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„We have been so busy thinking about how to get rid of sexual crimes that we have
overlooked a rather basic truth: offenders want the possibility of better lives, not simply
the promise of less harmful ones.” (Tony Ward, 2006) [06,38]
Eickelborn, 3.3.2016
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Beispiel
– nach der Entlassung: neuer Lebenspartner der Mutter akzeptiert ihn nicht, ständige
verbale Abwertung, er sei ein Versager und Egoist, der Mama nur auf der Tasche liege
– eines Tages läßt sich der junge Mann die Ansagen vom LP nicht mehr gefallen, in der
Küche kommt es morgens zu Handgreiflichkeiten, der LP schlägt ihm ins Gesicht, so daß
eine Lippe aufplatzt und stark blutet, der Heranwachsende greift nach einem stumpfen
Küchenmesser und rammt es dem LP in den Bauch ...
Ward & Mann (2003 ff.): Good Lives Model-Comprehensive (GLM-C, 2007)
• therapeutisch wirksamer: Annäherungsziele, durch die Therapie soll der Täter nicht
nur Defizite abbauen, sondern Kompetenzen hinzugewinnen
• ganzheitliche, humanistische, positive, kontextorientierte Psychologie
• Straftäter sie streben nach (Lebens-) Zufriedenheit wie jeder andere Mensch
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Ward und seine Kollegen postulierten anhand anthropologischer Erkenntnisse neun universelle
Werte, die als menschliche Primärbedürfnisse bezeichnet werden können (Ward & Brown 2004;
Ward & Marshall 2004, vgl. Schwedler 2013: 192). In empirischen Forschungen differenzierte
Purvis (2010) schließlich elf Aspekte, die gegenwärtig als Grundlage des GLM diskutiert werden:
• z.B. eine bestimmte Berufswahl, der Wille - auch gegen den Wunsch der Eltern oder
Umwelt -, eine bestimmte Ausbildung zu absolvieren, ein konkretes Hobby, die
Mitgliedschaft in einem bestimmten Sportverein oder ein bestimmter Typ,
Beziehungen aufzunehmen („darauf stehe ich“)
extremes Beispiel: Armin Meiwes, der „Kannibale von Rothenburg“: hatte von
Kindheit an ein extremes Bindungsbedürfnis, das er nur stillen konnte, wenn er sich
den anderen einverleibt – nicht aus Perversion oder um sexuelle Erregung zu
erlangen, sondern um die geliebte Person in sich zu besitzen (Ahlers, 2015, S. 299)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Allgemeine Delikthypothese
In einigen Studien zu Sexualstraftätern ging das Vorhandensein von Ressourcen nicht mit
der erwarteten Wirkung als Schutzfaktor einher, (z.B. Spice, Viljoen, Latzman, Scalora &
Ullman, 2013)
“It is up to the assessor to ensure that the presence or absence of a protective (or risk)
factor is accurately evaluated” (Douglas Boer 2013)
Wodurch wird eine Ressource zum Schutzfaktor? (de Vogel et al., 2009)
fehlender Konsens, wie sich „Schutzfaktoren“ überhaupt definieren lassen (z.B. als
eigenständige Qualität oder als Abwesenheit eines Risikofaktors, z.B. kein Suchtproblem)
und auf welche Weise, sie zu einer Risikominimierung beitragen, z.B. als „Schutzraum“,
„Immunisierung“ oder „Kraftreserve“ oder als Mediator-Variable (Fitzpatrick, 1997)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Die Einschätzung des (sozialen) Umfelds des Täters erscheint für die Beurteilung der
Rückfallgefahr genauso bedeutsam wie die Einschätzung der Risikofaktoren, die in der
Persönlichkeit des Täters verortet werden Lofthouse-Studie (2013).
– der Täter soll möglichst früh in der Behandlung seine eigenen existenziellen legitimen
Motive für das Delikt vollständig verstehen und die Autonomie seiner Entscheidungen
erkennen (daß er nicht hineingerutscht ist, zur falschen Zeit am falschen Ort war etc.)
– therapeutische Haltung während der Diagnostik und Anamnese:
transparente, respektvolle und zukunftsorientierte Zusammenarbeit mit dem Klient
im Schutz der Schweigepflicht, so daß die Erhebung im Rahmen der
Therapieplanung dem Klienten zugute kommen und ihm nicht schaden wird;
potentielle Risiken / Gefährdungsmomente werden mit dem Klienten z.B. in Form
Sokratischer Dialoge besprochen (nicht nur mit der Kontrollbehörde);
Ergebnisse psychometrischer Testverfahren werden dem Klienten hinsichtlich ihrer
Bedeutung für die Therapieplanung erläutert (vgl. Millner and Rollnick, 1991)
– Unterstützung und Begleitung des Täters beim Realisieren persönlicher legitimer
Lebensinhalte = Motivationsarbeit als Kernmerkmal forensischer Therapie
– Sichtbarmachen von Entwicklungsfortschritten und Verhaltensänderungen des Täters
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Good-
Good-live-
live-Assessment nach Tony Ward: Methodik
– „At present, there is no psychometric measure that can make this assessment, and a
reliance on questionnaires may limit the depth of data gathered, so a clinical interview is
the recommended approach.” (Ward et al., 2013)
– “We have tried and found ineffective the method of presenting a list of primary
human goods to offenders and asking them to choose their priorities. In our experience,
such a task has been approached as if it was a test rather than an opportunity for
selfexploration.”
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Good-
Good-live-
live-Assessment nach Tony Ward: Gesprächsführung
Stattdessen führt der Diagnostiker ein offenes Gespräch mit dem Klienten, in dem er
seine Intentionen offen darlegt
Welchen Personen, Aufgaben oder Dingen fühlt sich der Klient verpflichtet?
