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GEHT’S PSYCHISCH

KRANK UND
NOCH? WOHNUNGSLOS

VERBAND WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE


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2
Inhalt
Vorwort 4 „Krankheit und Selbstermächtigung
schließen einander nicht aus“ 23
Psychisch krank und wohnungslos: 7 Robert Mittermair, Geschäftsführer des
Ein Dachschaden Vereins LOK (Leben ohne Krankenhaus),
Der Anteil der psychisch Erkrankten in im Interview über psychische Erkrankungen
der Wiener Wohnungslosenhilfe steigt. Die und Wohnungslosigkeit, Lücken im
Betroffenen brauchen individuelle Lösungen Betreuungssystem und bereits existierende
in der Betreuung. Vor allem aber brauchen sie Lösungsansätze, die stärker aufgegriffen
Privatsphäre und adäquaten Wohnraum. werden müssten.

„Stigmatisierung macht es schwer, Erwachsenenschutz: Ernstfall


Hilfe anzunehmen“ 11 für Partizipation 27
Georg Psota, Chef der Psychosozialen Das neue Erwachsenenschutzrecht
Dienste Wien (PSD), im Gespräch über „verpflichtet“ betreuende Organisationen zu
Herausforderungen, Möglichkeiten und Wissen, Ressourceneinsatz und im Idealfall zu
Grenzen der Versorgung psychisch kranker, partizipativem Arbeiten auf Augenhöhe – das
wohnungsloser Menschen in Wien. kann anstrengend, aber auch lohnend werden.

Zuerst kommt das Wohnen 15 Fuß fassen – schwer gemacht! 31


Von der Verwaltung zur Beendigung der Flüchtlinge, die an einer Posttraumatischen
Wohnungslosigkeit, von der Straße und Belastungsstörung leiden, stehen nach
der Notschlafstelle zum Zuhause: Wohnen Erhalt eines positiven Asylbescheids bei der
ist der erste Schritt zur Verbesserung der Wohnungssuche einer ganzen Reihe von
Lebenssituation von wohnungslosen Menschen Herausforderungen gegenüber. Die Suche nach
mit psychischen Erkrankungen. einem Zuhause gestaltet sich schwierig.

Schutz, Sicherheit und Integrität Ohne Gesundheit ist alles nichts 35


– wen juckt’s? 19 Für wohnungs- und obdachlose Menschen
In der Betreuung von unbehandelten rückt die Gesundheit oft notgedrungen in
psychisch kranken Frauen braucht es ein den Hintergrund. Durch niederschwellige
ausdifferenziertes und unterstützendes Angebote können weitere Ressourcen zur
Hilfesystem. Damit soll trotz Krankheit Gesundheitsförderung aktiviert werden.
Lebensqualität ermöglicht und weitere
Verwahrlosung verhindert werden. Impressum 38
Sprichwörtliche Auflösung 39

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Liebe Leserin!
Lieber Leser!
Laut WHO leidet jeder vierte Psychische Erkrankungen Kommt zur psychischen Erkran-
Mensch an einer psychischen werden vielfach nicht als Krank- kung auch noch Wohnungslo-
Krankheit. Andere Studien ge- heiten betrachtet, sondern als sigkeit hinzu, wird das Stigma
hen von einem Drittel und mehr ein nicht der Norm entsprechen- verstärkt. Oft übernehmen die
aus. In der Wiener Wohnungslo- des Verhalten. Das zieht eine Betroffenen die Vorurteile und es
senhilfe gaben 2012 sogar fast 50 negative moralische Wertung kommt zu einer Selbststigmati-
Prozent der Befragten an, unter nach sich. Diese Stigmatisierung sierung. Aus Scham wird ärztli-
psychischen Problemen zu leiden. vollzieht sich in verschiedenen che Hilfe zu spät oder gar nicht
Die Dunkelziffer dürfte – wie so Lebensbereichen. Besonders in wahrgenommen. Freunde und
oft – noch weitaus höher liegen. Boulevardmedien ist von „irren Bekannte ziehen sich zurück und
Tätern“ die Rede, die auch schon es wird immer schwieriger, sozia-
Trotzdem herrschen gegenüber mal als „Monster“ dämonisiert le Kontakte aufrecht zu erhalten.
psychisch Kranken und ihren werden. Auch in die Alltags-
Leiden immer noch Vorurteile sprache haben stigmatisierende Gleichzeitig erhöhen steigende
und Klischees, die sich in Dis- Redewendungen wie selbstver- Miet- und Energiekosten das Ar-
tanzierung, Ausgrenzung und ständlich Einzug gehalten, die mutsrisiko. Armut bedeutet aber
Benachteiligung äußern. Betrof- psychische Erkrankungen in eine nicht nur geringes Einkommen,
fene werden für ihre Situation vermeintliche „Witzecke“ stellen: sondern auch fehlende gesell-
selbst verantwortlich gemacht Wer möchte schon „nicht ganz schaftliche Inklusion und Teil-
und dabei wird ihnen nicht selten dicht sein“, „einen Dachschaden habe. Das betrifft insbesondere
fehlende Willenskraft und An- haben“ oder „nicht richtig ti- psychisch kranke Menschen, die
triebslosigkeit unterstellt. cken“? dem Druck der tradierten Wer-
tevorstellungen wie „Leistung“
und „Erfolg“ nicht standhalten

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können. Die Wohnungslosenhilfe atern, an ambulanten Therapie- Stigma zu bewältigen, indem wir
steht hier vor großen Herausfor- angeboten und an spezifischen Vorurteile abbauen und die Aus-
derungen in der psychosozialen Angeboten für Frauen. Wir einandersetzung mit der eigenen
Versorgung. müssen den Ausbau von Housing Krankheit fördern.
First Modellen fördern und Teil-
Studien aus Österreich und betreutes Wohnen ausbauen. Wir
Deutschland zeigen, dass in den brauchen einen niederschwelli- Für den Verband Wiener
Einrichtungen vor allem Rück- gen Zugang zu gesundheitsför- Wohnungslosenhilfe
zugsmöglichkeiten geschaffen dernden Angeboten und sollten
werden sollten und gleichzeitig uns verpflichtet fühlen, mehr auf
das Angebot der psychiatrischen die Wünsche und Bedürfnisse un-
Betreuung verbessert werden serer Klientinnen und Klienten Roland Skowronek
muss. einzugehen.

In der Wiener Wohnungslosenhil- Damit wir diese Ziele erreichen


fe gibt es bereits ein vielfältiges können, müssen wir den Dialog
Angebot an Unterstützungsleis- mit Verantwortlichen in Ver-
tungen. In diesem Situationsbe- waltung und Politik suchen, um
richt wird aber auch aufgezeigt, gemeinsam neue Ideen, Modelle
dass vor allem individuelle und Versorgungskonzepte zu
Lösungen und spezielle Angebote entwickeln. Gleichzeitig sollten
für psychisch kranke Wohnungs- wir aber auch in der Öffentlich-
lose benötigt werden: Es fehlt keit Aufklärungsarbeit betreiben
an Psychiaterinnen und Psychi- und Betroffene befähigen, ihr

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Psychisch krank
und wohnungslos:
Ein Dachschaden
Der Anteil der psychisch Erkrankten in der Wiener
Wohnungslosenhilfe steigt. Die Betroffenen brauchen
individuelle Lösungen in der Betreuung. Vor allem aber
brauchen sie Privatsphäre und adäquaten Wohnraum.

Fakten Probleme Forderungen


• 49 Prozent der KlientInnen • Speziell in nieder- • Schaffung von adäquatem
berichten biographisch von schwelligen Einrichtungen Wohnraum
psychischen Beschwerden fehlen Rückzugsräume
• Höherer Betreuungs-
• 45 Prozent berichten von • Die Erarbeitung schlüssel in Einrichtungen
einer Suchterkrankung individueller Lösungen in der Wohnungslosenhilfe
der Betreuung erfordert
• Die Prävalenz von psychi- • Mehr Mittel zur
mehr Personal
schen Erkrankungen in Weiterqualifizierung des
Gesamtgesellschaft und • Von psychischer Krankheit Personals
Wohnungslosenhilfe steigt Betroffene sind am
• Stärkung der Delogierungs-
weiter Wohnungsmarkt schwer
prävention
vermittelbar
• Mangelnde Privatsphäre
• Mehr ambulante
verstärkt die psychische
Betreuungsangebote
Belastung

