Sie sind auf Seite 1von 31

Prof.

Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Prof. Torsten Klemm


ISONA

Forensische Anamnese und Diagnostik nach dem


Good-
Good-Lives-
Lives-Modell

„We have been so busy thinking about how to get rid of sexual crimes that we have
overlooked a rather basic truth: offenders want the possibility of better lives, not simply
the promise of less harmful ones.” (Tony Ward, 2006) [06,38]

Eickelborn, 3.3.2016
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel

– jugendlicher Autodieb, 18 Jahre, ohne Berufsausbildung, Cannabis-Konsument

– verurteilt, zu 2.5 Jahren Haft: hat er zu 2/3 abgesessen, dabei Suchtberatung in


Anspruch genommen und Ausbildung zum Maler/Lackierer begonnen

– günstige Entlassungsprognose (nunmehr 20 Jahre alt): sozialer Empfangsraum bei


Mutter und deren neuem Lebenspartner, Fortsetzung der Ausbildung in Freiheit möglich

– nach der Entlassung: neuer Lebenspartner der Mutter akzeptiert ihn nicht, ständige
verbale Abwertung, er sei ein Versager und Egoist, der Mama nur auf der Tasche liege

– eines Tages läßt sich der junge Mann die Ansagen vom LP nicht mehr gefallen, in der
Küche kommt es morgens zu Handgreiflichkeiten, der LP schlägt ihm ins Gesicht, so daß
eine Lippe aufplatzt und stark blutet, der Heranwachsende greift nach einem stumpfen
Küchenmesser und rammt es dem LP in den Bauch ...

 Welcher Ansatz ist erforderlich, um einen derartigen „Rückfall“ vorhersagen oder


besser noch verhindern zu können?
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

„Ich will keine Straftaten mehr begehen“ – von der Schwierigkeit,


Vermeidungsziele zu realisieren

RNR-Modell (Andrews & Bonta, 1998):


• fokussiert die Reduktion von biografisch bekannten Rückfallrisiken = Vermeidungsziel
• berücksichtigt zu wenig: Motivation, Stärken und Ressourcen des Klienten,
persönlichen Stil des Therapeuten, soziale Kontextfaktoren
• statt dessen dominieren manualisierte Programme („one fits all“)
• Therapieabbrecher werden häufiger rückfällig als Täter, die erst gar keine RNR- oder
CBT-Therapie begonnen haben (Hanson, et al., 2002; Marques, et al., 2005)
• mechanistisches und reduktionistisches Menschenbild in der Diagnostik

Ward & Mann (2003 ff.): Good Lives Model-Comprehensive (GLM-C, 2007)
• therapeutisch wirksamer: Annäherungsziele, durch die Therapie soll der Täter nicht
nur Defizite abbauen, sondern Kompetenzen hinzugewinnen
• ganzheitliche, humanistische, positive, kontextorientierte Psychologie
• Straftäter sie streben nach (Lebens-) Zufriedenheit wie jeder andere Mensch
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Primary goods – universelle, menschliche Werte (Lebensinhalte)

Ward und seine Kollegen postulierten anhand anthropologischer Erkenntnisse neun universelle
Werte, die als menschliche Primärbedürfnisse bezeichnet werden können (Ward & Brown 2004;
Ward & Marshall 2004, vgl. Schwedler 2013: 192). In empirischen Forschungen differenzierte
Purvis (2010) schließlich elf Aspekte, die gegenwärtig als Grundlage des GLM diskutiert werden:

 life (Gesundheit und körperliche Widerstandsfähigkeit)


 knowledge (Wissen und Zugang zu Informationen)
 excellence in play (Hobbys und erfüllende Freizeitaktivitäten)
 excellence in work (Entwicklung von beruflicher Professionalität und Meisterschaft)
 excellence in agency (Selbstbestimmung, Einfluß, Selbstwirksamkeit)
 inner peace (innere Entspanntheit, emotionale Sicherheit)
 relatedness (Freundschafts-, Liebes- und Familienbeziehungen)
 community (gesellschaftliche Partizipation, Teilhabe in größeren Gruppen)
 spirituality (Kohärenzsinn, Empfinden der Sinnhaftigkeit des Lebens)
 pleasure (Freude, im Hier und Jetzt)
 creativity (Möglichkeit, sich selbst auf ungewöhnliche, alternative Weise
auszudrücken)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Secondary or Instrumental goods – konkrete Vorlieben zur Umsetzung