Wie zeigt sich dies im Alltag? Welche Aktivitäten und Erfahrungen tauchen immer
wieder auf? Welche Idole hat er? Welche Filme sieht er sich an?
Wem möchte er ähneln, an wem orientiert er sich und warum?
Welche Ziele strebt der Klient an? Wie wichtig sind sie ihm? Was fehlt ihm, wovon
bitte mehr?
Was möchte der Klient mit Hilfe der Therapie erreichen?
Wo möchte er leben, mit wem und womit sich beschäftigen? Jetzt, in 5 und in 10
Jahren?
Welche Voraussetzungen und Fähigkeiten müssen dafür vorhanden sein?
….
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Leipziger Ressourcen-
Ressourcen-Intentar (LRI-
(LRI-A): Entstehung und Inhalte
– wurde 2013/14 in der Auseinandersetzung mit dem LSI-R von Mitarbeitern des
Instituts für sozialtherapeutische Nachsorge (ISONA) in Leipzig entwickelt
Leipziger Ressourcen-
Ressourcen-Intentar (LRI-
(LRI-A): Einsatzbereich
– Anwendungsbereiche:
THERAPLAN: Inhalte
THERAPLAN: Auswertung
– automatisierte Bewertung der Antworten des Klienten als Ressource, Reserve oder
Defizit anhand einer integrierten Kriterientabelle, der nonlinear definierte Cut-off-Werte
zugrunde liegen: Defizitbereich 1 – Reserve – Ressource – Defizitbereich 2
z.B. Kontakthäufigkeit zu den Eltern (bei erwachsenem Klienten): Kontaktabbruch
= Defizitbereich 1, einmal im Jahr = Reserve, regelmäßig mindestens quartalsweise
= Ressource, mehr als dreimal pro Woche = Defizitbereich 2
– Zusammenfassung der Item-Antworten zum themenspezifischen Ressourcen-Defizite-
Quotienten: RDQ = 100 + 100* (R – D) / (R + D)
– RDQ-Bereich: 0 .. 100 .. 200
– Bewertung des RDQ:
o <105 : Überwiegen von Defiziten
o 105 – 155 : Reserve
o 155 – 185 : Ressource
o >= 185 : Bagatellisierung, Leugnung
An die Stelle von “coping skills” treten Fertigkeiten zum Erreichen von
Annäherungszielen: „GLM-based intervention plans are concerned with equipping
clients with the skills, knowledge, and resources to attain their prioritized goods in
personally meaningful and socially acceptable ways” [07,26]
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
– bei der Entlassung von Straftätern werden häufig nur Risikofaktoren in Betracht
gezogen (z.B. ob sich eine Grundschule in der Nähe der künftigen Wohnung eines
pädophilen Entlassungskandidaten befindet)
dagegen trägt die Recherche nach Schutzfaktoren erheblich dazu bei, einen positiven
Therapieplan für die Nachsorge zu erarbeiten, wesentlich in 5 Kategorien:
a. soziale und emotionale Unterstützung (support): supportive friendships and
connections with adults in school, church, and police agencies
b. Beschäftigung (Arbeit, Freizeit) (occupation), vgl. SAPROF work and leisure
activities
c. Wohnung / Unterkunft (accomodation), vgl. SVR-20 „place of residence”
d. Teilnahme an Behandlungsprogrammen (programs): wird in den üblichen
Prognosemanualen nicht als Schutzfaktor geführt (sic!)
e. Realistische Lebensziele (plans): vgl. SVR-20 „realistic plans“, SAPROF
„appropriate life goals“, START „feasible and realistic planning”
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Empirische Wirkungsnachweise
– Bouman, Schene, and de Ruiter (2009): N=135, kurz- und langfristige Wirkungen der
Behandlung auf das Wohlbefinden entlassener Forensik-Patienten über einen Zeitraum
von 3 Monaten sowie die Rückfallquote nach 3 Jahren
Zufriedenheit, Gesundheit und Erfüllung gingen mit geringerer Rückfälligkeit einher,
dabei gab es keine signifikanten Zusammenhänge zwischen aktuellem
Wohlbefinden und Rückfälligkeit, jedoch zwischen Gesundheit, allgemeiner
Lebenszufriedenheit und Rückfälligkeit bei Gewaltstraftätern mit hohem Risiko
– Willis & Grace (2008): retrospektive Analyse der Lebenszielplanung bei
Kindesmisshandlern das Vorhandensein von secondary goods (sozial akzeptierte
Umsetzungsform für ein oder mehrere primary goods) wirkt als Schutzfaktor gegen
Rückfälligkeit
– Multi-Systemic Therapy (MST; Henggeler, Schoenwald, Borduin, Rowland, &
Cunningham, 1998): wurde entwickelt um die Drogenbeschaffungskriminalität von
Jugendlichen zu verringern erwies sich als äußerst aufwendig, aber auch als äußerst
effektiv (Carr, 2005, vgl. Ward 2008)
Prof. Klemm (ISONA) – GLM-Anamnese und Diagnostik
Zusammenfassung
– die öffentliche Stimmung verführt den Therapeuten, die Reduktion von Rückfall-
quoten mit einem restriktiven, punitiven Stil in der Kriminaltherapie zu verknüpfen
GLM betrachtet den Täter als Mensch mit legitimen Bedürfnissen, erleichtert die
Gestaltung eines motivierenden Arbeitsbündnisses, die Formulierung positiver,
persönlich bedeutsamer Ziele und die Mitarbeit des Klienten
“More pessimistically, the Good Lives Model may end up co-opted as yet another
manualized technique for ‘fixing’ offenders” (Porporino, 2008)