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Frau G. schreckte auf. An das Immerhin: Im Gegensatz zu ihren Immer weniger Platz
morgendliche Läuten an ihrer Kindern erkundigten sich die An- für Normabweichungen
Tür konnte sie sich auch nach gestellten hier zumindest regel-
drei Jahren im Sozial Betreuten mäßig nach ihrem Wohlbefinden. Frau G. und diese aus ihrer Sicht
Wohnhaus einfach nicht gewöh- Und sie waren ihr allemal lieber beschriebene Episode stehen nur
nen. Sie war gerne in der Nacht als die Gestalten, die nachts stellvertretend für viele Klien-
aktiv und befand sich immer im durch das Fenster in ihre Woh- tInnen mit psychischen Auffällig-
Tiefschlaf, wenn das Personal nung im Sozial Betreuten Wohn- keiten in der Wiener Wohnungs-
seinen Rundgang machte. Schlaf- haus stiegen, um ihre Unterlagen losenhilfe (WWH). In einer Eva-
trunken schlurfte sie zur Tür, in Unordnung zu bringen und luierung aus dem Jahr 2012 be-
bevor sie die BetreuerInnen von Nachrichten auf ihrem Badezim- richten 39 Prozent der Befragten
außen entsperren würden. Als merspiegel zu hinterlassen. von aktuellen psychischen und
das hier zum ersten Mal passierte seelischen Beschwerden, 30 Pro-
und zwei Wildfremde plötzlich Sie konnte es auch nach drei zent waren darüber hinaus von
vor ihrem Bett standen, hatte sie Jahren noch immer nicht fassen, – ebenfalls den psychiatrischen
diese – ziemlich nachdrücklich, dass sie hier gelandet war. In Erkrankungen zugeordneten
wie sie zugeben musste, aber eine einem Irrenhaus. Ihre Nachba- – Suchtthematiken belastet. Le-
starke Frau mit eigener Meinung rinnen waren allesamt verrückt bensgeschichtlich gaben sogar 49
war sie halt schon immer gewe- und Frau B. von nebenan mal- Prozent der Befragten Probleme
sen – der Wohnung verwiesen. trätierte sie mit einer Strahlen- mit der psychischen Gesundheit
pistole. Deswegen rieb Frau G. und 45 Prozent substanzgebun-
Daraufhin war es zu einigen un- sich den Schlaf aus den Augen. dene Süchte an.1 Insgesamt neh-
angenehmen Szenen gekommen, Arbeit wartete, Schriftsätze an men psychische Erkrankungen in
bis sie schließlich für drei Wo- das Gericht mussten verfasst wer- Österreich zu.2 Gleichzeitig bietet
chen in einem Krankenhaus fest- den. Als erstes musste sie diesen ein sich stetig zuspitzender Woh-
gehalten und mit diversen Gift- Winkelschreiber loswerden, der nungsmarkt bei der Vermittlung
cocktails gefoltert worden war. ihr als Sachwalter aufs Auge von Wohnraum immer weniger
Das wollte Frau G. nicht noch gedrückt worden war. Es war Platz für Normabweichungen.
einmal erleben. Sie öffnete die ein langwieriger Prozess und sie Das führt dazu, dass der Anteil
Tür und die BetreuerInnen frag- musste hartnäckig bleiben. Denn der Menschen mit psychischen
ten sie, wie es ihr gehe. Schlecht! am Ende steckten sie alle unter Erkrankungen innerhalb der
Ob sie etwas brauche? Ja, ihre einer Decke. WWH weiter steigen wird.
schöne Wohnung daheim im
dritten Bezirk zurück! Ob sie am Diese Entwicklung bringt viele
Nachmittag an der Bastelgruppe Herausforderungen mit sich. We-
teilnehmen wolle? Nein, sicher sentlich ist, dass psychische Lei-
nicht! Auf Wiedersehen! den sehr individuell ausgeprägt
sind. Auch wenn eine zutreffende

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Diagnose Erklärungsmodelle für und Mittel zur Weiterbildung im gesicherte Wohnsituation und
das Verhalten der Betroffenen Umgang mit Betroffenen. Sonst die Abkehr vom früheren sozia-
liefern und Hinweise für Inter- kommt es zur Überlastung der len Umfeld zurück. Das gilt für
ventionsmöglichkeiten geben Betreuenden und die Bereit- hochschwellige Angebote wie Be-
kann, dürfen die Betreuenden schaft der Einrichtungen, sich treutes Wohnen oder Sozial Be-
nicht der Versuchung erliegen, auch um betreuungsintensive treutes Wohnen. Keine Verbes-
die ohnehin Stigmatisierten nur KlientInnen langfristig zu küm- serung konnte bei KlientInnen
durch die Brille einer medizini- mern, nimmt ab. niederschwelliger Angebote wie
schen Kategorisierung zu sehen. Nachtnotquartieren festgestellt
Das Angebot adäquater psychi- werden. Speziell in diesem Be-
Vielmehr sind – und das ist atrischer Versorgung ist ein an- reich sind weitere Maßnahmen
auch der grundsätzliche Ansatz derer wichtiger Faktor und wird zur Schaffung von Privatsphäre
in den Einrichtungen – ebenso in der WWH vor allem über die dringend erforderlich, weil der
individuelle Lösungen gefragt. Kooperation mit dem Psychosozi- Mangel an Rückzugsmöglichkei-
Das braucht Zeit, Toleranz und alen Dienst (PSD) gewährleistet. ten Stress erzeugt und psychiat-
vor allem Spielraum, sowohl für Die Betreuung hat die Aufgabe, rische Symptomatiken verstärkt.
die Betreuenden als auch für die Berührungsängste abzubauen,
KlientInnen. Nur so sind in der da die Konsultation von psychi-
Betreuung gemeinsame Wege atrischen FachärztInnen oft mit
möglich, die den Betroffenen Scham verbunden ist. Hierbei
genügend Freiraum bieten und dürfen das Bedürfnis der Kli-
gleichzeitig den strukturellen entInnen nach Wohnraum und
Rahmen der Einrichtung wah- der Grundsatz der Freiwilligkeit
ren. Striktes Pochen auf Haus- von medizinischer Behandlung
ordnungen erweist sich oft als nicht gegeneinander ausgespielt
kontraproduktiv und kann in werden.
Eskalationsspiralen münden,
was die Gefahr von Übergriffen Rückzugsmöglichkeit
auf die Betreuenden erhöht und senkt sozialen Druck
für die KlientInnen psychiat-
rische Zwangsunterbringung In der eingangs erwähnten Eva-
oder Wohnplatzverlust bedeuten luierungsstudie gibt ein Drittel
kann. der Befragten mit aktueller
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Evaluierung Wiener Wohnungslosen-
hilfe. Endbericht. Dachverband Wiener
psychischer Belastung an, dass Sozialeinrichtungen. 2012.
Individuelle Betreuung ist nur sich ihr seelisches Leiden seit 2
siehe z. B. https://derstandard.
mit entsprechenden Ressourcen dem Erstkontakt mit der WWH at/2000055043418/Psychische-Erkran-
möglich. Das betrifft vor allem verbessert hat. Die Betroffenen kungen-Mehr-Fokus-auf-Seele, zuletzt
genügend qualifiziertes Personal führen das vor allem auf die zugegriffen am 29.3.2018

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Stigmatisierung
macht es schwer,
Hilfe anzunehmen
Georg Psota, Chef der Psychosozialen Dienste
Wien (PSD), im Gespräch über Herausforderungen,
Möglichkeiten und Grenzen der Versorgung psychisch
kranker, wohnungsloser Menschen in Wien.

Fakten
Die psychosozialen Dienste soziale Information, ein trum. Behandlungs- und Be-
Wien bieten ein Netz aus Institut für Psychotherapie, ratungszentren sind zudem
Einrichtungen im Bereich ein Institut für psychiat- über das gesamte Stadtge-
Behandlung, Betreuung rische Frührehabilitation, biet verteilt.
und Beratung für psychisch ein Department für Be-
erkrankte Menschen. Das hindertenpsychiatrie mit
Angebot umfasst acht sozial- Autismuszentrum, ein Am-
psychiatrische Ambulatorien, bulatorium für Kinder- und
einen psychiatrischen Jugendpsychiatrie sowie ein
Krisendienst, eine psycho- gerontopsychiatrisches Zen- www.psd-wien.at

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Immer mehr Menschen in Ich habe den Eindruck, dass es steuerbar ist. Wir können zum
Wien sind psychisch krank. sehr viele, aber trotzdem nicht Beispiel nicht steuern, wer zum
Worauf führen Sie das zu- alle sind. Denn psychisch krank Medizinstudium zugelassen wird,
rück? zu sein ist nach wie vor stigma- und wer Psychiatrie und Sozial-
tisiert. Das Stigma wird auch psychiatrie wählt. Ähnlich geht es
Die Stadt ist in den letzten 30 von den Betroffenen selbst über- der Wohnungslosenhilfe, die die
Jahren um 25 Prozent gewach- nommen. Manchmal habe ich sozialen Umstände und die gene-
sen. Wien hat außerdem eine den Eindruck, dass man in dieser rellen sozial- und gesellschafts-
Menge innerösterreichischer Gesellschaft alles „darf“, also politischen Rahmenbedingungen
Migration. Das weiß man nicht kein Geld haben, keine Wohnung nicht selbstständig steuern kann.
zuletzt dann, wenn man in der haben – man darf nur nicht psy- Was wir tun können ist, darauf
Wohnungslosenhilfe arbeitet – chisch krank sein. Dieses Klima zu antworten.
ich war ja selbst zehn Jahre als macht es Betroffenen schwer,
Psychiater hier tätig. Da habe ich Hilfe anzunehmen. Trotzdem Der PSD ist mit dem Angebot
vielen Menschen aus den Bundes- können wir es ihnen nicht noch des sogenannten „Liaison-
ländern geholfen. Am Land gibt einfacher machen, als jetzt: Wenn dienstes“ in 31 Einrichtungen
es nach wie vor wenig Anonymi- wohnungslose Menschen in ei- der Wohnungslosenhilfe di-
tätsschutz, viele kommen nach nem Haus wohnen, das Zugang rekt vor Ort tätig. Reicht das,
Wien und bringen dann oft auch zu psychiatrischer Hilfe hat, wo oder gibt es Nachholbedarf?
ihre psychische Erkrankung mit. vielleicht sogar regelmäßig ein
Psychiater oder eine Psychiaterin Da sind wir beim Thema Möglich-
Im Rahmen der Evaluierungs- vor Ort ist und man nicht einmal keiten und Grenzen. Die Grenzen
studie der Wiener Wohnungs- eine E-Card für die Nutzung des werden derzeit insbesondere
losenhilfe 2012 gaben 39 Pro- Angebots braucht. durch die Anzahl der Sozialpsych-
zent der wohnungslosen Men- iater und Sozialpsychiaterinnen
schen an, unter psychischen Sie schätzen das Niveau also gezogen: Es gibt zu wenige. Ge-
Krankheiten zu leiden… sehr hoch ein. Was heißt es rade in der Wohnungslosenhilfe
für den PSD und die Schnitt- ist die Nachfrage nach Psychiater
… was nicht heißt, dass es nur 39 stelle zur Wohnungslosen- und Psychiaterinnen aber sehr
Prozent sind … hilfe, dieses Niveau in den hoch, da viele KlientInnen an
kommenden Jahren bei den einer psychischen Erkrankung
… das stimmt. Wie viele die- gesellschaftlichen Verände- leiden. Es ist derzeit herausfor-
ser Menschen können zurzeit rungen zu halten? dernd, darauf zu achten, dass die
beim psychiatrischen und wenigen verfügbaren Psychiater
psychotherapeutischen Hilfs- Das heißt: Challenge. Das ist und Psychiaterinnen gut verteilt
system andocken? eine Herausforderung. Weil es sind. Im Moment hat fast jede
weder von der Wohnungslosen- Psychiatrie offene Stellen, die
hilfe selbst, noch vom PSD selbst nicht besetzbar sind.