• zeigen sich in den alltäglichen Gewohnheiten und im Lebensstil

• z.B. eine bestimmte Berufswahl, der Wille - auch gegen den Wunsch der Eltern oder
Umwelt -, eine bestimmte Ausbildung zu absolvieren, ein konkretes Hobby, die
Mitgliedschaft in einem bestimmten Sportverein oder ein bestimmter Typ,
Beziehungen aufzunehmen („darauf stehe ich“)

 extremes Beispiel: Armin Meiwes, der „Kannibale von Rothenburg“: hatte von
Kindheit an ein extremes Bindungsbedürfnis, das er nur stillen konnte, wenn er sich
den anderen einverleibt – nicht aus Perversion oder um sexuelle Erregung zu
erlangen, sondern um die geliebte Person in sich zu besitzen (Ahlers, 2015, S. 299)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Allgemeine Delikthypothese

Straftaten stellen den Versuch dar,


 an erfüllenden Lebensinhalten (primary goods) teilzuhaben,
 zu denen der Zugang durch externe (objektive, soziale) oder innere (psychische,
biologische) Barrieren versperrt ist

Für die Rückfallgefahr zu beurteilen sind daher:


 inappropriate or harmful means: der Täter wählt bewußt illegitime Mittel, um ein
legitimes Ziel zu erreichen, z.B. Autodiebstahl, um Auto zu fahren
 lack of scope: die Lebensweise des Täters vernachlässigt wichtige primary goods
 conflict or a lack of coherence: z.B. romantische Liebe + sexuelle Freiheit
 internal or external capabilities: Wissen, Fertigkeiten oder Selbstkontrolle fehlen;
z.B. Arbeitsplatzverlust + Trennung  Alkohlabusus  Verlust der Selbstkontrolle 
Mißbrauch (ohne pädophile Neigung)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Goods Aetiological Theory (GAT) nach Mayumi Purvis (2006)

Vgl. Delinquenzmodell Klemm, 2001


Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Ressourcen sind nicht per se gut (!)

In einigen Studien zu Sexualstraftätern ging das Vorhandensein von Ressourcen nicht mit
der erwarteten Wirkung als Schutzfaktor einher, (z.B. Spice, Viljoen, Latzman, Scalora &
Ullman, 2013)

– Beispiele für riskante „Relatedness“:


o Dieb wohnt bei seinen Freunden in WG und „arbeitet“ als Drogendealer
o Pädophiler tritt nach der Entlassung einer freikirchlichen Gemeinde bei und
erhält damit Zugang zu Kindern

 “It is up to the assessor to ensure that the presence or absence of a protective (or risk)
factor is accurately evaluated” (Douglas Boer 2013)
 Wodurch wird eine Ressource zum Schutzfaktor? (de Vogel et al., 2009)

 fehlender Konsens, wie sich „Schutzfaktoren“ überhaupt definieren lassen (z.B. als
eigenständige Qualität oder als Abwesenheit eines Risikofaktors, z.B. kein Suchtproblem)
und auf welche Weise, sie zu einer Risikominimierung beitragen, z.B. als „Schutzraum“,
„Immunisierung“ oder „Kraftreserve“ oder als Mediator-Variable (Fitzpatrick, 1997)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Die Interaktion mit der Umwelt (enviremental factors)

„Risk is context-dependent.” (Douglas P- Boers, 2013)

 Die Einschätzung des (sozialen) Umfelds des Täters erscheint für die Beurteilung der
Rückfallgefahr genauso bedeutsam wie die Einschätzung der Risikofaktoren, die in der
Persönlichkeit des Täters verortet werden Lofthouse-Studie (2013).

