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Geschichte Mittelalter

Reliquien: Welche Wirkung haben die Überreste Heiliger?

Reliquienschrein des Heiligen Marcellinus und des Heiligen Petrus (u.a.). Silberblech. Seligenstadt.
Geschichte Mittelalter
Die zwei Märtyrer Marcellinus und Petrus werden als Heilige verehrt, da
sie in der Christenverfolgung des römischen Kaiser Diokletian – bevor
das Christentum die römische Staatsreligion ist – Ende 3. Jahrhundert
inhaftiert und hingerichtet werden. Im Gefängnis haben die zwei Christen
ihre Mitgefangenen heimlich zum Christentum bekehrt und getauft. Der
fränkische Gelehrte, Laienabt und Biograph Karls des Grossen Einhard
(*770-†840) schafft die Reliquien – Überreste, die religiös verehrt werden
– der Märtyrer zu ihm nach Seligenstadt, was Reliquientranslation heisst.
Dort werden sie noch heute in einem Schrein aufbewahrt. Einhard erzählt
in Translatio et Miracula SS. Marcellini et Petri auctore Einhardi von der
Reise der Reliquien. Im folgenden Quellenausschnitt wird besonders die
Wirkung der Reliquien auf die Gläubigen betont:

„Am folgenden Tag liess ich die heiligen Reliquien mit dem Leibe, von
dem sie weggenommen worden waren, mit der grössten Sorgfalt wie-
der vereinigen. Wie angenehm dies den hochseligen Märtyrern war,
beweist deutlich das Zeugnis des folgenden Wunders. Denn als wir in
der folgenden Nacht unsrer Gewohnheit gemäss bei der Messe in der 5
Kirche sassen, kam ein des Gebrauchs seiner Gliedmassen beraubter
Greis, sich auf Knie und Hände stützend, hereingekrochen, um sein
Gebet zu verrichten. Dieser wurde vor unser aller Augen durch die
Kraft Gottes und die Verdienste der hochseligen Märtyrer zur selbigen
Stunde, als er eingetreten war, so vollständig geheilt, dass er zum 10
Gehen nicht einmal mehr der Stütze eines Stabs bedurfte. Er behaup-
tete auch, fünf Jahre lang ununterbrochen taub gewesen zu sein und
zugleich mit dem Gebrauch der Füsse das Gehör wiedererhalten zu
haben.“

(Esselborn, Karl. Übertragung und Wunder der Heiligen Marzellinus und Petrus. S. 32.)

● Warum entfalten die Reliquien laut Einhard ihre wundersame Heilwirkung?

In den Miracula (Mirakelbuch) schildert Einhard zahlreiche Spontanhei-


lungen. Der Dialog eines Priesters mit einem Teufel, der sich Wiggo
nennt, von einem sechzehnjährigen Mädchen Besitz ergreift und durch
ihren Mund Latein spricht, ist für uns wohl besonders aufschlussreich:

„Da antwortete der Teufel durch das Mädchen: ‚Ich bin ein Trabant [Be-
gleiter] und Jünger [Lehrling] des Satans, und war früher schon lange
Zeit Pförtner der Hölle. Doch jetzt habe ich seit einer Reihe von Jahren
mit elf Genossen das Frankenreich verheert. Das Getreide und den
Wein sowie alle sonstigen Früchte, die zum Gebrauche des Menschen 5
der Erde entspriessen, haben wir, wie uns befohlen war, gänzlich
vernichtet, das Vieh haben wir durch Krankheiten getötet, Seuche und
Pest haben wir selbst über die Menschen geschickt; alle Widerwärtig-
keiten und sämtliche Übel, die sie schon lange wegen ihrer Verbrechen
erdulden, treffen sie auf unser Bewirken und Zutun.‘ Wie nun der 10
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Priester ihn fragte, aus welchem Grunde ihm eine solche Macht einge-
räumt worden sei, entgegnete er: ‚Wegen der Bosheit dieses Volkes
und der mannigfachen Ungerechtigkeiten derer, die über es gesetzt
sind. Diese lieben die Geschenke und nicht die Gerechtigkeit, sie
fürchten die Menschen mehr als Gott, sie bedrücken die Armen, woll- 15
ten nicht die zu ihnen schreienden Witwen und Waisen erhören und
gewähren keinem Gerechtigkeit, der die nicht kauft. Ausserdem gibt es
noch vieles, ja fast unzähliges andre, was ebenso von dem Volke
selbst als von seinen Lenkern täglich begangen wird wie Meineid,
Völlerei, Ehebruch, Mord, Diebstahl, Raub; niemand verhindert, dass 20
diese Untaten begangen werden, und wenn sie begangen sind, ist
niemand da, der sie ahndet. Gerade die Mächtigern liegen schänd-
lichem Gewinn ob. Die höhere Stellung, die ihnen zuteil wurde, damit
sie die unter ihnen Stehenden regieren, missbrauchen sie, um dem
Stolz und eiteln Ruhme zu frönen. […] Selten sind die, so treu und 25
redlich den Zehnten zahlen, noch seltener die, so Almosen spenden;
und das deshalb, weil sie das, was ihnen Gott den Armen zu geben
befiehlt, als für sich selbst verloren erachten. […] Weil dieses Volk in
diesen und vielen anderen Dingen Gottes Geboten und Verboten aus
Trotz ungehorsam ist, wurde uns erlaubt, ja sogar anbefohlen, das, 30
was ich oben angeführt habe, bei den Menschen anzurichten, damit
sie für ihre Treulosigkeit Strafe zahlen. Denn sie sind treulose Lügner,
da sie nicht darauf bedacht sind zu halten, was sie in der Taufe gelobt
haben.‘ Das alles sprach der Teufel durch den Mund des Barbaren-
mädchens auf lateinisch. Und als der Priester ihm durch den Befehl, 35
auszufahren, zusetzte, entgegnete er: ‚Ich werde ausfahren, aber nicht
wegen deines Befehls, sondern wegen der Macht der Heiligen, die es
mir nicht erlauben, länger in jener zu bleiben.‘ Mit diesen Worten war
er das Mädchen auf den Estrich [Boden] und liess es daselbst ein
Weilchen wie eine Schlafende mit dem Gesicht nach unten liegen. Als 40
er aber kurz danach entwich, erhob sich, wie aus dem Schlafe erwach-
end, das Mädchen, dass alle Anwesenden es staunend sahen, und
zwar infolge der Kraft Christi und der Verdienste der seligen Märtyrer
geheilt. Nachdem der Teufel aus ihr ausgetrieben war, konnte sie nicht
mehr lateinisch sprechen, woraus klar hervorgeht, dass sie nicht von 45
sich aus, sondern der Teufel durch ihren Mund geredet hatte. Ach, oh
Schmerz, welch ein Jammer hat sich unsrer Zeiten bemächtigt, wo
nicht gute Menschen, sondern böse Geister Lehrer sind, und die Erre-
ger der Laster und die Anstifter der Verbrechen uns an unsre Besser-
ung gemahnen!“ 50

(Esselborn, Karl. Übertragung und Wunder der Heiligen Marzellinus und Petrus. S. 49-51.)

● Warum berichtet Einhard ausführlich von den Worten des Teufels Wiggo?

● Welche Wirkung sollen die Überreste der Heiligen Marcellinus und Petrus
zusätzlich zur Heilung auf die Menschen ausüben?

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