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Ist ein institutionelles Setting, elenden können – wo sie früher, kann das schon sehr gefährlich
wie es die Wohnungslosenhil- vielleicht zu früh, vielfach auch für den Betroffenen werden. Nur
fe mit den Übergangswohn- ungerechtfertigt, eingewiesen wenn psychische Erkrankungen
häusern und den Sozial Be- worden wären. Die Freiheit zur erkannt werden, ist es möglich,
treuten Wohnhäusern anbie- Verelendung dann aber als „freie adäquat zu helfen. Das gilt auch
tet, überhaupt ein guter Ort Entscheidung“ zu verstehen halte für die Behandlung körperlicher
für eine psychiatrische Krise? ich für einen Irrtum. Die Lösung Erkrankungen. Auch die sollten
dafür habe aber auch ich nicht. stärker als Teil der Wohnungslo-
Das ist sehr differenziert zu senhilfe gedacht werden – denn
betrachten. Ich denke da zum Was haben Sie in Ihrer Zeit Gesundheit ist immer ein Ge-
Beispiel an einen Patienten aus in der Wohnungslosenhilfe samtprodukt.
einem österreichischen Bundes- gelernt, welche Erfahrung be-
land. Er wollte primär keines- gleitet Sie bis heute?
falls psychiatrische Hilfe und ist
letztlich deswegen aus dem Bun- Ich habe ja nicht nur in der Woh-
desland nach Wien geflüchtet. nungslosenhilfe gearbeitet, son-
Sein Ziel war es, Hilfe für seine dern auch davor schon obdachlose
Situation der Obdachlosigkeit zu Menschen quasi auf freier Wiese
erhalten. Wenn man ihm gleich beraten und unterstützt. Was ich
Hilfe für seine psychiatrischen von den Profis dieses Bereichs
Probleme aufgedrängt hätte, wäre gelernt habe: Auch mit den al-
er wieder gegangen. So hat er in lerallerschwierigsten Krankheits-
der Wohnungslosenhilfe ange- konstellationen kann ein Umgang
dockt und erst nach einiger Zeit gefunden werden – wenn das
auch psychiatrische Hilfe ange- Wohnen und die soziale Grund-
nommen. versorgung gewährleistet ist.
Ergänzend braucht es dann eine
Widersprüche ergeben sich aber Mischung aus Beziehungsangebot
auch aus der gesellschaftlichen und wenn nötig auch entschlosse-
Entwicklung. Mit der Individu- ner Grenzsetzung.
alisierung kam auch „die große
Freiheit“ – und die beinhaltet Manchmal habe ich aber auch
auch weniger günstige Aspekte. erlebt, dass zu lange über schwe-
Der Rückgang von gesellschaft- re psychische Erkrankungen
licher Kontrolle hat eben auch hinweggesehen wird. Wenn zum
dazu geführt, dass psychisch Beispiel jemand mitten auf der
kranke Menschen heutzutage vor Straße kataton wird, also plötz-
den Augen vieler öffentlich ver- lich am ganzen Leib erstarrt,

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Zuerst kommt
das Wohnen
Von der Verwaltung zur Beendigung der Wohnungslosigkeit,
von der Straße und der Notschlafstelle zum Zuhause:
Wohnen ist der erste Schritt zur Verbesserung der
Lebenssituation von wohnungslosen Menschen mit
psychischen Erkrankungen.

Fakten Probleme Forderungen


• Wohnversorgung ohne • Das konzeptuelle, räumliche • Ausbau von Housing
Vorbedingungen führt bei und personelle Angebot First mit Fokus auf
Menschen mit psychischen der Wohnungslosenhilfe ist Menschen mit psychischen
Erkrankungen zu stabilerer zu einem überwiegenden Erkrankungen
Wohnversorgung als Teil nicht auf psychische
• Ausbau niederschwelliger
traditionelle Angebote Erkrankung ausgerichtet
Unterbringungs-
• Diese Zielgruppe kann • Regeln, Vorbedingungen einrichtungen für psychisch
durch Housing First für Wohnen und Fremd- kranke Wohnungslose
Modelle wirksamer und bestimmung stellen
• Verbesserung der Schnitt-
kosteneffizienter versorgt Barrieren für die Wohn-
stelle mit den bestehenden
werden versorgung von Menschen
stationären psychiatrischen
mit psychischen Erkran-
Einrichtungen
kungen dar

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Ein langer Weg zurück in Notquartieren oder kommen Akutversorgung nimmt ihren
immer wieder. Lauf: Aufenthalte in Kranken-
Frau B. hat drei Jahre in ver- häusern, psychiatrischen An-
schiedenen Notquartieren ver- Der überwiegende Teil dieser stalten, Notschlafstellen und
bracht. Es war eine schwierige Einrichtungen ist konzeptuell Haftanstalten wechseln sich ab.
Zeit für sie. Mehrere Diagnosen und personell nicht ausreichend Gesamtwirtschaftlich ist das die
bescheinigten ihr psychische Er- auf psychisch kranke Menschen teuerste Form der Versorgung.
krankungen. Aber Frau B. wollte vorbereitet. Die Rahmenbedin- Und individuell belastet sie die
davon nichts wissen. Oft wurde gungen tun ihr übriges: Viele Gesundheit.
ihr nahegelegt, Hilfe aufzusu- Menschen an einem Ort, kaum
chen. Aber Frau B. fühlte sich Ruhe, strikte Regeln, Stress. Hotel Plus Köln
nicht krank. Fast jede Nacht irr-
te sie im Notquartier umher. Da- Alternativen gefragt Die Stadt Köln hat in den Neun-
bei fühlten sich leider oft andere zigerjahren begonnen, sich mit
Menschen gestört. Fälle, wie der von Frau B., stel- dem häufigen Wechsel woh-
len die Wohnungslosenhilfe vor nungsloser Menschen zwischen
Es folgten Hausverbote, die Su- große Herausforderungen. Das Wohnungslosenhilfe und Psych-
che nach einem neuen Quartier traditionelle Stufenkonzept setzt iatrie zu beschäftigen. 1997 ent-
und Nächte auf der Straße. Die voraus, dass wohnungslose Men- wickelte die Stadt das Konzept
Tage verbrachte Frau B. im Frei- schen Schritt für Schritt, in Not- einer betreuten Hotelunterbrin-
en. Die Zeit ohne Dach über dem schlafstellen und Übergangswoh- gung.
Kopf, fehlender Schlaf und an- nungen, Kooperationsbereitschaft
dauernder Stress setzten Frau B. und psychische Stabilität bewei- Köln schuf Platz in mehreren
gesundheitlich zu. sen und Vorbedingungen für das kleinen Gaststätten mit Einzel-
Wohnen erfüllen. Das scheitert wohneinheiten. Sie behielten
Drei verlorene Jahre lang hat es regelmäßig bei Menschen, die die den Hotelcharakter, gleichzeitig
gedauert, bis Frau B. schließlich strikten Regeln in diesen Einrich- wurde ein interdisziplinäres Be-
einen Platz in einem betreuten tungen nicht befolgen können, gleitteam zur Unterstützung der
Wohnhaus annahm. Sie wollte die nicht im Stande sind, Koope- BewohnerInnen geschaffen. Das
eigentlich nur eine eigene Woh- rations- und Behandlungsanfor- Konzept vermeidet den Charak-
nung und ihre Ruhe haben. Aber derungen nachzukommen. ter von Wohneinrichtungen und
das war nicht vorgesehen. gestaltet das Begleitangebot so,
Die Folge von psychischen Kri- dass es nicht als Pflichtbetreuung
Es gibt viele solche Fälle: Fehlen- sen sind häufige Betreuungs- empfunden wird.
de Krankheitswahrnehmung und abbrüche, Hausverbote und
keine Bereitschaft eine Behand- Wechsel der Einrichtung. Eine In drei Hotels stehen etwa 30
lung anzunehmen. Oft bleiben Achterbahnfahrt durch die ver- Plätze für Menschen mit psy-
Menschen wie Frau B. jahrelang schiedenen Institutionen der chischen Problemen oder Er-