 aber: es existieren in der Praxis keine Konzepte, um Kontextfaktoren zu


diagnostizieren (z.B. Haltung des Behandlungspersonals gegenüber dem Klienten,
Kommunikation der Hilfesysteme untereinander, Veränderungen in den familiären /
sozialen Verhältnissen des Klienten, Änderungen in den Wohn- und Arbeitsverhältnissen,
Zugang zu potentiellen Opfern)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Ziele und Aufgaben der GLM-


GLM-Diagnostik und Anamnese

– Yates & Kingston (2011): Eine am GLM-Paradigma orientierte Fallschilderung


 umfasst das gesamte Spektrum individuell lohnenswerter Lebensziele (primary
goods), inkl. deren subjektiver Bedeutung für den Klienten
 die Veränderung der subjektiven Bedeutung einzelner primärer Lebensinhalte im
Laufe der Biografie
 beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Wunsch, an primary goods
teilzuhaben, und der Begehung von Straftaten (Probleme mit means, scope, conflict
und capacity),
 stellt besondere Fähigkeiten und Stärken des Klienten heraus,
 beurteilt die Fähigkeit des Klienten zur Selbstregulation und Selbstkontrolle

 Es geht nicht um ein Tatszenario im Sinne einer filmischen Rekonstruktion des


Tatablaufs, sondern um ein existenzielles Verständnis der Lebenssituation des Klienten,
insbesondere seiner ungestillten Sehnsüchte in der kriminellen Lebensphase
 Francis T. Cullen (2012, 109): aktuarisch reicht nicht, es erfordert klinische Erfahrung,
die individuellen Bedürfnislagen des Klienten zu erfassen
 deutlich höherer Aufwand als für defizitorientierte Diagnostik (!)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Implementierung der GLM-


GLM-Diagnostik in den therapeutischen Prozess

– der Täter soll möglichst früh in der Behandlung seine eigenen existenziellen legitimen
Motive für das Delikt vollständig verstehen und die Autonomie seiner Entscheidungen
erkennen (daß er nicht hineingerutscht ist, zur falschen Zeit am falschen Ort war etc.)
– therapeutische Haltung während der Diagnostik und Anamnese:
 transparente, respektvolle und zukunftsorientierte Zusammenarbeit mit dem Klient
im Schutz der Schweigepflicht, so daß die Erhebung im Rahmen der
Therapieplanung dem Klienten zugute kommen und ihm nicht schaden wird;
 potentielle Risiken / Gefährdungsmomente werden mit dem Klienten z.B. in Form
Sokratischer Dialoge besprochen (nicht nur mit der Kontrollbehörde);
 Ergebnisse psychometrischer Testverfahren werden dem Klienten hinsichtlich ihrer
Bedeutung für die Therapieplanung erläutert (vgl. Millner and Rollnick, 1991)
– Unterstützung und Begleitung des Täters beim Realisieren persönlicher legitimer
Lebensinhalte = Motivationsarbeit als Kernmerkmal forensischer Therapie
– Sichtbarmachen von Entwicklungsfortschritten und Verhaltensänderungen des Täters
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Priorisierung von Motiven und Therapiezielen

– diagnostische Hauptaufmerksamkeit: Festlegung von Prioritäten für die Behandlung

1. DIREKTE REALISIERUNG: Wenn der Täter absichtsvoll kriminelle Mittel anwendet, um


seine Bedürfnisse zu befriedigen, kommt den davon angesprochenen primary goods
höchste Priorität in der Behandlung zu.

2. MULTIPLE BEEINTRÄCHTIGUNG: Wenn sich herausstellt, daß bestimmte innere oder


äußere Hindernisse dem Erreichen von Lebenszufriedenheit mehrfach oder wiederholt
im Wege stehen, dann erscheint es empfehlenswert, diese Hindernisse in der Therapie
zuerst zu thematisieren.

