wiederzusammenführung der Familie (unter bestimmten Voraussetzungen)
4. Entschuldigungsritual
B Behandlungsphase
• Familientherapeutische Interventionen, um die dysfunktionalen Interaktionsfolgen
in der Familie zu unterbrechen
• Im Rahmen der Kombinationstherapie werden Einzelsitzungen, Ehetherapie,
Einbeziehung der Herkunftsfamilie und Sitzungen mit den Kindern integriert.
0 0,2 0,4
Rahmenbedingungen: Qualitätsstandards 2
− Motivierende Gesprächsführung (z.B. nach Miller & Rollnick, 1991): change talk
− Programme zur Therapievorbereitung (in der Gruppe, 16 Sitzungen) – insb. für Täter,
die bisher wegen Tatleugnung oder Therapieabbruch ausgesondert wurden (Schlank &
Shaw 1996): Kombination aus Relapse Prevention, Empathietraining, paradoxer
Intervention und positiver Verstärkung
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Knight & Prentky (1990) vom Massachusetts Treatment Center (MTC) gewichten die
Intensität der therapeutischen Maßnahmen nach folgenden Kriterien:
Sadistische Täter sollten kein Empathietraining erhalten, damit sie nicht die Fähigkeit
verstärken, sich an dessen Qualen zu weiden.
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
1) mind. eine stabile primäre Bezugsperson (Deneke 1999, Cowen et al. 2002)
2) stabiles familiäres Umfeld
3) Kontakt zu Geschwistern
4) „kompensatorische Elternbeziehungen, Entlastung der Mutter in einer Großfamilie“
(Deneke 1999) Kunstfehler: häufig stammen Therapeuten und Gutachter aus
Kleinfamilien und unterschätzen die Ressourcen der Großfamilie
5) längerfristige, als erfüllend erlebte Partnerschaft Gefahr bei Typ „introvertierter
pädophiler Täter“, Schutzfaktor Partnerschaft kann hier in Gefährdungsmoment
umschlagen, wenn der Partner Kinder in die Beziehung einbringt
Prof. Torsten Klemm: Ambulante Sexualtätertherapie ISONA
− soziales Umfeld
1) gestufter Übergang vom stationären ins ambulante Setting = state of the art der
Kriminaltherapie
„Nee, zur JVA hab ich keinen Kontakt mehr, nur der Herr W.
kommt bei mir noch vorbei oder icke bei ihm, einmal so im
Monat oder alle 14 Tage, wie er eben Zeit hat. Der is ja auch
ein Netter, kontrolliert nich viel, fragt bloß so, wie’s geht und
wie ich klarkomm. Der kennt mich ja, dem brauch ich nich
alles lange von vorn zu erklärn, der sieht ja, wat los is.“