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krankungen zur Verfügung. Die Ein wesentlicher Erfolgsfaktor Menschen mit psychischen
Hausregeln werden auf ein Mini- sind die multiprofessionellen Un- Erkrankungen ohne Vorbedin-
mum beschränkt. Stabile Unter- terstützungsteams. Sie arbeiten gungen erfolgreich und kosten-
bringung ist das vorrangige Ziel. aufsuchend und an den Zielen effizient ist. Die Vermeidung des
Weitere Angebote basieren auf der KlientInnen orientiert. Die Charakters von Hilfsquartieren
Freiwilligkeit. Unterstützungsteams verstärken und die Einbettung in normales
die Betreuung, wenn akute psy- Wohnumfeld sind Grundprinzipi-
Eine Evaluierung des Programms chische Krisen auftreten, um die en dieser Programme. Zentraler
zeigt, dass 61 Prozent der Klien- KlientInnen in der Wohnung zu Bestandteil beider Konzepte sind
tInnen ihre Lebens- und Wohnsi- halten. Auch wenn eine statio- gut ausgebildete, multiprofessio-
tuation verbessern konnten. Bei näre Behandlung notwendig ist, nelle Unterstützungsteams. Nur
weiteren 25 Prozent hat sich die hält PTH die Wohnung. wenn dieses Angebot vorhanden
Lage zumindest stabilisiert.1 ist, können die KlientInnen
Das PTH-Modell hat sich aus- selbst bestimmen, welche Hilfen
Pathways to Housing gehend von den USA verbreitet. sie in Anspruch nehmen.
Die Wirkung des Ansatzes ist
Speziell für Menschen mit psy- gut erforscht. Mehrere Studien Wohnen ist eines der wichtigsten
chischen Erkrankungen und/ zeigen, dass das Programm die menschlichen Grundbedürfnisse.
oder Suchterkrankungen hat chronische Wohnungslosigkeit Deshalb sollten wir soziale Hilfs-
die Organisation „Pathways to von Menschen mit psychischen systeme so gestalten, dass das
Housing“ (PTH) 1992 in New Erkrankungen in vielen Fällen Wohnen als erster und nicht als
York ein Housing First-Modell beenden kann: 80 bis 90 Prozent finaler Schritt zur Verbesserung
entwickelt. Zentrales Prinzip von der betreuten Personen erhalten der Lebenssituation von Men-
PTH ist der sofortige Zugang zur eine langfristige Wohnversor- schen mit psychischen Erkran-
eigenen Wohnung ohne Vorbe- gung. kungen kommt.
dingungen. Statt zunächst mit
hohem Aufwand Vorbedingungen Deutlich bessere Ergebnisse er-
für das Wohnen zu erfüllen, ist zielt PTH auch im Vergleich zum
im PTH Modell das Wohnen der traditionellen Stufenmodell. Ne-
erste Schritt. ben einer höheren Effizienz bei
der Wohnversorgung ließen sich
Das Programm legt hohen Wert deutlich niedrigere Kosten des
auf die Selbstbestimmung der Modells feststellen.
KlientInnen. Das betrifft sowohl
die Auswahl von Wohnung und Das Wohnen zuerst 1
Gunia-Hennecken, Birgit et al. (2015):
Wohnumgebung, als auch die Zu- Hotel Plus. Konzept einer Hilfeform für
sammenstellung der Unterstüt- Beide Beispiele zeigen, dass wohnungslose Menschen mit psychiatri-
zungsangebote. sofortige Wohnversorgung von schen Problemen in Köln.

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Schutz, Sicherheit
und Integrität –
wen juckt’s?
In der Betreuung von unbehandelten psychisch
kranken Frauen braucht es ein ausdifferenziertes und
unterstützendes Hilfesystem. Damit soll trotz Krankheit
Lebensqualität ermöglicht und weitere Verwahrlosung
verhindert werden.

Fakten Probleme Forderungen


• 27 Prozent der • Überforderung der • Angebotserweiterung für
Wohnangebote wurden Klientinnen in den unbehandelte, psychisch
2017 von Frauen genutzt spezifischen öffentlichen auffällige Frauen
Einrichtungen
• 18 Prozent der
NotquartiersnutzerInnen • Überforderung der
sind Frauen MitarbeiterInnen in den
Krankenhäusern und im
• Frauen mit unbehandelten
Gesundheitsdienst
psychischen Erkrankungen
sind eine spezifische
Zielgruppe

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Verdeckte Wohnungs- keit auf: schlafen sie im selben besteht. Dem steht ein wesent-
losigkeit von Frauen Raum wie der neue Freund, dann licher Bestandteil der Psychiat-
gehen sie mit ihrer Straßenklei- riereform gegenüber: der Ausbau
Wie die Erfahrungen zeigen, lei- dung schlafen; sie trauen sich ambulanter Hilfestellungen für
det ein großer Teil der Frauen, nicht aus einem eigenen Zimmer Menschen mit psychischen Beein-
die in der Wohnungslosenhilfe auf die Toilette, wenn der Mann trächtigungen, um eine möglichst
betreut werden, unter psychi- betrunken ist. hohe Lebensqualität zu gewähr-
schen Erkrankungen. Frauen mit leisten.
psychischen Erkrankungen stel- Das steigert ihre psychische
len eine spezifische Zielgruppe Belastung zusätzlich – oft eben Vielfältige
aufgrund ihrer Problemlagen und auch bis zur vollkommenen Problemlagen
Rahmenbedingungen dar. Sie Erschöpfung. Darüber hinaus
bleiben oftmals aufgrund ihrer nutzen Frauen häufig aus Scham Frau Z. wohnt seit einem Jahr
finanziellen Abhängigkeit und erst spät die Hilfeangebote der in einem Übergangswohnhaus
der fehlenden Wohnalternativen Wohnungslosenhilfe. Daher ist der Wohnungslosenhilfe. Sie hat
sehr lange in demütigenden und die Dunkelziffer der „verdeckt paranoide Schizophrenie, fühlt
ausbeutenden Beziehungen. wohnungslosen Frauen“ Schät- sich vom Teufel und einer Terror-
Oft ziehen Frauen wieder bei zungen zufolge sehr hoch. organisation verfolgt. Wenn die
ihren Eltern, Geschwistern oder Liaisonpsychiaterin sie in ihrem
neuen Freunden ein, um ein Lebensqualität soll Zimmer kontaktiert, antwortet
Dach über dem Kopf zu haben. Vorrang haben Frau Z. zwar auf alle Fragen, will
Damit begeben sie sich in neu- aber das Gespräch sehr schnell
erliche Abhängigkeiten. Indem Wenn die Betroffenen schließlich wieder beenden. Jede Form der
sie bei einem Mann wohnen, an die Wohnungslosenhilfe ando- Medikamenteneinnahme lehnt
entsprechen sie den Erwartun- cken, leiden sie oft schon unter sie ab.
gen der Familien und der Ge- so schweren Beeinträchtigungen,
sellschaft. Hinzu kommt, dass dass die MitarbeiterInnen der Die Heimhelferin von Frau Z. äu-
Wohnungslosigkeit noch immer Einrichtungen mit dem erfor- ßert ihren Verdacht auf Skabies,
als ein eher männliches Problem derlichen Unterstützungsbedarf eine durch Spinnentiere ausge-
gesehen wird. überfordert sind. Dazu gehören löste, parasitäre Hautkrankheit.
auch Frauen, die trotz ihrer pa- Die Weibchen bohren sich in die
Viele Zweckpartner erwarten ranoiden Angstzustände keine Oberhaut und legen dort in Ka-
als Gegenleistung für das Dach medizinische Hilfe in Anspruch nälen ihre Eier ab. Die Sozialar-
über dem Kopf sexuelle Gefällig- nehmen wollen und bei denen beiterinnen des Übergangswohn-
keiten und/oder die Führung des aufgrund fehlender Selbst- oder hauses wissen aus den bisherigen
Haushalts. Deshalb bringen viele Fremdgefährdung auch keine Erfahrungen, dass Frau Z. nicht
Frauen in solchen Partnerschaf- Notwendigkeit für eine psychiat- selbständig ins Krankenhaus
ten ein hohes Maß an Wachsam- rische Behandlung unter Zwang fährt.