3. VERÄNDERUNGSBEREITSCHAFT: Wenn der Klient bei bestimmten Zielen oder


Problemlagen – zum Beispiel im Rahmen eines Motivational Interview oder Change Talk
– Veränderungsbereitschaft signalisiert, dann ist es empfehlenswert, diese Eigen-
motivation aufzugreifen.
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Good-
Good-live-
live-Assessment nach Tony Ward: Methodik

– „At present, there is no psychometric measure that can make this assessment, and a
reliance on questionnaires may limit the depth of data gathered, so a clinical interview is
the recommended approach.” (Ward et al., 2013)

– “We have tried and found ineffective the method of presenting a list of primary
human goods to offenders and asking them to choose their priorities. In our experience,
such a task has been approached as if it was a test rather than an opportunity for
selfexploration.”
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Good-
Good-live-
live-Assessment nach Tony Ward: Gesprächsführung

 Stattdessen führt der Diagnostiker ein offenes Gespräch mit dem Klienten, in dem er
seine Intentionen offen darlegt

 increasingly detailed questions about the things:

 Welchen Personen, Aufgaben oder Dingen fühlt sich der Klient verpflichtet?
 Wie zeigt sich dies im Alltag? Welche Aktivitäten und Erfahrungen tauchen immer
wieder auf? Welche Idole hat er? Welche Filme sieht er sich an?
 Wem möchte er ähneln, an wem orientiert er sich und warum?
 Welche Ziele strebt der Klient an? Wie wichtig sind sie ihm? Was fehlt ihm, wovon
bitte mehr?
 Was möchte der Klient mit Hilfe der Therapie erreichen?
 Wo möchte er leben, mit wem und womit sich beschäftigen? Jetzt, in 5 und in 10
Jahren?
 Welche Voraussetzungen und Fähigkeiten müssen dafür vorhanden sein?
 ….
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Kompatibilität mit diagnostischen Verfahren

– START: Short-Term Assessment of Risk and Treatability (Webster, Martin, Brink,


Nicholls & Middleton, 2004)
 listet individuelle Persölichkeitsmerkmale und soziale Kontextfaktoren
 der Diagnostiker ratet jedes Item einzeln als Risiko- oder Schutzfaktor
– SAPROF: Structured Assessment of Protective Factors for Violence Risk (de Vogel, de
Ruiter, Bouman & de Vries Robbé, 2009)
 enthält nur Schutzfaktoren, ohne Zusammenhang zu Risiken herzustellen
 Klassifikation in internale, motivationale und externale (kontextuelle) Kategorien
– ARMIDILO-S: Assessment of Risk and Manageability for Individuals with
Developmental and Intellectual Limitations who Offend Sexually (Boer et al., 2012):
 Kombination aus START und SAPROF: einzelne Items werden nach Kategorien
klassifiziert und hinsichtlich ihrer Wirkung als Risiko- oder Schutzfaktor bewertet
 found that the environmental items of the instrument had almost the same level
of predictive validity as the offender items (AUCs of 0.79, p=0.003 and 0.85,
p<0.001 respectively) [02,8-9]
 kann Befund auf Straftäter ohne geistige Behinderung verallgemeinert werden?
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Leipziger Ressourcen-
Ressourcen-Intentar (LRI-
(LRI-A): Entstehung und Inhalte

– ist ein psychometrisches Verfahren zur standardisierten Einschätzung der psychischen


und sozialen Ressourcen, die Straftätern individuell zur Verfügung stehen, um künftig ein
zufriedenstellendes legales Leben zu führen.

– wurde 2013/14 in der Auseinandersetzung mit dem LSI-R von Mitarbeitern des
Instituts für sozialtherapeutische Nachsorge (ISONA) in Leipzig entwickelt

– befindet sich momentan im Stadium der empirischen Validierung

– umfaßt die Themen:


• Kindheit und Herkunftsfamilie, • Straffälligkeit (Anlaßdelikt, Vorstrafen,
• Freunde und soziales Umfeld, Lebenssituation zur Tatzeit, Haft,
• Wohnung und Unterbringung, Entlassungsvorbereitung),
• Ausbildung und Beruf, • Sozialtherapeutische Behandlungsmotivation,
• Freizeit, • Partnerschaft, Intimität, Elternschaft,
• Genuss- und • Religion und Spiritualität,
Suchtmittelkonsum, • Auslandserfahrung
• Geld und Finanzen • persönliche Ziele und Handlungsbedarf
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Leipziger Ressourcen-
Ressourcen-Intentar (LRI-
(LRI-A): Einsatzbereich

– Anwendungsbereiche:

o Planung der sozial-, psycho-, sucht- und sexualherapeutischen Behandlung von


Tätern im Strafvollzug, im Maßregelvollzug, in der Bewährungshilfe und der
Führungsaufsicht  die Fragen dienen der sozialtherapeutischen Reflexion und
bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für den anschließenden Hilfeprozeß
(Diagnostik als Teil der Therapie)

o Evaluation von Veränderungen psychischer und sozialer Defizite und


Ressourcen  gruppenstatistische Auswertung von Behandlungseffekten

o im Rahmen prognostischer Fragestellungen zur Legalbewährung oder


Lockerungseignung
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

THERAPLAN: Inhalte

= die computergestützte Version des LRI-A, befindet sich momentan in Entwicklung.


– Instrument zur Therapieplanung, -dokumentation und Prognose
– Ressourcendiagnostik, erweitert um Risikomerkmale  ganzheitliche,
kontextbezogene, am GLM-Modell orientierte Perspektive, den Straftäter als
psychosoziales Wesen mit legitimen menschlichen Bedürfnissen zu sehen
– vereint
o psychometrische Tests zu Persönlichkeitsauffälligkeiten, Konfliktmustern in der
Familie, sozialen Aspekten des Sexualverhaltenens sowie Checklisten zur Sucht,
psyschischen Stabilität und zum Kohärenzsinn)
o und quantifizierbare anamnestische Daten
o sowie offene qualitative Fragen, die dem Probanden die Möglichkeit geben, sich
jenseits diagnostischer und forensischer Beurteilungsschemata auszudrücken

– modulare Gestaltung: erlaubt es dem Interviewer, die erforderlichen Themenbereiche


maßgeschneidert auszuwählen
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel: Heinrich Müller - Anamnese


Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel: Heinrich Müller - Tests


Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel: Heinrich Müller - Außensicht


Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

THERAPLAN: Auswertung

– automatisierte Bewertung der Antworten des Klienten als Ressource, Reserve oder
Defizit anhand einer integrierten Kriterientabelle, der nonlinear definierte Cut-off-Werte
zugrunde liegen: Defizitbereich 1 – Reserve – Ressource – Defizitbereich 2
 z.B. Kontakthäufigkeit zu den Eltern (bei erwachsenem Klienten): Kontaktabbruch
= Defizitbereich 1, einmal im Jahr = Reserve, regelmäßig mindestens quartalsweise
= Ressource, mehr als dreimal pro Woche = Defizitbereich 2
– Zusammenfassung der Item-Antworten zum themenspezifischen Ressourcen-Defizite-
Quotienten: RDQ = 100 + 100* (R – D) / (R + D)
– RDQ-Bereich: 0 .. 100 .. 200
– Bewertung des RDQ:
o <105 : Überwiegen von Defiziten
o 105 – 155 : Reserve
o 155 – 185 : Ressource
o >= 185 : Bagatellisierung, Leugnung

 Ableitung von Therapiezielen (Ressourcentransfer, Defizitabbau)


Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel: Herr Müller - Anamnese


– Gesamtwert Anamnese: Klient: 102 (Datenbasis: 83%), Fakten: 75
 Bagatellisierung: bei 23 Items