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Hinzu kommt auch, dass Frau Z. genommen worden war. Seither Deshalb hat die Wohnungslosen-
eine offene, entzündete Wunde hat keine weitere medizinische hilfe bereits ein medizinisches
hat, die immer größer wird. Frau Behandlung stattgefunden. Frau Versorgungssystem entwickelt,
Z. informiert die Mitarbeiterin- Z. hat sich inzwischen blutig ge- mit dem sie auf viele spezifische
nen darüber, dass die Terroror- kratzt. Probleme der Klientinnen einge-
ganisation etwas in diese Wunde hen kann.
hineingetan hat. Sie kratzt sich Umfassende
am ganzen Körper. Hilfestellungen Das Recht auf
stabiles Wohnen
Schließlich wird Frau Z. mithil- Viele Frauen mit psychischer
fe der Polizei ins Krankenhaus Erkrankung nehmen das medi- Aufbauend auf diesen Erfahrun-
gebracht. Die Heimhilfe-Leiterin zinische Angebot der Liaisonpsy- gen ist es notwendig, die ambu-
informiert die zuständige Station chiaterinnen in der Wohnungslo- lanten Angebote durch geschulte
im Krankenhaus über die psychi- senhilfe an. Viele aber leben seit psychiatrische Pflegekräfte zu
atrische Erkrankung von Frau Z. Jahren mit ihrer Erkrankung erweitern, die in der Lage sind,
und darüber, dass sie mit keiner und sind trotz guter psychiatri- mit den Bedürfnissen von Per-
selbständigen Behandlung rech- scher Konsiliardienste therapeu- sonen wie Frau Z. umzugehen.
nen können. tisch nicht erreichbar. Nur so ist es möglich, weitere
Verwahrlosung und Isolation zu
Frau Z. wurde nicht im Kran- Es braucht deshalb langjährige verhindern.
kenhaus aufgenommen, nur am- Erfahrung und fachspezifisches
bulant am ganzen Körper wegen Wissen, um dennoch eine gute Die beschriebene Problematik
Skabies eingeschmiert, bekam Lebensqualität bereitstellen zu steht exemplarisch für eines
Medikamente und eine Creme können. Es erfordert auch Kre- der vielen Themen, von denen
verschrieben. In der Apotheke ativität in den Angeboten, einen unbehandelte psychisch kranke
wurden die Tagesdispenser mit langen Atem in der Umsetzung Frauen betroffen sind. Die be-
den Medikamenten vorbereitet, der einzelnen Schritte und gute treuenden Einrichtungen und
von den Mitarbeiterinnen des Kooperationen zwischen den be- Vereine brauchen in Bezug dar-
Wohnhauses abgeholt und Frau teiligten Einrichtungen und han- auf zusätzliche Ressourcen, um
Z. zur Aufbewahrung und Ein- delnden Personen. die Betroffenen anhaltend und
nahme überreicht. Zwei Tage mit hoher Qualität versorgen
später fanden die Mitarbeiterin- Viele der Bewohnerinnen und zu können. Denn Stabilität im
nen die Medikamente im Mist- Besucherinnen der Tageszentren Wohnen bedeutet vor allem für
kübel. Außerdem konnten weder und Wohneinrichtungen sind mit Frauen Schutz, Sicherheit und
Bettwäsche noch Kleidung der der medizinischen Allgemeinver- Wahrung ihrer körperlichen und
Patientin wie empfohlen bei 60 sorgung und deren Abläufen und psychischen Integrität.
Grad gewaschen werden, da Frau Voraussetzungen überfordert.
Z. nicht im Krankenhaus auf-

21
22
„Krankheit und
Selbstermächtigung
schließen einander
nicht aus“
Robert Mittermair, Geschäftsführer des Vereins
LOK (Leben ohne Krankenhaus), im Interview über
psychische Erkrankungen und Wohnungslosigkeit,
Lücken im Betreuungssystem und bereits existierende
Lösungsansätze, die stärker aufgegriffen werden müssten.

Fakten
Der Verein LOK (Leben ohne insbesondere im Bereich Wohnung trotz sehr hohem
Krankenhaus) bietet im Rah- Teilbetreutes Wohnen. Betreuungsbedarf ermög-
men der Behindertenhilfe des Etwa 300 Menschen leben lichen. Zudem gibt es drei
Fonds Soziales Wien Betreu- von LOK betreut in eigenen Beschäftigungsprojekte: ein
ungsleistungen für Menschen Wohnungen. Weitere 45 in Blumengeschäft, ein Second
mit psychischen Erkran- 24-Stunden-betreuten Wohn- Hand Geschäft und ein Bü-
kungen an. Die gesetzliche gemeinschaften. Neu sind cher- und Plattenladen mit
Grundlage dafür bildet das Betreuungsstützpunkte, die kleinem Cafebetrieb.
Chancengleichheitsgesetz, ein Leben in der eigenen www.lok.at

23
Wer sich lange stationär in ei- Gibt es weitere Parallelen zur ungern gesehen. Dabei wäre es
ner psychiatrischen Einrich- Wohnungslosenhilfe (WWH)? in vielen Fällen kostengünstiger
tung befindet, verliert meist als etwa ein vollbetreuter Wohn-
auch die Wohnung – stimmt Eine Parallele ist sicher die Ziel- platz in einer WG. Der größte
das? gruppe. Menschen mit psychi- Unterschied ist bei den Ange-
schen Erkrankungen und daraus boten von LOK: Es gibt keine
Ja, es kommt oft vor, dass Men- resultierendem Betreuungsbedarf Zuweisung durch den FSW in
schen über Monate in psychiatri- werden von den Abteilungen der der Behindertenhilfe. Das heißt,
schen Abteilungen untergebracht WWH oder der Behindertenhilfe wir führen selbst eine Warteliste
sind, weil es keine passenden Be- des FSW an Sozialorganisatio- und entscheiden auch, wen wir
treuungsmöglichkeiten außerhalb nen zugewiesen. Es ist schwer aufnehmen. Aber: Die Wartelis-
gibt. Dann steigen wir manchmal so rasch zu entscheiden, wel- te ist lang, mit einigen hundert
gerade rechtzeitig bei drohen- ches Hilfssystem passender ist. Menschen.
den Delogierungsverfahren mit Manchmal muss das gar zufällig
Betreuung ein, manchmal ist es erfolgen, ist aber gleichzeitig Was sind die Stärken und
leider zu spät. Das heißt: Woh- bestimmend für den gesamten Schwächen der psychiatri-
nungslosigkeit ist auch bei uns weiteren Betreuungsverlauf. Oft schen Versorgung in Wien?
ein Thema. Hilfreich ist aktuell leiten aber auch wir an die WWH
ein neuer Zugang zur soge- weiter – wenn KlientInnen bei Ich kenne diesen Bereich seit 25
nannten „Sozialen Schiene“ der uns auf der Warteliste stehen Jahren. Aus der Perspektive der
Wiener Gemeindewohnungen. und keine Wohnung haben. Um- KlientInnen steht die stationäre
Dieser kann bekanntermaßen ja gekehrt übernehmen wir im Be- Versorgung am stärksten in der
gesperrt werden – zum Beispiel reich vollbetreutes Wohnen zum Kritik. Hier werden immer wie-
bei Schulden oder sogenanntem Teil Menschen aus der WWH. der Menschen versorgt, die sich
„unleidlichem Verhalten“. Bei Oft geht es hier um Personen, nur deshalb in der Psychiatrie
KlientInnen, auf die das zutrifft, die sich mit medikamentöser Be- aufhalten, weil es sonst kein ad-
können wir aber nun als Miete- handlung schwer tun. äquates Betreuungsangebot gibt.
rInnen auftreten und ihnen eine Das Problem dabei: Einerseits
Gemeindewohnung im Rahmen Sollten die Bereiche intensi- sind die Kosten für stationäre
eines befristeten Nutzungsver- ver zusammenarbeiten? Betreuung hoch und andererseits
trages verschaffen. Das ist eine werden damit Plätze belegt, die
Zwischenlösung, um Wohnungs- Das wäre sinnvoll. Einzelne Pio- für eine akute Behandlung benö-
losigkeit zu vermeiden – unser nierprojekte machen es vor. Das tigt werden. Hier brauchen wir
eigentliches Ziel ist immer ein setzt aber ein Denken abseits von nicht mehr Betten, sondern müs-
Hauptmietvertrag für unsere Fachabteilungen und Leistungs- sen das Angebot außerhalb des
KlientInnen, der sie von unserem blöcken voraus – aktuell wird es Krankenhauses verbessern.
Betreuungsverhältnis unabhän- noch als „Doppelfinanzierung“ Eine weitere Schwäche ist, dass
gig macht. betrachtet und im FSW deshalb die stationäre Psychiatrie fast

24
ausschließlich medikamentöse mit hohem Unterstützungsbedarf das, was LOK in hunderten Fäl-
Behandlung anbietet. Es gäbe ja ermöglichen. Im Sonnwendviertel len gezeigt hat.
Alternativen, zum Beispiel Psy- ist unser Stützpunkt in einem
chotherapie. Aber aktuell gibt es Gassenlokal, das wir auch für Selbstermächtigung ist das
zu wenige PsychotherapeutInnen, andere Menschen, die im Haus Stichwort: In der WWH wird
die mit Menschen mit Psychosen leben, öffnen wollen. bald erstmalig eine Peer-Aus-
arbeiten wollen. Hinzu kommen bildung starten. In der Behin-
die oft geringen finanziellen Mög- Da geht es um gesellschaft- dertenhilfe bereichern Peers
lichkeiten der KlientInnen und liche Teilhabe. Gleichzeitig schon länger die Teams – was
ein sehr schwieriger Zugang zu gibt es immer mehr nichtver- können wir von euch lernen?
finanzierten Plätzen durch die sicherte, nichtanspruchsbe-
Krankenkasse. rechtigte Menschen, die nicht Peer-Ausbildungen, die Betroffe-
adäquat psychiatrisch ver- ne dazu befähigen sollen, andere
Was fehlt sind Alternativen, wie sorgt sind. Was kommt hier Betroffene zu unterstützen, gibt
beispielsweise Soteria-Einrich- auf uns zu? es in der Behindertenhilfe seit
tungen. Das ist ein Angebot für Jahren. Zwei Punkte hebe ich
Menschen in psychischen Krisen, Die Kriterien für Mindestsiche- hervor: Einerseits verändern sie
bei dem auf Wunsch der Betrof- rung und einen geregelten Auf- den Umgang und die Sprache,
fenen nur wenig mit Medikamen- enthalt werden immer strenger wie ein Team über KlientInnen
ten, dafür mit intensivem Bezie- gehandhabt. Wenn das so weiter- spricht. Andererseits zeigen sie
hungsangebot gearbeitet wird. geht, wird das ein soziales Prob- den KlientInnen: Man kann auch
lem, das immer sichtbarer wird. mit psychischer Erkrankung das
Bräuchte es nicht auch zu- Leben wieder in die Hand neh-
sätzliche Möglichkeiten im Ein wichtiges Ziel in der Be- men, man ist der Krankheit nicht
nahen Umfeld der Betroffe- hindertenhilfe ist die De-Ins- zwingend komplett ausgesetzt.
nen, wie Pflegeurlaub oder titutionalisierung. Hinkt hier Damit bringen sie eins ganz
Ähnliches? die WWH hinten nach? stark ein: Den unersetzlichen
Aspekt der Hoffnung.
Ja. Denn nach wie vor führen Wir haben den großen Vorteil,
Sonderwohnformen letztlich zu dass wir in der Behindertenhilfe
einer abgeschotteten Lebenssitu- nie ein Stufenmodell gehabt ha-
ation. Selbst wer in der eigenen ben. Seit 25 Jahren betreiben wir
Wohnung lebt, hat oft nur wenige also quasi Housing First. Es gibt
Kontakte abseits der professio- Menschen, die sehr psychotisch
nellen UnterstützerInnen. Mit sind und trotzdem wunderbar
unseren Betreuungsstützpunkten allein in ihrer Wohnung leben
wollen wir auch Wohnen in eige- können, wenn sie adäquate Un-
nen Wohnungen für Menschen terstützung bekommen. Das ist

25
26
Erwachsenen-
schutz: Ernstfall
für Partizipation
Das neue Erwachsenenschutzrecht „verpflichtet“ betreu-
ende Organisationen zu Wissen, Ressourceneinsatz und
im Idealfall zu partizipativem Arbeiten auf Augenhöhe –
das kann anstrengend, aber auch lohnend werden.

Fakten Probleme Forderungen


• Das moderne • Das ESG ist eine neue • Schnittstelle zwischen
„Erwachsenenschutzgesetz Materie Clearingstelle und
2018“ (ESG) löst das alte Wohnungslosenhilfe
• Es wird Zeit und Diskurs
Sachwalterschaftsrecht ab
brauchen, bis alle • Ausreichende Ressourcen
und eröffnet neue Chancen
Zielgruppen damit umgehen für Aus- und Fortbildungen
• Selbstbestimmung können (SachwalterInnen der MitarbeiterInnen
für Menschen mit und deren KurandInnen,
• Ausreichend Zeit für
Beeinträchtigungen rückt sowie professionelle
Coachingprozesse durch
in den Mittelpunkt HelferInnen)
MitarbeiterInnen
• Temporäre Unterstützung • Clearingstellen und
soll umfassende Gerichte sind erheblich
„Entmündigung“ ablösen unterdotiert

27
Zahlreiche, wenn nicht alle Aufgaben der Sozial- und Behin- trägt. Ein weiterer Unterschied
Einrichtungen der Wohnungs- dertenhilfe übernehmen“ heißt ist die Einbindung mehrerer
losenhilfe sind regelmäßig mit es im Vorblatt zum Gesetzestext. zusätzlicher Player: Die zuwei-
KlientInnen konfrontiert, die in Das eröffnet der Wohnungslosen- sende Clearingstelle wird, ebenso
einem oder mehreren Geschäfts- hilfe neue Aufgaben und bietet wie das Gericht, dokumentierte
feldern „entmündigt“ sind. Das ihren KlientInnen Chancen. Schritte sehen wollen und im
neue „Erwachsenenschutzgesetz“ Rahmen der „Gewählten Er-
leitet einen Paradigmenwechsel KlientInnen wachsenenvertretung“ wächst
ein: Statt Entscheidungsmacht sollen/dürfen/müssen der Personenkreis derer, die als
abzugeben, sollen Betroffene bei Vertraute der KlientInnen Teil
entscheiden!
Entscheidungen unterstützt wer- des Unterstützungskreises sein
den. Die Prognose lautet daher: können.
Die neue Rechtslage definiert
Einrichtungen müssen zunächst
Entscheidungsfähigkeit als
mehr Arbeit aufwenden und Be- Selbst bei der stärksten anzuord-
Richtschnur: Jede/r soll selbst
ratungsprozesse neu bewerten. nenden Maßnahme ist absehbar,
entscheiden, welche Geschäfte
Außerdem nehmen Dokumentati- dass Unterstützungsleistungen
abgeschlossen werden. Wird
onspflichten zu. Das ist eine neue durch Betreuung und Beratung
Unterstützung benötigt, sollen
Erfahrung für BetreuerInnen erforderlich sind: Die Gerichte
(unter anderem) Organisationen
und Betreute. bestellen Erwachsenenvertrete-
im Rahmen von Betreuung und
rInnen zukünftig nur für einge-
Beratung dazu beitragen. Dazu
Die „typische Sachwalterschaft“ schränkte Wirkungskreise und
wird das nunmehr verpflichtende
kennt zwei Ausformungen: Die auf maximal drei Jahre. Eine
Clearing der Erwachsenenschutz-
erste beschränkt sich im Wesent- maßgebliche Aufgabe dieser
vereine themenbezogen Anregun-
lichen auf behördliche Formalien, ErwachsenenvertreterInnen ist
gen geben, welche Organisation
weil die „KurandInnen“ etwa es, auf Selbständigkeit der Be-
helfen kann.
nach Schlaganfällen handlungs- treuten hinzuarbeiten. Letzteres
unfähig in Einrichtungen unter- erarbeiten jetzt schon die betreu-
Einrichtungen der Wohnungs-
gebracht sind. Die zweite besteht enden Einrichtungen und nicht
losenhilfe werden wie bisher
im Kern darin, Menschen durch die derzeitigen SachwalterInnen.
mit ihren KlientInnen mögliche
verschiedene Maßnahmen vor
Ergebnisse von Handlungen
Schaden zu bewahren und ihre
und Unterlassungen erarbeiten. Plädoyer für
Existenzgrundlage zu sichern, Zusammenarbeit auf
Ein Unterschied ist jedoch, dass
ohne dass SachwalterInnen
die Verantwortung wächst: Es Augenhöhe
im Alltag involviert sind. Der
entfällt das Sicherheitsnetz der
Gesetzgeber möchte eine Verän-
Sachwalterschaft, also einer Wahrscheinlich waren die meis-
derung: „Der Vertreter und das
Person, die meist in Betreuung ten Personen, die in sozialen
Gericht sollen nicht mehr anstatt
und Beratung nicht involviert Berufen tätig sind, schon in
der dafür zuständigen Träger
ist, aber die Letztverantwortung der Situation, für KlientInnen

28
Entscheidungen treffen zu müs- sen klarer wahrzunehmen. Nicht informelle Erfüllungsgehilfen
sen – vielleicht weil die Zeit für bloß vernünftige Elemente, auch ohne relevanten Einfluss. Jetzt
anderes nicht reichte, vielleicht Motive und Wünsche beeinflus- haben wir eine klare Rolle: Be-
weil es keine andere Hilfe bei sen Entscheidungen und wollen troffene Menschen coachen und
Entscheidungen gab. Es wird sich berücksichtigt sein! Partizipative ihnen damit Selbständigkeit in
jedoch auszahlen, die neuen Ent- Elemente können KlientInnen einem wertschätzenderen System
wicklungen zu übernehmen: Kompetenzen zurückgeben. Kom- ermöglichen. Das rechtfertigt das
petent sein heißt, besser ent- Investment in Wissen, Zeit und
Die Pläne des Gesetzgebers erfor- scheiden zu können – und daraus Miteinander-Arbeiten allemal.
dern nun Wissen, Zeit und vor al- resultiert der beiderseitige Vor-
lem die Bereitschaft zur Zusam- teil: Mehr Kompetenz bedeutet
menarbeit statt der „guten alten weniger Bedarf an Betreuung.
Fürsorge“. Es braucht das Wissen
um rechtliche Grundlagen und All das erfordert zunächst ein
damit verbundenen Auflagen Investment in Ressourcen und
(Dokumentation, Grenzen der Überarbeitung von Betreuungs-
Zuständigkeiten und dergleichen prozessen. Der Mehraufwand
mehr), es braucht Wissen um Me- wird sich lohnen, denn im Op-
thoden der Partizipation und des timalfall arbeiten Betreute und
Coachings. Es braucht Zeit, in BetreuerInnen letzten Endes auf
der Beratungstätigkeit nicht ein- Augenhöhe.
fach Sachverhalte zuzuspitzen,
damit KlientInnen rasche Ent- Rollenwechsel für
scheidungen treffen – denn halt- Einrichtungen
bare Entscheidungen erfordern
Überzeugung bei den Entscheide- Man darf darüber spekulieren,
rInnen, also den Betroffenen. ob der Gesetzgeber ähnliches im
Sinn hatte. 142 Seiten voll mit
Daneben gilt es, Vernetzungstä- gesetzlichen Änderungen und
tigkeit wahrzunehmen, um mög- Erläuterungen zeigen in jedem
lichst das gesamte Bezugssystem Fall, dass ein Paradigmenwechsel
einzubinden – neben den Betrof- angestrebt wird – einer, der die
fenen sind das etwa die Clearing- Realität „ins System“ holt: Bisher
stelle, Angehörige oder Sozialein- waren theoretisch SachwalterIn-
richtungen. Damit sind wir beim nen für jede Menge Einzelheiten
„Miteinander-Arbeiten“: Es tut der Lebensgestaltung zuständig,
sich die große Chance auf, Klien- die praktisch betreuenden Or- 1
1461 der Beilagen XXV. GP – Regie-
tInnen in Entscheidungsprozes- ganisationen waren dabei bloß rungsvorlage – Erläuterungen, 1. Absatz

29
30
Fuß fassen –
schwer gemacht!
Flüchtlinge, die an einer Posttraumatischen
Belastungsstörung leiden, stehen nach Erhalt eines
positiven Asylbescheids bei der Wohnungssuche einer
ganzen Reihe von Herausforderungen gegenüber. Die
Suche nach einem Zuhause gestaltet sich schwierig.