RDQ Klient RDQ nach Faktencheck


Herkunftsfamilie und Kindheit 71 65 !!
Freunde und soziales Umfeld 38 52 ??
Ausbildung und Beruf 200 177 !!
Freizeitaktivitäten 131 100 !!
Genuß- und Suchtmittelkonsum 113 87 !!
Geld und Finanzen 200 154 !!
Psychologische Unterstützung 120 100 !!
Anlaßdelikt 80 50 !!
Lebenssituation zur Tatzeit 59 59
Partnerschaft 75 75
Behandlungsmotivation 120 120
Ziele und Handlungsbedarf 67 67
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Beispiel: Herr Müller – Abgeleitete Therapiethemenvorschläge

Thema Gewicht Methode, Kommentar Stand


D: Familie und Freunde 99 Einbeziehung anderer Familienmitglieder, 10
- Sozialer Rückzug Schüchternheitsbewältigung
P: Psychologisch- 99 Vorstellung bei Psychotherapeut, Psychiater, 10
psychiatrische Gemeindenahe Psychiatrie
Auffälligkeiten
P: Risiko für 75 Sexualberatung, Sexualtherapie, 10
Sexualdelikt (Static-99) Rückfallvermeidungsplan, Umgang mit Phantasien
und Sex in den Medien
P: Kriminogene 75 Deliktreflexion, Kosten-Nutzen-Abwägung, 10
Einstellungen Lebenszielberatung, Biographiearbeit, Reflexion der
Anerkennung durch kriminelle Subkultur
R: Ausbildung und Beruf 73 Wie gelingt dem Klienten dies? Was macht er hier 10
anders? Wer bemerkt das Gelingen und erkennt es
an?
D: Persönliche 61 Selbstbewußtsein, Stolz, Umgang mit Langeweile 10
Befindlichkeit
D: Freunde und soziales 50 Aufbaustufe, Angehörigenarbeit, Soziales 10
Umfeld Kompetenztraining
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

THERAPLAN: Weitere Funktionen

 Modul zur Therapieplanung: integrierte Test- und Anamneseauswertung


(automatisch), inklusive Ableitung von Vorschlägen für Therapiethemen, händige
Priorisierung
 Therapieverlaufseinschätzung, Katamnesen
 Faktencheck: Lokalisierung von Differenzen zwischen Selbstdarstellung des Klienten
und Aktenlage (Selbstbeschönigung vs. selbstkritische Sicht)
 Trendanalysen bei Prä-Post-Vergleichen
 integrierte, automatische Prognoseerstellung nach LSI-R und Static-99
 Terminplaner: erinnert an Nachbefragungen und Fremdeinschätzungen
 Dokumentation der Terminwahrnehmung (Inhalte, Teilnehmer, Ausfälle)
 Textbausteine für Berichte und Stellungnahmen
 Checkliste zum Übergangsmanagement
 Modul: Therapeutischer Lebenslauf
 Jahres- und Fallstatistiken
 Exportfunktion zu SPSS
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Erarbeitung von individuellen Good-


Good-live-
live-Therapieplänen

– Was gehört zu einem Good-lives-Therapieplan?

– Rehabilitation = promoting live goods and managing risks

– individuell maßgeschneidert, “one-size-fits-all”-Behandlung paßt nicht zum GLM:

 RNR-Programme und VT-Techniken (zu Emotionsregulation, sozialen


Kompetenzen, Problemlösen, Sexualität, Selbstkontrolle) können integriert werden,
aber “wrapped around individuals’ life priorities or overarching goods“ [07,20]

 Rückfallvermeidungspläne werden im Rahmen breiter angelegter


Selbstkontrollpläne integriert (Ward, et al., 2006; Yates, et al., 2010).

 An die Stelle von “coping skills” treten Fertigkeiten zum Erreichen von
Annäherungszielen: „GLM-based intervention plans are concerned with equipping
clients with the skills, knowledge, and resources to attain their prioritized goods in
personally meaningful and socially acceptable ways” [07,26]
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Im Cockpit: das SOAPP-


SOAPP-Modell von Douglas P. Boer (2013)

– bei der Entlassung von Straftätern werden häufig nur Risikofaktoren in Betracht
gezogen (z.B. ob sich eine Grundschule in der Nähe der künftigen Wohnung eines
pädophilen Entlassungskandidaten befindet)
 dagegen trägt die Recherche nach Schutzfaktoren erheblich dazu bei, einen positiven
Therapieplan für die Nachsorge zu erarbeiten, wesentlich in 5 Kategorien:
a. soziale und emotionale Unterstützung (support): supportive friendships and
connections with adults in school, church, and police agencies
b. Beschäftigung (Arbeit, Freizeit) (occupation), vgl. SAPROF work and leisure
activities
c. Wohnung / Unterkunft (accomodation), vgl. SVR-20 „place of residence”
d. Teilnahme an Behandlungsprogrammen (programs): wird in den üblichen
Prognosemanualen nicht als Schutzfaktor geführt (sic!)
e. Realistische Lebensziele (plans): vgl. SVR-20 „realistic plans“, SAPROF
„appropriate life goals“, START „feasible and realistic planning”
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Empirische Wirkungsnachweise

– Bouman, Schene, and de Ruiter (2009): N=135, kurz- und langfristige Wirkungen der
Behandlung auf das Wohlbefinden entlassener Forensik-Patienten über einen Zeitraum
von 3 Monaten sowie die Rückfallquote nach 3 Jahren
 Zufriedenheit, Gesundheit und Erfüllung gingen mit geringerer Rückfälligkeit einher,
dabei gab es keine signifikanten Zusammenhänge zwischen aktuellem
Wohlbefinden und Rückfälligkeit, jedoch zwischen Gesundheit, allgemeiner
Lebenszufriedenheit und Rückfälligkeit bei Gewaltstraftätern mit hohem Risiko
– Willis & Grace (2008): retrospektive Analyse der Lebenszielplanung bei
Kindesmisshandlern  das Vorhandensein von secondary goods (sozial akzeptierte
Umsetzungsform für ein oder mehrere primary goods) wirkt als Schutzfaktor gegen
Rückfälligkeit
– Multi-Systemic Therapy (MST; Henggeler, Schoenwald, Borduin, Rowland, &
Cunningham, 1998): wurde entwickelt um die Drogenbeschaffungskriminalität von
Jugendlichen zu verringern  erwies sich als äußerst aufwendig, aber auch als äußerst
effektiv (Carr, 2005, vgl. Ward 2008)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

Zusammenfassung

– die öffentliche Stimmung verführt den Therapeuten, die Reduktion von Rückfall-
quoten mit einem restriktiven, punitiven Stil in der Kriminaltherapie zu verknüpfen
 GLM betrachtet den Täter als Mensch mit legitimen Bedürfnissen, erleichtert die
Gestaltung eines motivierenden Arbeitsbündnisses, die Formulierung positiver,
persönlich bedeutsamer Ziele und die Mitarbeit des Klienten
“More pessimistically, the Good Lives Model may end up co-opted as yet another
manualized technique for ‘fixing’ offenders” (Porporino, 2008)

– herkömmliche diagnostische Verfahren in der Forensik sind häufig personenbezogen


und auf historische Faktoren fokussiert = kurz und prägnant
 GLM-Anamnese = ganzheitlich an Stärken und Kontext orientiert, aber „intuitiv“
 die Entwicklung reliabler, standardisierter, forensischer Anamnese- und
Prognosetools, die die individuellen Ressourcen mit beobachtbaren Defiziten des
Klienten in Beziehung setzen sowie Umweltfaktoren (soziale Unterstützung,
Beschäftigung, Wohnen) einbeziehen, hat gerade erst begonnen: THERAPLAN
 klingt nett, aber erfordert Umdenken und macht Arbeit
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik

“Let us hope, instead, that we are indeed at a turning


point in correctional rehabilitation. If the spirit of reform
truly catches on, we will be able to look back at the
current iatrogenic practices in the sex-offender treatment
industry and laugh about their lunacy.”
(Franklin 2010)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !

Das könnte Ihnen auch gefallen