Fakten Probleme Forderungen


• Seit dem Jahr 2016 haben • Nach der Beendigung der • Mobile, fachliche und eventuell
in Wien 57.980 Personen Grundversorgung sehen muttersprachliche Betreuung
Asyl oder subsidiären sich Betroffene mit den und Unterstützung für
Schutz erhalten Herausforderungen der Betroffene nach Beendigung
Integration konfrontiert der Grundversorgung bis
• Viele leiden aufgrund
und sind damit oft zum Erreichen einer stabilen
von Krieg und Flucht an
überfordert Lebenssituation
einer Posttraumatischen
Belastungsstörung • Es gibt kaum psychosoziale
oder sozialarbeiterische
Unterstützung

31
Herr M. hat im Jahr 2016 Asyl im Alltag. Mit dem Verlassen der berechtige, die an einer PTBS
in Österreich erhalten. Während Grundversorgung endet diese leiden.
des Asylverfahrens lebt er in ei- Betreuung ohne ausreichenden
ner organisierten Unterkunft in Ersatz. Eine PTBS „entsteht als eine ver-
Wien. Wegen einer Posttraumati- zögerte oder protrahierte Reak-
schen Belastungsstörung (PTBS) Die Mühlen der tion auf ein belastendes Ereignis
und seinem auffälligen Verhalten Integrationsarbeit oder eine Situation kürzerer oder
wird er dem „erhöhten Betreu- längerer Dauer, mit außerge-
ungsbedarf“ zugewiesen. Herr Asyl oder subsidiären Schutz zu wöhnlicher Bedrohung oder ka-
M. leidet unter starken Stim- erhalten, bedeutet für die Betrof- tastrophenartigem Ausmaß, die
mungsschwankungen und ist von fenen eine große Erleichterung. bei fast jedem eine tiefe Verzweif-
seinen Emotionen überfordert. Er Jedoch warten dann die Mühlen lung hervorrufen würde.“1
reagiert oft impulsiv und manch- der Integrationsarbeit, die durch
mal verletzt er sich dabei selbst. Spracherwerb, Behördenwege, Übliche Symptome sind Schlaf-
Er hat große Probleme, alltäg- Wohnungs- und Arbeitssuche störungen, Konzentrations-
liche Aufgaben zu bewältigen geprägt sind. Dies stellt gerade schwierigkeiten, Flashbacks, dis-
und leidet unter dissoziativen Menschen, die durch Krieg und soziative Zustände, Teilnahms-
Krampfanfällen. Flucht traumatisiert sind, vor losigkeit, Vermeidung von Ak-
große Herausforderungen. tivitäten, Misstrauen und Reiz-
In stabileren Phasen ist er moti- barkeit. Betroffene sind instabil,
viert, einfache Aufgaben im Haus Die erste Hürde betrifft die be- verletzlich und orientierungslos.
nach genauer Anweisung auszu- darfsorientierte Mindestsiche- Im Alltag beeinträchtigt die
führen. Eine wichtige Ressource rung, die Asylberechtigte erst Symptomatik die Fähigkeit, Ter-
sind mehrere Sprachen, die er so nach Verlassen der Grundver- mine einzuhalten, komplexere
weit spricht, dass er sich mit den sorgung beantragen können. Für Inhalte zu verarbeiten sowie die
anderen BewohnerInnen und den den Bearbeitungszeitraum von Lernfähigkeit. Traumatisierun-
BetreuerInnen gut verständigen sechs bis acht Wochen nach An- gen entstehen typischerweise im
kann. Im Quartier beginnt er, tragsstellung erhalten sie keine Heimatland oder am Fluchtweg,
unterstützt und motiviert durch finanzielle Unterstützung. Sie können aber durch aktuelle Er-
seinen Betreuer, eine psychiat- müssen Behördenwege erledigen, lebnisse wieder aufflammen.
rische Behandlung. Anfangs hat Anträge ausfüllen, Briefe von Be-
er Schwierigkeiten, Vertrauen hörden verstehen und eine Woh- Wird zum Beispiel ein/e
zur Ärztin aufzubauen, dennoch nung finden. Für Personen mit Betroffene/r bei einer Behörde
kommt er regelmäßig zu den mittelmäßigen Deutschkenntnis- unhöflich behandelt, kann er/sie
Terminen und ist krankheitsein- sen und wenig Know-how für die das möglicherweise als so starke
sichtig. Der Betreuer, der als psy- Regeln der Gesellschaft sind das persönliche Kränkung empfin-
chosozialer Mitarbeiter fungiert, hohe Hürden. Noch überwälti- den, dass er/sie weitere Kontakte
unterstützt Herrn M. auch sehr gender ist das System für Asyl- mit dem Amt vermeidet. Zusätz-

32
lich überfordert das Bearbeiten Stabilität als aufbauend Kurse produktiver
von Formularen und Verträgen, Fundament für die absolvieren. Dadurch erhöhen
die unerledigt auf der Ablage lan- sich die Erfolgschancen auf dem
Zukunft
den. Es beginnt ein Kreislauf der Arbeitsmarkt und die Aussicht
Verschuldung, da es Betroffene auf ein selbständigeres Leben.
Ein traumatisches Erlebnis ist ei-
nicht schaffen, Anträge zu stellen Gerade bei Personen, die dem
ne Erschütterung des Grundver-
und Zahlungen rechtzeitig zu be- „erhöhten Betreuungsbedarf“
trauens gegenüber Mitmenschen
gleichen. So entsteht ein subjek- zugewiesen waren, wäre eine
und der Welt. Deswegen arbeiten
tives Erleben von Versagen, das weiterführende Betreuung für
die meisten psychotherapeuti-
die Person weiter destabilisiert. eine erfolgreiche Integration und
schen Ansätze in der ersten Pha-
Stabilisierung meist notwendig.
se einer Therapie stabilisierend
Ankommen in der neuen und ressourcenorientiert.
Herr M. hätte gute Chancen,
Gesellschaft durch besagte Betreuung, medi-
zinische Behandlung und seine
Dieser Ansatz gilt auch im so-
Herr M. wohnt nach seinem Aus- Krankheitseinsicht stabiler zu
zialarbeiterischen Bereich. Für
zug aus dem Grundversorgungs- werden und in unserer Gesell-
Betroffene ist ökonomische und
quartier zunächst bei Freunden, schaft Fuß zu fassen.
soziale Sicherheit, also ein „Zu-
die ihn jedoch bald hinauswerfen. hause“ zu haben, das essentielle
Nach mehreren Wohnungswech- Fundament für langfristige Stabi-
seln droht ihm das Abgleiten in lisierung. Zur bedürfnisgerechten
die Wohnungslosigkeit. Herr M. Unterstützung von Betroffenen
verliert aufgrund seiner Symp- braucht es eine Bezugsperson,
tomatik mehrere Arbeitsstellen. die psychosozial und sozialarbei-
Zusätzlich haben sich verschie- terisch geschult ist und die Sym-
dene Strafen und Mahnungen ptome und Muster einer PTBS
angehäuft. Verschiedene Organi- kennt. 1
Definition nach ICD-10
sationen betreuen ihn zwar im-
mer wieder, doch wenn sich Herr Weiters wäre es von großem Vor- Quellen
M. ungerecht behandelt fühlt, teil, wenn sie auch die Mutter- Dilling, H.; Freyberger, H. J. (2010): Ta-
bricht er den Kontakt ab. Derart sprache der Betroffenen spricht. schenführer zur ICD-10-Klassifikation
impulsives Verhalten ist Teil Sie kann regelmäßig Kontakt psychischer Störungen
seiner Symptomatik und bringt aufnehmen, bei der Wohnungs-
Herrn M. dazu, die so wichtige suche begleiten, bei Amtswegen http://www.bmi.gv.at/301/Statistiken/
Kontinuität in der Unterstützung files/Jahresstatistiken/Jahresstatistik_
und dem Ausfüllen von Formu-
Asyl_2016.pdf
zu unterbrechen. Einzig die Be- laren unterstützen. Dadurch
handlung bei seiner Psychiaterin können Betroffene schneller gere- http://www.bmi.gv.at/301/Statistiken/
bleibt eine stabile Stütze. gelte Wohnungs- und Lebensver- files/Jahresstatistiken/Asyl-Jahresstatis-
hältnisse erreichen und darauf tik_2017.pdf

33
34
Ohne Gesundheit
ist alles nichts
Für wohnungs- und obdachlose Menschen rückt die
Gesundheit oft notgedrungen in den Hintergrund.
Durch niederschwellige Angebote können weitere
Ressourcen zur Gesundheitsförderung aktiviert werden.

Fakten Probleme Forderungen


• Gesundheit wird als bloße • Stigmatisierende Erfah- • Schaffung von nieder-
Abwesenheit körperlicher rungen in Krankenhäusern schwelligen Zugängen zu
Symptome betrachtet und und Arztpraxen hemmen gesundheitsförderlichen
nicht als Zusammenspiel wohnungs- und obdachlose Angeboten
von psychischen und sozio- Menschen, gesundheitliche
• Die Erfahrung der
ökonomischen Faktoren Angebote jenseits
Betroffenen in die Arbeit
medizinischer Notfälle in
• Niederschwellige Gesund- von (psycho-)sozialen
Anspruch zu nehmen
heitsförderung kann woh- und gesundheitlichen
nungs- und obdachlosen • Die Betroffenen Einrichtungen integrieren
Menschen den (Wieder-) finden schwer Zugang
• Gesundheitsförderung
Einstieg in das österreichi- zu Ressourcen, die
stärker in die Betreuung-
sche Gesundheitssystem Gesundwerdung und
skonzepte der Wiener
erleichtern Gesundhaltung fördern
Wohnungslosenhilfe
einbetten

35
Frau U. lebt in einer sozial be- Einheit. Die individuelle Gesund- persönlicher und sozialer Res-
treuten Wohneinrichtung und hat heit wird durch unterschiedlichs- sourcen von Personen, die auf
zu den anderen BewohnerInnen te Wechselwirkungen beeinflusst, Grund ihrer Lebenssituation
des Hauses keine näheren per- die weit über Alter, biologisches besonders verletzlich sind. Mul-
sönlichen Kontakte. Sie zieht die Geschlecht und körperliche Kon- tiprofessionelle Teams (beste-
Gesellschaft ihres Hundes vor. In stitution hinausgehen. Jeder hend aus MitarbeiterInnen aus
einem Tageszentrum, wo Frau U. Mensch ist das Ergebnis von Gesundheits- und Sozialberufen)
regelmäßig Kaffee trinkt, erzählt Faktoren, die auch eng an die sind ein Schlüssel, um interes-
Frau K., eine andere Hundehal- sozioökonomische Stellung in der sierte NutzerInnen der Wiener
terin, dass sie leidenschaftliche Gesellschaft geknüpft sind und Wohnungslosenhilfe zur Teilnah-
Köchin ist und selbst für ihren die Antonovsky als „Gesundheits- me an gesundheitsfördernden
Hund kocht. Frau U. entgegnet, determinanten“ bezeichnet. Maßnahmen zu motivieren. Die
dass sie nie kocht, weil sie keine Grundsäulen des Salutogenese-
Ideen hat was sie machen könnte Demnach braucht es für woh- Ansatzes sind:
und es zu viel koste. nungs- und obdachlose Menschen
abseits der rein medizinischen • Verstehbarkeit (ich erkenne,
Die beiden Frauen treffen sich Versorgung weitere Ressourcen was äußerlich und innerlich
eine Woche später in einem Ca- zur Gesundung und insbesonde- passiert)
fé mit sozialarbeiterischer Be- re zum Erhalt der Gesundheit.
• Machbarkeit (ich kann
treuung, wo es auch einen offen Hier setzt niederschwellige Ge-
schwierige Lebenssituationen
zugänglichen Kühlschrank mit sundheitsförderung an. Gerade
bewältigen)
frischen Lebensmitteln gibt. Die bei wohnungs- und obdachlosen
SozialarbeiterInnen im Café zei- Menschen rücken gesundheitsför- • Sinnhaftigkeit (es lohnt sich,
gen Frau U. den „offenen“ Kühl- dernde Aspekte wie Ernährung, Energie in die Anforderungen
schrank und erklären ihr, wo es Bewegung, soziale Beziehungen zu investieren)
noch ähnliche Angebote in Wien sowie Kunst und Kultur auf-
gibt. Frau U. bekommt dadurch grund ihrer prekären Lebensbe- All diese Punkte sollten durch
Zugang zu kostenlosen Lebens- dingungen notgedrungen in den gezielte Maßnahmen möglichst
mitteln und trifft sich in Folge Hintergrund. einfach aktiviert werden. Das ge-
regelmäßig mit Frau K. schieht vor allem durch positive
Damit die Anknüpfung an die Erlebnisse in alltagsorientierten
Gesundheit ist viel mehr als die Angebote des Gesundheits- und Settings, etwa bei niederschwel-
bloße Abwesenheit körperlicher Sozialsystems funktioniert, müs- ligen, informellen Angeboten,
Symptome. Das Modell der Sa- sen KlientInnen die Möglichkeit wie Koch-, Bewegungs- und
lutogenese des Soziologen Aaron haben, eigenständig handeln und Musikgruppen. Sie stärken das
Antonovsky versteht Gesundheit gestalten zu können. Sie erleben Selbstvertrauen der KlientInnen
als „Wohlgefühl“ des Menschen – dabei positive Beziehungserfah- und machen Mut, wenn es darum
als sogenannte bio-psycho-soziale rungen. Ziel ist die Stärkung geht, eigene Anliegen bei Behör-

36
den, Gesundheitseinrichtungen, Regel der Hund. Die Mensch- Es ist daher notwendig, auch
oder Beratungsstellen zu vertre- Tier-Beziehung ist oft die einzige für wohnungs- und obdachlose
ten. persönliche und soziale Bindung. Menschen gesundheitsförderliche
Workshops rund um das Tier Angebote zu schaffen, die an ihre
Woran orientieren sich diese oder gemeinsame Spaziergänge spezifischen Lebensverhältnisse
niederschwelligen Gesundheits- stärken die Sicherheit im Um- anknüpfen. Diese sollen nieder-
angebote demnach? gang mit dem Haustier und för- schwellig erreichbar und all-
dern den Austausch mit anderen tagsorientiert ausgerichtet sein.
1. S
 ozioökonomische TierhalterInnen. Ziel ist es, den Betroffenen mehr
Faktoren Möglichkeiten zur Erfahrung von
3. I ndividuelle Selbstwirksamkeit zu bieten und
Wohnungs- und obdachlose Men- Lebensfaktoren sie dadurch bei der Bewältigung
schen haben aufgrund ihrer Le- von körperlichen wie psychischen
bensbedingungen oftmals keinen Alter, soziale Isolation, psychi- Krisen zu unterstützen.
Zugang zu Kochgelegenheiten sche Erkrankungen oder andere
oder frischen, gesunden Lebens- prekäre Lebenssituationen sind
mitteln. Kochworkshops und die Gründe, warum Menschen selten
Möglichkeit einer Küchennut- in der Lage sind, ihre Ängste und
zung können gesunde Ernährung Sorgen auszudrücken. Angebote
als zentralen Faktor für Wohlbe- für Bewegung, bildende und dar-
finden, Lebensqualität und zur stellende Kunst oder Musik kön-
Vorbeugung von Krankheiten nen das erleichtern. Die Klien-
vermitteln. tInnen nehmen dadurch Gefühle,
den eigenen Körper, sowie per-
2. Soziale Netze sönliche Stärken und Ressourcen
wieder oder intensiver wahr.
Wohnungs- und obdachlose Men-
schen sind oft sozial isoliert und Gesundheitsförderung ist aus
haben kaum Kontakt zu Familie dem österreichischen Gesund-
und FreundInnen. Niederschwel- heitswesen nicht mehr wegzuden-
lige Gesundheitsförderung schafft ken. Es gibt in Wien zahlreiche
Raum für Gemeinschaft und bie- Projekte und Initiativen, die von
tet die Möglichkeit, sich in einem Stadt und Bund gefördert wer-
geschützten Rahmen formlos den. Sie konzentrieren sich auf
auszutauschen. Haustiere sind unterschiedliche Lebensbereiche
und Altersstufen und leisten hier
1
Antonovsky Aaron (1997): Salutogenese.
im Leben vieler KlientInnen ein
wertvolle Arbeit. Zur Entmystifizierung der Gesundheit.
wichtiger sozialer Faktor. Bei
Tübingen: Dgvt-Verlag.
den Zielgruppen ist dies in der

37
Impressum
Herausgeber: Verband Wiener Wohnungslosenhilfe
Redaktionsteam: Flora Eder, Simone Floh, Valentin Ladstätter, Lorenz Lederer, Elvira Loibl,
Johannes Lorenz, Klaus Maurer, Thomas Ottmann, Georg Prack, Roland Skowronek
AutorInnen: Flora Eder, Simone Floh, Lorenz Lederer, Elvira Loibl, Johannes Lorenz,
Klaus Maurer, Thomas Ottmann, Georg Prack
Fotos: Manfred Weis
Layout: Kurt Riha
Anschrift des Herausgebers: Schottenfeldgasse 29, 1072 Wien
Druck: druck.at
Erscheinungsort: Wien, November 2018

38
Sprichwörtliche Auflösung

Einen Dachschaden Einen Sprung in der Eine Schraube Nicht ganz


haben. Schüssel haben. locker haben. dicht sein.

Von der Neben der Nicht richtig Einen Knacks


Rolle sein. Spur sein. ticken. haben.

Einen Vogel Nicht alle Tassen


haben. im Schrank haben.

39
SITUATIONSBERICHT 2018
VERBAND WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE
40

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